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German Pages 594 Year 2015
Alexander Jungmann Jüdisches Leben in Berlin
Alexander Jungmann (Dr. phil.) arbeitet als Soziologe im Sonderforschungsbereich »Reflexive Modernisierung« der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie am Münchner Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP). Außerdem ist er als Lehrbeauftragter in Forschung und Lehre an der Universität Augsburg tätig.
Alexander Jungmann
Jüdisches Leben in Berlin Der aktuelle Wandel in einer metropolitanen Diasporagemeinschaft
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Inhalt I
H i nfü hr un g
15
1. 1.1. 1.2. 1.3.
Einleitung und Fragestellung Das besondere Beispiel Berlin Themeneingrenzung und Leitfragen Gliederung
15 19 22 26
2.
Forschungsstand
27
3. 3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.1.3. 3.2. 3.2.1. 3.2.2.
Einige der Begriffsbestimmungen im Themenfeld Kulturelle Phänomene im jüdischen Berlin Der Kulturbegriff Das inhaltliche Merkmal ‚jüdisch‘ Diverse Begriffe zu jüdischem Leben in Berlin Begriffsklärungen im jüdisch-nichtjüdischen Kontinuum Sekundärer Nachkriegs-Philosemitismus Judaisierendes Milieu
31 32 32 34 35 38 41 44
4.
Versuch der biographischen Selbstverortung im deutsch-jüdischen Feld Befangenheit und wachsendes Interesse Kindheit und Schulzeit Zivildienst und Studium Generations- sowie milieuspezifischer sekundärer Philosemitismus Erstes persönliches Teilmotiv: Rationale Ebene der eigenen philosemitischen Disposition Zweites persönliches Teilmotiv: Emotionale Ebene der eigenen philosemitischen Disposition Nachphilosemitische Disposition im judaisierenden Milieu
4.1. 4.1.1. 4.1.2. 4.2. 4.2.1. 4.2.2. 4.3. 5. 5.1. 5.1.1. 5.1.2.
Erkenntnistheoretische Grundlagen Verortung im Bezugsrahmen interpretativer Sozialforschung Verstehende Soziologie Sozialwissenschaftliche Hermeneutik und hermeneutische Wissenssoziologie 5.1.3. Grounded Theory 5.2. Methodisches Vorgehen im Qualitativen Paradigma 5.2.1. Thematische Begründung des empirisch-qualitativen Vorgehens 5.2.2. Anwendung unterschiedlicher qualitativer Dimensionen 6. 6.1. 6.2.
Erhebungsmethode Qualitative Befragung als geeignetstes Verfahren – Das Gespräch als hermeneutischer Königsweg Drei für die Erhebung bestimmende qualitative Interviewvarianten und ihre spezifischen Vorzüge und Grenzen
46 49 49 52 56 57 58 59 60 61 61 63 65 67 67 68 69 70 70
6.2.1. 6.2.2. 6.2.3. 6.2.4. 6.3. 6.3.1. 6.3.2. 6.3.3.
Das Leitfadeninterview Das narrative Interview Das ExpertInneninterview Das narrative Leitfadeninterview mit variatem Expertenstatus Das spezifische Forschungsdesign Die Erhebungsauswahl Der Interviewleitfaden Das Auswertungsschema
70 71 72 73 74 74 75 76
II
H i stor isc he u nd soz io logi sch e H i nter gr ün de
77
1.
Die Entwicklung des Judentums in Deutschland von den Anfängen bis in die Gegenwart
1.1. 1.1.1. 1.1.2. 1.2.
Die lange Entwicklung bis ans Ende der Schoah Von der Spätantike bis zur Weimarer Republik Auswirkungen der Verfolgung in der NS-Zeit Die Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft in den westlichen Besatzungszonen und der BRD von 1945 bis 1990 Die Frühphase der überlebenden Deutsch-Juden zwischen 1945 und 1949 Die Frühphase der Displaced Persons zwischen 1945 und 1949 – ,Mir szeinen doh‘ – befreit, aber nicht frei Die Phase administrativ-institutioneller Konsolidierung zwischen 1950 und 1969 Die Phase von 1968 bis 1989/90 – Repräsentatismus versus Bewusstseinswandel Die jüdische Entwicklung der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. der DDR und in Ostberlin zwischen 1945 und 1989 Die Phase zwischen 1945 und den späten 50er Jahren Entwicklung Mitte der 50er bis Mitte der 70er Jahre Veränderungen seit Anfang der 70er bis Mitte der 80er Jahre Tauwetter und jüdische Aufbrüche in der DDR-Dämmerung Der Wandel der beiden jüdischen Gemeinschaften im Zuge des Beitritts der DDR zur BRD sowie der Beginn der osteuropäischen Zuwanderung Die Vereinigung der jüdischen Gemeinschaften der BRD und der DDR sowie der Beginn der osteuropäischen Zuwanderung Die Einwanderung von Juden aus Osteuropa sowie deren innerjüdische Integration Wandel auf der Repräsentanzebene: Personelle Veränderungen sowie im Verhältnis zur deutschen Gesellschaft und zu Israel Die aktuelle religiöse Pluralisierung
1.2.1. 1.2.2. 1.2.3. 1.2.4. 1.3. 1.3.1. 1.3.2. 1.3.3. 1.3.4. 1.4.
1.4.1. 1.4.2. 1.4.3. 1.4.4.
77 77 77 86 87 88 91 94 99 106 106 108 109 110
113 113 114 121 123
2. Die Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft in Berlin seit 1945 2.1. Der Wandel nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Mauerfall 2.1.1. Das Wiedererstehen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg 2.1.2. Die Entwicklung der Westberliner Gemeinde von 1953 bis 1990: Von der Liquidations- zur Aufbaugemeinde 2.2. Die Entwicklung innerhalb der Gemeinde in Berlin von 1990 bis in die Gegenwart 2.2.1. Schwieriger Beitritt der Ostberliner Gemeinde und das Interim nach Ende der Ära Galinski als JGB-Vorsitzender 2.2.2. Gemeindewachstum sowie Ausweitung der JGB-Aktivitäten 2.2.3. Religiöse Pluralisierung 2.2.4. Strukturelle Probleme und Kontroversen um den Führungsanspruch in der Gemeinde 2.3. Zunahme jüdischen Lebens außerhalb der Gemeinde 2.3.1. Entwicklungen im religiösen Bereich 2.3.2. Soziokulturelle Einrichtungen sowie gewerbliche Aktivitäten 2.4. Die Inszenierung Jüdischer Räume in Berlin mit und ohne Juden zwischen ,Jüdischem Museum‘ und ,Scheunenviertel‘ 2.4.1. Exkurs: Das Jüdische Museum Berlin 2.4.2. Exkurs: Mythos Scheunenviertel am falschen Ort 2.5. Spezifische örtliche Bedingungen gegenwärtiger jüdischer Existenz in Berlin Gegenwarts-Soziologische Verortung der jüdischen Gemeinschaft im heutigen Deutschland und Berlin 3.1. Die Integration der jüdischen Gemeinschaft in die gegenwärtige hiesige nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft 3.2. Makrosoziologische Einordnung der Untersuchung in den allgemeingesellschaftlichen sozialen Wandel 3.2.1. Individualisierung als ambivalenter Freisetzungsprozess 3.2.2. Die Pluralisierung von Milieus und Lebensstilen
127 128 128 131 135 135 137 140 148 151 152 155 160 162 165 169
3.
III 1. 1.1.
Die geg enw är tige j üdi sch e E xi stenz in Ber lin u nd i hr e Z uku nfts per spek tive n
Renaissance und Revitalisierung des jüdischen Lebens Innerjüdische Verwendung qualitativer Narrative aktueller Wandlungsprozesse der jüdischen Gemeinschaft in Berlin und Deutschland 1.1.1. Andrew Roths und Michael Frajmans Wegweiser in einen Berliner ,Frühling‘ 1.1.2. Chaim Schneiders Bekenntnis zum Bleiben
170 170 172 172 176
180 181
184 186 188
1.1.3. Günther B. Ginzels Berlinfilm als Symphonie des jüdischen Gepräges einer Großstadt 1.1.4. Andreas Nachamas Hinweise auf das, was schon da ist, aber noch weitaus mehr werden kann 1.1.5. Heinz-Peter Katlewskis Reiseberichte aus dem reformjüdischen Aufbruch jüdischen Lebens im deutschsprachigen Raum 1.1.6. Die ,Jüdische Allgemeine‘: Werbung mit der Wiedergeburt jüdischen Lebens 1.1.7. Paul Spiegel zu Wiedergeburt und Neuerstehung jüdischer Existenz im heutigen Deutschland 1.2. Selbsteinschätzungen aus dem jüdischen Berlin zu qualitativem Wachstum des jüdischen Lebens der Stadt 1.2.1. Erstes Cluster: Skeptische Einschätzungen einer an den qualitativen Wachstumsnarrativen orientierten Zunahme jüdischen Lebens in Berlin 1.2.2. Zweites Cluster: Eingeschränkt optimistische Beurteilungen 1.2.3. Drittes Cluster: Uneingeschränkt optimistische Beurteilungen 1.2.4. Zusammenfassende Bilanzierung 2. 2.1. 2.1.1. 2.1.2. 2.1.3. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.3.
Spezifische Vor-Ort-Bedingungen jüdischen Lebens in Berlin wie auch in der örtlichen jüdischen Gemeinde Persönliche Berlinbezüge Diverse Vorzüge des Großstadtlebens Positive metropolitane Alltagserfahrungen zwischen Juden und Nichtjuden Biographisch bedingte ortsspezifische Zugänge zum jüdischen Berlin Besonderheiten der jüdischen Gemeinde in Berlin Die JGB als religiöse Einheitsgemeinde Herkunftsbezogene Integrationspotentiale der Berliner Einheitsgemeinde Zusammenfassende Bilanzierung
Der nichtjüdische Hype um den Davidstern – Kulturelle An- und Enteignungseffekte des Jüdischen in Berlin 3.1. Nichtjüdische Inszenierungen des Jüdischen: eine kultursoziologische Annäherung 3.1.1. Allgemeine Merkmalsbestimmungen nichtjüdischer Inszenierungen des Jüdischen 3.1.2. Berliner Ausdrucksformen nichtjüdischer Inszenierungen des Jüdischen 3.1.3. Positivbeispiele gelingender Darstellungsweisen jüdischer Geschichte in Berlin
190 192 194 196 201 204
206 215 233 240 251 252 252 257 259 264 264 275 283
3.
289 289 291 297 299
3.1.4. Der Berliner ,Hype um den Davidstern‘ – eine Motivationssuche 3.1.5. Ortsspezifische Entstehungsbedingungen des Berliner Hypes 3.1.6. Vermutete Folgen des Berliner Hypes im deutsch-jüdischen Feld 3.2. 3.2.1. 3.2.2. 3.2.3. 3.2.4. 3.2.5. 3.2.6. 4. 4.1. 4.1.1. 4.1.2. 4.1.3. 4.2. 4.2.1. 4.2.2. 4.2.3. 4.2.4. 5.
Differierende Einschätzungen des Hypes – Bedrohung jüdischer Identität oder Brückenschlag zwischen Juden und Nichtjuden? Kritik am ,Hype‘ und seinen Wirkungen auf Nichtjuden Negativ-Auswirkungen des ,Hypes‘ auf die jüdische Gemeinschaft Berlins sowie sich für sie hieraus ergebende Konsequenzen Der ,Hype‘ als Ausdrucksform einer spezifisch europäischen Disposition Bestimmte Voraussetzungen und Randbedingungen des ,Hypes‘ Chancen und positive Effekte des ,Hypes‘ im deutsch-jüdischen Feld Zusammenfassende Bilanzierung Antisemitismus in Berlin: Wahrnehmungen und Umgangsweisen der metropolitanen jüdischen Gemeinschaft Alter und neuer Antisemitismus in Berlin und andernorts in Deutschland Antisemitismus: Sozialwissenschaftliche Begriffsklärungen und Deutungsversuche GegenwärtigerAntisemitismus in Deutschland Aktueller Antisemitismus und jüdische Gegenmaßnahmen von Gemeindeseite in Berlin Erfahrungen und Umgangsweisen mit Antisemitismus im jüdischen Berlin Persönliche Ebene der Erfahrungen, Einschätzungen und Umgangsweisen mit Antisemitismus Bedrohung jüdischer Gruppenaktivitäten in Berlin durch Antisemitismus und daraus resultierende Sicherheitsaspekte Jüdische Zukunftsperspektiven in Berlin angesichts der antisemitischen Herausforderung Zusammenfassende Bilanzierung
301 304 306 308 309 313 319 321 323 326 337 339 339 341 345 363 365 398 410 415
Ergebnisgeleitete Thesen zu jüdischer Existenz in Berlin und ihrer Zukunftsperspektiven
419
IV
Jüdis che Gr up pen akti vität en i n Ber lin
427
1. 1.1 1.2 1.2.1. 1.2.2. 1.3.
Vorüberlegungen und Verortung des Untersuchungsfelds Formale Bestimmungskriterien Das Bestimmungskriterium ,jüdisch‘ Personelle Ebene Inhaltliche Ebene Die untersuchten Dimensionen der Gruppenaktivitäten
427 428 431 432 432 435
1.4.
Formaler Gemeindebezug und räumliche Situation der Basis-Initiativen
2. 2.1. 2.1.1. 2.1.2. 2.2. 2.3. 2.4. 2.4.1.
Der Jüdische Kulturverein Entstehungshintergrund Die informelle Vorgängergruppe ,Wir für uns‘ in der späten DDR Gründung des Jüdischen Kulturvereins Inhaltliche Ausrichtung der Tätigkeit des JKV Formale Aspekte und Strukturmerkmale des JKV Integrative und weitere soziale Prozesse innerhalb des JKV Vereinsinterne Bedeutung der ost-/westdeutschen Herkunft der Mitglieder und Besucher im JKV Vereinsinterne Integrationsaspekte zwischen der aus der DDR sowie der aus der ehemaligen SU stammenden JKV-Klientel Ein orthodox orientierter Verein von Nichtorthodoxen – Erfolge und Schwierigkeiten der religiösen Integration Die Bedeutung der Vereinszeitung Jüdische Korrespondenz für die Mitgliederbindung und als Informationsquelle für Interessierte Äußere Beziehungsebene des JKV zur Berliner Gemeinde: vom Outlawstatus zur Kooperation Erste Phase der Beziehung zwischen West-JGB und JKV: ein Differenzverhältnis Zweite Phase der Beziehung zwischen West-JGB und JKV: ein Annäherungs- und Kooperationsverhältnis Exkurs: Brückenfunktion des Centrum Judaicum ins jüdische Berlin Pilot- und Vorbildfunktionen des JKV für andere jüdische Gruppenaktivitäten in Berlin und andernorts Zukunftsperspektiven Probleme und Perspektiven der sich wandelnden Mitgliederstruktur Ein komplementäres Angebot im jüdischen Berlin Fazit
2.4.2. 2.4.3. 2.4.4.
2.5. 2.5.1. 2.5.2. 2.5.3. 2.6. 2.7. 2.7.1. 2.7.2. 2.7.3. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.3.1. 3.3.2. 3.4. 3.5. 3.6.
Der jüdische Studentenbund Berlin Ausgangssituation Formale und inhaltliche Aspekte Integrative und weitere gruppeninterne soziale Prozesse Das Andocken der JSB-Aktivistin an die Gruppierung Integration nach Herkommen und weitere Motive des Gruppenzusammenhalts Gemeindebezug Beziehung zu anderen Gruppen und Institutionen Fazit und Zukunftsperspektiven
438 439 439 439 443 444 447 449 449 451 453
459 461 461 463 464 465 467 468 469 470 471 471 471 475 475 475 477 479 481
4. 4.1.
Die Nahostgruppe Entstehungshintergrund: Die ,Jüdische Gruppe Berlin‘ als Vorgängergruppe und die Gründung der Nahostgruppe 4.2. Inhaltliche Ausrichtung und einige Strukturmerkmale der NG 4.3. Integrative und weitere soziale Prozesse innerhalb der NG 4.3.1. Persönliches Andocken von P 22 an die NG 4.3.2. Zusammenhang zwischen dem unterschiedlichen Herkommen der Mitglieder und den integrativen Prozessen innerhalb der NG 4.4. Problematische Beziehungsebene zwischen der NG und der Berliner Gemeinde 4.5. Kooperation mit anderen israelkritischen Gruppen 4.6. Zukunftsperspektiven und Fazit 5. 5.1. 5.2. 5.3. 5.3.1. 5.3.2. 5.3.3. 5.4.1. 5.5. 5.6. 6. 6.1. 6.1.1. 6.1.2. 6.2. 6.3. 6.3.1. 6.3.2
Die Jüdische Galerie Ausgangssituation und Entstehung der Jüdischen Galerie Formale Aspekte und inhaltliche Ausrichtung der JÜG Innerjüdische Integrationsaspekte bei den von der JÜG betreuten Künstlern Die Förderfunktion der JÜG für ihre osteuropäisch-jüdische Künstler-Klientel Die Bedeutung der JÜG für die innerjüdische Integration der in der Galerie ausstellenden osteuropäisch-jüdischen Künstler Ein ,Jewish turn‘? Künstlerische Beschäftigung mit dem Judentum im Schaffen der Ausstellenden Kontakte der JÜG zu anderen jüdischen wie nichtjüdischen Aktivitäten in Berlin und andernorts Berlinspezifische Entwicklungsbedingungen und stadträumliche Besonderheiten der JÜG Fazit und Zukunftsperspektiven Die jüdische Homosexuellengruppe ‚Yachad‘ Der Entstehungshintergrund von Yachad Die Ausgangssituation der Gruppengründung Die Entstehung der Berliner Yachad-Gruppe Inhalt und Formalia Integrative und weitere soziale Prozesse innerhalb der Gruppe Gruppenbildung als Familienersatz Religiöse Identitätsstiftung und westlich-weltlicher Charakter von Yachad
483 483 485 488 488 489 493 496 497 499 499 500 502 502 504 505 506 507 508 509 509 510 511 512 514 514 516
6.4. 6.5. 6.6. 7. 7.1. 7.2. 7.3 . 7.4. 7.5. 7.6. 8. 8.1. 8.2. 8.3. 8.4. 8.5. 9.
Die Beziehung zur Jüdischen Gemeinde sowie zu Gruppen aus deren Umfeld Kontakte zu gemeindeexternen jüdischen wie nichtjüdischen Gruppen und Einrichtungen sowie Reaktionen von außen Resümee und Zukunftsperspektiven
517 520 521
Der israelische Stammtisch Ausgangssituation Die Vorgängergruppe und die Gründung des IS Inhaltliche und formale Aspekte des israelischen Stammtischs Integrative und weitere gruppeninterne soziale Prozesse Außenbeziehungen zur Berliner Gemeinde und zu anderen Gruppen im jüdischen Berlin Fazit und Zukunftsperspektiven
522 522 524 525 526
Der Internetanbieter ,Milch und Honig‘ Entstehungshintergrund und Gründungsphase Formale Aspekte und inhaltliche Ausrichtung von MuH Integration per Mouseclick? – Die jüdische Nutzerseite von MuH Außenbeziehungen von MuH zu jüdischen Gruppen und Einzelpersonen Berlins und über die Stadt hinaus Pilotfunktionen und Zukunftsperspektiven
530 530 532 534 538 541
Ergebnisgeleitete Thesen zu neueren Gruppenaktivitäten im jüdischen Berlin und ihren Zukunftsperspektiven
542
527 530
Fazit und Ausblick Fazit Ausblick
550 550 557
Literatur
559
Anhang und Glossar
579
Danksagung
Diese Untersuchung ist das Ergebnis einer langen Reise durch das jüdische Berlin. Erst die Mitwirkung einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Menschen ermöglichte mir, dieses Projekt anzugehen und zu einem Ergebnis mit großem persönlichen Gewinn zu führen. An erster Stelle möchte ich dabei meinen Eltern danken, ohne deren Zutrauen ich eine solche Unternehmung kaum angegangen hätte. Wichtige fachliche Anregungen und Hilfestellungen verdanke ich mehr Menschen als es möglich ist, im Rahmen dieser Vorbemerkungen aufzuzählen. Unter dankbarem Einschluss und Erinnern hilfsbereiter KollegInnen möchte ich mich an dieser Stelle nur auf die wichtigsten beschränken. Zuvorderst sind dabei meine beiden Doktorväter Prof. H. Giegler und Prof. F. Böhle zu nennen, die mir erfreulich komplementäre Hilfestellungen leisteten. Wichtige Hinweise verdanke ich Angelika Heider, Dr. Norbert Schlör, Prof. Dr. Julius H. Schoeps, Prof. Yvonne Schütze, Dr. Hermann Simon sowie Meike Wöhlert. Im jüdischen Berlin gilt mein Dank an erster Stelle den auskunftsbereiten GesprächspartnerInnen, unter denen diejenigen der Haupterhebung anonym bleiben sollen. Von diesen sind mir alle in bleibender Erinnerung und haben durch die Arbeit an den Interviews sogar noch an Präsenz hinzugewonnen. Namentlich möchte ich mich besonders bei Dr. Andreas Nachama – von dem ich eine wichtige Bestärkung im Vorfeld erhielt – bei Esther Dischereit, Norma Drimmer, Uri Faber, Arkadi Fried, Ronnie Golz, Gabriel Heimler, Judith Kessler, Shelly Kupferberg, Michael May sowie den Rabbinern Avraham Daus, Yitshak Ehrenberg und Walter Rothschild bedanken. Viele weitere Berliner Juden und Jüdinnen müssen leider ungenannt bleiben; bei manchen sind mir ihre Namen nicht oder nicht mehr bekannt. In meinem persönlichen Umfeld innerhalb und außerhalb der Universität möchte ich mich ausdrücklich bei Ajo, Daniela, Elli, Frank, Kathrin, Mario, Norbert, Martin, Stefan, Ulrich und Yvonne für ihr Engagement und ihre große Hilfsbereitschaft in vielfältiger Weise bedanken. Die Studie widme ich Michael Frajman (04.08.1962 – 29.10.05), der mich auf meiner Reise von Anfang an ,auf den Weg‘ gebracht hat. Gerade auch für ihn wollte ich die Arbeit schreiben, nicht ahnend, dass ich sie ihm nicht mehr geben konnte. Augsburg, im September 2007
Teil I: Hin führung
1 . E i n le i t u n g u n d F r a g e s t e l lu n g „Die Koffer sind ausgepackt.“ Richard Chaim Schneider1 „Kann Berlin wieder die Metropole jüdischen Lebens in Deutschland werden?“ Jakob Augstein2
Voraussetzung meines Vorhabens ist das mittlerweile dauerhafte und vielfältige Leben von Juden und Jüdinnen im vereinten Berlin und Deutschland nach 1990. Vor dem Hintergrund der fast vollständigen Vertreibung und Vernichtung jüdischer Existenz in der Zeit des Nationalsozialismus (im Folgenden NS) ist es ein erstaunliches Phänomen, dass es nach der Schoah zu keinem Ende jüdischen Lebens in Deutschland gekommen ist und nicht minder, dass heute sogar vergleichsweise viele Menschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft wieder hierzulande leben. Mittlerweile zählen die jüdischen Gemeinden in Deutschland 106.000 Mitglieder, davon allein etwa 12.000 in Berlin.3 Ausgangspunkt der vorliegenden Studie ist eine gegenwärtige Phase weitreichender Um- und Aufbrüche in der hiesigen jüdischen Diaspora. Nach bemerkenswerten Neuanfängen und Konsolidierungsschritten in den ersten Jahren nach 1945 und den sich da ran anschließenden langsameren, z. T. stagnativen Entwicklungen, zeichnen sich aktuell in mehrfacher Hinsicht dynamische Aufwärtsentwicklungen der (west-)deutschen jüdischen Gemeinschaft ab. Vor allem zwei Gegenwartsaspekte sollen hier kurz als Prämissen benannt werden: Seinen sichtbarsten Ausdruck findet der Wandel in der hiesigen jüdischen Gemeinschaft aktuell in quantitativen Veränderungen einer einwanderungsbedingten Zunahme, wodurch sie seit 1990 die schnellst wachsende auf der ganzen Welt und nach derjenigen in Frankreich und in Großbritannien die drittgrößte
1 2 3
Ders.: „Wir sind da! Die Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis heute“, Berlin: Ullstein 2000 Ders.: „Sprechproben zwischen Vergangenheit und Zukunft“, in: SZ 09.09.94 Die Zahlenangabe für Deutschland nach JA 24.11.05, die für Berlin nach JA 29.09.05.
16 | TEIL I: HINFÜHRUNG
in Europa außerhalb der ehemaligen SU darstellt.4 Seit dem Zusammenbruch des ehemaligen Ostblocks kam es zu einer bis in die Gegenwart anhaltenden Zuwanderung von bislang ein- bis zweihunderttausend Juden aus der SU bzw. ihren Nachfolge-Republiken, den GUS Staaten nach Deutschland, wovon etwa die Hälfte den hiesigen jüdischen Gemeinden beigetreten ist. Deutschland avancierte somit in den letzten Jahren neben Israel und den USA zum wichtigsten Zielland für russischsprachige Juden, die sich auf Grund von Antisemitismus sowie anhaltender wirtschaftlicher und z. T. politischer Instabilität dazu entschlossen haben, ihre Heimat zu verlassen. Mit dieser Verdrei- bis Vervierfachung ihres Mitgliederbestands wird die zuvor jahrzehntelang überalterte und demographisch bei wenigen Zehntausend stagnierende jüdische Nachkriegsgemeinschaft Westdeutschlands heute vor enorme Herausforderungen der Integration einer Mehrheit in die Minderheit gestellt. Sprachliche und kulturelle Unterschiede spielen dabei ebenso eine Rolle wie ein Mangel an jüdischer Lebenspraxis sowie große soziale Bedürftigkeit bei der Mehrheit der russischsprachigen Neumitglieder. Auf der anderen Seite eröffnen sich ganz neue, bisher nicht denkbare Entwicklungsmöglichkeiten für jüdische Existenz hierzulande. So vervielfältigten sich in den letzten Jahren die Mitgliederzahlen bestehender Gemeinden und Landesverbände. Besonders in Ostdeutschland kam es außerdem zu einer Reihe von Gemeinde-Neugründungen, nahezu ausschließlich Mitglieder aus der Einwanderungsgruppe. Im ganzen Land werden neue Synagogen und Gemeindezentren eingeweiht und es entstehen weitere soziale und schulische Einrichtungen. Eine vordergründig weniger spektakuläre, aber nicht minder tiefgreifende Veränderung jüdischer Existenz in Deutschland hatte bereits vor der neuerlichen Zuwanderung aus Osteuropa ihren Anfang genommen. Sie lässt sich am ehesten mit einem fließenden, jedoch sehr weitreichenden Mentalitätswandel umschreiben. Die auf Grund der Schoah durch eine tiefe Kluft von der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft getrennte und bei jüdischen Organisationen international nahezu geächtete hiesige Diasporagemeinschaft saß in Nachkriegsdeutschland noch lange Zeit in einer Art mentalem Provisorium ‚auf Koffern‘, wie eine gängige Metapher hierfür lautet. Mit beruflicher Etablierung und dem sich einstellenden Nachwuchs veränderte sich dies fast unmerklich; metaphorisch: die Koffer der Älteren wurden schleichend durchgesessen. Doch als Auslöser eines grundlegenden Mentalitätswandels können primär generative Veränderungen des Übergangs der Überlebendengeneration der Schoah zu einer überwiegend im Nachkriegdeutschland geborenen bzw. aufgewachsenen zweiten, teilweise bereits dritten Generation festgemacht werden. Tatsächlich sind hiesige Juden seit etwa zwei Dekaden zunehmend dabei, durch eine auf
4
Für Frankreich wird die Zahl aktuell mit 600.000 beziffert, vgl. JA 04.08.05. Sergio Della Pergola gibt die Zahl für Großbritannien für 2002 mit 273.000 an; vgl. ders.: „Verbreitung: Wo heute Juden leben“, in: National Geographic Deutschland 04.05
EINLEITUNG UND FRAGESTELLUNG | 17
die Gegenwart und Zukunft gerichtete aktive, mitunter kontroverse Teilhabe an den Belangen ihrer eigenen Gemeinschaft, aber auch der sie umgebenden nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft, in vielfältiger Weise aus dem ‚Schatten‘ von Auschwitz herauszutreten. Die Koffer sind endgültig ‚ausgepackt‘, wie es R. C. Schneider formulierte und die heutige ZENTRALRATS-Präsidentin und SchoahÜberlebende an symbolträchtiger Stelle popularisierte.5 Dies gilt, ohne dass damit die Besonderheit neuerlichen jüdischen Lebens in Deutschland nach dem von deutscher Seite ausgehenden Zivilisationsbruch an Bedeutung eingebüßt hätte. Diese Entwicklung zeigt sich einerseits innerjüdisch in dem sich in den letzten Jahren hierzulande in religiöser und kultureller Hinsicht deutlich pluralisierenden jüdischen Leben. Eine vor NS in Deutschland bestehende innerjüdische religiöse Vielfalt scheint aktuell von Neuem zu erstehen. Aber auch ein zunehmender Meinungspluralismus zu Fragen jüdischer Gegenwartsexistenz macht sich gegenwärtig durch eine wachsende Zahl jüdischer Medien befördert, wie auch außerreligiös in einer innerjüdischen Öffentlichkeit breit. Fragen des HolocaustGedenkens, der Stellung des Judentums zu Homosexualität oder das Verhältnis der hiesigen Diaspora zu Israel werden in jüngster Zeit in einer bislang unbekannten Offenheit diskutiert. Sogar die eigenen Repräsentanten werden teilweise, wie in Berlin, von außerparlamentarischen Basisinitiativen kritisch hinterfragt. Auf der anderen Seite kommt es zu einer nicht minder deutlichen Öffnung gegenüber der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft. Die hiesige jüdische Gemeinschaft hat dieser gegenüber ihre historisch bedingte ‚Wagenburg-Mentalität‘ (Andreas Nachama) mehr und mehr hinter sich gelassen. Auch diese Entwicklung verläuft im verminten deutsch-jüdischen Feld nicht frei von Konflikten, im Gegenteil, bestanden frühe Anzeichen eines einsetzenden Wandels Mitte der 80er Jahre zunächst in jüdischen Protestaktionen gegenüber Totengedenken über SS-Gräbern sowie gegen antisemitischen Klischeebildungen auf der Theaterbühne.6 Mittlerweile ist es zu einem selbstverständlichen Bestandteil deutscher Realität geworden, dass sich jüdische Repräsentanten, Publizisten und Intellektuelle jenseits hohler Gedenkrituale als Juden und als Bürger (und nicht als ‚unsere jüdischen Mitbürger‘) in öffentlichen Debatten zu Wort melden. Doch charakterisiert längst auch eine kooperative Seite die Öffnung zur Mehrheitsgesellschaft. So sind in den letzten ein bis zwei Dekaden eine Fülle kultureller, wissenschaftlicher sowie politischer Projekte und Initiativen auf jüdischer wie nichtjüdischer 5
6
C. Knobloch gebrauchte die neue Koffer-Metapher in ihrer Funktion als langjährige Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde München bei der dortigen Grundsteinlegung der neuen Synagoge mit Gemeindezentrum und Museum am 9. November 2003. Das Zitat findet sich im Revitalisierungs-Kap. III.1.1.2., S. 190, Anm. 23. – Bei erstmaliger Nennung verweisen in Kapitälchen gesetzter Begriffe auf deren nähere Erklärung in einem Glossar im Anhang der Studie S. 580 ff. Gemeint ist der jüdische Protest 1985 gegen den Besuch des Soldatenfriedhofs in Bitburg durch Bundeskanzler Helmut Kohl und US-Präsident Ronald Reagen sowie gegen die Uraufführung des Fassbinder-Stücks „Der Müll, die Stadt und der Tod“; vgl. hierzu näher Kap. II.1.2.4., S. 103 f.
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Seite entstanden, über die Juden und Nichtjuden zusammenarbeiten oder sogar von ihnen gemeinsam initiiert wurden. Zu nennen sind hier etwa jüdische Museen7, universitäre Zentren und Institute, aber auch jüdische Kulturwochen und Initiativen gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Alle skizzierten Entwicklungen – innerjüdische wie in Richtung nichtjüdischer Mehrheitsgesellschaft – werden im Vorfeld der Studie als Anzeichen einer wachsenden Vitalität und eines zunehmenden Selbstbewusstseins des hiesigen jüdischen Kollektivs gewertet. Erwähnt werden muss an dieser Stelle aber auch mangelnde Aufmerksamkeit der nichtjüdischen Seite gegenüber den bisher geschilderten neueren Entwicklungen in der hiesigen jüdischen Diaspora. Vielmehr zeigt sich in der öffentlichen, medienvermittelten Wahrnehmung jüdischen Themen bislang immer noch ein deutliches Gefälle: Einerseits hat in den letzten Jahrzehnten in Deutschland ohne Zweifel das öffentliche Interesse für Jüdische Thematik stark zugenommen.8 Mittlerweile gibt es kaum eine größere Stadt ohne Gedenktafeln und -orte für die vertriebene oder vernichtete ehemalige jüdische Bevölkerung und deren geschändete Gotteshäuser. Die KZ-Gedenkstätten werden gerade von Schulklassen gut besucht, die letzten lebenden Zeitzeugen gelten als gefragte Referenten und Gesprächspartner. Über diese allseits präsente Gedenkkultur hinaus besitzt die Schoah auch in Schulbüchern und öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehprogrammen eine hohe Präsenz. Dieses historische Interesse an jüdischer Thematik geht längst über die Verfolgungsgeschichte der Juden in der NS-Zeit hinaus und bezieht mittlerweile nahezu die gesamte jüdische Geschichte in Deutschland von der späten Antike bis Einstein mit ein. Es manifestiert sich mittlerweile in zahlreichen jüdischen Kulturmuseen, restaurierten Friedhöfen, Synagogen und Ausstellungen. Aber auch KLEZMERkonzerte9 mit der hierzulande nicht beheimateten Musik der untergegangenen jiddischsprachigen ostjüdischen Kultur und der Kauf von Büchern zu den o. g. Themen sowie Judaica erfreuen sich großer Beliebtheit. Auch die Zunahme wissenschaftlicher Einrichtungen in den letzten 30 Jahren, die sich mit der jüdischen Geschichte bzw. deren Erbe beschäftigen, ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Gegenüber dieser erreichten Ebene der Dauerpräsenz der jüngsten jüdischen Verfolgungsgeschichte im NS und dem hohen, immer noch wachsenden Stellen-
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Zur mühsamen Entstehung des Jüdischen Museums in Berlin vgl. den Exkurs in Kap. II.2.4.1., S. 236 ff. In diesem Zusammenhang wird in der Literatur immer wieder die Ausstrahlung der Fernsehserie ‚Holocaust‘ im Jahr 1979 als Wegmarke einer wachsenden Bereitschaft breiter Kreise der bundesrepublikanischen Bevölkerung sowie deren Öffentlichkeit genommen, sich mit dieser Vergangenheit auseinander zu setzen. Auf die aktuelle Bedeutung von Klezmer-Musik im Zusammenhang mit nichtjüdischen An- und Enteignungseffekten des Jüdischen wird genauer im Hype-Kap. insbesondere in den Abschnitten III.3.1.1., S. 292 sowie 3.1.2., S. 299 eingegangen.
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wert jüdischer Geschichte, nimmt sich die öffentliche Wahrnehmung jüdischer Gegenwart verschwindend aus. Die kleine, aber immerhin rasch wachsende jüdische Minderheit in Deutschland, wird, abgesehen von gedenkenden, mahnenden oder einweihenden jüdischen Verbandsfunktionären (s. o.), in den Medien kaum thematisiert. Das mediale Interesse richtet sich allenfalls auf Grund von Skandalen, Affären und Konflikten mit prominent jüdischer Beteiligung oder im Fall einer Krise in der Leitungsebene einer größeren Gemeinde kurzfristig auf hiesige Juden und seltener auf jüdische Zusammenhänge.10 Außerdem ist davon auszugehen, dass die meisten Nichtjuden in Deutschland keine Juden persönlich kennen. Denn es gehört wohl zu den besonderen Verhältnissen hierzulande, dass das ‚verminte‘ deutsch-jüdische Feld für Interessierte fast allgegenwärtig ist, im Gegensatz zu den ihrer geringen Zahl nach in Deutschland fast unsichtbaren Juden. Entsprechend wird ihre Zahl, z. T. in Verbindung mit antisemitischen Klischees, bei Befragungen regelmäßig deutlich überschätzt.11 Insgesamt lässt sich feststellen, dass eine Auseinandersetzung mit der differenzierten Wirklichkeit von Juden im heutigen Deutschland jenseits gängiger Klischees in der Öffentlichkeit und den Medien, aber auch auf wissenschaftlicher Ebene immer noch zu wenig stattfindet, wenn sich auch gerade im letzten Bereich eine positive Veränderung abzeichnet. (s. u. Kap. I.2. zum aktuellen Forschungsstand).
1.1. Das besondere Beispiel Berlin Vor dem Hintergrund der eingangs geschilderten gegenwärtigen Entwicklungen in der hiesigen jüdischen Diaspora richtet die vorliegende Studie ihren örtlichen Fokus auf Berlin, die Stadt mit der auch seit 1945 wieder größten jüdischen Gemeinde Deutschlands.12 Auslöser dieses Forschungsinteresses ist die bereits im Vorfeld der Studie, in den 90er Jahren, erkennbare Tatsache, dass sich hier besonders früh und ausgeprägt in der Qualität neuartige innerjüdische sowie in der jüdisch/nichtjüdischen Sphäre angesiedelte aktuelle Entwicklungen abzeichnen. Denn in der Metropole hat sich in den letzten Jahren innerhalb der örtlichen Gemeinde – und als Novum im Deutschland nach 1945 – auch außerhalb von ihr
10 Entsprechende Beispiele wie die Nachmann-Affäre, die Bubis-Walser-Debatte, der Friedmann-Skandal oder die Konflikte in der jüdischen Gemeinde zu Berlin (im Folgenden auch mit JGB abgekürzt) um den ehemaligen Gemeinde-Rabbiner W. Rothschild sowie aktuell (Ende 2005) auf der Leitungsebene der Gemeinde werden in der Studie noch aufgegriffen bzw. im Fall der Berliner Beispiele systematischer behandelt. 11 So schreibt Wolfgang Benz, der Nestor der deutschen Antisemitismusforschung: „Ein Drittel der 82 Millionen Bürger der Bundesrepublik Deutschland weiß nicht, wie viele Juden in Deutschland leben, ein weiteres Drittel vermutet ihre Zahl in der Größenordnung von Millionen, lediglich drei Prozent nennen 50.000 bis 100.000 und kommen damit der Wahrheit [...] nahe.“ Ders.: „Zwischen Antisemitismus und Philosemitismus“, in Katja Behrens (Hg.): Ich bin geblieben – warum? Juden in Deutschland heute, Gerlingen: Bleicher 2002, S. 7 12 wenn auch auf 10- bis 20-fach geringerem Niveau als vor 1933.
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eine nicht mehr oder noch nicht für möglich gehaltenen Vielfalt jüdischer Einrichtungen und Aktivitäten entwickelt. Bisher ist dieses Angebot in inhaltlicher und organisatorischer Hinsicht noch einmalig und existiert zur Zeit noch nirgends sonst hierzulande, auch nicht in den anderen Orten mit sog. jüdischen Großgemeinden wie München, Düsseldorf oder Frankfurt. Diese Entwicklungen meinen zunächst den religiösen Kernbereich, in dem sich seit den frühen 90er Jahren bisher nicht vertretene religiöse Richtungen mit eigenen Betkreisen innerhalb der JGB herausgebildet haben, so dass heute in Berlin nahezu alle hierzulande vertretenen jüdischen Richtungen erstmals an einem Ort in Deutschland präsent sind, von ULTRAORTHODOX bis EGALITÄR. Außerdem haben sich seit 1990 in Berlin an der Peripherie sowie außerhalb der jüdischen Gemeinde eine Fülle an Initiativen und Gruppenaktivitäten mit jüdischem Hintergrund herausgebildet, die von religiösen über soziokulturelle bis zu geschäftlichen Einrichtungen reichen; ebenfalls ein in dieser Breite bislang nirgends sonst in Deutschland anzutreffendes Feld. Eine weitere Prämisse im Vorfeld der Untersuchung lautet daher, dass sich im jüdischen Berlin qua Größe des örtlichen jüdischen Kollektivs sowie der spezifischen historischen, politischen und stadträumlichen Situation weitreichendere Ausprägungen dessen, was heutzutage jüdisches Leben in Deutschland ausmacht oder ausmachen könnte, finden lassen. Allerdings erscheint es nur möglich, die bemerkenswerte aktuelle örtliche jüdische Entwicklung genauer zu erforschen, indem ortsspezifische Hintergründe und Entwicklungsbedingungen in einer unverzichtbar die Vergangenheit einbeziehenden Perspektive in den Blick genommen werden: So nahm jüdische Existenz in Berlin im Rahmen der hiesigen Diaspora insgesamt bereits über 150 Jahre hinweg bis in die NS-Zeit in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung ein.13 Hier konnte sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts erstmals nach der gewaltsamen Auflösung der jüdischen Stadtgemeinden im Spätmittelalter in Deutschland wieder ein neues jüdisches Bürgertum herausbilden. Mehr noch, in der zweiten Hälfte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts entwickelten sich hier in der rasant heranwachsenden Metropole, einer der größten damaligen Städte der Erde, verschiedene jüdische Lebensentwürfe wie in einem gewaltigen Laboratorium der Moderne.14 Diese reichten von dem weitgehend 13 Vgl. Kap. II.1.3. zu den entsprechenden Entwicklungen in West- und Ostdeutschland sowie Kap. II.1.4. zu denjenigen in Berlin. 14 Am ehesten lässt sich in Frankfurt a. M., wo sich vor Berlin in der frühen Neuzeit das geistige Zentrum der jüdischen Diaspora in Deutschland befunden hatte, eine etwas ähnliche Entwicklung in der Vor-NS-Zeit zu Berlin benennen. Auch hier währte die Blüte jüdischen Lebens innerhalb und außerhalb der Gemeinde über eine vergleichsweise lange Zeit (nämlich von der Napoleonischen Ära bis 1933). Heute ist die Jüdische Gemeinde in Frankfurt a. M. als nur noch viertgrößte Gemeinde in Deutschland mit ca. 6000 Mitgliedern etwa halb so groß wie die JGB. – Für den deutschsprachigen, über Deutschland hinausreichenden Raum müsste aber auch Wien als ein unbestrittenes Zentrum jüdischen Lebens von europäischem Rang hinzugezählt werden. Hier lag der jüdische Bevölkerungsanteil nach absoluter Größe
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akkulturierten oder sogar assimilierten jüdischen Groß- und Bildungsbürgertum im Zentrum und im Westen der Hauptstadt über Bohemes und kleinbürgerliche Existenzen, bis zu den sehr religiös orthodox-chassidisch orientierten, meist ärmlichen osteuropäischen ‚Schtetl-Juden‘ des berüchtigten damaligen Scheunenviertels.15 Die wichtigsten innerjüdischen, nicht minder gegensätzlichen religiösen und geistigen Strömungen jener Jahre – Reformjudentum, Neoorthodoxie und Zionismus – nahmen von hier ihren Ausgangspunkt oder erhielten von hier entscheidende Impulse. Berlin avancierte in jenen Jahrzehnten weit über Deutschland hinaus zu einer der bedeutendsten Städte des Judentums. Andererseits kann die heutige Entwicklung im jüdischen Berlin nur vor den Folgen der allgemeinen NS-Vernichtungspolitik und dem Hintergrund der schwierigen Nach-Kriegs-Jahre in der geteilten Stadt begriffen werden. Nach der NS-Zeit war hier nahezu nichts von dem übrig geblieben, was örtliche jüdische Existenz ausgezeichnet hatte: Über 50.000 ermordete Berliner Juden sowie weit über 100.000 dauerhaft verjagte waren die Bilanz beispiellosen Zivilisationsbruchs.16 Immerhin entwickelte sich in der in vier Sektoren und bald in zwei Hälften geteilten Frontstadt des kalten Krieges die größte hiesige jüdische Nachkriegsgemeinde, wenn auch ihr die Teilung nicht erspart blieb. Die ungleich ungünstigeren Bedingungen in der Gemeinde im Ostteil der Stadt zeigten sich in deren quantitativen Niedergang: Sie bestand zu Beginn der DDR-Wende nur noch aus einigen überwiegend betagten Mitgliedern. Zwar konnte sich die WestGemeinde unter dem ihr jahrzehntelang vorstehenden ‚Patriarchen‘ Heinz Galinski als größte jüdische Gemeinde der winzigen Diaspora hierzulande nach dem Zweiten Weltkrieg konsolidieren, blieb sie bei allem jedoch ein jüdisches Provisorium im deutschen Provisorium Westberlin. Die einmalige jüdische Entwicklung in Berlin setzt sich seit der Wende in der DDR mit der Fusion der beiden ungleichen Teilgemeinden bzw. der Übernahme der Ost- durch die 30-fach größere Westgemeinde fort. Außerdem nahm im Interim der Noch-DDR in Ostberlin die russischsprachige Zuwanderung ihren Anfang, die der deutschlandweiten jüdischen Gemeinschaft seitdem ein völlig neues Gepräge gegeben hat. Eine weitere Prämisse im Vorfeld der Untersuchung lautet daher, dass sich im jüdischen Berlin qua Größe des örtlichen jüdischen Kollektivs sowie der spezifischen historischen, politischen und stadträumlichen Situation weitreichendere und in Relation zur übrigern Bevölkerung in den 20er Jahren mit ca. 200.000 Personen sogar über denen des größeren Berlin; vgl. Julius H. Schoeps (Hg.): „Neues Lexikon des Judentums“, Gütersloh 2000, S.186. 15 Zum Scheunenviertel vgl. den Exkurs das Kap. II.2.4.2., S. 165 ff. 16 Allerdings – und das ist eine der erstaunlichsten Tatsachen jener Schreckensjahre – hatten sich noch während der schlimmsten Verfolgungsphase in den Jahren der Massendeportationen in die Todeslager und gegen Ende des Zweiten Weltkriegs kleine Residuen jüdischen Überlebens ausgerechnet in der Hauptstadt des Dritten Reichs im Untergrund bewahrt. Auch dieses Überleben tausender sog. jüdischer ‚U-Boote‘ und geheimer, teilweise sogar ritueller Treffen auf jüdischen Friedhöfen der Stadt, ist deutschlandweit einmalig; vgl. Kap. II.2. sowie II.2.1.1., S. 129 f.
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Ausprägungen dessen, was heutzutage jüdisches Leben in Deutschland ausmacht oder ausmachen könnte, finden lassen.
1.2. Themeneingrenzung und Leitfragen Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie sind bestimmte neuere Entwicklungen innerhalb des jüdischen Berlins, wie sie sich seit den dreifachen Vereinigungsprozessen beider deutscher Teilstaaten, der zwei Berlin-Stadthälften sowie der Ost- mit der Westberliner Gemeinde in den Jahren 1989/90 herausgebildet haben. Allgemein können diese als qualitative Ausweitungen und Ausdifferenzierungen jüdischen Gemeinschaftshandelns bzw. kultureller und soziokultureller Angebote im jüdischen Berlin über die Kernbereiche der Gemeinde hinaus bezeichnet werden.17 In den ersten Nachkriegsjahrzehnten bestand außerhalb des privaten bzw. familiären Bereichs jüdische Existenz in Berlin und im übrigen Deutschland noch fast ausschließlich aus Gemeindeleben. Auch die zögerlich sich herausbildenden gemeindeübergreifenden Organisationen18 waren noch eng an das Gemeindeleben angebunden. Demgegenüber zeichnet sich in Berlin seit etwa den o. g. Vereinigungszäsuren bis heute die Herausbildung einer größeren Anzahl unterschiedlicher jüdischer Basis-Aktivitäten mit einer relativ hohen Entwicklungsdynamik ab. Überwiegend sind sie im weitesten Sinne im soziokulturellen und geschäftlichen Bereich angesiedelt. Aber auch bisher vor Ort nicht vorhandene innerjüdische religiöse Ausrichtungen und Gottesdienstformen (egalitäre und sephardische Minjane) sind in der Metropole seit den frühen 90er Jahren auf diese Weise entstanden. Die herausragendste Gemeinsamkeit all dieser Initiativen besteht darin, dass sie sich in den letzen zehn bis fünfzehn Jahren an der Peripherie oder sogar ganz außerhalb der Berliner Gemeindestrukturen ‚von unten‘ entwickelt haben. Das Hauptaugenmerk der Studie richtet sich dabei auf über den religiösen Kernbereich hinausgehende, im kulturellen sowie soziokulturellen Bereich tätige neuere Gruppenaktivitäten sowie auf die Befragung von in diesen Initiativen maßgeblich Engagierten (s. u.). Denn m. E. entstehen in diesen Gruppen gegenwärtig originär jüdische Deutungs- und Handlungspraktiken, d. h. hier werden jüdische Inhalte formuliert sowie verbreitet und es kommt zugleich zu jüdischer Gemeinschaftsbildung. Sie erscheinen damit im Kontext des o. g. aktuellen innerjüdischen Wandels besonders aufschlussreich, da in ihnen Jüdisches und jüdische Identität in bisher hierzulande nicht oder kaum üblichen Formen und Bereichen thematisiert bzw. kommuniziert wird. Damit können sie als beredtes Zeug17 Die jüdische Kulturwissenschaftlerin Diana Pinto spricht für die europaweite Ebene in Folge und seit den Umbrüchen 1989/90 von kulturellen „growing jewish spaces“; vgl. dies.: „The third pillar? Toward a European Jewish Identity“, in: GOLEM. Europäisch-jüdisches Magazin Nr. 1, 1999, S. 37 sowie das entsprechende Stichwort ‚Jüdische Räume‘ unten im Begriffsbestimmungs-Kap, I.3. 18 Wie etwa die Sportvereinigung Makkabi Deutschland (1965) und der Bundesverband jüdischer Studenten (1968).
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nis der o. g. Ausweitung jüdischen Lebens in Berlin und in Deutschland überhaupt gelten. Alle untersuchten Projekte und Initiative sind öffentlich zugänglich und mit ein bis zwei begründeten Ausnahmen deutschsprachig. Dabei bedarf der Verzicht auf religiöse und russischsprachige Projekte einer kurzen Erläuterung. Der Tatsache, dass in den untersuchten Gruppierungen Religion eine Rolle spielen kann, jedoch nicht muss, kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Schließlich wird im Vorfeld der Studie für die jüdische Seite gegenwärtig von einem ähnlich zum christlichen Bereich weit fortgeschrittenen Prozess der Verweltlichung ausgegangen bzw. von einer nicht minder ausgeprägten jüdischen Akkulturation an die überwiegend säkulare Mehrheitsgesellschaft. Das Engagement in den untersuchten Aktivitäten ist demgegenüber mehrheitlich nicht von einem bestimmten Grad an Religiosität abhängig. In den untersuchten Gruppenaktivitäten finden sich daher sehr religiöse bis areligiös orientierte Juden. Antriebe für ihr innerjüdisches Engagement können entsprechend aus religiösen, kulturellen, humanistischen, zionistischen oder weiteren Motiven bestehen. Der andere Grund für die Ausrichtung auf überwiegend außerreligiöse Aktivitäten besteht in der Überzeugung, dass es als von außen das Untersuchungsfeld beleuchtender nichtjüdischer Wissenschaftler weitaus schwieriger ist, religiös bestimmte Gemeinschaftsaktivitäten intensiver zu untersuchen, ohne religiöse Gefühle zu verletzen bzw. außen vor zu bleiben. Ähnlich verhält es sich mit der Russischsprachigkeit. Einige untersuchte Initiativen werden zwar überwiegend oder ausschließlich von aus der ehemaligen SU bzw. den GUS-Staaten Stammenden betrieben. Dennoch haben sie sich in ihrer Arbeit größtenteils zur Deutschsprachigkeit entschlossen, da es in diesen um eine herkunftsgruppenübergreifende Vermittlung jüdischer Inhalte und Gemeinschaft geht. Die in anderen Studien untersuchte russischsprachigen Gemeinschaftsaktivitäten sowie Integrationsbemühungen sind nicht Thema der vorliegenden Untersuchung. Hier geht es vielmehr um die andere, die Innenseite des hiesigen jüdischen Kollektivs. Es geht um Menschen unterschiedlicher Herkunft, die im hiesigen, deutschsprachigen Judentum schon immer oder seit einiger Zeit verankert sind und mit ihrem maßgeblichen innerjüdischen Engagement auf unterschiedlichen Ebenen u. a. auch einen Beitrag leisten, dass andere, kaum oder gar nicht Integrierte, an das hiesige bzw. örtliche Judentum andocken können.19 Unbenommen von den inhaltlichen Argumenten erscheint eine ausschließlich in russischsprachigen Gruppierungen und Treffs angelegte Untersuchung im Unterschied zu der vorliegenden nur mit russischsprachigen Forschenden möglich.
19 Eine Ausnahme stellen der hebräischsprachige Israelische Stammtisch sowie die teilweise russischsprachige Jüdische Galerie dar. Sie wurden in die Untersuchung einbezogen, gerade weil es sich hier wie bei den übrigen untersuchten Initiativen auch nach Inhalt um innovative, explizit jüdische Einrichtungen handelt und nicht um erst die Integration ins Jüdische mit außerjüdischen Angeboten fördernde Vorfeldaktivitäten.
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Dabei wird in der Studie auf die stadt- und kultursoziologische Klassik bzw. die neuere soziologische Individualisierungs- und Pluralisierungsdiskussion rekurriert. Denn es erscheint m. E. sinnvoll, danach zu fragen, ob und in welcher Weise jüdische Existenz in Berlin auf die bereits von Georg Simmel gerade in Berlin und anderen Metropolen seiner Zeit beobachtete und in den letzten Jahren weit voranschreitende Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen und Lebenslagen reagiert. Anders herum gefragt, gibt es in der jüdischen Gemeinschaft in Berlin Hinweise auf posttraditionale Formen der Vergemeinschaftung sowie der Generierung kultureller Codes jenseits der im Zentrum des Judentums auch in der Metropole stehenden Vermittlungen religiöser Inhalte und sozialer Erfahrungen in der örtlichen Gemeinde? Als bevorzugtes Untersuchungsmaterial für diese Fragen bieten sich die neueren Gruppenaktivitäten am Rand und außerhalb der Gemeinde an, denn die Generierung des Jüdischen als sozialer und kultureller Zusammenhang findet in diesen Initiativen und Einrichtungen auf zweierlei Ebenen statt: • Einerseits entstehen in ihnen bisher vor Ort nicht existente jüdische Vergemeinschaftungsweisen über die traditionellen familiären sowie durch die Gemeinde ermöglichten Formen hinaus. • Andererseits kommt es hier aktuell zu einer inhaltlichen Erweiterung dessen, was hierzulande der Bedeutung nach als originär jüdisch gelten kann. Untersucht wurden soziokulturelle Gruppenaktivitäten wie der Ostberliner Kulturverein, die jüdische Homosexuellengruppe und der Studentenbund, aber auch kommerziell erfolgreiche säkulare Projekte wie eine Galerie, ein Internetanbieter und ein Lebensmittelgeschäft. In manchen dieser Gruppen spielen auch Nichtjuden als Akteure, Nutzer oder Kunden eine gewisse Rolle, ohne dass dies in deren Zentrum steht.20 Im Verlauf der Untersuchung stellte sich schnell heraus, dass diese Aktivitäten durch drei Charakteristika geprägt sind: • Unter den analysierten Initiativen besteht eine relativ große Heterogenität nach Inhalten bzw. Herkommen. D. h., dass kein bestimmtes innerjüdisches Teilmilieu analysiert wurde (etwa Orthodoxe oder Russischsprachige). • Die meisten hier behandelten Gruppenaktivitäten sind erst in den letzten 1015 Jahren entstanden D. h. das Untersuchungsfeld stellt einen noch relativ jungen und dynamischen Bereich im jüdischen Berlin dar. • Die untersuchten Initiativen und Einrichtungen besitzen nach Form und Inhalt für die jüdische Community Berlins aber auch deutschlandweit größtenteils einen innovativen Charakter. Die Leitfragen der Studie lassen sich auf zwei maßstäblich unterschiedlichen Ebenen umreißen, wobei diese in der abschließenden kommentierten Gliederung
20 Im Unterschied etwa zu den seit Jahrzehnten deutschlandweit agierenden Gruppen Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG) oder Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (GfCJZ).
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bei der Benennung der beiden empirischen Hauptteile der Studie III. und IV. näher erläutert und weiter ausdifferenziert werden. Auf einer grundsätzlichen Ebene wird nach aktuellen Ausweitungs- und Ausdifferenzierungsprozessen jüdischer Existenz in der Metropole (und z. T. auch darüber hinaus in Deutschland) gefragt. Die Frage lautet konkret, ob diese in Berlin tatsächlich stattfinden und auch innerjüdisch als solche wahrgenommen werden, oder ob es sich hier im Eigentlichen um diskursive Konstrukte handelt. Der ortsspezifische Fokus bezieht sich dabei auf den kulturellen, außerreligiösen Bereich sowie auf die im Falle seines o. g. Wandels verbundenen Konsequenzen für die Möglichleiten innerjüdischer Vergemeinschaftung. Diese Forschungsperspektive umfasst damit aber auch vice versa Fragen nach diesen Prozessen entgegenstehenden Restriktionen. Diese werden zum einen für den innerjüdischen Bereich erörtert. Einen bedeutenden Raum nehmen darüber hinaus aber auch Fragen nach der Bedeutung der das örtliche jüdische Kollektiv umgebenden nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft für die gegenwärtige Entwicklung im jüdischen Berlin ein. Untersucht werden ebenso jüdische Einschätzungen der Auswirkungen wissenschaftlich, touristisch, durch Moden oder philosemitisch motivierter nichtjüdischer Beschäftigungen mit Jüdischem und Juden in der Metropole wie von Antisemitismus. In der konkreten Beschäftigung mit Ausdrucksformen gegenwärtiger jüdischer Existenz in Berlin geht es auf einer kleinteiligeren Ebene um die o. g., überwiegend im soziokulturellen Bereich angesiedelten Gruppenaktivitäten. An Hand von ausgewählten Fallbeispielen werden deren spezifische Eigenarten und Entwicklungen genauer unter die Lupe genommen. Wie bereits oben angesprochen, werden diese Gruppeninitiativen als neuere Formen der Generierung jüdischer Kultur und jüdischer Vergemeinschaftung im Sinne von an gegenwärtigen großstädtischen Lebensbedingungen ausgerichteten jüdischen Bedeutungsräumen gesehen. Bei jeder Gruppe wird im Einzelnen danach gefragt, welche und in welcher Weise jüdische Inhalte vermittelt werden, aber auch, wie diese Gruppen innerjüdisch integrativ wirken. Das Interesse richtet sich dabei also auf die innerjüdische Bedeutung und Funktion dieser Initiativen sowie auf ihre weiteren Perspektiven. Die in diesen Gruppen maßgeblich Engagierten und in der Erhebung über sie Auskunft Gebenden erweisen sich dabei als Experten zu Charakteristika dieser Initiativen, aber auch in eigener Sache, etwa zu Fragen der eigenen Motivation bzw. des eigenen Andockens an sie. Zur Ergründung der Leitfragen wurde ein empirisches Befragungsdesign entwickelt. Im Zentrum der Studie steht eine Erhebung im genannten Untersuchungsfeld in Form einer qualitativen Befragung. Etwa 20 überwiegend in jeweils unterschiedlichen jüdischen Gruppenaktivitäten in Berlin seit Jahren maßgeblich engagierte Juden und Jüdinnen wurden im Zeitraum zwischen 2001 und 2004 in narrativen Leitfadeninterviews befragt. Die Absicht bestand hierfür darin, eine möglichst große Bandbreite an GesprächspartnerInnen nach den Merkmalen Gruppen-Tätigkeit, religiöse Orientierung, Herkommen sowie
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Geschlecht (anonymisiert) im Sinne einer maximalen Kontrastierung zu gewinnen. Vor und parallel zu der tonbandaufgezeichneten Haupterhebung wurden etwa 10 hauptamtlich in der Berliner Gemeinde oder in wissenschaftlichen Einrichtungen tätige Juden sowie einige wenige nichtjüdische Experten befragt und die Ergebnisse handschriftlich protokolliert.
1.3. Gliederung Im Vorfeld der weiteren Darstellung erscheint es an dieser Stelle sinnvoll, abschließend die Gliederung der Studie in groben Zügen vorzustellen. In den weiteren Abschnitten des ersten Teils geht es darum, das Instrumentarium der Untersuchung zu entwickeln und dabei die eigene Forscherperspektive zu reflektieren. Nach dem Abriss des Forschungsstands (Kap. I.2.) werden einige notwendige begriffliche Bestimmungen und Unterscheidungen vorgenommen. (Kap. I.3.). Im Anschluss erfolgt eine Eigenverortung als nichtjüdischer Forscher im jüdischen Untersuchungsfeld (Kap. I.4.). Schließlich werden in zwei Durchgängen die erkenntnistheoretischen Grundlagen (Kap. I.5.) und das spezifische methodische Vorgehen (Kap. I.6.) erläutert. Der zweite Teil beleuchtet zum einen den sozial- und kulturgeschichtlichen Hintergrund des Untersuchungsfeldes. Zum anderen wird eine möglichst genaue Deskription dessen gegenwärtiger Entwicklungen als originäre Leistung der Studie unternommen. Dies erfolgt in Kap. II.1. für die deutschlandweite Ebene sowie in Kap. II.2. auf der lokalen Berliner Ebene. In beiden Abschnitten werden dabei die Entwicklungen im religiösen und administrativen Bereich sowie seit 1990 die Zuwanderung russischsprachiger Juden aus der ehemaligen SU bzw. den GUS-Staaten aufgezeigt. Abschließend wird jüdische Gemeinschaftsbildung in Deutschland und Berlin unter der unverzichtbaren Einbeziehung der Entwicklung vor dem NS soziologisch verortet (Kap. II.3). Der außergewöhnliche Umfang der explorativen Vorarbeit der beiden empirischen Auswertungsteile (s. u.) entspricht der noch im folgenden Abschnitt näher ausgeführten geringen Forschungsliteratur sowie der ‚Blackbox-Situation‘ auf Grund der Dynamik der Entwicklung im Untersuchungsfeld in den letzten Jahren. Der dritte Teil ist einer der beiden empirischen Hauptparts der Studie. Hier wird den Einschätzungen der Befragten zu übergreifenden Aspekten jüdischer Gegenwartsexistenz in Berlin nachgegangen. In einem ersten Durchgang wird zunächst explorativ an Hand von Beispielen aus jüdischen Verlautbarungen in den Medien und zu öffentlichen Anlässen (Bücher, Filme, Annoncen, Reden) der innerjüdische Gebrauch von Narrativen wie ‚Renaissance‘ und ‚Revitalisierung in Deutschland‘ nachgezeichnet. Hiervon ausgehend werden entsprechende Einschätzungen der Erhebungsauswahl untersucht. (Kap. III.1.) In einem zweiten Schritt werden Äußerungen zu Berlinspezifika jüdischen Lebens in Berlin unter Einschluss bestimmter örtlicher Bedingungen der Berliner Gemeinde analysiert (Kap. III.2.). In der Erweiterung der Perspektive auf die Rolle der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft wird in einem dritten, ausgesprochen kultursoziologischen
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Anlauf nach der Bedeutung nichtjüdischer Inszenierungen bzw. modischer Besetzungen des Jüdischen gefragt (als Syndrom unter dem Begriff ‚Hype‘; Kap. III.3.). Ein letztes Kapitel behandelt lebensweltliche Wahrnehmungen der gerade in Berlin sehr präsenten Formen von latentem sowie manifestem Antisemitismus sowie Umgangsweisen hiermit aus dem Blickwinkel des Befragtenkreises (Kap. III.4.). In abschließenden Thesen erfolgt eine Zusammenschau der Einzelkapitel dieses dritten Untersuchungsparts (Kap. III.5.). Der vierte Teil bildet als der andere empirische Hauptpart zugleich den Abschluss der Untersuchung. Hier werden auf einer maßstäblich kleinteiligeren, konkreten Ebene an Hand eines bestimmten Frage-Parcours sieben ausgesuchte jüdische Gruppenaktivitäten aus dem Peripheriebereich sowie außerhalb der örtlichen jüdischen Gemeinde stehend mit eigenen Fallstudien untersucht. Die Gruppen umfassen in der Reihenfolge ihrer Darstellung den ‚Jüdischen Kulturverein‘ (Kap. IV.2.), den ‚Jüdischen Studentenbund‘ (Kap. IV.3.), die ‚Nahostgruppe‘ (Kap. IV.4.), die ‚Jüdische Galerie‘ (Kap. IV.5.), die HomosexuellenGruppe ‚Yachad‘ (Kap. IV.6.), den ‚Israelischen Stammtisch‘ (Kap. IV.7.) sowie den Internetanbieter ‚Milch und Honig‘ (Kap. IV.8.). Ein letzter Abschnitt fasst die Ergebnisse der Einzelfallstudien thesenartig zusammen (Kap. IV.9.). Beendet wird die Studie mit einer bilanzierenden Zusammenschau (Kap. V.).
2. Forschungsstand „Heute ist eine Soziologie der Juden nur noch dort sinnvoll, wo [...] eine Großzahl von Juden zu erfassen ist. Überdies auch nur dort, wo eine kontinuierliche Linie der Ansässigkeit so weit in die Vergangenheit zurückführt, daß sich eine Entwicklungslinie etablieren lässt.“ Alphons Silbermann21
Mittlerweile, über 60 Jahren jüdischer Existenz in Deutschland nach Auschwitz, könnte davon ausgegangen werden, dass diese Thematik ein dankbares Forschungsfeld für die hiesigen gegenwartsorientierten ‚Menschenwissenschaften‘ (N. Elias) darstellt. Dies gilt umso mehr für die Soziologie. Schließlich ist deren Herausbildung als eigenständige Wissenschaft überwiegend jüdischen oder jüdischstämmigen Fachvertretern geschuldet. Stellvertretend für viele Weitere der soziologischen und sozialwissenschaftlichen Klassiker im deutschsprachigen Raum sei hier nur an Karl Marx, Georg Simmel, Karl Mannheim, Norbert Elias, Siegfried Kracauer, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Erich Fromm und Hannah Arendt sowie an Siegmund Freud, Paul F. Lazarsfeld und Marie Jehoda erinnert. Von dem Aderlass der Vertreibung der meisten von ihnen haben sich die genannten Disziplinen in Deutschland schließlich nie völlig 21 Ders.: „Zur Problematik einer ‚Soziologie der Juden‘“, in: Andreas Nachama/Julius H. Schoeps (Hg.): Aufbau nach dem Untergang. Deutsch-jüdische Geschichte nach 1945, Berlin: Argon 1992, S 373
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erholen können. Eine weitere Motivation zur Beschäftigung mit der kleinen Gruppe hierzulande lebender Juden könnte darin vermutet werden, dass viele der hiesigen Fachvertreter aktuell der Generation angehört, die als '68er gegen die Verdrängungsleistung der eigenen Verstrickung oder Mitschuld an dem NS und der Judenverfolgung ihrer Elterngeneration rebelliert haben. Trotz dieses Hintergrunds kann für das erste halbe Jahrhundert nach 1945 das Gegenteil behauptet werden. Zwar entwickelte sich seit den Auschwitzprozessen vor 40 Jahren und '68 in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen der Jurisprudenz, der Geschichtswissenschaft und in deren Folge der Psychologie und Pädagogik ein wachsendes Interesse an hiesigen Juden, doch meinte dies vor allem Juden als Opfer der NS-Verfolgung. Die Soziologie blieb mit Abnahme ihrer eigenen kulturgeschichtlichen und sozialphilosophischen Grundierung aus der Vorkriegszeit auch an diesen Diskursen lange außen vor. Eine Auseinandersetzung mit jüdischer Gegenwartsexistenz fand, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in der Soziologie bis vor wenige Jahre nicht statt.22 So resümierte der deutsch-jüdische Soziologe Y. Michal Bodemann noch 1996: „Über keine gesellschaftliche Gruppierung in Deutschland ist soviel geschrieben und keine dabei so beschwiegen worden wie die Juden. Größere Museen und Gedenkstätten erinnern an ihre Geschichte. [...] diese Beschreibungen jüdischen Lebens beziehen sich mit wenigen Ausnahmen auf jüdische Geschichte, die keine Fortsetzung gefunden hat [...] – Es ist dagegen charakteristisch, dass die real existierenden Juden der alten Bundesrepublik nur in einer einzigen empirisch fundierten, bezeichnenderweise bis heute unveröffentlichten, Arbeit ihre Darstellung gefunden haben – der Dissertation von Harry Maòr aus dem Jahre 1961.“23
Jedoch ist zu vermuten, dass jüdische Vorbehalte gegenüber ihre nichtjüdischdeutsche Erforschung ebenfalls eine gewisse Rolle gespielt haben dürften (s. u.). Tatsächlich hat sich an dieser misslichen Situation in der letzten Dekade einiges zum Positiven verändert: Jüdische Gegenwart wird zunehmend aus verschiedenen disziplinären Blickwinkeln, z. T. auch empirisch, untersucht. Unter dem ‚Nachholeffekt‘ für die vergangenen Jahrzehnte ist außerdem noch mit einer weiteren Zunahme dieser Beschäftigung zu rechnen. Dennoch bleibt negativ für die Gegenwartssoziologie zu konstatieren, dass eine systematische und kontinuierliche Behandlung jüdischer Nachkriegs- und Gegenwartsexistenz aussteht. Für die Studie gilt, dass über disziplinäre Grenzen hinweg immerhin auf einen in den 22 Eine Ausnahme bildete über Jahrzehnte der deutsch-jüdische Soziologe Alphons Silbermann mit zahlreichen Veröffentlichungen über Judentum sowie Antisemitismus in den 60er und 70er Jahren. Erst in den 90ern ‚entdeckte‘ ein Gegenwartssoziologe die Schoah für die zeitgenössische Soziologie, nämlich Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager, Frankfurt a. M: S. Fischer 1993 23 Y. Michal Bodemann: Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung. Mit einem Beitrag von Jael Geis, Hamburg: Rotbuch 1996, S. 9 – Bodemann, aus einer deutsch-jüdischen Familie stammend, lehrt als Universitätsprofessor in Toronto (Kanada) und lebt darüber hinaus auch in Berlin, wo er Mitglied der jüdischen Gemeinde ist.
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letzten Jahren deutlich wachsenden Fundus an Forschungsliteratur wie auch bedeutsamer außerwissenschaftlicher literarischer Zeugnisse zurückgegriffen werden kann, der sich in groben Bezügen auf vier unterschiedliche Bereiche verteilt: a) Selbstdarstellungen: Diese machen etwa seit den frühen 80er Jahren ein eigenes Genre der hiesigen (nichtwissenschaftlichen) Literatur zu jüdischer Gegenwartsexistenz in Deutschland aus. An erster Stelle sind die von zu nennen, die seit machen. Hierunter fallen Autobiographien (etwa von Alphons Silbermann, Marcel Reich-Ranicki, Ignatz Bubis und Paul Spiegel), Selbstverortungen von Autoren der zweiten Generation (wie Henryk M. Broder, Micha Brumlik, Michel Friedmann, Elisa Klapheck und Rafael Seligmann) sowie Gesprächsaufzeichnungen, in denen meist jüdische Autoren in Deutschland lebende Juden zu ihrem hiesigen Leben befragen.24 Diese nichtwissenschaftliche Literatur ist in ihrer Bedeutung für die wissenschaftliche Beschäftigung im Themenfeld recht hoch einzuschätzen, erlaubt sie doch erste Annäherungen an die Thematik und stellt darüber hinaus eine bedeutende Quellenbasis dar. b) Gesamtdarstellungen jüdischer Nachkriegs- und Gegenwartsexistenz in Deutschland: Diese zweite Gruppe besteht aus wissenschaftlichen Publikationen. Als Standardwerk zu jüdischem Leben in beiden Teilen Deutschlands zwischen 1945 und 1990 kann eine umfassende Arbeit der Historikerin Erica Burgauer genannt werden; einige Sammelbände widmen sich ebenfalls dieser Thematik.25 Dünner gesät sind Arbeiten zur jüdischen Gegenwartstsexistenz. Eine herausragende Stellung nehmen dabei die wissenschaftlich-essayistischen Arbeiten des oben bereits zitierten Soziologen Y. M. Bodemann ein. Ihm verdankt die vorliegende Studie viele wichtige Anregungen, insbesondere zum deutsch-jüdischen Verhältnis. Schließlich existiert eine explorativ-qualitative, interviewgestützte psychologische Untersuchung zu Gegenwartsidentitäten jüdischer Nachgeborener (nach der Schoah).26 24 Eine der umfangreichsten ist die o. g. des jüdischen Publizisten R. C. Schneider: Wir sind da! Die Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis heute. 25 An dieser Stelle seien nur die für die vorliegende Studie bedeutendsten Arbeiten von Erica Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung – Juden in Deutschland nach 1945, Hamburg: Rowohlt TB, 1993 sowie zwei Sammelbände genannt: Günther B. Ginzel (Hg.): Der Anfang nach dem Ende. Jüdisches Leben in Deutschland von 1945 bis heute, Düsseldorf: Droste 1996 sowie Andreas Nachama/Julius H. Schoeps (Hg.): Aufbau nach dem Untergang. Deutsch-jüdische Geschichte nach 1945, Berlin: Argon 1992 erwähnt. Weitere Titel werden in den ersten beiden Teilen der Studie angeführt. – Bemerkenswert ist, dass noch Burgauer in der Recherche ihrer Arbeit auf Desinteresse oder Ablehnung jüdischer Kreise an der Aufarbeitung ihres Themas gestoßen ist, wie sie in der Einleitung schreibt. Sie fährt fort: „Nur wenige der angefragten [...] Institutionen (z. B. keine der Gemeinden) waren bereit, mir ihre Quellen zugänglich zu machen“; ebd., S. 9. Diese Situation hat sich mittlerweile deutlich geändert; vgl. unter d) im laufenden Text meine diesbezüglich positiven Erfahrungen in der Berliner Gemeinde. 26 Diana Treiber: ‚Lech Lecha‘. Jüdische Identität der zweiten und dritten Generation im heutigen Deutschland, Pfaffenweiler: Centaurus 1998
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c) Veröffentlichungen zur Zuwanderung russischsprachiger Juden nach Deutschland: Seit den frühen 90er Jahren liegen einige Forschungsarbeiten vor. An erster Stelle sind hierbei die umfangreicheren quantitativ-empirischen Studien von Schoeps et al. zu nennen.27 Bezeichnenderweise stammt das Forschungsinteresse aus den Jahren des zuwanderungsbedingten drastischen Wachstums der hiesigen Gemeinden nach 1990. Während bis Mitte der 90er Jahre überwiegend Auswanderungsmotive der Russischsprachigen und ihr ‚importierter‘ sozialer Hintergrund wie die Bereiche Religion, Bildung, Familie usw. im Vordergrund standen, geht es seit der zweiten Schoeps-Studie (s. o.) überwiegend um ihre hiesige Situation, also ihre innerjüdischen wie gesamtgesellschaftlichen Integrationsbedingungen. In diesen Arbeiten wird damit überwiegend ein innerjüdischer Defizitzustand an religiöser und kultureller Verwurzelung sowie an Integration in das bereits bestehende Gemeindeleben untersucht sowie entsprechende Ursachen, Erwartungen und Folgerungen usw.28 Eine einzige Arbeit hat bisher den Umbruch nach 1989 durch die osteuropäische Zuwanderung aus der Perspektive hiesiger Gemeinden untersucht.29 Auf dem aktuellsten Forschungsstand lässt sich außerdem eine ‚Miniaturisierung‘, also die Tendenz zu regionalen und themenspezifischen Teiluntersuchungen der Zuwanderung, ausmachen (s. u.). d) Literatur zum jüdischen Berlin: Diese ist quer zu den drei zuvor genannten Sparten verteilt und geht darüber hinaus. Zur Geschichte der Wiedererstehung der Berliner Gemeinde und der örtlichen jüdischen Existenz seit 1945 existieren im Bereich der unter b) genannten Publikationen lediglich einzelne Kapitel sowie einige Aufsätze, allerdings keine umfassende Gesamtdarstellung. Gleiches gilt für die Gegenwart.30 Als Ergebnis einer Befragung von mehr als 400 Gemeindemitgliedern liegt eine unveröffentlichte gemeindeinterne Publikation vor.31
27 Julius H. Schoeps/Willi Jasper/Berhard Vogt: Russische Juden in Deutschland. Integration und Selbstbehauptung in einem fremden Land, Weinheim: Beltz Athenäum 1996 sowie dies.: Ein neues Judentum in Deutschland? Fremd- und Eigenbilder der russisch-jüdischen Einwanderer, V. für Berlin und Brandenburg, Berlin 1999 28 Vgl. stellvertretend J. Schoeps et al.: Ein neues Judentum in Deutschland?, S. 96 ff. 29 Rainer Hess/Jarden Kranz: Jüdische Existenz in Deutschland heute, Berlin: Logos 2000 30 An erster Stelle seien hier die Längsschnittanalysen von Yvonne Schütze zu jungen russischsprachigen Juden in Berlin erwähnt; vgl. dies.: „Ich bin nur ein Jude und dann ein Russe. Der Akkulturationsprozess junger Juden im Zeitverlauf“, in: Soziale Welt Heft 3/2000, S. 304-324 sowie dies.: „Migrationsnetzwerke im Zeitverlauf – Junge russische Juden in Berlin“, in: Berliner Journal für Soziologie 13/2003, S. 145-296; außerdem im Rahmen einer regionalen allgemeinen Migrationsstudie der Aufsatz von Willi Jasper/Olaf Glöckner: „Jüdische Einwanderer aus der GUS nach Berlin“, in: Frank Gesemann (Hg.): Migration und Integration in Berlin. Wissenschaftliche Analysen und politische Perspektiven, Opladen: Leske + Budrich 2001. 31 Diese machte mir die in der Gemeinde beschäftigte Autorin, die Soziologin Judith Kessler freundlicherweise zugänglich; vgl dies.: Umfrage 2002. Mitgliederbefragung der Jüdischen Gemeinde in zwei Teilen, Berlin: Jüdische Gemeinde zu Berlin
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Schließlich gilt es noch, als bemerkenswerte jüdische Selbstzeugnisse die beiden nichtwissenschaftlichen ‚Reiseführer ins jüdische Berlin‘ von Andrew Roth und Michael Frajman sowie von Bill Rebiger anzuführen.32 Im eigentlichen Untersuchungsfeld – Jüdische Gruppenaktivitäten am Rand und außerhalb der Berliner Gemeinde – betritt die Studie gegenüber der o. g. Literatur weitgehend Neuland. e) Medie n: J enseits der Fachliteratur ist für eine Gegenwartsstudie zu jüdischer Existenz in Deutschland (und Berlin) besonders das regelmäßige Studium der hierzulande bestehenden jüdischen Medien (Zeitungen, Radio, Internet) unverzichtbar und z. T. auch entsprechende nichtjüdische. Abschließend anzumerken bleibt, dass Forschungsliteratur zu hiesiger jüdischer Existenz zu einem großen Teil von Juden und Jüdischstämmigen stammt, dass aber ein entsprechendes Engagement unter Nichtjuden in den letzten Jahren wächst bzw. auch generativ bei den Jüngeren zunimmt. Damit zeigt sich auch in diesem Feld, dass es, nicht anders als andere Bereiche auch, Ausdruck der besonderen und zugleich im Wandel begriffenen deutsch-jüdischen Verhältnisse ist.
3. Einige Begriffsbestimmungen im Themenfeld „Die fachliche Beschreibung sozialer Phänomene und meist auch deren Erklärung sind die Motive und die eigentlichen Ziele der Informationsbeschaffung.“ Hermann L. Gukenbiel33
Jede Wissenschaft sowie wissenschaftliches Forschen bedarf eines begrifflichen Instrumentariums, um den jeweiligen Untersuchungsgegenstand möglichst genau und unmissverständlich bereits im Vorfeld von Untersuchungsergebnissen zu umreißen bzw. zu definieren. Dieses Instrumentarium ist Ergebnis bestehender Erkenntnisse und muss in einem permanenten Fluss auf Grund neuerer Erkenntnisse aktualisiert werden. An dieser Stelle ist es notwendig, einige Klärungen von Begriffen vorzunehmen, die in der Studie häufiger Verwendung finden, deren genaue inhaltliche Bedeutung oder Abgrenzung nicht per se ersichtlich ist und deren Erklärung außerdem den Rahmen des Begriffs-Glossars im Anhang) sprengen würde. Zunächst geht es um Begriffe im Bedeutungsraum des Jüdischen vor dem örtlichen Hintergrund Berlin (Kap. I.3.1.). Im Anschluss daran werden Begriffe expliziert, die kulturelle Übergänge zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Sphäre markieren (Kap. I.3.2.). 2002. – Kessler hatte bereits ihre Magisterarbeit über die russischsprachige Zuwanderung in die Berliner Gemeinde verfasst; vgl. dies.: Jüdische Migration aus der ehemaligen Sowjetunion seit 1990. Beispiel Berlin, Hagen 1996 (unveröffentlicht). 32 Andrew Roth/Michael Frajman: Das jüdische Berlin heute. Ein Wegweiser, Berlin: Quadriga 1999 sowie Bill Rebiger: Das jüdische Berlin. Kultur, Religion und Alltag gestern und heute, Berlin: Jaron 2000 33 Ders.: „Zur Einführung in eine Wissenschaft. Warum Begriffe lernen?“, in: Helmut Korte/Bernhard Schäfers (Hg.) Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie, Opladen: Leske + Budrich UTB 1998, S. 12
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3.1. Kulturelle Phänomene im jüdischen Berlin 3.1.1. Der Kulturbegriff Die vorliegende Studie versteht sich primär als kultursoziologische Arbeit. Von welchem Kulturbegriff wird dabei ausgegangen? Die Klärung dieser Frage erfordert eine kurze Vorbemerkung: In kultursoziologischen Arbeiten ergibt sich mitunter die Schwierigkeit auszumachen, welche(r) Begriff(e) von Kultur jeweils zu Grunde liegen. Schließlich handelt es sich bei ‚Kultur‘ (oder seinem Pendant ‚Zivilisation‘) um vielschichtige Bestimmungen, deren Bedeutung einem nahezu kontinuierlichen Prozess der Veränderung unterliegt. Dennoch oder vielleicht besser deshalb erweisen sie sich allen definitorischen Problemen zum Trotz als unverzichtbar für die deskriptive Erfassung und theoretische Konzeptionalisierung gesellschaftlicher Phänomene und Entwicklungen. Als wichtigste neuere Wegbiegung der Kulturwissenschaften und damit der Kultursoziologie dürfte ein insbesondere aus dem angelsächsischen und französischen Raum ausgehender ‚Cultural Turn‘ stehen. Er reicht von interpretativen über konstruktivistische bis zu strukturalistischen Ansätzen.34 Gerade die Fülle an empirisch qualitativ ausgerichteten ethnographischen Arbeiten der letzten Jahrzehnte belegt diese Wendung. Nicht ganz zutreffend wird sie z. T. mit dem angelsächsischen Kulturalismus35 gleichgesetzt, der eher als eine bestimmte Spielart dieses Paradigmenwechsels gewertet werden kann. Die vorliegende Untersuchung ist in ihrem kulturwissenschaftlichen Selbstverständnis wie nicht minder auf ihrer erkenntnistheoretischen Ebene (s. u. Kap. I.5.) von dieser Wendung mitbestimmt. Kultur wird landläufig mit künstlerisch-ästhetischen Kulturäußerungen wie Film, Musik, Literatur und Theater gleichgesetzt. Auch wenn in der Studie zu Entwicklungen im jüdischen Berlin diesen kulturellen Bereichen eine große Rolle beigemessen wird, beschränkt sich die Perspektive nicht auf solche kulturellen Phänomene, die als künstlerisch codiert gelten. Entsprechend begrenzte und relativ statische Kulturbegriffe wie etwa der ästhezistische oder derjenige eines binären Modells von Hoch- und Populärkultur sind hier nicht gemeint. In der Studie wird vielmehr von einem dynamischen und pluralen wechselseitigen Prozess des Zusammenspiels zwischen sozialer Welt und der kulturellen, als ihrer Bedeutungsebene, ausgegangen. In diesen Kulturbegriff werden insbesondere bestimmte moderne überwiegend städtische Lebensweisen und die sie ausagierenden ge34 Zum Cultural Turn vgl. Andreas Reckwitz: „Praxis – Autopoiesis – Text“, in: ders./Holger Sievert (Hg.): Interpretation, Konstruktion, Kultur. Ein Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften, Opladen: Westdeutscher 1999 – Nach Winfried Gebhardt lässt sich die ‚Revitalisierung der deutschen Kultursoziologie‘ seit den späten 70er Jahren konstatieren; vgl. ders.: „Vielfältiges Bemühen. Zum Stand kultursoziologischer Forschung im deutschsprachigen Raum“, in: Barbara Orth/ Thomas Schwiedring/Johannes Weiß (Hg.): Soziologische Forschung: Ein Handbuch, Opladen: Leske + Budrich 2003, 215-226. 35 Vgl. Jan Engelmann (Hg.): Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies Reader, Frankfurt a. M.: Campus 1999
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sellschaftlichen Teilgruppen einbezogen. Die Untersuchung orientiert sich damit an so unterschiedlichen Ansätzen wie diejenigen von G. Simmel, der Chicagoer Schule der US-Stadtsoziologie, aber auch der phänomenologisch orientierten Kultursoziologie seit A. Schütz, den von C. Bourdieu inspirierten Richtungen sowie den Cultural Studies. Auf das Untersuchungsfeld im jüdischen Berlin bezogen heißt dies, dass Kultur hier alle ideellen oder materiellen Entäußerungen des sich selbst als Gemeinschaft begreifenden jüdischen Kollektivs meint, mit denen es sich insbesondere auf der Bedeutungsebene originär von anderen Gruppen oder dem gesamtgesellschaftlichen kulturellen Kanon unterscheidet. Die angelsächsischen Kulturalisten haben vor mittlerweile einem viertel Jahrhundert eine, wie ich finde, noch immer tragfähige Definition für einen dem hier vertretenen weitgehend entsprechenden Kulturbegriff geliefert: „Die Kultur einer Gruppe oder Klasse umfasst die besondere und distinkte Lebensweise dieser Gruppe oder Klasse, die Bedeutungen, Werte und Ideen, wie sie in den Institutionen, in den gesellschaftlichen Beziehungen, in Glaubenssystemen, in Sitten und Bräuchen, im Gebrauch der Objekte und im materiellen Leben verkörpert sind. Kultur ist die besondere Gestalt, in der dieses Material und diese gesellschaftliche Organisation des Lebens Ausdruck findet. Eine Kultur enthält die ‚Landkarten der Bedeutung‘, welche die Dinge für ihre Mitglieder verstehbar machen. Diese Landkarten […] Sie sind in den Formen der gesellschaftlichen Organisation und Beziehungen objektiviert, durch die das Individuum zu einem gesellschaftlichen Individuum wird. Kultur ist die Art, wie die sozialen Beziehungen einer Gruppe strukturiert und geformt sind; aber sie ist auch die Art, wie diese Formen erfahren, verstanden und interpretiert werden.“36
Dieser Kulturbegriff nimmt vor allem partielle, subkulturelle Äußerungen in den Blick, die neben oder unterhalb der insbesondere schulisch und medial vermittelten gesamtgesellschaftlich dominanten kulturellen Standards existieren. Häufig entstehen sie zunächst dort, wo sich in personeller und räumlicher Hinsicht die günstigsten Bedingungen zur Herausbildung kultureller Milieus ergeben: in sehr großen Städten und insbesondere in Metropolen. Gerade dort gewinnt neben Parametern wie Beruf, Bildung, und Alter vor allem Herkunft eine große kulturstiftende Bedeutung.37 Der hier vertretene Kulturbegriff erhält im Folgenden eine konkrete, durch die Thematik der Studie eine forschungsrelevante Eingrenzung. Die wichtigsten beiden Kriterien hierfür sind in der Wendung ‚jüdische Kultur in Berlin‘ enthalten. Sie sollen kurz aufgeschlüsselt werden:
36 John Clark/Stuart Hall/Tony Jefferson/Brian Roberts: „Subkulturen, Kulturen und Klasse“, in: John Clarke et al.: Jugendkultur als Widerstand. Milieus, Rituale, Provokationen, Frankfurt a. M.: Syndikat 1979, S. 41 37 In Metropolen wie New York und Berlin und noch mehr in den Megastädten der Schwellen- und Drittweltländer ist es gängig, dass ein Großteil oder die Mehrheit der Bevölkerung einen Migrationshintergrund besitzt.
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3.1.2. Das inhaltliche Merkmal ‚jüdisch‘ Im Themenfeld der Studie interessieren bestimmte soziokulturelle Ausprägungen, wie sie sich inhaltlich durch die Zugehörigkeit zum jüdischen Kollektiv und zu seinen Teilmilieus ergeben.38 Jüdische Kultur kann demnach als ein Ensemble der von Juden und Jüdinnen als jüdisch verstandenen und kommunizierten religiösen wie auch nichtreligiösen Bedeutungen, Lebensweisen und deren Manifestationen definiert werden. Diese Definition erscheint in der sozialen Wirklichkeit allerdings oftmals weitaus weniger eindeutig als auf dem Papier39, wie an zwei Beispielen der Bestimmung jüdischer bzw. vermeintlicher jüdischer Kultur kurz gezeigt werden soll: (1) Literatur: Das erste Beispiel ist aus dem Bereich der schönen Künste gewählt. Dabei soll es hier um die scheinbar schlichte Frage gehen: Was hat eigentlich als jüdische Literatur zu gelten? – mit der ich als Gegenfrage bereits in dem ersten Erhebungsgespräch konfrontiert und überfordert wurde. Ohne an dieser Stelle mit einer der Literaturwissenschaft vorbehaltenen aufschlussreichen oder sogar abschließenden Antwort aufwarten zu können, sollen hier nur unkommentiert verschiedene Antwortmöglichkeiten aufgelistet werden. Als jüdische Literatur könne demnach mit ganz unterschiedlichen Begründungen bezeichnet werden: • Literatur mit religiös jüdischem Inhalt;7 • Literatur von Juden; • Literatur von Juden und Judenstämmigen; • Literatur von Juden mit einer inhaltlich explizit jüdischen Perspektive; • Literatur von Juden, die sich explizit an ein jüdisches Publikum richtet; • Literatur von Juden und Nichtjuden zu jüdischen Themen. Je nach Antwort bestünde eine virtuelle ‚jüdische Bibliothek‘ aus völlig unterschiedlichen Folianten! Das Beispiel könnte natürlich aus einem anderen künstlerischen Bereich, wie etwa der Musik, ebenfalls gewählt werden, ohne dass dies an der Schwierigkeit der Einordnung etwas ändern würde. Kursiv erscheint die hier zu Grunde liegende Definition, wobei im Einzelfall auf Interpretenseite immer wieder die jüdische Perspektive genau begründet werden muss: ‚Was macht ein Thema zu einem jüdischen?‘ (2) Jüdische Einrichtungen Das zweite Beispiel bewegt sich stärker im Bereich der vorliegenden Untersuchung jüdischer Gruppenaktivitäten: Hierbei lautet die Frage: Was macht in Berlin bspw. ein Geschäft, Theater, Restaurant usw. zu einem jüdischen? Anders herum lässt sich für die Metropole fragen: Gibt es in Berlin pseudojüdi-
38 Natürlich immer im halachischen Sinne, der matrilinearen Geburtsjüdischkeit oder des Übertritts zum Judentum. 39 Oder als bei der Unterscheidung zwischen dem jüdischen Witz (von und über Juden) von dem Judenwitz (von Nichtjuden über Juden).
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sche Aktivitäten und wenn ja, worin bestehen sie? In der explorativen Sichtung des Untersuchungsfelds zeigt sich schnell, dass ‚nicht überall wo jüdisch drauf steht, auch jüdisch drin ist‘, um einem Ergebnis der Untersuchung vorzugreifen. Allerdings wird dieser Fragenkomplex hier nicht weiter erörtert, da er im Empirieteil der Studie in Kap. III.2. ausgiebig erörtert wird. Die beiden Beispiele dokumentieren, dass gerade die vielfache Eingebundenheit moderner jüdischer Diasporagemeinschaften in nichtjüdische Mehrheitsgesellschaften40 vielfache Grauzonen, Überschneidungen und Widersprüchlichkeiten im Unterschied zu exakten Einordnungen und Abgrenzungen mit sich bringen, Dies wird, wie im vorliegenden Fall, noch dann verstärkt, wenn es sich um eine sehr dynamische Entwicklung dieser jüdischen Diasporagemeinschaft handelt. Auf Grund dieses Wesensmerkmals jüdischer Existenz in Berlin wird es in der vorliegenden Studie für ausgesprochen notwendig erachtet, den mitunter widersprüchlichen Grenzraum zwischen jüdischen und nichtjüdischen kulturellen Äußerungen mit besonderer Aufmerksamkeit zu untersuchen. Schließlich sind jüdische Kulturäußerungen im Untersuchungsfeld außerdem durch inner-jüdische Teilmilieus geprägt, wie sie sich durch aktuelle lebensweltliche Pluralisierungen in der Gesamtgesellschaft (s. u. Kap. II.3.2.2.) wie auch innerhalb des jüdischen Kollektivs in Deutschland und Berlin vermehrt ergeben. Diese liegen z. T. quer zu dem gemeinsamen Herkunftsmerkmal ‚jüdisch‘. Insbesondere bestehen in diesen Teilmilieus kulturelle Gemeinsamkeiten nach • religiöser Grundorientierung (wie orthodox, liberal oder atheistisch) • generationsspezifischen Erfahrungen • Herkunft aus verschiedenen Ländern und Gesellschaftssystemen (etwa aus der BRD, der DDR, der SU oder Israel) • sowie durch lebensweltliche Gemeinsamkeiten (wie die Bereiche Beruf, Freizeit, weltanschauliche sowie sexuelle Orientierung usw.).
3.1.3. Diverse Begriffe zu jüdischem Leben in Berlin (1) Das örtliche Eingrenzungskriterium Berlin Dieses ist im Zusammenhang mit dem o. g. Kriterium ‚jüdisch‘ einfach zu bestimmen. Jüdische Kultur in Berlin umfasst demnach alle in der Metropole vorfindbaren jüdischen Symbole, sozialen Formen und Wertvorstellungen. Fallen doch hierunter auch Einrichtungen und deren VertreterInnen, die nicht wegen der Existenz einer örtlichen jüdischen Gemeinschaft in Berlin verortet sind, sondern auf Grund dessen Hauptstadtfunktion. Jüdische Kultur wird in diesen Fällen auch von Juden repräsentiert, die auf der lebensweltlichen oder auf der organisatorischen Ebene keine gemeinsame Vergemeinschaftung mit hier dauerhaft lebenden Juden besitzen (müssen). Dies gilt etwa für die Israelische Botschaft, die Berliner Vertretung der Jewish Agency und deren jeweiliges Personal oder auch für den 40 Vgl. hierzu auch oben das Kap. II.3. zu der innergesellschaftlichen Verortung der heutigen jüdischen Gemeinschaft in Deutschland aus soziologischer Perspektive.
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Zentralrat der Juden in Deutschland. Sie sind alle mit ihrer innerjüdischen Tätigkeit primär auf die deutschlandweite Ebene bezogen bzw. auf die in Berlin lebenden Juden nicht mehr wie auf Juden in anderen hiesigen Städten auch. – Außerdem fallen unter den Begriff auch alle historisch überkommenen Zeugnisse jüdischer Kultur, die es in Berlin gibt und die außer Zusammenhang zu der heute dauerhaft in der Stadt lebenden jüdischen Gemeinschaft stehen. ‚Jüdische Kultur in Berlin‘ ist als erste der mit dem Adjektiv jüdisch versehenen vier Unterscheidungsebenen, die hier erläutert werden, die weitreichendste. Die Bestimmung des Begriffs hat gezeigt, dass er auch in seinen beiden Merkmalen eine für die Studie zu geringe thematische Eingrenzung aufweist, weswegen im Folgenden drei weitere Ebenen begrifflicher Eingrenzungen und Unterscheidungen erfolgen. (2) Jüdische Existenz in Berlin, Jüdisches Leben in Berlin oder Jüdisches Berlin Diese drei hier mehr oder minder synonym gebrauchten Wendungen umfassen die gleichen Bestimmungen wie der zuvor erläuterte Begriff jüdischer Kultur, soweit diese primär Ausdruck der • gegenwärtigen • und in Berlin ansässigen jüdischen Bevölkerung, also der heutigen jüdischen Gemeinschaft der Metropole sind. Konkret sind also mit den o. g. drei Wendung summarisch drei jüdisch codierte kulturelle Hauptbereiche gemeint: • religiös bestimmte Lebensweisen und ihre Manifestationen der dauerhaft in Berlin lebenden Juden (einschließlich etwa durch die religiösen Gesetze der HALACHA bestimmte weltliche, wie der Verzehr KOSCHERER Lebensmittel); • außerreligiöse soziale und kulturelle Lebensweisen und ihre Manifestationen, die in Berlin innerjüdisch und/oder der Öffentlichkeit gegenüber als explizit ‚jüdische‘ deklariert werden; • überwiegend öffentlich nicht wahrnehmbare private Orientierungen und Handlungen hier ansässiger Juden mit jüdischem Hintergrund, vor allem im Bereich Familie, Partnerschaft und anderen persönlichen Sozialbeziehungen. Gegenwärtiges jüdisches Leben in Berlin wird entsprechend der Eingrenzung der Studie nur im Bereich der beiden erstgenannten Aspekte thematisiert, da sich die Studie für im Berliner Stadtraum öffentlich zugängliches oder zumindest wahrnehmbares jüdisches Leben interessiert. Entsprechend ist das private jüdische Leben dem Forscherblick weitgehend entzogen.41 Darüber hinaus erscheint es angesichts der kaum übersehbaren Vielzahl an kulturellen Aspekten des Untersuchungsfelds im Sinne des o. g. Kulturbegriffs wichtig, zwei weitere forschungsperspektivisch notwendige Schwerpunktsetzungen und Eingrenzungen vorzunehmen. Entsprechend des Forschungsinteresses wendet sich die Studie in Berlin
41 Natürlich bedeutet dies keine gänzliche Aussparung, da der privat-jüdische Aspekt bei bestimmten Äußerungen der Befragten hineinspielt.
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• •
zum einen verstärkt aktuellen nichtreligiösen Ausprägungen jüdischer Kultur zum anderen neueren jüdischen Gruppenaktivitäten in Berlin zu.42
(3) Jüdische Gemeinschaft in Berlin Bei diesem Personenkreis handelt es sich um die Repräsentanten aller auf der vorherigen Ebene genannten innerjüdischen Bereiche. Ein entscheidendes Merkmal der Vergemeinschaftungsebene ist, dass ein aktiver Teil der örtlichen jüdischen Bevölkerung sich in synagogalen Betgemeinschaften oder auch in nichtreligiösen jüdischen Gemeinschaftsaktivitäten, etwa im künstlerischen oder sportlichen Bereich zusammenfindet. Aber auch das bewusste Tragen jüdischer Symbole in der mehrheitlich nichtjüdischen Öffentlichkeit kann, sofern es sich bei den TrägerInnen um in Berlin ansässige Personen und nicht um Touristen handelt, als ein deutliches Beispiel des aktiven Bekenntnisses zur örtlichen jüdischen Gemeinschaft gelten. (4) Jüdische Gemeinde zu Berlin (JGB) Hierbei handelt es sich um die in den beiden oberen Begriffen bereits aufgenommenen Bereiche, sofern sie im Rahmen der JGB angesiedelt sind. Da in den meisten jüdischen Gemeinden in Deutschland, insbesondere an den Orten, an denen sich erst in den letzten Jahren wieder Juden angesiedelt haben, jüdisches Leben und die Zusammenkünfte der jüdischen Gemeinschaft im Rahmen des örtlichen Gemeindelebens stattfinden, sind dort die drei Ebenen mehr oder weniger deckungsgleich. Wie bereits in der Einleitung ausgeführt, besteht gerade in Berlin demgegenüber die Besonderheit, dass das Gemeindeleben innerhalb der JGB nur einen Teil – wenn auch selbstverständlich den gewichtigsten – des jüdischen Lebens und der jüdischen Vergemeinschaftung in Berlin darstellt. Natürlich sind die Übergänge zwischen den aufgeführten drei begrifflich fassbaren Ebenen im Untersuchungsfeld teilweise fließend. Außerdem existieren viele Berührungspunkte und Überschneidungen zwischen den genannten Feldern, sei es durch empirisch vorhandene Kontexte im Untersuchungsfeld, sei es durch in den Aussagen der GesprächspartnerInnen hergestellte Verbindungslinien.43 Überall dort, wo eine eindeutige Zuordnung möglich ist, erleichtert aber die angeführte begriffliche Unterscheidung die genaue Bestimmung der Sachverhalte, über die konkret gesprochen wurde, in der Interviewauswertung. Außerdem zeigt sich bei der Sichtung der Erhebungsgespräche die Notwendigkeit, je spezifische Aussagen der GesprächspartnerInnen zu den drei hier angeführten Ebenen von ihren Äußerungen zu den entsprechenden Ebenen anderen Orts oder zur Situation der jüdischen Diaspora in Deutschland insgesamt begrifflich zu unterscheiden. Diese Differenzierung ist in der Auswertung der Interviews nicht in allen Fällen eindeutig oder nur ex post im Kontext des jeweiligen Gesamtinterviews zu treffen. Denn bei generalisierenden Aussagen der Befragten ist nicht immer festzu42 Wie für beide Aspekte oben in der Einleitung Kap. I.1.2, S. 22 ff. sowie in der entsprechenden Vorüberlegungen in Kap. IV.1., S. 427 ff. näher ausgeführt. 43 Vgl. hierzu auch unten Kap. I.6.3.2., S 75 f. zum Interviewleitfaden.
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machen, ob nur die Berliner Ebene, ob Berlin einschließlich dem übrigen Deutschland oder andere deutsche Städte ohne Berlin gemeint sind. Ein Fragenbereich der Erhebungsgespräche (Kap. III.3.) widmet sich ausgesprochen berlinspezifischen Aspekten im Unterschied zu außerberlinischen Entwicklungen jüdischen Lebens im übrigen Deutschland.
3.2. Begriffsklärungen im jüdisch-nichtjüdischen Kontinuum (1) Das deutsch-jüdische Feld Mit diesem Feldbegriff kann im weitesten Sinne das gesamte Beziehungsgeflecht zwischen Deutschen und Juden bezeichnet werden, welches sich über die Gegenwart und die NS-Zeit hinaus auch auf die übrige nahezu 2000 Jahre geteilte Vergangenheit erstreckt. In der Studie werden demgegenüber im engeren Sinne als deutsch-jüdisches Feld überwiegend öffentlich wahrnehmbare Bereiche bezeichnet, in denen Juden wie Nichtjuden thematisch mit Inhalten, Bedeutungen, Symbolen oder Handlungen beschäftigt oder konfrontiert sind, die zugleich beide Seiten tangieren. Das Agieren in diesem Feld setzt dabei den direkten Kontakt von Juden und Nichtjuden nicht zwingend voraus und kann ganz unterschiedlich motiviert sein. Zur Illustrierung des Begriffs sollen einige Beispiele genügen: Treten in Deutschland lebende Juden in der Öffentlichkeit erkennbar als Juden auf, indem sie sich etwa mit KIPPA oder MAGEN DAVID auf der Straße zeigen oder für jüdische Belange einsetzen, agieren sie im deutsch-jüdischen Feld. Üben sie irgendeine in Deutschland übliche berufliche Tätigkeit aus, gehören sie einem Verein an, fahren sie mit einem öffentlichen Verkehrsmittel oder gehen sie in einem Supermarkt einkaufen, ohne dass dabei spezifisch deutsch-jüdische Aspekte eine Rolle spielen (könnten), ist das deutsch-jüdische Feld im hier gemeinten engeren Sinne nicht tangiert. Nichtjuden werden in Deutschland wiederum zu Handlungsträgern dieses Feldes, indem sie ein- oder uneingestanden sich hierzulande gegenüber Juden philo- oder antisemitisch verhalten, einen jüdischen Friedhof, eine Synagoge oder ein Klezmerkonzert44 besuchen, in einem koscheren Laden einkaufen oder etwa Mitglied in einer jüdisch-christlichen Vereinigung werden. Gleiches gilt für den Fall, dass sie auf in der Öffentlichkeit miterlebte antisemitische Situationen mit Gleichgültigkeit reagieren, das Fernsehen abschalten, wenn es um die Schoah geht, vermeiden, in einem Leserbrief ‚Jude‘ zu schreiben, wenn ‚Jude‘ gemeint ist oder sich für oder gegen die Rück- bzw. Umbenennung ihrer Straße in einen jüdisch konnotierten Namen aussprechen.45 Nicht tangiert ist es von dieser Seite wiederum, wenn nichtjüdische Personen etwa Marx' ‚Kapital‘ lesen, sich mit Einsteins Relativitätstheorie beschäftigen oder im Supermarkt Zitrusfrüchte aus Israel kaufen. Für sich genommen ist bei diesen Beispielen kein spezifisch deutsch-jüdischer Aspekt erkennbar. 44 Dies gilt sowohl im Fall jüdischer wie nichtjüdische Musiker; vgl. hierzu näher im Hype-Kap. III.3.1.1., S. 292. 45 Vgl. hierzu im Antisemitismus-Kap. III.4.1.3., S. 359.
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Selbstverständlich gibt es Grenzbereiche, in denen Akteuren oder Außenstehenden nicht oder nur schwer ersichtlich ist, ob das deutsch-jüdische Feld berührt ist, etwa in Fällen eines möglicherweise bestrittenen latenten Antisemitismus. Solche Fälle spielen in der Studie allerdings keine Rolle. (2) Jüdische Räume In den letzten 10 bis 20 Jahren ist in Deutschland, aber mittlerweile auch in anderen europäischen Ländern, eine Entwicklung festzustellen, die sich gerade in Berlin manifestiert, wie vielleicht nirgends sonst im dem europäischen Kulturraum: das Entstehen von ‚Jewish spaces‘ also jüdischer Räume. Dieser Begriff ist nicht synonym zu dem o. g. Begriff ‚deutsch-jüdisches Feld‘ oder dem der ‚Jüdischen Gemeinschaft‘. Die jüdische Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Diana Pinto fasst hierunter vielmehr den Bereich kultureller Bedeutungsmuster des Jüdischen als Sinnzusammenhänge der Verortungen innerhalb der mehrheitlich nichtjüdischen (insbesondere) europäischen Gegenwartsgesellschaften.46 Also neben jüdischen Gemeinden und ihren Einrichtungen gehören hier zu auch alle weiteren kulturellen und sozialen Aktivitäten, die von Juden und Jüdinnen mit Bezug zu ihrem Jüdischsein ausgeübt werden. Jüdische Räume sind in dem Sinne narrative Räume, als es primär Sprache im Sinne des o. g. Kulturbegriffs (Kap. III.3.1.1.) ist, über die innerjüdischen kulturellen Verständigungsmuster hergestellt werden. Jüdische Räume sind dort ‚growing spaces‘ (D. Pinto), wo es von jüdischer Seite aus gelingt, im Austausch mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen neue jüdische Sinnzusammenhänge aufzubauen. Ein Ziel der Studie besteht darin, über die Befragung zu allgemeinen Entwicklungen wie insbesondere zu neueren Entwicklungen auf der Ebene jüdischer Gruppenaktivitäten peripher und außerhalb der Berliner Gemeinde, Ausweitungstendenzen in diesem Sinne nachzuspüren. Auf Grund der spezifischen historischen Situation als Folge der Schoah und der Umgangsweisen mit ihrem Erbe sind jüdische Räume in Deutschland häufig durch Nichtjuden dominiert. Daher gibt es ‚Jüdische Räume‘ in Deutschland wie auch in Berlin mit vielen Abstufungen zwischen jüdischer und nichtjüdischer Dominanz: Sie reichen gegenwärtig von ‚von Juden belebten jüdischen Räumen‘ über ‚gemischt jüdisch-nichtjüdische Räume‘ bis zu ‚jüdischen Räumen ohne Juden‘ mit dem Extrem ‚pseudojüdische Räume‘, denen es an jeglicher Authentizität fehlt. Um die Instrumentalisierung oder Besetzung jüdischer Räume geht es in der folgenden Begriffsbestimmung. (3) Jüdische Räume ohne Juden - Nicht überall, wo ‚jüdisch‘ draufsteht, ist auch ‚jüdisch‘ drin Allerdings gibt es auch weitere jüdische Räume, in denen keine Juden mehr leben oder die von Nichtjuden gestaltet oder sogar erst hervorgebracht werden. In
46 Vgl. dies.: „The third pillar. Toward a European Jewish Identity“, in GOLEM. Europäisch-jüdisches Magazin, Nr. 1/1999, S. 33 ff.
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Deutschland und anderen, vor allem osteuropäischen Ländern gibt es nur noch einen kleinen Teil jüdischer Räume, die von heutigen Juden belebt sind, da während der NS-Zeit ein Großteil deren jüdischer Bevölkerung vertrieben oder vernichtet wurde.47 In diesen Fällen kann in Spezifizierung von D. Pintos o. g. Begriff von ‚Jüdischen Räumen ohne Juden‘ gesprochen werden. Bei diesen Räumen kann es sich um Mahnmale für Juden und ehemalige jüdische Einrichtungen, Museen, nicht mehr genutzte Synagogen und Friedhöfe sowie um ehemalige ‚jüdische Viertel‘ handeln, in denen sich Nichtjuden gedenkend, forschend, künstlerisch bearbeitend oder konsumierend aufhalten oder diese, sei es aus Ignoranz oder aus Antisemitismus beschädigen oder zerstören. Sie können aus ganz unterschiedlichen politischen, kulturellen, wissenschaftlichen48 oder kommerziellen bzw. touristischen Motiven entstehen, gemeinsam ist ihnen die nichtjüdische Thematisierung des Jüdischen. Dabei muss das Charakteristikum ‚ohne Juden‘ in der Wirklichkeit nicht rundweg zutreffen, um seine ent- und verfremdenden Wirkungen zu entfalten. Vielmehr wirken diese Inszenierungen dort besonders gut, wo sie sich, wie für Deutschland fast idealtypisch in Berlin, gerade auf Grund der Existenz relativ vieler Juden sowie vergangener und gegenwärtiger jüdische konnotierter Orte mit dem Nimbus des Authentischen umgeben können. Allerdings sollen die positiven Effekte ‚Jüdischer Räume ohne Juden‘ und die guten Absichten vieler in ihnen Tätigen nicht per se ausgeblendet werden. Denn in den letzten Jahrzehnten gesteigerten Interesse an allem Jüdischen in Deutschland bricht sich, zumindest teilweise, auch ein aufrichtiges und vor allem bei Jüngeren unbefangeneres Interesse an Jüdischem Bahn. „How should Jews approach and intervene in Europe's growing Jewish spaces, increasingly initiated, populated and even administered by non-Jews?“49 fragt D. Pinto aus einer gesamteuropäisch-jüdischen Perspektive heraus. Auch dem Phänomen ‚jüdische Räume ohne Juden‘ am Beispielsort sowie Umgangsweisen von Vertretern der jüdischen Community hiermit wird in der Studie noch genauer nachgegangen.50
47 Zu unterscheiden sind hiervon diverse KZ-Gedenkstätten in Deutschland wie auch an das Berliner Holocaustmahnmal: Es sind primär nichtjüdische Orte des Verbrechens und Gedenkens. 48 Dem Berliner Volkskundler Joachim Schlör reflektiert selbstkritisch aus der Innenperspektive der akademischen ‚Judaisten-Ecke‘: „Dieser Raum [...] ist neben vielem anderen, auch ein Teil der deutschen, der von der deutschen Vergangenheit geprägten und ihr zugleich entfliehenden Kulturindustrie. [...] Das ‚jüdische Thema‘ ist überall präsent.“ Zit. nach ders. „What am I doing here. Erkundungen im deutschjüdischen Feld“, in: Katharina Eisch/Marion Hamm (Hg.): Die Poesie des Feldes. Beiträge zu einer ethnographischen Kulturanalyse, Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde 2001, S. 92. Vgl. auch das Bodemann-Zitat u. Kap. I.3.2.2., S. 44. 49 D. Pinto: „The third pillar?“, in: GOLEM Nr. 1, 1999, S. 37 50 Vgl. das einführende Berlin-Kap. II.2.4. sowie im Empirieteil das Hype-Kap. III.3.
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3.2.1. Sekundärer Nachkriegs-Philosemitismus Philosemitismus ist ähnlich dem Antisemitismus ein historisch und aktuell vielschichtiges Problem. Auf dem aktuellen Forschungsstand besteht daher die Schwierigkeit der klaren Definition des Philosemitismus bzw. des verbindenden Elements seiner verschiedenen Spielarten. Yael Kupferberg hat in einem aktuellen Aufsatz die wichtigsten Typen des Syndroms ‚Philosemitismus‘ nach Julius H. Schoeps zusammengefasst: „Der Begriff Philosemitismus [...] beinhaltet eine Vielzahl von Erscheinungsformen, die zum aktiven Kampf (‚Anti-Antisemitismus‘) bis hin zur Konversion zum Judentum (Proselytismus) reichen. Mit J. H. Schoeps lassen sich fünf Typen des Philosemitismus unterscheiden: 1. der christlich-missionarische, 2. der biblisch-chiliastische, 3. der utilitaristische, 4. der liberal-humanitäre, 5. der religiös-motivierte und letztlich zur Konversion führende. Man mag eine sechste Variante hinzufügen, die allerdings erst im Deutschland der Nachkriegszeit zum Vorschein kam: der durch Schuld- oder Schamgefühl verursachte Philosemitismus.“51
Allerdings erscheint mir in der Typologie bei Schoeps/Kupferberg das Spezifische eines originären Philosemitismus einer erst nach der NS-Zeit sozialisierten und durch von der '68er Bewegung ausgehenden kulturellen Aufbrüchen geprägten nichtjüdisch-deutschen Nachkriegsgeneration noch nicht berücksichtigt. Mangels einer bisherigen Benennung wir er von mir als sekundärer NachkriegsPhilosemitismus bezeichnet. Zwar weist er viele Gemeinsamkeiten mit dem in der o. g. Unterscheidung zuletzt genannten Philosemitismus aus Schuld und Scham bei der Tätergeneration der NS-Zeit und des Zweiten Weltkriegs auf. Allerdings ist er von diesem eindeutig dadurch unterschieden, dass seinen Trägern im Unterschied zu der Kriegsgeneration generativ keinerlei Schuld, Mitverantwortung oder auch nur Zeitzeugenschaft zur Schoah zukommt. Das Phänomen kann als generations- und möglicherweise auch milieuspezifische Sicht- und Verhaltensweise gegenüber Juden und Jüdischem bildungsbürgerlicher Kreise der Nach-68er Generationen gedeutet werden. Ähnlich dem ihm vorausgehenden primären Nachkriegs-Philosemitismus ist die persönliche Kenntnis von Juden keine Voraussetzung seiner Herausbildung. Meine These lautet, dass auch dem sekundären Nachkriegs-Philosemitismus, darin zunächst dem primären ähnlich, ein Entlastungswunsch und eine daraus resultierende Entlastungsstrategie in Bezug auf eigene Schuldgefühle auf Grund der von Deutschen an den Juden verübten Verbrechen überindividuell zu Grunde liegt. Seine Träger unterscheiden sich durch gemeinsame generationsspezifische Erfahrungen sowohl von der Täter- und Kriegsgeneration wie von der zwischen dieser und ihnen liegenden, im Krieg aufgewachsenen unmittelbaren Nach51 Yael Kupferberg: „Philosemitismus im Kontext der deutschen Nachkriegszeit“, in: Julius H. Schoeps (Hg.): Leben im Land der Täter. Juden im Nachkriegsdeutschland (1945-1952), Berlin: Jüdische V.-anstalt 2001, S. 268. – In diesem Kontext bemerkt Kupferberg außerdem, dass bis heute eine Historiographie des Philosemitismus noch aussteht.
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kriegsgeneration. Von diesen eigenen spezifischen Erfahrungen ausgehend, greifen sekundär-philosemitsche Kreise unbewusst zu einer ähnlichen überindividuell-typischen Abwehrstrategie der sich nicht durch Mittäterschaft oder Mitläuferrolle, sondern durch Herkommen hervorgerufenen eigenen Schuldgefühle. Dabei scheint es mir um eine philosemitisch überhöhte Selbstpositionierung in dem prekär wahrgenommenen deutsch-jüdischen Verhältnis zu gehen, nämlich darum, aus der vermeintlichen eigenen Rolle wenn nicht als Schuldige so doch zumindest als Erben deutscher Schuld zu entkommen. Antipodisch zu deutschen Schlussstrich-Vertreter werden Juden per se als Opferkollektiv idealisiert und sie damit in der Reduzierung auf die Rolle lebender Geschichtsmahnmale instrumentalisiert. Umso besser kann dabei die persönliche Entlastung gelingen, je stärker darüber hinaus – zugespitzt formuliert – die Haltung eines moralisch aufgeladenen Pathos des deutschen Selbstekels als spiegelbildliche Disposition des eigenen Philosemitismus eingenommen wird. Auch den sekundären Philosemiten geht es um eine Aufrechterhaltung eines bestimmten Judenbildes, weswegen auf die tendenziell unberechenbare und widersprüchliche ernsthafte Auseinandersetzung mit lebenden Juden häufig verzichtet wird. Denn dies böte die Gefahr der eigenen Verunsicherung und Angreifbarkeit. Damit ist auch dieser neuerliche Philosemitismus als selbstreferentielle Strategie der Abwehr der eigenen Schuldgefühle auf Auschwitz bezogen, spiegelverkehrt zu neuerlichen Formen des Antisemitismus, die Auschwitz den Juden nicht ‚verzeihen‘ möchten.52 Besonders problematisch stellt sich die Situation dar, wenn reale Juden idealisierten Bildern sekundär-philosemitischen Kollektivzuschreibungen nicht entsprechen. Dies kann unter Umständen so weit gehen, dass Philosemiten sich enttäuscht von dem tatsächlichen oder vermeintlichen Verhalten von Juden, diesen ‚besser-jüdisch‘ entgegenstellen, etwa für den Fall, dass Juden sich nicht bereit zeigen, durch Verzicht auf Gewaltanwendung ‚aus Auschwitz zu lernen‘. Vor allem der Staat Israel und die Politik seiner Repräsentanten werden hierfür gerne zum Vorwand genommen.53 Der philosemitischen Überhöhung von Juden folgt in diesen Fällen deren antisemitische Verdammnis auf dem Fuße. Auch wenn es sich hierbei um Einzelfälle handeln mag, zeigt es doch, wie auch sekundärer Philosemitismus Möglichkeiten zur tendenziell judenfeindlichen Klischeebildung beinhaltet. Ungeachtet ihrer Unterschiede sind beide mit ihrer Fortexistenz zugleich Gradmesser für die nach wie vor nicht eingetretene Normalität zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland.
52 Zu einem Nach-Ausschwitz-Antisemitismus vgl. Kap. III.4.1.2., S. 341 f. – Wenn überhaupt in Martin Walsers wütendem Lamento über eine allerorten mit Auschwitz geschwungenen Moralkeule der Bezug zu einer realen Erscheinung liegen sollte, dann m. E. darin, dass er mit seinen Ausfällen die hier beschriebene sekundärphilosemitsche Disposition und ihre Träger meinte. 53 z. B. durch den im Brustton der Empörung vorgetragenen Ausspruch: ‚Die Juden haben ja aus Auschwitz nichts gelernt!‘
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Natürlich zeichnet sich sekundärer Philosemitismus hierzulande nicht durch inhaltliche Kohärenz oder ein kollektives Auftreten aus. Einzelne Philosemiten sind publizistisch tätig, während andere sich in politischer Absicht zusammentun. Die Übergänge können sehr fließend sein. Das Spektrum reicht von wissenschaftlich fundierten bis hin zu pseudoreligiös auftretenden Trägern der geschilderten Disposition. Allerdings prägt das Bewusstsein, in Deutschland ja einer historisch bedingten Minderheit anzugehören, positionsübergreifend den zuweilen elitären Gestus und Duktus. Zur Verdeutlichung des weitgefächerten sekundär-philosemitischen Spektrums seien im Folgenden drei sehr unterschiedliche Erscheinungsformen angeführt: Als ein prominentes Beispiel für einen in der Identifikation mit dem jüdischen Kollektiv sehr weit gehenden aktuellen sekundären Philosemitismus in Deutschland kann die nichtjüdische Fernsehjournalistin Lea Rosh gelten, auf deren Initiative das in unmittelbarer Nachbarschaft zu Reichstag, Brandenburger Tor und dem Ort von Hitlers ehemaliger Reichskanzlei gelegene sog. ‚HolocaustMahnmals‘ zurückgeht. Bodemann führt hierzu aus: „Lea Rosh, mit hebraisiertem Vor- und Zunamen (ursprünglich Judith Rohs), [...], hat journalistisch viel zur Geschichte der Schoah und zu jüdischen Themen beigetragen. Gefragt, ob sie sich als Jüdin empfinde, äußerte sie: ‚Viele halten mich dafür, auch wegen des Namens. Ja, inzwischen ja. Und das liegt vor allem an dem HolocaustDenkmal.‘ Wie andere Überidentifizierte geriert sich Lea Rosh bezeichnenderweise jüdischer als die Juden selbst. Im Gegensatz zu einigen namhaften jüdischen Persönlichkeiten bestand sie auf einem Mahnmal ausschließlich für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, und im Gegensatz zu diesen bestand sie auch auf den gigantischen Dimensionen des Mahnmals.“54
Gleichzeitig war es sie, die das im Mai 2005 eingeweihte Mahnmal, wie niemand sonst in scheinbar aussichtslosen Momenten seiner immerhin 17-jährigen Entstehungszeit vorangetrieben und gegen vielerlei Widerstände durchgesetzt hat. Ein aufrichtiges Anliegen der Aufklärung und des Ermahnens gehen bei VertreterInnen des sekundären Philosemitismus wie Lea Rosh offensichtlich Hand in Hand mit der Überidentifikation einer nur mehr als Opferkollektiv wahrgenommenen Bevölkerungsgruppe. Als ein Positivbeispiel im Sinne der Gewinnung einer eigenen ideologiekritischen Position kann m. E. die in den letzten Jahren oftmals unter philosemitischem Anspruch stattfindende Aufarbeitung eines z. T. bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden linken Antisemitismus in Deutschland vorzugsweise durch Vertreter der zweiten Nachkriegsgeneration gelten. Antisemitische Tendenzen in den Arbeiterbewegungspartein des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts und in der DDR erfahren dabei eine ebenso kritische Würdigung wie die mit an-
54 Y. M. Bodemann: Gedächtnistheater, S. 52. Das eingeschobene Lea Rosh-Zitat stammt aus einem Interview, welches sie der ZEIT gab, dies.: „Immer oben, immer vorne“, in: ZEIT 24.08.90
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tisemitischen Versatzstücken aufgeladenen Positionen der antiimperialistischen Palästinakomitees der 70er Jahre oder aktuell von Teilen der globalisierungskritischen Bewegung.55
3.2.2. Judaisierendes Milieu Mit dem Begriff Milieus lässt sich gegenwärtig die Gruppe der im deutschjüdischen Feld gezielt und längerfristig agierenden nichtjüdischen Deutschen bezeichnen.56 Personelle Überschneidungen bestehen hierzulande zwischen einigen ‚Philosemiten‘ und diesem Kollektiv, ohne dass beide Gruppen deckungsgleich wären. Y. Michal Bodemann beschreibt dieses Milieu als ein „in der Welt einzigartig(es)“ deutsches Phänomen: „Dieses Phänomen erinnert an das, was Jacob Katz als ‚halb-neutrales Territorium‘ bezeichnet hat, ein Feld auf dem sich anderweitig scharf getrennte Gruppen treffen. Als Peripherie im jüdischen Ethnos selbst weist es jedoch weit über den Philosemitismus hinaus. Dieses judaisierende Feld besteht aus Proselyten zum Judentum, aus den deutschen Mitgliedern jüdisch-deutscher oder deutsch-israelischer Institutionen und Vereinen und aus zahlreichen ‚Berufs-Fast-Juden‘“.57
Auf genauere Untersuchungen des hierzulande existenten judaisierenden Milieus kann leider nicht zurückgegriffen werden. Jedoch erscheint es mir plausibel, dass viele seiner Vertreter biographisch zunächst eine sekundär-philosemitsche Phase durchlebten, quasi als ‚Trockenübung‘ ihres späteren längerfristigen Engagements im deutsch-jüdischen Feld und ihrer Kontakte zu hier lebenden Juden, denn wie in der Einleitung erwähnt kennen die wenigsten Nichtjuden in Deutschland, hier ebenfalls lebende Juden persönlich. Es ist allerdings zu vermuten, dass einige aus dem judaisierenden Milieu ein Elternteil oder nahe Angehörige und Vorfahren mit jüdischem Hintergrund besitzen, ohne selbst jüdisch zu sein.58 In dem deutschlandweit verbreiteten und doch überschaubaren judaisierenden Milieu überwiegend bildungsbürgerlicher Provenienz bestehen szeneartig viele persönliche Bekanntschaften. Vertreter lassen sich an Universitäten und in anderen Forschungseinrichtungen finden, in Medien, Gesellschaften und Stiftungen, auf Tagungen, Kongressen und Exkursionen, aber auch bei jüdischen Kulturwochen und Klezmerkonzerten, also überall dort, wo Jüdisches öffentlich themati55 Als Beispiel für diese Aufarbeitung lässt sich etwa der bereits zitierte, von der Göttinger Basisgruppe Geschichte herausgegebene Schwerpunktsausgabe „Antisemitismus in der Linken“ in: Calcül. Zeitschrift für Wissen und Besserwissen Nr. 6/September 1999, S. 10-15 von 1999 anführen. 56 Vgl. Y. M. Bodemann: „Das ‚judaisierende Milieu‘ und das neue deutsche Judentum“, in: ders. Gedächtnistheater, S. 48 ff. 57 Ebd., S. 51 58 Wie im historischen Einführungs-Kap. II.1. näher ausgeführt wird, hatte es bis heute immer relativ viele Mischehen zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland gegeben, aus denen wiederum überwiegend nichtjüdische Nachkommen hervorgegangen sind; vgl. für vor 1933 Kap. II.1.1.2., S. 86 f., Anm. 32 und für die Zeit nach 1945 und in den Nachkriegsgemeinden der BRD Kap. II.1.2.3., S. 95 f.
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siert wird. Häufig sind Angehörige dabei Hauptinitiatoren und -akteure dieses Milieus. Sie wirken gesamtgesellschaftlich als starke Multiplikatoren der noch immer relativ kleinen jüdischen Gemeinschaft in Deutschland: „Es besteht kein Zweifel, dass ohne diese Gruppe [...] die jüdische Präsenz in der Öffentlichkeit und im kulturellen Leben beträchtlich vermindert wäre.“59 Jüdische Einrichtungen in Deutschland (oder in Israel und den USA) sowie mit jüdischer Thematik befasste jüdische Schriftsteller, Publizisten und Künstler finden in diesem Milieu Partner etwa für gemeinsame Veranstaltungen und Publikationen oder Forschungsprojekte. Tatsächlich reicht die Beschäftigung mit jüdischen Themen bei einigen von ihnen ins Lebensweltliche und Private bis hin zu engen Freundschaften und Lebenspartnerschaften mit Juden. Eine wachsende Minderheit trägt sich mit der Absicht der Konversion oder konvertiert tatsächlich zum Judentum.60 Möglicherweise ließe es sich im Fall eines Teils des judaisierenden Milieus durchaus von einer Art positiven Symbiose gegenüber den wieder in Deutschland lebenden Juden sprechen. Dies wäre damit eine Art gelebter Antithese zu der von H. Arendt und später auch von D. Diner als ‚negative Symbiose‘61 bezeichneten jahrzehntelang vorherrschenden Situation zwischen Juden und Deutschen hierzulande nach 1945. Ohne den hier ähnlich zu diesen ausschließlich als Metapher gebrauchten Begriff überstrapazieren zu wollen, hätte diese kleine gegenwärtige Symbiose auch eine ganz andere Ausrichtung als die angebliche deutsch-jüdische vor 1933: Während sich im Kaiserreich und der Weimarer Republik ein Großteil der nie völlig akzeptierten und gleichberechtigten jüdischen Minderheit oft unter Preisgabe ihrer jüdischen Identität an die deutsche Mehrheitsgesellschaft assimilierte (vgl. Kap. II.1.2.1 sowie II.3.1.2.), gehen in der hier beschriebenen randständigen symbiotischen Kulturbeziehung die Impulse in die entgegengesetzte Richtung: Eine aktive Minderheit der deutschen Mehrheitsgesellschaft eignet sich von sich aus jüdische Kultur an und steht im intensiven Austausch mit hierzulande lebenden Juden, gipfelnd in dem Ziel einer Minderheit dieser Minderheit, dem kleinen jüdischen Kollektiv in Deutschland anzugehören.
59 Ebd., S. 52 60 Zur Konversions-Thematik vgl. den Wandel in der Aufnahmepraxis der JGB im Berliner Einführungs-Kap. II.2.2.3., S. 144 f. 61 Vgl. zum Begriff der negativen Symbiose auch im folgenden Selbsterortungs-Kap. I.4. S. 47 das entsprechende Diner-Zitat. Arendt und Diner hatten mit diesem Begriff zu Recht kritisch auf den in der Weimarer Republik zunächst von antisemitischer Seite als negativen Drohbegriff mit biologistischen Untertönen eingeführten und nach 1945 verklärend gebrauchten Begriff einer seit dem 19. Jahrhundert ‚drohenden‘ resp. ‚blühenden‘ deutsch-jüdischen Kultur-symbiose rekurriert. 1966 sprach der Zentralrats-Generalsekretär H. v. Dam in Variation zu Arendt von dem Wandel einer deutsch-jüdischen Symbiose in eine deutsch-jüdische Psychose; vgl. Michael Brenner: „Epilog oder Neuanfang? Fünf Jahrzehnte jüdischen Lebens im Nachkriegsdeutschland: Eine Zwischenbilanz“, in: Otto R. Romberg/Susanne Urban-Fahr, (Hg.): Juden in Deutschland nach 1945. Bürger oder ‚Mit‘-Bürger?, Frankfurt a. M.: Tribüne 1999, S. 43
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Allerdings gibt es auch eine negative Kehrseite dieser gegenwärtigen ‚Erfolgsgeschichte‘: Hierbei scheint ein strategischer Philosemitismus (s. o.) einiger ‚judaisierender‘ Nichtjuden auf, der sich um die Befindlichkeiten lebender Juden wenig schert. Diese Form der Beschäftigung mit jüdischen Themen bedeutet aber eine nichtjüdische Besetzung jüdischer Räume von außen durch Nichtjuden. Vor dem Hintergrund der hiesigen jüdischen Verfolgungs- und Vernichtungsgeschichte können diese Hyperaktivitäten aus dem judaisierenden Milieu auf die immer noch gegenüber vor 1933 sehr kleine jüdische Minderheit in Deutschland schnell als Bedrohung wirken. Bodemann bemerkt hierzu, dass „von Juden in Deutschland nicht selten etwa die wissenschaftliche Qualifikation nichtjüdischer deutscher Judaisten oder Historiker oder Kuratoren des Judentums infrage gestellt [wird]; sie wird als eine Art von Kolonialisierung erfahren, die wir aus der Diskussion der ‚Black Studies‘ in den USA oder ‚Native Studies‘ in Kanada kennen. Die Opferseite findet wenig Genugtuung dabei, von der Täterseite her untersucht zu werden.“62
4 . V e r s u c h d e r b i o g r a p h i s c h e n S e lb s t ve r o r t u n g i m d e u ts c h - jü d i s c h e n F e l d „Nur im Eingedenken des Vergangenen, das niemals ganz von uns durchdrungen werden wird, kann neue Hoffnung auf Restitution der Sprache zwischen Deutschen und Juden, auf Versöhnung der Geschiedenen keimen.“ Gershom Scholem [1966]63 „Nach dem was geschehen ist, ist es durchaus normal, dass wir heute noch nicht normal miteinander umgehen können.“ Salomon Korn64
Dieses Kapitel mag für diejenigen entbehrlich erscheinen, die ein wie auch immer geartetes soziologisch-empirisches Agieren im deutsch-jüdischen Feld ausschließlich als ‚rationales‘ und ‚neutrales‘, damit also als ausschließlich ‚objekti-
62 Y. Michal Bodemann: In den Wogen der Erinnerung. Jüdische Existenz in Deutschland, Frankfurt a. M.: dtv 2002, S. 152. An anderer Stelle erwähnt er als ein treffendes Beispiel dieser häufig mit arroganter Besserwisserei betriebenen Kolonialisierung durch Nichtjuden die Anekdote eines in Deutschland tätigen amerikanischjüdischen Klezmer-Musikers: „Auf einem Klezmer-Workshop zusammen mit anderen Klezmer-Musikern fuhr ihn ein deutscher Musiker an: ‚Wie kannst du nur in diesem Lied Galizianer und Litvak Jiddisch vermischen?‘ (Alan Bern, persönliches Gespräch, 1993)“ ebd., S. 193, Anm. 69. 63 Ders.: „Juden und Deutsche“, zit. nach dem Nachdruck in: Christoph Schulte, (Hg.): Deutschtum und Judentum. Ein Disput unter Juden aus Deutschland; Stuttgart: Reclam 1993, S. 201 64 Ders. in: Tagesspiegel 01.11.1999, zit. nach Wolfgang Benz: „Zwischen Antisemitismus und Philosemitismus. Juden in Deutschland nach 1945“, in: K. Behrens (Hg.): Ich bin geblieben – warum?, S. 33
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ves‘ für möglich und unabdingbar halten. Dem gegenüber ist es meine feste Überzeugung, dass es in den ‚Menschenwissenschaften‘ (Norbert Elias), zu denen die Soziologie zählt, an sich unmöglich ist, eine entsprechende Haltung ohne Beteiligung der subjektiven Werteebene und persönlichen Einstellung von Forschendenseite einzunehmen. Im vorliegenden Themenbereich halte ich dies außerdem auch nicht für wünschenswert. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist also nicht die nach den Möglichkeiten zur Eliminierung der persönlichen Ebene des Autors, sondern nach deren Berücksichtigung, ohne den wissenschaftlichen Anspruch aufgeben zu müssen bzw. andersherum, um diesem Anspruch überhaupt erst gerecht werden zu können. Schreiben in Deutschland lebende Juden über aktuelle hiesige jüdische Gegenwartsthemen, so beschäftigen sie sich dabei indirekt auch mit ihrer eigenen Situation. Im günstigsten Fall ermöglicht der persönliche Hintergrund gewisse Zugänge zu der untersuchten Thematik, wie er andererseits auch in diesem Fall ein Stück weit zu einer Selbstverortung beitragen kann. Im Fall meiner Untersuchung schreibe ich demgegenüber als Nichtjude über ein jüdisches Thema. Dies beinhaltet zunächst formal keine ‚Selbstbeschreibung‘. Das Forschungsinteresse ist auf ein Kollektiv gerichtet, dem ich selbst nicht angehöre. Dabei könnte ich mich ähnlich den exakten Naturwissenschaften wissenschaftlicher Methoden eines rational nachvollziehbaren Verfahrens strikter Subjekt-Objekt-Trennung zwischen Wissenschaftler und Untersuchungsgegenstand bedienen. Ganz anders erscheint meine Beziehung zu meinem Untersuchungsgegenstand aber, wenn ich mich wie in meinem Fall als eine mit Vor-Urteilen und unbewussten Affekten im deutsch-jüdischen Feld agierende Gesamtpersönlichkeit erkenne, in der die Rolle des ‚sachlichen‘ Forschers von der alltagsweltlichen des nichtjüdischen Deutschen der zweiten Nachkriegsgeneration nicht eindeutig zu trennen ist. Bereits unmittelbar nach der NS-Zeit bzw. der Schoah hatte Hannah Arendt den Begriff der ‚Negativen Symbiose‘ in einem Brief an Karl Jaspers verwendet, um die Zwangsläufigkeit, mit der Deutsche und Juden durch Auschwitz mit gegensätzlichen Vorzeichen miteinander verbunden sind, auszudrücken. Dan Diner hat diesen Gedanken aufgegriffen „Seit Auschwitz kann tatsächlich von einer deutsch-jüdischen Symbiose gesprochen werden – freilich einer negativen. Für beide, für Deutsche wie für Juden, ist das Ergebnis der Massenvernichtung zum Ausgangspunkt ihres Selbstverständnisses geworden, eine Art gegensätzlicher Gemeinsamkeit, ob sie wollen oder nicht.“64 Diese Feststellung soll ebenfalls Ausgangspunkt der folgenden Reflexionen meiner eigenen biographischen Ent-
64 Dan Diner: „Negative Symbiose: Deutsche und Juden nach Auschwitz“, in: Babylon H. 1., 1988, S. 9, zit. nach K. Behrens: Ich bin geblieben – warum?, Gerlingen: Bleicher 2002, S. 77 – Zu dem von mir in anderem Zusammenhang verwendeten Begriff der ‚positiven Symbiose‘, vgl. oben im Begriffsbestimmungs-Kap. I.3.2.2. ‚Judaisierendes Milieu‘, S. 45.
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wicklung der Verortung als nicht-jüdischer Deutscher im deutsch-jüdischen Feld sein. Demnach ist davon aus zugehen, dass • ich dem noch immer von Normalität weit entfernten deutsch-jüdischen Feld vor, während und nach meiner Untersuchung nicht minder angehöre, als die von mir befragten Berliner Juden; • meine eigene Verortung in diesem Feld als nichtjüdischer Deutscher den befragten Juden gegenüber eine spezifisch extrem andersgeartete biographische Komponente besitzt. Der vorliegende Untersuchungsschritt möchte einen Grundgedanken Husserls Phänomenologie in ihrer soziologischen Spezifizierung durch Alfred Schütz fruchtbar machen, dass gerade die Sozialwissenschaften nicht voraussetzungslos von der Lebenswelt über diese reflektieren können, sondern immer schon ein Teil von dieser sind. Konkret geht es hier um meine Vor-Urteile, also diejenigen des Forschenden gegenüber dem Forschungsgegenstand, auf Grund eigener biographisch bedingter lebensweltlicher Prägungen im deutsch-jüdischen Feld. „Lebenswelt im Sinne Husserls ist die ursprüngliche Sphäre, der selbstverständliche, unbefragte Boden sowohl jeglichen alltäglichen Handelns und Denkens als auch jeden wissenschaftlichen Theoretisierens und Philosophierens. [...] Ziel der an den erkenntnistheoretischen Problemen der Sozialwissenschaften orientierten Lebensweltanalyse ist somit die Analyse des Sinn-Verstehens mittels einer formalen Beschreibung [von] [...] Grundstrukturen der Sinnkonstitution im subjektiven Bewusstsein des Handelnden.“65
Die Konzeption von Phänomenologie, wie sie entsprechend in der Nachfolge Husserls von Schütz verstanden wird und wie sie auch im Weiteren bezogen auf meine Eigenverortung im deutsch-jüdischen Feld angewendet wird, „ist im strengen Sinn kein soziologischer Ansatz, sondern eine proto-soziologische Unternehmung, die der eigentlichen soziologischen Arbeit zugrunde liegt.“66 Der folgende Selbstvergewisserungsversuch meiner biographischen und lebensweltlichen Bezüge im deutsch-jüdischen Feld ist also an dem Dreischritt Anerkennung, Selbstreflexion und Einklammerung nach A. Schütz ausgerichtet und damit weniger eine sozialpsychologische bzw. soziologische (Selbst-)deutung. Die Schrittfolge stellt eine Bewegung von der Außenseite (Anschauung und Deskription) über die Analyse zum Wesenskern dar. Unter dem letzten Schritt ‚Einklammerung‘ ist die Absicht, wie auch das Ergebnis der phänomenologischen Anstrengung zu verstehen, nämlich so weit es möglich ist, zu einer vorurteilsfreien bzw. die Wirkungsmächtigkeit der eigenen Vorurteilsstruktur reduzie-
65 Ronald Hitzler und Thomas S. Eberle: „Phänomenologische Lebensweltanalyse“, in: Uwe Flick/Ernst von Kardorff/Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek: Rowohlt 2000, S. 110 – Vgl. zu der Bedeutung der Phänomenologie von A. Schütz für die Studie unten das Kap. I.5.1.1., S. 61 f. zum erkenntnistheoretischen Hintergrund. 66 Ebd.
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renden Vergewisserung meiner Positionierung in dem Feld zu gelangen.67 Der F orm nach is t der Rekons truktions versuch zunächs t ein biographisch-chronologisch gehaltener Abriss. Zugleich zeichnet er die verschiedenen Bewusstwerdungsphasen meiner sich wandelnden persönlichen Selbstverortung im deutschjüdischen Feld nach. Biographischer Verlauf und wachsendes Reflexionsniveau stellen also zwei in der Darstellung nicht zu trennende, synchrone Bewegungen dar.
4.1. Befangenheit und wachsendes Interesse „Es hat lange gedauert, nämlich bis zu den Auseinandersetzungen um die Fassbinder-Inszenierung in Frankfurt, dass ich ohne zu stocken, vor einem Juden das Wort Jude aussprechen konnte. So lange klang darin ein Schimpfwort für mich mit.“ Martin Lüdke68
Zunächst soll als erster Schritt der chronologisch-biographischen Rekonstruktion meiner Eigenverortung im deutsch-jüdischen Feld die ‚Anerkennung‘ meiner frühen Befangenheiten und die davon nicht unbenommene zunehmende Beschäftigung mit jüdischer Thematik im Jugendlichen- und Erwachsenenalter stehen.
4.1.1. Kindheit und Schulzeit Als nichtjüdischer Deutscher der Nachkriegsgeneration habe ich das deutschjüdische Feld schon lange vor Beginn der Arbeit an meiner Studie als ein besonderes kennen gelernt und zwar als ein hochgradig ‚vermintes‘. Ein unbefangener Umgang mit diesem Thema war für mich, wie für viele andere Deutsche bis heute, lange Zeit nicht möglich. Dabei war meine Beschäftigung mit Juden bis vor noch gar nicht langer Zeit eine reine ‚Trockenübung‘; kannte ich doch keinen einzigen lebenden Juden persönlich! Sicherlich wäre meine Befangenheit bei dem Zusammenkommen mit lebenden Juden anfänglich noch viel stärker gewesen. Im Nachhinein bedauere ich dennoch, dass es dazu lange Zeit nicht gekommen ist. Dieses Nichtkennen von Juden ist, wie ich heute weiß, typisch für die Topographie des deutsch-jüdischen Felds. Im Normalfall lernte ein in den 60er Jahren geborener nichtjüdischer Deutscher, der wie ich in einer kleinen Großstadt mit etwas mehr als 100.000 Einwohnern aufgewachsen ist, keine Juden kennen. In meiner Heimatstadt Heidelberg gab es auch damals schon eine kleine jüdische Gemeinde, allerdings war diese noch ‚unsichtbar‘ und besaß noch keinen Neubau für die in der Pogromnacht am Neunten November 1938 geschändete und 67 Im natürlich nur als anstrebbare Maxime denkbaren Idealfall also die Eingrenzung eines Phänomens darauf, ‚wie und was es wirklich ist‘ und seine Unterscheidung von dem lebensweltlich Interpretierten ‚wie es mir erscheint‘; vgl. Alfred Schütz: „Gesammelte Aufsätze, Bd. 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit“, Den Haag: Martin Nijhoff 1971, S. 119 ff sowie 144 ff. 68 Martin Lüdke: „Der scheele Blick“, in: ZEIT 11.01.01
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zerstörte Synagoge. Seit 1979 gab es hier sogar eine kleine jüdische Hochschule in der Altstadt, doch dies befand sich in meiner Kindheit und Jugend noch weit außerhalb meines Gesichtskreises. Offener Antisemitismus ist mir aus meiner Familie ebenso wenig erinnerlich, wie aus meinem bildungsbürgerlichen Umfeld an dem Humanistischen Gymnasium, welches ich besuchte. Auch in der protestantischen Gemeinde, in der ich konfirmiert wurde, schien es so etwas nicht zu geben. Meine vorsichtige Ausdrucksweise lässt eine gewisse Unsicherheit meinerseits erkennen, die ich für angebracht halte: Denn antisemitische Bemerkungen sind mir in meiner Kindheit und frühen Jugend, so es sie gab, wahrscheinlich gar nicht als solche aufgefallen und damit vielleicht auch weniger erinnerlich, im Gegensatz zu den spektakuläreren Anfeindungen und Ressentiments jener Jahre.69 Dies soll eine Begebenheit aus meiner Kindheit belegen, in der ich schon latent antisemitisch agierte, ohne mir dessen bewusst zu sein: Bereits im Kindergarten hatte ich das Wort ‚Juddeferz‘ (rheinfränkisch bzw. pfälzisch: ‚Judenfürze‘) kennen gelernt und selbst verwendet. Der Begriff war der nur scheinbar harmlose kindersprachliche Terminus Technicus für ein unter uns jüngeren heißbegehrtes Silvesterutensil der Älteren: Eine zweireihige Kette winziger roter Knallkörper, die durch eine gemeinsame Zündschnur verbunden, beim Nacheinander-Explodieren ein länger anhaltendes Knattergeräusch von sich gaben. Ich kannte zu dieser Zeit keine Juden und hatte noch nie welche gesehen wie fast alle anderen meines Alters auch. Die Bemerkung hinterließ daher bei mir wie vermutlich auch bei meinen Spielkameraden keine Genugtuung über eine damit diffamierte Person bzw. Personengruppe. Ähnlich zu anderen Wörtern im Kindesalter, dessen vorderer Bestandteil nur eine spezifizierende Bedeutung für das hintere Wort zukommt (wie etwa im Kompositum ‚Hubschrauber‘), erfuhr ich Näheres über das erste Wort des o. g. antisemitischen Wortpaares erst viel später in der Zeit des gymnasialen Religions- und Geschichtsunterrichts.70 Ein vergleichbares, Juden offen diffamierendes Wort, habe ich seit meiner Kinderzeit weder in der Ausbildung noch im Freizeitbereich gehört. 69 Heidelberg war eine Hochburg der Studentenbewegung und von den politischen Auseinandersetzungen der APO noch bis weit in die 70er Jahre hinein geprägt. Diese Konflikte waren mir in der Kindheit aus der Familie, aus der Schule und von der Straße her geläufig. Außerdem rekrutierte sich eine größere Zahl an Mitgliedern der zweiten RAF-Generation aus Heidelberg, wo sich u. a. hochrangige US-Militärs und deren Einrichtungen befanden, auf welche die RAF in den 70er und frühen 80er Jahren zwei Anschläge verübte. Der Pfarrer, bei dem ich den Konfirmationsunterricht besuchte ist mir z. B. mit der Bemerkung aus der Zeit des ‚Deutschen Herbstes‘ erinnerlich, er könne heute keinen normalen Konfirmandenunterricht durchführen, da er noch ganz geschockt sei, ältere Personen unserer Gemeinde hätten ihm im vertraulichen Gespräch gesagt: ‚Die Terroristen gehören doch alle erschossen‘. 70 Es wäre sicherlich interessant zu untersuchen, wann es geprägt wurde (evtl. vor 1933?) und dem nachzugehen, ob und wenn ja welche Verbreitung es heute noch besitzt. Eine Umfrage im Bekanntenkreis erbrachte als Ergebnis seinen Gebrauch auch im Umland von Augsburg sowie in der Tübinger Gegend.
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Erste emotionale Besetzungen des deutsch-jüdischen Feldes reichen meinen Erinnerungen nach in die frühe Gymnasiumszeit zurück, als ich durch das Elternhaus und die Schule vom Zweiten Weltkrieg und dem NS-Völkermord an den Juden erfuhr.71 Meinerseits überwog damals eindeutig das Interesse für den Zweiten Weltkrieg gegenüber der Judenverfolgung. Meine Freunde und ich begeisterten uns für Technik (bei mit in der Reihenfolge: Schiffe, Flugzeuge, Autos), was eine gewisse Begeisterung für Militärisches einschloss. Das jüdische Schicksal in dieser Zeit löste eher eine gewisse Beklemmung aus und wurde von uns ausgeklammert. Das Gefühl der Erleichterung, dass meine Eltern im Zweiten Weltkrieg als Armeefunker und Dolmetscherin nicht direkt an der Judenverfolgung beteiligt waren, war bei mir vorherrschend. Eine weitere Beschäftigung mit dem Thema fand meinerseits noch nicht statt. Ich vermute, dass das ungeheure Ausmaß des Verbrechens und eine gewisse Verbindung, die zu mir als deutschem Nachgeborenen reichte, mich vor einer genaueren Beschäftigung mit dem Thema zurückschreckte. Wie bei vielen anderen nichtjüdischen Deutschen überwog bei mir das passive Gefühl der Beklemmung gegenüber einem aktiven Umgang mit der Thematik. Das Wort Jude ging mir von da an für eine lange Zeit nur noch schwer über die Lippen.72 Erst als Jugendlicher erleichterte meine Beteiligung an antifaschistischen Aktionen eine direkte Annäherung an das heikle Thema. So versuchten wir mit einer Schülerdemonstration eine Veranstaltung der rechtsextremen Partei DVU (Deutsche Volksunion)73 in der Heidelberger Stadthalle zu verhindern. Einen weiteren entscheidenden Schritt zu der Annäherung an das deutsch-jüdische Feld in Vergangenheit und Gegenwart stellt für mich eine Studienfahrt mit dem DeutschLeistungskurs nach Prag und dessen Umgebung in der damaligen Tschechoslowakei Anfang der 80er Jahre dar. Wir besuchten die beeindruckenden Stätten jüdischer Geschichte Prags wie den alten jüdischen Friedhof, die Altneusyna71 Die Begriffe Holocaust und Schoah waren noch nicht gebräuchlich. 72 Gert Mattenklott, selbst ein Nichtjude, hat dieses Phänomen in einer scharfsinnigen Textpassage in Worte gefasst: „Fängt in Deutschland einer an, über die Juden zu sprechen, so verstummt meist das Gespräch, erst recht, wenn ein Jude dabei ist. [...] den Deutschen hat es über die Juden buchstäblich die Sprache verschlagen. Ist ‚Jude‘ nicht ein Schimpfwort? In vielen aktuellen Zusammenhängen lässt sich ausweichen, indem man von Israeli spricht, aber offenkundig sind nicht alle Juden Israeli und nicht einmal alle Israeli Juden. – Vollends fatal wird es bei Abstrakta wie ‚Judenheit‘ oder ‚Judentum‘ etc. [...] – In die Enge getrieben wird man Zuflucht beim ‚jüdischen Menschen‘ suchen oder ‚jüdischen Mitbürger‘. Sogleich ergeben sich aber neue Probleme. [...] Akzeptiert die Rede vom ‚jüdischen Mitbürger‘ nicht erst einmal die Aussonderung im Geiste, ehe der Jude dann wohlwollend als Mit-Bürger, also einer zweiten Klasse zugelassen wird? Nicht anders.“ Ders.: „Über Juden in Deutschland“, Frankfurt a. M.: Jüdischer V 1992, S. 9. – Vgl. hierzu auch oben das Motto dieses Kapitels. 73 Diese Organisation ist praktisch im Privatbesitz des rechtsextremen Multimillionärs und Verlegers Gerhard Frey und konnte ihren bisher größten Erfolg, bei der Landtagswahl 1998in Sachsen-Anhalt mit fast 13 % der Stimmen erzielen.
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goge, das jüdische Rathaus und das jüdische Museum. Außerdem fuhren wir zu der Konzentrationslager-Gedenkstätte Theresienstadt. In meiner Erinnerung merke ich, dass mir dieser Besuch unter der Anleitung eines meiner Lieblingslehrer (Deutsch und Geschichte) den weiteren Zugang zu dem Thema erleichterte, in dem Sinne, dass das unvorstellbare Verbrechen nicht vorstellbarer, aber greifbarer wurde, sich mit einem eigenen biographischen Erlebnis verband. Nicht zuletzt auf Grund dieser wichtigen Erfahrung markiert diese Zeit vor dem Abitur meine persönliche Wendung von einer noch weitgehenden Unfähigkeit zu einer Fähigkeit zum Trauern74 und mein wachsendes Interesse an dem deutschjüdischen Thema insgesamt. Dennoch herrschte damals, wie auch noch in den folgenden Jahren, ein Gefühl der Beklemmung vor bei der Beschäftigung mit der Verfolgung der Juden in der NS-Zeit. Auch in dieser Lebensphase lernte ich zu meinem heutigen Bedauern noch keine Juden und Jüdinnen persönlich kennen. Zwar besuchte ich seit der Oberstufenzeit auf Grund meines kulturellen und politischen Interesses Veranstaltungen mit Publizisten, Schriftstellern und anderen Künstlern, die jüdisch oder jüdischer Herkunft waren – nur stand ihr Bezug zum Judentum nicht im Mittelpunkt dieser Veranstaltungen. Ich erinnere mich z. B. an Lesungen und Konzerte mit Erich Fried, Stefan Hermlin, Robert Jungk und Wolf Biermann. Allerdings besaß es vielleicht etwas Gutes, dass ich zu jener Zeit noch keine Juden persönlich kennen lernte: So bot sich mir auch keine Gelegenheit, meine Schuldgefühle an ihnen ‚abzureagieren‘. Die Schriftstellerin Esther Dischereit hat solcherart Begegnungen zwischen nichtjüdischen Deutschen und hier lebenden Juden aus jüdischer Sicht sarkastisch in zwei Punkten ihres 13-Punkte-Manifests beschrieben: „9 Manchmal geht es jemanden schon schlecht, weil er mich trifft. ‚Ich mache ihn befangen‘, sagt er dann. Es tut mir Leid, dass er an mir leidet. Soll ich dann gehen? Nein, nein, so habe er das nicht gemeint, wird er sagen. Also sage ich nichts. Und frage mich, ob er denn gehen wird, weil er mich befangen macht. Geht ihr denn alle? – 10 Da ich nicht alleine bleiben kann, sage ich lieber, ich sei nicht befangen.“75
4.1.2. Zivildienst und Studium Die erste Jüdin in meinem Leben lernte ich wissentlich76 während meines Zivildiensts in einem Altersheim in Baden-Baden kennen. Zugleich lernte ich einen weiterhin existenten Alltags-Antisemitismus kennen. Die Jüdin war eine hochbetagte Berlinerin, deren Zimmer neben einer ähnlich alten weiteren Berlinerin lag. Beide Damen kamen sich öfters in die Haare und bedrängten uns, das Personal, 74 Damit wird hier bewusst der Titel von Alexander und Margarete Mitscherlich aufgegriffen; vgl. dies. „Unfähigkeit zu trauern“, München 1968. 75 Zit. nach Esther Dischereit: „Merkwürdig; dass ich auf 13 Punkte komme“, in: Behrens, K. (Hg.) (2002:130). - Im Frühjahr 2001 hatte ich die Gelegenheit, Dischereit nach einer Lesung kennen zu lernen. Über diesen Kontakt gewann ich eine für mich wichtige Interviewpartnerin. 76 Meine Kinderärztin war Jüdin, ohne dass ich dies damals wusste.
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häufig, in den Konflikten zwischen ihnen zu schlichten (ein meistens erfolgloses Unterfangen). Dabei nannte die zweite Bewohnerin die erste mir gegenüber nicht mit ihrem Namen, sondern sagte, manchmal auch in deren Anwesenheit, laut und mit aggressivem Unterton: „Die Jüdsche hat dieses oder jenes getan bzw. gesagt.“ Erstaunlich war für mich zweierlei: Zum einen, die Selbstverständlichkeit, mit der die eine das verächtlich ausgesprochene Wort in den Mund nahm und zum anderen die Selbstverständlichkeit mit der die verächtlich gemachte Person dies ‚überhörte‘ und nach außen ignorierte. Auf Seiten der die Jüdin herabsetzenden Person bestand offenbar die Gewissheit, dass dieses Opfer ihrer Anfeindungen sich nicht gegen die sie diffamierenden Wendung wehren würde. Offensichtlich besaßen beide Frauen einen wohl nicht nur auf die NS-Zeit beschränkten Erfahrungshintergrund, dass die öffentliche antisemitische Beleidigung von Juden keine sanktionierte Beleidigung wie in anderen Fällen darstellt. Ich erinnere mich im übrigen nicht, in vergleichbaren Fällen von Konflikten zwischen anderen BewohnerInnen des Altersheims weitere verächtlich gebrauchte Kollektivzuschreibungen, wie die ‚Schwäbin‘ oder die ‚Atheistin‘ gehört zu haben. Mit meinem Umzug nach Göttingen zum Studium der Sozialwissenschaften kam eine weitere, zur Regelmäßigkeit werdende Erfahrung im deutsch-jüdischen Feld hinzu: der alljährliche Besuch der Gedenkveranstaltung am Neunten November auf dem mit einem Mahnmal versehenen Platz der an diesem Datum in der Reichspogromnacht geschändeten und zerstörten Göttinger Synagoge. An diesen Gedenkveranstaltungen nahmen auch einige Überlebende der ehemaligen jüdischen Gemeinde der Stadt teil. Nur einige Beispiele meiner Annäherung an das deutsch-jüdischen Feld in meiner Göttinger Studienzeit seien hier erwähnt. Während des Grundstudiums beschäftigte ich mich in einem Seminar zu ‚Begaben und Begabung‘ mit dem Mediziner und Rassenhygieniker Ottmar Freiherr von Verschuer, der als Kollege Mengeles während des Zweiten Weltkriegs im damaligen Kaiser-Wilhem-Institut für Rassenhygiene in Berlin ‚wirkte‘.77 Hinsichtlich des deutsch-jüdischen Felds noch bedeutsamer war für mich ein Lektürekurs bei dem Politologen Claus Leggewie über Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem. Von der Banalität des Bösen“. Nicht minder interessant wie Arendts These einer technokratisch-affektfreien Seite moderner Inhumanität, war für mich die Kontroverse, die sie jüdischerseits damit ausgelöst hatte. Nach dem ‚Initiationsritus‘ der Lektüre Horkheimer/Adornos „Dialektik der Aufklärung“ begleitete mich der deutsch-jüdische Kreis der Kritischen Theorie bis zur Themenwahl meiner Diplomarbeit (s. u.), wobei mir damals auch andere bedeutende deutsch-jüdische Soziologen, allen voran Norbert Elias, ‚begegneten‘. Zwei knapp verdichtete Hinweise ihrer Wirkung auf meine Verortung im deutsch-jüdischen Feld müssen hier genügen:
77 Als Nicht-Nazi und Mitglied der bekennenden Kirche. Das Beispiel zeigte mir das Wirken des rassebiologisch begründeten Antisemitismus weit über den NS hinaus.
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Den Vertretern der Kritischen Theorie verdanke ich wichtige Anregungen für die mir persönlich wie wissenschaftlich eminent bedeutsame Frage, wie es überhaupt möglich ist, dass in der Moderne, etwa im NS, aber auch in der Gegenwart, immer wieder aufs Neue ein Antisemitismus entstehen kann. Des Weiteren erwuchs mir in der intensiven Beschäftigung mit den Vertretern der Frankfurter Schule und anderer Geistesströmungen der Weimarer Zeit eine Ahnung von der Verlustgeschichte durch die Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Deutschen auch für ‚uns‘ nichtjüdische Deutsche.78
Eine geradezu entscheidende Wirkung auf mein entstehendes Interesse an jüdischem Leben im heutigen Deutschland stellte die Einweihung der Neuen Synagoge in meiner Heimatstadt Heidelberg im Jahre 1993 dar. Ich kann mich gut daran erinnern, als ich sie mir mit meinen Eltern erstmals von außen ansah. Der Neubau dieses schönen repräsentativen Gotteshauses in einer mir vertrauten Umgebung verdeutlichte mir wie wenig anderes sonst, dass es wieder ein lebendiges und wachsendes jüdisches Leben in Deutschland gab.79 Natürlich verstärkte sich dieser Eindruck durch meine interessierte Kenntnisnahme am Wiederaufbau der Neunen Synagoge in Berlin in den frühen 90er Jahren bis zur Einweihung zu Beginn des Jahres 1994. Regelmäßig besuchte ich in dieser Zeit Berlin. Ich erschloss mir flanierend die Stadtlandschaft und ihren Wandel, wobei die Fortschritte des Wiederaufbaus der Neuen Synagoge mit ihrer Goldenen Kuppel zu den Entwicklungen zählten, die mich besonders beeindruckten. Allerdings nimmt sich m. E. das Spektakuläre dieses Wiederaufbaus in der Rückschau etwas geringer aus, da es damals im Zuge der Wiedervereinigung beider Berliner Stadthälften in kürzester Zeit vor allem im östlichen Teil überhaupt zu dramatischen Veränderungen im Stadtbild überhaupt kam. Soviel Neuanfang gab es noch nie im Berlin der letzten Jahrzehnte! In diese Zeit der frühen 90er Jahre fällt auch die Reaktivierung der Göttinger Jüdischen Gemeinde, wovon ich allerdings ausschließlich aus der Zeitung erfuhr. Mitte der 90er Jahre schrieb ich meine Diplomarbeit. Längere Zeit spielte ich mit dem Gedanken, meine Arbeit über den Philosophen Walter Benjamin (1898 bis 1940) und den mit ihm befreundeten Soziologen Siegfried Kracauer (1888 bis 1966)zu schreiben. Jüdische Aspekte erschienen mir hierfür bereit interessant. Schließlich besprach ich mit Professor Wolf Rosenbaum ein ganz anderes Thema: die Kontrastierung der Gesellschaftstheorie des deutsch-jüdischen Sozialphilosophen Herbert Marcuse (1898 bis 1979) mit der des Gegenwartssoziologen Ulrich Beck (1944*). Vordergründig bewegte ich mich in meiner Arbeit über78 Mittlerweile sind mir allerdings auch die problematischen Implikationen einer Reduzierung der Verlustwahrnehmung auf die Juden, die einen Beitrag zur deutschen Kultur geleistet haben als eine neuerliche Reproduktion der ‚Nobilitierung gebildeter Juden‘ (G. Mattenklott) gegenüber den Restlichen bewusst. Vgl. hierzu näher das historische Hinführungs-Kap. II.1.1.1., S. 85 mit Anm. 30. 79 In den Wintermonaten kann man von dem Terrassengarten meiner Familie oberhalb Heidelbergs auf die flache Kuppel der Heidelberger Synagoge blicken.
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haupt nicht oder nur sehr peripher im deutsch-jüdischen Feld. Denn primär untersuchte ich beider gesellschaftsbezogene Rationalitäts- und Fortschrittsbegriffe, ihre Analyse großindustriell und naturwissenschaftlich geprägter Naturbeziehung und den jeweiligen Stellenwert Neuer Sozialer Bewegungen in beiden Ansätzen. Allerdings setzte ich mich auf Anregung von Herrn Rosenbaum auch mit den Biographien beider Gesellschaftstheoretiker auseinander.80 In der Arbeit reflektierte ich dabei im Falle Marcuses auch über den biographisch durchlebten Zivilisationsbruch der Schoah. Er und ein Großteil seiner Familie waren als Juden aus Deutschland verjagt worden, Angehörige im KZ umgekommen. Demnach schrieb er mit seiner Rationalitätskritik hiergegen an, indem er dem Humanen, als Utopie eines im zukünftigen Horizont der Geschichte angesiedeltes machbaren gesellschaftlichen ganz Anderen, zeitlebens die Treue hielt. Zu den örtlichen und intellektuellen Wegmarken meiner Annäherung an das deutsch-jüdische Feld sollten bald auch öffentliche Begegnungen mit Juden hinzutreten, in denen diese sich explizit aus jüdischer Perspektive hierzu äußerten. Eine für mich und viele andere beeindruckende Persönlichkeit stellte hierbei der damalige Göttinger Oberbürgermeister Artur Levi dar. Er hatte kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs als Jude mit einem sog. Kindertransport nach Großbritannien geschickt, dort überlebt. Bald nach 1945 kehrte er nach Deutschland zurück und studierte an der damals noch eigenständigen Pädagogischen Hochschule Göttingen. Er ging in die Kommunalpolitik und wurde in den späten 40er Jahren mit einem noch recht lebendigen Antisemitismus in der Stadt konfrontiert, wovon er in seiner Rede anlässlich des 50. Jahrestages des Kriegsendes auf Einladung der Sozialwissenschaftlichen Fakultät Göttingen am Achten Mai 1995 referierte.81 Levi blieb trotzdem in Göttingen und entschloss sich am Aufbau eines demokratischen und antifaschistischen Deutschlands mitzuwirken – wurde 1986 Göttinger OB. Wenige Tage oder Wochen nach Levis Festvortrag sprach im größten Hörsaal der Göttinger Universität der damalige Zentralratspräsident der Juden Ignatz Bubis82. Auch diese Veranstaltung übte auf mich eine große Wirkung aus. Bubis zeigte uns ca. 1000 bis 2000 anwesenden Studierenden gegenüber eine offene Dialogbereitschaft, wie ich es bei einem jüdischen Überlebenden der Auschwitz-Generation nicht für möglich gehalten hätte. Er lud uns quasi zur Auseinandersetzung mit den heute in Deutschland lebenden Juden ein.
80 Mit Ulrich Beck führte ich für meine Abschlussarbeit auch ein längeres Interview. 81 Der Antisemitismus der unmittelbaren Nachkriegszeit in der Stadt begegnete ihm u. a. in der Gestalt des Adolf von Thadden, wie er in dem Festvortrag ausführte: V. Thadden, der in jenen Jahren in Göttingen auch die Wikking-Jugend gründete, konnte z. B. damals in der rechtsgerichteten Göttinger Tageszeitung in der Tradition des Völkischen Beobachters schreiben, der damalige Oberbürgermeister solle sich nicht von einem Referenten ‚levinisieren‘ lassen. In Göttingen, welches bereits vor der Machtübernahme eine NS-Hochburg war, erlebte Levi in dieser Zeit viele weitere antisemitische Bekundungen. 82 Zu Bubis vgl. auch Kap. II.1.4.3., S. 121
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In diese Zeit Mitte der 90er Jahre fallen meinerseits viele Anknüpfungspunkte an Themen im deutsch-jüdischen Feld, die mir nicht mehr alle präsent sind und von denen ich nur noch schlaglichtartig einige benennen will: Kommilitonen der Geschichte aus meinem Bekanntenkreis arbeiteten in der KZ-Gedenkstätte Dora am Harzrand in Thüringen, die ich ebenso besuchte, wie das ebenfalls von Göttingen nicht allzu ferne KZ Buchenwald mit seinen Gedenkstätten nahe Weimar. In diesem Zeitabschnitt veröffentlicht ein Bekannter auch sein Buch über die Arisierung von Geschäften in Göttingen.83 In diese Phase fallen auch mein Besuch einer Lesung und Diskussionsveranstaltung mit Emil Carlebach, einem jüdisch-kommunistischen Überlebenden von Buchenwald und der Beginn meines bis heute anhaltendes Interesse für Klezmermusik. Von nun an nahmen vielfältige Bezugsebenen im Themenbereich des deutsch-jüdischen Feldes einen festen Platz in meinem Leben ein.
4.2. Generations- sowie milieuspezifischer sekundärer Philosemitismus „Der Philosemitismus [...] entspringt denselben Quellen und lässt den psychischen Mechanismus des Antisemitismus weitgehend unangetastet. Als dessen Umkehrung – er idealisiert das, was der Antisemitismus entwertet – unterscheidet er sich von ihm vor allem dadurch, dass seinen Anhängern die destruktive Seite vollständig unbewusst bleibt.“ Christian Schneider84
An dieser Stelle meiner biographischen Eigenverortung im deutsch-jüdischen Feld – der letzten Phase vor dem Erreichen der Gegenwartsebene – möchte ich meinen Rekonstruktionsversuch um zwei Ebenen weiten. • Zum einen halte ich es an diesem biographischen Punkt für notwendig, mein mittlerweile intensives Agieren im deutsch-jüdischen Feld auf eine überindividuelle Ebene zu heben, da ich denke, dass der Reflexionsversuch nur im Zusammenhang mit dem vergleichbaren Verhalten anderer nichtjüdischer Deutscher zu verstehen ist. • Damit in Zusammenhang steht, dass der Gegenstand dieses Abschnitts mir gebietet, statt dem bis hierher stärker deskriptiv-phänomenologischen, einen analytisch-phänomenologischen Standpunkt einzunehmen. Hierzu wird der von mir gebildete Begriff des ‚sekundären NachkriegsPhilosemitismus‘ (vgl. oben Kap. I.3.2.1.) angeführt, um mein stark wachsendes Interesse an jüdischen Themen und lebenden Juden aus der Rückschau zu reflek83 Alex Bruns-Wüstfeld: „Lohnende Geschäfte. Die ‚Entjudung‘ der Wirtschaft am Beispiel Göttingens“, Hannover. Fackelträger 1997. Bruns-Wüstfeld veranstaltete hierzu auch Lesungen und kundige Führungen, von denen ich einige besuchte. 84 Ders.: „Der Hass auf das Andere“, in: TAZ Mag. 08./09.6.02
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tieren. Dort wurde dieser sekundäre Philosemitismus als generations- und milieuspezifische Abwehr von Schuldgefühlen auf Grund der von Deutschen verübten Verbrechen an den Juden definiert. Als dessen Träger wurden von mir vorrangig bildungsbürgerliche, im weitesten Sinne politisch eher progressive Milieus der Nach-68er-Generationen ausgemacht. Inhaltlich zeichnet er sich wie andere Spielarten des Philosemitismus durch eine ideelle Überhöhung des jüdischen Kollektivs in Geschichte und Gegenwart aus. Im Nachhinein sehe ich es als eine Tatsache an, dass ich über eine längere Zeit bis kurz vor meiner Entscheidung für die vorliegende Studie von einer Spielart dieses sekundären Philosemitismus affiziert war. Ich fühlte mich etwa seit Mitte der 90er Jahre im Zuge meines Studiums und meines politischen Engagements progressiven philosemitischen Kreisen verbunden. In der IsraelPalästina-Problematik nahm ich eine kritisch-solidarische Haltung zu Israel ein, die eine friedliche Koexistenz zweier Staaten zum Ziel hat. Auch wenn ich damals noch keinen Begriff von dem Phänomen des sekundären Philosemitismus und den ihm zu Grunde liegenden unbewussten Motiven besaß, halte ich diese philosemitische biographische Phase für einen wichtigen Zwischenschritt meines Weges zu einer stärker selbstreflexiven Auseinandersetzung mit in Deutschland lebenden Juden. Als positiv an der hier geschilderten Phase kann im Rückblick vermerkt werden, dass es mir anscheinend auf Grund meiner philosemitischen Disposition gelang, meine eigenen Schuldgefühle gegenüber Juden soweit zu reduzieren, dass eine aktiv von mir ausgehende wissenschaftlich motivierte Faceto-face-Beschäftigung mit in Deutschland lebenden Juden von mir immer stärker in Betracht gezogen wurde.85
4.2.1. Erstes persönliche Teilmotiv: Rationale Ebene der eigenen philosemitischen Disposition Ich halte es für plausibel, dass sich Motivbündel aus meinen o. g. historischen, soziologischen und politischen Interessen für meinen eigenen Philosemitismus ergaben sowie gegenseitig verstärkten. Diese möchte ich in der Summe als die von mir schon während ihrer Entstehung bewusst wahrgenommene rationale Motivebene meiner Beschäftigung mit jüdischen Themen bezeichnen. Die Reflexion meiner biographischen Verortung im deutsch-jüdischen Feld mag bis zu diesem Zeitpunkt einer viel zu schön erscheinenden ‚Erfolgsgeschichte‘ gelten, um wahr zu sein: ein nach dem Zweiten Weltkrieg geborener nichtjüdisch-
85 Genau in dieser Zeit veröffentlichte die AJW einen satirischen Beitrag: „Der Koschere Knigge. Über den Umgang mit ‚jüdischen Mitbürgern‘“ AJW 15.05.96, den ich damals nicht kannte, aber nach dessen Maxime ich offenbar dennoch handelte: Wolfgang Benz berichtet davon, dass es in dem Beitrag „außer der Empfehlung an Nichtjuden, Juden nicht durch jüdische Witze unterhalten zu wollen, [...] den abschließenden Rat (gibt), Schuldgefühle als Nachkomme der Tätergesellschaft ohne Inanspruchnahme von Juden zu bewältigen.“ Zit. nach ders., in: K. Behrens (Hg.): Ich bin geblieben – warum?, S. 11
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deutscher Student der Sozialwissenschaften, der in Scham vor deutschen Verbrechen an den Juden sich nicht in der Lage sieht, das Wort ‚Jude‘ ohne Schuldgefühl auszusprechen, beginnt sich für deutsch-jüdische Vergangenheit und Gegenwart zu interessieren und ‚mutiert‘ zum Philosemiten. Ich halte diese von mir hauptsächlich kognitiv und moralisch begründete Beschäftigung mit dem Thema für ein wenn auch wichtiges Teilmotiv meiner biographischen Verortung im deutsch-jüdischen Feld während der Studienzeit. Denn es gibt noch ein weiteres Motiv, von dem der folgende Abschnitt handelt.
4.2.2. Zweites persönliche Teilmotiv: Emotionale Ebene der eigenen philosemitischen Disposition ‚Gebündelt‘ wurden die zuvor in Kap. I.4.2.1. angeführten rationalen Motive meiner Beschäftigung mit jüdischer Themen durch eine meinerseits zunehmende positive emotionale Besetzung von Juden als von meinem Mit-Leid bedachtes Opferkollektiv: Dies schloss das gute Gefühl ein, zu einer bestimmten Gruppe von Menschen zu gehören, die sich ähnlich verortete. Entsprechend der in der zweiten phänomenologischen Ableitung bei Schütz86 gebotenen Reflexion eigener affektiver Beziehungen zum Untersuchungsgegenstand ist es besonders eine Frage, die sich mir bei diesem perspektivisch versetzten zweiten selbstreflexiven Deutungsversuch meiner zunehmenden philosemitischen Hinwendung zu jüdischen Themen in der beschriebenen Studienzeit aufdrängt: Welche untergründigen Motive lagen meinem anscheinend überindividuell mit anderen geteilten immer stärker werdenden Interesse an allem Jüdischen zu Grunde? Ich halte es für eine plausible Deutung, die positiven emotionalen Besetzungen jüdischer Thematik als Kehrseite der für mich und meine Gesinnungsgenossen weniger angenehmen Empfindungen im deutsch-jüdischen Themenfeld zu interpretieren: Empfindungen, die ich in den vorherigen Abschnitt schon mehrfach als Scham gegenüber deutscher Schuld und, für den Fall des Zusammentreffens, als Beklemmungen im Umgang mit den Überlebenden der Schoah beschrieben habe; Empfindungen, die ich, wie auch andere aus meinem eher progressiv orientierten bildungsbürgerlichen Universitätsmilieu, seit früher Jugend spürten. Auch bin ich der Meinung, dass in dem Auftreten der hier angeführten philosemitischen Gefühle und den sie begleitenden Bedürfnissen nach entsprechenden Gemeinschaftserlebnissen vor allem in der zweiten deutschen Nachkriegsgeneration, der ich angehöre, eine Teilantwort liegt, warum die teilweise schon Hunderte Jahre alte Klezmer-Musik seit den späten 80er Jahren besonders in Deutschland außerhalb seines eigenen osteuropäischen Herkunftsgebiets rapide populär geworden ist. Natürlich hingen wir aus politischer Überzeugung nicht der Kollektivschuldthese an, die uns nachgeborene nichtjüdische Deutsche quasi biologistisch zu Mittätern wie auch eine persönliche Vermeidung von Schuld unmöglich gemacht 86 Vgl. hierzu A. Schütz: Das Problem der sozialen Wirklichkeit, S. 119 ff
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hätte.87 Dies änderte allerdings nichts an der Tatsache, dass uns bekennenden jüngeren Philosemiten auch unser tatsächlich bestehendes Schuldgefühl gegenüber den jüdischen Opfern und ihren Nachkommen immer wieder aufs Neue beklommen und befangen machte, nicht anders wie andere Deutsche auch. Diese von mir als innerer Schuld- und Schamkomplex bezeichnete Disposition drängte aber auf Entlastung jenseits bekannter ‚Reinigungsprozeduren‘, wie die Verdrängung oder Entschuldigungsversuche deutscher Schuld. Denn uns ,kritischen‘ Studenten war die gerade häufig gewählte Strategie der aktiv oder passiv betriebenen Verdrängung deutscher Schuld durch unseren aufklärerischen Anspruch, eben dieser Verdrängung entgegenzuwirken, versperrt. Aber wie auch immer geartete Strategien der eigenen ‚Ent-Schuldigung‘ konnten von uns – ohne eigene Schuld – auch nicht angewandt werden. Hier scheint m. E. das Hauptmotiv für die von uns überindividuell und unbewusst gewählte Strategie zu liegen.
4.3. Nachphilosemitische Disposition im judaisierenden Milieu „Wenn es gelingen sollte, die in der Aufklärung postulierte Gleichheit im Bewusstsein des christlichen Abendlandes in Gleichwertigkeit umzuwandeln, was bedeutet: die Gleichberechtigung des Judentums anzuerkennen [...], wäre ein großer Schritt in die Richtung einer wahrhaft pluralistischen Gesellschaft getan.“ Yael Kupferberg88
Die zuvor geschilderte sekundär-philosemitische Haltung blieb in meiner weiteren biographischen Entwicklung allerdings episodisch. In der konkreter werdenden soziologischen Beschäftigung mit dem deutsch-jüdischen Feld und meiner eigenen Verortung darin wurde die Erkenntnis immer bedeutsamer, dass die eigene philosemitische Haltung gerade keine Immunisierung vor (judenfeindlichen) Klischeebildungen bedeutet. Über meine hier nachgezeichnete Selbst-Verortung hinaus schlage ich generalisierend den Begriff einer nachphilosemitischen Disposition vor, um diese auch für die Studie angestrebte selbstreflexive nichtjüdische Haltung im deutsch-jüdischen Feld zu bezeichnen. Ende der 90er Jahre begann sich das vorliegende Forschungsprojekt zu konkretisieren. Mit ausschlaggebend für die letztlich von mir getroffene Wahl einer empirischen Studie im Bereich der jüdischen Gemeinschaft Deutschlands war für mich sicherlich auch ein zunehmendes Unbehagen, persönlich keine Juden zu 87 Diese These hatte schon wenige Monate nach Kriegsende Karl Jaspers in dem berühmten, an der Universität Heidelberg im Wintersemester 1945/46 gehaltenen Vortrag ‚Die Schuldfrage‘ verworfen, vgl. ders.: Erneuerung der Universität. Reden und Schriften 1945/1946, Heidelberg: Lambert Schneider 1986, S. 113-213. Auch der erste Bundespräsident Theodor Heuss hatte die Kollektivschuldthese früh abgelehnt und statt dessen von ‚Kollektivscham‘ gesprochen, vgl. ders.: An und über Juden. Aus Schriften und Reden 1906-1963, Düsseldorf: Econ 1964, S. 122. 88 Y. Kupferberg: „Philosemitismus im Kontext der deutschen Nachkriegszeit“, in: J. H. Schoeps (Hg.): Leben im Land der Täter, S. 279
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kennen, trotz der starken und längeren Beschäftigung mit Themen des deutschjüdischen Feldes. Da meinerseits ein deutliches Interesse an einer empirischen Arbeit als Promotionsprojekt bestand, bot sich eine Befragung zu jüdischem Leben in Deutschland bzw. Berlin an. Ein letzter Verweis soll der sich im Zuge der Arbeit an der vorliegenden Studie wandelnden eigenen sozialen Verortung im deutsch-jüdischen Feld gelten: Die jahrelange sozialwissenschaftliche Tätigkeit in diesem Feld brachte eine Vielzahl von Kontakten im jüdischen Berlin mit sich. Die Erhebungsgespräche repräsentieren nur einen Bruchteil dieses Beziehungsgeflechts. Ebenso reichhaltig entwickelte sich der Kontakt in die oben im Kap. I.3.2.2. als judaisierendes Milieu skizzierte Gruppe von Nichtjuden hinein. Abschließen möchte ich meinen Selbstverortungs-Versuch im deutschjüdischen Feld mit einer faszinierenden Beobachtung: Anfängliche Befangenheiten meinerseits im jüdischen Berlin, wie auch in den seltenen Fällen von jüdischer Seite mir gegenüber erschienen mir mehr und mehr verständlich und erträglich als Ausdruck der ‚normalen Anormalität‘ (im Sinne S. Korns KapitelMotto, s. o.) des jüdisch-nichtjüdischen Verhältnisses in Deutschland. In der Erhebungsphase trat an ihre Stelle rasch etwas anderes: Die wissenschaftlich geleitete Neugierde an konkreten Menschen und ihrer Lebenswelt.
5 . E r k e n n t n is t h e o r e t i s c h e G r u n d la g e n „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.“ Wilhelm Dilthey89
Die vorliegende Studie orientiert sich, wie alles wissenschaftliche Arbeiten, an gewissen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen. In diesem Fall handelt es sich um drei verschiedene Ansätze, die sich gegenseitig nicht ausschließen, sondern im Kontinuum einer interpretativen Sozialforschung vielmehr aufeinander aufbauen oder zumindest mit vielfachen geteilten Voraussetzungen und Überschneidungen komplementär zueinander stehen: Gemeinsam ist allen Vorgehensweisen, dass sie auf das Verstehen und die Deutung des Agierens der in der untersuchten Sozialwelt Handelnden gerichtet sind.90
89 Ders. zit. nach Philipp Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim/Basel: Beltz UTB, 8. Aufl., 2003, S. 17 90 „[...]. jede Form von Forschung – und damit neben bzw. mit den Geisteswissenschaften auch und gerade die Sozialforschung – (basiert) auf Akten der Deutung. [...]. Insofern ist jede Form von Sozialforschung in einem sehr allgemeinen Sinn ‚interpretativ‘“, wie Ronald Hitzler und Hans Georg Soeffner, zwei Pioniere hermeneutischer Sozialwissenschaft zu Recht betonen; zit. nach dies.: „Hermeneutik als Haltung und Handlung. Über methodisch kontrolliertes Verstehen“, in: Norbert Schröer (Hg.): Interpretative Sozialforschung, Opladen: Westdeutscher 1994, S. 50.
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5.1. Verortung im Bezugsrahmen interpretativer Sozialforschung 5.1.1. Verstehende Soziologie „Menschen sind üblicherweise so intensiv damit beschäftigt, unentwegt zu verstehen, daß sie sich mit dem Problem des Verstehens selber gar nicht beschäftigen (können).“ Hans-Georg Soeffner/Ronald Hitzler91
Jenseits aller genaueren Beschreibung und Etikettierung methodischer Details, ist die Untersuchung generell an einer Verstehenden Soziologie orientiert. Die Begrifflichkeit geht auf Max Weber zurück: „Soziologie [...]. soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und in seinen Wirkungen ursächlich erklären will. ‚Handeln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußerliches oder inneres Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales‘ Handeln soll aber ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“92 Schon in dieser ursprünglichen Form verstehender Soziologie ist das Vorhandensein einer dem soziologischen Verstehensprozess vorausgehenden außerwissenschaftlichen Verstehensleistung erkennbar: ‚Subjektiver Sinn‘, beinhaltet als Deutungsprozess bereits in der Alltagsroutine ein Verstehen als wichtige Voraussetzung gelingender sozialer Orientierung und Kommunikation. Alfred Schütz, der Begründer der phänomenologischen Soziologie, hat Webers verstehender Soziologie weiterentwickelt. Die vorliegende Studie folgt seiner Erkenntnis, dass die untersuchte soziale Welt per se aus erfahrungsabhängigen Interpretationsleistungen besteht, d. h. Sozialwissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften gerade in methodischer Hinsicht, schon immer mit vorinterpretierten Daten zu tun haben. Sozialwissenschaftliches Vorgehen leistet demnach „Konstruktionen zweiten Grades, das heißt Konstruktionen von Konstruktionen jener Handelnden im Sozialfeld, deren Verhalten der Sozialwissenschafter beobachten und erklären muß.“93 Schütz Anbindung des Verstehens an Handlungstypen unter Einschluss einer Selbsttypisierung ist sehr aufschlussreich für das spezielle empirische Vorgehen 91 Ebd. S. 49 92 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundrisse der verstehenden Soziologie, besorgt von J. Winckelmann, Tübingen: Mohr, 5. Aufl. 2002 [1921], S. 1 – Für Weber fußen die verschiedenen soziologischen Verstehensebenen auf verschiedenen rationalen Begründungskonzepten (intuitive lehnt er ab): „deutende Erfassung: a) des im Einzelfall real gemeinten ... oder b) des durchschnittlich und annäherungsweise gemeinten ... oder c) des für den reinen Typus (Idealtypus) einer häufigen Erscheinung wissenschaftlich zu konstituierenden (‚idealtypischen‘) Sinnes oder Sinnzusammenhangs“. 93 A. Schütz: Das Problem der sozialen Wirklichkeit, S. 68
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sowie meine Selbstverortung darin (s. o. Kap. I.4.): „In dem ich die Rolle des Anderen definiere, nehme ich selbst eine Rolle an. Indem ich das Verhalten des Anderen typisiere, typisiere ich mein eigenes Verhalten, das mit dem seinigen verbunden ist, und ich versetze mich selbst, sagen wir, in einen Reisenden oder einen Verbraucher, in einen Steuerzahler, einen Leser oder einen Beobachter.“94 Schließlich kann auf Schütz Lesart von M. Webers Idealtypus als weiteres Hilfsmittel für die wissenschaftliche Rekonstruktion des Untersuchungsfelds im jüdischen Berlin zurückgegriffen werden: „Der Sozialwissenschaftler beobachtet gewisse Ereignisse in der sozialen Welt als solche, die durch menschliche Tätigkeit verursacht wurden, und er beginnt, den Typus dieser Ereignisse herauszuarbeiten. Danach koordiniert er mit diesen typischen Handlungen typische WeilMotive und Um-zu-Motive, die er im Bewusstsein eines imaginären Handelnden als invariabel annimmt. So konstruiert er einen personalen Idealtypus, das Modell eines Handelnden, das er sich mit Bewusstsein begabt vorstellt.“95 Im Unterschied zu Schütz stellt sich hier allerdings die ganz praktisch Frage eines qualitativ-empirischen Forschungsprojektes nach den sichtbaren Objektivationen der unsichtbaren Bewusstseinsleistungen bzw. Sinnkonstruktionen der untersuchten Individuen: Da allerdings „der wissenschaftliche Interpret (genauso wie der Alltagsmensch) keinen direkten Zugriff auf die Bewusstseinsleistungen des Handelnden hat, ist er bei seinen Annäherungen an den Handlungsentwurf auf die Objektivationen angewiesen, in denen der Entwurf jeweils zum Ausdruck kommt. Da die Ex-post-Annäherung rational zu erfolgen hat, müssen diese Objektivationen diskursiv zugänglich sein, mithin als Text vorliegen.“96 Diese Objektivationen sind im Fall der vorliegenden empirischen Studie die überwiegend verschriftlicht vorliegenden Einzelgespräche der Erhebung. Es sind insbesondere zwei Ansätze, die sich mit den Grundzügen verstehender Soziologie decken, die in den folgenden beiden Abschnitten in ihrem Gehalt für die qualitativ-empirische Studie noch skizzenhaft vorgestellt werden.
94 Ebd., S. 21 95 Alfred Schütz: Gesammelte Aufsätze, Bd. 2: Studien zur soziologischen Theorie, Den Haag: Martinus Nijhoff 1972, S. 195 96 Norbert Schröer: „Wissenssoziologische Hermeneutik“, in: Ronald Hitzler/Anne Honer (Hg.): Sozialwissenschaftliche Hermeneutik, Opladen: Leske + Budrich 1997, S. 112
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5.1.2. Sozialwissenschaftliche Hermeneutik und hermeneutische Wissenssoziologie „Hermeneutik ist die Kunst der Vermittlung. Das ist schon durch die Bedeutung des entsprechenden Verbs, hermeneuein, in Platons ‚Symposion‘ belegt: Von Eros als einer auch die Philosophie beherrschenden göttlichen Macht heißt es hier, er bringe die Botschaften der Götter zu den Menschen, die menschlichen Wünsche zu den Göttern. Das ist ‚hermeneuein‘: kundgeben, verbinden und übersetzen, so dass eines dem anderen verständlich wird, ohne sich ihm anzugleichen – ein Vermitteln, bei dem nichts isoliert genommen wird, aber doch in seiner Besonderheit respektiert. Vermitteln kann nur, wer das Verschiedene ernst nimmt, statt verwaschene Kompromisse zu suchen, und erst so die wahre Gemeinsamkeit zu entdecken vermag.“ Günter Figal97
Bei der Hermeneutik handelt es sich um eine ursprünglich in der Antike entwickelte ‚Hilfswissenschaft‘ zur Auslegung religiöser und juristischer Texte.98 Daher ist sie an das Prinzip der Schriftlichkeit bzw. unbegrenzten Abrufbarkeit gebunden, welche erst die Diskursivität, die wiederholte Beschäftigung einer oder verschiedener Personen mit dem gleichen Text, bzw. Datenmaterial ermöglicht.99 Über die Linie Dilthey, Heidegger und Gadamer entstand aus der Methode philosophischen Hermeneutik später eine auch für die Sozialwissenschaften eminent bedeutsame eigenständige hermeneutische Philosophie. (1) Sozialwissenschaftliche Hermeneutik
Nach ihrer Renaissance in der Philosophie nimmt die Hermeneutik ebenfalls im weiten Feld der sozialwissenschaftlichen Diskussion im deutschsprachigen Raum seit annähernd 30 Jahre eine zunehmend bedeutsame Stellung ein. Der dort vollzogene Übergang von der traditionellen Frage des ‚was‘ des Verstehens zu seinem ‚wie‘, also zu der Frage nach dem Verstehen des Verstehens markiert auch die Erweiterung hermeneutischen Verfahren als sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Diese Selbstreflexion mündet in der Erkenntnis des Interpreten als Koautor von Texten, da er das Bedeutungspotential eines Textes aufnimmt, in dem er mit seiner biographisch und geschichtlich aufgeladenen Interpretation den Bedeutungshorizont des Originaltextes weitet. Bei aller Unterschiedlichkeit der 97 Günter Figal: „Im milden Licht wechselnder Tageszeiten. Zum Tode von HansGeorg Gadamer“, in: Neue Zürcher Zeitung, 15. März 2002 98 Zur historischen Entwicklung der Hermeneutik vgl. H. G. Soeffner/R. Hitzler: „Hermeneutik als Haltung und Handlung Verstehen“, in: N. Schröer (Hg.): Interpretative Sozialforschung, S. 29 ff. 99 Auch die heutige sozialwissenschaftliche Hermeneutik (s. u.) bedarf der Aufzeichnung menschlicher Objektivationen, um diese bearbeiten zu können.
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vielfältig ausdifferenzierten sozialwissenschaftlichen rechtfertigen diese Ansätze eine gemeinsame Etikettierung, da sie einige Grundprinzipien teilen: • Sie vertreten das Prinzip der Konstruktion von Konstruktionen im Sinne A. Schütz' Konstruktionen erster und zweiter Ordnung (s. o.) Sie vertreten ein umfassenderes Postulat des Zweifels: „1. des Zweifels als • Grundeinstellung des Interpreten, 2. des Zweifels auch (und insbesondere) an den Vor-Urteilen des Interpreten, und 3. des Zweifels an (monistischen) theoretischen Erklärungen. [...]. die sozialwissenschaftliche Hermeneutik (repräsentiert) somit insgesamt eine distanzierte, rekonstruktiv-konstruktive Haltung gegenüber sogenannten Fakten und eine dauerhafte, methodisch eingesetzte Skepsis gegenüber ‚positivem Wissen‘.“100 • Sie vertreten meistens bei der Rekonstruktion eines objektiven Typus' gesellschaftlichen Handelns ein Vorgehen, welches von der auf das Typische und Verallgemeinerungsfähige von historischen ‚Einzel‘-Erscheinungen zielenden Fallanalyse „über Fallvergleich, Deskription und Rekonstruktion fallübergreifender Muster bis hin zur Deskription und Rekonstruktion fallübergreifender und zugleich fallgenerierender Strukturen“101 voranschreitet. • Sie vertreten den Vorrang der Qualität vor der Quantität von Daten: „Die Qualität und Interpretationen ihrer Aussagen [hängt nicht] von der Quantität ihrer Daten, wohl aber von der Intention der Fragerichtung und den Prinzipien und Verfahren [...]. [ab]. Denn diese wiederum präformieren [...]., was und ‚wieviel‘ an Daten für die Interpretation einer ‚Einzelerscheinung‘ für erforderlich gehalten wird.“102 in Hinblick auf Überprüfbarkeit • Sie vertreten den Anspruch der Objektivität sowie Richtung und Ziel des Verfahrens.103 (2) Hermeneutische Wissenssoziologie
Eine aktuelle Spielart der Sozialwissenschaftlichen Hermeneutik ist die Hermeneutische Wissenssoziologie von Jo Reichertz und Norbert Schröer. Sie sehen ihren Ansatz als hermeneutisch im Sinne der im vorigen Abschnitt dargestellten Prämissen sozialwissenschaftlicher Hermeneutik. Ihrer Meinung nach lässt sich die gegenwärtige empirische Sozialforschung in fünf Großfragerichtungen unterscheiden, wobei sie ihre eigene Perspektive, als der Großfragerichtung einer (Re)konstruktion historisch und sozial vortypisierter Deutungsarbeit verpflichtet, beschreiben. Es geht ihnen um eine Verbindung von Deskription und Rekonstruktion. Welche die alte Diskrepanz bzw. Einseitigkeit vorrangig struktur- bzw. handlungstheoretischer Ansätze zu überwinden sucht. Dies unterstreichen sie mit
100 H. G. Soeffner/R. Hitzler: „Hermeneutik als Haltung und Handlung Verstehen“, in: N. Schröer (Hg.): Interpretative Sozialforschung, S. 33 101 Ebd., S. 39 (Kursivsetzung von mir, A. J.) 102 Ebd., S. 36. Dies ist ein zentraler Gedanke des für die vorliegende Studie gewählten qualitativen Paradigmas; s. u. Kap. I.5.2., S. 67 ff. 103 Vgl. ebd.
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dem Begriff wissenssoziologisch, da es ihnen „um die (Re)konstruktion der Prozesse [geht], wie handelnde Subjekte sich in einer historisch vorgegebenen, sozialen Welt immer wieder neu ‚finden‘, d. h. auch: zurechtfinden und wie sie dadurch zugleich auch diese Welt stets aufs Neue erschaffen und verändern.“ 104 In den Einzelfalluntersuchungen der ananalysierten Gruppenaktivitäten im vierten Teil der Studie wird ein entsprechendes Untersuchungsverfahren gewählt. Dort interessieren vor allem das innovative problem- und chancenorientierte Handeln der GesprächspartnerInnen und anderer Akteure innerhalb der untersuchten Gruppierungen in einem als deskriptive Ebene erfassten „historisch und sozial entwickelten Handlungsrahmen“.105 Mit sozialem Handeln innerhalb dieses Handlungsrahmens ist neben der aktiven Reproduktion der von den Akteuren ‚bewohnten‘ sozialen Strukturen immer auch ein Erweitern und Erfinden dieses sozialen Felds gemeint, worauf die Studie ein besonderes Augenmerk richtet.
5.1.3. Grounded Theory „Überall dort, wo die Annahme zu Grunde liegt, daß menschliche Wirklichkeit interpretierte Wirklichkeit ist und daß diese Wirklichkeit in Interaktionsprozessen konstruiert wird, liefert die grounded theory das passende methodische Rüstzeug, das dort seinen Ansatzpunkt findet, ‚wo was los ist‘, um mit Goffman zu sprechen, im Alltagsleben selbst.“ Bruno Hildenbrand106
Zum Abschluss der erkenntnistheoretischen Grundlagen und als Übergang zu der Darlegung des konkreten empirischen Methode wird die Bedeutung der Grounded Theory (GT) von Barney Glaser und Anselm L. Strauss für die Studie skizziert. Die GT lässt sich als der klassische qualitative Forschungsansatz eines Begründens oder Entdeckens von Theorien oder Theoriebausteinen bezeichnen. Glaser und Strauss haben die Theorie unter Einbeziehung programmatischer Überlegungen seit den frühen 60er Jahren in den USA entwickelt. Gerade für die Entwicklung des Forschungsdesigns Für die Studie im jüdischen Berlin sind einige Spezifika des GT-Ansatzes besonders bedeutsam: • Von der Chicagoer Schule der US-Soziologie adaptiert: „Feldbeobachtungen und intensive Interviews als Techniken der Datenerhebung [...]. Darüber hinaus […] die Notwendigkeit, die Standpunkte der Handelnden zu erfassen, um Interaktion, Prozess und sozialen Wandel verstehen zu können.“107
104 Jo Reichertz: „Konturen einer hermeneutischen Wissenssoziologie“, in: N. Schröer (Hg.): Interpretative Sozialforschung, S. 59 105 N. Schröer: „Wissenssoziologische Hermeneutik“, in: R. Hitzler/A. Honer (Hg.): Sozialwissenschaftliche Hermeneutik, S. 109 106 Ders.: „Vorwort“, in: Anselm L. Strauss: Grundlagen qualitativer Sozialforschung, München: Fink UTB 1998, S. 16 107 A. Strauss, ebd., S. 51
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• • • •
„Aus völlig unterschiedlichen Materialien (Interviews, Transkriptionen von Gruppengesprächen, Gerichtsverhandlungen, Feldbeobachtungen, anderen Dokumenten wie Tagebüchern und Briefen, Fragebögen und Statistiken usw.) werden in der Sozialforschung unentbehrliche Daten.“108 Postulat der Wechselbeziehung zwischen dem Forschendem und seinem Sujet (ähnlich dem Künstler), „die beide Beteiligten verändert“.109 eine qualitative Analyse des Datenmaterials; Die GT ist als Ziel ihres empirischen Vorgehens „an der Herausarbeitung theoretischer Modelle interessiert (ist), die soziale Prozesse erklären.“110 nichtsequentielle Verschränkung der einzelnen Schritte des Forschungsprozesses. Entsprechend dem hermeneutischen Zirkel ist dieser Prozess zirkulär, dabei triadisch im Bezugssystem: Daten erheben – Daten auswerten – Verfassen von kommentierende oder theoriegenerierenden Memos.
Damit ist die GT insgesamt eine Kunstlehre. Strauss spricht bei ihr auch eher von einem Stil, als von einer spezifischen Methode oder Technik, „nach dem man Daten qualitativ analysiert und der auf eine Reihe von charakteristischen Merkmalen hinweist: Hierzu gehören u. a. das (…) theoretische Sampling und (…) das kontinuierliche Vergleichen und die Anwendung eines Kodierparadigmas, um die Entwicklung und Verdichtung von Konzepten sicherzustellen.“111 Allerdings folgt die Studie nicht dem restriktivem Verständnis von Hypothesen- und Theoriebildung der GT: Vielmehr folgt sie C. Hopfs Kritik dass dem „Theorieverständnis von Glaser und Strauss entspricht, dass in ihrer Darstellung des Prozesses der Theoriebildung historische Forschung und die empirische Analyse historischer Entwicklungsprozesse keinen hohen Stellenwert haben; und dass die von ihrem Anspruch her umfassende soziologische Deskription in ihrer Bedeutung für Theoriebildung eher gering veranschlagt wird. In der Darstellung von Glaser und Strauss sind die jeweils untersuchten Realitäten bloß ‚Material‘ für die Entwicklung von Hypothesen mit allgemeinem Geltungsanspruch; sie sind nicht Gegenstand eines relativ autonomen historisch-deskriptiven Interesses.“112
Genau diese Einwände treffen im Fall der vorliegenden Studie auf Grund des historisch komplexen und gegenwärtig dynamischen und noch weitgehend unerforschten Untersuchungsfeldes zu. Ihr explorativer Charakter gebietet im Gegen108 Ebd., S. 25 109 „[...] Dem liegt die Auffassung des Pragmatismus zugrunde, eine Spaltung zwischen Erkennendem und Erkanntem nicht anzunehmen, sondern eine Interaktion zwischen beiden. Die Objektivität bleibt dabei nicht auf der Strecke. Schließlich ist es das Material, das den Forschungsprozess steuert“. Bruno Hildenbrand: „Anselm Strauss“, in: U Flick et al. (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, S. 32 110 Thomas Brüsemeister: Qualitative Forschung. Ein Überblick, Wiesbaden: Westdeutscher 2000, S. 190 111 A. Strauss: Grundlagen qualitativer Sozialforschung, S. 30. 112 Christel Hopf in: dies./Elmar Weingarten (Hg.): Qualitative Sozialforschung, Stuttgart: Klett-Cotta 1993, S. 32; Hervorhebungen A. J.
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teil gerade sehr genaue Deskriptionen. An ihrem Ende stehen keine theoretischen Modelle, zur Überprüfung übergreifender Hypothesen, sondern thesenartige Tendenzen und neuerliche Fragen als Empfehlungen für weitere Forschungen im Themenfeld. Hier zeigt sich eine Nähe der Untersuchung zur Einzelfallanalyse.
5.2. Methodisches Vorgehen im Qualitativen Paradigma 5.2.1. Thematische Begründung des empirisch-qualitativen Vorgehens Im Vorfeld jeder empirischen Untersuchung stellt sich die grundsätzliche Frage, nach der Angemessenheit eines eher qualitativen oder quantitativen Forschungsdesigns (bzw. eines Mischverfahrens). Bereits in den vorhergehenden Abschnitten wurde auf erkenntnistheoretischer Ebene die Präferenz für eine Studie gemäß dem qualitativen Paradigma (QP) dargelegt. Im Folgenden werden einige spezifische Eigenheiten im jüdischen Berlin aufgelistet, welche im Bereich der Empirie eindeutig für ein qualitatives Vorgehen sprechen. • Aktualität: Die personelle und organisatorische Struktur jüdischen Lebens in Berlin hat seit der deutschen Einigung einen starken Wandel erlebt, der in Berlin noch stärker als in anderen deutschen Städten ausfällt, da Berlin als einzige deutsche Stadt eine Vereinigung zweier Stadthälften und jüdischen gemeinden bewältigen musste und außerdem als einzige echte deutsche Metropole eine für solcherlei Städte übliche Veränderungsdynamik besitzt: – Das jüdische Berlin ist im deutschlandweiten Maßstab vor allem nach Herkunft und religiöser Orientierung besonders heterogen; – viele Aktivitäten, Einrichtungen und Gruppierungen waren zu Beginn der Forschung erst in der Aufbauphase. Vor dem Hintergrund dieser ‚Black-Box-Situation‘ erscheint die Wahl einer qualitativen Methode angebracht und lohnenswert, auf sie mit einer entsprechend eher explorativen Feldforschung zu begegnen. • Stand der Forschung: In engem Bezug hierzu steht die Frage des Vorhandenseins von anderen Forschungen bzw. deren Veröffentlichung, auf die sich die Studie beziehen kann. Wie in Kap. I.2. dargelegt, ist der Forschungsstand im Untersuchungsfeld als relativ gering einzuschätzen, weswegen sich auch vor dem Hintergrund der o g. ‚Blackbox-Situation‘ insbesondere eine stark explorativ und deskriptiv geprägte Feldforschung anbietet. • Datenschutz: Die vor allem bei der jüdischen Gemeinde vorhandenen Personalakten bzw. -daten sind mir als Nichtmitglied nur rudimentär zugänglich. Damit scheidet eine statistische Datenauswertung, wie in der quantitativen Sozialforschung üblich, aus. • Jüdische Befindlichkeit: Vor dem Hintergrund der Schoah besitzt jüdisches Leben in Berlin und im übrigen Deutschland für eine nicht absehbare Zeit noch keine Normalität: Vorbehalte waren ex ante bei den gewünschten Kontaktanbahnungen zu Personen/Einrichtungen aus der jüdischen Lebenswelt in Berlin nicht auszuschließen und bedürfen eine Methode, die diese zulässt.
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Eigene Befindlichkeit: Der zuvor angeführte Nicht-Normalzustand im deutsch-jüdischer Beziehungsfeld betrifft mich als nichtjüdischen Forschungsakteur gleichermaßen (vgl. oben das Selbtverortungs-Kap. I.4.). Voreingenommenheiten und sich wandelnde Gefühlslagen auf Forscherseite können bedürfen ebenfalls der methodischen Einbeziehung.
•
Räumliche Distanz: Nicht zu unterschätzen ist auch der Aspekt der räumlichen Trennung zwischen Arbeitsplatz (Universität Augsburg) und Berlin als Ort der Untersuchung. Der überwiegende Teil der gewünschten Gesprächsanbahnungen lässt sich nur über persönliche Face-to-face-Kontakte herstellen (vgl. o. unter ‚Jüdische Befindlichkeit‘). D. h. bereits eine schriftliche oder eine telephonische Anfrage vermindert deutlich die Chancen, eine Person zur Zusammenarbeit zu gewinnen. Damit scheiden bereits an diesem Punkt alle (quantitativen) Verfahren mit höheren Stichprobengrößen definitiv aus.
5.2.2. Anwendung unterschiedlicher qualitativer Dimensionen Die Untersuchung folgt weitgehend den allgemeinen Standards des QPs für empirische Forschungen113: • Methodenspektrum: Dies reicht von teilnehmenden Beobachtungen über verschiedene Interviewformen bis zu text- und bildbezogenen Inhaltsanalysen. • Gegenstandsangemessenheit: Die o. g. Methoden werden den Teilfeldern und Situationen entsprechend variat eingesetzt. • Alltagsorientierung: Alle Akteure wurden in ihrer Lebenswelt, fast ausschließlich im jüdischen Berlin befragt. • Kontextualität: Diese besteht in der zuvor genannten Untersuchung innerhalb der insbesondere jüdischen Lebenswelt der Befragten. • Perspektivenvielfalt: Interviews mit Experten, Feldakteuren, Lektüre und Analyse von Medienbeiträgen. • Selbstreflexivität der Forschenden: Auf die intensive und durchgängige Reflexion der Forscherperspektive wurde besonders Wert gelegt (vgl. Kap. I.4.). • Vorrang des Verstehens vor dem Erklären: Die gesamte Methodologie und Methode folgt diesem Grundsatz (s. die vorherigen Abschnitte). • Offenheit: Ähnlich dem hermeneutischen Zirkel und entsprechend der Grounded Theory (s. o.), zeichnet sich die Untersuchung durch ein hohes Maß an zirkulären Bewegungen aus. Auch sich spontan ergebende Gelegenheiten (etwa in der Kontaktanbahnung zu Interviewten) durchziehen den gesamten Forschungsprozess.
113 Die folgende schematische Darstellung stellt eine freie Adaption der wichtigsten Dimensionen nach U. Flick et al. (Hg.): „1. Was ist qualitative Forschung? Einleitung und Überblick“ in dies.: Qualitative Forschung, S. 13 ff. dar.
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Induktionsprinzip: Auch die Studie folgt der Maxime über die Analyse und Rekonstruktion von Einzelfällen zu mehr oder weniger vergleichenden Aussagen zu gelangen.
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Konstruktivismus: Im Sinne von A. Schütz (s. o. Kap. I.5.1.1.) geht es auch hier um die Rekonstruktion der sozialen Konstruktionen der Wirklichkeit durch Akteure im Untersuchungsfeld.
•
Textwissenschaft: Die zentralen Untersuchungsdaten bestehen in verschriftlichten Interviews (s. u. Kap. I.6.2.).
•
Von der Entdeckung zur Theoriegenerierung: In der vorliegenden Untersuchung wird von wenigen Vorannahmen – die außerdem nicht theoriegeleitet sind). Am Ende stehen erste Bausteinen für einen auf das jüdische Berlin bezogenen Theoriebildung.
Das konkrete empirische Vorgehen wird im folgenden Abschnitt näher erläutert.
6. Erhebungsmethode „Wir sagen zwar, dass wir ein Gespräch ‚führen‘, aber je eigentlicher ein Gespräch ist, desto weniger liegt die Führung des selbigen in dem Willen des einen oder anderen Partners. So ist das eigentliche Gespräch niemals das, das wir führen wollten. Vielmehr ist es im allgemeinen richtiger zu sagen, daß wir in ein Gespräch geraten, wenn nicht gar, dass wir uns in ein Gespräch verwickeln. [...] Was bei einem Gespräch ‚herauskommt‘, weiß keiner vorher.“ Hans-Georg Gadamer [1960]114 „Der Forscher muß [...] versuchen, eine Kommunikationssituation herzustellen, in der er möglichst viel erfährt.“ – „Je einfacher und ungekünstelter die Interviewsituation ist, desto größer ist der Erfolg.“ Roland Girtler115
Während es im vorherigen Abschnitt um die grundsätzliche Entscheidung für eine Untersuchung im qualitativen Paradigma ging, steht hier die Auswahl und Darstellung der Erhebungsmethode im Mittelpunkt.
114 Ders.: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 4. Aufl., 1975 [1960] 115 Ders.: „Methoden der qualitativen Sozialforschung. Anleitung zur Feldarbeit“, Wien: Hermann Böhlaus Nachf., 1984, S. 161 und S. 163
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6.1. Qualitative Befragung als geeignetstes Verfahren – Das Gespräch als hermeneutischer Königsweg Mit H.-G. Gadamer erscheint das Gespräch als die hermeneutischem Denken vorgegebene Grundform.116 In diesem Sinne stellt auch das qualitative Interview eine bestimmte Gesprächsart dar. C. Hopf weist auf eine gewisse Affinität zwischen einer verstehenden Soziologie und qualitativen Interviews hin, durch „die Möglichkeit, Situationsdeutungen oder Handlungsmotive in offener Form zu erfragen, Alltagstheorien und Selbstinterpretationen differenziert und offen zu erheben, und durch die Möglichkeit der diskursiven Verständigung über Interpretationen“.117 Harry Hermanns hat über das qualitative Interview treffend als „interpersonelles Drama“ reflektiert.118 Die Entscheidung für ein qualitatives Interview beruht daher auf den Möglichkeiten in relativ offener Gesprächssituation • zeitlichen Entwicklungslinien nachzugehen (insb. der Gruppenaktivitäten); • überraschend auftauchende neue inhaltliche Aspekte aufzugreifen und in die leitfadengestützte Befragung (s. u.) zu integrieren; • der Problemorientierung der Untersuchung gerecht zu werden, d. h. die Befragten können schwierige Aspekte abwägen, ‚diskutieren‘. 6.2. Drei für die Erhebung bestimmende qualitative Interviewvarianten und ihre spezifischen Vorzüge und Grenzen Im Weiteren werden drei Interviewvarianten in ihrer abgegrenzten Typisierung skizziert, die in das gewählte Erhebungsverfahren eingegangen sind. Dabei geht es um das Leitfadeninterview (Kap. I.6.2.1.), das narrative Interview (Kap. I.6.2.2.) und das ExpertInneninterview (Kap. I.6.2.3.) sowie um das spezifische, diese Interviewformen integrierende Interviewdesign (Kap. I.6.2.4.). 6.2.1. Das Leitfadeninterview Wie seinen Benennung nahe legt, erhält das Leitfadeninterview (LI) seine inhaltliche Ausrichtung durch einen im Vorfeld entwickelten Leitfaden. Allerdings wird es in der Literatur auch als teilstandardisiert oder teilstrukturiert bezeichnet da die Interviewten im Gegensatz zu standardisierten Interviews keine Antwortvorgaben erhalten, vielmehr frei und nach eigenem Gutdünken antworten können. Stark leitfadenbezogene inhaltsreiche Antworten korrespondieren außerdem häufig mit dem jeweiligen Expertenstatus der Befragten. Die Forscherseite ist in diesem Interviewtyp dazu angehalten 116 „Das eben charakterisiert das Gespräch – gegenüber der erstarrten Form der zur schriftlichen Fixierung drängenden Aussage –, dass hier die Sprache in Frage und Antwort, im Geben und Nehmen, im Aneinandervorbeireden und Miteinanderübereinkommen jene Sinnkommunikation vollzieht, deren kunstvolle Erarbeitung gegenüber literarischer Überlieferung die Aufgabe der Hermeneutik ist.“ H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 350 117 Christel Hopf: „Qualitative Interviews – ein Überblick“, in: U. Flick et al. (Hg.): Qualitative Forschung, S. 350 118 Ders.: „Interviewen als Tätigkeit“, in ebd., S. 360
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„die im Leitfaden vorgegebenen Fragen nach eigenem Ermessen und nach Einschätzung des theoretischen Anliegens der jeweiligen Studie durch klärende Nachfragen zu ergänzen und Gesichtspunkte aufzugreifen, die von den Befragten unabhängig vom Gesprächsleitfaden in die Interviewsituation eingebracht werden, sofern diese im Fragekontext der Untersuchung als bedeutsam erscheinen.“119
Das Verfahren erscheint mir im Themenfeld der Untersuchung besonders geeignet, da von vorn herein durch die Auswahl der Interviewten davon ausgegangen werden konnte, dass diese eine hohe Sachkenntnis in den von mir erfragten Themenbereichen (vor allem zu den von ihnen jeweils repräsentierten Gruppenaktivitäten) aufweisen. Allerdings hat dieses Vorgehen, wie jede andere Spielart der Interviewführung auch, seine spezifischen Stärken und Schwächen: Ein großer Vorteil bei der Verwendung von LIs liegt darin, die von Interviewendenseite vorstrukturierten Fragebereiche ohne zwingende Reihenfolge mit einem relativ hohen Maß an Offenheit und Flexibilität in der Interviewführung anzubringen. – Ein Nachteil der LIs besteht allerdings darin, dass die Antworten, trotz aller Nachfragemöglichkeit stark auf den vorproduzierten Leitfaden bezogen sind. Komplexere Zusammenhänge und unerwartete Aspekte werden von den Befragten leicht ausgespart, weil deren Ausführung eben keine konkrete Antwort auf eine bestimmte Frage darstellen würde, sondern eher in einer Ensuite-Erzählung zur Sprache kämen. Aus diesem Grund bot sich in der Studie über das jüdische Berlin eine weitere, im Folgenden vorgestellte Interviewvariante an.
6.2.2. Das narrative Interview Diese Variante der qualitativen Interviewführung ist in den 70er Jahren von Fritz Schütze im Zusammenhang mit einer Studie über kommunale Machtstrukturen entwickelt worden.120 Gemeinsam ist den unter dem Begriff summierten unterschiedlichen Interviewvarianten die freie Stegreiferzählung der Befragten. Es geht bei diesem Vorgehen nicht um das in Interviews üblichere Frage-AntwortSpiel – wie strukturiert auch immer – sondern darum „den Informanten dazu zu bewegen, die Geschichte des in Frage stehenden Gegenstandsbereichs als eine zusammenhängende Geschichte aller relevanten Ereignisse von Anfang bis Ende zu erzählen.“121 Diese Narration kann durch ‚erzählgenerierende Fragen‘ evoziert werden. Damit erhalten die interviewten Personen die Möglichkeit zur Rekonstruktion eines selbsterlebten Ereigniszusammenhangs. in die auch Beschreibungen und Argumentationen eingelagert sein können. Besonders häufig werden narrative Interviews bei der Untersuchung lebensgeschichtlicher Fragestellungen 119 C. Hopf: „Qualitative Interviews – ein Überblick“, in: U. Flick et al. (Hg.): Qualitative Forschung, S. 177 120 Ders.: „Das narrative Interview in Interaktionsfeldstudien. Studienbrief I. FB Erziehungs-, Sozial- und Geisteswissenschaften Fernuniversität Hagen“, Hagen 1987 121 Harry Hermanns: „Narratives Interview“, in: U. Flick et al. (Hg.): Handbuch qualitativer Sozialforschung, S. 183
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verwendet: Die Befragten erzählen selbsterlebte Geschichten. „Aus der gegenwärtigen Erinnerung wird die Entwicklung des Stromes (vergangener) Ereignisse dargestellt.“122 Die hier beschriebenen Narrationen können und werden auch häufig ergänzt durch eingelagerte Argumentationen und Eigentheorien der Befragten, da ein Erzählen immer auch ein Moment des (Selbst-) Erklärens enthält. Eine große Stärke dieser Methode liegt darin, dass sie ein Schwergewicht auf die Erhebung von Prozessen, Strukturentwicklungen sowie auf die Erfragung persönlicher Involviertheit der Befragten legt. Damit empfiehlt sie sich für die vorliegende Untersuchung, da hier sowohl im jüdischen Berlin langjährig involvierte wie zugleich dort sehr engagierte Personen befragt wurden. – Allerdings sind mit dieser Interviewvariante auch zwei gewichtige Mankos verbunden: • Entsprechende Narrationen können leicht zu einer ungünstigen AufwandErtrag-Relation (hoher Zeitaufwand der Befragung, der anschließenden Transkription sowie der abschließenden Auswertung) führen. • Die narrative Methode setzt ein hohes Maß an Vertrauen zwischen Interviewenden und Interviewten voraus, die in vielen Fällen erst hergestellt werden müsste oder in der einmaligen Situation gar nicht herstellbar ist.
6.2.3. Das ExpertInneninterview Diese Interviewart ist auf einer bisher noch nicht genannten Dimension zu anderen Spielarten qualitativer Interviews unterschieden: Experten- versus Laieninterviews bzw. solchen ohne möglichen Expertenstatus. Damit stellt das ExpertInneninterview (EI) zu den beiden o. g. Interviewarten dem Typus nach eher eine Variation, denn eine Alternative dar. Im Gegensatz zu der alltäglichen Bezeichnung von Eliten und Führungspersonal als Experten (etwa in Politik und Wirtschaft), bezieht sich das EI „auf diejenigen ExpertInnen die selbst Teil des Handlungsfeldes sind, das den Forschungsgegenstand ausmacht. [...] Ob jemand als Expertin angesprochen wird, ist in erster Linie abhängig vom jeweiligen Forschungsinteresse. [...] Der ExpertInnenstatus wird in gewisser Weise vom Forscher verliehen, begrenzt auf eine spezifische Fragestellung.“123 Neben exklusiven Wissensbeständen handelt es sich aber auch um Handlungskompetenzen im Untersuchungsfeld auf Seiten der Alltags-Experten. Kennzeichnend für sie sind dabei auch ihre „verantwortliche Zuständigkeit für die Bereitstellung, Anwendung und/oder Absicherung von Problemlösungen.“124 Die Besonderheit des ExpertInneninterviews gegenüber anderen offenen Interviews (s. o.) besteht darin, 122 Ebd. 123 Michael Meuser/Ulrike Nagel: „ExpertInneninterviews – vielfach erprobt, wenig bedacht“, in: Detlef Garz/Klaus Kraimer (Hg.): Qualitativ empirische Sozialforschung, Opladen: Westdeutscher 1991, S. 442. – Es wird in der Literatur teilweise auch als problemzentriertes Interview bezeichnet. 124 Michaela Pfadenhauer: „Auf gleicher Augenhöhe reden. Das Experteninterview – ein Gespräch zwischen Experte und Quasi-Experte“, in: Alexander Bogner, Beate Littig, Wolfgang Menz: Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung, Opladen: Leske + Budrich 2002, S. 116
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dass nicht die Gesamtperson den Gegenstand der Analyse ausmacht: „Der Kontext um den es hier geht, ist ein organisatorischer oder institutioneller Zusammenhang, der dem Lebenszusammenhang der darin agierenden Personen gerade nicht identisch ist und in dem sie nur einen ‚Faktor‘ darstellen.“125 Systematisierend lassen sich zwei Formen des EIs unterscheiden Zum einen existiert eine Randstellung von ExpertInneninterviews. im Sinne zusätzlicher Informationen. Zum anderen werden ExpertInneninterviews verwendet, in denen das Expertenwissen der befragten Person im Zentrum der Untersuchung steht.126 Für die Studie fanden EIs einerseits als explorativ-felderschließender Erstzugang über professionell im jüdischen Berlin Tätige Anwendung. Andererseits lieferten die maßgeblich in jüdischen Gruppenaktivitäten am Rand und außerhalb der Berliner Gemeinde Aktiven jeweils ein exklusives ExpertInnenwissen.
6.2.4. Das narrative Leitfadeninterview mit variatem Expertenstatus Schließlich wurde in der durch ein Aufnahmegerät gestützten Haupterhebung eine Mischform der o. g. idealtypischen Interviewmethoden gewählt: das narrative Leitfadeninterview mit ausschließlichem oder partiellem Expertenstatus. Wie bereits angedeutet legten die jeweiligen Grenzen eine flexibel und gesprächsspezifisch zu handhabende Synthese aus Leitfaden- und narrativem Interview nahe. Die ‚hohe Kunst besteht bei dieser Interviewmischform darin, die Balance zwischen den leitfadengestützten und den narrativen Anteilen zu wahren, so dass in der begrenzten Interviewzeit keines der beiden Verfahren auf Kosten des anderen zum Zuge kommt. In der konkreten Erfragung thematischen Felder folgte dabei die Form der Erhebungsgespräche den inhaltlichen Erfordernissen der Untersuchung. Dabei dominieren in der Summe die leitfadengestützten Passagen die Phasen freier Narrration. Dies ist aus dem Umfang und Charakter des Leitfadens erklärbar und durchaus beabsichtigt. Insgesamt stellt das narrative Leitfadeninterview ein vielfältig und flexibel einsetzbares methodisches Werkzeug für die Untersuchung im vorliegenden Forschungsfeld dar und bietet damit die Voraussetzung für einen dreifachen Erkenntnisgewinn der Erhebung im Sinne des QPs: • die Möglichkeit zur Deskription von Ausprägungen des Forschungsfeldes, • die Möglichkeit zur Entwicklung von Verstehensleistungen gegenüber den in diesem Feld handelnden sozialen Akteuren, • die Möglichkeit zu daraus ableitbaren theoretischen Einsichten.
125 M. Meuser/U. Nagel: „ExpertInneninterviews“, in: D. Garz/K. Kraimer (Hg.): Qualitativ empirische Sozialforschung, S. 443 126 Vgl. ebd., S. 445.
74 | TEIL I: HINFÜHRUNG
6.3. Das spezifische Forschungsdesign Als letzter Durchgang gilt es, das Forschungsdesign mit den Einzelschritten Erhebungsauswahl (Kap. I.6.3.1.), Interviewleitfaden (Kap. I.6.3.2.) und Auswertungsschema (Kap. I.6.3.3.) knapp zu umreißen. 6.3.1. Die Erhebungsauswahl Zu Beginn und den Erhebungsprozess begleitend wurden im jüdischen Berlin gezielt Auskunftspersonen nach den Merkmalen unterschiedlicher Herkunft sowie nach verschiedenen innerjüdischen Tätigkeitsbereichen an der Peripherie und außerhalb der JGB maximal kontrastierend ausgewählt. Insofern handelt es sich insgesamt um eine explorative Studie, „weil erst im Ablauf der Untersuchung fixiert wird, welche Personen, Ereignisse und Aktivitäten (…) einbezogen werden sollen.“127 Hierfür wurden drei verschiedene Befragtenkreise angesprochen: (1) Professionell Tätige im jüdischen Berlin Zum einen wurden über 10 Personen angesprochen, die eine professionelle und/oder, hauptamtliche Aufgabe in der jüdischen Gemeinde und darüber hinaus im jüdischen Berlin wahrnehmen. Gegenüber der anschließenden Haupterhebung war diese explorativ, das Untersuchungsfeld sondierend. Die Gespräche wurden handschriftlich protokolliert. Unter ihnen befanden sich der ehemalige Gemeindevorsitzende Andreas Nachama, der orthodoxe Rabbiner Yitshak Ehrenberg, der liberale Rabbiner Walter Rothschild, der Leiter der Forschungseinrichtung Centrum Judaicum Hermann Simon sowie der Leiter des Moses-MendelsohnZentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam Julius H. Schoeps.128 Als Ergebnis erbrachten die ersten Gespräche • eine positive Einschätzung der Durchführbarkeit der Hauptuntersuchung • einen Aktualisierung des Wissensstands über das Forschungsfeld. • Kontakte zu einigen GesprächspartnerInnen (‚Korkenzieherfunktion‘). (2) In Gruppenaktivitäten Engagierte im jüdischen Berlin Diese Befragten-Gruppe bildet die Hauptauswahl der Erhebung. Es wurden ca. 20 Personen befragt, die einige hier nur knapp benannte Gemeinsamkeiten teilen. So sind alle • im HALACHISCHEN Sinne Juden129 • gebürtig oder seit Jahren hier lebende BerlinerInnen • in einer jüdischen Gruppenaktivität am Rand oder außerhalb der JGB maßgeblich engagiert. Als weitere Eigenschaften können genannt werden: 127 Hans Merkens: „Auswahlverfahren, Sampling, Fallkonstruktion“, in: U. Flick et al. (Hg.): Qualitative Forschung, S. 295 128 Als Weiteres sind hier mehrere nicht namentlich genannte Funktionsträger der JGB und zu jüdischer Thematik arbeitende WissenschaftlerInnen anzuführen. Die Fragen und Antworten wurden handschriftlich protokolliert. 129 Also Abkömmlinge einer jüdischen Mutter oder rabbinisch betreut Konvertierte.
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• • • •
die meisten sind in der mittleren Altersgruppe zwischen 20 und 50 Jahre alt, – die jüngsten Befragten waren zum Gesprächszeitpunkt 15 – die älteste 76 Jahre alt; es wurden gleichviel Männer wie Frauen interviewt;130 unter den Befragten sind sowohl religiös Orthodoxe, Sephardische, Konservative, Altliberale sowie Progressive bzw. Egalitäre; die Interviewten stammen aus der BRD und Westberlin, der DDR und Ostberlin, der SU und den GUS-Staaten, aus Westeuropa, Israel sowie aus den USA.
(3) Ausgesprochene Experten für die Gruppenaktivitäten im jüdischen Berlin Eine aus acht Personen bestehende Teilgruppe der zuvor Genannten hat einen ausgesprochenen Expertenstatus, bezogen auf die von ihnen jeweils repräsentierten Gruppenaktivitäten, in denen sie alle maßgeblich aktiv sind.
6.3.2. Der Interviewleitfaden Der hier wiedergegebene Interviewleitfaden ist in zweifacher Hinsicht ein ‚ideeller‘: Nicht in allen Interviews wurden alle u. g. Fragen gestellt sowie einige Fragen erst im Verlauf des Forschungsprozesses aufgenommen bzw. spezifiziert. Die Beweggründe der inhaltlichen Fragen können sich erst nach dem folgenden Teil II. zu historischen und soziologischen Hintergründen der Studie sowie über die Einleitungen der beiden empirischen Teile III. und IV. erschließen. (1) Fragen zur Person:
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Geschlecht (bereits bekannt) Alter Familienstand Herkommen Biographischer Berlinbezug Ausbildung oder berufliche Tätigkeit Innerjüdische Tätigkeit(en) Religiöse Orientierung
(2) Fragen zum Jüdischen Berlin:
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Wahrnehmung des quantitativen und qualitativen Wandels nach 1990 Spezifika des Jüdischen Berlin Spezifika und integrative Potentiale der Berliner Gemeinde – bezogen auf die religiöse Einheitsgemeinde – bezogen auf die unterschiedlichen Herkunftsmilieus
(3) Fragen zum deutsch-jüdischen Feld:
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Antisemitismus nichtjüdische Inszenierungen des Jüdischen
130 Um die Anonymität in der überschaubaren jüdischen Community Berlins sicherzustellen wird in der Studie, von zwei begründeten Ausnahmen abgesehen, ausschließlich in der weiblichen Form (nämlich wie: die Person) über sie berichtet.
76 | TEIL I: HINFÜHRUNG
(4) Fragen zu den jew. maßgeblich mitgetragenen jüdischen Gruppenaktivitäten
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eigenes Andocken/eigener Bezug eigene gruppeninterne Tätigkeit Entstehungshintergrund Entwicklung formale Beschaffenheit Inhaltliche Arbeit sowie jüdische Inhalte Integrative gruppeninterne Potentiale Gemeindebezug Außenkontakte Zukunftsperspektiven
(5) Wünsche für die Zukunft
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persönliche oder gruppenbezogene oder für das Jüdische Berlin insgesamt
(6) Botschafts-Themen auf Befragtenseite Über die Fragebereiche des Leitfadens hinaus gab es Themen, die Interviewte von sich aus ansprachen. Mit diesen verbanden sie eine persönliche Message (eine zentrales Schlüsselerlebnis, eine Idee, eine Generalthese usw.).
6.3.3. Das Auswertungsschema In diesem letzten Abschnitt zum Untersuchungsdesign wird die Beschreibung des Auswertungsschemas bewusst knapp gehalten, da sich das hermeneutische und im Sinne der Grounded Theory angelegte Codier-Schema als Kunstlehre (vgl. Kap. I.5.1.3.) nur schwer und bestenfalls bei guter Kenntnis des empirischen Materials nachvollziehen lässt. In der zirkulären Sichtung des Textmaterials wurde die Kategorienbildung zugleich immer weiter ausdifferenziert und zu theoretischen Codes und Clustern verdichtet. Der Versuch einer gewissen Validierung des Vorgehens in der Auswertung besteht darin, die an die Erhebungsgespräche angelegte selektive und interpretatorische Vorgehensweisen in den beiden Auswertungs-Parts III. und IV. der Studie transparent zu machen und das Material in Schlüsselstellen ‚sprechen zu lassen‘. Das ‚Erheben‘ und ‚Auswerten der Daten‘ fand entsprechend nicht nacheinander, sondern die Auswertung erhebungsbegleitend statt. Die zentrale Basis stellten im vorliegenden Fall transkribierte Kassetten-Mitschnitte der narrativen Leitfadeninterviews dar. In einem das Ursprungsmaterial reduzierenden Codier-Verfahren (offenes Codieren, axiales Codieren, selektives oder theoretisches Kodieren) wurde die sich immer weiter ausdifferenzierende Kategorienbildungen vorgenommen.131 131 Vgl. zum Kodierschema und seinen drei Kodier-Verfahren nach A. Strauss ders.: Grundlagen qualitativer Sozialforschung, S. 56 ff. sowie Andreas Böhm: „Theoretisches Codieren: Textanalyse in der Grounded Theory“, in: U. Flick et al. (Hg.): Qualitative Forschung, S. 475-485.
Teil II: Historisch e und soziologische Hintergründe
1 . D i e E n t w i c k lu n g d e s J u d e n t u m s in D e u t s c h la n d v o n d e n An f ä n g e n b is in d ie G e g e n w a r t „Deutscher und Jude stehen sich gleich den verwandten Extremen gegenüber.“ Walter Benjamin [1917]1
Zweifelsohne ist die Verfolgung und Vernichtung von Juden durch den NS in Deutschland – wie auch im übrigen Europa – die wichtigste Zäsur hiesigen jüdischen Lebens. Dennoch und gerade deswegen ist es für eine Studie zu heutigem jüdischen Leben in Berlin unverzichtbar, über diesen furchtbaren Einschnitt hinaus, sich weitere bedeutsame Wegmarken der hiesigen jüdischen Existenz zu vergegenwärtigen. Die meint die lange jüdisch-deutsche Geschichte vor 1933 wie auch – für die Studie noch wichtiger – die Zeit nach 1945. Ein solches Unterfangen stößt an Grenzen, daher wird hier unterschiedlich verfahren: Die für den weiterten Kontext bedeutsamen Fakten der älteren Vorgeschichte einschließlich der Verfolgungszeit durch den NS werden thesenartig benannt (Kap. II.1.1.) und die Entwicklung bis 1990 in weiteren Abschnitten etwas genauer nachgezeichnet.
1.1. Die lange Entwicklung bis ans Ende der Schoah
1.1.1. Von der Spätantike bis zur Weimarer Republik Juden lebten und leben hierzulande ununterbrochen seit annähernd 2000 Jahren – viel länger als es Deutsche und Deutschland überhaupt gibt.
Bereits seit der Zeitenwende hatte sich fern des besetzten Palästinas in größeren Städten des römischen Imperiums eine jüdische DIASPORA (griech.: Zerstreuung) herausgebildet. Über die frühe Entwicklung des jüdischen Lebens in den deutschen Landen existiert auf Grund weniger Zeugnisse nur ein geringes Wissen.2 1 2
Ders. zit. nach Amos Elon: Zu einer anderen Zeit. Porträt der deutsch-jüdischen Epoche (1743-1933), München: Hanser 2003, S. 18 Erstbeleg ist ein Edikt der Spätantike von Kaiser Konstantin aus dem Jahr 321 über die Steuerpflichten der jüdischen Bevölkerung Kölns. Vgl. Arno Herzig: Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München: C. H.
78 | TEIL II: HISTORISCHE UND SOZIOLOGISCHE HINTERGRÜNDE
Die ersten bezeugten dauerhaften jüdischen Gemeinden stammen aus dem 10./11. Jahrhundert an den wichtigsten Handelsstraßen an Rhein, Main, Donau und Elbe. Sie waren wirtschaftlich unabhängig, besaßen untereinander rege religiöse und wirtschaftliche Kontakte und pflegten weitverzweigte Handelsbeziehungen bis nach Palästina und in den Orient. Zahlenmäßig stellten sie in diesen frühesten deutschen Städten z. T. eine erhebliche Bevölkerungsgruppe dar. Hebräische Quellen bezeichnen das Gebiet der mitteleuropäischen (später auch das der osteuropäischen) Gemeinden als Aschkenas. Das ASCHKENASISCHE Judentum entfaltete im Mittelalter ein reiches geistig-religiöses Leben und avancierte alsbald zu einem Zentrum des abendländischen Judentums.3 Bis heute hält sich teilweise die seit dem späten 19. Jahrhundert verbreitete irrige Vorstellung (mit im NS-Rassenwahn tödlichen Konsequenzen), die aschkenasischen Juden als Vorfahren der heutigen mitteleuropäischen Juden seien insgesamt Abkömmlinge orientalischer Einwanderer. Seriöse Untersuchungen legen nahe, dass diese im Mittelalter bereits Millionen Menschen umfassende Gruppe zum Großteil dem Völkergemisch entstammt, aus dem auch Deutsche, Franzosen und andere mitteleuropäische Völker hervorgingen.4 Fremde im eigenen Land: Juden waren seit der Zeit Karls des Großen (768-814) und Ludwig des Frommen (814-840) bis ins 19. Jahrhundert fast 1000 Jahre lang von der übrigen Bevölkerung in Deutschland durch dekretierte Abgrenzungen unterschieden.
Man kann hierbei durchaus von einem Konstruktionsfehler des deutsch-jüdischen Verhältnisses sprechen.5 Denn die Sonderstellung erbrachte zunächst zwar Schutz von Leben, Eigentum, Ehre sowie freie Religionsausübung für die Juden in Deutschland. Jedoch bekamen sie schon bald nach der Jahrtausendwende ihren Sonderstatus als konfrontative Diskriminierung zu spüren. Ein Katalog von Negativzuschreibungen und entsprechende Anfeindungen gegenüber Juden begleitet seit Beginn der Kreuzzüge und dem von nun an bis zu den Befreiungskriegen des 19. Jh. geltenden Waffenverbot für Juden durch die folgenden Jahr-
3
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5
Beck 1997, S. 24; E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 44 sowie R. Hess/J. Kranz: Jüdische Existenz in Deutschland heute, S. 19 Vgl. zu dem Thema: Historisches Museum der Pfalz Speyer (Hg.): Europas Juden im Mittelalter (Ausstellungskatalog), Speyer 2005, darin insbesondere Werner Transier: „Die SCHUM-Gemeinden. Wiegen und Zentren des Judentums am Rhein im Mittelalter“, S. 59-67. Bernt Engelmann: „[...] sämtliche anthropologischen Messungen und sonstigen Forschungen [...] auch die der NS-Rassenforscher [...] (haben) keinerlei Verwandtschaft der europäischen Juden mit orientalischen Völkern [...] feststellen können, wohl aber ihre Zugehörigkeit zu dem Völkergemisch, das in der Zeit des ‚Dritten Reiches‘ als ‚arische‘ galt.“ Ders.: „Deutschland ohne Juden. Eine Bilanz“, Köln: Pahl Rugenstein 1988, S. 23 f. Wie etwa R. Hess/J. Kranz: Jüdische Existenz in Deutschland heute, S. 21 ff.
ENTWICKLUNG DES JUDENTUMS IN DEUTSCHLAND | 79
hunderte.6 Bekleidungsvorschriften (Laterankonzil 1215) und ein gelber Ring oder später auch Hut sollten sie jederzeit kenntlich machen. Verfolgungs- und Vertreibungserfahrungen im Hoch- und Spätmittelalter
Mit der gestärkten Stellung der Kirche und der nichtjüdische Bürgerschaft in den freien Reichsstädten gegenüber dem Kaiser seit dem Hochmittelalter gingen schwere Verfolgungen mit Pogromwellen gegen die jüdische Minderheit einher. Juden wurden für Krankheiten und andere Übel verantwortlich gemacht, an denen man sich leicht bereichern konnte. Im 14. Jahrhunderts erreichten die Verfolgungen mit den Pestpogromen ihren Höhepunkt. Von nun an wurden Juden nur noch in wenigen deutschen Städten dauerhaft geduldet, wo sie in äußerst beengten Ghettos leben musste (insbesondere Frankfurt a. M. und Worms). Viele Juden entschlossen sich zur Auswanderung nach Ost- und Südosteuropa.7 Ein kleinerer Teil blieb hier und bildete vor allem in einigen süd- und mitteldeutschen Gegenden das in bescheidener Existenz als Händler und Handwerker in Resten noch bis zur NS-Zeit bestehende Landjudentum. Für die Juden in Deutschland brachten Humanismus und Reformation zunächst keine Verbesserung der Situation mit sich, da sich deren Protagonisten wie Luther nicht von der judenfeindlichen Tradition des Mittelalters lösten. Dennoch stabilisierte sich die Situation in der frühen Neuzeit zögerlich. 8 In der frühbürgerlichen Gesellschaft ging aus dem hiesigen Judentum eine jüdische Trias aus Aufklärung, Emanzipation und religiöser Erneuerung hervor.
Einen ersten Aufschwung nach der o. g. Pogromwelle nahm das jüdische Leben Deutschlands seit dem 17. Jahrhundert. Im Zuge der christlichen Reconquista in Spanien wurde die als SEPHARDEN bezeichnete jüdische Bevölkerung der hispanischen Halbinsel im Jahre 1492 vertrieben bzw. zwangsassimiliert (MERANEN). Einige der nach der Vertreibung sich mehrheitlich in der Levante und dem arabischen Mittelmeerraum ansiedelnden Sepharden9 gelangten nun auch auf dem Seeweg über Amsterdam und Hamburg ins nördliche Mitteleuropa und nach Norddeutschland, wo bis dahin nur eine kleine Anzahl jüdischer Gemeinden bestanden hatte. Außerdem gelang es im Zuge des Absolutismus einigen wenigen 6 7
8 9
Z. B. Ritualmord, Hostienschändung, Raffgier, Wucher, Feigheit und makelhafte physiognomische Eigenheiten. Zum ‚modernen’ Antisemitismus vgl. S. 84 f. So entwickelte sich in den jüdischen Siedlungsbereichen Osteuropas aus deren aus Deutschland mitgebrachten mittelhochdeutschen Dialekt, angereichert um slawische und hebräische Wörter, das JIDDISCHE, zur ersten jüdischen ‚Nationalsprache‘. Herzig geht für die Zeit um 1600 nur von etwa 8000 bis 10.000 Juden im deutschen Bereich aus, davon allein 3000 in Frankfurt; vgl. ders.: S. 75 Die später auch im nichtspanischen in Lateinamerika siedelnden Sepharden nahmen ihren spanischen Dialekt mit in die jeweiligen Fluchtländer, wo sich vergleichbar zur o. g. Entstehung des Jiddischen, das LADINO (das auch als ‚Judenspanisch‘ bezeichnet wird) entwickelte, eine heute ebenso wie das Jiddische vom Aussterben bedrohte Sprache.
80 | TEIL II: HISTORISCHE UND SOZIOLOGISCHE HINTERGRÜNDE
Juden, als Bankiers und als sog. ‚Hofjuden‘, d. h. als mit gewissen Privilegien gegenüber der übrigen jüdischen Bevölkerung ausgestattete Finanziers und Finanzberater deutscher Fürsten, einen gewissen Wohlstand und die Möglichkeit zur Teilhabe an der höfischen Kultur zu erlangen.10 Der Wunsch nach Überwindung der Isolation und nach Integration in die christliche Mehrheitsgesellschaft nahm mit dem Nachlassen des kirchlichen Einflusses in der Zeit des Humanismus und im Spätfeudalismus unter der jüdischen Bevölkerung Deutschlands beständig zu. Wegbereiter der an dem Mündigkeitsversprechen der allgemeinen Aufklärung orientierten jüdischen Aufklärungsbewegung (HASKALA) wurde Moses Mendelssohn, der in Lessings „Nathan der Weise“ verewigte ‚Jüdische Sokrates‘. Das jüdische Schulwesen wurde seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zu einem Schrittmacher einer umfassenden bürgerlich-überkonfessionellen Bildung ohne Verleugnung eigener religiöser Wurzeln. Dies ist zugleich die Geburtsstunde einer jüdischen Emanzipationsbewegung um Gleichberechtigung gegenüber der christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft. Nach der erstmaligen kurzfristigen Gleichstellung in den unter dem ‚Codex Napoleon‘ stehenden Rheinbundstaaten zwischen 1806 und 1815 brachte das Hardenbergsche Emanzipationsgesetz von 1812 eine gewisse (wirtschaftliche) Rechtsgleichheit für die jüdische Minderheit in Preußen.11 Staatsämter, Justiz und Schuldienst blieben Juden in den kommenden Jahrzehnten jedoch auch weiterhin versperrt, da dort noch immer ein christlicher Hintergrund als unverzichtbar galt. Daher konvertierte in dieser Zeit vermehrt Juden zum Christentum (Taufbewegung), um sich über die Aufgabe der eigenen Religion an die Mehrheitsgesellschaft erfolgreich zu assimilieren und damit auch die nun an Bedeutung gewinnenden bildungsbürgerlichen und staatsdienenden Berufe wie Jurist oder Universitätsprofessor ausüben zu können.12 Mit der Reichsgründung von 1871 war die formale Gleichberichtigung erstmals deutschlandweit durchgesetzt. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen kam es hierzulande wie zu dieser Zeit nirgends sonst in der jüdischen Welt zu religiösen Erneuerungen. Seit dem frühen 19. Jahrhundert hatte sich hierzulande ein rasch wachsendes REFORMJUDENTUM entwickelt, welches nach protestantischem Vorbild deutschsprachigen Gottesdienst mit Predigt, Chor und Orgelspiel in den Synagogen einführte. Von diesem deutschen Reformjudentum gingen bis zum Zweiten Weltkrieg starke
10 Als deren heute noch bekannteste Vertreter gilt der gerne antisemitisch verzerrt dargestellte Jud Süß Oppenheimer. 11 Reinhard Koselleck hat diese Gleichstellung überzeugend als wirtschaftliche und nicht politische analysiert, vgl. Ders: „Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848“, Stuttgart: Klett-Cotta 1975, S. 59 ff. 12 Zwei prominente Beispiele der jüdischen Taufbewegung sind Heinrich Marx, der Vater von Karl Marx, der immerhin aus einer alten Rabbinerfamilie stammte und Heinrich Heine, Zu der damaligen Taufbewegung als „Entreebillett zur europäischen Kultur“ (H. Heine) vgl. A. Elon: Zu einer anderen Zeit, S. 86 ff.
ENTWICKLUNG DES JUDENTUMS IN DEUTSCHLAND | 81
Impulse für das weltweite Judentum, insbesondere in den USA, aus.13 Allerdings stießen diese Reformen auf erbitterten Widerstand einer jüdischen NEOORTHODOXIE, welche die Jahrtausende alte religiöse Tradition des Judentums mit den Erfordernissen moderner Gesellschaften zu verbinden suchte. Gerade in Berlin standen sich wie in keiner anderen Stadt die geistigen Repräsentanten der jüdischen Reformbewegung und der Neoorthodoxie an einem Ort gegenüber. Die religiöse Ausfächerung war aber auch die Geburtsstunde moderner Gemeinden, Vorläufer der nach dem Zweiten Weltkrieg entstehenden sog. EINHEITSGEMEINDEN (s. u. Kap. II.1.2.3.). In ganz Deutschland hatten sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts als eine organisatorische Besonderheit Gemeinden ausgebildet, die „im Laufe der Zeit den Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts erhielten und [...] damit – vergleichbar mit den christlichen Kirchen – zu selbstständigen Einheiten [wurden], was in der Hauptsache das Recht auf Zwangsbesteuerung der Gemeindemitglieder und die Anstellung eigener Rabbiner und anderer Gemeindebeamter bedeutete.“14 Auf staatliches Betreiben einer einheitlichen gemeinde- und steuerrechtliche Vertretung befinden sich, soweit an einem Ort vorhanden, alle Betgemeinschaften bzw. Synagogen über alle religiösen Strömungen hinweg unter einem gemeinsamen Gemeindedach. Dieses bis heute gängige Prinzip stand und steht damit im Gegensatz zu den relativ autarken und staatsunabhängigen Gemeinden anderer Länder, etwa denjenigen in den angelsächsischen Staaten. In Deutschland dominierte in den Gemeinden bis in die Verfolgungszeit während der NS-Herrschaft das Reformjudentum.15 Die Zeit zwischen der deutschen Einigung von oben und dem Ersten Weltkrieg ist die Ära jüdischen deutschlandweiten Aufstiegs.
Die damalige jüdische Entwicklung in Deutschland lässt sich an einigen demographischen Punkten knapp skizzieren: • Wachstum: In dieser Zeit wuchs die jüdische Bevölkerung beständig, wenn auch geringer als die übrige Bevölkerung von etwa 462.000 für das Reichsgebiet von 1871 im Jahr 1852 auf 615.000 für 1910. Entsprechend sank der
13 Zu den wichtigen Reformimpulsen aus dem als religiös LIBERAL bezeichneten deutschen Reformjudentum ist auch das Breslauer Rabbinerseminar (1854) zu rechnen. Aus dessen moderater Reformbewegung ging das KONSERVATIVE JUDENTUM hervor, welches eine Zwischenstellung zwischen Liberalen und Orthodoxen einnimmt und gegenwärtig eine Wiederbelebung in Deutschland, seinem Ursprungsort, erfährt; vgl. unten Kap. II.1.5.4. sowie zur spezifischen Entwicklung in Berlin Kap. II.2.2.3. sowie Kap. II.2.3.1. Zu den verschiedenen ‚religiösen Richtungen‘ im Judentum vgl. die entsprechenden Stichworte des Glossars im Anhang, S. 581 ff. 14 Vgl. R. Hess/J. Kranz: Jüdische Existenz in Deutschland heute, S. 205 15 Vgl. A. Herzig: Jüdische Geschichte in Deutschland, S. 197 und Walter Homolka/ Gilbert S Rosenthal: Das Judentum hat viele Gesichter. Die religiösen Strömungen der Gegenwart, Gütersloh: Gütersloher V.-Haus 2000, S. 70. – Zu den jüngeren religiösen Konflikten in den Einheitsgemeinden vgl. u. ausführlich Kap. II.1.4.4., S. 123 ff.
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jüdische Bevölkerungsanteil an der Gesamtbevölkerung im gleichen Zeitraum pro Tausend von 13 auf 9,5 Personen, mit Ausnahme von Berlin.16 Verstädterung: 1871 lebten knapp 20 % aller Juden und 4, 8 % der Gesamtbevölkerung in Großstädten. 1910 waren es 58,3 % gegenüber 21,3 %.17 Sozialstatus: Am deutlichsten entwickelte sich die Differenz der jüdischen gegenüber der Gesamtbevölkerung hier. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörten über 60 % der jüdischen Einwohner zum mittleren und gehobenen, ein Viertel zum Kleinbürgertum. Nur noch eine kleine Zahl gehörte zu den Almosenempfängern.18 Berufseingrenzung: Gegenüber der von starken Veränderungen gezeichneten Berufsstruktur der Gesamtbevölkerung im Zuge der Industrialisierung hatte sich die überkommene berufliche Struktur der jüdischen Minderheit für diese als wirtschaftlicher Segen erwiesen. Bis zum Ersten Weltkrieg arbeiteten etwas über 50 % von ihnen in Handel und Verkehr bzw. als Selbständige (vom kleinen familienunterstützten Schneider bis zum Großunternehmer). Der Anteil an Bauern war mit etwas über 1 % verschwindend und auch in der Industrie und dem Gewerbe mit ca. 20 % mehr als 15 % unter dem Anteil in der Gesamtgesellschaft.19 Nun erhielten erstmals auch jüdische Gelehrte Lehrstühle an deutschen Universitäten.20 Jedoch blieben ihnen auch weiterhin Regierungsposten und eine höhere Offizierslaufbahn verschlossen. Neue Bedrohungen durch die Entstehung eines modernen Antisemitismus
Die Nationalisierung des politischen Diskurses seit dem frühen 19. Jahrhundert brachte jedoch eine immer stärkere Ablehnung von Teilen des aufstrebenden Bürgertums gegenüber den jüdischen Emanzipationsbestrebungen hervor, schlimmer noch: Ein neuer, sich nicht mehr religiös, sondern kulturell, bald auch völkisch verstehender Judenhass machte sich unter deutsch-national berauschten
16 Vgl. Usiel E Schmelz: „Die demographische Entwicklung der Juden in Deutschland von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1933“, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, Jg. 8, 1/1982, S. 34 f. – Hohe Verluste auf Grund der großen Zahl an Mischehen bzw. dem aus ihnen hervorgehenden nichtjüdischen Nachwuchs, einer deutlich geringeren Fertilitätsrate als in der Gesamtbevölkerung und den Übertritten zum Christentum konnten durch Zuzug aus Osteuropa ausgeglichen werden.. 17 Vgl. A. Herzig: Jüdische Geschichte in Deutschland, S. 191 f. 18 Vgl. ebd., S. 192 f. 19 Vgl. ebd., S. 194 20 Zwar studierten überproportional viele Juden im Zuge der sukzessiven Emanzipation im 19. Jahrhundert an deutschen Landesuniversitäten. Doch war ihnen die weitere Hochschul-Karriere noch im Kaiserreich vielerorts verschlossen. Mit dem Mathematiker Moritz Stern in Göttingen 1859 und dem Orientalisten Gustav Weill in Heidelberg 1861 wurden die ersten beiden Juden als Ordinarien an deutschen Universitäten berufen; vgl. Universität Heidelberg (Hg.) „Juden an der Universität Heidelberg. Dokumente aus sieben Jahrhunderten“ (Ausstellungskatalog), 2002, S. 10.
ENTWICKLUNG DES JUDENTUMS IN DEUTSCHLAND | 83
Bürgern breit: Dies war die Geburtsstunde des modernen Antisemitismus.21 Von Fichte über Wagner bis Treitschke führte eine aufsteigende Linie dieses Ressentiments, das sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also lange vor der NS-Zeit, einen rassenbiologischen, scheinbar wissenschaftlichen Anspruch gab. Außerdem gab der moderne Antisemitismus neben den kulturellen und völkischen nun auch ökonomische Motive vor. Der Wahn, ‚deutsche Kultur‘ und ‚deutsches Blut‘ seien durch ‚parasitäre jüdische Schädlinge‘ bedroht, ging im Zuge der sozialen Verwerfungen und des Massenelends des gründerzeitlichen Kapitalismus immer häufiger ein Amalgam mit der phantasierten ökonomischen Bedrohung durch ‚die Juden‘ ein: ‚Die Juden sind unser Elend‘ (H. v. Treitschke 1878 im sog. ‚Berliner Antisemitismusstreit‘) lautete immer häufiger die Antwort aus dem Lager der politischen Rechten auf die soziale Frage.22 Die in Folge von Pogromen im Zarenreich seit diese Zeit besonders nach Berlin und in die östlichen Provinzen Preußens einwandernden fremdartig anmutenden sog. ‚Kaftan‘- und ‚SCHTETL-Juden‘ gaben die Vorlage ab für die weit verbreiteten gehässigen antisemitischen Karikaturen der Kaiserzeit.23 Als ein selbstbewusstes Organ zum Abwehrkampf gegen den zunehmenden Antisemitismus gründeten liberale Juden 1893 den ‚Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens‘ (C.V.). Chancen der Akkulturation sowie Gefahren durch Assimilierung
Die kurze Zeit zwischen der Reichsgründung 1871 bis ans Ende der Weimarer Republik 1933 gilt als die Phase der bislang engsten Verbindung zwischen jüdischer nichtjüdischer Bevölkerung in Deutschland. Nun entwickelte sich erstmals so etwas wie ein deutsches Judentum, welches sich selbstbewusst als integraler Bestandteil der Gesellschaft und Nation verstand. In einer Art Akkulturationsprozess versuchten die hiesigen Juden jüdisch-religiöse wie deutsch-nationale
21 Der Begriff Antisemitismus geht auf eine rassistisch-antijüdische Hetzschrift des Journalisten Wilhelm Marr von 1879 zurück; vgl. Robert S. Willrich: „Essay: Antisemitismus“ in: J. H. Schoeps (Hg.): Neues Lexikon des Judentums, S. 60 sowie A. Elon: Zu einer anderen Zeit, S. 210. Zwischen der inhaltlich bis heute gültigen Bedeutung und der etymologischen Herkunft des Oberbegriffs besteht nur ein diffuser Zusammenhang, da der Begriff ‚Semiten‘ sprachliche Gemeinsamkeit orientalischer Völker des Altertums bezeichnet (darunter u. a. das Alt-Hebräische), jedoch nicht Herkunfts- oder phantasierte ‚rassische‘ Gemeinsamkeiten. 22 Die Parole rief zwar Protest nahezu ausschließlich jüdischer Dozenten hervor (Ausnahme: v. Treitschkes nichtjüdischer Berliner Kollege Theodor Mommsen), „wurde aber von den Studenten geglaubt und machte den Antisemitismus in akademischen Kreisen salonfähig.“ A. Herzig: Jüdische Geschichte in Deutschland, S. 187 23 Die alteingesessenen deutschen Juden suchten sich angesichts dieser antisemitischen Anwürfe gegen die ‚Ostjuden‘ von diesen teilweise zu distanzieren: „Einheimische Juden begegneten ihnen mit Abscheu, ihr Anblick war ihnen peinlich, erinnerte sie an ihre Vorfahren.“ A. Elon: Zu einer anderen Zeit, S. 266
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Momente zu verbinden. Sie hingen „an einer Idee vom Deutschtum, die sich an der Aufklärung, und Gestalten wie Lessing, Kant und Goethe orientierte.“24 Im Bau prächtiger Synagogen, von Berlin und anderen großen Städten bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts ausgehend, manifestierte dieses zunehmende jüdische Selbstbewusstsein auch baulich und damit allgemein sichtbar gegenüber der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft.25 Der sich überwiegend als Verwirklichung der jüdischen Emanzipationsbewegung im nichtreligiös-politischen Sinne verstehende Zionismus, nach Vorläufern als Bewegung um den jüdischen deutschsprachigen Budapester Journalisten Theodor Herzl (1860-1904) konstituiert, fiel daher gerade in Deutschland keineswegs auf einen besonders fruchtbaren Boden. Bis 1914 schlossen sich lediglich 10.000 Mitglieder (also nur ca. 2 % der deutschen Juden) der zionistischen Vereinigung an. Viele von ihnen plädierten außerdem ebenfalls für eine Akkulturation in das deutsche Kaiserreich.26 Daher mag es ebenso wenig überraschen, dass der größte Teil der männlichen jüdischen Bevölkerung im wehrfähigen Alter 1914 ‚Seit an Seit‘ mit ihren nichtjüdischen Kameraden wie diese mit Begeisterung und großem Einsatz für Kaiser und Vaterland in den Ersten Weltkrieg zogen.27 Begriffe und Schlagwörter wie ‚Erst Deutscher, dann Jude‘ und ‚Dreitagejude‘ – bezogen auf den ausschließlichen Besuch der Synagoge zu den hohen Feiertagen – oder ‚Weihnukka‘ als Bezeichnung für die Verschmelzung des jüdischen Chanukka-(Lichter-)Festes mit Weihnachten zeugen gleichsam von dem gelebten Selbstverständnis des deutschjüdischen Bürgertums wie von den Gefahren der Aufgabe identitärer Wurzeln. Tatsächlich führte der vielfach religiös wie kulturell inspirierende Akkulturation zu einer vollständigen Assimilation an die nichtjüdische Mehrheitsgesell24 Enzo Traverso: Die Juden und Deutschland. Auschwitz und die ‚jüdisch-deutsche Symbiose‘, Berlin: Basisdruck 1993, S. 135 25 Auch wenn viele dieser Synagogen im NS und im Krieg zerstört wurden, gibt es hierfür noch einige beeindruckende Beispiele: Als am prächtigsten und bekanntesten kann sicherlich die einstmals 3000 Menschen fassende ‚Neue Synagoge‘ in Berlin gelten (erbaut von 1859-1866) mit ihrer goldenen Kuppel gelten. Sie ist während ihrer Teilrekonstruktion auf dem Titelbild der vorliegenden Studie zu sehen. Aber auch die aus der Kaiserzeit stammenden großen Synagogen in Köln und in Essen sowie der gewaltige Kuppelbau der im Ersten Weltkrieg fertig gestellten Jugendstilsynagoge in Augsburg sind noch immer beredte Zeugnisse für das damalige deutsch-jüdische Selbstbewusstsein. 26 Zum Zionismus im Kaiserreich und den o. g. Zahlen vgl. A. Herzig: Jüdische Geschichte in Deutschland, S. 209 f. 27 Dies hinderte allerdings nicht Kriegsminister Adolf Wild im Oktober 1916 daran, mitten im Ersten Weltkrieg eine antisemitisch motivierte Kampagne gegen die sich angeblich vor dem Kriegsdienst ‚drückenden‘ Juden loszutreten. Eine ‚Judenzählung‘ sollte „Aufschluss darüber geben [...], wie viele jüdische Soldaten an der Front und wie viele in der Etappe dienten. Die Ergebnisse wurden nicht bekannt gegeben – ‚aus Respekt gegenüber jüdischen Gefühlen‘, wie es hieß. Tatsächlich entkräftete die Zählung die weitverbreiteten Anschuldigungen: Von insgesamt rund hunderttausend jüdischen Soldaten standen achtzig Prozent an der Front.“ A. Elon: Zu einer anderen Zeit, S. 326
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schaft, wie sich in der stark wachsenden Zahl an Mischehen und Austritten aus den jüdischen Gemeinden im frühen 20. Jahrhundert bemerkbar machte. Die Sozialstruktur der jüdischen Bevölkerung entsprach zum Großteil noch derjenigen der Kaiserzeit (s. o.). Allerdings schrumpfte sie nun erstmals auf Grund von Geburtenrückgängen, Überalterung und dem hohen MischehenAnteil. In weniger als 25 Jahren nahm die jüdische Bevölkerung in Deutschland/Berlin daher von 1910 (615.021/90.000) über 1925 (564.000/173.000) auf 1933 (499.682/161.000) ab, was einem Rückgang des prozentualen Bevölkerungsanteils von 1910 0,95 % bzw. 4,35 % über 1925 0,90 % bzw. 4,29 % auf 1933 0,76 % bzw. 3,78 % entsprach.28 Die Mehrheit von ihnen gehörte in dieser Zeit den Mittelschichten als Selbständige (1933:46 %) und Angestellte an.29 Den Höhe- und zugleich Schlusspunkt des Erfolgs der jüdischen Emanzipationsbestrebungen stellte die Zeit der Weimarer Republik dar. Nun gehörten Juden erstmals auch der Regierung an. Darüber hinaus waren in jenen Jahren überdurchschnittlich viele Juden oder Menschen jüdischer Herkunft führend im Kultur- und Wissenschaftsbereich tätig und bereicherten damit die gesamte deutsche Kulturlandschaft. Gerade aus diesem sozial hochmobilen Kreis an der Peripherie des jüdischen Kollektivs Stehender oder von Nachkommen bereits zuvor aus dem Judentum Ausgetretener engagierten sich im Verhältnis zu dem nichtjüdischen Bürgertum überproportional viele in den sozialen, politischen und künstlerischen Bewegungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Stellvertretend für Hunderte andere seien nur die Namen von Eduard Bernstein (sozialdemokratischer Politiker 1850-1932), Walther Rathenau (1867-1922, zeitweiliger Reichsfinanzminister und AEG-Vorstandsmitglied, ermordet), Else Lasker-Schüler (1969-1945, Schriftstellerin), Gustav Landauer (1870-1919, ermordet, Anarchist und Schriftsteller), Rosa Luxemburg (1871-1919 ermordet, kommunistische Politikerin), Lise Meitner (1878-1968, Physikerin), Albert Einstein (1879-1955, Physiker), Erich Mendelsohn (1887-1953, Architekt), Kurt Tucholsky (1890-1935, Schriftsteller, Selbstmord), Ernst Lubitsch (1892-1947, Filmregisseur) sowie Max Horkheimer (1995-1973, Sozialphilosoph) genannt.30 Ob es in der Zeit vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten einen deutsch-jüdischen Dialog oder sogar eine jüdisch-deutsche Symbiose gegeben hätte, ist eine nach 1945 bis heute unter Juden wie Nichtjuden kontrovers behandelte Frage geblieben. Problematisch erscheint jedenfalls im Rückblick, dass die starke Assimilierung der deutschen Juden an die nichtjüdische Mehrheitsgesell28 Vgl. A. Herzig: Jüdische Geschichte in Deutschland, S. 215 sowie U. Schmelz: Die demographische Entwicklung …, S. 38 f. 29 Vgl. A. Herzig: Jüdische Geschichte in Deutschland, S. 216 f. 30 Zu den Gefahren einer philosemitischen Verklärung jüdischer hochkultureller Leistungen in der deutschen Geschichte, insbesondere während der Weimarer Republik, zu ungunsten der Aufmerksamkeit gegenüber den ärmlichen Lebensbedingungen osteuropäischstämmiger Juden vor der NS-Zeit in Deutschland vgl. mein persönliches Eigenverortungs-Kap. I.4.
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schaft keine Entsprechung von nichtjüdischer Seite gefunden hatte. Außerdem war der Preis für den nur wenige Generation anhaltenden Eintritt in die ‚deutsche Kulturgemeinschaft‘ häufig die völlige oder überwiegende Preisgabe des jüdischen Erbes. Außerdem forderten die erfolgreichen Akkulturations- und Assimilierungsprozesse die Antisemiten umso mehr heraus. Seit Beginn der Weimarer Republik zog sich zeitgleich mit dieser voranschreitenden Emanzipation des jüdischen Bildungs- und Finanzbürgertums eine blutige Spur eines rechtsradikalen Terrorismus, dessen Attentäter es neben linken und liberalen Exponenten eben auch explizit auf prominentere Juden abgesehen hatten. Als spektakulärstes rechtes Gewaltverbrechen galt in dieser Zeit der Mord an Reichsaußenminister Walther Rathenau (s. o.) am 24. Juni 1922.
1.1.2. Auswirkungen der Verfolgung in der NS-Zeit Während der 12-jährigen NS-Herrschaft wurde nahezu alles zerstört, was die annähernd 2000-jährige Geschichte in Deutschland ausgemacht hatte.
Auf das furchtbare Schicksal der jüdischen Gemeinschaft kann im Umfang dieser gerafften Rückblende nicht näher eingegangen werden.31 Daher sollen sich die folgenden Ausführungen nur auf einige für das Verständnis der weiteren Entwicklung unentbehrliche demographische Auswirkungen des Genozids und der Vertreibung beschränken. Das NS-Regime ging unmittelbar nach der Machtübernahme im Januar 1933 daran, die Juden Deutschlands aus der Berufswelt und dem öffentlichen Leben Stück für Stück zu verdrängen und sie mit den Nürnberger Gesetzen 1935 auch ethnisch aus der deutschen Gesellschaft auszugrenzen. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 und den systematischen Deportationen in die osteuropäischen KZ seit 1940 war die jüdische Bevölkerung durch Hunderte erniedrigende Gesetze und Bestimmungen aus dem deutschen Ethnos herausgerissen worden. Als Negativfolie können diese Diskriminierungen als Beleg der weit gediehenen Integration der hiesigen Juden in die deutsche Gesellschaft bis zur NS-Machtergreifung (s. o.) gelesen werden. Zu Beginn der NS-Herrschaft1933 hatte das Statistische Reichsamt 499.682 sog. Glaubensjuden im deutschen Reich gezählt, dies entsprach 0,76 % der deutschen Bevölkerung.32 Hiervon emigrierten allein im ersten Jahr 50.000. Auf 31 Allerdings können die wichtigsten Fakten vorausgesetzt werden. 32 Zahlenangaben nach Harry Maòr: Über den Wiederaufbau jüdischer Gemeinden in Deutschland nach 1945, Universitäts-Dissertation, Mainz 1961, S. 1 sowie Y. M. Bodemann: Gedächtnistheater, S. 16. – Bodemann rekonstruiert in diesem Zusammenhang die in der Summe dieser Statistik dabei nicht erfassten Juden, ‚Mischlinge‘ und die mit allen drei Gruppen Verheirateten, womit er dabei insgesamt eine Zahl von gut über einer Million erhält: „Die offiziellen Zahlen auch der letzten vornazistischen Volkszählung aus dem Jahre 1933 verbergen somit die Tatsache, daß das demographische Gewicht der Juden in Deutschland und das jüdische Umfeld wesentlich größer waren, als die Zahl von 500.000 suggeriert. [...] Tatsächlich wa-
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Grund der Repressionen und der Gewaltexzesse im Zuge der Reichspogromnacht am 9. November 1938 war es noch vor Beginn des Zweiten Weltkriegs und der systematischen Vernichtung der europäischen Juden mit 280.000 einem vergleichsweise großen Teil der hiesigen Juden gelungen, Deutschland durch Emigration zu verlassen. Von den ca. 200.000 in KZs verschleppten deutschen Juden wurden im Verlauf der 12-jährigen NS-Herrschaft 165.000 bis 168.000 ermordet, davon fast 56.000 aus Berlin. Von den ca. 160.000 Berliner Juden im Jahr 1933 hatten sich bis zu den 1941 einsetzenden Deportationen nur 50.000 außerhalb der NS-Machtsphäre in Sicherheit bringen können.33 Die jüdischen Emigranten gehörten zu der Gesamtgruppe der über 500.000 Emigranten34, die von den Nationalsozialisten zwischen 1933 und dem Kriegsbeginn 1939 aus ‚rassischen‘, religiösen oder politischen Gründen aus Deutschland vertrieben wurden. Nicht wenige galten in diesem Sinne als Mehrfachverfolgte. Eine besondere Tragik bestand darin, dass viele assimilierte Juden, die nach dem Rassenmerkmal ‚jüdisch‘ von den NS-Machthabern verfolgt wurden, sich selbst gar nicht als ‚jüdisch‘ begriffen. Manche wurden auf Grund der diskriminierenden Negativ-Zuschreibung und der damit verbundenen biographischen Verwerfungen zur Wiederaneignung ihres jüdischen Erbes gebracht – oder nahmen sich das Leben.
1.2. Die Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft in den westlichen Besatzungszonen und der BRD von 1949 bis 1990 Von einer Normalität jüdischen Lebens oder einer Kontinuität in Bezug auf die Zeit vor 1933 konnte und kann in beiden deutschen Nachkriegsstaaten und damit auch im heutigen Deutschland nicht die Rede sein. Zu stark sind die Auswirkungen der fast gelungenen ‚Endlösung‘: Am Ende der Naziherrschaft und des Zweiten Weltkriegs waren die meisten der zuvor in Deutschland lebenden Juden verjagt oder vernichtet worden. Damit war eine annähern 2000-jährige deutschjüdische Geschichte fast zu ihrem Ende gekommen. Vor diesem Hintergrund ren Juden und Deutsche vor 1933 organisch auf das engste miteinander verknüpft, auch wenn wir die schätzungsweise siebzig- bis achtzigtausend nichtassimilierten und traditionellen Juden, vornehmlich Neueinwanderer aus dem Osten, mit einbeziehen.“ Ebd. S. 17; ähnlich Ignaz Bubis, vgl. ders: „Tribüne-Gespräch: Erschütterungen sind zu überstehen“, in: O. R. Romberg/S. Urban-Fahr (Hg.): Juden in Deutschland nach 1945, S. 11 33 Zahlen nach: Wolfgang Benz: Zwischen Antisemitismus und Philosemitismus. Juden in Deutschland nach 1945, in: K. Behrens (Hg.): Ich bin geblieben – warum? Juden in Deutschland heute, Gerlingen: Bleicher 2002, S. 23; Willi Jasper: „Essay: Emigration und Exil nach 1933“, in: J. H. Schoeps (Hg.): Neues Lexikon des Judentums, S. 233 sowie Andreas Nachama: „Ost und West. Die jüdische Gemeinde in Berlin von 1945 bis 1988“, in: O. R. Romberg/S. Urban-Fahr (Hg.): Juden in Deutschland nach 1945, S. 99 34 Zahl nach Ellen Presser: „Spezialisten in Heimweh. Gespräch über Remigration nach 1945“, in: JA 20.06.02. Entsprechend höher sind die Zahlen bei Ignatz Bubis: ders., Tribüne-Gespräch in: O. R. Romberg/S. Urban-Fahr, (Hg.): Juden in Deutschland nach 1945, S. 11;), vgl. o. die Anm. 32.
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kann dessen lebendiges Dementi, also die jüdische Existenz im Nachkriegsdeutschland, nur als hochgradig problematischer Prozess verstanden werden, denn alle an ihm beteiligten jüdischer wie nichtjüdischer Akteure sind in der einen oder anderen Weise in ihrem Handeln auf diesen Fixpunkt bezogen. Aus dieser Maxime ergeben sich zwei leitende grundsätzliche Fragen für den folgenden Überblick über die Nachkriegsentwicklung der hiesigen jüdischen Gemeinschaft: • Welche entscheidenden inner- wie außerjüdischen Faktoren der Herausbildung einer jüdischen Gemeinschaft im Nachkriegsdeutschland liegen ihrer heutigen Entwicklung zu Grunde? Welche Schwierigkeiten für die jüdische Gemeinschaftsbildung in Deutsch• land haben sich in diesem Zeitraum ergeben? Die Entwicklung jüdischen Lebens in westlichen Teil Deutschlands verlief zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Vereinigung 1990 in sehr unterschiedlichen Entwicklungsphasen und unter stark wechselnden politischen Prämissen. Die Darstellung erfolgt in enger Anlehnung an die PhasenEinteilung des Soziologen Y. Michal Bodemann.35 Er teilt den Wiederaufbau und die Entwicklung der jüdischen Gemeinden in Westdeutschland in fünf Phasen ein: Als erste Phase die Frühphase der überlebenden deutschen Juden, als zweite Phase der ‚Sche'erit Hapletah‘ (‚der Rest der Geretteten‘), die gleichzeitig verlaufende Frühphase der die KZs überlebenden und von der übrigen Bevölkerung getrennt in Lagern der Alliierten lebenden osteuropäischen Juden; als dritte Phase mit der Gründung des ‚Zentralrat der Juden in Deutschland‘ (im Folgenden mit ZdJ abgekürzt) 1950 die Phase der administrativ-institutionellen Konsolidierung; als vierte Phase der durch Funktionärswesen geprägte Repräsentatismus zwischen 1969 und 1989 und die vorläufig letzte, fünfte Phase der Zuwanderung von Juden aus den GUS-Staaten der ehemaligen Sowjetunion seit 1990. Im Folgenden möchte ich die fünf Phasen in jeweils eigenen Unterkapiteln vorstellen. Dabei wird die erste und zweite Phase nach Bodemann hier im Sinne meiner chronologischen Systematik vertauscht und vor der letzten Phase ein Exkurs zur Entwicklung in der DDR eingefügt.
1.2.1. Die Frühphase der überlebenden Deutsch-Juden zwischen 1945 und 1949 Von den ehemals weit mehr 500.000 deutschen Juden vor der NS-Zeit befand sich nach dem Sieg der Alliierten nur eine winzige Gruppe in den vier Besatzungszonen, aus denen die spätere BRD und DDR hervorgingen. Diese setzten sich (zunächst) aus vier Untergruppen zusammen: 1) KZ-Insassen: Sie stellen die kleinste Gruppe der überlebenden deutschen Juden nach Kriegsende auf deutschem Boden dar. Ein Großteil von ihnen hatte, 35 Vgl. für diesen Abschnitt Y. M. Bodemann: Gedächtnistheater, insbesondere das Kap. 1: „‚Kleines Boot in unruhigen Gewässern‘. Ursprungslinien jüdischer Existenz in Deutschland nach Auschwitz“, S. 16-55.
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z. T. als hochdekorierte Veteranen des Ersten Weltkriegs, die Schoah in dem nicht als Vernichtungslager ausgelegten KZ Theresienstadt überstanden.36 Die Zahl der die KZs überlebenden deutschen Juden wird auf etwa 900 geschätzt.37 2) Illegal Überlebende: Diese Gruppe bestand aus im Untergrund Überlebenden, die unter falscher Identität oder von Nichtjuden versteckt (sog. ‚U-Boote‘) die NS-Zeit überstanden hatten. Die Schätzungen der Größe dieser Gruppe schwanken zwischen 2000 und 5000 Personen.38 3) Nichtprivilegierte Angehörige von Nichtjuden: Diese auch als ‚Sternträger‘ bezeichnete Gruppe von mit sog. ‚Ariern versippten Juden‘ konnte unter Lebensgefahr mit behördlicher Duldung die NS-Zeit überstehen. Zu dieser Gruppe gehörten bei Kriegsende etwa 3600 Personen.39 4) Privilegierte Angehörige von Nichtjuden: In diese Gruppe wurden all jene jüdischen Eheleute eingeteilt, die mit einer ‚arischen‘ Person verheiratet waren, sofern deren Nachkommen sich zum Christentum bekannten. Sie wurden mit Ausnahme des Verbotes der Wahl bestimmter Berufe bzw. der Mitgliedschaft in nazistischen Organisationen von der Verfolgung verschont. Zu dieser Gruppe sind auch vereinzelte von NS-Funktionären protegierte Juden zu zählen. Während über die Mischlinge keine Zahlen vorliegen, belief sich die Zahl der Privilegierten nach Kriegsende auf etwa 8300.40 Zusammengenommen machten diese Gruppen nach Kriegsende also etwa 15.000-16.000 Personen aus, wovon die in Mischehen lebenden mit 80 bis 90 % das Gros bildeten.41 Viele von ihnen gehörten der Großelterngeneration an. 5) Remigranten: Diese letzte Untergruppe deutscher Juden aus der Vorkriegszeit, kehrte während der ersten Nachkriegsdekade vereinzelt oder in kleinen Gruppen nach West- (und Ost-)Deutschland zurück. Sie setzte sich aus während der NSZeit emigrierten Einzelpersonen bzw. Personengruppen zusammen. Eine zahlenmäßige Schätzung ist besonders schwierig, da es an genauen Quellen der Gemeinden mangelt. Die geschätzten Zahlen schwanken zwischen 7000 und 11.500 Personen, also maximal nur 4,5 % der ca. 270.000 emigrierten deutschen Juden.42
36 Theresienstadt war im Gegensatz zu den großen KZs Polens kein Vernichtungslager. Auch wenn in diesem KZ im Verlauf seines Bestehens Tausende Juden umkamen, waren die Überlebenschancen dort deutlich höher gegenüber den Vernichtungslagern, in die allerdings der größte Anteil der nur zwischenzeitlich in Theresienstadt Inhaftierten deportiert wurden. 37 E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 356 38 Ebd., S. 16 39 Ebd., S. 16 und ebd., S. 356 40 Ebd., S. 16 41 Vgl. ebd. sowie Y. M. Bodemann: Gedächtnistheater, S. 21 42 D. h. knapp die Hälfte der etwa 500.000 deutschsprachigen Emigrierten nach 1933; Zahlen nach E. Pressler (20.06.02). R. Hess und J. Kranz sprechen für die Zeit nach dem Entschädigungsgesetz von 1955 und dem Jahr 1959 von weiteren etwa 5500 Rückkehrern in die BRD; vgl. dies.: Jüdische Existenz in Deutschland heute S. 32.
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Ein Großteil von ihnen konnte und wollte nicht mehr zurückkehren, zumal hierzu fast keine(r) von deutscher Seite aufgefordert wurde. Die meisten aus den benannten Teilgruppen standen „eher am Rande der jüdischen Gemeinschaft (…) und hatten erst angesichts der Verfolgung ein stärker jüdisches Bewusstsein erlang. [...] Trotz ihrer Distanz zur deutschen Umwelt waren diese Menschen dennoch in der deutschen Kultur und Gesellschaft tief verwurzelt [...]. [...] So gab es eine deutliche Tendenz in der unmittelbaren Nachkriegszeit, vor allem seitens der Rückkehrer, zu erklären, dass ‚wir nun quitt‘ seien oder dass sie nicht ‚allein gestanden‘ hätten [in Bezug auf ihre nichtjüdisch-deutschen Angehörigen, Freunde und zuvor ihnen nicht bekannte Helfer, A. J.]. Einige Juden waren sogar bereit, den Deutschen zu vergeben und mit ihrem Leben dort fortzufahren, wo sie Deutschland verlassen hatten.“43
Trotz dieser vereinzelten vagen Hoffnungen auf einen persönlichen Neuanfang schien jüdisches Leben als Weiterexistenz einer jüdischen Gemeinschaft auf deutschem (wie Boden im Übrigen auch in Osteuropa (als dem größten jüdischen Friedhof der Weltgeschichte), nicht mehr möglich. Ein winziges Häuflein deutscher Juden befand sich in einem für Juden auf unabsehbare Zeit diskeditierten Land: So ermahnte der Jüdischen Weltkongress auf seiner erster Nachkriegstagung 1948 in Montreux in seiner Resolution „die Juden in der ganzen Welt (…), sich ‚nie wieder auf dem blutgetränkten deutschen Boden anzusiedeln‘.“44 Vor diesem Hintergrund mutet erstaunlich an, was sich in der unmittelbaren Nachkriegsphase, häufig schon wenige Wochen nach Kriegsende, spontan ereignete: Personen aus den o. g. deutsch-jüdischen Restgruppen, die also mehrheitlich eher am Rande der jüdischen Gemeinschaft gestanden hatten, gründeten in einigen größeren Städten Deutschlands, so in Berlin, Hamburg, München, Frankfurt und Düsseldorf, wieder jüdische Gemeinden und dies, ohne dass von ihnen eine bewusste Entscheidung für die Fortexistenz jüdischen Lebens in Deutschland getroffen worden wäre! E. Burgauer hat diesen bemerkenswerten Vorgang treffend auf den Punkt gebracht: „Es gibt kaum Anzeichen dafür, dass es von allem Anfang an von deutsch-jüdischer Seite Bestrebungen für den Wiederaufbau jüdischer Gemeinden in Deutschland gegeben hätte; dass sie dennoch entstanden, lag mehr an den historischen und soziologischen ‚Sachzwängen‘.“45 Diese hatten in den Wochen und Monaten unmittelbar nach Verfolgung und Krieg für die überlebenden deutschen Juden existenzielle Bedeutung; im Einzelnen: • gesundheitliche Probleme; • materielle Not; • familiäre Bindungen in Deutschland; • Ansprüche gegenüber den deutschen Enteignern jüdischen Eigentums 43 Y. M. Bodemann: Gedächtnistheater, S. 29 f.; ähnlich äußert sich E. Burgauer; vgl. dies.: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. :35 44 M. Brenner: Epilog oder Neuanfang? in: O. R. Romberg/S. Urban-Fahr (Hg.): Juden in Deutschland nach 1945, S. 35 45 E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 25
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sowie kulturelle Beheimatung im deutschen Sprachraum und entsprechende Heimatlosigkeit im Ausland.
Stellten diese Sachzwänge einzeln oder in der Summe eine pragmatische Rechtfertigung dar, in dieser Zeit mindestens vorläufig in Deutschland zu bleiben, so rechtfertigten sie andererseits aber auch die zunächst provisorische Reaktivierung jüdischer Gemeinden in Deutschland. Auch wenn diese Not-Gemeinden hoffnungslos überfordert waren, war das von ihnen bewältigte Aufgabenpensum (wie Sozialfürsorge, Betreuung von Ausreisewilligen, Suchdienst nach Angehörigen, Rückerstattungsbemühungen um ehemaligen Gemeindebesitz) erheblich. „Die eigentliche Gründungsphase [der Gemeinden, A. J.] endete 1946, doch erfolgten vereinzelte Gründungen noch bis Mitte der 50er Jahre. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde auch immer der provisorische Charakter der Gemeinden beteuert.“46 Die deutsch-jüdische Restgruppe war in diesen frühen Jahren dabei – jedenfalls aus dem perspektivischen Rückblick – lediglich Fundamente für ein Provisorium zu schaffen, die aber gerade auf Grund der von ihnen ausgehenden ‚normativen Kraft des Faktischen‘ das Provisorium sukzessive beendeten, indem sie ein dauerhaftes Bleiben ermöglichten. Die Diskrepanz zwischen der politischen ‚Nichtentscheidung‘ und der pragmatischen Entscheidung für ein Leben in Deutschland war unter den Juden in der BRD noch lange spürbar.
1.2.2. Die Frühphase der Displaced Persons zwischen 1945 und 1949 – ,Mir szeinen doh‘ – befreit, aber nicht frei Ein großer Teil der den Holocaust knapp überlebenden osteuropäisch-jüdischen KZ-Insassen war auf den o. g. Todesmärschen kurz vor Kriegsende oder mit eigener Kraft kurz danach in die westlichen Territorien des ehemaligen Reichsgebiets gelangt. Hinzu kamen Juden, die sich vor dem NS-Terror in den Wäldern Osteuropas versteckt hatten oder schließlich auch diejenigen, die in die nicht von den Deutschen besetzten Teile der Sowjetunion geflohen waren. Damit befand sich in den westlichen Besatzungszonen zunächst eine recht hohe Anzahl jüdischer DISPLACED PERSONS (DP). „Der Ausdruck ‚verschleppte Person‘, wurde dabei auf eine Person bezogen, die [...] deportiert wurde oder gezwungen war, das Land ihrer Nationalität oder ihren früheren Wohnsitz zu verlassen, wie auch auf Personen, die gezwungen waren, Zwangsarbeit zu leisten, oder die aus rassischen, religiösen oder politischen Gründen deportiert wurden.“47
46 Ebd., S. 34. In einer Anmerkung spezifiziert Burgauer die Gemeindezahlen: demnach wurden 51 Gemeinden 1945 gegründet, 16 Gemeinden 1946 sowie jeweils eine in den Jahren 1953 und 1956; - zum Vergleich: Vor 1933 hatten die ca. 500.000 deutschen Juden in ca. 1600 Gemeinden gelebt; vgl. ebd., S. 305, Anm. 41. 47 Hans Harmsen: Die Integration heimatloser Ausländer und nichtdeutscher Flüchtlinge in Westdeutschland. Schriftenreihe der Deutschen Nansen-Gesellschaft I., Augsburg 1958, S. 14; zit. nach E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 18. Kriegsbedingt gab es auf deutschem Boden nach dem Krieg insgesamt 6,5 bis 7 Millionen jüdische wie nichtjüdische DPs aus fast ganz Europa.
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Burgauer spricht für den April 1946 von 74.000 jüdischen DPs in den Westzonen, davon allein 54.000, also über zwei Drittel in der amerikanischen Zone.48 Die alliierten Militärbehörden richteten für sie, wie auch für andere nichtjüdische DPs des Zweiten Weltkriegs, humanitär bedingte Lager und Sammelunterkünfte ein. Die Lager wurden etwa bis Ende 1947 durch neue Kontingente von Juden aus Osteuropa periodisch aufgefüllt. Nach der durch Erlass der UdSSR bestimmten Repatriierung der Mehrheit der ca. 200.000 polnischen Juden, die während des Zweiten Weltkriegs in der SU Schutz gesucht hatten, war es in vielen polnischen Städten zu pogromartigen Ausschreitungen gekommen, wovor die polnische Regierung die zurückkehrenden Juden nicht ausreichend schützen konnte.49 Durch den Massenexodus aus Polen stieg die Zahl der jüdischen DPs auf zeitweise über 200.000 in den westlichen Besatzungszonen.50 Ihre Lage war nicht nur bedingt durch die äußere Not sehr schwierig. Auch ein deutlicher Antisemitismus von deutscher, z. T. sogar von amerikanischer Seite machte ihnen zu schaffen.51 Die Lager sahen äußerlich den KZs ähnlich. Viele Holocaustüberlebende trugen noch immer ihre gestreifte KZ-Kleidung, viele Lager waren mit Stacheldraht umzäunt, und am problematischsten für die jüdischen DPs war die anfängliche gemeinsame Unterbringung mit nichtjüdischen DPs. Erst nach der Veröffentlichung eines Ende August 1945 von US-Präsident Truman in Auftrag gegebenen Untersuchungsberichts besserte sich die Situation, insbesondere dadurch dass ausschließlich für jüdische DPs von Militär bewachte Lager in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands und Österreichs eingerichtet wurden. Im Mai 1947 gab es über 60 solcher Lager.52 Viele jüdischen DP-Lager-Bewohner überlegten sich, „ob sie nicht wieder in ihre angestammten Heimatorte zurückkehren sollten. Manche versuchten dies und mussten feststellen, dass ‚zu Hause‘ jegliches jüdische Leben erloschen
48 E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 18. Zentrum jüdischer DPs waren in der britischen Besatzungszone das ehemalige KZ Bergen-Belsen, in der US-amerikanischen Zone DP-Lager in Bayern (wie Föhrenwald und Landsberg). 49 Angelika Koenigseder/Juliane Wetzel: „Den Höhepunkt erreichten die antisemitischen Aktionen im Juli 1946 durch den Pogrom in Kielce“ mit 42 Toten. Vgl. dies.: Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs (Displaced Persons) im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt a. M.: Fischer Tb 1994, S. 50 f. 50 Für den gesamten Zeitraum des Bestehens der Lager auf über 300.000. Vgl. Y. M. Bodemann: Gedächtnistheater, S. :25 sowie E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 18 f. 51 Zum deutschen Antisemitismus gegen die DPs s. A. Koenigseder J. Wetzel: Lebensmut im Wartesaal, S. 135 ff; zu judenfeindlichem Verhalten unter US-Soldaten vgl. ebd. S. 27 ff. Im September 1945 wurde der Fall des sich antisemitisch äußernden US-Generals der 3. Armee Patton sogar zum Politikum, indem er nach einer antisemitischen Äußerung von General Eisenhower versetzt wurde; vgl. ebd., S. 30. 52 Vgl. Abraham Peck: Zu den Anfängen jüdischen Lebens nach 1945, in: Andreas Nachama/Julius H. Schoeps (Hg.): Aufbau nach dem Untergang. Deutsch-jüdische Geschichte nach dem Untergang, Berlin: Argon 1992, S. 227
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war.“53 Die große Hoffnung der DPs bestand darin, nach der fast völligen Vernichtung ihrer Familien und ihrer Lebensgrundlage Europa in Richtung Palästina oder USA zu verlassen. Nach Bodemann bildete sich in den Lagern ein „pragmatischer Zionismus“.54 Die erhoffte Weiterreise nach Palästina war jedoch für viele mit unüberwindlichen Hindernissen verbunden: Großbritannien sperrte sich gegen eine israelische Staatengründung auf dem damals noch britischen Mandatsgebiet Palästina und verbot den DPs in ihrer Besatzungszonen die Reise dorthin. Die physischen und psychischen Folgewirkungen der Nazi-Zeit wie auch materielle Not erschwerten ebenso eine Weiterreise. Im Fall einer möglichen Auswanderung in die USA taten Sprach- und Kulturunterschiede ein Übriges. Somit waren die in den letzten DP-Lagern Zurückbleibenden vor allem Familien mit Kindern, Ältere und gesundheitlich der Auswanderung nicht gewachsene Menschen, von denen einige in den Lagern auch verstarben. Burgauer hat in einer sehr einfühlsamen Wendung die in Westdeutschland zurückbleibenden osteuropäisch-jüdischen DPs als „,Strandgut‘ der Geschichte“ bezeichnet.55 Diese verbleibenden DPs – ca. 12.000 bis 15.000 osteuropäische, hauptsächlich polnische Juden – verbanden sich nach Schließung der letzten DP-Lager und dem Ende der Tätigkeit der internationalen Flüchtlingsorganisationen Anfang der 50er Jahre mit der anderen Restgruppe der überlebenden deutschen Juden. Diese hatten wie berichtet bereits einige Gemeinden notdürftig wiederbegründet (vgl. oben die erste Phase).56 Dieses Zusammenkommen beider jüdischen Restgruppen ist umso bedeutsamer, da ihre Unterschiede kaum größer hätten sein können: • auf der einen Seite groß-, klein- bzw. bildungsbürgerliche, meist in einer städtischen Kultur verwurzelte und häufig mit nichtjüdischen Deutschen verheiratete ‚Randjuden‘, die mehrheitlich der Großelterngeneration angehörten; • auf der anderen Seite proletarisch geprägte ostjüdische KZ-Überlebende der einer jiddischsprachigen und stark religiös orthodox verwurzelten SchtetlKultur, die mehrheitlich der Elterngeneration angehörten. Innerhalb der Gemeinden kam es daher zu deutlichen Auseinandersetzungen zwischen diesen zwei Gruppen. Hierbei schlossen sich den osteuropäischen auch KZ-Überlebende aus der Gruppe der deutschen Juden an. In diesem Konflikt „verlor die deutsch-assimilatorische Führung in etlichen Gemeinden, beispielsweise in Hamburg und Berlin, die Macht zugunsten (…) charismatische(r) Vermittler (…): deut-
53 Y. M. Bodemann: Gedächtnistheater, S. 26 54 Vgl. ebd., S. 28. Der frühere israelische Botschafter in der BRD Avi Primor hat den historischen Zusammenhang zwischen Schoah und der Schaffung des am 15. Mai 1948 gegründeten Staates Israel auf den Punkt gebracht: „Wenn auch die größte jüdische Katastrophe, die Schoa, nicht der Anlaß zur Entstehung des Staates Israel war, so war sie sicherlich das größte Antriebsmoment.“ Zit. nach ders.: Israel und die jüdische Diaspora – keine leichte Herausforderung, in: G. B. Ginzel, (Hg.): Der Anfang nach dem Ende, S. 304 55 E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 295 56 Ebd., S. 21
94 | TEIL II: HISTORISCHE UND SOZIOLOGISCHE HINTERGRÜNDE sche Juden mit gänzlich anderem Erfahrungshintergrund. [...] [Diese; A. J.] Gruppe (kam) mit der ungleich schweren Erfahrung der KZ-Haft zurück, wo sie in engen Kontakt mit Ostjuden gekommen war. Sie (…) hatte mit ihnen oftmals enge affektive Bindungen, entweder schon im KZ oder später in den DP-Lagern, entwickelt.“57
Der gemeinsame Vorwurf gegenüber den deutsch-jüdischen ‚Versöhnlern‘ lässt sich knapp auf drei Punkte zusammenfassen: • die jüdische Emanzipation in Deutschland ist gescheitert; • das Reformjudentum ist ein Irrweg weg von den jüdisch-religiöser Wurzeln; • die deutschen Juden sind im Kern antizionistisch. Dennoch überwog insgesamt der Wille zum gemeinsamen Neuanfang und zum Aufbau von Gemeindestrukturen als Überlebende eines Zivilisationsbruchs. Schließlich war ein „gemeinsamer Kampf der osteuropäischen und deutschen Juden [...] angesichts der kalten und feindseligen Umwelt eine Notwendigkeit.“58
1.2.3. Die Phase administrativ-institutioneller Konsolidierung zwischen 1950 und 1969 (1) Innerjüdische Kritik aus der weltweiten Diaspora und aus Israel „Die Phase der administrativen Konsolidierung begann im wesentlichen mit dem Abzug internationaler jüdischer Hilfsorganisationen“59 aus der jungen BRD Ende der 40er bis Anfang der 50er Jahre sowie im Zuge der Gründung des Staates Israel im Mai 1948. Die Hilfsorganisationen verließen nun Deutschland, da einerseits nur noch wenige DPs in den lagern zurückgeblieben waren, andererseits „die israelische Staatsgründung es allen Auswanderungswilligen, unabhängig von Alter, Ausbildung und Gesundheit ermöglicht hatte, Deutschland zu verlassen“.60 Hatten Gemeindevertretungen den ausgesprochen provisorischen Charakter ihrer Einrichtungen betont, wurde nun „offenkundig, dass es nach wie vor Juden und Jüdinnen gab, die trotz allem in Deutschland bleiben wollten.“61 Im Jahr 1950 verschärfte sich die Auseinandersetzung. In Israel und inderweltweiten Diaspora gab es kaum Verständnis für ein Fortbestehen jüdischen Lebens in Deutschland. Die für die Auswanderung nach Israel zuständige Jewish Agency schloss ihr Büro in Westdeutschland „verbunden mit heftigen Drohungen gegenüber den in Deutschland Zurückgebliebenen. So verkündete sie Anfang August 1950, wer sich innerhalb der nächsten sechs Wochen noch in Deutschland aufhalte, wäre für sie künftig nicht als Jude zu betrachten und könne nicht mehr mit Unterstützung im Falle einer späteren Immigration nach Israel rech-
57 Ebd., S. 31 58 A. Peck: Zu den Anfängen jüdischen Lebens nach 1945, in: A. Nachama/J. H. Schoeps (Hg.): Aufbau nach dem Untergang, S. 233 59 Y. M. Bodemann: Gedächtnistheater, S. 32 60 E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 34 61 Ebd., S.34 f.
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nen.“62 Auch wenn sich der Ton wieder mäßigte, waren doch viele Juden weltweit der Meinung, dass die jüdischen Funktionäre in Deutschland „angesichts der kleinen Zahl an Mitgliedern, ihrer Überalterung, ihrer finanziellen Abhängigkeit und ihrer starken Assimilation den Prozess einer natürlichen ‚Liquidation‘ nicht aufhalten (könnten)“.63 Tatsächlich schien jeder dieser Punkte für sich genommen ausreichend, diese Prophezeiung zu bestätigen. (2) Administrative, kulturelle und soziale Einrichtungen und Organisationen Ungeachtet der Anwürfe von Außen fallen in die ersten beiden Konsolidierungsjahrzehnte die Gründung jüdischer Einrichtungen: Noch in das Jahr 1949 fällt die Gründung der ‚Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung‘ als übergreifende jüdische Zeitung für alle Gemeinden Westdeutschlands. 1950 hatte sich, wie bereits in der Darstellung der ersten Phase erwähnt, der Dachverband der in Deutschland wieder existierenden jüdischen Landesverbänden und Großgemeinden begründet, der mit seiner Namensgebung die Distanz zur deutschen Staatlichkeit ausdrückte: Er bezeichnete sich nicht als Vertretung der deutschen Juden, sondern bis auf den heutigen Tag als Zentralrat der Juden in Deutschland (ZdJ). Seine Aufgaben sieht er über die rechtspolitische Vertretung der Juden in Deutschland als Dachverband hinaus in der politischen Interessenvertretung, der Bekämpfung des Antisemitismus und der Unterstützung Israels. Andere Organisationen dieser Gründungsphase waren beispielsweise die ‚Women's International Zionist Organisation‘ (WIZO), aber auch die von Juden und Nichtjuden in das Leben gerufe ne Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. „Erst 1954 erfolgte – mit der Zustimmung der Jewish Agency und Israels – die Gründung der Zionistischen Organisation Deutschlands und 1959 die der Zionistischen Jugend Deutschlands (ZJD), die in allen größeren Gemeinden Ortsgruppen etablierten.“64 1960 schließlich kam der Bundesverband Jüdischer Studenten (BJSD) hinzu. (3) Gemeinden Demographisch schien die hiesige jüdische Gemeinschaft in den ersten beiden Dekaden in ihrer Existenz bedroht: Zum einen hatten die Gemeinden eine stark überalterte Mitgliederstruktur (s. o.). Die Sterblichkeitsziffer lag siebenmal höher als die Geburtenziffer. Die Überalterung machte sich auch in der Berufsstruktur jener Jahre fest: In einer Erhebung aus dem Jahre 1959 konnte überhaupt nur ein Drittel aller Mitglieder jüdischer Gemeinden als erwerbstätig ermittelt werden65. – Ein anderes Problem stellte die hohe Zahl an für das Judentum Verlore-
62 M. Brenner: Epilog oder Neuanfang? in: O. R. Romberg/S. Urban-Fahr (Hg.): Juden in Deutschland nach 1945, S. 36 63 Ebd., S. 37 64 Ebd., S. 53 65 „[...] davon 60 Prozent selbständig. Dieses Verhältnis hat sich aber in den vergangenen 25 Jahren deutlich zugunsten der Berufstätigkeit geändert.“ E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 30. Auch dominierte, wie vor 1933, der Handel als Betätigungsfeld in der Gruppe der Selbständigen; vgl. ebd.
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nen durch Mischehen bzw. aus diesen hervorgegangenen nichtjüdischen Kinder dar. Hierfür waren vor allem der vergleichsweise sehr hohe Anteil an die Schoah überlebenden und die Gemeinden aufbauenden bzw. prägenden ‚Mischehlern‘, die winzige Größe der meisten Gemeinden und der Männer-Überschuss in der heiratsfähigen Altersgruppe verantwortlich.66 Auch die hohe Zahl von in der BRD aufgewachsenen Juden, die diese nach Israel, den USA oder Westeuropa verließen, stellte ein demographisches Problem dar. Allerdings kehrten offenbar viele der nach Israel gegangenen später wieder nach Westdeutschland zurück.67 Nach dem Einbruch der Zahlen mit 17.427 Mitgliedern 1952 stabilisierte sich die Situation in den kommenden Jahren: Die Gründe hierfür lagen neben der Rückwanderung deutscher Juden aus westlichen Ländern und Israel, weiteren Zuwanderungen aus der DDR 1953 (vgl. für Berlin Kap. II.2.1.1.) und aus Osteuropa in den 50er (Ungarn) und 60er Jahren (Polen): In den 60er Jahren umfassten die westdeutschen Gemeinden wieder zwischen 22.000 und 26.000 Mitgliedern.68 (4) Religion War Deutschland in der Zeit vor der Schoah das wichtigste Land des Reformjudentums in der weltweiten Diaspora und Berlin das Zentrum des Reformjudentums in Deutschland gewesen, besaß die jüdisch-deutsche Restgruppe eine zu schwache religiöse Bindung, um die große deutsche reformjüdische Tradition der Zeit vor 1933 zu beleben. Demgegenüber besaßen die aus Osteuropa stammenden DPs noch eine reichere, jedoch orthodoxe religiöse Tradition mit: „Sie waren es denn auch, die Gottesdienste einrichteten – welche wiederum jenen deutschen Jüdinnen und Juden, die immerhin noch sporadisch die Synagoge besucht hatten, gänzlich fremd waren.“69 Dabei hielten auch an den wenigen Orten, an denen es noch ‚größere‘ Gruppen an deutsch-jüdischen Alt-Liberalen gab, wie in Berlin und Frankfurt a. M., am Prinzip der vor dem Krieg mehrheitlich religiösliberalen Einheitsgemeinden fest, nun aber unter orthodoxen Vorzeichen. Ein weiteres Problem war der bis heute anhaltende Mangel an ausgebildeten Rabbinern und Religionslehrern. Von den bedeutenden Rabbinern der Vorkriegszeit hatten die meisten Deutschland für immer den Rücken gekehrt oder waren ermordet worden. Anfänglich stellten die westlichen Besatzungsmächte Rabbiner zur Verfügung. Diese, meist nur mit orthodoxer Ausrichtung und des Deutschen kaum mächtig, blieben aber nicht lange in Deutschland. Schließlich erwies sich in der winzigen Diaspora die voranschreitende Säkularisierung als weitaus größeres Problem gegenüber den ebenfalls davon betroffenen Millionen Mitglieder zählenden Kirchen. Burgauer zitiert zwei Studien aus den 60er Jahren. Demnach 66 Vgl. ebd., S. 99 ff. In den 50er Jahren kamen auf 100 jüdische 300 Mischehen; vgl. A. Herzig: Jüdische Geschichte in Deutschland, S. 272 67 Vgl. M. Brenner: Epilog oder Neuanfang? in: O. R. Romberg/S. Urban-Fahr (Hg.): Juden in Deutschland nach 1945, S. 44 68 Zu den Zahlen vgl. E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 356 Tab. 2 69 Ebd., S. 38; – insbesondere die strikter Trennung der Geschlechter im Gottesdienst.
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würden nur 5 % der Mitglieder die Synagogen am SCHABBAT besuchen bzw. 26 % der Jugendlichen, jedoch mit zunehmendem Alter abnehmend.70 (5) Synagogen Fast alle Synagogen waren im Zuge der Reichspogromnacht am 9. November 1938 zerstört worden. Der kleine Rest wurde durch alliierte Bombenangriffe und Zweckentfremdungen der nächsten Jahre unbrauchbar gemacht. Nach einer schon 1947 getroffenen Entscheidung eines Rabbinischen Senats durften nur dort Synagogen (und andere Gemeindeeinrichtungen) verkauft werden, wo keine Juden mehr lebten. An den übrigen Orten wurde zum Wiederaufbau ermuntert. Während in den ersten 10 Jahren nach Ende der NS-Zeit die Gottesdienste in notdürftig wieder instand gesetzten Gotteshäusern oder in von den Kommunen zur Verfügung gestellten Ausweichräumen stattfanden, setzte seit Mitte der 50er Jahre von den großen Gemeinden wie Berlin und Düsseldorf ausgehend ein bescheidener Synagogen- und Gemeindeeinrichtungs-Neubau ein. Bis 1967 wurden immerhin 40 Synagogen und Betsäle wieder aufgebaut bzw. neu errichtet.71 (6) Selbstverständnis Das jüdische Selbstverständnis der ersten Nachkriegsjahrzehnte war durch die Unterschiedlichkeit der beiden Restgruppen deutscher Juden und jüdischer DPs sowie durch ihre Außenseiterrolle und die Winzigkeit in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft der bestimmt. Es ist durchaus angebracht, das Zusammenkommen der beiden ethnischen jüdischen Hauptgruppen in der jungen BRD als eine Art Schicksalsgemeinschaft zu bezeichnen. „[...] sie lebten nach 1945 in einem gesellschaftlich tabuisierten Schutzraum – mehr in der Vergangenheit denn in der bundesdeutschen Gegenwart. Geteilte Schicksale verbanden mehr als beispielsweise religiöse Übereinstimmungen.“72 Dabei lebten die Juden der jungen BRD, zumindest in den ersten Jahren, in der Vorstellung, sog. ‚Liquidationsgemeinden‘73 anzugehören, die mit ihrem Abwandern bzw. Ableben, wie das jüdische Leben in Deutschland insgesamt, zu ihrem Ende kommen würden. Noch in den schwersten Verfolgungsjahren der Vergangenheit hatte es keine jüdische Vereinzelung gegeben. Genau diese drohte aber angesichts eines Anteils
70 Vgl. ebd. Die beiden Studien sind: die schon auf Seite 88, Anm. 32 angeführte Dissertation von H. Maòr (1961) und Walter Jacob Oppenheimer: Jüdische Jugend in Deutschland, München: Juventa 1967. Diese Befunde wurden mir für das heutige Berlin in explorativen Gesprächen mit dem damaligen Gemeindevorsitzenden A. Nachama, dem damaligen liberalen Rabbiner W. Rothschild und dem orthodoxen Rabbiner Y. Ehrenberg bestätigt. 71 Vgl. Salomon Korn: „Zur Geschichte der Synagogal-Architektur in der Nachkriegszeit“, in: A. Nachama/J. H. Schoeps (Hg.): Aufbau nach dem Untergang, S. 211 f. Anm. 4. 72 J. H. Schoeps/W. Jasper/B. Vogt: Russische Juden in Deutschland, S. 97 73 Der Begriff wird in der Fachliteratur allgemein für den Sachverhalt überalterter, vom Aussterben bedrohter Diaspora-Gemeinden verwendet.
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von gerade einmal 0,05 an der BRD-Bevölkerung, besonders in den Orten mit winzigen Gemeinden gegenüber den wenigen größeren Gemeinden wie Berlin und Frankfurt a. M.74 Besonders schwierig stellte sich die Situation für die osteuropäischen DPs und deren Nachkommen dar: Kein lebendiges Ghetto oder Schtetl konnte deren geringe gesamtgesellschaftliche Integration ausgleichen. Das jüdische Milieu beschränkte sich auf die eigene Wohnung. Eine große Zahl in der BRD lebender Juden, insbesondere aus der Gruppe der DPs, saß in den ersten Jahrzehnten mental immer noch ‚auf Koffern‘ in ihrer vagen Erwartung, früher oder später nach Israel, den USA oder in andere Länder auszuwandern.75 Dies hatte natürlich Auswirkungen auf die Kinder der Überlebendengeneration: „Eine Umfrage unter jüdischen Jugendlichen aus dem Jahr 1964 ergab, dass zwei Drittel der Befragten nicht in Deutschland geboren waren und ein Drittel andere Sprachen als deutsch mit ihren Eltern sprach. Mitte der sechziger Jahre waren Jiddisch und Polnisch noch häufige Umgangssprachen (…). Auf die Frage: ‚Wo möchtest du am liebsten wohnen?‘ antworteten 73 Prozent der Befragten: in Israel; 18 Prozent wählten die USA, aber nur 8 Prozent Deutschland.“76 (7) Entstehende Repräsentanz und ‚Außenpolitik‘ gegenüber der deutschen Gesellschaft Die Situation der Juden in der jungen BRD wurde über die vielen bereits genannten Schwierigkeiten hinaus noch dadurch erschwert, dass die wichtigsten Führungsfiguren der jüdischen Gemeinden der unmittelbaren Nachkriegsphase um 1950 emigrierten oder verstarben. Dieser Aderlass bedeutete eine empfindliche Schwächung für die kleine verbleibende Schicksalsgemeinschaft der deutschjüdischen Restgruppe und der ehemaligen DPs. Aus diesen beiden Gruppen bildeten sich ebenfalls zwei politische Flügel, die bestimmend für die Orientierung der Gemeindemitglieder in diesen und den folgenden Jahren wurden. Bodemann spricht in diesem Zusammenhang von einer „ethnischen Arbeitsteilung“: der eine, der deutsch-jüdische Flügel wurde „repräsentiert durch Karl Marx, den Herausgeber der ‚Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung‘, dessen Aufgabe es vor allem schien, jüdische Existenz in Deutschland zu rechtfertigen.“77 Er warb auf jüdischer Seite um neues Vertrauen für die Deutschen und die Bundesregierung. Seine Aufgabe sah er also im Bereich des geistigen Überbaus jüdischer Orientierung und Legitimation. Der 74 Zahl nach M. Brenner: Epilog oder Neuanfang? in: O. R. Romberg/S. Urban-Fahr (Hg.): Juden in Deutschland nach 1945, S. 42 75 Die ‚Koffer-Metapher‘ wird als Bild in der einschlägigen Literatur immer wieder zitiert. Zur gegenwärtigen, abgewandelten Verwendung des ‚Koffer-Motivs‘ unter den heute in Deutschland lebenden Juden; vgl. das Revitalisierungs-Kap. III.1.1.2., S. 190, Anm. 23. 76 Ebd.; die genannte Studie ist die bereits oben auf S. 98 in Anm. 70 genannte von W. J. Oppenheimer (1967). 77 Y. M. Bodemann: Gedächtnistheater, S. 32. Marx ist offenbar kein direkter Nachkomme seines berühmten Namensvetters.
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andere, der ostjüdische Flügel wurde vertreten „durch Hendrik George van Dam, Anwalt und langjähriger Generalsekretär des Zentralrats seit seiner Gründung 1950 bis 1966. Van Dams Aufgabe war vor allem, die Wiedergutmachung und Entschädigung mit den deutschen Stellen auszuhandeln und zu koordinieren und die einzelnen Gemeinden auf eine solide rechtliche wie finanzielle Basis zu stellen.“78 Damit repräsentierte er die institutionelle Struktur und den Wohlfahrtsapparat, also die materielle Basis der jüdischen Gemeinschaft. Mit den Spitzen aus Politik und Wirtschaft entstanden in diesen Jahren gewisse Zweckbündnisse. Während die deutschen Vertreter an weltweiter Rehabilitation interessiert waren, wofür sich ‚Vorzeigejuden‘ zu eignen schienen, ging es der jüdischen Seite um die o. g. Entschädigungen, aber auch darum, sich bei der Annäherung zwischen der BRD und Israel auf beiden Seiten als nützlich zu erweisen. Kritisch merkt Bodemann für die jüdische Seite an, dass „in diesen ruhigen und ereignisarmen Jahren eine eher gefügigere Führung [entstand], zugunsten derer autonomere Stimmen und der Pluralismus eher in den Hintergrund gedrängt wurden. [...] So entwickelten sich Stränge vertikaler Abhängigkeiten nach oben wie unten: auf der einen Seite Kultivierung guter Beziehungen zu einflussreichen Politikern seitens eines Gemeindevorsitzenden, auf der anderen Seite Verteilung dieser Ressourcen nach unten, an politische Freunde und Konformisten, als Instrument zur Disziplinierung der Mitglieder und zur Ausgrenzung innergemeindlicher Minoritäten.“79
Die ‚formierte Gesellschaft‘ der Adenauer-Ära machte auch vor der jüdischen Gemeinschaft der Bundesrepublik nicht Halt.
1.2.4. Die Phase von 1968 bis 1989/90 – Repräsentatismus versus Bewusstseinswandel (1) Unauffällige Repräsentanz Wie schon zuvor bewegten sich auch in den späten 60er und den 70er Jahren die Mitgliederzahlen der nach wie vor überalterten jüdischen Gemeinden in Westdeutschland und Westberlin konstant zwischen 23.000 und 28.000 Personen80 dank des Zuzugs einiger Tausend russischer Juden in Folge der Entspannungspolitik. Auch eine mengenmäßig schwer zu bestimmende Zahl Israelis zog seit den 70er Jahren in die BRD.81 Alle bereits in der dritten Phase beschriebenen demographischen Probleme bestanden fort oder verschärften sich. Dies bedeutete, dass 78 Ebd. 79 Ebd., S. 37 80 Ähnlich M. Brenner: Epilog oder Neuanfang? in: O. R. Romberg/S. Urban-Fahr (Hg.): Juden in Deutschland nach 1945, S. 41 81 Die Zusammensetzung dieser Gruppe, ihre Aufenthaltsmotive und ihr Aufenthaltsstatus in Westdeutschland wären eine eigene Untersuchung wert: Zum einen waren unter ihnen viele JECKES, also deutschstämmige Israelis und/oder ihre Nachkommen. Zum anderen hielten sich seit dieser Zeit verstärkt israelische Geschäftsleute in der BRD auf, da diese zu einem der wichtigsten Handelspartner Israels avancierte. Zu dem Themenbereich heute in Berlin lebender Israelis vgl. die Einzelfallstudie zum Israelischen Stammtisch Kap. IV.7.
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sich jüdische Organisationen und Aktivitäten mit einem Minimum an Personen in einer nichtjüdischen Umwelt behaupten mussten: „Trotz kleinster Zahlenverhältnisse, was Mitglieder wie auch Budgets betraf, trugen Organisationen wie der Studentenverband dazu bei, jüdisches Leben aufrecht zu erhalten und den Interessierten Inhalte vom Judentum in einer fast ausschließlich nichtjüdischen Umwelt zu geben. Ähnliches gilt selbstverständlich für eine Reihe weiterer Organisationen, angefangen von den Sportvereinen über die zionistische Organisation bis hin zu den Seniorentreffs.“82 Auch die Situation der mangelnden Identifikation mit der nichtjüdisch-deutschen Umgebung hatte sich nicht entscheidend geändert. So erklärten in einer Studie von 1977 84 % der 255 befragten Juden, kein Heimatgefühl in Deutschland zu haben, unter den Jugendlichen sogar 90 %. Schlechtes Gewissen innerhalb des Judentums auf Grund der eigenen Entscheidung für ein Leben in Deutschland überwog noch immer die Identifikation mit der hiesigen nichtjüdischen Gesellschaft und der BRD.83 1966 war Werner Nachmann zum Vorsitzenden des Direktoriums des Zentralrates gewählt worden als Nachfolger van Dams. Diesen Posten hatte er bis zu seinem Tod im Januar 1988 inne. In dessen Zeit als Vorsitzender war für den Zentralrat noch die Wachsamkeit im Bezug auf den Verlauf der NS-Kriegsverbrecherprozesse und gegenüber dem Neonazismus im Vordergrund gestanden, also ‚Auschwitz‘ die oberste Orientierungsmarke.84 Nun trat die Verständigung gegenüber den Deutschen an diese Stelle85, und eine Lobbyarbeit für Israel überlagerte die Mahnerfunktion als Schoah-Überlebende. Mit der expressiven Betonung der Loyalität gegenüber der BRD nahm nun der Zentralrat in vielen Fällen die Funktion und den äußerlichen Charakter anderer Interessenverbände an, wie beispielsweise der Vertriebenen- und Kriegsopferverbände. „Jüdische Politik in dieser Zeit – das war eher eine Art Honoratiorenpolitik. Es ging vor allem um Ehrenämter, um Repräsentation, um das Dabeisein. Visionen für die Zukunft gab es nicht, jüdische Politik beschränkte sich aufs Verwalten, aufs Zusehen. Vielleicht unter dem Motto: ‚Nur nicht auffallen.‘“86 Gleichzeitig versucht der Zentralrat „[u]nter Nachmann [...] nun seine Schwäche durch eine vorgestellte autonome Rolle in der Weltpolitik zu überspielen. [...] das Direktorium des Zentralrats (übernimmt) eine pontifizierende Autorität und lässt allgemeine moralische Urteile und breite Bewertungen der Weltpolitik verlauten.“87 Trotz dieser 82 M. Brenner: Epilog oder Neuanfang? in: O. R. Romberg/S. Urban-Fahr (Hg.): Juden in Deutschland nach 1945, S. 42 83 Vgl. ebd. S. 43 sowie Doris Kuschner: Die jüdische Minderheit in der BRD, Dissertation Universität Köln 84 Vgl. die vorausgehende, dritte Phase Kap. II.1.2.3., insbesondere S. 97 ff. 85 Vgl. Y. M. Bodemann: Gedächtnistheater, S. 38. „Nachmanns Slogan ‚Wir [Deutsche und Juden, A. J.] sollten doch einfach ganz normal miteinander leben‘ wurde oft zitiert und war bei ihm sehr beliebt“; ebd. Anm.50 (S. 192) 86 Micha Guttmann: Macht oder Ohnmacht der Nach-Schoa-Generationen: Jüdische Politik in Deutschland, in: G. B. Ginzel (Hg.): Der Anfang nach dem Ende, S. 226 87 Y. M. Bodemann: Gedächtnistheater, S. 38 f.
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Marginalität nach außen und innerjüdisch auf internationaler Ebene, ergaben sich für die hiesigen Juden einige günstige Entwicklungen: • Mit der Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition setzte in Teilen der BRD-Gesellschaft ein gewisser selbstkritischer Umgang mit der eigenen NSGeschichte ein, symbolisiert im Kniefall des Bundeskanzlers und ehemaligen Emigranten Willy Brandt vor dem Warschauer Ghetto-Mahnmal. • Die APO und die Neue Linke übernahm eine Kontrollfunktion trat aktiv neuen nazistischen Umtrieben entgegen (freilich ohne eine tiefere Auseinandersetzung mit Antisemitismus, etwa in den eigenen reihen; s. u.). • Die zuvor geschilderte Paria-Rolle der hiesigen Juden gegenüber der jüdischen Welt und insbesondere Israel schwächte sich zusehends ab. Über zionistische Organisationen und private Kontakte hinaus etablierten sich in den Gemeinden auf verschiedenen Ebenen Kontakte mit Israel und Israelis. Nun zeigte sich eine fast unmerklich gewandelte Situation des jüdischen Provisoriums in Deutschland, die auch vor der Generation der NS-Verfolgten nicht halt machte: „Wer nach drei oder vier Jahrzehnten immer noch in Deutschland lebte und von der Notwendigkeit einer Auswanderung sprach, wirkte kaum noch glaubwürdig. Langsam fanden sich in den Gemeindesälen neben den Israelfahnen und Jerusalempostern Dokumente zur lokalen jüdischen Vergangenheit und Gegenwart, wurde das deutsch-jüdische Erbe in den Mittelpunkt gestellt“, beschreibt der Historiker Michael Brenner mit autobiographischem Hintergrund anschaulich den Wandel.88 Zu dieser langsam stärker werdenden Bejahung des Bleibens in Westdeutschland passte auch, dass in der Mitte der hier dargestellten Phase 1979 die staatlich anerkannte ‚Hochschule für jüdische Studien‘ in Trägerschaft des Zentralrats in Heidelberg eröffnet werden konnte, an der seitdem jüdische und nichtjüdische Studierende gleichermaßen studieren.89 (2) Identitätssuche und Politisierung von unten Für die beiden ganz unterschiedlichen Restgruppen aus Deutsch-Juden und osteuropäischen DPs hatte das traumatische Erlebnis, Überlebende der Schoah zu sein, eine gewisse gemeinsame identitätsstiftende Wirkung besessen. Gleichzeitig neigten sie angesichts der geschilderten innerjüdischen Anwürfe gegen ihr hiesiges Leben, ihrer Schwäche und Abhängigkeit vom BRD-Establishment „zu einem lähmenden Geist der Ausgewogenheit, der weder an jüdische (bzw. israelische) noch an deutsche Tabus zu rühren wagte. Die vermeintliche Abstinenz 88 M. Brenner: Epilog oder Neuanfang? in: O. R. Romberg/S. Urban-Fahr (Hg.): Juden in Deutschland nach 1945, S. 43 89 Vgl. Emil Carlebach: „Die Hochschule für Jüdische Studien - Konzeption und Ziele“, in: A. Nachama/J. H. Schoeps (Hg.): Aufbau nach dem Untergang, S. 389-394. In den ersten 20 Jahren ging es dort um eine ausschließlich akademische und nicht rabbinische Ausbildung in der Nachfolge der vom NS-Regime zerstörten Berliner ‚Hochschule für die Wissenschaft des Judentums‘ der Vorkriegszeit; zum aktuellen Aufbau einer Rabbinerausbildung in der Heidelberger Hochschule vgl. unten Kap. II.1.4.4., S. 125.
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erwies sich praktisch als ein Bündnis mit den restaurativen Kräften der BRD.“90 Bis Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre war jedoch eine zweite Generation, die nicht mehr durch das eigene Schreckens-Erleben der Schoah, sondern vom Leben in Nachkriegsdeutschland geprägt war, nachgewachsen. Micha Guttmann resümiert vor eigenem biographischem Hintergrund die prekäre Ausgangssituation: „Besonders schwer hatte es die Nach-Schoa-Generation [...]. [...] (wir) mußten [...] uns unseren eigenen Weg in die Bundesrepublik suchen. Unsere Eltern konnten uns dabei nur beschränkt unterstützen. Es war letztlich eine sehr persönliche Entscheidung jedes einzelnen, ob er an eine Zukunft in Deutschland glaubte. – Dieser Weg führte uns über viele Stolpersteine und an Abgründen vorbei. Interessant ist dabei, dass die Identitätsdiskussion damals fast ausschließlich unter den jungen Menschen geführt wurde.“91
Überall in der westlichen Welt gingen Ende der 60er Jahre meist junge Menschen auf die Straße um für unterdrückte Minderheiten, gegen den Vietnamkrieg und internationale Ausbeutungsverhältnisse zu demonstrieren. In Westdeutschland kam noch ein weiteres hinzu: Hier wendeten sich die APO-Aktivisten gegen die zumeist aus ehemaligen Mitläufern und Tätern bestehende Elterngeneration, wie auch gegen personellen Kontinuitäten zwischen dem NS-Staat und der BRD. Für viele junge Juden gerade in APO-Hochburgen wie Berlin war die Revolte „ein Hoffnungsschimmer. Links zu sein bedeutete, oftmals unbewusst, eine säkulare Verlängerung der jüdischen Geschichte im allgemeinen und der Geschichte der Eltern im besonderen. [...] – Zum ersten Mal konnten Juden und Deutsche gemeinsam auf die Straße gehen. Ihre gesellschaftspolitischen Ziele waren identisch: Die Vergangenheit aufarbeiten, die Reste der Nazi-Zeit überwinden, [...] die Gesellschaft gerechter machen. In dieser Revolte sahen viele junge Juden die Chance, dass Deutschland bald ihre Heimat, ihr reales, aber auch ihr inneres Zuhause werden könnte.“92
Die generative jüdisch-deutsche Liaison hielt nicht lange, denn kurz nach dem Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967 schlugen die Sympathien der APO für Israel in einen auch vor antisemitischen Klischees nicht halt machenden propalästinensischen Kurs um. In diesem Antiimperalismus galt das Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht mehr für das ahistorisch als ‚Brückenkopf‘ des US-Imperialismus‘ geschmähte Israel. Zudem fiel es theoretisch geschulten Linken schwer, zwischen ‚jüdisch‘, ‚zionistisch‘ und ‚israelisch‘ zu unterscheiden! 93 90 Hanno Loewy: „Juden in der BRD – Bewältigung oder Mystifizierung“, in: LINKS, 14. Jg. Nr. 144, (März 1982), zit. nach E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 105 91 M. Guttmann: Macht oder Ohnmacht der Nach-Schoa-Generationen, in: G. B. Ginzel (Hg.): Der Anfang nach dem Ende, S. 221 f. – Guttmann wurde 1947 geboren. 92 R. C. Schneider: Wir sind da!, S. 29. Daniel-Chen-Bendit ist sicherlich der bekannte APO-Vertreter aus der zweiten Generation. 93 „Keine Linke in Europa war vor 1967 so Israel-freundlich wie die deutsche – und keine war nach 1967 so Israel-feindlich“ Ebd. – Seit einigen Jahren wird der versteckte oder offene Antisemitismus der sich antiimperialistisch bzw. antizionistisch gerierenden BRD-Linken (vor allem die ‚Palästinakomitees‘ der 70er bis 90er Jahre) auch von linker Seite z. T. selbstkritisch diskutieret, vgl. Calcül. Zeitschrift
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Auch wenn diese politische ‚Wahlverwandtschaft‘ episodisch blieb, wirkte sich die nicht mehr originär aus dem Schoah-Hintergrund resultierende generationsspezifische Politisierung junger Juden in der BRD in zweifacher Weise aus: • Zum einen fühlten sie sich von den überalterten und in den Gegenwartskontroversen strukturkonservativ agierenden jüdischen Leitungsgremien nicht repräsentiert und nahmen sie immer häufiger von ihrer Kritik nicht aus.94 • Zum anderen machte das neu gewonnene Kritik-Potential der Jüngeren auch nicht vor der bisher jüdischerseits beschwiegenen bundesdeutschen Erinnerungspolitik halt bis zu der Konsequenz, die BRD zu verlassen. 95 Bezogen auf den zweiten Aspekt stellt das Jahr 1985 den entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der jüdischen Nachkriegsgemeinschaft der Bundesrepublik dar. Das eine maßgebliche Ereignis war Helmut Kohls Besuch des SSSoldatenfriedhofs in Bitburg zusammen mit US-Präsident Ronald Reagan anlässlich des 40. Jahrestags des Kriegsendes 1985. Da trotz Protesten aus Israel, jüdischer Organisationen in den USA und des Zentralrats der Juden in Deutschland der Friedhofsbesuch nicht verhindert werden konnte, entschloss sich sogar der Zentralrat dem für den gleichen Tag geplanten Reagan-Besuch in Bergen-Belsen fern zu bleiben, ein bis dato einmaliges Ereignis! Außerdem demonstrierten Juden aus dem In- und Ausland, von den Sicherheitskräften aus dem Blickfeld der Medien gehalten, gegen den Friedhofsbesuch. Bitburg kann damit als ein Wendepunkt öffentlich-politischen Agierens von Juden im Nachkriegsdeutschland bezeichnet werden. Als Begleiterscheinung häuften sich in dieser Zeit antisemitische Ausfälle eher rechts stehender bundesdeutscher Politiker.96 Diese Ereignisse lieferten die Grundierung für das andere hier kurz geschilderte entscheidende Ereignis im deutsch-jüdischen Feld des Jahres 1985, die im Oktober in Frankfurt a. M. eskalierende Fassbinder-Kontroverse um die posthume Uraufführung dessen Theaterstück ‚Der Müll, die Stadt und der Tod‘ am Frankfurter Schauspielhaus. Der 1982 verstorbene Autor hatte zu Lebzeiten darfür Wissen und Besserwissen Nr. 6: Antisemitismus in der Linken (1999) oder diverse Ausgaben des Politmagazins KONKRET der letzten Jahre. 94 Leute wie der Zentralratsvorsitzende W. Nachmann (s. u. S. 106 f.) mussten sich von jüngeren Juden „fragen lassen, warum sie so enge Verbindungen zu ehemaligen Nazis oder deren Mitläufer(n) hatten.“ M. Guttmann: Macht oder Ohnmacht der Nach-Schoa-Generationen, in: G. B. Ginzel (Hg.): Der Anfang nach dem Ende, S. 225 – Erstmals geriet sogar auch Israel angesichts der dauerhaften Besetzung palästinensischer Gebiete, der Vertreibung deren Bevölkerung sowie der Verstrickung von Vertretern der israelischen Führung 1982 in die von christlichen Milizen verübten Massaker in palästinensischen Flüchtlingslagern in die Kritik linkszionistisch orientierter jüngerer Juden; vgl. im Empirieteil das Kap. IV.4. zur Nahostgruppe. 95 So wanderten der jüdische Publizist Henryk M. Broder (zeitweilig) und die Autorin Lea Fleischmann unter Protest nach Israel aus. Beide gehören, wie auch der französische nichtreligiöse Jude Alain Finkielkraut mit seinem Buch „Le juif imaginaire“ (1980, dt. „Der eingebildete Jude“, Frankfurt a. M.: Fischer Tb 1982), zu den Vertretern einer Identitätsliteratur der Nachgeborenen seit den späten 70er Jahren. 96 Zu Bitburg vgl. E Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 119 ff.
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auf verzichtet, seine Adaption des Shylock-Stoffs aus Shakespeares Kaufmann von Venedig aufzuführen. Auslöser hierfür war die zentrale Figur des ‚reichen Juden‘, eines Spekulanten im Frankfurter Westend, in der sich der damalige Vorsitzende der Frankfurter jüdischen Gemeinde und Immobilienhändler Ignatz Bubis unschwer dargestellt sehen konnte. Anders als noch wenige Monate zuvor in Bitburg wurde diesmal das kritisierte Ereignis durch eine jüdische von 25 meist jüdische Bühnenbesetzer, darunter der größte Teil des Gemeindevorstands, verhindert. Dies war nichts anderes als ein ‚Paradigmenwechsel‘ (R. C. Schneider): Indem sich erstmals im Nachkriegsdeutschland politisch massiv wehrten, entsprachen sie nicht länger mehr der gängigen und ritualisierten Opferrolle!97 Als Fazit kann ebenfalls mit Schneider festgehalten werden: „Es war nicht sehr gemütlich für die Juden in Deutschland, aber man war mittlerweile in diesem Land zu Hause“98, – nicht zuletzt dank der Kämpfe der Zweiten Generation. (3) Interne Legitimationskrise Das letzte öffentliche Ereignis als Wegmarkierung der Entwicklung jüdischen Lebens in Westdeutschland bis 1989/90 stellt eine Verfehlung innerhalb, genauer an der Spitze der westdeutschen jüdischen Gemeinschaft dar, der Fall Nachmann. Nachmann war 22 Jahre lang als oberster Repräsentant des Judentums in Westdeutschland von 1966 bis 1988 ZdJ-Vorsitzender gewesen und im Januar 1988 verstorben. Drei Monate später erfuhr sein Nachfolger Galinski von dessen Unterschlagungen im großen Stil. Es handelte sich zum einen um Zinserträge aus Überweisungen des Finanzamtes für einen Härtefond, welchen die Bundesregierung für noch nicht entschädigte NS-Opfer eingerichtet hatte; um Gelder des vom Nachmann ebenfalls geleiteten badischen Oberrates und schließlich um Gelder der Gemeinde Karlsruhe, dessen Vorsitzender er ebenfalls gewesen war. Insgesamt hatte Nachmann damit eine Summe von 29,4 Millionen DM unterschlagen, die er zum Großteil für die Sanierung seiner maroden Firmen verwendet hatte. Treffend bemerkt Burgauer zu den Hintergründen der Affäre, nämlich der Rolle der übrigen Akteure im deutsch-jüdischen Feld: „Zum Skandal wurde der ‚Fall Nachmann‘ vor allem deshalb, weil er deutlich machte, dass sämtliche Kontrollmechanismen – interne wie externe – versagt hatten“99. Zu den internen per97 Zur Fassbinder-Kontroverse vgl. Richard Chaim Schneider: Zwischenwelten. Ein jüdisches Leben im heutigen Deutschland, München: Knaur, 1995, S. 29 ff. 98 R. C. Schneider: Wir sind da! S. 38. – Schneider wurde 1957 in München als Sohn ungarischer Juden geboren. – Sogar der heute u. a. für den SPIEGEL schreibende Broder ließ sich, wenn auch auf Umwegen, schließlich dauerhaft wieder auf die deutschen Verhältnisse ein: Nach den Sympathiebekundungen deutscher Linker für das palästinensische Entführungskommando in Entebbe, welches jüdische Passagiere von den anderen selektiert hatte, bzw. deren Kritik an den israelischen Befreiern (‚Nazi-Methoden‘) hatte sich Broder 1981 mit einer Philippika gegen die bundesdeutsche radikale Linke nach Israel verabschiedet. Interessanterweise kehrte er nach 1985 (1990 über New York) wieder nach Deutschland zurück und zwar stillschweigend, wie R. C. Schneider mit leichter Ironie bemerkt, vgl. ebd. 99 E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 132
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sönlichen Abhängigkeiten gegenüber dem Granden einer fast familiären Diaspora-Gemeinschaft gesellte sich von außen die Vertrauensseligkeit deutscher Finanzbeamter, welche die Anwendung üblicher Kontrollstandards gegenüber der jüdischen Repräsentanz in Form der Leitung des Zentralrats offenbar als peinlich und unangemessen empfanden. H. M. Broder resümierte hierzu retrospektiv: „Hätte die Geschichte nicht jene Wendung genommen, die sie genommen hat, dann wäre er in einem jüdischen Kegel- oder Gesangverein stellvertretender Protokollführer geworden. Weil aber eine größere Anzahl von Juden aus Deutschland vertrieben, in Deutschland ermordet wurde, bekamen Leute von der Art Nachmanns die Chance ihres Lebens: aufzurücken, Positionen einzunehmen, für die sie nur zwei Voraussetzungen brauchten: Brutalität und Servilität. [...] Die Nachmanns machten Deutschland wieder koscher, indem sie als lebendiger Nachweis dafür dienten, wie gut die Juden behandelt wurden. Dafür wurden sie umworben, hofiert, mit Verdienstkreuzen behangen, zu Kanzlerfesten eingeladen und von Ministern auf Auslandsreisen mitgenommen.“100
Der Fall Nachmann hatte eine Katharsis in den überkommenen Gemeindestrukturen zur Folge. Der persönlichen Integrität dessen Nachfolger Heinz Galinski, der nach fast 40-jährigem Vorsitz der jüdischen Gemeinde zu Berlin den Vorsitz des Zentralrates übernahm, war es zu verdanken, dass in der Leitungsebene hiesiger jüdischer Repräsentanz nach innen und außen wieder Glaubwürdigkeit einkehrte.101 Galinski legte die Machenschaften seines Vorgängers rückhaltlos offen. Bilanzierend lassen sich für die Phase Ende der 60er und Ende der 80er drei Hauptergebnisse die jüdische Gemeinschaft Westdeutschlands benennen: • Ihre demographische Größe stagniert auf niedrigem Niveau. • Sie erfährt eine gewisse Politisierung durch starke Impulse aus der zweiten Generation gegenüber dem eher stagnativen vorherigen Repräsentantismus. • Finanziellen Machenschaften führen zu internen Legitimitätskrisen. Die bewegte letzte Phase jüdischen Lebens in der alten Bundesrepublik endete mit einem Ereignis, welches auf den Tag genau 51 Jahre nach der Reichspogromnacht in der Mitte des geteilten Deutschlands stattfand: dem Fall der Mauer zwischen der DDR und der BRD am 9. November 1989. Die 90er Jahre sollten tatsächlich für die jüdische Nachkriegsgemeinschaft in Deutschland die größte Herausforderung seit ihren Anfängen in den 40er Jahren mit sich bringen.
100 Henryk M. Broder: Rehabilitiert Werner Nachmann, in: A. Nachama/J. H. Schoeps (Hg.): Aufbau nach dem Untergang, S. 299. M. Brenner führt im Bezug auf Nachmann, den ZdJ und die hiesige Diaspora den treffenden Vergleich des Bürgermeisters und des Stadtrates einer ähnlich großen Provinzgemeinde (Kaufbeuren) an, die bei ähnlicher alltäglicher Aufgabenfülle, Finanzhoheit und moralischem Gewicht wie die ZdJ-Leitung ebenso überfordert wären; vgl. ders.: Epilog oder Neuanfang? in: O. R. Romberg/S. Urban-Fahr (Hg.): Juden in Deutschland nach 1945, S. 40. 101 Zu Galinskis Rolle in der Berliner Gemeinde vgl. die Kap. II.2.1.1., S. 130 f. und 2.1.2., S. 131 ff.
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1.3. Die jüdische Entwicklung der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. der DDR und in Ostberlin zwischen 1945 und 1989 Der folgende Exkurs wird weitaus stärker als die Entwicklung in Westdeutschland und ähnlich der Vorgeschichte vor 1945 thesenartig zugespitzt.102 In der SBZ und der späteren DDR nahmen das jüdische Nachkriegsleben und die Entwicklung von Anbeginn an bis zur deutschen Vereinigung 1990 einen völlig anderen Verlauf als in den westlichen Besatzungszonen und der späteren BRD.
„1933 lebten etwa zwei Drittel der deutschen Juden in den Gebieten östlich der Elbe, die – mit Ausnahme von Westberlin – nach 1945 nicht zum Territorium der Bundesrepublik gehörten.“103 In diesen Gebieten kam es in den Nachkriegsjahrzehnten fast zu einem Ende jüdischen Lebens. Wieso stellte sich die Nachkriegssituation für die den NS-Völkermord überlebenden Juden im östlichen Teil Deutschlands so anders dar und nahm einen so anderen Verlauf als der zuvor geschilderte im westlichen Teil Deutschlands? Im Folgenden wird die Entwicklung jüdischen Lebens in Ostdeutschland nachgezeichnet und dabei aus der eigenen Forschungsperspektive heraus der Schwerpunkt auf die Ostberliner Gemeinde gelegt, aber auch als mit Abstand größte und wichtigste Gemeinde der DDR.
1.3.1. Die Phase zwischen 1945 und den späten 50er Jahren In Osten bestand im Gegensatz zum Westen Deutschlands die jüdische Nachkriegsgemeinschaft fast ausschließlich aus deutschen Juden der Zeit vor der NS-Verfolgung. Eine erhebliche Anzahl der in den östlichen Teil Deutschlands Zurückkehrenden war auf Grund einer bewusst politischen Entscheidung dorthin remigriert. – In einer antizionistischen Kampagne des Ostblocks geriet auch die ostdeutsche jüdische Gemeinschaft in die Schusslinie und damit fast an ihr frühzeitiges Ende.
Entsprechend wies die hiesige jüdische Bevölkerung in der Zusammensetzung zwei bedeutsame Unterschiede zu der in den westlichen Besatzungszonen auf, die eine wie auch immer geartete ‚Erfolgsgeschichte‘ jüdischer Nachkriegsvergemeinschaftung abträglich waren: Zum einen fehlte die für den Aufbau jüdischen Lebens im Westen unentbehrliche Gruppe der osteuropäischen Juden, da es keine DP-Lager gab. Zum anderen waren die aus dem KZ oder dem Exil zurückkehrenden überwiegend politisch links von sozialdemokratisch bis kommu-
102 Diese formale Ungleichbehandlung entspringt (wie ich hoffe) keiner westlichen Arroganz, sondern erfolgt aus drei Gründen: – Die jüdische Gemeinschaft der DDR und deren Ostberliner Hauptgemeinde war gegenüber ihren westlichen Pendants nur winzig (1989 im Verhältnis ca. 1:30). – Entsprechend dieser numerischen sowie der politischen Westdominanz verlief die Vereinigung auf beiden Ebenen eher als Beitritt der Ostseite. – Außerdem wird die Spätphase der Ostberliner Gemeinde in der Einzelfallstudie zum Jüdischen Kulturverein Kap. IV.2. noch näher angeführt. 103 M. Brenner: Epilog oder Neuanfang? in: O. R. Romberg/S. Urban-Fahr (Hg.): Juden in Deutschland nach 1945, S. in: Romberg, O. R./Urban-Fahr; S.38
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nistisch) geprägt; ein großer Teil von ihnen sogar stärker links als jüdisch: Hierzu gehörten SchriftstellerInnen wie Stefan Heym, Anna Seghers und Arnold Zweig. Auch eine ganze Menge DDR-Funktionäre besaßen jüdische Wurzeln, wie Alexander Abusch, Hermann Axen, Klaus Gysi und Alfred Norden. „Bei anderen jedoch war ihre [gemeint ‚jüdische‘; A. J.] Herkunft seit jeher identitätsstiftendes Element gewesen (oder gerade durch die Verfolgung geworden). Aus diesem überwiegend dem deutschen Reformjudentum entstammenden Personenkreis setzten sich die Gründungsmitglieder der nach der Kapitulation Deutschlands in der SBZ neu entstehenden Gemeinden zusammen.“104 Kennzeichnend für das Gros der wenigen Juden in der SBZ/DDR waren • ein hoher Grad an Assimilation und Religionsferne • sowie der große Anteil nichtjüdischer Ehepartner. Die jüdische Bevölkerung der SBZ/DDR war zahlenmäßig außer in Berlin winzig: Zwischen 1945 und der Gründung der DDR belief sich ihre Zahl insgesamt auf etwa 3500 bis 4500, wo von allein 2500 zur Ostberliner Teilgemeinde der Gesamtberliner Gemeinde zählten.105 Auch in der SBZ gründeten sich wie in den Westzonen die meisten der wenigen wiedererstehenden Gemeinden schon im ersten Nachkriegsjahr oder kurz darauf. Es waren nach der offiziellen Gründung der Gesamtberliner Gemeinde am 15. Juli 1945 die Gemeinden Chemnitz (57), Dresden (176), Erfurt (227), Halle (87), und Leipzig (300).106 Ein SBZ-weiter Landesverband entstand 1946, erst 1952 der ‚Verband der jüdischen Gemeinden der DDR‘. Im gleichen Jahr wurde in Erfurt eine neue, bescheidene Synagoge als einziger jüdischer Neubau in der DDR eingeweiht. Die Juden der SBZ/DDR hatten wegen deren staatsdoktrinärem, an Kategorien des Klassenkampfes orientiertem antifaschistischem Gründungsmythos‘ große Schwierigkeiten, überhaupt als NS-Opfer anerkannt zu werden. Dieser Status sollte ihnen als rassisch und nicht politisch Verfolgte zunächst eigentlich nicht zustehen. „Als Kompromißlösung erhielten diejenigen Juden den Status des Opfers und einen entsprechenden Ausweis zuerkannt, die im KZ gewesen waren, in der Illegalität überlebt hatten oder zum Tragen des gelben Sterns gezwungen worden waren, nicht aber die sogenannten Mischlinge oder Juden, die mit nichtjüdischen Ehepartnern verheiratet waren.“107 104 E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 137 105 Vgl. Angelika Timm: Ein ambivalentes Verhältnis: Juden in der DDR und der Staat Israel, in: Moshe Zuckermann: Zwischen Politik und Kultur. Juden in der DDR, Göttingen 2002, S.18; zu den entsprechenden Mitgliederzahlen im Westen vgl. Kap. II.1.2.1., S. 89., II.1.2.2., S. 92 sowie für Gesamtberlin Kap. II.2.1.1., S. 129. 106 Vgl. E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 138 und Nora Goldenbogen: Juden in der DDR. Erwartungen – Realitäten – Wandlungen, in: G. B Ginzel (Hg.): Der Anfang nach dem Ende, S. 128 f. Zur Entwicklung der Berliner Gemeinde zwischen 1945 und 1953 vgl. Kap. II.2.1.1., S. 128 ff. 107 Mario Kessler: Die SED und die Juden zwischen Repression und Toleranz. Politische Entwicklungen bis 1967, Berlin: Akademie 1995, S. 39.
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Als starker Einschnitt der Entwicklung jüdischen Lebens in der DDR kann die 1952 einsetzende ostblockweite stalinistische antijüdische Kampagne gelten. Entfacht wurde sie in der UDSSR mit inszenierten Vorwürfen gegen jüdische Ärzte und in der CSSR mit dem Prozess gegen den Parteisekretär jüdischer Abstammung Rudolf Slansky: Der irrationale Vorwurf bestand in einer Länder übergreifenden ‚trotzkistisch-titoistisch-zionistischen Verschwörung‘, gleichsam einer ‚jüdischen Weltverschwörung‘.108 Als offizieller antizionistischer SEDKurs wurde nun Israel und der eigenen jüdischen Bevölkerung gegenüber eine dezidiert gegnerische Haltung eingenommen: „Bei fast allen Juden wurden Hausdurchsuchungen vorgenommen und die Personalausweise beschlagnahmt.“109 Die Folge der Ereignisse war zum einen ein Exodus von etwa 550 Juden aus der DDR nach Westberlin und der BRD bis Ende März 1953.110 Zum anderen zerbrach die jüdische Gemeinde Berlins im Januar 1953 endgültig. Bis dahin hatten sich die Gemeindeverwaltung fast ausschließlich im östlichen Sektor und die jüdischen Hilfsorganisationen mehrheitlich in den westlichen Sektoren der Stadt befunden. Die Ost-Gemeinde wählte nun einen provisorischen Vorstand. 1500 Gemeindemitglieder waren in der deutlich kleineren Ostgemeinde erfasst, von denen allerdings 85% älter als 50 Jahre waren. Bis zur Eröffnung des neuen jüdischen Friedhofs in der Heerstraße in Westberlin 1956 war der Friedhof in BerlinWeißensee noch die letzte bestehende Brücke zwischen beiden Gemeinden geblieben. Seit 1953 hatte die Ostberliner Gemeinde mit der riesigen wieder in Stand gesetzten Synagoge Rykestraße eine eigene Gemeindesynagoge. Die Situation der Juden in der DDR begann sich nach Stalins Tod am 5. März 1953 erst langsam wieder zu entspannen. „Im Frühjahr und Sommer 1956 wurden zahlreiche jüdische Regierungsbeamte und Künstler rehabilitiert“.111
1.3.2. Die Entwicklung Mitte der 50er bis Mitte der 70er Jahre Angesichts der vorangegangenen Ereignisse lehnten sich die wenigen Gemeindevertreter in dieser Phase eng an die Parteilinie der antizionistischen DDR an. Organisatorischen Schwierigkeiten und ein anhaltender demographischer Niedergang gingen mit der Aufrechterhaltung der Gemeindeaktivitäten einher
108 Vgl. zum DDR-Antisemitismus/Antizionismus insbesondere E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 164-201; Lothar Mertens: Davidstern unter Hammer und Zirkel. Die jüdischen Gemeinden in der SBZ/DDR und ihre Behandlung durch Pa rtei und Staa t 1945 – 1990 , Hildesheim: Georg Olms 1997, S. 317-332 und Angelika Timm/Mario Kessler/Karin Hartewig: Kap. Antisemitismus und Antizionismus, in: M. Zuckermann (Hg.): Zwischen Politik und Kultur, S. 17-65. 109 Robin Ostow: Jüdisches Leben in der DDR, Frankfurt a. M.: Jüdischer V. bei Athenäum, 1988, S. 16 110 Vgl. Ebd., S. 14 ff und Peter Kirchner: Akzeptanz oder Widerspruch? Zwischen Religion und Kultur. Porträt der Ostberliner Jüdischen Gemeinde, in: G. B. Ginzel (Hg.): Der Anfang nach dem Ende, S. 89 f. 111 R. Ostow: Jüdisches Leben in der DDR, S. 18
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Für die folgenden zwei Jahrzehnte blieben die Ostberliner wie auch die übrigen ostdeutschen Gemeinden praktisch ohne eigene Rabbiner, da eine dauerhafte Tätigkeit in der DDR für ausländische Rabbiner unter den politischen Prämissen der Ost-West-Konfrontation kaum bewältigbar erschien: Die DDR-Gemeinden mussten sich daher mit Gastrabbinern behelfen, die zu den hohen Feiertagen meistens aus Großbritannien, Kanada und den USA verpflichtet wurden. Von 1953 bis 1971 hatte sich die unter dem ersten ehrenamtlich arbeitenden Gemeindevorsitzenden (1965 bis 1971) und SED-Mitglied Heinz Schenk stehende Ostberliner ‚Groß-Gemeinde‘ von 1500 auf 450 Personen verringert.112 Die Gründe lagen primär in der extremen Überalterung (s. o.), Auswanderungen einzelner Familien nach Israel und anderer westlicher Länder. Außerdem gab es nicht wie im Westen Zuwanderer aus dem Ausland. Der Schrumpfungsprozess der Gemeinde war von großen Problemen begleitet: Die im jüdischen Ritus notwendige Mindestzahl von 10 Männern für einen Gottesdienst (MINJAN) kam in den schrumpfenden Ost-Gemeinden immer seltener zustande. Daher wurde durch eine Kultuskommission verfügt, dass als Notlösung auch Gottesdienste bei nur drei anwesenden erwachsenen Juden durchgeführt werden konnten. Das andere große Problem stellten die teilweise zum Übertritt zum Judentum interessierten EhepartnerInnen und Kinder der DDR-Juden dar. Da die meisten DDR-Juden nichtjüdische Ehepartner hatten und die Gemeinden ohnehin vom Aussterben bedroht waren, kam der Lösung dieses Problems höchste Priorität zu. Trotz alledem gelang es in Ostberlin den Schabbat-Gottesdienst in der kleinen Wochentagssynagoge der Hauptsynagoge Rykestraße über all die Jahrzehnte aufrecht zu halten. Immerhin konnten regelmäßig Gedenkveranstaltungen und fröhliche Chanukka-Bälle abgehalten und im September 1971 das 300-jährige offizielle Bestehen einer jüdischen Gemeinde in Berlin sogar mit ehemaligen Berliner Rabbinern wie auch internationalen Gästen gefeiert werden. 113
1.3.3. Veränderungen seit Anfang der 70er bis Mitte der 80er Jahre Entsprechend der großpolitischen Wetterlage war dies die Zeit kleiner Verbesserungen in der schwierigen Gesamtsituation der jüdischen Gemeinschaft der DDR
In den 70er und frühen 80er Jahren konnte die Ostberliner Gemeinde dem DDRRegime kleine Erfolge und Erleichterungen abtrotzen. Einen Bereich hiervon stellten Kontakte zu internationalen jüdischen Organisationen dar.114 Seit 1976 wurde dem Präsidenten des Verbandes der jüdischen Gemeinden der DDR Aris und als Vorsitzendem der Ostberliner Gemeinde Kirchner erlaubt, an den Sitzungen Treffen der europäischen Sektion des jüdischen Weltkongresses teilzuneh112 P. Kirchner: „Akzeptanz oder Widerspruch?“, in: G. B. Ginzel: Der Anfang nach dem Ende, S. 93 113 Ebd., S. 95 114 Vgl. hierzu ebd., S. 102 ff. Bis in die 70er Jahre hinein mussten sich die Außenkontakte der jüdischen Gemeinschaft der DDR von wenigen Ausnahmen abgesehen auf osteuropäische Gemeinden beschränkten.
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men. In der Amtszeit des jüdischstämmigen Klaus Gysi als Staatssekretär für Kirchenfragen (1979-1988), der selbst jüdischer Abstammung war115, kamen nun auch ähnliche Kontakte mit anderen internationalen jüdischen Organisationen wie der ‚Weltunion des PROGRESSIVEN Judentums‘, zustande. Außerdem durfte der liberale Rabbiner von Westberlin auch die DDR-Gemeinden betreuen. Nach Schenks Tod wurde 1972 in geheimer Wahl Peter Kirchner zum Ostberliner Gemeindevorsitzenden gewählt. Seit dieser Zeit erweiterte sich die Gemeindeangebote um Veranstaltungen, die auch für Nichtmitglieder offen waren: Vor allem DDR-Schriftsteller jüdischer Herkunft wie Jurek Becker und Günter Kunert, aber auch ausländische Schriftsteller, Wissenschaftler und westdeutsche Gemeindevertreter erhielten die Möglichkeit, zu referieren. 1977 konnte die Gemeindebibliothek eröffnet werden, die mit ihren umfassenden Beständen an Zeitschriften und anderen Publikationen auch von Nichtjuden, auch aus dem Westteil der geteilten Stadt genutzt wurde. Außerdem gelang es, den Ostberliner Magistrat für die Sanierung der mächtigen Synagoge Rykestraße sowie des Friedhofs in Weißensee (der größte jüdische Friedhof Mitteleuropas) zu verpflichten unter Verzicht einer seit über 100 Jahren durch ihn geplanten Ausfallstraße.116
1.3.4. Tauwetter und jüdische Aufbrüche in der DDR-Dämmerung In den 80er Jahren vollzog die DDR-Regierung vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten eine Kehrtwendung im der Politik gegenüber den Juden im eigenen Land. Hierdurch wie durch Aktivitäten aus den Reihen randjüdischer Personen der zweiten Generation ergaben sich erstmals neue Perspektiven.
Die DDR hoffte, über eine den in- und ausländischen Juden wohlgesonnene Politik an die ‚Meistbegünstigtenklausel‘ der USA für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu gelangen. Nun erschien bisher Ungeahntes von DDR-Seite möglich: Nach vierjährigen Verhandlungen mit dem US-State Department und dem American Jewish Committee hatte die DDR sich bereit erklärt, einen Rabbiner aus dem Westen, Isaak Neumann aus den USA, ab September 1987 in Ostberlin anzustellen, als ersten Rabbiner in Ostdeutschland seit 22 Jahren!117 Neumann verließ allerdings bereits nach einem Jahr die DDR wieder. Über die Gründe gibt es von den Beteiligten unterschiedliche Versionen.118 Einen weiteren Anlauf nach der gescheiterten ‚Rabbiner-Aktion‘ stellte die Verleihung des höchsten Zivilordens der DDR an Edgar Bronfman, den damaligen Präsidenten des ‚World Jewish Congress‘, dar. Aber auch weitere Juden, 115 Vgl. R. Ostow, Jüdisches Leben in der DDR, S. 18 116 P. Kirchner: Akzeptanz oder Widerspruch?, in: G. B. Ginzel: Der Anfang nach dem Ende, S. 106 ff. 117 R. Ostow: Jüdisches Leben in der DDR, S. 202 118 Burgauer bilanziert glaubwürdig beiderseitige Missverständnisse und Fehleinschätzungen, vgl. dies. (Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 225; vgl. auch Lothar Mertens: Die Kinder Mose im Staate Marx. Die jüdischen Gemeinden in der DDR, in: A. Nachama/J. H. Schoeps: Aufbau nach dem Untergang, S. 291 f.
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darunter Heinz Galinski, als damaliger Vorsitzender des westdeutschen (!) Zentralrates erhielten von Honecker Orden verliehen. Höhepunkt der projüdischen Tauwetterperiode war die Anschiebung zweier nebeneinander in der Oranienburger Straße im Herzen Ostberlins gelegenen Renommierobjekte durch die Staats- und Parteispitze der DDR: Im Juli 1988 wurde die Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum (CJ) zur wissenschaftlichen Begleitung des Wiederaufbaus der Synagoge und als Ausstellungsort eingerichtet. Mit der Leitung des CJ wurde der stellvertretende Vorsitzende der Ostberliner Gemeinde und DDR-Historiker Dr. Hermann Simon betraut. Wenig später wurde der Grundstein für den Wiederaufbau der Neuen Synagoge am 9. November 1988 anlässlich der 50. Wiederkehr der Reichspogromnacht mit einem von Erich Honecker persönlich angeführten öffentlichen Staatsakt gelegt.119 Sogar im Bereich des Umgangs mit Antisemitismus in der DDR veränderten sich nun die Parameter: Kirchner berichtet von zwei ähnlich gearteten Friedhofsschändungen aus den 70er und 80er Jahren: Im ersten Fall aus dem März 1977 wurden nach massiven Grabstein-Umwürfen auf dem Friedhof Weißensee sämtliche Untersuchungen wegen ‚Geringfügigkeit‘ eingestellt. Auf Nachfrage erhielt der Rechtsanwalt der Gemeinde hierfür keine genauere Erklärung. 10 Jahre später, nachdem im Februar 1988 eine Gruppe von Schülern und Lehrlingen fast 200 Grabsteine auf dem alten jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee schwer beschädigt hatte, kam jedoch es zu einem groß angelegter Prozess. Erstmals wurde öffentlich in der DDR mit vielen Presseartikeln über antisemitisches Verhalten von Jugendlichen berichtet. Diesmal belief sich das Strafmaß auf 6 Jahre!120 Außerhalb des Medieninteresses ereignete sich in dieser Phase nicht weniger Aufregendes: 1986 hatte sich jenseits der offiziellen DDR-Politik ein Kreis von Interessierten zusammengefunden, dessen Teilnehmenden größtenteils säkular aufgewachsen, aus ehemaligen Emigrantenfamilien mit jüdischer Herkunft stammten.121 Hintergrund des Treffens war die Suche nach der verschütt gegangenen eigenen jüdischen Identität der Teilnehmenden. Eine Initiatorin resümierte: „Es lag damals in der Luft, Wurzeln zu suchen.“122 Unter den Anwesenden waren auch Kinder prominenter Eltern wie etwa Gregor Gysi, Sohn des damaligen Staatssekretärs für Kirchenfragen Klaus Gysi.123 Aus dem ersten Treffen
119 In den 50er Jahren wurde die Ruine der einstmals prächtigsten Synagoge Berlins teilgesprengt, die Fassade ließ die DDR-Regierung jahrzehntelang verkommen. 120 Vgl. P. Kirchner: Akzeptanz oder Widerspruch?, in: G. B. Ginzel: Der Anfang nach dem Ende, S. 116 121 Vgl. Ebd. S. 93 f.; E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 248 ff.; Irene Runge: Ein Neuling in der Jüdischen Gemeinde (Interview von 1984), in: R. Ostow: Jüdisches Leben in der DDR, S. 75 f.; L. Mertens: Davidstern unter Hammer und Zirkel, S. 205 f. und R. C. Schneider: Wir sind da!, S. 45 f. 122 I. Runge in: ebd. S. 360 123 Zu jenem vgl. oben Kap. II.1.3.3., S. 109. – Gregor Gysi war später Vorsitzender der PDS und ist Co-Vorsitzender der u. a. aus ihr hervorgegangenen Linkspartei.
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ging schließlich im September 1987 die sich bis in die Wendezeit 1990 hinein regelmäßig treffende informelle Gruppe ‚Wir für uns‘ hervor.124 Allerdings sah sich die Ost-Gemeinde in Folge der Herausbildung der sich seit 1987 in Gemeinderäumen regelmäßig treffenden informellen Gruppe ‚Wir für uns‘ mit einer für sie ganz neuen und unabsehbaren Situation konfrontiert. Auch wenn sich nur ein Bruchteil der über 200 Mitglieder zählenden informellen Gruppe dazu entschloss, der Gemeinde beizutreten und von dieser aufgenommen wurden, bescherte die informelle Selbstfindungsgruppe der winzigen Ostberliner Gemeinde einerseits einen gewissen Mitgliederzuwachs aus ihren Reihen. Immerhin nahm diese nach jahrzehntelanger permanenter Abnahme zwischen 1987, dem Jahr ihres absolut niedrigsten Mitgliederstandes mit 177 Mitgliedern, bis 1990 auf 203 Mitglieder erstmals wieder zu.125 Möglicherweise erscheint die Bildung der Selbstfindungsgruppe ‚Wir für uns‘ nur mit Zustimmung oder sogar Wohlwollen der Partei-Oberen denkbar im historischen Kontext deren damaliger philosemitischer Phase (s. o.). Außerdem fiel die Gründung der Gruppe in eine Zeit allgemeiner Veränderungen in der europäischen Diaspora: Erstmals durften die Juden in der DDR in dieser Zeit Verwandte und nichtjüdische Überlebenshelfer aus der NS-Zeit im westlichen Ausland besuchen. Auch traten in der SU nun sich erstmals zu ihrer Herkunft bekennende Juden in der Öffentlichkeit in Erscheinung. Und schließlich hatte kurz zuvor in Westdeutschland ebenfalls ein jüdischer Selbstvergewisserungsprozess unter Nachgeborenen der Schoah eingesetzt.126 Außerdem gilt es, sich zu vergegenwärtigen, dass es sich bei den Teilnehmern der Gruppentreffen keineswegs um dissidente, sondern nach ihrem persönlichem Herkommen aus politischen Eliten der DDR um an sich staatsnahe Kreise, vielfach mit Parteibuch handelte. Dies schmälert keineswegs deren Originalität als eine der frühesten Basisinitiativen der DDR wie auch als ein ebenso selten frühes Beispiel einer solchen Initiative aus dem Umfeld der jüdischen Diaspora in Deutschland überhaupt. Auch wenn mit der Wende in der DDR und ihrem Beitritt zur BRD deren jüdische Gemeinschaft ebenfalls zu ihrem Ende kam127, haben hier entstandene jüdische Einrichtungen wie Gemeinden und das Centrum Judaicum, überdauert oder ihre Wurzeln wie der in Kap. IV.2 eingehend untersuchte Kulturverein. 124 Auf deren Rolle als Vorläufer des Jüdischen Kulturvereins in dessen Einzelfallanalyse im vierten Teil der Studie näher eingegangen wird; vgl. Kap. IV.2. 125 Zahlen nach H. Maòr: Über den Wiederaufbau jüdischer Gemeinden in Deutschland nach 1945, zit. nach E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 359 126 Vgl. die entsprechende Phase der BRD-Entwicklung in Kap. II.1.2.4., S. 101 ff. 127 Dies gilt nahezu auch auf demographischer Ebene als dramatische Abnahme der Mitgliederzahlen bis zur Wende: DDR 1990: 372 (1955:1715) Abnahme 78%; Ostberlin: 203 (1100) -82%; Chemnitz 12 (37) -18%; Dresden 52 (100) -48%; Erfurt 28 (112) -75%; Halle 6 (25) -76%; Magdeburg 35 (106) -67%; Schwerin 6 (40) -85%. Zit. nach E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 359; ähnlich L. Mertens: Davidstern unter Hammer und Zirkel, S. 156
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1.4. Der Wandel der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland seit 1990 Im Folgenden werden die wichtigsten übergreifenden Wegmarken der heutigen jüdischen Diaspora in Deutschland nachgezeichnet als Makroebene für die in Kap. II.2. aufgezeigten aktuellen Berliner Entwicklungen. 1.4.1. Die Vereinigung der beiden jüdischen Gemeinschaften im Zuge des Beitritts der DDR zur BRD sowie der Beginn der osteuropäischen Zuwanderung Auch die Fusion der in der BRD lebenden Juden mit denen in der DDR nahm stellenweise den für den deutschen Vereinigungsprozess charakteristischen Verlauf einer Übernahme der östlichen durch die westliche Seite an. Dies galt umso mehr, als sich die o. g. reservierte Haltung der Westgemeinden gegenüber den DDR-Gemeinden nach der Wende teilweise in einem pauschalen ‚Stasi-Verdacht‘ gegenüber deren Leitungsgremien fortsetzte. Bei den Gesprächen Galinskis mit der ‚Noch‘-DDR-Regierung im Mai 1990 über ‚Wiedergutmachung‘ und Rückerstattungen wurde der DDR-Verband mit keinem Wort erwähnt. Bereits in der AJW vom 28. Juni 1990 wurde die Vereinigung beider Dachorgane verkündet, ohne dass es zu einer sinnvollen Satzungsänderung des Zentralrates für die Neugliederung der Landesverbände (LVs) auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gekommen wäre.128 Nach der Auflösung des DDR-Verbandes im September traten die beiden neu gebildeten LVs schließlich dem ZdJ Ende 1990 bei. In Berlin, der einzigen sich nun ebenfalls nach jahrzehntelanger Teilung vereinigenden deutschen Stadt, stellte sich die Fusion der größten westdeutschen mit der 30fach kleineren, aber zugleich größten jüdischen DDR-Gemeinde, als noch schwieriger heraus. Immerhin gelang es der Ost-Gemeinde hierbei, der JGB einige infrastrukturelle Erhaltungsmaßnahmen abzuringen. Und auch die o. g. Ostberliner jüdischen Basisinitiativen konnten sich behaupten.129 Unmittelbar vor der deutschen Einigung, in den Interimsmonaten der NochDDR der Wendezeit, hatte insbesondere nach Ostberlin eine Zuwanderung von überwiegend mit Touristenvisa einwandernden Juden eingesetzt, um die sich anfänglich der dortige jüdische Kulturverein und die kleine Ostberliner Gemeinde kümmerten. Im April 1990 richtete die Volkskammer der DDR auf Betreiben des
128 Da in keinem der neuen Bundesländer die in der Satzung geforderte Zahl an Mitgliedsgemeinden erreicht wurde, mussten die Gemeinden in Sachsen und Thüringen einen gemeinsamen Landesverband bilden und die Gemeinden der übrigen drei Bundesländer einen weiteren. 129 Zum schwierigen Vereinigungsprozess der beiden Berliner Gemeinden vgl. ausführlich Kap. II.2.2.1., S. 135 ff. Außerdem gewährt die Fallstudie über den Ostberliner Jüdischen Kulturverein (JKV) Kap. IV.2. nähere Einblicke in die mentalitätsbedingten Schwierigkeiten im Fusionsprozess beider Teilgemeinden.
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‚Runden Tischs‘130 eine Bitte an alle Juden um Vergebung für in der DDR begangenes Unrecht. Und noch im Juli d. J. verabschiedete der DDR-Ministerrat eine Sonderregelung, wonach den einreisewilligen Juden aus der SU als Flüchtlingen Bleiberecht zu gewähren sei, mit der Garantie auf Unterkunft, Verpflegung und Arbeitserlaubnis. Auf dieser Grundlage reisten etwa 2650 osteuropäische Juden meist mit Touristenvisen in der Zeit bis zur deutschen Vereinigung Anfang Oktober 1990 in die DDR ein.131 Untergebracht wurden sie in leerstehenden Gebäuden insbesondere in Plattenbausiedlungen, in ‚Stasi-Heimen‘ oder NVA-Kasernen. Für die bis dato auf 630 Personen geschrumpfte jüdische Gemeinschaft der Noch-DDR stellte die Gesamtsituation aus deutscher Vereinigung und dem Zuzug Tausender Juden eine enorme Herausforderung dar. Mit dem Beitritt zur BRD am 3. Oktober 1990 hatte die DDR dem neuen Gesamtdeutschland ein ‚Abschiedsgeschenk‘ (Burgauer) mit weitreichenden Folgen hinterlassen: eine ungeahnte jüdische Migrationsbewegung, die einschneidendste Veränderung im hiesigen jüdischen Kollektiv seit den späten 40er Jahren.
1.4.2. Die Einwanderung von Juden aus Osteuropa sowie deren innerjüdische Integration Bevor auf diese aktuelle Zuwanderungsbewegung näher eingegangen wird, soll zunächst in einem Exkurs die ihr zu Grunde liegende Situation in der späten Sowjetunion aufgezeigt werden. (1) Exkurs: Juden in der Sowjetunion Die heutigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion (SU) Russland und Ukraine gehören nach den USA und Israel noch immer zu den Staaten mit den höchsten jüdischen Bevölkerungsanteilen auf der Welt.132 Die Geschichte der Juden in der SU war seit den im russischen Bürgerkrieg (1918 bis 1921) vor allem von den ‚Weißen‘ verübten Übergriffen über den von deutscher Seite begangenen Holocaust und Stalins antizionistische Verfolgungswellen bis in die Gorbatschow-Ära hinein sehr wechselhaft verlaufen. Während Juden in der bürgerlichen deutschen Gesetzgebung immer als religiöse Gemeinschaft eingestuft worden (abgesehen von den NS-‚Rassengesetzen‘), handelte es sich bei den Juden der SU nach der leninistischen Doktrin um eine Nationalität. Dies bedeutete im Unterschied zum traditionell matrilinearen jüdischen Religionsgesetz (s. u. S. 120), dass „der Vater
130 Der Jüdische Kulturverein hatte maßgeblichen Anteil am Zustandekommen der DDR-Gesetzesinitiative zur Aufnahme von Juden aus der SU; vgl. Kap. IV.2.2., S. 446. 131 Zahlen nach E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 267 132 Allein für das heutige Russland kann trotz einer Abwanderung nie gekannten Ausmaßes in den letzten eineinhalb Jahrzehnten (s. u.) noch immer von deutlich über einer halben Million jüdischen Einwohnern ausgegangen werden; vgl. Vladimir Vertlib: „Verfolgung, Anpassung, Emigration. Die Juden auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion“, in: Brigitte Ungar-Klein (Hg.): Jüdische Gemeinden in Europa. Zwischen Aufbruch und Kontinuität, Wien: Picus 2000, S. 105
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den Nationalitäten-Status an seine Kinder (‚vererbte‘), wobei die Kinder aus sogenannten Mischehen als Erwachsene wählen konnten, ob sie die Nationalität der Mutter oder die des Vaters annehmen wollten.“133 Im Bereich der religiösen Identität und Tradition fand in der 70-jährigen religionsfeindlichen Sowjetherrschaft eine drastische Verweltlichung statt. So schreibt Mertens Anfang der 90er Jahre: „Wie hoch der Prozentsatz gläubiger Juden in der Sowjetunion ist, lässt sich nicht präzise feststellen. Offizielle soziologische Untersuchungen konstatieren, daß der Anteil der Personen, die regelmäßig eine Synagoge besuchen, zwischen zwei und sieben Prozent schwankt.“134 Der religiöse Niedergang fand seine Entsprechung in einem nicht minder deutlichen Akkulturierungsprozess an ihr nichtjüdisches Umfeld. Er zeigte sich am stärksten bei den nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsenen Generationen. Ein deutliches Indiz hierfür ist die Zahl der Mischehen: „Für die RSFSR werden Mischehen für etwa neunzig Prozent aller Familien angenommen. Und selbst unter den zionistischen Aktivisten, die in den Jahren 1969 bis 1971 nach Israel emigrierten, hatte ein Drittel eine nichtjüdische Ehepartnerin.“135 Ein Hinweis der weitreichenden Akkulturation ergab sich auch das nahezu vollständige Aussterben der ehemaligen ostjüdischen ‚Nationalsprache‘ Jiddisch seit der Oktoberrevolution 1917. und dem hohen Urbanisierungsgrad. Nahezu alle Juden lebten bereits in den 50er Jahren in Städten. Außerdem zeichnete sich die jüdische Population der SU durch einen überproportionalen Anteil an der ,Intelligenz‘ und durch eine mit beiden Faktoren korrelierende niedrige Geburtenrate aus.136 Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung nahm zwischen den 50er und 80er Jahren beständig ab: von 1,1 auf 0,5 %.137 Gleichzeitig sahen sich die Juden in der SU trotz formaler Gleichstellung antisemitischen Diskriminierungen durch die Machthaber aber auch die übrige Bevölkerung ausgesetzt. Benachteiligungen konnten sich am NationalitätenPasseintrag als ‚jüdisch‘, aber auch an bestimmten Familiennamen festmachen und fanden häufig unter dem dünnen Schleier der offiziellen ideologischen Chiffre ‚Antizionismus‘ statt. Die Diskriminierungen reichten von der offenen Verfolgung unter Stalin (mit dem oft tödlichen Vorwürfen wegen ‚Kosmopolitismus‘ bzw. ‚jüdischer Nationalismus‘) bis zu der diskriminierenden Behandlung „im
133 Cilly Kugelmann: „Die Russen kommen. Der demographische Umbruch in den jüdischen Gemeinden Deutschlands, in: B. Ungar-Klein (Hg.): Jüdische Gemeinden in Europa“, S. 554. Diese von der Halacha völlig abweichende Handhabung bei der Bestimmung, wer jüdisch ist in der ehemaligen SU, führt auch heute noch zu erheblichen Problemen bei der Prüfung der Anerkennungsvoraussetzungen als sog. Kontingentflüchtling aus den GUS-Staaten in Deutschland (s. u.). 134 Lothar Mertens: Alija. Die Emigration der Juden aus der UDSSR/GUS, Bochum: Universitäts-V. 1993, S. 31 135 Ebd., S. 61 f. 136 Ebd., S. 31 137 Ebd., S. 36; in absoluten Zahlen: von 2,255 Mio. auf 1, 437 Mio.
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Berufsleben, bei der Ausbildung und im Alltag, bei Behördengängen und anderen Kontakten mit der Staatsmacht“138. Es erstaunt daher kaum, dass bereits in der Zeit der Entspannungspolitik zwischen 1971 und 1988 250.000 Juden die Sowjetunion in Richtung USA und Israel verließen. In der Dekade zwischen 1989/90 und dem Jahr 2000 waren es bereits über 700.000 die ebenfalls wieder überwiegend aus der SU und ihren Nachfolgestaaten der GUS nach Israel und in die USA gingen.139 Im Rückblick der lassen sich für diesen Exodus wie für die zeitgleich beginnende Auswanderung nach Deutschland (s. u.) drei Hauptmotive benennen: • ein Aufflammen des seit alters her in Russland und der Ukraine vorhandenen Antisemitismus mit den dortigen sozioökonomischen Verwerfungen; • eine deutliche Verschlechterung der allgemeinen wirtschaftlichen Situation • und eine Beseitigung der restriktiven Ausreisebestimmungen für Juden. (2) Zuwanderung nach Deutschland Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass seit Beginn der 90er Jahre gerade auch Deutschland mit einem Anteil von etwa 200.000 jüdischen Zuwanderern in den eineinhalb Dekaden neben Israel und den USA zu einem der beliebtesten Einwanderungsländer für Juden aus der SU bzw. den späteren GUS-Staaten geworden ist. Doch wie konnte es zu dieser erstaunlichen Zuwanderungsbewegung ins das vereinigte Deutschland – immerhin der Nachfolgestaat NS-Deutschlands – kommen? Für die osteuropäisch-jüdische Seite lassen sich auf Grundlage der in den letzten Jahren durchgeführten wissenschaftlichen Befragungen unter den jüdischen Einwanderern in Berlin und an anderen Orten Deutschlands mehrere ausschlaggebende Motive festmachen: • In die Noch-DDR konnten die Ausreisewilligen im Laufe des Jahres 1990 bis zur deutschen Vereinigung sehr schnell und problemlos einreisen (gegenüber der Einwanderung nach Israel mit Wartezeiten z. T. über einem Jahr). • Die geographische Nähe Deutschlands im Vergleich zu Israel und den USA: – nicht so große klimatische Unterschiede; – nicht so große kulturelle Unterschiede140, – im Fall eines Zuzugs nach Ostberlin bzw. in die neuen Bundesländer ein gemeinsamer Hintergrund als ehemalige Ostblockgebiete; – einfachere Möglichkeiten der Pflege familiärer, freundschaftlicher und später auch wirtschaftlicher Beziehungen in die alte Heimat.141
138 V. Vertlib: „Verfolgung, Anpassung, Emigration“, in: B. Ungar-Klein (Hg.): Jüdische Gemeinden in Europa, S. 101. – Besonders diskriminierend erwiesen sich sicherheitspolitisch bestimmte Einschränkungen der Berufswahl (Spionage!). 139 Vgl. ebd. 140 Unter den Älteren der Zuwanderer befinden sich immerhin einige, die sich wegen des von ihnen noch gesprochenen oder verstandenen Jiddisch nach der Zuwanderung mit dem Deutschen gegenüber anderen Fremdsprachen nicht so schwer taten.
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• •
In Deutschland existiert eine große politische Stabilität und innere Sicherheit gemessen an der Situation in Israel und z. T. in den USA.142 Die wirtschaftlichen Bedingungen zumindest für die Jüngeren erscheinen hierzulande ebenfalls günstig.
Tatsächlich sah sich die Bundesregierung in einer ‚Zwickmühle‘ (L. Mertens): Auf der einen Seite lehnte der mit Deutschland befreundete jüdische Staat auf offizieller Ebene weiterhin jüdisches Leben in Deutschland strikt ab und besaß auch ein direktes Interesse daran, dass möglichst viele der jüdischen Auswanderer aus der SU nach Israel gingen. Auf der anderen Seite forderten Vertreter der jüdischen Diaspora in Deutschland, allen voran der damalige ZentralratsVorsitzende H. Galinski, die Bundesregierung auf, auf Beschränkungen der Zuwanderzahlen zu verzichten143; wobei auch die hiesigen Juden auf eine werbende Haltung aus Rücksichtnahme auf Israel verzichten mussten. Zu Beginn des Jahres 1991 wurde nach Innenminister- und Ministerpräsidenten-Konferenzen eine Regelung, wie es hieß aus ‚humanitären Gründen‘, für die meistens mit Touristenvisa 1990 in die Noch-DDR eingereisten sowie für die nun und in Zukunft noch einreisenden jüdischen Zuwanderer aus Osteuropa als sog. Kontingentflüchtlingsgesetz gefunden. Diese Bestimmungen, die mit einigen restriktiven Modifikationen bis heute weiter bestehen, sehen vor, dass „alle bis zum Stichtag (zuerst 15. Februar dann auf 30. April 1991 verlängert) eingereisten [jüdischen; A. J.] Emigranten aus der UDSSR ohne ein förmliches Asylverfahren eine unbefristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erhielten. Seit dem Stichtag dür fen die Aufnahmegesuche von zuwanderungswilligen Juden nicht mehr in der Bundesrepublik gestellt werden, sondern müssen bei den fünf konsularischen Vertretungen Deutschlands in der UDSSR eingereicht werden. Die von dort weitergeleiteten Anträge werden vom Bundesverwaltungsamt in Köln bearbeitet und die Emigranten nach ei nem Verteilungsschlüssel auf alle Bundesländer verteilt. Diese weisen dann den einzelnen Kommunen gemäß der Einwohnerzahl ein Kontingent zu. Zum Schluss werden diese Adressen über die diplomatischen Vertretungen den Antragstellern übermittelt. Erst dann dürfen diese mit einer unbeschränkten Aufenthaltserlaubnis (…) einreisen.“144
141 Dieser Aspekt der jüdischen Zuwanderung aus den GUS-Staaten nach Deutschland ist bislang noch kaum wissenschaftlich erfasst worden und wird im Zuge der gegenwärtigen EU-Osterweiterung voraussichtlich noch an Bedeutung gewinnen. 142 Dies gilt insbesondere seit dem Ausbruch der zweiten Intifada im September 2000 und den Attentaten des ‚Eleven-Nine‘ 2001. 143 „So wurde beispielsweise in der ‚Allgemeinen jüdischen Wochenzeitung‘, dem [damaligen; A. J.] publizistischen Sprachrohr des Zentralrats plötzlich von ‚Zuwanderern‘ und nicht mehr von ‚Emigranten‘ gesprochen.“ L. Mertens: Alija, S. 221 144 Ebd.; vgl. hierzu und zu den weiteren Angaben u den Rechten der Zuwanderer auch E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 272 f. sowie W. Jasper/O. Glöckner: „Jüdische Einwanderer aus der GUS in Berlin“, in: Frank Gesemann (Hg.): Migration und Integration in Berlin. Wissenschaftliche Analysen und politische Perspektiven, Opladen: Leske + Budrich 2001, 386 f.
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Die jüdischen Einwanderer haben verbriefte Ansprüche auf Sozialleistungen wie Sozialhilfe, Wohnungs- und Kindergeld, Berufstätige auch auf Deutschkurse. Außerdem besitzen sie in Entsprechung zu anerkannten Asylbewerbern eine uneingeschränkte Arbeitserlaubnis. Nach sieben Jahren können sie wie andere Einwanderergruppen auch einen Antrag auf Einbürgerung stellen. Wie bereits in der Einleitung der Arbeit erwähnt, ist die Zahl der jüdischen Zuwanderer aus der SU bzw. den GUS-Staaten in den eineinhalb Dekaden seit Beginn der 90er Jahre auf über 200.000 gestiegen, wovon eine knappe Hälfte von gut 90.000 den hiesigen jüdischen Gemeinden beigetreten ist. Damit haben diese Gemeinden, deren Mitgliederzahlen jahrzehntelang bei weniger als 30.000 stagnierten, aktuell eine Anzahl von über 100.000 Mitgliedern erreicht!145 Überall in Deutschland kam hierbei zu Neugründungen bzw. es wurden Kleinstgemeinden wieder reaktiviert. Dabei überwogen im Osten Neugründungen, wo ja vor der Wende nur noch einige winzige Gemeinden existierten. Damit liegt der Anteil der Zuwanderer in den neugegründeten und ehemaligen Kleinstgemeinden häufig bei 90 bis 100 %, während große Westgemeinden wie Berlin und München ‚nur‘ eine Verdoppelung oder Verdreifachung ihrer Größe zu verzeichnen haben. Gegenwärtig gibt es zuwanderungsbedingt wieder knapp 100 Gemeinden in Deutschland mit der noch immer viel zu geringen Zahl von etwa 30 Rabbinern. Die drastischen Mitgliederzuwächse der hiesigen Gemeinden sollen mit einigen Zahlen für die Zeit zwischen 1989/1990 und 2005 illustriert werden: Berlin: 2005 ca. 12.000 (1990:6000); Frankfurt a. M. 7400 (unter 4000); Kassel 1200 (80), Leipzig 1153 (34), Rostock über 600 (–) und Wuppertal 2300 (65).146 Die osteuropäisch-jüdische Zuwanderergruppe unterscheidet sich von der klassischen Arbeitsmigration in die alte BRD der 50er bis 70er Jahre ebenso signifikant wie aktuell von derjenigen der parallel zu ihr aus den GUS-Staaten nach Deutschland einwandernden Spätaussiedler (oder oft ungenau als sog. Russlanddeutsche tituliert).147 Die jüdischen Einwanderer sehen sich mit vielerlei oftmals eng verschränkten Schwierigkeiten konfrontiert, die hier kurz angeführt werden:
145 Vgl. Heide Sobotka: „Chefsache. Tips für eine moderne Gemeindeführung – Ein Seminar des Zentralrats“, in: JA 15.12.05 146 Zahlen für Berlin: B. Rebiger: Das jüdische Berlin, S. 11 und JA 29.09.05; für Frankfurt a. M.: JA 31.01.02 und JA 29.09.05; für Kassel: JA 03.01.02 und JA 29.09.05; für Leipzig: Deutschland Funk 12.08.05; für Rostock: JA 13.01.05 sowie für Wuppertal: SZ 03.05.05. 147 Ohne auf diese andere und größere Einwanderungsgruppe aus der SU/GUS näher eingehen zu können, sei hier nur vermerkt, dass sie sich in nahezu allen demographisch relevanten Merkmalsbereichen von dem jüdischen Einwanderungskollektiv diametral unterscheidet; nur soviel: Die sog. Aussiedler kommen aus eher ländlichen und kleinstädtischen Gegenden des asiatischen Teils der ehemaligen SU, haben tendenziell niedrigere Bildungsabschlüsse sowie im landwirtschaftlichen oder handwerklichen Bereich gearbeitet; vgl. Andreas Kapphan: Russisches Gewerbe in Berlin, in: Hartmut Häußermann/Ingrid Oswald (Hg.): Zuwanderung und Stadtentwicklung, Leviathan Sonderheft 17, 1997, S. 124 u. 134.
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Ein erstes Problem, welches sich für die Neuankömmlinge bzw. für die hiesigen jüdischen Aufnahmegemeinden ergibt, stellt die Klärung der Frage ihres Status als Juden, also ihrer Zugehörigkeit zum Judentum dar. Zwar sind sie auf Grund ihrer aus SU-Zeiten stammenden Pässe der Nationalität nach ‚jüdisch‘ und haben häufig auf Grund dieser damaligen Zuordnung in ihren Herkunftsländern entsprechende Diskriminierungen erlitten. Viele von ihnen sind aber nach den auch für die jüdischen Gemeinden in Deutschland bindenden matrilinearen Gesetzen der Halacha keine Juden, da sie keine jüdische Mutter besitzen bzw. diese in einer Reihe von Fällen auf Grund fehlender Dokumente nicht nachweisen können. Der hohe Anteil an in Mischehe lebenden Juden (s. o.) verschärft dieses Problem zusätzlich. Es besteht für viele Gemeinden eine bis heute nicht gelöste Schwierigkeit, wie sie mit dieser Gruppe sich auf Grund der Einordnung durch die Sowjetbehörden und ihre persönlichen Diskriminierungserfahrungen in der SU und den GUS-Staaten (s. o.) als sich jüdisch verstehende Nichtjuden, wie auch mit nichtjüdischen Ehepartnern jüdischer Einwanderer aus Osteuropa verfahren sollen.148 Die Problemlösung etwa durch eine massenhafte Konversion zum Judentum ist dabei weitgehend auszuschließen, da der Übertritt zum Judentum kein Verfahren, sondern eine sehr aufwendige individuelle Gewissensentscheidung darstellt und daher nicht jedermanns Sache ist. Der Übertritt erfordert grundsätzlich eine intensive rabbinische Betreuung und eine abschließende Entscheidung durch ein Rabbinatsgericht (BET DIN). Eine andere Hürde der innerjüdischen Integration der Einwanderer aus den GUS-Staaten besteht in dem ‚Gießkannenprinzip‘ ihrer territorial kontingentierten landesweiten Verteilung in Deutschland: Die Bedürfnisse der Betroffenen und Gemeinden stehen dabei nicht im Vordergrund. Ein vordringliches Problem der innerjüdischen wie der gesamtgesellschaftlichen Integration stellt außerdem die oftmals prekäre soziale Situation der Einwanderer und ihrer Angehörigen dar. Schließlich leben nach aktuelleren Zahlen etwa „85 Prozent der Einwanderer aus der GUS [...] in Deutschland dauerhaft von der Sozialhilfe“.149 Stichwortartig seien als die wichtigsten Ursachen für deren schwierige soziale Situation benannt: Sprachschwierigkeiten, Probleme auf dem Wohnungsmarkt, keine Anerkennung ihrer meistens formal hohen Bildungsabschlüsse sowie in der Altersverteilung einen weit überdurchschnittlichen Anteil von Personen kurz vor dem oder im Rentenalter. Entsprechend groß sind ihre Probleme auf dem Arbeitsmarkt mit einer sogar für die Migrantengruppe extrem hohen Arbeitslosigkeit.150 Erschwert wird die Arbeitssituation der zu 90 % 148 Der ehemalige Zentralratsvorsitzende P. Spiegel ging von 30.000 von Deutschland aufgenommenen ‚jüdischen‘ Zuwanderern aus, die aus halachischer Sicht keine Juden sind; vgl. ders.: „Deutschkurse für Juden“ (Interv.), in: SPIEGEL 25.06.01. 149 P. Gessler in: JA 23.12.04 150 Diese Probleme werden durch eine Studie der Universität Dortmund belegt: Demnach sei fast die Hälfte der jüdischen Einwanderer älter als 45 Jahre. Trotz hoher
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aus Großstädten stammenden Zuwanderer mit akademischem Hintergrund durch das o. g. ‚Gießkannenprinzip‘ deren Zuteilung auf Länder und Gemeinden, in Ostdeutschland oft in strukturschwache Regionen. Die innerjüdische Integration der Einwanderer stellt für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland bis heute eine gewaltige Aufgabe dar. Schließlich handelt es sich um die Integration einer einwandernden Mehrheit in die Minderheit bereits länger in Deutschland lebender oder hier geborener Juden. Dabei bemühen sich die Gemeinden zunächst, bei der Wohnungssuche und der Jobvermittlung behilflich zu sein sowie durch das Angebot von Sprachkursen die Integration der Einwanderer sowohl ins Judentum wie in die umgebende nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft voranzutreiben. Über die sozialen Probleme und die damit verbundenen Herausforderungen für die Gemeinden hinaus sind es zwei zuwanderungsbedingte Problembereiche, die eng miteinander verschränkt in den Gemeinden gelöst oder ‚gelebt‘ werden müssen: Zum einen handelt es sich um die aus der SU/GUS mitgebrachte weitgehende Entfremdung von der jüdischen Religion und Tradition. Dieses Problem wiegt umso schwerer, da nach wie vor in den hiesigen Gemeinden in Deutschland ein Mangel an Rabbinern besteht. Nicht alle hiesigen Gemeinden können daher die notwendige rabbinische, im Idealfall dreisprachige (deutsch, russisch, hebräische religiöse Betreuung den Zuwanderern und als eigentlich noch vordringlicher deren Nachwuchs im schulfähigen Alter zukommen lassen.151 Zum anderen ergeben sich die Schwierigkeiten aus den kulturellen, sprachlichen und Mentalitätsunterschieden zwischen den Gruppen der Neu- und der Altmitglieder. Die Integration in die bereits in Deutschland lebende jüdische Minderheit kann allerdings nur dort angegangen werden und im Idealfall gelingen, wo vor der Zuwanderung bereits eine nennenswerte örtliche jüdische deutschsprachige Gemeinschaft und eine Gemeindestruktur existiert hatte. Vielerorts bestehen, wie bereits erwähnt, die Gemeinden fast ausschließlich aus osteuropäischen Einwanderern bzw. wurden durch sie überhaupt erst neu gegründet. Immer wieder ist in jüdischen Medien von russischsprachigen Parallelgemeinschaften zu den deutschsprachigen Gemeinschaften unter dem gleichen Gemeindedach die Rede. Eine dabei immer wieder kontrovers diskutierte und nur jeweils vor Ort zu klärende Frage ist diejenige, ob die weitere Benutzung der russischen Muttersprache der Einwanderer ihrer Integration ins Judentum dienlich sein kann oder zu einer Abkapselung von der übrigen jüdischen Gemeinschaft und damit letztendlich vom Judentum führt. formaler Qualifikation mit etwa 70 % akademischen Abschlüssen und Berufen liege ihre Arbeitslosenquote bei 40 % gegenüber 18 bis 20 % der allgemeinen Migranten-Arbeitslosigeit in Deutschland; Zahlen nach Jüdische Allgemeine (Redaktionsbeitrag): „Berufliche Integration jüdischer Zuwanderer mißlungen“. JA 18.07.02 151 Zu den Ursachen des bereits seit dem Neuanfang jüdischen Lebens in Deutschland nach der NS-Zeit bestehenden Rabbinermangels vgl. o. Kap. II.1.2.3., S. 96.
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1.4.3. Wandel auf der Repräsentanzebene: Personelle Veränderungen sowie im Verhältnis zur deutschen Gesellschaft und zu Israel Im Juli 1992 war Heinz Galinski, der bis dahin amtierende Vorsitzende des Zentralrats und der JGB fast 80-jährig gestorben. Als Nachfolger wurde Ignatz Bubis gewählt, der als 1927 in Breslau geborene Schoah-Überlebender seit 1983 die Gemeinde in Frankfurt a. M. geleitet hatte: Er setze die Galinskis Linie fort. Dies bedeutete insbesondere, dass unter seiner Ägide in den Leitungsgremien der hiesigen jüdischen Gemeinschaft die nach der Nachmann-Affäre begonnene interne Pluralisierung und Öffnung nach außen voranschritt. Außerdem reagierte er ähnlich schnell und konsequent wie sein Vorgänger auf ausländerfeindliche Übergriffe und antisemitische Gewalttaten. Unermüdlich diskutierte er in unzähligen öffentlichen Auftritten mit hiesigen Nichtjuden in seiner sehr offenherzigen und persönlichen Art. Dabei blieben ihm persönliche Angriffe152 und Kränkungen nicht erspart. Im Herbst 1998 nach der Rede von Martin Walser anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels war es zwischen ihm, Bubis und weiteren Diskutanten zu einer von antisemitischen Klischees nicht freien Debatte gekommen.153 Angesichts dieser Debatte wie auch anhaltender antisemitischer Vorkommnisse bekannte er in einem Interview kurz vor seinem Tod im August 1999, in seinem Bemühen um eine Normalisierung zwischen Deutschen und hier lebenden Juden „nichts, fast nichts erreicht zu haben“.154 Er wurde unter großer internationaler Beachtung in Israel beigesetzt. Bubis kann m. E. entgegen seiner Selbsteinschätzung als der Repräsentant eines jüdischerseits begonnenen jüdisch-deutschen Dialogs nach 1945 bezeichnet werden. Im Januar 2000 wurde Paul Spiegel, 1937 im westfälischen Warendorf geborener Holocaustüberlebender und Vorsitzender des jüdischen LV in NordrheinWestfalen sowie der Gemeinde in Düsseldorf zum Zentralrats-Vorsitzenden gewählt. Er setzte im ZdJ den von ihm vor seiner Wahl angekündigten kollektiven Führungsstil durch mit gleichmäßiger Verteilung der Aufgaben im sechsköpfigen Präsidium. Seine Vizepräsidenten waren zunächst die Vorsitzende der Israelischen Gemeinde München Charlotte Knobloch und das langjährige ZdJ-Mitglied Michel Friedmann aus Frankfurt a. M. Friedmanns Nachfolger als ZdJ-Vizepräsident wurde am 21. September 2003 Salomon Korn, Gemeindevorsitzender in Frankfurt nach Bubis Tod.155 Das Leitungstrio setzte den von Bubis eingeführten offenen Dialog mit der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft fort, einschließlich einer kritisch-mahnenden Haltung gegenüber fremdenfeindlichen oder anti152 Zu der Kontroverse um das Fassbinder-Stück 1985 in Frankfurt vgl. oben Kap. II.1.2.4., S. 103 f. 153 Auslöser war Walsers Vorwurf des angeblichen Missbrauchs von Auschwitz als ‚Moralkeule‘, „als Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“ in seiner Pauskirchen-Rede, zit. nach P. Spiegel: Wieder zu Hause?, S. 225. 154 Zit. nach ebd., S. 232. 155 Friedmann hatte nach einer Kokain- und Prostituierten-Affäre im Juni 2003 alle seine Ämter zur Verfügung gestellt.
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semitischen Tendenzen. Erstmals wurde nun von einem dauerhaften Bleiben und einer Wiederbelebung hiesigen jüdischen Lebens von Repräsentantenseite gesprochen.156 Spiegel amtierte bis zu seinem Tod Ende April 2006. Mit Charlotte Knobloch – als erste Frau – folgte ihm Anfang Juni 2006 nochmals und offensichtlich letztmalig eine Shoah-Überlebende als ZdJ-Vorsitzende nach. In Spiegels Amtszeit fällt eine vom jüdischen Staat ausgehende Wende in den beiderseitigen Beziehungen zwischen der hiesigen Diaspora und Israel. Noch der israelische Staatspräsident Ezer Weizman hatte anlässlich seines Deutschlandbesuchs im Januar 1996 und bei der Beerdigung von Ignaz Bubis im August 1999 in Israel keinerlei Verständnis für ein dauerhaftes jüdisches Diasporaleben überhaupt und insbesondere in Deutschland erkennen lassen: „Der einzige Ort, an dem ein Jude Jude sein kann, ist in Israel“.157 Unter seinem Nachfolger Moshe Katzav wurde erstmals die Benennung der israelische Staatsdoktrin mit einer ausdrücklichen Anerkennung der hiesigen Diaspora verbunden: „Ich möchte ihr Leben in Deutschland nicht in Frage stellen, aber ihre Heimat ist in Israel.“158 Er ging sogar noch weiter und setzte mit seiner gemeinsam mit dem ZdJ-Vorsitzenden P. Spiegel, dem damaligen Bundespräsidenten J. Rau und der örtlichen jüdischen Gemeinde begangenen Einweihung der neuen Synagoge in Wuppertal ein Zeichen von großer symbolischer Bedeutung für die gewandelte israelische Position: An exponierter Stelle seiner dortigen Rede drückte P. Spiegel die große Genugtuung der hiesigen Juden für die neue Haltung Israels aus: „Daß der Staatspräsident Israels heute mit uns feiert, ist eine Bestätigung dafür, dass wir als jüdische Gemeinschaft in Deutschland inzwischen endlich auch in Israel respektiert und akzeptiert werden.“159 Die vielleicht bedeutendste Entwicklung, an der der ZdJ unter Spiegel maßgeblichen Einfluss hatte, stellt der zwischen ihm und der Bundesregierung am 27. Januar 2003, dem Gedenktag für den Holocaust und die Befreiung von Auschwitz, unterzeichnete Staatsvertrag dar. Er stellt die Zuwendungen des Staates an die jüdischen Gemeinden in Deutschland auf eine dauerhafte Grundlage. Dadurch werden die jüdischen Einrichtungen sowie soziale und kulturelle Aktivitäten in Zukunft aus Bundesmitteln mit drei Millionen Euro (statt bisher einer) gefördert. Hierbei sollen nach Vertragstext die Gelder möglichst allen jüdischen Strömungen in Deutschland zu Gute kommen.160 156 Vgl. Revitalisierungs-Kap. III.1.1.2., S. 190, Anm. 23 sowie III.1.1.7, S. 202 ff. 157 Zit. nach Judit Hart: „Bilder eines Besuches. Israels Staatspräsident Katzav kam nach Deutschland“, in: JA 19.12.02. 158 Ders. zit. nach ebd. 159 Paul Spiegel: „‚Ein Haus der Hoffnung‘: Paul Spiegel bei der Einweihung der Wuppertaler Synagoge“, in: JA 19.12.03 M. Katzavs zweiter Deutschlandbesuch Mai/Juni 2005 war nur noch eine Bestätigung der zuvor eingeschlagenen Linie. 160 Vgl. Bundesregierung/Zentralrat der Juden in Deutschland: „‚Im Bewusstsein der Verantwortung‘. Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland im Wortlaut“, in: JA 30.01.03. Auf die sich aus dem Vertrag ergebenden innerjüdischen Kontroversen über die adäquate Ver-
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1.4.4. Die aktuelle religiöse Pluralisierung „Ein Jude wird nach vielen Jahren auf einer einsamen Insel von einem vorbeikommenden Schiff entdeckt. Er zeigt seinen Rettern stolz, wie gut er sich eingerichtet hatte. ‚Beeindruckend‘ sagen die Seeleute, ‚aber warum haben Sie für sich allein zwei Synagogen gebaut?‘ ‚Nun, in der einen bete ich, und in die andere würde ich niemals einen Fuß setzen‘.“ nach Richard Herzinger161
Von nicht minder tiefgreifender Bedeutung für die jüdische Gemeinschaft in den letzten Jahren in Deutschland wie der o. g. Zuzug von Juden aus der ehemaligen SU ist die Genese einer neuerlichen religiösen Vielfalt, – erstmals nach der NSZeit. In seiner Jahrtausende währenden Geschichte hatte das Judentum eine Vielzahl unterschiedlicher Richtungen und Strömungen entwickelt (ohne eine echte Spaltung). Gerade in Deutschland hatte sich in dem Jahrhundert zwischen der jüdischen Emanzipation und der NS-Zeit schon einmal eine große innerjüdische religiöse Vielfalt herausgebildet. Hier lag die Wiege des modernen liberalen wie auch des neoorthodoxen Judentums.162 Von dieser Vielfalt war hierzulande nach 1945 kaum mehr etwas übrig geblieben. Wie geschildert, dominierten die in der Nachkriegszeit in Deutschland verbleibende Restgruppe der in Osteuropa noch vor der Schoah stärker religiös geprägten DPs mit ihrem jüdisch-orthodoxem Ritus das religiöse Leben der winzigen hiesigen Not- und Schicksalsgemeinschaft über Jahrzehnte.163 Jedoch hatten sich bis in die frühen 90er Jahre auch in religiöser Hinsicht die Parameter verschoben. Immer mehr ergab sich ein Widerspruch zwischen säkularem Alltag und religiöser Tradition: • Das Gros der hiesigen Gemeindemitglieder, die Zuwanderer aus der SU, stammt zwar aus einstmals religiös durch die jüdische Orthodoxie geprägten Gebieten. Allerdings hatten sie im dortigen Real- und Post-Sozialismus mehrheitlich keine religiösen Erfahrungen mehr (s. o. Kap. II.1.4.2.). • Die Mehrheit des übrigen Viertels bereits vor 1990 in Deutschland ansässiger Juden lebt, ob mit osteuropäisch-orthodoxen oder deutsch-jüdischen familiären Hintergrund, ebenfalls weitgehend weltlich. „Ein besonders problematischer Punkt ist die bisherige Rolle von Frauen in den orthodox geführten Einheitsgemeinden, die der gesellschaftlichen Situation außerhalb des Judentums eklatant widerspricht. Der Alltag vieler Juden ist nicht orthodox geprägt, die Gemeinden spiegeln eine pseudo-orthodoxe Fiktion teilung von Mitteln an die unterschiedlichen religiösen jüdischen Gruppen in Deutschland wird im folgenden Kap. II.1.4.4. näher eingegangen. 161 Richard Herzinger: „Heilige Vielfalt. Liberale Juden stellen das Monopol des Zentralrats in Frage“, in: ZEIT vom 23.01.03 162 Vgl. oben Kap. II.1.1.1., S. 80 f. 163 Vgl. oben Kap. II.1.2.3., S. 97 f. – Berlin bildete hierbei eine im folgenden HauptKap. II.2. näher beleuchtete Ausnahme mit orthodoxen und liberalen Rabbinern.
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wider.“164 In dieser Situation begann eine bis heute vor allem aus der zweiten und dritten Generation getragene jüdische Identitätssuche, die zunächst an größeren Gemeindestandorten in reformjüdische Aktivitäten mündete. So hatte sich bereits 1990 zunächst die Münchner liberale Gemeinde ‚Beth Schalom‘ formiert. In den Anfängen noch von jungen US-amerikanischen Familien getragen, ersetzte sie ihre Gemeindesprache Englisch jedoch bald auf Grund des regen Interesses hiesiger, meist jüngerer Juden, durch Deutsch.165 In den folgenden Jahren gründeten sich an zahlreichen Orten vor allem im Westen liberale Initiativen. Aus orthodox dominierten Gemeinden kam es nach zum Teil heftigen Kontroversen zu Abspaltungen meist noch kleiner reformjüdischer Betkreise (etwa in Hamburg, Köln und Hannover). Zur Bildung progressiver Betgemeinschaften im Rahmen bereits bestehender Einheitsgemeinden kam es bisher nur in den beiden Zentren Berlin und Frankfurt a. M., wo mehrere Synagogen zur Verfügung stehen und sich insbesondere in Berlin noch Reste der in die Vor-NS-Zeit zurückreichenden gemeindeinternen jüdischen Glaubensvielfalt bewahrten.166 In kleineren Orten, vor allem in Niedersachen und Schleswig Holstein, kam es zu progressiven Neugründungen von Gemeinden. 1998 gründeten sieben liberale Gemeinden in Niedersachen einen eigenen Landesverband, im Unterschied zu dem bisherigen gemischtreligiösen LV außerhalb der ZentralratsVertretung. Mittlerweile gibt es ca. 15 progressive Gemeinden, die gegenüber den über 80 übrigen Gemeinden zwar noch relativ wenige Mitglieder haben (3500 zu knapp 100.000)167, dennoch stetig wachsen und sehr aktiv sind. Ein Ende der Gemeindeneugründungen ist ebenfalls nicht abzusehen. Im Juni 1997 wurde nach zweijähriger Vorarbeit in München die ‚Union progressiver Juden in Deutschland, Österreich und der Schweiz‘ (UPJ) gegründet. Noch im gleichen Jahr tagte am gleichen Ort die europäische Sektion der ‚Weltunion für progressives Judentum‘, erstmals seit 1928 wieder in Deutschland.168 Die Örtlichkeit hatte mehr als eine symbolische Bedeutung: Progressives Judentum ist wieder an seinen Ursprungsort nach Deutschland zurückgekehrt. Schließlich wurde in einem feierlichen Akt im November 2000 in Potsdam das auf Initiative der progressiven Union eingerichtete Abraham-Geiger-Kolleg für eine liberale Rabbinerausbildung eröffnet. Das mit Bundesmitteln geförderte Kolleg ist der Universität Potsdam mit deren Moses-Mendelssohn-Zentrum angegliedert. 164 W. Homolka/G. S. Rosenthal: Das Judentum hat viele Gesichter, S. 73 165 Vgl. ebd., S. 113 ff. 166 Zur spezifischen Situation der innerjüdisch-religiösen Strömungen in Berlin vgl. näher die Kap. II.2.2.3., S. 141 ff. und II.2.3.1., S. 152 ff. 167 Zu den genannten progressiven Gemeinde- und Mitgliederzahlen vgl. Christian Höller: „Eine Synagoge für Or Chadasch. Österreich: Die liberale Gemeinde in Wien hat jetzt ein eigenes Gotteshaus“, in: JA 04.03.04 168 Zu beiden Ereignissen vgl. W. Homolka/G. S. Rosenthal: Das Judentum hat viele Gesichter, S. 73 ff. sowie Heinz-Peter Katlewski: Judentum im Aufbruch. Von der neuen Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Berlin, Jüdische V.-anstalt, 2002, 123
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Aber auch außerhalb der UPJ und ihrer Mitgliedsgemeinden erhielt das hiesige Reformjudentum in der letzten Dekade starke Impulse. Im August 1995 erfolgte in Oldenburg mit der aus der Schweiz stammenden Bea Wyler, deren religiöse Ausrichtung im reformjüdischen Sinne konservativ ist, die erste Berufung einer Frau zum Gemeinderabbiner seit 1945 in Deutschland.169 Die Oldenburger Gemeinde ist im progressiven Landesverband (s. o.) und damit unter dem Dach des Zentralrats organisiert. Im März 2003 erfolgte die zweite Berufung einer Frau zum Gemeinderabbiner in einer hiesigen Einheitsgemeinde mit der ebenfalls religiös konservativen Rabbinerin Gesa S. Ederberg im oberpfälzischen Weiden (Bayern). Gegenüber ihrer o. g. reformjüdischen Kollegin B. Wyler stellt sie noch in einer weiteren Hinsicht ein Novum dar: Sie ist Konvertitin!170 Nahezu zeitgleich zur Gründung liberalen A.-Geiger-Kollegs änderte die unter dem Dach des ZdJ angesiedelte Heidelberger Hochschule für jüdische Studien (vgl. Kap. II.1.2.4.), nicht unbenommen von dieser Neugründung und angesichts des hiesigen Rabbinermangels ihre Statuten: Seit dem Wintersemester 2001/02 ist dort neben dem bereits bisher an der Hochschule angebotenen Magisterstudiengang ‚Jüdische Studien‘ sowie einem Studiengang für Religionslehrer erstmals seit 1941 in Deutschland wieder an einer jüdischen Hochschule eine Rabbinerausbildung möglich und zwar gleichermaßen für liberale, konservative und orthodoxe Strömungen, für Männer wie für Frauen.171 Einher gingen diese reformjüdischen Erfolge mit einem jahrelangen Konflikt: • um die Einheit der hiesigen Diaspora (aus Sicht des Zentralrats) • um Anerkennung und Gleichberechtigung (aus Progressiven-Sicht). Zwischen Ende 1997 und Mitte 2002 kommt es in mehreren Schüben zu einer verschärften Auseinandersetzung zwischen den der Tendenz nach eher strukturkonservativen Repräsentanten des Zentralrats und der Landesverbände sowie der neugegründeten deutschen Sektion progressiver Union. Zunächst sah der orthodox und altliberal dominierte ZdJ in der mächtigen weltweiten UPJ den von Außen agierenden ‚Spaltpilz‘ der hiesigen jüdischen Gemeinschaft. Während die hiesigen Progressiven angesichts ihrer Ausgrenzung aus den zur Steuererhebung berechtigten Gemeindestrukturen sich von der ‚Progressiven-Union‘ Aufbauhilfe erhofften. Zwischen Mitte 2002 und Mitte 2003 deutet sich erstmals eine vorsichtige Entspannung zwischen Zentralrat und Union an. Ende Juni 2002 nimmt 169 B. Wyler rechnet sich der weltweiten konservativen Masorti-Bewegung zu, vgl. dies.: „Erfahrungen als erste Frau im rabbinischen Amt nach der Schoa in Deutschland“, in: www.bet-debora.de (13.05.99). 170 Die ehemalige Protestantin Ederberg hatte zunächst in Tübingen Evangelische Theologie und Judaistik studiert, konvertierte zum Judentum und studierte anschließend vier Jahre am konservativen ‚Schechter Institute Of Jewish Studies‘ in Israel, bevor sie dort im Dezember 2002 zur Rabbinerin ordiniert wurde. Vgl. Detlef D. Kauschke: „Alternatives Angebot“, in: JA 24.10.02. und Martin Hladik: „Eine Frau an der Bima“, in: JA 10.04.03. Zu dem von ihr aufgebauten und bis heute geleiteten Masorti-Büro in Berlin vgl. Kap. II.2.3.1., S. 153 f. 171 Vgl. Peter Wiest: „Renaissance des Judentums ‚ein Wunder‘“, in: RNZ 11.05.01.
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mit Nathan Kalmanowicz, dem Kultusbeauftragten des ZdJ, zum ersten Mal ein offizieller Vertreter des ZdJ an einer Jahrestagung der progressiven UPJ teil. Trotzdem bleibt die Union beim Staatsvertrag zwischen ZdJ und Bundesregierung (s. o.) und damit auch bei der Vergabe von Fördergeldern noch außen vor. Schließlich erfolgte im Frühjahr 2004 eine Einigung, die eine mittelfristige Integration der Unions-Gemeinden in die etablierten Strukturen des gesamtjüdischen Dachverbandes vorsieht. Damit ist die Perspektive einer späteren Vereinbarung dieser Gemeinden mit den zuständigen Kultusministerien der Bundesländer über die Verleihung des Körperschaftsrechts verbunden.172 Für die Zwischenzeit wurde der Union und den unter ihrem Dach befindlichen progressiven Gemeinden vom Zentralrat zugesichert, bei ihm Fördergelder beantragen zu können.173 Offenbar hatten beide Seiten erkannt, dass es keine Alternative zu einer die weitere Existenz einer jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ermöglichenden innerjüdischen Einigung geben könne. Schließlich wurde im Herbst 2004 die Reorganisation der bisher orthodox dominierten Deutschen Rabbinerkonferenz auf den Weg gebracht.174 Sie nennt sich seit ihrer Neugründung am 31. März 2005 Rabbinatskomitee Deutschland und setzt sich nun paritätisch aus jeweils drei orthodoxen sowie reformjüdischen Rabbinern (konservativ, altliberal, progressiv) der dem Zentralrat angehörenden Gemeinden/Landesverbänden zusammen. Ein Sprecher sowie ein Stellvertreter werden im jährlichen Turnuswechsel mit jeweils einem Vertreter beider Seiten besetzt. Erklärungen müssen von beiden unterschrieben werden. Beide Flügel bildeten zwischen Dezember 2004 und Februar 2005 wiederum als autonome Gremien des Komitees eine Orthodoxe Rabbinerkonferenz (ORD) und einen orthodoxen Bet Din (OBD) sowie eine Allgemeine Rabbinerkonferenz (ARD) und einen allgemeinen Bet Din (ABD). Erster Vorsitzender des Rabbinatskomitees ist mit dessen Konstituierung der Vorsitzende der reformjüdischen Gremien, der Augsburger Rabbiner Henry G. Brand, sein Stellvertreter und Vorsitzender der orthodoxen Gremien der Kölner Rabbiner Netanel Teitelbaum. Damit ist die äußere Konsolidierung der jüdischen Gemeinschaft Deutschlands nach 1990 abgeschlossen. Im Folgenden geht es um die Entwicklung jüdischen Lebens in Berlin und der dortigen Gemeinde seit dem Neuanfang nach 1945. Die hier bis hierher nachgezeichneten deutschlandweiten Prozesse bieten hierfür die Hintergrundsfolie.
172 Erst der Status ‚Körperschaft öffentlichen Rechts‘ würde ihnen das Recht eröffnen Gemeindesteuern zu erheben, welches die übrigen Gemeinden seit jeher besitzen. 173 Vgl. Volker Hasenauer: „Schritt für Schritt“, JA 22.07.04. – Die Vereinbarung schließt auch eine Förderung des liberalen Potsdamer Abraham-Geiger-Kollegs zur Ausbildung männlicher und weiblicher Rabbiner durch den Zentralrat u. a. durch die Übernahme dreier Stipendien mit ein. 174 Zu den Informationen des Absatzes vgl. JA (Redaktionsbeitrag): „Die zweite Stimme“, in: JA 10.03.05 sowie Heide Sobotka: „Mit einer Stimme.“, in: JA 07.04.05.
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2 . D i e E n t w i c k lu n g d e r jü d i s c h e n G e m e in s c h a f t i n B e r l in s e it 1 9 4 5 „Das Jüdische Berlin. Offenbar geht von ihm eine nur schwer zu beschreibende Faszination aus. Hier mischt sich die Erinnerung an das, was war, mit dem, was wieder sein könnte.“ Günther B. Ginzel175
Jüdisches Leben in Berlin nimmt seit annähernd 200 Jahren in vielfacher Hinsicht eine besondere Stellung in der jüdischen Diaspora Deutschlands ein. Dies wird im Folgenden für die Zeit bis 1945 knapp umrissen, bevor in vier Durchgängen die Entwicklung von 1945 bis 1990 im westlichen Nachkriegsberlin (Kap. II.2.1.) sowie die aktuellen Prozesse nach 1990 auf Gemeindeebene (Kap. II.2.2.) im Bereich außerhalb der JGB (Kap. II.2.3.) sowie für das deutschjüdische Feld (Kap. II.2.4.) nachgezeichnet wird. Schließlich werden die wichtigsten Entwicklungslinien im jüdischen Berlin als Ausgangspunkt meiner eigenen Untersuchung kurz zusammengefasst (Kap. II.2.5.). Dieser große Raum, den die nicht im Zentrum stehende JGB hier einnimmt, folgt dem Faktum, dass jüdisches Leben hierzulande bis vor kurzem fast durchgängig Gemeindeleben war. Das jüdische Leben Deutschlands fand in Berlin in der vergleichsweise kurzen Zeit zwischen dem ersten Drittel des 19. und dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in religiöser, kultureller und nicht zuletzt in quantitativer Hinsicht sein herausragendes Zentrum. Nirgends sonst entwickelten sich so starke Impulse für die wichtigsten sowie völlig gegensätzlichen innerjüdischer Strömungen – jüdische Aufklärung, Reformjudentum, Neoorthodoxie und Zionismus – wie in der Metropole.176 Hier prallten osteuropäische jüdische Mentalitäten mit westlichen Lebensweisen eines sich betont ‚deutsch‘ verstehenden Judentums aufeinander bzw. grenzten sich voneinander ab. In dem ‚sozialen Laboratorium‘ Berlin, das seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer der größten damaligen Städte der Erde heranwuchs, waren aber auch unzählige Juden und Jüdischstämmige außerjüdisch in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen aktiv, oft mit innovativen Ideen und Entwicklungen, insbesondere in Kultur, Politik und Wissenschaft. Auch wenn von alledem Dank der NS-Verfolgung nahezu nichts übrig blieb, ist es bemerkenswert, dass sich sogar trotz europaweiter Vertreibung, Deportation und Vernichtung ausgerechnet in der Hauptstadt des III. Reichs winzige Residuen jüdischer Existenz behaupten konnten. Neben der relativ hohen Zahl an in ‚legal‘ überlebenden ‚Mischehlern‘177 bestand eine weitere Besonderheit darin,
175 Ders.: „Mittenmang und Zwischendrin. Juden in Berlin“ (Dokumentarfilm), Westdeutscher Rundfunk 2000, eigene Abschrift (A. J.) ŗŝŜ Nahezu alle im Kap. II.1.1.1. geschilderten jüdischen Entwicklungen für die Zeit zwischen der napoleonischen Ära und dem NS fokussierten sich in Berlin. 177 Die relativ hohe Zahl an legal als sog. ,Mischehler‘ oder illegal als sog. ‚U-Boote‘ den NS in Berlin überlebenden Juden verdeutlicht die überdurchschnittlich große
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dass hier mit den Resten der von den Nazis zwangsweise ins Leben gerufenen und 1943 aufgelösten ‚Reichsvereinigung der Juden in Deutschland‘ eine winzige jüdische Restpräsenz bis zum Ende der NS-Herrschaft aufrecht erhalten werden konnte: Sie erstreckte sich auf das Jüdische Krankenhaus mit ca. 800 größtenteils in Mischehen lebenden Insassen sowie auf den Jüdischen Friedhof Weißensee. Tief im Inneren des riesigen Friedhofareals fanden neben den gestatteten Beerdigungen insgeheim rituelle Feiern bis Kriegsende durch einen kleinen Kreis um den späteren Ostberliner Gemeinderabbiner Riesenburger statt178
2.1. Der Wandel nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Mauerfall 2.1.1. Das Wiedererstehen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg Bereits drei Tage nach Kriegsende wurden am 11. Mai 1945 auf dem Friedhof in Weißensee und in der Synagoge des jüdischen Krankenhauses in Wedding die ersten beiden jüdischen Gottesdienste nach Kriegsende in Berlin abgehalten. Wenige Wochen nach der Befreiung durch die Russen lebten von ehemals annähernd 200.000 Berliner Juden gerade noch etwa 7000 in der Stadt, „von denen rund 1500 aus dem KZ kamen, 1250 sich jahrelang vor der Gestapo versteckt hielten und ca. 4250, die von der Deportation auf Grund ihrer ‚arischen‘ Verheiratung zunächst verschont blieben. Von diesen 4250 mußten 2250 den Judenstern tragen, während die restlichen [2000, A. J.] hierzu nicht gezwungen waren, weil christliche Kinder aus ihrer Ehe hervorgegangen waren.“179 Die KZInsassen „kamen größtenteils aus Theresienstadt […]. Viele von ihnen waren Kriegsveteranen des Ersten Weltkriegs, manche versehrt, zahlreiche mit Orden dekoriert und fast alle eingefleischte deutsche Patrioten.“180 Sofort nach Kriegsende hatten sich die Reste der o. g. ‚Reichsvereinigung‘ unter bedenkenlosem Beibehalten der NS-Namensgebung bemüht, von den sowjetischen Besatzungsmächten als legitime Nachfolge der von den Nazis verbotenen ‚Jüdischen Gemeinde zu Berlin‘ (JGB) anerkannt zu werden. Neben dem jüdischen Krankenhaus in der Iraner Straße stellten sie notdürftig die Synagoge Rykestraße im Bezirk Prenzlauer Berg wieder her, wo Riesenburger begann, Gottesdienste abzuhalten. Gleichzeitig hatten sich auf Stadtbezirksebene drei weiterte Gemeindeinitiativen, die Jüdische Gemeinde Berlin-Nordwest, die Jüdi-
Zahl verwandtschaftlicher und freundschaftlicher Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden in der damaligen Reichshauptstadt. vgl. u. Kap. II.2.1.1., S. 128. 178 Ihnen gelang es außerdem mehrere Hundert Thora-Rollen, wertvolle Bücher, selbst Harmonien und Orgeln in Verstecken vor der Vernichtung zu retten; vgl. E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S.146. 179 Das Zitat entstammt einem Brief des Gemeindevorstandes an die sowjetische Kommandantur vom Dezember 1945; zit. nach A. Nachama: „Ost und West. Die jüdische Gemeinde in Berlin von 1945 bis 1988“, in: O. R. Romberg/S. UrbanFahr (Hg.) Juden in Deutschland nach 1945. Bürger oder ‚Mit‘-Bürger?, S. 99. 180 E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S.17
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sche Gemeinde zu Berlin in Charlottenburg, und die Jüdische Gemeinde Berlin im Bezirk Stadtmitte. gebildet, Sie waren teils auf Grund kriegsbedingter Verkehrsprobleme, teils aus der Vorwurfshaltung gegenüber der o. g. Reichsvereinigungs-Gruppe wegen deren Kollaboration mit den Nazis entstanden. Nach gescheiteten Vereinigungsversuchen der vier Initiativen konnte sich diejenige im Bezirk Mitte langsam als Zentrum durchsetzen, nachdem die sowjetische Besatzungsmacht die Rechtsnachfolge der Reichsvereinigung abgelehnt hatte und deren Vorsitzenden Dr. W. Lustig als angeblichen Kollaborateur verhaftete.181 Am 12. Oktober 1945 wurde ein vorläufiger Vorstand unter Dr. Erich Nelhans einberufen, dem kurze Zeit später Julius Meyer, der spätere Präsident der Juden in der DDR, beitrat. Im Februar 1946 erhielt die wiederbelebte Gemeinde auch die rechtliche Anerkennung. Bis zur Verabschiedung einer Satzung im Februar 1947 war die weitgehende Konsolidierte als ‚Jüdische Gemeinde zu Berlin‘ abgeschlossen. Hauptsitz der Gemeinde waren zunächst die im Ostteil der Stadt gelegenen und heute wieder für die Berliner Gesamtgemeinde zentralen Gebäude in der Oranienburger Straße neben der Ruine der Neuen Synagoge. Die Größe der Gemeinde nahm zwischen Januar 1946 mit 7070 Mitgliedern und Frühjahr 1947 zunächst zu, als die JGB mit etwa 7800 Mitgliedern für Jahrzehnte ihren Höchststand erreichte. Diese Zunahme lag vor allem an den nach Berlin rückkehrenden Remigranten. 1947 kehrten allein 300 überwiegend Berliner Juden mit dem Zug aus Shanghai nach Berlin zurück. Fortan kamen nur noch wenige Remigranten individuell zurück. Die Gemeindegröße sank nun bis 1952 auf 6.000 Mitglieder. Die Gründe für die deutliche Abnahme nach der Konsolidierungsphase der JGB waren die starke Überalterung, ein im Durchschnitt sehr schlechtern Gesundheitszustand der Gemeindemitglieder auf Grund der Verfolgung während der NS-Zeit sowie Auswanderungen vor allem nach Palästina bzw. Israel und in die USA. Wegen der nur in den westlichen Besatzungszonen anwesenden jüdischen und anderer westlicher Hilfsorganisationen besaß der westliche Teil der Berliner Gemeinde ein größeres Gewicht gerade bei den Schoah-Überlebenden als die östliche Hälfte. Außerdem lebten in den DP-Lagern der drei westlichen Besatzungszonen Berlins nach dem Krieg zusammengenommen 17.000 bis 18.000 jüdische DPs außerhalb der Gemeinde. Diese ließen sich allerdings mit Beginn der Berlin-Blockade im Frühjahr 1949 großenteils nach Westdeutschland ausfliegen. Von den DPs blieben damit nur noch ca. 500 in der Stadt. Die soziale Situation der meisten Gemeindemitglieder war sehr schwierig und die Notlage in den unmittelbaren Nachkriegsjahren so groß, dass der Aufbau der Wohlfahrtspflege eine der vordringlichsten Gemeindeaufgaben darstellte.
181 U. Offenberg berichtet von dessen Verhaftung und Hinrichtung durch die sowjetische Besatzungsmacht, ohne die Umstände seiner angeblichen NS-Kollaboration näher zu beleuchten; vgl. dies. Die jüdische Gemeinde zu Berlin 1945-1953, in: J. H. Schoeps (Hg.): Leben im Land der Täter. S. 136 und 154, Anm. 12.
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Zwar kümmerten sich in den Westsektoren jüdische Hilfsorganisationen um die von der Verfolgung gezeichneten jüdischen Schoah-Überlebenden. Dennoch hatte die größte Last der Versorgung dieser geschundenen Menschen die Gemeinde selbst zu bewältigen. Offenberg hat deren damaliges Sozialwesen rekonstruiert: „1947 verfügte die Jüdische Gemeinde zu Berlin über drei Altersheime, zusätzlich wurden 1600 alte Menschen zuhause betreut. Im Jüdischen Krankenhaus waren etwa ein Viertel der 400 Patienten Juden. In Niederschönhausen wurde ein Kinderheim errichte, und zweimal wöchentlich wurde an 360 Kinder Mittagessen ausgegeben. Im Sommer stand ein Ferienheim in Kladow zur Verfügung […]. Auch ein Kindergarten wurde eingerichtet. Das Bildungswesen beschränkte sich vor allem auf den Religionsunterricht für Kinder und gelegentliche Veranstaltungen zu jüdischer Geschichte und Philosophie. Sehr wichtig war die ab 1946 erscheinende Gemeindezeitschrift Der Weg, die wöchentlich in einer Auflage von 12.500 Exemplaren vertrieben wurde.“182
Auf dem Gebiet der Gemeindepolitik zeichneten sich in dieser Phase grundsätzliche Weichenstellungen der weiteren Entwicklung ab: Im März 1948 wurde Dr. Nelhans unter bis heute ungeklärten Umständen von den sowjetischen Militärbehörden verhaftet, in die Sowjetunion verschleppt und gilt seitdem als verschollen!183. Als Nachfolger amtierte Hans-Erich Fabian für ein zweijähriges Interim, bevor er 1949 in die USA emigrierte. Noch unter ihm fanden im Februar 1948 die ersten Repräsentantenwahlen statt, bei denen drei Wahllisten um 21 Sitze kandidierten.184 Neben ähnlichen Programmpunkten zu ‚Wiedergutmachung‘ und dem Kampf gegen Antisemitismus hob sich die ‚National-Jüdische-Einheitsliste‘ um Julius Meyer von den anderen beiden Listen durch ihre Forderung nach Auswanderung aller Juden aus Deutschland und nach der Verleihung der palästinensischen Staatsangehörigkeit an alle Juden, unabhängig von ihrem Wohnsitz, ab. Sie bekam nur sechs Mandate, während sich die ‚Jüdisch-Liberale-Gruppe‘ um H.-E. Fabian und H. Galinski mit 10 Sitzen durchsetzen konnte. 1949 übernahm Heinz Galinski (1912-1992) für über 40 Jahre die Gemeindeleitung bis zu seinem Tod.185 Dieser gleichermaßen autokratische wie charismatische Mann ‚von asketischem Äußeren‘ (R. Giordano) repräsentierte wie kaum ein anderer die in Kapitel I.1.2.3. geschilderte Konsolidierung jüdischen Nachkriegslebens im Westen Deutschlands. Galinski besaß eine schier unerschöpfliche Energie. Er hatte darüber hinaus als Auschwitz-Überlebender die moralische Integrität, um die größte verbleibende jüdische Gemeinde Deutschlands durch die Zeiten des Kalten Krieges (in der Frontstadt W.-Berlin), die Teilungen
182 Ebd. S. 141 183 Bei Offenberg findet sich der Hinweis, dass er nach der Verurteilung zu einer langjährigen Gulag-Haft diese nicht überlebte; vgl. ebd. S. 155 Anm. 30. 184 Zu diesen Repräsentantenwahlen vgl. ebd. S. 138 f. 185 Er wurde in Marienburg im ehemaligen deutschen Osten geboren und hatte bis zum Krieg in Berlin gelebt; vgl. die einfühlsame biographische Skizze seines späteren Nachfolgers Andreas Nachama: „Der Mann in der Fasanenstraße“ in: ders./ J. H. Schoeps (Hg.) (1992:27-52)
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Deutschlands, Berlins und seiner eigenen Gemeinde bis über die neuerliche Vereinigung aller drei hinaus zu führen! Dabei verstand er sein Amt immer politisch, als mitunter unbequem mahnender Vertreter jüdischer Interessen und des Wachhaltens der Erinnerung an die NS-Verbrechen sowie als Verteidiger der Demokratie und des Existenzrechtes Israels. Von 1949-1953 war er mit Julius Meyer zusammen Gemeindevorsitzender. Meyer saß in der DDR-Volkskammer und sicherte die Beziehungen der Gemeinde zu den sowjetischen Besatzern. Offenbar schon damals reifte bei diesen Repräsentanten der ersten Stunde der Gedanke „dass unsere Gemeinde keine Liquidationsgemeinde sein durfte und sollte“.186 Zwischen Januar und Juni 1953 zerbrach die Jüdische Gemeinde der Stadt in zwei Hälften. Auslöser waren die bereits geschilderten ostblockweit monatelang laufenden antizionistischen und antijüdischen Exzesse, die für die DDR zu dieser Zeit ihren Höhepunkt erreichten.187 Galinski machte es allerdings kaum Probleme, die Gemeindeleitung vom Westen aus in der Joachimstaler Straße fortzusetzen188, da sich der dezentralen JGB-Struktur entsprechend das Gros ihrer Mitglieder, Einrichtungen und Liegenschaften bereits in der Westhälfte befand.
2.1.2. Die Entwicklung der Westberliner Gemeinde von 1953 bis 1990: Von der Liquidations- zur Aufbaugemeinde (1) Größe, Zusammensetzung und Repräsentanz Die Größe der Westberliner Gemeinde189 konsolidierte sich seit Mitte der 50er Jahre zahlenmäßig, so dass sie sich nach dem Tiefstand von knapp 4400 im Jahr 1955 bei gut 6000 Mitgliedern zwischen 1960 und 1990 einpendelte. Die starke Überalterung konnte in dieser Zeit immer wieder durch die Zuwanderung kleiner Gruppen und Einzelner aus dem Ostblock ausgeglichen werden, die nach dem Ungarnaufstand 1956 oder antisemitischen Maßnahmen wie Polen 1968 flohen. Damit änderte sich seit den frühen 50er Jahren auch die Zusammensetzung der Berliner Gemeinde deutlich: Anfang der 50er Jahre machten die Remigranten nur noch 10 % der JGB-Mitglieder aus. Eine Mehrheit der Mitglieder kam nun aus Polen, der Tschechoslowakei und aus Ungarn.190 Auf der Ebene der Repräsentanz hatte sich nach der Abspaltung der OstGemeinde Galinski und sein Umkreis in der JGB dauerhaft etabliert. Unter seiner Führung bestand der JGB-Vorstand mehrheitlich aus vormals in Deutschland beheimateten Juden. Doch hatte er „durchaus seine Kritiker. Er stand in dem Ruf,
186 Heinz Galinski: „Die Ehrung bedeutet vor allem Verpflichtung. Rede Heinz Galinskis vor dem Berliner Abgeordnetenhaus am 26. November 1987“, in: A. Nachama/J. H. Schoeps (Hg.): Aufbau nach dem Untergang, S. 82 187 Vgl. hierzu oben das Kap. II.1.3.1., S. 107 f. 188 Die Adresse beherbergt bis heute wichtige JGB-Einrichtungen wie die orthodoxe Synagoge, das Jugendzentrum, den jüdischen Studentenbund und Büros. 189 Im Folgenden wie zuvor die Gesamtberliner Gemeinde als JGB abgekürzt. 190 Vgl. A. Roth/M. Frajman: Das jüdische Berlin heute, S. 203
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ein autokratischer und dominanter Vorsitzender zu sein.“191 Damit repräsentierte er den Typus des charismatischen und autoritären Gemeindevorsitzenden, typisch für das jüdische Gemeindeleben in der BRD bis weit in die 80er Jahre (vgl. Kap. I.1.2.3. und 1.2.4.), wenn er sich auch im Gegensatz zu seinem Antipoden Nachmann keineswegs durch Servilität gegenüber nichtjüdischen deutschen Repräsentanten auszeichnete. Seine grundsätzlichen Positionen und die seines Gemeindevorstandes lassen sich wie folgt knapp auf den Punkt bringen: • Befürwortung eines jüdischen Lebens in Deutschland nach 1945, • positive Haltung zum Zionismus und uneingeschränkte Solidarität mit Israel, • Wachhalten des Erinnerns an NS-Verbrechen und Kampf gegen Neonazis • sowie Festhalten an der Struktur der Einheitsgemeinde (2) Entwicklungen im religiösen Bereich Nach Beseitigung deren Kriegsschäden konnte die JGB zunächst zwei Synagogen wiedereröffnen: die o. g. orthodoxe Synagoge Joachimstaler Straße in der Nähe des Bahnhofs Zoo192 und die liberale Synagoge Pestalozzistraße im Hinterhaus der Pestalozzistraße 14-15 in Charlottenburg.193 Außerdem wurde noch 1945 die Synagoge Rykestraße in einem Hinterhofbereich im Ostbezirk Prenzlauer Berg notdürftig gottesdiensttauglich gemacht.194 Darüber hinaus besaß die 191 Ebd., S. 204 192 Die Synagoge war 1902 als prächtiges Logenhaus für die jüdische ‚Bnai Brith Loge‘ erbaut worden. In der NS-Zeit wurde es zur Synagoge umgestaltet, in der damals der Gemeindevorsitzende Leo Baeck wirkte, und zu einer Grundschule der Gemeinde. Die Pogromnacht überstand das Gotteshaus durch die große Nähe zu nicht-jüdischen Häusern, vgl. B. Rebiger: Das jüdische Berlin, S. 90 ff. und A. Roth/M. Frajman Das jüdische Berlin heute, S 21 ff. 193 Die Synagoge war 1912 als Vereinssynagoge gebaut worden und ist seit 1919 im Gemeindebesitz. Vor dem Krieg war sie die beliebteste orthodoxe Synagoge im Berliner Westen. In der Pogromnacht 1938 von der Feuerwehr gelöscht, überstand sie den Krieg unbeschadet, weswegen die Gemeinde hier 1945 ihre ersten Gottesdienste abhielt. In den folgenden Jahrzehnten wurde sie für die in Verstecken oder die KZs überlebenden Berliner Juden die an die Vorkriegsreform anknüpfende liberale Gemeindesynagoge mit Orgel, gemischtem Chor, aber getrennt sitzenden Männern und Frauen. Der Synagogalchor hat als einziger weltweit den Gottesdienstritus mit Orgel und Chor nach den Vorlagen von Louis Lewandowski, dem berühmten Chorleiter der JGB im 19 Jahrhundert, originalgetreu bewahrt. Zur Synagoge vgl. B. Rebiger: Das jüdische Berlin, S. 86 ff.; A. Roth/M. Frajman Das jüdische Berlin heute, S 19 ff. sowie Anke Ziemer: „Der Chor der Synagoge Pestalozzistraße ist durch Sparmaßnahmen gefährdet“, in: JA 01.08.02. 194 Die gewaltige Synagoge war 1903/1904 im neoromanischen Stil für 2000 Gläubige auf einem Hinterhofgrundstück mit offenem Durchgang zur Straße errichtet worden, weswegen sie die Reichspogromnacht relativ unbeschadet überstand. Sie wurde im zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht zweckentfremdet. Das Gotteshaus gilt als größte Synagoge Deutschlands und diente der winzigen OstGemeinde mit ihren Nebenräumen als Gemeindesynagoge bis zur Wiedervereinigung 1990 (vgl. Kap. II.1.3.21., S. 109); zu dieser Synagoge insgesamt vgl. B. Rebiger: Das jüdische Berlin, S. 82 f. und A. Roth/M. Frajman: Das jüdische Berlin heute, S 25 ff.
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JGB noch die kleine Synagoge im Jüdischen Krankenhaus in der Iraner Straße. Bis auf die Synagoge Pestalozzistraße waren alle ihrem Ritus nach orthodox. Ende der 50er Jahre wurde die teilaufgebaute Synagoge Fraenkelufer in Kreuzberg im konservativen Ritus mit getrennt sitzenden Männern und Frauen wiedereröffnet. Neu entstand in dieser Zeit der JGB-Friedhof am Scholzplatz in Charlottenburg, da der Ostberliner Friedhof Weißensee nicht mehr zur Verfügung stand. 1981 kam noch die kleine, im Ritus konservative Synagoge Herbartstraße195 mit 135 Plätze hinzu, angegliedert an das JGB-Senioren- und Altenwohnheim (s. u.); einziger Berliner Synagogen-Neubau nach dem Zweiten Weltkrieg.196 Die JGB war für Jahrzehnte die einzige deutsche Gemeinde, in der die Liberalen und Orthodoxen, als die beiden religiösen Hauptrichtungen der deutschen Vorkriegsdiaspora, mit eigenen Gotteshäusern präsent waren. 1950 schickte Leo Baeck von London aus den jungen Rabbiner Nathan Peter Levinson nach Berlin, um das liberale Rabbinat dort wieder aufzubauen. Dieses Unterfangen gestaltete sich zunächst als schwierig, da 1953 Galinski Levinson nach Kontroversen über die Gemeindepolitik gegenüber der DDR und der Ostgemeinde wieder entließ.197 Trotz des chronischen Rabbinermangels198 und den immer wieder auftretender Schwierigkeiten zwischen Gemeindeleitungen und den wenigen hiesigen Rabbinern gelang es der JGB dauerhaft zumindest einen orthodoxen und einen liberalen Rabbiner anzustellen. Während der orthodoxe Rabbiner David Weisz von 1961 bis 1995 amtierte mit Yitzchak Ehrenberg als Nachfolger bis heute, wechselte die liberale Rabbinerposition häufiger: Diese Rabbinerstelle wurde „in den sechziger Jahren von Prof. Cuno Lehrmann, Ende der sechziger Jahre zusätzlich von Rabbiner Uri Themal, von 1972 bis 1980 von Rabbiner Manfred Lubbiner, von 1980 bis 1997 von Rabbiner Stein“199 betreut. Außerdem beschäftigte sie sechs Kantoren. (3) Einrichtungen und Aktivitäten In der zweiten Jahreshälfte 1952 war man in der BRD übereingekommen, dass die Gebäude, die von den westdeutschen Gemeinden und der JGB zu dieser Zeit genutzt wurden, diesen zu übertragen. Entsprechend wurden die meisten Ruinen Berliner Gemeinde-Synagogen abgeräumt und die Trümmergrundstücke an den Senat veräußert. So sollte es auch mit der Ruine der größten Berliner Synagoge 195 Vgl. B. Rebiger: Das jüdische Berlin, S. 92 und A. Roth/M. Frajman: Das jüdische Berlin heute, S. 25 196 Zum Vergleich: noch bis 1933 hatte die Gemeinde 28 Synagogen besessen von insgesamt 94 Bethäusern der Stadt; vgl. B. Rebiger: Das jüdische Berlin, S. 27 und Lara Daemmig: „Berliner Synagogen im Wandel“, in: Jüdisches Berlin 11/02. Außerdem gab es vor 1933 noch „unzählige Synagogenvereine und Betstuben, so dass die Zahl der jüdischen Gebethäuser in Berlin in die Hunderte ging.“ Ebd. 197 Vgl. E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 37. – Zu den damaligen entsprechenden DDR-Entwicklungen vgl. Kap. II.1.3.1., S. 106 ff. 198 Vgl. Kap. II.1.2.3., S. 96 199 A. Nachama: Ost und West, in: O. R. Romberg/S. Urban-Fahr (Hg.) Juden in Deutschland nach 1945, S. 105
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Fasanenstraße (Nähe Bahnhof Zoo) geschehen. Allerdings trat die JGB an den Senat mit der Bitte heran, dort ihr Gemeindezentrum zu errichten. Der zweigeschossige Bau entstand zwischen 1957 und 1959 unter Einbeziehung von Schmucksteinen der alten Synagoge. Der Senat stellte das Grundstück zur Verfügung, übernahm die Trümmerbeseitigung und finanzierte den Neubau. Mit der Grundsteinlegung dokumentierte der „Neubau und das von ihm ausgehende Gemeindeleben unübersehbar, dass Berlin wieder auf Dauer eine jüdische Gemeinde haben würde“200 – ein weit über Berlin hinaus gerade für die Juden der BRD sichtbares Zeichen: „die Abkehr von der Liquidations- zur Aufbaugemeinde“.201 Das Gebäude beinhaltet neben den Büros des Gemeindevorsitzenden und anderer Mitarbeiter einen Mehrzwecksaal, die Gemeindebibliothek mit 60.000 Bänden (1992) und seit März 1962 die Jüdische Volkshochschule für jüdische aber auch nichtjüdische Teilnehmende. Hier wird Religionsunterricht für Schüler erteilt, die diesen nicht an öffentlichen Schulen erhalten oder nicht auf eine der jüdischen Schulen gehen, hier finden Seniorentreffen statt. Mittlerweile gibt es eine Internet-Ecke. Im großen Foyer findet regelmäßig der WIZO-Basar202 für Israel statt. Außerdem gibt es ein koscheres Restaurant im Obergeschoss. Zum Haus gehört auch ein ihm vorgelagerter Ehrenhof mit Gedenkstätte, wo regelmäßig Gedenkfeiern, wie die an das Novemberpogrom, für die Opfer des Warschauer Gettoaufstands oder aus Anlass des israelischen Unabhängigkeitstags mit Kranzniederlegungen jüdischer und politischer Vertreter abgehalten werden. Seit 1971 machte sich die Konsolidierung der JGB in einer staatsvertragähnlichen Vereinbarung zwischen ihr und dem Senat fest, worin die Verpflichtung der Stadt enthalten ist, diese zu unterstützen. In den 70er Jahren kommt es auch demographisch zu einer gewissen Stabilisierung, da im Zuge der Ost-WestEntspannungspolitik etwa 3000 Juden aus der UDSSR nach Westberlin auswandern konnten, wodurch sich die dortige jüdische Gemeinde auf 6000 Mitglieder vergrößerte, die Mitgliederstärke, die sie bis 1989/90 konstant hielt. 1971 fand eine starke beachtete Ausstellung zum 300-jährigen Bestehen der JGB im Berlin-Museum statt. Sie war der Anfangspunkt einer langen Entwicklung, die über den Aufbau einer jüdischen Abteilung im Berlin-Museum zur Entstehung eines eigenen jüdischen Museums in Berlin führte (s. u. Kap. II.2.4.1.). Im gleichen Jahr konnte der Neubau der schon 1946 gegründeten Kindertagesstätte als erstes jüdisches Schulgebäude nach der Schoah in Deutschland eröffnet werden. 1981 kamen das Jeanette-Wolff-Seniorenheim und das Leo-BaeckAltenwohnheim in Berlin-Charlottenburg mit zusammen ca. 150 Plätzen hinzu. Seit 1987 werden von der JGB regelmäßig im November Jüdische Kulturtage veranstaltet, womit sie auch die außerjüdische Stadt-Öffentlichkeit anspricht. 200 Ebd., S. 104 201 Ebd.; Hervorhebung von mir, A. J. 202 D. h., der Berliner Sektion der ‚Women's International Zionist Organisation‘. Auf dem Basar „gibt sich die Crème der Jüdischen Gemeinde und der Berliner Lokalpolitik ein Stelldichein“. A. Roth/M. Frajman: Das jüdische Berlin heute, S. 47.
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Wie für das übrige Westberlin kam auch für die JGB der Zusammenbruch der DDR völlig überraschend. Die sich in den folgenden Jahren ergebenden Herausforderungen und Chancen waren zu diesem Zeitpunkt noch kaum abzusehen.
2.2. Die Entwicklung innerhalb der Gemeinde in Berlin von 1990 bis in die Gegenwart Für diesen Zeitraum lassen sich thesenartig vier Hauptentwicklungen benennen, die in Folgenden näher dargestellt werden: • Schwieriger Beitritt der Ostgemeinde • Wachstum der JGB durch die sog. Kontingentflüchtlinge aus der SU/GUSStaaten sowie Ausweitung der Gemeindeeinrichtungen • religiöse Pluralisierung • strukturelle Probleme und Kontroversen um die Führung in der JGB 2.2.1. Schwieriger Beitritt der Ostberliner Gemeinde und das Interim nach Ende der Ära Galinski als JGB-Vorsitzender Wie auch in anderen Bereichen des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses nimmt die Vereinigung der beiden jüdischen Teilgemeinden in Berlin den Charakter eines schwierigen Beitritts der Ost- zu der Westhälfte an. Die gleichzeitige Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten, der beiden Hälften Berlins und nicht zuletzt ihre eigene Fusion zum Jahreswechsel 1990 auf 1991 stellten für beide in Geschichte und Größe so ungleichen jüdischen Gemeinden eine enorme Herausforderung dar. Dies galt in mehrfacher Hinsicht. In der Rückschau gilt es, sich zu vergegenwärtigen, dass die West-Gemeinde mit ca. 6000 Mitgliedern gegenüber den nur noch ca. 200 Mitgliedern der OstGemeinde etwa 30 (!) Mal größer als ihr östliches Pendant war (vgl. Kap. II.1.3.). Daneben ergaben sich Schwierigkeiten den allgemein- und gemeindepolitischen Implikationen. Diese resultierten dabei in nicht unerheblichem Maße auch aus der extrem unterschiedlichen Prägungen der jeweiligen Gemeindemitglieder und -vorstände nach Herkommen und Sozialisation in den zwei grundverschiedenen Gesellschaftssystemen in beiden sich als Frontstädte des kalten Kriegs verstehenden Berliner Stadthälften. Entsprechend problematisch verlief diese für beide Seiten ungleiche Fusion: Heinz Galinski betrieb in seiner Funktion als ZdJ-Vorsitzender über die Köpfe der DDR-Gemeinden hinweg die Neuordnung der Gemeindestruktur im vereinigten Deutschland.203 Entsprechend strebte er als Leiter der West-Gemeinde schnell „die Vereinigung der beiden Berliner Gemeinden, konkret also die Auflösung der Ostberliner Gemeinde, an. […] Hier [im Westen, A. J.] gab es keine Anerkennung dafür, was unter den schwierigen Bedingungen der DDR im Ostteil der Stadt von Peter Kirchner und seinem Vorstand geleistet worden war […]. […] Für viele östliche Gemeinde-
203 Vgl. hierzu oben auch das Kap. I.1.4.1., S. 113 f. zu dieser Phase.
136 | TEIL II: HISTORISCHE UND SOZIOLOGISCHE HINTERGRÜNDE mitglieder lud diese Haltung nicht zur Aufnahme in die bestehenden westlichen Strukturen ein – sondern war vielmehr ein weiterer Angriff auf ihre bisherige Identität“.204
Aus diesem Grund erscheint es auch nicht verwunderlich, dass die letzte Ostberliner Mitgliederversammlung gegen die Vereinigung stimmte! Trotzdem wurde zum Jahreswechsel 1990/91 die Vereinigung beider Berliner Gemeinden vollzogen, zumal die Ost-Gemeinde hierzu keine wirkliche Alternative besaß und sich der Noch-Vorsitzende Kirchner gegen seinen weiteren Vorsitz und für die Vereinigung aussprach und sich nach 30-jähriger Leitungstätigkeit zurückzog.205 Tatsächlich saß im ersten Vorstand nach der Fusion kein OstMitglied mehr im 21-köpfigen Gemeindeparlament, lediglich ein Ostberliner Repräsentant.206 Von daher mussten die Ostberliner Juden zunächst fürchten, alle ihre Einrichtungen durch Schließung zu verlieren. Mit einem gewissen Sarkasmus resümiert Irene Runge, damaliges Mitglied der Ostberliner Gemeinde: „Die etablierte Westgemeinde hat sich wohl weniger für uns als Menschen interessiert als eher für die Immobilien im Osten.“207 Allerdings traten angesichts des Zuzugs tausender Juden aus der ehemaligen SU nach Berlin und der Herausforderung die dies für die JGB insgesamt mit sich brachte, die mit der Gemeindefusion anfänglich einhergehenden Schwierigkeiten recht bald in den Hintergrund. Immerhin gelang es der zahlenmäßig winzigen Gruppe ehemaliger Mitglieder der OstGemeinde in den folgenden Jahren, bedeutende im Osten gelegene Gemeindeeinrichtungen wie die Bibliothek in der Oranienburger Straße und die Synagoge Rykestraße zu sichern. Heute sind im Osten Berlins ansässige Gemeindemitglieder längst wieder in den Leitungsgremien der Berliner Gemeinde vertreten und auch die Gemeindeleitung residiert wieder in der Oranienburger Straße. Nach Galinskis Tod 1992 wurde Jerzy Kanal zum Gemeindevorsitzenden gewählt (bis 1997). Vor dem Hintergrund der bewegten Gemeindeentwicklung der letzten Jahrzehnte bleibt er im Rückblick eher als Übergangsvorsitzender in Erinnerung. Immerhin konnte unter seiner Ägide im Mai 1995 die schon zu DDR-Zeiten begonnene Rekonstruktion der Neuen Synagoge abgeschlossen und zusammen mit dem benachbarten Centrum Judaicum und weiteren Gemeinderäumen eingeweiht werden.208 Die mächtige goldene Kuppel avancierte schnell – 204 E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 282 f. – Ostberliner Juden mag dies z. T. nicht anders als Übernahmen und Abwicklungen in anderen Bereichen der ehemaligen DDR auch als eine Art feindliche Übernahme durch die westliche Seite vorgekommen sein. 205 Ebd., S. 284 206 Vgl. zu diesen personellen Aspekten der Gemeindefusion L. Mertens: Davidstern unter Hammer und Zirkel, S. 154 207 Irene Runge: „Wir waren eine lose Gruppe“ (Interview), in: R. C. Schneider: Wir sind da!, S. 360 Sie war eine Initiatorin des im vierten Teil in einer Einzelfallstudie ausführlich behandelten Ostberliner Jüdischen Kulturvereins, vgl. Kap. IV.2. 208 Auf den Wiederaufbau des ursprünglich gewaltigen Gebetssaals der einstmals größten Synagoge Deutschlands wurde verzichtet. Zur Einrichtung des Centrum Judaicum noch zu DDR-Zeiten vgl. Kap. II.1.3.4., S. 111.
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wie schon zuvor bei der Ersteinweihung im Jahr 1866 – zu dem baulichen Wahrzeichen der Berliner Juden. Sie steht heute weit über die Stadt hinaus für ein neugewonnenes jüdisches Selbstbewusstsein in Deutschland. Zugleich ist sie ein Denkmal der großen jüdischen Tradition Berlins.209 Allerdings setzte mit der abgeschlossenen Rekonstruktion der Synagoge in und um die Oranienburger Straße ein bis heute anhaltender touristisch vermarkteter und mehrheitlich nichtjüdischer ‚Hype‘ um die nun als ‚Jüdisches Viertel‘ bezeichneten Gegend ein.210 Außerhalb der Berliner Gemeinde hatte das jüdische Berlin eine politische Aufwertung dadurch erfahren, dass der Zentralrat der Juden im April 1999 seinen Sitz, den er seit 1950 in Frankfurt a. M. gehabt hatte, nach Berlin verlegte. Die Entscheidung des ZdJ zur Verlegung seines Sitzes ins Zentrum der neuen/alten Hauptstadt des wieder geeinten Deutschlands konnte durchaus auch als Signal zu seinem Einverständnis zur Bundestagsentscheidung für Berlin gewertet werden. Als Standort wählt er das ihm durch Rückübertragung zugekommene traditionsreiche Leo-Baeck-Haus in der Tucholskystraße im Herzen der östlichen City, nur wenige Gehminuten vom östlichen Gemeindezentrum und der Neuen Synagoge entfernt.211 Mit dem ZdJ bezog auch die in dessen Trägerschaft herausgegebene Allgemeine Jüdische Wochenzeitung (heute: Jüdische Allgemeine), die zuvor ihren Sitz in Bonn hatte, ebenfalls Räume in diesem Haus.
2.2.2. Gemeindewachstum sowie Ausweitung der JGB-Aktivitäten (1) Zuwanderungsbedingtes Gemeindewachstum Eine nicht minder dramatische Veränderung der Situation im jüdischen Berlin wie die Vereinigung der beiden Stadthälften und die Fusion beider Berliner Gemeinden brachte eine Nebenfolge beider Entwicklungen mit sich: die von der Noch-DDR ‚geerbten‘ jüdischen Einwanderer und die weiter anhaltende Zuwanderung aus der SU und den GUS-Staaten. Zuvor hatten sich in Ostberlin der Jüdische Kulturverein und bald auch die dortige Gemeinde, aber auch die orthodoxe Austrittsgemeinde Adass Jisroel212 der Neuankömmlinge mit Sprachkursen, Wohnungssuche und mit Kursen zur Erlangung religiöser Grundkenntnisse angenommen. Nach dem 3. Oktober 1990 und der Gemeindefusion fiel die Zuständigkeit für die Einwanderer an die JGB. Diese wurden zunächst vom Land Berlin in Übergangswohnungen, zumeist in Ostberliner Randbezirken, untergebracht.213 209 Dies ist allein an der Fülle der jüdischen Publikationen erkennbar, deren Cover das Motiv der goldenen Kuppel schmückt. Hier seien nur stellvertretend M. Frajman/A. Roth (1999), B. Rebiger (2000) und A. Nachama (2001) genant. Auch für die vorliegende Publikation wurde die unvollendete Kuppel mit Bedacht gewählt! 210 Vgl. hierzu u. Kap. II.2.4.2., S. 165 ff. sowie das Hype-Kap. III.3.1.2., S. 298 f. 211 Vgl. B. Rebiger: Das jüdische Berlin, S. 100 f. und A. Roth/M. Frajman: Das jüdische Berlin heute, S. 52 f. In dem Haus hatte sich bis Anfang der 40er Jahre die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums befunden. 212 Zu Adass Jisroel vgl. das folgende Kap. II.2.2.3. 213 Vgl. zur Zuwanderung von Juden aus der SU in die DDR bzw. nach Ostberlin Kap. I.1.4.1. und nachfolgend in das vereinigte Deutschland Kap. 1.4.2., S. 113 ff.
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In der ersten Phase zwischen Anfang 1990 und Ende 1992 gingen weit überproportional viele der nach Deutschland zuwandernden Juden nach Berlin und damit mehr als nach dem bundesweit vereinbarten Verteilungsschlüssel zwischen den Bundesländern. Offensichtlich bot die Metropole bessere Zuwanderungsbedingungen gegenüber anderen Orten, insbesondere in Ostdeutschland. Bis Ende 1992 wanderten knapp 5000 Juden aus der ehemaligen SU nach Berlin ein.214 Die Bundesregierung und das Land Berlin vereinbarten daher einen seit 1993 und prinzipiell bis heute noch gültigen Zuwanderungsstop für die Stadt wegen ‚Übererfüllung‘ der Quote, mit Ausnahme des Nachzugs von Familienangehörigen.215 Damit hatte sich seit Ende der 80er Jahre die Größe der jüdischen Gemeinde(n) in Berlin insgesamt in nur 10 Jahren von etwa 6000 auf ca. 11.000 bis 12.000 verdoppelt. Darüber hinaus gehen Schätzungen von weiteren 15.000 bis 20.000 in Berlin lebenden Juden außerhalb der JGB aus.216 Wegen des Zuwanderungsstops kam das JGB-Wachstum nach dem Millennium fast zum Erliegen, wofür neben dem o. g. Zuwanderungsstop die mit der Einwanderung anhaltende Überalterung und geringe Geburtenrate ausschlaggebend ist.217 Lediglich 7,5 % von ihnen leben im Ostteil der Stadt, während sich allein 55 % auf die westlichen Innenstadtteile Charlottenburg, Schöneberg und Wilmersdorf verteilen.218 Die Probleme der osteuropäischen Einwanderer stellen sich vor Ort nicht anders dar als sie für die gesamte Gruppe im bundesweiten Maßstab bereits näher ausgeführt wurden. 219 Wenn auch in Berlin die relativ große Gemeinde und das großstädische Umfeld einige Härten der Situation in Provinzgemeinden etwas abmildern dürften. Eine Besonderheit besteht allerdings darin, dass es hier außerhalb der JGB eine große russischsprachige Kolonie gibt, in der die jüdischen Einwanderer neben Spätaussiedlern, ehemaligen Armeeangehörigen und Arbeits-
214 „Unter Berücksichtigung der Kontingentregelung wären es für das Bundesland Berlin nur 112 gewesen.“ L. Mertens: Alija, S. 222. 215 Vgl. Andreas Kapphan: Russisches Gewerbe in Berlin“, in: Hartmut Häußermann/Ingrid Oswald: Zuwanderung und Stadtentwicklung, Leviathan Sonderheft 17/1997, S. 124, insbesondere Anm. 2. 216 So gehen Roth und Frajman Ende der 90er Jahre von einer geschätzten Dunkelziffer von über 18.000 bis 20.000 Juden außerhalb der Gemeinde aus, vgl. dies.: Das jüdische Berlin heute, S. 17; während Bodemann diese Zahl mit bis zu 15.000 beziffert, vgl. ders.: Gedächtnistheater, S. 187. 217 Die offiziellen Zahlen lauten für 2002: 11278 JGB-Mitglieder. Hiervon kommen 7110 Personen (63 %) aus der ehemaligen SU/GUS, 2595 (23 %) aus Berlin und dem übrigen Deutschland sowie 1555 (14 %) aus anderen Ländern. Vgl. zu diesen Zahlen Judith Kessler: Mitgliederbefragung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, in zwei Teilen, JGB 2002, I. Teil, S. 4. Für 2005 wird die Zahl von ca. 12.000 Mitgliedern genannt; vgl. Gesa Ederberg: „In einem Boot“, JA 29.09.05. 218 Vgl. hierzu im Anhang Kesslers Schaubild (hier Grafik 3 und4) mit der Verteilung der jüdischen Wohnbevölkerung auf Berliner Stadtbezirke S. 579. 219 Vgl. vgl. W. Jasper/O. Glöckner: "Jüdische Einwanderer aus der GUS in Berlin", in: F. Gesemann (Hg.): Migration und Integration in Berlin, S. 389 f.
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migranten nur die kleinste Gruppe darstellen.220 Damit ist vor allem in der westlichen Innenstadt (‚Charlottengrad‘) eine eigene Infrastruktur mit einer Fülle von kulturellen und gewerblichen Einrichtungen wie Import-Export-Geschäfte, Gastronomiebetriebe, Clubs, Spielcasinos und weitere spezifischen Kleinunternehmen und Dienstleistungen für die ‚russischen‘ Einwanderer entstanden.221 Die in der JGB seit vielen Jahren tätige Soziologin Judith Kessler hat sehr gut den ambivalenten Charakter dieser russischsprachigen Kolonie für die innerjüdische wie deutsche Integration der russischsprachigen Zuwanderer beschrieben: „Die relative Größe und Vollständigkeit der ‚Kolonie‘ ermöglicht einerseits eine mentale und teilweise soziale Absicherung sowie die Aufrechterhaltung subkultureller Präferenzen, ist Machtbasis für Interessenschutz und Voraussetzung für die Eingliederung, behindert sie aber gleichzeitig.“222 Schließlich besteht damit eine gangbare Alternative oder ein Rückzugsraum im Falle einer zögerlichen oder ausbleibenden innerjüdischen Integration für die ‚russischen‘ Zuwanderer dar. Erleichtert wurde die Aufnahme der Einwanderer in die JGB dadurch, dass die ZENTRALWOHLFAHRTSSTELLE der Juden in Deutschland (ZWSt) im Ostteil der Stadt das auf deren Bedürfnisse zugeschnittene Kulturzentrum Hatikva in der ersten Hälfte der 90er Jahre aufbaute. Es befindet sich direkt neben dem östlichen JGB-Zentrum in der Oranienburger Straße mit überwiegend russischsprachigen sozialen, sprachlichen und kulturellen Angeboten. (2) Ausweitung sozialer und kultureller Gemeindeaktivitäten und -einrichtungen Die neugewonnene Größe und die damit wachsenden Aufgaben der Gemeinde machte sich auch in der Ausweitung jüdischer Bildungseinrichtungen fest. Die Anfang der 60er Jahre gegründete Jüdische Volkshochschule war 30 Jahre lang die einzige jüdische Bildungseinrichtung in Berlin geblieben.223 Als erster Schritt von großer symbolischer Bedeutung konnte am 6. August 1993 die Jüdische Oberschule mit Realschule und Gymnasium in dem ehemaligen Gebäude der ‚Jüdischen Freischule‘ (bis 1942) in der Großen Hamburger Straße in der Nähe der Neuen Synagoge eröffnet werden. In dem Gymnasium wird ab der 9. Klasse Judaistik (Hebräisch als dritte Fremdsprache sowie Religionslehre) angeboten. Außerdem kann über die üblichen Fächer hinaus jüdische Religionslehre als Prü220 Bereits Ende der 90er Jahre machten andere russischsprachige Zuwanderer in Berlin offiziell bereits 70.000 aus, davon allein zwei Drittel Spätaussiedler; vgl. ebd., S. 388. Die tatsächlichen Zahlen dürften weit höher liegen. Nach H. M. Broder kann gegenwärtig von 300.000 bis 400.000 Russischsprachigen in Berlin (bundesweit mit 4 Millionen) ausgegangen werden; vgl. ders. (01.09.05). 221 Vgl. vgl. W. Jasper/O. Glöckner: „Jüdische Einwanderer aus der GUS in Berlin“, in: F. Gesemann (Hg.): Migration und Integration in Berlin, S. 389 sowie im Anhang die Grafik 4 zur jüdischen Wohnbevölkerungsverteilung in Berlin S. 579. 222 Judith Kessler: „Identitätssuche und Subkultur. Erfahrungen der Sozialarbeit in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin“, in. J. H. Schoeps/W. Jasper/B. Vogt: Russische Juden in Deutschland, S. 160 f. 223 Zum Vergleich: Bis zum NS unterhielt die JGB 22 allgemeinbildende und 49 Religionsschulen; vgl. B. Rebiger: Das jüdische Berlin, S. 94.
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fungsfach für das Abitur gewählt werden.224 Damit hat die Schule mit etwa 40 Lehrern und 270 Schülern ihre volle Größe erreicht. Knapp 60 % der Schüler sind jüdisch und etwa ein Drittel stammt aus der ehemaligen SU und den GUSStaaten.225 Von 2003/04 an ist ein gymnasialer Zug ab der fünften Klasse eingerichtet.226 Die Schließung des Realschulzweigs wird erwogen. – 1995 eröffnete die JGB noch die Heinz-Galinski-Grundschule in Berlin-Charlottenburg. In dem auch architektonisch einen Neuanfang markierenden Neubau erhalten 250 jüdische und nichtjüdische Kinder über die regulären Fächer hinaus Hebräisch- und jüdischen Religionsunterricht.227 Aber auch der Kulturbereich erlebte seit den frühen 90er Jahren eine beispiellose Expansion. So findet seit 1995 das von der Jüdischen Volkshochschule jährlich veranstalte Berlin Jewish Film Festival statt. Unter meist reger jüdischer wie nichtjüdischer Publikumsbeteiligung und recht großer medialer Aufmerksamkeit werden dort seit nunmehr über 10 Jahren vor allem aktuelle Filme unter bestimmten Leitthemen, wie etwa „die jüdische Frau im Film“ oder „Heimat“, gezeigt. Unter den präsentierten Filmen befinden sich viele internationale Produktionen, insbesondere aus Israel und den USA. Die Entwicklung weist für die nächsten Jahre in Richtung einer deutschlandweiten Expansion des Festivals.228 – Die seit 1987 bestehenden Jüdischen Kulturtage wiederum haben sich nach 1990 zum kulturellen Aushängeschild der JGB entwickelt.229 Außerdem finden ganzjährig vielerlei kulturelle, überwiegend auch für interessierte Nichtjuden zugängliche kulturelle Veranstaltungen statt. Die Bandbreite reicht von Vorträgen und Konzerten über Theatergastspielen und Lesungen bis zu Bällen und Gedenkfeiern. Damit ist die JGB eine der vielfältigst aktiven Gemeinden Deutschlands.
2.2.3. Religiöse Pluralisierung Die Zeit seit etwa Mitte der 90er Jahre ist wie bereits in Kap. II.1. skizziert, durch eine für nach 1945 beispiellose religiöse Ausdifferenzierung gekennzeichnet. Auch in diesem Bereich kann das jüdische Berlin angesichts seiner traditionell großen internen religiösen Vielfalt als besonders dynamisches Feld gelten. 224 Zur Jüdischen Oberschule vgl. B. Rebiger: Das jüdische Berlin, S. 94 f. und A. Roth/M. Frajman: Das jüdische Berlin heute, S. 60 f. – Die Jüdische Freischule war als älteste Jüdische Bildungseinrichtung in Berlin 1778 gegründet worden. 225 Zu den aktuellen Zahlen vgl. Anke Ziemer: „Lehrerin aus Überzeugung. Barbara Witting ist neue Direktorin der Jüdischen Oberschule“, in: JA 27.03.02 226 Vgl. JA Berlinseite 19.12.02 227 Vgl. B. Rebiger: Das jüdische Berlin, S. 104 und A. Roth/M. Frajman: Das jüdische Berlin heute, S.60. Der israelische Architekt Zwi Hecker ließ sich bei der Gestaltung der vielgliedrigen Fassade von einer Sonnenblume inspirieren. 228 Vgl. hierzu die Macherin des Festivals und Leiterin der jüdischen Volkshochschule Nicola Galliner, in: Micha Guttmann: „Schalom – Jüdisches Leben heute: ‚10 Jahre jüdisches Filmfestival‘“, (Radiobeitrag), Deutschland-Funk, 07.01.05 229 Vgl. Redaktionsbeitrag des JB: „Das jüdische Berlin der Zwanziger Jahre. Die 19. jüdischen Kulturtage...“, in: JB 11.05 sowie Domenique Horwitz: „Interview: ‚Das ist eine faszinierende Arbeit‘“, in: JA 03.11.05
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Zur Rekonstruktion der religiösen Entwicklung im jüdischen Berlin in dieser Phase erscheint es notwendig, einen Blick auf die Gemeindeleitung zu jener Zeit zu werfen: Mit dem damals 47-jährigen Andreas Nachama,230 war 1997 als Nachfolger J. Kanals erstmals ein Mitglied der Nach-Auschwitz-Generation zum Vorsitzenden gewählt worden. Er verkörperte in der Entwicklung der JGB der letzten Jahrzehnte auf der Führungsebenen wie vielleicht kein anderer die Einheit von Kontinuität und Wandel: Einerseits bot er als in Berlin geborener Sohn des ‚legendären‘ Oberkantors der Gemeinde Estrongo Nachama die Gewähr für das Beständige in der mittlerweile über 50-jährigen Nachkriegsgeschichte der JGB. Andererseits stand er für die politisch motivierte Suche von Vertretern der zweiten Generation nach einer Neubestimmung jüdischer Diaspora-Existenz im Nach-NS-Deutschland. In Nachamas Amtszeit kommt es zu einer bis dato nicht für möglich gehaltenen Ausweitung und Ausdifferenzierung jüdischen Lebens unter dem Dach der Gemeinde, wie in diesem Abschnitt zu zeigen sein wird. Von weitreichender Bedeutung hinsichtlich der Ausweitung der religiösen Vielfalt in der JGB bis heute ist die Entstehung und Etablierung des EGALITÄREN MINJANS. (EM)231 Er war nach den jüdischen Kulturtagen 1993 eher am Rande der Gemeinde entstanden als am weitest reformjüdischen Gottesdienst in Berlin. Beim EM zählen und Frauen und Männer gleichberechtigt bei der Ausgestaltung des Gottesdienstes. Ursprünglich alle drei Wochen, trifft sich die Betgemeinschaft regelmäßig wöchentlich am Freitagabend und am Samstagvormittag zum Schabbat-Gottesdienst. Im Anschluss an den Samstag-Gottesdienst feiert der Kreis einen gemeinsamen Kiddusch, als rituelles gemeinsames Schabbatessen, an dem auch häufiger Gäste teilnehmen. Außerdem findet einmal im Monat ein ‚lernenden Minjan‘ statt, dessen Ziel darin besteht, dass alle Teilnehmenden den Gebetsritus so gut erlernen, dass sie ihn im Gegensatz zu traditionellen jüdischen Gottesdiensten ohne professionelle Vorbeter selbst durchführen können. Sie beten dabei in der Sprache, die für sie am bequemsten ist (wie Deutsch oder Englisch) und nicht ausschließlich in Hebräisch. Als weitere Besonderheit besitzt der Egalitäre Minjan mit Avitall Gerstetter die bisher einzige Kantorin in Deutschland. Die reformorientierte Betgemeinschaft hat eine eigene Liturgie entwickelt, die unter Beibehaltung traditioneller Elemente auch Anregungen aus dem jüdischen REKONSTRUKTIONISMUS und aus dem Feminismus aufgenommen hat. Eine entscheidende Rolle für die Entwicklung des religiösen jüdischen Lebens in Berlin gewann der Egalitäre Minjan dadurch, dass 1997, während Nachamas Amtszeit, der EM, räumlich und formal auch zu einem Gottesdienstangebot der JGB wurde: Seit Februar 1998 stellt die Gemeinde dem Minjan den 230 Nachama ist seit 2001 Stiftungsdirektor der NS-Gedenkstätte ‚Topographie des Terrors‘ und als liberaler Rabbiner tätig (s. u.). 231 Zum EM vgl. auch Alexander Zeller: „Wir sind die modernste Synagoge Berlins.“, in: JA 29.08.02. Mit einem Mitglied des EM führte ich ein Interview (P 8). Mittlerweile gibt es weitere egalitäre Minjane, meist außerhalb der bisherigen Gemeinden.
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kleinen und schlichten, etwa 80 Plätze fassenden Gebetraum der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße zur Verfügung. Damit wurde der EM in den Kreis der von den liberalen Rabbinern der JGB betreuten Synagogen aufgenommen. Heute gehören ihm etwa 90 Gläubige an, von denen etwa 30 bis 40 regelmäßige Besucher sind. Auf Grund seiner religiösen Heterogenität ist nicht auszumachen, ob sich der EM in Zukunft eher konservativ oder reformjüdisch entwickeln wird. Im Unterschied zu den in Kap. I.1.4.4. geschilderten Entwicklungen in den meisten anderen Orten, in denen sich progressiv-jüdische Initiativen herausbilden, war es in Berlin zu keiner Abspaltung dieser neuen Kräfte gekommen. So konnte A. Nachama bereits 1999 nach zwei Jahren Amtszeit als Gemeindevorsitzender mit einem gewissen Stolz betonen: „Mittlerweile sind unter dem Dach der ‚Einheitsgemeinde‘ von ultra-orthodox bis hin zu ultraliberal alle Strömungen des Judentums vertreten.“232 Allerdings führte die neue religiöse Vielfalt zu bisher nicht gekannten Konflikten innerhalb der JGB. Diese konnten in Nachamas Amtszeit in einem Fall erfolgreich, in einem anderen, von den Medien stark beachteten, nicht für alle Beteiligten zufriedenstellend gelöst werden: Im einen Fall ging es um den Fall der Wiederbelebung der ursprünglich bereits 1869 gegründeten orthodoxen Austrittsgemeinde Adass Jisroel233: „Am 18. Dezember 1989 kam es durch Initiative von Mario Offenberg, dem Nachfahren eines frühren Gemeindemitglieds, nach langwierigen Verhandlungen mit der DDR-Regierung zur Neugründung“.234 Schon 1990 konnte die reaktivierte Gemeinde auf dem Ostberliner Hinterhofgrundstück ihrer nach dem Krieg als Ruine abgerissenen Synagoge in der Tucholskystraße ein neues Bethaus eröffnen. Dort amtiert seitdem Rabbiner Eliezer Ebener. Im darauffolgenden Jahr errichtete sie im Vorderhaus ein ‚Beth Café‘, das zu einem beliebten Treffpunkt für Besucher des sog. ‚Jüdischen Viertels‘ um die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße avancierte.235 1992 eröffnete sie in unmittelbarer Nähe in der Auguststraße den koscheren Laden ‚Kol Bo‘. Die Gemeinde hatte damals erst 250 Mitglieder. Die Neugründung war von der JGB unter Galinski nicht anerkannt worden, die mit Verweis auf ihr Selbstverständnis der Repräsentation aller religiösen Richtungen durch die Einheitsgemeinde das religiöse Erbe und deren Liegenschaften in beiden Stadthälften für sich beanspruchte. Nach zähem Rechtsstreit wurde der orthodoxen Austrittsgemeinde vom Berliner (1994) und schließlich vom Bundesverwaltungsgericht (1997) der Status als selbstständige Gemeinde
232 Andreas Nachama: „Grußwort“, in: A. Roth/M. Frajman: Das jüdische Berlin heute, S. 9 233 Zu Addas vgl. E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 253-264; A. Roth/M. Frajman: Das jüdische Berlin heute, S. 17 f. und 152 ff. sowie B. Rebiger Das jüdische Berlin: S. 81 ff. Anfang der 30er Jahre gehörten ihr ein Sechstel der Berliner Juden an. Nach der gewaltsamen Auflösung durch die Gestapo wurde sie nach dem Krieg nicht neubelebt. 234 Ders. S. 82 235 Vgl. ebd., S. 31 ff.
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anerkannt. Mittlerweile hat sie ca. 1000 Mitglieder.236 A. Nachama und dessen Gemeindevorstand entschärfen nun auch den innerjüdischen Konflikt von Seiten der JGB mit der Anerkennung von Addas Jisroel. Damit verzichtete die Nachkriegs-JGB als Einheitsgemeinde erstmals auf ihren Gesamtvertretungsanspruch gegenüber allen religiösen Richtungen des Judentums. Im anderen Fall eines JGB-internen Konfliktes bewirkten Nachama und sein Gemeindevorstand keine gütliche Lösung: die Kontroverse um den Gemeinderabbiner Walter Rothschild. Zunächst war es der JGB 1998, also im Aufnahmejahr des Egalitären Minjan in die JGB, gelungen, den Rabbiner Walter Rothschild für den Posten des liberalen Gemeinderabbiners zu gewinnen. Der in England geborene Nachfahre deutscher Juden hatte an dem renommierten Londoner Leo Baeck College studiert und war vor seiner Berliner Berufung Rabbiner in Leeds (GB), Wien und zuletzt Aruba (Südsee) gewesen. Offensichtlich verband den damals in der Rabbinerausbildung befindlichen Nachama mit Rothschild neben der progressiven religiösen Orientierung die Überzeugung, neue und gegenüber beharrenden Kräften der JGB ungewohnte Wege zu beschreiten. Jedoch gingen Rothschilds angelsächsisch geprägte religiöse Liberalität und seine dementsprechend im wahrsten Sinne des Wortes ‚unorthodoxen‘ Praktiken intern einem Teil der von der Zeit nach der Schoah in Deutschland ganz anders geprägten Einheitsgemeinde offensichtlich zu weit.237 Außerdem zeichnet er sich bis heute durch eine in der JGB bis dato kaum bekannte streitbare Medienpräsenz aus.238 Jedoch regte sich in der Betergemeinschaft der altliberalen Synagoge Pestalozzistraße Widerstand gegen Rothschild. Während den zunehmenden Spannungen zwischen dem angelsächsischen Rabbiner und einem Teil der Gemeindeleitung kam es zum Bruch zwischen dem JGB-Vorsitzenden und angehenden liberalen Rabbiner A. Nachama und Rothschild. Am 16. Februar 2000 wurde diesem nach einem heftigen internen Konflikt durch die Gemeindeleitung gekündigt. Die Gründe hierfür wurden ihm nach seinem Eigenbekunden damals nicht konkret mitgeteilt.239 Rothschild lebt weiterhin als JGB- und zeitweilig gewähltes Repräsentantenverammlungs-Mitglied mit seiner Familie in Berlin.240 236 Vgl. Lara Dämmig: „Berliner Synagogen im Wandel“, in: Jüdisches Berlin 11/02 237 „Der witzige und unkonventionelle Rothschild eckte schon nach drei Monaten an, weil er in einer Predigt eine Kondomschachtel zeigte. […] Mit Mühe habe ihn Andreas Nachama […] halten können. Aber die Konflikte brachen nicht ab.“ Philipp Gessler: „Kündigung des liberalen Rabbiners Rothschild“, in: TAZ 14.04.00 238 Auch wenn die Verhältnisse 10 Jahre zuvor in der späten DDR völlig anders gelagert waren, springt doch ins Auge, dass der dort gescheiterte US-amerikanische Rabbiner Isaak Neumann den Medien gegenüber eine ähnlich unbekümmerte Haltung wie Rabbiner Rothschild entgegenbrachte; vgl. oben Kap. II.1.3.4., S. 110. 239 Vgl. Philipp Gessler: „Kündigung des liberalen Rabbiners Rothschild“, in: TAZ 14.04.00 sowie Walter Rothschild: „Eine kafkaeske Situation“ (Interview), in: TAZ 10.01.01 Dieser äußerte sich hierin zu dem Hintergrund der deutschlandtypischen JGB-Struktur: „In dieser Gemeinde haben die Rabbiner keine Stimme. Das ist eines der größten Probleme. Sie sind nicht in den entscheidenden Gremien, bekommen so gut wie kein Papier [im Sinne von ‚Positionspapier‘, A. J.] und sitzen
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Andreas Nachama ging offensichtlich geschwächt aus den geschilderten und weiteren Konflikten um den Umgang mit der ‚Union progressiver Juden‘ hervor.241 Bei der Wahl zum Gemeindevorsitz im Gemeindeparlament im Mai 2001 konnte er sich nicht mehr durchsetzen (s. u. Kap. II.2.2.4.). Für die altliberale Synagoge Pestalozzistraße konnte im Herbst 2000 mit dem nach Herkommen orthodoxen (!) Rabbiner Dr. Chaim Z. Rozwaski ein zunächst vorläufiger Nachfolger für den entlassenen Rabbiner Rothschild gefunden werden. Seit dem Spätjahr 2001 ist er fester Rabbiner dieser Synagoge, deren Betgemeinschaft offensichtlich sehr bald ein Vertrauensverhältnis zu ihm entwickelte. Der damals 62-Jährige hatte kam nach dem Zweiten Weltkrieg als DP nach Deutschland. Demonstrativ betonte er die große Bedeutung der Einheit für die Gemeinde: „Ich wünsche mir, dass sich die jüdische Gemeinde mehr strukturiert, ordnet und zusammenhält.“242 Außerdem ist er ein starker Befürworter jüdischer Bildungsarbeit auf allen Ebenen und tritt dabei auch für die Verwendung der russischen Sprache für die Einwanderer aus der ehemaligen SU ein. Ein gutes Beispiel für die von Rozwaski angestrebte moderate Anpassung des religiösen Gemeindelebens an die aktuellen gemeindeinternen wie -externen Verhältnisse stellen die von ihm eingerichteten und von ihm zusammen mit einem Religionslehrer seit April 2002 veranstalteten Kurse für Konversionswillige dar. „Der Übertritt kann dadurch nach festen Regeln vollzogen werden.“243 Damit hat sich nach einer langen Phase der Unsicherheit die JGB zu einer VerfahrensVereinheitlichung und damit Vereinfachung entschlossen. Nun fällt nach den einjährigen Kursen und weiteren Gesprächen mit dem betreuenden Rabbiner ein einberufenes Rabbinatsgericht (Bet Din) die endgültige Entscheidung über die angestrebte Konversion. Einen großen Fortschritt stellt außerdem die im September 2002 erreichte Regelung dar, alle bisher schon von einem regulären Bet Din außerhalb Berlins durchgeführten Konversionen von der JGB anzuerkennen. Allerdings war mit Rozwaskis Berufung keine Lösung für die übrigen nichtorthodoxen Betkreise gefunden worden, die nach der Kündigung Rothschilds im Februar 2000 ebenfalls rabbinischer Betreuung bedurften. Diese schien die Gemeinde im Sommer 2002 mit der Anstellung des 1947 in Tel Aviv geborenen
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in der ‚Repräsentantenversammlung‘, dem Gemeindeparlament, abseits. Man hat die wichtigen Leute, die alles entscheiden – und die Rabbiner.“ Er ist seit seiner Entlassung für liberale Gemeinden in München, Köln und als Landesrabbiner in Schleswig Holstein tätig. Außerdem amtiert er zu besonderen Anlässen für den Egalitären Minjan und im Jugendbereich der Synagoge Hüttenweg (s.u). Marlies Emmerich: „Niederlage für den Vorsitzenden Nachama“, in: Berliner Zeitung 14.04.2000. – Nachama hatte sich in der deutschlandweiten Kontroverse für deren Anerkennung stark gemacht; vgl. zu dem Konflikt Kap. II.1.4.4., S. 124 ff. Chaim Z. Rozwaski: „Interview“ haGalil Juli 2001: www.berlin-judentum.de (17.03.03); alle hier genannten Informationen über Rozwaski aus diesem Interview und aus Detlef D. Kauschke: „Einer für alle?“, in: AJW 05.07.01. C. Rozwaski zit. nach Anke Ziemer: „Unterricht zum Übertritt“, in: JA 19.12.02
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liberalen Rabbiners Ady Edward Assabi gefunden zu haben. Er betreute von nun an die reformorientierten Betgemeinschaften in den Synagogen Oranienburger Straße, Rykestraße und Fraenkelufer, während Rabbiner Rozwaski für die Pestalozzistraße zuständig blieb. Assabis Familie stammte väterlicherseits aus Berlin.244 Interessant erscheint im thematischen Kontext seine lapidare Antwort auf die Interview-Frage, ob Berlin angesichts des notorisch schlechten Verhältnisses der JGB-Leitung zu den von ihr angestellten Rabbinern ein besonders herausragendes Beispiel unter den deutschen Einheitsgemeinden ist: „Die Einzige in der es zum Guten oder Schlechten funktioniert, ist eigentlich Berlin.“245 Tragischerweise verstarb Assabi nach einer schweren Krankheit bereits wenige Monate nach seinem Amtsantritt im Juni 2003 in Tel Aviv. Sein Tod wurde nach seinem vielversprechenden Auftakt als neuer liberaler Gemeinderabbiner gemeindeintern als schwerer Verlust empfunden. Die damit wieder vakant gewordene liberale Rabbinerstelle ist seitdem wieder unbesetzt.246 Ungeachtet der Schwierigkeiten der Berliner Gemeinde im Umgang mit angestellten Rabbinern sowie darin, adäquate Nachfolger für vakante Rabbinerstellen zu finden, hat sich das religiöse Leben innerhalb der JGB in den letzten Jahren von unten lebendig weiterentwickelt und pluralisiert. Dies soll abschließend mit drei ganz unterschiedlichen Beispielen dokumentiert werden: (1) Die Synagoge Hüttenweg Das erste Beispiel ist eine neuere reformjüdische Basisinitiative aus dem personellen Zentrum an der geographischen Peripherie der JGB: Seit dem Spätjahr 2000 besteht in Berlin im weit außerhalb der Innenstadt von Berlin gelegenen Villenvorort Zehlendorf die Synagoge Hüttenweg mit regelmäßigem Gottesdienst. Mit dem Abzug der Alliierten aus Berlin war 1994 eine ehemalige Militärkapelle von der US-Army aufgegeben worden. Jahrzehntelang hatten sich dort am Schabbat jüdische Angehörige der US-Streitkräfte getroffen, um den Gottesdienst nach liberal-amerikanischem Ritus zu begehen. Hieran beteiligten sich schon damals auch JGB-Mitglieder. Einige von ihnen um den Rechtsanwalt, Notar und späteren JGB-Vorsitzenden Albert Meyer (s. u. Kap. II.2.2.4.) veranstalteten seit September 1998 zusammen mit dem damaligen JGB-Vorsitzenden und 244 Seine Entscheidung, Rabbiner zu werden, hatte er auf einem internationalen Jugendtreffen 1965 in Berlin (!) getroffen. 1971 war er am Leo-Baeck-College in London zum Rabbiner ordiniert worden. Nach Zeiten als Landesrabbiner Nordrhein-Westfalens in Düsseldorf in den frühen 70er Jahren lebte er bis 1985 in Israel. Zwischen 1985 und 1999 war er Rabbiner in Johannesburg/Südafrika, wo er in der Anti-Apardheitsbewegung zusammen mit Nelson Mandela und anderen Persönlichkeiten wirkte und zweimal verfolgt und festgenommen wurde. Alle Angaben zu Assabi stammen aus Anke Ziemer: „Ein Lehrer der Betergemeinschaft“ in: JA 01.08.02 und aus ders.: „Israel ist Teil der Krise der jüdische Identität“ (Interview), in: TAZ Lokalausgabe Berlin 11.11.02. 245 Ebd. Zu seiner Motivation als Rabbiner nach Berlin zu gehen vgl. das von ihm stammende Motto über Teil III., S. 182 246 Vgl. Anke Ziemer: „...und viele Fragen offen“, in: JA 23.12.04
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angehenden Rabbiner A. Nachama, zunächst nur zwei-, bald wöchentlich am Freitagabend Gottesdienste in dem verwaisten Gotteshaus. Anfänglich kam Meyer für die die Miete und den KIDDUSCH auf. Als Vorbetende wechseln sich die Kantorin Avitall Gerstetter und der angehende Kantor Alexander Nachama, der Sohn des Rabbiners, ab. Bestand die neu formierte Betgemeinschaft zunächst aus ca. 30 Personen, umfasst sie 2003 bereits rund 100 Mitglieder.247 In den ersten drei Jahren unterstützte die Gemeinde die Synagoge Hüttenweg durch die Zahlung der knapp halben Million Euro Jahresmiete. Vor dem Hintergrund der immer knapperen Kassen und gewissen Vorbehalten gegen eine ‚Nachama-Synagoge‘248 kündigte nach einem einjährigen Konflikt die JGBLeitung den Mietvertrag.249 Zwar konnten drei Doppelmitglieder sowohl des Betkreises wie der Repräsentantenversammlung eine Rücknahme der Kündigung erreichen, doch schwelte der Konflikt bis Anfang 2004 weiter, als der Hütten-WegInitiator A. Meyer zum JGB-Vorsitzenden gewählt wurde (s. u.), womit sich der Konflikt entschärfte. Mittlerweile hatte sich in dem JGB-internen Betkreis der Synagogenverein ‚Sukkat Schalom Hüttenweg‘ (‚Friedenshaus‘) begründet, um des ‚Experiment Hüttenweg‘ auch in Zukunft finanziell abstützen zu können.250 (2) Zwei sephardische Minjane Die beiden anderen Beispiele sind im religiös-orthodoxen Bereich angesiedelt: Seit ROSCH-HA-SCHANA 5760 bzw. dem 29. September 2000 gibt es erstmals nach der NS-Zeit wieder einen regelmäßigen sephardischen Minjan in Berlin.251 Dieser Gebetskreis Or Zion (Zionslicht) kommt in einem kleinen Gebetraum, den er selbst eingerichtet hat und als Synagoge bezeichnet, in der gemeindeeigenen Privatwohnung ihres in Israel ordinierten jemenitischen Rabbiners Avraham Daus im Vorderhaus des Gebäudekomplexes um die orthodoxe Gemeindesynagoge in der Joachimstaler Straße zusammen.252 Seine Wurzeln reichen bis in die 80er Jahre zurück, als Daus – damals noch nicht ordiniert – die Versammlung in seine Privatwohnung zum Schabbat einlud. In den 90er Jahren konnte der 247 Vgl. Anke Ziemer: „Synagoge zum Mitmachen“, in: JA 04.07.02 sowie dies.: „Wie bei der Geburt eines Kindes“, in: JA 06.11.03 Vgl. zur Entstehung der Synagoge Hüttenweg auch Detlef D. Kauschke: „Zuviel des Guten?“, in: AJW 18.01.01. 248 Andreas Nachama war nach seiner Abwahl als JGB-Vorsitzender nicht als frisch ordinierter liberaler Rabbiner von der Gemeinde übernommen worden. 249 Detlef D. Kauschke: „Synagoge Hüttenweg vor dem Aus“, in: JA 26.09.02 250 Vgl. JA 02.03.03 Berlin-Seite 251 Nach der Selbstdarstellung dieses Minjans lebten vor der Schoah ca. 10.000 SEPHARDEN in der deutschen Hauptstadt; vgl. www.or-zion.de. (25.03.03). Zu den mittelalterlichen Ursprüngen der Sepharden allgemein vgl. Kap. I.1.1.1., S. 79 und das Glossar im Anhang. – Alle Informationen über diesen und einen weiteren (s. u.) sephardischen Minjan vgl. den o. g. Internetauftritt sowie den Artikeln von Alexander Zeller: „Anders als die Aschkenasim“, in: JA 28.02.02 und Detlef David Kauschke: „Beter ohne Synagoge“, in: JA 27.01.05. – Ein Erhebungsgespräch führte ich mit einem Mitglied des erstgenannten Sephardischen Minjans (P 15). 252 Daus, früher SCHÄCHTER der JGB, lebt seit den 80er Jahren mit Familie in Berlin.
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sephardische Gebetskreis zeitweise einen kleinen Gebetsraum der orthodoxen Synagoge Joachimstaler Straße nutzen, betreut von dem Rabbiner Zwye Aloni. Erst nach Spannungen mit Maßgeblichen der orthodoxen Synagoge richtete dieser Minjan seinen Betraum fest in Daus Privaträumen ein. Der von ihm betreute Minjan setzt sich größtenteils aus israelstämmigen Betenden zusammen. Gebetet wird entsprechend nach israelisch-sephardischem Ritus. Am Schabbat leitet Daus regelmäßig den Gottesdienst und lädt anschließend zum von seiner Frau zubereiteten KIDDUSCH ein, wozu regelmäßig an die 25 ausschließlich männliche Betende zusammenkommen. Außerdem versammeln sich Angehörige dieses Minjans seit 2000 auch zum täglichen Gebet in ihrem 24 Stunden am Tag offen stehenden Betraum. Insgesamt sind dem Betkreises etwa 70 Personen verbunden. Außerdem besteht noch ein weiterer sephardischer Kreis innerhalb der JGB. Diese Gruppe setzt sich im Unterschied zu dem o. g. Minjan vor allem aus Personen zusammen, die als Einwanderer aus der ehemaligen SU in den letzten Jahren nach Berlin gekommen sind: Bei diesen Sepharden handelt es sich vor allem um etwa 300 kaukasisch-jüdische Familien aus Aserbeidschan. Auch in diesem sephardischen Minjan versammeln regelmäßig am Schabbat über 20 Betende. Sie trafen sich ebenfalls im Gebäudekomplex um die orthodoxe Synagoge, allerdings in den völlig ungeeigneten Kellerräumen des Jüdischen Studentenbundes.253 Seit Ende April 2006 konnten sich in einer großzügigen Altbauwohnung der JGB die ‚russischen‘ Sepharden einen Synagogenraum in der Passauer Straße einrichten. 2003 wurde abseits der o. g. religiösen Initiativen die kleine historische Synagoge des Jüdischen Krankenhauses in Wedding von der JGB wieder hergestellt.
Fazit Bilanzierend zur Darstellung der aktuellen religiösen Entwicklung der Berliner Gemeinde in den letzten Jahren kann festgehalten werden, dass es heute (2005) in der Metropole wieder ein für Deutschland in quantitativer wie qualitativer Hinsicht beispiellos vielfältiges religiöses Leben gibt. Immerhin existieren hier wieder 7 Gemeindesynagogen, in denen regelmäßige Gottesdienste abgehalten und zwei weitere, in denen diese regelmäßig durch von der Gemeinde unterstützte Betgemeinschaften in Eigenregie durchgeführt werden. Hinzu kommt die erfolgreich rekonstituierte orthodoxe Austrittsgemeinde Addas Jisroel mit eigener Synagoge. Damit sind die wichtigsten religiösen Strömungen des Judentums mit eigenen regelmäßigen Gottesdiensten auf Gemeindeebene in Berlin wieder vertreten, eine in Deutschland bislang einmalige Situation. Allerdings zeigt sich auch, dass die zunehmenden religiösen Pluralisierungen von unten mit den recht statisch-hierarchischen Nachkriegsstrukturen der JGB-Einheitsgemeinde konfligieren. Dabei muss hier offen bleiben, in wieweit die jahrzehntelang erfolgreiche Konstruktion der Berliner Einheitsgemeinde unter zunehmenden zentrifugale Bestrebungen zukünftig Bestand haben wird. 253 Vgl. D. D. Kauschke, in: JA 27.01.05 – Zum Jüdischren Studentenbund vgl. die Einzelfallanalyse im vierten Teil der Studie IV.3., S. 474 ff.
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Die in den letzten Jahren außerhalb der JGB entstandenen religiösen Initiativen werden mit ebenfalls neueren gemeindeexternen nichtreligiösen Aktivitäten separat im übernächsten Abschnitt (Kap. II.2.3.) dargestellt.
2.2.4. Strukturelle Probleme und Kontroversen um den Führungsanspruch in der Gemeinde Vor der genaueren Darstellung der jüngeren Entwicklungen auf der JGB-Führungsebene erscheint es geboten, kurz deren politische Selbstverwaltungsstruktur zu klären: Die JGB ist, wie die meisten jüdischen Gemeinden Deutschlands, eine Körperschaft des öffentlichen Rechts mit einer ihre Autonomie garantierenden Satzung und dem Recht auf Erhebung von Gemeindesteuern. Mit diesen Geldern sowie weiteren Zuweisungen des Bundes und des Landes Berlin unterhält sie ihre Einrichtungen und bezahlt ihre 400 Mitarbeiter. Ihre Kernaufgaben liegen im Kultus, dem Sozialwesen, der Alten- und Jugendarbeit sowie in dem Betrieb von Bildungseinrichtungen. Der jährliche Gemeindehaushalt wird vom 21-köpfigen Gemeindeparlament, der Repräsentantenversammlung (RV), verabschiedet. Dessen Mitglieder werden von den Gemeindemitgliedern in vierjährigem Turnus in geheimer Wahl bestimmt. Traditionell stellen sich in Berlin verschiedene Wahllisten zur Wahl mit üblicherweise mehr Bewerbern als RV-Sitzen. Aus ihrer Mitte wählt die RV einen Gemeindevorsitzenden, zugleich auch Vorsitzender des ebenfalls von der RV gewählten fünfköpfigen Vorstands. Dessen Mitglieder und Stellvertreter bilden als Leiter von Einzelressorts die ‚Regierung‘ der Gemeinde. Vor dem Hintergrund der weitreichenden Veränderungen und der Ausweitungen jüdischen Lebens im Berlin der letzten Jahre sah sich die Berliner Gemeinde zunehmend mit Problemen konfrontiert, als deren Ausdruck Macht- und Verteilungskämpfe auf der Ebene der Repräsentanz gewertet werden können. Diese werden im Folgenden in groben Zügen nachgezeichnet: Die Kündigung Rothschilds und die Ernennung Rozwaskis als Nachfolger für die Synagoge Pestalozzistraße hatten Nachama keinen neuerlichen Rückhalt in der Gemeindeleitung verschafft. Auch die Anhänger aktueller religiöser Reformströmungen schienen in der JGB in dieser Phase eher geschwächt zu sein. Der sich abzeichnende Wandel vollzog sich nach der anstehenden Wahl der RV im März 2001. Erstmals kandidierten auch einige Einzelkandidaten nicht auf Wahllisten. Zwar gelang es Nachama bei dieser Wahl, die meisten GemeindeStimmen auf sich zu versammeln. Doch bei der anschließenden Wahl zum Vorsitzenden konnte er sich im neugewählten Gemeindeparlament nicht gegen seinen Herausforderer Moishe Waks durchsetzen. Nach langen internen Debatten ließ sich der damals 71-jährige Alexander Brenner, als von keiner der konkurrierenden Wahllisten der o. g. Gemeindeparlamentswahl favorisierter Einzelkandidat, im Mai 2001 als ‚Kompromisslösung‘ zum JGB-Vorsitzenden wählen.254 254 Brenner, der in Polen geboren wurde, war nach der Schulzeit im Zweiten Weltkrieg in der SU später nach Westdeutschland gelangt. Er arbeitete u. a. längere
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Noch nie hatte die JGB zuvor in ihrer fast 60-jährigen Geschichte nach 1945 einen so schwierigen Prozess der Konstituierung ihrer Führungsebene durchlaufen. Allgemein erhoffte man sich in der Leitungsebene der JGB offenbar von dem ‘Diplomaten und Russen‘ Brenner eine ausgleichende Wirkung. Allerdings taten sich bereits in den ersten beiden Jahren nach der Wahl 2001 wieder große Schwierigkeiten auf der Führungsebene der Berliner Gemeinde auf. Auf der einen Seite gelang es dem Vorstand nicht, das große Problem des unausgeglichenen Gemeindehaushaltes anzugehen. Vielmehr wuchsen sich die finanziellen Belastungen der JGB zu einer immer größeren finanziellen Misere aus: Der Haushalt der JGB wies für 2003 bei einer Größe von 25 Mio. € ein Defizit von 1,66 Mio. € auf.255 Außerdem nahmen vor dem Hintergrund der großen strukturellen Probleme der Gemeinde die Spannungen innerhalb ihrer Leitungsebene weiter zu: Viel destruktiver als die bereits o. g. Querelen um die Synagoge Hüttenweg erwies sich die Uneinigkeit des Vorstands, der dem JGB-Vorsitzenden Brenner schließlich eine sachliche Zusammenarbeit verweigerte. Persönliche Auseinandersetzungen dominierten Offensichtlich in der RV, insbesondere auf Vorstandsebene, die Sachprobleme. Die auf vier Jahre 2001 gewählte RV trat nach daher im März 2003 zurück und erzwang damit vorgezogene Neuwahlen. Der JGBVorsitzende Brenner erklärte unmittelbar nach der Auflösung der alten RV, für den JGB-Vorsitz nicht mehr zu kandidieren. Bei der Septemberwahl 2003 traten 55 Bewerber für mehrere Wahlgruppen oder als Einzelkandidaten an. Aus ihr ging das neugegründete Wahlbündnis Kadima (Vorwärts) als eindeutiger Sieger hervor. In dieser Liste hatten sich angesichts der größten Krise der Leitungsebene der JGB seit 1945 alteingesessene und neu zugewanderte und religiös-liberale sowie orthodoxe Gemeindemitglieder zusammen gefunden, Wegen eines Formfehlers wurde die Wahl im November 2003 wiederholt mit einem noch überwältigenderen Kadima-Erfolg: Alle gewählten RV-KandidatInnen außer dem Einzelkandidaten Brenner stammten von Kadima. Auffallend ist, dass dem Gremium nur drei Frauen angehören. Offenbar sehen viele engagierte Frauen innerhalb der JGB das Gemeindeparlament nicht als den vorrangigen Ort ihrer Einflussnahme an.256 Die meisten Stimmen erhielt der Kadima-Initiator Albert Meyer, gefolgt von dem Einzelkandidaten Brenner. Nach Alter, Herkunft, religiöser sowie gemeindepolitischer Orientierung stellte Wahl des 1947 geborenen Notar und Rechtsanwalts A. Meyer zum JGBVorsitzenden ein Anknüpfen an seinen Vorvorgänger A. Nachamas dar: Beide sind gebürtige Berliner der ersten Nachkriegsgeneration, Repräsentanten eines
Zeit als Wissenschaftsattaché in den bundesrepublikanischen Botschaften in Tel Aviv und Moskau; vgl. haGalil Mai 2001: „Dr. Alexander Brenner: Neuer Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin“ juden-in-berlin-de. (26.03.03). 255 Vgl. Detlef D. Kauschke: „Rotstift angesetzt“, in: JA 10.04.03 256 Dies gilt gerade für den Bereich der im vierten Teiluntersuchten Basisinitiativen außerhalb der gemeindepolitischen Ebene JGB.
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progressiven Judentums sowie Vertreter einer Öffnung der JGB für unterschiedliche Basisinitiativen sowie gegenüber der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft. Der neue Gemeindevorstand unter Meyer verfolgte drei vorrangige Anliegen:257 • Einigkeit, Professionalität und Transparenz an die Stelle der vorherigen von persönlichen Auseinandersetzungen geprägten Vorstands-Arbeit; • Stärkung der Einheitsgemeinde durch erhöhte Integrationsbemühungen gegenüber den verschiedenen religiösen Strömungen • sowie deutliche Sparanstrengungen, vor allem durch die Zusammenlegung diverser Jugend- und Alteneinrichtungen, zur Sanierung des JGB-Haushalts. Beim entscheidenden erstgenannten Wahlziel zeigte sich allerdings bereits nach wenigen Monaten, dass selbst das eindeutige Wahlergebnis die überkommenen Spannungen innerhalb der JGB-Leitung nicht beseitigen konnte. Der Rücktritt des Kulturdezernenten Julius H. Schoeps im April 2004258 sowie heftige Kontroversen um den vermeintlich rechtswidrigen Zugang des Personaldezernenten der RV zu Aufnahmeunterlagen bzw. um einen damit beschäftigten Untersuchungsausschuss gegen Ende des Jahres überschatteten die reguläre Leitungs-Arbeit.259 Im Laufe des Jahres 2005 steigerten sich die persönlichen Anfeindungen in der RV und im Gemeindevorstand in bisher nicht gekannter Weise soweit, dass es nahezu zu einem Stillstand auf der gemeindepolitischen Ebene kam. Misstrauensanträge gegen den Vorsitzenden und einzelne Vorstände bestimmten nun die Tagesordnung. Anfang November 2005 trat nach schweren Kontroversen im Vorstand und in der RV A. Meyer als JGB-Vorsitzender zurück. Er begründete seinen Schritt mit der Dominanz persönlicher Animositäten und Klientelismus von einer Gruppe Repräsentanten. Zum Nachfolger wurde aus der Gruppe seiner Kritiker das erst 33-jährige RV-Mitglied Dr. Gideon Joffe gewählt. Der promovierte Betriebswirt wurde in Lettland geboren und wuchs in Berlin auf. Er versteht sich nach eigenem Bekunden religiös als orthodoxer Liberaler sowie als Vertreter der Eingesessenen wie der osteuropäischen Neuzuwanderer.260 Stimmen aus dem Lager des ehemaligen Vorsitzenden A. Meyer haben in letzter zeit immer wieder mit einer Abspaltung gedroht. Wieweit es in der leidgeprüftesten, zugleich aber auch vielfältigsten deutschlandweiten Großgemeinde tatsächlich kommen wird, kann erst die Zukunft zeigen.
257 Vgl. Albert Meyer: „,Ich wollte eigentlich nie Gemeindevorsitzender werden‘“ (Interview), in: JA 08.01.04 258 Vgl. Detlef D. Kauschke: „Rücktritt nach hundert Tagen.“, in: JA 29.04.04 – Schoeps ist der bekannte Leiter des Moses-Mendelsssohn-Zentrums in Potsdam zur Erforschung der europäisch-jüdischen Geschichte, aus dessen Publikationen in der Studie mehrfach zitiert wird. 259 Vgl. den Redaktionsbeitrag der JA: „Klärungsbedarf“, in: JA 23.12.04. 260 Zu den geschilderten Vorgängen vgl. Philipp Gessler: „Berliner Muppetsshow“, TAZ 19./20.11.05; Judith Hart/Detlef D. Kauschke: „Alles auf Anfang“, in: JA 10.11.05; Gideon Joffe: „,Ich fühle mich als Friedensstifter‘“ (Interview), in: JA 17.11.05 sowie Christine Schmitt: „Mit Hilfe der Basis.“, in: JA 01.12.05
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Die größte deutsche Gemeinde befindet sich seit 2005 auf der politischen Führungsebene offensichtlich in ihrer bislang schwersten Krise seit dem Wiederentstehen 1945. Sie nötigte sogar dem ZdJ-Vorsitzenden eine Stellungnahme ab, untrügliche Zeichen für das Ausmaß der Krise.261 Bedenklich an den skizzierten Auseinandersetzungen ist, dass diese mittlerweile vordergründig als solche zwischen ‚Deutschen‘ und ‚Russen‘ erscheinen, obwohl an der Gemeindebasis und in den von mir untersuchten Aktivitäten an der Peripherie sowie außerhalb diese einfach gestrickten Konfliktlinien gerade nicht, schon gar nicht in dieser Unversöhnlichkeit existieren. Auch wenn sich als Kontrahenten in den geschilderten Konflikten in der RV und im Vorstand hauptsächlich alteingesessene JGBMitglieder um A. Meyer und Zuwanderer aus der ehemaligen SU um dessen Stellvertreter A. Schneidermann gegenüberstehen, lässt sich die Kontroverse auf den unterschiedlichen Herkommenshintergrund nicht reduzieren. Schließlich waren vor zwei Jahren die Protagonisten beider Seiten gemeinsam angetreten, um die sich bereits abzeichnende Krise der politischen Vertretung der Gemeinde zu meistern. Außerdem sind unterschiedliche inhaltliche Vorstellungen gerade nicht Thema der Auseinandersetzung. Die Darstellung der krisenreichen Entwicklung im Bereich der Leitungsebene der Berliner Gemeinde in den letzten Jahren soll daher abschließend mit vier thesenartigen Bemerkungen zu deren bislang größten strukturellen und personellen Problemen bilanziert werden: • Drei Faktoren brachten die JGB längerfristig in finanzielle Schwierigkeiten: – nicht an effizienten und professionellen Gesichtspunkten orientiere Verwaltungsstrukturen – große soziale Bedürftigkeit der osteuropäischen Neueinwanderer – einen anhaltende Überalterung der Mitgliederstruktur • Auf der gemeindepolitischen Ebene sind die Russischsprachigen erst z. T. ‘angekommen‘. Klientelismus überlagert immer wieder inhaltliche Aspekte. • Die hierarchischen Strukturen der Führungsgremien werden den ethnisch, religiös und lebensweltlich immer pluraler werdenden Gemeinde kaum mehr gerecht, indem es von den vielfältigen Entwicklungen etwa ihrer Betkreise und anderer Basisstrukturen zu weit abgekoppelt sind. • Die Folge ist ein Mangel an basisnahen, weiblichen sowie jüngeren JGBVertretern, welche deren integrativen und innovativen Seiten repräsentieren.
2.3. Zunahme jüdischen Lebens außerhalb der Gemeinde Einen ganz eigenen Aspekt der Entwicklung im jüdischen Berlin stellt die in den letzten Jahren zu beobachtende Zunahme von Aktivitäten an der Peripherie und außerhalb der Gemeinde dar. Die Entwicklung jüdischer Aktivitäten in Berlin unterliegt permanenten Wandlungen, die gerade außerhalb der Gemeindestrukturen nicht immer unmittelbar nach ihrer Entstehung öffentlich bekannt werden. 261 Vgl. Paul Spiegel: „,Hier geht es um Machtgelüste einzelner Personen‘“ (Interview), in: JA 10.11.05
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Die hier vorgenommene Darstellung kann daher, aber auch wegen der mittlerweile erreichten Vielfalt keine Vollzähligkeit beanspruchen. Es sollen an dieser Stelle Aktivitäten angeführt werden nach den Kriterien • der Aktualität ihrer Entstehung nach 1990 (und vor 2006), • des Exemplarischen (möglichst maximale inhaltliche Streuung) • sowie der Ortsverbundenheit (vor allem von und für Berliner Juden).
2.3.1. Entwicklungen im religiösen Bereich An erster Stelle ist die weltweit operierende chassidische Chabad LubawitschBewegung (im Folgenden Chabad) zu nennen. 1996 eröffnete sie mit finanzieller Unterstützung der JGB „ihr Chabad-Haus in Berlin. Wie in den mehreren hundert anderen Chabad-Zentren in aller Welt widmet man sich auch hier der Vermittlung religiösen Wissens“.262 Hierzu gehören ein Kinder-Lernprogramme, Beschneidungen, Hochzeiten, Jugendfreizeiten und Partys. Geleitet wird das Zentrum von dem aus Brooklyn stammenden Rabbiner Yehuda Teichtal und seiner israelstämmigen Frau Leah. Teichtal ist auch als Jugendrabbiner für die JGB tätig und veranstaltete Schabbat-Gottesdienste mit anschließendem Kiddusch im Jüdischen Kulturverein (s. u.). – Im Sommer 2002 eröffnete Chabad zudem ein Tora-Zentrum in der Augsburger Straße in der Nähe der wichtigsten Westberliner JGB-Einrichtungen. Dort erhielten 10 junge Männer aus den USA und Israel eine einjährige orthodoxe Rabbinerausbildung, die erste in Berlin seit der Schoah. Allerdings blieb dies von religiös-liberalen Kräften innerhalb der JGB nicht unwidersprochen. sahen diese in dem Zentrum eine ‚unseriöse‘ Konkurrenz zu den bestehenden Rabbinerausbildungsstätten in Heidelberg und Potsdam mit einer im Unterschied hierzu mehrjährigen Rabbinerausbildung:263 Teichtal kündigte bei der umstrittenen Veranstaltung wiederum für Chabad an, Berlin zu einem „Mittelpunkt jüdischen Lebens“ machen zu wollen.264 Es ist davon auszugehen, dass die international agierende einflussreiche jüdische Gruppierung ihre Stellung im jüdisch-religiösen Berlin auch zukünftig noch weiter ausbauen wird.
262 A. Roth/M. Frajman: Das jüdische Berlin heute, S. 58. Zu dem Chabad-Zentrum in Berlin außerdem im Internetportal haGalil: Jehuda Teichtal: „Interview mit Rabbiner...“ (ca. 2001) www.berlin-judentum.de/rabbiner/teichtal.htm (25.03.03); Marlies Emmerich: „Erstmals nach der Shoa wieder Rabbinerausbildung“, in: BZ 20.02.03 sowie Alexander Zeller: „Zurück nach Hause“, in: JA 19.06.03. – Chabad Lubawitsch ist eine religiöse, sozial engagierte innerjüdische Organisation mit z. T. messianischen Zügen (s. das Glossar). Sie unterhält weltweit 2200 Einrichtungen, davon neun in Deutschland. 263 Der o. g. ehemalige RV-Vertreter und „Leiter des Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrums, J. H. Schoeps, bezeichnete […] das Studium sogar als ‚unwissenschaftlich‘ und damit hoch problematisch. Die Überreichung [der Zwischenprüfungen; A. J.] durch Wowereit sei für Liberale ein Schock.“ Zit. nach ebd. – Zu den Kontroversen um Chabad vgl. auch im empirischen Kap. III.2.2.1., S. 263 ff. 264 Zit. nach Redaktionsbeitrag: „Wowereit bei Chabad Lubawitsch“, in: JA 27.02.03. – Im Schuljahr 2005/2006 eröffnete Chabad außerdem eine eigene Grundschule.
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Kurze Zeit nach Chabad eröffnete die ebenfalls internationale Ronald S. Lauder Foundation (im Folgenden Lauder) ein Lehrhaus im Herbst 1999 im Vorderhaus der im Ost-Bezirk Prenzlauer Berg gelegenen Synagoge Rykestraße.265 Geleitet wird die Bildungseinrichtung von dem Rabbiner Joshua Spinner, dem Direktor der Berliner Sektion von Lauder. In dem Haus leben und lernen zwischen 10 und 20 Talmudschüler dauerhaft, während in einem besonderen Programm 10 Jugendliche aus ganz Deutschland ein Jahr lang jeweils ein Wochenende im Monat ein Tora- und Talmudstudiums-Seminar der Einrichtung besuchen. Hier werden ihnen elementare religiöse Lerninhalte und zugleich soziale Erfahrungen vermittelt, die es ihnen erleichtern sollen, die Halacha in ihrer mehrheitlich nichtjüdischen Umwelt befolgen zu können. Ein Großteil der Seminarteilnehmer stammt aus der ehemaligen SU und den GUS-Staaten. Allerdings wird der Unterricht größtenteils auf Deutsch abgehalten. Dabei werden die Teilnahmekosten von ,Lauder‘ übernommen. Seit 2001 gibt es ein gesondertes wöchentliches Seminarprogramm für junge jüdische Frauen in Berlin, um ihnen Wege aufzuzeigen, jüdische Tradition und modernen Alltag zu verknüpfen. Weitere Interessierte kommen zu den abendlichen offenen Bildungsangeboten. Am Wochenende wird ein gemeinsamer Gottesdienst für die verschiedenen Lerngruppen veranstaltet. Als Dozenten fungieren Rabbiner wie der o. g. Leiter der Einrichtung Spinner oder der Gemeinde-Rabbiner Rozwaski, aber auch z. T. ehrenamtlich arbeitende nichtgeistliche, mit der jüdischen Tradition vertraute SeminarleiterInnen. Ein weiteres Beispiel einer religiösen Initiative außerhalb der JGB ist die Gründung des religiös konservativen ‚Masorti e. V. – Verein zur Förderung der jüdischen Bildung und des jüdischen Lebens‘ im Herbst 2002 in der Eislebener Straße im West-Bezirk Wilmersdorf.266 Initiatorin war die damals kurz vor der Ordinierung stehende Rabbinerin Gesa Ederberg.267 Der Verein möchte Bildungsarbeit nach religiös konservativem Verständnis anbieten. Ein offener, zweiwöchentlicher Gesprächskreis machte den Anfang mit Themen, die von der Rolle der Frau im Judentum über Stammzellenforschung bis zum Zusammenhang jüdischer Speisegesetze und Ökologie reichen. Die Position von Masorti und Rabbinerin Ederberg im Bezug auf die JGB ist das einer Ergänzung, keiner Konkurrenz, was dem Grundverständnis des konservativen Judentums, das sich als Brücke zwischen dem liberalen und orthodoxen Judentum versteht, ent265 Zu Lauder und ihrem Lehrhaus in Berlin vgl. B. Rebiger: Das jüdische Berlin, S. 84 f.; A. Roth/M. Frajman: Das jüdische Berlin heute, S. 58; Detlef D. Kauschke: „Die Wochenend-Bocherim“, in: AJW 06.12.01 sowie Jola Merten: „Quelle der Inspiration“, in: JA 23.10.03 – Lauder ist eine seit 1987 international tätige Stiftung, die sich besonders der Förderung von jüdischem Leben in Mittel- und Osteuropa verschrieben hat. 266 Vgl. Detlef D. Kauschke: „Alternatives Angebot“, in: JA 24.10.02; alle Angaben zu Masorti aus ebd. und von deren eigener Internet-Seite: www.masorti.de. – Zu der Berufung der in der Masorti-Bewegung tätigen ersten beiden weiblichen Rabbiner in Deutschland vgl. in Kap. II.1.4.4., S. 125. 267 Ederberg übernahm außerdem die Rabbinerstelle in Weiden.
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spricht. Ederberg kann sich daher durchaus vorstellen bspw. nachmittags in einer Berliner Synagoge zu amtieren, ohne mit den bestehenden Angeboten zu konkurrieren. Entsprechende Angebote der konservativen Synagoge Fraenkelufer nahm sie bereits wahr. Daher bestehen auch keinerlei Pläne für eine eigene MasortiSynagoge in Berlin. Dazu meint sie: „Eine Synagoge zu eröffnen, die nur die Beter von anderen Synagogen abzieht, halte ich für vollkommen falsch. Es ist für mich einfach natürlich in der Einheitsgemeinde zu sein. Und die Berliner Gemeinde ist so pluralistisch, dass es absurd wäre, etwas daneben aufzubauen.“268 Schließlich soll hier noch die mittlerweile auch als e. V. existierende und in ihren Aktivitäten weit über Berlin hinaus international ausstrahlende Initiativgruppe Bet Debora (Haus der Debora) angeführt werden, die im Mai 1999 die erste ‚Tagung europäischer Rabbinerinnen, Kantorinnen und rabbinisch gelehrter und interessierter Jüdinnen und Juden‘ in Berlin am symbolischen Ort in den Räumen der Neuen Synagoge und des ,Centrum Judaicum‘ durchführte.269 Es trafen sich etwa 200 jüdische Frauen und einige Männer aus dem In- und insbesondere europäischen und nordamerikanischen Ausland, um über die Rolle der Frau in der jüdischen Religion, eigene Erfahrungen und Ansprüche sowie Perspektiven für die Zukunft zu diskutieren. Gegenüber Anwürfen der einseitigen Parteinahme für das liberale Judentum verwahrte sich die Initiative entschieden.270 Die beiden folgenden Tagungen waren bereits stärker inhaltlich orientiert. Die zweite Tagung fand im Mai 2001 unter dem Titel „Die jüdische Familie – Mythos und Realität“ statt und stellte die Pluralität heutiger jüdischer Lebensverhältnisse zwischen herkömmlichen Familienstrukturen und neuen Lebensformen mit zum Teil nichtjüdischen LebenspartnerInnen und Kindern in den Vordergrund.271 Im Mai 2003 organisierten die Veranstalterinnen bereits die dritte Tagung zu dem brisanten Thema „Macht und Verantwortung“, die mit der Wahl des Veranstaltungsortes, der Volkshochschule Prenzlauer Berg, auch außerjüdisch Präsenz zeigte.272
268 Zit. Nach D. D. Kauschke in: JA 24.10.02 269 zu dieser Konferenz vgl. Sebastian Rainer Meyer: „Das Haus der Debora war gut besucht“, in: Aufbau 12/1999. 270 So erwiderte Lara Dämmig für die Veranstalterinnen: „Es war kein Anliegen unserer Konferenz, die Orthodoxie zu bekämpfen. Wir hatten auch orthodoxe Frauen untere unseren Teilnehmerinnen. Uns war es wichtig, den Dialog zu suchen und zu zeigen, wie vielfältig das ist, was jüdische Frauen heute machen.“ Zit. nach ebd. In der Öffentlichkeit wurde der offensichtlich falsche Eindruck religiöser Einseitigkeit durch einen Artikel von Sebastian Engelbrecht in der Süddeutsche Zeitung transportiert; vgl. ders. „Kampf den Orthodoxen“, in: SZ 17.05.99. 271 Zur zweiten Bet-Debora-Tagung vgl. Sybille Salewski: „Vater, Mutter, Kind“, in: AJW 21.06.01 sowie Elisa Klapheck: „,Wir wollen nicht in eine Frauennische‘“ (Gespräch mit Hans Ulrich Dillmann)“, in: ebd. 272 Zur dritten, mittlerweile auch durch die JGB unterstützt Bet-Debora-Tagung vgl. Sybille Salewski: „Ist Macht weiblich?“, in: JA 05.06.03.
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2.3.2. Soziokulturelle Einrichtungen sowie gewerbliche Aktivitäten Seit den späten 80er Jahren entwickelten sich eine Fülle von jüdischen Projekten, Initiativen, Vereinen und Läden außerhalb der JGB, die zum Teil mit oder ohne deren Unterstützung existieren. Einige der sich in den letzten Jahren etablierenden Aktivitäten reichen in ihren Wurzeln bis vor die Umbruchszeit 1989/90 zurück. Denn schon in den Jahren zuvor hatte vor allem bei in der zweiten Generation in Deutschland lebenden Diasporajuden ein Prozess der Selbstreflexion und der eigenen Positionsbestimmung eingesetzt (vgl. Kap. I.1.2.4.), der bereits damals vereinzelt in ganz neuen jüdischen Initiativen außerhalb der Gemeinden niederschlug.273 – In den letzten eineinhalb Dekaden seit 1990 sind außerhalb der Berliner Gemeinde eine Fülle von jüdischen Gruppenaktivitäten, Initiativen, Projekten und geschäftlichen Tätigkeiten entstanden, von denen einige bereits auch nicht mehr existieren. An dieser Stelle werden nur knapp einige von ihnen exemplarisch genannt, die das neu erstandene örtliche jüdische Leben in der Metropole außerhalb der gemeinde schlaglichtartig markieren sollen: (1) Kulturelle und politische Projekte An erster Stelle ist der noch Ostberlin entstandene Jüdische Kulturverein zu nennen, der in seinen Ursprüngen noch in die späte DDR-Zeit und die dortige Wendezeit, also vor den Untersuchungszeitraum der Studie, zurückreicht. Durch seine Beständigkeit und Größe kann er in seiner Bedeutung für die Studie als prototypisch für die Herausbildung auch anderer Gruppenaktivitäten genommen werden und wird noch ausführlich mit einer eigenen Fallstudie behandelt.274 Als ein weiteres bedeutsames Beispiel aus dem Kulturbereich kann die Künstlerinitiative Meshulash (hebr.: Dreieck) gelten, in dem sich künstlerisch, politisch und an intellektuellem Austausch interessierte Juden seit dem Pogrom in Rostock gegen ein Asylbewerberheim 1991 treffen.275 Die Gruppe hatte von Anfang an ein sehr internationales Gepräge. Hier treffen sich vorrangig Wahlberliner westdeutscher Provenienz oder solche, die vor allem aus Westeuropa oder anderen westlich orientierten Staaten wie Israel oder den USA stammen. Seit ihren Anfängen ging die Gruppe mit Aktionen an die Öffentlichkeit, um zu aktuellen Themen vor allem im deutsch-jüdischen Feld mit meist künstlerischen Mitteln kritisch Stellung zu beziehen. Dabei ging es etwa um den Protest gegen die Verschärfung des Asylrechts, gegen das Opfer und Täter gleichsam gedenkendes Mahnmal Neue Wache in Berlin oder um das Engagement für das von einigen 273 Als ein solches frühes Beispiel erwähnen A. Roth und M. Frajman die ‚Jüdische Gruppe Berlin‘, die sich in den frühen 80er Jahren gegen die israelische Invasion im Libanon wandte; vgl. dies.: Das jüdische Berlin heute, S. 207. 274 Zu seinem Entstehungshintergrund in der DDR vgl. Kap. II.1.3.4. In Kap. IV.2., S. 111 f. wird der Verein genauer vorgestellt und untersucht. 275 Zu Meshulash vgl. A. Roth/M. Frajman: Das jüdische Berlin heute, S. 56. Frajman war ein Gründungsmitglied der informellen Gruppe. Auf die etwas anders orientierte Vorgängergruppe Gesher (hebr.: Brücke) wird an anderer Stelle im Berlinspezifika-Kap. III.2.1.3., S. 261 von der Gesprächspartnerin P 18 eingegangen.
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bürgerlichen Bezirkspolitikern und -Initiativen heftig bekämpfte Mahnmal Spiegelwand in Berlin-Steglitz. An den jüdischen Kulturtagen ist die Gruppe – als ein seltenes Berliner Beispiel (!) – mit Installationen und Performances mehrfach vertreten. Aus dem Kreis ging Ende der 90er Jahre die Zeitschrift Golem. Europäisch-jüdisches Magazin hervorgegangen.276 Die ambitionierte Zeitschrift erschien mit drei Ausgaben simultan mehrsprachig (!) auf Deutsch, Englisch und z. T. auf Französisch zwischen Ende 1999 und 2002. Es versuchte, einer jüdische Identitätsfindung der Nach-Schoah-Generationen übernational, Impulse zu geben und wandte sich darüber hinaus auch an interessierte Nichtjuden. Sogar eine israelkritische jüdische Gruppe bildete sich in Berlin: Dem Nahost-Arbeitskreis gehören neben Palästinensern und Israelis auch jüdische und nichtjüdische Deutsche an. Er fordert neben dem Ende der israelischen Besatzung Palästinas die Räumung der Siedlungen und die Anerkennung eines souveränen Palästinensischen Staates mit der Hauptstadt Ost-Jerusalem durch Israel.277 (2) Soziale und Bildungsprojekte Als bekanntestes Beispiel in diesem Bereich kann zunächst das Jüdische Straßenfest erwähnt werden. Es fand erstmals im Juni 1997 statt und hat sich mittlerweile, neben den bereits erwähnten jährlich durch die JGB ausgetragenen kulturellen Großveranstaltungen wie dem jüdischen Filmfestival im Juni und den Jüdischen Kulturtagen im November, als ein weiteres jüdisches ‚Kulturhighlight‘ in Berlin etabliert. Alljährlich wird dieses Straßenfest auf der Oranienburger Straße bei der Neuen Synagoge durchgeführt. Nur im ersten Jahr, also 1997, gab es Proteste von Palästinensern, da es anlässlich des 30. Jahrestages der Wiedervereinigung Jerusalems durch Israel im Juni 1967 stattfand. Auf dem Fest stellen sich jüdische Vereine und Initiativen vor, während gleichzeitig an Ständen jüdische und israelische Spezialitäten, Schmuck, Souvenirs und Bücher angeboten werden. Außerdem gibt es eine Bühne mit Live-Musik, Wettbewerben und Preisen. Die ganze Veranstaltung wird alljährlich durch die JGB und den Bundesverband jüdischer Studenten in Deutschland (BJSD) unterstützt. Es ist A. Roth und M. Frajman zuzustimmen, dass dieses Fest “ein lebhafter Ausdruck der neuen Dynamik und des neuen Selbstbewusstseins der Juden in der Stadt“ ist.278 Einen ebenfalls 1997 entstandenen ganz neuartigen innerjüdischen sozialen Zusammenschluss stellt die Gruppe Yachad (hebr.: gemeinsam) jüdischer Schwulen und Lesben dar. Auch diese Gruppe zeigt bei jüdischen Straßenfesten (s. o.), aber auch bei antifaschistischen Demonstrationen explizit als Juden Präsenz. Wenige Jahre später fand sich ein Israelischer Stammtisch von in Berlin
276 Mit Mitgliedern beider Gruppen bzw. Projekte fanden für die Studie Gespräche statt. (P 18 und P 23) 277 In Kap. IV.4. wird die Gruppe in einer Einzelfallstudie untersucht. Mit einer Vertreterin der NG konnte ich in der Erhebungsphase ein Interview führen (P 22). 278 A. Roth/M. Frajman: Das jüdische Berlin heute, S. 50; alle Informationen zu dem Jüdischen Straßenfest aus ebd. und B. Rebiger: Das jüdische Berlin, S. 181.
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lebenden Israelis zusammen. In diesem informellen Kreis kann man sich auf Hebräisch austauschen und Referenten zu Themen, die diese Klientel ansprechen, lauschen.279 Strukturell ähnlich zu der im vorherigen Abschnitt genannten religiös-weiblichen Initiativgruppe ,Bet Debora‘ soll noch eine weitere über Berlin und die JGB hinausreichende jüdisch-weibliche Netzwerkbildung angeführt werden: Im Oktober 2002 veranstalteten einige Berliner Jüdinnen den Gründungskongress für das Netzwerk jüdischer Frauen in Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Organisationen. Den Initiatorinnen geht es bei der Schaffung dieses Netzwerks unter dem Gesichtspunkt des innerjüdischen Integrationsaspekts darum, dass „Frauen unterschiedlicher geographischer und familiärer Herkunft, unterschiedlichen Alters und jüdisch-religiöser Ausrichtung […] die Möglichkeiten von Austausch und Zusammenarbeit erörtern.“280 Die außerhalb der Berliner Gemeinde entstandene Initiative wird von dieser durch das Zur-VerfügungStellen von Räumen im Gemeindehaus Fasanenstraße wie auch durch die Bereitstellung von Sachmitteln unterstützt. Schließlich soll hier noch der Bildungsbereich außerhalb der Gemeinde und der religiösen Organisationen (s. o.) Erwähnung finden. So eröffnete im Jahr 2002 der deutsch-russisch-jüdische Kindergarten Mitra-Kita in der Leipziger Straße in Berlin-Mitte. Dieser Kindergarten geht auf eine private Initiative zurück. Er wird von einer Russin geleitet und von der ,Vereinigung russischsprachiger Eltern und Pädagogen‘ getragen. Ziel ist die Vermittlung deutscher, russischer und Elemente jüdischer Kultur. Die Eltern sind überwiegend „Russlanddeutsche, binationale deutsch-russische Paare, russisch-jüdische Zuwanderer sowie russische Diplomatenfamilien“.281 Interessant für jüdische Eltern sind neben dem Sprachunterricht in Deutsch und Russisch durch deutsch- und russischsprachige Erzieherinnen die Einführung in jüdische Bräuche und Grundbegriffe der hebräischen Sprache. Weitere jüdische Kindergarteninitiativen sind aktuell im Entstehen. Angesichts der zunehmenden Bedeutung des Bildungssektors auf gesamtgesellschaftlicher Ebene und den Umbrüchen und Schwierigkeiten im jüdischen Bildungswesen dürften auch im jüdischen schulischen Bildungsbereich künftige Initiativen außerhalb der JGB zu erwarten sein. (3) Geschäftliche Aktivitäten Außerdem gab es in der Dekade zwischen 1990 und 2000 in Berlin auch eine Zunahme an geschäftliche Aktivitäten, also die vermehrte Neueröffnung von jü279 VertreterInnen beider Gruppenaktivitäten standen als Auskunftspersonen in der Erhebung zur Verfügung. Auch diese beiden Gruppen werden im zweiten empirischen Teil in Kap. IV.6. und 7. als Einzelfallstudien präsentiert und näher untersucht. 280 Zit. nach Gabriele Noa Lerner und Ewa Alfred: „,Erfahrungen auf der Karriereleiter‘“, in: JA 10.10.02 281 Anke Ziemer: „Kinderbetreuung alternativ“, in: JA 21.11.02. Alle hier genannten Informationen über die ‚Mitra Kita‘ und die anderen Kindergarten-Initiativen vgl. ebd. – Die JGB scheint dieser Entwicklung positiv gegenüberzustehen, vgl. ebd.
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dischen Lebensmittel- und Buchläden sowie Galerien zu verzeichnen. Bis 1992 hatte es immerhin im Osten der Stadt keine entsprechende Einrichtung gegeben und im Westen der Stadt lediglich zwei koschere Lebensmittelgeschäfte (seit 1965 und 1987). Im Westen der Stadt eröffnete 1992 die bekannte Buchhändlerin Rachel Salamander im JGB-Gebäude Joachimstaler Straße 13 in der Nähe des Ku'damms ihre dritte Literaturhandlung (neben München und Wien). Im gleichen Jahr machte wie bereits erwähnt das durch die orthodoxe Addas-JisroelGemeinde betriebene Lebensmittel- und Judaikageschäft Kol Bo, im ehemaligen ‚Jüdischen Viertel‘ in der Nähe der Oranienburger Straße auf,. Direkt neben der Neuen Synagoge öffnete 1993 die Jüdische Galerie in Vorderhaus-Räumen der ZWSt ihre Pforten.282 1997 kam das koschere Lebensmittelgeschäft Pläzl in der Westberliner Passauer Straße in zentraler Lage hinter dem KaDeWe und nahe dem Bahnhof Zoo hinzu.283 Zwischenzeitlich wandelte ein jüdischer Händler im August 2002 seinen ‚Tante-Emma-Laden‘ in der Tegeler Brunowstraße weit außerhalb der Berliner City (!) in das explizit jüdische Lebensmittelgeschäft Israel Deli um. Er sah sich allerdings auf Grund anonym verübter antisemitischer Beschädigungen bereits nach wenigen Monaten zur Schließung seines Ladens gezwungen.284 Seit Herbst 2004 besteht die koschere Fischräucherei Balmi ebenfalls außerhalb des innerstädtischen S-Bahn-Rings in der Neuköllner Lahnstraße. (4) Gastronomiebranche Eine ähnliche Zunahme verzeichnete die Gastronomiebranche im Untersuchungszeitraum, wobei es sich fast durch die Bank um nichtkoschere Cafés und Restaurants handelt.285 Die Ausnahme stellt das bereits erwähnte und seit 1991 bestehende koschere Beth Café der orthodoxen Addas-Jisroel-Gemeinde am Ort der Gemeinde in der Ostberliner Tucholskystraße. Andere jüdische Cafés und Restaurants, die meistens in der zweiten Hälfte der 90er Jahre eröffneten, haben einen ‚koscheren Stil‘, d h. sie verkaufen Spezialitäten aus Israel und Speisen nach jüdischen Rezepten. Eine Auswahl aus dem Osten der Stadt sind das Oren (Oranienburger Straße), Am Wasserturm (Prenzlauer Berg) und die beiden Cafés Barcomi's (Sophienstraße) und Dan-Graham-Pavillon (Auguststraße), beide im ‚Jüdischen Viertel‘ bei der Neuen Synagoge. Eine Auswahl aus dem Westen der Stadt sind: Das Restaurant Tabuna in Alt Moabit im Bezirk Tiergarten, die zwei 282 Mit einer maßgeblich in der Jüdischen Galerie Beschäftigten konnte ein Erhebungsgespräch geführt werden (P 11). Mit einer Einzelfallanalyse in Kap. IV.5. wird auch diese Einrichtung näher untersucht. 283 Mit einem der Ladenbetreiber fand ein Erhebungsgespräch statt (P 15). 284 Der Laden wurde am 9. Dezember 2002 Opfer eines anonymen antisemitischen Anschlags, bei dem die Scheibe des Geschäfts eingeschlagen wurde; vgl. hierzu näher im Antisemitismus-Kap. III.4.1.3., S. 353 sowie III.4.2.2., S. 409 f. Mit dem mittlerweile in Israel lebenden Betreiber des Ladens konnte in der Erhebungsphase keine Befragung mehr durchgeführt werden. 285 Das einzige koschere Restaurant der Stadt ist das It's Gabriel (früher Arche Noah), welches sich seit den 70er Jahren im JGB Gemeindehaus Fasanenstraße befindet.
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Filialen von Salomon Bagels in der Joachimstaler Straße 13 (s. o. die Literaturhandlung) im Gebäudekomplex der dort gelegenen gut bewachten orthodoxen Synagoge und Gemeindeeinrichtungen sowie in den Potsdamer-Platz-Arkaden. Schließlich eröffnete im März 2004 Berlins erste koschere Bäckerei mit angeschlossenem Café in der Dahlmannstraße Nähe Ku'damm. (5) Medienwesen Einen eigenen Bereich der Zunahme jüdischer Aktivitäten im vereinigten Berlin nach 1990 stellt die Medienbranche dar. Bereits oben angeführt wurden die 1990 entstandene Jüdische Korrespondenz, das 1999 gegründete Magazin Golem, sowie die seit 2005 erscheinende Wochenzeitung Jüdische Zeitung. Auch die 2002 im ehemaligen Berliner Arbeiterbezirk Wedding sich 2002 mit einer jüdischen teils nichtjüdischen Filial-Redaktion ansiedelnden ehemaligen New Yorker Emigrantenzeitung Aufbau wird hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt und auf sie an anderer Stelle nochmals eingegangen.286 – Aber auch elektronische Medien entstanden nach 1990. Bereits 1995 war es zum Aufbau des Internetportals haGalil (hebr.: Galiläa) durch zwei Münchner gekommen. Jedoch bietet er auch vor Ort erstellte Berlinseiten an. Es ist der größte jüdische Kultur- und Informationsdienst in Deutschland und einer der weltweit größten. Hier werden von jüdischen AutorInnen Informationen über jüdische Religion sowie jüdische Aktivitäten in Berlin, Deutschland und der übrigen Welt verbreitet. Die Seiten zum Jüdischen Berlin stellen mit ständig aktualisierten deutsch/englischen Texten zu den wichtigsten Aspekten eine der Hauptrubriken dar.287 Die nichtkommerzielle Webpage ist bis heute finanziell vom Ruin bedroht.288 – Als weiteres explizit Berliner jüdisches Medienprojekt entstand 2001 das Internetportal Milch und Honig289, welches ebenfalls den Anspruch besitzt, über Wissenswertes zu jüdischer Religion und Gegenwartskultur in Deutschland und Berlin zu berichten und eine Plattform für den Kauf/Verkauf von Judaika zu schaffen. In der Summe der dargestellten Aktivitäten kann deutlich werden, dass jüdisches Leben im heutigen Berlin im Unterschied zu den ersten Nachkriegsjahrzehnten in Deutschland nicht mehr fast ausschließlich innerhalb der Gemeindestrukturen stattfindet. Im Gegenteil ist doch seit einiger Zeit unverkennbar jüdische Präsenz in immer mehr Lebensbereichen Berlins festzustellen – und damit auch eine größere ‚Berührungsfläche‘ zur umgebenden Mehrheitsgesellschaft.
286 Vgl. im Hype-Kap. III 3.2.2. den Abschnitt zu P 23, S. 316 f. 287 Zu haGalil vgl. im Internet www.hagalil.com. und hier das Revitalisierungs-Kap. III.1.2.1., S. 211 f. 288 Vgl. hierzu Joanna Wiórkiewicz. „Kein Geld für jüdische Kultur online“, in: TAZ 29.10.98 sowie Elke Wittich: „Falsche Eingabe“, in: JA 24.03.05. 289 Zu ‚Milch und Honig‘ vgl. im Internet www.milch-und-honig.com. Er wird im letzten Teil der Studie in Kap. IV.8. in einer Einzelfalluntersuchung genauer analysiert. Mit einer der Initiatorinnen war ein Erhebungsgespräch möglich (P 15).
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2.4. Die Inszenierung Jüdischer Räume in Berlin mit und ohne Juden zwischen ‚Jüdischem Museum‘ und ‚Scheunenviertel‘ „Für die Inszenierung von Erinnerung und Kultur besitzt aufgrund ihrer Geschichte keine andere deutsche Stadt derart geeignete Bühnen wie die deutsche Hauptstadt, insbesondere im östlichen Zentrum.“ (Y. Michal Bodemann)290
Die vorliegende Studie hat im eigentlichen Sinne heutiges jüdisches Leben in Berlin zum Thema. Diese Themenwahl scheint zunächst das Verhältnis und Verhalten von Nichtjuden gegenüber Juden und jüdischen Manifestationen in der Metropole auszuschließen. Tatsächlich erscheint eine Einbeziehung des unmittelbaren nichtjüdischen Umfelds aus zweierlei Gründen dennoch geboten: • Zum einen wird das jüdische Berlin permanent durch das Agieren von Nichtjuden im deutsch-jüdischen Feld mitgeprägt. Deren Einfluss macht sich in ganz unterschiedlichen nichtjüdischen Zugangsweisen zum deutsch-jüdischen Feld bemerkbar, wie in diesem Abschnitt mit zwei Beispielen dargestellt werden soll. • Zum anderen bin ich als Autor der Studie bei den Erhebungsbesuchen in Berlin immer auch Teil der nichtjüdischen Majorität innerhalb des deutschjüdischen Felds. Die Beschäftigung mit den Erscheinungsformen nichtjüdischen Agierens im Untersuchungsfeld stellt daher auch eine notwendige Voraussetzung für dessen Kenntnis und der eigenen Rolle darin dar. Die jüdische Wahrnehmung gewisser Aspekte dieses nichtjüdischen Agierens ist daher auch ein zentraler Themenbereich der empirischen Untersuchung (HypeKap. III.3. und Antisemitismus-Kap. III.4.). Berlin ist zweifelsohne der Ort in Deutschland, an dem jüdische Geschichte und Gegenwart in der öffentlichen Wahrnehmung die stärkste Präsenz aufweisen. Tatsächlich ist das deutsch-jüdische Feld, also Orte und Gelegenheiten ganz unterschiedlicher realer oder kulturvermittelter Berührungen bzw. Auseinandersetzungen der nichtjüdischen Seite mit Juden bzw. jüdischen Kulturäußerungen, in der Metropole viel ausgeprägter vorhanden als andernorts in Deutschland. Die Gründe hierfür sind kaum in einem im gesamtdeutschen Maßstab besonders gearteten Verhältnis zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Bewohnerschaft in Berlin zu suchen. Vielmehr existieren hier ortsspezifische stadtkulturelle Bedingungen, wie sie sich augenscheinlich nirgends sonst in Deutschland in vergleichbarer Weise finden lassen: Auf der nichtjüdischen Seite passte zur allgemeinen Verdrängung und zum Verschweigen der eigenen NS-Vergangenheit die Ignoranz gegenüber dem deutsch-jüdischen Erbe. Dies drückte sich deutschlandweit in dem unbedenklichen Abriss oder der geschichtsvergessenen Umnutzung hunderter jüdischer 290 Ders.: In den Wogen der Erinnerung. Jüdische Existenz in Deutschland, München: dtv 2002, S. 186
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Gottes- und Gemeindehäuser nach 1945 aus. Die einstmals jüdisch geprägte Metropole Berlin ging dabei mit schlechtem Beispiel (beiderseits der Mauer) voran.291 Das Ergebnis dieser jahrzehntelangen Haltung war das Verschwinden eines Großteils der von den Zerstörungen während der NS-Zeit und des Krieges übrig gebliebenen Manifestationen des ehemals reichhaltigen jüdischen Lebens aus dem Berliner Stadtbild oder auch ‚nur‘ aus dem kollektiven Gedächtnis: Die ehemals jüdische Bedeutung verschiedener Straßen, Plätze und Bauten. Diese Situation änderte sich seit den späten 70er Jahren nachhaltig. Engagierte Juden wie Nichtjuden beschäftigten sich nun nicht nur mit den örtlichen Spuren der Schoah bzw. deren Opfer und Täter, sondern ‚entdeckten‘ zunehmend auch verschüttete Spuren des jüdischen Großstadtlebens vor der NS-Zeit. Neben einer Zunahme der Einrichtung von Gedenkorten, Gedenkstätten, der Restaurierung von Synagogen und jüdischen Friedhöfen waren es in den letzten 10 bis 15 Jahren darüber hinaus aber auch ursprünglich nicht aus Deutschland stammende ganz andere kulturelle Manifestationen jüdischer/jiddischer Kultur, die ‚in Mode‘ kamen wie beispielsweise die osteuropäisch-jüdische Klezmermusik oder die jüdisch-amerikanischen BAGELS. Die Gemeinsamkeiten all dieser Aktivitäten bestehen gleichsam darin, dass es sich in den meisten Fällen um nichtjüdische Inszenierungen jüdischer Räume handelt, sei ihr Entstehen politisch, wissenschaftlich oder kommerziell motiviert. Auf die Implikationen dieser nichtjüdischen Inszenierungen für das jüdisch-deutsche Feld wird an anderer Stelle der Studie genauer eingegangen.292 Besonders massiv äußern sich nichtjüdische Zugangsweisen zu Jüdischer Kultur in den letzten Jahren ‚am historischen Ort‘ Berlin, wo eine relativ große Zahl von Zeugnissen der jüdischen Vergangenheit der Stadt wie deren Vernichtung vorhanden sind. Selbstverständlich gibt es auch andernorts Manifestationen der hiesigen fast zweitausendjährigen jüdischen Geschichte und Gegenwart sowie jüdische Museen, die auch angesichts der relativ wenigen hier lebenden Juden in der Mehrzahl von einem nichtjüdischen Publikum besucht werden. Den291 Vgl. hierzu die sehr umfassende Publikation von Ulrich Eckhard und Andreas Nachama: „Jüdische Orte in Berlin“, Berlin 1996. – Eine ähnliche Haltung lässt sich noch bis in die frühen 80er Jahre gegenüber den Orten und Rudimenten der NS-Herrschaft in Berlin feststellen. So befand sich beispielsweise in Westberlin auf dem Gelände des Reichsicherheitshauptamtes der SS; also deren europaweiter Verfolgungs- und Vernichtungszentrale im Herzen Berlins, bis in die 80er Jahre ein Autoscooter-Platz. Erst 1987 wurde auf dem unmittelbar an die Mauer zwischen den damaligen Stadthälften grenzenden Gelände nach der Ausgrabung der ehemaligen Folterkeller die Gedenkstätte Topographie des Terrors konzipiert. Sie wurde, nach bis heute (2005) nicht endenden Querelen um ein dem Anlass entsprechendes repräsentatives Gebäude, nur als Torso verwirklicht. Immerhin wurde die Einrichtung seit ihrer Gründung von über einer Million Menschen besucht. 292 Zu ‚Jüdischen Räumen ohne Juden‘ vgl. das entsprechende Stichwort im Begriffsbestimmungs-Kap. I.3.2.1., S. 39 f.; zu den modischen Inszenierungen des Jüdischen und vgl. insbesondere im ersten empirischen Teil der Untersuchung im Hype-Kap. III.3.2. die Aussagen der GesprächspartnerInnen hierzu.
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noch bestehen nur in der neuerlichen deutschen Hauptstadt Berlin jüdisch konnotierte Orte in dieser Häufung und Unterschiedlichkeit, deren Besucherzahlen in den letzten Jahren in die Hunderttausende gehen. An erster Stelle sind hierbei das sog. ‚Jüdische Viertel‘ (oder fälschlicherweise als ‚Scheunenviertel‘293 bezeichnet), d. h. insbesondere die Touristenmeile um die Oranienburger Straße in der östlichen Innenstadt sowie das ‚Jüdische Museum Berlin‘, eine im ehemaligen Westteil der Stadt gelegene weitere wichtige Kultureinrichtung zu nennen. Beide extrem unterschiedliche Stadträume bzw. Orte können in ihrer jeweiligen Entstehungsgeschichte und in ihrem Äußeren zugleich als Stein gewordene Zeugnisse der Wandlung einer über die Schoah hinausreichende Erinnerungskultur an jüdisches Leben in Deutschland in den letzten beiden Jahrzehnten gelten. Trotz oder vielleicht gerade auf Grund ihrer großen Popularität sowie angesichts ihres komplexen geschichtlichen bzw. Entstehungshintergrunds bleiben beide nicht frei von Missverständnissen auf Seiten ihrer überwiegend nichtjüdischen Nutzerinnen. Für das Verständnis des deutsch-jüdischen Feldes als komplexer und widersprüchlicher Deutungsraum zwischen Juden und Nichtjuden in Berlin als ein unverzichtbarer Untersuchungsgegenstand der Studie erscheint eine Vorstellung beider Zentren der Thematisierungen des Jüdischen in Berlin mit zwei Exkursen unverzichtbar.
2.4.1. Exkurs: Das Jüdische Museum Berlin „Wenn ich in Kreisen der Wirtschaft Geld fürs Museum sammele, kommt es schon vor, daß ein Vorstandsvorsitzender zu mir sagt:‚Ach ich muß jetzt für die Zwangsarbeiter zahlen, und im übrigen haben wir schon genug für die Juden getan.‘ Dann antworte ich ihm: ‚Das ist ein Mißverständnis. Das ist kein Museum für Juden. Das ist ein Museum für euch, für Nichtjuden. Wir Juden brauchen kein Museum.‘“ W. Michael Blumenthal294
Die Ursprünge des Jüdischen Museums Berlin liegen in einer seit 1933 von der jüdischen Gemeinde der Stadt betriebenen Vorgängerinstitution, der zeitbedingt nur wenige Jahre bis zu ihrer Zerschlagung nach den Novemberpogromen 1938 beschieden waren.295 Die jüngeren Wurzeln des heutigen Museums reichen immerhin in die Westberliner Museumslandschaft des Jahres 1971 zurück, als die JGB ihres dreihundertsten Geburtstages mit der Ausstellung ‚Leistung und 293 Vgl. hierzu unten den Exkurs ‚Mythos Scheunenviertel‘ Kap. II.2.4.2., S. 165 ff. 294 W. Michael Blumenthal: „Wir sind ein deutsches Geschichtsmuseum.“ (Gespräch), in: Jüdisches Museum. Spezial der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung“, Berlin 2001, S. 24. 295 Die Bestände dieses Museums gingen mit Ausnahme der Gemäldesammlung weitgehend verloren. Vgl. zu dieser Institution Hermann Simon: „Zur Stärkung von Lebensmut und Widerstandswillen.“, in: „Jüdisches Museum. Spezial der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung“, Berlin 2001, S. 30 ff.
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Schicksal‘ im Westberliner Berlin Museum296 gedachte. Hiernach wurde von verschiedener Seite der Wunsch immer deutlicher artikuliert, an das frühere jüdische Museum der Stadt anzuknüpfen und die über die Stadt verstreuten Exponate des ,Berlin Museums‘ in einem neuen Museum zusammenzuführen. 1975 gründete sich ein entsprechender Förderverein. 1989, kurz vor der Wende in der DDR, entschied sich der Berliner Senat dafür, für die jüdische Abteilung ein eigenständiges Museumsgebäude zu errichten. Hierfür wurde ein Architekturwettbewerb ausgelobt, in dem sich 1989 der jüdische US-Architekt Daniel Liebeskind mit seinem expressiv- kühnen Entwurf gegenüber der zahlreichen Konkurrenz durchsetzte. Er gab dem von außen metallisch glänzenden verwinkelt-asymetrischen Museumsbau die Form eines gezackten Blitzes, welche dekonstruktivistisch einen aufgebrochenen Davidstern symbolisiert. Mit der Errichtung des Liebeskind-Baus konnte rasch begonnen werden, und etwa zeitgleich mit dem Richtfest im Jahr 1995 wurde der aus Israel stammende Amnon Barzel von einer Jury einstimmig zum ,Direktor des Jüdischen Museums als Abteilung im Stadtmuseum‘ berufen. In den folgenden Jahren entbrannte allerdings zwischen Barzel und seinem Vorgesetzten, dem Generaldirektor des ‚Berlinmuseums‘ Reiner Güntzer, ein Streit darüber, ob die jüdische Sektion eine Unterabteilung des Stadtmuseums bleiben sollte. Barzel ging es dabei um die künftige Autonomie der jüdischen Abteilung als eigenständiges Museum. Außerdem war er eher an einem Museum des Judentums in Berlin, Deutschland und der Welt als an einer spezifisch auf die jüdische Geschichte der Stadt bezogenen Einrichtung interessiert. Die Auseinandersetzung gewann immer mehr an Schärfe und wurde bald auch vom politischen Establishment Berlins, nicht frei von teilweise antisemitischen Untertönen, ausgetragen. Auf dem Höhepunkt des Konfliktes wurde Barzel im Sommer 1997 gekündigt – ein Skandal erster Güte, schließlich handelte es sich um die erste Suspendierung eines bedeutenden deutschen Museumsdirektors nach 1945! Die Leitung der Jüdischen Gemeinde lehnte die weitere Mitarbeit an der Errichtung des Museums per Resolution ab, zeigte sich aber weiterhin gesprächsbereit. Die Auseinandersetzung um die Konzeption des künftigen Museums belastete das Verhältnis zwischen der JGB und dem Berliner Senat über Jahre und drohte zur Provinzposse zu verkommen.297
296 Das 1962 gegründete und seit 1969 im barocken Kollegienhaus bzw. Kammergericht (1735) in Berlin-Kreuzberg residierende ,Berlin-Museum‘ war vor deren Vereinigung das Wesberliner Pendant zum Ostberliner ,Märkischen Museum‘. 297 Eine Rekonstruktion der Geschichte des Museum schrieb im Jahr 2000 noch vor dessen Eröffnung der Berliner Tagesspiegel-Redakteur Thomas Lackmann unter dem Titel „Jewrassic Park. Wie baut man (kein) jüdisches Museum?“. Der Titel ist eine Anspielung auf den Erfolgsfilm von Spielberg, in dem eine künstlich animierte Tierart (‚Dinos‘), die Zäune ihres Geheges niederreißt. Auch wenn der reißerische Titel die komplizierten Verhältnisse im Berliner jüdisch-deutschen Feld kaum fassen kann, verweist die Ironisierung auf die mitunter absurd anmutenden, wahlweise anti- oder philosemitischen Possen des deutsch-jüdischen Terrains.
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An diesem Punkt nahm die Auseinandersetzung eine überraschende Wendung: Es gelang der Stadt Berlin nun, als Barzels Nachfolger in der Leitung des künftigen Museums mit dem ehemaligen US-Finanzminister und engen Berater von John F. Kennedy W. Michael Blumenthal eine allgemein anerkannte Persönlichkeit zu gewinnen. Dieser war 1926 in Oranienburg bei Berlin als Sohn deutscher Juden geboren worden und zunächst noch in Berlin aufgewachsen, bis er, vom NS-Staat verfolgt, mit seiner Familie in die USA emigrieren musste. Unter seiner Führung gelang es noch im Dezember des gleichen Jahres 1997, das Jüdische Museum Berlin als unabhängige Institution durchzusetzen und seine inhaltliche Konzeption an der nahezu zweitausendjährigen jüdischen Geschichte Deutschlands mit dem eindeutigen Schwerpunkt der Berliner Entwicklung auszurichten. Das eigenständige Museum wurde aus der Zuständigkeit der Stadt Berlin in die Trägerschaft des Bundes überführt. Der im Januar 1999 der Öffentlichkeit zugänglich gemachte leere (!) Liebeskind-Bau entwickelte sich in den zweieinhalb Jahren bis zur eigentlichen Museumseröffnung zum beispiellosen touristischen Großereignis und wurde von über 100.000 Menschen besichtigt. Inhaltlich unterscheidet sich das Museum nach seiner 2001 erfolgten Eröffnung von aktuellen modischen Inszenierungen des Jüdischen in Berlin298 qualitativ durch seinen aufklärerischen Anspruch: Schließlich wird hier die Entwicklung des Judentums in Deutschland in einer über den Vertreibungs-/HolocaustKontext der NS-Zeit bis in seine Anfänge in der Spätantike hinausweisenden nahezu zweitausendjährigen Perspektive erfahrbar gemacht und auch die Entwicklung der hiesigen jüdischen Gemeinschaft bis in die Gegenwart in einer eigenen Abteilung veranschaulicht. Dabei nimmt die Darstellung der wechselvollen jüdischen Existenz in Berlin einen besonderen Schwerpunkt ein. Wechselnde Ausstellungen zu aktuellen Themen (bspw. 2005: ‚jüdische Gegenwartsarchitektur‘) runden das Programm ab. Außerdem ist hervorzuheben, dass in dieser staatlichen Einrichtung Juden und Nichtjuden gemeinsam an zeitgemäßen Vermittlungsversuchen hiesiger jüdischer Existenz in Vergangenheit und Gegenwart arbeiten. Auch wenn wenige Tage nach dem 11. September 2001 die eigentliche Museumseröffnung von den schrecklichen Ereignissen in New York überschattet wurden, kann das Museum als eines der Publikumsmagneten des heutigen Berlins bezeichnet werden, dessen Besucherzahlen längst in die Hunderttausende gehen. Damit ist es eines der bestbesuchten Museen in Deutschland! ZU keiner Zeit nach 1945 beschäftigten sich bisher in Deutschland so viele Menschen an einem Ort und in einer Institution mit der jüdischen Geschichte und Gegenwart des eigenen Landes. Allerdings ist es nach äußerer Form, inhaltlichen Schwerpunkten und nach seiner hier skizzierten Entstehungsgeschichte ebenso Resultat des schwierigen jüdisch nichtjüdischen Verhältnisses der letzten Jahrzehnte – und weist auch damit über die Fragestellungen der Studie hinaus. 298 Vgl. den folgenden Exkurs zu den touristisch motivierten Inszenierungen des Berliner Scheuneviertels Kap. 2.4.2.
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2.4.2. Exkurs: Mythos Scheunenviertel am falschen Ort „Kaum ein anderes Berliner Viertel hat in den letzten Jahren solche Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit (…) erfahren wie diese Spandauer Vorstadt. Über kaum eines existieren so viele Klischees und romantische Vorstellungen. […] ,Scheunenviertel‘ lautet das Zugwort – nur leider stimmt es so nicht.“ Ulrike Steglich/Peter Kratz:299
Die Gegend der Spandauer Vorstadt im östlichen Zentrum Berlins hat seit den späten DDR-Tagen mit dem Entschluss zur Rekonstruktion der Neuen Synagoge und ihrer goldenen Kuppel in der Oranienburger Straße bis heute ein ungeahntes Interesse ausgelöst und vor allem auf Touristen eine geradezu magische Anziehungskraft hervorgerufen. Es bildet von seiner Lage her den westlichen Teil der Spandauer Vorstadt, die im Wesentlichen bis heute der städtebaulichen Anlage des 18. Jahrhunderts entspricht. Seit 1990 ist die Spandauer Vorstadt als Ganzes Berlins einziges Flächendenkmal sowie seit 1993 auch ein Sanierungsgebiet. Tatsächlich erfuhr der westliche Teil dieses einstmals gutbürgerliche Quartiers dabei unter touristischen Aspekten einen z. T. merkwürdige ‚Adelung‘, nämlich in der fälschlichen Gleichsetzung mit einem östlich davon gelegenen Armutsquartier: dem Scheunenviertel. Das Phänomen des falschen Scheunenviertels hat einen etwas komplizierten Hintergrund, handelt es sich dabei doch im doppelten Sinne um eine Missverständnis oder eine Fälschung: Denn die falschen Projektionen beziehen sich dabei ebenso auf die stadthistorische lokale Topographie wie sie gleichermaßen als Bestandteil jüdisches Leben in Berlin aus- und überblenden, in dem sie es folkloristisch idyllisieren. In dem im Unterschied zur Spandauer Vorstadt historisch zutreffend mit Scheunenviertel bezeichneten Quartier hatten die Berliner Ackerbürger nach einer neuen Feuerverordnung des späten 17. Jahrhunderts außerhalb der damaligen Stadt vor deren Toren 27 Scheunen errichtet, bevor die Gegend im Zuge der Stadterweiterungen des 18. Jahrhunderts zum Wohnviertel ‚kleiner‘ Leute wurde.300 Es bildet von seiner Lage her den östlichen Teil der Spandauer Vorstadt, der durch den Hackeschen Markt und die Rosenthaler Straße von der ehedem reicheren westlichen Spandauer Vorstadt (s. o.) getrennt ist. Seit dem späten 19. Jahrhundert, insbesondere nach den Pogromen von 1881 und 1905 in Russland, Litauen und Polen301, wurde es zur bevorzugten Wohngegend von aus Osteuropa zugewanderten meist sehr armen Juden. Viele von ihnen träumten von einer Weiterwanderung nach Palästina oder in die USA.302 Der Erste Weltkrieg brachte 299 Dies.: „Das falsche Scheunenviertel. Ein Vorstadtverführer“, 2. Aufl., Berlin: V.Buchhandlung Sievert 1997, S. 4 300 Vgl. B. Rebiger: Das jüdische Berlin, S. 186 – Mit dem Beibehalten dieses Namens verband sich also bereits seit über 200 Jahren etwas Imaginäres. 301 Beide Länder waren damals vom zaristischen Russland annektiert. 302 Vgl. zu den damaligen sog. ‚Ostjuden‘ Kap. II.1.1.1., S. 83.
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dem Quartier einen erneuten jüdischen Einwandererschub aus Osteuropa. Bis zu 40.000 verarmte osteuropäische Juden lebten hier nun auf meist engstem Raum. Die osteuropäisch-jüdischen Zuwanderer unterschieden sich deutlich durch ihre fremd anmutende Kleidung, ihre Bräuche und ihre jiddische Sprache von der übrigen Berliner Bevölkerung. Befremden mischte sich häufig mit Abscheu.303 Dennoch war es kein Ghetto im historischen Sinne wie etwa in Deutschland noch bis in die napoleonische Ära, da es ja im Unterschied zu einem solchen nicht für eine mit strengster Wohnbeschränkung belegte jüdische Bevölkerung eingerichtet wurde. Auch glich es nach Bevölkerungszusammensetzung nicht den osteuropäisch-jüdischen Schtetl, da im Gegensatz zu diesen die ostjüdischen Zuwanderer hier auf engstem Raum neben ihren ebenfalls meist ärmlichen nichtjüdischen Nachbarn lebten. „Die Mischung war bunt: Huren, Straßenhändler, die Obst, Gemüse, Kartoffeln, Geschirr und Trödel anboten, Arbeitslose, […] Trinker, ‚Luftmenschen‘, christliche Bettler und jüdische Schnorrer, […] jede Menge Geschäfte, Betstuben, Kneipen.“304 Die Halbwelt dieser Gegend war im Berlin der Weimarer Republik verrufen und legendär, übte zugleich auf Intellektuelle wie etwa Heinrich Mann und Bert Brecht eine gewisse Faszination aus.305 Schon in den zwei Jahrzehnten vor der NS-Zeit wurde das Viertel durch Abriss eines Teils der alten Häuser dezimiert und an seiner Stelle mit der Anlage des damaligen Bülow- und heutigen Rosa-Luxemburg-Platzes mit einer massiven Neubebauung mit der Volksbühne (1913 bis 1915) sowie in den 20er Jahren mit Wohn- und Geschäftshäusern, der Parteizentrale der KPD (bzw. PDS) sowie dem Großkino Babylon, alle diese Bauten im Stil der Neuen Sachlichkeit, ‚aufgewertet‘. Der südliche Teil des Quartiers wurde nun zum Szene- und Vergnügungsviertel der damaligen Kultur-Schickeria. Schließlich wiesen die Nazis, nach jahrelangem Polizeiterror, etwa 10.000 aus dem ehemals zu Russland gehörenden Polen eingewanderte jüdische Bewohner (s. o.) im Oktober 1938, knapp zwei Wochen vor der Reichspogromnacht, nach Polen aus. Nach Kriegszerstörungen verfiel der „größte Teil des Scheunenviertels (jedoch) in der DDR-Zeit und war zum Abriss vorgesehen. Straßennamen und Hausnummern wurden geändert. 303 Dies galt allerdings nicht nur für eingeschworene Antisemiten. Hierzu war auch das Gros der weitgehend assimilierten deutsch-jüdischen Bürgerschaft im Berlin jener Jahre zu zählen: Die eingewanderten „orthodoxen Juden mit ihren Kaftanen und Schläfenlöckchen [waren] so eindeutig Fremde, so völlig verschieden von ihren assimilierten Glaubensbrüdern, dass diese ihnen mit größter Distanz begegneten. Zudem fühlten sie sich durch die jämmerlichen, ärmlichen Gestalten auf unangenehme Weise an die eigene Geschichte, ihre jahrhundertelange Ablehnung als Fremde erinnert.“ U. Steglich/P. Kratz: Das falsche Scheunenviertel, S. 192 304 Steglich/P. Kratz: Das falsche Scheunenviertel, S. 193 305 Vgl. B. Rebiger: Das jüdische Berlin, S. 188. Sie lieferte den Stoff für viele damalige Bücher, Theaterproduktionen und Filmen den Stoff jener Jahre: Alfred Döblin hat diesem Viertel und seinen Bewohnern mit seinem Buch „Berlin Alexanderplatz“ (1929) ein bleibendes Denkmal gesetzt. Das Buch, wie auch die spätere zweite filmische Adaption durch R. W. Fassbinder (die erste von P. Jutzie stammt bereits von 1931), fanden weit über Deutschland hinaus große Resonanz.
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Hebräische Inschriften verblassten, Putz bröckelte, Mieter zogen fort. Seit der Wiedervereinigung wurde das Gebiet zum größten Teil saniert“.306 Heute erinnert an die relativ kurze Episode jüdischen Lebens in dieser Gegend Berlins fast nichts mehr: „Das Scheunenviertel: Im Grunde existiert es nicht mehr. Der Name hält sich hartnäckig, zum Ärgernis der Alten, die hier wohnten und wohnen.“307 Südwestlich und westlich des Scheunenviertels grenzten Stadträume an, die schon viel früher als dieses, nämlich seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zur bevorzugten Wohngegend der sich überwiegend als Deutsche verstehenden Berliner Juden geworden waren: nämlich die westliche Spandauer Vorstadt.308 Hier, zwischen Hackeschem Markt im Osten und Oranienburger Tor im Westen, um „die Oranienburger Straße […] befand sich der gutbürgerliche, ja reiche Teil der Spandauer Vorstadt.“309 Diese Gegend war zugleich fast hundert Jahre lang bis in die NS-Zeit hinein das Zentrum des jüdischen Lebens in Berlin, wenn nicht sogar des gesamten damaligen Deutschlands.310 Hier befand sich neben den wichtigsten jüdischen Gemeinde-, Sozial- und Bildungseinrichtungen der Stadt seit den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts das größte und prächtigste jüdische Bethaus Deutschlands, die Neue Synagoge – als Tempel der Reformbewegung ein Stein gewordenes Denkmal deutsch-jüdischen Selbstbewusstseins vor 1933. Nach der Vertreibung und Vernichtung der Berliner Juden sowie den Kriegszerstörungen war in der Spandauer Vorstadt von all dem praktisch nichts mehr übrig geblieben. Das Viertel führte während der DDR-Zeit ähnlich dem ehemaligen Scheunenviertel ein Schattendasein und verfiel zusehends. Erst kurz vor deren Ende, mit der Grundsteinlegung zur Rekonstruktion des Vorderteils der Neuen Synagoge und der Einrichtung des Centrum Judaicum in der Oranienburger Straße zeichnete sich noch vorsichtig eine neue Bestimmung für das Viertel ab. Nach der Wende wurde die Straße und Zug um Zug auch die übrige westliche Spandauer Vorstadt bald zunächst von Künstlern und einer sich nach Osten aufmachenden Kneipenszene entdeckt.311 Auch ein Straßenstrich etablierte sich bald 306 B. Rebiger: Das jüdische Berlin, S. 188 f. 307 Steglich/P. Kratz: Das falsche Scheunenviertel, S. 209 308 Das nordwestlich des historischen Stadtkerns gelegene Viertel heißt nach der zur Zeit des Absolutismus noch eigenständigen Festungsstadt Spandau (dem heutigen Berliner Bezirk). Die Hauptstraße zwischen beiden Städten führte hier durch, da der kürzeste Weg durch den Tiergarten auf Grund seiner damaligen Nutzung als königliches Jagdgebiet für den allgemeinen Verkehr gesperrt war; vgl. ebd., S. 6. 309 Ebd., S. 7 310 Rund um die Synagoge befanden sich allein mehr als 100 jüdische soziale und Bildungseinrichtungen; vgl. U. Eckhard/A. Nachama: Jüdische Orte in Berlin, S. 9 – Ein weiteres jüdisches Zentrum hatte sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in der westlichen City Berlins entwickelt, wo auch bis heute die JGB ihr westliches Gemeindezentrum besitzt in dessen Nähe mittlerweile auch wieder viele jüdischen Einrichtungen inner- und außerhalb der JGB angesiedelt sind. 311 Das Kulturzentrum Tacheles in der riesigen Ruine eines gründerzeitlichen Warenhauses kann gegenwärtig als das zweite Wahrzeichen der Straße und anarchisches Pendant zur perfekt rekonstruierten goldenen Kuppel der Neuen Synagoge gelten.
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auf der nächtlichen Oranienburger. „Die entstandene Mischung aus allem ergibt ein Flair, das schwer zu beschreiben ist. Das Image vom grauen Osten […]. Über allem liegt der Hauch von Geschichte, der sich stellenweise wie Schichten verschiedener Sande überlagert […] – die Zeit der DDR, die Nazi-Zeit, die 20er Jahre, die Zeit nach der Reichsgründung von 1870/71 und viel Früheres.“312 Seit dem Fall der Mauer ist die Oranienburger Straße und ihre Umgebung zum festen Bestandteil des Berliner Sightseeing-Tourismus avanciert. Hierfür wird diese Gegend der westlichen Spandauer Vorstadt gerne mit dem Etikett ‚Scheunenviertel‘ vermarktet.313 Diese Falschettiketierung kann heutzutage allerdings nur auf Grund von zwei Bedingungen funktionieren: So erinnert längst nichts touristisch Verwertbares mehr an den Ort des ehemaligen Scheunenviertels und seiner früheren osteuropäisch-jüdischen Bewohner. Umgekehrt können touristische Besucher der Gegend um die Oranienburger Straße der Täuschung des falschen Scheunenviertels obliegen, weil hier ein zunächst kaum überschaubarer Mix an ehemaligen sowie heutigen jüdischen Einrichtungen mit meistens von Nichtjuden dargebotenen pseudo-jüdischen Kulturfragmenten existiert, die früher hier gar nicht existierten wie Klezmermusik oder Kaftan-Juden. Von historischen Tatsachen unbenommen können sich eilige Touristen in der Gegend um die Oranienburger Straße auf ihrem Kurztrip ins ‚jüdische Berlin‘ daher leicht am Originalschauplatz der ehemaligen osteuropäisch-jüdischen Kultur in Berlin wähnen, indem ihnen hier das ,Scheunenviertel‘ mit einer Prise Schtetlromantik angepriesen wird, ohne einen Hauch realen jüdischen Lebens mitzubekommen.314 Auf das falsche Scheunenviertel im Zusammenhang mit weiteren nichtjüdischen Inszenierungen des Jüdischen wird im empirischen Teil der Studie noch genauer aus dezidiert jüdischer Perspektive eingegangen.315 312 U. Steglich/P. Kratz: Das falsche Scheunenviertel, S. 115 313 Sogar A. Roths und M. Frajmans ‚Wegweiser‘ kolportiert in einem dem eigentlichen Buch vorangestellten Prolog „Auf einen Blick“ das Missverständnis eines ehemals bis in die Spandauer Vorstadt ausgedehnten Scheunenviertels; vgl. dies. Das jüdische Berlin heute, S. 6.; ähnlich Daniel Feuerstein in der Berliner (!) Tageszeitung (TAZ): „Fromme Juden haben das Gotteshaus am Scheunenviertel vor 1933 gemieden, liberale dort ihr geistiges Zentrum gefunden“, nach ders.: „Der Fromme kommt nicht hierher“, in: TAZ 04./05.07.98. 314 Möglicherweise waren es die NS-Machthaber, die mit dem Scheunenviertel erstmals den Etikettenschwindel versuchten. „Es gibt eine These, die besagt, dass die Nazis bewusst den nun mit dem Beigeschmack des Asozialen, Verkommenen behafteten Begriff ,Scheunenviertel‘ auf die gesamte Spandauer Vorstadt ausdehnten, um damit das Viertel zu diskreditieren, das auch eines der Zentren des jüdischen Gemeindelebens war. Wenn das stimmen sollte, hat es zumindest nicht gegriffen. Niemand der in der Sophien- oder Auguststraße wohnte, wäre auch nur auf den Gedanken gekommen, im Scheunenviertel zu wohnen.“ U. Steglich/P. Kratz: Das falsche Scheunenviertel, S. 208. Die Zeiten haben sich in dieser Hinsicht gründlich gewandelt: „Selbst das Christliche Hospiz in der Auguststraße konnte nicht widerstehen, mit dem Reizwort (im doppelten Sinne) in einem seiner Prospekte zu kokettieren. Wir im Scheunenviertel“, ebd., S. 209. 315 Vgl. Kap. III.3.1.2., S. 298 f. und vor allem III.3.2.
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2.5. Spezifische örtliche Bedingungen gegenwärtiger jüdischer Existenz in Berlin Leitend für das weitere Vorgehen ist das Hauptergebnis der bisherigen Rekonstruktion der Herausbildung des heutigen jüdischen Lebens in Berlin seit 1945, dass diesem gegenwärtig in mehrfacher Hinsicht von Neuem eine Sonderstellung und z. T. Pilotfunktion innerhalb der jüdischen Diaspora in Deutschland zukommt. Außerdem lassen sich die wichtigsten bisher gewonnenen Erkenntnisse über das jüdische Berlin thesenartig umreißen: • Berlin stellt in quantitativer wie qualitativer Hinsicht heute wieder den wichtigsten Ort jüdischen Lebens in Deutschland dar, ohne damit freilich an die frühere örtliche Bedeutung jüdischer Existenz vor 1933 heranzureichen.316 • Die historischen und gegenwärtigen wechselseitigen Bezüge zwischen Juden wie Nichtjuden im deutsch-jüdischen Feld sind in der ehemaligen und neuerlichen deutschen Hauptstadt (Kaiserreich, Weimarer Republik, NS, DDR und Gegenwart) so präsent wie nirgends sonst in Deutschland. • Die Zuwanderung von Juden aus der SU nach Deutschland nahm 1990 von hier (bzw. Ostberlin) ihren Anfang. • Berlin ist die einzige deutsche Stadt, in der es im Zuge des deutschen Einigungsprozesses zur Vereinigung zweier Stadthälften sowie zweier jüdischer Gemeinden (der Westberliner mit der 30-fach kleineren Ostberliner Gemeinde) kam. Damit ist die JGB die einzige Gemeinde, die vor der Aufgabe stand, in kürzester Zeit nicht nur eine große Zahl osteuropäischer Juden aufzunehmen, sondern darüber hinaus auch ostdeutsche Berliner Juden in die westdominierte Gemeinde zu integrieren, ein unvergleichbarer Belastungstest. • Die JGB ist nach Zusammensetzung eine der heterogensten Gemeinden Deutschlands, da hier neben den ca. zwei Dritteln Zuwanderern aus der SU/GUS-Staaten eine relativ große Zahl an deutschstämmigen (23 %) und aus anderen Ländern stammenden Gemeindemitglieder leben (14 %).317 • Unter den Großgemeinden in Deutschland ist die JGB die einzige mit orthodoxen und liberalen Rabbinern sowie unterschiedlichen Synagogen und Betkreisen von sephardisch bis egalitär unter dem Dach einer Einheitsgemeinde. • Außerdem existieren in der JGB eine sonst nirgends erreichte Fülle an Einrichtungen wie bspw. mehrere Friedhöfe, Seniorenheime, Schulen, Jugendzentrum, Volkshochschule und Bibliotheken. • Ohne Beispiel sind deutschlandweit die hohe Zahl jüdischer Einrichtungen und Aktivitäten außerhalb der Gemeinde, nach 1990 vermehrt auch informelle kulturelle Projekte, Geschäfte und gastronomische Einrichtungen.
316 Allein die quantitativen Unterschiede stehen zwischen 1933 mit ca. 160.000 und heute (2006) mit ca. 12.000 jüdischen Einwohnern im Zahlenverhältnis 13:1! 317 Zahlen nach J. Kessler: Mitgliederbefragung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, I. Teil, S. 5, vgl. im Anhang Grafik 1 zur regionalen Herkunft der Gemeindemitglieder, S. 579.
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Bedingt durch die quantitative Größe der jüdischen Gemeinschaft in Berlin, aber auch auf Grund dessen Hauptstadt- und Metropolencharakters, ist die jüdische Gemeinde der Stadt umgeben von einer einmalig großen Anzahl deutschlandweit agierender hiesiger jüdischer Institutionen, Einrichtungen und anderer Aktivitäten. wie der Zentralrat der Juden in Deutschland, die Jüdische Allgemeine, Chabad-Lubawitsch oder die israelische Botschaft und das American Jewish Committee (AJC). Aber auch weit über Berlin hinaus bedeutsame Forschungs- und Publikumseinrichtungen im deutsch-jüdischen Feld sind hier wie nirgends sonst versammelt mit jüdischen wie nicht-jüdische Mitarbeitern, Lernenden und Besuchern: Das Jüdische Museum Berlin, das Centrum Judaicum, Forschungs- und Gedenkstätten wie das Haus der Wannseekonferenz und die Topographie des Terrors oder universitäre Einrichtungen wie das Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin oder in unmittelbarer Nachbarschaft das Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam lassen sich in diesem Zusammenhang benennen.
3 . G e g e n w a r t s - S o z i o lo g is c h e V e r o r t u n g d e r jü d is c h e n G e m e i n s c h a f t im h e u t i g e n D e u t s c h la n d u n d B e r l in „Wenn die vorgeschrittene Kultur den sozialen Kreis, dem wir mit unserer ganzen Persönlichkeit angehören, mehr und mehr erweitert, dafür aber das Individuum in höherem Maße auf sich selbst stellt und es mancher Stützen und Vorteile der enggeschlossenen Gruppe beraubt: so liegt nun in jener Herstellung von Kreisen und Genossenschaften, in denen sich beliebig viele, für den gleichen Zweck interessierte Menschen zusammenfinden können, ein Ausgleich jener Vereinsamung der Persönlichkeit, die aus dem Bruch mit der engen Umschränktheit früherer Zustände hervorgeht.“ Georg Simmel 1908318
3.1. Die Integration der jüdischen Gemeinschaft in die gegenwärtige hiesige nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft Vor dem Hintergrund der Vernichtung jüdischer Diaspora-Existenz in Deutschland während der NS-Zeit sowie ihres zunächst unwahrscheinlich erscheinenden erstaunlichen anschließenden 60-jährigen neuerlichen Aufbaus stellt sich soziologisch die Frage nach ihrer heutigen gesamtgesellschaftlichen Einbindung. Es spricht m. E. einiges dafür, dass die gegenwärtige jüdische DiasporaGemeinschaft in Deutschland – mit immerhin ca. 100.000 Mitgliedern eine der größten in Europa – stärker in die sie umgebende Mehrheitsgesellschaft integriert 318 Ders.: „Die Kreuzung sozialer Kreise“, in: ders. Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 485
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ist als jemals zuvor nach 1945. Der Unterschied erscheint besonders im Vergleich zur o. g. unmittelbaren Nachkriegszeit erheblich. Allen wechselseitigen Vorbehalten zum Trotz haben sich in den letzten Jahrzehnten vielfältige Berührungspunkte zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland und Berlin auf nahezu allen Ebenen ergeben. Vor dem Hintergrund der beiden vorangehenden Rekonstruktionen der Entwicklung auf der deutschlandweiten wie Berliner Ebene werden im Folgenden Indizien einer gewachsenen und weitgehenden jüdischen Integration in die deutsche Mehrheitsgesellschaft thesenartig benannt319 • Die Mehrheit der in den hiesigen jüdischen Gemeinden lebenden Juden besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft oder wird sie in den nächsten Jahren erlangen (können). Damit sind die hiesigen Juden im Besitz gleicher bürgerlicher Rechte, einschließlich der als EU-Bürger wie andere Deutsche auch. • Die jüdische Religionsgemeinschaft ist den christlichen Kirchen in Deutschland weitgehend gleichgestellt. Die Landesverbände und der Zentralrat sind auf Länder- und Bundesebene über Staatsverträge als schutz- und förderungswürdige Glaubensgemeinschaft anerkannt. • Das Gros der heutigen jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, die jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen SU, haben sich bewusst für ein dauerhaftes hiesiges Leben entschieden – etwa im Unterschied zu den DPs nach 1945. • Viele, insbesondere unter der Mehrheit der SU-Stämmigen sowie im religiös progressiven Milieu, leben in Mischehen mit Nichtjuden. • Mit der Auflösung der letzten DP-Lager Anfang der 50er Jahre und der Neugründung über ganz Deutschland verstreuter jüdischer Gemeinden verschwand die wohnortbezogene Segregation von Juden und Nichtjuden. • Der überwiegende Teil jüdischer Beschäftigten arbeitet im Berufsleben zusammen mit Nichtjuden. Dies gilt auch für die wenigen im Bereich jüdischer Gemeinden, ‚jüdischer‘ Museen, Gedenkorte und wissenschaftlich Tätigen. • Die meisten hier aufgewachsenen Juden der zweiten und dritten Generation haben nichtjüdische allgemeinbildende Schulen besucht, während die wenigen jüdischen Schulen sowie ein Kolleg und eine Hochschule überwiegend auch von Nichtjuden besucht werden. • Es gibt eine große Anzahl an lokalen Sektionen der Gesellschaften für jüdisch-christliche Zusammenarbeit (GfCJZ) und der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) sowie lokaler Initiativen, in denen Juden und Nichtjuden, bereits seit Jahrzehnten ganz bewusst den Kontakt suchen. • Mittlerweile ist ein judaisierendes Milieu unter den Nachkommen der Täterwie Opfergeneration (d. h. mit einem jüdischen Elternteil und/oder jüdischen
319 Gegenseitige Schoah bedingte Vorbehalts-Mentalitäten und Berührungsängste der wie auch ein hierzulande noch oder wieder bestehender Antisemitismus werden an anderer Stelle der Studie ausführlich thematisiert. Gerade unter ihrem ‚Mitbedenken‘ erscheint das im Folgenden aufgezeigte Integrationsniveau umso beachtlicher.
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Vorfahren bzw. Verwandten) quasi zwischen Nichtjuden und Juden entstanden; eine Minderheit konvertierte zum Judentum (vgl. Kap. I.1.3.4.). 60 Jahre nach der Schoah kann konstatiert werden, dass sich jüdischerseits in Deutschland wie Berlin keine gettoartige Parallelgesellschaft abzeichnet, vielmehr ist die hiesige jüdische Gemeinschaft heute mehr denn je nach 1945 Bestandteil der Gesamtgesellschaft.320 Die hier skizzierte lebensweltliche Integration dürfte dabei aber der mentalitätsbedingten um einiges voraus sein. D. h. die gegenseitige Annäherung wird aller Voraussicht nach in Deutschland, ungeachtet vieler Erfolge, noch lange nicht abgeschlossen sein. Denn gibt es noch immer hier, hervorgerufen durch einen weiterhin gleichbleibend stabilen Anteil an Antisemitismus und/oder Ausländerfeindlichkeit321, von nichtjüdischer Seite gezogene Trennungslinien, die den hiesigen Juden auf schmerzliche Weise offenbaren, wie weit sie immer noch von der völligen Integration in die nichtjüdisch-deutsche Mehrheitsgesellschaft entfernt sind, trotz der enormen Fortschritte der letzten Dekaden. Andererseits hat die hiesige Diasporagemeinschaft damit auch Anteil an allen entscheidenden gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen.
3.2. Makrosoziologische Einordnung der Untersuchung in den allgemeingesellschaftlichen sozialen Wandel Als letzen Punkt vor der Darstellung der empirischen Befunde gilt es, den gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozess knapp zu umreißen, wie er auch für das Untersuchungsfeld ‚jüdisches Berlin‘ von Bedeutung ist. Dabei sind es zwei ineinander greifende Hauptbewegungen des gegenwärtigen sozialen Wandels, die in den beiden folgenden Abschnitten umrissen werden: • zum einen die Seite einer gegenwärtigen Auf- und Ablösung bestehender sozialer Beziehungen; • und zum anderen die Seite neuerlicher Formen der Vergemeinschaftung unter den Bedingungen dieser Freisetzungen. 3.2.1. Individualisierung als ambivalenter Freisetzungsprozess Das Spezifische des gegenwärtigen Individualisierungsprozesses gegenüber früheren Individualisierungsschüben der Industriemoderne besteht nach Ulrich Beck322, und einer Vielzahl weiterer gegenwartsbezogener soziologischer Deutungsversuche darin, dass der Großteil der heutigen Gesellschaftsmitglieder unter 320 Ausnahmen dürften lediglich in kleinen ultraorthodoxen Milieus mit eigenem Schulwesens bestehen. Vergleichbares findet sich aber auch bei christlichen und anderen Religionsgemeinschaften in Deutschland. 321 Vgl. das Antisemitismus-Kap. III.4. – Die Zuwanderer aus den GUS-Staaten haben häufig beide Diskriminierungs-Varianten erfahren: in ihren Herkunftsländern ‚klassischen‘ Antisemitismus und hierzulande die Abqualifizierung als ‚Russen‘. 322 Die Individualisierungs-Debatte wird seit nunmehr über 20 Jahren in der bundesdeutschen Soziologie geführt. Einen entscheidenden Impuls erhielt sie 1983 durch Ulrich Becks Aufsatz „Jenseits von Stand und Klasse?“, in: Reinhard Kreckel: „Soziale Ungleichheiten“, Sonderband 2 der Sozialen Welt, Göttingen 1983.
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gleichbleibenden oder sich verschärfenden sozialen Ungleichheitsrelationen zugleich aus völlig unterschiedlichen sozialen Lagen freigesetzt wird. Außerdem umfasst dieser Freisetzungsprozess praktisch alle zentralen „Sozialformen der industriellen Gesellschaft – Klasse, Schicht, Familie, Geschlechtslagen von Männern und Frauen“323, aber auch viele der häufig aus dem 19. Jahrhundert stammenden sozialen Verbände wie Gewerkschaften, Parteien, Vereine oder die Kirchen. Diese Desintegrationsprozesse der sozialen Lebenswelt werden von maßgeblichen Vertretern der Gegenwartssoziologie ambivalent beschrieben: einerseits Freisetzung der gesellschaftlichen Individuen als Verlustgeschichte von Sicherheit und Geborgenheit und andererseits Freisetzung als Befreiungsgeschichte aus Vorbestimmung und Bevormundung. Im Verlauf dieses Wandlungsprozesses verblassen „ständisch geprägte Sozialmilieus und klassenkulturelle Lebensformen […]. Es entstehen der Tendenz nach individualisierte Existenzformen und Existenzlagen, die die Menschen dazu zwingen, sich selbst – um des eigenen materiellen Überlebens willen – zum Zentrum ihrer eigenen Lebensplanungen und Lebensführung zu machen.“324 Als Ursache dieser Freisetzungsbewegung werden in der Gegenwartssoziologie vor allem drei Entwicklungen ausgemacht, die sich in der bundesrepublikanischen Gesellschaft seit den 50er und 60er Jahren multikausal ergeben haben: • Ein überproportionales Anwachsen an Einkommen und erwerbsfreier Zeit hat soziale Bindungs- und Prägekräfte ständisch geprägter klassenspezifischer traditioneller Milieus schwinden lassen und andererseits individuelle Entscheidungsspielräume drastisch vergrößert. • Aufstiegschancen und eine breite soziale Mobilität haben sich auf Grund der Bildungsexpansion und der Entstehung eines modernen und prosperierenden Dienstleistungssektors, insbesondere im Hinblick auf Frauen und Arbeiterkinder, eröffnet (‚Fahrstuhleffekt nach oben‘). • Selbstfindungs- und Selbstreflexionsprozesse haben als Wertewandel (bspw. Postmaterialismus, aber auch als Abnahme religiöser oder politischer Wertebindungen) eine Vielzahl gesellschaftlicher Teilbereiche erfasst. Allerdings scheint es, dass die alten Sozialisationsinstanzen nicht einfach verschwinden, auch wenn die starken Veränderungen nahezu alle aus der Industriemoderne oder aus noch älteren Gesellschaftstypen überkommenen Sozialformen erfasst haben. Der Wandel der Familie kann hierfür als illustres Beispiel dienen: Immer mehr Menschen leben in familienähnlichen Zweierbeziehungen mit oder ohne Kinder, als Alleinerziehende, als Single oder all dies nacheinander, z. T. sogar gleichzeitig als Pendler zwischen verschiedenen Orten und Lebensweisen. Andere soziale Gebilde, vor allem traditionelle Großgruppen, deren Entstehung ins Mittelalter oder ins 19. Jahrhundert zurückreicht, haben in den letzten 323 Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 115. 324 Ebd., S. 116 f.
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Jahren spürbar an Bedeutung und Bindungskraft eingebüßt und erodieren zusehends. Allein in den letzten Jahren haben Kirchen, Parteien und Gewerkschaften im Saldo Hunderttausende Mitglieder verloren, ohne dass anderen traditionellen Großverbänden einen entsprechenden Zulauf gebracht hätte. Die erstaunlichste Eigentümlichkeit dieser Entwicklung besteht vielleicht darin, dass die formale wie auch emotionale Abkehr von den Traditionsverbänden der Industriemoderne die Abhängigkeit der Individuen von vielen dieser Agenturen nicht gemindert hat.325 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben sich diese Tendenzen zu individualisierten Existenzformen offensichtlich noch verstärkt: Von der Politik und Wirtschaft werden hochmobile ‚Ich-AGs‘ gefordert und gefördert, damit sich die Einzelnen entsprechend wachsender Entstaatlichung und Deregulierungen der Sozialsysteme und des Arbeitsmarktes gesellschaftlich marktförmig positionieren. Aber wie steht es unter diesen Bedingungen um die gegenwärtigen Chancen auf eine größere Selbstbestimmung der Individuen bei wichtigen Fragen ihrer eigenen Lebensführung? Besitzt dieser gesamtgesellschaftlich immer häufiger artikulierte ideelle Anspruch der Zunahme individueller Freiheit (s. o.) eine Entsprechung auf der empirischen Seite des neuerlichen Individualisierungsprozesses? Die Frage nach der Gestaltungsfreiheit von Individuen in und gegenüber tradierten Sozialisationsinstanzen in (post-)modernen Gesellschaften erscheint für das Untersuchungsfeld der Studie am Rand und außerhalb der jüdischen Gemeinde als zentral. Axel Honneth hat darauf hingewiesen, dass in im weitesten Sinne postmodernen Sozialtheorien die Vorstellung der Erweiterung persönlicher Freiheit überwiegt.326 Als eine in diesem Sinne besonders optimistisch erscheinende Interpretation kann die von R. Hitzler et al. gelten. Er hat die zumindest emphatisch deutbaren Bezeichnungen ‚Bastelexistenz‘ und ‚Bastelbiografie‘ zur Bezeichnung der zur Freiheit verurteilten Akteure der heutigen Individualisierung: Der ‚Sinnbastler‘ „(…) gestaltet, subjektiv hinlänglich, aus heterogenen symbolischen Äußerungsformen seine Existenz. (…) Er montiert sein Leben – nicht nur, aber vor allem – als Teilhaber an verschiedenen sozialen Teilzeit-Aktivitäten. – Er kann Mitgliedschaften an verschiedenen Gruppierungen erwerben und wieder aufgeben. Er kann, zumindest prinzipiell, seine Arbeit, seinen Beruf, seine Vereins-, Partei- und Religionszu-
325 Ronald Hitzler bringt diese Ambivalenz der Individualisierung treffend auf den Punkt: Man „kann […] aktuell sowohl eine zunehmende funktionale Abhängigkeit der Individuen von Institutionen und Organisationen feststellen als auch einen eigenen Autonomieanspruch der Individuen gegenüber tradierten Institutionen und Organisationen“. Ders.: „Der ‚Aufstand‘ der Individuen“, in: Ulrich Beck/ Elisabeth Beck-Gernsheim: Riskante Freiheiten, Frankfurt a. M: Suhrkamp 1994, S. 447. – Beck spricht in diesem Zusammenhang von ‚institutionenabhängigen Individuallagen‘ vgl. ders.: Risikogesellschaft, S. 119. 326 „[…] im Gegensatz zur Dialektik der Aufklärung geben die postmodernen Sozialtheorien der diagnostischen Verschränkung von kultureller Erosion und individuellem Authentizitätsverlust eine positive, häufig affirmative Deutung.“ Ders.: Desintegration. Bruchstücke einer soziologischen Zeitdiagnose, Frankfurt a. M.: Fischer TB 1994, S. 15
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gehörigkeiten [sic!, A. J.] wechseln. Er kann umziehen, sich scheiden lassen und in immer neuen Familien-Konstellationen leben. Er kann sich […] Stile aneignen in Habitus, Kleidung, Sprache, Sexualverhalten […]. […] – Wesentlich dabei ist: Die Integration all dieser optionalen Teilzeit-Aktivitäten zu einem Lebens-Ganzen verbleibt – als Notwendigkeit ebenso wie als Möglichkeit – ihm: Er ist nicht mehr zu hause in einem stimmigen Sinn-Kosmos, er ähnelt eher einem Vagabunden (oder allenfalls einem Nomaden) auf der Suche nach geistiger und gefühlsmäßiger Heimat.“327
Zwar kann dieser Ode postmodernen ‚anything goes‘ ein gewisser Wahrheitskern zugesprochen werden. Denn die gegenwärtigen Freisetzungsschübe bringen u. a. tatsächlich bis dato unbekannte Möglichkeiten zu individueller Neuorientierung hervor. Dies gilt es, auch im Hinblick auf das Untersuchungsfeld im jüdischen Berlin zur Kenntnis zu nehmen. Jedoch gilt es, kritisch Einspruch einzulegen, gegen die Ausblendung der ‚stummen Gewalt der ökonomischen Verhältnisse‘, die 150 Jahre nach Marx' Diktum sich gerade auch hinter und in den o. g. Individualisierungs-Arrangements neuerlich ex- und intensivieren.328 Demgegenüber müssten etwa im Sinne R. Sennetts, Aspekte der unfreiwilligen Zumutungen, sozialen Entgrenzungen und Verunsicherungen, die von den neuen Verhältnissen ausgehen, im aktuellen Wandlungsprozess immer mitbedacht werden.329 Es sind m. E. daher drei wichtige Korrekturen nötig, um den richtigen Befund der durch die neu entstandenen Individuallagen eröffneten und erzwungenen Wahlmöglichkeiten in Beziehung zu setzen zu den längerfristig weiterbestehenden und sogar ex- und intensivierten Mechanismen kapitalistischer Vergesellschaftung, denen die Einzelnen zunehmend und in bisher noch nicht da gewesenem Umfang individualisiert begegnen müssen: • Der permanente Zwang zu Entscheidungen, die ‚Tyrannei der Möglichkeiten‘ (H. Arendt), hält häufig kaum wirkliche Wahlfreiheit bereit. Scheinbar individuell motivierte Optionen wie z. B. Konsumpräferenzen, außerberufliche Qualifikationen oder Freizeitbeschäftigungen werden zu strategischen ‚condi327 Vgl. Ronald Hitzler/Anne Hohner „Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung“, in: U. Beck/E. Beck-Gernsheim, Riskante Freiheiten, S. 311. – Dem Begriff ‚basteln‘ ist allerdings auch das Prekäre, Unprofessionelle und mit geringem Tauschwert ausgestattete eingeschrieben. Außerdem assoziiert man mit Basteln meistens Individualismus, mit dem ‚Bastler‘ sogar Eigenbrötelei. 328 Jedenfalls ist bei Hitzler und Hohner ein neoliberaler Einschlag unverkennbar: der Mensch als Marktmonade neben und in den Geldmärkten und übrigen Zirkulationssphären der fortgeschrittenen Marktwirtschaft. Vielleicht unbeabsichtigt erinnert die zitierte Passage an Marx' eindringliche Passage über die Verwandlungsformen des Geldes aus dessen Frühschriften; vgl. ders.: „Nationalökonomie und Philosophie. Über Den Zusammenhang Der Nationalökonomie Mit Staat, Recht, Moral Und Bürgerlichem Leben“ [1844], in: Siegfried Landshut (Hg.): Karl Marx. Die Frühschriften, Stuttgart: Alfred Kröner 1953, S. 297 ff. 329 Zu einer nur scheinbar ähnlichen Metaphorik gelangt Richard Sennett für den Bereich der USA mit dem zur stehenden Wendung gewordenen deutschen Titel eines seiner Bücher: „Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus“, Berlin: BTB 1998. Der englische Originaltitel lautet: „The Corrosion of Caracter“.
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tio sine qua non‘-Entscheidungen auf den Konkurrenzmärkten kollektiv umkämpfter ideeller oder materieller Ressourcen erfolgreicher Lebensführung. Ein weiterer Einspruch betrifft die Qual der Wahl, also die gesamtgesellschaftliche Überhandnahme von Auswahlmöglichkeiten und -situationen. Dabei entsteht ein Dilemma dadurch, dass die Zunahme an multioptionalen Gelegenheiten mit der Abnahme an für die Entscheidungsauswahl notwendigen Zeitressourcen und Kompetenzen einhergeht. In der Auswahl zwischen persönlich wichtigen und unwichtigen Gütern, aber auch Informationen werden immer mehr kognitive und Zeit-Ressourcen gebunden, die für das Verständnis und die Verarbeitung der ausgewählten Informationen fehlen.330 Der letzte Einwand bezieht sich auf die mit der Begrifflichkeit nivellierten und damit ausgeblendeten sozialen Ungleichheitsbedingungen. Die Schere der Reichtums- bzw. Armutsverteilung geht unter den Bedingungen krisenvermittelter Individualisierung weiter und schneller auseinander. Unter Krisenbedingungen steigt die Zahl der Individualisierungsverlierer. Über bekannte ‚Problemgruppen‘ wie allein erziehende Mütter, Langzeitarbeitslose und MigrantInnen hinaus kann es mittlerweile fast jeden treffen, Etwas pointiert ausgedrückt: Auch wenn nur einen Minderheit dauerhaft exkludiert wird, oben bastelt es sich besser und den eigenen Bedürfnissen entsprechender.
Mindestens genauso zentral und noch bedeutsamer im Kontext der Studie sind die Konsequenzen, welche sich im Zuge der Individualisierung für die Ebene der Vergemeinschaftung eröffnen. Dies wird in einem letzen Durchgang erörtert.
3.2.2. Die Pluralisierung von Milieus und Lebensstilen Auf die Sozialbeziehungen bezogen stellt sich gesamtgesellschaftlich wie im Hinblick auf das Untersuchungsfeld in der jüdischen Gemeinschaft Berlins die entscheidende Frage: Gipfelt die o. g. neuerliche Individualisierung eher in einer Monadisierung der Individuen oder gehen aus ihren Freisetzungsschüben eher neue Vergemeinschaftungsweisen hervor? Es ist wohl unbestritten, dass mit der voranschreitenden neuerlichen Individualisierung gesellschaftliche Anonymisierungs- und Vereinzelungsphänomene zunehmen. Der US-amerikanische Soziologe David Riesman hat diese Bindungslosigkeit bzw. -unfähigkeit moderner Menschen als Entwicklungstendenz entwickelter Industriegesellschaften bereits in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts mit seinem berühmten Buchtitel treffend in das Bild einer „Lonely Crowd“ gebracht.331
330 Karl Marx kritisierte die Vorstellung von der (Konsum-)Entscheidungsfreiheit im „Kapital“ mit den Worten: „In der bürgerlichen Gesellschaft herrscht die fictio juris, dass jeder Mensch als Warenkäufer eine enzyklopädische Warenkenntnis besitzt.“ Ders.: Das Kapital Bd. 1 [1867], MEW 23, Berlin (Ost), 1977, S. 50 331 Vgl. David Riesman: „Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters“, mit einer Einführung in die deutsche Ausgabe von Helmut Schelsky, Reinbek: Rowohlt 1964 [engl. 1950]
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Demgegenüber hatte bereits Georg Simmel um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert den Übergang von der festgefügten vormodernen Gemeinschaftsbildung zu der Möglichkeit sozialen Wahlverbindungen in der modernen Großstadt festgestellt und in seiner Theoriebildung verarbeitet.332 Moderne Gemeinschaftsbildung wird in diesem Sinne zur Unterscheidung von vormodernen ständischen Formen auch als ‚posttraditionale Vergemeinschaftung‘333 bezeichnet. Allem Anschein nach hat der gegenwärtige Individualisierungsschub nicht zu einer Auflösung sozialen Beziehungen in ‚monadische Nomaden‘ geführt. Tatsächlich lässt sich ganz im Gegenteil über die o. g. Wahlmöglichkeiten hinaus auch die Herausbildung neuer Sozialformen konstatieren. Seit etwa den frühen 80er Jahren konstatieren Sozialforscher in Deutschland zunehmend eine Pluralisierung von Milieus und Lebensstilen, die sozialstrukturell auch als ‚horizontale Formen sozialer Ungleichheit‘ bezeichnet wird. Demnach werden alte vertikale, primär ökonomisch/beruflich bestimmte Klassen- und Schichtlagen nicht abgelöst, sondern durch horizontale Milieubildung nach ‚subjektiven‘ Denk- und Verhaltensweisen fragmentiert. Nach Stefan Hradil versteht man unter Milieubildung, „die bei einer bestimmten Personengruppe typischerweise zusammentreffenden Grundwerte, Grundeinstellungen und Verhaltensmuster“.334 Unterschiedliche Milieus und Lebensstile können sich sowohl in weltanschaulichen Grundüberzeugungen wie im alltagspraktischen Verhalten (z. B. Lebensplanung, Kindererziehung, Konsum, Mediennutzung) zeigen. In den letzten Jahren sind viele empirisch gestützte Milieustudien entstanden und darüber hinaus auch theoretisch fundiert worden.335 Schulze benannte als empirisch nachweisbare Verdichtungen bestimmter markanter soziokultureller Gemeinsamkeiten als Selbstverwirklichungs-, Unterhaltungs-, Harmonie-, Integrations- und Niveaumilieu336;
332 Vgl. Simmels mit dem Motto dieses Kapitels bereits zitierte Schrift: „Die Kreuzung sozialer Kreise“. Etwa zeitgleich zu ihm kam Émile Durkheim zu einem ähnlichen Befund der entscheidenden Bedeutung der relativ freien Wahlmöglichkeiten von sozialen Beziehungen als Übergang von einer ‚mechanischen Solidarität‘ zu einer ‚organischen Solidarität‘. Vgl. ders.: „Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften“, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988 [frz. 1902] 333 Vgl. Ronald Hitzler: „Posttraditionale Vergemeinschaftung. Über neue Formen der Sozialbindung“, in: Berliner Debatte INITIAL 9, 1998 334 Stefan Hradil: „Entwicklung und Sozialstruktur moderner Gesellschaften", in: Helmut Korte/Bernhard Schäfers (Hg.): Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie, 4. Aufl., Opladen: Leske + Budrich UTB, 1998, S. 160 335 VGl. etwa Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M./New York: Campus 1992. Als Beispiel einer für die heutige Stadtpolitik anwendungsnahe Milieustudie kann die der Stadt Augsburg: Dies. (Hg.): „Augsburg auf dem Weg zur Bürgerstadt. Zukunftsstudie. Interkulturelles Hearing mit Sozialraumdaten. Reader“, Augsburg 2003, angeführt werden. 336 Ders.: „Alltagsästhetik und Lebenssituation. Eine Analyse kultureller Segmentierungen in der Bundesrepublik Deutschland“, in: Hans-Georg Soeffner (Hg.): Kultur und Alltag, Soziale Welt Sonderband 6, Göttingen 1988, S. 77
178 | TEIL II: HISTORISCHE UND SOZIOLOGISCHE HINTERGRÜNDE
während seitdem von immer mehr Milieus und deren weiterer Zunahme ausgegangen wird. Hradil führt drei empirische Befunde für deren Pluralisierung an: • eine Lockerung der Verknüpfung zwischen schichtspezifischen Lebensbedingungen (vor allem im Beruf) und Milieu- bzw. Lebensstil-Orientierungen; • die Zunahme neuerer Gruppenbildungen mit übereinstimmenden Einstellungs-, Mentalitäts- und Wertemustern und deren Vielfalt; Verortung Einzelner über die Zugehörig• die Zunahme der gesellschaftlichen keit zu diesen Gruppierungen.337 Allerdings gilt auch für das Milieu-/Lebensstil-Paradigma, dass es insgesamt keine Alternative zur Analyse nicht minder bedeutsamer objektiver Bedingungen und Verlaufsformen von Exklusion und sozialer Ungleichheit darstellt, sondern im günstigsten Fall als ein Teilmodell innerhalb einer umfassenden Analyse sozialer Lagen gelten kann.338 Auf einer unterhalb von Milieus angesiedelten Ebene eröffnet der neuerliche soziale Wandel Raum für konkrete neue Vergemeinschaftungsweisen: Vor allem in sich in den letzten 30 Jahren herausbildenden großstädtisch geprägten Teilmilieus – zunächst noch im Umfeld der Neuen sozialen Bewegungen – entstanden neue ‚gewählte‘ Lebensformen bzw. soziale Gruppen: wie Wohn- und Lebensgemeinschaften von Singles, Paaren und ‚Paarhälften‘ (mit oder ohne Kinder), Rentner-WGs, ‚Homo-Ehen‘ usw. Aber auch – für die Studie von größerem Interesse – eine große Anzahl an Bürger- und Basisinitiativen im sozialen, kulturellen und politischen Bereich von der Stadtteilebene bis hin zu international agierenden Non-Government-Organisationen (NGOs) können als Beispiele dienen. Viele dieser Gemeinschaftsaktivitäten entstehen spontan bzw. verschwinden rasch wieder, während sich andere in längerfristigem bürgerschaftlich-ehrenamtliches Engagement oder wie besonders in neuen Berufsfeldern manifestieren (insbesondere in den 70er und 80er Jahren). Gemeinsam ist ihnen häufig, dass ihre Mitglieder in einer unmittelbaren face-to-face-Kommunikation zueinander stehen, dem Einzelnen ein relativ hohes Maß an Partizipation ermöglichen und auf Grund ihres häufig informellen Charakters flexibler auf sich wandelnde Bedürfnisse ihrer Mitglieder reagieren können. Längst sind solche Gemeinschaftsformen neben die ehernen Verbände, Vereine und anderen sozialen Grup-
337 S. Hradil: „Entwicklung und Sozialstruktur moderner Gesellschaften, in H. Korte/ B. Schäfers (Hg.): Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie, S. 160 f. 338 In diesem Sinne äußert Thomas Meyer: „Es gilt, die gemeinhin dem kreativen Subjekt zugerechneten Stilisierungsleistungen als ‚objektiv vermittelte‘ sichtbar zu machen. […] Ob und wie jemand handelt, kann aus sozialstruktureller Perspektive nicht selbstbestimmt, sondern nur sozial beeinflusst sein. […] Normative Erwartungs-, kulturelle Deutungs- und nicht zuletzt soziale Ungleichheitsstrukturen eröffnen und verschließen Handlungsmöglichkeiten, an denen der Einzelne sein Handeln ausrichtet.“ Zit. nach ders.: „Das Konzept der Lebensstile in der Sozialstrukturforschung. Eine kritische Bilanz“, in: Soziale Welt 52, Göttingen 2001, S. 268
GEGENWARTS-SOZIOLOGISCHE VERORTUNG | 179
pen und Institutionen der alten Industriemoderne getreten und haben häufig von ihnen Aufgaben übernommen (z. B. ‚Peer Groups‘ als Ersatzfamilie). Aber auch technologische Entwicklungen können teilweise die beschriebenen neuen Vergemeinschaftungsweisen begünstigen: Vielfältigste Nutzungsmöglichkeiten neuerer elektronischer Kommunikationstechnologien wie Internet und Handy eröffnen reichhaltige Gelegenheiten zur Interaktion und zur Gruppenbildung, die früher noch nicht denkbar waren.339 Damit ist es neuen Vergemeinschaftungsformen im günstigsten Fall möglich, auch eine neue raum-zeitliche Dimension zu erhalten, indem Menschen potentiell überall und zu jeder Zeit miteinander kommunizieren können. Im Zuge der Erosion und Wandlung überkommener sozialer Strukturen haben jedenfalls neuere soziale Gruppenbildungen als Sozialisationsinstanzen insgesamt über ihren jeweiligen Entstehungsanlass hinaus an Bedeutung gewonnen. Als makrosoziologisches Fazit des gegenwärtigen sozialen Wandels in Deutschland, wie er in den beiden vorherigen Unterkapiteln skizziert wurde, kann insgesamt festgehalten werden: • Ein in diesem Ausmaß nicht gekannter Individualisierungsschub hat in den letzten Jahrzehnten die bundesrepublikanische bzw. die gesamtdeutsche Gesellschaft als Ganzes erfasst. • Klassen bzw. Schichten verlieren ihre Kohärenz und lebensweltliche Trennschärfe, vor dem Hintergrund einer neuerlichen Zunahme der Ungleichheitsverteilung an Einkommen, Bildung, Prestige usw. Überkommene Großorganisationen und Verbände büßen ihre Bindungskraft ein und erodieren. Aber auch die bürgerliche Kleinfamilie erfährt starke Wandlungen und mutiert zu einem unter vielen Variationsmodellen. • Die Einzelnen sind auf Grund der Freisetzung aus alten gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Bindungen gezwungen, immer mehr Lebensbereiche auf sich gestellt eigenverantwortlich zu bewältigen. Mit dem sozialen Wandel sich eröffnenden Wahlmöglichkeiten stehen Zwänge einer sich tendenziell in allen Lebensbereichen durchsetzenden Marktlogik und -effizienz gegenüber. • Werteorientierung, Freizeitverhalten und alltagsästhetische Ausrichtungen variieren immer stärker und bezeugen weiter zunehmende gesamtgesellschaftliche Individualisierungs- wie Pluralisierungstendenzen. • Es kommt ausgehend von städtischen Räumen gesamtgesellschaftlich zur Herausbildung neuer Milieus und sozialer Gruppen, die als Sozialisationsinstanzen neuen Typs an Bedeutung zunehmen und teilweise als Ersatz für frühere lebensweltliche Klassen- bzw. Schichtorientierungen und Familienbindungen firmieren.
339 Als Beispiel für kommunikations- und verkehrstechnisch vermittelte Gruppenbildungen können international wirkende NGOs)angeführt werden. Die gleichen Technologien können aber auch bspw. Lebenspartnerschaften mit getrennten Arbeitsorten als sog. Wochenendbeziehungen zu Gute kommen.
Teil III: Die gegenw ärtige jüdische Exis tenz in Ber lin und ihre Zukunftsperspektiven
„Mich reizt […] die Gesamtidee Berlin. und wie sie sich zur jüdischen Geschichte stellt – und ihr Potential für die Zukunft. Keine andere deutsche Stadt verkörpert das so wie Berlin.“ Ady E. Assabi1
Übergreifende Aspekte jüdischer Existenz in Berlin, wie sie sich beim Blick über die im folgenden vierten Teil behandelten kulturell bestimmten Gruppenaktivitäten an der Peripherie und außerhalb der etablierten Gemeindestrukturen hinaus für den Befragtenkreis der Erhebungsauswahl ergeben, stellen einen zentralen Untersuchungsbereich der Studie dar. Die thematische Spannweite der folgenden Kapitel ist entsprechend des explorativen Charakters der Gesamtstudie weiter gefasst, ohne dabei deren übergeordnete Perspektive aus den Augen zu verlieren. Sie reicht von allgemeinen Einschätzungen über den Charakter des gegenwärtigen Wandels im jüdischen Berlin, über berlinspezifische Gesichtspunkte der jüdischen Existenz der Hauptstadt bis zu den örtlichen Klüften des deutsachjüdischen Feldes. Dabei wird mitunter zu den Entwicklungen der jüdischen Diaspora im übrigen Deutschland Bezug genommen. Die Abfolge der behandelten Bereiche des sozialen Untersuchungsfelds entspricht einer Bewegungsrichtung von innen nach außen: Kap. III.1. Revitalisierung (Innenperspektive), Kap. III.2. Berlinspezifika (Innenperspektive und Randbedingungen), Kap. III.3. Nichtjüdische Inszenierungen des Jüdischen (Randbedingungen), Kap. III.4. Antisemitismus (Außenbedingungen). Die Einzelkapitel sollen möglichst ein Gesamtbild ergeben (s. u.), wobei sie jeweils auch als in sich thematisch abgeschlossene Teilstudien genommen werden können. Am Ende des gesamten dritten Teils der Studie sollen als dessen Zwischenergebnis im Kapitel III.5. einige zentrale Thesen zur gegenwärtigen jüdischen Existenz in Berlin stehen, zugleich Ausgangspunkt
1
Ders.: „Israel ist Teil der Krise der jüdische Identität“ (Interview), in: TAZ Lokalausgabe Berlin 11.11.02
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der nachfolgenden Untersuchung neuerer Gruppenaktivitäten im jüdischen Berlin als vierter und letzter Teil der Studie. Der Aufbau der folgenden Kapitel ist in allen Fällen zweigeteilt: Dabei werden zunächst die jeweiligen Themenblöcke auf der Grundlage umfassender Vorrecherchen beleuchtet.2 Im Anschluss daran geht es darum, exemplarische Äußerungen aus den Erhebungsgesprächen zu diesen Themenschwerpunkten in jeweils Zweit-Durchgängen systematisierend darzustellen und zu erörtern. In all diesen Untersuchungseinheiten wird es als sinnvoll erachtet, danach zu fragen, vor dem Hintergrund welcher lebensweltlichen Erfahrungen und Merkmalsprofile die GesprächspartnerInnen zu ihren jeweiligen Einschätzungen im jüdischen Berlin gelangen. Bei der entsprechenden Clusterung der Meinungsäußerungen wird vor allem auf zwei personenbezogene Merkmale zurückgegriffen, deren innerjüdische Bedeutung als besonders evident erscheint: • die Herkunft (Berlin, Ostdeutschland, Westdeutschland, westeuropäisches oder osteuropäisches Ausland, USA und Israel); • sowie die religiöse Orientierung (orthodox, sephardisch, konservativ, liberal, progressiv bzw. egalitär). • Außerdem werden die innerjüdischen Tätigkeiten (soziokulturelle, pädagogische, publizistische, wissenschaftliche künstlerische und gewerbliche) berücksichtigt. In seltenen Fällen eindeutiger Relevanz (Antisemitismus-Kap. III 4.) wurde auch das personenbezogene Merkmal Alter als Kriterium herangezogen, wobei sich die Erhebung, wie bereits erwähnt auf Grund des Forschungsinteresses an maßgeblich in jüdischen Gruppenaktivitäten Engagierten fast durchweg im Bereich jüngerer Erwachsener und mittlerer Jahrgänge bewegt. Ebenfalls im Antisemitismus-Kap. III 4 wurde das Merkmal Geschlecht in zwei Ausnahmefällen als Untersuchungskategorie einbezogen, da verwendet, da sich im Erhebungskreis wenig eindeutig geschlechtsspezifische Erfahrungen und Positionen zu den Fragebereichen der Untersuchung ausmachen ließen.3
1 . R e n a i s s a n c e u n d R e v i t a l i s i e r u n g j ü d is c h e n L e b e n s „Der Begriff ‚Jüdisches Leben‘ haftet der Stadt an wie Döner und Bulette, gern ergänzt durch ‚neue Blüte‘ oder ‚Wiedergeburt‘.“ Meike Wöhlert4
2
3 4
Lediglich im Kapitel zu persönlichen und gemeindebezogenen Berlinspezifika wird auf eine thematische Hinführung verzichtet und stattdessen auf die berlinbezogene historische Einführung im zweiten Teil der Studie Kap. II.2. rückverwiesen. Eine Untersuchung geschlechtsspezifischer Wahrnehmungen der jüdischen Existenz in Berlin bedürfte vielmehr einer eigenen Studie. Dies.: „Der Hype um den Davidstern“, in: ZITTY 30.07.98.
182 | TEIL III: JÜDISCHE EXISTENZ IN BERLIN UND IHRE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN „Für mich persönlich markiert die Restaurierung der Kuppel der Neuen Synagoge, des jüdischen Wahrzeichens von Berlin, den Turning point bei der Rückkehr Berlins auf die jüdische Landkarte Europas.“ Andreas Nachama5
Von besonderer Bedeutung für die Studie ist die Frage nach einem ‚Wiederaufblühen‘ jüdischen Lebens in Berlin und womöglich darüber hinaus in Deutschland seit den Berliner und gesamtdeutschen Vereinigungsprozessen 1989/1990 sowie seit der Zuwanderung von Juden aus den GUS-Staaten. Von nicht minder großer Bedeutung erscheinen daher auch die Einschätzungen des Erhebungskreises zu dieser Frage dar. Bereits in den Vorarbeiten des Forschungsprojektes wurde deutlich, dass die mit den diesen drastischen Umbrüchen einhergehenden Wandlungsprozesse in der Berliner wie in der gesamtdeutschen jüdischen Diaspora nicht nur deutliche quantitative, sondern auch qualitative Veränderungen gegenüber den ersten, viel ruhiger verlaufenden Nachkriegsjahrzehnten mit sich brachten. Denn wie im Kap. II.1.5. für Gesamtdeutschland und Kap. II.2.2., spezifisch für Berlin ausgeführt, war es seit 1990 zu drei für das hiesige jüdische Leben nach 1945 beispiellosen Hauptentwicklungen gekommen: • zu einer Vervielfachung der Größe der meist sehr kleinen, mehrheitlich in Westdeutschland gelegenen jüdischen Gemeinden, sowie zu einer relativ großen Zahl an Gemeindeneugründungen, vor allem im Ostteil Deutschlands, wo bis 1990 nur noch sehr wenige Gemeinden bestanden hatten; • zu einer wachsenden religiösen Pluralisierung, vor allem auf Grund der Zunahme reformjüdischer Betgemeinschaften und Gemeinden sowie durch das Engagement international tätiger orthodoxer Organisationen im vereinigten Deutschland (und in den nach-realsozialistischen osteuropäischen Staaten); • zu einer Zunahme jüdischer Aktivitäten insbesondere an der Peripherie und außerhalb großer Gemeinden, wie bspw. die vermehrte Gründung von Schulen, Kulturvereinen und berufsbezogenen bzw. lebensweltlichen jüdischen Interessengemeinschaften (etwa für Ärzte oder Homosexuelle usw.) zeigt. Einher gingen diese im Einführungsteil der Studie näher beschriebenen innerjüdischen Prozesse mit davon relativ unbenommenen Entwicklungen im Bereich der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft: • einer gesteigerten Aufmerksamkeit von Nichtjuden6 an häufig als Exotikum wahrgenommenen Ausschnitten jüdischer Kultur. Diese Aufmerksamkeit prägt sich in einem weiten Spektrum aus, welches von einem ernsthaften Interesse bis zu einer modischen Verklärung ‚jewish spaces‘ (D. Pinto) ohne
5 6
Ders. in: A. Roth/M. Frajman: Das jüdische Berlin heute, S. 9 Die Überblendung realjüdischer Räume durch pseudojüdische findet gerade in Berlin geeignete Orte. Diese ortsspezifischen Effekte sowie ihre Bewertung durch den Befragtenkreis werden in Kap. III.3. genauer dargestellt und erörtert.
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Juden7 (A. J.) reicht, wie die in den letzten Jahrzehnten enorm gewachsene Popularität von Klezmermusik und die touristische Vereinnahmung vermeintlicher oder tatsächlicher jüdischer Viertel in Berlin, aber neuerdings auch in einigen osteuropäischen Städten belegen. Diese völlig unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen neueren Entwicklungen der jüdischen Diaspora in Deutschland, einschließlich gesteigerter Aktivitäten von Nichtjuden zu jüdischer Thematik, werden in den hiesigen Medien mit den oft als Schlagworte verwendeten Begriffen wie Aufblühen, Renaissance oder Revitalisierung des Judentums in Deutschland bezeichnet. Häufig kann dabei nicht deutlich werden, auf welche der o. g. Einzelentwicklungen sich diese Einschätzungen eigentlich beziehen, bzw. ob tatsächliche Veränderungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Berlins sowie Deutschlands und/oder Manifestationen einer modisch gesteigerte Aufmerksamkeit hiesiger Nichtjuden gegenüber jüdischen Themen, als eine Schimäre lebendigen Judentums hierfür verantwortlich gemacht werden. Auch das sich wandelnde Beziehungsmuster zwischen der hier lebenden jüdischen Gemeinschaft und der sie umgebenden nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft bleiben dabei meistens ausgeblendet. In diesem Kapitel soll es demgegenüber um tatsächliche aktuelle Entwicklungen im jüdischen Berlin und z. T. deutschlandweit sowie um deren Einschätzungen auf jüdischer Seite gehen.8 In einer Vor- und Begleituntersuchung zu Selbsteinschätzungen unter Intellektuellen und Repräsentanten der hiesigen Diaspora sowie in dem sich hier daran anschließenden Fragebereich der Erhebung zu qualitativen Wachstumspotentialen im jüdischen Berlin dienten ebenfalls Fragen nach einer begonnen oder zukünftigen Revitalisierung bzw. Renaissance hiesigen jüdischen Lebens als Ausgangspunkt. Zunächst sollen kurz inhaltliche Nuancen, die der jeweilige Gebrauch beider Worte mit sich bringt, angesprochen werden, gerade da diese Differenzierungen in den entsprechenden Statements der Erhebung nicht explizit thematisiert wurden: • ‚Revitalisierung‘ besitzt eine stärker physische bzw. medizinische Konnotation: im Sinne eines Wiedererwachens und Genesens nach einem Zustand des Todes oder Scheintodes, allgemein gesprochen nach einer schweren Krise. Der Begriff verweist damit implizit auf den semantischen Hintergrund des Zivilisationsbruchs durch die Schoah. • ‚Renaissance‘ ist stärker kulturell sowie zeitlich epochal konnotiert: im Sinne länger währender und aufeinander folgender Phasen kultureller Blüte, des Niedergangs und des Wiedererblühens. Der Begriff behauptet damit also 7 8
Zu dem von mir als Spezifizierung geschaffene Wendung ‚jüdische Räume ohne Juden‘ vgl. die Begriffsbestimmung unter diesem Stichwort in Kap. I.3., S. 40 f. Im Rahmen der vorliegenden Studie ist es nicht möglich, die mediale Verwendung und Verbreitung der auf jüdisches Leben in Berlin und im übrigen Deutschland bezogenen Wachstumsmetaphorik diskursanalytisch zu untersuchen. Ebenso muss die Untersuchung der Wechselwirkung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutungsweisen dieser gegenwärtigen Expansion jüdischen Lebens unterbleiben.
184 | TEIL III: JÜDISCHE EXISTENZ IN BERLIN UND IHRE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN
implizit eine glanzvolle Vergangenheit jüdischen Lebens in Deutschland vor 1933 und verweist zugleich auf den Anbruch einer daran anknüpfenden hiesigen jüdischen Zukunftsentwicklung. Ungeachtet dieser ‚feinen Unterschiede‘ werden die beiden Begriffe im Weiteren überwiegend synonym verwendet. Die Reihenfolge der Kapitel richtet sich nach folgender Gliederung: In einem ersten Teil (Kap. III.1.1.) werden zunächst qualitative Wachstumsnarrative in der Art von Renaissance und Revitalisierung jüdischen Lebens sowie visuelle Entsprechungen in einer Voruntersuchung an Hand von sieben Beispielen öffentlicher bzw. medialer Verwendung durch jüdische Persönlichkeiten in Deutschland in den letzten Jahren exemplarisch aufgezeigt (Kap. III.1.1.1. bis Kap. 1.1.7.). Im Anschluss daran werden im zweiten Teil (Kap. III.1.2.) themenbezogene Äußerungen aus den Erhebungsgesprächen in drei Meinungs-Clustern (Kap. III.1.2.1. bis Kap. 1.2.3.) dargestellt und erörtert, um abschließend in einem Resümee bewertet zu werden (Kap. III.1.2.4.).
1.1. Innerjüdische Verwendung qualitativer Narrative aktueller Wandlungsprozesse der jüdischen Gemeinschaft in Berlin und Deutschland Vor Beginn der Erhebung stellte sich die Frage, ob bzw. in wieweit es aus der jüdischen Gemeinschaft Berlins sowie Deutschlands heraus expressis verbis öffentliche Verlautbarungen im Sinne einer zukunftsoptimistischen Sicht hiesiger jüdischer Existenz sowie der Zunahme an Selbstbewusstsein gegenüber der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft gäbe. Außerdem erschien es als interessant, ob im Falle der Verbalisierung dieser perspektivischen Neubewertung in der Wortwahl an das jüdische Leben in Deutschland vor 1933 angeknüpft würde. Zur Klärung dieser Fragen bot es sich an, im Vorfeld und während der Erhebungsphase auf bereits vorhandene aktuelle Dokumente jüdischer Selbstvergewisserung zurückzugreifen. Hierfür wurden Bücher, Zeitungsartikel, Radiofeatures und Fernsehbeiträge herangezogen.9 Dieses Vorgehen entspricht den empirischen Maximen der ‚Grounded Theory‘, nach der es sich empfiehlt, im Forschungsprozess auf möglichst unterschiedliche Quellen im Untersuchungsfeld zurückzugreifen für ein tieferes Verständnis des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes.10 9
Bereits in dem geschichtlichen Abriss der jüdischen Diaspora in Deutschland nach 1945 wurde in der historischen Einführung im Kap. II.1.2.4., S. 101 ff. eine zeittypische Sichtweise, in diesem Fall das ‚Revoltieren‘ aus der zweiten jüdischen Nach-Schoah-Generation heraus gegen westdeutsche Normalisierungstendenzen sowie gegen ein jüdisches Überanpassen an diese in der Dekade zwischen dem Ende der 70er und dem Ende der 80er Jahre, exemplarisch illustriert. Allerdings wurde im Gegensatz zu den hier auf Grund des Forschungsinteresses ausführlich behandelten aktuellen Beispielen dort auf eine genauere Untersuchung der publizistischen Beispiele verzichtet. 10 Vgl. zu diesem Vorgehen der Grounded Theory A. Strauss: Grundlagen qualitativer Sozialforschung, S. 30 und hier das Kap. I.5.1.3., S. 65 ff.
RENAISSANCE UND REVITALISIERUNG JÜDISCHEN LEBENS | 185
In der Sichtung der im folgenden genauer dargestellten Quellen stellte es sich bald heraus, dass Vertreter der in Deutschland lebenden jüdischen Gemeinschaft in ihren an die jüdische wie nichtjüdische Allgemeinheit gerichteten Verlautbarungen und Veröffentlichungen tatsächlich mit bewertenden Begriffen oder metaphorischen Wendungen auf die nicht nur auf Berlin begrenzten aktuellen Veränderungsprozesse hiesiger jüdischer Existenz reagieren. Diese durch die Wahl bestimmter überindividuell verständlicher und verbreiteter Sprachbilder zum Ausdruck gebrachten innerjüdischen Selbstdeutungen der Veränderungen des hiesigen jüdischen Lebens werden im Folgenden als qualitative Narrative bezeichnet. Solche begrifflich und metaphorisch gefassten innerjüdischen Deutungsmuster hatte es auch vor dem Untersuchungszeitraum der Studie immer wieder gegeben. Erinnert sei hier nur an die beiden selbstbeschreibenden Wendungen ‚deutsch-jüdische Symbiose‘ für die Vor NS-Zeit und ‚auf Koffern sitzen‘ für die ersten Nachkriegs-Jahrzehnte. Noch 1988 (!) hatte der bekannte Publizist und Holocaustüberlebende Bernt Engelmann in der völlig überarbeiteten Neuausgabe seiner Bilanz der durch die Schoah unwiederbringlich zerstörten „beinahe geglückte[n] christlich-jüdischen Symbiose auf deutschem Boden“11 von 1970 ein durch demographische Überalterung bedingtes „Deutschland ohne Juden“, so der unveränderte Buchtitel, prognostiziert. Und sogar noch 1996 konstatierte Y. M. Bodemann: „Was wir heute sehen, ist […] das Wiederaufblühen des deutschen Judentums, vor allem auf dem Terrain der deutschen öffentlichen Imagination.“12 Doch nur wenige Jahre später klang in öffentlichen, medial geäußerten Selbstdeutungen aus der jüdischen Diaspora Deutschlands und Berlins heraus zu ihrer Gegenwartsexistenz hierzulande eine ganz andere Tonart an. Die veränderte Tonalität einer positiven Neubewertung ihrer hiesigen Existenz ist dabei unüberhörbar. In der Darstellung der Vor- und Begleituntersuchung sollen nur einige besonders aussagekräftige Beispiele in chronologischer Reihenfolge ihrer Veröffentlichung angeführt werden, die exemplarisch aktuelle innerjüdische Verwendungsweisen qualitativer Wachstumsnarrative aufzeigen als Ausgangspunkt des entsprechenden Fragenkomplexes der Erhebung.13 Hierfür ließen sich über die Auswahl hinaus viele weitere Beispiele finden. Da es sich bei den vorgestellten Bekundungen um mediale Manifestationen handelt, wird auf Seite deren Adressaten innerhalb der hiesigen jüdischen Gemeinschaft (und darüber hinaus) von einer relativ weiten Verbreitung ausgegangen. 11 B. Engelmann, Deutschland ohne Juden, S. 70; die Erstausgabe stammt von 1970. Engelmann galt bis zu seinem Tod 1994 als einer der bekanntesten politischen Publizisten (West)-Deutschlands. 12 Y. M. Bodemann, Gedächtnistheater, S. 55 – Schon bald nach 1996 liest sich dies bei ihm ganz anders; vgl. das von ihm stammende Motto des vierten Teils der Studie S. 429. 13 Diejenigen Beispiele, die bereits zuvor angeführt oder zitiert wurden, werden hier nicht noch einmal ausführlich belegt.
186 | TEIL III: JÜDISCHE EXISTENZ IN BERLIN UND IHRE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN
1.1.1. Andrew Roths und Michael Frajmans Wegweiser in einen Berliner ‚Frühling‘ ȱ
Abbildung 1
„Das jüdische Leben erwacht zu neuer Blüte. Ob Sie Berlins besten Bagel suchen, Klezmer hören oder auf einem Spaziergang die Geschichte der Berliner Juden erkunden wollen – mit diesem Buch können Sie die Vielfalt der jüdischen Kultur kennenlernen. Mit vielen nützlichen Tipps und Adressen.“14 So lautet der für den Sprachstil des gesamten Buches repräsentative Klappentext dieser während der explorativen Vorphase der Studie wichtigsten Orientierungsveröffentlichung im Untersuchungsfeld. Ursprünglich von den aus Amerika sowie aus Deutschland stammenden Juden A. Roth und M. Frajman auf Englisch geschrieben und 1998 veröffentlicht, erschien das Buch im darauffolgenden Jahr unter dem Titel: „Das jüdische Berlin heute. Ein Wegweiser“ auf Deutsch im Berliner Quadriga Verlag. Auf der Titelseite ist in Nahaufnahme die goldene Kuppel der damals gerade wieder rekonstruierten Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße zu sehen, das Symbol jüdischen Aufbaus nach 1990 schlechthin.15 Das Buch stellt nach Aufmachung und Stil für Deutschland ein völliges Novum dar: Denn mit Hilfe dieses „Wegweisers“ in der Aufmachung eines Reiseführers können neben Juden auch mit dem Thema relativ wenig vertraute Nichtjuden
14 A Roth/M. Frajman: Das jüdische Berlin heute, Klappentext 15 Vgl. in der berlinbezogenen Einführung Kap. II.2.2.1., S. 136 f.
RENAISSANCE UND REVITALISIERUNG JÜDISCHEN LEBENS | 187
‚spontan‘ in die jüdische Geschichte und vor allem jüdische Gegenwart Berlins ‚reisen‘.16 Die Zeit schien nur eine Dekade nach dem Gedanken an ein absehbares Ende hiesiger jüdischer Existenz (s. o.) reif zu sein für solcherart ‚Trips‘!17 Das Neue im Sinn der hier untersuchten qualitativen Narrative jüdischer Selbstverortung besteht jedoch in etwas anderem: Denn die Veröffentlichung stellt affirmativ die neuerliche Existenz und das Wachsen jüdischer Vielfalt in Berlin neben der bekannten jüdischen Geschichte der Stadt ins Zentrum der Betrachtung. Sie stellt damit zugleich selbst ein einzigartiges Dokument genau dieser neuerlichen Vielfalt dar. Dabei versäumen die Autoren nicht zu betonen, dass es eine innerjüdische Diskussion um die Richtigkeit der Entscheidung gibt, nach der Schoah in Deutschland zu leben. Eine erhöhte Bedeutung, bezogen auf die jüdische wie nichtjüdische Leserschaft, erhält die Veröffentlichung dadurch, dass niemand geringeres, als der damalige JGB-Vorsitzende Andreas Nachama die Erfindung eines Reiseführers ins jüdische Berlin im Vorwort als „mutiges Unterfangen“ begrüßt und sich bei den Autoren bedankt! Nachama bekräftigt dort ausdrücklich alle qualitativen Wachstumsnarrative, die von dem Buch ausgehen mit den bereits als ein Motto des Kapitels oben zitierten Worten über die Restaurierung der Kuppel der Neuen Synagoge als dem „Turning point bei der Rückkehr Berlins auf die jüdische Landkarte Europas.“18 Explizit sprach er bei aller Kritik an immer noch alltäglichem Rassismus und Antisemitismus davon, „dass eine neue Ära jüdischen Lebens angebrochen ist, die nicht mehr nur allein von der Erinnerung an die Schoah und die Zeit davor lebt.“19
16 Auch auf den Verfasser der Studie entfaltete es eine sehr ermutigende Wirkung. 17 Dies bestätigte sich auch damit, dass bereits ein Jahr nach Roths und Frajmans Wegweiser, im Jahr 2000, der in Inhalt, Aufmachung und Titel sehr ähnliche Reiseführer „Das jüdische Berlin“ von Bill Rebiger im ebenfalls in Berlin ansässigen Jaron Verlag erschien. Ein weiterer sog. jüdischer Reiseführer (mit anderer thematischer Ausrichtung) wird in diesem Abschnitt als fünftes Beispiel vorgestellt. 18 A. Nachama : „Grußwort“, in: A Roth/M. Frajman: Das jüdische Berlin heute, S. 9 19 Ebd., S. 10
188 | TEIL III: JÜDISCHE EXISTENZ IN BERLIN UND IHRE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN
1.1.2. Chaim Schneiders Bekenntnis zum Bleiben
Abbildung 2
Im Jahr 2000 legte der in München geborene und lebende Publizist R. Chaim Schneider, ein der zweiten Generation entstammender Abkömmling ursprünglich aus Ungarn stammender jüdischer DPs, seine ca. 500-seitige „Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis heute“ unter dem programmatischen Titel „Wir sind da!“ bei Ullstein vor. Die Entwicklung des hiesigen jüdischen Lebens nach 1945 wird von ihm an Hand von 37 Interviews mit in Deutschland lebenden und größtenteils prominenten Juden und Jüdinnen präsentiert.20 Das Buch stellt insofern unter den hier angeführten Beispielen eine Besonderheit dar, als es dem Autor mit ihm gelingt, aus dem Fundus überkommener Narrative hiesigen jüdischen Nachkriegslebens perspektivisch neue Narrative jüdischer Existenz in Deutschland zu generieren. Durch das direkte in Beziehung setzen des Titels, des Titelbilds und zweier Schlüsselpassagen aus Schneiders Einleitungstext soll diese Begriffsgenerierung im Folgenden rekonstruktiv veranschaulicht werden: 20 Schneiders Publikation erschien begleitend zu einer Fernsehdokumentation des Autors für die ARD gleichen Titels, die ebenfalls im Jahr 2000 den Bayrischen Fernsehpreis erhielt. Bei dem in der Buchveröffentlichung wie auch in der Fernsehdokumentation versammelten Stimmen handelt es sich gleichermaßen um bedeutsame Manifestationen jüdischer Standortbestimmung im heutigen Deutschland.
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Die jiddischen Worte ‚Mir szeinen doh‘ (Wir sind da!) stand in den DPLagern auf deutschem Boden dafür, gegenüber einer ungeliebten und oft feindlich gesonnenen Umgebung einen ungebrochenen jüdischen Überlebenswillen von Menschen zum Ausdruck zu bringen, die sich anschickten, Deutschland für immer hinter sich zu lassen.21 Ohne ihn konkret anzusprechen, wird dieser Hintergrund scheinbar mit dem Titelbild angedeutet: auf ihm sind als Ausschnitt einer Photographie, auf einer Treppe ein ausgemergelter Mann mit Hut, dem sich ein schmächtiges Mädchen untergehakt hat und rechts und links davon im Vordergrund zwei weitere Mädchen zu sehen. Die Vermutung liegt nahe, Überlebende der Schoah, wahrscheinlich DPs, zu sehen. Die Quellenangabe des Verlags am Ende des Buches überrascht: „Zurückgekehrter jüdischer Lehrer mit seiner Tochter 1945“. D. h. auf dem Bild sieht man keine osteuropäischen DPs, sondern vielmehr einen offenbar aus Deutschland stammenden Juden mit Tochter und zwei (nichtjüdischen?) Schulmädchen. Der eigentliche, nicht durch die unmittelbare Anschauung der Buchauslage erkennbare Subtext des Bildes lautet demnach also: dieser Jude ist mit seiner Nachkommenschaft nach Deutschland zurückgekehrt, um in seinem Beruf (Berufung: Lehrer!) jüdische und nichtjüdische Kinder gleichermaßen zu unterrichten. Damit erfährt der Buchtitel also auf der Bildebene keine Rückbindung, sondern im Gegenteil, eine erste ‚Metamorphose‘ gegenüber der historischen Vorlage: Der trotzige Überlebensruf osteuropäischer DPs wird zum Kommentar der Rückkehr zweier Generationen aus Deutschland stammender und dort verfolgter Juden in ihr ursprüngliches Heimatland. Die zweite ‚Verwandlung‘ des titelgebenden Ausspruchs bewirken die Worte des Autors aus dem Einführungskapitel des Buches: „Wir sind da! Wie einfach klingen diese drei Wörter, und wie schwer kommen sie den meisten Juden in Deutschland immer noch über die Lippen. Es ist ein moderner Satz, ein junger Satz, der erst jetzt in den letzten zehn Jahren in Deutschland zu hören ist. Von einer jüngeren, einer Zweiten und auch schon Dritten Generation und natürlich von den Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion […]. – Doch für die ältere Generation, die den Holocaust erlebt, überlebt hat, war es kaum möglich diesen Satz auszusprechen: Wir sind da. Es ist eine Feststellung und ein Bekenntnis zugleich, eine Anerkennung der Tatsachen, der Realität: Juden leben in Deutschland, in jenem Land also, das sechs Millionen Juden umgebracht hat.“22
In der Schlusssentenz des Kapitels wird aus der eigentlichen Feststellung tatsächlich ein im Stil eines Manifests gehaltenes Bekenntnis: „Wir sind da! Mit uns müsst ihr rechnen, wir aber müssen längst keine Rechenschaft ablegen für unser Leben im einstigen Land der Täter. Wir sind da, weil wir hier sind und hier bleiben wollen. Wir sind da, selbst wenn wir diesem Land gegenüber ambivalent bleiben. Wir sind da! Eine Haltung des Trotzes, des Stolzes, des Selbstbewusstseins. Wir sind da! Deutschland ist unsere Realität. Die Koffer sind ausgepackt. Ob dies aller21 Vgl. das historische Einführungs-Kap. II.1.2.2., S. 91 ff. 22 R. C. Schneider: Wir sind da!, S. 13
190 | TEIL III: JÜDISCHE EXISTENZ IN BERLIN UND IHRE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN dings für immer so sein wird, das wird dieses Land entscheiden müssen. Nicht für die Juden, sondern für sich selbst.“ 23
Aus der Deutschland und den Deutschen gegenüber in Abwehrhaltung geäußerten osteuropäisch-jiddischen ‚Auf-den-Koffern-Sitz‘-Losung ‚Mir szeinen doh!‘ ist bei C. Schneider nun unmerklich das ‚Ausgepackte-Koffer‘-Bekenntnis ‚Wir sind da!‘ einer neuerlichen jüdischen Existenz in Deutschland geworden. Nur scheinbar bewegt sich Schneider damit im argumentativen Kontinuum des ehemaligern Zentralratsvorsitzenden Bubis. Bubis hatte mit seinem unermüdlichen öffentlichen Bekenntnis für ein Zusammenleben von Juden und Nichtjuden im Nach-NS-Deutschland wie kaum ein anderer hiesiger prominenter Jude in den letzten Jahrzehnten den verletzbaren Trotz jüdischer Überlebender, die nach 1945 in Deutschland lebten, verkörpert. Doch Schneider geht darüber deutlich hinaus: Denn bei ihm verbindet sich das Bleibemotiv für Deutschland mit etwas hierzulande gänzlich neuem: nämlich einem jüdischen Selbstbewusstsein.24
1.1.3. Günther B. Ginzels Berlinfilm als Symphonie des jüdischen Gepräges einer Großstadt
Abbildung 3
23 Ebd., S. 51 Auch diese mittlerweile gängige Variation des aus der unmittelbaren Nach-NS-Zeit bekannten ‚Auf-Koffern-Sitzen‘-Motivs (vgl. Kap. I.1.2.3., S. 98) kann als Anhaltspunkt einer veränderten Selbsteinschätzung hiesiger jüdischer Existenz gewertet werden. Bekannt wurde das neue Koffermotiv dadurch, dass es von Charlotte Knobloch an zentraler Stelle ihrer Rede bei der als mediales Großereignis vielbeachteten Grundsteinlegung des neuen jüdischen Gemeindezentrums in München aufgegriffen wurde: „Seit jenem November 1938 ist ein Teil von mir, ein Teil meiner Koffer immer noch auf der Flucht. Am Abend des heutigen Tages jedoch, des 9. November 2003, werde ich diese Koffer öffnen und damit beginnen, langsam Stück für Stück, jedes einzelne Teil an den Platz zu räumen, den ich für die letzten 65 Jahre freigehalten habe. Denn heute nach genau 65 Jahren, bin auch ich ganz wieder in meiner Heimat angekommen.“ Zit. nach dies.: „Wieder ganz in meiner Heimat“, in: SZ 10.11.03 24 Dass von Schneiders Umdeutung des Wir-sind-da-Motivs eine offensichtlich eigene Wirkungsmächtigkeit ausgegangen ist, soll unten im siebten Beispiel (Paul Spiegel) verdeutlicht werden; s. Kap. III.1.1.7., S. 203.
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Das dritte Beispiel stellt die Fernsehdokumentation „Mittenmang und zwischendrin. Jüdisches Leben in Berlin“ dar. Der jüdische Kölner Publizist G. B. Ginzel produzierte die dreiviertelstündige Dokumentation für den WDR im Jahr 2000.25 Auch der 1946 geborene Sohn während der NS-Zeit versteckt überlebender Eltern ist ein Angehöriger der zweiten Generation von Schoah Überlebenden. Ginzels TV-Dokumentation kann als ein seltenes innerjüdisches filmisches Dokument der jüdischerseits seit dem Millennium verstärkt anhebenden qualitativen Wachstumsbekundungen gewertet werden. Als Vorspann ist in dem Film eine nächtliche Szene auf einem der schönsten Plätze Berlins, auf dem Gendarmenmarkt, zu sehen: Junge Juden besingen mit hebräischen und arabischen (!) Liedern den mit Kerzen auf den Boden geschriebenen ‚Schalom‘ (Frieden). Der orthodoxe Gemeinderabbiner Y. Ehrenberg und sein damaliger liberaler Kollege W. Rothschild geben hierzu ihren Segen. – Ein harter Schnitt, in der zweiten Szene sieht man von oben die damalige Großbaustelle Potsdamer Platz, dazu Ginzels Stimme aus dem Off: „Berlin heute. Eine Stadt im Aufbruch. Vieles wird weggeräumt. Anderes entsteht neu, Altes wird restauriert. Kein Zweifel, in dieser Stadt lässt sich leben. Gilt das auch für das jüdische Berlin? Sind hier jüdische Künstler und Intellektuelle wieder zu Hause“26 Dieser Frage geht er durch Gespräche mit 13 in Berlin lebenden jüdischen und jüdischstämmigen Kulturschaffenden sowie mit einigen nichtjüdischen Passanten in Ateliers, auf der Straße, in der S-Bahn, bei einer Performance und einer Ausstellung, während Zusammenkünften in Privatwohnungen sowie Gottesdiensten des Egalitären wie des sephardischen Minjans nach. Außerdem ist eine NPDDemonstration und ein Ausschnitt einer Großdemonstration gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus am 9. November 2000 vor der Synagoge Oranienburger Straße mit jüdischen Teilnehmern zu sehen. Mit Ausnahme der Szenen mit der Schoah-Überlebenden und Publizistin Salomea Genin am Rande der NPD-Demonstration und mit dem Rabbiner W. Rothschild, der als Opfer anonymer antisemitischer Anrufe sowie islamistisch /israelfeindlich motivierter Attacken permanent bewacht werden muss und von einem judenfeindlichen Spuk redet, überwiegen hoffnungsvolle Bilder und Einschätzungen.27 Jüdische Kultur in der Metropole erscheint in einer Vielfalt und Vitalität, die auch bei dem jüdischen Filmemacher aus Köln sicht- und hörbare Eindrücke hinterlässt. So kann man Ginzels Zwischenbilanz in der Mitte des Films aus dem Off vernehmen: „Das Jüdische in Berlin. Offenbar geht von ihm
25 Ginzel ist auch Herausgeber des 1996 erschienenen Standardwerks über jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 „Der Anfang nach dem Ende“. 26 Dieses wie alle übrigen Zitate der Dokumentation nach eigenem Transskript (A. J.). 27 Im Übrigen auch bei Frau Genin und Herrn Rothschild. So bekennt die ehemals aus Deutschland Vertriebene, vom Straßenrand aus im Angesicht des Neo-NaziAufmarschs: „Auf keinen Fall bin ich bereit, kampflos die Position hier zu verlassen. Ich denke gar nicht daran.“
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eine nur schwer zu beschreibende Faszination aus. Hier mischt sich die Erinnerung an das, was war, mit dem, was wieder sein könnte.“ Aber auch das Verhältnis von Juden und Nichtjuden wird – abgesehen von den gezeigten Neonazis – als ein ungetrübtes gezeigt. Frau Genin kauft in der Sophienstraße beim Bäcker, der sich tapfer für seinen jüdischen Nachbarn während der NS-Herrschaft eingesetzt hat, Touristen interessieren sich für jüdische Vergangenheit und Gegenwart um die Hackeschen Höfe, und eine nichtjüdische junge Berlinerin bekennt an dem geschichtsträchtigen Ort auf Ginzels Frage nach ihrem Interesse an jüdischem Leben lässig: „Och warum nicht, dagegen hab' ich nichts.“ Schließlich demonstrieren Juden am 9. November gemeinsam mit hunderttausenden Nichtjuden gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Am Ende des Films tanzen Mitglieder zweier jüdischer Gruppierungen, darunter der jüdischen Homosexuellengruppe Yachad28, in einer geräumigen Berliner Wohnung den traditionellen jüdisch-israelischen Gruppentanz Hora. Zu diesen geradezu euphorisch anmutenden Schlussbildern spricht Ginzel den Abspann: „Unkonventionell, offen, international, so könnte sie aussehen, die jüdische Zukunft in Berlin.“ Auffallend ist der Grundton, der aus nahezu allen Bildern und Gesprächen der Dokumentation von Ginzel spricht: ‚Jüdisches Leben blüht auf. Es ist nicht mehr von der für Juden allgegenwärtigen Vergangenheit des jüdischen Berlins und seiner Vernichtung bestimmt und tritt aus dem Schatten von Auschwitz heraus, ohne aber dabei die notwendige Erinnerung und den Kampf gegen Ewiggestrige zu vernachlässigen.
1.1.4. Andreas Nachamas Hinweise auf das, was schon da ist, aber noch weitaus mehr werden kann
Abbildung 4
28 Vgl. hierzu im vierten Teil die Einzelfallanalyse zu Yachad.
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Als ein weiteres das jüdische Leben in Berlin in den Mittelpunkt stellende Dokument soll eine Buchveröffentlichung des Berliner Rabbiners und ehemaligen JGB-Vorsitzenden Andreas Nachama29 aus dem Jahre 2001 herangezogen werden: „,Erneuere unsere Tage‘. Jüdisches aus Berlin“. Im Gegensatz zu den bisherigen Beispielen ist diese Veröffentlichung vor allem ein durchweg persönlich gehaltenes Dokument, in dem sich der damalige Noch-JGB-Vorsitzende erstmals publizistisch auch als angehender Rabbiner präsentiert.30 Im Gegensatz etwa zu den oben als zweites Beispiel angeführten Verlautbarungen von C. Schneider äußert Nachama in seiner ebenfalls die letzten Jahrzehnte umfassenden Textsammlung keine auf die jüdische Existenz in Deutschland (bzw. Berlin) bezogene explizite Programmatik. Implizit kommt allerdings auch in diesem Buch eine Botschaft zum Tragen, die sich mit Andreas Nachamas Äußerungen deckt, die er mir gegenüber in einem explorativen Gespräch im Vorfeld der eigentlichen Erhebung machte31: Die Vereinigung von Deutschland, Berlin sowie den dortigen östlichen und westlichen jüdischen Gemeinden sowie der Zuzug durch der russischsprachigen Zuwanderer wird vom Autor als große Herausforderung für die Berliner Juden gesehen. Jedoch überwiegen seiner Ansicht nach gegenüber den Schwierigkeiten die Entwicklungschancen, die es in den kommenden Jahren zu ergreifen gelte. Explizit verweist Nachama auf die Pluralität jüdischen Lebens in den USA, die er selbst dort erfahren hat. Auch dieses Buch deckt eine Spanne von über 50 Jahren jüdischen Lebens vorrangig aus der Berliner Perspektive ab, allerdings auch Ostund Westdeutschland einbeziehend. Dabei herrscht nicht nur in den abgedruckten Gedenkreden und Nachrufen Nachamas ein Grundton vor, der mit dem Begriff der Beständigkeit hiesigen jüdischen Lebens (nicht zu verwechseln mit dem missverständlicheren Begriff ‚Normalisierung‘) zu fassen ist. Auch das schwarz-weiße Titelphoto drückt diesen zweifachen Grundtenor (Beständigkeit und Zukunftschancen) geradezu symbolträchtig aus, jedenfalls für die Kenner der gewählten Örtlichkeit, die jüdische Religiosität und weltliches Engagement gleichermaßen bezeugenden: Der Autor steht lächelnd in dem ehemaligen, z. Z. noch ungenutzten jüdischen Krankenhaus in der Auguststraße im Osten Berlins mit dem Rücken zu einem offenen Südfenster. Über seine Schulter hinweg erkennt man im Hintergrund einen mit üppigem Buschwerk und Bäumen bestandenen Innenhof, der von der berühmten, in Natura goldenen Kuppel der
29 Zu A. Nachama vgl. II.2.2.3., S. 141 ff. und 2.2.4., S. 146 – Er hatte maßgeblichen Anteil an dem Zustandekommen der Studie: Im Vorfeld der Untersuchung führte ich mit ihm ein längeres Gespräch in seinem Gemeindebüro in der Fasanenstraße, vgl. Kap. I.6.3.1., S. 74. Dieses Gespräch empfand ich als eine entscheidende Bestärkung, das Forschungsvorhaben anzugehen. 30 Es ist seinem im gleichen Jahr verstorbenen Vater, dem berühmten Berliner Oberkantor Estrongo Nachama gewidmet. 31 Vgl. hierzu das Kap. I.6.3.1. S. 74 zur explorativen Vorphase der Haupterhebung.
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Neuen Synagoge überstrahlt wird. Das gleißende Licht lässt die Kuppel fast in den blasshellen Sommerhimmel übergehen. Mit einem gewissen, der damaligen Position als JGB-Vorsitzenden angemessenen, Understatement beschließt Nachamas das Vorwort des Buches: „Vielleicht sind diese Impressionen und Gedanken zu Jüdischem aus Berlin auch ein kleiner Anstoß, um unsere Tage ein wenig zu erneuern...“32 Die Titel gebende, aus der Liturgie des Schabbatgottesdienstes entlehnte Wendung ‚Erneuere unsere Tage‘ erhält also durch den Gesamtcharakter des Buches über den religiösen Bezug hinaus eine eindeutig weltliche Konnotation: Das jüdische Leben in Berlin und anderswo in Deutschland ist dabei sich zu erneuern.
1.1.5. Heinz-Peter Katlewskis Reiseberichte aus dem reformjüdischen Aufbruch im deutschsprachigen Raum
Abbildung 5
„In einer Mischung aus Hintergrund-Reiseführer33 und modernem Sachbuch präsentiert Heinz-Peter Katlewski das breite Spektrum liberalen und konservativen jüdischen Lebens, das sich seit einigen Jahren im deutschsprachigen Raum wieder entwickelt hat“34, wie der Klappentext verspricht. Bereits im Titel dieser Veröffentlichung aus der reform-religiös orientierten ‚Jüdischen Verlagsanstalt Ber32 Andreas Nachama, Erneuere unsere Tage, Berlin, Philo 2001, S. 11 33 Vgl. oben zu diesem neuen Genre der ‚jüdische Reiseführer‘ in Deutschland als frühe Beispiele die beiden jüdischen Berlinreiseführer von A. Roth/M. Frajman: „Das jüdische Berlin heute“ und von B. Rebiger: „Das jüdische Berlin“. 34 H. P. Katlewski: Judentum im Aufbruch,. Klappentext
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lin‘ werden mit ‚Aufbruch‘ und ‚Vielfalt‘ erstaunlich ähnliche qualitative Wandlungs-Narrative zu den o. g. im zweiten Untersuchungsdokument von Schneider35 angeführt. Zweifelsohne behandelt das Buch eine offensichtliche ‚Erfolgsstory‘: die neuerliche Etablierung reformjüdischen Lebens im deutschsprachigen Raum der letzten Jahrzehnte.36 Damit werden gegenüber den beiden oberen Beispielen zwei entscheidende Unterschiede deutlich: Erstens wird nur ein Teilaspekt jüdischen Lebens behandelt: Das gegenwärtige Reformjudentum. Zweitens geht es nicht nur um die solitäre Entwicklung in Deutschland, sondern um die durchaus in einem gemeinsamen Kontext vonstatten gehende Entwicklung im gesamten deutschsprachigen Raum. Interessant ist, dass die großen Schwierigkeiten, denen sich das Reformjudentum von Seiten der orthodoxen Majorität jüdischer Gemeinden lange Zeit ausgesetzt sah, zwar behandelt werden, gegenüber den konkreten Beispielen reformjüdischer Aufbauarbeit (insbesondere der Gemeinden, der Landesverbände und des liberalen Potsdamer Rabbinerseminars) aber peripher bleiben. Mit dieser Haltung strahlt die Publikation einen insgesamt selbstbewussten Charakter aus. Einige weitere qualitative Narrative der reformjüdischen Aufbau-Metaphorik aus Katlewskis Buch lauten: „radikale Veränderung für alle jüdischen Gemeinden in Deutschland“ (S. 41); „Auftakte der Erneuerung“ (S. 46); „Renaissance des liberalen Judentums in Deutschland und in großen Teilen Europas“ (S. 165); „neue religiöse Identität“ (169); „neue jüdische Leben“ (169) usw. Auch die äußere Aufmachung des Buches verkörpert die qualitativen Narrative der Überschrift, also Aufbruch und Vielfalt (s. o.): Der Umschlag ist in leuchtendem Orange gehalten. In der unteren Hälfte der Vorderseite sind vor einem den orange Hintergrund unterbrechenden gelben und hell orange vertikalen Streifen vier kleine Photos unregelmäßig verteilt. Sie zeigen: Den New Yorker Thoraschreiber Neil Yerman mit KIPPA, der einen Jungen im Schreiben hebräischer Schriftzeichen unterweist (1. Bild); einen Mann, der im TALLIT vor der BIMA KANTILIERT (2. Bild); ein kleiner Junge der zu PURIM ein Schild mit der Aufforderung zur Esther-Lesung hochhält (3. Bild); und schließlich die einzige Kantorin in Berlin und Deutschland Avitall Gerstetter vom Egalitären Minjan in der Oranienburger Straße37 beim Lesen einer Thorarolle (4. Bild). Auch in diesem Fall gibt es einen über die unmittelbare Rezeption des Covers hinausweisenden Subtext: Alle Bilder zeigen reformjüdische religiöse Aktivitäten, die mit Ausnahme des Bildes der Kantorin, so auch in orthodoxen Gemeinden denkbar 35 Schneider äußert seine Einschätzungen der hiesigen jüdischen Gegenwartsexistenz vor dem biographischen Hintergrund der eigenen Herkunft von osteuropäischorthodoxer DPs; s. o. 36 Vgl. insbesondere im historischen Einführungsteil das Kap. II.1.4.4., S. 123 ff. über die neue religiöse Vielfalt in Deutschland und zur entsprechenden Entwicklung in Berlin die Kap. II.2.2.3., S. 141 ff und 2.3., S. 152 ff. 37 Vgl. ebenfalls die Kapitel zur neueren religiösen Entwicklung auf Gemeindeebene, s. hierzu näher in der vorhergehenden Anm. 36.
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wären. Wendet sich der Buchtitel offenbar gleichermaßen an Juden wie interessierte Nichtjuden, so scheint die Botschaft der Umschlagphotos primär eine innerjüdische zu sein: ‚Auch oder gerade wir Nichtorthodoxen sind rechtgläubig‘. Bestätigt sehe ich diese Interpretation auch damit, dass dies Buch im Frühjahr 2004, also ca. eineinhalb Jahre nach seinem Erscheinen, in der JA auf der Anzeigenseite inseriert wird, eine an dieser Stelle ungewöhnliche Annonce!
1.1.6. Die ‚Jüdische Allgemeine‘: Werbung mit der Wiedergeburt jüdischen Lebens
Abbildung 6
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Abbildung 7
Die seit 1949 erscheinende ‚Jüdische Allgemeine‘ (JA) ist als älteste und einzige überregionale jüdische Zeitung in Deutschland sicherlich das meistgelesene hiesige jüdische Presseorgan. Schließlich wird das überall im Zeitschriftenhandel erhältliche Blatt, das seit 1973 vom Zentralrat herausgegeben wird und 1999 mit diesem von Bonn nach Berlin zog, auch von interessierten Nichtjuden sowie von deutschsprachigen Juden im Ausland gelesen. Entsprechend des enormen Wandels der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland im Zeitraum des Bestehens der JA und dem Wechsel ihrer Herausgeberschaft bzw. deren unterschiedlicher konzeptioneller Ausrichtung hat die Zeitung in Inhalt und Aufmachung immer wieder diverse Veränderungen erfahren. Dabei zieht sich die Bejahung des Neuaufbaus jüdischer Existenz in Deutschland nach 1945 als roter Faden durch die gesamte Entwicklungsgeschichte der Zeitung. In Anbetracht der quantitativen und qualitativen Zunahme der jüdischen Gemeinschaft und des gesamtdeutschen Einigungsprozesses seit 1990 kann deutlich werden, dass diese Zeitung über eine lange Zeit hinweg trotz dieser dramatischen Umbrüche keine grundlegende Neubestimmung ihrer Einschätzung hiesiger jüdischer Existenz vornahm: Natürlich wurden und werden das rasche Wachstum der jüdischen Diaspora in Deutschland sowie der Ausbau und die Neugründung hiesiger jüdischer Gemeinden auf der deskriptiven Ebene in dem Blatt ausführlich behandelt. Dabei unterblieben allerdings bislang weitgehend übergreifende Bewertungen der o. g. grundlegenden Veränderungen. Auch eine Herstellung von
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Analogien der gegenwärtigen jüdischen Existenz in Deutschland zu dem deutschen Judentum vor 1933 konnte man in dem jüdischen Presseorgan in der ersten Dekade nach 1990 weitgehend suchen. Vor diesem Hintergrund ist es besonders bemerkenswert, dass die Zeitung in ihrer Selbstbeschreibung bzw. Eigenwerbung in den letzten Jahren unkommentiert eine Neuakzentuierung der blattinternen jüdischen Selbstvergewisserung vollzogen hat, die sich in der sprachlichen Vermittlung über die hier untersuchten qualitativen Wachstumsnarrative ausdrückt: Im Zuge einer mit einem internationalen Preis prämierten Relaunch des Layouts der JA macht die JA seit 2002 Werbung in eigener Sache mit einer ganzseitigen Annonce innerhalb des gut 20seitigen Blattes. Wie auch andere gegenwärtige überregionale Zeitungen in Deutschland warb die JA ganzseitig im Mittelteil des 22 Seiten umfassenden Blattes über Monate hinweg mit einer in der Aufmachung souverän metropolitanen Anzeige in eigener Sache (Abbildung 6): In der oberen Bildhälfte ist der Kopf der Titelseite der gefalteten JA auf einem Kaffeehaustisch zu sehen, in der rechten Bildhälfte eine Porzellanuntertasse mit Espresso im Glas.38 Im Zentrum prangt die braun gehaltene Überschrift: „Unser Beitrag zur Kaffeehauskultur“. Deutlich kleiner dahinter gesetzt die in dunklem Blau gehaltene Zweitüberschrift „Die Zeitung für Politik, Kultur, Religion und jüdisches Leben.“39 Der Text im unteren Drittel der Seite lautet: „Ein intelligenter journalistischer Genuss: Die Jüdische Allgemeine.“ [fett gesetzte Kopfzeile] „Namhafte Autoren. Erfrischende Debatten. Und regelmäßig neue Standpunkte aus Politik und Zeitgeschehen, Religion und Geschichte haben die Jüdische Allgemeine längst zu einer wichtigen Quelle für Journalisten und Politiker gemacht. Sie finden uns aber nicht nur im Bundestag und Redaktionen, sondern auch in vielen angesagten Cafés und Literaturhäusern.“
Die implizite doppelte Botschaft ist klar: ‚Dies ist wie andere Presseorgane auch eine überregionale Zeitung, nur jüdisch, für Großstädter und für Weltbürger.‘ Was für die Frankfurter Allgemeine das kennzeichnende Titelwort ‚Frankfurter‘ darstellt, ist demgemäß für die JA das im Titel geführte Attribut ‚jüdisch‘: ähnlich einer Art Lokalkolorit.40 Mit dieser die jüdische Ausrichtung der Zeitung nur peripher und unscheinbar erwähnenden Anzeige werden daher offensichtlich primär Nichtjuden als Zielgruppe umworben. Zwei Wochen nach der o. g. ersten Anzeige schaltet die JA eine in der Form ähnliche, im Inhalt jedoch stark veränderte weitere ganzseitige Annonce im Rahmen ihrer neuen Werbekampagne ein (Abbildung 7). Im Kontext der hier unter38 Alle Zitate der Annonce I. zit. nach JA 10.10.02, S. 7, der letzten Ausgabe mit dieser Anzeige. 39 Die beiden Farben korrespondieren mit den Farben des Zeitungskopfes: hier dominiert im Gegensatz zu den Werbeüberschriften die Farbe Blau mit dem Namen der Zeitung, braun sind nur der Datumsbalken und Unterüberschriften, die auf das Innere der Zeitung verweisen. 40 Der Minorisierung des Jüdischen entspricht die Stilisierung der Zeitung als Metropolenblatt auf Grund des Berlinstandorts der Redaktion.
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suchten qualitativen Wachstums-Narrative erscheint ihr Inhalt bedeutsam: Auf einem ganzseitigen Photo ragt die zusammengerollte Zeitung vor grauem Hintergrund von rechts oben in die Bildmitte. Der Zeitungskopf mit dem dunkelblau gehaltenen erkennbaren Wort „Jüdische“ (von ‚Jüdische Allgemeine‘) dominiert die rechte obere Seitenhälfte. In der linken Hälfte der Anzeige sind das Hauptphoto überblendend zwei aktuelle Beilagen der JA handtellergroß abgebildet mit dem jeweiligen Erscheinungsdatum darunter: „Jüdische Literatur“ (anlässlich der Frankfurter Buchmesse) und „Jüdische Illustrierte“ (anlässlich der jüdischen Kulturtage in Berlin). Die braune Hauptüberschrift mit der in kleineren blauen Typen dahinter gesetzten Unterüberschrift des JA-Titels („Die Zeitung für Politik, Kultur, Religion Und Jüdisches Leben“) lautet: „Verstehen Sie Kafka?“41 In der rechten unteren Hälfte der Seite folgt der Haupttext: „Renaissance jüdischen Lebens: Film, Theater, Musik sowie Kunst und Literatur entwickeln sich. Besonders deutlich wird dies bei den Berliner Jüdischen Kulturtagen. Zur Veranstaltung erscheint ein Programm-Supplement. Und vor Chanukka das Spezial ‚Jüdische Literatur‘ – Wer also Kafka verstehen will, sollte einfach tiefer ins jüdische Denken eintauchen. Dazu bietet die jüdische Allgemeine die besten Möglichkeiten.“
Auch mit dieser Anzeige, die in der JA nahezu identisch auch im darauf folgenden Jahr, also im Herbst 2003 veröffentlicht wurde, werden offensichtlich Nichtjuden als Zielgruppe umworben. Allerdings geschieht dies nicht wie in der ersten, oben geschilderten Annonce über die Behauptung in der Eigenwerbung des Zeitungsorgans, selbst ein Bestandteil der modernen säkularen Metropolenkultur zu sein und nicht über die für diesen Werbeeffekt unterbelichtete jüdische Identität des Blattes. Im Gegenteil besteht nun die Strategie darin, dass die Jüdische Thematik der Zeitung ins Zentrum der Werbebotschaft gerückt wird, indem die ‚Renaissance jüdischen Lebens‘ in Berlin und Deutschland in der Art eines Events in der Annonce angepriesen wird.42 Diese Werbestrategie erscheint nur im Zusammenhang mit der offensichtlich nichtjüdischen Zielgruppe der gesamten Werbekampagne wie auch dieser speziellen Anzeige verständlich: Denn mit der hier beschriebenen blattinternen Annonce werden über die Eigenwerbung des Blattes hinaus mit dem Hinweis auf die beiden JA-Beilagen zu den ‚Jüdischen Kulturtagen‘ in Berlin sowie zu Jüdischer Literatur im Zusammenhang mit der Frankfurter Buchmesse zugleich zwei Veranstaltungen beworben, die mehrheitlich von Nichtjuden besucht werden. Außerdem möchte die JA mit der hier behandelten Werbeannonce offenbar einen in Deutschland und gerade in Berlin existenten nichtjüdischen modischen Hype gegenüber schön bzw. exotisch Jüdischem ansprechen, der in der Studie in Kap. III.3. ausführlich behandelt wird. 41 Alle Zitate der Annonce II. zit. nach JA 24.10.02, S. 10, der ersten Ausgabe mit dieser Anzeige. 42 Dabei wird offenbar in Richtung der nichtjüdischen Zielgruppe als weiteres Argument für die Lektüre der Zeitung das bessere Verständnis eines hierzulande sehr populären und meistens eher als deutsch, denn als jüdisch (bzw. tschechisch) wahrgenommenen Schriftstellers behauptet – das von Franz Kafka.
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Nie zuvor ist von jüdischer Seite seit 1990 das qualitative Narrativ ‚Renaissance jüdischen Lebens‘, bezogen auf die hiesige jüdische Gegenwartsexistenz im vereinigten Deutschland, in dieser Eindeutigkeit und mit dieser Verbreitung verwendet worden. Die wenigen Beispiele bis etwa zum Jahr 2000 zeichnen sich per se durch einen behutsamen Einsatz mittels Verlagerung in die Zukunft oder eine internationale Kontextualisierung der mit dem Begriff transportierten Wachstumsmetaphorik aus. Dies soll exemplarisch an zwei Beispielen aufgezeigt werden: So hatte der deutsch-jüdische Soziologe Y. M. Bodemann 1996, in der Diktion noch eindeutig prospektiv, formuliert: „Sicherlich ist die Einwanderung von Juden aus Osteuropa im Begriff, eine gewisse Revitalisierung des hiesigen Judentums mitzuerzeugen.“43 Und wenige Jahre später hatte Joel Levy, USAstämmiger damaliger Direktor der Berliner Vertretung der international tätigen Lauder-Foundation, in einem Interview mit C. Schneider (s. o.) von der ‚Renaissance jüdischen Lebens‘ in Deutschland lediglich im Kontext der weltweiten jüdischen Entwicklung, insbesondere derjenigen in Osteuropa gesprochen: „Nun überall in Europa gibt es eine Renaissance jüdischen Lebens. […] Es ist fast ein Wunder: Krakau, Warschau, auch in Rumänien, in Bulgarien, in der Ukraine ist es so. Und nun auch in Deutschland. Es ist schon wahr: Das große geistige Zentrum, das gibt es nicht mehr hier in Europa. Die jüdischen Zentren befinden sich jetzt in den USA und in Israel. Dennoch gibt es hier eine Wiederauferstehung.“44
Vor diesem Hintergrund erscheint es ersichtlich, dass nur mit der JA und mit den hiesigen jüdischen Verhältnissen Vertraute (und damit kaum die mit der Annonce umworbenen mehrheitlich nichtjüdischen Erstleser) ermessen können, in wieweit die nach Form plakative und nach Inhalt kontextfreie Verwendung des Renaissance-Narrativs in dem Werbetext im Blattinneren eine außergewöhnliche Aussage von jüdischer Seite bedeutet. Der Gehalt dieses Beispiels für die Studie primär nicht in dem Aufzeigen einer wie auch immer gearteten ‚Renaissance jüdischen Lebens‘ in Deutschland, sondern in deren werbewirksamer Behauptung und Verbreitung von berufener Seite durch das führende jüdische Printmedium.
43 Bodemann, Y. M. (1996:13) 44 Vgl. Joel Levy: „Eine Renaissance jüdischen Lebens“ (Interview), in: R. C. Schneider, Wir sind da!, S. 487. Schneider hatte in seiner Gesprächssammlung jedem der 34 von ihm geführten Interviews ein inhaltlich ausdrucksstarkes Zitat der Befragten als Überschrift vorangestellt. Offensichtlich betrachtete auch er die Verwendung des qualitativen Wachstums-Narrativs als bedeutsamstes ‚Highligt‘ des auch darüber hinaus sehr informativen Interviews mit J. Lewy.
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1.1.7. Paul Spiegel zu Wiedergeburt und Neuerstehung jüdischer Existenz im heutigen Deutschland
Abbildung 8
Zwischen Anfang 2000 bis zu seinem Tod im Frühjahr 2006 amtierte Paul Spiegel als Nachfolger von Ignatz Bubis im Vorsitz des ‚Zentralrates‘.45 Spiegel galt als ein sehr besonnener und um innerjüdischen und gegenüber der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft um Ausgleich bemühter Repräsentant der hiesigen jüdischen Gemeinschaft. Die Lektüre seiner öffentlichen Verlautbarungen der letzten Jahre wie auch seiner Autobiographie46 lässt deutlich werden: Ein visionärer Überschwang ist dem von den Nazis als Kind mit seiner Familie vertriebenen und dank belgischer Pflegeeltern überlebenden obersten jüdischen Repräsentanten biographisch wie auch seinem auf Interessenvertretung nach außen und interner Arbeitsteilung angelegten Verständnis seines Führungsamts entsprechend völlig fremd.47 Seine Generallinie im Bezug auf die gegenwärtige- und zukünftige Perspektive des jüdischen Lebens in Deutschland lässt sich daher am ehesten als verhaltener Optimismus bezeichnen. Umso überraschender und bedeutsamer erscheint es, wenn sich Spiegel in seltensten Fällen im Sinne der hier untersuchten qualitativen Narrative äußert. Als Illustrierung sollen drei Beispiele aus der Zeit zwischen September 2001 und Anfang 2002 angeführt werden, beginnend mit der visionärsten Passage aus sei45 Im historischen Einführungs-Kap. 1.4.3., S. 121 f. wurde P. Spiegel im Zusammenhang mit seiner Wahl zum Zentralrats-Vorsitzenden bereits kurz porträtiert. 46 Ders.: Wieder zu hause? Erinnerungen, Berlin, Ullstein 2001 47 Er hatte außerdem in der Schoah eine Schwester verloren.
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ner o. g. Autobiographie. Dieses Beispiel lässt noch am deutlichsten Spiegels von der geschichtlichen Erfahrung und den antisemitischen Rückschlägen der Gegenwart geprägte Bedachtsamkeit erkennen: „Das originäre, gewachsene deutsche Judentum […] ist untergegangen. [...] Länger als ein halbes Jahrhundert versuchen wir, hier ein neues Judentum zu etablieren. Es wird im Zusammenspiel mit der nichtjüdischen deutschen Gesellschaft seine eigenen Züge entwickeln. – Das neue deutsche Judentum wird offener, kosmopolitischer, aber auch aufmerksamer und vorsichtiger sein, als die bis 1933 gewachsene jüdische Gemeinschaft dieses Landes. Es wird, davon bin ich überzeugt, eine Bereicherung für das europäische Judentum und für die freiheitliche deutsche Gesellschaft sein.“48
Hier wird dass qualitative Narrativ des ‚Neuen Judentums‘ von Spiegel noch mit zwei inhaltlichen Korrektiven versehen: Am Beginn seiner Gedankenäußerung steht das schmerzliche Erinnern an den nie mehr rückgängig zu machenden Bruch durch Auschwitz als der Epoche des Untergangs des gewachsenen deutschen Judentums. Außerdem erinnert er, wenn auch nur in Andeutungen, an die maßgebliche Rolle und Verantwortung, die er auch in der Zukunft der außerjüdischen Mehrheitsgesellschaft in Deutschland für das neuerliche Gedeihen des hiesigen Judentums beimisst („Zusammenspiel“, „aufmerksamer, vorsichtiger“). In der Diktion viel optimistischer und auf der Linie mit den bisherigen Wachstums-Narrativen liegt das das zweite Beispiel: Knapp drei Jahre nach Spiegels erster Wahl zum Zentralratsvorsitzenden wurden er und seine damaligen StellvertreterInnen am 1. Dezember 2002 einstimmig in ihren Ämtern bestätigt. In dieser persönlichen ‚Sternstunde‘ gebraucht Spiegel eine Wendung, die er bereits an weniger prominenter Stelle in einem Radiogespräch über ein Jahr zuvor ‚ausprobiert‘ hatte49 und die eine für die offizielle Äußerung eines obersten jüdischen Repräsentanten in Deutschland bis dato ungewöhnliche Äußerung darstellt. Sie wird hier wiedergegeben in der Zitierung eines Zeitungsartikels von Philipp Gessler: „Der ebenfalls wiedergewählte […] Paul Spiegel, sagte gestern in Berlin bei der Vorstellung des neuen Präsidiums, dass er ‚eine Renaissance des Judentums‘ in Deutschland erwarte, wenn es gelinge, die vielen russischsprachigen Zuwanderer in die Gemeinden zu integrieren.“50 Mit P. Spiegels Aneignung des Begriffs ‚Renaissance‘, wenn auch als auf die Zukunft bezogene Aussage, ist damit das denkbar optimistischste Narrativ, hinsichtlich jüdischer Existenz im vereinigten Deutschland, ganz offiziell an der Spitze der hiesigen jüdischen Gemeinschaft angekommen, nach seiner sukzessiven innerjüdischen Verwen-
48 Ebd., S. 281 49 Paul Spiegel: (Gespräch), in: Deutschlandradio, 21.07.01, 9.00 Uhr. – Der Wortlaut des Interviews, das ich im Original hören konnte, liegt mir nicht vor. Allerdings geht aus meinen schriftlichen Notizen zu dem Gespräch eine nahezu deckungsgleiche prospektive Verwendung des qualitativ-narrativen ‚Renaissance-Motivs‘ wie in Spiegels im Folgenden hier ebenfalls angeführten Rede anlässlich seiner Wiederwahl als Zentralrats-Präsident im Spätjahr 2002 hervor. 50 Philipp Gessler: „Berlin jetzt vertreten“, in : TAZ 02.12.02
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dung.51 Interessanterweise findet sich in den Artikeln und Kommentaren der JA zu den o. g. Zentralratswahlen kein wörtliches Zitat oder einen solchen Hinweis auf Spiegels bemerkenswerte Äußerung, jener Zeitung die zuvor selbst einen erheblichen Anteil bei der Durchsetzung dieses Narrativs gehabt hatte! Einige Tage nach dieser öffentlichen Verlautbarung ließ Spiegel ein weiteres qualitatives Narrativ anlässlich einer noch weitaus größeren ‚Sternstunde‘ vor internationaler Presse folgen: Am 8. Dezember 2002 wurde die neue Wuppertaler Synagoge im Beisein des frisch gewählten israelischen Präsidenten Moshe Katzav eingeweiht.52 Spiegel bedient sich nun am symbolträchtigen Höhepunkt der deutsch-jüdisch-israelischen Zusammenkunft des bereits zuvor von C. Schneider umgedeuteten ‚Wir-sind-da-Rezitativs‘: „Dieses neue Gotteshaus […] zeugt von unserer Bereitschaft hier zu bleiben. – Aber wichtiger noch: Es ist ein Bekenntnis, dass wir da sind. Wir sind da – und das heißt: Wir sind als Juden ein Teil dieser Gesellschaft. Wir mischen uns ein, wir sind mitverantwortlich für das Gedeihen dieser Demokratie. Wir sind da – das heißt allerdings auch: Wir lassen uns nichts mehr gefallen. Wir nehmen antisemitische Verunglimpfungen nicht mehr hin. Wir wehren uns und wir werden dieser Gesellschaft auch Dinge sagen, die unbequem, unangenehm, lästig sind. Das aber ist nicht nur unsere Pflicht als Juden, als Minderheit, die sich wehrt, es ist unsere Pflicht als Staatsbürger […].“53
Damit verschiebt er die Gewichte im Verhältnis zwischen jüdischer Minderheit und deutscher Mehrheitsgesellsaft von jüdischer Seite erstmals in Richtung Stolz, Selbstbewusstsein und innergesellschaftliche Konfliktfähigkeit. Sogar der Aufbau ist an C. Schneiders Diktion angelehnt: im ersten Teil die Beschreibung des eigenen Standpunkts, im zweiten Teil das persönlich gehaltene Bekenntnis. Hierbei fällt allerdings ein inhaltlicher Unterschied zu dessen Text auf: Spiegel verbindet sein Bekenntnis zum In-Deutschland-Bleiben mit einem staatsbürgerlich begründeten innergesellschaftlich-kritischen Engagement hiesiger Juden für Demokratie und gegen Antisemitismus. Insgesamt lassen alle drei Beispiele aus dem sprachlichen Fundus des amtierenden ZdJ-Vorsitzenden eine wichtige Einsicht im Zuge der hier unternommenen Untersuchung der von hiesigen Juden in der jüngeren Vergangenheit öffentlich geäußerten qualitativen Wachstums-Narrative zu: Spiegel nimmt offenbar in der Einschätzung gegenwärtiger und künftiger Entwicklungsperspektiven der jüdischen Diaspora in Deutschland in den letzten Jahren erkennbare Akzentverschiebungen gerade gegenüber seinem Vorbild und Vorgänger I. Bubis aber auch gegenüber seinen eigenen früheren öffentlichen Verlautbarungen vor. Diese 51 Vgl. hierzu den vorherigen Abschnitt (6) zu den Werbeannoncen in der Jüdischen Allgemeinen. 52 Dieser hatte mit seiner ausdrücklichen Unterstützung des Aufbaus der jüdischen Diaspora in Deutschland im Gegensatz zu seinem Vorgänger und der bisherigen offiziellen Haltung Israels eine ‚Kopernikanische Wende‘ vollzogen; vgl. im historischen Einführungsteil das Kap. II.1.4.3., S. 122. 53 Paul Spiegel: „,Ein Haus der Hoffnung‘“, in: JA 19.12.02
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Neupositionierung erscheint gerade auf Grund Spiegels nach Naturell an den Tag gelegter und qua Amt gebotener moderater Zurückhaltung besonders bemerkenswert. Dass er dabei bestimmte qualitative Narrative aufgreift, die bereits vor ihm innerjüdisch öffentlich kommuniziert und in vorangegangenen Beispielen oben aufgezeigt wurden, dürfte dabei gerade für den grundsätzlichen Wandel sprechen, den seine Selbstvergewisserung jüdischer Gegenwartsexistenz in Deutschland nimmt. Angesichts Spiegels Funktion als oberster jüdischer Repräsentant in Deutschland dürfte er damit aber auch als wichtiger Multiplikator der von ihm verwendeten qualitativen Wachstums-Narrative seinerseits in die hiesige jüdische Gemeinschaft zurückwirken.
Fazit Drei gewandelte Selbstvergewisserungs-Positionen der hiesigen jüdischen Diaspora können dabei in den o. g. Beispielen der innerjüdischen Verwendung der qualitativen Wachstumsnarrativ identifiziert werden: • Zum einen wird die Verstetigung jüdischen Lebens in den letzten Jahren in Deutschland und seine weitere Ausweitung von Vertretern der hiesigen Diaspora öffentlich festgestellt und darüber hinaus über die Analogie zu frühere jüdische Existenz hierzulande affirmativ bewertet. • Außerdem kann seit einigen Jahren in Verlautbarungen von Repräsentanten der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland eine Zunahme an Selbstbewusstsein ausgemacht werden. Dies manifestiert sich in einer Neubewertung der jahrzehntelang innerjüdisch als Provisorium angesehenen hiesigen jüdischen Existenz jenseits erst in den letzten Jahren endgültig ‚ausgepackter Koffer‘. • Schließlich wird das Verhältnis zwischen hiesigen Juden und Nichtjuden zunehmend offen sowie ohne falsche Rücksichtnahme thematisiert. Dabei werden verstärkt von jüdischer Seite die nichtjüdischen Deutschen in die Verantwortung genommen, mit aktivem Einsatz gegen Judenhass und Fremdenfeindlichkeit das Fortbestehen hiesigen jüdischen Lebens zu gewährleisten. 1.2. Selbsteinschätzungen aus dem jüdischen Berlin zu qualitativem Wachstum des jüdischen Lebens der Stadt Im Anschluss an den Nachweis einer aktuellen innerjüdischen Verwendung qualitativer Wachstumsnarrative für jüdische Existenz in Berlin und im übrigen Deutschland soll es in einem zweiten Durchgang um die Untersuchung der Äußerungen der Erhebungsauswahl zu eine qualitativen Ausweitung jüdischen Lebens in Berlin gehen. Hierunter sind insbesondere im weitesten Sinne öffentlich wahrnehmbare kulturelle Aktivitäten und ihre Wandlungsprozesse zu verstehen: • Einerseits interessieren hier Deutungen und Gesamteinschätzungen des aktuellen Wandels jüdischer Existenz in Berlin im Sinne oder abweichend zu den zuvor eingeführten qualitativen Wachstums-Narrativen. Gibt es eine Renaissance/Revitalisierung jüdischen Lebens in der Stadt? • Andererseits besteht ein bevorzugtes Interesse an möglichst beispielsbezogenen Schilderungen qualitativer Wandlungsprozesse im jüdischen Berlin mit
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dem studienleitenden Fokus auf kulturellen Entwicklungen am Rande und außerhalb der örtlichen Gemeindeaktivitäten. An welchen Entwicklungen lässt sich ein Wandel auf kultureller Ebene im jüdischen Berlin festmachen? Über die Erörterung qualitativer Wachstums-Narrative des jüdischen Lebens in Berlin gelangten viele Befragte zu über ihre eigenen Gruppenaktivitäten hinausweisenden konkreten Entwicklungsbedingungen und -perspektiven jüdischer Existenz in Berlin, in einigen Fällen auch darüber hinaus im übrigen Deutschland. Daraus ergab sich eine überraschend breite Palette an behandelten Themen wie etwa neuere jüdische Initiativen im Bildungs-, Medien- sowie im kulturellen Bereich der Metropole bis hin zu von den von ihnen wahrgenommenen Veränderungen im Bereich eines sich wandelnden jüdischen Selbstbewusstseins. Dabei führten sie eine Fülle von Beispielen für bestimmte qualitative Veränderungsprozesse im jüdischen Berlin mit teilweise inhaltlich sehr dichten Schilderungen an. Gerade die Frage nach der generellen Einschätzung des Wandels des örtlichen jüdischen Lebens erwies sich häufig als Einstiegsfrage zur von den GesprächspartnerInnen von sich aus ausgewählten Facetten eines etwaigen qualitativen Wachstums des örtlichen jüdischen Lebens. Dabei zeigte sich insgesamt, dass sie mit zunehmender Kenntnis bestimmter themenbezogener Einzelentwicklungen im jüdischen Berlin diese Gesichtspunkte und die von ihnen gewählten Beispiele sehr problemorientiert erörterten. D. h., dass aus dem Erhebungskreis auch konkrete Defizite überkommener Strukturen wie auch reale Schwierigkeiten bei der Implementierung von Veränderungen im Untersuchungsfeld thematisiert wurden. Die Untersuchung des qualitativen Wandels des im weitesten Sinne kulturellen Bereichs jüdischer Gegenwartsexistenz in Berlin wird bewusst für über die Metropole hinausweisende Wahrnehmungen der Interviewten geöffnet. Denn tatsächlich besitzen viele Aspekte dieses Wandels starke Bezüge zu der Entwicklung in anderen Städten bzw. im übrigen Deutschland. Außerdem erscheint es auch im Hinblick auf die Untersuchung spezifischer Bedingungen jüdischen Lebens in Berlin sinnvoll, entsprechende, teilweise ganz andersartig oder sogar konträr verlaufende Entwicklungen in anderen Städten Deutschlands, soweit sie in den Erhebungsgesprächen angeführt werden, einzubeziehen.54 Soweit möglich werden daher im Weiteren alle Statements, in denen explizit von Entwicklungen in Berlin, im übrigen Deutschland oder ausdrücklich von beiden die Rede ist, entsprechend gekennzeichnet. Allerdings wurden häufig originär jüdische Kulturäußerungen wie auch pseudojüdische kulturelle Manifestationen (weil von Nichtjuden betrieben) gemeinsam oder in einem narrativen Zusammenhang thematisiert. Diese Tatsache ist kaum überraschend, da bereits mit frühen explorativen Besuchen im Untersuchungsfeld das Neben- oder sogar Miteinander von Jüdischem und Pseudojüdischem gerade am Untersuchungsort Berlin vorhanden
54 Vgl. die entsprechenden Äußerungen im Kap. III.2. zu Berlinspezifika und der Berliner jüdischen Gemeinde.
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und im Stadtbild präsent ist. Aus systematischen Gründen ist es demgegenüber unbedingt notwendig, beide in getrennten Kapiteln zu behandeln.55 Die Erhebung brachte sehr unterschiedliche Einschätzungen gegenüber den o. g. Anknüpfungsmöglichkeiten an die aus der Vor-NS-Zeit behaupteten qualitativen Wachstums-Narrativen sowie gegenüber qualitativen Wachstumsmöglichkeiten im weitesten Sinne kultureller Aktivitäten und deren Voraussetzungen im jüdischen Berlin zu Tage. Die Aussagen hierzu werden daher im Folgenden jeweils nach inhaltlichen Aspekten in drei sog. Clustern (Kap. III.1.2.1. bis 1.2.3.) untersucht. In jedem dieser drei Abschnitte geht es im Anschluss an die personenweise aufgeschlüsselten Äußerungen darum, die darin zum Ausdruck kommenden Argumentationslinien einer übergreifenden Analyse zu unterziehen: Auf einer inhaltlichen Ebene steht dabei die Frage nach konkreten Hinweisen auf mögliche Veränderungen im jüdischen Berlin sowie deren Systematisierung im Vordergrund: Welche konkreten inner-jüdischen Aktivitäten, Akteursgruppen und Restriktionen für Veränderungen werden benannt? Demgegenüber steht auf einer personenbezogenen Ebene die Frage nach Zusammenhängen zwischen personellen Eigenschaften der sich Äußernden (religiöse Orientierung, innerjüdische Tätigkeit, örtliches Herkommen und Gemeindebezug56) und deren inhaltlichen Aussagen im Zentrum: Welche Befragten kommen zu welchen Bewertungen der Zukunftsperspektiven jüdischer Existenz in der Metropole sowie mit welchen möglicherweise hierfür relevanten personenbezogenen Merkmalen? Schließlich werden in einem bilanzierenden Abschnitt am Ende des Gesamtkapitels die Aussagen im Themenfeld einem finalen Resümee unterzogen. (Kap. III.1.2.4.) Ein letzter Hinweis betrifft die Systematisierung der drei folgenden Cluster. Zwischen dem ersten und dem zweiten Cluster kommt es zu unvermeidlichen personellen Überschneidungen, da zwischen beiden Positionsbestimmungen im Meinungsspektrum der Befragung keine inhaltslogische Ausschließung besteht. Denn im ersten Cluster geht es darum, die genannten Einwände im Hinblick auf Anknüpfungsmöglichkeiten an die Vor-NS-Zeit im Sinne der o. g. qualitativen Wachstums-Narrative darzustellen und zu erörtern. Über diese Einzelfrage hinausweisende Chancen und Grenzen einer neuartigen Genese jüdischen Lebens in Berlin werden im zweiten Cluster ambivalent, im dritten optimistisch erörtert.
1.2.1. Erstes Cluster: Skeptische Einschätzungen einer an den qualitativen Wachstumsnarrativen orientierten Zunahme jüdischen Lebens in Berlin (P 1, P 3, P 22 und P 23) In einem ersten Durchgang werden die Äußerungen der Erhebungsauswahl, die deutliche Gemeinsamkeiten in der kritischen Einschätzung der Anschlussmöglichkeiten heutiger und künftiger jüdischer Existenz in Berlin an das örtliche 55 Wobei geringe inhaltliche Überschneidungen in beiden Kapiteln unvermeidbar sind. – Zu nichtjüdischen Inszenierungen von Jüdischem vgl. unten Kap. III.3. 56 Vgl. die für die Auswahl dieser personenbezogen Eigenschaften das Kap. I.6.3.1., S. 74 f.
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Vorkriegsjudentum aufweisen, in einem eigenen Cluster (im folgenden ‚erstes‘ oder ‚Skepsis-Cluster‘) zusammengefasst. Wie in den beiden weiteren Clustern werden dabei ganz unterschiedliche Argumentationslinien verwendet. Die vorliegende Auswahl stellt die pessimistische Extremposition in diesem Themenfeld dar. Vor der genaueren Analyse werden zunächst die ProtagonistInnnen mit einigen ihrer Kernaussagen vorgestellt: P 1: Die schärfste Kritik an der Verwendung des Renaissance-Rezitativs formulierte die aus dem deutsch-jüdischen Milieu Ostberlins stammende Mitgründerin des jüdischen Kulturvereins (JKV). Wie keine andere der sich in diesem Themenfeld Äußernden reflektierte sie über die Gültigkeit des qualitativen Wachstumsnarrativs ‚Revitalisierung‘ im Zusammenhang mit der modischen Überhöhung originär jüdischer Kulturäußerungen wie pseudojüdischer Manifestationen durch Nichtjuden (vgl. unten Kap. III.2.2.). Apodiktisch stellt sie heraus: „deutsches jüdisches Leben revitalisiert sich nicht.“ (P1/2) Erst die Verwechslung pseudojüdischer mit originär jüdischer Kultur würden Vorstellungen einer ‚Revitalisierung‘ oder ‚Renaissance‘ entstehen lassen: Sie spricht daher auch von „diesem Unsinn, der auch immer in der Zeitung steht, ‚das neuerstandene jüdische Leben in der Oranienburger Str.‘“ (P1/11)57 Antithetisch hierzu betont sie explizit eine Kontinuität jüdischen Lebens in der Stadt und im übrigen Deutschland: „An sich ist das jüdische Leben mehr oder weniger so wie in den letzten vierzig Jahren.“ (P1/2) (ähnlich P1/3) Trotz quantitativer Zunahme hätte sich die kollektive Praxis nicht in dem Maße ausgeweitet, dass es die emphatische Verwendung der qualitativen Wachstums-Narrative rechtfertigen würde: „Es gibt mehr Juden, es gibt mehr Angebote, die Gemeinde hat sich verdoppelt […] von der Mitgliederzahl, aber die Synagogen sind wahrscheinlich ähnlich gut oder schlecht gefüllt wie immer, bis auf die Joachimstalerstraße [gemeint ist die orthodoxe Synagoge; A. J.]58, und jüdisches Leben würde ja ganz andere Dinge noch beinhalten, die ich nicht sehe.“ (P1/4) Diese Äußerung entspricht der von ihr dezidiert betonten Bedeutung religiöser Aktivitäten, als dem Kernbereich hiesiger jüdischer Existenz. Denn für P 1 ist ,Jüdisches Leben‘ in Berlin bzw. Deutschland als solches auch heute noch primär Gemeindeleben in der Synagoge, also dies, was es tatsächlich bereits in dem halben Jahrhundert nach 1945 in Deutschland hauptsächlich ausgemacht hat. Immerhin spricht die innerjüdisch im JKV in der Oranienburger Straße Aktive davon, dass jüdisches Leben mittlerweile in der Straße wieder „funktioniert“ (P1/11), wie sie es ausdrückt. Explizit erwähnt sie die ebenfalls hier angesiedel-
57 Sie führt hierfür konkrete Beispiele an, worauf in dem Hype-Kap. III.3.2.1., S. 309 f. noch genauer eingegangen wird. 58 also die im Westteil der Berliner Innenstadt gelegene traditionell orthodoxe Gemeinde-Synagoge, dort, wo sich also auch die überwiegende Anzahl der neueren osteuropäischen Zuwanderer niedergelassen hat; vgl die Grafik zu den Wohnbezirken der Gemeindemitglieder im Anhang S. 579.
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ten jüdischen und Jüdisches thematisierenden Manifestationen und Aktivitäten der ‚Neuen Synagoge‘, des ‚Centrum Judaicum‘ sowie den ‚Betkreis‘.59 In der Kontinuität religiöser Angebote und der Vermittlung jüdischer Traditionen sieht die in Ostberlin und der DDR Sozialisierte se bestenfalls langfristig wirkende Wachstumsentwicklungen. P 3: Die aus Westdeutschland stammende und heute im Bereich reformjüdischer Aktivitäten Engagierte erweist sich ebenfalls als eine entschiedene Kritikerin des Renaissance-Rezitativs: „Die Renaissance gibt es nicht, weil nicht wiedergeboren werden kann, was eigentlich doch untergegangen ist.“ (P3/14) Sie kritisiert ganz ähnlich zu P 1 Vorstellungen von einer jüdischen Renaissance oder der Wiederbelebung jüdischer Existenz in Deutschland aus dem Geist wie auch immer gearteter oder phantasierter Vergangenheiten als eine nichtjüdische Schimäre „Vieles ist heiße Luft oder nur ein Theaterprospekt, aber kein jüdisches Leben“. (P3/29), worauf ähnlich zu entsprechenden Bezügen bei P 1 (s. o.) ebenfalls gesondert im Kap. III.3.2.1. näher eingegangen wird. Der Unterschied der Gegenwart zu der Referenzzeit vor dem NS ergebe sich demgegenüber aus dem personellen und dem damit in Zusammenhang stehenden kulturellen Bruch im hiesigen jüdischen Kollektiv: Die heutige Zukunftsperspektive jüdischer Existenz in Berlin und darüber hinaus in Deutschland bestünde ihrer Einschätzung nach viel eher darin, die kulturellen Potentiale der russischsprachigen Zuwanderer innerjüdisch in kultureller sowie integrativer Hinsicht nutzbar zu machen.60 P 22: Das dritte Beispiel der Skepsis gegenüber einem neuerlichen Wiederaufblühen jüdischen Lebens in Berlin im Rekurs auf die Vor-NS-Zeit stammt von einem ehemaligen JGB-Mitglied, welches der Berliner Gemeinde zwar kritisch gegenübersteht, unbenommen davon jedoch zu einer bemerkenswert ähnlichen Einschätzung wie die beiden JGB-Mitglieder P 1 und P 3 gelangt: „Ein jüdisches Leben wie in den 20er Jahren wird es in Berlin nie wieder geben. Davon bin ich felsenfest überzeugt.“ (P22/2) Ähnlich wie P 1 macht sie den außerjüdischen Hype (vgl. Kap. III.3.2.2.) für entsprechende verzerrte Außenwahrnehmungen der gegenwärtigen Entwicklungen der hiesigen jüdischen Gemeinschaft verantwortlich. So bestätigt sie auf die ihre diesbezüglichen Reflexionen zusammenfassenden Nachfragen ausdrücklich: In.: „ ‚Es gibt dauerhaft wieder Juden in Deutschland, aber es gibt kein jüdisches Leben in Deutschland‘. Kann man das so [als] ihre Position [sagen]?“ – P 22: „So würde ich das sehen, ja.“ – „Es gibt glaube ich, eine ganze Menge Leute [mit Herkunft aus den Staaten der ehemaligen SU; A. J.], die sagen, ‚In Deutschland lebt es sich großenteils wirklich besser als in vielen andern Ländern dieser Welt‘“ (P22/73) 59 Gemeint ist offensichtlich der Egalitäre Minjan; vgl. im berlinbezogenen Einführungsteil das Kap. II.2.2.3., S. 141 f. 60 Ähnlich hatte sich die ebenfalls aus Deutschland stammende Internet-Betreiberin P 15 geäußert; vgl. in der Einzelfallstudie zu dem jüdischen Internet-Dienst MuH Kap. IV.8.3., S. 536.
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Dies habe aber wenig bis nichts mit jüdischem Leben zu tun. Insgesamt bringt P 22 drei miteinander korrespondierende Argumente zur Sprache, mit denen sie ihre deutliche Skepsis gegenüber einer neuerlichen Renaissance jüdischen Lebens in Berlin begründet: (1) Objektive Restriktionen für die Belebung jüdischer Lebenswelten: „Also es konzentriert sich zwar touristisch auf das ehemalige jüdische Viertel, aber in Wirklichkeit leben da gar keine [Juden; A. J.].“ – „Die leben doch […] an den verschiedensten Orten sicherlich, aber doch viel verstreuter. Also es wird nicht mehr so eine Konzentriertheit geben, die es mal gegeben hat.“ (P22/3) Dabei erinnert sie daran, dass das Gros der deutschen Juden auch schon im alten Berlin des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts völlig gemischt mit der übrigen Bevölkerung lebte, während das sog ‚Scheunenviertel‘ „das […] Viertel der Ostjuden war. Also das ist ja sowieso ein Leben, was so nicht wieder herstellbar ist.“ – „Also so auch russische Juden zum Beispiel nicht wieder herstellen wollen.“ (Ebd.) auf Grund deren geringe Verwurzelung in jüdischer Kultur und Religion. Gegen Ende kommt P 22 nochmals auf diese Position zurück: „[…] also, ich glaube, es gibt einen Wandel, der aber nicht offensichtlich ist. Es gibt natürlich durch die vielen eingewanderten russischen Juden, (…) schon auch eine Art von..., an bestimmten Orten eine Wiederbelebung (…). Also, es sind keine öffentlichen Orte. Ich glaube nicht, dass es ein ‚jüdisches‘ Leben im Sinne von Geschäften..., ‚jüdisches‘ Leben, was macht denn das aus? Ich meine, das muss man mal sagen, was ist denn ‚jüdisches‘ Leben? Also, es müssten Geschäfte, (…) Wohnviertel sein, wo […] die Leute in Gruppen zusammenleben wirklich, wo kulturelle Treffpunkte sind und also das gibt es doch in dem Sinne nicht.“ (P22/71)
Als Positivbeispiel in der weltweiten Diaspora fällt ihr New York ein, doch hegt sie Zweifel daran, ob etwas Vergleichbares wieder in Deutschland entsteht. (2) Keine angemessene Zahl hier lebender Juden mehr: „[…] wer soll denn dazu herkommen? […] Ich meine, die werden sich doch nicht potenzieren? Also diese Potenzierung ist ja nur passiert durch die russischen Juden. So, das ist jetzt vorbei“. – „Da kommen vielleicht kleckerweise nochmal, aber da müsste es ja eine Welle, es müsste ja, es müsste ja ein Land geben, aus dem..., die nach Deutschland einwandern und auswandern.“ – „(…) also das muss man auch sagen! Ich meine, die sollen ja nach Israel auswandern. Ich meine, die sind ja nur die, die hier hängen geblieben sind, die ja nach Israel nicht wollten aus unterschiedlichen [Gründen; A. J.]“ bzw. (auf Nachfrage) in die USA. (P22/73)
(3) Die Größe Berlins als Hinderungsgrund: „Die Stadt ist doch zu groß“. (P22/3)61 „Und […] in einer kleineren Stadt könnte ich mir auch vorstellen, kann sich so was entwickeln, also einfach territorial auch kleineren Stadt. Also da halt ich es auch noch eher für möglich, also, ich habe das nicht so beo61 Im Unterschied zu Berlin kann sie sich vorstellen, dass es etwa in Frankfurt a. M., der Stadt mit der nach Berlin zweitgrößten jüdischen Gemeinde Deutschlands, in einem positiv gemeinten Sinne eine „andere Art von jüdischem Leben gibt“. (ebd.)
210 | TEIL III: JÜDISCHE EXISTENZ IN BERLIN UND IHRE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN bachtet in anderen Städten, aber ich denke, da könnte ich es mir sogar noch eher vorstellen. Also weil, wenn irgendwo […] 5000 Juden leben und da […] 20.000 oder 40.000 [Nichtjuden ihnen gegenüberstehen; A. J.].“ – In.: „[…] Das wäre so, als wenn hier eine Million [Juden; A. J.] unter 4 Millionen Leuten [lebten; A. J].“ – P 22: „Ja, aber wie soll das in Berlin gehen? Also das halte ich für ausgeschlossen.“ (P22/73-74)
P 23: Für die aus Westdeutschland stammende Journalistin tut sich eine Diskrepanz zwischen den durch die starke quantitative Zunahme von Juden in Berlin und im übrigen Deutschland hervorgerufenen überzogenen Erwartungen und den realen Bedingungen und Problemen der hiesigen jüdischen Gemeinschaft auf: „Und mit dieser jüdischen Renaissance, das sehe ich sehr kritisch, weil ich denke, wir haben zwar zahlenmäßig viele Juden hier in Deutschland […], man kann natürlich happy sein, wenn man sagt: ‚Es sind 100.000 oder noch mehr‘, weil man hat ja die Gemeindemitglieder und die, die es nicht sind. Aber also eine große Anzahl von Juden macht noch kein jüdisches Leben, geschweige denn eine jüdische Zukunft.“ (P23/9)
An zwei Beispielen macht sie inner- wie außerjüdische Restriktionen einer Revitalisierung fest: Innerjüdische Restriktionen: Die journalistisch und als Bildungsreferentin tätige Wahlberlinerin stellt insbesondere im Bereich des jüdischen Bildungswesens entscheidende Hindernisse für einen innerjüdischen Aufbruch in Berlin. Als ein besonders aussagekräftiges Beispiel führt sie eine Podiumsdiskussion an, die stattfand. Auf dieser Veranstaltung sprachen u. a. auch im religiösen sowie im Bildungsbereich tätige Repräsentanten der jüdischen Gemeinschaft sowie der Gemeinde in Berlin über dessen weitere Zukunftsperspektiven62: P 23: „Man hat da gemerkt, diese Leute haben alle keine Vision. Und es sind keine Visionen für jüdische Erziehung, jüdische Bildung da! Und woher soll dann das […] Judentum der Zukunft eigentlich kommen? Wenn also auch in diesem Bereich keine Bereitschaft da ist, also auch was zu investieren.“ – In: „Also investieren ist hier jetzt zwar ein ökonomischer Begriff, aber Sie meinen das vor allen Dingen im Sinne von Visionen?“ – P 23: „Von Visionen entwickeln, aber dann auch praktische Schritte zur Umsetzung. Und da gibt es ganz viele Defizite.“ (P23/9-10)
Gerade angesichts des großen Bestands an gemeindeinternen Bildungsangeboten (mit Kindergarten, Grund- und Oberschule) macht sie umso mehr strukturelle wie inhaltliche Defizite aus. Wichtigste Kritikpunkte sind die unflexible Vernetzung mit den öffentlichen Schulen, um mit niedrigschwelligen Angeboten die mehrheitlich dort unterrichteten nichtorthodoxen jüdischen Schüler zu erreichen, mangelnde interkulturelle und interreligiöse Programme und der finanziell bedingte fehlende Aus- oder sogar Abbau des Bildungsbereichs.63 62 Auf der im Rahmen der Sommeruniversität der protestantischen Kirche in Berlin im Sommer 2003 in den Räumen der Berliner Humboldt-Universität durchgeführten öffentlichen Veranstaltung war ich ebenfalls anwesend. 63 Zu den jüdischen Bildungseinrichtungen inner- sowie außerhalb der Berliner Gemeinde vgl. die entsprechenden einführenden örtlichen Kap. II.2.1.2., S. 33 f. sowie Kap. 2.2.2., S. 139 f.
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Außerjüdische Restriktionen: Doch auch in der hiesigen nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft nimmt sie deutliche Defizite wahr: So mangele es primär an der Bereitschaft, engagierte jüdische Projekte und Initiativen zu unterstützen, die mittlerweile auch jenseits der etablierten Gemeinden und Zentralrats-Strukturen entstanden sind und im Gegensatz zu diesen kein gesetzlich verankertes Anrecht auf Steuern und Fördermittel besitzen. Ihre Kritik schließt dabei ausdrücklich maßgebliche politische Kreise ein: P 23: „Also ich meine die nichtjüdische Seite redet sich halt immer sehr schnell raus mit der Kohle, die der Zentralrat kriegt. Bloß der Zentralrat fördert nur seine Aktivitäten“. (P23/37) Jüdische Initiativen außerhalb der etablierten Gemeindestrukturen bekämen angesichts der bescheidenen Mittel des ZdJ von dessen Seite aus zu hören: „,Das ist zwar gut, was ihr macht und wir können froh sein, sonst müssten wir es machen aber wir haben schon für unsere [Arbeit; A. J.] zu wenig.‘ Und also egal wer das ist, jüdische Aktivitäten machen dann immer wieder die Erfahrung, dass sie auf diesen Zentralrat verwiesen werden. Und ich meine, es ist symbolisch ja schon ganz schön, mit diesen drei Millionen jetzt, aber die Welt ist es natürlich nicht.64 Also wenn man schon diese drei Millionen Euro umrechnet auf die jüdischen Gemeinden die es gibt, ist es eine Halbtagsstelle, Sekretärinnenstelle für jede Gemeinde.“ – „Und dann ist die Kohle schon weg und dann ist da nichts mit Erziehung oder sonst irgendwie“. (P23/37)
Diese ausgesprochene Abstinenz von nichtjüdischer Seite gälte sogar für den Fall, dass jüdische Projekte wichtige Aufklärungs-Funktionen gegen antisemitische Tendenzen erfüllen würden wie das nicht ZdJ-geförderte private jüdische Internetportal haGalil.65 Dennoch stehe haGalil mit seiner gesamtgesellschaftlich wichtigen Arbeit praktisch ohne öffentliche Unterstützung da, betont P 23: „[…] also, für so eine Arbeit gibt es so gut wie gar keine Unterstützung, was ich eigentlich skandalös finde, weil das kann nicht die Sache von ein paar Jüdinnen und Juden sein, gerade bei der Geschichte dieses Landes und dem Informationsbedarf, den es bei Juden und Nichtjuden gibt, dass das eine Privatangelegenheit von ein paar Leuten ist, was da im Internet steht oder eben auch nicht steht.“ (Ebd.)
Diese mangelnde Unterstützung mache sich auch an dem Ausbleiben von Werbekunden für haGalil fest. Auf dem Höhepunkt der Zwangsarbeiter-Diskussion hätten schließlich viele Firmen explizit vermieden, bei dem Portal Werbung zu schalten. Jüdische Revitalisierung hätte oder hat also auch etwas mit Geld,
64 Diese Bemerkung spielt auf den zwischen dem Zentralrat und der Bundesregierung abgeschlossenen Staatsvertrag im Januar 2003 an, vgl. im deutschlandweiten Einführungs-Kap. II.1.4.3., S. 122. 65 Bei haGalil handelt es sich um kein ausgesprochen Berliner Medienprojekt über jüdische Existenz in der Metropole hinausweist, soll hier auf Grund seines Angebotsschwerpunkts zu jüdischem Leben in Berlin das von der Wahlberlinerin erörterte Beispiel angeführt werden. Zu strukturellen Problemen jüdischer InternetDienstleister vgl. die Einzelfallanalyse über das Berliner jüdische Internetportal Milch und Honig Kap. IV.8.6.
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Zugangsberechtigung zu öffentlichen Mitteln und der (mangelnden) Bereitschaft nichtjüdischer privatwirtschaftlicher Geldgeber zu tun, hier Flagge zu zeigen!
Zwischenbewertung Die hier zusammengefassten Positionen sollen zunächst vor der Darstellung der übrigen Cluster in zwei Untersuchungsgängen vorläufig analysiert werden. In einem ersten Schritt werden hierzu auf der inhaltlichen Ebene die genannten restriktiven Gesichtspunkte eines qualitativen Wachstums innerjüdischer kultureller Aktivitäten systematisierend behandelt (1). Hierauf werden in einem zweiten Schritt mögliche Zusammenhänge zwischen diesen Äußerungen sowie den personenbezogenen Eigenschaften der Erhebungsauswahl aufgezeigt (2). (1) Inhaltliche Gesichtspunkte des Skepsis-Clusters Den Einschätzungen zweier in diesem Cluster Vertretenen liegt die Wahrnehmung von aktuellen Veränderungsprozessen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Berlins und darüber hinaus im deutsch-jüdischen Feld zu Grunde. (P 3 und P 23) Offenbar bietet ihnen überhaupt erst diese Perspektive die Möglichkeit, über mögliche Bezüge zwischen dem gegenwärtigen jüdischen Leben in Berlin und demjenigen in der deutschen Hauptstadt vor 1933 zu reflektieren. Demgegenüber nehmen die beiden ebenfalls in dem Cluster verorteten, jedoch in vielerlei Hinsicht sehr unterschiedlich eingestellten P 1 und P 22 nur eine sehr langsame Veränderung kultureller Aspekte innerhalb des jüdischen Berlin wahr. Dabei lassen sich bei allen vier inhaltliche Übereinstimmungen in den Argumentationslinien feststellen: • Gemeinsam ist den Vertretern dieses Clusters die Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen dem quantitativen Wachstum jüdischen Lebens in Berlin in den letzten eineinhalb Dekaden und den realen Bedingungen und Möglichkeiten, jüdische Existenz in der Metropole im gleichen Zeitraum insbesondere auf kultureller Ebene qualitativ auszuweiten. • Eine damit verbundene weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie alle konkrete größere innerjüdische Defizite und Probleme artikulieren, die dem insbesondere kulturellen Wachstum im jüdischen Berlin zumindest in naher Zukunft eklatant entgegenstehen. • Außerdem stimmen sie in der Einschätzung eines Gegensatzes zwischen dem Umfang der tatsächlichen oder zu erwartenden qualitativen innerjüdischen Veränderungen in Berlin und dem von nichtjüdischer Seite auf Grund zunehmenden Interesses an Jüdischem und vermeintlich Jüdischem imaginierten Wiedererblühen jüdischen Lebens in der Metropole überein (vgl. hierzu auch das Hype-Kap. III.3.). • Schließlich sprechen sich alle Vertreter dieses Clusters eindeutig gegen die qualitativen Wachstums-Narrative ‚Renaissance‘ und ‚Revitalisierung‘ des im weitesten Sinne kulturellen jüdischen Lebens aus. Teilweise werden diese Wendungen von ihnen sogar unter Ideologie-Verdacht gestellt, da sie der
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o. g. verzerrten nichtjüdischen Wahrnehmung jüdischer Gegenwart in Berlin und z. T. auch im übrigen Deutschland, Vorschub zu leisten vermögen. Doch welche Argumentationsmuster sind in diesem Cluster im Einzelnen für die skeptische Haltung gegenüber einer Ausweitung jüdischer Existenz in Berlin in Entsprechung zu jüdischem Leben vor 1933 erkennbar? a) Das absolute historische Argument: Es verweist auf unwiederbringliche Verluste durch die Vernichtungspolitik des NS und seitdem stattfindende innerjüdische Entwicklungen, welche nur durch eine falsche Verklärung von Versatzstücken jüdischer Kultur der Vor-NS-Zeit auf nichtjüdischer Seite aus dem Blick geraten könnten. Das Argument gliedert sich in drei Teilaspekte: • Die Schoah hat einen nicht mehr zu heilenden und damit auch immerfort nachwirkenden Traditionsbruch zur Folge. Gerade in Berlin ist jüdische Existenz in Anknüpfung an das schillernde und vielfältige jüdische Leben der Vor-NS-Zeit kaum mehr denkbar. Dies markiert im interkulturellen Vergleich auch einen Unterschied zu gewachsener jüdischer metropolitaner Diaspora-Existenz wie etwa im heutigen New York. (P3, P 22 und P 23) • In absehbarer Zeit werden die einer historischen Ausnahmesituation geschuldeten extrem hohen Zuwanderungsahlen aus der ehemaligen SU und den GUS-Staaten, die allen mit den Wachstumsnarrativen verbundenen Hoffnungen zu Grunde liegen, stark rückläufig sein. (P 22) • Die weit vorangeschrittene und damit unumkehrbar gewordene Säkularisierung und Assimilierung gerade unter dem Gros der osteuropäischen Zuwanderer steht einer mit den quantitativen Wachstumszahlen der hiesigen jüdischen Gemeinschaft verbundenen Hoffnung diametral entgegen. (P 1)66 b) Das relative historische Argument: Es insistiert ebenfalls auf die unwiederbringlichen Verluste durch die Vernichtungspolitik des NS. Allerdings schließt es für die Gegenwart keine qualitative Ausweitung und Weiterentwicklung jüdischer Existenz im religiösen oder eben im kulturellen Bereich aus (P 3 und P 22 und P 23). Vielmehr wird die Unterschiedlichkeit der damaligen zur heutigen Situation betont, indem die herkunftsspezifischen kulturellen Orientierungen des hohen Anteils hier lebender Juden aus der ehemaligen SU und ihren faktischen Problemen bei der innerjüdischen wie gesamtgesellschaftlichen Integration ernst genommen werden. Hierbei würde sich – wenn auch unter Mühen – etwas historisch gesehen Neues entwickeln. Alle den genannten Argumenten zu Grunde liegenden Sachverhalte sind durch explorative Vor- und Begleitrecherchen im Untersuchungsfeld sowie ähn66 In einem ‚puristischen‘ Sinne, also dann, wenn wie im Falle der befragten Kulturvereins-Aktiven eine säkulare jüdische Gegenwartskultur bezweifelt wird, kann nur dort von einer qualitativen Ausweitung kultureller jüdischer Aktivitäten gesprochen werden, wo nachweislich die Erhaltung bzw. Förderung der religiösen Bindung an das Judentum stattfindet. Dies scheint tatsächlich nur bei den wenigsten der in der Studie thematisierten Aktivitäten der Fall zu sein.
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lich lautende öffentliche Äußerungen von anderen Vertretern aus dem jüdischen Berlin belegt. Damit besitzen diese Argumente im Zusammenhang mit der Diskussion um die Chancen der Ausweitung jüdischer kultureller Aktivitäten in Berlin ein hohes Maß an Plausibilität. Ihre abschließende Bewertung kann in diesem Kapitel allerdings erst nach der Sichtung und Darstellung der anderen beiden Cluster erfolgen. (2) Personenbezogene Aspekte der Vertreter des Skepsis-Clusters In einem zweiten Durchgang geht es darum, über die Klärung möglicher biographischer Unterschiede bzw. Übereinstimmungen in ihrer personenbezogenen Merkmalsstruktur der sich entsprechend Äußernden gewisse Schlüsse über den Zusammenhang zwischen diesen Merkmalen und den inhaltlichen Übereinstimmungen ihrer Statements herauszuarbeiten. Untersucht werden wie eingangs bereits angekündigt religiöse Orientierung, innerjüdische Tätigkeit, Gemeindebezug und örtliches Herkommen: In der religiösen Orientierung der Vertreterinnen dieses Clusters zeichnet sich ein völlig disparates Bild ab: Sowohl konservative bis orthodoxe (P 1), liberale (P 3 und P 23) wie auch atheistische Orientierungen (P 22) finden sich in dem Skepsis-Cluster. Diese Tatsache erscheint kaum überraschend, da die von ihnen geteilte Skepsis gegenüber Wachstumspotentialen im jüdischen Berlin einschließlich des religiösen Bereichs nicht an ihre jeweiligen eigenen religiösen Orientierungen gebunden ist. Vielmehr wird durch die Statements erkennbar, dass ihre Skepsis viel stärker von der allgemeinen Wahrnehmung objektiver Probleme auf der Anbieter- wie der Nachfrageseite heutiger innerjüdischer Religionsvermittlung in Berlin geprägt zu sein scheint. In der thematischen Ausrichtung der innerjüdischen Tätigkeit der im Cluster Zusammengefassten lässt sich ebenfalls keine einheitliche Tendenz ausmachen. Diese ist mit ihren Tätigkeitsfeldern Soziokultur/Religion (P 1), Religion/Administration (P 3), Nahostpolitik (P 22) und Journalismus (P 23) denkbar weit gestreut. Allerdings ist allen auf Grund ihrer jeweiligen Tätigkeiten ungeachtet ihrer jeweiligen Schwerpunktsetzung die Beschaffenheit des jüdischen Berlin bestens vertraut. Auch im Gemeindebezug bestehen deutliche Unterschiede der in diesem Cluster Vereinten. Eine sich hier Äußernde ist an der Peripherie der Gemeinde mit wachsendem Gemeindebezug aktiv (P 1), während sich die zweite bewusst dafür entschieden hat, nach früherer Tätigkeit für die Gemeinde außerhalb von ihr zu engagieren. (P 3) Die dritte Stimme wiederum agiert innerjüdisch völlig außerhalb der Gemeinde. (P 23) Und die vierte befindet sich im deutlichen Unterschied zu allen übrigen sogar in einer ausgesprochenen Dissidenten-Rolle gegenüber der JGB (P 22).67 67 Beim Gemeindebezug des Erhebungskreises gilt es im vorliegenden wie in den beiden weiteren Clustern mitzubedenken, dass dieser entsprechend der Forschungsperspektive der Studie zu Entwicklungen an der Peripherie wie außerhalb der Berliner
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Im Unterschied zu den drei erstgenannten ist in der Kategorie Herkommen eine deutliche Übereinstimmung unter den hier Versammelten auszumachen: Alle vier besitzen eine ost- oder westdeutsch-jüdische familiäre Herkunft, zwei von ihnen sogar mit einem ausgesprochenen Berliner familiären Hintergrund (P 1 und P 22). Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage nach möglichen Zusammenhängen zwischen ihren Herkunftsgemeinsamkeiten und ihren ähnlichen Einschätzungen des Wachstums jüdischen Lebens in Berlin bzw. der o. g. qualitativen Wachstumsnarrative auf. Diese Beziehung besitzt m. E. ein hohes Maß an Plausibilität. Denn bereits auf Grund ihrer Herkunft aus direkten Überlebendenfamilien der NS-Verfolgung und aus dem deutschen/Berliner Judentum sind ihnen die einstmalige ‚Blüte‘ hiesigen jüdischen Lebens wie dessen nachfolgende Vernichtung biographisch näher als den meisten anderen aus dem Befragtenkreis.68 Ausweitung jüdischer Existenz, insbesondere im kulturellen Bereich in Berlin ist ihnen – wenn überhaupt – daher kaum als ein vergangenheitsbezogenes ‚re-‚ oder ‚wieder-‚ denkbar. Außerdem sind ihre skeptischen Argumente gegenüber qualitativen Ausweitungen kultureller Aktivitäten im jüdischen Berlin von einer langen und gründlichen Kenntnis der örtlichen jüdischen Gemeinschaft wie auch der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft geprägt. Trotz der generellen Gemeinsamkeit in diesem Cluster in der Skepsis gegenüber einem Anknüpfen und Wiederaufblühen jüdischen Lebens im Berlin, zeigen sich aber auch deutliche Unterschiede in der Konzeptualisierung dessen, was überhaupt örtliches ‚jüdisches Leben‘ bedeutet oder bedeuten könnte: P 1 besitzt die Vorstellung eines vor allem religiös geprägten jüdischen Lebens im Unterschied zu der heutigen mehrheitlich säkularen Gesellschaft. P 3 und P 23 verstehen unter jüdischem Leben vielfältigste religiöse und kulturelle Aktivitäten innerhalb und zukünftig stärker als bisher auch außerhalb der Gemeinde. Und P 22 schließlich assoziiert mit jüdischem Leben eine historisch überkommene relativ homogene und abgeschlossene religiöse und kulturelle Lebenswelt, wie sie im Berlin der Vor-NS-Zeit noch am ehesten unter der vormodern geprägten ostjüdischen Bewohnern des ehemaligen ‚Scheunenviertels‘ bestand.
1.2.2. Zweites Cluster: Eingeschränkt optimistische Beurteilungen (P 3, P 7, P 8, P 15, P 18, P 19 und P 23) Bei den hier zusammengefassten Statements überwiegt eine vorsichtig optimistische Einschätzung der Entwicklungsmöglichkeiten jüdischen Lebens in Berlin (im Folgenden ‚zweites‘ oder ‚eingeschränktes Optimismus-Cluster‘). Die positive Beurteilung der weiteren Ausweitung jüdischen Lebens in der Metropole sowie teilweise auch darüber hinaus in Deutschland ist in diesen Fällen allerdings an bestimmte Vorbehalte geknüpft, die häufig in thematischer Nähe zu den opti-
Gemeinde bei dem Gros von ihnen schwach bis überhaupt nicht ausgeprägt ist und daher nur bei einigen Themen im Weiteren explizit dokumentiert wird. 68 Siehe hierzu die beiden folgenden Cluster Kap. III.1.2.2. sowie 1.2.3.
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mistischen Äußerungen diskutiert werden. Diese Vorbehalts-Äußerungen werden daher in das Cluster ebenfalls einbezogen. Damit stellt es die mittlere Position zwischen dem bereits angeführten Skepsis-Cluster und den stark optimistisch geprägten Äußerungen im Sinne der Wachstums-Narrativen im dritten Clusters dar. P 3: Die organisatorisch im reformjüdischen Spektrum Tätige formuliert einen ihren religiösen Hintergrund beschreibenden Kernsatz, der durchaus auch als Credo ihrer Haltung gegenüber außerreligiösen Entwicklungen im jüdischen Berlin gewertet werden kann: „Da ist mir dieser Gedanke, dass Judentum sich auch entwickelt und weiterentwickelt doch sehr viel näher [als der Orthodoxie; A. J.].“ (P 3/6) So formuliert sie jenseits ihres bereits oben angeführten kritischen Statements gegenüber naiven Hoffnungen an ein Anknüpfen an das Vorkriegsjudentum69 eine vorsichtig optimistische Einschätzung jüdischer Entwicklungsbedingungen in Berlin, zunächst quantitativ begründet: „Aber es gibt allein numerisch große Chancen in Berlin, weil es doch so viele Leute sind, dass man sagt mindestens 18.000 Juden sind in der Stadt, davon 11.000 in der Gemeinde, […] mindestens 6000, die bewusst an jüdische Bezüge anknüpfen.“ (3/14) Zu dieser letztgenannten aktiven Gruppe zählt sie primär solche Personen, die aus „deutschen Familien stammen, deswegen sich nicht in der polnisch geprägten Gemeinde70 wiederfinden oder aber israelische Studenten sind oder Amerikaner, aber doch sich jüdisch begreifen.“ (3/15) Unschwer ist zu erkennen, dass dieses Argument sowohl auf die sich insbesondere aus diesen Kreisen rekrutierenden neueren reformjüdischen wie auch säkular-kulturellen Aktivitäten im jüdischen Berlin zielt. Als leuchtendes Positivbeispiel dieser expansiven Entwicklungen im weitesten Sinne kultureller Aktivitäten an der Peripherie oder außerhalb der Berliner Gemeinde erwähnt die Wahlberlinerin mehrere engagierte Initiativen, die sich seit 1990 herausgebildet oder etabliert haben: Jüdischer Kulturverein und Egalitärer Minjan.71 In diesen beiden Fällen betont sie die der innerjüdischen Entwicklung in Berlin förderliche Kooperations- und Integrationsfähigkeit der Berliner Gemeinde (vgl. u. Kap. III.2.2.1.) Hierbei erwähnt sie außerdem die seit Ende der 90er Jahre bis heute mit größeren internationalen Tagungen von ‚Rabbinerinnen, Gemeindepolitikerinnen, jüdischer Aktivistinnen und Gelehrten‘ in Berlin an die Öffentlichkeit getretene jüdische Fraueninitiative Beth Debora.72 Hieran ließe sich außerdem exemplarisch ablesen, dass von Berlin nun von neuem auch wieder innerjüdische Impulse ausgehen würden (ebd.). Die gegenwärtige Entwick69 Vgl. oben Kap. III.1.2.1., S. 208. 70 Damit spielt P 3 auf die auch in Berlin in den ersten Nachkriegs-Jahrzehnten numerische Dominanz osteuropäischer Juden an (wenn auch in der JGB in viel geringerem Maße, als in den meisten übrigen westdeutschen Gemeinden); vgl. die auf die Berlin bezogenen geschichtlichen Einführungs-Kap. II.1.1. und II.1.2. 71 Zum Jüdischen Kulturverein vgl. ausführlich das Kap. IV.2. sowie zum Egalitären Minjan knapp das Kap. II.2.2.3., S. 141 f. 72 Zu Bet Debora vgl. das Einführungs-Kap. II.2.3.1., S. 154 zu neueren religiösen Entwicklungen im jüdischen Berlin.
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lung nimmt sie als „sehr vielversprechend wahr.“ (3/21) Voraussetzung hierfür sei allerdings, dass man von der Seite der gemeinde her die zum innerjüdischen Engagement Bereiten „nicht belehren (…) oder vor den Kopf stoßen“ wolle (Ebd.). „Wenn Leute sich als jüdisch begreifen und sich engagieren wollen, muss man sie einbinden. Und muss Räumlichkeiten anbieten dafür.“ (Ebd.)73 Demgegenüber sieht die aus Westdeutschland nach Berlin Gekommene ihre insgesamt optimistische Einschätzung der Zunahme im weitesten Sinne kultureller Aktivitäten der örtlichen jüdischen Gemeinschaft allerdings durch einige Restriktionen gedämpft, die sie vor allem auf der Ebene der JGB • in nachlassender innerreligiöser Integrationsfähigkeit der Berliner Einheitsgemeinde, der Zuwan• sowie in den Schwierigkeiten bei der innerjüdischen Integration derer aus der ehemaligen SU und den GUS-Staaten ausmacht.74 P 7: Sie war mit den ersten Zuwanderern aus der damaligen SU während der Wendezeit in der DDR nach Berlin gekommen. Die weitere Entwicklung des jüdischen Lebens in Berlin beurteilt sie eher zögerlich optimistisch. Historische Aufbruchs-Analogien liegen der im PR-Bereich des Kulturzentrums Hatikva Tätigen, welches sich um die Integration der ‚Russen‘ und die Vermittlung von jüdischen Inhalten an diese bemüht, völlig fern. Im Zentrum ihrer Wahrnehmung jüdischen Lebens in Berlin steht die enorme Entfremdungserfahrung ihrer und der vorherigen Generationen von SU-stämmigen Juden von ihren eigenen jüdischen Wurzeln. Die zum Gesprächszeitpunkt Mitte-Dreißigjährige nimmt bei diesen Altersgruppen unter den osteuropäischen Zuwanderern eine biographiebedingte ursprünglich von Angst geprägte Distanz zur jüdischen Religion und Tradition75 wahr. Demgegenüber richtet sich ihre ganze Hoffnung der OsteuropaStämmigen auf die nachfolgende, jüngere Generation. Gerade unter der Altersgruppe der Jugendlichen erkennt sie ein reales Potential zur Verstetigung und für eine qualitative Vergrößerung jüdischer Existenz in Berlin, deren Zukunft die eher orthodox Ausgerichtete insbesondere in einem aktiven religiösen Leben sieht. Ihre Ansicht illustriert sie mit zwei Beispielen der ihrer Ansicht nach nur gegenwärtig gegensätzlich erscheinenden innerjüdisch reintegrativen sowie außerjüdisch assimilatorischen Tendenzen unter diesen Jugendlichen: Zum einen erwähnt P 7, dass sie bei einigen unter den in das Kulturzentrum kommenden ‚russischen‘ Jugendlichen eine intensive Hinwendung zur jüdischen 73 Auf die Punkte einer zukünftigen Neukonzeptionierung der Berliner Gemeinde aus Sicht von P 3 wird im nächsten thematisch auf Berlinspezifika fokussierten Punkt in den Kap. III.2.2.1., S. 267 ff. und 2.2.2., S. 276 ff. noch näher eingegangen. 74 Auf diese Schwierigkeiten wird ebenfalls noch näher im in den beiden bereits in der vorherigen Anm. benannten gemeindespezifischen Kap. III.2.2.1. und 2.2.2. rekurriert. 75 Interessanterweise hatte P 1 eine ähnliche Angst auch bei den säkular sozialisierten DDR-geprägten Juden des Jüdischen Kulturvereins wahrgenommen; vgl. in der Einzelfallanalyse zum Kulturverein Kap. IV.2.4.3., S. 456 f.
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Religion wahrnimmt, die sie von den älteren Besuchern her nicht kennt. Als Beispiel führt sie einige mehrheitlich weibliche Jugendliche an, die mit lediglich jüdischen Vätern im halachischen Sinn keine Juden sind. „Aber die sind mehr Juden als wir“. (P7/13) Einige von diesen jungen ‚Russen‘ hätten mittlerweile in Deutschland oder in Israel ihre Konversion betrieben. Zwar bezieht sie sich mit ihrer Schilderung nur auf eine kleine Minderheit, aber diese belege, dass eine neuerliche Hinwendung zu einem sich primär ausgesprochen religiös – und nicht nur kulturell verstehenden Judentum unter Jüngeren prinzipiell möglich ist. Als (scheinbares) Gegenbeispiel führt sie Jugendliche des jüdisch-russischen Zuwandermilieus an, die sich nicht mehr mit ihrer Herkunftsidentität identifizieren, vielmehr ‚normale‘ Deutsche sein wollten. Doch ist sie davon überzeugt, dass diese Assimilation mehrheitlich nicht gelingen wird, „obwohl sie sehr gut deutsch sprechen und wahrscheinlich sogar deutsche Mentalität haben.“ (P7/14) Dies gälte insbesondere dann, wenn sie nichtjüdischerseits an ihr jüdisches Herkommen erinnert würden. Daher würden diese Jugendlichen in fünf bis 10 Jahren wieder den Weg zurück ins Judentum suchen. Offenbar schwingen hier Eigenerfahrungen mit der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft ihrer Heimat mit.76 Vor diesem Hintergrund erstaunt die insgesamt vorsichtig optimistische Haltung der dem osteuropäischen Zuwanderermilieu Entstammenden gegenüber der Frage nach der Verstetigung jüdischen Lebens in der Metropole kaum: „Na hoffentlich. Wenn Deutsche es nicht vernichten. […] ich sehe, dass […] hierher kommen sehr viele Juden, und viele davon sind gläubige Leute77, und die wollen etwas fürs jüdische Leben machen und die bringen eigene Kräfte und sie investieren Zeit. […] für Jugendliche für Kinder, weil, das ist unsere Hoffnung. Wenn sie etwas bekommen von uns, dann bringen sie das weiter für ihre eigenen Kinder und dann,[…] gibt es jüdisches Leben. Und wenn nicht, dann, wäre es sehr schade.“ (P7/21-22)
Bemerkenswert an diesem Resümee ist, dass sie ihrem eigenen russischsprachigen Herkunftsmilieu trotz deren großen Schwierigkeiten bei der Integration ins Judentum, wenn auch erst zukünftig, zutraut, jüdisches Leben in Berlin zu verstetigen und auszuweiten. P 8: Alle im Gespräch geäußerten persönlichen Überzeugungen vertritt die aus Deutschland Stammende und gleichzeitige Zionistin in ‚kämpferischer‘ Grundhaltung. In der Selbstvergegenwärtigung der hiesigen jüdischen Gemeinschaft gegenüber ihrer Existenz im heutigen Berlin und Deutschland nimmt sie im Gegensatz zu den ersten Nachkriegs-Jahrzehnten keine Mentalität des ‚Auf-
76 Zu ihren familiären Erfahrungen der Entfremdung vom Judentum sowie mit dem damaligen Antisemitismus in der SU äußert sich P 7 ausführlich im ersten, biographiebezogenen Teil des Erhebungsgesprächs. 77 Diese Aussage bezieht sich offenbar insbesondere auf die Situation unter den im Kulturzentrum Hatikva Engagierten. Denn die insgesamt starke Entfremdung ihrer und der älteren Generationen der Zuwanderer von der Religion ist ihr ja als Problem durchaus bewusst (s. o.).
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Koffern-Hockens‘ mehr wahr. Hiervon ausgehend äußert sie prospektiv „Ich denke also, dass jüdisches Leben auf jeden Fall möglich sein wird hier“. (P8/52) Schlüsselbegriff und zugleich Gradmesser ihrer Einschätzung der Chance für jüdisches Leben in Berlin ist das ‚Präsenz-zeigen‘ von Juden in der Öffentlichkeit als habituelle Botschaft.78 So macht sie seit den frühen 90er Jahren in der Oranienburger Straße, die sie als im Egalitären Minjan Aktive regelmäßig frequentiert, eine zunehmende, wenn auch noch zögerliche Bereitschaft von jüdischer Seite aus, sich als bekennende Juden in Berlin öffentlich zu zeigen. Die Enthüllung der restaurierten goldenen Kuppel der Neuen Synagoge sei für sie die symbolische, das Jahr dieses Ereignisses 1991 auch eine biographische Wegmarke.79 Als tiefergehende Gründe dieses ‚Präsenz-Zeigens‘ führt sie primär Veränderungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Berlins an. Hier (bzw. auf JGB-Ebene) zeichne sich in den letzten Jahren eine zunehmende interne Öffnung für Aktivitäten am Rande der bisherigen etablierten Strukturen ab. Die in diesen Aktivitäten tätigen Personen würden demnach vor dem Hintergrund ihrer stärkeren innerjüdischen Anerkennung eine wachsende Bereitschaft erkennen lassen, sowohl in jüdischen wie in nichtjüdischen Kontexten Präsenz zu zeigen. So würden in den letzten Jahren in Berlin auch jüdische Aktivitäten bzw. Gruppen, die an der Peripherie der jüdischen Gemeinschaft entstanden sind, mittlerweile nicht nur einen aktiven Beitrag zur qualitativen Ausweitung jüdischen Lebens in Berlin als Ganzem sondern auch zu dem Erscheinungsbild der örtlichen jüdischen Gemeinschaft gegenüber der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft leisten. Dies macht sie mit Bemerkungen zu zwei Gruppenaktivitäten deutlich: Im Kontext mit ihren ausführlichen Schilderungen des Egalitären Minjans betont sie, dass sie und andere Mitglieder dieses Gebetskreises demonstrativ in der Öffentlichkeit Kippa tragen, um im Stadtbild Berlins gegenüber judenfeindlichen Tendenzen Präsenz zu zeigen (s. o.).80 Die andere zentrale Aussage von P 8 in diesem Kontext besteht in ihrer Bemerkung, dass Personen und Gruppen, die nicht dem traditionellen Selbstverständnis der örtlichen jüdischen Gemeinschaft entsprechen, eine wachsende innerjüdische Akzeptanz erfahren und sie gerade vor diesem Hintergrund ein gewachsenes jüdisches Selbstbewusstsein nach Außen tragen können. Als Beispiel spricht sie die Berliner HomosexuellenInitiative Yachad explizit als „unsere [Hervorhebung: A. J.] Schwulen“ an, die nämlich „am Christopher-Street-Day mitmachen oder sei es, dass sie als Gruppe
78 wie auch im Kontext ihrer persönlichen Verortung im deutsch jüdischen Feld. 79 P 8 erwähnt in diesem Zusammenhang einen Dokumentarfilm über die Restaurierung der Neuen Synagoge aus dem gleichen Jahr, an dem sie selbst mitgewirkt hat. Bei den Dreharbeiten geriet zufällig ein Mann in den Blick, der wie selbstverständlich die Oranienburger Straße mit Kippa entlang läuft; ein Schlüsselerlebnis jüdischen Selbstbewusstseins. Dieser Augenblick ist ihr stark in Erinnerung geblieben. 80 Vgl. hierzu näher Kap. III.4.2.1., S. 383 ff.
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am 9. November mitlaufen, und ich weiß, dass da mindestens ein, zwei Leute mit Kippa herumlaufen“. (P8/45)81 Als einzige in der Erhebung steuert die überzeugte Zionistin P 8 der Thematik ‚Perspektiven jüdischen Lebens in Deutschland‘ den Aspekt eines Zusammenhangs zwischen der Frage nach dem Wandel der Existenz der hiesigen jüdischen Diaspora und deren Verhältnis zu Israel bei, speziell die abnehmende Bereitschaft, für den jüdischen Staat einzutreten. Ursprünglich hätte hierzulande jeder ‚vernünftige‘ Zionist dem jungen Staat Israel in den Kriegen gegen seine Feinde beistehen wollen. Heute, wo er sich immer noch im Kriegszustand befände, müsse man demgegenüber in der hiesigen Diaspora sogar explizit große Anstrengungen aufwenden, Israel lediglich materielle oder ideelle Hilfe angedeihen zu lassen. Dem stellt sie ihr eigenes zionistisches Credo gegenüber: „[…] für mich wäre das [Israel in einem existentiellen Krieg; A. J.] der einzige Grund zu sagen: ‚Jetzt haue ich hier ab‘.“ (P8/52) Der Subtext dieses kritischen Hinweises ist deutlich: Es kann demnach um die Verankerung der jüdischen Diaspora in Deutschland nicht sehr schlecht bestellt sein, wenn es eines solchen Aufwands bedarf, unter dieser eine minimale Solidarität mit Israel zu leisten, die nicht einmal darin bestehe, zur Verteidigung des jüdischen Staates von hier wegzugehen. P 11: Ein für die Positionierung der aus der ehemaligen SU stammenden Kunsthändlerin sicherlich prägendes Terrain stellt die Jüdische Galerie82 dar, in der sie bereits seit den frühen 90er Jahren arbeitet und in der vorwiegend aus der ehemaligen SU stammende Künstler ausgestellt werden. Ähnlich zu der ebenfalls aus der SU stammenden P 7 (s. o.) argumentiert sie überwiegend aus der Perspektive ihrer Einrichtung bzw. der osteuropäischen Zuwanderer und äußert sich auch vergleichbar vorsichtig optimistisch. Aufbruchs-Analogien mit einem Rekurs auf das vormalige jüdische Leben in Deutschland vor 1933 wie ‚Renaissance‘ oder ‚Revitalisierung‘ liegen P 11 ebenfalls völlig fern. Vielmehr hebt die Galeristin die verstärkte Hinwendung zu jüdischer Thematik bei einigen von ihr betreuten Künstlern mit säkularem SU/russischem Hintergrund positiv hervor. Auf einer eher generalisierenderen Ebene macht die Wahlberlinerin allerdings ihre Einschätzung deutlich, dass die entscheidenden Schritte der neuerlichen Belebung des örtlichen jüdischen Lebens vorrangig in der wechselseitigen Integration der unterschiedlichen jüdischen Herkunftsmilieus in Berlin liegen. Dabei nimmt diese Herausforderung sehr differenzieret zum einen altersgruppenspezifisch und zum anderen als sich länger hinziehenden Prozess wahr:
81 Zu Yachad vgl. die Einzelfallanalyse dieser Gruppierung Kap. IV.6. – Der Christopher-Street-Day (CSD) wird jährlich weltweit von Millionen homo- und heterosexuellen Menschen vor allem in den großen Metropolen mit großen Umzügen und Partys gefeiert. In Berlin, einem Zentrum homosexuellen Lebens, nehmen an dem Umzug regelmäßig weit über 100.000 Menschen teil. 82 Vgl. die Einzelfallanalyse zur Jüdischen Galerie Kap. IV.5.
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Dabei sieht die Osteuropastämmige im Unterschied zu P 22 aus dem ersten Cluster die örtlichen jüdischen Schulen als zentrale Orte und Garanten der Verstetigung und Ausweitung jüdischen Lebens in der Metropole: „Gott sei Dank, es gibt hier jüdische Grundschule und jüdisches Gymnasium, Kinder von beiden Gruppen sind zusammen,“ – „gehen in die Schule, kommunizieren, schließen Freundschaft“. (P11/14) Dabei ist sie sich durchaus bewusst, dass die Mehrheit der hiesigen jüdischen Kinder und Jugendlichen diese Bildungseinrichtungen gar nicht besucht. (Ebd.) Allerdings weiß sie auch in diesen Fällen von Positivbeispielen gelingender innerjüdischer Integration zu berichten. Die Kunsthändlerin zeigt sich insgesamt davon überzeugt, dass durch die angeführten Bildungsangebote wie auch durch die übrigen vielfältigen Gemeindeaktivitäten im religiösen und sozialen Bereich das jüdische Leben vor Ort insgesamt vorankäme. Als äußerst restriktiv nimmt die Galeristin allerdings für den von ihr wahrgenommenen qualitativen Wachstumsprozess des örtlichen jüdischen Community die gemeindeeigenen Sicherheitsmaßnahmen wahr, die aber wegen drohender antisemitischer Übergriffe ihrer Meinung nach absolut notwendig seien.83 Jenseits dieser immer von außen aufgenötigten Bedrohungen und Beschränkungen überwiegt jedoch bei der Osteuropastämmigen insgesamt eine gewisse Zuversicht für die weitere Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft Berlins: „Alles andere kommt von alleine.“ (P1/33) Bilanzierende gerade auch hinsichtlich kultureller Aktivitäten außerhalb der Gemeinde84 betont die Kunsthändlerin entschieden, dass es sich bei all diesem lediglich um einen „Beginn“ um einen „Grundstein“ (P11/28) für ein sich entwickelndes jüdisches Leben vor Ort handle. Dieses Leben stelle schon heute „keinen toten Zustand [dar].“ – „Es lebt schon“ – „und geht weiter und wird sich entwickeln. Und welche Rolle Neuzuwanderer aus der Sowjetunion hier [bei; A. J.] spielen und wie viele Neuzuwanderer dann mehr jüdisch sein werden, mehr jüdisch denken, weiß ich nicht. Aber ich glaube schon ein großer Teil.“ (P11/34) P 15: Die als Redakteurin beim Internetservice Milch und Honig Tätige85 benennt auf zwei Ebenen qualitative Ausweitungstendenzen hiesigen jüdischen Gegenwartslebens in Berlin: Vor Ort nimmt sie eine „innerjüdische Erneuerung“ (P15:2/43), primär in religiöser Hinsicht, aber auch darüber hinaus, wahr. Demgegenüber erscheine die Situation in größeren Gemeinden wie etwa in München, Frankfurt oder Düsseldorf noch ein „bisschen eingeschlafen“. (P15:2/34) Die andere Ebene wäre der Peripheriebereich des jüdisch-nichtjüdischen Felds.
83 Vgl. das Antisemitismus-Kap. III.4. und sowie die Einzelfallanalyse der Jüdischen Galerie Kap. IV.5. 84 Sie erwähnt jüdische Kulturvereine, Zusammenschlüsse von Wissenschaftlern, Zeitschriften und Online-Projekte. (Ebd.) 85 Vgl. hierzu die Einzelfallanalyse des Internetservice Milch und Honig Kap. IV.8.6.
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Als erstes innerjüdisches Beispiel erwähnt die selbst im Egalitären Minjan Nahe Stehende die Synagoge Hüttenweg und deren neuere Entwicklung.86 Diese hätte sich seit ihren Anfängen in den 90er Jahren von einer ‚NachamaSynagoge‘, also als Weiterführung der durch den verstorbenen Oberkantor der JGB Estrongo Nachama jahrzehntelang geprägten altliberalen Synagoge Pestalozzistraße durch seinen Sohn Andreas Nachama, in den letzten Jahren stärker zu einer egalitär orientierten Betgemeinschaft entwickelt. Dabei hätten die Betenden des Hüttenwegs in der jüngsten Vergangenheit „einfach gesehen, dass Liberalität, […] jetzt […] in Berlin nur über egalitär überhaupt funktioniert.“ (P15:2/44) Hiervon strahle schon etwas in die Provinz ab, wenn etwa eine Berliner Kantorinnen bei Hochzeiten in kleineren Städten mit jüdischen Gemeinden amtiere. Weitere von ihr angeführten religiösen Aufbruchs-Beispiele, sind die zwei sephardischen Minjane: ein um den ehemaligen Schächter der JGB entstandenen eher israelisch geprägten sowie ein weiterer mit nach Herkommen überwiegend aus kaukasischen GUS-Staaten stammenden Mitgliedern.87 Damit besäße Berlin wieder acht bis neun regelmäßige Betkreise. Zu dieser Tatsache stellt sie bilanzierend fest: „Das ist fantastisch.“ – „Das ist so eine Vielfalt von ganz orthodoxen Richtungen bis halt ganz liberale. […]“ – „Also eine Bandbreite, die vor zehn Jahren noch völlig unvorstellbar gewesen wäre.“ (P15:2/45) Außerdem erwähnt religiös egalitär Orientierte die beiden in der letzten Dekade außerhalb der JGB entstandenen religiös orthodoxen Lehrhäuser von Chabad und von der W.-Lauder-Foundation.88 Jenseits ihrer religiösen Kernbeispiele führt sie eine große Bandbreite weiterer in den letzten Jahren entstandener jüdischer Aktivitäten in Berlin an. Hierzu zählt auch der im Weiteren noch genauer behandelte Israelische Stammtisch. An anderer Stelle erwähnt sie selbst aus ihrer Sicht wenig gelungene VitalisierungsVersuche jüdischen Lebens in Berlin als Chancen für die Zukunft, wie sie am Beispiel der jüdischen Bühne Bamah ausführt89: Zwar sei das Konzept wenig ausgegoren, hinsichtlich des Gehalts, was hier als jüdisches oder jiddisches Theater gezeigt werde, doch würde es jüdischer Kultur neue Wege zeigen, etwa bei Fragen der Finanzierung, der Räumlichkeit und des Marketings usw. 90 Auch für die andere von der Wahlberlinerin benannten Ebene, dem Grenzbereich zwischen jüdischer Gemeinschaft und nichtjüdischer Mehrheitsgesellschaft, 86 Zur Synagoge Hüttenweg vgl. im einführenden Berlin-Kap. II.2.2.3., S. 145 f. 87 Zu den beiden sephardischen Minjanen vgl. ebenfalls im berlinbezogenen Einführungs-Kap. II.2.2.3., S. 146 f. 88 Zu diesen beiden Lehrhäusern vgl. Kap. II.2.3.1.,S. 152 f. Allerdings sieht sie im Fall des Lauder-Lehrhauses die Gefahr einer Separierung von der übrigen jüdischen Gemeinschaft bzw. von der JGB auf Grund ihrer rigiden Aufnahmepraxis. 89 Die hier angesprochenen Aktivitäten finden in dem entsprechenden Berliner Einführungs-Kap. II.2.3.2., S. 155 ff. Erwähnung. – Zum Israelischen Stammtisch vgl. außerdem die Einzelfallanalyse Kap. IV.7. 90 Vgl. die ausführlichere Behandlung der Äußerungen von P 15 zu der Berliner Bühne Bamah im nichtjüdischen Hype Kap. III.3.2.5., 324 f.
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macht sie ebenfalls von Berlin ausstrahlende positive Entwicklungstendenzen aus: So könnten nichtjüdische Orte der Beschäftigung mit jüdischer Kultur für originäre und gegenwartsbezogene jüdische Kulturäußerungen im lebendigen Austausch genutzt, „bei vielen Gelegenheiten dadurch Ressourcen geschaffen werden“. (P15:2/35). Ihre optimistische Einschätzung begründet sie an Hand zweier Beispiele qualitativen Wachstums im jüdisch-kulturellen Bereich, die „auf dem Rücken einer [nichtjüdischen, Vergangenheit verklärenden; A. J.] Bewegung, die wir vielleicht vorher alle mal mit großer Skepsis angesehen haben“ (P15:2/36), quasi als deren gar nicht intendierte Nebenfolge entstanden sind91: Als erstes Beispiel verweist die Medienvertreterin auf eine gerade innerjüdisch sehr kontrovers aufgenommene Ausstellung der Berliner jüdischen Gegenwartskünstlerin Anna Adam im Jüdischen Museum Fürth unter seinem damaligen Leiter Bernhard Purin im Frühjahr 2002.92 Adams Installationen (‚Feinkost Adam‘) thematisieren schwerpunktmäßig jüdische Gegenwartsexistenz mit teilweise ironischen und provokativen künstlerischen Ausdrucksformen.93 Die hierüber Auskunft Gebende steht auch einigen ästhetischen Mitteln dieser Künstlerin kritisch gegenüber. Dessen ungeachtet hält sie deren Ausstellung gerade an solch einem Ort für bemerkenswert: Demnach habe Museumsleiter Purin für die hiesige jüdische Gegenwartskultur etwas Positives geleistet, indem er an einem Ort, an dem üblicherweise vormalige regional geprägte Riten eines längst nicht mehr 91 Vgl. zu ihrer Kritik an vergangenheitsverklärenden bzw. modischen Umgangsweisen von nichtjüdischer Seite mit jüdischer Kultur. hierzu genauer ihre Position in Kap. III.3.2.4., S. 324 zum nichtjüdischen Hype. 92 Adams ist auch Mitglied der Berliner jüdischen Kulturgruppe Meshulash; vgl. Kap. II.2.3.2., S. 155 f. Purin ist heute Leiter des Jüdischen Museums in München. – Besonders hiesige jüdische Geistliche wie die orthodoxen Rabbiner von Fürth und Nürnberg hielten die Ausstellung für einen Skandal. Der damalige Sprecher der Rabbinerkonferenz Joel Berger verglich Adams Arbeit sogar mit der Propaganda der Nationalsozialisten. Trotz der teilweise heftigen Reaktionen entschied sich das Fürther Museums-Team mehrheitlich zur Fortsetzung der Ausstellung bis zu deren geplantem Ende; vgl. Alexander Kissler: „Sodom und Andorra“, in: SZ 09.04.02 Dabei hatte der Nichtjude Purin bereits zuvor mit seiner grundsätzlichen Konzeption, im Jüdischen Museum Fürth, provokative Formen der Auseinandersetzung mit gegenwärtigem Judentum aber auch mit Antisemitismus zu suchen, unter hiesigen Juden Kontroversen ausgelöst, wobei sich auch einige prominente Juden wie die konzeptionelle Leiterin des Jüdischen Museums Berlin C. Kugelmann, die Buchhändlerin R. Salamander und der Historiker J. H. Schoeps hinter Purin stellten. 93 Die Künstlerin nannte ihre Fürther Ausstellung, in der sie mit einem vierseitigen Werbeprospekt nach der Art von Supermarkt-Sonderangeboten auf 15 skurrile Artikel verwies, die sie mit entsprechenden Werbetexten anpries wie etwa ihr Bastelset ‚Jüdischer Alltag leicht gemacht‘: „Kommen Sie der jüdischen Kultur auf die Spur! Erlebnis-Kurztrip in eine andere Welt! Sie wollten schon immer mal wissen, wie Juden leben? Machen sie den 24-Stunden-Test! Spielen sie doch mal den Ernstfall! Feinkost Adam© hat exklusiv für sie das Feinkost-Adam©-Basis-Bastel-Set entwickelt. Als umweltfreundliches Sparpaket enthält es die wichtigsten Ausstattungsgegenstände, die sie als 24-Stunden-Jude brauchen […]. Und das schöne ist: Sie bestimmen selbst, wann die 24 Stunden wieder zu Ende sind.“ Zit. nach ebd.
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existenten Judentums aus vergangenen Jahrhunderten gezeigt wurden, sich bereit gefunden hat „einer jüdischen Künstlerin aus Berlin zu erlauben, dort eine wirklich originär, aktuell jüdisch-kritische Ausstellung zu machen.“ (P15:2/35) Das andere von P 15 gewählte Beispiel sind die insbesondere von dem Historiker und Politologen J. H. Schoeps erfolgreich unternommene Bemühungen, jüdische Thematik als akademische Disziplin an deutschern Hochschulen wie vor 1990 bereits in Duisburg und seit der deutschen Vereinigung in Potsdam einzurichten, etwas das bekanntlich vor 1933 nicht mehr gelungen war. Dabei sieht sie es als ein besonders erfreuliches Zeichen, dass sich unter den in Potsdam eingeschriebenen Studierenden mehr als fünf Prozent jüdische befänden. (P15:2/36)94 Insgesamt bilanziert P 15 also den gegenwärtigen innerjüdischen Wandel zwischen „sehr optimistisch“ und „mit verhaltenem Optimismus.“ (P15:2/35) P 18: Die nach Herkunft aus der mehrere Millionen Mitglieder zählenden jüdischen Diasporagemeinschaft der USA bzw. New Yorks Stammende und publizistisch Tätigen nimmt auf Grund ihrer dortigen Verwurzelung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Berlins bzw. Deutschlands eine eher ‚TeilnehmendeBeobachtungs‘-Haltung ein.95 Insgesamt erscheint ihre Beurteilung des gegenwärtigen Verlaufs und der Entwicklungschancen jüdischen Lebens in Berlin positiv trotz aller von ihr geäußerten Einschränkungen und deutlich benannten innerjüdischen sowie auch in der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft angesiedelten Problempunkte. In ihren Äußerungen dekonstruiert sie die in den Begriffen ,Renaissance‘ und ‚Revitalisierung‘ enthaltene bruchlose qualitative Wachstumsmetaphorik, indem sie das Thema einerseits um eine historische Perspektive und andererseits um einen interkulturellen Blick erweitert. Ihre entsprechende These lautet, dass es nämlich überall dort, wo der NSFuror wütete und wo sich jetzt wieder jüdisches Leben im Aufbau befände, d. h. also auch außerhalb Deutschlands in Europa, es sehr lange dauern werde, bevor es sich wieder normalisieren würde.96 Dies impliziert drei Einschätzungen: • Die gegenwärtige Entwicklung jüdischer Existenz in Berlin und überhaupt in Deutschland einschließlich deren Beziehung zu der sie umgebenden nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft stellt im europäischen Maßstab heute keinen ausgesprochenen Sonderweg mehr dar. • Qualitative und quantitative Wachstumsentwicklungen des jüdischen Lebens in Berlin (und dem übrigen Europa) bedeuten vor dem Hintergrund der Schoah noch keineswegs eine wiedererlangte Normalität und ohne explizite Erwähnung damit auch keine Renaissance oder Revitalisierung. 94 Zum Potsdamer Studiengang vgl. das Einführungs-Kap. I.1.45.4., S. 124. 95 ‚Teilnehmende Beobachtung‘ soll hier nicht im Sinne der sozialwissenschaftlichen Methode verstanden werden. Gemeint ist ein lebensweltliches Rollenverständnis der Selbstzuschreibung der Befragten als New Yorkerin in Berlin sowie als USamerikanische Jüdin in der hiesigen jüdischen Gemeinschaft. 96 Ihre Bemerkung zur Normalisierung hiesigen jüdischen Lebens ist auch im Kontext ihrer Äußerungen zum nichtjüdischen Hype im Kap. III.2.3., S. 319 ff. zu verstehen.
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Eine gewisse Normalisierung des hiesigen jüdischen Lebens ist erst in der ferneren Zukunft zumindest denkbar.
Im Bereich der jüdischen Gemeinschaft Berlins würden sich nach Meinung der Wahlberlinerin in den letzten Jahren interessante Entwicklungen abzeichnen. Sie erwähnt als Positivbeispiele neben religiösen Aktivitäten wie den Egalitären Minjan und verschiedene Tora-Kurse innerhalb wie außerhalb der JGB kulturelle Projekte wie die künstlerisch und politisch engagierte Kulturgruppe Meshulash sowie deren ambitioniertes mehrsprachiges Zeitschriftenprojekt Golem, sowie die Jüdischen Kulturtage. Der Umfang der Angebote würde immer öfter die Kapazitäten der überzeugten Metropolenbewohnerin übersteigen: P 18: „mehr als die Größe der Stadt ist für mich die Zahl der Angebote […] ein Problem der Vielfalt“. – In.: „[…] Aber so ist das noch nicht im jüdischen Berlin?“ – P 18: „Manchmal ist es auch im jüdischen Berlin [so; A. J.]“. (P18/19) Unterhalb der sichtbaren Ebene religiöser sowie kultureller Aktivitäten in Berlin, die ja im Zentrum des Interesses der Studie stehen, spricht die New YorkStämmige von sich aus die Mentalitätsebene der in Berlin und in Deutschland lebenden Juden an als erheblichen Faktor für die künftige Entwicklung. Auffallend ist, dass sie hierauf viel stärker rekurriert als nahezu alle übrigen Befragten.97: Von ihren eigenen biographischen interkulturellen Erfahrungen ausgehend konstatiert die Wahlberlinerin, dass ihre Altersgruppe der etwa 40 bis 50 jährigen in Deutschland lebender Juden sich in vielen Einstellungsbereichen zwar nicht so sehr von den entsprechend alten Juden in den USA unterscheiden würde. „[…] nur [der] große Unterschied ist, dass sie meistens nicht mit anderen Juden aufgewachsen [sind].“ (P18/20) Dies sei entscheidend für ein großes Selbstbewusstseins-Gefälle. D. h., die Juden ihrer Generation, die sie hier träfe, hätten ein spezifisches ‚Minderheitsbewusstsein‘, d. h. ein entsprechend geringeres Selbstbewusstsein als bspw. Sie selbst, eine sich nicht zu einer kleinen Minderheit dazuzählenden jüdischen New Yorkerin. Nun, da sie hier lebe, würde und könne sie das anders geartete Bewusstsein zwar nicht adaptieren, sie hätte jetzt aber etwas gemeinsam mit Juden, die immer hier waren oder die aus Osteuropa kommen: „Ich bin jetzt ein Teil einer Minderheit“. (Ebd.) Diese neue Realität bedeutete für sie trotz gründlicher inhaltlicher Vorbereitung auf den Ortswechsel „[…] einen Schock; ich musste meine ganze Orientierung zum Judentum irgendwie oder als Jude in der Gesellschaft anders bewerten, dass dies gerade in Deutschland so ist.“ (P18/21) Metaphorisch gesprochen: „Wenn ich Schock sage, meine ich: als ob man sich von einem [warmen] Raum in einen kalten Raum [bewegt] oder ins kalte Wasser springt oder man wacht plötzlich auf“. (Ebd.)98 97 Ihre interkulturellen Erfahrungen mit jüdischem Leben in den USA bzw. New York und demjenigen in Deutschland bzw. Berlin, also innerhalb der größten jüdischen Gemeinden beider Staaten, dürfte dabei eine entscheidende Rolle spielen. 98 Der bekannte New Yorker Essayist Eliot Weinberger hat in einem Interview mit Michael Wuliger in der JA die jüdische Grunddisposition seiner Heimatstadt sehr plastisch beschrieben, deren hiesiger Verlust offensichtlich auch der Berliner Erfah-
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Vor dem Hintergrund der Schoah ist es für die Amerikanerin völlig klar, dass die Herausbildung eines neuen Selbstbewusstseins der hiesigen Diaspora ihre Zeit bräuchte. Dabei nimmt sie interessanterweise gerade gegenwärtig in der hiesigen jüdischen Gemeinschaft ein „steigendes Selbstbewusstsein“ (P18/36) wahr. Jedoch könne man vor allem wegen des „islamistischen Problems“ (ebd.) nicht sagen, wie die von ihr insgesamt positiv skizzierte Entwicklung der jüdischen Diaspora in Deutschland in der weiteren Zukunft voranschreiten werde. Dennoch beschließt sie ihre Reflexionen im Themenbereich dennoch mit einer über die Berliner jüdische Gemeinschaft hinausweisenden relativ optimistischen Einschätzung zu gegenwärtiger jüdischer Existenz in Deutschland: „Die Juden in Deutschland sind bereiter als je, als Juden identifiziert zu werden“. (Ebd.). P 19: Die gebürtige Berlinerin aus dem osteuropäischen Zuwanderermilieu gehört zu den jüngsten der Erhebungsauswahl und ist als Sportlerin und Funktionärin im Rahmen des jüdischen Sportverbands MAKKABI eine der wenigen, die ohne akademischen Hintergrund im Bereich jüdischer Gruppenaktivitäten aktiv sind. Anknüpfungspunkte an das vormalige jüdische Leben der Metropole vor der NS-Zeit sind für sie kein Thema. Demgegenüber bestätigte sie insgesamt die quantitativen und qualitativen Wachstumsprozesse jüdischen Lebens in Berlin wahrzunehmen, ohne diese Veränderungen im Einzelnen genauer zu spezifizieren. Für eine Expansion des Kulturbereichs im jüdischen Berlin verweist die überzeugte Westberlinerin vage auf den Osten der Stadt und benennt etwas unspezifisch die ‚Hackeschen Höfe‘ und das ‚Scheunenviertel‘ (P19/52), also die typischen Orte pseudojüdischer Klischeebildung. Allerdings sei sie dort nicht oft, da sie nicht gerne in den Osten fahre (ebd.). Für ihr Metier, den jüdischen Breiten- und Spitzensport, nimmt die zweisprachig Aufgewachsene demgegenüber viel konkreter eine quantitative und die Vielfalt der Sportangebote begünstigende Zunahme durch die SportlerInnen aus dem Kreis der osteuropäischen Zuwanderer wahr, die sie entsprechend positiv bewertet. „Spitzensportler“ – „sind gerne willkommen“ (P19/52). Allerdings lässt sich dies auch metaphorisch verstehen: Nur der kleinere Teil (‚Spitze‘!) der Russischsprachigen ist in der Lage, den jüdischen Aufbau in Berlin so aktiv mitrung von P 18 zu Grunde liegt. Auf die Frage, warum es ihn nie nach Israel gezogen hätte, antwortet er: „Für mich ist das wahre Zion New York City. Der zionistische Traum war ursprünglich, doch der von einem Ort, an dem jüdisch nur noch eine Eigenschaft unter vielen sein würde, sowie rothaarig oder vegetarisch. Ein Ort, an dem man seinen Glauben leben könnte – oder auch nicht. Ein Ort, an dem man als Jude nicht aus dem Rahmen fallen würde, quasi unsichtbar wäre. Ich bin in New York geboren und aufgewachsen. Ich glaube es ist der einzige Ort der Welt, wo mich niemand als ‚den Juden‘ beschreiben würde.“ M. Wuliger: „Weil es dort zu viele Juden gibt, als daß sie auffallen würden?“ E. Weinberger: „Genau. Der einzige andere Ort der Welt, wo das so ist, ist Israel. Wobei es einen entscheidenden Unterschied gibt. In New York kann ich monatelang sein, ohne auch nur daran zu denken, daß ich zufällig Jude bin. In Israel nicht eine einzige Sekunde.“ Zit. nach ders.: „Das wahre Zion ist New York.“ (Interview), in: JA 29.09.04
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zutragen wie die zwischen den Eingesessenen- und Zuwanderer-Milieus im Sportbereich integrativ Vermittelnde. Trotz ihrer unerfreulichen Erfahrungen mit vor allem antiisraelisch/islamistischem Antisemitismus (vgl. Kap. III.4.) bringt sie insgesamt eine vorsichtig optimistische Einstellung zum Ausdruck, wonach es in der Metropole wie auch im übrigen Deutschland eine eindeutige, mit der Diaspora in anderen Ländern vergleichbare Verstetigung jüdischen Lebens gäbe. P 23: Die dem deutsch-jüdischen Milieu entstammende Journalistin nimmt, wie bereits im ersten Cluster dargestellt, eine eher skeptische Haltung gegenüber den Anknüpfungsmöglichkeiten jüdischen Lebens in Berlin an seine ‚große‘ Zeit vor 1933 ein. Außerdem wurde dort ihre kritische Haltung gegenüber der Gemeindeebene, den offiziellen überregionalen jüdischen Dachverbänden und finanzstarken Seiten der nichtjüdischen Öffentlichkeit, zu perspektivlos und desinteressiert zu sein, um das jüdische Leben vor Ort weiterzuentwickeln, bereits ausgeführt. Jedoch sieht sie gerade an der Peripherie und außerhalb der JGB eine Menge positiver Ansätze, denen es nur leider z. T. an der Unterstützung der o. g. inner- wie außerjüdischen Kreise mangele. Ähnlich den bisher genannten Vertreterinnen des zweiten Clusters führt sie als positive Aspekte religiöse Initiativen und Einrichtungen an, die in den letzten Jahren in Berlin entstanden sind: So erwähnt auch sie sie die auf Privatinitiativen zurückgehende, seit einigen Jahren bestehende und mittlerweile etablierte Synagoge Hüttenweg99, die durch „einige Leute in nostalgischer Begeisterung“ (P 23/28) mit religiös liberaler Orientierung nach dem US-Truppenabzug erfolgreich reaktiviert wurde. Gerade im religiösen Bereich zeige es sich „dass es inzwischen eine ganze Reihe von Angeboten gibt, wo man sagen kann, man ist jetzt nicht so auf die Gemeinde angewiesen. Also es gibt von Lauder dass Lehrhaus, von Chabad das Lehrhaus, von der Masorti-Bewegung das Lehrhaus, alle möglichen privat organisierten Lehr-, Lerngruppen, von daher kann man da schon auch auf der Ebene was machen.“100 (P23/13) Kontrastierend zu dem bescheidenen Masorti-Projekt erwähnt sie noch die Initiative eines vermögenden religiös orthodox orientierten Privatmannes, die eine lange Zeit nicht mehr als Bethaus genutzte und kenntliche Hinterhofsynagoge Brunnenstraße für die orthodox orientierte R. Lauder-Foundation wieder herzustellen. (Ebd.)101 Aber auch kulturelle Ansätze, die ebenfalls eher an der Peripherie oder außerhalb der Berliner Gemeinde angesiedelt sind, bewertete die Bildungsreferentin als vorsichtig hoffnungsvolle Ausweitungen von jüdischer Aktivitäten in Berlin: So merkt sie im Zusammenhang mit ihrer Kritik des jüdischen Bildungswesens
99
Vgl. zur Entwicklung dieser Synagoge und des sie betreibenden Betvereins das Berliner Einführungs-Kap. II.2.2.3., S. 145 f. 100 Zu diesen drei Lehrhäusern vgl. Kap. II.2.3.1., S. 152 ff. 101 Lauder baut die ehemalige Privatsynagoge für das o. g. Lehrhaus und weitere Angebote im nördlichen Teil des historischen Bezirks Mitte seit Jahren aufwendig um; vgl. hierzu: Lutz Lorenz: „,Was hast du vor in deinem Leben?‘“, in: JZ 09.05.
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in Berlin positiv an, dass es hier neben dem Gemeindekindergarten mittlerweile zwei aus privaten Initiativen entstandene Spielgruppen für Kleinkinder gäbe. Schließlich erwähnt die Wahlberlinerin als ein zukunftsträchtiges Beispiel im außerreligiösen Bereich die Vision einiger kulturell Tätiger, die beabsichtigen, ein jüdisches Kulturzentrum in der Metropole zu schaffen. Hierbei verweist sie aber auf die großen Finanzierungsschwierigkeiten im Unterschied zu den mehrheitlich dem religiös orthodox orientierten Spektrum entstammenden durch Privatleute oder außerhalb der JGB angesiedelte Organisationen finanzierten o. g. Einrichtungen. So stellt die reformjüdisch Orientierte mit Bedauern fest, dass finanzkräftige Sponsoren aus dem progressiven Judentum in den USA „eher den Blick in die ehemalige Sowjetunion“ (P 23/29) richten würden, als sich entsprechend in der deutschen Metropole zu engagieren.
Zwischenbewertung Das eingeschränkte Optimismus-Cluster wird zunächst inhaltlich nach den das qualitative Wachstum jüdischer Existenz in Berlin näher bestimmenden Untersuchungsbereichen Wachstumsgesichtspunkte (1) und diesen entgegenstehende Restriktionen (2) sowie formal nach personenbezogenen Merkmalen (3) systematisiert und analysiert. Die Behandlung dieser Aspekte erfolgt kursorisch, da diese Teilergebnisse erst nach der Bearbeitung des dritten Clusters (Kap. III.1.2.3.) in einem die Bewertungen aller drei Gruppierungen resümierenden Abschnitt (Kap. III.1.2.4.) abschließend erörtert werden können. (1) Wachstumsgesichtspunkte des eingeschränkten Optimismus-Clusters Auffallend ist, dass sich von den hier Vertretenen niemand explizit zu den vergangenheitsbezogenen qualitativen Wachstumsnarrativen äußerte, abgesehen von den bereits im vorangegangenen Skepsis-Cluster Angeführten P 3 sowie P 23. Auf diesen Sachverhalt wird unten im personenbezogenen Abschnitt bei der Erörterung von Herkunftsaspekten noch genauer eingegangen. Alle in diesem zweiten Cluster Zusammengefassten machten jedoch vorsichtige Hinweise auf aktuelle sowie künftige qualitative Wandlungsprozesse im jüdischen Berlin aus. Demnach würden in den zurückliegenden und ihrer Erwartung nach auch in den kommenden Jahren religiöse sowie im weitesten Sinne kulturelle jüdische Aktivitäten in der Metropole eine stetige, wenn auch keine spektakuläre Aufwärtsentwicklung nehmen. Doch im Gegenteil, stünde die für möglich gehaltene Fortsetzung dieses mit Beispielen belegten positiven Wachstumsprozesses unter Vorbehalt angesichts sehr großer restriktiver Bedingungen für die örtliche jüdische Gemeinschaft. So wurde insgesamt eine breite Palette innerjüdischer Problembereiche für die weitere Entfaltung jüdischen Lebens in Berlin benannt. Tatsächlich zeigte sich, dass die geschilderten Restriktionen häufig mit den positiv gewerteten Veränderungspotentialen kausal eng verknüpft sind. Wenig überraschend ist wiederum, dass bestimmte Verhaltensweisen von Teilen der das jüdische Kollektiv umgebenden nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft als eine eigene Quelle von Problemen für die weitere Entfaltung der
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jüdischen Gemeinschaft in Berlin benannt wurden. Diese sollen hier allerdings nur aufgenommen werden, sofern sie nicht in den entsprechenden inhaltlichen Kapiteln zu modischen Rezeptionen des Jüdischen sowie zu Antisemitismus genauer behandelt werden.102 Über die dem eingeschränkten Optimismus-Cluster zugeordneten Statements hinaus lässt sich generalisierend feststellen, dass diese Äußerungen in gewissem Maße eine innerjüdische Grundstimmung zum Ausdruck bringen, wie sie im Untersuchungsfeld vielerorts auch über die Erhebungsgespräche hinaus angetroffen wurde. So wurden zwar immer wieder argumentativ wohlbegründete Hoffnungen auf eine weitere qualitative Ausweitung jüdischer Existenz in der Metropole geäußert. Allerdings sei diese Entwicklung, wie immer wieder versichert wurde, doch an die künftige Überwindung bestimmter Restriktionen geknüpft, wie sie in dem Cluster oder in den genannten Kapiteln zu Einzelthemen im deutschjüdischen Feld benannt wurden. Im Folgenden werden die Aussagen der Vertreterinnen dieses Clusters zu qualitativen Wachstumsprozessen innerjüdischer kultureller Aktivitäten differenziert nach den Einzelgesichtspunkten Tätigkeitsfelder, Mentalitätswandel, Zukunftspotentiale sowie Trägergruppen kategorisiert: Tätigkeitsfelder: Sehr unterschiedliche Bereiche werden als besonders hoffnungsvolle Beispiele einer Belebung öffentlich wahrnehmbarer jüdischer Kultur in Berlin benannt: • neue religiöse Angebote, die an der Basis wie durch Impulse außerhalb des etablierten Gemeindegefüges im gesamten religiösen Spektrum von egalitär bis sephardisch entstanden sind (P3, P 15 und P 23); • die Selbstorganisation innerjüdischer Minderheiten wie insbesondere die jüdischen Homosexuellen (P 8); • gegenwartskulturelle Projekte wie Ausstellungen, eine Kulturzeitschrift oder eine mit Aktionen an die Öffentlichkeit gehende Kulturgruppe (P 15, P 18 und P 23); • die Zunahme kulturell jüdischer Präsenz in der historischen Mitte Berlins wie bspw. mit dem Hackeschen Hoftheater (P 19). Mentalitätswandel: Vereinzelt werden auch allgemeine Mentalitäts-Veränderungen innerhalb der Berliner jüdischen Community wahrgenommen, die ebenfalls im Sinne der hier thematisierten qualitativen Wachstumsentwicklungen angefügt werden können: • eine zunehmende Toleranz gegenüber innerjüdischen Randgruppen und Neuerern (wie jüdische Homosexuelle und Egalitäre, P 8); • eine gewachsene Bereitschaft, sich als Juden in der Öffentlichkeit zu bekennen (P 8 und P 15). Zukunftspotentiale: Dabei werden bestimmte Wachstumspotentiale in ganz unterschiedlichen Bereichen im jüdischen Berlin benannt, die im übrigen fast 102 Vgl. unten das Hype-Kap. III.3. sowie das Antisemitismus-Kap. III.4.
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ausschließlich an der Basis der örtlichen Gemeinde oder außerhalb von ihr angesiedelt sind: • eine weiter zunehmende Bereitschaft, sich als Juden in der Öffentlichkeit zu bekennen (P 8 und P 15); • die Planung eines außerhalb der Berliner Gemeinde angesiedelten jüdischen Kulturzentrums (P 23). Trägergruppen: Es sind drei bestimmte innerjüdische Akteursgruppen, von denen positive Impulse für weitere kulturelle Wachstumstendenzen im jüdischen Berlin erwartet werden: • reformjüdisch engagierte Personengruppen mit Herkommen aus deutschjüdischem Milieu sowie aus westlich geprägten Staaten incl. Israel (P 3); • jüngere, am Judentum ernsthaft interessierte Zuwanderer aus der SU bzw. den GUS-Staaten einschließlich einiger im halachischen Sinne nichtjüdischer Familienangehöriger (P 7, P 11, P 15 und P 19); • ambitionierte gegenwartsorientierte jüdische Künstler und andere Kulturschaffende (P 15, P 18 und P 23). (2) Restriktionen des eingeschränkten Optimismus-Clusters Durchweg wurden teilweise erhebliche Probleme für entsprechende expansive Wandlungsprozesse im jüdischen Berlin benannt. Diese sollen ebenfalls an dieser Stelle zusammengefasst aufgelistet werden. So sehen diese Interviewten: • eine große (meist unerfüllte) Bereitschaft unter einer größeren Zahl junger ‚Russen‘, sich an die normale Mehrheitsgesellschaft in Berlin (i. S. von nichtrussisch/nichtjüdisch) zu assimilieren (P3 und P 7, vgl. oben das Assimilierungsargument in Kap. III.1.2.1.); • die Gefahr einer innerjüdischen ‚russischen Parallelgesellschaft als abgeschwächte Form des o. g. Problems (P 3); • ein historisch bedingt noch defizitäres jüdisches Selbstbewusstsein (P 8, P 18); • zu geringe ideelle und materielle offiziell-jüdische Unterstützung innovativer und gemeindeexterner jüdischer Basis-Initiativen und -Projekte (P 23); • geringe ideelle und materielle nichtjüdische Unterstützung innovativer und gemeindeexterner jüdischer Basis-Initiativen und -Projekte (P 23); • die Fortexistenz von Antisemitismus sowie dessen zunehmende Virulenz in Berlin etwa durch islamischen und arabischen Antijudaismus/Antizionismus (insbesondere P 19 und P 20; vgl. genauer das Antisemitismus-Kap. III.3.); • zu geringe Bereitschaft innerhalb der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft, gegen Antisemitismus aktiv vorzugehen (P 8, P 23 [u. a.], vgl. das Antisemitismus-Kap III.4.). Im Vergleich zwischen den unter (1) und (2) aufgelisteten Gesichtspunkten wird deutlich, dass im Fall der Wachstumspotentiale vor allem bestimmte Personengruppen innerhalb des jüdischen Kollektivs im Mittelpunkt stehen, während es
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im Fall der Restriktionen viel stärker innerjüdisch übergreifende Strukturen wie nichtjüdische Verhaltensweisen im deutsch-jüdischen Feld geht. (3) Personenbezogene Aspekte des eingeschränkten Optimismus-Clusters Die größte Teilgruppe der Erhebungsauswahl äußerte sich im Sinne dieses zweiten Clusters zu kulturellen Ausweitungen im jüdischen Berlin sowie deren weiteren Entwicklungschancen. Diese Gruppe weist in religiöser Orientierung, örtlicher Herkunft, Gemeindebezug und innerjüdische Tätigkeit nach Maßstab der gesamten Erhebung deutliche bis extreme Unterschiede auf. Die benannten Merkmale und ihre unterschiedlichen Ausprägungen sollen im Folgenden herausgearbeitet und wo möglich als für ihre entsprechenden Meinungsäußerungen im Themenfeld maßgeblich interpretiert werden: Die religiöse Orientierung deckt nahezu das gesamte Spektrum der Befragung mit Ausnahme von sephardisch ab. Die Bandbreite reicht von mehr oder weniger orthodox (P 7 und P 11) über reformorientiert (P 3, P 8, P 15, P 18, P 23) bis zu einer eher areligiösen Orientierung (P 19). Entsprechend des breiten innerjüdischen Tätigkeitsspektrums der Erhebung lässt sich keine bestimmte Eingrenzung ausmachen: Religiöses (P 3 und P 8), soziokulturelles (P 8), künstlerisches (P 11), sportliches (P 19) sowie mediales innerjüdisches Engagement (P 15, P 18 und P 23) sind alle im Cluster vertreten. Der Gemeindebezug erscheint wie zuvor ebenfalls recht uneinheitlich: ein relativ starker (P 8) ist hier genauso wie ein schwacher (P 7, P 15, P 18 und P 19) sowie kein Bezug (P 3, P 11 und P 23) vertreten. Im Gegensatz zum vorhergehenden Cluster (Kap. III.1.2.1.) lässt sich im vorliegenden Fall kein einheitliches Herkommen ausmachen: Deutsch-jüdisches (P 3, P 8, P 15 und P 23) paart sich mit ‚russischem‘ (P 7, P 11 und P 19) wie auch mit Herkommen aus den USA (P 18). Es fällt auf, dass einzig der israelische Herkunftskreis nicht vertreten ist, der sich im nachfolgenden Cluster findet. Angesichts dieser Heterogenität der unterschiedlichen Merkmale der in diesem Cluster Zusammengefassten erscheinen einige Gemeinsamkeiten ihrer Aussagen um so interessanter, die möglicherweise als ein Schlüssel zu der Frage nach dem Ordnungsmuster der personen-bezogenen Zusammensetzung des Clusters dienen können: So lässt sich bei der Antwort auf die Frage, wer sich jeweils von welchen innerjüdischen Teilgruppen gewisse Impulse für die über die regulären Gemeindeaktivitäten hinausweisenden innerjüdischen im weitesten Sinne kulturellen Weiterentwicklungen in Berlin erwartet, eine Art Einheit in der Differenz erkennen. Denn wie oben bei der Auflistung der inhaltlichen Gehalte zu ersehen, werden verschiedene Teilgruppen des örtlichen jüdischen Kollektivs namentlich erwähnt, denen jeweils eine besonders positive Bedeutung bei diesem qualitativen Wachstumsprozess beigemessen wird. Dabei wird schnell deutlich, dass von ihnen jeweils fast durchweg solche Personengruppen bzw. Milieus be-
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nannt werden, denen sie selbst nach Herkunft und oder/nach religiöser oder kultureller Orientierung verbunden sind:103 • So betont die außerhalb der Gemeinde in der reformjüdischen Administration Tätige und aus Westdeutschland nach Berlin Gekommene (P 3) die Potentiale zu einer Weiterentwicklung der Berliner jüdischen Existenz in Personengruppen, die über Berlin und Deutsachland hinaus aus westlichen Staaten kommend und darüber hinaus ebenfalls reformjüdisch geprägt sind. • Alle drei im Medien- und Kulturwesen Engagierten (P 15, P 18 und P 23) benennen bestimmte Personengruppen aus den Bereichen Kunst und Kultur (im engeren Sinn) als Träger der von ihnen mit konkreten bereits verwirklichten und angedachten kulturellen Projekten illustrierten qualitativ expansiven Veränderungsprozesse im jüdischen Berlin. • Alle dem ‚russischen‘ Einwanderermilieu Entstammenden (P 7, P 11 und P 19) sowie die in der soziokulturellen Arbeit mit ihnen Beschäftigten P 4 erwähnen bestimmte Teilgruppen aus diesem Milieu, die schon heute und ihrer Erwartung nach noch weitaus stärker in der Zukunft dem jüdischen Leben in Berlin im religiösen und/oder im nichtreligiös-kulturellen Bereich positive Impulse geben bzw. geben werden.104 • Als Ausnahmefall erwähnen nur wenige zusätzlich als mögliche Trägerkreise positiver innerjüdischer Wandlungsprozesse andere Milieus als diejenigen, denen sie nach Herkunft oder Lebenseinstellung verbunden sind. In all diesen Fällen handelt es sich um Befragte aus dem deutschjüdischen Milieu (P3 und P 15), welche eher vage gewisse Erwartungen an eine über das Numerische hinausweisende kulturelle Ausweitung und Bereicherung durch die größte innerjüdische Teilgruppe der osteuropäischen Zuwanderer der letzten eineinhalb Dekaden hegen.105 Der gesamte Befund stellt also einen Hinweis auf eine gewisse Milieubezogenheit der Erwartungen und Hoffnungen aller in dem Cluster Vertretenen einer Ausweitung der kulturellen Bereiche jüdischer Existenz in Berlin dar: Denn auf Grund ihres maßgeblichen inner-jüdischen Engagements in bestimmten Gruppenaktivitäten besitzen sie einen guten Einblick in das jüdische Leben vor Ort, so dass davon ausgegangen werden kann, dass ihnen durchaus auch andere Träger und Akteursgruppen innerjüdischer Wandelungsprozesse bekannt sind. Als Interpretation der das eigene Herkunftsmilieu thematisierenden Statements er103 Milieugemeinsamkeiten sind im Sinne der Studie ja vor allem durch individuell jeweils unterschiedlich gewichtete Ensemble der o. g. personenbezogenen Merkmalsbereiche Herkommen, Religion und innerjüdische Tätigkeit bestimmt. 104 Die aus Deutschland stammende Internet-Redakteurin P 15 äußert sich außerdem ebenfalls positiv zu kulturellen Potentialen der ‚russisch‘ Stämmigen; vgl. den folgenden Spiegelstrich. 105 Vgl. für P 3 das Hype-Kap. III.3.2.2., S. 314 f. sowie für P 15 die Einzelfallanalyse von MuH Kap. IV.8.6. Gegenüber vielen anderen ihrer zukunftsbezogenen Äußerungen bleiben sie aber relativ unbestimmt.
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scheint mir plausibel, dass ihren Aussagen ein persönliches Zutrauen zu diesen Milieus offenbar in zweifacher Weise zu Grunde liegt: Einerseits sind die Wahrnehmungen der Wandlungsprozesse der jüdischen Gemeinschaft der Metropole immer auch mit der Hoffnung auf innerjüdische Verwirklichungsmöglichkeiten ihres nach Herkunft oder nach religiöser bzw. kultureller Orientierung bestimmten eigenen jüdischen Milieus verbunden. Andererseits werden angesichts der von ihnen sehr deutlich wahrgenommen schwerwiegenden Restriktionen für eine kulturelle Ausweitung im jüdischen Berlin (s. o.) solche Trägerkreise positiver Veränderungen angeführt, von deren innerjüdischem Interesse und Engagement106 sie auf Grund persönlicher Kenntnis auch wirklich überzeugt sind. Die Einschätzung einer im vorliegenden eingeschränkten OptimismusCluster stark milieugebundenen Perspektive auf die qualitativen Wachstumspotentiale der jüdischen Gemeinschaft in Berlin kann auch zu der Deutung der Positionierung der in ihm Vertretenen zu den vergangenheitsbezogenen qualitativen Wachstumsnarrativen ‚Renaissance‘ und ‚Revitalisierung‘ herangezogen werden: Denn in diesem Cluster wird durchweg eine wenig ausgeprägte bis völlig indifferente Haltung zu diesen Narrativen eingenommen, mit Ausnahme der dem deutsch-jüdischen Herkunftsmilieu Entstammenden P 3 und P 23.107 Demgegenüber rekurrierten alle dem Herkunftsmilieu der osteuropäischen Zuwanderer Entstammenden, die sich vorsichtig optimistisch zu einer gegenwärtigen und künftigen Ausweitung jüdischer Existenz in Berlin äußerten, weder positiv noch negativ auf die o. g. qualitativen Narrative. Dieser Befund legt nahe, dass unter den ‚russischen‘ Zuwanderern kaum oder gar keine Bezugspunkte zum jüdischen Leben in der Metropole Berlin oder darüber hinaus im Deutschland der Vor-NS-Zeit existieren und entsprechend auch weder skeptische noch optimistische Einschätzungen der Anknüpfungspotentiale an diese jüdische Vorkriegsexistenz in der Stadt. Damit erscheint also auch im vorliegenden Cluster das geringe Meinungsprofil der in ihm Zusammengefassten gegenüber diesen historisch rückbezüglichen Wachstums-Narrativen ebenfalls überwiegend herkunftsspezifisch begründet zu sein.
1.2.3. Drittes Cluster: Uneingeschränkt optimistische Beurteilungen (P 4, P 17 und P 20) Dieses Meinungs-Cluster ergibt gegenüber den in den beiden vorherigen Clustern Zusammengefassten einen dritte Meinungsvariante. Die hierin repräsentierte Haltung kann am ehesten als uneingeschränkt optimistische Einschätzung der Wandlungsprozesse bezeichnet werden (im folgenden ‚drittes‘ oder ‚uneingeschränktes Optimismus-Cluster‘). Es ist der Zahl der in ihm Vertretenen nach das kleinste 106 P 19 spricht in diesem Zusammenhang treffend metaphorisch von „Spitzensportlern“ (P18/52), vgl. oben S. 228. 107 Deren entsprechende Statements wurden bereits oben im Skepsis-Cluster Kap. III.3.2.1., S. 207 f. und S. 210 ff. angeführt und in die dortige Erörterung einbezogen.
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der drei in diesem Kapitel behandelten Cluster und verkörpert die unter der Erhebungsauswahl optimistische Extremposition in diesem Themenfeld. P 4: Die aus Israel Stammende sowie in der Sozialarbeit mit Zuwanderern von der ehemaligen SU Beschäftigte legt eine durchweg optimistische Haltung hinsichtlich des künftigen jüdischen Lebens in Berlin an den Tag. Unbenommen von vielen Einzelproblemen im Zusammenhang mit der innerjüdischen Integration der in den letzten Jahren aus Osteuropa hierher Gekommenen „liegt in der Zuwanderung die Zukunft“ (P4/4), jedenfalls in quantitativer Hinsicht. Eine vage Prognose der Wahlberlinerin geht dahin, dass „wenn nicht die Politiker verrückt werden, dann wird Berlin mal wieder so sein, wie es früher war“. (Ebd.) Offenbar bezieht sich diese Aussage implizit auch auf die jüdische ‚Blüte‘ in der Metropole vor 1933. Denn für die Israelstämmige ist die ehemalige deutschjüdische Symbiose108 offensichtlich eine positive Orientierungsmarke für die jüdischen russischsprachigen Zuwanderer wie auch für die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft: Demnach habe die von Deutschland ausgehende Vernichtung von sechs Millionen Juden „ganz Deutschland zum Niedergang gebracht. Die Gesellschaft, die Intelligenz von Deutschland ist niedergegangen. Und das war alles zum großen Schaden von Deutschland und von der Welt.“ (P4/2) Vor dem Hintergrund dieser positiven Einschätzung der kulturellen Rolle und Bedeutung von Juden im früheren Deutschland und Berlin zielt die Hoffnung der innerjüdische sozial Engagierten darauf, dass sich die Zuwanderer beim weiteren Aus- und Aufbau jüdischen Lebens in der Metropole der hiesigen vormaligen jüdischen Existenz vor 1933 und ihrer Vernichtung bewusst werden: „Also als politischer Aspekt vielleicht der, sollten die Juden, die […] im Angesicht der Vergangenheit hierher kommen, und etwas Neues anfangen oder auf dem Alten aufbauen, […] aber das Alte, die Vergangenheit nicht vergessen.“ (P4/2) In diesem Zusammenhang verweist die beruflich mit der Integration der ‚Russen‘ Beschäftigten ausdrücklich darauf, dass „viele Leute die Juden nicht mögen, weil sie Forderungen stellen, […] die sich auf die Vergangenheit“ (ebd.) beziehen. In dieser offensiv die Vergangenheit als Ausgangspunkt neuen jüdischen Lebens in Berlin nehmenden Perspektive erscheint es konsequent, dass die Wahlberlinerin unter ausdrücklicher Verwendung der optimistischen Wachstums-narrative von einem, wenn auch sehr mühsamen „Prozess der Wiedergeburt oder Wiederherstellung des deutschen Judentums“ (P4/3) spricht. P 17: Eindeutig konstatiert auch diese israelstämmige Mitinitiatorin des Israelischen Stammtischs und langjährige Wahlberlinerin ein qualitatives Wachstum kulturellen jüdischen Lebens in Berlin: „Ich habe keine Strichliste geführt. Aber ich habe das Gefühl, es passiert mehr als früher“ (P17/24); „langsam“ (sic! P17/26) würden eine Vielzahl von Juden vor Ort Eigeninitiative ergreifen.
108 Zur jüdisch-deutschen Symbiose vgl. im Begriffsbestimmungs-Kap. 1.3.3., S. 45 mit Anm. 61 sowie im Selbsterortungs-Kap. I.4., S. 47.
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Beeindruckt stellt sie fest, dass diese engagierten Personen „besessen [sind] von dem, was sie tun, verglichen mit anderen Gruppierungen [gemeint: außerjüdischen, A. J.] unverhältnismäßig viel mit wenig Leuten“ (ebd.) vollbrächten. Vieles geschehe dabei unterhalb der sichtbaren Ebene, eher unauffällig. An erster Stelle und als Schlüsselbeispiel für ihre positive Sicht der Ausweitung jüdischen Lebens in Berlin benennt die Theaterbegeisterte das erst einige Jahre bestehende Jüdische Theater Bamah. (P17/24)109 Außerdem kennt die Israelstämmige den ebenfalls von dort kommenden Theaterleiter persönlich, von dessen Konzeption, ausschließlich von jüdischen inklusive israelischen Autoren, Stücke zu spielen, sie sich sehr angetan zeigt. (P17/25) In diesem Zusammenhang stellt die sehr Kulturinteressierte die rhetorisch gemeinte Frage, welche andere Volksgruppe ähnlicher Größe110 in Berlin mit einem eigenen Theater aufwarten könne. Als weiteres ihr sehr geläufiges Beispiel wachsender Präsenz aktueller jüdischer Gegenwartskultur in Berlin erwähnt die fern ihres Herkunftslandes Lebende von der Möglichkeit, seit einigen Jahren israelische Filme im Rahmen der Jüdischen Kulturtage111 zu sehen: „Was ich hier an israelischen Filmen sehe, sehe ich mehr als die Freunde in Israel.“ (P17/26)112 Im Gegensatz etwa zu der deutschstämmigen P 3 (s. u. in III.3.2.2.) sieht P 17 in der Präsenz israelischer Kultur im Rahmen der örtlichen jüdischen Kulturaktivitäten also keinen falschen Exotismus. Im Gegenteil, stellt dies doch eine willkommene Brücke zu aktuellen Kulturäußerungen ihres Herkunftslandes dar: „Für mich ist das natürlich ein Leckerbissen, wenn ein israelischer Film kommt.“ (P17/27) Schließlich kommt die mit Unterbrechung bereits seit Jahrzehnten in Berlin Beheimatete noch auf zwei weitere neuere jüdische kulturelle Initiativen im Peripherbereich sowie außerhalb der Berliner Gemeinde zu sprechen: die bereits von P 3 und P 23 angeführten couragierten jüdischen Initiativen Kulturgruppe Meshulash sowie das Ende der 90er Jahre entstandene Selbstverständigungs- und Netzwerkungsprojekt jüdischer Frauen Beth Debora. (P17/30)113 P 20: Schließlich spricht diese dritte israelstämmige Wahlberlinerin spricht allgemein gehaltene Erwartung offen aus, dass sich jüdisches Leben in der Stadt Stück für Stück wieder entwickeln wird, dass es, beginnen wird „zu florieren“. 109 Zu diesem Theater vgl. auch die kritischen Aussagen der Internetregisseurin P 15 oben im zweiten Cluster Kap. I.2.2., S. 222 ff. sowie im Hype-Kap. III.3.2.5., S. 324 ff. 110 P 4 fragt in diesem Zusammenhang rhetorisch nach türkischem, exjugoslawischem und englischsprachigem Theater. 111 Das alljährlich in Berlin stattfindende Jüdischen Filmfest ist von P 17 offensichtlich mitgemeint, ohne dass es von ihr in an dieser Stelle ausdrücklich genannt wird. 112 Sie vermutet, dass diese weder die Zeit hätten noch eine entsprechende Auswahl unter den überwiegend dort gezeigten US-amerikanischen Filmen fänden. 113 Vgl. zu Beth Debora im Berliner Einführungs-Kap. II.2.3.1., S. 154 sowie zu Meshulash Kap. II.2.3.2., S. 155 f.
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(P20/3) Als zentrale Äußerung der Lebensmittelhändlerin kann ihre Einschätzung der Veränderung des örtlichen jüdischen Lebens in der letzten Dekade gelten: „Man kann doch sagen [jüdisches Leben] hat sich entwickelt in der Stadt in den letzten 10 Jahren und die letzten fünf Jahre sehr schnell sogar.“ (P20/22) An erster Stelle hebt die Wahlberlinerin den Kulturbereich im engeren Sinne und dabei ebenfalls jüdische Filme hervor: „das ist sehr schön“ (ebd.).114 In ihrem beruflichen Tätigkeitsbereich führt sie im Weiteren positiv die Existenz von vier Lebensmittelgeschäften in Berlin an. Allerdings stellt sie in diesem Zusammenhang mit Bedauern fest: „Und es ist traurig, dass wenn man Ausgehen will und man isst koscher, man hat nicht viel Bewegung. […]. Und ich hoffe, es kommt noch die Zeit wie in Paris oder in London oder New York. In den großen Städten sind Stuben, wo man richtig gut essen kann, international, marokkanisches Essen, orientalisches Essen, aschkenasisches Essen, egal wie man will. Und das gibt es in großen Städten, wo viele Juden leben. […] ich träume auch von so was“. (P20/23)
So sieht sie mittelfristig in Berlin durchaus Entwicklungschancen einer originär jüdischen, weil koscheren Gastronomie, indem sie die Erörterung des von ihr gewählten Beispiels optimistisch abschließt: „[…] lass Dich überraschen!“ (Ebd.) Schließlich erkennt die israelstämmige Wahlberlinerin kulturelle Potentiale für die künftige Entwicklung jüdischen Lebens in Berlin im osteuropäischen Zuwanderermilieu: „Auch die neuen Emigranten aus Russland haben sehr viel mitgebracht“. (P20/23) Beispielsweise erhalte sie von russischsprachigen Juden aus der ehemaligen SU häufig Plakate mit Ankündigungen für Theaterstücke und Konzerte, um sie in den von ihr mitbetriebenen Geschäft aufzuhängen.
Zwischenbewertung Dieses Cluster stellt wie eingangs erwähnt eine der beiden Extrempositionen im Meinungsspektrum des Themenfelds dar: Im äußersten Gegensatz zum erstbehandelten Cluster – mit einer Mittelposition des zweiten Clusters – überwiegen hier äußerst optimistische Einschätzungen gegenüber bereits in den letzten Jahren stattfindenden Ausweitungen im weitesten Sinne kultureller Aktivitäten im jüdischen Berlin und deren weiterer Entwicklungsmöglichkeiten. Dabei darf der Blick auf diese grundsätzliche Positionierung nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade in den Bereichen des jeweiligen eigenen innerjüdischen Engagements durchaus und teilweise sogar schwerwiegende Probleme für die örtliche Gemeinschaft wahrgenommen werden. Doch werden entsprechend der o. g. generellen Disposition zu den qualitativen Wachstumsperspektiven diese Schwierigkeiten im Sinne des weiteren Auf- und Ausbaus jüdischer Existenz in Berlin als nachrangig und grundsätzlich überwindbar eingeschätzt. Analog zu den beiden vorhergehenden soll auch das uneingeschränkte Optimismus-Cluster noch ebenfalls in zwei Durchgängen nach Wachstums- (1) sowie 114 Offensichtlich sind damit ‚israelische Filme‘ gemeint, vgl. die entsprechende Äußerung der zuvor angeführten Israelin P 18.
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personenbezogenen Gesichtspunkten (2) analysiert werden (Restriktionen werden hier nicht thematisiert). Da es sich um das nach versammelten Einzelstimmen kleinste der drei hier angeführten Cluster handelt ist die Streuung in einigen thematischen Unterbereichen diesen gegenüber reduzierter. Dennoch lassen sich auch hierbei einige bedeutsame Aussagen ableiten. (1) Wachstums-Gesichtspunkte des uneingeschränkten Optimismus-Clusters Auch die Äußerungen im uneingeschränkten Optimismus-Cluster zu einem qualitativen Wachstum kultureller Aktivitäten im jüdischen Berlin sollen im Folgenden nach den Gesichtspunkten Tätigkeitsfelder, Zukunftspotentiale sowie Trägergruppen differenziert kategorisiert werden. Tätigkeitsfelder: Entsprechend breit sind die Felder innerjüdischen Wachstums bei den Vertreterinnen des Clusters gestreut: • P 17 erwähnt aktuelle Beispiele aus den Bereichen Theater, Film (israelische) und Bildende Kunst. • P 20 führt als Felder kultureller Expansion der letzten Jahre Filme (israelische), musikalische Veranstaltungen (‚russische‘) und Geschäfte an. Zukunftspotentiale: Die Möglichkeiten künftiger kultureller Entwicklungen im jüdischen Berlin werden nur vage angesprochen, da ja gerade auf gegenwärtige positive Entwicklungen ausführlich eingegangen wird: • Ausnahme: P 20 hält mittelfristig eine deutliche Ausweitung jüdischer Gastronomie in der Metropole für möglich. Trägergruppen: Auch im vorliegenden Cluster sind es wie schon in dem vorherigen bestimmte innerjüdische Teilgruppen, bei denen sich entsprechend Äußernde positive Impulse für das kulturelle jüdische Leben in Berlin wahrnehmen bzw. von denen sie dies für die Zukunft erwarten: • P 4 und P 20 benennt osteuropäische Zuwanderer aus den GUS-Staaten als bereits heute das jüdische Berlin milieuübergreifend mit kulturellen Veranstaltungen bereichernde Gruppe. • P 17 führt verschiedene Kulturschaffende verschiedenster Couleur ohne Herkunftsspezifika für eine innerjüdische kulturelle Ausweitung dieser Kreise in den letzten Jahren an. Ähnlich dem vorangegangenen Cluster äußert sich auch im vorliegenden uneingeschränkten Optimismus-Clusters außer der im soziokulturellen Bereich tätigen sowie israelstämmigen P 4 niemand dezidiert zu den vergangenheitsbezogenen qualitativen Wachstumsnarrativen. Hierauf wird in Entsprechung zum vorherigen Cluster am Ende des nachfolgenden personenbezogenen Abschnitts im Zusammenhang mit der Erörterung von Herkunftsaspekten noch näher eingegangen. (2) Personenbezogene Aspekte des uneingeschränkten Optimismus-Clusters Die hier thematisch zu den weiteren Entwicklungschancen jüdischen Lebens in Berlin zu einem Cluster Zusammengefassten weisen nach den meisten für die Untersuchung im Themenfeld herangezogen Hauptmerkmale religiöse Orientie-
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rung, innerjüdische Tätigkeit, Gemeindebezug und örtliche Herkommen, dem Maßstab der Erhebung entsprechend deutliche bis extreme Unterschiede auf: Die religiöse Orientierung ist denkbar unterschiedlich gelagert. Sie reicht von keiner besonderen religiösen Affinität (P 4) über eine konservative (P 17) bis zu einer sehr deutlich ausgeprägten sephardischen Orientierung (P 20). Auch im innerjüdischen Tätigkeitsspektrum lässt sich für dieses Cluster keinerlei thematische Eingrenzung ausmachen: So arbeitet P 4 beruflich im Bereich soziokultureller Angebote für jüdische Zuwanderer aus der SU bzw. aus den GUS-Staaten. P 17 engagiert sich demgegenüber ehrenamtlich für den eher weltlichen und außerhalb der Gemeinde angesiedelten Israelischen Stammtisch. Und P 20 ist schließlich beruflich als Händlerin mit koscheren Lebensmitteln tätig. Der Gemeindebezug verteilt sich in dem Cluster ebenfalls uneinheitlich: P 4 ist organisatorisch nicht der Berliner Gemeinde, sondern der deutschlandweit gemeindeübergreifenden Zentralwohlfahrtsstelle verbunden. P 17 betätigt sich wiederum innerjüdisch bewusst außerhalb der Gemeinde (s. u.). Während das innerjüdische Engagement von P 20 sowohl im inneren Peripheriebereich der Gemeinde auf Grund ihres starken religiösen Engagements (s. o.) wie auch an deren äußerer Peripherie auf Grund ihrer geschäftlichen Tätigkeit (s. u.) angesiedelt ist. Diesen Disparitäten gegenüber lässt sich eine deutliche herkunftsbezogene Gemeinsamkeit feststellen. Bei allen drei handelt es sich um in Israel geborene oder dorthin ausgewanderte Wahlberlinerinnen. Damit drängt sich die Frage auf, in wieweit ihre Herkunft aus einem anderen Land bzw. aus Israel für ihre erstaunlich ähnlich positive Einschätzung der gegenwärtigen und weiteren Entwicklung im kulturellen Bereich des jüdischen Lebens in Berlin eine gewisse Rolle spielt. Aufschlussreich ist, dass bei der genaueren vergleichenden Analyse weitere biographische Gemeinsamkeiten dieses Personenkreises sowie vor allem deren Unterschiede zu der Gruppe der in Deutschland ‚Alteingesessenen‘ (P 1, P 3, P 22 und P 23), welche das entgegengesetzte Skepsis-Cluster repräsentieren (s. o. Kap. III.1.2.1.), erkennbar werden können: Eine aus der gleichen Herkunft aus Israel resultierende Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie – mit ausgeprägten Bindungen an ihr außereuropäisches Herkunftsland – eine grundsätzliche Entscheidung für einen zumindest längerfristigen Aufenthalt ausgesprochen in Deutschland bzw. in Berlin getroffen haben. Die Folgen dieser Entscheidung waren sicherlich vom Standpunkt ihres israelischen Herkommens her gravierend. Schließlich war das jüdische Leben der im Falle der Zuwanderung von P 4 und P 17 damals noch geteilten Stadt jedenfalls viel beschaulicher als heute und in jedem Fall gegenüber demjenigen in Israel nur sehr rudimentär entwickelt.115 Alle drei hier angeführten InterviewpartnerInnen haben gegenüber dem o. g. deutsch-jüdischen Skepsis-Cluster eine offensichtlich stark entwickelte jüdische sowie eine nicht minder ausgeprägte israelische Identität. Dabei sind sie aus dem jüdischen ‚Pionierland‘ Israel ohne 115 Vgl. die Einzelfallstudie zum Israelischen Stammtisch Kap. IV.7.
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Not nach Berlin gekommen, wo sie sich – wenn auch im Vergleich in weitaus bescheidenerem Umfang – an jüdischem Aufbau beteiligen. Angesichts des geschilderten biographischen Backgrounds scheint bei allen dreien einen herkunftstypischen und für das deutsch-jüdische Feld ganz ungewohnten Optimismus, Pragmatismus und ‚hemdsärmeligen‘ Pioniergeist zu bestehen. Ein auffallender Unterschied zum vorherigen Cluster besteht darin, dass hier im Kontext der Artikulation optimistischer Erwartungen der weiteren kulturellen Entwicklung im jüdischen Berlin das eigene, in diesem Fall israelische Herkunftsmilieu kaum als möglicher Träger von Aufwärtsentwicklungen benannt wird. Lediglich die theater- und filmbegeisterte P 17 erwähnt als Positivbeispiel ein in der Metropole von einem ihr persönlich bekannten Israeli gegründete jüdisches Theater. Diese Tatsache dürfte m. E. weniger als Zeichen mangelnder Identifikation mit der eigenen Herkunftsgruppe, sondern viel mehr in deren geringer Größe, Heterogenität und überwiegendem Status als nur übergangsweise in Berlin lebend geschuldet sein: Auch die sich hier Äußernden sind aus sehr verschiednen Gründen (Soziales Engagement, Ausbildung, Familie, Beruf) und zu ganz unterschiedlichen Zeiten (zwischen den frühen 70er und späten 90er Jahren) nach Berlin gekommen und bewegen sich in differierenden innerjüdischen Milieus und Glaubensspektren. Schließlich besitzen die in Berlin lebenden Israelis offensichtlich insgesamt viel geringere gemeinsame biographische Erfahrungswerte als die osteuropäische Zuwanderergruppe.116 Demgegenüber besteht eine weitgehende Übereinstimmung zu den ebenfalls nach Berlin Zugewanderten des vorherigen Clusters in ihrer wenig ausgeprägten bis völlig indifferenten Haltung gegenüber den o. g. vergangenheitsbezogenen qualitativen Wachstumsnarrativen.117 Lediglich die erst nach 1990 nach Berlin gekommene P 4 bezieht sich wie oben ausgeführt explizit positiv auf diese Narrative, allerdings ohne dabei den Zivilisationsbruch der Schoah als den anderen historischen Fixpunkt heutiger jüdischer Existenz in Berlin, preiszugeben. Damit ist sie die einzige im Erhebungskreis mit einer explizit affirmativen Aneignung der qualitativen Wachstumsnarrative jüdischen Lebens in der Metropole. D. h. also insgesamt, dass israelstämmige Wahlberlinerinnen ohne familiären Berliner Hintergrund bei den von ihnen wahrgenommenen im weitesten Sinne kulturellen Wachstumsprozessen im jüdischen Berlin mehrheitlich weder kritische noch affirmative Assoziationen mit der ‚Blüte‘ des örtlichen Judentums der Vor-NS-Zeit verbinden. Auch dieser Befund kann damit als eine Bestätigung der in der Erörterung der Ergebnisse des vorherigen Clusters gewonnenen Einsicht einer überwiegend herkunftsspezifischen Positionierung gegenüber den Narrativen ‚Renaissance‘ und ‚Revitalisierung‘ gewertet werden. Allerdings besitzen alle drei israelstämmigen Stimmen des vorliegenden Clusters keine familiären Wur-
116 Zu Israelis in Berlin vgl. ebenfalls die Einzelfallstudie zum Israelischen Stammtisch Kap. IV.7.1., S. 522 f. 117 Vgl. oben Kap. III.1.2.2., S. 228 die Einleitung der Zwischenbewertung.
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zeln in Berlin. Dieser in der Erhebungsauswahl nicht vorhandene Sonderfall bedürfte einer weiteren, in der Studie nicht leistbaren Untersuchung.
1.2.4. Zusammenfassende Bilanzierung Die Erhebung brachte sehr unterschiedliche Einschätzungen im Themenfeld des Auflebens jüdischer Existenz in Berlin und teilweise im übrigen Deutschland zu Tage. Dies betrifft sowohl die beiden Anknüpfungsmöglichkeiten an die Vor-NS-Zeit behauptenden qualitativen Wachstums-Narrative ‚Renaissance‘ und ‚Revitalisierung‘ wie auch die Zukunftsperspektiven qualitativer Wandlungsprozesse und Wachstumsmöglichkeiten im weitesten Sinne kultureller Aktivitäten im jüdischen Berlin. Abschließend sollen in zwei Durchgängen, zunächst zu den o. g. Wachstums-Narrativen (1), im Folgenden zu den Perspektiven der kulturellen Entwicklungen (2) die Ergebnisse bilanziert werden. (1) ‚Renaissance‘ und ‚Revitalisierung‘ In den meisten Erhebungsgesprächen, in denen zu diesen vergangenheitsbezogenen qualitativen Wachstums-Narrativen gegenwärtigen und künftigen jüdischen Lebens in Berlin Stellung bezogen wurde, wurden Einschätzungen zu dieser Thematik im Zusammenhang mit Bewertungen jüdischer Existenz in Deutschland insgesamt zum Ausdruck gebracht. Als Bilanz der Auswertung im Themenfeld können drei grundsätzliche Haltungen gegenüber diesen Narrativen festgestellt werden: Kritik: Bei einer im ersten Cluster ausführlich dokumentierten Minderheit überwiegen eindeutig skeptische bis kritische Stimmen gegenüber den beiden qualitativen Narrativen ‚Renaissance‘ und ‚Revitalisierung‘. Dabei werden von ihnen vor allem die mit der Verwendung der beiden Begriffe verbundenen Erwartungen an die Entwicklung hiesigen jüdischen Lebens als überzogen gewertet und ins Visier genommen: Zum einen halten sie es nicht mehr für möglich, gegenwärtig oder auch in Zukunft an das unwiederbringlich vernichtete kulturelle jüdische Leben in Berlin und im übrigen Deutschland vor 1933 anzuschließen. Zum anderen sehen sie im nichtjüdisch öffentlichen Gebrauch der Narrative aktuell eine Schimäre wirksam als ein nichtjüdischerseits herbeigewünschtes und schließlich imaginiertes Happy End jüdischer Geschichte in Deutschland: Dabei würden von nichtjüdischer Seite spektakuläre Inszenierungen des Jüdischen gerne mit dem weitaus unspektakuläreren hiesigen jüdischen Alltagsleben verwechselt (vgl. unten Kap. III.3.). Die innerjüdische Verwendung der qualitativen WachstumsNarrative wird demgegenüber von dieser Teilgruppe weder kritisch noch affirmativ kommentiert.118 118 Nicht auszuschließen ist bei dem einen oder anderen über diese Wachstumsnarrative reflektierenden Statement außerdem ein die Relevanz ihrer Aussagen keineswegs schmälerndes ‚pädagogisches Gebaren‘ gegenüber mir als nichtjüdischem Interviewer: Möglicherweise sollte ich demnach mit einer bewusst überpointiert formulierten Kritik an den o. g. Narrativen in wohlmeinender Absicht vor einer auf nichtjüdischer Seite angesichts der Wachstumsdiskurse jüdischen Lebens in
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Indifferenz: Die überwiegende Haltung in der Erhebungsauswahl besteht in weder positiven noch negativen Assoziationen zu den historisch rückwärtsbezogenen Wachstums-Narrativen. Offenbar hat diese Teilgruppe nur einen recht geringen oder keinerlei Bezug zu dem gerade in Berlin sehr ausgeprägten kulturellen jüdischen Leben der Vor-NS-Zeit, auf welche beide Narrative implizit verweisen. Die weite Verbreitung dieser (Nicht-)Position in der Erhebung deckt sich mit derjenigen in vielen entsprechenden Einzelgesprächen außerhalb der eigentlichen Erhebung bei den der Befragung vorausgehenden und sie begleitenden explorativen Erkundigungen im Untersuchungsfeld. Geschichtsaneignung als Ermutigung: Lediglich von einer Stimme wird jenseits der qualitativen Wachstums-Narrative eine eigene innerjüdische Umgangsweise mit dem geschichtlichen Hintergrund, auf den sich diese Narrative beziehen, angedeutet. So verbindet die aus Israel stammende, in der soziokulturellen Arbeit mit jüdischen Zuwanderern beschäftigte P 4, wie im dritten Cluster gezeigt, den Blick auf den Zivilisationsbruch der Schoah mit der Perspektive auf die ‚Blüte‘ jüdischen Lebens vor 1933 in Berlin. Demnach könnten beide Perioden ihrer Ansicht nach orientierungsstiftender für die künftige kulturelle Positionierung der jüdischen Zuwanderer im deutsch-jüdischen Feld sein.119 Der im Zusammenhang mit heutiger jüdischer Existenz in Berlin sehr originelle Gedanke erscheint zumindest für die Zeit vor 1933 in der Umsetzung schwierig: So ist zu fragen, wie diese interkulturelle Auseinadersetzungen angesichts der in diesem Untersuchungsbereich festgestellten geringen Anknüpfungspunkte in den letzten Jahren zugewanderter Juden an jüdische Vorkriegsexistenz in Berlin und im übrigen Deutschland konkret aussehen könnte? Die o. g. Idee gemahnt zwar an die räumlich kleinteilig-ortsspezifischen Geschichtsaneignungsversuche ‚von unten‘, die sich in Folge von ‚68 vielerorts in Deutschland herausgebildet haben (etwa sog. ‚Geschichtswerkstätten‘). Dennoch ist die Ausgangssituation eine andere. Die heutigen osteuropäischen Einwanderer bringen eine eigene – und wie rudimentär und verdrängt auch immer – jüdische Geschichte mit, denen zu Recht ihr primäres Interesse gilt.120 Im Bereich personenbezogener Merkmale zeigte sich eine eindeutige Zuordnung der kritischen und indifferenten Position nach Herkommen: Wie im ersten Cluster aufgezeigt, setzen sich nahezu ausschließlich Personen deutsch-jüdischer Herkunft in ihren Statements mit den beiden qualitativen Wachstumsnarrativen ‚Renaissance‘ bzw. ‚Revitalisierung‘ auseinander, distanzierten sich jedoch dabei überwiegend von ihnen. Ihre Skepsis scheint dem Wissen um die Größe des unBerlin und darüber hinaus in Deutschland vorschnell anhebenden Normalisierungseuphorie bewahrt werden. 119 Dieser Gedanke erinnert an Walter Benjamins konkrete Utopie einer künftigen Geschichtsaneignung durch die gesellschaftlich entfremdeten Individuen als deren Reifungsprozess gegenüber den drängenden Aufgaben der Gegenwart und Zukunft. 120 Vgl. die Einzelfallstudie zum Kulturverein Kap. IV.2.4.1., S. 451 ff.
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wiederbringlichen Verlusts und der Sorge um Geschichtsklitterung aus der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft heraus zu entsprechen. Jenseits dieses Clusters besitzen diejenigen, die erst in den letzten Jahren oder auch Jahrzehnten nach Berlin zugewandert sind sowie solche mit familiärem Migrationshintergrund, demgegenüber keinerlei ausgeprägte Positionen zu diesen beiden WachstumsNarrativen. Diese Meinungsabstinenz oder -indifferenz scheint davon herzurühren, dass sie offensichtlich größtenteils keinerlei kulturelle oder auch nur familiengeschichtliche Bezüge zum Berliner und deutschen Vorkriegsjudentum besitzen. Wie sich im zweiten und dritten Cluster herausstellte, ergeben sich für sie ganz andere Bezüge im Zusammenhang mit gegenwärtigen qualitativen Wachstumsprozessen im jüdischen Berlin (s. u.). Als wichtigstes Ergebnis des Fragebereichs kann also die Tatsache gelten, dass der überwiegende Teil der Erhebungsauswahl im Unterschied zu den eingangs in Kap. III.1.1. angeführten öffentlichen Verlautbarungen jüdischerseits kaum etwas mit den vergangenheitsbezogenen Wachstums-Narrativen anfangen kann. Zugespitzt formuliert wissen die Einheimischen zuviel, die zugezogenen zu wenig über die jüdische Vergangenheit in Deutschland und in der ehemaligen jüdischen Metropole Berlin, um bei heutigen expansiven Entwicklungen auf diese Sprachmetaphern zu rekurrieren. Dieser Befund kann damit also insgesamt als ein über die Erhebungsauswahl hinausweisender wichtiger Beleg für das Unvermögen oder jedenfalls die Schwierigkeit gewertet werden, innerjüdisch in einer konkreten lokalen örtlichen Situation in der Selbstverortung an die jüdische Geschichte vor der NS-Vernichtungspolitik anzuschließen. (2) Kulturelle Ausweitungen jüdischer Existenz in Berlin Jenseits von eher skeptischen Einschätzungen gegenüber den auf das jüdische Leben der Vor-NS-Zeit rekurrierenden qualitativen Wachstumsnarrativen dominieren insgesamt positive Einschätzungen zu aktuellen Entwicklungstendenzen im weitesten Sinne kultureller sowie religiöser Aktivitäten im jüdischen Berlin. Dies trifft bemerkenswerterweise auch bei einigen von denen zu, die, wie im ersten Cluster gezeigt, den o. g. qualitativen Narrativen eher skeptisch oder kritisch gegenüberstehen. Dessen ungeachtet wurden von mehreren teilweise sehr schwerwiegende Restriktionen für eine Expansion kultureller Angebote und Initiativen in der Metropole benannt, worauf unter (3) noch näher bilanzierend eingegangen wird. Insgesamt entstand ein sehr facettenreiches Bild expansiver Wandlungsprozesse dieser innerjüdischen Aktivitäten für die etwa eineinhalb Dekaden währende Phase seit den auch für das jüdische Leben in Berlin tiefgreifenden Zäsuren der Jahre 1989/90 und deren weiterer Entwicklungstendenzen. Die Erörterung dieser allgemein eher optimistischen Zukunftsperspektiven jüdischer Existenz in Berlin muss sich auf einige explizite wie exemplarische Aussagen beschränken. Dabei gilt es nämlich zu berücksichtigen, dass eine vorsichtig positive Einschätzung in vielen Gesprächen eher implizit geäußert wurde, also bei der Behandlung anderer Fragebereiche, z. B. in den Interviewsequenzen
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zu mitgestalteten ‚Gruppenaktivitäten‘ (vgl. den Teil IV., S. 429 ff.) oder zu ‚Antisemitismus‘ (vgl. Kap. III.4). Außerdem sollte im Vorfeld der bilanzierenden Bewertung darauf verwiesen werden, dass die Erhebungsauswahl der Tendenz nach kulturellen Entwicklungsbedingungen und -chancen jüdischen Lebens in Berlin gegenüber denjenigen im übrigen Deutschland insgesamt etwas positiver gegenübersteht. Dieses Faktum wird auch bei der Behandlung von innerjüdischen Berlinspezifika im folgenden Kap. III.2. eine wichtige Rolle spielen. Die selbst überwiegend im Peripherbereich oder außerhalb der Berliner Gemeinde Engagierten benannten erwartungsgemäß ebenfalls in diesen Bereichen verortete und im weitesten Sinne kulturelle Ausweitungstendenzen. Diese sollen nach inhaltlicher Ausrichtung sortiert hier nochmals knapp aufgelistet werden: Neuere religiöse Aktivitäten: Diese werden nur von einer Minderheit als Beispiele qualitativer Wachstumsprozesse im jüdischen Berlin thematisiert. Interessanterweise äußerten sich in diesem Sinne nur solche Personen, die selbst in neueren religiösen Initiativen, und zwar in reformjüdischen, engagiert sind. Dabei erwähnten sie nicht nur mit dem Egalitären Minjan sowie der Synagoge Hüttenweg Positivbeispiele im Bereich ihrer eigenen religiösen Orientierung, sondern hoben außerdem auch die sich außerhalb der Berliner Gemeinde in den letzten Jahren angesiedelten orthodoxen Lehrhäuser von Chabad und von der Lauder-Foundation als treffende Beispiele hervor. Das Bild erscheint allerdings nicht ungetrübt, da von ihnen die wachsende Vielfalt überwiegend in ihren problematischen Aspekten innerhalb und für die Berliner Einheitsgemeinde diskutiert wird.121 Mehr oder weniger orthodox aber auch areligiös Orientierte sprachen demgegenüber in diesem Kontext die verschiedenen neueren religiösen Aktivitäten außerhalb der Gemeinde gar nicht an oder betonten wie P 1 vielmehr die davon unbenommen große Zahl an religiös Orientierten oder religiös Passiven innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Berlins. Auch die im israelisch orientierten Sephardischen Minjan sehr engagierte P 20 erwähnte in diesem Zusammenhang nicht ihren Beetkreis oder die übrigen neueren religiösen Zusatzangebote. Die Vermutung liegt nahe, dass für traditionell bzw. orthodox Eingestellte die neueren orthodoxen Angebote lediglich die Komplementierung der bis vor einigen Jahren noch sehr überschaubaren religiösen ‚Mindestausstattung‘ der jüdischen Gemeinschaft in der Millionenmetropole darstellen. Damit wären diese neueren religiösen Aktivitäten für sie gerade kein geeignetes Anschauungsbeispiel der Ausweitungen jüdischen Lebens in der Metropole. Im Fall der nur gering orthodox Orientierten aus dem ‚russischen‘ und israelstämmigen Herkunftsmilieu könnte allerdings auch ein geringes eigenes lebensweltliches Interesse an innerjüdischen religiösen Entwicklungen eine Rolle dabei spielen, dass sie diese neueren Aktivitäten im religiösen Bereich an der Peripherie und außerhalb der Gemeinde nicht als positive Wachstumsbeispiele erwähnen. 121 Zu den Einschätzungen der JGB als religiöser Einheitsgemeinde vgl. im Themenschwerpunkt Berlinspezifika das Kap. III.2.2.1., S. 264 ff.
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Abschließend lässt sich zu den extrem unterschiedlichen Einschätzungen neuerer religiöser Aktivitäten als Bestandteil einer Ausweitung öffentlich wahrnehmbarer jüdischer Aktivitäten in Berlin sagen, dass hieran ein deutlich ausgeprägter innerjüdischer Pluralismus erkennbar wird: Während die Religionsausübung für einige wenige der Zentralbereich jüdischer Kulturäußerung schlechthin ist, spielt sie mit allen Zwischenschattierungen für andere hierfür keinerlei Rolle. Diese allgemeinen Bewertungen liegen dabei teilweise quer zu der eigenen religiösen Orientierung. Gegenwartskulturelle Projekte werden ebenfalls von mehreren als Positivbeispiele kultureller Ausweitungen genannt. Hierbei dominieren konkrete Einzelbeispiele aus dem gesamten Spektrum im engeren Sinne kultureller Aktivitäten (Theater, Film, Kunst usw.). Es ist nicht verwunderlich, dass sich vor allem ‚Kulturmenschen‘, also selbst professionell mit jüdischer Kultur Beschäftigte oder in der Freizeit diese goutierend, zu gegenwartskulturellen Projekten als erwartetem Expansionsbereich im jüdischen Berlin ausgelassen haben: P 15 (Kunst), P 17 (Theater), P 23 (Kulturzentrum). Aber auch im weiteren Sinne kulturelle Aktivitäten wie Sport, Medien und Geschäftswesen werden von einzelnen als expandierend wahrgenommen. Auch hier lässt sich eine analoge Hervorhebung dieser Bereiche entsprechend der eigenen innerjüdischen Tätigkeit und des eigenen Expertenstatus feststellen: P 18 (Zeitungsprojekt), P 19 (Sport) und P 20 (Verkaufsläden). Insgesamt wird hier die Erwartung erkennbar, dass sich jüdische Kultur auf der Höhe der Zeit, also nicht als ausschließlicher ‚Traditionsverein‘, erhält und weiterentwickelt. Lediglich von P 1 und P 22 wurden keinerlei kulturelle Aufwärtsentwicklungen im jüdischen Berlin benannt, da diese jüdisches Leben eher im Spannungsverhältnis zwischen den Gegenpolen religiöser Kernaktivitäten (s. o.) versus Verweltlichung (s. u.) begreifen. Traditionelle jüdische Kultur: Dieser besonders von Nichtjuden und den Medien in Berlin und hier wiederum insbesondere in Berlin sehr intensiv goutierte Bereich122 spielt demgegenüber in den Erhebungsgesprächen zu expansiven kulturellen Entwicklungen im jüdischen Berlin eine nachgeordnete Rolle. Dies wiegt umso schwerer als sich einige sehr intensiv mit einer jüdischen sowie pseudojüdischen Folklore und deren Auswirkungen auf das örtliche jüdische Kollektiv auseinandersetzen (vgl. unten das Hype-Kap. III.3.). Lediglich von zweien wird dieser Bereich jüdischer Kulturäußerungen ohne Einschränkungen als Positivbeispiele der kulturellen Expansion im jüdischen Berlin angeführt (P 19 und P 20). Wobei die überzeugte Westberlinerin P 19 zugibt, die Orte der von ihr benannten Pflege jüdischer Traditionskultur – da im Osten der Stadt gelegen – zu meiden. Eine dritte Stimme steht der jüdischen wie pseudojüdischen Folklore zwar ihrem Geschmack nach kritisch gegenüber, sieht diese aber als Wegbereiterin einer
122 Vor allem Klezmermusik, vgl. die Hype-Kap. III.1.1., S. 292 sowie III.1.2., S. 299.
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künftig weiter zunehmenden jüdischen Gegenwartskultur (s. o.), wie sie am Beispiel jüdischer Theaterkunst aufzeigt (P 15). (3) Restriktionen Wie nicht anders zu erwarten, wurde in nahezu allen den drei Clustern deutlich, dass sich die in ihnen Äußernden mannigfaltiger Schwierigkeiten bewusst sind, mit denen die jüdische Diaspora in Berlin, aber natürlich auch im übrigen Deutschland, konfrontiert ist. Jedoch zeichnet sich bei der in die Zukunft gerichteten Erörterung der Frage nach den Bedingungen für expansive Veränderungsprozesse jüdischer Existenz in Berlin, mit dem Schwerpunkt auf im weitesten Sinn kulturellen Entwicklungen, ein deutliches Gefälle des Problembewusstseins ab. Entsprechend lässt sich bilanzieren: Je schwerwiegendere innerjüdische Restriktionen wahrgenommen werden, desto stärker ist die Skepsis gegenüber weiteren kulturellen Entwicklungsmöglichkeiten vor allem im Anknüpfung an die Vor-NS-Zeit im jüdischen Berlin (erstes Cluster). Demgegenüber wurden immerhin von mehreren bestehende Schwierigkeiten für die weitere Entwicklung zusammen mit entgegengesetzten positiven Tendenzen oder sogar mit Lösungsmöglichkeiten thematisiert (vor allem zweites Cluster). Im Folgenden werden zunächst den sich Äußernden objektiv erscheinende Restriktionen und im Anschluss daran ihnen veränder- und lösbar erscheinende Restriktionen behandelt. Dabei werden gemeindeinterne Probleme erst im folgenden Kap. III.2. zu Berlinspezifika eingehender erörtert. Objektiv erscheinende Restriktionen: Im ersten Cluster formulieren vor allem die beiden berlinstämmigen P 1 und P 22 jenseits der historisch rückbezüglichen Wachstums-Narrative besonders schwerwiegende Restriktionen, mit denen aus ihrer Sicht die heutige Diaspora-Existenz in Berlin und anderswo in Deutschland überhaupt konfrontiert ist.123 Diese Schwierigkeiten werden von ihnen als quasi objektive Schranken für eine künftige Ausdehnung kultureller Aktivitäten und Vielfalt im jüdischen Berlin benannt. Diese Übereinstimmung erscheint insofern interessant, da sie einerseits erhebliche biographische Gemeinsamkeiten wie andererseits auch extreme Unterschiede aufweisen. Einerseits entstammen beide dem deutsch-jüdischen Milieu der DDR bzw. Ostberlins. Andererseits ist P 1 als sich religiös eher konservativ bis orthodox Begreifende seit Jahrzehnten als Gemeindemitglied vor allem an deren Peripherie soziokulturell in Gruppenaktivitäten aktiv. Während sich demgegenüber die säkular eingestellte P 22 mit ihrem dezidiert israelkritischen Engagement bewusst außerhalb der Berliner Gemeinde engagiert. Trotzdem wird eine entscheidende Gemeinsamkeit bei beiden erkennbar: Denn mit einander entgegengesetzter persönlicher religiöser und gemeindebezogener Orientierung wird doch von beiden jüdisches Gemeinschafts- und Gemeindeleben als primär 123 In abgeschwächter Form hatte auch die ebenfalls aus Deutschland stammende P 3 das zweite und dritte im Folgenden angeführte restriktive Argument vertreten; vgl. oben im zweiten Cluster Kap. III.1.2.2., S. 216 f.
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religiös oder hierdurch bestimmt aufgefasst (s. o.). Neuere religiöse Aktivitäten vor allem im Peripherbereich sowie außerhalb der Berliner Gemeinde können aus dieser Sicht in der weitgehend säkularen jüdischen Gemeinschaft mehrheitlich keine entscheidenden neuen Impulse setzen, was vor allem mit drei Argumentationslinien begründet wird: • Mit dem demographischen Argument wird darauf verwiesen, dass die Vervielfachung der jüdischen Gemeinschaft Berlins und überhaupt in Deutschland in den letzten Jahren nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass dieses Wachstum in absehbarer Zeit zu seinem Stillstand kommen werde. Damit würden aber weiteren kulturellen (Re-)Vitalisierungen die demographischen Grundlagen entzogen. So kam es, wie an anderer Stelle ausgeführt, bereits in den 90er Jahren durch administrative restriktive Bestimmungen zu einem Stillstand der offiziellen Zuwanderung nach Berlin. Dementsprechend pendelte sich bereits vor dem Millennium die Zahl der Gemeindemitglieder bei 12.000 ein, also bei keinem Zehntel der Vorkriegsgemeindegröße.124 Tatsächlich lassen sich die Beschlüsse der Innenministerkonferenz nach Inkrafttreten des neuen Zuwanderungsgesetzes im Januar 2005 als Bestätigung des Arguments lesen. Daher würde die jüdische Zuwanderung aus den GUS-Staaten durch restriktivere Bestimmungen für Gesamtdeutschland in der nächsten Dekade im Vergleich zu der vorhergehenden um ca. 90 % zurückgehen.125 • Das Assimilierungsargument meint das Faktum, dass die meisten hiesigen Juden aus dem osteuropäischen Zuwanderermilieu, aber auch viele der schon länger hier lebenden oder dem deutsch-jüdischen Milieu entstammenden Juden in der Metropole ein sehr an die außerjüdische Mehrheitsgesellschaft angepasstes Leben führen. Dies drücke sich im Ausbildungs-, Freizeit- und Arbeitsbereich, aber auch in der diasporatypischen hohen Zahl an Mischehen und der Nichtexistenz jüdisch geprägter Stadtviertel aus. • Schließlich wird das Säkularisierungsargument, welches in vielerlei Hinsicht mit den beiden vorangehenden Argumenten verknüpft ist, als quasi objektive Schranke expansiver kultureller Entwicklungen im jüdischen Berlin angeführt. Dabei wird auf die weit vorangeschrittene innerjüdische Verweltlichung verwiesen und mit der Entwicklung vor 1933 oder in größeren stärker religiös orientierten Kreisen in den USA und Israel -kontrastiert. Auch hier ist das Faktum einer nicht minder fortgeschrittenen Verweltlichung wie in der sie umgebenden nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft nicht bestreitbar. Auch ist auf absehbare Zeit innerjüdisch in Berlin kein grundlegender Wandel anzunehmen, trotz mehrerer vielversprechender neuerer religiöser Einrichtungen und Projekte (s. o.).
124 Vgl. das Berliner Einführungskap. II.1.1.1., S. 85. 125 Diese Einschätzung äußerte etwa auch der Generalsekretär des Zentralrats Stephan S. Kramer, vgl. Philipp Gessler: „Nur mit Einladung“, in: JA 23.12.04.
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Wandelbar erscheinende Restriktionen: Auch im zweiten, eingeschränkt optimistischen Cluster überwiegen Reflexionen über teilweise erhebliche Schwierigkeiten für die kulturelle Entfaltung im jüdischen Berlin. Jedoch werden diese als im Hier und Jetzt grundsätzlich wandelbare Realitäten interpretiert. Diese neuralgischen Punkte werden daher viel mehr als ex- oder implizit ausgesprochene Kritikpunkte bestehender Verhältnisse formuliert denn als Restriktionen der weiteren kulturellen Entwicklung: • Assimilierungs- und Säkularisierungsprobleme und Gegentendenzen: Auch hier erscheinen die zuvor als objektive Schranken einer künftigen Ausweitung jüdischen Lebens in Berlin benannten Probleme erneut mit dem Unterschied einer optimistischeren Einschätzung. Die selbst osteuropäische P 7 ging davon aus, dass viele junge ‚Russen‘ über den Umweg negativer Assimilierungserfahrungen an die nichtjüdische und nichtrussische Mehrheitsgesellschaft eine ursprünglich nichtintendierte Rückbesinnung auf ihre jüdischen Wurzeln und damit in Richtung der heutigen jüdischen Gemeinschaft in Berlin eröffnet würde. Dies stellt eine Art Gegenthese zu den zuvor rekapitulierten sehr restriktiven Deutungen von Assimilierung und Säkularisierung dar. – Mir erscheint diese Perspektive nur im Fall relativ pragmatisch gehandhabter Übertrittsmöglichkeiten zum Judentum für einen Minderheit realistisch.126 Selbst die dem ersten Cluster zugeordnete, dem deutsch-jüdischen Milieu entstammende extrem entwicklungsskeptische P 1 hatte im Kontext der Diskussion der Zukunftsaussichten des von ihr maßgeblich mitbetriebenen jüdischen Kulturvereins (JKV) von möglichen künftigen Wiederannäherungen an das Judentum gesprochen: So schloss sie nicht aus, dass die sehr weltlich in der DDR-Zeit geprägten Kinder mittleren Alters von betagten JKV-Aktiven aus deutsch-jüdischen Milieu im fortgeschrittenen Alter möglicherweise eine Art jewish turn vollziehen könnten.127 • Selbstbewusstseindefizite versus neues Selbstbewusstsein: Defizite im Selbstbewusstsein gegenüber der nichtjüdischen deutschen Mehrheitsgesellschaft stellen gemäß P 8 und P 18 (zweites Cluster) einen weiteren Aspekt dar, der sich bisher hemmend auf die Bereitschaft zur Öffnung gegenüber Neuem in der innerjüdischen kulturellen Entwicklung ausgewirkt habe. Für die seit Jahrzehnten in der Stadt beheimatete Wahlberlinerin P 8 hatte die Bereitschaft von Juden, in der Metropole im lebensweltlichen Alltag gegenüber der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft einschließlich Antisemiten sichtbar Präsenz zu zeigen, als entsprechender Gradmesser gegolten.128 Ganz ähnlich 126 Wie in Berlin, wo vergleichsweise transparente und gerade im Fall von Familienangehörigen sehr ‚pragmatisch‘ gehandhabte Aufnahmekriterien herrschten, so der ehemalige Gemeindevorsitzende A. Brenner; vgl. Detlef D. Kauschke: „Vater oder Mutter?“, in: JA 23.09.04 127 Vgl. die Einzelfallstudie zum Jüdischen Kulturverein Kap. IV.2.7.1. 128 Vgl. ihre entsprechenden Ausführungen im Antisemitismus-Kap. III.4.2.1., S. 383 ff.
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•
hatte sich hierzu auch die New York-stämmige P 18 geäußert. Dabei insistierte sie im Unterschied zu P 8 stärker auf den historischen Ursachen dieses Defizits in der Schoah. – Die Möglichkeit einer positiven Veränderung dieses die weitere kulturelle Entfaltung im jüdischen Berlin einschränkenden Arguments wird daran deutlich, dass beide aktuell eine eindeutige Zunahme an jüdischem Selbstbewusstsein in Berlin ausmachen. Dies zeigt sich bspw. daran, dass sich Juden immer häufiger in der Öffentlichkeit in Berlin durch Kleidung, Haartracht oder Schmuckembleme zu erkennen geben. Aber auch die Zusammenschlüsse von innerjüdisch nicht überall gleichermaßen akzeptierte oder gleichberechtigte Minderheiten und Teilgruppen wie (Yachad) und Frauen (Beth Debora), weisen in diese Richtung. Mangelndes finanzielles Engagement im religiös liberalen und kulturellen Bereich: Die Journalistin und Bildungsreferentin P 23 hatte als Einzige auf die Asymmetrie der Unterstützung in diesen Bereichen gegenüber dem starken Engagement außerhalb der Gemeinde stehender orthodoxer Organisationen verwiesen. Dass auch hier in Zukunft noch viel Bedarf besteht, wird in den Einzelfallanalysen im vierten Teil der Studie absolut bestätigt.
Bilanzierend lässt sich festhalten, dass in letzter Instanz der Großteil der angeführten innerjüdischen Restriktionen von ernormen Herausforderungen, jedoch nicht von unüberwindlichen Schwierigkeiten des beispiellosen aktuellen Wandels im jüdischen Berlin zeugen. Weder lassen sich daher aus der Würdigung dieser Einschränkungen übertriebene Erwartungen noch ein Dementi einer weiter zunehmenden Vielfalt der örtlichen kulturellen Angebote und Initiativen ableiten. (4) Akteursebene gegenwärtiger und künftiger Entwicklungen Eine zentrale Frage im Themenbereich innerjüdischer kultureller Weiterentwicklungen lautete, welche kollektiven Träger in der Erhebungsauswahl hierfür ausgemacht werden. Es wurde deutlich, dass die sich hierzu Äußernden als voraussichtliche Akteure dieser künftigen Entwicklungen diese innerjüdischen Teilgruppen wahrnehmen, mit denen sie sich entweder nach Herkunft oder kulturellen Orientierungen besonders verbunden fühlen. Entsprechend äußerten dabei vor allem ‚Russisch‘-Stämmige aber auch in der soziokulturellen Arbeit mit diesen Beschäftigte aus deutsch-jüdischem oder israelischen Milieu Tätige gewisse Hoffnungen auf ebenfalls dem ‚russischen‘ Milieu entstammende Träger künftiger expansiver Entwicklungen im jüdischen Berlin. Demgegenüber zeigten aus deutsch-jüdischem Milieu oder aus anderen westlich geprägten Ländern Kommende religiös überwiegend verschieden reformjüdisch orientierter oder areligiöser Provenienz sich eher optimistisch hinsichtlich gegenwärtiger und künftiger außerreligiös-kultureller expansiver Entwicklungen, ohne dabei einen ausgesprochen herkunftsbezogenen Hintergrund zu thematisieren. Erst in der Zukunft sehen sie unter aktiver Zuarbeit der kulturell innovativen Einheimischen und aus westlichen Staaten Kommenden Chancen, die ‚russischen‘ kulturellen Prägungen der Einwanderer innerjüdisch integrativ fruchtbar zu machen.
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Die Unterschiede in der Erwartungshaltung zwischen ‚russischen‘ Herkunftseinerseits und nichtorthodoxen Glaubensmilieus und Areligiösen verschiedennationaler westlicher Herkunft andererseits erscheinen besonders plausibel. Denn die ‚Russen‘ sind innerjüdisch bei relativ geringer religiöser Prägung als Identifikationsgruppe auf ihr kollektiv tradiertes ‚russisches‘ Herkunftsmilieu verwiesen.129 Dabei hoffen sie, dass diese künftig zu maßgeblichen Trägern einer wie auch immer gearteten Entwicklung im jüdischen Berlin ‚heranreifen‘. Während es sich im Fall der sich in den Erwartungen auf künftige expansive Entwicklungen eher kultur- als herkunftsjüdisch Orientierten um stärker individuell gewählte innerjüdische Identitätsmuster handelt. Diese im gewissen Sinne posttraditionalen religiös progressiv oder kulturjüdisch orientierten Identifikationsmilieus weisen außerdem untereinander vielmals Überschneidungen und fließende Übergänge auf, kaum aber mit dem ‚russischen‘ sozialisierten Herkunftsmilieu. (5) Zukunftsperspektiven Doch welche Perspektiven werden für die weitere kulturelle Entwicklung im jüdischen Berlin vor allem im Peripherbereich sowie außerhalb der Berliner Gemeinde gesehen? Fast überall, wo sich Interviewte zu künftigen kulturellen Entwicklungen äußerten, vermieden sie durchweg, trotz einer tendenziell optimistischen Grundstimmung, gesteigert optimistische Erwartungen. Dabei wird ganz ähnlich wie im Fall der qualitativen Wachstumsnarrative auch bei den jenseits dieser historischen Analogien angesiedelten künftigen Ausweitungen kultureller Aktivitäten im jüdischen Berlin ein Zusammenhang zwischen der geäußerten Zuversicht und dem personenbezogenen Merkmal Herkommen erkennbar: Von Seiten der dem deutsch-jüdischen Milieu Entstammenden wird bezogen auf die inner-jüdische kulturellen Wachstumsprozesse und -potentiale eine skeptische bis vorsichtig optimistische Perspektive artikuliert. Demgegenüber äußern sich in den letzten Jahren aus der ehemaligen SU und den GUS-Staaten Zugezogene sowie diesem Zuwanderermilieu Entstammende generell zuversichtlicher zu den Zukunftspotentialen der weiteren Entfaltung des jüdischen Lebens in der Stadt, womit sie graduell in der Erhebungsauswahl eine Mittelstellung einnehmen. Verständlicherweise hielten sich dabei Angehörige dieses Einwanderungsmilieus mit generalisierenden Einschätzungen zum jüdischen Leben hierzulande über Berlin hinaus zurück im Unterschied zu den zuvor genannten aus Deutschland Stammenden. Dies gilt insbesondere für den Fall, dass sie noch nicht sehr lange in Berlin wohnen oder als hier Aufgewachsene die innerjüdische Entwicklung andernorts kaum kennen.130 Und aus Israel Stammende äußern sich besonders optimistisch zu den jüdischen Entwicklungsmöglichkeiten in der Metropole. Zugespitzt können die sich entsprechend Äußernden aus diesen drei 129 Außerdem teilen sie hierzulande gemeinsame Migrationserfahrungen. 130 Diese Zurückhaltung korrespondiert mit ihren Aussagen im folgenden BerlinSpezifika-Kap. III.2.1., S. 252 ff. sich nur vorstellen zu können, hierzulande in Berlin zu leben.
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Herkunftsmilieus als Repräsentanten entsprechend je spezifischer kollektiver Orientierungsmuster interpretiert werden, unbenommen von ihren je individuellen sowie gemeinsam geteilten innerjüdischen Vor-Ort-Erfahrungen: • Sich hier Äußernde aus dem minoritären deutsch-jüdischen Milieu erscheinen als kollektive Träger eines geschichtlichen Erbes einer großen, gleichsam unwiederbringlich verlorenen hiesigen jüdischen Tradition wie der Erfahrung der von deutscher Seite ausgehenden Auslöschung diese Tradition in der Schoah. Alle ihre positiven Einschätzungen von Entwicklungen in Richtung zunehmender religiöser und kultureller Vielfalt dürften von diesen Imperativen her ihre Maßstäblichkeit erhalten. • Stimmen aus dem ‚russischen‘ Milieu erscheinen demgegenüber als kollektive Träger einer Erwartungshaltung, welche sich bewusst für ein aktiv jüdisches Leben in Berlin bzw. Deutschland entschieden haben. Mit ihrer hiesigen jüdischen Existenz verknüpfen sie deutliche Hoffnungen vor dem Hintergrund ihrer herkunftsbedingten Negativerfahrungen oder derjenigen ihrer Angehörigen. Gegenüber dem jahrzehntelang durch Repression und Assimilation kaum mehr existenten jüdischen Leben in der früheren SU dürften jüdische Aktivitäten und Manifestationen in Berlin, allen Restriktionen im Detail zum Trotz, in jedem Fall als ein spürbarer Fortschritt vorkommen. • Schließlich erscheinen die angesprochenen Israelstämmigen als Träger einer je individuellen Mission, die sich ähnlich wie das ‚russische‘ Milieu für ein hiesiges Leben bewusst entschieden haben und doch ganz anders: Einerseits ist ihre jüdische Identität mit dem einzigen jüdischen Staat im Hintergrund eine gefestigte. Sie sind als Individualisten gekommen, weswegen sie auch weitaus weniger als im Fall der beiden vorherigen Kollektive als empirisch auszumachendes Milieu erscheinen. Dennoch dürften sie stark von ihrem israelischen Herkommen geprägte Kriegs- und Aufbauerfahrungen teilen, von denen sie in ihren unterschiedlichen Tätigkeiten im jüdischen Berlin zehren können. Ihr ‚robuster‘ Optimismus und ihre ‚anpackende‘ Haltung gegenüber Problemen jüdischen Lebens in Berlin dürften hier herrühren. Als weiteres zentrales Ergebnis dieses Kapitels kann also der Tendenz nach von einer herkunftsmilieuspezifischen Grunddisposition in der Erhebungsauswahl gegenüber den kulturellen Wachstumspotentialen im jüdischen Berlin ausgegangen werden. Diesen Befund gilt es, sich für die Untersuchungsschritte der folgenden Kapitel zusammen mit dem o. g. einer insgesamt über Unterschiede in den Teilmilieus hinweg insgesamt eher optimistischen Grundhaltung gegenüber der weiteren Entwicklung jüdischen Lebens in der Metropole, zu vergegenwärtigen.
SPEZIFISCHE VOR-ORT-BEDINGUNGEN | 251
2 . S p e z i f i s c h e V o r - O r t - B e d i n g u n g e n jü d i s c h e n L e b e n s i n B e r l in w i e a u c h i n d e r ö r t l ic h e n j ü d i s c h e n Ge m e i n d e „Auch Berlin kann nicht jeden Augenblick Berlin sein. Es gibt Dinge, die trotz allem nichts symbolisieren, nichts bezeichnen, nicht bezeichnend sind, es sind einfach nur Dinge. Es gibt Wände, an denen Gott sei Dank nichts geschrieben steht.“ Fania Oz-Salzberger131
In diesem Untersuchungsbereich geht es um spezifisch lokale Bedingungen des sozialen Untersuchungsfelds sowie um Bezüge zwischen beiden. Diese werden im Folgenden als Berlinspezifika bezeichnet. In der im Vorfeld und parallel zur Erhebung stattfindenden mehrgleisig verfahrenden Explorationsphase waren bereits einige für die gesamte Untersuchung relevante entsprechende Spezifika eruiert worden, die sich in den ersten beiden Teilen der Studie bei der Begründung der örtlichen Eingrenzung auf Berlin angeführt finden.132 Im Zentrum des Themenkomplexes stehen hier Fragen nach Spezifika jüdischer Existenz in Berlin, die sich aus den persönlichen Erfahrungen wie aus übergreifenderen Einschätzungen örtlicher Bedingungen aus dem Befragtenkreis ergeben. Dabei werden die einzelnen Themenbereiche zunächst noch relativ kursorisch und unverbunden neben- bzw. nacheinander dargestellt, um ein möglichst authentisches Bild in der Bandbreite der angeführten Aspekte zu zeichnen. Erst am Ende des gesamten Kapitels werden die Teilergebnisse bilanzierend zusammengeführt. Die Reihenfolge der Statements in den jeweiligen Abschnitten erfolgt nach thematischen Gesichtspunkten. Daher kommt es vereinzelt zu Mehrfachnennungen der sich zu den jeweiligen Themenfeldern Äußernden. In einem ersten Durchgang geht es zunächst um die Ebene persönlicher Berlinbezüge (Kap. III.2.1.) Diese unterteilen sich in außerjüdische Berlinbezüge (Kap. III.2.1.1), in positive Alltagserfahrungen zwischen Juden und Nichtjuden (Kap. III.2.1.2) sowie in innerjüdische ortsspezifische Berlinzugänge (Kap. III.2.1.3.) und werden am Ende einer abschließenden Bewertung unterzogen. (Kap. III.2.1.4.) Auch wenn die jüdische Gemeinde in der thematischen Eingrenzung der Studie kein ausgesprochener Untersuchungsschwerpunkt ist, wird die JGB als unverzichtbarer Nukleus jüdischer Existenz in Berlin aus der Peripherieperspektive des Erhebungskreises unter dem Gesichtspunkt innerjüdischer Berlinspezifika unter zwei ausgewählten Gesichtspunkten thematisiert. (Kap. III.2.2.) Der erste Durchgang widmet sich der nach religiösen Ausrichtungen pluralen Berliner Einheitsgemeinde, eine Besonderheit der JGB par excellence 131 Dies.: „Israelis in Berlin“, Frankfurt a. M. 2001, S. 227 132 Vgl. insbesondere die Einleitungs- und Abschluss-Abschnitte der Entwicklung im jüdischen Berlin Kap. II.2.1. und Kap. II.2.5.
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(Kap. III.2.2.1). Der zweite Anlauf zielt auf die JGB-spezifischen Bedingungen und Ausprägungen der Einwanderung von Juden aus der ehemaligen SU und den GUS-Staaten in den letzten eineinhalb Jahrzehnten nach Berlin (Kap. III.2.2.2.). Demgegenüber werden hier berlinspezifische Einschätzungen gegenüber philo- und antisemitischen Verhaltensweisen ausgenommen, die als sehr komplexe und problematische Phänomene im deutsch-jüdischen Feld noch in separaten Hauptkapiteln behandelt werden. Die Ergebnisse dieses Kapitels bilden Ausgangspunkte für das Verständnis der im vierten Teil der Studie im Bereich der Gruppenaktivitäten thematisierten Berlinspezifika und Gemeindebezüge.
2.1. Persönliche Berlinbezüge Einen explizit im berücksichtigten Bereich der Befragung stellen Fragen nach persönlichen Bezügen der Erhebungsauswahl zu Berlin und zu dem örtlichen jüdischen Leben dar. Daher lautet die Ausgangsfrage: Vor dem Hintergrund welcher von ihnen thematisierten jüdischerseits relevanten Berlinspezifika findet ihr hohes innerjüdisches Engagement in der Metropole statt? Dies meint zunächst persönliche Hintergründe bzw. Motive für ihr Leben gerade in der deutschen Metropole jenseits biographischer Zufälligkeiten. Dabei wurden auch berlinspezifische Aspekte geäußert, die das großstädtische Leben der Metropole als solches, über ausgesprochen jüdische Aspekte hinaus, thematisieren. Da sich ihr ,jüdisches‘ Leben gerade nicht in einem Ghetto außerhalb der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft abspielt, erweisen diese Gesichtspunkte ihre Relevanz für die Untersuchung der Bedeutung der spezifischen Berliner Standortbedingungen für die örtliche jüdische Existenz und werden daher hier entsprechend berücksichtigt. Nicht zu vermeiden sind Überschneidungen persönlicher mit allgemein jüdischen Motiven, weswegen zur Vermeidung von Redundanzen hier nur diese persönlichen Motive aufgeführt werden, die nicht in den folgenden Abschnitten oder an anderer Stelle der Studie ausführlicher thematisiert werden. 2.1.1. Diverse Vorzüge des Großstadtlebens (P8, P 9 I,I P 17, P 20, P 18 und P 19) In diesem Abschnitt werden lediglich solche auf Berlin bezogenen Äußerungen aufgegriffen, die einen explizit persönlichen wie ortsspezifischen Bezug zu der Metropole erkennen lassen. D. h. die vielen Aussagen zu familiären, beruflichen, zuwanderungsbedingten oder zufälligen Berlinbezügen, wie sie für jede andere größere Stadt in Deutschland auch gelten könnten, werden bewusst ausgespart. (1) Flucht aus der deutschen Provinz P 8: Bei der im Egalitären Minjan Aktiven handelt es sich um eine ursprünglich aus Westdeutschland stammende überzeugte Wahlberlinerin. Bei ihr lassen sich auf mehreren Ebenen positive private und jüdische Berlinbezüge ausmachen. So ist sie aus einer ausgesprochen katholischen Gegend vor über einem Vierteljahrhundert in das damalige Westberlin gegangen. Als wichtigsten Beweggrund, in die Metropole zu ziehen, benennt sie neben den damals in Westberlin geltenden
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Vergünstigungen in ihrer beruflichen Tätigkeit im Sozialbereich ihren starker persönlicher Impuls: „weg aus der Provinz“. (P8/3) Hier fand sie auch den Weg in die örtliche jüdische Gemeinschaft und fasste in mehrfacher Hinsicht innerwie außerjüdisch Fuß. P 9 II: Der maßgeblich in der jüdischen Homosexuellengruppe Yachad Engagierte schildert ebenfalls vor dem Hintergrund seiner doppelten Minderheitenidentität die Flucht aus der deutschen Provinz nach Berlin. In diesem Fall handelte es sich allerdings im Unterschied zu P 8 nicht um eine westdeutsche Kleinstadt, sondern um eine in Ostdeutschland gelegene Großstadt: „[...] ich fand die Stadt und das Leben dort inzwischen unerträglich und musste einfach dort raus, und da war Berlin einfach [...] der einzige in Deutschland in Frage kommende Ort für mich, wo man leben kann, von der Offenheit her, von der Vielfalt her, von der Größe einfach her und auch von den Lebensumständen“. (P9 II/3) Er bezeichnet sich daher in der Metropole Berlin, die wie keine andere Stadt in Deutschland für jüdisches wie homo-sexuelles Leben steht, als „kulturellen Flüchtling“ (Ebd.) Bisher habe er seinen Zuzug hierher keinen Tag bereut, wie er betont.133 (2) Vorzüge des Kosmopolitischen und der Anonymität in der Metropole P 17: Die Mitbegründerin des Israelischen Stammtischs ist als schon seit vielen Jahren beruflich in der Metropole Tätige eine überzeugte Wahlberlinerin. Sie macht den Zufall dafür verantwortlich, zum Auslandsstudium gerade hierher gekommen zu sein. Allerdings wird im weiteren Gesprächsverlauf deutlich, dass ihre vor Jahrzehnten getroffene Entscheidung, in Berlin zu studieren, maßgeblich durch einen israelischen Freund mitbestimmt wurde, der ursprünglich von hier stammte. Dieses scheinbar nebensächliche Detail hat ein überindividuelles schoah-bedingtes Faktum als Hintergrund werden. Abertausende der über 100.000 vor der NS-Verfolgung geflüchteten Berliner Juden wanderten zwischen den frühen 30er Jahren und den späten 40er Jahren nach Palästina bzw. Israel aus. D. h. nicht wenige der in Israel lebenden Juden oder der im Ausland lebenden Israelis sind selbst gebürtig aus Berlin stammende Jeckes, haben Einwande-
133 Vgl. hierzu auch im vierten Teil der Studie die Einzelfallstudie zu der Homosexuellengruppe Yachad Kap. IV.6. – Auch von der israelstämmigen P 17 wird die Attraktivität Berlins für Homosexuelle angesprochen. Die bereits vor Jahrzehnten erstmals von Israel nach West-Berlin Gekommene, die durch ihr langjähriges Engagement für den israelischen Stammtisch viele hier lebende Landsleute kennt, benennt einen säkular-außerjüdischen Vielfalt-Effekt in der Metropole, der sich aber auch im jüdischen Berlin bemerkbar macht: Berlin als HomosexuellenMetropole. So weiß sie davon zu berichten, dass gerade auch für Homosexuelle aus Israel Berlin seinen besonderen Reiz besäße. Im Vergleich zu anderen westlichen Staaten sei Israel nämlich relativ rigide in seinen allgemeinen Moralvorstellungen. Demgegenüber stellt sie für die deutsche Metropole fest: „Berlin hat sich einen Namen in der schwulen Szene gemacht als eine Stadt, die Schwule toleriert.“ (P17/14) Daher würden bspw. auch relativ viele israelische Schwule in den letzten Jahren in die Stadt kommen, von denen P 17 auch einige kennt; ebd.
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rer von dort als Verwandte oder zählen, wie im oben erwähnten Fall, solche zum eigenen Bekanntenkreis.134 Im Resümee eines Jahrzehnte währenden Lebens als Israeli in Deutschland äußert die Theater- und Kinobegeisterte im Gegensatz zu ihrer Unbedarftheit in jungen Jahren nach insgesamt fast 20 Jahren in Deutschland Lebens ein eindeutiges Plädoyer für ihr Leben in der deutschen Metropole: „Also, das ist hier die einzige Stadt, wo ein Ausländer sich in Deutschland einigermaßen wohl fühlen kann. A fällt er nicht auf, liegt an der so hohen Anzahl von Ausländern, und B, die Stadt ist sehr offen gegenüber Ausländern.“ (P17/27) Immerhin hatte P 17 früher auch mal in München gelebt. (Ebd.) P 20: Ganz ähnlich zu der zuvor angeführten Israelin äußert sich der ebenfalls von dort Stammende und in einem hiesigen jüdischen Lebensmittelgeschäft Tätige über seine Entscheidung für Berlin. Hierfür zitiert der sehr gläubig orthodoxsephardisch Ausgerichtete seine eigene Antwort auf ihm gegenüber in Israel geäußerte Skepsis gegenüber ihrer Existenz in Deutschland: „Ich lebe nicht in der Provinz. Ich lebe in einer großen Stadt. Und in der großen Stadt ist es so schön cosmopolitan. Und man fühlt sich wohl.“ (P20/17) Der jüdische Erfahrungshintergrund, der diese Bemerkung nicht als ein gewöhnliches Pro-GroßstadtStatement erscheinen lässt, wird in seiner Antwort auf die Frage, ob er sich vorstellen könnte, in einer anderen Stadt in Deutschland zu leben, deutlich: „Um die Wahrheit zu sagen, ich möchte nicht wohnen in der [...] Provinz in Deutschland. Berlin ist eine schöne Stadt. Ich fühle mich wohl in Berlin, natürlich im Zentrum“ (P20/17) – im Sinne von nur im Zentrum. Die letzte Bemerkung stellt im weiteren Gesprächskontext einen eindeutigen Hinweis auf die spezifische stadträumliche Situation des auch in Berlin virulenten Antisemitismus dar.135 P 20 ist die persönliche Verbindung aus innerjüdischem, religiösem und beruflichem Engagement mit einem Leben in Berlin eine Herzensangelegenheit. P 18: Die im jüdischen Medienwesen beiderseits des Atlantiks tätige überzeugte Metropolenbewohnerin mit aus New York äußert sich als gerade auch durch ihre berufliche Tätigkeit (Journalismus und Sozialforschung) geübte Beobachterin sehr dezidiert zu den Motiven für ihre gezielte Entscheidung, in Berlin zu leben. Als Selbstzuschreibungen wählt sie „Außenseiterin“136, „Journalistin“ und 134 Vgl. hierzu das gleichnamige Buch von Fania OZ-Salzberger, aus dem das Motto dieses Kapitels stammt. – Zum Thema ‚familiärer Hintergrund‘ von aus anderen Ländern nach Berlin kommenden Juden vgl. P 3 unten in Kap. III.2.1.3., S. 310 f. 135 Auf die spezifischen Erfahrungen und Umgangsweisen von P 20 mit dieser Problematik als Besitzerin eines rund um die Uhr bewachten Ladens wird unten im Antisemitismus-Kap. III.4.2.2., S. 402 f. ausführlicher eingegangen. 136 Dieser Begriff verweist auf ihre stark ausgeprägte amerikanisch-jüdische Identität, die sie also nicht nur in nichtjüdisch-deutschen, sondern auch mitunter in hiesigen jüdischen Kontexten in der Rolle der ,teilnehmenden Beobachterin einnehmen lässt, s. u. im kap. III.2.1.3., S. 261 sowie ihre entsprechenden Ausführungen o. im Revitalisierungs-Kap. III.1.2.2., S. 224 ff.
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„Amerikanerin“ (P18/23). Sie besitzt eine eindeutig positive Grundhaltung zu einem Leben in Berlin. Fast wortgleich mit den zuvor angeführten israelstämmigen Wahlberlinerinnen bekennt sie: „Ich fühle mich hier wohl.“ (P18/9) Allerdings ging dem eine einschneidende Primärerfahrung in Deutschland der aus der Millionen Menschen umfassenden größten städtischen jüdischen Gemeinschaft der Welt in New York Herkommenden voraus: Der Schock, als Jüdin in Deutschland zu einer echten Minderheit zu gehören! Vor diesem Erfahrungshintergrund im deutsch-jüdischen Feld hebt sie ihren insgesamt positiven BerlinEindruck gegenüber anderen Orten in Deutschland expressis verbis hervor: „Ja und keine andere Stadt hat mir dann wirklich gefallen und ich bin zweimal vorher in Berlin gewesen, es hat mich beeindruckt, ich bin auch in München gewesen, es hat mich aus anderen Gründen beeindruckt und Landsberg habe ich gut [in Erinnerung; A. J.], also diese Orte in Bayern habe ich als sehr interessant gefunden aber nie wirklich warm genug.“ (P 18/22) 137 Als zentrales außerjüdisches Motiv ihrer Berlin-Existenz benennt P 18 die in der Metropole im deutschen Maßstab große Anzahl unterschiedlicher Minderheiten sowie den hohen Grad an hier gelebter Interkulturalität: So erwähnt sie, dass es ihrer Vorstellung von Großstadtexistenz entspreche, dort zu leben, „wo es andere Minderheiten [außer Juden; A. J.] gibt“. (P18/21) So erzählt P 18 kurze Zeit später leicht amüsiert, dass sie auf Grund ihres südländischen Aussehens in Berlin oft von Türken für eine Türkin gehalten wurde; Menschen hätten sie im Geschäft auf Türkisch angeredet und seien dann überrascht gewesen, wenn sie nicht hätte antworten können. Als weiteren Pluspunkt Berlins verweist die überzeugte Metropolenbewohnerin auf ein seit alters her bekannte ambivalente Großstadtphänomen, die Anonymität. Auch hierbei ist New York für sie der Referenzraum: „Also ich wollte irgendwie die Möglichkeit haben, auch [Hervorhebung: A. J.] anonym zu sein wie in New York.“ – „Es ist mir wichtig, dass ich diese Möglichkeit habe“. (P18/22) Ihr Hinweis darauf, wenn man es wolle, in Berlin auch anonym sein zu können, verweist auf ihren hierzu entgegengesetzten Wunsch nach Offenheit, danach, etwas von ihrer Persönlichkeit preiszugeben: „[...] vielleicht ist es auch eine amerikanische Sache [...] ich will meine Anonymität haben, aber ich verstecke mich nicht völlig. Es dauert eine Weile, aber ich habe auch über meine eigenen persönlichen Gedanken über das Judentum geschrieben, [...] etwas sehr Persönliches [...] und dann war ich [...] bereit, ein bisschen mehr von mir [...] zu zeigen. Aber das ist vielleicht dann mehr amerikanisch.“ (P18/22-23)
Dies bedeutet, dass P 18 offensichtlich gerade in Berlin die für sie richtige Balance zwischen Anonymität und öffentlicher Involviertheit finden kann.
137 Vgl. hierzu ebenfalls oben in Kap. III.1.2.2. die Passage auf S. 225, wo ihre mentalitätsbzogene Warm-/Kalt-Metapher ausführlicher dargestellt wird.
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(3) Berlin als ,geteilt-vereinigte‘ Stadt P 18: Als ein weiteres, dabei ungewöhnliches Bleibemotiv benennt die aus den USA stammende Publizistin das in Berlin wie in keiner anderen Stadt Deutschlands und vielleicht auch Europas138 beobachtbare Phänomen einer Metropole, die politisch wiedervereinigt ist, zugleich aber untergründig immer noch ihre ehemalige Teilung nicht völlig überwunden hat: „Ich wollte in Berlin [...] leben wegen der Geschichte der Trennung der Stadt; ich wollte spüren, wie [...] die zwei Hälften der Stadt [...] sich zusammennähen oder zusammenstricken“. (P18/21) Dieses unter allen übrigen nur von ihr geäußerte Motiv für ein Leben in der deutschen Metropole erscheint auf Grund der für die es Anführenden ausgesprochen typischen Rolle der biographisch und beruflich in mehrfacher Hinsicht interessierten interkulturellen Beobachterin verständlich. P 19: Wenn auch nicht als Bleibemotiv, sondern eher im Gegenteil als restriktive Bedingung des Lebens in der Metropole wird von der gebürtigen sowie überzeugten Westberlinerin aus ,russischem‘ Herkunftsmilieu ebenfalls auf die noch nicht überwundene Teilung der Stadt rekurriert. Die im jüdischen Vereinssport Aktive artikuliert als einzige einen ausgeprägten Lokalkolorit und zwar damit, dass sie explizit ihre starken sozialen und kulturellen Bezüge zum Westteil Berlins von ihren entsprechend deutlichen Vorbehalten gegenüber dem Ostteil der Stadt abhebt und als untergründig fortbestehende generationsspezifische mentale Erfahrungen der Ost-/Westteilung der Metropole interpretiert: „Man sagt das zwar nicht ganz so häufig, aber [...] es ist doch noch in den Köpfen, gerade in der Generation, in der ich geboren bin, da wir auch den Mauerfall mitbekommen haben“. (P19/1) Sie war zu diesem Zeitpunkt im Jahr 1989 im Pubertätsalter. Im Zusammenhang mit der Antisemitismus-Problematik kommt die gebürtige Berlinerin P 19 auf ihre soziale und stadträumliche Verortung im Westteil der Stadt zurück.139 Interessanterweise ist es für sie über die von ihr in bestimmten Ostbezirken wahrgenommene Fremdenfeindlichkeit hinaus das stärker multikulturell geprägte Westberliner Großstadtleben, welches sie dort vermisst. „,Mitte‘ ist gerade noch so“ (P19/52). Mit ,Mitte‘ ist der geographisch am westlichsten und mittlerweile am stärksten von ehemaligen ,Wessis‘ geprägte Stadtbezirk gemeint. Über die im Osten der Stadt zu verspürende höhere Fremdenfeindlichkeit hinaus bemerkt sie apodiktisch: „Ich fahre da im allgemeinen nicht so gerne hin [...]. Aber es ist auch das Leben. Es ist nicht so meine Welt.“ (Ebd.) Da sie in der Nähe des Kurfürstendamms lebt, arbeitet und innerjüdisch im Sportwesen aktiv ist, gibt es für sie auch kaum Anlässe, im Ostteil Berlins unterwegs zu sein. 138 Auch andernorts in Europa gibt es aktuelle Beispiele für ehemals geteilte, wenn auch weitaus kleinere Städte wie Berlin, bspw. im ehemaligen Jugoslawien Städte wie Mostar und Sarajewo. In diesen Städten besteht ebenfalls die Aufgabe für die vormals fragmentierte Stadtbewohnerschaft, wenn auch in anderer Weiser als in Berlin, sich wieder ,zusammenzustricken‘. 139 Vgl. die entsprechenden Äußerungen von P 19 im Antisemitismus-Kap. III.4.2.1., S. 376 f.
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Zwischenbilanz Aus dem empirischen Material kann deutlich werden, dass es überwiegend Zugezogene sind, die auf die metropolitanen Lebensverhältnisse Berlins explizit und dabei eindeutig positiv Bezug nehmen. Dabei rekurrieren sie überwiegend auf die Spezifika großstädtischen Lebens, auf Grund derer sie hierher gezogen und wegen deren Fehlens sie z. T. von woanders weggezogen sind wie Urbanität und Kosmopolitismus insbesondere im Innenstadtbereich der deutschen Hauptstadt. Es lässt sich festhalten, dass es ausschließlich der westlichen Hemisphäre Entstammende sind – aus Deutschland, Israel, und Amerika – deren Entscheidung pro Berlin sehr eng mit dem Charakter der Stadt als (westlich geprägter) Metropole zusammenhängt. So ist die einzige aus dem ,russischen‘ Herkunftsmilieu, die sich in diesem Sinne affirmativ äußert, bemerkenswerterweise auch mit dem stärksten Westberliner ,Lokalpatriotismus‘ (P 19), eben dort geboren. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass neben ihr mit P 18 auch die mit einer völlig anderen Biographie, nämlich erst vor einigen Jahren aus New York nach Berlin Gekommene, sowie in einem ganz anderen persönlichen Kontext die Metropole als noch immer der Mentalität nach doppelhälftig geteilte Stadt thematisiert. Beider Statements können als beredtes Zeugnis für die mental noch immer nicht ganz ,zusammen-gestrickten‘ Stadthälften genommen werden. 2.1.2. Positive metropolitane Alltagserfahrungen zwischen Juden und Nichtjuden (P 1, P 3 und P 12) Im Unterschied zu den noch folgenden zentralen Untersuchungseinheiten zu modischen Aneignungen jüdischer Thematik und zu Antisemitismus in der Metropole sollen hier weniger spektakuläre Alltagserfahrungen zwischen Juden und Nichtjuden in Berlin angeführt werden. P 1: Die Bindung der bis in die Sprachfärbung hinein ,waschechten‘ (Ost)Berlinerin aus weitgehend assimiliertem deutsch-jüdischem Milieu und Mitbegründerin des Jüdischen Kulturvereins (JKV) an ,ihre‘ Stadt, in der sie seit Jahrzehnten lebt und arbeitet, steht außer Frage. Einen interessanteren Aspekt stellen m. E. ihre wenigen Äußerungen zu berlinspezifischen Aspekten des jüdisch-nichtjüdischen Verhältnisses dar. Dabei äußert sie sich positiv zu Erfahrungen des Jüdischseins innerhalb der deutschen nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft, die sie seit DDR-Tagen in Berlin erlebt hat. So berichtet sie von einer jüdischen Ärztin, die mit ihr zusammen in Ostberlin in die Schule gegangen ist. Nie habe deren Jüdisch-Sein damals oder auch heute in deren Umfeld eine Rolle gespielt. Diese Realität nimmt sie in ihrem emigrationsgeprägten jüdischen wie nichtjüdischen Herkunftsmilieu wahr als „Teil [...] der Normalisierung. [...] dass Juden nicht als Juden durch die Welt laufen in Berlin, sondern als was auch immer sie sind, als Kulturwissenschaftler, als Physiker als Professoren, als Maler, [...] als Ärzte.“ (P 1/47) Vermutlich machte die Ostberlinerin diese Erfahrung angesichts ihrer biographisch spät, erst im Erwachsenenalter stattfindenden Hinwendung zu ihren jüdischen Wurzeln, persönlich zunächst aus nichtjüdischer,
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später aus jüdischer Perspektive. Diese Positiverfahrungen können als gegenteiliges Muster der jüdisch-nichtjüdischen Alltagsbegegnung zu den an anderer Stelle von der JKV-Mitbegründerin scharf kritisierten nichtjüdischen Hypes um eine angebliche Renaissance jüdischen Lebens in Berlin gelesen werden.140 P 3: Die westdeutsch und westberlinerisch sozialisierte und in reformjüdischen Zusammenhängen Engagierte bestätigt, dass die von P 1 zuvor benannten Positiverfahrungen einer gelebten alltagsweltlichen Normalität zwischen Juden und Nichtjuden auch jenseits deren DDR-geprägten Milieus im heutigen Berlin mitunter funktioniert: So stellt sie ebenso im Hinblick auf ihre Erfahrungen mit beruflich hier ,angekommenen‘ osteuropäischen Zugwanderer – unbenommen von allen auch von ihr erörterten Integrationsproblemen (s. unten Kap. III.2.2.2.) – ganz ähnlich zu dem o. g. Zitat von P 1 fest: „Die können ja auch doch Künstler, Journalisten, Wissenschaftler [sein; a. J.] und sind dann vielleicht zuerst Journalisten, dann sind sie russischsprachig und dann sind sie jüdisch. Es mischt sich immer auch sehr schön in Berlin.“ (P3/33) Diesen positiven metropolitanen Effekt des Jüdisch-Seins als Teilidentität, auf die man im Alltag nicht reduziert werde, nimmt P 3 parallel zu ihrer ebenfalls ähnlich zu P 1 gemachten gegenteiligen Negativerfahrung der Klischeeisierungen und Exotisierungen von Juden durch Nichtjuden wahr, die im folgenden Hype-Kap. III.3.2.1. noch genauer angeführt werden. P 12: Als letztes Beispiel eines für die jüdische Seite positiven großstädtischen Effekts wird von der mit ihrer Familie aus ,russischem‘ Milieu schon seit kurz vor dem Fall der Mauer im Westteil Berlins lebenden Studentin angeführt. Demnach berichtet sie davon, dass sie das Gefühl habe, „dass die Öffentlichkeit sich schon irgendwo mehr öffnet. [...], [da; A. J.] es hier so viele Nationalitäten und Religionen gibt.“ (P 12/27) Dabei sei es stadträumlich im Unterschied zu den Randbezirken „in der City oder Mitte Berlins auch tatsächlich offener geworden. Und im Zuge dieser Offenheit ist es auch die Offenheit fürs Judentum geworden.“ (Ebd.) Der jüdischen Community der Metropole käme diese multikulturelle Situation zu Gute141: „[...] es gibt so wie ich gesehen habe, sehr viele Deutsche, die damit überhaupt kein Problem haben. Es macht für sie einfach überhaupt nichts aus, ob jetzt jemand jüdisch ist oder nicht.“ (P12/28) Ihre Wortwahl drückt diese für das ,verminte‘ deutsch-jüdische Feld geradezu naiv oder gleichgültig wirkende nichtjüdische Haltung sehr plastisch aus.
140 Vgl. hierzu ihre Äußerungen oben im in den beiden Revitalisierungs-Kap. III.1.2.1. und 1.2.2. sowie Hype-Kap. III.3.2.1. – Ihre Erfahrungen kontrastieren mit den Negativerfahrungen der ebenfalls in Ostberlin sozialisierten P 22, die von Nachkriegs-Philosemitismus unter deutschen nichtjüdischen Lehrern in ihrer Schulzeit im Ostberlin der sechziger Jahren berichtet. 141 Vgl. die entsprechenden Äußerungen von P 12 im Hype-Kap. III.3.2.4.
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Zwischenbilanz In den Statements dieses Abschnitts wurde über die positiv bewerteten metropolitanen Laisser-faire- und großstädtischen ,Anything-goes‘-Effekte aus Kap. III.2.1.1. (s. o.) hinaus die ,Alltags-Normalität‘ von bereits lange in Berlin lebenden Juden im außerprivaten (bzw. beruflichen) Umgang zwischen Juden und Nichtjuden bestätigt. Interessant im Beispiel der großstädtischen nichtjüdischöffentlichen situativen Fremdzuschreibung erst ,Journalist‘, dann ,russischsprachig‘ und erst dann ,jüdisch‘ (P 3) ist, dass damit auch in der jüdischen alltagsweltlichen Eigenzuschreibung verschiedene teilidentitäre Wichtigkeits-Abstufungen möglich werden. Auffallend ist, dass alle Positivbeispiele aus dem akademischen oder künstlerischen Bereich stammen, also Berufsfelder also, in denen Differenzerfahrungen zum ,Geschäft‘ gehören. Sicherlich kann sich dieser Normalzustand in vor- oder kleinstädtischen Milieus nur schwer entwickeln. Die Äußerungen müssen außerdem mit den Erfahrungen von Antisemitismus (Kap. III.4.) zusammen gewertet werden. 2.1.3. Biographisch bedingte ortsspezifische Zugänge zum jüdischen Berlin (P 18, P 8 und P 3) In diesen Themenblock fallen lediglich die nicht im Zusammenhang mit den bereits im vierten Teil der Studie bei den Einzelfalluntersuchungen der Gruppenaktivitäten angeführten persönlichen Bezüge zum jüdischen Leben in Berlin. Ähnlich wie zu den in Kap. III.2.1.1. eingangs dargestellten außerjüdischen Berlinbezügen äußern sich auch hier überwiegend nach Berlin Zugezogene. Aber auch unter diesen ist es nur die hier aufgeführte Minderheit, für die Spezifika des jüdischen Berlin im Zentrum ihrer Entscheidung standen, sich ausgesprochen an diesem Ort innerjüdisch zu engagieren. (1) Jüdische Vielfalt und erfüllte Zugehörigkeitsbedürfnisse142 P 3: Die organisatorisch in reformjüdischen Zusammenhängen Aktive gehört zu der Gruppe der ursprünglich aus Westdeutschland Stammenden. Einen plastischen Hinweis auf die enge Verbindung zwischen persönlich-biographischen Bezügen zum jüdischen Berlin und der Einschätzung allgemeiner Charakteristika des örtlichen jüdischen Lebens ergibt sich aus ihren Reflexionen im Interview: Im Einleitungsteil erwähnt sie ein bedeutsames Motiv ihres Studienortwechsels von einer großen westdeutschen Universität ins damals noch geteilte Westberlin. Damals vermerkte sie positiv, dass „in Berlin Juden nicht nur Objekt der Studien 142 Auch die aus Israel stammende Mitinitiatorin des Israelischen Stammtischs (IS) P 17 (vgl. die Einzelfallanalyse zum IS im vierten Teil der Studie Kap. IV.7.), die sich bereits oben im Bereich nicht-jüdischer Berlinspezifika sehr stark pro Berlin geäußert hatte, benennt ausdrücklich positive Vielfaltsaspekte jüdischen Lebens in Berlin, insbesondere im Bereich kultureller Angebote (Theater, Film, Musik). Diese werden hier nicht nochmals wiederholt, da sie einen Nebenaspekt ihrer originär privaten und beruflichen Berlinbezüge darstellen sowie als stärker den Vitalisierungsprozess betonend im entsprechenden Kap. III.1.2.3. angeführt werden.
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sind, sondern tatsächlich auch eine lebendige Gemeinde besteht.“ (P3/31) Diese Situation kontrastiert sie mit ihren Assoziationen zum heutigen Polen, welches sie angesichts der dortigen ehemaligen deutschen Vernichtungslager drastisch als ,jüdischen Friedhof‘ bezeichnet. (P3/32) Ihre biographischen Weg bilanzierend stellt sie fest, wie sehr ihr die jüdische Vitalität in der Metropole zu Gute kam: „(…) dass man in Berlin [...] mehr Vielfalt hat, mehr Möglichkeiten. Und habe dann gleich durch Bekannte in der Gemeinde einen Job angeboten bekommen“ (P3/1) als Bildungsreferentin. Außerdem engagierte sie sich mehrere Jahre im jüdisch-christlichen Dialog in Berlin, für den sie hier ebenfalls zunächst günstige ortsspezifische Möglichkeiten durch die im deutschen Vergleichsmaßstab hohe Zahl an engagierten Juden sah. Enttäuschungen über ignorantes Verhalten von nichtjüdischer Seite in dieser Dialogarbeit ergaben für sie einen biographischen „Rückzug ins Jüdische“ (P3/3). Nun ergaben sich für die Wahlberlinerin im innerjüdisches Engagement außerhalb der Gemeinde interessante neue Perspektiven: An den nach Herkunft ihrer Mitglieder sehr kosmopolitisch geprägten Berliner kulturellen jüdischen Gruppen Gesher und Meshulash gefiel ihr, sich „nicht so zurückziehen zu wollen, sondern von einer jüdischen Position aus das Gespräch [...] aktiv zu führen und sich nicht zum Objekt machen lassen zu wollen.“ (Ebd.) Schließlich eröffnete sich in den letzten Jahren für sie ein weiteres, vor Ort angesiedeltes innerjüdisches Betätigungsfeld: in der Koordination religiös-reformorientierter Initiativen und Gemeinden über Berlin hinaus in Deutschland. P 8: Diese seit Jahrzehnten in der Stadt beheimatete überzeugte Wahlberlinerin und Zionistin, die bereits im Abschnitt III.2.2.1. als ,Provinz-Flüchtling‘ vorgestellt wurde, stellt insofern eine Besonderheit dar, als sie vor einigen Jahrzehnten überhaupt erst in der Metropole zum Judentum übergetreten ist. (P8/9) Auch sie macht in ihrem Bericht die vielfältigen ortsspezifischen Möglichkeiten und Pfade für innerjüdisches Engagement sichtbar. Die ursprünglich im Gesundheitswesen Tätige war aus beruflichen Gründen nach Westberlin gekommen. Sie begann damals bald, sich mit Judentum sowie dem Staat Israel intensiv auseinander zu setzen.143 Außerdem lernte sie in ihrem unmittelbaren Wohnumfeld mehrere Juden näher kennen und besuchte auch die nahegelegene altliberale Synagoge Pestalozzistraße, der sie nach ihrem Übertritt lange verbunden blieb. Die rabbinische Unterweisung vor dem Übertritt verlief für sie ohne Probleme: „bin gleich aufgenommen worden.“ (P8/9) In der Gemeinde war sie zunächst im Studentenbund später auch in der Jugend- und Altenarbeit aktiv. Erst Ende der 90er Jahre kam sie über frühere Bekannte aus der Gemeinde zum Egalitären Minjan. Der Betkreis sagt der bekennenden ,Praktikerin‘ auf Grund der Möglichkeiten zur aktiven Teilnahme am Ritus besonders zu. Außerdem schätzt sie an ihm die tolerante Einstellung gegenüber Konvertiten wie auch gegenüber Homosexuellen. 143 Viele Jahre später ging sie für einige Monate nach Israel und lernte dort Hebräisch.
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P 18: Die bereits im Revitalisierungs-Kapitel als überzeugte Metropolenbewohnerin angeführte, New-York-stämmige Journalistin und Sozialwissenschaftlerin bekennt an erster Stelle und als Schlüsselmotiv ihrer Berliner Existenz: „Ich wollte in einer Gemeinde [...] sein, wo es die Möglichkeit [gibt], ohne zu kämpfen, einfach sich selber auszuprobieren.“ (P18/23)144 Solche Bedingungen sieht sie hierzulande noch am ehesten in Berlin bestehen. Retrospektiv stellt P 18 im Vergleich ihrer Berliner zu ihrer New Yorker Existenz fest, dass ihr hier das „jüdische Rundherum“ (P18/22)145 viel wichtiger sei, als innerhalb der weltweit größten jüdischen Diaspora-Gemeinschaft: „[...] als ich nach Berlin gekommen bin, wollte ich mich sofort zu Hause fühlen“ (P18/10) bzw.: „Ich wollte ein jüdisches Zuhause haben.“ (P18/21) Für ihr Bedürfnis nach innerjüdischer Zugehörigkeit in Berlin macht sie zwei in ihrer hiesigen Lage begründete Ursachen aus: die „Schock“-Erfahrung des historisch bedingten spezifischen jüdischen Minderheitsstatus im heutigen Deutschland146, sowie ihr Interesse, diese Situation nicht nur von außen beobachten zu wollen, sondern tatsächlich mitzuerleben. Sehr anschaulich schildert die Wahlberlinerin ihre ersten erfolgreichen Bemühungen, im jüdischen Berlin ihre „Nische zu finden“ (P18/10), wie sie es bezeichnet. So ging sie Ende der 90er Jahre in einen erstmalig von dem Egalitären Minjan ausgerichteten Neujahrsgottesdienst im Gemeindehaus in der Fasanenstraße147, ohne damals zu wissen, dass sie der Gruppe mehrere Jahre als regelmäßige Besucherin verbunden bleiben würde. Dabei betont sie die positive Eigenerfahrung der für Interessierte Nicht- oder Nochnichtmitglieder sehr offenen Gruppe: „Ja, also manche sind nur Besucher. [...] niemand konnte wissen, dass ich nur ein Besucher war, [...], also ich habe auch nicht gewusst, dass ich so lange bleibe.“ – „Es war ein bisschen lockerer“. (P18/15) Über Leute, die sie dort kennen lernte, gelangte auch sie zu kulturjüdischen Initiativen, darunter zunächst zu der international geprägten jüdischen Gruppe Gesher, in der sie auf Englisch diskutieren konnte, was ihr den weiteren Zugang ins jüdische Berlin erleichterte. Zum Gesprächszeitpunkt ist sie bei der ebenfalls als nach Herkommen international geprägten Kulturgruppe Meshulash aktiv. Den Betkreis besucht sie daher heute nur noch selten, „weil ich habe andere Sachen entdeckt inzwischen, aber ich fühle mich da wirklich zu Hause.“ (P18/11) 144 Auf die hinter dem Schlüsselbegriff ,kämpfen‘ stehenden interkulturellen Unterschiedserfahrung von P 18 zwischen dem vielfältigen jüdischem Leben in den USA und dem im Vergleich hierzu sehr ein- und beschränkenden in Deutschland sowie ihren vor dem Hintergrund ihrer hiesigen Erfahrungen relativ positiven Eindrücke in Berlin wird unten in Kap. III.2.2.1. noch ausführlicher eingegangen. 145 In ihrer Wiederholung dieser Aussage während des Gesprächs benutzt die Interviewpartnerin das englische Wort ,Environment‘. 146 Vgl. hierzu ihre o. in Kap. III.1.2.2., S. 225 näher angeführte Warm-/KaltMetaphorik. 147 Wie im Berliner Einführungs-Kap. II.2.3.1., S. 142 näher ausgeführt, hat der egalitären Betkreis längst seinen festen Platz unter dem Gemeindedach in der Synagoge Oranienburger Straße gefunden.
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(2) Berlin als lebendiger jüdischer Geschichtsraum P 3: Die in den letzten Abschnitten bereits mehrfach angeführte Wahlberlinerin äußert als das zentrale, auf einer grundsätzlicheren Ebene als ihr innerjüdisches Engagement angesiedelte Motiv ihrer persönlichen Berlinbezüge: „Von Berlin geht Lehre aus“. (P3/31) Der Schlüsselsatz – ihre bewusste Variation eines auf Zion gemünzten Ausspruch Jesajas – meint von ihr persönlich wahrgenommene positive Impulse aus der jüdischen Vergangenheit der Metropole, die etwa hinsichtlich der gegenwärtigen Ausweitung religiöser Vielfalt im jüdischen Berlin wirksam seien. Im Einzelnen benennt sie das „Reformjudentum“, die „Neoorthodoxie“, der „Zionismus und die Wissenschaft vom Judentum“. (Ebd.)148 Einen weiteren Aspekt des historisch bedingten Bezugs zum jüdischen Berlin bedeutet der aus Westdeutschland stammenden Wahlberlinerin die Rolle der ehemaligen Reichhauptstadt in der NS-Zeit als „rebellische Stadt“ (ebd.), da es hier, wie nirgends sonst, auf Grund des Eintretens der in Mischehen verheirateten Nichtjuden für ihre jüdischen Ehepartner wie auch durch das Verstecken jüdischer ,U-Boote‘ gelang, mehreren tausend Juden das Leben zu retten.149 Schließlich erwähnt die Wahlberlinerin noch historisch begründete persönliche Motive einiger ihr bekannter Juden besonders aus der westlichen Hemisphäre, wegen denen dieser Personenkreis gezielt in die deutsche Metropole gekommen ist: „Ich denke es [Berlin; A. J.] zieht viele Amerikaner, vor allem auch Israelis [an] [...], die hier so ein bisschen Tabu brechen wollen, also quasi in das Auge des Sturms gehen.“ (P3/30) Außerdem würden einige hierher kommen, die sich in Berlin auf die Spurensuche ihrer Familiengeschichte begäben: „Die Israelis kommen, um hier [...] zu suchen ihre familiären Wurzeln. Zu fragen, wo die Eltern herkamen; zu fragen, wo die Großeltern herkamen.“ (P3/31)150
Zwischenbilanz Im Themenfeld jüdischer Berlinbezüge benennt nur eine kleine Gruppe Ortsspezifika in diesem Bereich als ausgesprochene Ursache ihres innerjüdischen Enga148 Ganz ähnlich zu P 3 hatte sich über den einzigartigen jüdisch-religiösen Geschichtsraum Berlin im Übrigen auch der 2003 nach kurzer Amtszeit in Berlin verstorbene liberale Rabbiner Ady Assabi in einem Interview geäußert. Vgl. das von ihm stammende Motto des III. Teils der Studie, S. 180. – Vgl. zu den entscheidenden Impulsen für die genannten Strömungen aus dem Berlin des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert das historische Einführungs-Kap. II.1.1.1., S. 80 f. u. II.2, S. 127. 149 Vgl. hierzu die beiden historischen Einführungs-Kap. II.1.1.2. sowie II.2.1.1. – Im Fall der nicht-jüdischen sog. ,Mischehler‘ spielt die interviewte Person offensichtlich auf deren mutige und erfolgreiche Demonstration im Frühjahr 1943 in der Berliner Rosenstraße an, die zur Freilassung deren jüdischer Ehepartner führte. Diese Demonstration in der ,Rosenstraße‘ ist einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland erst durch den gleichnamigen Film von M. v. Trotta, der im Jahr 2003 in die Kinos kam, ins Bewusstsein gerückt. 150 Diese Äußerung korrespondiert mit Äußerungen von P 15 über entsprechende Dienstleistungen ihres innerjüdischen Netz-Angebots ,Milch und Honig‘; vgl. in der Einzelfallstudie über diese Einrichtung in Kap. IV.8.3., S. 535.
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gements. Auffallend ist über die großen Unterschiede zwischen ihren Karrieren im jüdischen Berlin hinweg, dass sie alle dem nichtorthodoxen Judentum verbunden sind. Dies liegt allerdings hauptsächlich an der Forschungsperspektive, die insbesondere an einer Erhebung unter an der Peripherie oder außerhalb der JGB angesiedelten, im weitesten Sinne außerreligiös-kulturellen Aktivitäten Engagierten interessiert ist. Jenseits dieser Perspektive ließen sich entsprechend ebenfalls kleine Gruppen von außerhalb gezielt nach Berlin gekommenen streng orthodoxen Besuchern der in den letzten Jahren entstandenen religiösen Lernangebote von Chabad sowie von Lauder finden, die auch auf Grund dieser deutschlandweit heute noch ziemlich einmaligen Angebote nach Berlin gekommen sind.151 Auch wenn es sich in beiden Fällen nur um eine sehr geringe Zahlen handeln dürfte, ist es eine bemerkenswerte Tatsache, dass es seit längerem Personen gibt, die sich auf Grund der innerjüdischen Vielfalt vor Ort gerade hier jüdisch vergemeinschaften und engagieren. Schließlich war vor der deutschen Vereinigung die Berliner Einheitsgemeinde in dieser Hinsicht noch die einzige ,Anlaufstelle‘ im Reigen der hiesigen Städte mit jüdischen Gemeinden. (s. o. P 3) Inwieweit die in den letzten Jahren über Berlin hinaus zu beobachtende religiöse Pluralisierung religiös engagierte Juden in vergleichbarer Weise in bestimmte andere Städte in Deutschland ziehen wird, bleibt abzuwarten. Aber auch über den Bereich religiöse Pluralität hinaus ergeben sich für die sich hier äußernde Teilgruppe auf Grund der ortsspezifischen Vielfalt im jüdischen Berlin offensichtlich günstige Ausgangspunkte für ihre eigenen innerjüdischen Ambitionen. Schließlich gehören sowohl P 3, P 8 und P 18 zu dem besonders aktivistischen Kern der Community außerhalb der Gemeinde. Für alle drei lässt sich dabei erhebungsauswahlspezifisch feststellen, dass es ihnen offenbar verhältnismäßig leicht gefallen ist, im jüdischen Berlin anzudocken bzw. sich mit ihrem Engagement einzubringen. So bezeugen bereits die hier angeführten biographischen Verläufe unisono, dass sie wohl nirgends sonst in Deutschland die Möglichkeit gehabt hätten, vergleichbar ihre innerjüdische Vergemeinschaftung zu realisieren wie die von ihnen im jüdischen Berlin gewählten und/oder gefundenen. Damit stehen sie allerdings für weitere aus dem Erhebungskreis, die zwar nicht explizit als conditio sine qua non aus diesen jüdischen Pluralitäts- und Vielfaltsgründen nach Berlin gekommen sind (und daher auch nicht in diesem Abschnitt aufgeführt sind), mittlerweile aber in solchen jüdischen Aktivitäten maßgeblich beteiligt sind, die genau diese Vielfalt repräsentieren. Zu denken ist an die aus ebenfalls aus anderen Regionen Deutschlands nach Berlin gezogene P 9 II (Homosexuellengruppe), P 15 (Internetanbieter), P 23 (Journalismus) oder an die im westlichen Ausland geborene und aufgewachsene P 9 I (Homosexuellengruppe) und die aus Israel stammenden P 4 (Sephardischer Minjan) sowie P 17 (Israelischer Stammtisch). 151 Vgl. hierzu den übernächsten Abschnitt zu religiösen Aspekten der Berliner Einheitsgemeinde Kap. III.2.1.
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2.2. Besonderheiten der jüdischen Gemeinde in Berlin In der Studie wurde aus eingangs dargelegten Gründen bewusst auf eine Untersuchung der jüdischen Gemeinde verzichtet und der Schwerpunkt demgegenüber vielmehr auf Aktivitäten am Rande und außerhalb der Gemeinde gelegt. Entsprechendes lässt sich über die Erhebungsauswahl sagen. Die Beziehung der untersuchten Gruppenaktivitäten zur Gemeinde stellt im vierten Teil der Studie einen eigenen Strang der Analyse der Gruppenaktivitäten dar. Außerdem wird dieses Verhältnis unter dem Einzelgesichtspunkt im Antisemitismus-Kap. III.2.2. nochmals gesondert behandelt. Im vorliegenden Abschnitt werden demgegenüber aus der speziellen Sicht von der an der Peripherie oder außerhalb der Berliner Gemeinde stehenden Erhebungsauswahl zwei Aspekte behandelt: Einerseits soll es zunächst um den besonderen Charakter der JGB als religiös plurale Einheitsgemeinde (im folgenden EG) gehen. Anschließend wird die Zuwanderungsthematik der aus der ehemaligen SU und den GUS-Staaten nach Berlin kommenden Juden unter Gemeindegesichtspunkten thematisiert. Der Fokus ist auch bei diesen beiden Themenblöcken auf bestimmte signifikante Unterschiede zwischen der örtlichen Gemeindesituation und den jüdischen Gemeinden andernorts in Deutschland gerichtet.
2.2.1. Die JGB als religiöse Einheitsgemeinde (P 1, P 3, P 8, P 18) Wie bereits mehrfach angesprochen, besteht eine berlinspezifische Besonderheit im Maßstab der gesamten heutigen jüdischen Diaspora in Deutschland darin, dass hier mit der Berliner Gemeinde seit den Anfängen vor über 60 Jahren wieder eine religiös ausdifferenzierte EG funktionier. So wurde im Einführungsteil der Studie erwähnt, dass auf Grund der religiösen Pluralisierungen nach 1990 alle wichtigen religiösen Strömungen im jüdischen Berlin mit eigenen Synagogen oder Betkreisen innerhalb der Gemeinde präsent sind.152 Diese besitzt nicht nur nach Zahl ihrer Mitglieder sondern auch nach religiösen und anderen Angeboten heutige ihre größte Ausdehnung seit ihrer Neugründung 1945. Demgegenüber herrscht, wie ebenfalls eingangs ausgeführt, andernorts in den Gemeinden hierzulande aus historischen Gründen seit damals bis heute überwiegend eine orthodoxe Ausrichtung vor. Erst in der letzten Dekade entstanden neben den angestammten überwiegend orthodoxen eigenständige liberale Gemeinden wie etwa in München oder in Hannover, oder es bildeten sich neue Gemeinden mit reformjüdischer Ausrichtung als neuerstandene Orte jüdischen Lebens in Deutschland wie etwa einige kleinere Gemeinden in Schleswig Holstein. Zur Berliner EG äußerte sich nur eine kleine, über Berlin hinaus in der hiesigen Gemeindesituation gut informierte Teilgruppe, dabei allerdings recht prononciert. Die seit Jahren anhaltenden heftigen Auseinandersetzungen auf der Sei152 Vgl. hierzu ausführlich im ersten Teil der Studie den Abschnitt zur örtlichen Themeneingrenzung auf Berlin Kap. I.1. sowie im Berliner Einführungs-Teil die Kap. II.2.2.3. sowie II.2.3.1.
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te der Repräsentanz der Berliner Gemeinde, stehen in den folgenden Äußerungen nicht im Mittelpunkt der Reflexionen zur Berliner EG., auch wenn diese Konflikte insbesondere für die in die Zukunft der JGB gerichteten folgenden Statements eine negative gegenwartsbezogenen Hintergrundsfolie darstellen.153 Vielmehr ist ihr Blick überwiegend ,von unten‘ auf die lebensweltlich alltägliche Ebene und auf deren ortsspezifische Eigenheiten und Probleme gerichtet. Die Gliederung der Aussagen erfolgt von positiveren über kritischere Urteile bis zu angedachten strukturellen Veränderungsoptionen der JGB. (1) Stärken der Berliner EG P 1: Die maßgeblich im Jüdischen Kulturverein (JKV) Engagierte hatte mit diesem in den letzten Jahren erfolgreich den Wandel aus dem Dissidentenstatus zu eine eher juniorpartnerschaftliche „losen Kooperation“ (P1/28) mit der Berliner Gemeinde vollzogen, wie in der Einzelfallstudie über den JKV näher ausgeführt wird (vgl. IV.2.6.). Sie zeigt sich vor diesen Erfahrungshintergründen als Anhängerin des EG-Konzeptes. In Berlin nimmt sie auch über ihre eigene Gruppe hinaus eine insgesamt kooperative Haltung der JGB gegenüber verschiedenen jüdischen Richtungen und Initiativen wahr.154 So sieht die religiös eher konservativ bis orthodox Orientierte den in unmittelbarer Nähe zu ihrem Verein in der Synagoge Oranienburger Straße angesiedelten Egalitären Minjan als ein Beispiel für die seit der Ära des Gemeindevorsitzenden A. Nachama in der zweiten Hälfte der 90er Jahre erfolgreich praktizierte Öffnung und Pluralisierung jüdisches Lebens unter dem Berliner Gemeindedach. Für die Beziehung der verschiedenen Strömungen am Rande und innerhalb der Berliner EG dieser gegenüber stellt sie insgesamt positiv bilanzierend fest: „[...] hier in Berlin läuft das ja alles, weil die Gemeinde sehr stabil ist.“ (P1/11) Eingeschlossen ist in dieses Urteil die ebenfalls unter Nachama erreichte Annäherung zwischen der Berliner Gemeinde und dem von ihr in der Erhebungsauswahl repräsentierten jüdischen Kulturverein.155 Diese positive Grundeinschätzung der EG kontrastiert die Ostberlinerin mit ihren eigenen Erfahrungen sowie mit Erfahrungsberichten, die sie über die regen Kontakte des JKV mit jüdischen Gemeinden und Initiativen an anderen Orten in Deutschland sammeln konnte: So nimmt sie mancherorts die Gemeindesituation als weitaus konfliktträchtiger wahr als in der Berliner EG: „[...] wo dann diese kleinen jüdischen Clubs, diese sogenannten liberalen Gemeinden oder auch nur Zusammenschlüsse, wo die rausgebissen werden [Hervorhebung: A. J.] aus allem [i. S. von: aus allen Gemeindestrukturen; A. J.]“. (Ebd.) Die mangelnde Unterstützung der Gemeinden gegenüber solchen religiösen Basis-Initiativen führt sie am Beispiel der früheren Auseinadersetzung zwischen der etablierten Kölner
153 Vgl. hierzu näher das historische Berliner Einführungs-Kap. II.2.1.4. 154 Die sie persönlich ja nur im Fall religiöser Inhalte als jüdisch definiert .Vgl. hierzu oben das Revitalisierungs-Kap. III.1.2.1., S. 207. 155 Vgl. die genauere Schilderung dieser Vorgänge in der Einzelfallstudie zum JKV in Kap. IV.2.5.2., S. 463 f.
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Gemeinde und der dortigen liberal-religiösen Vereinigung, die mittlerweile eine eigenständige Gemeinde gebildet hat, aus: „[...] und am Ende [...] sitzen da 20, 30 [...], und ich weiß nicht wie viele von denen wieder auch Mitglieder der großen Gemeinde sind, aber es gibt keine Förderung, keine Unterstützung, keine Akzeptanz.“ (Ebd.) Anerkennend bezeichnet sie solche religiöse Initiativen „als jüdisches Leben [...]. [...], diese Versuche, sich innerhalb der jüdischen Tradition zu organisieren.“ (Ebd.) Auf diese bezogen lautet Ihr zentrales Credo in Frageform: „[...] also meine Frage ist immer, was bringt das für das Judentum!“ (Ebd.) Religiöse Vielfalt unter einem Gemeindedach wie in der Berliner EG und die Fähigkeit, damit aktuell Juden an ihre Tradition zu binden, nimmt sie daher allen Problemen zum Trotz als Stärkung hiesiger jüdischer Existenz wahr. P 3: Auf Grund ihres Engagements für die neueren liberal-religiösen Bestrebungen in Berlin und andernorts in Deutschland verwundert es nicht, dass P 3 über die im Bereich persönlicher Berlinbezüge angeführten jüdischen Vielfaltsaspekte (vgl. oben Kap. III.2.1.3.) hinaus die sehr spezifischen Ausdifferenzierungen der letzten Jahre unter dem Dach der JGB ebenfalls aufmerksam wahrnimmt. Dabei bewertet die ehemals im Bildungswesen der Berliner Gemeinde Aktive aus ihrer religiös liberalen Orientierung heraus die für die JGB typische pluralistisch ausgeprägte Gemeindestruktur eindeutig positiv: „Die Einheitsgemeinde Berlin bedient auch liberale Bedürfnisse, zumindest versucht sie es“. (P3/7) Diesem unter dem ehemaligen Gemeindevorsitzenden A. Nachama eingeleiteten Kurs bescheinigt sie für die letzen Jahre ein hohes Maß an Integrationsfähigkeit gegenüber den anderen religiösen Strömungen sowie über den religiösen Kernbereich hinaus: „Und die Berliner Gemeinde ist geschickt genug gewesen, möglichst viele Randphänomene einzubinden.“ (P3/15) Wie aus dem gesamten Gespräch mit P 8 hervorgeht, steht sie diesem generell integrativen Kurs der Gemeinde an sich aufgeschlossen gegenüber. Als Positivbeispiele der Integrationsfähigkeit der Berliner Gemeinde werden von der ehemals in deren Bildungsbereich Aktiven die Beilegung des Konflikts der Berliner EG mit dem „DDR-nostalgischen“ (ebd.) Jüdischen Kulturverein sowie die Einbindung des ihrer Meinung nach in seinen Anfängen durchaus feministisch geprägten Egalitären Minjans in die JGB-Struktur (ebd.) besonders hervorgehoben.156 Aber auch über den religiösen Kernbereich hinaus vermerkt sie auch aus ihrer Zeit Ende der 90er Jahre bei der jüdischen Kulturgruppe Gesher positiv, dass sie ihre Kontakte in die Gemeinde hinein nutzen konnte, damit der Gruppe ,die Türen der Gemeinde offen standen‘, aber auch von dieser finanzielle Unterstützung gewährt wurde. (P3/4),wie bereits oben in Kap. III.2.1.3. ausgeführt. Ihren Positivbefund der religiösen wie kulturellen Integrationsfähigkeit der JGB bringt P 3 auf eine griffige Formel und stellt sie zugleich der Situa156 Zum Verhältnis des Jüdischen Kulturvereins zur JGB vgl. in der Einzelfallstudie des JKV das Kap. IV.2.5., und zum Egalitären Minjan VGL. im Berliner Einführungs-Kap. II.2.2.3., S. 141 f.
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tion in einigen anderen größeren Gemeinden in Deutschland gegenüber: „[...] der Rand bricht nicht [ab, Hervorhebung: A. J.] wie in vielen andren Gemeinden, wie in München oder Köln oder vielleicht Düsseldorf, [...] weil sich Schwule und Lesben oder säkulare Juden und Akademiker oder Feministinnen [...] nicht wiederfinden, sondern versucht, sie einzubinden“. (Ebd.)157 Allerdings liegen bei der langjährig im Bildungsbereich der JGB Engagierten Wohl und Wehe der spezifischen Berliner Situation der EG sehr nah beieinander, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird. (2) Probleme der Berliner EG sowie Perspektiven einer Gemeindereform P 3: In ihren Reflexionen über die Berliner EG bezieht die Wahlberlinerin über die Zunahme religiöser Vielfalt innerhalb der Gemeinde hinaus auch die ebenfalls in den letzten Jahren expandierende außerhalb der JGB mit ein. Für diese neueren religiösen Entwicklungen benennt sie exemplarisch einige ganz unterschiedliche Beispiele158: So erwähnt sie als erstes die weltweit tätige religiös konservative Masorti-Bewegung, für die in den letzten Jahren die Rabbinerin Gesa Ederberg dabei ist, in Berlin ein Bildungszentrum aufzubauen. (P3/20) Als weiteres Beispiel führt sie die 2001 erstmals in Berlin stattfindende ,DeborahKonferenz europäischer Rabbinerinnen‘ an (P3/26) Aber auch im Bereich der Orthodoxie benennt sie entsprechende Beispiele: So käme eine immer größere Zahl junger orthodoxer Leute zu religiösen Studien in die neu erstandenen orthodoxen Lehrhäuser nach Berlin. (Ebd.)159 Damit kann als ihre Bilanz der gegenwärtigen Entwicklung auf der gemeindeintern wie auch außerhalb sich ausdifferenzierende Ebene jüdisch-religiösen Lebens insgesamt festgehalten werden: „Die etablierte Vielfalt wird größer oder das Bedürfnis, tatsächlich nach außen hin [...] sichtbar aufzutreten.“ (P3/20) Die weitere Entwicklungsrichtung in der JGB wie im jüdischen Berlin insgesamt ist für P 3 eindeutig: „Ich denke, dass immer mehr religiöse Strömungen hier in sich gestärkt werden“ (ebd.), eine Entwicklungsrichtung, die sie nach ihren o. g. Äußerungen zur EG insgesamt bejaht. a) Problemseite: Dennoch sieht P 3 damit aber auch mittelfristig einige Schwierigkeiten auf JGB als lebendige EG zukommen: Die Bedenken richten sich insbesondere gegen die beiden genannten streng orthodoxen Organisationen, die mit ihren religiösen Angeboten junge Lernwillige nach Berlin ,köderten‘ und mit der 157 Diese Aussage korrespondiert sehrt eng mit den Äußerungen der bei der jüdischen Homosexuellengruppe Yachad Aktiven zu der Rolle der Ära des Gemeindevorsitzenden A. Nachama, gemeindeperiphere Individuen und Gruppen zu integrieren; vgl. in der Einzelfallstudie zu Yachad das Kap. IV.6.4., S. 517 ff. sowie auch P 1 ähnlich zur Bedeutung der Ära Nachama für den Kulturverein, s. o. unter (1). 158 Alle genannten Beispiele werden im Kap. II.2.3.1. zu gegenwärtigen religiösen Aktivitäten außerhalb der JGB ausführlicher vorgestellt. 159 Gemeint sind damit vor allem das Tora-Zentrum von Chabad in der Ballenstedter bzw. Münsterschen Straße in der Nähe des Kurfürstendamms sowie das Lehrhaus der Lauder-Foundation in der Rykestraße im östlichen Stadtbezirk Prenzlauer Berg.
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Ausweitung ihrer Bildungsaktivitäten Richtung Gemeinde damit gegenüber deren Angeboten insgesamt eine Konkurrenz darstellten. Chabad wiederum würde mit seinen zunehmenden Aktivitäten innerhalb der Gemeinde sowie im Gemeindeumfeld gegenüber dem liberalen oder nichtreligiösen Nachwuchs gemeindeintern desintegrativ wirken.160 Bei aller persönlichen Sympathie für den von der Gemeinde als Jugendrabbiner angestellten Chabad-Rabbiner Jehuda Teichtal, hält die stark in religiös liberal orientierten Zusammenhängen Engagierte dessen Beschäftigung durch die JGB daher für problematisch. (P3/22) Sie äußert sogar die Befürchtung, dass aus diesem Spektrum ohne Rücksichtnahme auf die Strukturen der EG „vielleicht einige aggressive Kräfte eine eigene Synagoge in Berlin haben wollen“. (P3/20) Aber auch zwischen den anderen religiösen Richtungen unter dem Gemeindedach macht die ehemalige JGB-Bildungsreferentin eine der Berliner EG gegenüber desintegrative Entwicklung aus. Am Beispiel zweier liberaler Synagogen verdeutlicht sie dies: So wäre die in ihrem altliberalen Ritus verharrende Synagoge Pestalozzistraße etwa wenig attraktiv für Jüngere wie andererseits der hochmotivierte Egalitäre Minjan für die überwiegend sehr säkular geprägten Zuwanderer aus den GUS-Staaten ebenso wenig Anziehungskraft besäße. Diese hätten vielmehr unmittelbar benachbarten Kulturzentrum Hatikva wiederum ihr „eigenes Haus“. (P3/19) 161 Insgesamt nimmt sie daher ein mit der zunehmenden Vielfalt unter dem Dach der Berliner Gemeinde einhergehendes innerjüdisches „Nebeneinanderher“ (ebd.) als ein berlinspezifisches Problem der EG wahr. Die Wahlberlinerin diagnostiziert dabei auf der strukturellen Ebene einige grundsätzliche Unterschiede zwischen der Situation in der JGB zu derjenigen in kleineren, insbesondere mittelgroßen Gemeinden. So würde in der Berliner EG im Unterschied zu den meisten anderen jüdischen Gemeinden in Deutschland die religiöse und die politische Gemeinde auseinanderfallen. Demgegenüber wäre es andernorts überwiegend so, dass „die meisten Gemeinden eine Synagoge haben, also eigentlich politische Gemeinde und religiöse Gemeinde deckungsgleich sind.“ – „Wer sich engagiert, wird sich in beiden Kreisen engagieren.“ (P3/25) Das ortsspezifische Auseinanderfallen zwischen politischer und religiöser Gemeinde in der JGB brächte nach Ansicht der kritischen EG-Anhängerin damit zwei strukturelle Eigenheiten hervor:
160 CHABAD ist als weltweit expandierende streng orthodoxe Organisation außerhalb Gemeinde in Berlin seit 1996 mit ihrem auch für die Gemeinde tätigen Jugendrabbiner präsent und expandiert in den letzten Jahren hier weiter sehr stark u. a. mit einem religiösen Lehrhaus (s. o.), aber auch mit einem Kindergarten, einem Bildungs- und Familienzentrum und mit einer eigenen Grundschule; vgl. hierzu ebenfalls das Berliner Einführungs-Kap. II.2.3.1., S. 152 f. 161 Vgl. zu dieser ,russischen‘ Separierung das folgende Kap. III.2.2.2. sowie zu dem von der ZWSt betriebenen Kulturzentrum das Berliner Einführungs-Kap. II.2.2.2., S. 139.
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Zum einen bestehe als vorherrschendes Strukturmerkmal der JGB trotz formaler Existenz der EG die „Ungleichzeitigkeiten“ (ebd.) in der Entwicklung zwischen den unterschiedlichen Synagogengemeinschaften ohne deren direkten Austausch auf der Ebene der Repräsentanz. Zum anderen entwickle sich in der JGB eine Dichotomie zwischen diesen Betergemeinschaften mit ihren jeweiligen Rabbinern auf der einen und den Gemeindefunktionären auf der anderen Seite, die häufig ohne inneren Bezug zu diesen religiösen Betkreisen die Gemeindepolitik betrieben. Der Tendenz nach würden die weitgehend separierten religiös Engagierten mit dem Gros der Vertreter der gemeindepolitischen Ebenen der JGB „keine Schnittmengen“ (ebd.) mehr besitzen, bilanziert sie den Dualismus zwischen politischer und religiöser Gemeinde für Berlin kritisch.162
Diese elementaren Probleme macht die Wahlberlinerin an Hand des Beispiels des Konflikts zwischen der JGB-Leitung und dem ehemaligen liberalen Gemeinderabbiner W. Rothschild im Jahr 2002 deutlich163 mit dem Folgeproblem der damit verbundenen Vakanz von Rabbinerstellen in der JGB.164 So sieht P 3 als strukturellen Hintergrund der Auseinandersetzungen die oben geschilderte Dichotomie der politischen und religiösen Gemeinde. Demnach hätten über den Rabbiner „die Leute befunden [...] in der Funktionärsebene, die sich seltenst in die Synagoge verlieren, weil sie eben keine Beter sind.“ (Ebd.) Für das VakanzProblem bedeute dies, dass Kandidaten „schon vor Jahren abgewiesen wurden, die eigentlich es wert gewesen wären, [...] sie zu beschäftigen als zweiter [...] liberaler Rabbiner oder als Jugendrabbiner oder fürs Altersheim.“ (P3/22)165 Das allgemeine Wissen darum würde es weiter erschweren, im Ausland unter Rabbinern das Interesse für eine Bewerbung in der Gemeinde um eine Stelle zu erhöhen. Im Gegenteil, so weiß sie durch ihre internationalen Kontakte im liberalen Judentum: „Berlin ist ein zu heißes oder schwieriges Pflaster für viele, um guten Gewissens hierher zu kommen.“ (P3/23) Die Folge dieser Entwicklung wäre ohne strukturellen Wandel für das jüdische Berlin und die JGB, als immerhin die mit Abstand größte Gemeinde Deutschlands, fatal: „(…) irgendwann kommt hier nur noch die [...] zweite Wahl, in Anführungszeichen, die sich verfügbar macht. Was Berlin nicht verdient hätte.“ (Ebd.) Perspektiven einer Gemeindereform: Als Konsequenz der von ihr benannten Spezifika der Berliner EG (religiöse Vielfalt, wenig Schnittmengen zwischen den 162 Ähnlich hatte sich auch die westdeutsch-stämmige Journalistin (P 23)geäußert. 163 Zum auch von persönlichen Animositäten nicht freien Konflikt zwischen dem nach wie vor in der Berliner Gemeinde aktiven sowie in Berlin mit Familie wohnenden Rabbiner und der JGB vgl. das Berliner Einführungs-Kap. II.2.2.3., S. 143 f. 164 So die im Egalitären Minjan Aktive P 8 (s. u.), die Journalistin (P23/22) sowie die Internet-Anbieterin (P 15:1/14). 165 Nach einer zwischenzeitlichen Berufung des bereits 2003 verstorbene liberalen Rabbiners A. Assabi besteht die Vakanz-Problematik von Neuem.
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einzelnen Betgemeinschaften untereinander und den Leitungsgremien der Gemeinde) fordert P 3 einen bewussten Angleich der JGB auf der strukturellen Ebene an die Alltagsrealität: „(…) die Gemeinde müsste begreifen, dass sie tatsächlich schon seit langem nichts mehr ist als ein Dienstleister, soll heißen, es wird wahrscheinlich eine Vielfalt von unabhängigen Synagogengemeinden geben“. (P3/20) Für diese unterschiedlichen Einzelbetgemeinschaften, bzw. für alle Mitglieder, wäre die Gemeinde damit zugleich nur noch ein übergreifend nach außen repräsentatives Dach wie für Außenstehende eine zentrale Anlaufstation. Demnach wäre es in diesem Strukturmodell „gut, wenn die Einheitsgemeinde überkonfessionell sein könnte, was alles Nichtreligiöse betrifft und dann religiöse Bereiche den verschiedenen Strömungen [...] überlässt.“ (P3/21) Im Zuge eines solcherart reformierten Gemeindegefüges bliebe die JGB damit in ihren internen wie externen Aufgaben klar auf den weltlichen Bereich begrenzt: „Die jüdische Gemeinde wird dann als Dachverband mehr oder weniger soziale Bedürfnisse erfüllen. Sozialabteilung, Altersheim, die Schulen, Kindergärten, auch vielleicht ein kulturelles Angebot schaffen [...]. Aber ja schon mehr politisch vielleicht oder sozial sich begreifen müssen“. (Ebd.) P 8: Auch die im Egalitären Minjan Engagierte sieht trotz der von ihr durchaus wahrgenommenen Vorzüge der Berliner EG aktuell schwerwiegendere Probleme und entsprechenden Handlungsbedarf. Problemseite: Wie auch P 3 erwähnt die im Egalitären Minjan Engagierte das gerade für diesen Betkreis akute langwierige Problem der Nichtbesetzung der zweiten liberalen Rabbiner-Stelle durch die JGB. Zwar sieht sie in dem 2002 eröffneten Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam als erstes liberales Rabbinerseminar in Deutschland überhaupt eine große Chance für die Ausbildung von motivierten liberalen Rabbinern mit dem positiven Effekt, dass (auch über Berlin hinaus) nicht wie bisher immer wieder Versuche vorherrschen „konservative Rabbiner zu kriegen oder pseudoliberale“. (P8/50)166 Ähnlich zu P 3 bemängelt sie den geringen Einfluss der direktdemokratischen Betkreise. Außerdem sei es angesichts der bestehenden Gemeindestrukturen „schade, dass ein Rabbiner so einen geringen Stellenwert hat“. (P8/28) Perspektiven einer Gemeindereform: Ungeachtet der Chancen durch die in Deutschland nun mögliche liberale Rabbinerausbildung fordert sie jedoch eine zeitgemäße umfassende Reform der Berliner RG ein, die über die Reformvorschläge von P 8 noch weit hinausweist: Demnach hätte in Berlin in der Aufbauphase nach 1945 die EG ihren Sinn durchaus noch erfüllt, „[...] man war froh, wenn man zusammen war [...]“ – „einen Rabbiner da zu haben und einen Kantor und [...] dass man eben zusammen erst mal was aufbauen konnte.“ (P8/51) Diese notgeborene Situation des Zusammenrückens sei heute überholt. Heute sei man als religiös aktive JGB-Mitglieder demgegenüber „in seinem festen Synagogen166 Zum Abraham-Geiger Kolleg vgl. Kap. II.1.4.4., S. 124.
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kreis und [...] man hat kaum Kontakt zu den anderen [Betkreisen; A. J.]“. (P8/27) P 8 bejaht vor dem Hintergrund der o. g. Probleme und der starken Ausdifferenzierung der verschiedenen Teile der JGB eine Neustrukturierung der Gemeinde jenseits der EG: „[...] ich plädiere nicht [...] für die Einheitsgemeinde, sondern möglichst für eine Vielfalt, damit sich nicht ein Jude herausnehmen kann, für alle Juden sprechen zu müssen oder zu dürfen oder zu wollen.“ (P8/51) P 18: Schließlich soll aus der bereits zuvor mehrfach angeführten interkulturellen Perspektive der US-stämmigen Journalistin ebenfalls deren Reflexionen über die Spezifika der Berliner EG angefügt werden. Allerdings erörtert sie in ihren vergleichenden Aussagen die Situation der jüdischen Gemeinschaften auf örtlicher Ebene New York – Berlin sowie auf gesamtstaatlicher Ebene USA – Deutschland insgesamt, so dass nicht immer die räumlichen Ebenen ihrer jeweiligen Vergleichsäußerungen unterscheidbar sind. Dennoch wird deutlich, dass sie die jüdischen Situationen beider Metropolen im jeweiligen nationalen Kontext für besonders aussagekräftig sieht: Dies gilt etwa in dem Sinne, dass sich die Entwicklungsfähigkeit jüdischer Existenz in beiden Gesellschaften in den je spezifischen Ausprägungsformen jüdischen Lebens in beiden Metropolen manifestieren würde. Als Hintergrund ihrer Interpretation erscheint P 18 offensichtlich die Tatsache, dass sich ebenso in New York wie andererseits auch in Berlin die mit Abstand vielfältigsten und größten jüdischen Diaspora-Gemeinschaften beider Länder befinden, unbenommen der extremen Unterschiede des jüdischen Lebens beider Metropolen. Innerhalb der jeweiligen westlichen Länder bzw. Gesellschaften sind den Erfahrungen der Wahlberlinerin nach dabei die Zusammenhänge zwischen quantitativen und qualitativen Parametern metropolitaner jüdischer Gemeinschaften die entscheidenden: „Ich meine, je größer die Gemeinde, desto vielfältiger die Identitäten.“ (P18/27)167 Im interkulturellen Vergleich stellt sich der Vielfaltsaspekt für die überzeugte Metropolenbewohnerin ganz unterschiedlich dar: Sieben in der rituellen Ausrichtung unterschiedliche Berliner Synagogen wäre für deutsche Verhältnisse enorm vielfältig. Demgegenüber gäbe es fast unbegrenzten Möglichkeiten religiöser Artikulation in New York illustriert sie mit einem ironisch überzogenen Beispiel: „[...] wenn man da auf dem Kopf stehen möchte, während des Gottesdienstes, gibt es bestimmt eine Synagoge, wo man das machen kann.“ (18/12) Zur weiteren Veranschaulichung wählt sie ein konkretes Beispiel, um an ihm das ,Gefälle‘ 167 Nur für den quantitativen Bereich sollen die aktuellen Unterschiede kurz angeführt werden: Die USA besitzen 5,7 Mio. jüdische Einwohner (2 % Bevölkerungsanteil). In New York leben 2003 über eine Million Juden (ca. 10 % Bevölkerungsanteil). – Zum Vergleich: In Deutschland leben über 100.000 Juden (0,13% Bevölkerungsanteil), davon in Berlin 12.000 (hinzu kommen ohne Gemeindemitgliedschaft geschätzt 25.000; 0,4 bis 0,8 % Bevölkerungsanteil). Alle undatierten Angaben beziehen sich auf 2002. Die Zahlen stammen von S. D. Pergola, zit. nach National Geographic 04.05, für Berlin nach Eva Eusterhus: „Jüdisches Leben in Berlin“, in: ebd.
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zwischen den unterschiedlichen Möglichkeiten in New York und Berlin, religiöse Vorstellungen innerjüdisch auszuleben, zu verdeutlichen: der Einsatz von Musikinstrumenten während des Synagogengottesdienstes.168 Demnach gäbe es ebenso „Leute in Berlin, die das wirklich wünschen, und die sollen auch die Möglichkeit haben zu erfüllen die Wünsche [...] und wäre es New York, [...] sie könnten so was finden.“ (P18/14) Offenbar möchte die Wahlberlinerin mit der Benennung dieses Beispiels unterstreichen, wie sehr ihr die Existenz religiöser Vielfalt jenseits ihrer eigenen religiösen Orientierung innerhalb jüdischer Gemeinschaften, an denen sie selbst partizipiert, am Herzen liegt, denn entsprechend ihrer religiös konservativen Orientierung lehnt sie persönlich diese rituelle Praxis ab: „[...] ich will lieber nicht eine Performance haben in der Synagoge.“ (Ebd.) Zwar möchte die journalistisch und wissenschaftlich im deutsch-jüdischen Feld Arbeitende nicht die jüdische Gemeinschaft im Vorkriegsberlin mit den einige Millionen umfassenden heutigen Juden in New York und Umgebung auf eine quantitativ vergleichbare Ebene stellen. Dennoch hält sie es für wichtig, darauf zu verweisen, dass die immerhin über zehnfach größere Berliner Vorkriegsgemeinde gegenüber der heutigen JGB damals ähnlich zu der jüdischen Gemeinschaft im New York der letzten Jahrzehnte im weltweiten Maßstab sehr fortschrittlich und innovativ gewesen sei: „Sie haben was geschaffen.“ (P18/15)169 Demgegenüber konstatiert sie, dass es innerhalb der gegenwärtigen jüdischen Gemeinde große Schwierigkeiten bereiten würde, religiöse wie kulturelle Vielfalt zu entwickeln. Vor dem Hintergrund ihrer hier ausgeführten Einschätzung des Zusammenhangs zwischen Größe und Vielfalt metropolitaner jüdischer Gemeinschaften spricht sie demnach von einer „Tragödie“ (P18/14), die der Verlust des überwiegenden Teils der Berliner Juden während der NS-Zeit auch noch für das gegenwärtige Berliner Judentum bedeute. Auf Grund ihrer vor Ort gesammelten Eindrücke sind P 18 mittlerweile die ihr anfangs als US-amerikanischen Jüdin völlig unverständlichen Verzagtheiten 168 Bis zur NS-Zeit waren in den mehrheitlich reform-jüdisch orientierten Einheitsgemeinden in Deutschland die Orgel und der Synagogalchor weit verbreitete Bestandteile größerer Synagogen. Auf Grund der Schoah und der späteren Dominanz der Orthodoxen in den Nachkriegsgemeinden Deutschlands starb diese Tradition fast gänzlich aus. Die Berliner Synagoge Pestalozzistraße bewahrt(e) unter ihrem berühmten und mittlerweile verstorbenen Oberkantor E. Nachama diese Vorkriegstradition bis in die Gegenwart; vgl. hierzu insbesondere im Berliner Einführungsteil das Kap. II.2.1.2., S. 132 mit Anm. 193. Der Einsatz weiterer Instrumente im Gottesdienst, wie er bspw. in Kirchen bei der Aufführung von Passionen, Requien und dergleichen üblich ist, war früher und ist auch heute in den Synagogen Berlins und des übrigen Deutschland unüblich, mit Ausnahme des Blasens des Schofars (Widderhorn) zu besonderen Anlässen. 169 Der in diesem Zusammenhang von mir eingeworfene Hinweis, dass die Metropole bis in NS-Zeit gleichermaßen ein bedeutsames Zentrum der Herausbildung des liberalen Judentums wie der jüdischen NEOORTHODOXIE gewesen sei, wird von P 18 ausdrücklich als Argumentationsstütze in ihrem Sinne bestätigt.
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unter denjenigen, die im gegenüber dem jüdischen Leben der Ostküstenmetropole überschaubaren jüdischen Berlin etwas Neues anpacken wollten, nachvollziehbarer geworden: „Die Frustration der Gemeinschaft verstehe ich jetzt, was ich nicht vorher verstehen konnte. Die Hindernisse sind nur [...] basiert auf der Tatsache, dass es nicht viele Juden [in Berlin; A. J.] gibt. Alle anderen Hindernisse stammen davon [ab; A. J.].“ (P18/14)170 Alle Probleme, welche die Wahlberlinerin in der jüdischen Gemeinschaft Berlins im Zusammenhang mit den bisher untersuchten, aber auch weiteren Themenbereichen ausmacht, stellen Schwierigkeiten dar, die sich ihrer Ansicht nach unter den vergleichsweise günstigsten vorfindbaren Bedingungen in der jüdischen Diaspora hierzulande ergeben. Die Heterogenität und das etwas offenere Klima des jüdischen Lebens in Berlin hält sie für ungemein anregender als in der deutschen Provinz oder anderen größeren jüdischen Gemeinden hierzulande. Selbst die orthodox dominierte Münchener Hauptgemeinde (zu der vielfach kleineren liberalen) fällt als zweitgrößte Gemeinde in Deutschland gegenüber Berlin aus ihrer Sicht deutlich ab: „In München ist es [...] viel provinzieller in der jüdischen Gemeinde. Die Liberalen sind [...] extra, sie haben eine kämpferische Identität“. (P18/23) Daher ist für die das jüdische Leben der Metropole interkulturell Vergleichende, wie bereits in Kap. 2.1.3. zitiert, Berlin auch der einzige Ort in Deutschland, wo sie sich ohne diesen Kampf selbst ausprobieren kann und daher auch vorstellen, eine längere Zeit zu leben. (Ebd.)
Zwischenbilanz Es lässt sich zunächst festhalten, dass es vor allem aus Deutschland Stammende sind, die sich zu der Thematik der Berliner Gemeinde als religiös pluraler EG äußerten. Dies entsprach den Erwartungen, da überwiegend nur sie mit den Besonderheiten dieses Berliner Spezifikums gegenüber den davon unterschiedenen Gemeindestrukturen andernorts in Deutschland vertraut sind. Gerade P 1 und P 3 besitzen über Berliner Verhältnisse hinaus, relativ gute Kenntnisse der Situation insbesondere in einigen größeren jüdischen Gemeinden andernorts in Deutschland. P 3 bringt außerdem Erfahrungen im Themenfeld auf Grund ihrer ursprünglichen Herkunft aus einer orthodox dominierten Gemeinde in einer größeren Stadt im Wesen Deutschlands mit. Außerdem überwiegen hier im weitesten Sinne religiös liberal Orientierte, die im jüdischen Berlin von dem ortsspezifischen religiösen Pluralismus und dessen Expansion in den letzten Jahren besonders profitiert haben. Alle zeichnen ein durchaus konsistentes Bild der Vorzüge dieser Vielfalt – ,der Rand bricht nicht ab‘, wie es P 3 treffend formulierte – gegenüber
170 Bemerkenswert ist, dass in der gesamten Erhebung nur eine weitere Stimme sich zu der Provinzialität der Berliner Gemeinde im internationalen Maßstab ähnlich äußerte, die aus einem Westeuropäischem Land nach Berlin gekommene in der Homosexuellengruppe Yachad Engagierte – also auch eine nach Berlin Zugewanderte mit ,Westblick‘: „[...] es ist natürlich eine sehr provinzielle Gemeinde, es ist noch immer sehr westberlinerisch“. (P9 I/31)
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den z. T. rigide aufrecht erhaltenen entsprechenden ,Monokulturen‘ in anderen größeren Gemeinden in Deutschland und den entsprechenden Abspaltungen. Implizit herrscht diese positive Sicht auf die Berliner EG-Verhältnisse auch in anderen Erhebungsgesprächen vor, wie sich noch in den JGB-bezogenen Statements in den Einzelfallstudien der Gruppenaktivitäten im vierten Teil der Studie zeigt. Nur bei einer sich hier äußernden Stimme handelt es sich um eine aus dem Ausland nach Berlin Gezogene (P 18). Aus der interkulturellen Perspektive der New Yorkerin verdankt sich der bemerkenswerte Hinweis einer relativen religiösen Pluralität in Berlin: Demnach stellt diese Vielfalt innerhalb der JGB aus metropolitaner jüdischer Sicht im Vergleich zu den Verhältnissen in der noch immer von den Auswirkungen der NS-Verfolgung gezeichneten übrigen hiesigen Diaspora einen großen Fortschritt dar, womit die JGB zweifellos an Attraktivität gewinnt. Andererseits wäre die JGB damit heute noch weit, nicht nur von Pluralitätsstandards in New York bzw. den USA, sondern auch von denen der ureigenen örtlichen jüdischen Tradition der Vor-NS-Zeit entfernt. Aus dieser Perspektive ist Berlin also nicht ,Avantgarde‘, sondern erst auf dem Weg zu einer zeitgemäßen innerjüdischen Pluralität, die von P 18 für heutiges jüdisches Leben überhaupt als existentiell angesehen wird. Der Hauptunterschied zwischen den Einschätzungen der Situation der Berliner EG unter den aus Deutschland Stammenden besteht darin, dass die Wahlberlinerinnen P 3 und P 8 gegenüber P 1 aus ihrer noch partiell defizitären Perspektive neuerer liberal- bzw. egalitär-religiöser Strömungen heraus der Berliner EG in den letzten Jahren erwachsende schwerwiegendere Probleme wahrnehmen. Auf Grund dieses problematischen Erfahrungshintergrunds leiten sie Erfordernisse für einschneidende Veränderungen der Berliner Gemeinde in der Zukunft ab. Es sind vor allem die beiden Problembereiche mangelnder Mitsprache der Betgemeinschaften und Rabbiner bei sie betreffenden wichtigen Entscheidungen sowie das hohe Maß an bereits heute bestehender lebensweltlicher Eigenständigkeit der einzelnen Betkreise innerhalb der JGB, die ihnen eine drastische Veränderung der Gemeindestrukturen als sinnvoll erscheinen lassen. Auf die Kritik der gemeindeperipheren P 3 an den neueren chassidischorthodoxen Aktivitäten in Berlin kann hier nicht weiter eingegangen werden, da dies einer differenzierteren Untersuchung bedürfte. Wichtig ist hier lediglich festzuhalten, dass sie damit im jüdischen Berlin wie darüber hinaus nicht alleine steht: So wird das expansive Engagement von Chabad mit eigenen Schulen und Bildungszentren (s. u.) innerjüdisch in den letzten Jahren zunehmend als ,missionarisch‘ kritisiert. Die Sorge um desintegrative religiöse Entwicklungen innerhalb der hiesigen Diaspora wie auch innerhalb der Berliner Gemeinde hat mittlerweile (Mitte 2005) auch das jüdische Medienwesen erreicht. Innerjüdische Kritiker werfen dort nun massiv Chabad vor, mit den Gemeinden in Berlin und
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andernorts in Deutschland zu konkurrieren oder diese sogar spalten zu wollen, während Chabad umgekehrt darum bemüht ist, diese Vorwürfe zu entkräften.171 Bemerkenswert ist, dass alle drei aus Deutschland Stammenden, die sich zur Struktur der EG in Berlin dezidiert äußern, unterschiedliche Organisationsformen für die JGB präferieren: Die ,urberliner‘ P 1 hält an dem traditionellen Modell der zentralen EG fest (,jüdisches Leben ist Gemeindeleben‘). Der Wahlberlinerin P 3 schwebt eine dezentral reformierte EG vor, die den unterschiedlichen innerjüdischen religiösen Milieus durch deren Stärkung unter dem Gemeindedach gerecht werden will. Und P 8 spricht sich als einzige in der Erhebung dezidiert für autonome Gemeinden an einem Ort an Stelle einer als historisch überkommen wahrgenommenen Berliner EG aus, ähnlich dem angelsächsischen Modell der Gemeindenorganisation.172 Diese verschiedenen organisatorischen Vorstellungen mögen aus ihren je verschiedenen persönlichen Bezügen zur Berliner Gemeinde herrühren: So haben sich P 1 und ihr Ostberliner Kulturverein in den letzten Jahren mehr und mehr mit der zu Beginn der momentanen Zuwanderung noch westdominierten JGB als eine Art niedrigschwellige Vorfeldorganisation arrangiert.173 Demgegenüber hat sich P 3 eher in eine peripherere Situation begeben, aus der heraus sie sich dafür einsetzt, religiös progressive Strukturen in und außerhalb Berlins voranzubringen. Schließlich nimmt P 8 wohlwollend das Wachstum eigenständiger progressiver Gemeinden in ganz Deutschland wahr als ein durchaus denkbares attraktives Modell für ihren eigenen, mit liberalen RabbinerInnen durch die JGB chronisch unterversorgten egalitären Betkreis.
2.2.2. Herkunftsbezogene Integrationspotentiale der Berliner Einheitsgemeinde (P 3, P 15, P 4 und P 11) Ganz ähnlich zu den die Berliner Gemeinde betreffenden übergreifenden Fragen der religiösen EG und ihrer Integrationsfähigkeit stehen ebenfalls Fragen der Integration verschiedener Herkunfts- und lebensweltlicher Milieus in die Gemeinde nicht im Zentrum der Studie. Auch hier finden sich ihrer Perspektive entsprechend im vierten Teil der Studie überwiegend auf die untersuchten Gruppenaktivitäten gemünzte Statements zu dieser Integrationsthematik. Dennoch ist auch hier ein Blick auf Äußerungen über die generellen berlinspezifischen Inte171 2003 kritisierte der religiös liberal orientierte Gemeinderepräsentant Julius H. Schoeps die öffentliche Überreichung der Prüfungsurkunden an 10 Rabbinerstudenten im Berliner Chabad-Zentrum durch den regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit noch als Einzelstimme in der regionalen außerjüdischen Presse; vgl. Marlies Emmerich: „Streit um Rabbiner-Ehrung durch Wowereit“, BZ 18.02.03. Bald darauf avanciert der Konflikt zu einem ,Top-Thema‘ in den jüdischen Medien: So setzten sich alleine drei Artikel in der Jüdischen Allgemeine vom 19.05.05 mit der Rolle von Chabad in Deutschland auseinander, davon alleine zwei kritisch. 172 Zu dem Unterschied der deutschen EG und der angelsächsischen Organisation jüdischer Gemeinden vgl. das Einführungs-Kap. II.1.1.1., S. 81. 173 Vgl. in der Einzelfallstudie zum JKV Kap. IV.2.5.2., S. 463 f.
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grationsbedingungen aus dem gemeindeperipheren Blickwinkel aufschlussreich, da sie Rückschlüsse auf die Eigenverortung der sich Äußernden erlauben. Ihre eigene herkunftsspezifische Integration im jüdischen Berlin sieht die befragte Teilgruppe der von andernorts nach Berlin Zugezogenen überwiegend als gelungen an – eine offensichtliche Voraussetzung ihres starken innerjüdischen Engagements vor Ort. Dessen ungeachtet wurden verschiedentlich Berlinspezifika der Integration insbesondere der Einwanderer aus der ehemaligen SU und den GUS-Staaten in die Berliner Gemeinde angesprochen. Auch hierzu äußerte sich aus der Peripherie-Perspektive zur JGB nur eine kleine Teilgruppe ausführlicher. Hierbei handelt es sich neben der zuvor sehr reflektiert zur Situation der JGB Stellung beziehenden und ursprünglich in Westdeutschland aufgewachsenen P 3, um die ebenfalls von dort stammende P 15, die aus Israel in die deutsche Hauptstadt gekommne P 4 sowie um die aus Russland hierher eingewanderte P 11, also um Abkömmlinge denkbar unterschiedliche Herkunftsmilieus. P 3: Ähnlich wie im Bereich religiöser Orientierungen erlebt die ehemals als Bildungsreferentin in der Gemeinde tätige und heute eher JGB-peripher Verortete im Bereich der Herkünfte der Gemeindemitglieder eine ortsspezifische Vielfalt. Bemerkenswert ist, dass sie auf die Tradition dieser Herkunftsvielfalt verweist. Anschaulich macht sie dieses landsmannschaftlich-sprachliche ,Nebeneinander‘ am Beispiel der verschiedenen jüdischen Logen in Berlin deutlich174: Sie betont besonders deren allgemeine Funktion als ,Nachfeld‘-Organisationen ursprünglich religiöser Bindungen an das Judentum: „Man kann sagen, dass Leute, die nicht mehr religiös eingebunden sind, immer noch zur Loge tendieren, weil es einen sozialen Zusammenhang bietet, aber auch Engagement einfordert.“ (P3/17) Jedoch erfüllten in Berlin, wo es gegenwärtig drei Logen gebe175, diese eine weitere Funktion, eben die einer gewissen Separierung nach unterschiedlicher Herkunft: So gab es nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin lange Zeit zwei Brith-Logen, die deutsch-jüdisch geprägte und mittlerweile eingegangene LeoBaeck-Loge, sowie die von Arthur Brauner lange Zeit geleitete polnisch-jüdisch geprägte Janusz-Korczak-Loge.176 Darüber hinaus existiere gegenwärtig auch noch die russisch-jüdische Simon-Dubnow-Loge. Und schließlich, als dritte der heutzutage in Berlin angesiedelten jüdischen Logen in Berlin, führt P 3 die sich eher politisch verstehende Raul-Wallenberg-Loge an. Aber auch dort würde sich die geschilderte landsmannschaftlich-sprachliche Auffächerung abzeichnen (Ebd.). - Als letztes Beispiel einer Separierung jüdischen Lebens in der Metropole nach Herkommen und Sprache benennt sie den Israelischen Stammtisch.177
174 Diese ursprünglich von deutsch-jüdischen Emigranten in der Mitte des 19. Jahrhundert in New York gegründeten Vereinigungen haben sich vor allem der Wohlfahrtspflege, der Traditionspflege, sowie der Geselligkeit verschrieben. 175 Nach Auskunft von P 3 gibt es gegenwärtig in Deutschland 10-12 jüdische Logen. 176 Die Brith-Logen sind weltweit eine der größten jüdischen Organisationen. 177 Vgl. die Einzelfallstudie über den Israelischen Stammtisch Kap. IV.7.
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Eine viel schwierigere Situation ergibt sich nach Ansicht der de im progressiven Judentum Engagierten hinsichtlich der Integration der jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen SU in die Berliner Gemeinde. Dabei sieht sie offensichtlich die wichtigsten Ursachen hierfür ausgesprochen in bestimmten ausgesprochenen Berlinspezifika liegen, die Schwierigkeiten bei deren Integration in die örtlichen jüdischen Strukturen zur Folge hätten. Als wichtigste ortsspezifische Gründe macht sie dabei einen gemeindeinternen und einen gemeindeexternen desintegrativen Faktor aus, den sie in einem Satz auf den Punkt bringt: In Berlin gäbe es „nicht diese Mischung wie in kleineren Gemeinden [...]“ – „es gibt hier mehr Ausfluchtmöglichkeiten, mehr nebeneinander her.“ (P3/19) Gemeindeintern: An erster Stelle benennt die ehemalige Bildungsreferentin eine nicht allein in Berlin, sondern auch in anderen größeren jüdischen Gemeinden in Deutschland mit stärkeren Anteilen an ,Alt-Mitgliedern‘ geltende Problematik178: „Und fatal ist vielleicht in Berlin, dass wir so viele russischsprachige Zuwanderer haben, dass sie genug sind, um sich selbst zu genügen und außen vor zu bleiben.“ (P3/15) Dabei betont sie als Bestandteil dieser Problematik auf gesamtdeutscher Ebene die hohen Zahl an Zuwanderern, die sich hier keiner regulären jüdischen Gemeinde angeschlossen hätten, sei es da sie aus Gemeindesicht im halachischen Sinne nicht jüdisch seien, sei es, dass sie zwar in diesem Sinne jüdisch, jedoch wegen ihrer säkularen Sozialisierung hierauf verzichteten.179 Jedoch nicht das innerjüdische Unter-sich-bleiben-wollen der Einwanderergruppe an sich, sondern dessen strukturelle Zementierung durch die Vielfalt an herkunftsspezifischen Einrichtungen im jüdischen Berlin brächten erst eine für Berlin typische innerjüdische Parallelstruktur hervor. Verdeutlicht wird von P 3 im soziokulturellen Bereich mit dem Beispiel des eigens für die Zuwanderer von der zentralen Wohlfahrtsstelle (ZWSt) des Zentralrats in der Oranienburger Straße unmittelbar neben der Neuen Synagoge eingerichteten Kulturzentrum (,Hatikva‘).180 Diese Einrichtung mit diversen Angeboten für die verschiedenen Teilgruppen der russischsprachigen Einwanderer bedeute, dass diese damit „ihr eigenes Haus haben, dort eigentlich eine Art russischer Kultur pflegen“ (P3/19) und daher „die Leute sich nicht mischen müssen.“ (P3/15.) Gemeindeextern: Besorgniserregend wird die o. g. gemeindeinterne Parallelstruktur für die im neueren liberalen Judentum Engagierte allerdings erst im Zusammenhang mit einer ausgesprochen berlinspezifischen Situation außerhalb der 178 Die kleineren und die meistens in Ostdeutschland gelegenen neugegründeten Gemeinden bestehen demgegenüber fast ausschließlich aus Neuzuwanderern. 179 P 3 spricht von über der Hälfte der Zuwanderer (3/16). Ähnliches ergeben die aktuellen Vergleichszahlen, vgl. Irene Runge: „Jüdische Einwanderung bedingt erwünscht“, in: Jüdische Zeitung (JZ) September 2005. 180 Zum Kulturzentrum Hatikva (hebr. für ,Hoffnung‘) vgl. das Berliner EinführungsKap. II.2.2.2., S. 139 sowie die Einzelfallanalyse zur im gleichen Gebäude angesiedelter Jüdischen Galerie Kap. IV.5. Eine Mitarbeiterin von Hatikva (P 4) wird u. S. 279 mit ihren Äußerungen zur gleichen Thematik noch aufgeführt.
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Gemeinde. Hier existiere nämlich eine ausgeprägte russischsprachige Parallelgesellschaft: „Was in [...] Mittelgemeinden einfach notwendig ist, dass man konfrontiert wird [...] oder hoffnungsvollerweise sich dann doch vielleicht wieder begegnet und mischt. Aber das fällt in Berlin doch sehr leicht unter den Tisch, weil es über die jüdische Immigration auch eine nichtjüdische russische Immigration hier gibt, eine russisch geprägte Infrastruktur mit Zeitungen, Radio, Läden und Lokalen und auch die jüdischen Russen dadurch sehr leicht in ihrem eigenem russischsprachigen Milieu bleiben und keinen Grund haben unbedingt jetzt sich auf die deutsch geprägte Gemeinde einzulassen.“ (Ebd.)
Interessant ist der Zusammenhang zwischen einer deutsch geprägten Gemeinde und einer russisch geprägten gemeindeexternen Parallelgesellschaft in Berlin. Vielerorts in Deutschland dürften die fast ausschließlich aus ,Russen‘ bestehenden jüdischen Gemeinden beide Elemente nicht vorfinden! P 15: Eine Art Ergänzung zu den Äußerungen von P 3 stellen die Bemerkungen der ebenfalls aus Westdeutschland stammenden Mitbetreiberin des jüdischen Internetanbieters ,Milch und Honig‘181 dar. Auch sie hat eine eher skeptische Haltung zu der generellen Ausrichtung der innerjüdischen Integrationsbemühungen gegenüber den ,russischen‘ Einwanderern, wie sie ihren Beobachtungen nach in Berlin und generell in Deutschland vorherrscht. Ihrem Dafürhalten nach gelingt „in den Gemeinden, auch in der Berliner Gemeinde Integration [...] nicht im eigentlichen Sinne.“ (P15:2/21) Vielmehr sieht sie überwiegend ein einseitiges Bemühen: „Was funktioniert, mehr oder minder ist erst mal eine Grundaufnahme, eine Grundversorgung, ein Bereitstellung von Ressourcen auch für eigene Aktivitäten.“ (Ebd.) Sie erwähnt exemplarisch Frauen-, Squash- und Klavierclubs, diverse Aktivitäten, häufig „von ,Russen‘ auch für ,Russen‘“. (Ebd.) Diese Grundversorgung bedeute damit aber keine innerjüdische Integration. Vor diesem Hintergrund nimmt die Wahlberlinerin ähnlich wie P 1 ein für die Großgemeinde der Metropole spezifisches „jeder für sich“ (P15:2/22) wahr. Ein milieuübergreifender Austausch zwischen den Eingesessenen und dem Zuwanderermilieu fände daher kaum statt, „am ehesten noch mit den Leuten, die halt schon sehr lange da sind, also die in den 70er Jahren gekommen sind“. (Ebd.)182 Dies bedauert sie auch für ihr persönliches Umfeld, welches sich viel stärker dem Herkommen nach aus berlinstämmigen, aus dem übrigen Deutschland oder dem westlichen Ausland hierher gekommenen Juden zusammensetzt. Somit bilanziert sie mit einem gewissen Unbehagen die Berliner Situation: „Und das ist wirklich ein Phänomen, also dass persönliche Freundschaften oder Aktivitäten, die gemeinsam betrieben werden, sind einfach noch sehr spärlich gesät 181 Vgl. zu ,Milch und Honig‘ im vierten Teil der Studie die Einzelfallstudie über diese Einrichtung Kap. IV.8. 182 Gemeint sind vor allem die damaligen Zuwanderer aus der SU, vgl. hierzu das Berliner Einrührungs-Kap. II.2.1.2., S. 131
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[sind]“. (Ebd.) Sie berichtet sogar davon, dass sie einige in der Gemeinde kenne, die so weit gingen zu sagen, „also wir haben eigentlich zwei Gemeinden, so eine russische und eine deutsche“. (P15:2/23) Als sehr ortsspezifisch nimmt die Wahlberlinerin den deutschlandweit vergleichsweise großen Einfluss der ,Russen‘ auf gemeindepolitischer Ebene wahr, was sich daran zeige, dass hier sogar mit Dr. Alexander Brenner einer aus diesem Herkunftsmilieu es zum Gemeindevorsitzenden und andere es auch auf Vorstands- und Dezernentenebene gebracht hätten. (Ebd.) Dies findet sie solange positiv, wie die Entwicklung auf eine innerjüdische Integration und nicht auf das Gegenteil hinausliefe. Hierzu gäbe es leider in Berlin einige Tendenzen. Dies ginge vor Ort etwa so weit, dass einige ältere, eingesessene Gemeindemitglieder durch die sprachlich russische Dominanz abgeschreckt würden, wie sie mitunter in der JGB beobachte oder davon erfahre. (Ebd.) Als Beispiel bringt sie ein ihr bekanntes älteres Ehepaar, die auf einer von der Gemeinde ausgerichteten Konzertveranstaltung gegenüber den anderen Besuchern „überhaupt nicht wussten, was sie mit ihnen reden sollten, weil alle sprachen um sie herum nur Russisch.“ (Ebd.) Oder sie erwähnt ihre eigenen Beobachtung einer Gemeindewahl im Gemeindezentrum Oranienburger Straße, bei der ,Russen‘ zur Wahl gestanden hätten – allerdings nicht gewählt wurden – die, wie ihre an diesem Tag einmalig zahlreich erschienene Wählerklientel, mit einem religiösen die Herkunftsmilieus integrierenden Gemeindeleben wenig bis nichts zu tun hätten. Diesen Tendenzen gegenüber sähe die Internetanbieterin im jüdischen Berlin vielmehr die Notwendigkeit, dass gerade im außerreligiösen Bereich die ,Russen‘ das was sie mitbringen an kulturellem, auch noch an säkularem jüdischem Erbe, in das gesamte Gemeindeleben einbringen sollten Wie in der Einzelfallstudie zu MuH in Kap. IV.8.3.1. näher ausgeführt, bemüht sie sich auch in ihrem elektronischen Medienangebot selbst darum, etwa damit, dass eine ,russische‘ Praktikantin bei russischsprachigen und deutschsprachigen Veranstaltungen im jüdischen Berlin wechselseitig ankündigt. Insgesamt sollte die JGB also den wechselseitigen Austausch der verschiedenen Herkunftsmilieus an Stelle von Parallelstrukturen für die ,russischen‘ Zuwanderer auf allen Ebenen fördern als Voraussetzungen einer gelingenden innerjüdischen Integration. P 4: Es ist besonders naheliegend, dass sich die im von P 15 oben angesprochenen Kulturzentrum Hatikva in der soziokulturellen Arbeit mit den russischsprachigen Zuwanderern Beschäftigte ausführlicher zu der Problematik deren Integration ins jüdische Berlin bzw. in die JGB äußert. Die fließend Russischsprachige stammt selbst aus Israel. Erwartungsgemäß divergiert ihre Position stark von der vorhergehenden, der dieser Einrichtung eher kritisch gegenüberstehenden aus Westdeutschland Stammenden. Zunächst spricht sie allerdings ganz ähnlich zu der oben zitierten P 1 davon, dass der überwiegende Teil der hierher gekommenen Russischsprachigen neben der notwendigen ersten Integration in die deutsche Gesellschaft eine zweite innerjüdische eigentlich nicht nötig hätte: „In der Sow-
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jetunion war Atheismus an der Tagesordnung, und einzelne Gruppen waren gläubig und sind bei ihrem Glauben geblieben, aber die Massen, die hier hergekommen sind, hätten sich integriert und [...] hätten hier gelebt, ohne dass es nun unbedingt was Jüdisches zu entdecken gewesen wäre.“ (P4/5) Jedoch gebe es für hiesige in der engagierte Juden ein klares Hauptmotiv für die zweite Integration der Zuwanderer: „Aber wenn die jüdischen Gemeinden hier nicht die Möglichkeit erfassen und die Juden zu sich ziehen, indem sie irgendwelche Veranstaltungen, irgendwelche interessante Sachen noch anbieten, dann sind diese Jüdischen oder diese Atheisten, die zu uns kommen, verloren [für das Judentum; A. J.]“. (P4/6) Die Dramatik ihrer Worte angesichts von über 50 % nicht in die hiesigen Gemeinden eingetretenen Zuwanderern (s. o.) ist durchaus nachvollziehbar. An diesem Punkt trennt sich die Argumentation der soziokulturell Beschäftigten von der Kritik an der ,russischen‘ Parallelgesellschaft bei den aus Westdeutschland stammenden P 3 und P 15. Denn sie bemüht sich gemeinsam mit ihren KollegInnen in der Arbeit mit den Zuwanderern eine tiefere Bindung an das Judentum darüber aufzubauen, dass sie „versuchen, den Leuten den Standard anzubieten oder die Sachen an die sie gewöhnt waren“ (P4/14) und die diese durch die sozial besonders schwierige Situation der Zuwanderung nach Berlin ansonsten weitgehend entbehren müssten. D. h. die vielfältigen kulturellen, sportlichen und geselligen Angebote bei Hatikva überwiegend in der vertrauten russischen Sprache für täglich über 200 Personen aller Altersgruppen sollen den Einwanderern helfen, im Judentum anzukommen, ohne diese zu verschrecken vor der ihnen weitgehend unbekannten jüdischen religiösen Tradition. Erst im Weiteren würden denjenigen, die sich anschließen würden, auch erste religiöse Inhalte vermittelt. Auch mit der Vermittlung der deutschen Sprache setzt P 4 dabei explizit auf den Faktor Zeit. Als Positivbeispiele aus dem überwiegend russischsprachigen Kulturzentrum erwähnt die aus Israel Stammende P 4 den Club der Literaturfreunde, einen Schreibzirkel in dem überwiegend auf Russisch, von einigen aber auch schon auf Deutsch geschrieben würde, worauf sie besonders stolz sei. Wichtig sei zunächst, dass die Leute überhaupt herkämen. Die entscheidenden Parameter für ein erfolgreiches Andocken bei Hatikva als notwendigen ersten Schritt sieht die in der Arbeit mit den Zuwanderern Engagierte in den beiden Faktoren Mentalität und interessengeleitete Beschäftigung, wie sie exemplarisch verdeutlicht: „[...] wenn die Mutter kommt und ihr Kind herbringt zum Musikunterricht oder so, dass die Mutter sich dann in der gleichen Zeit mit Aerobic befassen kann, und der Opa vielleicht in der gleichen Zeit Schach spielt.“ – „Oder, dass sie zur gleichen Zeit dann in die Videothek gehen können, einen Film angucken können“. (P4/20). Auch wenn das Kulturzentrum von der ZWSt betrieben würde, sei es gerade „nicht eine Gemeinde in der Gemeinde“ (P4/25), vielmehr sei es als eine sinnvolle Unterstützung für diese gedacht. Außerdem sei das Haus kein Ghetto, sondern heiße vielmehr die nichtjüdischen Ehepartner willkommen. Auch hierbei sähe sich ihre Einrichtung durchaus als Schrittmacher gegenüber der JGB. Zusam-
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mengefasst lässt sich sagen, dass für P 4 die primäre Aufgabe gerade darin besteht, die aus Osteuropa nach Berlin gekommenen Juden in ihrem kulturell säkular-,russisch‘ geprägten Leben abzuholen. Religiöse und sprachliche Integration der Einwanderer in die Gemeinde sieht sie vielmehr nicht als die vorrangige, sondern als erst auf dieser Grundlage mögliche spätere Aufgabe. P 11: Eine wichtige Stimme im Themenfeld stellt die ebenfalls russischsprachige und zudem selbst von Russland nach Berlin zugewanderte Kunsthändlerin der Jüdischen Galerie dar, die sich im Vorderhaus des o. g. Kulturzentrums befindet.183 Auch sie nimmt gegenwärtig noch eine gewisse auf sprachlichen und kulturellen Unterschieden beruhende Distanz zwischen vormals in Berlin lebenden und aus Osteuropa in den letzten Jahren zugewanderten Juden wahr. Ebenso nimmt die Galeristin die gelassenste Position im Themenfeld ein. Diesem nur langsam abbaubaren beiderseitigen Distanzverhältnis misst sie dabei weder für ihre osteuropäisch-jüdische Künstler-Klientel noch für die hiesige jüdische Gemeinschaft in einer längerfristigen Perspektive eine integrationsgefährdende Bedeutung bei. Ihrer Einschätzung nach bräuchte es doch mindestens eine Spanne von fünf bis acht Jahren, bis persönlichere Kontakte langsam entstünden und auch die von ihr positiv erachteten Sprachangebote für Zuwanderer innerhalb und außerhalb der Gemeinde fruchteten. Außerdem sei es gar nicht entscheidend, ob die einheimischen sowie aus Osteuropa stammenden Mitglieder der Berliner Gemeinde bereits jetzt in einem engeren Austausch zueinander fänden: „Wenn es passiert, werde ich mich freuen“ – „wenn es nicht passiert, werde ich nicht klagen“ – „muss nicht sein.“ (P11/13) Der Grund für die gelassene Haltung der Kunsthändlerin besteht darin, dass sie die innerjüdische Integration eindeutig als eine Generationenfrage wahrnimmt: Demnach sei viel entscheidender als die unbedingte Integration der über 40.Jährigen in die deutschgeprägte Gemeinde, dass die Kinder beider Gruppen unter dem Gemeindedach heute gemeinsam spielen, „in die Schule gehen, kommunizieren, Freundschaften schließen.“ (P11/14) Hierfür böte als ein Berliner Spezifikum die jüdische Gemeinde in Berlin mit jüdischer Grund- und Oberschule sehr gute Voraussetzungen. So sei sie sehr glücklich, dass Kinder beider Gruppen hier schon heute entsprechend zusammenkämen. Umso wichtiger sei es unter diesen Integrationsgesichtspunkten, dass ein Großteil der jüdischen Kinder auch tatsächlich jüdische Bildungseinrichtungen besuchten, was allerdings nicht oder noch nicht gegeben sei. Sie wisse allerdings auch von positiven Beispielen der Integration bei jüngeren Einwanderern, die nicht die Gemeindeschulen besuchten. Abschließend zeigt sie sich sehr optimistisch, dass ein Großteil dieser Jüngeren in der Gemeinde dauerhaft ihren Weg ins hiesige jüdische Leben fände. Vehement spricht sich die selbst aus der ehemaligen SU Stammende allerdings gegen Druck von Seiten der etablierten Gemeinde aus. Ein echter Integrations183 Vgl. zur Jüdischen Galerie im folgenden Teil deren Einzelfallstudie, insbesondere Kap. IV.5.4. zu innerjüdischen Integrationsaspekten der Galerie.
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prozess könne sich ihrer Überzeugung nach nur erfolgreich in einem längerfristig angelegten freiwilligen Prozess entwickeln.
Zwischenbilanz Insgesamt lässt sich festhalten, dass mit der Aufgabe zur Integration der Zuwanderer aus den GUS-Staaten in die Berliner Gemeinde eine weit über die Metropole hinausreichende Herausforderung erkennbar wurde, andererseits sehr wohl auch berlinspezifische Aspekte dieser Thematik aufgezeigt wurden. Insgesamt bilden die Statements in diesem Themenfeld ziemlich genau ein Paradoxon ab, welches sich seit vielen Jahren durch die Berichterstattung und Kommentierung der Zuwanderung in den jüdischen Medien zieht. Vereinfacht lassen sich diese zu Tage tretenden widerstreitenden innerjüdischen Positionen zur Einwanderungsthematik in größeren Gemeinden mit relevanten Anteilen eingesessener Mitglieder184, wie eben genau in der JGB, in Frageform kleiden: Sollte in diesen Gemeinden eine russische Dominanzkultur gefördert werden, die möglichst vielen der weitgehend säkularen Zuwanderer und ihren häufig nichtjüdischen Angehörigen die Rückkehr oder den Erstzugang zum Judentum ermöglicht? Oder sollen wir durch einen Zwang zur sprachlich-kulturellen Assimilation die Umwandlung der Gemeinden in russisch-jüdische Kulturvereine oder die Herausbildung von herkunftsmilieubedingten Parallelgemeinden verhindern, damit nicht die angestammten Gemeindemitglieder entfremdet werden oder sich zurückziehen? Auch wenn im Einzelnen weder in Berlin noch anderswo in größeren hiesigen Gemeinden eine binäre Entscheidung zwischen diesen Alternativen ansteht, drücken beide Fragen doch die milieubezogenen Maximalinteressen aus, zwischen denen immer wieder aufs Neue Kompromisse oder andere Auswege gefunden werden müssen, wo nicht auf eine der beiden Gruppen verzichtet werden will. In Berlin stellt sich die Situation auf Grund eines ausgesprochenen Ortsspezifikums als besonders konfliktträchtig dar: Denn in der Metropole existiert nicht nur die Gemeinde mit der bundesweit größten Anzahl an Neuzuwanderern aus Osteuropa. Die besondere Herausforderung im integrativen Zusammenhang besteht vielmehr auf Grund der ebenfalls größten Anzahl hier Geborener oder schon seit Jahrzehnten hier Ansässiger. Wie im historischen Einführungsteil zur Genüge ausgeführt, leben in Berlin innerhalb wie außerhalb der Gemeinde außerdem die in Mischehen und als polnische DPs die NS-Verfolgung Überlebende sowie beider Nachkommen, aber auch eine größere Anzahl seit den 50er Jahren bis heute aus den verschiedensten Ländern Ost- und Westeuropas, aus Israel oder den USA hierher Gekommener. Erst diese große Anzahl bereits ,Eingesessener‘ lässt die o. g. Parallelentwicklung überhaupt erst denkbar erscheinen.
184 Die kleineren und die meistens in Ostdeutschland gelegenen neugegründeten Gemeinden hierzulande bestehen fast ausschließlich aus Neuzuwanderern.
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Bezogen auf die Teilgruppe des Erhebungskreises, die sich hierzu ausführlicher äußert, stellt sich die nahe liegende Frage, wer, aus welchen Herkunfts- und Tätigkeitsgruppen, sich wie entsprechend der o. g. gegenteiligen Integrationsstrategien Stellung positioniert. Tatsächlich lässt sich hier wie in der gesamten Erhebung eine eindeutige Tendenz festmachen: Je stärker Befragte in der (west)deutschen Diaspora verankert sind, desto stärker nehmen sie die Existenz und teilweise Dominanz einer ,russischen‘ Parallelgemeinschaft innerhalb der Gemeinde wahr, wie P 3 und P 15. Je eindeutiger sie demgegenüber biographisch aus dem osteuropäischen Einwanderermilieu stammen wie P 11185, desto eher wird von ihnen die Existenz russischsprachigen Teilmilieus in der Berliner Gemeinde verteidigt. In der Integrationsarbeit mit den Zuwanderern tätige Russischsprachige ohne osteuropäischen Hintergrund wie die Israelin P 4186 nehmen eine eher vermittelnde Stellungen mit stärkeren Sympathien für die zweite Variante der Integration der Zuwanderer ein. Dabei wird ebenfalls deutlich, dass bei niemandem aus dem Erhebungskreis an einem mittel- bis längerfristigen Zusammenkommen der unterschiedlichen Herkunftsmilieus innerhalb der Gemeinde Zweifel bestehen. Die unterschiedlichen Einschätzungen drehen sich hier, wie auch in der in jüdischen Medien geführten Debatte, immer nur um das wie und wann der innerjüdischen Integration.
2.3. Zusammenfassende Bilanzierung Persönliche und personenübergreifende gemeindebezogene Gesichtspunkte sind in diesem Kapitel bewusst zu einem gemeinsamen Untersuchungsblock zusammengefasst, da die Einschätzungen der gemeindeinternen Situation nur vor den persönlich geprägten Berlinbezügen verständlich erscheinen. Insgesamt lässt sich festhalten, dass von denjenigen, die sich zu berlinspezifischen Bedingungen ihrer eigenen örtlichen Existenz äußerten, überwiegend positive Aspekte angesprochen wurden. (Kap. III.2.1.) Dies erscheint aus mehreren Gründen heraus nicht weiter überraschend: So gilt es, sich zu vergegenwärtigen, dass sich der hier themenspezifisch sowie in der Erhebung insgesamt äußernde Personenkreis durch ein überdurchschnittliches innerjüdisches Engagement vor Ort auszeichnet. Daher bestand eine vorsichtige Annahme vor der Erhebung darin, dass sich möglicherweise existente Kritikpotentiale in Grenzen halten und eine insgesamt eher positive Grundhaltung gegenüber der örtlichen jüdischen Existenz wie dem Berliner Großstadtleben über die jüdische Gemeinschaft hinaus er185 Die ebenfalls aus diesem Milieu stammenden Studentin (P 12) und Sportlerin (P 19) werden hier nicht mit entsprechenden Statements angeführt, lassen aber ebenfalls insgesamt diese Position erkennen, insbesondere P 12; vgl. ihre entsprechenden Erfahrungen innerhalb des als Einzelfallanalyse im vierten Teil der Studie dargestellten Jüdischen Studentenbundes, Kap. IV.3.3.1. und 3.3.2., S. 475 ff. 186 Die sich ähnlich positionierende russischsprachige Ostberlinerin P 1 wird hier nicht eigens angeführt. Deren integrative Arbeit im Jüdischen Kulturverein mit russischsprachigen Zuwanderern wird vielmehr ausführlich in der Einzelfallstudie zu diesem Verein Kap. IV.2.4.2. dargestellt.
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kennbar würde. Diese Vermutung bestätigte sich vollauf.187 Daher erscheinen die zunächst angeführten persönlich geprägten positiven Berlinbezüge über ihren Eigenwert hinaus in einer erweiterten Perspektive besonders aufschlussreich quasi als Gegengewichte zu den problematischen innerjüdischen oder sogar existenzgefährdenden Gesichtspunkten im deutsch-jüdischen Feld der Metropole. Es liegt auf der Hand, dass persönliche Motive des In-Berlin-Lebens insbesondere in der Erhebung bei denjenigen, die von anderswo in Deutschland oder aus dem Ausland nach Berlin gekommen sind, eine besondere Rolle spielen, da diese sich größtenteils gezielt für ein Leben in dieser Stadt entschieden haben. Ihre Bereitschaft zur Stellungnahme im Themenbereich ist auf Grund der sich bei ihnen kreuzenden biographischen aktiv verfolgten Faktoren ,persönliche Entscheidung für Berlin‘ sowie ,Engagement in der örtlichen jüdischen Gemeinschaft‘ erwartungsgemäß höher als bei den ,UrberlinerInnen‘ oder als Kind hierher Gezogenen. Darüber hinaus wirken ihre Aussagen zu der Thematik zumeist sehr reflektiert. Demgegenüber äußern sich in Berlin Geborene bzw. Aufgewachsene in diesem Themenfeld tendenziell weitaus geringer und unspezifischer.188 Die Attraktivität einer Existenz in Berlin macht sich für die innerjüdisch vielfach in der Metropole Aktiven insgesamt überwiegend an einer Mischung aus inner- wie außerjüdischen Motiven fest. Dabei wird offensichtlich, wie sehr sich diese gegenseitig durchdringen. Dies wurde besonders im Fall des mehrfach angesprochenen relativ ausgeprägten urbanen Multikulturalismus in den stadträumlichen Zentralbereichen Berlins und seinen Auswirkungen für die jüdische Seite deutlich. Demnach bringt die metropolitane Lebensweise offensichtlich nicht nur eine relativ große Toleranz gegenüber jüdischem Leben mit sich, die sogar mitunter so weit gehen kann, dass eine gewisse abgeklärte Gleichgültigkeit von nichtjüdischer Seite an Stelle von Beklemmung oder Philo- bzw. Antisemitismus gegenüber Juden tritt. Sondern umgekehrt kann dies aber auch positiv bedeuten, dass in der Öffentlichkeit hier lebende Juden nicht auf ihr Jüdisch-Sein reduziert, sondern sie selbstverständlicher auch mit anderen Identitätsanteilen, insbesondere beruflicher Art, identifiziert werden. Innerjüdisch macht sich der urbane Multikulturalismus wiederum ebenfalls in gewisser Weise positiv bemerkbar. Denn offenbar wurden von den sich hier Äußernden relativ günstige Voraussetzungen vorgefunden, sich im jüdischen Berlin rasch mit den eigenen multiplen Herkunfts-, Geschlechts- und kulturellen Identitäten entsprechend der innerjüdischen Vielfalt einbringen zu können und daher auch zu engagieren.
187 Demgegenüber zeigte sich, dass sich in der Erhebung problematische Gesichtspunkte jüdischer Existenz in Berlin ehr im Bereich der Berliner Gemeinde (Kap. II.2.2.) sowie im deutsch-jüdischen Feld auf Grund nichtjüdischer Besetzungen jüdischer Thematik (Kap. III.3.), besonders aber auf Grund antisemitischer Übergriffe (Kap. III.4.) finden lassen. 188 Allerdings lässt ihr in ihr stärker berlinerisch eingefärbtes Idiom umso mehr die regionale Verwurzelung erkennen.
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Erst vor diesen überwiegend positiven Berlinbezügen erscheint es möglich, die überwiegend problembezogenen Erörterungen von Berlinspezifika der Berliner Gemeinde in ihrem Stellenwert für die sich Äußernden zu würdigen. Denn wie aus ihren persönlichen Statements zu ihrem Leben in Berlin hervorgeht, sind alle erfolgreich innerjüdisch integriert und können sich nicht minder erfolgreich im jüdischen Berlin mit ihren Neigungen und ihrem Engagement einbringen. In diesem zweiten thematischen Block gibt es allerdings größere Unterschiede zwischen beiden Unterthemen zu verzeichnen: Die Berliner religiös plurale Einheitsgemeinde wird bezogen auf die gesamte Erhebung ausschließlich von überwiegend religiös progressiv Orientierten diskutiert (Kap. III.2.2.1.). Die Gründe hierfür erscheinen naheliegend. Schließlich verdanken diese ihren Platz unter dem Gemeindedach eindeutig den Pluralisierungen der JGB in der Ära Nachama. Andererseits ist ihre rabbinische Grundversorgung im Unterschied zu nahezu allen anderen religiösen Strömungen innerhalb und außerhalb der Gemeinde seit der Kündigung von Rabbiner W. Rothschild 2002 und den überraschenden frühen Tod des Rabbiners A. Assabi 2003 vakant, ohne dass ein Ende der Misere abzusehen ist. Mit diesen beiden Positivund Negativpflöcken sind die entsprechenden Äußerungen zur Berliner EG auch weitgehend umrissen: Einerseits wird das integrative Potential im Bereich religiöser Strömungen (wie auch außerreligiöser Milieus) wahrgenommen, denen sich vielmals das eigene Engagement im jüdischen Berlin verdankt. Die Aussage von P 1: ,Der Rand bricht nicht ab‘ könnte als Motto über all diesen positiven Äußerungen zu dem Integrationspotential der Gemeinde innerhalb dieses Abschnitts wie auch zu den meisten übrigen, hier nicht gesondert aufgeführten, in Gruppenaktivitäten in im Peripherbereich der Gemeinde Aktiven stehen. Hier scheint ein noch lange nicht ausgereiztes Entwicklungspotential der JGB zu bestehen. Trotz dieser von den Engagierten im Peripherbereich der Gemeinde gesehenen integrativen Potentiale der JGB überwiegen bei den religiös progressiv Orientierten als Zukunftsperspektive angedachte Strukturveränderungen der örtlichen EG. In ihrem Fall scheint sowohl das Frustpotential über die Entfremdung des Gemeindeestablishments von den einzelnen Betgemeinschaften der Gemeinde wie auch über die Vakanz der zweiten liberalen Rabbinerstelle ausschlaggebend zu sein, eine weitgehende oder völlige Autonomie der Betkreise für die Zukunft anzudenken. Komplementär zu den oberen Äußerungen von P 8 hatte der nur noch kurz in der JGB wirkende Gemeinderabbiner Ady Assabi positiv darauf verwiesen, dass die autonomen, nach religiöser Ausrichtung unterschiedenen angelsächsischen Gemeinden, im Gegensatz zu den in der hiesigen Nachkriegssituation wurzelnden Einheitsgemeinden nicht aus der Not entsprungenen seien.189 Die geäußerten Gedanken zu den Strukturproblemen der sich im Wandel befindlichen Berliner 189 Vgl. das Interview mit A. Assabi, ders. (TAZ 11.11.02).
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Gemeinde im religiösen (wie auch im Bildungsbereich) und zu deren Überwindung können in diesem Sinne Ausdruck beginnender gemeindeinterner Veränderungen zu dem Übergang von einer nach der NS-Zeit unter widrigsten Bedingungen von den Überlebenden des Zivilisationsbruchs gegründeten jüdischen Not- in eine Nachnotgemeinde markieren. Ungeachtet aller übrigen sowie damit verbundenen Probleme würde dies das endgültige Ende der Nachkriegszeit im jüdischen Berlin bedeuten. Strukturelle Veränderungen auf Gemeindeebene könnten damit in einer nachholenden Bewegung dem Sachverhalt Rechnung tragen, dass die jüdische Gemeinschaft in Berlin spätestens seit den 90er Jahren durch ihr deutliches Wachstum wie auf Grund der zunehmenden religiösen und kulturellen Vielfalt gerade auch außerhalb der JGB endgültig eine sich auf eine hiesige Dauerexistenz einrichtende Nachnotgemeinschaft darstellt. Aber auch das zweite erörterte Thema der Integration der osteuropäischen Zuwanderer offenbarte kontroverse innerjüdische Sichtweisen, in diesem Fall allerdings auch innerhalb der Erhebungsauswahl. Hier zeigte sich, dass die unterschiedliche herkunfts- und tätigkeitsspezifische Stellung im jüdischen Berlin entscheidend für die Sichtweise auf die Thematik ist. Die Position einer längerfristigen Integration ins Judentum und in die Gemeinde bei gleichzeitigem Verbleiben im russischsprachigen Zuwanderermilieu dominiert bei den aus diesem Milieu Stammenden sowie bei den in der integrativen Arbeit mit ihnen Beschäftigten. Während aus Deutschland Stammende und in anderen innerjüdischen Bereichen Engagierte, welche die ,Russen‘ überwiegend als sich selbst genügendes Teilkollektiv von außen wahrnehmen, beschwören das Negativszenario einer ,russischen‘ Parallelgemeinde, sollten die beiderseitigen integrativen Bemühungen nicht intensiviert und beschleunigt werden. Die in den letzten Monaten immer wieder in den innerjüdischen Medien aufgeschienenen drohenden Spaltungstendenzen auf Grund der schweren Auseinandersetzungen auf der Ebene der Repräsentanz finden zwar auf der Ebene der sich gemeindekritisch zu deren Integrationspraxis Äußernden keine Entsprechung. Dennoch wird dieser Gedanke als zitierte Meinungsbekundung Dritter zumindest angeführt. Dabei wird sichtbar, dass die sich in der Erhebung zur Integrationsthematik uneins Zeigenden beiderseits ureigene innerjüdische Vergemeinschaftungsbedürfnisse artikulieren, die über die sachliche Erörterung weit in den Bereich der zuvor thematisierten persönlichen innerjüdischen Bezüge hineinreichen. Daher dürfte sich auf der gedanklichen Ebene wie in der Gemeindepraxis eine vorschnelle Harmonisierung verbieten. Meinungsverschiedenheiten auf Grund unterschiedlicher sozialisationsbedingter Interessen müssen hier vor Lösungsversuchen zunächst einmal ,schlicht‘ ausgehalten werden, im Fall des im Erhebungskreises wie offensichtlich auch darüber hinaus in den aktiven Kreisen weitgehend gewünschten Weiterbestands der Gemeinde. Die Aussagen zu den teilweise erheblichen integrativen Problemen der Berliner Gemeinde im religiösen und im Zuwandererbereich zeigen deutlich, wie sehr diese Schwierigkeiten und sich an ihnen entzündende Kontroversen über hier
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nicht weiter interessierende lokale persönliche Animositäten hinaus historisch gewachsene ortsspezifische Hintergründe besitzen. Dies gilt auch angesichts des Faktums, dass viele der mit wachsender innerjüdischer Vielfalt verbundenen Probleme auf einer allgemeinen Ebene keine ,hausgemachten‘ sind, sondern die gesamte Diaspora in Deutschland betreffen. Die sich aus dem gemeindeperipheren Erhebungskreis seit Jahren kritisch und konstruktiv zu den Chancen und Problemen der Gemeinde Äußernden stellen offenbar gegenwärtig keine Einzelstimme mehr dar. Dies zeigt sich gerade daran, dass außerhalb der Erhebung (Selbst-)Kritik und der Ruf nach Strukturveränderungen in der JGB angesichts der seit Jahren verschärfenden Krise auf der Ebene der Gemeindeleitung – und Repräsentanz auch auf der Ebene des Gemeindeestablishments zumindest bei einer Minderheit unüberhörbar ist. So äußerte der Repräsentant der Berliner Gemeinde Julius H. Schoeps in der zweiten Jahreshälfte 2005 in einem Interview in der Nullnummer der neuerschienenen Jüdischen Zeitung über die JGB: „Ob die Einheitsgemeinde noch eine Zukunft hat, ist gegenwärtig nur schwer zu beantworten. – Dessen ungeachtet bin ich der Ansicht, dass man den Betergemeinden der Synagogen mehr Unabhängigkeit geben sollte. Die Meinungsbildung innerhalb der Gemeinde sollte meiner Ansicht künftig mehr über die Synagogen- und Betergemeinden laufen. [...] Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass die Betergemeinden künftig entsprechend ihrer Größenordnung eine Anzahl Vertreter in die jeweiligen Repräsentanzen entsenden. Aber das sind Überlegungen, die zu diskutieren sind.“190
Tatsächlich ist gegenwärtig kaum absehbar, in welcher Weise sich die jüdische Gemeinde in Berlin weiterentwickeln wird, wozu hier selbstverständlich keine Prognosen gemacht werden sollen oder können. Die Erhebung bestätigte eindeutig eine heterogene, gemeindeinterne Entwicklung. Einer wachsenden religiösen, kulturellen sowie herkunftsbezogenen Vielfalt steht eine gewisse Stagnation auf struktureller Ebene gegenüber und ein Unvermögen auf der politischen Leitungsebene ein Mehr an innerer Diskursivität und Gestaltungskraft zu gewinnen. Dennoch zeigen etwa die anstehenden Reformen im Bildungsbereich und die anhebende Diskussion über die politischen Strukturen eine zunehmende Bereitschaft Grundlegendes zu verändern. Zweifelsohne hat die JGB allerdings für künftige Veränderungen den Vorzug ,im Rücken‘, durch ihre besondere Lage in Berlin weit vielfältigere Facetten jüdischer Existenz in den letzten Jahrzehnten in sich getragen und integriert zu haben, als irgendwo in den von Um- und Aufbrüchen gezeichneten Gemeinden im übrigen Deutschland. Auch die als weltpolitische Nebenfolge erzwungene jahrzehntelange Spaltung in eine Ost- und eine WestGemeinde in Folge der Teilung Deutschlands und dessen ehemaliger Hauptstadt sowie deren neuerliche Zusammenführung nach 1989, sind gelebte berlinspezifische wertvolle Erfahrungen für künftige Veränderungen der JGB. 190 Julius H. Schoeps „,Ein Preußenkönig hätte uns aus dem Amt gejagt.‘“, in: JZ September 2005.
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Insgesamt wurde in diesem Kapitel eine Fülle sich wechselseitig verschränkender Berlinspezifika erkennbar. Jüdisches Leben, wie es sich hier darstellt, ist mit all seinen ortsgebundenen Besonderheiten anderswo so nicht denkbar. Natürlich kann dieser Untersuchungsblock keine Vergleichsstudie etwa zwischen dem Jüdischen Berlin mit entsprechenden jüdischen Lebensweisen in München oder Frankfurt ersetzen. Dennoch wird deutlich, dass insbesondere außerjüdische, metropolitane Multikulturalität und innerjüdische kulturelle und religiöse Vielfalt als ausgesprochene Berlinspezifika von den meisten der hier Angeführten angesehen und als positiv befunden werden, auch wenn nur eine Minderheit der sich hierzu Äußernden aus diesen Gründen nach Berlin gegangen ist. Dennoch spielen diese Faktoren für ihr besonders ausgeprägtes Engagement am Peripheriebereich der Gemeinde eine nachvollziehbar große Rolle. So werden genau bei diesen beiden Punkten Vergleiche zu anderen größeren jüdischen Gemeinden in Deutschland (wie etwa Düsseldorf, Köln oder München) gezogen, in allen Fällen ,pro Berlin‘. Aber auch der JGB, seit dem 19. Jahrhundert Urtyp religiöspluralistisch organisierten EGs in Deutschland und gegenwärtig unbestritten in der hiesigen jüdischen Diaspora die religiös vielfältigste Gemeinde, wird dieser gegenüber weniger pluralen Gemeinden andernorts in Deutschland der Vorzug gegeben. Vor diesem Hintergrund wird auch der konstruktive Stellenwert ihrer gemeindekritischen Bemerkungen deutlich Schließlich. hätte es in Deutschland kaum einen besseren Ort gegeben, ihr innerjüdisches Engagement zu realisieren. Eine vergleichende Wertigkeit zu anderen Orten jüdischen Lebens in der hiesigen Diaspora ist von Autorenseite nach allem Gesagten nur bedingt möglich. Über die generelle Attraktivität der berlinspezifischen jüdischen Existenz können aus den in diesem Kapitel angeführten Äußerungen keine Schlüsse gezogen werden. Ortsspezifische Vorzüge und Kritikpunkte können sich m. E. mit ganz anderen mehr oder weniger überindividuell nachvollziehbaren Begründungen, innerjüdisch (wie analog auch außerjüdisch), ebenso auch anderswo in Deutschland finden lassen. Wichtig erscheinen im Fall der persönlichen Berlinbezüge, wie auch im Fall der Gemeindecharakteristika, dagegen vielmehr, bedeutsame spezifische Voraussetzungen bestimmter Erscheinungen der örtlichen jüdischen Existenz aus der Perspektive der Erhebungsauswahl beleuchtet zu haben. Weitere dieser ortstypischen Voraussetzungen werden auch in den beiden folgenden Kapiteln zu bestimmten Phänomenen des deutsch-jüdischen Felds in Berlin eine gebührende Rolle spielen.
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3 . D e r n i c h t j ü d i s c h e H y p e u m d e n D a v id s t e r n – K u l t u r e l le An - u n d E n te i g n u n g s e f fe k te d e s Jüdischen in Berlin „Die Begeisterung für die jüdische Kultur ist umso größer, je weniger reale Juden vorhanden sind“. Henryk M. Broder191
3.1. Nichtjüdische Inszenierungen des Jüdischen: eine kultursoziologische Annäherung Juden bekommen in Deutschland noch - oder schon wieder – eine Sonderrolle zugeschrieben. Dies trifft allemal für alte wie neue Antisemiten zu, die ein kollektives jüdisches Zerrbild imaginieren, dessen Attribute sie auf reale Juden projizieren.192 Aber auch die Kehrseite des hiesigen Antisemitismus, ein generationsspezifischer deutscher primärer und mittlerweile sekundärer NachkriegsPhilosemitismus der Nachgeborenen193 nehmen Juden als ein per se mit positiven Eigenschaften ausgestattetes Kollektiv wahr. Seit nunmehr über 10 Jahren ist hierzulande noch ein Weiteres zu beobachten, nämlich dass jüdische Thematik bzw. Versatzstücke jüdischer Kultur in Mode gekommen, zu einem touristischen Hype geworden sind, wie in diesem Umfang vielleicht nirgendwo sonst auf der Welt. Dies gilt, wie zu zeigen sein wird, insbesondere in der deutschen Hauptstadt Berlin, quasi im historischen Schatten der einstmals größten hiesigen jüdischen Gemeinschaft wie gleichermaßen des Schaltzentrums des NS-Regimes und der von ihm ausgelösten Judenverfolgung. Diverse Philosemitismen mögen den Anfängen dieser Mode zu Grunde liegen, müssen es aber heute keineswegs mehr. Denn wie in anderen Fällen kulturindustrieller Besetzungen kann ein modischer Kult um Jüdisches gänzlich auf lebende Juden und auf eine konkrete Haltung ihnen gegenüber in der sozialen Lebenswelt verzichten. Mode bedarf allerdings zur Schaustellung immer auch besonderer Inszenierungen. Tatsächlich zeigten sich schon bei den ersten explorativen Besuchen in Berlin sichtbare Beispiele modischer Inszenierung von Jüdischem sowie einer entsprechenden Nachfrage auf der nichtjüdischen Rezipientenseite. Als konkretes Beispiel dieses Phänomens wurden bereits im Einführungsteil in Kap. II.2.4.2. gegenwärtige nichtjüdische Umgangsweisen mit dem tatsächlichen wie einem imaginierten Scheunenviertel aufgezeigt. Der Entscheidung, diese Thematik zum zentralen Untersuchungsgegenstand der Erhebung zu machen, liegen eine Annahme und zwei Erfahrungswerte zu Grunde, die in dem besagten Einführungskapitel zu jüdischer Existenz in Berlin bereits kurz erwähnt wurden und hier thesenartig vergegenwärtigt werden sollen: 191 Ders. zit. nach M. Wöhlert, in: ZITTY 30.07.98 192 Der Antisemitismus in seinen Auswirkungen auf die jüdische Gemeinschaft in Berlin wird im folgenden Kap. III.4. noch genauer behandelt. 193 Zu den diversen Spielarten spezifisch deutscher Ausprägungsformen des Philosemitismus vgl. Begriffsbestimmungs-Kap. I.3. sowie Eigenverortungs-Kap. I.4.2.
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Nichtjüdische Inszenierungen des Jüdischen und der Hype um pseudojüdische sowie Versatzstücke jüdischer Kultur können direkte und indirekte Auswirkungen auf das jüdische Leben in Berlin sowie Effekte auf die Verständigung zwischen heute in der Metropole sich begegnenden Juden und Nichtjuden haben. Die forschungsrelevant eindeutige Abgrenzung zwischen den im Zentrum der Erhebung stehenden, maßgeblich jüdisch bestimmten Gruppenaktivitäten auf der einen Seite sowie nichtjüdischen Inszenierungen auf der anderen, gebietet es, sich mit den besagten Phänomenen genauer auseinanderzusetzen. In der Anbahnung und Durchführung der Erhebungsgespräche stellte es sich als erforderlich heraus, gegenüber einigen aus dem Erhebungskreis die eigene Forschungsperspektive reflektierte Distanzhaltung im Hinblick auf nichtjüdischen Hypes um Jüdisches zu verdeutlichen.194
Allerdings soll bereits an dieser Stelle zur Vermeidung eines eventuell aufkeimenden Missverständnisses betont werden, dass es sich bei vielen Beispielen einer bewussten nichtjüdischen Beschäftigungen mit jüdischer Thematik gerade nicht um geschichtsklitternde und klischeeproduzierende Inszenierungen handelt, wie sie hier im Weiteren kritisch erörtert werden. Insbesondere in Bereichen der Gedenkkultur an die während des NS an Juden verübten Verbrechen und der Bearbeitung und Darstellung der deutsch-jüdischen Geschichte vor 1933 gibt es viele anerkennungswürdige Beispiele. Daher werden in einem eigenen Unterabschnitt entsprechende Berliner Positivbeispiele konstruktiver Bearbeitungsweisen jüdischer Thematik wie etwa das bereits im Kap. II.2.4.1. vorgestellte Jüdische Museum Berlin thematisiert und auf theoretischer Ebene reflektiert. Teilweise existieren, wie ebenfalls zu zeigen sein wird, auch bemerkenswerte Beispiele für jüdisch-nichtjüdische Kooperationen. Schließlich gilt es, ebenfalls vorhandene Beispiele eines fließenden Übergangs zwischen originär jüdischen und nichtjüdisch inszenierten Kulturäußerungen, wo vorhanden, ebenfalls in die Untersuchung einzubeziehen. In einem ersten Durchgang soll es darum gehen, nichtjüdische Inszenierungen und der Hype darum in mehreren Schritten kultursoziologisch zu bestimmen und in seinen Implikationen im deutsch-jüdischen Feld zu analysieren. Hierfür werden zunächst allgemeine Charakteristika nichtjüdischer Inszenierungen des Jüdischen herausgestellt (Kap. III.3.1.1). Der zweite Abschnitt beschreibt konkrete Berliner Ausprägungsformen solcher Inszenierungen mit Hype-Charakter (Kap. III.3.1.2.). In einem dritten Schritt werden im Kontrast zu diesen Inszenierungen zwei konstruktive Beispiele der Thematisierung Jüdisches ,am historischen Ort‘ angeführt (Kap. III.3.1.3). Im vierten Anlauf wird der berlinspezifische Hype um nichtjüdische Inszenierungen wie um selektiv wahrgenommene 194 Zunächst wurde bei der überwiegend telephonischen Anbahnung der Erhebungsgespräche von einigen Befragten zunächst der Verdacht geäußert, dass die Studie und ihr Forschungsinteresse ebenfalls von dem Hype um Jüdisches motiviert sei.
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originär jüdische Äußerungen umrissen (Kap. III.3.1.4.). In einem fünften und letzten Durchgang werden berlinspezifische Entstehungsbedingungen und Konsequenzen des Hypes diskutiert (Kap. III.3.1.5.). Nach dieser mehrschichtigen Bestimmung nichtjüdischer Inszenierungen und des ausgesprochen Berliner Hypes werden in einem zweiten Durchgang die Aussagen aus den Erhebungsgesprächen zu diesem Themenbereich vorgestellt und erörtert (Kap. III.3.2.).
3.1.1. Allgemeine Merkmalsbestimmungen nichtjüdischer Inszenierungen des Jüdischen Was hat es mit der modischen Thematisierung jüdischer oder vermeintlich jüdischer Inhalte im heutigen Deutschland und Berlin konkret auf sich? Kann man überhaupt von Mode sprechen, wenn sich Menschen in Deutschland, für jüdische Thematik interessieren? Und ist nicht weiter zu fragen, ob nicht jede Beschäftigung mit Jüdischem durch Nichtjuden eine Art Inszenierung ist? Auf einer konkret sichtbaren Ebene lässt sich zunächst feststellen, dass bestimmte als jüdisch wahrgenommene öffentliche Thematisierungen jüdischer Inhalte deutschlandesweit – also durchaus nicht nur in Berlin – aktuell einen regelrechten Boom erleben. Dies ist noch nicht sehr lange so und war in den ersten Nachkriegsjahrzehnten noch keineswegs abzusehen195: In den Zeiten des äußeren Wiederaufbaus und der inneren Schuldabwehr nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich noch keineswegs eine ,Gedenkkultur‘ herausgebildet. Das Gedenken blieb damals noch auf einige zentrale Orte und staatliche Gedenkakte an bestimmten Geschichtsdaten beschränkt. Erst nach den Eichmann- (1961) Auschwitz- (19631965) und Diskussionen um die Verjährungsfrist in den 60er Jahren sowie den kulturellen Auf- und Umbrüchen in Folge von '68 wuchs in Deutschland ein gesteigertes Interesse an der Beschäftigung mit der NS-Judenverfolgung.196 Aber erst seit Ende der 70er Jahre, mit dem von nun an landauf landab stattfindenden und zunehmenden Gedenken an die Pogrome vom 9. November 1938 sowie der Ausstrahlung der Fernsehserie ,Holocaust‘ von Claude Lanzmann nahm bis heute eine eigene Gedenkkultur Gestalt an mit dem bisherigen Höhepunkt der Einweihung des Holocaust-Mahnmals in Berlin 2005. Eine nicht mehr überschaubare Anzahl an Gedenkorten, -steinen, -tafeln und -ausstellungen der Vertreibung, Deportation und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung zur NS-Zeit wurden und werden seitdem überall in Deutschland errichtet.197
195 Vgl. hierzu auch den Einleitungs-Abschnitt III.4.1.2. des AntisemitismusKapitels. 196 Y. M. Bodemann: Gedächtnistheater, S. 87 ff. sowie ders.: In den Wogen der Erinnerung. Jüdische Existenz in Deutschland, Frankfurt a. M., dtv 2002, S. 70 ff. 197 Der Soziologe Y. M. Bodemann spricht im Zusammenhang mit der mittlerweile etablierten Gedenkkultur gegenüber der Juden-Verfolgung während der NS-Zeit davon, dass das Erinnern an die sog. ,Reichskristallnacht‘ in Deutschland teilweise geradezu in eine ,Erinnerungsexplosion‘, in eine ,Gedenk-Epidemie‘ ausgeufert ist. Es sei demnach ein Gedenken, „das von deutscher Seite, sowohl gesellschaft-
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In den 80er Jahren weitete sich das Interesse an jüdischer Geschichte und Kultur über die Verfolgung durch das NS-Regime hinaus mehr und mehr auch auf andere Bereiche jüdischer Kultur aus. An erster Stelle ist dabei gegenwärtig das enorme und offenbar immer noch wachsende Interesse an der Klezmermusik zu nennen, tonale Überlieferungen und Versatzstücke einer in Osteuropa, jedoch nie in Deutschland beheimateten und in der Schoah für immer untergegangenen osteuropäischen Schtetl-Kultur. Unzählige, meist nichtjüdische Musiker, spielen mit ihren Bands in ganz Deutschland diese bis ins 16. Jahrhundert zurückreichende Musik der früheren osteuropäischen Juden. Klezmermusik stellt längst etwa ähnlich der Latinomusik ein eigenes, auch kommerziell erfolgreiches Genre der hiesigen Musikbranche dar.198 Dieses Label lässt sich neben dem anderen Reizwort Jiddisch mittlerweile auch kommerziell überaus erfolgreich vermarkten. Jüdisch, Jiddisch und Klezmer erscheinen dabei allein qua Masse der Angebote als ein Amalgam, welches jenseits der jeweiligen Absichten der Künstler das spannungsreiche spezifisch deutsch-jüdische Kulturfeld häufig in den Hintergrund treten lässt. Allerdings kann in dem Beispiel Klezmermusik keineswegs per se eine Klischeebildung des Jüdischen ausgemacht werden. So besteht bei Klezmerkonzerten ein fließender Übergang zwischen einerseits (nichtjüdischen) klischeebildenden Inszenierungen und andererseits sensiblen Interpretationen dieser jüdischen Musikkultur. Dabei ist offenbar die jüdische oder nichtjüdische Herkunft der Musiker – ähnlich zu anderen ehemals ethnisch bzw. regional abgeschlossener Musiktraditionen – kein zentrales Kriterium. Vielmehr scheint mir die Absicht der Musiker entscheidend: Soll eine pseudoauthentische Atmosphäre verbreitet oder wird vermittelt, dass es sich um eine Interpretation jenseits des ursprünglichen Kontext handelt, wäre entsprechend zu fragen. Aber auch die auf Deutsch in den letzten 25 Jahren erschienenen Bücher jüdischer wie auch nichtjüdischer AutorInnen zu jüdischen Themen können längst ganze Bibliotheken füllen. Fast jede gut sortierte größere Buchhandlung lich wie staatlicherseits, in Besitz genommen wurde, um deutsche nationale Deutungsbedürfnisse zu erfüllen.“ Ders.: Gedächtnistheater, S. 13 f. 198 Die ,Wiederentdeckung‘ dieser mit dem osteuropäischen Judentum durch die Schoah fast untergegangenen Musik fand allerdings bereits zuvor in den 70er Jahren in New York statt, wohin seit dem späten 19. Jahrhundert Klezmorim (Klezmer-Spieler) auswanderten. So schreibt B. Rebiger in einem Exkurs zu Klezmermusik in seinem ,jüdischen Berlinreiseführer‘: „Klezmer wurde nach der Vernichtung des osteuropäischen Judentums und seiner Kultur nur noch selten gespielt und war nur einigen wenigen Liebhabern und Sammlern bekannt. Ab Mitte der 70er Jahre gelang dieser Musik in Amerika ein erstaunliches Comeback, und zwar nun vor allem auf den Konzertpodien. Die seit den 20er Jahren kontinuierlich auftretenden Epstein Brothers und […] Dave Tarras bilden gewissermaßen das einzige aktive Bindeglied zwischen dem Vorkriegsklezmer und seinem späten Revival.“ Ders. Das Jüdische Berlin, S. 183. – Zur spezifischen Neuverbreitung der Klezmermusik in Berlin vgl. die Ausführungen in den folgenden beiden Abschnitten Kap. III.3.1.2. und 3.1.3.
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besitzt mittlerweile eine als eigene Themensparte gekennzeichnete Abteilung mit Judaika.199 Jüdische Thematik oder wiederentdeckte jüdische Aspekte von Personen, Orten, Epochen, Kulturgattungen und Bräuchen bilden das Inventar unzähliger Ausstellungen, Museen, Konzerte, Theaterstücke, Stadtführungen usw. Dabei können für sich genommen all diese Indizien eines zunehmenden Interesses aus der nichtjüdisch deutschen Mehrheitsgesellschaft für jüdische Thematik als ein durchaus erfreulicher Wandel des Umgangs mit dem geschichtlichen Erbe des zuvor in Deutschland verfolgten jüdischen Kollektivs genommen werden. Im Umkehrschluss bedeutet dies allerdings, dass eine Begegnung oder Auseinandersetzung mit hiesigen heutigen Juden und jüdischer Kultur in diesen nichtjüdischen Beschäftigungen mit Jüdischem kaum oder überhaupt nicht stattfindet. Wie in der Einleitung der Studie erwähnt, haben auch heutzutage noch immer die wenigsten Nichtjuden in Deutschland Gelegenheit, hier lebende Juden im Alltag kennen zu lernen. Darüber hinaus ist zu vermuten, dass in Berlin wie auch im übrigen Deutschland angesichts der großen Zerstörung der hiesigen jüdischen Kultur eine Annäherung an jüdische Geschichte im gewissen Umfang zwangsläufig nur fiktional möglich ist. Auch bei den beschriebenen verschiedenen Formen der gegenwärtigen Beschäftigung mit Jüdischem handelt es sich also um eine „gemeinschaftlich gelebte Kultur, sondern [um] eine Kultur, in der Museen, Denkmäler und jüdische Volkshochschulen und nicht jüdische Familien und Gemeinschaftsleben dominieren“200, wie Bodemann hierzu treffend bemerkt. Noch problematischer erscheint die mit diese Historisierung einhergehende Ausblendung gegenwärtiger jüdischer Realität in Deutschland, wenn die Darstellung ,jüdische Kultur‘ fälschlicherweise selbst als ,jüdisch‘ bezeichnet wird, tatsächlich aber überwiegend in judaisierenden Milieus, also von deutschen Nichtjuden „geformt, jüdische Geschichte von ihnen rekonstruiert […]: von deutschen Experten für jüdische Religion, Geschichte und Kultur“ wird.201 Vor diesem Hintergrund lautet die für die weiteren Ausführungen leitende Annahme, dass dies stark gewachsene, allerdings doppelt vereinseitigte bzw. halbierte ernsthafte Beschäftigung • mit jüdischer Geschichte und Verfolgungsgeschichte • durch überwiegend Nichtjuden erst Voraussetzungen für die hier problematisierten wirklichkeitsverzerrenden Inszenierungen jüdischer Vergangenheit und Gegenwart herstellt. Doch wie lassen sich im Weiteren diese hier eher kritisch diskutierten Inszenierungen jüdischer Thematik von den o. g. Beispielen der seriösen Beschäftigung damit unterscheiden? Der weiteren Antwort muss vorausgeschickt werden, dass es sich eher um ein Kontinuum denn um eine krude Bipolarität zwischen
199 Eine Darstellung der Diskussion um die Definition, was als jüdische Literatur zu gelten hat, muss hier aus Platzgründen unterbleiben. 200 Y. M. Bodemann: Gedächtnistheater, S. 52 201 Ebd.
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beiden handelt, wie noch zu zeigen sein wird. Auch die seriöse Darstellung von Vergangenem kommt nie ohne ein gewisses Maß an Inszenierung aus, wie der dem Theaterbereich entlehnte Wortursprung verrät. Dennoch lassen sich die Unterschiede an konkreten ,Schulbuchbeispielen‘ wie auch auf theoretischbegrifflicher Ebene idealtypisch beschreiben: Demnach funktionieren nichtjüdische, modisch motivierte Inszenierungen des Jüdischen nach dem durch die an der Gewinnmaximierung orientierten Tourismus- und Musikindustrie hinlänglich bekannten Schema der Klischeebildung und des Exotismus: Kulturelle Eigenheiten eines Kollektivs werden hierfür gerne als ,bunt‘, ,nett‘, ,traditionell‘ und bei all diesem als ,fremdartig‘ inszeniert. Die Klischeebildung gelingt am besten dort, wo sie nicht Gefahr läuft, durch die soziale und kulturelle Wirklichkeit der mit der Zuschreibung entstellten Personen und Kollektive dementiert zu werden, wobei sich dennoch aber ein gewisses Authentizitätsgefühl einstellen kann, in einem Bild gefasst: die inszenierte Idylle eines Museumsdorfs, in dem Komparsen am historischen Ort ein klischeeartiges Bild früherer Zeiten nachspielen. Beliebte Foren für diese meist von Nichtjuden für Nichtjuden angebotenen Inszenierungen sind (Bild-)Medien, aber auch für touristische Zwecke drapierte öffentlich zugängliche (Stadt-)Räume. Die Inszenierungen können in Filmen, Musik- und Theaterdarbietungen, in Geschäften, im Verkauf kunstgewerblicher Produkte, aber auch in der touristischen Gestaltung von Straßenzügen und ganzen Stadtvierteln bestehen. Aber auch eine sensationsheischende Berichterstattung über jüdische Einrichtungen und die Eskapaden einzelner Juden können ebenso hierzu gerechnet werden.202 Ausgeprägt touristisch bzw. kommerziell motivierte Inszenierungen des Jüdischen existieren häufig in einer marktförmigen Anbieter-/Nachfrager-Struktur: • Sie sollen dem Konsumbedürfnissen einer möglichst großen Anzahl an Rezipienten zugute kommen. • Sie sollen unter kommerziellen Gesichtspunkten obendrein dem finanziellen Gewinn der Anbieter zugute kommen. Bodemann hatte bereits Mitte der 90er Jahre neuere nichtjüdische Klischeebildungen des Jüdischen in seinen Reflexionen über das deutsche „Gedächtnistheater“ (Buchtitel) wahrgenommen und dabei vor allem die mit Stereotypen arbeitenden medialen Darstellungsweisen von Juden kritisch im Blick: „In deutschen Darstellungen stehen jedoch meist nicht jüdisches kulturelles oder gemeinschaftliches Leben oder die Individualität der einzelnen jüdischen Person im Vordergrund. Vielmehr werden Juden als Genus repräsentiert, (…) jüdische Individuen in ein Korsett des Bedürfnisses nach Stereotypen gezwängt. […] Als Ort gesellschaftlicher und politischer Orientierung dient er [der jüdische Körper; A. J.] der exotischen
202 Dies gilt unbenommen davon, dass sich auch einige hier lebende Juden an den touristisch motivierten Inszenierungen vormaliger jüdischer Wirklichkeit beteiligen mögen, wie I. Weiss kritisch anmerkt. Das entsprechende Zitat folgt unten in Kap. III.3.1.2., S. 298, mit d. Anm. 213.
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Begierde, als Medium wiederum dient er der Kommunikation als Kafkasche Schreibtafel.“203
Auf Berlin bezogen lässt sich mitunter Ähnliches beobachten. Besonders die weit überdurchschnittliche nichtjüdisch-mediale Aufmerksamkeit für persönliche Querelen und Auseinandersetzungen die Führungsriege der Berliner Gemeinde sticht dabei ins Auge. Dieser Medienhype kann insbesondere für in der Stadt verweilende auswärtige Juden schon mal groteske Züge annehmen.204 Dies gilt aber auch angesichts des viel geringeren medialen Interesses an den unzähligen weiteren religiösen Gemeinschaften mit hunderttausenden Mitgliedern in der Metropole, allen voran den muslimischen verschiedenster Ausrichtung. Auch wenn es im Weiteren im Unterschied zu Bodemanns medienbezogenen Beobachtungen eher um stadträumliche Inszenierungen des Jüdischen durch Nichtjuden geht, sind seine Ausführungen m. E. hierauf durchaus ebenso anwendbar. Einige Jahre nach dem o. g. Zitat sprach Bodemann im Zusammenhang mit den auf die in Deutschland lebenden Juden bezogenen medial vermittelten Projektionen sogar von einer „imagined community“, von einem „imaginären Judentum“. Die Bestandteile dieser Gemeinschaft vermerkt er mit einem Anflug von Ironie und konfrontiert diese Phantasmagorie mit der Situation in anderen westlichen Ländern, in denen größere jüdische Gemeinschaften leben: „Sie wird etwas plakativ gesprochen, repräsentiert von den Zentralratsvorsitzenden […], den Berliner Gemeindevorsitzenden sowie einigen bekannteren Persönlichkeiten vor allem aus München und Frankfurt […]. Diese imaginierte Gemeinschaft wird als tief religiös verklärt: In exotischer Verkleidung beten sie im Fernsehen, zu Hause segnen die Eltern die Sabbatkerzen, den Wein und das Brot am festlich gedeckten Tisch, umgeben von wohlerzogenen Kindern. Ihre Welt ist, wenn es denn einmal lustig wird, die der mittlerweile viel gescholtenen Klezmermusik, und ansonsten sind sie damit beschäftigt, des Holocausts zu gedenken. […] Entsprechende Bilder des Judentums wären andernorts – in Kanada, den USA, aber auch in Frankreich oder England – undenkbar.“205
203 Y. M. Bodemann: Gedächtnistheater, S. 11 f. 204 Der bekannte Berliner Autor Wladimir Kaminer, der, mit jüdisch-russischer Herkunft 1990 in die Noch-DDR-Hauptstadt Ostberlin gekommen war, schilderte bereits vor Jahren die Wirkung dieses Medienhypes auf von ihm überraschte ausländische, zumal jüdische Berlinbesucher mit einer kleinen Anekdote: „Ein […] Rabbiner – aus England – befand sich gerade […] in Berlin. Er hatte sein Amt aufgegeben und war auf eine Weltreise gegangen. Eines Tages […], er war blass im Gesicht fragte [er] mich fassungslos: ,What's happened? Ich sitze in meinem Zimmer im Kempinski, mache den Fernseher an, sehe diesen jungen Rabbiner, schaue in die Berliner Zeitungen – wieder der Rabbiner. Was ist mit dem Mann passiert? Ist er ermordet worden?‘ Aber nein, beruhige ich ihn, er hat nur sein Amt gewechselt. Daraufhin sagte er: ,Ich wurde in meinem Leben zwanzigmal versetzt, aber kein Fernsehsender hat je einen Ton darüber verlauten lassen, von den Zeitungen ganz zu schweigen.‘ Das ist bei uns anders, erkläre ich ihm: Juden sind Nachrichten in Deutschland.“ Ders. „Ein Mittagessen an der jüdischen Volkshochschule“, in: TAZ 06.05.00. 205 Y. M. Bodemann: Wogen der Erinnerung, S. 185 f.
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Außerdem müsste seiner Meinung nach zu den „geläufigsten Bestandteilen eines Phantombildes des imaginären Judentums“ die durch Umfragen in weiten Teilen der nichtjüdischen Bevölkerung festgestellte „imaginäre demographische Komponente“206 hinzugezählt werden: Zahl und Einfluss der in Deutschland lebenden Juden werden von der nichtjüdischen Bevölkerung auch in neueren Umfragen um ein vielfaches überschätzt. Es kann nach allem hier Gesagten deutlich werden, dass die hiesige jüdische Gemeinschaft insgesamt von diesen nichtjüdischen Kollektivzuschreibungen und Klischeebildungen betroffen ist. Denn die genannten Zerrbilder können den von ihnen entstellten hiesigen Juden (wie auch in den entsprechenden Stereotypenbildungen bei anderen Minderheiten) im alltäglichen Umgang mit den Angehörigen der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft entgegentreten. Im schlimmsten Fall kann das durch imaginierte Zuschreibungen betroffene Kollektiv bewusst oder unbewusst selbst das ihm zugeschriebene Zerrbild verinnerlichen, sei es aus Anpassungsdruck oder -bereitschaft an die Mehrheitsgesellschaft, sei es weil die eigene kollektive Identitätsbildung von diesen Bildern der Dominanzkultur überblendet wird. Die Gefahren einer solchen Übernahme erscheinen mir im Falle der besonders kleinen und stark assimilierten jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und Berlin besonders gegeben. Auch Bodemann sieht Hinweise dafür, dass sich hiesige Juden den über sie von Nichtjuden aufgebauten Projektionen und Klischeebildungen vor allem unter philosemitischen Vorzeichen nicht oder nur schwer entziehen könnten. So sähen sie sich bspw. oft widerstrebend zu Erinnerungsarbeit verpflichtet, als Träger religiöser Botschaften vereinnahmt oder zu Erben des alten deutschen Judentums apostrophiert zu werden.207 Andererseits gibt es aber auch viele Beispiele der nichtjüdischen Beschäftigungen mit jüdischer Thematik, bei denen es sich gerade nicht um geschichtsklitternde und klischeeproduzierende kulturelle Zuschreibungen handelt, wie sie hier kritisch erörtert werden. So existieren viele ganz unterschiedliche künstlerische und wissenschaftliche Behandlungen jüdischer Thematik durch Nichtjuden, welche am Dialog mit Juden interessiert sind und ihre eigenen Bezüge zu den jüdischen Inhalten thematisieren (bspw. als Mitarbeiter in Gedenkstätten und Museen oder auch einige hiesige nichtjüdische Klezmermusiker und Filmemacher).208 Diese Vorgehensweisen werden von mir in Abgrenzung zu dem hier erörterten Phänomen und Begriff der Inszenierungen als ein vermittelnder Umgang mit jüdischer Kultur durch Nichtjuden bezeichnet, der die eigene Perspektive betont, anstatt sie zu leugnen.209 Doch wie sollten dementsprechende 206 Ebd., S. 186. Ausführlicher wird im Einleitungs-Teil der Studie diesem Aspekt Raum gegeben, vgl. Kap. I.1., S. 19. 207 Ebd. 208 Vgl. hierzu die Ausführungen im Begriffsbestimmungs-Kap. I.3.2.2., S. 44 ff. unter dem Stichwort ,Judaisierendes Milieu‘. 209 Hierzu können neben rekonstruktiven natürlich auch experimentelle, bspw. dekonstruktivistische Versuche der Auseinandersetzung mit jüdischer Kultur zählen.
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gelingende Vermittlungsversuche vergangener sowie gegenwärtiger kultureller jüdischer Manifestationen inhaltlich beschaffen sein? Einige wesentliche Punkte erscheinen mir ausschlaggebend für das Gelingen entsprechender Bemühungen zu sein. Konkret bedeutet dies, dass auf der Ebene der eigenen Ansprüche dieser Bemühungen folgende Aspekte im Vordergrund stehen sollten: • Zugangsvermittlungen zu authentischen jüdischen Kulturmanifestationen, • deren Motivation nicht primär in kommerziellen Gesichtspunkten liegt; • eine differenzierte Perspektive auf Juden und jüdische Thematik; • Kontextualisierungen im Hinblick auf die Geschichte und Gegenwart jüdischer Existenz sowie der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft in Berlin; • Orientierung am eigenen Erkenntnisgewinn bzw. an demjenigen der jeweiligen Zielgruppe im deutsch-jüdische Feld; • und, wo es möglich ist, eine Orientierung am jüdisch-nichtjüdischen Austausch. Allerdings wird hier ausdrücklich eine allzu vorschnelle Einordnung und Bewertung des nichtjüdischen Umgangs mit jüdischer Thematik beherzigt. Denn auch rekonstruktive Umgangsweisen mit Jüdischem können leicht als Projektionsflächen modisch bzw. kommerziell orientierter Inszenierungen benutzt werden. Umgekehrt kann ein durch solcherlei Inszenierungen auf den Geschmack gekommenes Publikum über diese durchaus auch den Weg zu rekonstruktiven Ansätzen der Beschäftigung mit jüdischer Kultur finden. Schließlich gibt es, wie erwähnt, eine breite Grauzone des nichtjüdischen Umgangsweisen mit jüdischer Thematik, indem sowohl ein um ein echtes Verständnis bemühter Zugang als auch auf Jüdisches bezogene Klischeebildungen und kulturelle Zuschreibungen vorgenommen und bedient werden.210 Ein Großteil der in diesem Abschnitt aufgeführten Inszenierungen und Rekonstruktionen des Jüdischen sowie der Mischformen beider lassen sich am Untersuchungsort der Studie in Berlin ausmachen. Im folgenden Abschnitt sollen daher originär Berliner Ausprägungsformen klischeebildender Inszenierungen des Jüdischen sowie des um sie herum entstandenen modischen Hypes dargestellt sowie den am Ort auffindbaren Bedingungen hierfür nachgegangen werden.
3.1.2. Berliner Ausdrucksformen nichtjüdischer Inszenierungen des Jüdischen Schon in kurzen Begehungen touristisch einschlägiger Orte im Berliner Stadtraum kann deutlich werden, dass hier die Thematisierung des Jüdischen unter dem Label ,Jüdisches Berlin‘ als touristisches Programm wie nirgendwo sonst in Deutschland in Szene gesetzt wird und damit hier auch für Juden wie Nichtjuden am offensichtlichsten wahrnehmbar ist. So sind in den letzten Jahren in Berlin 210 Ein gutes Beispiel hierfür sind aktuelle Spielfilmproduktionen fürs Kino und Fernsehen (etwa in Krimiserien des öffentlich-rechtlichen Fernsehens), auf die hier allerdings nicht weiter eingegangen werden kann.
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hauptsächlich von nichtjüdischen Deutschen und für sie symbolische Räume einer tatsächlichen wie auch imaginierten Vergangenheit als „Erinnerungslandschaften“ (Beck-Gernsheim)211 geschaffen worden. Dies soll mit zwei augenfälligen Beispielen belegt werden: Das erste Beispiel besteht aus den nichtjüdischen Inszenierungen vermeintlich jüdischer Kulturäußerungen in der bevorzugten Berliner Sightseeing-Gegend Spandauer Vorstadt im Umfeld der teilekonstruierten Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße. Dabei wird ein Amalgam aus völlig verschiedenen historischen und stadträumlichen jüdischen Bezügen scheinbar authentisch als ‚Jüdisches Viertel‘ oder ‚Jüdisches Berlin‘ mit der pittoresken goldenen Kuppel der Neuen Synagoge als Blickfang inszeniert und imaginiert.212 Dessen Inventar besteht dabei aus Lokalen, Bars, Speisen, Musik-CDs, Ritualgegenständen, Bagels, Klezmermusik usw., die vielfach einen jüdischen Touch haben, ohne jedoch originär jüdisch zu sein. Vor Ort befindliche Einrichtungen der jüdischen Gemeinde und anderer jüdischer Organisationen sowie der prächtige Synagogenbau können dabei als die vermeintliche Authentizität des Ortes befördernde Hintergrundsfolie für diese Inszenierungen dienen oder werden im touristisch geprägten Treiben sowieso als zu unspektakulär gar nicht erst wahrgenommen. Die jüdisch-berliner Publizistin Iris Weiss, die seit 1995 selbst Führungen zu jüdischen Themen in Berlin anbietet, hat dieses von ihr als teilnehmende Beobachterin erlebte Phänomen in der Oranienburger Straße und im Umfeld der Neuen Synagoge pointiert als ,Jewish Disneyland‘ bezeichnet und beschrieben: „Die Zeit schien hier stehen geblieben zu sein und so für viele eine Annäherung an jüdische Geschichte wegen der hier noch sichtbaren jüdischen Orte (Synagogenruine, Schule, Friedhof ...) zu erleichtern. – Zunehmend tauchten auch Phänomene auf, die vorgaukelten ,jüdisch‘ zu sein […]. - Zu den ,Zutaten‘ dieses Potpourris gehören Restaurants wie das ,Mendelsohn‘, in dem regelmäßig Schweinefleischgerichte mit Sahnesoße serviert werden, überfüllte Klezmerkonzerte […]. Abgerundet wird das Angebot von einer Vielzahl von Rundgängen. Auf Nachfrage stellt sich häufig heraus, dass die Veranstalter keinen Juden persönlich kennen und es auch nicht für nötig halten, irgendeine Form jüdischen Lebens kennenzulernen. – […] Kritisch muss vermerkt werden, dass gelegentlich auch Juden bei ,Jewish Disneyland‘ mitspielen, […] nicht nur in Berlin.“213 211 Vgl. Elisabeth Beck-Gernsheim: Juden, Deutsche und andere Erinnerungslandschaften. Im Dschungel der ethnischen Kategorien, Frankfurt a. M. Suhrkamp 1999 212 Vgl. zu der originär jüdischen Geschichte des Scheunenviertels und der Spandauer Vorstadt sowie dessen Inszenierung als ‚falsches Scheunenviertel‘ das Berlin bezogene Einführungs-Kap. II.2.4.2., S. 165 ff. 213 Iris Weiss: „Jewish Disneyland – die Aneignung und Enteignung des ,Jüdischen‘“, in: GOLEM. Europäisch-jüdisches Magazin Nr. 3/2000, S. 43 f. Unter dieser Überschrift hielt die Autorin auch öffentliche Vorträge, wie etwa der von mir besuchte am 23.07.02 im jüdischen Kulturmuseum in Augsburg. – Eine vergleichbar ironisch-provokante Allegorie wählte der Berliner Publizist Thomas Lackmann für seine Publikation über die Entstehung des Jüdischen Museums Berlin: ,Jewrassic Park‘; vgl. hier Kap. II.2.4.1., S. 163, Anm. 297.
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– ein unten im Erhebungsteil noch näher behandeltes Faktum.214 I. Weiss ist m. E. damit Recht zu geben, dass sich im Goutieren der Inszenierungen des Jüdischen am historischen wie am vermeintlich historischen Ort auf Seiten des nichtjüdisch-deutschen Publikums über die Befriedigung von Exotismus hinaus ein starkes Harmoniebedürfnis im Bezug auf das historisch belastete deutschjüdische Feld äußert. Als weiteres Beispiel nichtjüdischer Inszenierungen des Jüdischen in Berlin soll noch die gerade hier besonders stark verbreitete Klezmermusik dienen. Wie bereits im vorherigen Abschnitt thematisiert, nimmt sie im deutsch-jüdischen Feld eine sehr ambivalente Rolle ein. Dabei ist Berlin zweifelsohne die deutsche ,Klezmerhauptstadt‘ schlechthin. Bereits in den frühen 90er Jahren traten hier regelmäßig neben einheimischen auch bedeutende Klezmerbands aus den USA, dem Mutterland des Klezmer-Revivals, auf, wie etwa die bekannte New Yorker jüdische Band Klezmatics. Kaum ein Abend vergeht in der Metropole, ohne die Möglichkeit zum Besuch eines oder mehrerer Klezmerkonzerte. Tatsächlich hat die Pflege des Klezmer in Berlin noch einen ganz anderen und besonderen Lokalkolorit: Seine örtliche Wiederentdeckung fand hier ausgerechnet in der für kommerziell motivierte Moden, zumal im Bereich der jüdischosteuropäischen Geschichte, unverdächtigen Hauptstadt der DDR, in Ostberlin statt! A: Roth und M. Frajman erwähnen in ihrem jüdischen Reiseführer diese erstaunliche Episode deutscher Kulturgeschichte aus jüdischer Sicht: „Die derzeitige Klezmer-Begeisterung ist nicht wirklich Ausdruck des Wiederaufblühens einer lang vergessenen Tradition der Stadt. Denn Klezmer […] hat keine Wurzeln in Berlin. […] In Berlin wurde Klezmer bei Nichtjuden zunächst in der DDR […] als eine Art Protestmusik beliebt [etwa Anfang der 80er Jahre; A. J.]. Obwohl mittlerweile sehr guter Klezmer von ehemaligen DDR-Bürgern gespielt wird, mutet es ein wenig merkwürdig an, mit deutschem Zungenschlag gesungenes Jiddisch zu hören.“215
Mittlerweile erscheint diese Geschichte als Teil der in der kollektiven Wahrnehmung ebenfalls vom Vergessen bedrohten Kulturgeschichte der späten DDR. Im folgenden Abschnitt wird ein aktuelles Beispiel jüdisch-nichtjüdischer Pflege der Klezmermusik in Berlin angeführt, dessen Ursprünge hier liegen.
3.1.3. Positivbeispiele gelingender Darstellungsweisen jüdischer Geschichte in Berlin Dass gelingende Vermittlungsformen des jüdischen historischen Erbes Berlins möglich sind, die sowohl den unter Kap. III.3.1.1. genannten Kriterien der respektvollen Rekonstruktion jüdischer Inhalte weitgehend gerecht werden, als auch zugleich touristischen Bedürfnissen und Rezeptionsweisen entgegenkommen, soll abschließend mit zwei Positivbeispielen belegt werden.
214 Vgl. die im Folgenden von P 23 in Kap. III.3.2.2. S. 317 f. sowie von P 15 in Kap. III.3.2.5. S. 323 ff. gewählten Beispiele. 215 A. Roth/M. Frajman: Das jüdische Berlin heute, S. 48
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(1) Das Hackesche Hoftheater Ein verlässlicher Anlaufpunkt in Sachen jüdisch-jiddischer Kultur für Besucher der Spandauer Vorstadt im Umfeld der Neuen Synagoge besteht im Hackesche Hoftheater unter der Leitung seines Begründers Burkhardt Seidenmann dar.216 Fast jeden Abend wird hier seit 1993 jiddisches Theater und osteuropäischjüdische, d. h. vor allem Klezmermusik von Juden und Nichtjuden gespielt. Neben den fest engagierten Künstlern sind viele bedeutende Klezmergruppen aus dem In- und Ausland in dem kleinen Theater zu Gast. Außerdem finden hier Lesungen und Filmvorführungen statt, die den Bogen zu heutigem jüdischem Leben und jüdischer Gegenwartskultur spannen.217 Die Kleinkunstbühne befindet sich von Anbeginn an inmitten der nach der aufwendigen Sanierung 1994 bis 1996 zum Berliner Jugendstil-Wahrzeichen avancierten berühmten Hackeschen Höfe, einem aus acht Höfen bestehendem labyrinthischen Baukomplex (im zweiten Hof). Sie wirbt auf ihrem Eingangsschild und in ihren Programmen in der Unterzeile des Namens damit, ,am historischen Ort‘ zu spielen. Immerhin befand sich in der Nähe der heutigen Spielstätte im Übergangsbereich zwischen der deutschjüdisch geprägten Spandauer Vorstadt und dem von Juden aus Osteuropa bewohnten Scheunenviertel tatsächlich ein jiddischsprachiges Theater.218 Unmittelbar vor der NS-Verfolgung waren noch mehr als ein Viertel der Mieter des gründerzeitlichen, seit seiner Errichtung gleichsam Wohn-, Werkstatt- und Veranstaltungsbereiche beherbergenden weit verzweigten Hofkomplexes, jüdisch.219 Auf Grund seiner exponierten Lage in der Tourismusmeile Hackesche Höfe erlangte das Theater rasch eine große Bekanntheit. Ihm kommt eine tragende Rolle als wichtigster Spielort für anspruchsvolle Klezmerkonzerte und jiddische Theaterstücke in Berlin zu. Dennoch ist die Rolle der Existenz des Hackeschen Hoftheaters im hier diskutierten Zusammenhang ambivalent einzuschätzen: Auf der einen Seite steht der löbliche Versuch von jüdischen wie nichtjüdischen 216 B. Seidenmann, nach Eigenaussagen ein Nichtjude mit jüdischen Wurzeln, hatte zu DDR-Zeiten fast 25 Jahre lang nicht weit von den Hackeschen Höfen in der westlichen Spandauer Vorstadt ein Pantomimentheater. Diese erste Off-Bühne im Osten, s Pantomimenensemble, zeitweise unter den ,kontrollierenden‘ Fittichen des Ostberliner Deutschen Theaters angesiedelt, war die Keimzelle des späteren Hackeschen Hoftheaters. Im Zuge dessen stieß Seidenmann auf die in dieser Zeit in beiden Teilen Deutschlands noch kaum wiederentdeckte jiddische Musik- und Theaterkultur, bis heute prägendes Element für die Arbeit am Hackeschen Hoftheater. 217 Die jüdischen Künstler und Sänger Jalda Rebling, Karsten Troyke und Mark Aizikovitsch stehen hier regelmäßig auf der Bühne. – Der SU-stämmige Aizikovitsch ließ sich Ende 2003 in die Repräsentantenversammlung der JGB wählen. 218 B. Rebiger schreibt hierzu: „(…) in der Almstadtstraße 5 ließ man sich vom jiddischsprachigen Theater des Centrums unterhalten, das von dem Gastwirt Leo Loewenthal geleitet wurde.“ Ders.: Jüdische Berlin, S. 188. B. Seidenmann nahm im Gespräch mir gegenüber ausdrücklich Bezug auf dieses Theater als ein frühes Vorgängerprojekt seiner eigenen Kleinkunstbühne. 219 Eckhard, U./Nachama (1996:19)
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Künstlern, die an dieser Spielstätte nahezu allabendlich vorgetragene jiddischsprachige Theater- und Musikkultur mit dem Anspruch auf weitmögliche Werktreue und Authentizität ohne Effekthaschereien gerecht zu werden. Auf der anderen Seite konnte genau damit diese zwischen Spandauer Vorstadt und ehemaligen Scheunenviertel gelegene Kleinkunstbühne als Stichwortgeberin und Projektionsfläche ähnlich der Neuen Synagoge nolens volens zu einer Wegbereiterin für die jüdische Realität weitgehend ausblendenden modischen Inszenierungen des Jüdischen werden. – Um so interessanter ist, dass auch einige der Befragten das Theater unter der Themenvorgabe diskutierten (s. u. Kap. III.3.2.). (2) Das Missing House Als ein weiteres positives Gegenbeispiel gegenüber den beschriebenen pseudojüdischen Inszenierungen kann eine haushohe Gedenktafel an der Rückwand eines abgerissenen Hauses in der Kleinen Hamburger Straße, ebenfalls in der westlichen Spandauer Vorstadt gelegen, gelten. Bei dem unverwechselbaren Denkmal schräg gegenüber der Jüdischen Oberschule handelt es sich um die Installation ,The Missing House‘ des französischen Künstlers Michael Boltanski aus dem Jahr 1990, die u. a. durch Heiner Müller angeregt wurde. Bill Rebiger hat sie in seinem Reiseführer ins Jüdische Berlin plastisch beschrieben: „Das Kunstwerk beeindruckt durch seine einfache und geniale Idee. Einem […] neobarocken Wohnhausensemble […] fehlt in der Mitte das weit nach hinten zurückgesetzte Vorderhaus, da es im Frühjahr 1945 zerbombt und nicht wieder aufgebaut wurde. An den grau verputzten Seitenwänden, an denen durch etwas vorspringende Kanten noch die früheren Stockwerke und Zimmereinteilungen zu erkennen sind, wurden zwölf überdimensionale, weiße Schilder, schwarz umrandet, mit den Berufen, Namen, und Wohndaten der einstigen Bewohner angebracht. Die Namen verweisen auf die unterschiedliche Herkunft der Menschen. Zu der bunt gemischten Mietergemeinschaft gehörten unter anderem der Beamte Schnapp und der Kaufmann Jacoby, beide jüdischer Herkunft. Aber auch französische Namen, die möglicherweise auf die aufgenommenen Hugenotten zurückgehen, sind zu lesen.“220
Mit diesem (im wörtlichen Sinne!) Denkmal kann für alle Vorbeilaufenden deutlich werden: In dem eher kleinbürgerlichen Viertel lebten viele Juden und Nichtjuden in den gleichen Häusern Wand an Wand und hatten auch in ihren beruflichen Tätigkeiten eng miteinander zu tun. Eigentlich sollte Boltanskis Kunstwerk an diesem Ort nur zeitlich befristet stehen, wurde aber nach positivem Echo bei der Bevölkerung und in den Medien dauerhaft installiert.
3.1.4. Der Berliner ,Hype um den Davidstern‘ – eine Motivationssuche 1998 wurde die modische, massenkompatible Beschäftigung mit jüdischer Thematik in Berlin schlagartig zu einem gewissen Medienereignis, als das Berliner Stadtmagazin Zitty mit einem kubistisch verfremdeten Davidstern in konzentrischen Kreisen und der Überschrift des Hauptartikels der Ausgabe „Trendy 220 B, Rebiger: Jüdische Berlin, S. 160
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Judentum. Der Hype um den Davidstern“ titelte.221 Die Titelgeschichte der ZittyAutorin Meike Wöhlert kann neben seiner informativen Funktion für die überwiegend nichtjüdische Leserschaft des Magazins zugleich auch als ein Zeugnis der Selbstverständigung im judaisierenden Milieu wie im jüdischen Kollektiv der Metropole genommen werden. Der sich aus dem Titel gleichermaßen ergebende Begriff ,Hype um den Davidstern‘ (bzw. einfach ,Hype‘) wird im Weiteren als Chiffre für das von Angebots- wie Nachfrageseite her gleichermaßen generierte Syndrom der modischen Besetzung jüdischer Thematik durch Nichtjuden in Berlin und anderswo begriffen. Dabei gilt es, sich zu vergegenwärtigen, dass in der empirischen Realität die exakte Einordnung von Kulturäußerungen im deutschjüdischen Feld als ,aufklärerisch‘ vs. modisch oder als ,jüdisch‘ vs. ,nichtjüdisch‘ häufig nur schwer oder nicht eindeutig möglich ist und entsprechend hier immer wieder eher idealtypisch erörtert wird. Doch machen gerade diese Unschärfen einen Teil der Wirkungsmächtigkeit der genanten Hype-Phänomene aus. Auf Grund der explorativen Bedeutung Wöhlerts Artikel für die Erhebung wird er im Folgenden etwas ausführlicher rezipiert. Anschaulich beschreibt die Autorin in ihrer Reportage zunächst den modischen Hype in scheinbar ähnlicher Weise wie im oben in Kap. III.3.1.2. angeführten Zitat I. Weiss das ,Jewish Disneyland‘ nichtjüdischen Inszenierungen des Jüdischen in der Metropole: „Im Scheunenviertel und der Spandauer Vorstadt schießen jüdische Restaurants, Geschäfte, Vereine und Kultureinrichtungen aus dem Boden. Bagels dürfen auf den Speisekarten der In-Cafés nicht fehlen. Stadtrundgänge durch das ,jüdische Berlin‘ sind Dauerbrenner. Und werden sogar auf Englisch angeboten. Jährlich strömen mehr Besucher ins Hackesche Hoftheater, um dort ,jiddischer Musik am historischen Ort‘ zu lauschen, und fast jeden Tag findet irgendwo in der Stadt ein Klezmerkonzert statt.“222
Der Unterschied zu Weiss liegt darin, dass Wöhlert sowohl originär jüdische religiöse bzw. kulturelle Äußerungen wie auch inszenierte nichtjüdische Manifestationen in den Blick nimmt, die gleichermaßen der modischen Aneignungen des Jüdischen durch Nichtjuden dienen. Zur Illustrierung ist der Text mit größeren Photos von jüdischen bzw. vermeintlich jüdischen Einrichtungen und Monumenten, neben kleinen Porträtphotos einiger der für den Artikel befragter Juden, bebildert. Die Botschaft dieser Bildauswahl bekräftigt die Intention des Artikels, eine Diskrepanz zwischen dem, was Nichtjuden in Berlin als typisch jüdisch erscheint und der Realität tatsächlich in der Metropole lebender Juden sowie deren Kritik an dem Hype aufzuzeigen. Es sind sowohl nichtjüdische In-
221 Vgl. M. Wöhlert, in: Zitty 30.07.98. Wöhlert gab sich in dem Artikel als Nichtjüdin zu erkennen, die mit einem aus Kanada stammenden Juden liiert ist. ZITTY ist eines der beiden führenden Stadtmagazine der Millionenstadt – In der explorativen Vorphase der Erhebung. war es mir möglich, mit Frau Wöhlert ein Gespräch zu führen. Auch ihr verdanke ich wertvolle Hinweise für meine Arbeit. 222 M. Wöhlert, in: Zitty 30.07.98, S. 14
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szenierungen des Jüdischen wie auch originäre Ausdrucksformen jüdischer Existenz in Berlin zu sehen.223 In einigen jüdischen Statements des Wöhlert-Artikels lassen sich Motive für den ortstypischen Hype finden: So macht der deutsch-jüdische Historiker und Mitglied der JGB Julius H. Schoeps eine von nichtjüdisch-deutscher Seite unbewältigte Geschichte für den Hype verantwortlich: „Was zur Zeit in Berlin passiert, hat mit den Juden gar nichts zu tun, […] es ist ein Resultat dessen, daß die nichtjüdische Gesellschaft mit der Geschichte nicht fertig wird. Das ist das Gegenteil einer Normalisierung. Es ist Folklore.“224 Andrew Roth, Co-Autor des oben in Kap. III.1.2. beschriebenen ,Wegweisers‘ in das jüdische Berlin, sieht in dem Hype ebenfalls in der NS-Geschichte wurzelnde Mechanismen: Er „denkt, dass ,viele Leute in jüdische Restaurants gehen, um zu zeigen, dass sie die anderen Deutschen sind.‘ Diejenigen, die damals einen Juden im Keller gehabt hätten.“225 Dabei reichen die durchweg kritischen Positionen auf jüdischer Seite von einem gewissen Verständnis für den ,falschen‘ Hype bis zum Vorwurf einer ,kulturellen Schoah‘. Schoeps lenkt vor diesem Hintergrund den Blick auf den Zusammenhang des modischen Konsums von (Pseudo-)Jüdischem zu dessen scheinbaren Gegenteil, dem Judenhass, indem er in dem Hype „die Kehrseite des Antisemitismus sieht. Zwar sei alles, was als jüdisch gilt, ,im Moment positiv besetzt, aber das kann schnell ins Gegenteil umschlagen. Das übertriebene Bekenntnis zum Judentum entspricht der übertriebenen Ablehnung.‘“226 M. Wöhlert bilanziert die Statements: Der nichtjüdische Hype sage also „mehr über die Last der Nazi-Vergangenheit aus als über die jüdische Gegenwart.“227 Ähnlich kritisch wie M. Wöhlert und die von ihr zitierten Personen aus der jüdischen Diaspora in Deutschland äußerten sich aber auch andere bereits oben angeführte jüdische Stimmen: So geht I. Weiss als ,teilnehmende‘ Autorin davon aus, dass sich auf Seiten des nichtjüdisch-deutschen Publikums in dessen hier geschilderter verzerrter Wahrnehmung des Jüdischen am historischen wie am vermeintlich historischen Ort über die Befriedigung von Exotismus hinaus ein star223 Zu sehen sind in der Reihenfolge der Textbebilderung: 1) ,Neue Synagoge mit davor stehender photographierender Person (Touristin?); 2) Die nur dem Namen nach jüdische Kneipe ,Makom‘ (hebr. ,Ort‘, ,Platz‘) 3) Jüdischer Sänger im ,Hackeschen Hoftheater‘ mit Publikum 4) Koscheres Lebensmittelgeschäft ,Kolbo‘, davor ein Mann mit Fahrradhelm auf dem Kopf und Snack in der Hand 5) jüdische Stadtführerin, die „kritische Führungen über das jüdische Leben in der Spandauer Vorstadt“ macht [Untertitel], mit drei KundInnen, 6) orthodoxer Jugendrabbiner Teichtal in einem jüdischen Tages-Feriencamp neben zwei Mädchen auf einer Schaukel 7) Friedhofsbesuchern, sich bückend vor dem Grabstein von Moses Mendelssohn, um zur Ehrung des Verstorbenen einen Stein aufzuheben. 224 Julius H. Schoeps zit. nach ebd. Auch andere Juden wie der Publizist H. M. Broder äußern sich in dem Artikel bezogen auf die Motive für den Hype in Richtung der These nichtjüdisch-deutscher Gewissensentlastung. 225 Andrew Roth zit. nach ebd., S. 15 226 Zit. nach a. a. O., S. 16 227 M. Wöhlert, ebd.
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kes Harmoniebedürfnis im Bezug auf das historisch belastete deutsch-jüdische Feld äußert.228 Abgeschlossen werden soll die jüdische Reflexion über den Hype und den ihm zu Grunde liegenden Motiven mit einem Zitat des Soziologen Y. M. Bodemann, der bereits Mitte der 90er Jahre im Rahmen seiner Erörterung nichtjüdischer Inszenierungen des Jüdischen (s. o.) die seiner Meinung nach wichtigsten Motive für deren Entstehung benannte: „Hinter der Musealisierung jüdischer Kultur und ihrer außerordentlichen Popularität stehen vermutlich eine Reihe von Motiven: Schuldgefühle, der Wunsch, die jüdische Kultur wiederzuerwecken, aber auch der Wunsch nach Ersatztradition und Ersatzgemeinschaft (statt der eigenen, unbrauchbar gewordenen deutschen).“229 Die hieraus abgeleitete These lautet also insgesamt, dass sich in der modischen Inszenierung bzw. Rezeption von vermeintlichen oder tatsächlichen Versatzstücken jüdischer Kultur in Berlin und dem Hype darum nur scheinbar eine Normalisierung der jüdisch-nichtjüdischen Beziehungen abzeichnet. In Wirklichkeit erscheinen diese Phänomene vielmehr als Ausdruck der von nichtjüdischdeutscher Seite noch immer nicht bewältigten NS-Vergangenheit und damit als die philosemitische Kehrseite eines hiesigen Nach-Auschwitz-Antisemitismus.
3.1.5. Ortsspezifische Entstehungsbedingungen des Berliner Hypes Nach dieser ersten Annäherung an Ausprägungen einer Hype-Kultur des Jüdischen in Berlin stellt sich die Frage, inwieweit es sich hierbei um eine ortsspezifische Besonderheit handelt oder ob es auch andernorts und in anderen Ländern entsprechende modische Inszenierungen des Jüdischen gibt. Tatsächlich lassen sich deutschlandweit keine auch nur annähernd mit Berlin vergleichbaren ortsbezogenen nichtjüdischen Inszenierungen des Jüdischen finden, unbenommen von medialen Stereotypenbildungen des Jüdischen oder der Allgegenwart Klischees reproduzierende Arten von Klezmermusik (s. o.). Daher wird hier die These vertreten, dass Berlin nach Umfang sowie deutschlandweiter Beachtung bei der Besetzung jüdischer Themen durch Nichtjuden und dem Hype darum eine eindeutige Schlüsselrolle einnimmt. Auf internationaler Ebene, insbesondere im europäischen Maßstab, stellen jedoch insbesondere stadträumliche Inszenierungen des Jüdischen durch Nichtjuden kein spezifisches Berliner Phänomen mehr da, auch wenn die deutsche Metropole (noch?) das prominenteste Beispiel, abgibt. So findet vor den Kulissen oder Scheinkulissen der durch die Schoah vernichteten jüdischen Kultur deren tourismusgerechte Inszenierung in den letzten Jahren auch in einigen Städten des ehemaligen Ostblocks statt.230 In wieweit gegenwärtig an diesen Kulminations228 I. Weiss, in: GOLEM. Europäisch-jüdisches Magazin Nr. 3/2000, S. 44 229 Y. M. Bodemann: Gedächtnistheater, S. 193, Anm. 72 230 Neben Prags jüdischem Viertel ist dies in jüngster Zeit vor allem der Krakauer Stadtteil Kazimierz (in dem Spielbergs Film „Schindlers Liste“ gedreht wurde) und das ehemalige jüdische Viertel von Wilnius; vgl. Rada, U. (23./24.08.03). In Wilnius bestehen demnach aktuell Pläne zum Wiederaufbau einiger Straßenzüge
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punkten vergangener jüdischer Kultur ähnliche Ver- und Entfremdungseffekte ,jüdischer Räume ohne Juden‘ wie im Falle der Berliner Spandauer Vorstadt zu beobachten sind und in wieweit Berlin hierfür eine Vorreiterrolle einnimmt, kann hier allerdings nicht weiter untersucht werden. Erst an dieser Stelle lässt sich die Frage erörtern, ob sich und wenn ja welche ausgesprochen berlinspezifischen Bedingungen für die im Stadtraum der Metropole angesiedelten modischen Inszenierungen jüdischer Thematik wie des Hypes darum durch Nichtjuden ausmachen lassen? Zunächst lässt sich konstatieren, dass in Berlin den im deutschlandweiten Maßstab gesehen beispiellosen Inszenierungen des Jüdischen eine ebenso ungewöhnliche Dichte an Einrichtungen gegenübersteht, die sich der ernsthaften und nichtkommerziell geleiteten Beschäftigung mit jüdischer Geschichte – z. T. auch Gegenwart – verschrieben haben. Dies verwundert kaum, erscheint doch die ehemalige und neuerliche deutsche Hauptstadt für solcherlei Beschäftigungen geradezu prädestiniert wie vielleicht kein anderer Ort in Deutschland. Denn in der jüngeren Vergangenheit und der aktuellen Entwicklung der Metropole bündeln sich die wichtigsten Aspekte des nichtjüdisch-jüdischen Verhältnisses in Deutschland wie in einem Brennglas. Als zwei inhaltlich herausragende und zugleich publikumswirksame Beispiele dieser Art der Inszenierung jüdischer Thematik können das seit 1988 im ehemaligen Ostteil Berlins in der Spandauer Vorstadt befindliche Centrum Judaicum sowie das in der Friedrichsstadt im ehemaligen Westteil Berlins im Bezirk Kreuzberg 2001 eröffnete Jüdische Museum Berlin gelten.231 In beiden nicht originär jüdischen, jedoch mit jüdischem Leitungspersonal arbeitenden Einrichtungen wird in musealer Form und mit Wechselausstellungen jüdische Geschichte und Gegenwart immer wieder auch unter der Einbeziehung des Berlin-Bezugs vermittelt und zugleich eigene Forschungsarbeit betrieben. Sie können als ein schlagender Beweis dafür genommen werden, dass es in Berlin sehr gut möglich ist, einen größeren Kreis an Besuchern in anspruchsvoller Weise mit jüdischer Thematik vertraut zu machen. Auch wenn beide Einrichtungen sicherlich von der aktuellen touristischen Hype um das ,Jüdische Berlin‘ profitieren, kann den für ihre räumliche und inhaltliche Konzeption Verantwortlichen schwerlich der Vorwurf gemacht werden, jüdisch-deutsche Geschichte und Gegenwart sowie deren Berliner Ausprägung als Idylle zu inszenieren!
und Repräsentativbauten des alten jüdischen Viertels – aus touristischen Erwägungen. Nach Rada wird damit „endgültig die Grenze von der Kulisse zum Disneyland überschritten.“ Ders. ebd.; vgl. hierzu auch Katka Krosnar: „Wiederaufbau unerwünscht“, JA 18.03.04. In dem kleinen Land Litauen und seiner Hauptstadt Wilnius (,Wilna‘), dem ehemaligen jüdischen ,Jerusalem des Nordens‘, lebten vor dem deutschen Einmarsch 1941 insgesamt 220.000 Juden, heute sind es etwa 5.000, vgl. ebd. 231 Zu den politischen Hintergründen der Entstehung des Centrum Judaicum in der DDR vgl. das Kap. II.1.3.4., S. 111 sowie zum Jüdischen Museum Berlin insbesondere den Exkurs in Kap. II.2.4.1., S., S. 162 ff.
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Dennoch gibt gerade in Berlin genügend günstige Voraussetzungen für Jüdisches thematisierende Hype-Entwicklungen, die sich von diesen inhaltlich versierten Rekonstruktionen eklatant unterscheiden. Die sinnfälligsten können in ihrer ortsspezifischen Verschränkung benannt werden: • Auf einer allgemeinen Ebene lässt sich feststellen, dass die zahlreichen Kriege und Wechsel der Gesellschaftssysteme des 20.Jahrhunderts in Deutschland, die sich in Berlin und seine Topographie tief eingeprägt haben, eine solche Fülle an Traditionsbrüchen mit sich brachten, dass sich die Stadt vor diesem Hintergrund als begehrte Projektionsfläche für ganz unterschiedliche Hypes erweist.232 Auf den Hype um den Davidstern bezogen besitzt die Metropole Berlin im Gegensatz zu vielen anderen Städten in Deutschland genügend geeignete historisch aufgeladene Orte und darüber hinaus vor allem im Ostteil der Stadt bis in die 90er Jahre hinein touristisch weitgehend unerschlossene Stadträume, um vor dieser Kulisse vergangene unwiederbringlich zerstörte jüdische Stadtkultur tourismusgerecht zu reinszenieren. • Außerdem besitzt Berlin eine auch touristisch sehr gut verwertbare geschichtsträchtige Konstellation: Einerseits gilt die ehemalige und neuerliche deutsche Hauptstadt als das bedeutendste Zentrum jüdischen Lebens in Deutschland seit der Industrialisierung und unter den besonderen Bedingungen nach Ende des Ostblocks auch gegenwärtig wieder. Zugleich wird die Metropole aber auch als die ehemalige Schaltzentrale der europaweiten Verfolgung und Vernichtung der Juden während der NS-Zeit wahrgenommen. Daraus folgt, dass in der bereits erwähnten Überlagerung und Verschränkung modischer wie seriöser nichtjüdischer Inszenierungen des Jüdischen im örtlichen Stadtraum mit originären religiösen sowie kulturellen Äußerungen der heutigen in der Metropole lebenden jüdischen Bevölkerung eine ortsspezifische Situation besteht.
3.1.6. Vermutete Folgen des Berliner Hypes im deutsch-jüdische Feld Die letzte Frage, die in der Annäherung an nichtjüdische Inszenierungen des Jüdischen und eines entsprechenden Hypes vor deren Wahrnehmung von Seiten der jüdische Community Berlins behandelt werden soll, ist diejenige nach den Auswirkungen auf Nichtjuden.233 (1) Ausblenden Über die modisch-exotische Inszenierung der vermeintlichen jüdischen Stadtkultur wird es m. E. möglich, die mitunter schmerzhafte und irritierende jüdische 232 Hier sei nur beispielhaft Berlins Rolle als Projektionsfläche für bestimmte medial vermittelte Massen-Events: als Raverstadt zur ,Love Parade‘, als Homostadt während des ,Christopher Street Day‘ (CSD) oder als Multi-Kulti-Stadt während des ,Karneval der Kulturen‘ erwähnt. Historischen Vorläufer etwa im NS oder zur DDR-Zeit können hier nicht weiter nachgegangen werden. 233 Eine genauere Prüfung der hier nur gemutmaßten Effekte müsste allerdings eine eigene empirische Untersuchung unter Nichtjuden erbringen
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bzw. jüdisch-deutsche Geschichte in Berlin und im übrigen Deutschland als Ausgangspunkt für ein zeitgemäßes gegenseitiges Verständnis nahezu vollständig auszublenden. Dies betrifft etwa die widersprüchlichen Erfahrungen von Assimilierung und Diskriminierung als einstmals selbstverständliche jüdische Lebensrealität in Berlin. Denn mit derlei exotisierenden Inszenierungen gerät aus dem Blick, dass hier über eine vergleichsweise lange Zeit von mehr als 100 Jahren Juden in Berlin, fern jeder falschen Idyllisierung, mit der ortsansässigen nichtjüdischen Bevölkerung ökonomisch, kulturell und nicht zuletzt häufig auch verwandtschaftlich aufs Engste verbunden waren.234 – Außerdem wird in der gegenwärtigen stadträumlich falschen Mythenbildung um das ehemalige Scheunenviertel und einer als exotisch-schön empfundenen Schtetl-Kultur ignoriert oder unterschlagen, dass die ehemalige jüdisch-osteuropäische Bevölkerung in diesem Quartier gerade nicht in einem Ghetto oder einem Schtetl getrennt von der übrigen ärmlichen Bevölkerung lebte. Vielmehr teilten sich Juden und Nichtjuden hier im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert den beengten Stadtraum leidlich.235 Die geschilderten berlinspezifischen Ausblendungen können also insgesamt als raum-zeitliche Endfremdungseffekte verstanden werden. (2) Überblenden Vielleicht noch stärker als das Ausblenden der tatsächlichen jüdischen Lebenswelten im deutsch-jüdischen Feld durch diese nichtjüdischen tourismusgerechten (Re-)Inszenierungen ist der Effekt des Überblendens vergangener und gegenwärtiger jüdischer Alltagsrealität durch artifizielle, sich ,jüdisch‘ gerierende, tatsächlich pseudojüdische Kultursegmente. Denn durch die stadträumlich massierten Inszenierungen vermeintlich jüdischer Kulturäußerungen unter Einschluss von Versatzstücken tatsächlicher jüdischer Kultur besteht damit einen reelle Gefahr, dass originär jüdische Kulturäußerungen der Tendenz nach gerade an als historisch mit Jüdischem aufgeladenen Orten aus dem Stadtbild der Metropole verdrängt werden. Allerdings besteht eine nicht minder problematische Alternative hierzu darin, dass originäre jüdische Kulturäußerungen durch den Hype vereinnahmt werden. In beiden Fällen beträfe die Überblendung insbesondere das kollektive Bewusstsein und Gedächtnis der nichtjüdischen Bevölkerung. Im Folgenden geht es demgegenüber um die jüdische Sicht auf nichtjüdische Inszenierungen des Jüdischen in Berlin aus der Perspektive der Befragten.
234 In der Metropole Berlin war die rasche Beseitigung dieser Realität, dass Juden hier gerade keine ,artfremde‘ Population waren, den NS-Machthabern nach 1933 ein vorrangiges Anliegen, vgl. Kap. II.1.1.2., S. 86 f., insbesondere Anm. 32. 235 In Kap. II.2.4.2., S. 165 ff. wurde das historische Scheunenviertel, seine ehemalige jüdische Bewohnerschaft sowie die sich um es rankende Mythenbildung in einem Exkurs ausführlicher behandelt.
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3.2. Differierende Einschätzungen des Hypes – Bedrohung jüdischer Identität oder Brückenschlag zwischen Juden und Nichtjuden? Im Zusammenhang mit der Untersuchung des heutigen jüdischen Lebens in Berlin erscheint es sinnvoll, die Erhebungsauswahl danach zu befragen, wie sie die beschrieben Inszenierungen des Jüdischen und den ,Hype um den Davidstern‘ auf nichtjüdischer Seite wahrnehmen. Denn diese Phänomene tangieren das jüdische Kollektiv der Stadt in direkter oder in vermittelter Form, wie ebenfalls eingangs bereits gezeigt wurde. Während die vormalige jüdische Bevölkerung Berlins und des übrigen Deutschlands auf die Reinszenierungen ihres Lebens nicht mehr reagieren kann, verhält sich dies bei heutigen Juden anders. Es stellt sich daher des Weiteren die Frage, ob und wenn ja wie heute in Berlin lebende Juden auf nichtjüdische Inszenierungen und Hype-Phänomene reagieren. Zu diesen bisher in der einschlägigen Literatur weitgehend unbehandelten und ungeklärten Fragen soll mit der Darstellung und Untersuchung der Äußerungen in diesem Themenbereich ein erster grundlegender Beitrag geleistet werden. Im Unterschied zum Themenfeld Revitalisierung, in dem sich nahezu alle Befragten auf Grund eigener Vorab-Beschäftigung mit der Thematik dezidiert äußerten, zeigen sich in deren Grad der Auseinadersetzung mit den Phänomenen des nichtjüdischer Hypes weitaus größere Unterschiede. So äußern sich einige sehr reflektiert und zumindest gegenüber bestimmten Ausprägungen des Hypes durchaus kritisch, bei allen Unterschieden in der Bewertung des Gesamtphänomens. Außerdem beschäftigten sich einige mit ,grenzwertigen‘, d. h. nicht eindeutig dem Hype zuzurechnenden kulturellen Erscheinungen in der Metropole. Auf Grund der Vielfalt der Antworten werden die ausführlicheren Argumentationen im Folgenden nach ihren inhaltlichen Ausrichtungen geordnet in fünf verschiedenen Meinungs-Clustern dargestellt. Der Anfang wird mit der Zusammenstellung dezidiert kritischer Äußerungen gegenüber dem Hype und seinen Effekten auf Nichtjuden gemacht (Kap. III.3.2.1.). Im Anschluss daran werden kritische Aussagen gegenüber der Wirkung auf jüdischer Seite gruppiert (Kap. III.3.2.2.). Das dritte Cluster repräsentiert die o. g. deutschlandweite bzw. europäische Kontextualisierung (Kap. III.3.2.3.). Es folgen die Zusammenschau von thematisierten Voraussetzungen und Randbedingungen (Kap. III.3.2.4.) und schließlich die Synopse der im bezogen auf den Hypes artikulierten Chancen für die jüdische Seite bzw. das jüdisch-nichtjüdische Verhältnis (Kap. III.3.2.5.). Dabei kommt es insgesamt zu Mehrfachverortungen der sich teilweise sehr differenziert zur Thematik Äußernden. Daher lassen sich einige mit ihren spezifischen Antworten in unterschiedlichen, sich gegenseitig in inhaltlicher Hinsicht nicht unbedingt ausschließenden Clustern wiederfinden. Diese verschiedenen Einschätzungen werden abschließend in einem sie zusammenführenden Analyseund Fazitteil (Kap, III.3.2.6.) diskutiert und interpretiert.
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3.2.1. Kritik am ,Hype‘ und seinen Wirkungen auf Nichtjuden (P 1, P 3, P 22 und P 23) P 1: Sehr differenziert äußert sich JKV-Aktivistin zu dem nichtjüdischen Hype gegenüber Juden und Jüdischem. Dies lässt auf eine relativ intensive Beschäftigung mit der Thematik bereits vor dem Gesprächszeitpunkt schließen. Bei der Berliner Bevölkerung nimmt sie eine ,große Begierde und ein großes Interesse‘ (P1/2) an jüdischen Aktivitäten wahr. Ihrer Erfahrung nach ist dies nicht von der Hand zu weisen (P1/3). An zweierlei Phänomenen dieses Hypes macht P1 ihre Kritik fest. Einerseits würden die Ausmaße jüdischen Lebens von der nichtjüdischen Öffentlichkeit sowohl quantitativ wie qualitativ überschätzt: „Die Öffentlichkeit macht mehr Wind.“ (P1/2) Andererseits würde die erhöhte Frequentierung von Einrichtungen und Veranstaltungen im deutsch-jüdischen Feld durch eine nichtjüdische Öffentlichkeit genau von dieser Öffentlichkeit fälschlicherweise als Beleg für ein auflebendes jüdisches Leben wahrgenommen. „[…] dieser Unsinn, der auch immer in der Zeitung steht: ,das neuerstandene jüdische Leben in der Oranienburger Str.‘“ (P1/11) P1 sieht demnach also beide Phänomene aufs Engste aufeinander bezogen im Sinne einer Selffullfilling Prophecy. Auf Grund der von ihr beschriebenen verzerrten Wahrnehmung der nichtjüdischen Öffentlichkeit würde diese die jüdische Alltagsrealität nicht erfassen. Gerade das religiöse Leben würde sich weitgehend dem Blick der Öffentlichkeit entziehen. Sie stellt demgegenüber heraus, dass jüdisches Leben eben nicht durch das bestimmbar und einschätzbar ist, • was Nichtjuden dafür halten; • was Nichtjuden an Angeboten im jüdischen/pseudojüdischen Bereich nutzen; • was Nichtjuden selber im deutsch-jüdischen Feld an Aktivitäten entfalten. Exemplarisch macht P 1 diese Verwechslung pseudojüdischer mit originär jüdischer Kultur an drei Beispielen fest: Jüdische Gegenwartsliteratur: So stellt auch sie eine große Zunahme an Buchtiteln in diesem Bereich in den letzten Jahren fest, jedoch kritisiert sie auch hier eine verzerrte nichtjüdische Wahrnehmung: • jüdische Literatur, im Sinne originär von Juden verfasster, habe es auch zuvor gegeben; • sog. ,jüdische Literatur‘ (im Sinne von zu jüdischen Themen) könne jeder, also auch jeder Nichtjude schreiben und dies fände eben auch statt. Klezmermusik und sog. jüdische Festivals: Sie betont das bereits oben im Einführungsteil benannte Argument, dass hierbei in den Bereichen in den Bereichen Musik Films und Theater überwiegend Kulturangebote von Nichtjuden für Nichtjuden geleistet würden. Demgegenüber würde sich das tatsächliche jüdische Leben in kleinen Gruppen im Rahmen der JGB vorrangig als religiöses abspielen, welches damit der öffentlichen Neugierde entzogen sei.
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Forschungseinrichtungen und Museen: Als drittes Beispiel benennt P 1 konkret das Centrum Judaicum in der Oranienburger Straße und das Jüdische Museum im Westteil der Stadt.236 Beide Institutionen seien keine originär jüdischen, sondern vielmehr allgemein öffentliche Einrichtungen. Das von ihr gewählte Beispiel ist insofern bemerkenswert, da an der Spitze beider Einrichtungen bekannte jüdische Persönlichleiten stehen, darüber hinaus in ihnen verhältnismäßig viele jüdische (neben nichtjüdischen) MitarbeiterInnen arbeiten und an beiden Orten neben historischer auch tatsächliche jüdische Gegenwartskultur thematisiert wird. Dennoch passen die beiden ,grenzwertigen‘ Beispiele insofern in ihr Schema jüdisch – nichtjüdisch, als in beiden Institutionen und wenn auch teilweise von Juden oder unter jüdischer Leitung mit öffentlichen Mitteln Angebote für ein mehrheitlich nichtjüdisches Publikum gemacht werden. Außerdem unterstreicht sie mit beiden Beispielen ihre bereits in Kap. III.1. angeführte Aussage, dass jüdisches Leben vor Ort in ihren Augen vorrangig religiös motiviertes Gemeindeleben sei. Insgesamt sieht die im Ostteil der Stadt angesiedelten Kulturverein-Aktive der ersten Stunde einen nichtjüdischen Angebots-Nachfragemechanismus wirksam: Mit der Nachfrage von nichtjüdischer Seite (also der aktuelle Hype) nach jüdischen Themen würden die entsprechenden Angebote zunehmen. Man könnte demnach im Sinne dieses Argumentation ergänzen, dass diese Angebote nach dem von P 1 konstatierten Modewelle zwangs-läufig auch wieder abnehmen werden, ein These, deren Überprüfung auf Grund der Aktualität des Phänomens gegenwärtig noch nicht möglich ist. P 3: Wie schon im Renaissance-Kap. III.2.1. bei der Einschätzung der Zukunftsperspektiven jüdischen Lebens in Berlin korrespondiert die Position der im Bereich des Reformjudentums Aktiven sehr stark mit derjenigen der eher religiös orthodox ausgerichteten ostberlinstämmigen P 1. Auch die Wahlberlinerin P 3 äußert sich zunächst dezidiert kritisch zum nichtjüdischen Hype und dessen Inszenierungen in Berlin: demnach werde die bereits vor hundert Jahren weit fortgeschrittene jüdische Assimilation in Deutschland ebenso ausgeblendet237 wie die Tatsache der ablehnenden Haltung des Gros der hiesigen Juden gegenüber den damals in Berlin lebenden Ostjuden: „Das ist auch das Fatale jetzt in Berlin, da in der Oranienburger Straße oft jüdische Kultur mit jiddischer Kultur verwechselt wird und etwas bemüht wird, was hier nie originär war. Es gab zwar Ostjuden in Berlin ständig, aber als nicht wohlgelittene Minderheit, und der Jude im Charlottenburger Westend war nun mal Mittelständler“. (P3/28) Außerdem kritisiert sie 236 Zum Centrum Judaicum vgl. Kap. II.1.3.4., S. 111 sowie im Zusammenhang mit der Einzelfallanalyse des Jüdischen Kulturvereins IV.2.6.4., S. 64 ff. sowie zum Jüdischen Museum den Exkurs Kap. II.4.1., S. 162 ff. 237 Als Beispiel wählt P 3 das ihr bekannte Beispiel der Diskussion in der früheren jüdischen Abteilung des Berlin-Museums in der Zeit vor der Neueröffnung des Museums 2001, ob man Photos jüdischer Wohnzimmer in Berlin aus der Kaiserzeit zeigen sollte, da sich auf ihnen keine jüdischen Details finden ließen: das Gebetbuch wahrscheinlich im Schrank, der Leuchter hinter der Tür. (Ebd.)
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ebenfalls die verzerrte Wahrnehmung jüdischer Thematik von nichtjüdischer Seite jenseits der empirischen Alltagsrealität heutiger Juden: „Natürlich wollen die Nichtjuden gerne ihre Klischees bedient haben, da ist dann halt Jiddisch immer sehr schön oder das Orientalisch-Exotische aus Israel.“ (Ebd.) Demgegenüber betont P 3 das auch heutzutage mehr denn je gültige Faktum: „Natürlich ist das Jüdische ganz unspektakulär, weil man keinen visuellen Unterschied hat.“ (Ebd.) Diese Realität stelle aber keine touristischen Attraktionen zur Verfügung. Um diese bereitzustellen, ging es also um das Erfinden eines nachträglichen Kolorits. P 22: Die gebürtige Berlinerin, die auf Grund ihrer religiös säkularen und politisch dezidiert israelkritischen Ausrichtungen eher am Rande des jüdischen Kollektivs der Stadt steht, äußert sich dezidiert kritisch zu nichtjüdischen Inszenierungen des Jüdischen sowie zu entsprechenden Hype-Phänomenen im Umfeld der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße: „Es gibt in dem Sinne gar kein jüdisches Leben. Also gerade um die Oranienburger, […]das ist für Touristen. – Das hat mit jüdischem Leben für mich nichts zu tun.“ (P22/2) Wie bereits im Revitalisierungs-Kap. II.1.2. angeführt, ist ihre Kritik auf die verzerrte und klischeebildende Optik eines touristisch zugerichteten Begriffs ,jüdisches Leben‘ fokussiert. Heutiges jüdisches Leben in Berlin besäße demnach keine einheitliche lebensweltliche Verortung etwa durch ein mehrheitlich jüdisches Wohnviertel mehr. Wohnen mache sich auch bei Juden vielmehr an sozialem Status als an jüdischer Zugehörigkeit fest. Das Pseudojüdische an diesen Inszenierungen manifestiert sich für P 22 vor allem darin, dass an der bezeichneten ,Touristenmeile‘ Oranienburger Straße heute kein den Begriff rechtfertigendes ,jüdisches Leben‘ stattfände. Wo solches existiere, wie etwa hiervon um die Ecke in der Jüdischen Oberschule, fände dies eingesperrt hinter Sicherheitszäunen statt.238 Zum andren gäbe es auch darüber hinaus keine öffentlich wahrnehmbaren Orte und Infrastrukturen einer entsprechenden jüdischen Alltagskultur wie etwa eine Häufung von Geschäften, Kneipen und alltäglichen Dienstleistungen bestimmter metropolitanen Einwanderungskulturen. Wie auch bei P 1 und P 3 macht sie die nichtjüdische Verwechslung entsprechender Hype-Phänomene mit authentischem jüdischen Leben für die verzerrte Wahrnehmung von Nichtjuden hinsichtlich einer Renaissance jüdischen Lebens in Berlin (vgl. oben Kap. III.1.2.) verantwortlich. Den von der jüdischen Journalistin Iris Weiss geprägten Begriff ,Jewish Disneyland‘ hält sie für eine gerechtfertigten Bezeichnung für die auch von ihr kritisierten Phänomene239: „Das hat sie schön gesagt.“ (P22/71) P 23: Die aus Westdeutschland stammende und journalistisch tätige Wahlberlinerin äußert sich ähnlich den anderen in diesem Abschnitt Zitierten überwiegend kritisch gegenüber dem nichtjüdischen Hype. Im Verlauf des Interviews spricht sie verschiedene Hype-Phänomene an. So verweist sie kurz auf das Beispiel 238 Zu ihrer Kritik hieran vgl. im Antisemitismus-Kap. den Abschnitt III.4.2.3., S. 411. 239 Vgl. oben das entsprechende Zitat von Iris Weiss in Kap. III.3.1.2., S. 298.
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pseudojüdischer Lokale. Allerdings sieht sie hier einen gewissen Boom offenbar überschritten: Zwei dieser Gastronomiebetriebe im Bereich der Touristenmeile Oranienburger Straße hätten wieder geschlossen, ohne dass sie Beispiele von Neueröffnungen ähnlicher Provenienz anführt. Als Belege für einen weiter anhaltenden Hype in Berlin benennt sie die ungebrochene exorbitante KlezmerBegeisterung von nicht-jüdischer Seite in der Metropole sowie auf die große Anzahl an Stadtführungen ins ,Jüdische Berlin‘ durch teilweise unkundige und lediglich Klischees bedienende nichtjüdische Anbieter. Die im Medienbereich Tätige verweist auf ein ihr berufsbedingt sicherlich besonders ins Auge fallendes Beispiel, nämlich auf einen ausgesprochen berlinspezifischen nichtjüdischen Medien-Hype um bestimmte Interna der Berliner Gemeinde und vor allem um deren Repräsentanten.240 Sie spricht in diesem Zusammenhang kritisch von „Schlüssellochjournalismus, weil es hier so ein paar Journalisten gibt, Nichtjuden, die so auf Jüdisches spezialisiert sind, und dann jeden Furz rapportieren, was passiert.“ (P23/30) Als konkrete Indizien dieses Hypes erwähnt sie ausgiebige mediale Behandlungen der Frage der weltweiten Anerkennung der Institution, an der ein Berliner Rabbiner seinen Abschluss gemacht, den Drogenfund bei einem Sohn einer Führungspersönlichkeit der Gemeinde oder Konflikte in den Leitungsgremien der Gemeinde. (P 23/30-31) Daher stellt P 23 süffisant fest: „[…] ich will auch mal kritischen Klatsch über die Sinti und Roma und die Türken lesen.“ (P23/30) Weiter fragt sie in diesem Zusammenhang ironisch: „[…] wir haben eine Aleviten-Community, die ist genauso groß wie die jüdische Community. Warum lese ich nie über die Aleviten in der Zeitung?“ (Ebd.) So bilanziert sie das geschilderten Medien-Hype um Jüdisches für die Metropole kritisch: „Von daher, dass Jüdische [hat] im Verhältnis zur zahlenmäßigen Proportionalität in Berlin also einen öffentlichen Stellenwert in der Zeitung, das ist unwahrscheinlich.“ (P23/30-31) Schließlich kommt die Internet-Redakteurin noch kurz auf ein Beispiel zu sprechen, welches sie als zwischen Hype und ernsthafter nichtjüdischer Auseinandersetzung mit jüdischer Kultur anzusiedelnde Kultureinrichtung einschätzt: nämlich das oben mit einem Exkurs bereits vorgestellte Hackesche Hoftheater.241 So stellt sie fest: Es „ist nach meinem Dafürhalten eine Grauzone. Da gibt es Veranstaltungen, die O. K. sind und es gibt Veranstaltungen, […] wo Nichtjuden eine Atmosphäre […] produzieren, die also dann so in diese Richtung geht, also das man so vorgibt, durch das ganze Gehabe, das man da aufbaut, als ob man eben jüdisch wäre. Und das, was da inhaltlich läuft, ist sehr unterschiedlich.“ (P23/33) Ihrer Einschätzung nach hätte die Musiksparte des Hoftheaters „etwas wahllos“ (Ebd.) dem Klezmer-Hype nachgegeben und dabei durchaus auch das 240 Vgl. oben im Einführungs-Teil dieses Kapitels das entsprechende Zitat des in Berlin lebenden jüdischen Autors Wladimir Kaminer Kap. III.3.1.1, S. 295, Anm. 204. 241 Vgl. zum Hackeschen Hoftheater oben den Exkurs in Kap. III.3.1.3., S. 300 f. sowie unten die Ausführungen von P 15 in Kap. III.3.2.5., S. 324 ff.
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konsumfreudige Kneipenpublikum der Hackeschen Höfe im Auge gehabt, während sie dem nichtjüdischen Leiter der Theatersparte „sein Anliegen wirklich abnimmt, dass er sagt, ,das [jiddischsprachiges Theater] ist also eine kulturelle Leistung, die man nicht vergessen sollte‘“. (P23/34) Daher sei es nach Meinung der professionellen Beobachterin auch zukünftig notwendig, sehr genau hinzuschauen, wie sich das Hackesche Hoftheater weiter entwickle. P 15 und P 18: Außer diesen hier mit ihren kritischen Statements angeführten äußern sich auch P 15 sowie P 18 zunächst kritisch zu nichtjüdischen Inszenierungen bzw. zu Hype- geprägten Wahrnehmungen von Juden und Jüdischem. Allerdings überwiegen bei ihnen positive Einschätzungen (P 15) oder die nichtjüdischen Umgangsweisen werden über ihre Kontextualisierung auf zeitlicher Ebene sowie in einer interkulturellen Perspektive weitaus weniger negativ (P 18) reflektiert. Daher werden beider Äußerungen unten in den entsprechenden anderen Meinungs-Clustern wiedergegeben.242
3.2.2. Negativ-Auswirkungen des ,Hypes‘ auf die jüdische Gemeinschaft Berlins sowie sich für sie hieraus ergebende Konsequenzen (P 1, P 3, P 8, P 11 und P 23) Die Äußerungen in diesem Meinungs-Cluster reichen von unmittelbaren VorOrt-Beobachtungen in der sozialen Realität Berlins bis zu Reflexionen über die Konsequenzen, die sich aus den nichtjüdischen Besetzungen jüdischer Räume und Thematik für die jüdische Gemeinschaft der Stadt ergeben. P 1: Die im Jüdischen Kulturverein sehr engagierte Berlinerin wertet nichtjüdische Hype-Phänomene insgesamt eher negativ. Dies betrifft deren Effekte auf die jüdische wie die nichtjüdische Seite. Sie macht dies exemplarisch an der zunehmenden Präsenz von Nichtjuden im Bereich des von ihr als originär religiös empfundenen Gemeindelebens fest. Als konkretes Beispiel führt sie die liberale Synagoge Pestalozzistraße im Westen der Stadt an, wo sich am Schabbat vermehrt nichtjüdische Besucher einfinden würden, um, wie sie es nennt, eine schöne Stimme zu hören. Gemeint sind damit der für diese Synagoge typische und berühmte vorkriegsliberale Kantorengesang und Gemeindechor.243 Für das jüdische Leben würde das geschilderte nichtjüdische Interesse keinerlei positiven Effekt mit sich bringen, sondern im Gegenteil würde auf diese Weise der Eindruck erweckt, die Synagogen seien „soweit so voll“ (P1/4). Diese Äußerung kann im Kontext der übrigen Aussagen von P1 als eine indirekte Kritik verstanden werden, nämlich damit, dass ein für die Gemeinde durchaus problematisches Faktum des Besuchs der Gemeindegottesdienste nur durch eine kleine Minderheit der Mitglieder regelmäßig besucht, in seiner Dramatik nicht ausreichend wahrgenommen wird. 242 P 15 unter Kap. III.3.2.5., S. 323 ff. und P 18 unter Kap. III.3.2.3., S. 319 ff. 243 Zu dem spezifischen Charakter der Synagoge Pestalozzistraße im Sinne der Vorkriegsreform vgl. im Berliner Einführungs-Kap. den Abschnitt II.2.1.2., S. 132.
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Insgesamt scheint für die religiös eher traditionell zwischen konservativ und orthodox Orientierte die durch den Hype begünstigte verzerrte Wahrnehmung der Quantität und der Qualität jüdischen Lebens in Berlin unter Nichtjuden für die jüdische Seite kaum direkte negative Auswirkungen zu zeitigen. Schließlich ist sie der Überzeugung, dass jüdisches Leben vorrangig religiöses Gemeindeleben ist, welches dem nichtjüdischen Blick weitgehend entzogen ist (vgl. oben Kap. III.3.2.1.) So wird deutlich, dass sie in ihrer Erörterung des Hypes dezidiert die negativen Folgen für die nichtjüdische Seite benennt, wie im vorherigen Absatz dargestellt, ohne entsprechende Auswirkungen für die jüdische Seite anzuführen. Allerdings schwingt auch bei P 1 implizit der in der kultursoziologischen VorabErörterung des Hypes benannte Zusammenhang mit, dass die Hype-geprägte Vorurteils-Produktion in der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft eine Verständigung zwischen Juden und Nichtjuden im heutigen Berlin eher erschwert. P 3: Als Einzige äußert sich die überzeugte Reformjüdin, deren kritische Aussagen zum nichtjüdischen Hype bereits ebenfalls oben in Kap. III.3.2.1. angeführt wurden, dezidiert selbstkritisch zu den innerjüdischen Umgangsweisen mit dem Hype: Demnach sähen sich jüdische Gemeinden in Deutschland über die JGB hinaus (s. u.) immer wieder befleißigt, bei der Konzeptionierung von öffentlichen jüdischen Kulturveranstaltungen Hype-Erwartungshaltungen auf nichtjüdischer Seite zu genügen. Die Ursache hierfür sieht sie in dem kommerziellen Gesichtspunkten nachgebenden Kalkül von Gemeinde-Verantwortlichen, auf diese Weise eine größere Popularität der von ihnen angebotenen Kulturveranstaltungen unter dem potentiell mehrheitlich nichtjüdischen Publikumskreis zu erreichen, indem deren Klischees bedient werden. So ließe man zu von jüdischer Seite veranstalteten Kulturfestivals und -wochen immer wieder israelische Stars und ausländische Klezmerbands einfliegen, „die ja sehr unterhaltsam sein mögen, aber eigentlich sehr wenig mit der jüdischen Realität hierzulande zu tun haben.“ (P 3/27) Stattdessen würde jüdischerseits „in Deutschland gerne versäumt, sich auf die eigenen Kräfte zu besinnen.“ (Ebd.) kritisiert sie diesen Exotismus. Demgegenüber weiß sie von genügend in der Metropole lebenden jüdischen Künstlern mit deutschem, ,russischem‘ oder amerikanischen Herkommen, welche lebendige jüdische Kultur aus Berlin zur Genüge präsentieren könnten, ohne eine falsche Anbiederung an die nichtjüdischen Klischeebilder. Dies wäre für die alltägliche jüdische Kulturarbeit wie auch für die innerjüdische Integration viel sinnvoller.244 Interessant ist, dass die langjährig im jüdisch-christlichen Dialog Aktive sogar in diesem Bereich, jenseits touristischer Bedürfnisse, auf den kritisierten jüdischen Exotismus unter Nichtjuden gestoßen ist: „Aber das Alltägliche blieb außen vor [Hervorhebung: A. J.]. Entweder war es Israel, das interessant war oder jiddische Folklore, die auch fehl am Platz ist hier in Deutschland.“ (P 3/3) Aufschlussreich sind die von ihr benannten Folgen für die jüdische Seite: „Es war ein sehr großes Ungleichgewicht und, wenig Christen haben es verstanden 244 Vgl. hierzu näher ihre Ausführungen im Revitalisierungs-Kap. III.1.2.1., S. 208.
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sich selbst in Frage zu stellen und die eigene Position zu überdenken. Man verlangt, dass die jüdische Seite sich andauernd erklärt oder sogar rechtfertigt. Es war eine große Vereinnahmung, aber wenig Miteinander dabei.“ (Ebd.) P 8: Die langjährig engagierte Besucherin des Egalitären Minjan erlebt den nichtjüdischen Hype sowie die sichtbaren Zeichen seiner Entstehung und Entwicklung in der Oranienburger Straße ,hautnah‘ mit, da sich der Minjan unter der goldenen Kuppel der Neuen Synagoge regelmäßig versammelt, also am sichtbarsten Fixpunkt des Hypes in Berlin. Obwohl sie die Wandlung dieser Ostberliner Gegend seit den frühen 90er Jahren zum bedeutsamen Ort jüdischer wie nichtjüdischer Aktivitäten vor Ort mitbekommen hat, äußert sie sich nur verhältnismäßig kurz zu dem Hype-Szenario. In dem gesamten Gespräch mit ihr wird deutlich, dass ihr starkes innerjüdisches Engagement durch nichtjüdische Besetzungen jüdischer Thematik kaum tangiert wird. Als Negativbeispiel pseudojüdischer Kultur erwähnt sie lediglich das mittlerweile nicht mehr existierende Restaurant Mendelssohn. Kritisch merkt die sich persönlich nach den KASCHRUT-Regeln Ernährende an, dass in diesem Lokal im Gegensatz zu den koscheren Speisegesetzen aus kommerziellen Gründen Fleisch und Milch gemischt würden.245 Anders gelagert stellt sich die Einschätzung des touristischen Laufpublikums im Egalitären Minjan durch P 8 dar. Wie auf einem Präsentierteller befindet sich dieser ja in Räumen des berühmten Baus der Neuen Synagoge in der Touristenmeile Oranienburger Straße. Außerdem ist der Minjan innerjüdisch für seine Offenheit gegenüber nichtjüdischen Interessierten bekannt. Das engagierte Mitglied des Betkreises schildert entsprechende Auswüchse des Hypes auf den von ihr mitgetragenen: So berichtet sie aus der Beter-Versammlung des Minjans, dass darüber gesprochen wurde, dass ähnlich zur Synagoge Pestalozzistraße246 „ein Merkblatt herausgegeben werden soll, mit Verhaltensrichtlinien, wie man sich in einem jüdischen Gottesdienst zu verhalten hat, dass man es an bestimmten Stellen als sehr störend empfindet, wenn da die Leute im Gänsemarsch herauslaufen. Dann haben wir eigentlich nichts dagegen, wenn die Leute […] ein bisschen informiert sind, dass wir also kein Vaterunser beten. Dass ist also wirklich schon vorgekommen, dass jemand fragte: ,Ja wann wird das Vaterunser gebetet?‘“ (P8/37)
In der von P8 beschriebenen Problematik mischt sich offensichtlich Unsensibilität gegenüber ihre Religion in einem Gotteshaus ausübenden Menschen mit geringem Sachverstand über Unterschiede der beiden monotheistischen Religionen. Die geschilderte Situation ist selbstverständlich auch außerhalb des hier erörterten Zusammenhangs weltweit von vielen Touristenattraktionen her bekannt. Sie ist damit nicht nur spezifisch für den hier behandelten nichtjüdischen Hype. Dennoch gehört die Konfrontation von ihrer Religionsausübung nachgehenden Berliner Juden mit einem unbedarften touristischen Laufpublikum zu dessen 245 Vgl. oben die Schilderung von I. Weiss in Kap. III.3.1.2., S. 298. 246 Vgl. oben die in der Argumentation anders gelagerten jedoch nicht minder kritischen Äußerungen über die Besucherströme in der Pestalozzistraße bei P 1.
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drastischsten Auswirkungen auf das jüdische Leben in Berlin, was dadurch deutlich wird, dass die beiden liberalen Synagogen sich mittlerweile gezwungen sehen, hierauf mit Aushängen zu reagieren. Außerdem handelt es sich hierbei um eine der makabersten Spätfolgen der Judenvernichtung durch das NS-Regime: gelebtes Judentum in Berlin als exotische Touristenattraktion.247 P 11: Die Tatsache mag zunächst überraschend erscheinen, dass sich die russlandstämmige Galeristin überhaupt zu negativen Auswirkungen des nichtjüdischen Hypes für Juden in Berlin äußert, denn schließlich profitiert sie mit der in der Oranienburger Straße gelegenen Jüdischen Galerie in einem gewissen Umfang direkt von dem in dieser Gegend für Berlin am deutlichsten hervortretenden Hype. Immerhin hat sich die Galerie in kleinem Umfang mit ihrem Angebot auf diese ,Laufkundschaft‘ eingestellt.248 Jedoch bemerkt die Kunsthändlerin als Antwort auf die Frage, ob unter den nichtjüdischen Besuchern der Galerie auch solche seien, die gegenüber dem ,Jüdischen‘ der Galerie eine besondere Reaktion zeigten, bezogen auf einen Teil der Kundschaft unmissverständlich kritisch: „Ja, die Leute, die uns besonders mögen.“ – „Es gibt sehr viele Beispiele dafür.“ – „Und man redet sehr oft darüber […] und man zeigt, dass es sehr gut für diese jüdischen Künstler ist, hier ausgestellt [zu werden] und es eine gute Beeinflussung der deutschen kulturellen Szene ist usw. usf.“ – „Bla, bla, bla.“ (P11/24)
Die Jüdische Galerie ist offenbar ein selten geeigneter Ort im ,Jüdischen Berlin‘ für einige Nichtjuden, um gegenüber Juden offen gezeigten Philosemitismus zu demonstrieren. Der Umfang und die Direktheit dieser der Galeristin gegenüber gezeigten Verhaltensweisen lassen ihr dies Hype-Phänomen auch bei einer Kundschaft, auf die sie angewiesen ist, eindeutig negativ erscheinen. P 23: Die im journalistischen Bereich tätige Wahlberlinerin schildert einige sehr konkrete negative Folgen des Hypes in Berlin für die örtliche jüdische Bevölkerung. Zur Verdeutlichung dieser Auswirkungen werden von der Medienvertreterin konkrete Beispiele ins Feld geführt, die im Folgenden näher behandelt werden sollen, um die von ihr skizzierten Wirkungsmechanismen nachzuzeichnen. Ein erstes, nur kurz angesprochenes Beispiel einer gewissen Verdrängung von Juden durch nichtjüdisches Agieren im deutsch-jüdischen Feld benennt die Journalistin im ihr berufsbedingt besonders geläufigen Bereich des Pressewesens. Es handelt sich um den ,Aufbau‘, eine 1934 durch jüdische Immigranten aus NSDeutschland in New York gegründete, ursprünglich deutschsprachige und später deutsch- und englischsprachige Zeitung. Diese hatte im Frühjahr 2001 ein Berliner Korrespondenten-Büro eröffnet.249 P 23 betont, dass dieses Blatt allgemein 247 Zu den von P 8 berichteten Störungen des egalitären Minjans gesellt sich außerdem teilweise ein aggressiver Misionarismus von bestimmten christlichen Splittergruppen, vgl. ihre entsprechenden Äußerungen im Antisemitismus-Kap. III4.2.2., S.400. 248 Vgl. unten die Einzelfallanalyse der Jüdischen Galerie Kap. IV.5. 249 Die Zeitung, für die einst Prominente wie H. Arendt., A. Einstein, M. Horkheimer, T. Mann und andere geschrieben hatten, stand 2004 vor dem endgültigen Aus. Sie
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als jüdische Zeitung angesehen würde, was es im eigentlichen Sinne des Wortes im Bereich seiner deutschen bzw. Berliner Redaktion gerade nicht sei. Die einst renommierte Gazette hätte zwar eine eindeutig jüdische Geschichte, heute würden in dieser Zeitung jedoch vorwiegend Nichtjuden über Jüdisches schreiben, ohne dass es dabei zu einer das Label ,jüdisch‘ rechtfertigenden angemessenen Repräsentanz der jüdischen Seite käme: „Aber wenn Juden ihre Sicht der Dinge nicht gleichberechtigt einbringen können, dann ist es kein jüdisches Blatt.“ (P23/26) Ohne in der Studie auf dieses Beispiel näher eingehen zu können250, wird doch bereits aus dem Gesagten eine ganz neue Grauzone jüdischer wie nichtjüdischer medialer Behandlung jüdischer Thematik deutlich. In diesem nach wie vor winzigen Sektor heutiger deutschsprachiger zu jüdischer Thematik arbeitenden Medien besteht zumindest die Gefahr einer vordergründig kaum erkennbaren Verdrängung originär jüdischer durch nichtjüdische Medien. Ein von der Wahlberlinern weitaus genauer ausgeführtes Beispiel für mit bestimmten Hype-Phänomenen einhergehenden Verdrängungsmechanismen originär jüdischer Aspekte des Lebens der Stadt stammt aus der Kneipen- und Restaurantszene. Hierbei geht es der Medienvertreterin um die Unterschiede zweier Lokale im Umfeld des ,Jüdischen Berlins‘ in der Oranienburger Straße nach Besucher-Zusammensetzung im Kontext des Hypes.251 Damit liefert P 23 einen sehr aufschlussreichen Beitrag zur Frage der Wirkungsmechanismen von Hype-Phänomenen im deutsch-jüdischen Feld und zugleich zur Frage innerjüdischer Umgangsweisen mit dem Hype im Gastronomiebereich der Metropole, weswegen es auch hier ausführlicher dargestellt werden soll: Vorausgeschickt werden soll hier zu dem ersten von der Wahlberlinerin thematisierten Lokal, dass es auf Grund seines orientalischen Namens, seiner Küche und nicht zuletzt seiner bevorzugten Lage in der ,Touristenmeile‘ Oranienburger Straße von Nichtjuden seit seiner Eröffnung in den 90er Jahren allgemein als ,jüdisch‘ wahrgenommen wurde. In den einschlägigen Berlin-Reiseführern ist es als ,jewish styled‘ beschrieben. Mit dieser Formulierung werden international Lokale bezeichnet, die israelische und oder andere jüdische Spezialitäten anbieten, ohne eine koschere Küche zu besitzen. Aus der Vorrecherche war bekannt, dass die sehr beliebte ,Location‘ zum einen ein wichtiger Bestandteil des nichtjüdischen Hype-Geschehens um das ,Jüdische Berlin‘ ist. Außerdem trafen sich in den Anfangsjahren in dem von einem Israeli betriebenen Lokal auch häufiger
wurde Anfang 2005 von der in Zürich ansässigen Jüdischen Medien AG (JMAG) übernommen und wird seither von dieser als Monatsmagazin herausgegeben. 250 Die Einbeziehung des mit der Hauptredaktion nicht im Untersuchungsfeld Berlin angesiedelten Traditionsblatts würde den Rahmen der vorliegenden Studie sprengen. Eigene Recherchen u. a. durch den Besuch der im Bezirk Wedding zeitweilig eingerichteten Lokalredaktion bestätigten die nichtjüdische Redaktionsleitung. 251 Das Erhebungsgespräch mit P 23 fand im zweiten von ihr exemplarisch angeführten Lokale statt. Aus im Weiteren leicht nachvollziehbaren Gründen sollen in der folgenden Darstellung die angeführten Lokale anonym bleiben.
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JGB-Mitglieder, Ende der 90er Jahre war es geradezu ein Stammlokal der Gemeinde in der Gegend ihres östlichen Zentrums. Im Zusammenhang der Erörterung des jüdischen Umgangs mit dem Hype ist der Wandel hochinteressant, der sich seitdem unter der Besucherschaft des Lokals vollzogen hat, wie die Journalistin berichtet: Auf der einen Seite bediene das Restaurant weiterhin ein zahlreiches und zahlungsfreudiges (s. u.) Hype geleitetes nichtjüdisches Publikum. So weiß sie durchaus von „Nichtjuden, die da hingehen, weil sie denken: ,Na ja, das ist was Jüdisches, und vielleicht lernt man da Juden kennen?‘“ (P23/35) Demgegenüber weist P 23 darauf hin, dass dieses Lokal mittlerweile kaum mehr von Berliner Juden besucht werde. Hierfür benennt sie zwei Argumente, die implizit wieder auf den Hype zurückverweisen: Einerseits ließe die im Gastraum vorherrschende „Bahnhofsatmosphäre“ (Ebd.) kaum ein intensiveres Gespräch führen. Andererseits stünde das „Preis-Leistungsverhältnis“ (Ebd.) in keiner angemessenen Relation. Die Atmosphäre und die Preise entsprechen offenbar nicht mehr denjenigen vor der ,Aufwertung‘ durch den touristischen Hype. Deutlich wird auch in diesem Beispiel ein aus neuralgischen Punkten des weltweiten Tourismus bekanntes Phänomen der Verdrängung einer ,autochthonen‘ Bevölkerung durch ein vermeintlich ,typical‘ konsumierendes touristisches Publikum.252 Das andere Lokal, von dem die publizistisch Tätige berichtet, befindet sich in der Nähe des Erstgenannten. Es zeichnet sich durch keinerlei äußere Merkmale als ,jüdisch‘ aus, besitzt keine ,jewish styled‘ Küche und auch keine jüdischen Pächter, sondern wird von Kurden geführt. Die entscheidende Aussage von P 23 bezieht sich jedoch auf die Frequentierung des Lokals durch Juden: „Und das Interessante ist, dass das XY, wo wir jetzt sitzen253, sehr gut von Juden frequentiert wird, und dass in diesem Nebenraum, wo wir des Interview führen, sehr oft am Freitagabend Juden nach Kabbalat Schabbat eben dann sind. Nach dem Gottesdienst hier noch miteinander was essen gehen. Und die Besitzer […] da also auch sehr offen und sehr freundlich und entgegenkommend sind.“ (Ebd.)
Tatsächlich ermöglichen die Inhaber dem jüdischen Kreis, hier nach Schabbat den Kiddusch zu begehen: „Wenn wir hier Kiddusch für Schabbat machen, können wir unsere CHALLA mitbringen und einen koscheren Wein254 und kriegen noch zwei Kerzen auf den Tisch gestellt“. (Ebd.) Aber auch unter der Woche könnte man als Jude zufällig mal andere Juden hier treffen, ohne sich verabredet zu haben. So bilanziert sie den jüdischen Charakter in diesem Lokal: „Aber das würde niemand als einen jüdischen Raum bezeichnen, […], definieren“ – „obwohl es über gewisse Zeiten eben doch einer ist.“ (Ebd.)
252 Vgl. oben die Aussagen von P 8 zur ebenfalls in der Oranienburger Straße stattfindenden Störung des Egalitären Minjans durch Hype-animierte Touristenscharen. 253 Das Gespräch mit P 23 wurde in diesem hier mit XY bezeichneten Lokal geführt. 254 Der in Lokalen wie bspw. dem Erstgenannten üblicherweise sehr teuer ist.
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3.2.3. Der ,Hype‘ als Ausdrucksform einer spezifisch europäischen Disposition (P 18) Als sehr ergiebig erwies sich für die Behandlung ,grundsätzlicher‘ Themenbereiche in die Erhebung, wie im Fall des nichtjüdischen Hypes, mit P 18 eine Stimme einzubeziehen, die durch ihre biographisch bedingt außereuropäische Perspektive die jüdische Existenz in Berlin unter einem ganz anderen Blickwinkel sieht und beurteilt als die hier aufgewachsenen oder aus Osteuropa Zugewanderten. Außerdem wird in ihrer Perspektive das Berliner jüdische Leben und seine außerjüdischen Randbedingungen viel stärker in einen gesamteuropäischen Zusammenhang gerückt auf Grund der von ihr wahrgenommenen Unterschiede zu der jüdischen Existenz in den USA. Als einzige kommt die New Yorkerin aus einer Herkunftsregion mit einer großen, mehrere Millionen Menschen (!) umfassenden jüdischen ,Minderheit‘. Sicherlich nicht unbeeinflusst von ihrer Herkunftserfahrung gelebter jüdischer Normalität ist sie auch die einzige, die den historisch begründeten und interkulturell bedeutsamen Hinweis liefert, dass es sich bei dem hier erörterten nichtjüdischen Hype offensichtlich um kein nur in Deutschland vorhandenes Sonderphänomen handeln würde. Dies gelte trotz der hier unbestreitbar vorhandenen besonderen Aufmerksamkeit von nichtjüdischer Seite für Juden vor dem mit der spezifisch deutschen NS-Vergangenheit verknüpften unvergleichlichen politischen Hintergrund. Vielmehr sollte der Hype über Deutschland hinaus als Teil eines zwar geschichtlich bedingten, nichtjüdischen „Sonderinteresses“ (P18/35) angesehen werden, welches aber damit auch in den anderen europäischen Ländern bestünde, die in der NS-Zeit besetzt und von Juden ,gereinigt‘ worden seien und wo sich auch wieder jüdisches Leben entwickele. „Es gibt dieses Interesse an Juden/Judentum, [es] zeigt kein Zeichen von Verminderung“. (Ebd.) So äußert sie die durchaus nachvollziehbare Ansicht, dass letztlich auch die vorliegende Untersuchung und die sie mit ihrer Bereitschaft zur Teilnahme gutheißt, Ausdruck des von ihr zuvor skizzierten gesteigerten nichtjüdischen Interesses sei. Daher ist P 18 davon überzeugt, dass dieses Phänomen die hiesigen sowie auch andere jüdischen Gemeinschaften bzw. Gemeinden in Europa noch sehr lange (sie spricht von bis zu 100 Jahren) begleiten werde. Doch welche Auswirkungen hat nach Ansicht der New York-Stämmigen das von ihr in Berlin, Deutschland und anderen europäischen Ländern wahrgenommene Sonderinteresse für die hier lebenden Juden? Einen von ihr erörterten Problempunkt stellen die von ihr in der alten Welt wahrgenommenen pseudojüdischen Kulturmanifestationen dar. So fragt sie nach deren Auswirkungen auf die jüdischen Gemeinschaften im europäischen Maßstab. Ihre Antwort fällt zunächst ambivalent aus: Einerseits teilt sie die von jüdischer Seite vereinzelt geäußerte These, dass die Tatsache, dass vieles ,Jüdische‘, was von Nichtjuden gemacht werde, für die jüdische Gemeinschaft keine Gefahr darstelle. Andererseits gibt auch sie zu bedenken, dass die These von Iris Weiss und anderen, der Entstehung eines ,Jewish Disneyland‘ zumindest der Tendenz nach an Stelle originärer und
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authentischer jüdischer Kultur, durchaus ihre Berechtigung habe.255 Außerdem wäre die virtuelle von der originären jüdischen Kultur für Außenstehende kaum zu unterscheiden, denn „virtuell bedeutet fast wahr“ (P18/35). Manche Juden hätten entsprechend Angst, dass Konvertiten256 und Nichtjuden, die sich jüdische Kultur mit viel Inbrunst aneignen und präsentieren (bspw. Klezmermusik), diese damit vereinnahmen, „neu definieren“ (ebd.) würden. Außerdem würden sie bezweifeln, dass Nichtjuden etwas ausdrücken könnten, das sie nicht erlebt hätten. Die Wahlberlinerin nimmt bei der Frage der Aneignung jüdischer Kultur und Leidensgeschichte durch Nichtjuden aber insgesamt eine eher ,entspannte‘ Haltung ein: „[…] die traurige Vergangenheit der Juden, ob die Lehren dieser Erfahrungen nur Juden gehören, das ist nicht wahr, die Lehren gehören einem jedem Menschen. Und so denke ich mal, dass die Freude und die Trauer in Klezmermusik kann auch jedem Menschen gehören, ich bin kein Mensch, der sagt, dass nur ein Sinti/Roma kann auch eine Sinti-/Roma-Musik spielen.“ (P18/36) Ewas anderes stellen für die US-Amerikanerin moralische Bewertungen von nichtjüdischer Seite dar, welche sie in Berlin und Deutschland sehr deutlich und als sehr problematisch wahrnimmt: Hierbei geht es ihrer Ansicht nach um Negativzusammenhang zwischen nichtjüdischem Sonderinteresse und einer Normalisierung hiesigen jüdischen Lebens. So stellt sie kritisch fest, dass Juden entsprechend dieser Sonderstellung mit Vorliebe als Symbole für ,Überleben‘, ,moralische Stimmen‘ oder ,Israel‘ angesehen würden, ob sie dies wollten oder nicht.257 Diese Aussage erhält durch ein ihre bereits erwähnte Vermutung einer sehr lange andauernden Phase des historisch bedingten Sonderinteresses von Nichtjuden an Juden (s. o.) ein besonderes Gewicht. Zwar werden von der publizistisch Tätigen nichtjüdische Inszenierungen des Jüdischen und entsprechende Hype-Phänomene als Sonderzuschreibungen gegenüber Juden z. T. kritisch eingeschätzt. Dennoch scheinen diese Hypostasierungen des Jüdischen für sie keine entscheidende Beeinträchtigung der hiesigen jüdischen Existenz darzustellen. Die Ursache für diese damit über ihre eigene Person hinausgehende Gelassenheit dürfte einerseits darin zu suchen sein, dass die sehr jüdisch und großstädtisch sozialisierte US-Amerikanerin von der historischen Bedingtheit (s. o.) und damit Überwindbarkeit der Vorurteils-Strukturen überzeugt ist. Andererseits dürfte eine wichtige Rolle spielen, dass sie gerade das kulturelle jüdische Leben in Berlin im Verhältnis zu den historisch gesehen ungünstigen Voraussetzungen, in letzter Konsequenz als vital und in Aufwärtsentwicklung begriffen wahrnimmt. Außerdem konstatiert sie eine Zunahme hiesigen jüdischen Selbstbewusstseins (vgl. oben Kap. III.1.2.2.).
255 Ähnlich P 22, vgl. oben Kap. III.3.2.1., S. 311 256 Die Konvertiten-Thematik wird hier absichtlich nicht vertieft. Dies würde eine eigene Untersuchung erfordern. 257 Ein ähnlicher Hinweis stammt auch von der italienisch-jüdischen Historikerin D. Pinto; vgl. dies.: The third pillar?, S. 33 ff.
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3.2.4. Bestimmte Voraussetzungen und Randbedingungen des ,Hypes‘ (P 9 I, P 9 II und P 12) Während die meisten in den beiden vorherigen Abschnitte Genannten sehr bereitwillig zu nichtjüdischen Hype-Phänomenen Auskunft gaben und teilweise von sich aus das Gespräch hierauf lenkten, verhielt es sich in diesem Einzelfall genau umgekehrt. So besaßen die sich entsprechend Äußernden offenbar nur einen sehr geringen oder keinen Wissensstand über die Thematik oder standen ihr – ganz im Gegensatz etwa zur im zuvor näher behandelten AntisemitismusProblematik – eher desinteressiert bzw. gleichgültig gegenüber. Als gutes Beispiel hierfür kann die dem ,russischen‘ Einwanderermilieu entstammende, im jüdischen Vereinssport Aktive und in dessen Organisation Tätige, P 19 angesehen werden: Einerseits besitzt sie einen alltäglichen Umgang mit vielen nichtjüdischen Freunden, Bekannten und Kollegen, ohne dass diese ihr gegenüber im Sinne des Hypes oder anderer philosemitischer Verhaltensweisen begegnen würden. Andererseits belasten diese sehr stark antisemitischen Erfahrungen, die sie oder ihr jüdisches Umfeld in Berlin machen müssen.258 Dennoch schilderten einige, meist eher beiläufig, persönliche Erfahrungen aus dem deutsch-jüdischen Feld, die m. E. als aufschlussreiche Voraussetzungen und Randbedingungen des Hypes angesehen werden können, ohne ihn direkt zu thematisieren. Drei entsprechende Äußerungen sollen daher im Folgenden angeführt werden. P 9 I und P 9 II: In diesem Sinne sollen hier zwei in der Berliner jüdischen Homosexuellen-Gruppe Aktive mit ihren Erfahrungen weit verbreiteter problematischer Umgangsweisen von Nichtjuden Juden gegenüber angeführt werden. Damit lässt sich m. E. ein Stück weit das mentale Umfeld der Hype-Phänomene in Berlin markieren. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass beide überzeugte WahlberlinerInnen in der Schwulen- und Lesben-Szene Berlins aber auch darüber hinaus in ihrer persönlichen Lebenswelt in Berlin mit sehr vielen Nichtjuden zu tun haben und in ihren Statements auch Beobachtungen aus ihrem eigenen Bekanntenkreis einbeziehen. Zum einen kritisieren beide eine teilweise überbordende, auf die Schoah bezogene Gedenk-Kultur unter Nichtjuden (ähnlich P 15, s. u. Kap. III.3.2.5.). Der aus der ehemaligen DDR stammende P 9 II führt kritisch als Indiz hierfür die Nichtjüdin Lea Rosh und den von ihr betriebenen ,Kult‘ um das von ihr maßgeblich durchgesetzte Mahnmal für die Opfer des Holocausts an, welcher ,vernünftigen Juden‘, wie er betont, fast schon peinlich sei. Die aus dem westlichen Ausland stammende P 9 I verweist in diesem Kontext darauf, dass eine halbe Million Menschen den völlig leeren Liebeskind-Bau des Jüdischen Museums in Berlin bereits besuchten, bevor das eigentliche Museum im September 2001 eröffnete. Zum anderen schildern beide ihre Erfahrungen mit nichtjüdischen Klischeebildungen, gerade auch unter Homosexuellen. Als Beispiel hierfür schildern sie
258 Vgl. hierzu näher ihre Ausführungen Antisemitismus-Kap. 4.2.1., S. 385 ff.
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verschiedene Situationen, die sie öfters in Berlin erleben würden. Auch wenn einige der Beispiele aus der Schwulen- und Lesben-Szene stammen, geht es ihnen primär um ihre Erfahrungen mit klischeebildenden nichtjüdischen Deutschen und nicht speziell um Homosexuelle: Der sich als deutscher Jude und Schwuler verstehende schildert die missliche Situation, von Nichtjuden als Israeli wahrgenommen zu werden. Und die lesbische Vertreterin der jüdischen Homosexuellengruppe kolportiert die ihr widerfahrene Situation, von christlichen Schwulen mit Bibelzitaten ob ihrer jüdischen Wurzeln klischeegemäß als per se religiös versiert angesehen zu werden. Schließlich berichten beide von der ihnen mittlerweile vertrauten Reaktion nichtjüdischen Homosexueller ihnen gegenüber, die sie auf Grund ihres homo-sexuell-jüdischen Engagements eher etwas abschätzig als exotische Polit-Schwule à la 70er Jahre und Rosa von Praunheim (P 9 I und II/21) wahrnehmen würden. Der schwule Mitbegründer der Gruppe bilanziert seine mitunter schwierigen Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit Nichtjuden in Deutschland, darunter auch solche, die sie in ihrem persönlichen Bekanntenkreis immer wieder macht, mit einem Zitat, welches er zuvor in einem Interview gehört hatte: „also die [nichtjüdischen; A. J.] Deutschen kommen mit ihren toten Juden besser zurecht als mit ihren lebenden“. (P 9 II/21)259 P 12: Die im jüdischen Studentenverband Engagierte äußert sich en Block zur Renaissance jüdischen Lebens (vgl. oben Kap. III.1.2.) sowie zum modischen Hype und pseudo-jüdischen Aktivitäten. Auf die Hype-Thematik geht sie nur sehr peripher ein. Im Zusammenhang mit ihrer Bewertung der Zunahme jüdischer Aktivitäten in Berlin meint sie insgesamt: „Ob es […] pseudo ist oder nicht, vermag ich jetzt nicht zu sagen.“ (P12/27) Der andere nur gestreifte Bezugspunkt zur Thematik ist ihre persönliche Einschätzung des unterschiedlichen alltäglichen Umgangs von Nichtjuden mit Juden.260 Dabei stellt sie in ihrer Lebenswelt zwei Grundpositionen fest: „[…] also es gibt, so wie ich gesehen habe, sehr viele Deutsche, die damit überhaupt kein Problem haben. Es macht für sie einfach überhaupt nichts aus, ob jetzt jemand jüdisch ist oder nicht. Es gibt aber auch viele Deutsche, die der Meinung sind, jetzt Judentum ist irgendwas sehr viel Hochgestellteres und Heiliges und sehen sich schon ein bisschen irgendwo in der Rolle der Vergangenheitsbewältigung […]; […] dass sie sehen ,Ja, er ist Jude, und ich trau‘ mich nicht.‘“ (P12/28)
Diese persönlich erlebte Schilderung verweist offensichtlich auf einen eher allgemeinen und diffusen Philosemitismus, wie er den hier erörterten HypePhänomenen teilweise zu Grunde liegt.261
259 Ähnlich schon Henry M. Broder 1998; vgl. das von ihm stammende Motto oben Beginn des Hype-Kap. III.3., S. 289. 260 Zu ihren positiven Erfahrungen im deutsch-jüdischen Feld vgl. ihrerseits persönwahrgenommenen Berlinspezifika in Kap. III.2.1.2., S. 258. 261 Zum Philosemitismus vgl. oben den Eingangsteil Kap. III.3.1. zur Hype-Thematik, im Begriffsbestimmungs-Kap. I.3.2., S. 413 ff. das Stichwort ,Sekundärer Nach-
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3.2.5. Chancen und positive Effekte des ,Hypes‘ im deutsch-jüdischen Feld (P 3, P 15 und 17) Trotz der überwiegend kritischen Einschätzungen gegenüber modischen Inszenierungen des Jüdischen in Berlin unter de sich hierzu Äußernden wurden von einigen Hinweise auf sich aus dem Hype möglicherweise für das jüdische Kollektiv sowie für das jüdisch-nichtjüdische Verhältnis eröffnende Chancen artikuliert. Zwei Stimmen bekundeten sogar eine grundsätzlich positive Einstellung gegenüber touristischem bzw. modischem Interesse an jüdischer Kultur. P 3: Im Anschluss an ihre kritischen Aussagen über den Hype (s. o. Kap. III.3.2.1.) entwickelt die Internet-Redakteurin eine perspektivisch tendenziell optimistische These bezogen auf die künftige Entwicklung: So ist sie hoffnungsvoll, dass entsprechende Angebote der Jüdischen Volkshochschule, des Jüdischen Museums, von Bibliotheken usw. für zunächst lediglich modisch an Versatzstücken jüdischer Kultur interessierten Nichtjuden in Berlin Anknüpfungspunkte an deren eigene Erfahrungen schaffen könnten. Bei gutem Willen auch von deren Seite würde auf Dauer eine ,Brücke‘ entstehen, auf deren Scheitel ein Austausch, ein Ins-Gespräch-Kommen stehen könnte. So stellt sie ortsspezifisch fest: „Man kann hier doch auch auf lebendige Juden stoßen und ins Gespräch kommen, wenn man sich ein bisschen bemüht.“ (P3/30) Denn an anderen Orten mit größeren Gemeinden wie etwa in München sei es viel schwieriger, etwa als Nichtjuden an Gottesdiensten teilzunehmen. Ähnlich den beiden Reiseführern ins Jüdische Berlin von A, Roth/M. Frajman sowie von B. Rebiger262 geht P 3 also davon aus, dass modische Inszenierungen des Jüdischen – bei aller Kritik im Detail – im günstigsten Fall Vorfeldfunktionen für ,seriöse‘ BrückenAngebote erfüllen können und daher nicht per se abzulehnen sind. Allerdings gilt ihre positive Einschätzung nur unter ihrer oben in Kap. III.3.2.2. bereits angeführten Maxime, sich jüdischerseits diesen außerjüdischen Inszenierungen nicht anzubiedern, da dies das Gegenteil der Errichtung einer Verständigungs-Brücke, nämlich vielmehr die Entfremdung von den eigenen Grundlagen bedeuten würde. P 15: Ganz ähnlich zu P 3 nimmt die ebenfalls reformjüdisch orientierte InternetRedakteurin, trotz Kritik an bestimmten Auswüchsen nichtjüdischer Inszenierungen des Jüdischen und entsprechender Hype-Phänomene, hiermit einhergehende positive Effekte für das jüdische Leben Berlins und darüber hinaus wahr. Allerdings führt sie diese Entwicklungen weitaus konkreter aus als P 3. So bemängelt sie zunächst die Vergangenheitsfixierung dessen, was in einer modisch geprägten Umgangsweise in der mehrheitlich nichtjüdischen Öffentlichkeit als ,Jüdische Kultur‘ bezeichnet wird: „Also, es geht mir schon ein bisschen darum, dass vieles, was unter dem Begriff jüdische Kultur irgendwo rumgeistert, mehr mit Toten
kriegs-Philosemitismus‘ sowie die entsprechenden Reflexionen zu meiner Eigenverortung in Kap. I.4.2., S. 56 ff. 262 Vgl. insbesondere die Darstellung Roth/Frajmans Buch in Kap. III.1.1.1., S. 186 f.
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zu tun hat, als mit Lebenden.“ – „Das ist sicher erst mal unbefriedigend.“ [Hervorhebung: A. J.] (P15:2/35) Des Weiteren bekundet sie eine eindeutige Kritik an exzessiven Modeerscheinungen unter Klezmerbegeisterten in Deutschland: „[…] natürlich erst mal sehe ich das genauso kritisch, finde ich auch ziemlich merkwürdig, […] diese ganze Klezmerei landauf, landab [Hervorhebungen: A. J.].“ (Ebd.) Auch pseudojüdische Restaurants mit jüdischem Namen und ausgesprochen nichtkoscherer Küche an tourismusträchtigen Orten werden von der Wahlberlinerin entschieden abgelehnt: „Die Geschichte mit dem [Restaurant; A. J.] Mendelssohn ist […] nämlich auch mir zu abstrus.“ (P15:1/6) Jedoch ist die Internet-Redakteurin in ihrer Einschätzung der Bedeutung nichtjüdischer Hype-Phänomene für die jüdische Seite insgesamt weitaus weniger kritisch als das Gros sich hierzu dezidiert Äußernden263 oder als die ebenfalls im Medienwesen aktiven jüdischen Berliner Journalistinnen Meike Wöhlert und Iris Weiss.264 In ihrer eigenen Positionsbestimmung bezieht sich P 15 explizit auf letztere: „Ich bin da nicht so streng, also da fährt Iris Weiss z. B. eine völlig andere Linie“. (P15:1/4) Ein entscheidender Grund für ihre eher gelassene bis positive Haltung dem Hype gegenüber, jenseits ihrer o. g. niveaubedingten ,Schmerzgrenzen‘, dürfte darin bestehen, dass sie aller berechtigten Kritik an bestimmten nichtjüdischen Inszenierungen des Jüdischen zum Trotz durch deren Existenz durchaus auch Chancen für die jüdische Seite sieht: So nimmt sie vitale kulturelle Impulse von jüdischer Seite wahr, die dabei sind, sich Orte und Formen dieser Inszenierungen zu bedienen, wie bereits im vorherigen Kapitel zu qualitativen innerjüdischen Wachstumsaspekten ausgeführt. Dabei würden, ,auf dem Rücken‘ dieser nichtjüdischen Umgangsweisen, wie die Wahlberlinerin es nennt, vielversprechende lebendige jüdische Kulturäußerungen entstehen. Zwei von P 15 explizit positiv angeführte jüdische Impulse in nichtjüdischen Räumen stammen aus dem Museums- und Kunstbereich sowie aus dem Bereich universitärer Forschung und Lehre.265 Die Internet-Anbieterin führt zur Verdeutlichung ihrer Position, dass ursprünglich unter kritisierbaren Hype-Bedingungen im deutsch-jüdischen Feld startende Kulturprojekte mit der Zeit durchaus zu Räumen originärer und anspruchsvoller jüdischer Kulturäußerungen mutieren könnten, den TheaterBereich an. Konkret nennt sie das bereits oben im Einführungsteil dieses Kapitels behandelte Hackesche Hoftheater266 sowie das sehr viel später entstandene jüdi263 Vgl. oben Kap. III.3.2.5. 264 Zu den Positionen der beiden Journalistinnen vgl. oben Kap. III.3.1.2., S. 298 sowie III.3.1.4., S. 301 ff. 265 Gemeint sind die z. T. umstrittene Ausstellung jüdischen Gegenwartskunst im Jüdischen Museum in Fürth sowie die erfolgreichen Bemühungen an der Universität Potsdam, jüdische Studien auf akademischer Ebene zu verankern und hierfür auch jüdische Studierende zu gewinnen. Ihre entsprechenden Äußerungen finden sich Revitalisierungs-Kap. 1.2.2., S. 123 f. 266 Vgl. oben den Exkurs zu dieser Einrichtung Kap. III.3.1.3., S. 300 f. sowie das Statement von P 23 hierzu in Kap. III.3.2.1., S. 312
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sche Theater Bamah. Obwohl die Wahlberlinerin die Qualität beider Bühnen ganz unterschiedlich bewertet, kommt sie zu einem bemerkenswerten Gesamturteil über die sich aus beiden Kulturprojekten ergebenden Chancen für die Ausweitung eines lebendigen jüdischen Kulturlebens in der Metropole: Für die Frühzeit des in der östlichen Innenstadt Berlins angesiedelten sowie unter nichtjüdischer Leitung stehenden Hackeschen Hoftheaters deutet die Journalistin an, dass anfänglich von ernst zu nehmenden Kritikern über die Qualität der Bühne insgesamt eher von einem missratenen Versuch geschrieben wurde, von einem „Schattentheater“ (P15:1/6). Entscheidend ist für sie jedoch der Wandel, den dieses Projekt durch die aktive Rolle ernsthafter jüdischer Schauspieler und Sänger genommen hat, die hier eine Chance gesehen und genutzt hätten. So kamen im Hoftheater mit der Zeit „immer mehr Juden, die Lust hatten, dazu.“ – „Dass mittlerweile der überwiegende Teil Juden sind, der andere Teil, 40 %, Nichtjuden, stört mich überhaupt nicht, wenn sie ihre Sachen gut machen, und man hat gesehen, dass durch das Schaffen der Ressource, dann auch wirklich möglich geworden ist, jüdisches Leben zu etablieren.“ (Ebd.) Das im Westteil Berlins fast 10 Jahre nach dem Hoftheater von einem Israeli begründete und geleitete ,jüdische‘ Theater Bamah sieht die Internetanbieterin demgegenüber in qualitativer Hinsicht noch keineswegs als überzeugend an. So würde in der Konzeption dieses Kulturprojekts der Unterschied zwischen jüdisch und jiddisch nicht deutlich. Außerdem würde eine als Schabbatabend mit entsprechenden Liedern dargebotene Aufführung für ein überwiegend nichtjüdisches Publikum in Szene gesetzt, dessen Qualität sie eher als gering einschätzt. (P15:1/5) Dennoch wertet sie das Projekt in einer in die Zukunft gerichteten Perspektive als positiv. Einerseits hätte es jemand geschafft, in diesem noch kaum beackerten Bereich Räumlichkeiten, Finanzierung und einen gewissen Publikumserfolg „hinzukriegen“ (ebd.). Andererseits bestünde die Möglichkeit, dass sich hier künftig ein hier noch nicht existierendes jüdisches Niveau-Theater verwirklichen ließe: „Ich glaube daran, dass so etwas funktioniert, dass so etwas manchmal durch Schnellschüsse [möglich wird; A. J.] usw. Es wird einfach mal ein Freiraum geschaffen. Man wird nicht wieder so schnell hingehen können, um das einzige jüdische Theater in Deutschland zu machen.“ (Ebd.) Auf Grund ihrer Position an der Nahtstelle zwischen jüdischer Gemeinschaft und der sie umgebenden nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft könnten nach Meinung der im Medienwesen Aktiven also ursprünglich am Hype orientierte oder durch ihn erst ermöglichte Kulturprojekte längerfristig für Juden und damit letztendlich auch für Nichtjuden interessante Perspektiven eröffnen. So bilanziert sie aktuelle kulturelle Aktivitäten im deutsch-jüdischen Feld insgesamt optimistisch. Sie sieht damit, dass bei vielen dieser anfangs noch ganz unabsehbaren Entwicklungen der Punkt kommt, „wo wirklich auch Kontakt mit lebendigem Judentum geliefert wird, und das finde ich schon super.“ (P15:2/36) Daher solle man ohne einen von jüdischer Seite allzu sehr „warnenden Zeigefinger […] was entwickeln lassen und dann können Sachen durchaus am Anfang auch ein biss-
326 | TEIL III: JÜDISCHE EXISTENZ IN BERLIN UND IHRE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN
chen merkwürdig sein und widersprüchlich […]. Solange es nicht aussichtslos ist.“ (P15:1/6) P 17: Auch die aus Israel Stammende zeigt mit ihrem Statement durchaus Verständnis für Hype bedingte nichtjüdische Inszenierungen jüdischer Kultur in Berlin bzw. in Deutschland. Auch wenn sie sich nicht wie die anderen bisher in diesem Meinungs-Cluster angeführten aus Deutschland stammenden Stichwortgeberinnen differenziert und ausführlich zu Hype-Phänomenen äußert, wird ihre doch eher entspannte Sicht zu diesen nichtjüdischen Manifestationen deutlich: Auf die Frage nach ihrer Einschätzung des Hypes und der Tatsache, dass die Mehrheit der Klezmermusiker in Deutschland nichtjüdisch seien, antwortet sie entschieden: „Das ist O. K. Ist doch legitim, muss ja auch nicht jüdisch sein.“ (P17/24). In ihrer Hype-Phänomenen gegenüber gelassenen Einstellung scheint sie dadurch bestärkt zu werden, dass sie in Berlin parallel hierzu ein deutliches qualitatives Wachstum originär jüdischer Aktivitäten und zwar gerade im Kulturbereich wahrnimmt (vgl. Kap. III.1.2.1.)267. Vor diesem Hintergrund der von ihr deutlich wahrgenommenen Vitalität des kulturellen jüdischen Lebens, sieht sie offenbar keine ernsthafte Bedrohung für die örtliche jüdische Identitätsbildung durch modische nichtjüdische Inszenierungen des Jüdischen in der Metropole.
3.2.6. Zusammenfassende Bilanzierung Angesichts der großen Bereitschaft des überwiegenden Teils der Erhebungsauswahl, sich über den Hype mit dem Davidstern sowie nichtjüdische Inszenierungen des Jüdischen in Berlin auszulassen, und sich dabei teilweise sogar sehr dezidiert zu äußern, bestätigt sich die Relevanz dieses Fragebereichs im Kontext der Gesamtuntersuchung. Auch die hierbei häufig von den Interviewten eigenständig hergestellten Bezüge zur oben in Kap. III.1. behandelten Frage einer möglichen Revitalisierung jüdischen Lebens in Berlin bestärkt diese Einschätzung: Denn offensichtlich können qualitative Aspekte des Wachstums jüdischer Existenz, und insbesondere des jüdischen Kulturlebens in Berlin aus jüdischer Sicht, kaum differenzierter reflektiert werden ohne nichtjüdische Rezeptionen bzw. Inszenierungen jüdischer Thematik in die Erörterung einzubeziehen. (1) Zusammenhänge zwischen personenbezogenen Eigenschaften und Meinungsäußerungen Bereits bei einem flüchtigen Vergleich der Auseinandersetzung im Befragtenkreis mit der Hype-Thematik zu ihrer Beschäftigung mit Fragen der weiteren Entwicklung der örtlichen jüdischen Gemeinschaft ist ein eklatanter Unterschied erkennbar: Modische Besetzungen des Jüdischen durch Nichtjuden besitzen für die meisten einen vergleichsweise geringen Stellenwert gegenüber den insgesamt als bedeutsam erachteten Fragen hiesiger jüdischer Zukunft. Demgegenüber stellt
267 An der sie ja schließlich mit ihrem eigenem Engagement insbesondere für den Israelischen Stammtisch aktiven Anteil hat.
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eine Minderheit allerdings sehr intensive Reflexionen über die Hype-Thematik an. Außerdem wird erkennbar, dass zu diesem Themenkomplex viel uneinheitlichere Positionen bezogen werden als etwa in dem bereits behandelten Fragebereich zu jüdischer Revitalisierung. Wie sich gezeigt hat, reichen die Unterschiede in der Wahrnehmung nichtjüdischer Hype-Phänomene, aber auch darüber hinausgehender Inszenierungen, von intensiven sowie kritischen Auseinandersetzungen mit diesen über eher indifferente Haltungen ihnen gegenüber bis zu Verweisen auf sich durch diese für die jüdische Seite eröffnenden Chancen. Bei der genaueren Analyse dieser unterschiedlichen Meinungs-Cluster wird eine gewisse Struktur der Merkmalsgemeinsamkeiten erkennbar: Zunächst lässt sich feststellen, dass Gemeinsamkeiten in der innerjüdischen religiösen Orientierung keine oder nur eine sehr nachgeordnete Bedeutung für Einstellung gegenüber dem Hype-Phänomenen zu besitzen. So finden sich in den beiden Hype-kritischen Clustern Kap. III.3.2.1 und 3.2.2. völlig unterschiedliche religiöse Bezüge zum Judentum: P 1 besitzt eine orthodoxe, P 3 eine liberale, P 22 eine areligiöse und P 23 eine egalitäre (sowie P 11 eine eher orthodoxe) Grundhaltung. Ähnliches lässt sich für die sich dem Hype gegenüber indifferent bis uninteressiert Zeigenden sagen. Lediglich bei den eingeräumten, möglichen positiven Effekten überwiegen eher religiös reformjüdisch Orientierte, da diese ohnehin am meisten an den dynamischen Übergangsbereichen zwischen Jüdischem und Nichtjüdischem tätig sind. Demgegenüber sind es insbesondere zwei Merkmalsgemeinsamkeiten, deren Bedeutung für die in den Clustern erkennbar werdenden, innerjüdisch unterschiedlichen Deutungsmuster der Hype-Phänomene wahrscheinlich erscheinen: a) Unterschiedliche lebensweltliche Erfahrungen: Ein erstes Motiv für die stark differierenden, graduellen Beschäftigungen und Einschätzungen zur HypeThematik lässt sich aus ihren divergierenden, lebensweltlichen Erfahrungen im Untersuchungsfeld als sich stark unterscheidende Gelegenheitsstruktur gewinnen: So sind bemerkenswerterweise einige von dem modischen Hype in Berlin in ihrem Alltag kaum oder überhaupt nicht tangiert, anders als dies die überdeutlichen Hinweise auf den Hype im Umfeld der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße im östliche Zentrum Berlins zunächst nahe legen würden. Denn dieser Teil hält sich ganz im Gegensatz zu den Klischeeproduktionen der Hype-Kultur weder im privaten noch im beruflichen Bereich und selten auf Grund ihres Engagements innerhalb der hiesigen jüdischen Gemeinschaft vorrangig in diesen touristisch als typisch jüdisch wahrgenommenen Stadträumen der großräumigen Metropole auf. Dabei gilt es, sich zu vergegenwärtigen, dass die überwiegend im Westteil der Innenstadt gelegenen Wohnorte Berliner Juden ebenso wenig einem touristischen Hype ausgesetzt sind wie das Gros an Aktivitäten innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Berlins.268 Bei allen, die sich nur sehr peripher und vage 268 Dies gilt für nahezu alle Gemeindesynagogen und außerhalb der Gemeinde befindliche religiöse Gruppierungen, das Gros der Sport-, Kultur- und Sozialeinrichtun-
328 | TEIL III: JÜDISCHE EXISTENZ IN BERLIN UND IHRE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN
(vgl. oben Kap. III.3.2.4.) oder pauschal positiv (P 17 in Kap. III.3.2.5.) gegenüber Hype-Phänomenen geäußert haben, befinden sich deren lebensweltlicher Background wie auch die von ihnen maßgeblich mitgetragenen jüdischen Gruppenaktivitäten überwiegend im Westteil Berlins, jedenfalls durchweg fern der neuralgischen Punkte des Hypes. Umgekehrt ist bezeichnend, dass diejenigen, die sehr differenziert entweder explizit negative oder aber positive wie negative Aspekte nichtjüdischer HypePhänomene erörtert haben, von ihnen in der einen oder anderen Weise stadträumlich oder thematisch im Rahmen ihres innerjüdischen Engagements direkt tangiert sind (vgl. oben Kap. III.3.2.1. und Kap. 3.2.2. sowie Kap. 3.2.5.). Besonders deutlich wird der Zusammenhang dort, wo sich die Wirkungsstätten ihres innerjüdischen Engagements in unmittelbarer Nachbarschaft zu nichtjüdischen Inszenierungen und Hype-Äußerungen in der ,Touristenmeile‘ Oranienburger Straße befinden: P 1 (Jüdischer Kulturverein), P 3 (Egalitärer Minjan), P 8 (frühere Tätigkeit als Bildungsreferentin der JGB) P11 (Jüdische Galerie), P 15 (Egalitärer Minjan, jüdischer Medienbereich) und P 23 (jüdischer Medienbereich). Entsprechend warten sie mit von ihnen unmittelbar erfahrenen und entsprechend anschaulich geschilderten Beispielen aus der nichtjüdischen Hype-Kultur sowie z. T mit sehr differenziert eingeschätzten weniger eindeutigen Beispielen aus dem deutsch-jüdischen Feld auf. b) Unterschiedliches Herkommen: Eine zweite Merkmalsgemeinsamkeit als Motiv für die stark differierende Einschätzung der Hype-Thematik unter den sich hierzu Äußernden zeichnet sich außerdem in deren jeweiliger Verortung in der jüdischen Gemeinschaft Berlins nach Herkommen ab: Offensichtlich stellt sich im Fall deutsch-jüdischen Herkommens am stärksten eine Vereinnahmungs- und Verdrängungserfahrung durch pseudojüdische Inszenierungen des Jüdischen ein (vgl. Kap. III.3.2.2.). Dies gilt umso mehr für den Fall, dass sie im Zuge ihrer innerjüdischen Tätigkeit an Debatten über religiöse und kulturelle Entwicklungen der jüdischen Gemeinschaft beteiligt sind. Dabei ist dieses Cluster personell mehr oder weniger mit dem skeptischen gegenüber den qualitativen Wachstums-Narrativen in Kap. III.1.2.1. identisch. Diese personelle Kongruenz in beiden Bereichen erscheint kaum überraschend, da ja von ihnen bestimmte überzogene Wachstumseuphorien sowie nichtjüdische Inszenierungen des Jüdischen als sich gegenseitig bedingend oder verstärkend ausgemacht werden. Von diesen in Relation zu den übrigen am stärksten in der deutschen Mehrheitsgesellschaft Verankerten werden diese Inszenierungen und Hype-Manifestationen daher offenbar als illegitime Konkurrenten um die Definitionsmacht dessen empfunden, was gegenwärtig in Berlin und dem übrigen Deutschland als ,jüdisch‘ zu gelten habe. Ihre unterschiedliche persönliche gen der JGB, sowie für die überwiegende Zahl der an deren Peripherie befindlichen Vereinigungen wie etwa den Jüdischen Studentenbund oder außerhalb von ihr angesiedelter informeller Gruppen von Israelis oder jüdischen Homosexuellen.
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religiöse Orientierung spielt für diese Einschätzung eine eindeutig nachrangige Rolle. Diese Position findet sich ebenso bei der religiös eher konservativ bis orthodox orientierten P1 wie bei der weitgehend areligiösen P 22, welche unbenommen von diesem Unterschied mit ihr die Einschätzung teilt, dass jüdische Existenz primär religiöses Leben sei. Einzelstimmen von nicht aus Deutschland Stammenden zu negativen Auswirkungen des Hypes für die jüdische Seite sind offensichtlich eher der tätigkeitsbedingten direkten lebensweltlichen Konfrontation mit extremen Formen des Hypes geschuldet, als einer genaueren Kenntnis dessen Hintergründen und Ursachen im deutsch-jüdischen Feld. Dies wird besonders im Fall der aus der ehemaligen SU stammenden Galeristin P 11 deutlich (vgl. Kap. III.3.2.2.). Im Gegensatz zu den mehrheitlich aus Deutschland Stammenden der beiden Kritik-Cluster scheint bei denjenigen der Betroffenheitsgrad von nichtjüdischen Inszenierungen und Hype-Phänomenen relativ gering zu sein, die als Zugezogene oder dem osteuropäischen Zuwanderermilieu Entstammende in Berlin leben (Kap. III.3.2.4. und Kap. 3.2.5.). Deren prägende biographische Phase(n) jüdischer Identitätsbildung lagen zeitlich vor und örtlich jenseits ihres heutigen Aufenthalts in Berlin bzw. Deutschland oder sind entsprechend familiär tradierte. Nicht-jüdische Besetzungen des deutsch-jüdischen Feldes scheinen für sie, abgesehen natürlich von antisemitischen Äußerungen und Übergriffen (vgl. Kap. III.4.), keine nennenswert negative Rolle zu spielen. Dies gilt insbesondere für Israel- oder USA-Stämmige (P 17 und P 18), deren jüdische Identitätsbildung durch hiesige touristische Moden kaum tangiert sein dürfte. Mit umgekehrten Vorzeichen scheint dies andererseits aber auch für diejenigen aus dem Zuwanderermilieu aus den GUS-Staaten zu gelten: Deren hiesige Erfahrung einer von staatlicher Seite nicht sanktionierten Entfaltung jüdischen Lebens vor dem Hintergrund der in ihren Familien noch sehr präsenten Erfahrung der Unterdrückung jüdischer Religion und Kultur in der ehemaligen SU lässt sie offensichtlich nichtjüdische Hype-Phänomene in Berlin in viel geringerem Maße als Bedrohung erscheinen (vgl. P 12 und P 19 in Kap. III.3.2.4.) als im eingangs analysierten Fall der aus Deutschland Stammenden und sich überwiegend kritisch Äußernden.269 Außerdem weist die Mehrheit der nach Deutschland Zugewanderten offenbar keine so tief gehende Kenntnis des deutsch-jüdischen Felds auf, um die darin befindlichen Hype-Phänomene in dieser Deutlichkeit und Wirkungsmächtigkeit wahrzunehmen wie die von ihrem familiären Hintergrund her sich in diesem Feld von je her positionierenden Inländerinnen. Antisemitismus erscheint bei Zuwanderern und Zugezogenen im Vergleich hierzu eine weitaus drängendere Problematik zu sein als Konflikte um die Besetzung kultureller Codes im deutschjüdischen Feld (vgl. insbesondere P 19 in Kap. III.3.2.4.). 269 Beide Interviewte waren zum Gesprächzeitpunkt noch keine 25 Jahre alt, ein weiterer Hinweis für die geringere Kenntnis der Unwägbarkeiten des deutsch-jüdischen Feldes bei ihnen als bei den älteren, aus Deutschland Stammenden.
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Schließlich lässt sich als ein mögliches Motiv der wenig prononcierten Beurteilung des Hypes durch Zuwanderer eine vorsichtig formulierte Mutmaßung anbringen. Demnach dürfte neben deren wissensbedingten Unterschieden, gegenüber den sich hierzu deutlich positionierenden InländerInnen, sozialisationsbedingte Unterschiede hinzukommen. So hatten sie vor Jahren den Entschluss gefasst, gezielt nach Deutschland einzuwandern, und im Fall der Zuwanderer aus den GUS-Staaten, waren sie hierfür von der entsprechenden Zuwanderungsgenehmigung der hiesigen Behörden abhängig. Außerdem sind aus ihrem Herkunftsmilieu stammende Familienangehörige und/oder Freunde überwiegend auf ,Sozialfürsorge‘ angewiesen. Vermutlich lässt es sich vor dem Hintergrund dieser persönlichen Orientierungen und staatlichen Abhängigkeiten aus ihrer Perspektive heraus im deutsch-jüdischen Feld weitaus weniger vorbehaltlos über problematische Verhaltensweisen und kulturelle Äußerungen von Seiten der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft reflektieren und an bestimmten Ausprägungsformen Kritik üben. Außerdem gilt es sich zu vergegenwärtigen, dass ich als nichtjüdischer Interviewer nolens volens ebenfalls diese Mehrheitsgesellschaft repräsentiere, womit bei ihnen eine zusätzliche Befangenheit entstehen könnte.270 Eine, wenn auch sehr aussagekräftige Einzelstimme nimmt die sich zur Hype-Thematik äußernde US-amerikanische Journalistin und Sozialforscherin P 18 ein (vgl. Kap. III.3.2.4.). Zwar gibt auch sie eine durchaus zuwanderungstypische ,entspannte Haltung‘ gegenüber nichtjüdischen Inszenierungen des Jüdischen und den entsprechenden Hype-Phänomenen kund. Jedoch lässt ihr biographisch bedingter interkultureller Blick zwischen den USA und Europa wie auch ihre wissenschaftliche und journalistische Beschäftigung mit hiesigem jüdischen Leben die europäische Dimension von nichtjüdischer Hype-Phänomenen in den Blick geraten: Diese erscheinen ihr daher als Ausdruck eines mehr oder weniger gesamteuropäischen Erbes der europaweiten Schoah. Auch positive Sichtweisen auf bestimmte Effekte nichtjüdischer Umgangsweisen mit Jüdischem, die sich z. T. auch aus dem Hype ergeben (vgl. Kap. III.3.2.5.), werden ebenfalls überwiegend herkunftsspezifisch angesprochen. Zunächst stechen bei der Untersuchung dieses Meinungs-Clusters personelle Überschneidungen mit den o. g. inhaltlich eher gegenläufigen Clustern der HypeKritiker für die nichtjüdische wie die jüdische Seite ins Auge: Diese zunächst überraschenden gleichzeitigen Positiv-/Negativ-Haltungen erweisen sich als ein ausgesprochen herkunftsspezifisches Orientierungsmuster: Alle, die eine entsprechend differenzierte Position einnehmen, stammen nämlich aus Deutschland.271 Herkunftstypisch haben sie sich offenbar mit Hype-Phänomenen relativ intensiv 270 Das Maß dieser Auswirkung muss hier allerdings Spekulation bleiben, an diesem Punkt erreicht qualitative Sozialforschung m. E. ihre Grenze. 271 Sowohl P 3, P 15 als auch P 23 benennen unterschiedlich gewichtete positive Effekte nichtjüdischer Inszenierungen. So bringt bspw. P 15 in ihrer überwiegend positiven Argumentationslinie implizit kritische Aspekte des Hypes zum Ausdruck, während sich bei P 23 die Einschätzungen genau umgekehrt verteilen.
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befasst und messen ihnen vor diesem Hintergrund auch eine größere Bedeutung im deutsch-jüdischen Feld zu. Diese herkunftsgeprägte Perspektive lässt ihren Blick dabei auch auf solche gegenwärtig im Wandel begriffene ursprünglich nichtjüdisch-kulturellen Räume und Beschäftigungsweisen mit Jüdischem fallen, deren Einordnung als eindeutig nichtjüdisch oder jüdisch sowie als künstlerisch wertvoll bzw. aufklärerisch oder Hype-geprägt für sie an Eindeutigkeit verliert. So werden von diesen nach Herkommen und Tätigkeit ,doppelten Experten‘ teilweise sich für die jüdische Seite in den letzten Jahren im deutsch-jüdischen Feld eröffnende kulturelle Entfaltungsmöglichkeiten wahrgenommen und mit konkreten Beispielen in den Gesprächen exemplarisch belegt.272 Ganz anders scheint demgegenüber die positive Einschätzung von HypePhänomenen bei der israelstämmigen P 17 gelagert, die sich wenig differenziert, eher allgemein positiv zu nichtjüdischen Inszenierungen des Jüdischen in Berlin äußert. Bei ihr zeichnet sich im Gegensatz zu den aus Deutschland Stammenden VertreterInnen des Positiv-Clusters eine ähnlich ,entspannte‘ Haltung wie die oben beschriebene bei den eher gleichgültig der Thematik gegenüberstehenden nicht aus Deutschland Stammenden abzuzeichnen (vgl. Kap. III.3.2.3.). Ihre positive Einschätzung gegenüber Hype-Phänomenen dürfte außerdem stärker durch biographisch bedingte Eigentümlichkeiten geprägt sein als auf ausgesprochenen Erfahrungswerten mit der hier behandelten speziellen Thematik im deutschjüdischen Feld zu beruhen: Ihre Verankerung im Judentum und ihr jüdisches Selbstbewusstsein ist entsprechend ihrer rundum jüdischen Sozialisation in Israel offensichtlich sehr groß.273 Außerdem besitzt sie eine dezidiert optimistische Einschätzung der Weiterentwicklungschancen des kulturellen jüdischen Lebens in Berlin, die sie offenbar keinen Moment an der Durchsetzung jüdischer gegenüber nichtjüdischen Besetzungen jüdischer Thematik zweifeln lassen. (2) Abschließende Ergebnisse Insgesamt zeichnet sich ein zwar nicht ganz widerspruchsfreies, so doch schlüssiges Bild der Befragungsergebnisse der im Themenfeld ab. Als Untersuchungsfazit lassen sich demnach vier Einzelergebnisse festhalten: a) b) c) d)
Erfahrungsabhängigkeit Negative Auswirkungen Jüdische Umgangsweisen und Gegenmaßnahmen Entgrenzungen
a) Erfahrungsabhängigkeit: Als ein zentrales Ergebnis der Auswertung der Aussagen zur Hype-Thematik zeigt sich, dass diese offenbar innerjüdisch nicht die Präsenz und Bedrohung besitzt wie etwa der im folgenden Kapitel behandelte örtliche Antisemitismus als von Berliner Juden generell oder z. T. auch persönlich erlittenes Phänomen: Nur in den Fällen biographisch bedingter, längerfristi-
272 Insbesondere P 15, und mit eher kritischem Blick auf die Hype-Phänomene P 23. 273 Vgl. den kurze biographischen Abriss von P 17
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ger und inhaltlich differenzierter Kenntnis des deutsch-jüdischen Feldes sowie in den Fällen direkten Konfrontiertseins mit konkreten Ausprägungsformen des Hypes werden hierzu dezidierte, mehrheitlich kritische Positionen formuliert. In den übrigen Fällen überwiegt eine eher wohlwollende bis gleichgültige Haltung gegenüber diesem Phänomen. Die Erfahrungsabhängigkeit der jeweiligen Position erscheint im Fall der Hype-Thematik auch plausibel. Denn während etwa aktueller Antisemitismus in Berlin und im übrigen Deutschland eine unmittelbare Bedrohung für hier lebende Juden darstellt, dem durch den geschichtlichen Hintergrund in Deutschland eine besondere Bedeutung zukommt, handelt es sich bei modisch motivierten Umgangsweisen mit Jüdischem um eine weniger offensichtliche Problematik für Juden. Deren Wahrnehmung setzt überdies ein relativ großes Wissen über die Klüfte des deutsch-jüdischen Verhältnisses voraus. Überdies verweisen Hype-Phänomene auf ihrer bloßen Erscheinungsebene gerade nicht auf die Schoah als ihren eigentlichen Entstehungshintergrund. b) Negative Auswirkungen: Im Zusammenhang mit dem ersten Ergebnis lässt sich feststellen, dass diese Folgen nur von ,Hype-Erfahrenen‘ wahrgenommen werden. Dabei wurden die negativen Folgen stärker auf die nichtjüdischen Rezipienten dieser Phänomene denn auf die örtliche jüdische Gemeinschaft bezogen: Vorrangig wurden dabei Aspekte wie Klischeebildung, Geschichtsverzerrung, Vergangenheitsorientierung, Romantisierung genannt. Die sich hieraus eher indirekt ergebenden Auswirkungen auf das jüdische Kollektiv konnten allerdings in den Erhebungsgesprächen verständlicherweise nicht tiefergehend erfragt werden. Jedoch dürften diese auf Grund des eingangs Gesagten evident erscheinen: nämlich die damit einhergehende Generierung von Vorurteilen über Juden. Allerdings wurden von einzelnen direkte negative Auswirkungen nichtjüdischer Hype-Phänomene auf die jüdische Seite in Berlin mit konkreten Beispielen angeführt, insbesondere damit, dass Juden in Gottesdiensten oder in bestimmten als ,jüdisch‘ konnotierten Lokalen und Geschäften in und um die Neue Synagoge mit Hype geprägten Touristenströmen konfrontiert sind. Diese direkten Negativfolgen des Hypes erscheinen trotz der problematischen Folgen im Einzelnen gegenüber den o. g. indirekten Auswirkungen vergleichsweise gering. Denn es gilt hierbei zu bedenken, dass während das gesamte örtliche jüdische Kollektiv von den mit Hype-Phänomenen einhergehenden Vorurteils-Produktionen (s. o.) mittelbar oder unmittelbar betroffen ist, demgegenüber nur eine Minderheit der Berliner Juden von diesen Phänomenen direkt tangiert wird: Jüdische Aktivitäten in Berlin massieren sich angesichts der Größe der Metropole sowie der mittlerweile entstandenen vielfältigen und dezentralen Entwicklungen, wie sie in der Studie thematisiert werden, jüdischerseits gerade nicht in den öffentlich zugänglichen neuralgischen Orten des nichtjüdischen Hypes! c) Jüdische Umgangsweisen und Gegenmaßnahmen: Auch wenn sich nur wenige der entschiedenen Hype-Kritikerinnen hierzu konkret äußerten, sind deren Statements auf Grund ihrer Unterschiede sehr aufschlussreich (vgl. Kap. III.3.2.2.):
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Im Beispiel der Störung jüdischer Betender durch Nichtjuden (P 8) wird von dem hiervon betroffenen Egalitären Minjan aus religiösen Beweggründen sowie mangels Alternativen auf eine Verständigung mit und ein Informieren der neugierigen ,Störenfriede‘, also auf eine Integration der Nichtjuden gesetzt. Im anderen Beispiel sind es aus einer vormals jüdisch geprägten Lokalität auf Grund der Hype bedingten atmosphärischen und preislichen Veränderungen ,vertriebene‘ jüdische Gäste, die sich zeitweilige jüdische Räume in vormals nichtjüdischen Lokalitäten neu schaffen. (P 23) Dabei ist es ihnen offensichtlich möglich, ihre gegenüber den permanent wechselnden Besuchern des ,Jüdischen Berlin‘ vorhandene größere Ortskenntnis und Dauerpräsenz vor Ort zu nutzen, um sich auf Grund von Agreements mit nichtjüdischen Gastronomen der Gegend dort weiterhin ungestört vom Hype treffen zu können oder zu verweilen. In diesem Fall begegnen sie dessen negativen Folgen mit einer Art selbstbestimmter Segregation. Bei beiden Strategien handelt es sich dabei nur um scheinbar gegensätzliche, tatsächlich viel mehr um komplementäre jüdische Umgangsweisen mit einem Hype-geprägten nichtjüdischen Publikum: Denn in beiden Fällen gelingt es der jüdischen Seite mit Erfolg, mit bewusst und flexibel gewählten fallspezifischen Strategien vor Ort, sich von dem Hype nicht in der Ausübung originär jüdischer Gemeinschafts-Aktivitäten beeinträchtigen zu lassen. Jedoch wurde von einer Einzelstimme damit argumentiert, dass nicht in jedem Fall von jüdischer Seite angemessen mit dem Hype umgegangen wird oder noch pointierter ausgedrückt, dass in einigen Fällen auch jüdischerseits der Hype bedient wird und zwar aus kommerziellen Gesichtspunkten. (P 3) Dieses Argument erscheint tatsächlich als ein schwerwiegendes. Denn jüdische Kulturschaffende wie auch die Kulturarbeit der jüdischen Gemeinden in der Metropole Berlin und anderswo in Deutschland bedürfen natürlich allein in finanzieller Hinsicht eines zahlreichen und zahlungsfähigen Publikums. Hierbei tut sich zumindest vordergründig ein Dilemma auf: Denn die immer noch recht kleine hiesige jüdische Diaspora-Gemeinschaft hängt mit ihren meist von der Sozialhilfe abhängigen Gemeindemitgliedern aus der ehemaligen SU am ,Tropf‘ der öffentlichen Hand wie nie zuvor seit Gründung der Bundesrepublik. Daher sind jüdische Kulturäußerungen neben dem Motiv eines verständlichen Interesses an der Verständigung und dem Dialog zwischen Juden und Nichtjuden auch aus heute insgesamt immer bedeutsameren Rentabilitätsgründen notwendigerweise auf ein mehrheitliches nichtjüdisches Publikum angewiesen. Das von P 3 wahrgenommene Bedürfnis von jüdischer Seite, im kulturellen Bereich unter kommerziellen Gesichtspunkten nichtjüdische Klischees zu erfüllen, dürfte dabei nicht gering sein. So benennen auch andere entsprechende Beispiele (P 15 und P 23). Allerdings wurden in einigen Erhebungsgesprächen auch Auswege aus dem scheinbaren Dilemma eines ,Zwangs‘ zur jüdischen Bedienung der Hype-Kultur aus Rentabilitätsgründen aufgezeigt, wie im Folgenden im Zusammenhang mit der Bilanzierung weiterer Essentials dieses Kapitels deutlich werden soll.
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d) Entgrenzungen: Alle bis hierher präsentierten Ergebnisse der Befragung im Themenbereich fallen in das Grobraster originärer jüdischer Kulturäußerungen versus nichtjüdischer Hype-Phänomene und Inszenierungen des Jüdischen. Konträr zu diesem Binär-Schema steht ein weiteres wichtiges Ergebnis der Auswertung: Demnach erscheint dieses Untersuchungsfeld auf Grund einiger aussagekräftiger Statements weitaus dynamischer und die Übergänge zwischen authentisch jüdischen und pseudojüdischen kulturellen Aktivitäten in Berlin weitaus fließender, als aus den unter methodischen Überlegungen zunächst stärker idealtypisch-dichotom gehaltenen Vorabüberlegungen zur Thematik hervorgeht.274 Einige liefern aufschlussreiche Hinweise auf unter Hype-Bedingungen sehr partielle und beispielsabhängige Veränderungen. So gehen aus mehreren konkreten Beispielen und aus dichten Beschreibungen von Erscheinungen im ,jüdischen Berlin‘ (sowie teilweise auch andernorts) hervor, dass eine Abgrenzung nach den genannten binären Kategorien jüdisch/nichtjüdisch Kategorien noch viel schwieriger erscheint, als ohnehin im Vorfeld bereits angenommen. Mehr noch, schildern doch einige bemerkenswerte schöpferische Entgrenzungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Kulturäußerungen in der Gemengelage des deutschjüdischen Felds der Metropole: Die eine Seite der Entgrenzung betrifft die von einigen an Beispielen geschilderte aktuelle Situation, dass sich mitunter Jüdische Kulturschaffende nichtjüdischer Räume der Beschäftigung mit Jüdischem bedienen, indem sie dort originär jüdische Kulturbeiträge platzieren. Teilweise laden sie diese Orte der vormaligen Präsentation ,toter‘ jüdischer Kultur durch Nichtjuden darüber hinaus mit originären kulturellen Beiträgen heute in Deutschland lebender Juden auf (s. u.) – häufig unter ausdrücklicher Förderung durch nichtjüdische Anbieter. Dies gilt etwa für das von der Internet-Redakteurin P 15 erwähnte und im Revitalisierungs-Kapitel ausführlich behandelte Beispiel der Ausstellung der Berliner Künstlerin Anna Adams im Fürther Jüdischen Museum oder im Falle des ebenfalls von P 15 sowie von der Journalistin P 23 im vorliegenden Kapitel angeführten Hackeschen Hoftheaters. In all diesen Fällen ist die Kooperation zwischen versierten jüdischen sowie an der Vermittlung jüdischer Kultur nicht minder interessierten, professionellen, nichtjüdischen Kulturschaffenden und –anbietenden offenbar Garant für eine öffentlichkeitswirksame Präsentation originärer jüdischer Kulturäußerungen. Umgekehrt, als andere Bewegungsrichtung der Entgrenzung, können offensichtlich ehemals von Juden überwiegend für Juden gestaltete Angebote angesehen werden, die gerade in Berlin von vornherein ein nichtjüdisches Publikum anziehen oder sogar wie etwa die Neue Synagoge mit ihrer vergoldeten Kuppel und jüdische Geschäfte und Lokale zu überwiegend von Nichtjuden frequentierten Orten, also zu Hype-Phänomenen mutieren. Auch diese Entwicklungsrichtung wurde von einigen ebenfalls mit anschaulichen Beispielen belegt. Demnach ent274 Vgl. Kap. III.3.1.
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scheiden sich außerdem vereinzelt auch jüdische Anbieter in Berlin offenbar ganz bewusst und gezielt dafür, einen Hype-geprägten nichtjüdischen Geschmack zu bedienen. Zwei benennen im Bereich Gastronomie (P 23 in Kap. III.3.2.2.) sowie Theater (P 15 in Kap. III.3.2.5.) konkrete Beispiele für diese Andienung. Dabei zeigte sich, wie bereits in dem Einführungsteil des Kapitels vorformuliert, dass der Hype dort am besten gedeihen kann, wo der Übergangsbereich zwischen authentisch und virtuell jüdisch besonders ausgeprägt ist – eben wie an den ,Pilgerorten‘ des Jüdischen Berlin. Doch welches Endresümee lässt sich aus der Untersuchung der Hype-Thematik ziehen? In ihr sollte deutlich geworden sein, dass nichtjüdische Inszenierungen des Jüdischen sowie Hype-Phänomene nur als die Kehrseite der Abwesenheit von in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg noch kaum denkbaren kulturellen Entwicklungen im deutsch-jüdischen Feld erscheinen, nämlich: • der Abwesenheit von lebendigen und allseits wahrnehmbaren, gegenwartsorientierten jüdischen Kulturäußerungen im öffentlichen Raum. • dem mangelnden Austausch zwischen hierzulande lebenden Juden und Nichtjuden u. a. auf kultureller Ebene. Gegenüber dieser, der geschichtlichen Situation nach der Schoah geschuldeten Situation, wurde in diesem Kapitel eine zunehmende Dynamik und Vielfalt im Grenzbereich originär jüdischer und inszenierter nichtjüdischer Darstellungsweisen des Jüdischen für die Gegenwart in Berlin konstatiert. Vor dem Hintergrund dieses Zwischenbefunds lässt sich eine, zunächst ebenfalls lediglich auf die Metropole bezogene und in die Zukunft gerichtete, vorsichtig optimistische Hypothese formulieren: Je stärker wechselseitige Entgrenzungen im deutsch-jüdischen Feld stattfinden und sich zugleich eine immer heterogenere jüdische Gegenwartskultur herausbildet, desto mehr können neben den notwendigen gedenkkulturellen sowie den Hype-geprägten Erfahrungsmustern hierzulande noch weitgehend unbekannte, weil alltäglichere Zugangsweisen zum Jüdischen entstehen. Die in der Hypothese formulierte Einschätzung verweist damit auf eine dem hier behandelten Hype entgegengesetzte Bewegungsrichtung: Die Aussichten beider Bewegungen, soll abschließend noch etwas deutlicher koloriert werden: Zum einen dürfte es momentan um einen im Untersuchungsfeld bereits aufscheinenden paradigmatischen Wechsel im deutsch-jüdischen Feld überhaupt gehen, welcher Juden wie Nichtjuden ganz neue Perspektiven eröffnen kann. Dabei zeichnet sich der Tendenz nach eine vergangenheitsfixierten und kulturindustriell geprägten Hype-Phänomenen erwachsende Alternative durch die Zunahme originär jüdischer wie jüdisch-nichtjüdischer gegenwartskulturelle Äußerungen ab. Die außerjüdische Wahrnehmung jüdischer Kultur bleibt damit nicht mehr auf Gedenkorte oder Orte pseudojüdischer Geschichts-Inszenierungen beschränkt. Vielmehr sind Nichtjuden immer häufiger und vielfältiger in unterschiedlichsten
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Kulturbereichen275 mit guter oder schlechter, mit banaler oder provokativer jüdischer Gegenwartskultur sowie nichtjüdischer Thematisierung des Jüdischen jenseits der Hype-Phänomene konfrontiert. Dies bedeutet dabei aber keineswegs den Verlust von Bezügen zur belasteten deutsch-jüdischen Vergangenheit. Im Gegenteil, würden sich doch im Bereich der Gedenkkultur über die von Jüngeren z. T. als ritualisiert wahrgenommenen bisherigen Umgangsweisen hinaus ganz neue mediale Bereiche und ästhetische Formen eröffnen, womit insbesondere auch jugendliche wie auch bildungsfernere Zielgruppen erreicht werden können.276 Dennoch ist davon auszugehen, dass auch in Zukunft Trivialisierungen des Jüdischen, teilweise auch mit jüdischen Akteuren, in Berlin stattfinden werden. Die Übergänge zu den im vorherigen Abschnitt skizzierten gegenwartskulturellen originär jüdischen Aufbrüchen werden dabei aller Wahrscheinlichkeit nach noch fließender als bisher sein. Dennoch würden nichtjüdische Hype-Orientierungen angesichts weiterer kultureller Entgrenzungen und einer nicht mehr auf Gedenkorte oder Orte pseudojüdischer Geschichts-Inszenierungen beschränkter jüdischer Gegenwartskultur m. E. sukzessive wichtige Voraussetzungen ihrer Existenz im deutsch-jüdischen Feld einbüßen: So verlieren mit jeder inhaltlichen, ästhetischen und personellen Weitung jüdischer Gegenwartskultur Juden und Jüdisches Stück für Stück an Exotik. Außerdem dürften in einer insgesamt entgrenzteren deutsch-jüdischen Kulturlandschaft in Berlin Hype-geprägte Inszenierungen des Jüdischen sowie ihnen gegenüber affirmative jüdische Umgangsweisen vielerorts ihr Deutungsmonopol verlieren. Ihre Bedeutung im deutschjüdischen Feld würde der Tendenz nach abnehmen, wie auch umgekehrt jüdischerseits der Druck, dem etwa aus Publicity-Gründen zu entsprechen. Kommerzielle Inszenierungen des Jüdischen könnten damit zu den unvermeidlichen kitschigen und sentimentalen Nischen im Umfeld einer vitalen Minderheitenkultur in Berlin mutieren. Im günstigsten Fall werden sogar entsprechend geprägte Stadträume und Einrichtungen zu Ausgangspunkten gegenläufiger, weil lebendiger kultureller Entwicklungen zwischen Juden und Nichtjuden.
275 Beispielsweise innerhalb der Jugend- und Populärkultur, der Gastronomie, dem zeitgenössischen Theater, im Museum oder etwa in der Fernsehunterhaltung. 276 Dies lässt sich gut mit aktuellen Beispielen jüdischer Gegenwartskultur, vor allem in Frankreich, Großbritannien und den USA aufzeigen. Ohne hierauf näher eingehen zu können, sei nur das Erwachsenencomic ,Maus‘ des Pulitzer-Preisträgers Art Spiegelmann oder das New Yorker jüdische Jugendmagazin ,Heeb‘ erwähnt.
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4 . An t i s e m i t i s m u s i n B e r l i n : W a h r n e h m u n g e n u n d U m g a n g s w e i s e n d e r m e t r o p o lit a n e n jü d is c h e n Gemeinschaft „Können Sie sich vorstellen, welche Erinnerungen diese Verbrechen (Angriffe auf Synagogen, Hetzjagd auf Ausländer) in uns Juden auslösen, auslösen müssen. Und dabei meine ich nicht nur meine Generation, die die Hölle des Holocaust mitmachen musste. Ich meine auch unsere Kinder und Enkelkinder. – ,Wehret den Anfängen‘ heißt es oft, wenn es um den Kampf gegen Rechtsextremismus geht. [...] Was wir fast täglich erleben, hat nichts mehr mit ,Anfängen‘ zu tun.“ Paul Spiegel277
Ohne Polemik ließe sich fragen: Was haben manifester Antisemitismus und seine Träger mit jüdischem Leben bspw. in Berlin zu tun und entsprechend antworten: wenig. Denn überzeugte Antisemiten bedürfen bekanntermaßen keiner realer Juden zur Entstehung und Verbreitung ihrer judenfeindlichen Ressentiments, eher im Gegenteil. Juden als gesellschaftliche Minderheit konnten und können sich demgegenüber nur sehr schwer oder gar nicht antijüdischen Anfeindungen sowie den damit verbundenen negativen Folgewirkungen entziehen. Denn Judenfeindschaft bedeutet für hier wie auch in anderen westlichen Ländern lebende jüdische Gemeinschaften trotz rechtlicher Gleichstellung eine vielgestaltige Diskriminierung und mancherorts darüber hinaus eine direkte Bedrohung ihrer körperlichen Unversehrtheit. Ein hierzulande noch immer sowie von neuem virulenter Antisemitismus muss daher als eine bedeutsame Einflussgröße jüdischer Wirklichkeit in Berlin an zentraler Stelle in die Untersuchung einbezogen werden. Darüber hinaus ist hiesiger Antisemitismus aber auch ein besonders heikles Detail des historisch durch die Schoah ohnehin vorbelasteten deutsch-jüdischen Beziehungsfelds.278 Schließlich gilt es bei der Beschäftigung mit den Folgen von Antisemitismus auf die hiesige jüdische Gemeinschaft mitzubedenken, dass Judenfeindschaft in ihren vielfältigen Ausprägungsformen ein nahezu weltweites Phänomen ist. Hiervon sind daher Juden nicht nur in Berlin und im übrigen Deutschland, sondern vielerorts, teilweise brutal und heimtückisch bedroht – man denke an erster Stelle nur an die Selbstmordattentate in Israel.
277 Ders.: Wieder zu Hause?, S. 265 f. Die Sätze entstammen der Rede, welche der Zentralratsvorsitzende auf der großen Gedenkveranstaltung in Berlin anlässlich des 9. November 2000 vor etwa 200.000 bis 300.000 Menschen gehalten hatte. 278 Vor diesem geschichtlichen Hintergrund stellt Judenfeindschaft in Deutschland vom Ende der NS-Herrschaft bis heute die schwierige nichtjüdisch-jüdische Aussöhnung wie die neuerliche hiesige jüdische Existenz immer wieder vor empfindliche Belastungsproben. Vgl. zu den historischen Bezügen dieses Verhältnisses im historischen Einführungs-Teil die Kap. II.1.1. und 1.2.
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Antisemitismus und seine Wirkungsmechanismen als gesellschaftlich relevantes soziales Phänomen im heutigen Deutschland bedeutet immer auch eine mit seinen unterschiedlichen Ausprägungsweisen einhergehende Interaktion zwischen den verschiedenen Akteuren des judenfeindlichen Feldes. Gemeint sind hiermit antisemitische Personen und Personengruppen, die von ihnen diskriminierten und gefährdeten Juden bzw. die hiesige jüdischen Gemeinschaft. Aber auch sich hierzu (nicht-)verhaltende Nichtjuden sowie die mit dem Schutz der jüdischen Seite beschäftigten Vertreter politischen Ebene, Behörden sowie der Polizei fallen hierunter. Das Interesse der vorliegenden Studie richtet sich auf die Perspektive der jüdischen Seite dieser Trias in Berlin, die als Konsequenz aus dieser vielfachen und vom Gefährdungspotential verschiedenen antisemitischen Anwürfe sehr differenzierte Umgangsweisen und Reaktionsformen entwickelt. Antisemitismus stellte nicht von Anbeginn an einen eigenen Forschungsschwerpunkt der Studie dar. Erfahrungen mit Judenfeindschaft waren lediglich als eine Variante des jüdisch-nichtjüdischen Verhältnisses in den Erhebungsgesprächen erwartet worden. Entsprechend der die eigenen Ausgangsfragen überprüfenden und z. T. modifizierenden Prozessorientierung des qualitativen Forschungsdesigns nahm im Verlauf der Erhebung die Einsicht in die Bedeutung von Antisemitismus als Einflussgröße auf das örtliche Leben rasch zu. Hierzu trugen die explorativen Beobachtungen im sozialen Feld entscheidend bei, insbesondere die Vielzahl der in dieser Zeit verübten bzw. medial dokumentierten antisemitischen Übergriffe wie auch die Präsenz der aufwendigen und im Alltag für die davon Betroffenen schmerzlich präsenten Sicherheitsmaßnahmen vor sowie in jüdischen Einrichtungen.279 Dabei wurde eine eigene Topographie antijüdischen Bedrohungen sowie jüdischer Reaktionen hierauf sichtbar. In einem ersten Durchgang wird eine allgemeine historische und theoretische Annäherung an das Phänomen des gegenwärtigen Antisemitismus in Deutschland und Berlin unternommen (Kap. III.4.1.). Hierfür soll zunächst eine den Erfordernissen der Studie genügende Antwort auf die Frage gegeben werden, was unter Antisemitismus zu verstehen ist (Kap. III.4.1.1.). Im Anschluss werden Ausprägungsformen von Judenfeindschaft seit 1945 sowie deren aktuelle Verbreitung in Deutschland aufgezeigt (Kap. III.4.1.2.). Vor dem Hintergrund dieser thematischen Grundlegung werden konkrete antisemitische Übergriffe der letzten Jahre in Berlin dokumentiert sowie Gegenmaßnahmen, die von der jüdischen Gemeinde, also von offizieller Seite im jüdischen Berlin zur Erhöhung der Sicherheit vor antisemitischen Bedrohungen in der Metropole getroffen werden, beschrieben. (Kap. III.4.1.3.). Nach dieser Hinleitung werden in einem zweiten Durchgang die Äußerungen der Interviewten in den Erhebungsgesprächen zum Problembereich Antisemitismus in Berlin dargestellt und erörtert (Kap. III.4.2.). Hierbei stehen neben persönlichen Erfahrungen und Umgangsweisen der Befrag279 Gerade nach antisemitischen Vorfällen wirken die kurzfristig verschärften Maßnahmen besonders martialisch; vgl. unten Kap. III.4.1.3., S. 361 ff.
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ten und ihres jüdischen Umfelds (Kap. III.4.2.1.), die von ihnen maßgeblich mitgetragenen Gruppenaktivitäten (Kap. III.4.2.2.) sowie die weiteren allgemeinen jüdischen Zukunftsperspektiven in der Metropole in Hinblick auf die Antisemitismus-Problematik im Vordergrund. (Kap. III. 4.2.3.)
4.1. Alter und neuer Antisemitismus in Berlin und andernorts in Deutschland „Die Fremdheit der Juden scheint die handlichste Formel zu sein, mit der Entfremdung der Gesellschaft fertig zu werden.“ Theodor. W. Adorno280
4.1.1. Antisemitismus: Sozialwissenschaftliche Begriffsklärungen und Deutungsversuche Was lässt sich unter dem Begriff Antisemitismus verstehen, wie er diesem zentralen Untersuchungsteil der Studie zu Grunde gelegt wird? Der Versuch einer allgemeinen Begriffsklärung folgt weitgehend einer aktuellen Bestimmung durch W. Benz. Demnach gilt „Judenfeindschaft […] als das älteste soziale, kulturelle, religiöse, politische Vorurteil der Menschheit.“281 Hierzulande oder auch anderswo auf der Welt gegenwärtig auftretender Antisemitismus lässt sich ohne seine Jahrtausende alte Entstehungs- und Wirkungsgeschichte kaum begreifen. In Kürze aufgelistet sind es einige allgemeine Charakteristika, die sich einzeln oder gehäuft bei aktuellen Formen von Antisemitismus finden lassen.282: • Beliebigkeit des Ressentiments (Eigenschaften, Absichten, Handlungen, die nichts, wenig oder nur mit einzelnen Juden zu tun haben); • Verwendung von Stereotypen, die eine Pseudorealität jüdischer Existenz imaginieren und suggerieren; • Irrationalität der Herabsetzung, welche sich als hermetisches System einer argumentativen Widerlegung entzieht; • Ausagieren des Vorurteils auf allen möglichen Zuschreibungs- und Handlungsstufen: gegen einzelne oder gegen alle Juden, von Beleidigungen über Diskriminierungen und offener Gewaltanwendung bis zum Genozid; • Transportieren der Feindschaft über Sprache als wichtigstes Medium, aber auch durch Bilder, Gesten und Einverständnis; • Begründung der Diffamierung mit religiösen Motiven, ökonomischen Verhältnissen, sozialen oder politischen Sachverhalten sowie mit sich naturwissenschaftlich gebenden Argumentationen.
280 Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, S. 124 281 Wolfgang Benz: Was ist Antisemitismus?, München: Beck 2005, S. 7. – Vgl. zu vor- und frühmodernem Antijudaismus/Antisemitismus in Deutschland hier das Kap. II.1.1. 282 Vgl. W. Benz: Was ist Antisemitismus?, S. 234 ff.
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Außerdem wird in der Forschungsliteratur und in den Medien zwischen einem offen ausagiertem manifesten Antisemitismus283 und einem inneren Vorbehalt als latentem Antisemitismus unterschieden. Freilich gibt es zwischen beiden fließende Übergänge. Im Zuge vermehrten Interesses an kulturellen, einschließlich diskursiven Praktiken wird in den letzten Jahren vermehrt im Zusammenhang mit dem o. g. latenten auch von einem codierten Antisemitismus gesprochen. Hierunter wird ein zwischen politischer Agitation (Angebotsseite) und politischer Rezeption (Nachfrageseite) bestehendes und in der Zeitdimension wandelbares judenfeindliches ,Sagbarkeitsfeld‘ verstanden.284 Antisemitische Haltungen und Handlungen sind auf Grund der beispiellosen Judenverfolgung durch den NS aber auch wegen ihrer fortbestehenden Aktualität in Deutschland und anderen modernen westlichen Industriestaaten ein fächerübergreifendes Thema der Sozialforschung sowie der analytisch weniger versierten außeruniversitären empirischen Meinungsforschung.285 Immerhin existiert Antisemitismusforschung als interdisziplinär ausgerichtete Fragestellung seit mittlerweile über 60 Jahren. Bereits damals begannen die Vertreter der Kritischen Theorie nach ihrer Vertreibung aus Deutschland durch die Nazis, sich in den USA mit Antisemitismus und anderen Formen rassistischer Vorurteile theoretisch und empirisch zu beschäftigen, von der Erkenntnis ausgehend, dass Judenhass in fortgeschrittenen industriekapitalistischen Gesellschaften kein vormodernes Relikt, sondern im Gegenteil einen erklärbaren irrationalen Impuls der modernen Vergesellschaftung darstellt; wie es Adorno mit dem Leitsatz des Kapitels treffend auf den Punkt bringt.286 Heute sind es in Deutschland diverse SozialforscherInnen, die mit vielfältigen Untersuchungen regelmäßig auf die Virulenz antisemitischer Einstellungen verweisen und auch gewalttätige Formen von Judenfeindschaft und deren Täter
283 Sie sind von verbalen Schmähungen über Sachbeschädigungen bis zu offener Gewaltanwendung gegen Juden grundsätzlich strafbar. 284 Vgl. Lars Rensmann: Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden: VS 2004, S. 78 ff. Als Beispiele können Wendungen wie ,amerikanische Ostküste‘, ,einflussreiche Kreise, die angebliche Denkverbote verhängen‘ oder der Begriff ,alttestamentarisch‘ dienen, als Umschreibungen von Juden und deren Handeln stehen, ohne dass dies direkt ausgesprochen werden muss; in den Worten Adornos: Die Zuhörer werden als „In-Group behandelt, die schon alles weiß, was der Redner ihr sagen will“; vgl. ders.: „Antisemitismus und faschistische Propaganda“, in: Ernst Simmel (Hg.): „Antisemitismus“, Frankfurt a. M.: Fischer TB 1993, [engl. 1946], S. 159. 285 Die hierzu regelmäßig Befragungen im Auftrag der Politik und der Medien durchführt. 286 Das Antisemitismus-Kapitel in Grundtext der Kritischen Theorie, der ,Dialektik der Aufklärung‘ sowie deren Studien zur Vorurteilsbildung lieferten hierfür erste bahnbrechende Grundlagen. Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M., Fischer 1969 [engl. 1944], Kapitel: „Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung“; Th. W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter (s. o.).
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in den Blick nehmen.287 Einzigartigartig ist hierzulande das an der TU Berlin angesiedelte Institut für Antisemitismusforschung unter der Leitung des Zeithistorikers Wolfgang Benz. Sowohl in quantitativen wie qualitativen empirische Arbeiten wurden in den letzten Jahrzehnten Ursachen und Verbreitung aktueller Formen von Judenfeindschaft untersucht.
4.1.2. GegenwärtigerAntisemitismus in Deutschland Bereits bald nach Ende des Zweiten Weltkriegs stellte sich heraus, dass mit dem Bekanntwerden der von Deutschen an Juden während des NS begangenen Verbrechen es zu keinem Ende antisemitischen Gedankenguts und hieraus resultierender Übergriffen kommen würde. Judenfeindschaft überdauerte als kollektive Vorurteilsstruktur den Zweiten Weltkrieg nicht nur in diversen durch den Krieg und die Nachkriegszeit schwer gezeichneten Gesellschaften288, sondern auch im nunmehr geteilten Nachkriegsdeutschland und der ehemaligen Reichshauptstadt Berlin. Eine Analyse der amerikanischen Militärregierung in Deutschland (OMGUS) zu Meinungen, Einstellungen und Haltungen der Deutschen in den westlichen Besatzungszonen aus dem November 1945, die auf Interviews beruhte, kam zum Thema Juden, deren Verfolgung durch den NS und die daraus abzuleitenden Konsequenzen zu einem besorgniserregenden Ergebnis: Nur etwa ein Drittel der Interviewten war frei von antisemitischen Dispositionen.289 Angesichts dieses antisemitischen Kontinuums war für die westlichen „Besatzungsmächte, überlebende Juden und jene Deutschen, die eine demokratische Gesellschaft anstrebten, [...] die Überwindung des offiziellen rassistischen Antisemitismus eine nicht zu übersehende Herausforderung.“290 Erschwert wurde dieses Bemühen allerdings durch eine Art nationale Amnesie, als einer verstärkt seit der Wiederaufbauphase und unter der wirtschaftlichen Prosperität der 50er und 60er Jahre erkennbaren Verdrängung der von deutscher Seite an den Juden begangenen Verbrechen, verbunden mit dem Wunsch um Versöhnung mit der eigenen Geschichte. F. Stern ist darin zustimmen, dass die hierzulande z. T. bis heute andauernde eigentümliche Distanz gegenüber Juden und allem Jüdischen seine eigentliche Ursache in einer sich in diesem Tabu ausdrückenden Schuldabwehr hat.291 Ein ausgesprochen deutsches Spezifikum stellt daher die bemer287 Hier können weder die vielfältigen Theorien der Entstehung von Antisemitismus noch Ergebnisse zahlreichen neueren empirischen Forschungsarbeiten zu Ursachen und Trägern aktueller Spielarten des Phänomens vorgestellt werden. 288 Wie etwa in Polen, wo es Ende der 40er Jahre zu judenfeindlichen Pogromen gekommen war; vgl. im Einführungs-Kap. I.1.2.2., S. 92. 289 Vgl. Frank Stern: „Antisemitismus und Philosemitismus in der politischen Kultur der entstehenden Bundesrepublik“, in: A. Nachama/J. H. Schoeps (Hg.) Aufbau nach dem Untergang, Berlin: Argon 1992, S. 150 f. 290 Ebd., S. 151 291 Vgl. ebd., S. 150. – L. Rensmann spricht in diesem Kontext etwas weiter gefasst und gerade damit nicht weniger zutreffend von Erinnerungsabwehr, vgl. ders.: Demokratie und Judenbild, S. 162 ff.
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kenswerte Tatsache dar, dass sich hierzulande in den letzten Jahrzehnten eine Judenfeindschaft nicht trotz, sondern gerade auch wegen oder besser unter Bezug auf Auschwitz ausbildete. In der Forschung wird, zurückgehend auf die Studien der Kritischen Theorie, dieses Phänomen allgemein als ,sekundärer Antisemitismus‘ bezeichnet und als Theorem fundiert: Dabei funktioniert die das judenfeindliche Ressentiment von neuem aktivierende Motiv der Erinnerungsabwehr gegenüber den NS-Verbrechen und einer entsprechenden Schlussstrichmentalität im Sinne der sarkastischen Formulierung des israelischen Psychoanalytikers Zvi Rex: „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.“292 Außerdem kamen in den Nachkriegsjahrzehnten weitere Formen von Judenfeindschaft hinzu wie der antizionistisch motivierte Antisemitismus in bestimmten Phasen der DDR-Politik und in Teilen der sich nach dem Höhepunkt der Studentenbewegung fraktionierenden radikalen westdeutschen Linken.293 Eine weitere Variante der gegen das Existenzrecht Israels gerichtete Spielart von Judenfeindschaft stellen in der letzten Dekade in bislang ungeahnter Radikalität militante Vertreter und Gruppen des Islamismus sowie Palästinenser seit der sog. zweiten oder Al-Aksa-Intifada der Palästinenser in den Palästinensergebieten im September 2000 dar. Dabei legen einige von ihnen eine bislang nicht gekannte Gewaltbereitschaft an den Tag. In ihrer Bedeutung als unmittelbare Bedrohung von Juden haben sie damit hierzulande wie auch andernorts weitgehend überkommene antisemitische Formen der christlich-religiösen und rassenbiologischen Judenfeindschaft abgelöst, ohne dass diese gänzlich verschwanden.294 Auch wenn viele der genannten antisemitischen Ausprägungsformen unabhängig voneinander oder auch aus unvereinbaren Hintergründen existieren, geht von ihnen auch als Gesamtes eine vermehrte Gefahr aus, insofern sich die Motive teilweise verstärken und überlagern können, zumal Antisemitismus, wie bereits erwähnt, keiner rationalen und konsistenten Argumentation bedarf. Außerdem kann als weiterer Verstärkungseffekt in der Verbreitung antisemitischen Gedankenguts gerade hierzulande immer wieder auf die aus der NS- oder bereits aus der Vor-NS-Zeit tradierten und tief verankerten judenfeindlichen Klischeebilder zurückgegriffen werden. 292 Zit. nach Philipp Gessler: „Kampf gegen das Erinnern.“, in: TAZ Magazin 18./19.12.04. Zum Begriff des sekundären Antisemitismus vgl. L. Rensmann a. a. O., S. 161 ff. 293 Zu den hier nur angedeuteten Entwicklungen in der DDR vgl. näher Kap. II.1.3.1., S. 107 f. sowie der antizionistischen Westlinken die kurzen Verweise in Kap. II.1.2.4., S. 102 f. sowie Martin Kloke: „Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses“, Frankfurt a. M: Haag und Herchen 1994 sowie Wolfgang Krausshaar: „Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus“, Hamburg: Hamburger Edition 2005. 294 In den letzten Jahren wurden immer wieder teilweise aggressive Missionierungsversuche fundamentalistischer christlicher Gruppen sowie einer sich als ,Juden für Jesus‘ bezeichnenden internationalen Organisationen gegenüber hier lebenden Juden publik; vgl. Johannes Boie: „Messias auf dem Ku'damm.“, in: JA 25.08.05.
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Die sich in offiziellen Polizei- und Kriminalstatistiken und in Medienberichten zahlenmäßig am häufigsten niederschlagenden gewalttätigen Formen eines manifesten Antisemitismus bestehen auch gegenwärtig wie in den zurückliegenden Jahrzehnten größtenteils aus Sachbeschädigungen. Diese bestehen vor allem in Schändungen von Vergegenwärtigungsorten ehemals in Deutschland lebender bzw. von deutscher Seite ermordeter Juden, wie jüdischer Friedhöfe und Mahnmale.295 Leider scheint sich an dieser judenfeindlichen Gewalt gegen mahnende Steine nichts geändert zu haben, wie beispielhaft die hohe Zahl an Grab- und Denkmalschändungen in der Auflistung antisemitischer Übergriffe in Berlin im folgenden Kap. III.4.1.3. beweist. Die Tatsache dieser aggressiven Handlungen zeugt einerseits von der Irrationalität, die wie gehabt auch heutige antisemitische Haltungen und Handlungen auszeichnet. Sie ist darüber hinaus aber auch einer spezifischen Gelegenheitsstruktur in der Wahl der Zielobjekte der judenfeindlichen Handlungen in Deutschland geschuldet, nämlich insofern, als es hierzulande immer noch mehr Hinweise auf das überkommene und vernichtete frühere Judentum als Zeugnisse heutigen jüdischen Lebens gibt. Darüber hinaus kommt es seit der deutschen Vereinigung 1990 zwar zu bisher nur vereinzelten, dafür aber für die hiesige jüdische Gemeinschaft um so gefährlicheren Übergriffen auf die wachsende Zahl wieder genutzter oder neu errichteter jüdischer Gotteshäuser.296 Schließlich nehmen in den letzten Jahren verbale und auch physische Angriffe auf hier lebende Juden zu, wie ebenfalls beispielhaft in der Auflistung aktuellerer judenfeindlicher Übergriffe in Berlin im nächsten Abschnitt gezeigt wird. In den letzten beiden genannten Deliktkategorien dürften die in Deutschland erst in den letzten Jahren verstärkt auftretenden Formen eines islamistischen und arabischen von der Ideologie her sich gegen Israel und den Zionismus wendenden Antisemitismus eine Rolle spielen. Dabei wird eine Mehrzahl der genannten antisemitischen Gewalttaten, entgegen dem in den Medien gerne bedienten Klischee, überwiegend nicht in Ostdeutschland begangen, sondern zahlenmäßig am häufigsten in den westlichen Flächen-Bundesländern. Außerdem handelt es sich in der überwiegenden Zahl der Vorfälle nicht um in Gangs marodierende sozial depravierte Jugendliche, sondern im Gegensatz hierzu sind „Hochschulabsolventen, gut Verdienende und Ältere auffallend häufig vertreten.“297 Darüber hinaus werden bestimmte judenfeindliche Delikte auf Grund einer partiell vorherrschenden polizeilichen Aufnahmepraxis, die vereinzelt durch Medienberichte an die Öffentlichkeit gelangt, 295 Vgl. Wolfgang Benz: „Reaktionen auf den Holocaust. Antisemitismus, Antizionismus und Philosemitismus“, in: O. R. Romberg/S. Urban-Fahr (Hg.): Juden in Deutschland nach 1945, S. 63 296 Einige spektakuläre Synagogenschändungen der letzten Jahre ereigneten sich in Lübeck (1994 und 1995), Düsseldorf (2000), Hagen (2003); zu Gewalttaten gegen Berliner Synagogen vgl. die Auflistung im folgenden Kap. III.4.1.3., S. 347 ff. 297 Mit diesen Worten wird eine aktuelle Einschätzung des BKA-Chefs Jörg Ziercke durch Philipp Gessler wiedergegeben; ders. in: TAZ 18./19.12.04.
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nicht bekannt: Denn ein gewisser Teil der judenfeindlichen Handlungen kommt erst gar nicht zur Anzeige, wenn, wie bspw. in Berlin geschehen, sich Juden, die durch antisemitische Anrufe oder Briefe bedroht wurden, für ihre Anzeige jedes einzelnen Vorfalls persönlich bei der Polizei einfinden müssen.298 Dennoch lässt sich 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und der Schoah konstatieren, dass Antisemitismus als manifeste, offen gezeigte Judenfeindschaft im heutigen Deutschland, anders als in den Jahrzehnten vor der NS-Zeit weniger häufig in der Öffentlichkeit zu Tage tritt. Dieser sei nach W. Benz gesamtgesellschaftlichen hierzulande „kein zentrales politisches Problem [...]. [...] Manifeste Judenfeindschaft ist [...] nicht in jedem Fall zu konstatieren; anders als beim plump und pauschal artikulierten älteren Antisemitismus ist das Problem vielschichtig und erfordert differenzierte Betrachtung. Antisemitismus äußert sich subtiler als früher, er ist daher schwerer zu bestimmen und zu beweisen.“299 Jenseits oder besser unterhalb dieses manifesten, gewalttätigen Judenhasses existiert tatsächlich ein viel weitverbreiteter latenter Antisemitismus, der sich, wie auch eine entsprechend niedrigschwellige Ausländerfeindlichkeit, nicht in Ein Befund aktueller Forschungen der letzten Jahre besagt, dass eine größere Virulenz als von der relativ kleinen Gruppe gewaltbereiter Judenfeinde von bis in die Mitte der Gesellschaft reichenden weitverbreiteten judenfeindlichen wie auch allgemein fremdenfeindlichen Einstellungen ausgehen. Denn Juden herabsetzende Klischeebildungen bis hin zu offen gezeigter Judenfeindschaft sind hierzulande bei den verschiedensten Bevölkerungsgruppen gleichermaßen als eine Art weit verbreiteten Alltags-Antisemitismus anzutreffen. Diese Einstellungen lassen sich in allen Altersstufen, Einkommensgruppen, Bildungsschichten, bei beiden Geschlechtern sowie in den westlichen wie östlichen Bundesländern nachweisen. Die bedenklichste Entwicklung scheint in diesem Zusammenhang allerdings zu sein, dass sich latente Judenfeindschaft seit einigen Jahren in Deutschland als ein kultureller Code auf der diskursiv-öffentlichen Ebene offensichtlich auf dem Vormarsch befindet und bis in die kulturhegemonialen Kreise und in die politische Mitte der parlamentarischen Parteienlandschaft reicht, wie die mit den Namen M. Walser, J. W. Möllemann und M. Hohmann verbundenen Debatten und der um sie gruppierten Mediendiskurse der letzten Jahre beweisen.300 Aber auch quantitativ empirische Untersuchungen zur Verbreitung antisemitischer Klischeebildung müssen zu denken geben: Werner Bergmann und Rainer
298 Der ebenfalls häufig mit antisemitischen Drohungen konfrontierte prominente Wissenschaftler J. Schoeps äußerte schon vor Jahren, dass er wegen der auch von ihm monierten Berliner Anzeigepraxis nur „die wirklich schlimmen Dinge zur Polizei“ gibt. Zit. nach Evelyn Roll: „Antisemitismus. ,Da ist eine neue Qualität‘“, in: SZ 07.12.98. 299 W. Benz: Reaktionen auf den Holocaust, in: O. R. Romberg/S. Urban-Fahr (Hg.): Juden in Deutschland nach 1945, S. 60 300 Dies geht etwa aus der bereits o. g. aktuellen Studie von L. Rensmann „Demokratie und Judenbild“ sehr deutlich hervor.
ANTISEMITISMUS IN BERLIN | 345
Erb wiesen bereits in den in den 80er Jahren für die alte BRD und 1993 für das mittlerweile vereinigte Deutschland in der deutschen Bevölkerung sechs größere Stereotypenbildungen über Juden in der Bevölkerung nach. Neben philosemitischen und nicht eindeutig judenfeindlichen Klischeebildern ermittelten sie Zuschreibungen heutiger Juden als machthungrig, gefährlich, nachtragend und geldgierig. Diese Stereotypen dominierten bei den Befragten weit vor früheren antijudaistischen bzw. religiösen und rassistischen Negativzuschreibungen.301 Ebenso besorgniserregend erscheinen die Ergebnisse einer Forsa-Umfrage von 1998 laut dem Politologen Hajo Funke, wonach „erstaunliche 41 Prozent der Bevölkerung ganz oder teilweise die Ansicht (teilen), der Einfluss von Juden auf die Wirtschaft stehe im Missverhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil. Und fast zwei Drittel, nämlich 63 Prozent, sind dafür, dass endlich ein Schlussstrich unter die Diskussion über Judenverfolgung gezogen werden sollte.“302 Während mit dieser Umfrage 20 % latente Antisemiten ermittelt wurden, waren es in der fünf Jahre später im Jahr 2003 ebenfalls von Forsa durchgeführten Umfrage sogar 23 %.303 In einer europaweit 2002 und nochmals 2004 durchgeführten Befragung der Anti-Diffamierungs-Liga äußerten sich im ersten Durchgang 37 %, im zweiten 36 % antisemitisch gegenüber Juden und gegenüber der Rolle Israels im Nahostkonflikt. Damit liegt Deutschland in etwa im europäischen Durchschnitt.304
4.1.3. Aktueller Antisemitismus und jüdische Gegenmaßnahmen von Gemeindeseite in Berlin Über alles bisher Gesagte hinaus, ist es vor der eigentlichen Erörterung der Äußerungen der Interviewten zu der Thematik noch notwendig, die spezifischen Berliner Bedingungen antisemitischer Handlungen und jüdischer Reaktionen hierauf für die letzte Zeit nachzuzeichnen. Schließlich bestehen diese in ortstypischen quantitativen Aspekten wie etwa in der Größe der Stadt und der in ihr ansässigen jüdischen Gemeinschaft sowie in nicht minder ortstypischen qualitativen Aspekten wie der Hauptstadtfunktion der Metropole und dem Hintergrund
301 Vgl. Rainer Erb: „Klischees über ,gute‘ und ,böse‘ Juden. Immer wieder entgegentreten“, in O. R. Romberg/S. Urban-Fahr (Hg.): Juden in Deutschland nach 1945, S. 81 ff. sowie Werner Bergmann/Rainer Erb: „Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland“, Opladen, Westdeutscher 1991, S. 14 ff. u. S. 310. 302 Hajo Funke: „Paranoides Alltagsbewusstsein. Der antisemitische Volksgeist weht auch in gehobenen Kreisen“, in: ZITTY Nr.23/02.-15.11.00. - Mit „KarajanNachfolger“ ist der aus Israel stammende Dirigent der Berliner Staatsoper Unter den Linden Daniel Barenboim gemeint. 303 Zahlen nach Agenturmeldung (dpa): „Jeder Fünfte offenbar latent antisemitisch. Umfrage: Tendenz steigend“, in: AZ 20.11.03 304 Zahlen nach Agenturmeldung (ap): „Antisemitismus in Deutschland mittlerweile leicht rückläufig.“, in: AZ 27.04.04. Auch der Vizepräsident des Zentralrates sowie Soziologe und Architekt Salomon Korn bestätigte die o. g. Gesamteinschätzung keiner deutschen Sonderentwicklung des antisemitischen Bedrohungspotentials; vgl. Miriam Gümbel: „Hetze per Post“, in: JA 02.12.04
346 | TEIL III: JÜDISCHE EXISTENZ IN BERLIN UND IHRE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN
ihrer geschichtlichen Bedeutung. Diese konkreten Berliner Verhältnisse gilt es für das tiefere Verständnis der Gesprächsaussagen mitzubedenken. (1) Gegenwärtige Ausprägungsformen von Antisemitismus in Berlin Im Bereich des gewalttätigen rechtsextremistischen und/oder islamistischen Antisemitismus nimmt Berlin gegenüber anderen Städten und Gemeinden mit jüdischer Bevölkerung bzw. steinernen jüdischen Manifestationen zweifelsohne eine Sonderstellung ein. Zwar werden über Berlin hinaus in Deutschland jüdische Friedhöfe fast wöchentlich von antisemitisch motivierten Anschlägen heimgesucht und um bestimmten geschichtsträchtige Jahrestage häufen sich ebenfalls landesweit rechtsextremistische Kundgebungen und Aufmärsche. Doch nirgendwo sonst konzentrieren sich judenfeindliche Übergriffe an einem Ort in diesem Maße wie in der deutschen Hauptstadt. Diese Situation lässt sich allerdings kaum mit einer besonderen Verbreitung antisemitischer Haltungen in der Bevölkerung Berlins begründen, vielmehr begünstigen bestimmte berlinspezifische Bedingungen in der Metropole judenfeindliche Gewalttäter, nämlich: • die größte Dichte jüdischer Einrichtungen und anderer anschlagsrelevanter Objekte als Gelegenheitsstruktur; in • die Symbolträchtigkeit von Gedenkorten und politischen Manifestationen der ehemaligen Reichshauptstadt und heutigen deutschen Hauptstadt305; • die vergleichsweise große landesweite und internationale mediale Beachtung, die politisch motivierte Übergriffe in dieser Stadt genießen • sowie die relativ große Anonymität, welche die Millionenmetropole möglichen Gewalttätern bietet. Vor dem Hintergrund dieser ortsspezifischen Bedingungen antisemitischer Übergriffe ist es zunächst notwendig, das quantitative Ausmaß deren Auftreten im Berlin der letzten Jahre nachzuzeichnen. Wurden 2002 in Berlin 229 antisemitische Gewalttaten sowie 52 ausländerfeindliche angezeigt, so registrierte die Polizei 2004 in beiden Kategorien 123 bzw. 70 Vorfälle. Damit liegen die judenfeindlichen Übergriffe in der Stadt immer noch deutlich über Vergleichswerten der 90er Jahre.306 Eine besorgniserregende Tendenz zeichnet sich dabei insofern ab, als es im Untersuchungszeitraum zwar zu einer leichten Abnahme judenfeindlicher Gewalttaten gekommen ist, im Bereich des islamisch und antiisrae305 Vor diesem Hintergrund muss die Einschränkung der Demonstrationsfreiheit von Rechtsextremen an Gedenkorten der NS-Judenverfolgung und deren Verbot im Kontext des 60. Jahrestags des Kriegsendes am 8. Mai 2005 gewertet werden. 306 Zahlen nach Martin S. Lambeck: „Einspruch!“, in: JA 04.03.05. Offiziellen Angaben zufolge kam es in Berlin 1995 zu 112, 1996 zu 84, 1997 zu 96 und 1998 zu 106 judenfeindlichen Übergriffen; vgl. A. Roth/M. Frajman: Das jüdische Berlin heute, S. 160. Im Vergleich wurden in den Spitzenjahren nach der deutschen Vereinigung in den Jahren 1994 und 1995 bundesweit 1366 bzw. annähernd 1000 antisemitisch motivierte Straftaten in Deutschland begangen; vgl. „Unvollständige Chronik...“, in: ZITTY Nr.23/02.-15.11.00. sowie B Rebiger: Das jüdische Berlin, S. 32.
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lisch motivierten Antisemitismus in Berlin allerdings wie auch im übrigen Deutschland zu einer Zunahme.307 Das Spektrum dieser antisemitischen Handlungen umfasst über teilweise von den Medien vermittelte, in der Öffentlichkeit als spektakulär wahrgenommene Ereignisse hinaus (s. u.), insbesondere telephonische und schriftliche Schmähungen bis hin zu Morddrohungen.308 Im Folgenden wird mit einer knappen Auflistung ein Überblick über einige drastischere und eindeutigere antisemitische Vorkommnisse der letzten Jahre in Berlin gegeben. Die Darstellung ist chronologisch gehalten und umfasst ohne Anspruch auf Vollständigkeit den Zeitraum zwischen 1990 und 2003 als Referenz-Zeitrum der Äußerungen in der Erhebung zu der Thematik309: Bedeutendere antisemitische Vorfälle in Berlin zwischen 1990 und 2003
ȱ März 1990:
An einem jüdischen Mahnmal in Tiergarten an der Putlitzbrücke wird ein Schweinekopf aufgehängt, aus dessen Schnauze ein antisemitisches Papier herausschaut. (ZI) Januar 1992: Auf Betreiben der rot-grünen Bezirksmehrheit sollen einige Straßen in Wilmersdorf die Namen jüdischer Personen erhalten, die sie durch Umbenennungen während der NS-Zeit verloren hatten. Anwohner wehren sich z. T. bis heute dagegen. (ZI) April 1992: Das jüdische Mahnmal in Tiergarten wird mit einem Beutel Fäkalien geschändet. (ZI) Mai 1992: Auf dem Ostberliner jüdischen Friedhof Weißensee werden zahlreiche Grabsteine umgeschmissen und zerstört. (ZI) Mai 1992: Die ,Nationalen‘ wollen eine Mahnwache vor dem Gemeindezentrum der JGB in der Fasanenstraße in Charlottenburg abhalten gegen den vermeintlichen Einfluss von Juden auf den Berliner Senat. Diese Kundgebung wird verboten. Es findet eine Gegenkundgebung statt. (ZI) September Ein Bombenanschlag wird auf das jüdische Mahnmal in Tiergarten verübt. (ZI) 1992:
307 Auf die antijüdischen Exzesse im übrigen Deutschland kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht eingegangen werden. 308 Vgl. ebd., S. 33. 309 Die meisten Vorfälle zwischen 1990 und Oktober 2000 sind der Chronik einer Titelgeschichte des Berliner Stadtmagazins ZITTY entnommen, vgl. Jeanette Goddar: „Wider die Angst. Wie Berliner Juden mit der Gewalt umgehen“, ZITTY Nr. 23/02.-15.11.02. Diese Vorfälle werden mit dem Quellenverweis ZI gekennzeichnet. Eine große Zahl der Vorkommnisse aus den Jahren 2002 und 2003 entstammen der laufend aktualisierten Dokumentation der Antonio-Amadeo-Stiftung im Internet www.projekte-gegen-antisemitismus.de (25.08.05). Diese Vorfälle werden lediglich mit dem Quellenverweis A.-Amadeo-Stiftung gekennzeichnet. Alle übrigen bis 2003 aufgeführten Ereignisse stammen aus diversen Zeitungsartikeln der Tagespresse, insbesondere der in Berlin erscheinenden Tagespresse Berliner Zeitung (BZ), Berliner Morgenpost (BMP), Berliner Tagesspiegel (BTS), Jüdische Allgemeine (JA), Neues Deutschland (ND) und Tageszeitung (TAZ). Der besseren Überschaubarkeit halber ist in diesen Fällen als Quellenangabe lediglich die Zeitung sowie das Datum der jeweiligen Ausgabe in Klammern angegeben. Ortsangaben beziehen sich auf Berliners Bezirke oder Ortsteile.
348 | TEIL III: JÜDISCHE EXISTENZ IN BERLIN UND IHRE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN September 1992: Oktober 1993: September 1994: Oktober 1994: 1995: Mai 1996:
Oktober 1996: Februar 1997:
September 1997: Oktober 1997: November 1997: Dezember 1997: 30. Dezember 1997: Februar 1998: September 1998: 28. Oktober 1998: 19. Dezember 1998:
Ein Hakenkreuz wird auf die Mauer des jüdischen Friedhofs in Weißensee geschmiert. (ZI) Der selbe Täter verübt seinen 14. antisemitischen Anschlag auf die Synagoge Fraenkelufer in Kreuzberg. Er wird anschließend festgenommen. (ZI) Auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee kommt es zu Grabschändungen. (ZI) Auf dem jüdischen Friedhof in Prenzlauer Berg kommt es zu Grabschändungen und -zerstörungen. (ZI) In diesem Jahr registriert das BKA bundesweit fast 1000 antisemitische Straftaten, davon zahlreiche auch in Berlin. (ZI) In der Wilmersdorfer Bürgerversammlung wird ein fünf Jahre altes Votum von SPD und Grünen für die Umbenennung der von den Nazis 1935 nach einem antisemitischen Theologen Seebergsteig genannten Straße in Walter-BenjaminStraße von der CDU-Mehrheit gekippt. Die Begründung lautet, dass eine Mehrheit der Anwohner dagegen sei. (SPIEGEL 02.09.96)310 Es kommt zu Bombendrohungen gegen das israelische Konsulat und die JGB in Charlottenburg. (ZI) Das Straßenschild der Flatowstraße in Charlottenburg wird beschmiert. Die Straße erinnert an zwei in Theresienstadt umgekommene jüdische Sportler. Diese Straße, in unmittelbarer Nachbarschaft des Olympiageländes von 1936, war von Hitler persönlich in Reichssportfeldstraße benannt worden. Ihre Umbenennung kurz vor der Tat war von Protesten der örtlichen CDU und einer rechten Bürgerinitiative begleitet. (ZI) Der jüdische Friedhof in Prenzlauer Berg wird geschändet. (ZI) Mehrere Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee werden umgeschmissen. (ZI) An einem leeren Laden in Friedrichshain wird ,Achtung Jude‘ und ein Davidstern aufgesprüht. (ZI) Zerstörung des Grabes von Heinz Galinski auf dem Friedhof Scholzplatz in Charlottenburg durch einen Sprengstoffanschlag. (A.-Antonio-Stiftung) Der Gedenkstein für die Deportation von 55.000 Berliner Juden in der Hamburger Straße in Mitte wird geschändet. (ZEIT 23.04.98) Der Gedenkstein in Mitte wird erneut geschändet. In den kommenden Wochen wird er von der Polizei und einer Mahnwache rund um die Uhr bewacht. (ZEIT 23.04.98) Auf das Grab des ehemaligen Zentralrats- und JGB-Vorsitzenden H. Galinski auf dem jüdischen Friedhof in der Charlottenburger Heerstraße wird erneut ein Sprengstoffanschlag verübt. (ZI) Ein Ferkel wird von Unbekannten mit einem aufgemalten 10 cm großen Davidstern und den 25 cm Großbuchstaben des Namens des ZdJ-Vorsitzenden Bubis auf dem Alexanderplatz ausgesetzt. (TAZ 30.10.98 und SZ 07.12.98) Auf das Grab von Galinski auf dem Friedhof in Charlottenburger wird nochmals ein Sprengstoffanschlag verübt, wobei die Marmorplatte zerstört wird. Für die Wiederherstellung des Grabes kommt der Berliner Senat auf. (TAZ vom 22.12.98, 24.12.98 und 30.12.98)
310 Weiterhin tragen aber ca. 100 Straßen die von den Nazis gegebenen Bezeichnungen nach Angaben der Geschichtswerkstatt Berlin. (Quelle ebd.) – Zur Auseinandersetzung zur Um- oder Neubenennung Berliner Straßenraums für den hier geborenen und aufgewachsenen weltberühmten Philosophen vgl. u. S. 472.
ANTISEMITISMUS IN BERLIN | 349 Oktober 1999: Oktober 1999: November 1999: Juni 2000: 30. September 2000:
Wiederholte Schändung des jüdischen Mahnmals in Tiergarten. (ZI)
Über 100 Grabsteine werden auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee zerstört. (ZI) Auf die Werkstatt des unentgeltlich bei der Reparatur der zerstörten Grabsteine in Weißensee helfenden Steinmetzes wird ein Anschlag verübt. (ZI) Unbekannte Täter schänden erneut das jüdische Mahnmal in Tiergarten. (ZI) Zwei nackte 25- und 29-jährige Männer dringen in die Synagoge Rykestraße in Prenzlauer Berg ein und stören dort das jüdische Neujahrsfest. Sie werden von Wachpersonal und der Polizei unter Widerstand festgenommen. In den folgenden Tagen kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen dem JGBVorsitzenden A. Nachama und der Polizei sowie dem CDU-Innensenator Eckart Werthebach darüber, ob es sich um Skinheads oder um Personen ohne extremistische Motivation gehandelt hätte. Nachama bestritt auch nach einem Treffen mit dem Innensenator weiterhin die unpolitische Polizeiversion. (ZI; s. auch TAZ 10.10.00 und AJW 12.10.00) Oktober Der Gemeinderabbiner Walter Rothschild wird auf dem Wittenbergplatz in 2000: Schöneberg von jungen Muslimen angespuckt. (ZI) 3. Oktober Ein als ,geistig verwirrt‘ bezeichneter 34-jähriger Mann aus Aserbeidschan 2000: zündet in der Synagoge Joachimstaler Straße ein Gebetbuch an und versucht Flugblätter mit der Behauptung „Gott ist der Feind Israels“ zu verteilen. Es gelingt ihn zu überwältigen, wobei ein Kantor sich eine Risswunde an der linken Hand zuzieht. (AJW 12.10.00) 6. Oktober Unbekannte werfen mit Steinen zwei Fenster der Synagoge Fraenkelufer in 2000: Kreuzberg ein. (AJW 12.10.00) 13. März Unbekannte schänden mit Tierexkrementen zum wiederholten Mal das jüdi2001: sches Mahnmal in Tiergarten (Jungle World 21.03.01) 1. Dezember 3000 NPD-Anhänger demonstrieren in Mitte gegen die Wehrmachtsausstellung 2001: in Berlin. Direkt vor der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße kommt es zur Eskalation zwischen einigen der 4000 eingesetzten Polizeibeamten und der 2000 Gegendemonstranten. (BZ 03.12.01; AJW 06.12.01.) Dezember Nach der Demonstration am 01.12. drohte der Vorsitzende der rechtsextremen 2001: NPD Udo Voigt dem Berliner Rabbiner Chaim Rozwaski mit einer Strafanzeige. Rozwaski hatte mitprotestiert gegen den NPD-Marsch in Mitte durch das einst stark jüdisch bewohnte Scheunenviertel. (A.-Antonio-Stiftung) 11. Januar Unbekannte besprühen mehrere Wände und Stromverteilerkästen mit antisemi2002: tischen Parolen. Auf einer Hausfassade im Stadtteil Niederschönhausen steht mit roter Leuchtfarbe: „Juden raus aus Pankow“. (BZ 23.1.02) Ende Januar Das jüdische Mahnmal in Tiergarten wird mit einem 30 x 30 cm großen 2002: Hakenkreuz beschmiert.(ND 01.02.02) Mitte Febru- Eine Gruppe angetrunkener Jugendlicher in Bomberjacken und mit Emblemen ar 2002: einer ,Kameradschaft Potsdam‘ pöbelt nachts in Mitte in einer gut besetzten S-Bahn mit antisemitischen Sprüchen die Fahrgäste an. Als sie schließlich zwei jüngere Frauen bedrohen, geht ein junger Student dazwischen. Er wird daraufhin ebenfalls attackiert, wobei er mit einer Bierflasche am Kopf verletzt wird, worauf er zur Behandlung ins Krankenhaus muss. (BTS 15.2.02) 16. März Unbekannte verüben einen Sprengstoffanschlag mit einer Rohrbombe auf dem 2002: jüdischen Friedhof Scholzplatz in Charlottenburg. Die sieben Scheiben der Trauerhalle werden zerstört. (TAS 18.3.02; JA 27.03.02) 31. März. Zwei an ihrer Kleidung als orthodox kenntliche Juden aus New York werden 2002: auf dem Kurfürstendamm in Charlottenburg angegriffen. Die Opfer werden angepöbelt, geschlagen, getreten und zu Boden gestoßen. Die Täter können
350 | TEIL III: JÜDISCHE EXISTENZ IN BERLIN UND IHRE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN
April 2002:
2. April 2002: 13. April 2002:
14. April 2002:
Mitte April 2002: 27. April 2002: ca. April 2002: 10.05.02: 19. Mai 2002:
28. Mai 2002: 31. Mai 2002:
entkommen. Es besteht der Verdacht, dass die sieben oder acht jungen Täter arabischer Herkunft sind. (BZ 03.04.02; JA 12.04.02) In diesem Monat taucht auf Deutsch und Türkisch ein mehrseitiges antisemitisches Flugblatt der islamistischen Hizb ut-Tahrir in Kreuzberg auf. Darin heißt es einleitend: „Die Juden sind ein Volk der Lügen, ein Volk des Verrats, das Abkommen und Verträge bricht. Sie ersinnen Unwahrheiten und verdrehen den Wortsinn. Sie verletzen ungerechterweise die Rechte anderer, töten Propheten und Unschuldige und sind die größten Feinde der Gläubigen [...].“ Überschrieben ist dieses Flugblatt mit einem Auszug aus der Koran-Sure Al-Baqara: „Und tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben.“ (zit. nach A.-Amadeo-Stiftung) In der Nacht auf diesen Tag beschmieren Unbekannte das jüdische Mahnmal für deportierte Juden an der Moabiter Putlitzbrücke in Tiergarten mit einem Hakenkreuz. (BZ 03.04.02) 10.000 Demonstranten, darunter zahlreiche linke Gruppen, versammeln sich zur Demonstration für Palästina auf dem Alexanderplatz in Mitte. Auf unzähligen Spruchbändern wird Israel als „national-sozialistischer Staat“ verunglimpft und mit dem „Dritten Reich“ verglichen. Nach einem missglückten Sturm auf die amerikanische und die britische Botschaft grölen die aufgeputschten arabischen Jugendlichen zum Abschluss auf dem Potsdamer Platz „Sharon schwule Sau!“, „Juden raus“ und „Sieg Heil“ mit ausgestrecktem Arm. Sie tragen Abbildungen mit einem Davidstern, in dessen Mitte ein Teufelskopf zu sehen ist. Deutsche Skinheads sympathisieren und grüßen mit „Heil Hitler“. (zit. nach A.-Amadeo-Stiftung) Eine jüdische Mutter und ihre Tochter werden am U-Bahnhof Neukölln Opfer eines antisemitischen Übergriffs. Die Jüngere trägt an einer Halskette einen Davidstern. Einer der Täter reißt ihr die Kette vom Hals und schlägt ihr ins Gesicht. Auch der Mutter wird beim Versuch, ihrer Tochter zu helfen, ins Gesicht geschlagen. Beide Frauen müssen mit Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Die „südländisch aussehend“ und um die 20 Jahre alt beschrieben Täter können flüchten. (TAZ 16.4.02) In einem Innenhof in Pankow wird die Parole „Scharon ist ein Schwein, tötet die Juden!“ angebracht (Jungle World 24.04.02) Unbekannte werfen auf den Rasen vor der Synagoge Fraenkelufer in Kreuzberg einen Brandsatz. Er kann von Sicherheitskräften gelöscht werden. Die Täter sind unbekannt. (BTS 29.04.02; RNZ 30.04/01.05.02; JA 08.05.02) Das Mahnmal Levetzowstraße in Tiergarten wird geschändet. (JA 08.05.02) Die Polizei meldet die Verwüstung des ungenutzten ehemaligen ,Israelitischen Krankenheims‘ in Mitte durch Unbekannte (ND 13.5.02, JA 23.05.02) Eine 47-jährige Jüdin wird auf offener Straße in Wedding mehrfach beschimpft und beleidigt. Von der Polizei werden drei libanesische Jugendliche im Alter von 14 und 15 Jahren festgenommen. Die Frau war auf Grund ihrer Kopfbedeckung sowie durch eine traditionelle Tasche für den Gebetsschal als Jüdin erkennbar. (BZ 22.05.02) Ein Betrunkener reißt am Mahnmal in der Levetzowstraße in Tiergarten neun Abdeckplatten heraus. Er wird darauf festgenommen. (ND 29.05.02) In der Technischen Universität in Charlottenburg findet eine Vortragsveranstaltung der panislamistischen Gruppe Hizb ut-Tahrir zum Nahostkonflikt unter dem Titel „Blutiges Palästina – Das heilige Land unter Aggression“ statt. Referent Shaker Assem, repräsentatives Mitglied der Organisation, rechtfertigt die palästinensischen Selbstmordanschläge und verkündet die „vollständige
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5. Juni 2002:
1. Juli 2002:
Ende September 2002:
11. Oktober 2002: 27. Oktober 2002: 1. November 2002:
Mitte November 2002: 09.12.02:
9. Dezember 2002:
16. Januar 2003:
Mitte bis Ende Januar 2003
Befreiung Palästinas, ohne einen Fußbreit übrig zu lassen“ als „göttliche Pflicht vor Allah“, die von jedem Muslim erfüllt werden müsse. (A.-AmadeoStiftung) Mehrere Hundert Menschen demonstrieren auf einer von der JGB organisierten Kundgebung vor der Bundeszentrale der FDP in Mitte gegen den Versuch, mit Antisemitismus Wahlwerbung zu betreiben. (JA 20.06.02) Vor der Synagoge in der Rykestraße in Prenzlauer Berg grölt eine Gruppe von Männern antijüdische Parolen. Mitglieder der JGB benachrichtigen die Polizei. Zwei der Täter können festgenommen werden, die Übrigen entkommen. (BZ 02.07.02) Das Jüdische Museum Berlin eröffnet eine Ausstellung unter dem Titel „Ich bin kein Antisemit“. Gezeigt werden 50 von insgesamt 350 Briefen, welche die ,Jüdische Allgemeine‘ sowie jüdische Persönlichkeiten in diesem Jahr erhalten haben. Mit „Ich bin kein Antisemit“ werden diese Briefe häufig eingeleitet. Das Spektrum reicht von „persönlichen Beleidigungen und unverhohlen antisemitischen Texten bis hin zu besonnenem Nachdenken über die Konsequenzen solcher Diskussionen für die demokratische Kultur.“ (BZ 30.09.02) Es kommt zu einer erneuten Schändung des Mahnmals Levetzowstraße in Tiergarten mit einem aufgemalten Hakenkreuz. (TAZ 14.10.02; JA 24.10.02) Anlässlich der Rückbenennung der Spandauer Kinkel- in Jüdenstraße wird der JGB-Vorsitzende A. Brenner bei seiner Ansprache durch judenfeindliche Zwischenrufe gestört (JA 07.11.02; ZEIT Nr. 47/ 14.11.02) Die islamistische Gruppe Hizb ut-Tahrir (vgl. 31.05.02) lädt in der Mensa der Technischen Universität in Charlottenburg zu dem Vortrag „Der Irak – ein neuer Krieg und die Folgen“ ein. Unter den fast 400 Teilnehmenden sind neben überwiegend arabisch- und türkischstämmigen Gästen auch NDP-Anwalt Horst Mahler und NPD-Chef Udo Voigt. In der dreistündigen Veranstaltung wird zum Kampf für das islamische Kalifat sowie gegen die USA und Israel aufgerufen. Die so genannten Marionettenregierungen in der islamischen Welt werden zum Hauptfeind erklärt. (A.-Antonio-Stiftung; s. auch JA 07.11.02) Die jüdische Gedenktafel am Hansaufer in Moabit wird beschmiert. Es handelt sich um eine Erinnerungstafel an den Rabbiner Menachem Schneerson. (A.-Antonio-Stiftung; s. auch Polizeipressedienst 15.11.02) Der israelische Präsident Mosche Katzav besucht Berlin. 100 Anhänger der „Freien Kameradschaften“ und der NPD demonstrieren in Mitte, vom Bahnhof Friedrichstraße zum Schlossplatz gehend, gegen den Staatsbesuch. Bei der Kundgebung skandieren sie „Hände weg von Palästina“ und fordern die Berliner Bürger auf, gegen Waffenlieferungen an Israel zu protestieren. Eine rechtsextreme Internetseite kommentiert den Staatsbesuch mit der Frage: „Ewig zahlen für den „Holocaust“? (A.-Antonio-Stiftung; s. auch TAZ 11.12.02) Unbekannte schlagen mit einem Stein die Scheibe des jüdischen Ladens ,Israel Deli‘ im Reinickendorfer Ortsteil Tegel ein. Der Betreiber sieht sich in Folge dessen zur Aufgabe des Geschäfts gezwungen. (TAZ 11.12.02, JA 02.01.03 und JA 09.09.04) Der Berliner Rabbiner Chaim Rozwaski erhält per Post einen anonymen Brief mit den Worten „Lüge wird Wahrheit – Holocaust II“. Außerdem befindet sich in dem Kuvert auch eine kleine Tüte mit einer schwarzen Substanz, vermutlich Asche. (BTS 17.01.03) Der 84-Jährige Berliner Filmproduzent Artur Brauner sieht sich seit der Uraufführung seiner letzten Produktion ,Babij Jar‘ mit Morddrohungen konfrontiert. Wochenlang erhält er Droh-Anrufe, dass er die Deutschland-Premiere dieses Films nicht erleben werde und jene Kinos demoliert würden, die den Film
352 | TEIL III: JÜDISCHE EXISTENZ IN BERLIN UND IHRE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN
März 2003:
März 2003:
23. März 2003:
Ende April 2003:
11. Mai 2003:
13. Mai 2003: Anfang Juni 2003:
13. Juni 2003:
18. Juni 2003:
zeigen. Ein Polizeisprecher teilt der Öffentlichkeit mit, dass Brauner bisher wegen der Drohungen keine Anzeige erstattet habe. (Die Welt 25.01.03) Der Seebergsteig (vgl. Mai 1996) soll nach einem Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung Charlottenburg-Wilmersdorf gegen die Stimmen der CDU und trotz Anwohnerprotesten nach einer jüdischen Pädagogin in ToniLessler-Straße umbenannt werden. (BTS 15.12.02) Trotz vierjähriger Bemühungen der SPD, von Bündnis90/Die Grünen, der JGB und einiger Prominenter verhindert eine Vier-Stimmen-Mehrheit der Bezirksverordnetenversammlung von Steglitz-Zehlendorf, unterstützt durch eine Anwohnerinitiative die Umbenennung der Treitschkestraße in Kurt-Scharf-Straße nach dem ev. Altbischof von Berlin 1966-1972. (JA 13.03.03) Ein 21-jähriger Rabbinerstudent von Chabad Lubawitsch aus den USA wird auf dem Kurfürstendamm in Charlottenburg von vier möglicherweise türkischen Männern angegriffen und im Gesicht verletzt. Die Täter können von Passanten unbehelligt weitergehen. Dennoch will der junge Mann sich nicht entmutigen lassen und weitere vier Monate in der Stadt bleiben und auch weiterhin öffentlich seine Kippa tragen. (BMP 25.3.03; JA 22.05.03) Im Hof eines Milli Görüs Moschee- und Kulturhauses am Kottbusser Tor in Kreuzberg findet die islamische Buchmesse statt, auf der zahlreiche antisemitische und islamistische Bücher auf Deutsch und Türkisch verkauft werden. (A.-Antonio-Stiftung) Ein 56-jähriger nichtjüdischer Berliner, der sichtbar einen Davidstern trug, wird in einem BVG-Bus von einer Gruppe Jugendlicher tätlich angegriffen und als „Drecksjude“ beschimpft und ins Gesicht getreten. Der Mann wird im Krankenhaus behandelt. (BZ 13.5.03 und JA 22.05.03) Unweit des U-Bahnhofs Karl-Marx-Straße in Neukölln wird ein Student von Chabad Lubawitsch aus Jerusalem nach seinen Angaben von arabischen Jugendlichen attackiert und leicht an der Stirn verletzt. (JA 22.05.03) Unbekannte Täter beschädigen das jüdische Mahnmal in der Rosenstraße in Mitte. Auf der Rückseite der mittleren Skulptur wird ein Stück des Steines auf einer Fläche von 50 mal 50 Zentimetern herausgeschlagen. Der Staatsschutz ermittelt. (ddp 7.6.03) Eine Gruppe von etwa 15 Personen betritt ca. 23.30 Uhr den Heinrichplatz in Kreuzberg, entrollt ein (unleserliches) Transparent und stoppt den Verkehr. Eine Palästina-Flagge wird geschwungen. Eine Israel-Flagge wird in Brand gesetzt und verbrennt fast vollständig. Die Gruppe skandiert „Solidarität mit Palästina“„ und „Judenschweine!“. Von den umliegenden Kneipen am belebten Heinrichplatz sind vereinzelte Protestpfiffe zu hören. Die Gruppe rollt ihr Transparent ein und verschwindet zügig im Dunkeln Richtung Skalitzer Straße, Dauer der Aktion: ca. 5 Minuten. (A.-Antonio-Stiftung) An diesem Tag lässt der Bildhauer Gunter Demnig drei Messingplatten, so genannte ,Stolpersteine‘, vor dem Haus in der Badstraße 64 in Wedding in das Gehsteigpflaster ein. Solche ,Stolpersteine‘ informieren deutschlandweit an den ehemaligen Wohnorten über NS-Opfer, ihre wichtigsten Lebensdaten und Schicksale. Am nächsten Vormittag sind die Steine herausgerissen und verschwunden, das Loch ist mit Erde aufgefüllt. „Das ist das erste Mal, dass so etwas passiert“, verlautet von Seiten des betroffenen Bildhauers. Bis dahin hatte er in Deutschland rund 2500 dieser Steine verlegt, etwa 550 davon in Berlin. Der Bürgerverein Luisenstadt e. V., bei dem das Projekt ,Stolpersteine‘ angesiedelt ist, erstattet darauf Anzeige gegen Unbekannt, das Landeskriminalamt nimmt Ermittlungen auf. (ND, 26.6.03)
ANTISEMITISMUS IN BERLIN | 353 Ende Juni 2003:
In einem BVG-Bus in Schöneberg wird eine 14-jährige Schülerin Opfer einer Attacke auf Grund eines Davidsterns an einer Halskette. Die vier vermutlich türkischen oder kurdischen Täterinnen beschimpfen das Mädchen und schlagen es. An der nächsten Haltestelle können sie flüchten. (BMP 01.07.03) 1. Juli 2003: Zu diesem Datum muss das koschere Lebensmittel- und Delikatessengeschäft im Reinickendorfer Ortsteil Tegel schließen, das im Mai 2002 als ,Israel-Deli‘ eröffnet wurde. Die lokalen Zeitungen berichteten mehrmals von eingeworfenen Schaufenstern (vgl. 09.12.02) und davon, dass die Autoreifen des Betreibers zerstochen wurden. Zunächst kamen Angehörige der Neonazi-Szene aus dem Berliner Umland und beschimpften den Besitzer mit ,Judensau‘ und ähnlichen Ausdrücken. Dann fanden sich auch arabisch sprechende Jugendliche ein, die den Gästen immer wieder in das Essen spuckten, so dass niemand mehr dort essen wollte. Von Lebensmittelverkäufen allein kann sich der Laden nicht tragen. Auch die Israel-Fahne wurde abgebrochen. Versuche des Geschäftsinhabers, mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen, schlugen fehl. Polizeiliche Sicherungs- und Bewachungsmaßnahmen hatte der Inhaber abgelehnt. (www.berlin-judentum.de 07.08.03; nach A.-Antonio-Stiftung) Juli 2003: Ein Mieter hatte im Frühjahr zu Beginn des Irak-Krieges in Prenzlauer Berg eine Israel-Fahne am Fenster seiner Wohnung befestigt. Wenige Monate später fordert ihn die Hausverwaltung auf, die Fahne zu entfernen, Einige Mieter hätten sich über diese Art der politischen Meinungsäußerung beschwert. Um einer fristlosen Kündigung zuvorzukommen, kündigt er von sich aus an diesem Tag den Mietvertrag zum Ende des Monats August 2003. (TAZ, 15.07.03) 9. Juli 2003: Unbekannte bewerfen erneut das jüdische Mahnmal Levetzowstraße in Tiergarten mit kleinen Pflastersteinen. (BMP 10.07.03) 14. Juli Am Jugendklub Audio in Treptow, Ortsteil Johannisthal, werden Hakenkreuze, 2003: antisemitische Sprüche und Drohungen gegen den dortigen Sozialarbeiter gesprüht. (A.-Antonio-Stiftung; s. auch Antifa Treptow) 13. Septem- Vor der Gedächtniskirche in Charlottenburg halten ca. 15 Personen mit Irakber 2003: und Palästinafahnen und einem großen Transparent mit der Aufschrift, Zionismus ist Faschismus‘ eine Kundgebung ab. Sie richtet sich gegen Israel sowie die amerikanische Besatzung im Irak. (de.indymedia.org, 13.09.03) Vier 14-15jährige Jugendliche randalieren am Jüdischen Museum in der Zweite September- Lindenstraße in Kreuzberg und dringen über die Mauer in den Garten ein. hälfte 2003: (BZ 22.09.03) 23. Septem- Die ,Stolpersteine‘ für das jüdische Ehepaar Aron und Elsbeth Dobkowsky ber 2003: werden aus dem Straßenpflaster vor deren ehemaliger Adresse an der Kreuzberger Coubièrestraße 16 gerissen. Die Steine waren erst am Tag zuvor aus Anlass des Besuchs der heute 80jährigen Tochter der Ermordeten gesetzt worden, die hierfür aus Israel angereist war. (BMP 24.09.03) 27. Septem- Das Denkmal in der Rosenstraße in Mitte wird mit tiefen Kratzspuren geber 2003: schändet. Es ist der 1. Tag von Rosch haSchana, des jüdische Neujahrsfest. Drei Tage später werden erneut Kratzspuren an Gesichtern einiger Figuren entdeckt. (haGalil, 27.09.03 und 30.9.03) Ende Auf dem jüdischen Friedhof in der Großen Hamburger Straße in Mitte weist September der Gedenkstein für Moses Mendelssohn zum wiederholten Male Spuren von 2003: Schändungen auf. Von dem Grabstein sind zwei Stücke herausgeschlagen.(haGalil, 28.09.03) 27./28. Sep- Im Bayrischen Viertel in Schöneberg wird ein Schaukasten des dezentrales tember 2003: Denkmals ,Orte des Erinnerns‘, welches an die Ausgrenzung, Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung des Viertels erinnert, in dieser Nacht zertrümmert. (haGalil, 28.09.03)
354 | TEIL III: JÜDISCHE EXISTENZ IN BERLIN UND IHRE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN 2./3. Oktober Eine Gedenktafel in Neukölln für Heinrich Stahl, bis 1942 Vorsitzender der 2003: Jüdischen Gemeinde zu Berlin und anschließend im KZ Theresienstadt umgebracht, wird in dieser Nacht geschändet. Unbekannte Täter verhängen die Erinnerungstafel an der Hauswand und beschmieren die Wand mit zwei etwa 50 Zentimeter hohen Haken-kreuzen. Die Täter bleiben unerkannt. Der Staatsschutz übernimmt die Ermittlungen. (TAZ 04.10.03) 14./15. Ok- In dieser Nacht wurden auf der Berliner Seite in Kladow wie auf der Brandentober 2003: burger Seite des Glienicker Sees 50 Flugblätter sichergestellt, auf denen Juden als Bonzen und Schacherer diffamiert sowie ihnen Giftanschläge auf Bäume unterstellt wurden. Dem zuständigen Amtsdirektor Moritzen sind keine jüdischen Alteigentümer bekannt, er spricht von antisemitischen Unterstellungen. Von den Tätern der Giftanschläge wie auch von den Urhebern der Hetzschreiben fehlt jede Spur. (BZ 16.10.03; JA 23.10.03) Ein jüdischer Gedenkstein in der Mollstraße in Mitte wird mit roter Farbe beAnfang schmiert. Die Täter bleiben unerkannt. Der Stein erinnert an ein Pogrom im November Jahre 1510, bei welchem 38 Juden ums Leben kamen. (TAZ 06.11.03) 2003: Das Jüdische Mahnmal an der Putlitzbrücke in Tiergarten wird zum wiederAnfang holten Male geschändet. Unbekannte hatten es beschmiert und versucht, ein November Hakenkreuz einzuritzen. (ND 06.11.03) 2003: Das jüdische Mahnmal an der Putlitzbrücke in Tiergarten wird erneut geschänMitte det. An mehreren Kränzen, die zum Gedenken an die Pogromnacht 1938 nieNovember dergelegt worden waren, wurden von Polizeibeamten am 18. November Schä2003: den entdeckt. (BMP, 19.11.03) Tagesspiegel-Mitarbeiter entdecken am 19. November Hetzsprüche und antiMitte jüdische Parolen in unmittelbarer Nähe des im Bau befindlichen HolocaustNovember mahnmals an der Ebertstraße in Mitte an zwei Stromkästen und einem Bau2003: schild direkt neben dem Denkmalgelände. Die Schrift zeigt in allen drei Fällen in Richtung des Tiergartens und ist deshalb von Passanten in der neu angelegten Allee gut zu sehen. Im Einzelnen steht dort: „BRD Jüdische Gesinnungsdiktatur“, an einem Bauschild „Journalisten Hilfsjuden“ und „Radio TV Judenfunk“. Die zehn Zentimeter hohen Buchstaben sind mit Filzstift in rot und schwarz geschrieben. Wegen des Schutzanstriches gegen befürchtete Schmierereien am Mahnmal selbst hatte es in den vergangenen Wochen heftigen Streit gegeben. Die Produktion der Betonstelen des Denkmals für die ermordeten Juden war zwischenzeitlich gestoppt worden, da es innerhalb des Stiftungskuratoriums Auseinandersetzungen um den Einsatz eines Anti-Graffiti-Mittels der Firma Degussa gab. Kuratoriumsmitglied Alexander Brenner, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Berlin, hatte sich bis zuletzt dafür eingesetzt, Degussa vom Bau auszuschließen. Die Degesch, eine Tochter der Firma Degussa, hatte in der NS-Zeit das Gift Zyklon B vertrieben, mit dem Millionen Juden in Konzentrationslagern ermordet wurden. (BTS 20.11.03; nach A.-Antonio-Stiftung) 22. Novem- Jährlich demonstrieren in Berlin am letzten Samstag des Ramadan, dem so geber 2003: nannten ,Al Quds Tag‘ (Jerusalem-Tag), rund Tausend Islamisten aus ganz Deutschland sowie Anhänger der militanten Hisbollah und fordern die „Zerschlagung und Vernichtung des zionistischen Staates“. Erstmals protestieren Privatleute, darunter Politiker, Künstler und Professoren, gegen die Demonstration. Die Berliner Polizei allerdings sieht keine Handhabe, die Demonstration zu verbieten, schließlich seien „keine schweren Straftaten“ zu erwarten. So protestieren 1000 Muslime aus verschiedenen Teilen Deutschlands in Charlotten-burg für die „Befreiung Palästinas und Jerusalems“. Die gegen die israelische „Besatzungspolitik“ gerichtete Demonstration verläuft trotz der strengen Auflagen nicht ohne Zwischenfälle. Zu Beginn des Aufmarsches wird ein De-
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27. November 2003:
Mitte Dezember 2003:
monstrant festgenommen, weil er ein Schild bei sich trägt mit der Aufschrift „Juden sind Mörder“. Weitere 30 bis 40 Schilder werden beschlagnahmt. Demonstranten geben in Befragungen antisemitische Parolen von sich wie „Tod allen Juden“ und sprechen vom zionistischen Komplott gegen die islamische Welt. (FR 24.11.03; TAZ 24.11.03; nach A.-Antonio-Stiftung) Aus einer Gruppe von rund 20 Jugendlichen pöbeln in Kreuzberg drei nichtdeutsche Jugendliche einen 24-Jährigen Mann an, der eine jüdische Kippa trägt und beleidigen ihn. Dem Mann gelingt es, sich in eine Erste-Hilfe-Station zu flüchten. Vor dem Eintreffen von dort aus alarmierten Polizeibeamten löst sich die jugendliche Gruppe auf. (epd 27.11.03) Ein letztes Mal in diesem Jahr wird das jüdische Mahnmal an der Putlitzbrücke in Tiergarten geschändet (insgesamt vier Mal). Diesmal werfen unbekannte Täter aus einem vorbeifahrenden Fahrzeug zwei graue und beigefarbene Farbbeutel gegen das Mahnmal. Ein unbekannt bleibender Passant hatte die Polizei davon in Kenntnis gesetzt. (BMP 17.12.03)
Tabelle 1
Diese unvollständige Liste antisemitischer Übergriffe in Berlin lässt deutlich die permanente Gefahr, die von Gewalttätern für die in der Metropole lebenden Juden sowie die hier angesiedelten jüdischen Einrichtungen und Gedenkorte ausgeht, erkennen. Gemessen an der Fülle anschlagrelevanter Objekte, der hohen symbolischen Wirkung von antisemitischen Übergriffen sowie dem überdurchschnittlichen medialen Nachhall auf judenfeindliche Vorfälle in der deutschen Hauptstadt ist der Anteil dieser Handlungen in Berlin gegenüber dem übrigen Deutschland dennoch keineswegs übermäßig ausgeprägt. Schließlich fanden antisemitisch motivierte Übergriffe gegen Juden und jüdische Einrichtungen in den letzten Jahren hierzulande an unzähligen Orten sowie nahezu wöchentlich statt, darunter einige sehr schwerwiegende.311 Schon ein flüchtiger Blick auf einen Stadtplan des jüdischen Berlin zeigt bereits eine spezifische räumliche Verteilung als jüdisch geltender Orte: Diese massieren sich im Berliner Innenstadtbereich, wie er großzügig mit dem inneren S-Bahnring markiert werden kann. Hier befindet sich das Gros der sichtbaren Zeugnisse heutigen oder vergangenen jüdischen Lebens in der Metropole, aber auch die meisten Manifestationen und Gedenkorte seiner Auslöschung während der NS-Zeit.312 Es ist daher kaum überraschend, dass sich auch die etwa 50 zuvor einzeln aufgelisteten schwerwiegenderen antisemitischen Ereignisse der letzten 311 Erinnert sei nur an die oben in Kap. III.4.1.2. in der Anm. 296 auf S. 343 erwähnten Synagogenschändungen. 312 Das Gesagte lässt sich an dem von Hermann Simon herausgebrachten Stadtplan „Jüdische Stätten in Berlin“, Berlin 2001, ersehen: Während auf der einen Seite der Karte ein Plan des historischen Zentrums von Berlin mit einzeln gemalten Häusern wiedergegeben ist, entspricht der größere Berlin-Ausschnitt auf der Rückseite etwa dem o. g., die Innenstadt in etwa begrenzenden S-Bahnring. Auf die wenigen außerhalb davon gelegenen Orte wie den Friedhof Weißensee wird mit einer kleinen Zusatzkarte oder wie im Fall des Hauses der WannseeKonferenz mit Pfeilen verwiesen (10 von 91 mit Texten erklärten Punkten dieser Ausschnittskarte).
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Jahre in Berlin entsprechend dieser innenstadtzentrierten Gelegenheitsstruktur verteilen: So wurde eine Mehrheit der o. g. Übergriffe innerhalb des Berliner Innenstadtbereichs verübt. Interpretatorisch kann dieser Befund nur als ein vorläufiges Zwischenergebnis gelten. Denn bei genauerer Betrachtung erscheint die Bedrohung durch antisemitische Gewalttaten für jüdische Einrichtungen außerhalb des Berliner Innenstadtbereichs ungleich größer. Denn gemessen daran, dass es dort, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum Manifestationen jüdischer Existenz, zumal gegenwärtiger, gibt, sind Intensität und Zahl der judenfeindlicher Übergriffe ausgesprochen hoch, wie mit vier Beispielen belegt werden soll: • Der schwerste antisemitische Übergriff der letzten Jahre in Berlin erfolgte im Dezember 2002 auf eine jüdische Einrichtung, weit von der Berliner Innenstadt entfernt im Norden von Berlin im ehemaligen West-Stadtteil Tegel, auf ein neu eingerichtetes jüdisches Lebensmittelgeschäft (,Israel Deli‘). • Und auch die gewalttätigste Schändung eines jüdischen Friedhofs der Hauptstadt in den letzten Jahren, die Sprengung des Grabes von H. Galinski auf dem Charlottenburger Friedhof Heerstraße im Oktober und Dezember 1998, ereignete sich außerhalb der Berliner Innenstadt. • Kein jüdischer Ort in Berlin wurde in jüngster Zeit häufiger geschändet als der bereits zu DDR-Zeiten mehrfach geschändete Friedhof Weißensee. • Ebenso markieren die Auseinandersetzungen um die Umbenennung der Spandauer Kinkel- in Jüdenstraße im November 2002 einen traurigen Höhepunkt der antisemitisch motivierten Widerstände um Straßenumbenennungen in Berlin in den letzten Jahren. Die Beispiele belegen das recht eindeutiges Bild: Als jüdisch kenntliche Orte außerhalb der Berliner Innenstadt werden, gemessen an ihrer dort nur vereinzelten Existenz, weitaus häufigeren und brutaleren antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt als im Zentrum der Metropole, wo nur auf Grund der höheren Dichte jüdischer Einrichtungen die Zahl der Übergriffe höher liegt. Die Sicherheit jüdischer Einrichtungen erscheint im Innenstadtbereich weitaus höher. Ohne dem hier detaillierter nachgehen zu können, seien nur einige m. E. plausible Faktoren genannt: eine stärkere soziale Kontrolle durch die höhere Bevölkerungsdichte, geringere jüdische Vereinzelung, höhere Polizeipräsenz sowie eine größeren Massierung jüdischer Sicherheitskräfte. Antisemitische Übergriffe gegen Personen: Alle Befunde der o. g. Auflistung lassen vermuten, dass sich auch auf personeller Ebene das Risiko, im öffentlichen Stadtraum Opfer antisemitischer Gewalttaten zu werden, zwischen Innenstadtund Randbezirken von Berlin ähnlich wie im Fall der Sachbeschädigungen reziprok zu der Anzahl an tatsächlichen Übergriffen verteilt: Auch hier sprechen die Indizien dafür, dass sich ein Gefälle zwischen den o. g. tätlichen Angriffen im Citybereich der Metropole auf Juden, die als solche durch Frisur, Kleidung oder das Tragen bestimmter Symbole am Halsband zu erkennen sind, gegenüber deren Ausbleiben in den Außenbezirken auf Grund der unterschiedlichen, ebenfalls
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innenstadtzentrierten Gelegenheitsstruktur abzeichnet. So wohnt ein Großteil der Berliner Juden in den westlichen Innenstadtbezirken.313 Außerdem befinden sich nahezu alle regelmäßig und häufig täglich genutzten Synagogen, Betkreise und religiösen Lehrhäuser314 sowie sozialen und kulturellen Gemeindeeinrichtungen im Berliner Innenstadtbereich. Außerhalb der Berliner Innenstadt sind demgegenüber lebende Juden wie zuvor für den Bereich jüdischer bzw. jüdisch besetzter Kulturäußerungen festgestellt, tatsächlich kaum präsent. Auch fehlt im Außenbereich, zumal in den östlich gelegenen, weitgehend der multikulturelle Charakter der metropolitanen Innenstadtbezirke. Täterkreise: Dabei stellt sich natürlich die Frage, wer die antisemitischen Gewalttäter im Einzelnen sind. Allerdings ist diese Frage angesichts der Bandbreite und Abstufungen an antisemitischen Übergriffen zwischen Mahnmalsbeschmierungen und tätlichen Angriffen und der hohen Dunkelziffer der meist anonym verübten judenfeindlichen Handlungen kaum befriedigend zu beantworten. Auf deutscher Seite werden diese aller Wahrscheinlichkeit nach in der Mehrheit der Fälle von Einzeltätern verübt, jedoch gibt es vor allem in den östlichen Randbezirken Berlins wie auch außerhalb der Metropole im Brandenburgischen Umland eine organisierte und gewaltbereite rechtsextreme jugendliche Subkultur, aus der heraus insbesondere Grabschändungen vermutet werden können. Außerdem gilt es hier noch, auf einen erst in den letzten Jahren stärker wahrzunehmenden radikalen Antiisraelismus bzw. Antizionismus näher einzugehen, der gerade im internationalen und multikulturellen Berlin nicht minder existent ist wie in anderen westlichen Metropolen auch. Getragen wird er von bestimmten islamistisch geprägten sowie nationalistischen arabischen bzw. palästinensischen Einzelpersonen und Gruppen. Von diesen Kreisen wird Israel per se ein Existenzrecht abgesprochen und häufig werden Juden mit negativen Kollektivzuschreibungen herabgewürdigt. Seit dem Beginn der zweiten Intifada Ende September 2000, den Flugzeug-Attentaten in New York und Washington am 11. September 2001 sowie den Bahnattentaten am 11. März 2004 in Madrid hat sich die Bedrohung für Juden durch antiisraelische Gewalttäter auch in Berlin wie nahezu überall in den westlichen Metropolen spürbar verschärft.315 Aktuell wird in Berlin von etwa 3000 Islamisten ausgegangen, von denen sich etwa 200 in bekannten gewaltbereiten Gruppierungen organisiert haben – und damit also nur einen winzigen Bruchteil der in die Hunderttausende gehenden muslimischen und arabischen Bevölkerung der Hauptstadt ausmachen. Diese Bevölkerungs313 Vgl. die Grafiken 3 und 4 im Anhang auf S. 579 zur Verteilung der jüdischen Wohnbevölkerung auf die Berliner Bezirke. 314 Eine Ausnahme stellt die im gutbürgerlichen Villenviertel Zehlendorf gelegene Synagoge Hüttenweg dar; vgl. im Berliner Einführungs-Kap. II.2.2.3., S. 145 f. 315 Aber auch die nichtjüdische Bevölkerung außerhalb der USA ist in westlichen Metropolen wie Berlin mögliches Opfer von mit terroristischen Mitteln kämpfenden Gewalttätern aus diesen Spektren wie zuletzt die verübten sowie vereitelten Bombenattentate auf U-Bahnen und Busse im Juli 2005 in London zeigten.
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gruppen sind mehrheitlich in den zentralen Stadtteilen Kreuzberg, Neukölln und Wedding wohnhaft, wo sich daher auch die meisten Moscheen der Stadt befinden.316 Wie die letzten Jahre zeigen, geht bei körperlichen Attacken auf in Berlin wie auch im übrigen Deutschland lebende Juden von dieser antiisraelisch motivierten Spielarten des Antisemitismus mittlerweile die größte Gefahr aus.317 In die Öffentlichkeit getragen wird in Berlin der extremistische antizionistische Antisemitismus insbesondere auf gegen Israel gerichteten Demonstrationen, für die bspw. am letzten Samstag des Ramadan, dem sog. ,Al Quds Tag‘ (Jerusalem-Tag) regelmäßig hunderte bis tausende Islamisten aus ganz Deutschland ins Zentrum Berlins mobilisiert werden.318 Auf diesen Veranstaltungen bekunden Teilnehmer öffentlich ihre Ablehnung des Existenzrechts des Staates Israels. Einige äußern ihren Judenhass, indem sie etwa Israelflaggen verbrennen, durch in den Umrissen des israelischen Staatsgebietes geformte Löcher in PalästinaFahnen oder im Zur-Schau-Tragen von Sprengstoffgürteln. Allerdings gilt in Berlin auftretender antiisraelisch motivierter Judenhass als allgemein noch wenig erforscht. Wie weit er etwa unter den wohl mehreren zehntausend muslimischen und/oder arabischen Jugendlichen der Metropole319 verbreitet ist, lässt sich auf dem momentanen Forschungsstand nicht sagen. Zwar existieren erste von ihren Ergebnissen her besorgniserregende Studien, jedoch können diese keine Repräsentativität beanspruchen.320 Andererseits verhält sich die überwiegende Anzahl der muslimischen Bevölkerung in Berlin nicht antisemitisch, wie sich an der im Berliner ,Türken‘-Bezirk Kreuzberg gelegenen Gemeindesynagoge Fraenkelufer deutlich zeigen lässt. Zwar wurde das Bethaus in den letzten Jahren mehrfach Ziel antisemitischer Übergriffe (s. o.). Trotzdem betont der Vorsitzende der Be-
316 Die Angaben dieses Absatzes stammen vom Berliner Innensenator Eberhart Körting aus einem „Radiobeitrag“ über die allgemeine Gefährdung durch Islamismus in der Hauptstadt im Deutschlandradio Berlin vom 27.07.05. 317 Vgl. hierzu oben in der tabellarischen Auflistung die ausgesprochen oder vermuteten arabisch bzw. islamistisch motivierten Übergriffe der letzten Jahre in Berlin. 318 Vgl. hierzu in der oben angeführten tabellarischen Auflistung auf S. 356 f. die antiisraelische Demonstration am 22.11.2003. 319 Genauere Angaben über die quantitative Größenordnung der entsprechenden Zuwanderungsgruppen in Berlin, die hierbei von Interesse sind, sind aktuell nicht möglich, da die Staatszugehörigkeit in einigen Fällen genauere Zuordnungen nicht zulässt (z. B. ehemalige SU, ehemaliges Jugoslawien, Israel, Palästina usw.). 320 Im Frühsommer 2005 präsentierten Studierende der Alice-Salomon-Fachhoschule Berlin eine nichtrepräsentative Untersuchung über Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen. Hierfür wurden von ihnen 100, meist palästinensische und türkische Jugendliche im Bezirk Kreuzberg-Friedrichshain befragt. Die Projektleiter resümierten: „Für die Mehrheit der von den Studierenden befragten Jugendlichen stellt ,Jude‘ ein Schimpfwort dar.“ Zit. nach Ayala Goldmann: „,Hitler gefällt mir.‘“, in: JA 07.07.05.
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tergemeinschaft dieser Synagoge Benno Bleiberg, dass es in ihrem räumlichen Umfeld bisher keinerlei Übergriffe auf Gemeindemitglieder gab.321 Allerdings beschränken sich an die Öffentlichkeit gelangende antisemitische Bekundungen in Berlin nicht allein auf Gewalttäter. Aus der o. g. Auflistung geht hervor, dass mitunter auch gutbürgerliche Kreise judenfeindliches Verhalten öffentlich zeigen, bspw. die teilweise massiven Widerstände von Anwohnern und bürgerlichen Politikern auf Bezirks- und Stadtteilebene gegen die Bestrebungen zur Straßenumbenennung von antisemitischen zu jüdischen Namensgebern. So war es, um nur ein besonders eklatantes Beispiel anzuführen, auf Grund von Bürgerprotesten und entsprechenden Bezirksparlamentmehrheiten über Jahre hinweg (1996 bis 2003) in dem gutbürgerlichen Stadtteil Grunewald nicht möglich, dem hier geborenen weltberühmten Kulturphilosophen Walter Benjamin mit einer Straßenumbenennung ein würdiges Andenken zu geben.322 Erst seit 2003 heißt die umstrittene Straße nach der jüdischen Pädagogin Toni Lessler sowie ein kleiner neubenannter (!) Platz in Charlottenburg erinnert an den Philosophen. Die ganze Bandbreite eines abgestuften Antisemitismus wurde jedoch anlässlich der Rückbenennung der zur NS-Zeit in Kinkelstraße umbenannten Jüdenstraße in der Altstadt von Berlin-Spandau erkennbar: Während sich Anwohner mit einer Bürgeraktion und in der Lokalpresse massiv gegen die Namensänderung zur Wehr setzten, wurde nach der politischen Entscheidung für die Umbenennung während deren offiziellem Vollzug am 1. November 2002 der damalige JGB-Vorsitzende A. Brenner beschimpft. Er musste daraufhin seine Rede abbrechen. Und auch noch über ein Jahr später wurde die Worthälfte ,Jüden‘ der neuen Straßenschilder anonym mit Farbe überschmiert und unleserlich gemacht.323 Dabei gilt es, auch das kaum in den Medien präsente latente Umfeld antisemitischer Taten in den Blick zu nehmen. Denn wie das Beispiel Jüdenstraße in der beschaulichen Altstadt von Berlin-Spandau beweist, ist es ist nicht immer nur die anonyme Großstadt, die judenfeindliche Übergriffe begünstigt. Dort aber, wo Juden- und andere Fremdenfeindlichkeit mit einer gleichgültigen, womöglich wegschauenden Haltung zusammenkommen, können entsprechend motivierte Gewalttäter ungehindert auch in der Öffentlichkeit agieren. Beispiele von entsprechenden Übergriffen in gut frequentierten U-Bahnen und U-Bahnhöfen auf 321 Im Zusammenhang mit der o. g. Studie zu muslimischen Antisemitismus in Kreuzberg, äußert Bleiberg: „,Die Realität in Kreuzberg ist eine andere.‘ [...] so dass wir sagen können, wir fühlen uns nach wie vor hier sicher.“ Zit. nach ebd. 322 Festgehalten wurde an dem Straßennamen Seebergsteig, der 1936 für einen antisemitischen Theologen und Wegbereiter des NS vergeben wurde. – Benjamin hatte sich, aus Deutschland verjagt, auf der Flucht vor den NS-Schergen im spanischen Portbou 1940 das Leben genommen, wo der bedeutende israelische Künstler Dani Karavan wiederum zwischen 1990 und 1994 eine den Friedhof und die Felsenküste einbeziehende Gedenkstätte schuf. An den Kosten hierfür beteiligten sich damals u. a. auch der deutsche Staat und die Bundesländer. 323 Vgl. hierzu Tom Schimmeck: „Volkszorn in der Jüdenstraße“, in: ZEIT 14.11.02 sowie Elke Wittich: „,Wir wollen unsere Ruhe haben‘“, in: JA 13.01.05
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als Ausländer angegriffene Fahrgäste in Berlin können dies immer wieder aufs Neue belegen. Zu den bisherigen Hinweisen auf eine weit verbreitete antisemitische Haltung passt, was der Berliner Politologe H. Funke vor Jahren auf die örtliche High Society bezogen feststellte: „Neben der Empathie gegenüber den Überlebenden des Holocaust und ihrer Nachkommen existiert denn auch nicht allzu selten ein anderer Geist in den gehobenen Kreisen der Hauptstadt: ,der Jude – oder der Karajan-Nachfolger‘, ,Juden erpressen doch...‘, ,sie machen sich breit...‘. Man sagt so etwas hinter vorgehaltener Hand“.324 Insgesamt lässt sich als Ergebnis der Analyse der aufgelisteten Übergriffe als örtliche Bedingungen von Antisemitismus in Berlin dreierlei bilanzieren: • Mehr oder minder ausgeprägte Formen von Antisemitismus bestehen in ganz unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Diese reichen von insbesondere durch lokalpolitische Ereignisse evozierte antisemitische Äußerungen in Teilen der Normalbevölkerung bis zu schlimmsten Gewaltexzessen gegen Sachen und Personen. • In der Metropole existiert eine zeitliche und räumliche uneingeschränkte Gefährdung von Juden durch manifeste antisemitische Übergriffe, vor allem in den Fällen, in denen sie sich durch entsprechende Haartracht, Kleidung oder Schmuckembleme in der Öffentlichkeit als solche kenntlichen zeigen oder aber eine gewisse Prominenz besitzen. Das gleiche gilt für jüdische sowie als jüdisch konnotierte Einrichtungen und Gedenkorte. • Die objektive Gelegenheitsstruktur lässt absolut mehr Übergriffe im Berliner Innenstadtbereich, jedoch relativ zu der zahl gefährdeter Orte eine größere Zahl im Peripheriebereich der Metropole erkennen. Andererseits ist es nicht minder bedeutsam, jenseits der o. g. Auflistung antisemitischer Übergriffe in Berlin zu konstatieren, dass in der Stadt nicht nur relativ günstige historische, politische und demographische Bedingungen für antisemitische Übergriffe existieren, sondern als Kontrast hierzu auch eine ausgesprochene Internationalität und kulturelle Vielfalt besteht.325 Jedenfalls gilt dies für den kosmopolitisch geprägten und metropolitanen Innenstadtbereich. So sind neben der größten jüdischen Gemeinschaft und Gemeinde Deutschlands in den zentralen Stadtbezirken viele weitere nach Herkunft, Religionsgemeinschaft und sexueller Orientierung unterschiedene Minderheiten wohnhaft und auch im Stadtbild präsent. Diese Bedingungen erscheinen insofern für die örtliche jüdische Existenz förderlich, da gelebte Toleranz gegenüber und von Minderheiten hier zur alltäglichen Erfahrung von vergleichsweise vielen Menschen gehörten. Als Antisemiten und/oder Rassisten auftretende deutschstämmige Gewalttäter können hier nicht in der Offenheit agieren wie in kulturell homogeneren Gegenden Ostund z. T. auch Westdeutschlands. 324 Funke, Hajo, in: ZITTY Nr. 23. (02.-15.11.00) 325 Wie in mehreren Erhebungsgesprächen als Motiv der Wahl, in der Stadt zu leben, explizit benannt wurde. – Vgl. hierzu das Berlinspezifika-Kap. III.2.1.
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Außerdem sind in den Innenstadtbezirken der Metropole auch eine große Zahl an politischen sowie kulturellen Organisationen und Einrichtungen ansässig und aktiv, die sich die Verständigung zwischen verschiedenen Kulturen, Religionen und Völkern auf ihre Fahnen geschrieben haben. Aber auch kulturübergreifende Straßenfeste sowie Hunderttausende mobilisierende kulturelle Großereignisse wie der homosexuelle Christopher-Street-Day-Umzug und der Karneval der Kulturen, ,verkörpern‘ eine in diesem Ausmaß kaum andernorts in Deutschland anzutreffende Multikulturalität und Internationalität der Metropole. (2) Sicherheitsmaßnahmen von Gemeindeseite gegenüber den antisemitischen Gefährdungen Größere jüdische Einrichtungen in Berlin, insbesondere der Jüdischen Gemeinde sowie die israelische Botschaft unterliegen einem verstärkten Schutz durch die Polizei. Außerdem ,genießen‘ jüdische Repräsentanten ähnlich wie Spitzenpolitiker einen besonderen Personenschutz. Auch wenn die Garantie der Unversehrtheit der Bürger eine der zentralen staatlichen Aufgaben ist, können Polizei und Rechtssystem trotzdem nicht im vollen Umfang die Sicherheit der jüdischen Einrichtungen in der deutschen Hauptstadt und andernorts in Deutschland gewährleisten.326 Die Berliner Gemeinde und der Staat Israel sehen sich über die polizeilichen Sicherheitsmaßnahmen hinaus veranlasst, auf die gerade in Berlin besonders greifbare und permanente Bedrohung durch antisemitische Gewalttaten mit eigenen weitreichenden Sicherheitsmaßnahmen zu reagieren. Die JGB besitzt eine eigene Sicherheitsabteilung, die für den Schutz aller wichtigen Gemeindeeinrichtungen wie die Synagogen, das Gemeindehaus aber auch Schulen und Sozialeinrichtungen zuständig ist. Dies gilt auch für in diesen Gebäudekomplex integrierte andere anschlagsrelevante Einrichtungen wie das Centrum Judaicum (im Folgenden C. J.), die Verwaltung des Sportvereins Makkabi, jüdische Logen oder in diesen Gemeinderäumen angesiedelte Gewerbe- und Kultureinrichtungen. Passive Sicherung wird mit Kameraüberwachung und wo es vom Baulichen erforderlich und möglich ist, mit Sicherheitszäunen hergestellt. Die Eingangsbereiche von Gemeindeeinrichtungen mit regelmäßigem Publikumsverkehr unterliegen einem erhöhten Sicherheitsstandard: Einerseits patrouillieren vor diesen Gebäuden rund um die Uhr Polizeistreifen, die bei besonderen Anlässen wie etwa bestimmten Staatsbesuchen und Demonstrationen in der Hauptstadt, mit Mannschaftswagen bis hin zu gepanzerten Fahrzeugen verstärkt werden. Auch im Falle ernsterer antisemitischer Gewaltdelikte, wie insbesondere im Innenstadtbereich Berlins verübten Grab- und Denkmalsschändungen und rechtsextremen Demonstrationen, wird dieses martialisch wirkende Polizeiaufgebot vor den exponierten jüdischen Einrichtungen zusammengezogen, wie ich 326 Diese Sicherheitslücke könnte aller Voraussicht nach in Zukunft noch zunehmen, wenn die Polizei, wie gegenwärtig in Zeiten knapper öffentlicher Kassen diskutiert und z. T. bereits praktiziert, sich deutschlandweit aus durch private Dienste verrichtbaren Aufgaben wie etwa dem Gebäudeschutz zurückzieht.
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beobachten konnte.327 Zum anderen existieren in den gebäudeinternen Eingangsbereichen gemeindeeigene Kontrollpunkte, an denen neben der obligatorischen Kameraüberwachung unbekannte Besucher abgetastet werden und durch mit Metalldetektoren ausgestattete Sicherheitsschleusen hindurchlaufen müssen. Die Sicherheitsmaßnahmen wurden in den letzten Jahren immer weiter ,aufgerüstet‘. Dies gilt vor allem für die Zeit nach dem 11. September 2001, dem Tag der Flugzeugattentate in New York und Washington. Bemerkbar werden diese erhöhten Sicherheitsanstrengungen durch eine Zunahme und Verschärfung der Kontrollen in den Eingangsbereichen wie auch an immer höheren und massiveren Sicherheitszäunen, hinter denen Einrichtungen wie etwa die Jüdische Oberschule regelrecht ‘verschwinden‘. In der Oranienburger Straße vor der Neuen Synagoge und den sich beidseitig anschließenden Gebäudekomplexen kommen in den letzten Jahren außerdem Absperrgitter und Betonpoller auf dem Gehsteig hinzu, die Terroranschläge mit Autobomben verhindern sollen. Davon konnte ich mir bei den Besuchen im Untersuchungsfeld immer wieder ein eindrückliches Bild machen, teilweise wie im Fall der Sicheheitssschleusen in den Eingangsbereichen wichtiger jüdischer Einrichtungen auch am eigenen Leib erleben. Selbstverständlich kann diese missliche Situation, sich mit immer aufwendigeren Sicherheitsmaßnahmen vor antisemitischen Anschlägen schützen zu müssen, nicht ohne Auswirkungen auf das jüdische Leben der Stadt und dessen Wachstum, wie es insbesondere im Revitalisierungs-Kap. III.3.1.2. dargestellt und erörtert wurde, bleiben. Die Einschränkungen werden jüdischerseits als besonders schmerzlich empfunden. Dass die Sicherheitsaktivitäten mitunter das Maß des Erträglichen überschreiten, zeigt sich in den seltenen Fällen, in denen jüdischerseits öffentlich Kritik an bestimmten Verschärfungen der bestehenden Sicherheitsmaßnahmen geäußert wird. So kritisierte im Jahr 2003 der langjährige Leiter des Centrum Judaicum, dass Besucher der im östlichen Zentrum Berlins gelegenen Forschungseinrichtung sowie der benachbarten Neuen Synagoge durch das martialische Aufgebot an Betonhindernissen und Absperrungen auf dem Gehsteig, von dem Besuch der Einrichtungen, wenn auch nicht beabsichtigt, abgeschreckt würden.328 An diesem Beispiel lässt sich ein kaum aufzuhebendes Dilemma der Sicherheitsmaßnahmen aufzeigen: Auf Grund der insbesondere in Berlin verschärften Sicherheitslage wird der Zutritt zu jüdischen Einrichtungen für jüdische wie nichtjüdische Besucher als potentielles Sicherheitsrisiko immer mehr erschwert, wobei sie ja auf deren Besuch gerade angewiesen sind. Augenfällig wird dies etwa im Fall der gemeindeeigenen Schulangebote, deren Attraktivität für jüdische wie nichtjüdische damit eklatant sinkt. 327 Wie weit diese absehbaren Reflexe antisemitische Gewalttäter tatsächlich von ihren Taten abhalten, bleibt dahingestellt. 328 Aus Eigenerfahrungen mit der ,Sicherheit‘ in jüdischen Einrichtungen Berlin ist mir klar geworden, wie sehr die allgegenwärtigen Sicherheits-Checks in Gemeindegebäuden die Normalität jüdischen Lebens in Berlin, aber auch den Zugang für interessierte Nichtjuden erschweren.
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Aber auch in finanzieller Hinsicht stellen die Maßnahmen die jüdische Gemeinde vor ein Dilemma: Denn angesichts der für die JGB in den wirtschaftlich schwierigen Zeiten und mit den vielen sozial bedürftigen Mitgliedern großen Herausforderung, auch künftig als Einrichtung auf einer stabilen finanziellen Basis zu stehen, müssen die aufwendigen Sicherheitsmaßnahmen als ein teurer Ballast ökonomisch immer negativer zu Buche schlagen. Im folgenden zweiten Teil des Untersuchungsbereichs Antisemitismus werden die Erfahrungen und Umgangsweisen der Befragten, ihres jüdischen Umfelds und der von ihnen repräsentierten Gruppenaktivitäten mit dieser Problematik dargestellt und erörtert. 4.2. Erfahrungen und Umgangsweisen mit Antisemitismus im jüdischen Berlin „Das ist für jeden Juden hier in Deutschland ziemlich schwer, damit zu leben, dass es hier noch Antisemitismus gibt.“ (P11/23) „Wir sollen uns nicht diese Frage stellen. Diese Frage sollen sich die Nichtjuden stellen.“ (P10/21) „nicht so mit erhobenem Haupt, aber mit geradem Rücken.“ (P8/48) Drei GesprächspartnerInnen zu ihren Umgangsweisen mit Antisemitismus in Berlin
Im Laufe der Befragung zu Entwicklungsmöglichkeiten jüdischen Lebens in Berlin zeichnete sich immer deutlicher ab, wie sehr diese von den Interviewten als aufs Engste mit ihren eigenen Erfahrungen bzw. denjenigen ihres unmittelbaren persönlichen Umfelds mit der sie umgebenden nichtjüdischen Gesellschaft verknüpft gesehen werden. An erster Stelle sind dabei naheliegenderweise Negativerfahrungen mit vorurteilsgeprägten Einstellungs- und Verhaltensmustern insbesondere in Form von manifestem oder latentem Antisemitismus (oder in geringerem Maße auch in Form von Philosemitismus) zu nennen. Eine zentrale Absicht der Erhebung im Themenfeld Antisemitismus bestand darin, Auskünfte darüber zu erhalten, inwiefern die sich hierzu Äußernden, ihr Umfeld sowie die von ihnen repräsentierten Gruppenaktivitäten mit den vielfältigen Formen von aktueller Judenfeindschaft in Berlin, wie sie im vorangehenden Abschnitt aufgezeigt wurden, konkret konfrontiert sind. Nicht minder von Interesse erscheint dabei die Frage, welche hierdurch hervorgerufenen spezifischen jüdischen Reaktionen und Verhaltensweisen in diesen Fällen von ihnen gewählt bzw. bei anderen wahrgenommen wurden.329
329 Dabei werden Positiverfahrungen des Umgangs zwischen Juden und Nichtjuden in der Metropole, wie sie in den Erhebungsgesprächen z. T. ebenfalls benannt werden, im vorliegenden Untersuchungsteil nicht mitbehandelt. Ihre Darstellung und Erörterung erfolgte im Kap. III.2. zu ausgesprochen berlinspezifischen Be-
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Von vorneherein muss allerdings einschränkend betont werden, dass es sich bei dem Fragenbereich Antisemitismus für die InterviewpartnerInnen – wie für Juden überhaupt – verständlicherweise um eine besonders sensible Thematik handelt. Tatsächlich zeigten sich einige von ihnen gar nicht oder nur wenig bereit, zu diesem Themenkomplex genauer Auskunft zu geben, während sich andere hierzu allerdings bereitwillig und überdies sehr persönlich äußerten. Über die Gründe derjenigen, die sich hierzu wenig oder gar nicht auskunftsbereit zeigten, können hier nur Mutmaßungen angestellt werden. Auf Grund der Gesamteinschätzung der jeweiligen vollständigen Interviews und aller weiteren in Frage kommenden Aspekte seien hier kurz drei als besonders plausibel erscheinende mögliche Motive für die mangelnde Bereitschaft, sich zu Antisemitismus zu äußern, dargestellt. Dabei scheint es mir durchaus denkbar oder sogar wahrscheinlich, dass bei einigen zwei oder alle drei genannten Motive zusammenkommen: • Biographische Betroffenheit von Antisemitismus: Nahezu alle Befragten oder ihre Familienangehörigen sind, unabhängig von ihren heutigen Erfahrungen, in der Vergangenheit mittel- oder unmittelbar biographisch von Antisemitismus betroffen gewesen. Dies gilt einerseits für diejenigen mit dem Erfahrungshintergrund der Schoah – als der schlimmsten Form von erlittenem Antisemitismus. Andererseits trifft es im Fall derjenigen zu, die dem Einwanderungsmilieu aus der ehemaligen SU entstammen, insofern sie bzw. nahe Angehörige von ihnen dort Erfahrungen mit judenfeindlichen Verhaltensweisen machen mussten. Antisemitismus ist für viele offensichtlich eine nur schwer oder gar nicht zu verarbeitende Lebenserfahrung, umso mehr, wenn sie hierzulande direkt mit antisemitischen Verhaltensweisen konfrontiert werden. • Keine Funktionalisierung als per se für Antisemitismus Zuständige: Andere Interviewte befinden sich offenbar in einer ,chronischen‘ Abwehrhaltung gegenüber regelmäßigen nichtjüdischen Bestrebungen, Juden als Experten und Mahner für bzw. gegen Antisemitismus zu funktionalisieren. Demnach entledigte sich die mehrheitlich nichtjüdische Gesellschaft ganz offensichtlich mit diesem Gebaren ein Stück weit ihrer Pflicht, aktiv gegen die ihr innewohnenden judenfeindlichen Tendenzen vorzugehen. Für die deutschlandweite Ebene äußerte sich in diesem Sinne der stellvertretende ZdJ-Vorsitzende Salomon Korn treffend auf einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung zu Antisemitismus mit dem im vorherigen Absatz bereits erwähnten Forscher Wolfgang Benz in München: „Wenn in Deutschland antisemitische Ereignisse auftreten, dann wird außer Herrn Benz in der Regel ein Mitglied des Zentralrats für einen Stellungnahme angerufen. Ich frage mich: Warum sind wir für den Antisemitismus zuständig?“330 Eine Befragte machte ihre dementspre-
dingungen jüdischen Lebens sowie teilweise in den Einzelfalluntersuchungen der Gruppenaktivitäten im vierten Teil der Studie. 330 Zit. nach M. Gümbel, in: JA 02.12.04
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chende Haltung sogar vorab bereits während der telephonischen Gesprächsverabredung unmissverständlich deutlich. Keine indirekte Weitergabe von Informationen an Antisemiten: Schließlich ist davon auszugehen, dass einige über die Publizierung ihrer Statements in der vorliegenden Studie Antisemiten keinen Einblick in ihre persönliche Betroffenheit von Judenfeindschaft geben wollen. Ähnlich dürfte es sich mit der Auskunftsbereitschaft dieser Befragten über Auswirkungen judenfeindlicher Übergriffe auf die jüdische Gemeinschaft in Berlin bzw. über deren Umgangsweisen mit dieser Bedrohung verhalten. Auch hierbei ist ein durchaus nachvollziehbares Interesse dieser Teilgruppe anzunehmen, Details dem Blick antisemitischer InteressentInnen zu entziehen.
Ausgangspunkt sind persönliche Erfahrungen und Umgangsweisen bzw. derjenigen des persönlichen jüdischen Umfelds mit latentem sowie manifestem Antisemitismus von deutscher Seite sowie antiisraelisch motivierter islamistischer und arabischer Judenfeindschaft (Kap. III.4.2.1.). In einem zweiten Durchgang geht es um die Bedrohungslagen durch Antisemitismus sowie die sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die jüdischen Gruppenaktivitäten aus dem Teil IV der Studie (Kap. III.4.2.2.). Ein letzter Durchgang widmet sich den Zukunftsperspektiven für die jüdische Community Berlins angesichts der Herausforderung durch den vielfach in der Metropole virulenten Antisemitismus (Kap. III.4.2.3.). Angesichts des explorativen Charakters der Thematik erfolgt die Analyse sehr textnah bevor in Zwischenschritten verallgemeinerbare Ergebnisse festgehalten werden.
4.2.1. Persönliche Ebene der Erfahrungen und Umgangsweisen mit Antisemitismus Entsprechend der Forschungsperspektive steht in diesem Abschnitt neben der Frage nach konkreten Ausprägungsformen unmittelbar erfahrener Judenfeindschaft in Berlin vor allem die Frage nach individuellen Verhaltensweisen und möglichen kollektiven Strategien des Umgangs hiermit auf jüdischer Seite im Mittelpunkt des Interesses. Angesichts der Unterschiede zwischen verschieden Formen von Antisemitismus und dessen Trägern wird der Themenkomplex in mehreren Durchgängen behandelt. Zunächst soll es unter (1) um Judenfeindschaft von deutscher Seite gehen. Diese wird nochmals in 1) latente und 2) manifeste Ausprägungsformen unterschieden. Daran anschließend geht es unter (2) um in Berlin virulente antiisraelisch motivierte Judenfeindschaft in islamistischen und arabischen Kreisen. Die Reihenfolge der in diesen Durchgängen aufgeführten Statements bestimmt sich durch das jeweilige in der Öffentlichkeit gezeigte Erscheinen als Juden. An erster Stelle stehen solche, die auf Grund religiös bestimmter Kleidungsstücke (Kippa) bzw. Haartracht (Bart, Schläfenlocken) oder Schmuck mit jüdischen Emblemen (insbesondere den Magen David) am ehesten als Juden erkennbar und damit am stärksten durch antisemitische Übergriffe gefährdet sind. Bei der Darstellung ihrer Äußerungen wird hierauf explizit hingewiesen. Die Übrigen sind in der Öffentlichkeit nicht als Juden kenntlich. –
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Schließlich werden in einem letzten Abschnitt die Ergebnisse der Untersuchung der in der Erhebung thematisierten persönlichen Erfahrungen mit Antisemitismus in Berlin insgesamt bilanziert (3). (1) Alter und neuer ,deutscher‘ Antisemitismus: Bedrohungen und Gegenmaßnahmen Auch wenn die Gefährdungen für in Berlin lebende Juden, direkt Opfer antiisraelischer bzw. antisemitischer Übergriffe aus dem islamischen und arabischen Spektrum zu werden, weitaus höher erscheinen, lassen sich auch vielfältige Beispiele für von deutscher Seite her den Befragten oder deren jüdischen Umfeld gegenüber gezeigte Judenfeindschaft anführen. Das Spektrum dieser von nichtjüdischen Deutschen in der Metropole an den Tag gelegter Haltungen und Verhaltensweisen erscheint in der Erhebung sehr unterschiedlich: Tatsächlich reichen die angeführten Negativbeispiele von ,klassischen‘ Vorurteilsmustern bis zu gewalttätigen Übergriffen. Auffallend ist, dass hierbei ein offensichtlich weit verbreiteter latenter Antisemitismus am häufigsten benannt wird. Nicht eindeutig nach Herkunft der antisemitischen Akteure zugeordnete Aspekte von Judenfeindschaft in Berlin (deutsch oder arabisch bzw. islamistisch) werden ebenfalls im Weiteren angeführt. a) Latenter-Antisemitismus-Cluster: Schilderungen und Reflexionen über aktuell in Berlin auftretenden Antisemitismus beziehen sich in den Erhebungsgesprächen nicht allein auf tätliche judenfeindlich motivierte Sachbeschädigungen oder gar entsprechende Übergriffe auf Personen, die in den beiden folgenden Clustern thematisiert werden. Vielmehr erstrecken sich diese auch auf eher in der deutschstämmigen ,Normal‘-Bevölkerung virulente Ausprägungsformen einer oft aus Andeutungen bestehenden und z. T. den Urhebern gar nicht als solche bewussten eher verdeckten Judenfeindschaft. Zunächst sollen diese von InterviewpartnerInnen in Berlin erlebten oder über sie reflektierten latenten Formen von Antisemitismus entsprechend ihrer in den meisten Fällen in den Erhebungsgesprächen eher beiläufigen Erwähnung knapp aufgezeigt werden: P 21: Eine Fülle von Aspekten latenten Antisemitismus erwähnt die beruflich in der jüdischen Oberschule Tätige, der dieses Thema – weit über Berlin hinaus – auf gesamtgesellschaftlicher Ebene ein ganz besonderes Anliegen ist. Die aus Israel stammende Pädagogin, die sich auch in der Öffentlichkeit durch Kopfbedeckung als orthodoxe Jüdin zu erkennen gibt, reflektiert viel stärker als alle Übrigen gesellschaftlich tief verankerte und ausgesprochen deutschlandspezifische Formen verdeckter oder nur indirekt zum Vorschein kommender antijüdischer Ressentiments, die weit über das Berliner Beispiel hinausreichen. Angesichts ihrer auch für die Metropole geltenden Wirksamkeit werden sie hier ebenfalls in die Darstellung aufgenommen. Die zweigeteilte These von P 21 lautet entsprechend ihrer hiesigen Erfahrungen: Einerseits könne man „nicht einfach so Deutscher werden.“ (P21/14) Zum anderen hat sie den Eindruck, dass man „als Jude [...] in Deutschland fremd [ist], letzten Endes. [...] ich kann als Jude
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[gemeint: beruflich; A. J.] erreichen was ich will. Ich werde bestimmte Bereiche niemals erreichen können.“ (Ebd.) Die Integration von Juden in die hiesige Gesellschaft würde dabei auf Grund gewisser Ressentiments an bestimmte Grenzen stoßen, wie sie anschaulich mit vier Beispielen erläutert: • Politik: Deren höhere Ebenen seien für Juden ein abgeschlossener Bereich, da hier eigentlich niemand wirklich Juden haben wolle. Im interkulturellen Vergleich erwähnt sie neben Italien vor allem Frankreich, wo es seit langem jüdische Ministerpräsidenten und Minister gebe und trotz des auch dort bestehenden Antisemitismus üblicherweise niemand wie hier sagen würde: „Kuck mal der ist Jude“ (P21/15) • Möllemann-Friedmann-Debatte331: Diese hätte auch nur funktioniert, weil es in Deutschland sehr weit verbreitet sei, dass in der Kritik an einem Juden alle Juden verantwortlich gemacht würden, von einem auf das gesamte Kollektiv geschlossen würde, ein ansonsten hierzulande recht unüblicher Vorgang. • Israelkritik: In der Berichterstattung seriöser überregionaler Tageszeitung würde immer wieder ein Bedürfnis erkennbar, „die Israelis irgendwie als Nazis darzustellen.“ (P21/18) • Alttestamentarisches: Schließlich verweist sie mit dem Beispiel einer größeren Titelgeschichte des SPIEGEL darauf, dass es bestimmte Journalisten gebe, die mit dem ,Nachweis‘ der Fiktion weiter Teile des Alten Testaments von dieser Seite her Israel delegitimieren wollten. (P21/19) Mit Verweis auf die Ahnengalerie der Humboldt-Universität, in der unter keinem ,großen‘ Gelehrtenportrait steht ,Musste Deutschland verlassen‘ zitiert sie sinngemäß Albert Einstein: „Die Deutsche Gesellschaft lässt sich die Freiheit, wann sie entscheidet, ob ich ein großer Deutscher oder ein dreckiger Jude bin.“ (P21/17) Dieses Denkmuster sei durchaus noch nicht überwunden. Enttäuscht bilanziert sie den weit verbreiteten latenten Antisemitismus in Deutschland: „[...] das dürfte man eigentlich nicht mehr erwarten. [...] Das heißt, man dürfte denken, irgendwann hat man schon die Lektion kapiert.“ (P 21/20) Demgegenüber sieht die sich sehr intensiv mit den öffentlichen Debatten über das deutsche Selbstverständnis der letzten Jahre Beschäftigende in der zunehmenden Enttabuisierung, sich öffentlich als Deutscher antisemitisch zu zeigen, nicht das eigentliche Hauptproblem, da Tabus ja nicht den Antisemitismus beseitigen würden. Einen Hinweis darauf, dass latenter Antisemitismus in Deutschland auch heute noch fest verankert und weitverbreitet sei, sieht die Pädagogin in durch ihn hervorgerufenen Reaktionen auf jüdischer Seite. So mache sie die Erfahrung, dass es hier durchaus eine größere Zahl jüdische Eltern gebe, die sich wünschten, 331 Auch die im journalistischen Bereich tätige P 23 führt dieses Beispiel für einen zunehmend öffentlich gezeigten Antisemitismus an: „[...] da haben sich auch die Koordinaten seit Möllemann ziemlich verändert. Das war wirklich so ein Stück weit auch ein Einbruch gewesen.“ (P23/24) Sie wird im Themenbereich latenter Antisemitismus im Unterschied zu den anderen Feldern von Judenfeindschaft nicht nochmals separat aufgeführt.
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dass ihre Kinder nach der Schulausbildung in ein anderes Land gehen sollten. Sie vermutet, dass Deutschland eines der wenigen Länder sei, wo dies der Fall wäre. P 19: Auch über den von der gebürtigen Berlinerin aus dem ,russischen‘ Zuwanderermilieu ausführlich erörterten, überwiegend von Muslimen und Palästinensern getragenen antiisraelischen Antisemitismus hinaus (s. u.), nimmt sie in der Metropole ein sich gegen Juden richtendes Ressentiment aus Teilen der ,normalen‘ deutschen Bevölkerung heraus, wahr. Ohne dass die sich mit jüdischem Halsschmuck auch öffentlich als Jüdin zu erkennen gebende Sportlerin diese Thematik tiefer gehend erörtert, berichtet sie von zwei Beispielen öffentlich geäußerter latent antisemitischer Haltungen, mit denen sie sich immer wieder in ihrem Berliner Alltag konfrontiert sieht: • in der Kritik an den Entschädigungszahlungen für jüdische Zwangsarbeiter • oder sogar im Leugnen oder Relativieren von KZs (die sog. ,Auschwitzlüge‘) P 9 I: Die in der jüdischen Homosexuellen-Gruppe Yachad Engagierte hat in den letzten Jahren in Berlin sowohl Erfahrungen mit ihr gegenüber in Alltagssituationen geäußerten philosemitischen wie auch latent antisemitischen Bemerkungen nichtjüdisch-deutscher Seite machen können.332 In einer Sequenz zu ihren Erfahrungen mit ihr gegenüber in lockeren Gesprächen gefallenen philosemitischen Äußerungen erwähnt sie ,nebenbei‘ auch ein typisches Beispiel einer latent antisemitischen Bemerkung. Dabei sagte ihr eine Person nicht lange vor dem Erhebungsgespräch beim gemütlich geselligen gemeinsamen Weintrinken, unmittelbar nachdem sie erfahren hatte, dass die hierüber Berichtende Jüdin sei: „[...] und Zwangsarbeit [...], kann das [i. S. deutscher Entschädigungszahlungen; A. J.] mal nicht vorbei sein“. (P9 I/29) Am Schmerzlichsten an solchen latent antisemitischen wie auch an philosemitischen ihr gegenüber geäußerten Bemerkungen, wäre dabei jenseits des konkreten Inhalts, dass man sie als Gesamtpersönlichkeit damit „sehr reduziert. Und wir sind natürlich beide [P 9 I und P 9 II; A. J] homosexuell, es gibt 100 Sachen an mir, wo Judentum nur ein Teil ist, aber sicher nicht der wichtigste.“ (P9 I/31) Ihre Negativerfahrungen reflektiert die aus dem westeuropäischen Ausland vor einigen Jahren nach Berlin gekommene angehende Historikerin auch theoretisch: Demnach hätten diese anti- und philosemitische Klischeebildungen die gleichen Wurzeln, nämlich in einer Art Xenophobie, in der Juden als „irgendwie fremd“ (P9 I/29) von den anderen Menschen abgetrennt wahrgenommen und entsprechend als Sonderlinge behandelt würden. Allerdings sieht die Nachwuchswissenschaftlerin ein deutliches Gefälle der von ihr beschriebenen Bekundungen von latentem Antisemitismus sowie von Philosemitismus in ihrem Berliner Alltag zu der Situation in dem ostdeutschen Grenzgebiet zu Polen, wo sie sich aus wissenschaftlichen Gründen öfters aufhält. 332 Wie bereits im Hype-Kap. III.3.2.4., S. 321 f. erwähnt, fallen darunter auch gewisse negative Erfahrungen, die P 9 I (wie auch P 9 II) in ihrem persönlichen Umfeld mit ihnen gegenüber immer wieder an Klischees über Juden orientierten Äußerungen bzw. mit Formen von Philosemitismus gemacht haben.
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In dieser Gegend nimmt sie über einen eng gefassten Antisemitismus – der allerdings damit nicht ausgeschlossen ist – hinausgehende ausländerfeindliche Gesinnungen weitaus deutlicher wahr. So bemerkt sie dort bspw. immer wieder entsprechende Aufkleber auf privaten Autos. (P9 I/31) P 9 II: Der ebenfalls in der jüdischen Homosexuellen-Gruppe Yachad Aktive betont im gemeinsam mit P 9 I geführten Gruppengespräch seine ebenso wie bei ihr gleichermaßen ausgeprägte Abscheu gegenüber manifesten (s. u.) wie latenten Formen von Antisemitismus sowie von Philosemitismus. Letzterem würde er immer wieder in Berlin in Gesprächen mit nichtjüdischen Deutschen begegnen. Daher gäbe es, nicht minder als im Falle manifester Judenfeindschaft auch im Falle latenten Antisemitismus „gewisse Gegenden“, in denen „man einfach als Jude besser unerkannt bleibt“ – P 9 II nennt als Beispiel auf Grund negativer familiärer Erfahrungen die „intellektuelle Szene Charlottenburgs“ – um entsprechend unangenehmen Situationen zu entgehen. (P9 II/30) Die Virulenz latent antisemitischer Impulse sieht er gerade in intellektuellen Kreisen, wo gerade auf Israel bezogen Juden in entsprechende Gespräche gezwungen würden, wie bspw. seinen Eltern im gutbürgerlichen Charlottenburg geschehen. (Ebd.) Er empfinde diese latent antisemitischen oder auch philosemitischen Anmaßungen durch nichtjüdische Deutsche als „Einbruch in meine Privatsphäre, weil ich hätte“ – „auch mit ihnen über ihr Christentum oder über ihre andere Religion“ – „oder über ihre Oma oder wen auch immer [reden können; A. J.] das geht mich einfach nichts an, dass geht auch die Leute nichts an.“ (Ebd.) P 17: Die Mitbegründerin des Israelischen Stammtischs berichtet sehr anschaulich von typischen Beispielen unterschwelliger Ressentiments gegen Juden, wie man sie in ganz unterschiedlichen Kreisen in Berlin vernehmen kann. Bezeichnenderweise findet sie selbst den Übergang zu der Thematik über ihre Ausführungen zu der quantitativen Zunahme von in Deutschland lebenden Juden: So nehme sie in der Einschätzung der mehrheitlich in einer nichtjüdischen Gesellschaft lebenden Juden durch Nichtjuden vor Ort wahr, dass „die Menschen hier, wie überall auf der Welt333, [...] bei diesen kleinen Mengen, die Wichtigkeit und die Rolle der Juden übertreiben.“ (P 17/22) Es werde etwa im deutlichen Wachstum irgendeiner jüdischen Gemeinde in Deutschland in den letzten Jahren von 80 auf 800 Juden bei der Thematisierung durch Nichtjuden verkannt, dass „es immer noch lächerlich wenig“ sind. (Ebd.). Auch wenn diese Verzerrungen in der Wahrnehmung heutiger Juden bis hin zu eindeutig antisemitischen Bekundungen
333 Als über Berlin und Deutschland hinausweisendes Beispiel erwähnt P 17 einen türkischen Geschäftskunden, der in seinem Freundeskreis in der Türkei auch einige Juden hätte. Dieser Kunde würde die Zahl der in der Türkei lebenden Juden im Gespräch mit ihr ebenfalls maßlos mit über einer Million überschätzen. (P17/23) – Nach Zahlenangaben der Jüdischen Allgemeine leben gegenwärtig etwa 40.000 Juden in der Türkei, dabei nahezu die Hälfte allein in Istanbul; vgl. JA 09.09.04 sowie vom 02.12.04.
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reichten, sieht sie häufig allerdings auch Unwissenheit am Werke. Jedoch erwähnt die seit vielen Jahren geschäftlich in Berlin Tätige sowie sehr Kulturinteressierte konkret auch einige von ihr in den letzten Jahren in der Metropole erlebte Negativbeispiele antisemitischer Klischeebildungen: • „[...] der Kudamm wäre wieder verjudet.“ (Ebd.) D. h., zu viele Juden besäßen zu viele Häuser. Die Realität, dass in den letzten Jahren ein paar Juden ein par Häuser an der ehemaligen Prachtstraße im Berliner Westen gekauft hätten, reiche aus, so zu tun, als gäbe es dort so viele Hausbesitzer wie Juden. Die tatsächlichen Besitzverhältnisse würden dabei gar nicht interessieren. • Von einigen nichtjüdischen Kulturinteressierten sei zu vernehmen, dass es wieder jüdische Spitzenmusiker in Berlin gäbe. Daraus würde gefolgert, dass also Juden mal wieder in der Musik an der Spitze stünden unter Ignoranz gegenüber der Herkunft anderer hervorragender Musiker. • Die Präsenz von einigen bekannten Juden im Fernsehen, wie etwa M. Friedmann und M. Reich-Ranicki, würde bereits ausreichen auch im TV-Bereich eine jüdische Dominanz zu unterstellen. P 18: Ganz ähnlich zu der zuvor angeführten israelstämmigen Wahlberlinerin, sind es auch bei der ursprünglich aus New York kommenden Journalistin und Sozialwissenschaftlerin keine gewalttätigen Formen, sondern eher in Alttagssituationen sich zeigende latent judenfeindliche Vorbehalte oder eine allgemeine Ausländerfeindschaft, mit denen sie sich in Berlin konfrontiert sieht. Dabei betont sie, dass sie gerade antisemitische Klischees über alle politischen Spektren hinweg immer mal wieder erleben würde, ohne dass sich dies gegen sie als Jüdin persönlich richten würde. Teilweise wüssten die betreffenden Personen dabei auch gar nicht, dass sie jüdisch sei. Einige Beispiele werden von ihr geschildert und hier wiedergegeben. So begegneten ihr in Berlin • eine Kritik an den angeblich übermäßigen sog. Wiedergutmachungszahlungen für jüdische Zwangsarbeiter, in der Frage gipfelnd: „Warum möchten sie denn soviel Geld haben? Haben sie denn nicht genug gehabt?“ (P18/33); • eine Kritik daran, dass Juden aus der ehemaligen SU nach Deutschland statt nach Israel auswanderten, mit der nachgereichten Erklärung: „,Weil sie in Deutschland nicht arbeiten müssen, also in Israel müssen sie arbeiten. Und Juden möchten nie arbeiten.‘“ (Ebd.); • die auf einer Anti-NPD-Demonstration von einem jungen linksgerichteten Deutschen an P 18, als US-amerikanische Jüdin gerichtete Frage: „Ist es wahr, dass Juden in Amerika die Zeitungen und alle Banken kontrollieren?“ (Ebd.) In diesem Fall war sie froh, dass der antijüdische Klischees Aussprechende seine Aussage im Unterschied zu anderen immerhin noch in Frageform gekleidet hatte. Ähnlich zu der russischstämmigen Galeristin P 11 (s. o.) betont die USamerikanische Publizistin keinem für westliche Gesellschaften besonders großen Ausprägungsgrad von Antisemitismus in Berlin bzw. im übrigen Deutschland.
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Ihre schlimmste Begegnung mit offen gezeigter Judenfeindschaft hatte sie sogar ausgerechnet in einem Zug in New York, wo zwei offensichtlich rassistische Frauen, denen gegenüber sie sich als Jüdin zu erkennen gab, sie übelst beschimpften. Dennoch sei der New Yorker Vorfall nicht in dem Maße als problematisch einzuschätzen wie entsprechende Äußerungen hierzulande: „Aber hier hat es eine besondere Bedeutung, wenn man an die Geschichte denkt, dass es eine Kontinuität gibt in manchen Familien in solchen Dingen“. (P18/33) P 11: Die ursprünglich aus der ehemaligen SU stammende, maßgeblich in der Jüdischen Galerie tätige Kunsthändlerin macht die besondere Bedeutung eines latenten, sich eher in vagen ressentimentgeladenen Andeutungen äußernden Antisemitismus in der Berliner Normalbevölkerung mit einem interkulturellen Vergleich deutlich: Dabei vergleicht sie ihre Erfahrungen als Jüdin in ihrer ehemaligen russischen und ihrer heutigen Lebenswelt: Demnach wäre in Berlin wie überhaupt in Deutschland in der Bevölkerung offene Judenfeindschaft auf Grund des historischen Hintergrunds weniger anerkannt und es daher „ein bisschen peinlich, diesen Antisemitismus zu zeigen.“ (P11/23) Kämen manifeste antisemitische Übergriffe jedoch über die Presse an die Öffentlichkeit, wären hierzulande die Trauerbekundungen allgegenwärtig. Dieser von ihr hier erlebten Situation gegenüber wäre offen gezeigte Judenfeindschaft unter dem anderen geschichtlichen Hintergrund in Russland gang und gäbe und überdies auch nicht strafbar. Es ist bezeichnend, dass die Galeristin im Zusammenhang mit den in den Medien und der Öffentlichkeit wenig wahrgenommen latenten Formen von Antisemitismus den hierüber hinausweisenden denkwürdigen Satz (s. o. auch als einer der Leitsätze vor Kap. III.4.2.) zu der innerjüdischen Gefühlslage gegenüber im heutigen Deutschland erfahrener Judenfeindschaft äußert: „[...] das ist für jeden Juden hier in Deutschland ziemlich schwer, damit zu leben, dass es hier noch Antisemitismus gibt.“ (Ebd.) Die hierin enthaltene Kernaussage ist deutlich: Demnach besitzen antisemitische Bekundungen, so ,unspektakulär‘ sie auch daherkommen mögen, in Berlin und überhaupt in Deutschland damit auch einen gravierenderen Bedeutungsgehalt als andernorts in Europa. P 22: Eine letzte Meinungsbekundung zu latentem Antisemitismus wird von der ursprünglich in der DDR bzw. in Ost-Berlin aufgewachsenen und heute im Westteil der Stadt weitgehend säkular lebenden Jüdin angeführt. Die in der israelkritischen Nahostgruppe Aktive geht wie auch alle anderen vor zu der Thematik Angeführten von einer in Berlin wie im übrigen Deutschland relativ weiten Verbreitung von verdeckter Judenfeindschaft aus. In dieser sieht sie aber im Gegensatz zu der oben angeführten israelstämmigen Pädagogin P 21 gerade kein ausgesprochen deutsches Sonderphänomen. Vielmehr betont sie vergleichbare, wenn nicht sogar stärkere latent judenfeindliche Tendenzen etwa in Frankreich und Polen. Persönlich kommt die gebürtige Berlinerin in ihrem Alltag mit verdeckter Judenfeindschaft praktisch nicht in Berührung, „beeinflusst mein Leben so überhaupt gar nicht.“ (P22/67) Allerdings räumt sie ein, bestimmte Ressentiments auf
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Grund ihres Jüdisch-Seins möglicherweise nicht wahrzunehmen. Vielmehr sieht sie im Bereich der Politik, hierbei wiederum ähnlich zu P 21, eine gewisse Enttabuisierung bzw. Häufung entsprechender Äußerungen: „[...] es gibt manchmal in der Zwischenzeit [...] in Deutschland eine offizielle Sprache, also Politiker sagen heute Sachen, [...] die sie vor 20 Jahren nicht gesagt hätten.“ (Ebd.)
Zwischenergebnis Latenter Antisemitismus unter Deutschen ist einer größeren Anzahl der Erhebungsauswahl geläufig ist. Dies betrifft sowohl hier Geborene (P 9 II, P 19, P 22, P 23) wie erst in den letzten Jahren nach Berlin bzw. Deutschland Zugezogene (P 9 I, P 11, P 17, P 18, P 21), dabei allen aus eigener lebensweltlicher Erfahrung, mit Ausnahme einer sich hierzu Äußernde Religionslehrerin (P 22). Während einige von diesen außerdem entsprechende Beispiele aus den Medien heranziehen, insbesondere die Möllemann-Friedmann-Debatte (P 21 und P 23), wählt die Pädagogin ausschließlich Beispiele aus diesem Bereich. Bestimmte religiöse Ausrichtungen oder weltliche innerjüdische Verortungen scheinen bei der Wahrnehmung von latentem Antisemitismus keinerlei erkennbare Rolle zu spielen. Inhaltlich decken die hier angeführten Beispiele die ganze Palette der gegen Juden gerichteten Vorurteilslandschaft ab, von religiösen über kulturelle, politische, wirtschaftliche bis hin zu aus der jüdischen Verfolgung während der NSZeit und deren Nachwirkungen (,wegen Auschwitz‘) motivisch gespeisten Klischees. Dabei ist nur in einem Fall überhaupt noch davon die Rede, dass es in Deutschland ,ein bisschen peinlich‘ ist, sich latent antisemitisch zu äußern und auch dies nur im Vergleich zur ehemaligen SU! (P 11) Bei einigen herrscht vielmehr der Eindruck vor, dass latenter Antisemitismus, zumindest öffentlich gezeigter, in den letzten Jahren in Berlin sowie im übrigen Deutschland spürbar zugenommen hat. Teilweise wird dabei ein direkter Zusammenhang mit von Prominenten ausgelösten entsprechenden Debatten hergestellt (s. o.). Außerdem wird der fließende Übergang von philosemitischen Sonderbehandlungen zu denjenigen aus antisemitischen Gründen thematisiert (insbesondere von P 9 I und P 9 II). Bei so unterschiedlichen Stichworten wie Einstein, Religion oder Israel werden Juden entsprechend den Erfahrungen von sich hierzu Äußernden kollektiv in Sippenhaft genommen oder vereinzelt auch idealisiert. Auffallend ist, dass keine bestimmten Personen oder Personengruppen im Sinne von Milieus oder örtlichem Herkommen als Urheber der antijüdischen Ressentiments genannt werden. Ausnahme bilden hierbei die auch außerhalb der individuellen lebensweltlichen Erfahrungen stehenden Medien (SPIEGEL) oder Politiker (Möllemann) Bemerkenswert ist allerdings, dass es sich im vorliegenden Themenblock in allen Fällen von latent antisemitischen Bekundungen nicht um ausgesprochen rechte Personen oder Medien handelt, in einem Fall sogar um einen jungen Demonstranten einer linksgerichteten Anti-NPD-Demonstration. (P 18). Die allgemeine Einschätzung der von seinen sozialen Trägern her weiten Verbreitung antijüdischer Klischeebildungen wird hier völlig bestätigt.
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Als Gelegenheitsstruktur erleben die sich zu latentem Antisemitismus Äußernden entsprechende Beispiele sowohl als zufällig Anwesende in der Öffentlichkeit, wo entsprechende Bemerkungen fallen wie auch in persönlichen Gesprächen mit Nichtjuden, die von ihrem Jüdisch-Sein wissen. Die latent antisemitischen Äußerungen in persönlichen Gesprächen können zwar eine besondere Kränkung und darüber hinaus auch eine Verletzung der Privatsphäre bedeuten, bieten aber immerhin im Vergleich zu den zufälligen Negativerfahrungen in der Öffentlichkeit, zumindest teilweise die Möglichkeit, bewusst umgangen zu werden. (P 9 II) Dennoch ergibt sich insgesamt eine für latenten Antisemitismus überhaupt recht typische vage Gelegenheitsstruktur. Denn auch aus den aufgeführten Statements geht Altbekanntes hervor: Latenter Antisemitismus ist nicht nur sozial (s. o.) sondern auch stadträumlich allgegenwärtig. Der unmittelbare Umgang mit latentem Antisemitismus kann sowohl im Fall der zufälligen Anwesendheit bei Äußerungen in der Öffentlichkeit wie auch bei der Wahrnehmung in den Medien als aufmerksames Registrieren beschrieben werden. (P 11, P 17, P 18, P 19, P 21) Die damit im eigenen Bekanntenkreis Konfrontierten erfahren dabei mitunter persönliche Verletzungen (P 9 I, P 9 II)334, die ihr Auf-Distanz-Gehen gegenüber den Urhebern, ohne dass dies expliziert wird, vermuten lassen. Ein Beispiel verbaler Gegenwehr im persönlichen Umfeld im Übergangsbereich zu manifestem Antisemitismus wird im Anschluss in diesem Cluster (s. u.) geschildert. (P 19). Im Falle der längerfristigen Umgangsweisen mit latentem Antisemitismus lässt sich vereinfacht sagen, dass auf Grund seines ubiquitären Auftretens Vermeidungsstrategien nahezu aussichtslos erscheinen und daher auch nicht benannt wurden. Außerdem wird kein Interesse, entsprechende Situationen und mediale Auftritte zu vermeiden, erkennbar, mit Ausnahme von entsprechenden abfälligen Bemerkungen, von denen Interviewte persönlich be- und getroffen sind. (P 9 I und P 9 II). Im Gegenteil, wie zuvor bereits angeführt, überwiegt bei ihnen ein lebhaftes Interesse, in dem Sinne, dass sie wissen wollen, womit sie es im Bezug auf latenten Antisemitismus in Berlin wie in Deutschland überhaupt gegenwärtig zu tun haben. Dies wird besonders in den Äußerungen der an einer jüdischen Schule tätigen Lehrkraft deutlich. (P21) Lediglich in einem Fall wird die Strategie, sich im Falle von latentem Antisemitismus, nicht als Jude zu erkennen zu geben, beiläufig erwähnt. (P 9 II). b) Manifester-Antisemitismus-Cluster: Einige aus dem Erhebungskreis thematisieren von deutscher Seite ausgehende direkte, dabei teilweise auch gewalttätige judenfeindliche Verhaltensweisen, wenn auch in geringerem Maße als im o. g.
334 Verletzt werden und verletzt reagieren erscheinen mir dabei als fließende Übergänge: Offenbar sind hierbei die Absichten der sich antisemitisch Äußernden ausschlaggebend. Je weniger bewusst latente antisemitische Äußerungen fallen, desto weniger besteht eine Absicht in der Verletzung, auch wenn Juden berechtigt hierauf verletzt reagieren.
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Fall eines latenten Antisemitismus von Deutschen und Deutschstämmigen sowie als im anschließend behandelten Fall des arabischen und islamistischen Antisemitismus. Überwiegend handelt es sich dabei um allgemeine Wahrnehmungen und Einschätzungen, nur in einem Fall auch um einen direkt erlittenen Vorfall. P 8: Wie in der Darstellung des antiisraelisch motivierten islamistischen bzw. arabischen Antisemitismus noch deutlich wird, nimmt die im egalitären Minjan Aktive in ihrer alltäglichen Berliner Lebenswelt eher diese judenfeindliche Variante wahr als diejenigen von deutscher Seite, wobei sie von Übergriffen beider Couleur bisher verschont blieb. Als sich mittlerweile kompromisslos in der Öffentlichkeit als Jüdin Bekennende – auch auf der Straße trägt sie immer und überall eine Kippa – sieht sie heute in der Metropole „schon bewusster [...] Leute mit diesen Bomberjacken.“ (P8/47) Dennoch legt sie auch gegenüber deutschen Antisemiten ihre in der Darstellung des antiisraelischen Antisemitismus ebenfalls aufgegriffene selbstbewusste Haltung an den Tag: „[...] also sich bloß nicht unterkriegen [...], also sich bloß nicht in diese Opferrolle reindrängen lassen, sondern mit geradem Rücken gehen, also das denke ich mir, ist ganz wichtig.“ – „nicht so mit erhobenem Haupt, aber mit geradem Rücken.“ (P8/48) Beiläufig erwähnt sie eine gegenläufige innerjüdische Einschätzung zu ihrer eigenen Überzeugung, dass es aus Sicherheitsaspekten heraus vertretbar sei, sich mit äußeren Attributen als Jüdin erkennen zu geben. So berichtet sie von ihrem ehemaligen, aus Israel stammenden Hebräischlehrer, der dort drei Jahre bei der Armee gedient hätte und aus Sicherheitsgründen niemals hier in der Öffentlichkeit eine Kippa aufsetzen würde. Hierfür zeigt sie wenig Verständnis. Interessanterweise geht es in den Ausführungen von P 8 zu diesem Zwist primär um die von rechtsgerichteten deutschen Jugendlichen ausgehenden Gefahrenpotentiale, da sie bemerkt: „[...] der wird [...] wohl mal stärker sein, als so ein paar Hansels da, in ihren weißgeschnürten Stiefeln.“ (P8/47) P 20: Ein weiteres Beispiel für jüdische Umgangsweisen mit manifestem Antisemitismus aus der Gruppe der sich in der Öffentlichkeit bewusst als Juden Zeigenden äußert ein aus Israel stammender Wahlberliner. Er ist in einem koscheren Lebensmittelgeschäft im westlichen Innenstadtbereich von Berlin tätig. Da er über die Konsequenzen spricht, dass er sich in der Öffentlichkeit auf Grund seines Äußeren mit entsprechender Kopfbedeckung und Bart als gläubiger Jude sephardischer Provenienz ausweist, kann in diesem besonderen Fall die Anonymisierung seines Geschlechts nicht aufrecht erhalten werden. Er beton: „Und wenn ich mich bewege [gemeint: in der Öffentlichkeit; A. J.] gehe ich gerne mit meiner Kippa.“ (P20/17) Auf Wunsch von Familienangehörigen, denen auch sein öffentliches Auftreten aus Furcht vor antisemitischen Übergriffen (s. u.) nicht sehr recht ist, vermeidet er allerdings, in seiner Wohnung beim Beten gesehen zu werden: „Wenn ich mein Gebet zu Hause mache, muss ich die Jalousie runterlassen, keiner sieht es. Das ist eine Katastrophe, geht aber nicht anders.“ (P20/18)
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In bestimmten Berliner Stadtteilen sowie an der Peripherie der Metropole würde allerdings auch P 20 von sich aus notgedrungen auf Grund der antisemitischen Gefährdungslage auf die ihn als Juden kennzeichnende Kleidung verzichten: „Und von der Synagoge nach hier habe ich auch keine Angst, aber wenn ich in die U-Bahn steige und fahre [...] acht Stationen, dann bin ich bisschen weit von dem Zentrum, dann kriege ich Angst [lacht], dann muss ich einen Hut tragen.“ – „Egal wo [von der Himmelsrichtung her; A. J.].“ (Ebd.) Offensichtlich bezieht sich die von ihm benannte Gefährdung ebenso auf Rechtsextremisten (Osten) wie auf die in Kreuzberg und Neukölln häufiger anzutreffenden Islamisten und Araber.335 Auf die hier interessierenden Rechtsextremisten bezogen stellt P 20 abschließend fest: „Ich glaube Neonazis bewegen sich nicht in der Stadt, in dem Zentrum. [...]“ – „[...] In jedem Zentrum sind viele Polizisten und viele Ausländer sind hier.“ (P20/20) Aus diesem Grund ist, wie bereits andernorts näher ausgeführt, das Zentrum für ihn der einzig vorstellbare Ort Berlins, um in jüdischen Zusammenhängen einigermaßen sicher zu leben, zu beten und zu arbeiten. Einer seiner sehnlichsten Wünsche für die Zukunft jüdischen Lebens in Berlin besteht aus etwas entsprechend seinen alltäglichen Erfahrungen heraus sehr Nachvollziehbarem, nämlich dass sein Leben künftig nicht mehr „begrenzt [wird]. [...] nicht überall Polizisten und Angst.“ (P20/24) P 19: Deutlich benennt die im jüdischen Vereinssport aktive Mitzwanzigerin eine von ihr in Berlin wahrgenommene offene Fremdenfeindlichkeit unter einigen deutschen Jugendlichen, die sie ebenso wie der zuvor angeführte P 9 II vorrangig in den östlichen Randbezirken der Metropole ausmacht und als sich durch äußerliche Accessoires als Juden Kenntliche ebenfalls meidet. Allerdings betont sie, dass die Haltung dieser deutschen im Unterschied zu den israelfeindlich motivierten islamistischen oder arabisch/palästinensischen Jugendlichen (s. u.) nicht in einem sich primär gegen Juden richtenden Ressentiment bestünde: „Die haben nicht nur gegen die Juden was, sondern auch gegen Schwarze und [...] und gegen die Zigeuner und denen passt ja überhaupt keiner.“– „Bei denen, so jeder, der nicht aussieht wie die, gegen die haben die was. Oder nicht blond und blauäugig, oder was auch immer.“ (P19/13) Diffuse Fremdenfeindlichkeit bis hin zu geschlossen rechtsextremen Weltbildern seien in diesen Fällen Beweggründe für einen Rassismus, der sich nicht primär, sondern eher en passant auch gegen Juden, insbesondere gegen die in den letzten Jahren aus der ehemaligen SU zugezogenen, richte. Diese Aussage ist insofern aufschlussreich, als viele der überwiegend säkular lebenden jüdischen Zuwanderer aus den GUS-Staaten von fremdenfeindlichen Deutschen in der Metropole offensichtlich gar nicht als Juden – etwa auf Grund der von ihnen kaum getragenen und für sehr orthodoxe Juden kennzeichnenden 335 Aus dieser doppelten Zuschreibung wird dieses Zitat unten bei der Erörterung des israelfeindlich motivierten Antisemitismus nicht nochmals wiederholt, sondern lediglich darauf verwiesen.
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Haartracht oder Kleidung – als jüdisch wahrgenommen werden. Vielmehr werden sie hierzulande ähnlich den sog. Russlanddeutschen auf Grund ihrer Muttersprache oder ihres herkunftsgeprägten deutschen Idioms häufig als Russen angesehen und von fremdenfeindlich eingestellten Deutschen entsprechend diskriminiert! Das Hauptproblem im Falle der sich rassistisch verhaltenden jungen Deutschen bestünde nach Ansicht von P 19 daher also weniger in einem sich auf der Straße gegen Juden rabiat zeigenden Antisemitismus336, sondern in allgemein fremdenfeindlichen Negativzuschreibungen. Dies hätte ihrer Meinung nach eine entscheidende Ursache in der jeweiligen Erziehung: Ausländerfeindliche junge Deutsche wären eben nicht vom Elternhaus her von Kindesbeinen, im Alter von drei bis fünf Jahren an, gezielt israel- und judenfeindlich geprägt wie die muslimischen bzw. arabischen Antisemiten. (P19/15)337 Ein weiterer Unterschied lässt sich nach Ansicht der gebürtigen und darüber hinaus auch überzeugten (West-)Berlinerin in der gegensätzlichen stadttopographischen Verteilung der beiden juden- und ausländerfeindlichen Spektren, mit denen sich in Berlin lebende Juden konfrontiert sehen, festmachen: Während die israelfeindlichen Muslime in Schule, Stadtteil und in der Gastronomie in der westlichen Innenstadt zu finden sind, wie unter (2) von ihr noch anschaulich geschildert wird, sind die deutschstämmigen Antisemiten eher in den östlichen Randbezirken anzutreffen: „Also stark, im östlicheren Teil Berlins.“ – „Stärker als im Westen“ – „Das ist so.“ – „Also das ist das, was man aus den Medien entnimmt. Was man mitbekommt. Die Übergriffe sind stärker dort. Und es ist auch mehr so in diesen Randbezirken. Und gut, Brandenburg sowieso. [...] Oder die im westlichen Teil benehmen sich intelligenter und man kriegt es nicht so mit.“ (P19/14)338 Außerdem macht die im jüdischen Sportwesen Aktive einen spezifischen Unterschied dieser ausländerfeindlichen deutschen Jugendlichen im Ostteil Berlins gegenüber den muslimischen bzw. palästinensischen Israel- und Judenfeinden in deren jeweiligem öffentlichen Auftreten aus: Junge ostdeutsche Ras-
336 Wenn auch seit Jahrzehnten deutschlandweit und in Berlin begangene Friedhofsschändungen von der stabilen Existenz solcher antisemitischer Potentiale zeugen, die sich – gesellschaftlich wenig respektiert – eher anonym ausagieren; vgl. hierzu für Deutschland Kap. III.4.1.2., S. 343 und für Berlin Kap. III.4.1.3, S. 356. 337 Diese Beobachtung wird durch eine Äußerung der im progressiven Judentum aktiven P 3 – mit einem allerdings überhaupt nicht antisemitischen Beispiel aus Berlin – bestätigt. Die überzeugte Wahlberlinerin erwähnte nämlich aus dem sehr international geprägten künstlerischen, wissenschaftlichen und journalistischen Bereich der Metropole exemplarisch, dass es hierbei keineswegs untypisch sei, dass eine Person primär nach ihrer Tätigkeit, erst dann nach ihrer russischen Herkunft wegen und erst zuletzt als Jude wahrgenommen würde. 338 Dass es sich bei dieser Einschätzung keineswegs um eine singuläre innerjüdische Wahrnehmung des Ost-West- sowie City-Peripherie-Gefälles der Gefahr durch allgemeine Fremdenfeindlichkeit für in Berlin lebende Juden handelt, zeigt die von P 19 kolportierte Einschätzung des Jüdischen Sportvereins zu dieser Thematik; vgl. unten Kap. III.4.2.2., S. 406.
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sisten würden demnach im Gegensatz zu arabischen und islamistischen Israelbzw. Judenfeinden häufig in relativ gut organisierten Gruppen auftreten. Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Unterschiede zwischen den verschiedenen antisemitischen Herkunftsmilieus kann deutlich werden, warum für die im Westteil Berlins Aufgewachsene eine geringere Bedrohung durch junge ausländerfeindliche Deutsche als durch islamistische bzw. arabische Antisemiten ausgeht. Denn entscheidend hierfür ist offensichtlich, dass sich ihr Lebensmittelpunkt bis heute in privater, beruflicher sowie in sportlicher Hinsicht im Innenstadtbereich des Westens der Stadt befindet, wo Fremdenhass ihrer Erfahrung nach weniger offen als in einigen östlichen Randbezirken auftritt. Überdies meidet sie diese Gegenden ganz bewusst. Denn diese Ost-Bezirke sind über die dort offen gezeigte Ausländerfeindschaft hinaus ,nicht ihre Welt‘.339 Offensichtlich sieht es P 19 auf Grund ihrer ,West-Prägung‘ bzw. der nach wie vor bestehenden Mentalitätsunterschiede zwischen dem Ost- und dem Westteil Berlins nicht als eine unangenehme Einschränkung ihres Alltags an, darauf zu verzichten, sich im ,fernen Osten‘ der Metropole aufzuhalten. Damit ist es ihr also ohne großes Aufheben möglich, ihr Risiko, Opfer mehrheitlich fremdenfeindlicher und nur in Ausnahmen antisemitischer Attacken von Seiten bestimmter deutscher Jugendlicher zu werden, relativ gering zu halten. Trotz eines spürbaren Ost-/West-Gefälles in der offen gezeigten Fremdenfeindlichkeit in Berlin weiß die Berufsschülerin von einem eindeutig antisemitischen Negativerlebnis aus dem Westteil der Stadt zu berichten, welches ihr im Schulalltag widerfahren ist. Allerdings lag dieses Ereignis zum Gesprächszeitpunkt schon über 10 Jahre zurück. Es ging von einem deutschen Mitschüler ihrer Klasse in ihrer Oberschulzeit als 14- oder 15-Jährige aus: „Da haben wir Tischtennis gespielt, draußen auf dem Hof, und ich war schon immer sehr sportlich gewesen, habe dementsprechend auch öfters mal gewonnen, mehr als er zumindest. Dann war er sauer und hat gesagt: ,Immer müsst ihr Scheißjuden gewinnen!‘ So, und mit 15 fängst du dann an nachzudenken. Dann habe ich ihm gesagt: ,Wenn du sagst‚ ihr Scheißrussen gewinnt, dann berührt mich das gar nicht mal so doll. Aber höre ich noch einmal das scheiß Juden, dann gnade dir Gott!‘ Danach war das Thema auch erledigt.“ (P19/15)
Ein interessantes Detail dieser Schilderung besteht in dem DiskriminierungsGefälle, welches die ihrer Identität nach mehrfach geprägte Sportlerin (,jüdisch‘, ,russisch‘, ,deutsch‘, ,westberlinerisch‘) zwischen allgemeiner Fremdenfeindschaft und ausgesprochener Judenfeindschaft empfindet: Eine gerade von der nichtjüdischen Deutschen P 19 gegenüber gezeigte abwertende Bemerkung auf Grund ihrer ,russischen‘ Herkunft, kann von ihr besser ertragen werden als eine offensichtlich antisemitische Bemerkung. Vor dem historischen Hintergrund erscheint ihr Judenfeindschaft von Deutschen offensichtlich als die für sie bedrohlichste Form, in der ihr in Berlin verbreitete Fremdenfeindschaft begegnet. 339 Vgl. hierzu näher das Berlinspezifika-Kap. III.2.1.1., S. 256.
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Die oben beschriebene erstaunlich pragmatische Abstinenz der sich in der Öffentlichkeit zu ihrem Jüdisch-Sein Bekennenden gegenüber den Ostbezirken der Stadt könnte in diesem von ihr geschilderten Unterschied zwischen dem ihr als ,Russin‘ und ganz anders als ,Jüdin‘ empfundenen Ressentiments und Diskriminierungen, denen sie begegnet. Demnach würde es sich im Osten aus ihrer Perspektive ,nur‘ um allgemeine Rassisten handeln, denen es bei aller dorten physischen Präsenz mit ihrer schieren Existenz nicht gelänge, sie in ihrer jüdischen Identität zu verletzen oder auch nur herauszufordern. P 9 II: Der in der jüdischen Homosexuellengruppe Yachad Aktive und ursprünglich aus Ostdeutschland nach Berlin Gekommene erwähnt im Zusammenhang mit manifestem Antisemitismus Jugendliche ebenfalls explizit eine außerhalb der Innenstadt im Berliner Osten beheimatete gewaltbereite Neonazi-Szene: „[...] die in Lichtenberg, die wollen einem eins aufs Maul hauen“. (P9 II/30) Diese Gegend meidet der als Schwuler doppelt Diskriminierte explizit. (Ebd.) Weitaus aufschlussreicher als dieses nicht nur von ihm (s. u.) benannte Ost-West-Gefälle in Berlin erscheint allerdings , dass er den virulenten Intellektuellen-Antisemitismus in Charlottenburg bzw. im Westteil von Berlin nicht minder kritisiert und nicht minder versucht, diesem zu entgehen, wie bereits oben bei der Behandlung des latenten Antisemitismus deutlich wurde. P 23: Auch der insbesondere zu jüdischen Themen arbeitenden Journalistin ist die größere Gefahr für aus dem Ausland stammende Juden und Nichtjuden in den östlichen Randbezirken von Berlin durch rechte, allgemeine Fremdenfeindschaft, die also über Antisemitismus hinausweist, als Faktum geläufig: Mit den Ausnahmen der Bezirke „Mitte, Prenzlauerberg, Friedrichshain und ansonsten sollte man sich im Osten des Nächtens nicht bewegen, wenn man nicht deutsch aussieht.“ (P23/24) Wie unten im Bereich antiisraelisch motivierter Antisemitismus ausführlicher gezeigt wird, vermeidet sie es persönlich, im Unterschied zu noch vor einigen Jahren, sich generell in Berlin und andernorts in Deutschland öffentlich als Jüdin zu erkennen zu geben. Als eine von ihr erlebte Negativerfahrung, die mit anderen Erfahrungen ihres jüdischen Umfelds und auf Grund von Medienberichten (s. o. Kap. III.4.1.3.) zu diesen Konsequenzen führte, schildert sie eine heikle Situation des Auf-die-U-Bahn-Wartens noch im inneren Bereich von Berlin, nämlich im Bezirk Wedding. Auf Grund ihrer Lektüre der ,Jüdische Korrespondenz‘340 „[...] sagt so ein Anfang vierzigjähriger Mann im giftigen Ton: ,So weit ist es jetzt schon wieder, dass Juden hier jüdische Zeitungen lesen‘. Und es gab niemanden, der da in irgendeiner Art und Weise reagiert hätte.“ (P 23/23) Eine Konsequenz daraus ist für die als Schreibende im Medienwesen Tätige, dass sie heute vermei-
340 Also das monatlich erscheinende Blatt des jüdischen Kulturvereins; vgl. hierzu in der JKV-Einzelfallstudie Kap. IV.2.4.4., S. 459 ff.
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det, in der Öffentlichkeit jüdische Zeitungen zu lesen, wie sie ja überhaupt mittlerweile Kleider mit jüdischen Inhaltsbezügen nicht mehr anzieht (s. u.). P 12: Die angehende Akademikerin sowie im jüdischen Studentenbund (JSB) Aktive äußert ein starkes Sicherheitsgefühl in ihrem Lebensumfeld innerhalb Berlins in Bezug auf Antisemitismus und allgemeiner Fremdenfeindschaft: „Also [...] es ist wirklich so, dass ich Berlin, zumindest in der City, sage ich mal, mehr oder weniger, also die Bezirke in diesem Bereich als völlig sicher ansehe.“ (P12/34) Dabei nimmt sie die Randbezirke der Metropole hiervon ausdrücklich aus. (P12/27) In ihren geringen persönlichen Erfahrungen mit Antisemitismus unterscheidet sich die, mit ihren Eltern als Kind nach Berlin zugezogene, ehemalige Gymnasiastin deutlich von der aus dem gleichen ,russischen‘ Herkunftsmilieu Stammenden und der gleichen Alterskohorte der Mitzwanziger Angehörenden und im jüdischen Vereinssport aktiven BerufsschülerIn P 19 (s. u. insbesondere das Cluster zum antiisraelischen Antisemitismus). So erinnert sich P 12 während ihrer gesamten Schulzeit ,lediglich‘ an zwei Vorkommnisse, als sie nämlich von ihr nicht bekannten Schülern auf offener Straße mit antisemitischen Schimpfworten beleidigt wurde. (P12/30) Als Kommentar zu ihrer recht positiven persönlichen Erfahrungsbilanz mit Judenfeindschaft deutet P 12 ihre Einschätzung an, dass andere gleichaltrige Juden in Berlin durchaus negativere Erfahrungen mit manifestem Antisemitismus machen mussten: „[...] also im Vergleich zu anderen, was ich bisher gehört habe, was denen schon einiges passiert ist... . Das ist noch sehr gut.“ (Ebd.) Demgegenüber berichtet sie aus der jüngsten Vergangenheit anerkennend, dass an ihrer traditionell eher links orientierten Fakultät an einer Berliner Universität ihre nichtjüdischen KomilitonInnen gegen einen politisch mit Rechtsextremen zumindest sympathisierenden Dozenten Front gemacht hätten.341 P 22: Schließlich soll die säkular orientierte gebürtige Ost-Berlinerin, die sich in der israelkritischen Nahost-Gruppe engagiert, noch mit ihren Reflexionen zu manifestem deutschen Antisemitismus angeführt werden. Auf der persönlichen Ebene betont sie demonstrativ ihr subjektives Sicherheitsgefühl: „Aber ich meine, [...] was körperliche Versehrtheit anbelangt, muss man in Deutschland also glaube ich, sich keine Sorgen machen. [...] also ich bin nicht ängstlich.“ (P22/67) Dabei ist ihr durchaus bewusst, dass diese Sicherheit nicht für sich in der Öffentlichkeit leicht durch äußere Merkmale als solche erkennbare gläubige Juden gälte. (P22/68) Bei sich antisemitisch gerierenden rechten Jugendlichen geht sie von einer „völlig fiktiven Geschichte“ aus, da diese mangels öffentlich entsprechend religiös auftretenden Juden, die überwiegende Zahl der hier lebenden Juden, wie etwa sie selbst, gar nicht erkennen und auch nicht kennen würden. Sie ist sogar davon überzeugt, das man sich in Berlin außerhalb bestimmter östlicher Stadttei-
341 Und zwar nicht ohne Erfolg. Inzwischen (2005), also nach dem Erhebungsgespräch, wurde diesem Dozenten die Lehrbefugnis entzogen.
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le wie etwa Hellersdorf mit gut sichtbaren jüdischen Emblemen öffentlich zeigen könne, ohne dass einem dabei etwas zustoßen würde, dies gälte insbesondere für den Innenstadtbereich. Ihre streitbare Einstellung zu diesem Themenkomplex bezeichnet sie selbst als „verschärfte Haltung“. (P22/59) So bemerkt sie, dass etwa beschmierte Synagogen natürlich eine Schweinerei seien, wogegen man sich wehren müsse, „(a)ber es werden täglich Menschen wegen ihrer Rasse, wegen ihrer Herkunft körperlich..., also wird ihnen Gewalt angetan, und es wird nicht mit der gleichen Sichtweise betrachtet.“ (P22/60) Dagegen begreife sie die heutigen Ausprägungsformen von manifestem deutschen Antisemitismus immer in Relation zu anderen Formen von Rassismus: „[...] natürlich fühle ich mich verletzt oder ärgere mich, [...] aber ich meine im Gegensatz zu Rassismus anderer Form, ist das für meine Begriffe eine relativ kleine Form.“ (Ebd.)
Zwischenergebnis Aktueller manifester Antisemitismus unter Deutschen, insbesondere aus dem rechtsextremen Lager, wurde ebenfalls in mehreren Erhebungsgesprächen angesprochen. Im auffälligen Unterschied zu dem zuvor thematisierten latent antisemitischen und dem folgenden manifest-antiisraelischen Cluster bestehen hierzu kaum unmittelbare Negativbegegnungen. Die Erörterung speist sich überwiegend aus Erfahrungen dritter sowie aus der Medien-Berichterstattung. Lediglich zwei persönlich erlittene Übergriffe werden geschildert: eine Beschimpfung durch einen Mitschüler (P 19) und die Anpöbelei durch einen Fremden auf einem U-Bahnhof (P 23). Ein sehr eindeutiges Ergebnis besteht darin, dass diese manifeste Spielart von Judenfeindschaft bei deutschen Nichtjuden überwiegend von ebenfalls hier Geborenen thematisiert wird. Eine Ausnahme hiervon stellen die aus Israel stammende P 20 sowie die in Moldawien geborene P 12 dar. Allerdings leben beide zum Gesprächszeitpunkt bereits seit deutlich über 10 Jahren in Berlin. Diese Herkunftsverteilung der sich Äußernden dürfte damit korrespondieren, dass, wie erwähnt, die wenigsten von ihnen aus eigenem Erleben über diesen manifesten deutschen Antisemitismus berichten, entsprechende Äußerungen also ein ausgeprägtes Wissen über Rechtsextremismus und dessen stadträumliche Bedingungen zur Voraussetzung haben. Einige benennen konkrete östliche Gegenden außerhalb der Innenstadt, die auch außerhalb der Studie als Brennpunkte manifest geäußerter Fremdenfeindlichkeit allgemein bekannt sind: Hellersdorf (P 22), Lichtenberg (P 9 II und P 19) sowie Marzahn (P 17 und P 19). Im Bezug auf dieses geographisch wie auch politisch relativ eindeutig bestimmte Kollektiv wird unisono betont, dass Antisemitismus nicht im Zentrum deren Ressentiments stehen würde, sondern vielmehr eine allgemeine Fremdenfeindlichkeit. Daher wären in den von diesen rechten Rassisten bevorzugt bewohnten Stadtvierteln (s. u.) Juden viel eher bedroht, wenn sie von diesen schlicht als Ausländer (insbesondere als ,Russen‘) wahrge-
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nommen würden, denn auf Grund ihres Jüdisch-Seins. Auffallend an dem Kreis der sich in diesem Sinne Äußernden ist, dass diese differenzierte Betrachtungsweise mit einer Ausnahme (P 17) ausschließlich von ,Deutschlandexperten‘ stammt, also von der Gruppe der hier Geborenen oder sehr lange Lebenden. (9 II, P 10, P 17, P 19, P 22 und P 23)342 Eine aus diesem Kreis geht sogar so weit, dass sie manifeste Fremdenfeindlichkeit und Rassismus unter Deutschen in Berlin und in Deutschland überhaupt als das eigentliche und damit gegenüber einem entsprechend manifesten Antisemitismus zentralere Problem einschätzt (P 22). Dies gilt allerdings nur unter Absehen von einer auch von ihr wahrgenommenen extremen Judenfeindschaft in bestimmten nichtdeutschen Kreisen. Gemeint ist ein in Berlin und andernorts aktuell virulenter arabischer und islamistischer Antisemitismus, der im Weiteren noch als eigenständiges Cluster thematisiert wird. Die Gelegenheitsstruktur manifesten Antisemitismus unter Deutschen wird außerdem in nahezu allen im vorliegenden Cluster zusammengefassten Statements, mit Ausnahme von P 8, in einer bestimmten stadträumlichen Verteilung eines sich allgemein fremdenfeindlich zeigenden politisch extrem rechts verorteten Herkunftsmilieus festgemacht. Sie wird überwiegend auf die östlichen Randbezirke der Metropole sowie auf deren Umland im benachbarten Brandenburg, also auf Gebiete der ehemaligen DDR eingegrenzt. Die beiden o. g. einzigen selbst erlittenen Übergriffe (s. o.) fanden freilich in im Westteil Berlins gelegenen Schulen (P 19) und U-Bahnhöfen (P 23) statt. Allerdings war in beiden Fällen auch kein organisierter rechtsextremer Hintergrund zu erkennen. Die unmittelbare jüdische Reaktion auf deutsche, insbesondere rechtsextreme Übergriffe, muss hier weitgehend außen vor bleiben, da in der Erhebungsauswahl fast nur persönliche Konfrontationserfahrungen mit antiisraelisch motivierten manifesten Angriffen geäußert wurden (s. u.). Im einzigen geschilderten Beispiel einer eindeutigen antisemitische Bemerkung im persönlichen Umfeld, die eines Mitschülers von P 19, wehrte sich diese erfolgreich mit der ultimativen Aufforderung an diesen, judenfeindliche Bemerkungen in Zukunft zu unterlassen. Über die Eingrenzung auf konkrete Übergriffe hinaus berichten allerdings mehrere Befragte davon, dass sie bzw. die von ihnen repräsentierten jüdischen Gruppenaktivitäten an, konkret gegen NPD-Demonstrationen in der Innenstadt von Berlin richteten antifaschistischen Gegendemonstrationen teilgenommen haben (P 9 I und P 9 II für Yachad, P 8 und P 12 für den JSB sowie P 18).343 342 Interessant ist, dass sich die gebürtige Berlinerin und zum Gesprächszeitpunkt mit 76 Jahren älteste Interviewte P 10 ähnlich, wenn auch im Gegensatz zu den anderen eher vorsichtig fragend, zu den allgemein fremdenfeindlichen Ressentiments äußert: „Und ich weiß nicht, was überwiegt hier, Fremdenfeindlichkeit oder Antisemitismus?“ (P 10/21) Als Überlebende der NS-Judenverfolgung wollte sie ansonsten nicht über das schmerzhafte Thema heutigen Antisemitismus in Berlin sprechen, s. oben ihr Leitzitat über Kap. III.4.2., S. 363. 343 Vgl. z. B. in der Einzelfallstudie zu Yachad Kap. IV.6.2., S. 514. – Ein beeindruckendes Dokument des Widerstands heute noch Lebender jüdischer NS-Opfer in Berlin gegenüber Rechtsextremisten stellt eine Sequenz aus G. B. Ginzels Film
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Ganz anders sieht es demgegenüber im Falle der längerfristigen Verhaltensstrategien gegenüber der Bedrohung durch manifesten Antisemitismus unter Deutschen aus. Wie erwähnt, richten sich tätliche Übergriffe überwiegend nicht gegen Juden, sondern gegen jüdische oder als jüdisch wahrgenommne Einrichtungen. Und eine gegen Menschen gerichtete manifeste Judenfeindschaft existiert, wie ebenfalls gezeigt, vor allem bei Rechtsextremen als Bestandteil ihrer Ideologie, die sich überhaupt gegen von ihnen als fremdartig und damit als minderwertig wahrgenommene Personen und Personengruppen wendet. Erwartungsgemäß äußerte niemand Bedenken, jüdische Einrichtungen auf Grund der genannten Gefährdung zu besuchen oder sprach sich gegen deren Sicherung von Gemeindeseite oder durch die Polizei aus. Im Bereich der juden- und insbesondere fremdenfeindlich agierenden Rechtsextremen wurde demgegenüber eine drastische Vermeidungsstrategie erkennbar. So bekannten Viele, die als rechte Hochburgen benannten Randbezirke im Berliner Osten und Umland zu meiden oder sich dort nicht als jüdisch kenntlich oder als ,Ausländer‘ zu zeigen. (P 9 II, P 12, P 17, P 19, P 20 und P 23; wahrscheinlich auch P 9 I, P 10 und P 22). Als Vermeidungsstrategie würden sie dorthin entweder gar nicht hingehen (P 9 II, P 19, P 23) oder nicht mit Kippa (P 20) oder Kleidungsstücken (P 22), in ihrem Falle sogar explizit Menschen mit ausländischer Herkunft raten, diese Stadtviertel zu meiden. Die einzige Ausnahme stellt die sehr kämpferische P 8 dar, die sich überall in Berlin mit Kippa zeigt und sich dabei mehr oder weniger sicher fühlt. (2) Islamistisches und arabisches Antisemitismus-Cluster Wie bereits in der auf Berlin bezogenen thematischen Einführung im Kap. III.4.1.2. aufgezeigt werden konnte, stellt antiisraelisch motivierte Judenfeindschaft aus arabischen sowie islamistischen Herkunftskreisen gerade in der multikulturellen Metropole ein wachsendes Gefahrenpotential für hier lebende oder nur sich zu Besuch aufhaltende Juden dar. Im Bereich der unmittelbaren körperlichen Bedrohung dürfte diese antisemitische Spielart demnach in Berlin mittlerweile die größte Gefahrenquelle ausmachen. Vor dem Hintergrund, dass diese höchst aktuelle Problematik wie erwähnt noch kaum erforscht ist, erscheinen die dezidierten Äußerungen der Befragte hierzu sehr aufschlussreich. P 20: Der aus Israel stammende Verkäufer in einem koscheren Lebensmittelgeschäft hat verschiedene Negativerfahrungen mit antiisraelisch motiviertem Antisemitismus in Berlin gemacht. Wie unten im Kap. III.4.2.2. zu den Bezügen zwischen den von den Befragten repräsentierten Gruppenaktivitäten und der Antisemitismus-Problematik näher ausgeführt, ist die Schaufensterscheibe seines Ladens häufiger von Verunstaltungen betroffen. Allerdings berichtet er auch von einem gegen ihn persönlich gerichteten Angriff in der U-Bahn auf Grund seines äußerlich als Jude mit Bart und Kippa erkennbaren jüdischen Auftretens nur we„Mittenmang und zwischendrin“ dar, in der die Schoah-Überlebende Salomea Genin am Rande einer NPD-Demonstration bekundete, nie mehr vor Neonazis zurückzuweichen; zu dem Film vgl. das Revitalisierungs-Kap. III.1.1.3., S. 190 ff.
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nige Monate vor unserem Gespräch. Der Angreifer war ein Araber und bedeutete ihm mit aggressiven Handbewegungen, die Bahn zu verlassen, um ihm körperlich etwas anzutun. P 20 reagiert ebenfalls aggressiv, fordert sein feindliches Gegenüber dabei aber auf, nicht zuzuschlagen. Kritisch bemerkt er rückblickend, dass die anderen in der Bahn Mitfahrenden nicht eingegriffen hätten, vielmehr nur abgewartet, was weiter passiert. Die Situation ,schrammte‘ haarscharf an einer weiteren Eskalation vorbei: „[...] weil ich dachte, ,noch eine Minute‘, [...]. Ich nehme diese [Not-; A. J. ] Bremse von der U-Bahn und ich halte die U-Bahn an,“ – „aber Gott sei Dank, er ist rausgegangen.“ (20/19) Ganz ähnlich wie bei der unten noch angeführten Sportlerin P 19 nimmt der aus Israel stammende Wahlberliner auch eine örtlich mit den Wohngegenden von Arabern und Islamisten zunehmende Gefährdung durch antiisraelisch motivierten Judenhass wahr: „Das Problem fängt an so Neukölln oder irgendwo Kreuzberg [...]. Ist bisschen gefährlich“. (P20/17) Daher sowie auf Grund der größeren Gefahr von Neonazis an der Peripherie der Metropole kann sich der in der Öffentlichkeit an seiner Kippa als gläubiger Jude erkennbare Ladenbetreiber nur ein Leben im Zentrum von Berlin vorstellen.344 P 8: Bei der bereits seit den 80er Jahren in der Metropole lebenden religiös egalitär reformjüdisch orientierten Wahlberlinerin mit Herkommen aus Westdeutschland gilt es zu berücksichtigen, dass sie sich seit einiger Zeit in der Öffentlichkeit bewusst als Jüdin zu erkennen gibt. Dies bringt die außerdem überzeugte Zionistin durch das Tragen einer Kippa auch auf der Straße zum Ausdruck (s. u.). Bisher ist die im Westteil Berlins Lebende noch kein Opfer eines tätlichen antiisraelisch-judenfeindlichen Übergriffs geworden. Ihrer Einschätzung nach hat Antisemitismus in der Stadt in den letzten Jahren insgesamt nicht zugenommen. Den arabischen oder islamistischen Antisemitismus nimmt sie dabei aber als das ihr gegenwärtig in der Metropole am deutlichsten entgegentretende judenfeindliche Gebaren wahr: „[...] ich kriege es selber halt höchstens mal so mit, also gar nicht mal so sehr von so rechten Jugendlichen oder Neonazis, sondern eher dann von Arabern, die dann ein bisschen komisch sich unterhalten.“ (P8/46) Die bewusste Entscheidung der bekennenden Wahlberlinerin zu dem weitreichenden Schritt, sich in der Öffentlichkeit als Jüdin zu bekennen, fällte sie erst nach Beginn der zweiten Intifada, als kollektive Reaktion auf die weltweiten und damit auch in Berlin wachsenden antiisraelischen Anfeindungen: „[...] also irgendwann sind wir [Egalitärer Minjan, A. J.] mal [...] während der zweiten Intifada darauf zu sprechen gekommen, dass man also ein bisschen mehr Präsenz zeigen [Hervorhebung: A. J.] sollte.“ (P8/44) Außer der engagierten Reformjüdin entschließen sich tatsächlich auch mehrere andere Mitglieder des zentral im östlichen Stadtzentrum in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße zusammenkommenden Egalitären Minjans zu dem weitreichenden Schritt, 344 Das entsprechende Zitat findet sich oben im Abschnitt zu manifestem deutschen Antisemitismus in Kap. III.4.2.1., S. 375.
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sich angesichts der antiisraelischen Bedrohung ganz bewusst mit Kippa in der Öffentlichkeit zu zeigen. (P8/45) Wichtig ist der sich mit diesem kollektiv gefassten Entschluss eher politisch als religiös in der Öffentlichkeit als Jüdin Zeigenden, „dass ich dadurch Präsenz zeige [Hervorhebung: A. J.], dass ich mich also von nichts und niemandem einschüchtern lasse und dass ich also durch das finsterste Viertel auch mit Kippa rumlaufen kann.“ (P8/46) Eindringlich schildert die Wahlberlinerin einen Wandel in ihrem zunächst von der rationalen Entscheidung, sich bewusst als Jüdin auf der Straße zu bekennen, nicht mitgeprägtem Selbstwertgefühl während diesem öffentlichen Auftreten. „Und anfangs war es für mich ein komisches Gefühl. Teilweise hat man auch vergessen, sie [Kippa; A. J.] abzumachen, ich habe gar nicht gemerkt, dass ich sie noch aufhatte.“ – „[...] und mittlerweile ist es ein Bestandteil meiner Kleidung geworden.“ (Ebd.) Allerdings kommt P 8 dabei sicherlich zu pass, dass sie bis zum Gesprächszeitpunkt kein Opfer eines direkten antisemitischen Übergriffs auf Grund ihrer Kleidung geworden ist (s. o.). Bestätigung für ihr öffentliches Bekenntnis zum Judentum findet die auf Grund früherer Israelaufenthalte selbst des Neuhebräischen bzw. Iwrit mächtige Zionistin immer dann, wenn sie, etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln in der Berliner Innenstadt, Israelis bemerkt, die sich laut auf Hebräisch unterhalten: „Ja und dann ist man eigentlich schon [...] so ein bisschen glücklich, dass man so eine normale Sprache hier hören kann,“ – „dass es nicht nur so eine heilige Sprache ist in der Synagoge, sondern auch eine normale Umgangssprache, bei der man sich nicht verstecken braucht.“ (Ebd.) Der Vollständigkeit halber muss gesagt werden, dass die Reformjüdin auch jenseits der Antisemitismus-Problematik ,Präsenz zeigen‘ in und gegenüber der Öffentlichkeit für ein Indiz eines wachsenden jüdischen Selbstbewusstseins in Berlin wahrnimmt.345 So beschreibt sie aus ihrer persönlichen Perspektive den Unterschied zwischen der Zeit vor der Berliner und Deutschen Vereinigung 1990 und heute. Damals, zu ihrer Zeit beim Jüdischen Studentenbund (JSB), seien sie nur zu besonderen Anlässen346 und unter offen oder verdecktem Polizeischutz als eine als Juden erkennbare Gruppe auf der Straße präsent gewesen, „während man heute ohne weiteres jederzeit sich als Jude in der Öffentlichkeit sehen lassen kann.“ (P8/47) Ihre Haltung eines selbstbewussten öffentlichen Auftretens als Juden vertritt sie auch innerjüdisch mit Verve: „[...] für mich ist das [...] eben das typische jüdische Kleidungsstück, an dem man einen Juden ohne weiteres erkennen kann. Und von mir aus sollen sie alle mit einer Kippa rumlaufen, damit dass also zu einem normalen Alltag gehört, wie ein moslemisches Kopftuch.“ (Ebd.) In dieser indirekten innerjüdischen Aufforderung, noch mehr Präsenz zu zeigen, schwingt offensichtlich die persönlich positive Erfahrung von P 8 im Tragen der
345 Diese Seiten des Präsenz-Zeigens bei P 8 und wird daher näher oben im Revitalisierungs-Kap. III.1.2.2., S. 219 f. behandelt. 346 Wie etwa dem Gründungstag des Staates Israel.
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Kippa mit, weswegen wie bereits erwähnt diese zu einem selbstverständlichen Accessoire ihrer Kleidung geworden ist. (s. o.). P 21: Auch die israelstämmige Pädagogin, die bis zum Millennium in einer anderen deutschen Großstadt tätig war, ist in den letzten Jahren in Berlin und andernorts von antiisraelisch motivierten Übergriffen von arabischer oder islamistischer Seite verschont geblieben. Im Gegenteil würden viele Nichtjuden ihr freundlich, etwa mit dem Friedensgruß Schalom begegnen. Dabei trägt sie in der Öffentlichkeit eine Kippa, wie sie es auch vor ihrer Zeit in Berlin bereits getan hat: „Ich habe niemals damit schlechte Erfahrungen [gemacht; A. J.].“ – „ich habe keine Angst, wenn ich das auf habe“. (P21/37) Allerdings hat die Lehrerin vom Anfang ihrer Tätigkeit in der JOS durch ihre SchülerInnen von entsprechenden Vorkommnissen erfahren. So berichteten diese immer wieder von massiven Belästigungen durch islamistische oder arabische Mitfahrende in der U- oder S-Bahn auf dem Weg zwischen ihren Wohnungen und der in der östlichen Innenstadt gelegenen Schule, wenn sie sich vom Äußeren her als Juden zu erkennen gegeben hätten. Auch kolportierten die SchülerInnen die überwiegende Passivität der in den Bahnen mitfahrenden Nichtjuden in den besagten Situationen. Vor dem Hintergrund ihrer o. g. anders gearteten eigenen Erfahrungen betont P 15 hinsichtlich dieser Übergriffe ihre diesbezügliche Ahnungslosigkeit ohne diese Erlebnisberichte: „Sonst hätte ich davon nicht gewusst“ (P21/38) – Die selbstbewusste jüdische Pädagogin berichtet in diesem Kontext von ihrer Beobachtung, dass sich innerjüdisch als Umgangsweise mit diesen direkten Bedrohungen ein problematisches Selbstverständnis breit mache: So würden Juden, die sich mit Kippa oder Davidstern als solche eigentlich gerne in der Öffentlichkeit bewegen wollten, „meinen, sie provozieren die Umgebung. Ich habe keine Ahnung, ob das stimmt, aber das ist ihr Gefühl, das ist ein subjektives Gefühl. Und die sagen [untereinander; A. J.]: ,Ja, warum gehst du nicht mit Kippa?‘ ,Ich möchte die Umgebung nicht provozieren.‘“ (P21/37) P 19: Für die dem ,russischen Milieu‘ entstammende aktive Sportlerin und Sportfunktionärin bei dem jüdischen Sportverein Makkabi Berlin stellt manifester Antisemitismus – einmalig im Erhebungskreis – im Interview ein persönliches Botschaftsthema dar. Sehr aussagekräftig erscheinen die Äußerungen der Mitzwanzigerin insbesondere im Themenfeld antiisraelisch aufgeladener Judenfeindschaft unter Arabern und Islamisten. Aus diesem Grund sollen ihre Erfahrungen und Reaktionsweisen im Folgenden unter Einbeziehung einiger von ihr sehr anschaulich geschilderten Beispiele ausführlicher vorgestellt und erörtert werden. Auf Grund der von der jungen Frau im Falle des antiisraelischen Antisemitismus sehr geschlechtsspezifischen Erfahrungen kann in der Darstellung ihrer Schilderungen die Anonymisierung ihres Geschlechts nicht aufrechterhalten werden –eine der wenigen diesbezüglichen Ausnahmen in der Studie. Der Hintergrund der ausführlichen Bezugnahme der Mitzwanzigerin auf antiisraelisch motivierten Judenhass besteht darin, dass sie als eine der jüngsten
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Interviewten wie auch ihr gleichaltriges jüdisches Umfeld mit diesem in den letzten Jahren immer massiver in Erscheinung tretenden Phänomen viel direkter konfrontiert ist als die älteren GesprächspartnerInnen. Dabei bedeutet für sie die Existenz einer arabischen bzw. palästinensischen sowie islamistischen Spielart des in Berlin existenten Antisemitismus in ihrem Alltag über die eigentliche Bedrohung hinaus auch eine Belastungsprobe für ihr ausgeprägtes interkulturelles Selbstverständnis. Denn die überzeugte Westberlinerin besitzt einen kulturübergreifenden Freundeskreis und engagiert sich mit diesem Selbstverständnis auch bei Makkabi, wo Juden und Nichtjuden bzw. Deutsche und ,Russen‘ in gemischten Mannschaften zusammen Sport treiben. Außerdem saß sie vier Jahre lang in der Oberschule neben einer libanesischen Muslima, ohne dass es, wie sie betont, zwischen den beiden Schülerinnen zu konfessionsbedingten Problemen gekommen sei. (P 19/54)347 Die sehr detaillierten Ausführungen von P 19 im Themenfeld ,antiisraelischer Antisemitismus‘ werden im Folgenden in einer zweiteiligen Gliederung nach ihren eigenen Erfahrungen und Umgangsweisen als und denen ihres jüdischen Umfelds als dargestellt: a) Eigene Erfahrungen und Umgangsweisen von P 19: Die aus dem ,russischen‘ Einwanderermilieu stammende gebürtige Berlinerin berichtet sehr offen davon, dass sie selbst antiisraelischem Antisemitismus, vor allem als Jugendliche, öfters ausgesetzt war und auch heute noch teilweise damit konfrontiert ist. Aufgewachsen ist sie in Moabit im Bezirk Tiergarten mit einem hohen Anteil an muslimischen und arabischstämmigen Jugendlichen. Später zieht die Familie in eine andere Gegend ohne diese Bevölkerungsgruppen. Die Berufsschülerin schildert ausschließlich verbale judenfeindliche Attacken, denen sie sich auf der Straße, im öffentlichen Bus oder während ihres Jobbens als Kellnerin seit ihrer Jugend immer wieder ausgesetzt sieht und mit denen sie auch heute noch mitunter konfrontiert ist. Dabei machte sie nie in dem bedrohlichen Maße Erfahrungen mit Judenhass von Seiten Gleichaltriger wie ein Bruder von ihr, worauf unten noch näher eingegangen wird. Rückblickend führt sie als Erklärung vor allem zwei Bedingungen dafür an, dass ihr in entsprechenden Situationen nie etwas Ernsthaftes zugestoßen ist und weswegen sie in ihrem alltäglichen Verhalten trotz antisemitischen Erfahrungen keine einschneidenden Änderungen vollzogen hat: • Zum einen hält die vielfach im jüdischen Sportwesen Aktive für entscheidend, dass sie sich seit ihrer frühen Jugend fast immer sichtbar und eindeutig zu ihrem Jüdisch-Sein bekannt hat.348 Diese Identitätsbekundung sei bei ihr, wie auch bei vielen Christen, die Kreuze als Halsschmuck tragen würden, allerdings an sich gegen niemand anderes gerichtet: „Ich möchte niemanden provozieren, ich mache es für mich und wenn jemand sich provoziert fühlt,
347 Auf Klassenfahrt waren die dem russisch-jüdischen Milieu entstammende P 19, ihre libanesische Mitschülerin, deren Schwester, eine Türkin sowie eine Deutsche in einem Bungalow: „Und es hat wunderbar geklappt“. (P19/57) 348 Hierauf wird unten auf S. 501 noch genauer eingegangen.
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dafür kann ich nichts.“ (P19/10) Allerdings ist sie davon überzeugt, dass sie durch ihre selbstbewusstes Auftreten als Jüdin trotz der größeren Gefahr, damit überhaupt erst von Antisemiten angesprochen zu werden, zugleich eine gewisse abschreckende Wirkung erzielt: „Weil ich auch öfters öffentlich mich bekannt habe, dass ich Jüdin bin, und es auch gezeigt habe, in Form von Davidstern als Kettenanhänger,“ – „Ohrringe, Pullis in ganz großem Maße.“ (Ebd.) Erleichtert wird der begeisterten Sportlerin ihre aufrichtige Haltung sicherlich dadurch, dass sie in ihrer Jugend Selbstverteidigung aktiv als Kampfsport betrieben hat. Tatsächlich gelingt es P 19 mit ihrem selbstbewussten Auftreten offensichtlich immer wieder, sich unter den ihr mit antiisraelischem Antisemitismus begegnenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein gewisses Maß an Respekt zu verschaffen, wie sie mit Beispielen genauer ausführt (s. u.). Zum anderen hält die Berufsschülerin ihr eigenes Geschlecht als Schonungsgrund ihrer Person für ausschlaggebend: Zwar hätte sie in dem damals von ihrer Familie bewohnten Viertel auf Grund ihres offen gezeigten JüdischSeins von einigen jüngeren Muslimen und Arabischstämmigen schiefe Blicke geerntet, jedoch hätten ihr diese Blicke zugleich noch ein Weiteres kommuniziert: „,Hm, ‘ne Jüdin, aber ein Mädchen, wir können ja einem Mädchen nichts tun‘. [...] Fährt man mit dem Bus, steigt aus und sieht wie Gesichter dich angucken: ,Ha, Jehudi!‘, auf Arabisch oder was auch immer.“ (P19/8)349
Zur Illustrierung des antiisraelischen Antisemitismus von männlich-muslimischen Jugendlichen, mit dem sie mitunter auch heute noch konfrontiert ist, schildert die Berufsschülerin anschaulich eine ihr persönlich widerfahrene ernsthaftere judenfeindliche Erfahrung. Demnach war ihr von einem jungen Araber während ihrer Tätigkeit in einem Gastronomiebetrieb am Kurfürstendamm angedroht worden, sie auszurauben, nachdem er sich bei ihr, die gut sichtbar einen Davidstern trug, bei ihr erkundigt hatte, ob sie tatsächlich Jüdin und außerdem bei der Arbeit alleine sei. Aus der Retrospektive schildert sie ihre Reaktion hierauf: „[...] ich war nicht wirklich ängstlich.“ – „Tja, was er anscheinend gemerkt hat und sich..., die reagieren auch immer ganz komisch [Hervorhebung A. J.], wenn man denen blöd kommt. Oder selbstbewusst kommt. Grade als Mädchen, wenn man allein ist und es ist eigentlich keine Hilfe da.“ (P19/9) Die ,komische
349 Aus der Ex-Post-Perspektive ließe sich schließlich eine dritte Voraussetzung dafür vermuten, dass der gebürtigen Berlinerin P 19, zumindest in ihren frühen Jugendjahren, nichts Ernsthafteres durch arabische oder islamistisch geprägten Gleichaltrigen passiert ist. Denn in dieser über 10 Jahre zurückliegenden Zeit dürfte unter national-arabisch und radikal-islamisch geprägten Jugendlichen das antiisraelischantisemitisch motivierte Aggressions-potential noch nicht ganz so hoch gewesen sein, wie in den letzten Jahren seit der sog. zweiten Intifada im Israel-PalästinaKonflikt und der weltweiten islamistischen Terrorwelle seit dem 11. September 2001. Tatsächlich erschien aber bereits damals ihr ,legeres‘ Sicherheitsverhalten ihrem jüdischen Umfeld z. T. als zu gefährlich (P19/8), s. u. S. 391
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Reaktion‘ besteht in dem jähen Beendigen der Drohgebärden de israelfeindlichen Jugendlichen: „Ich stand so da [,mit verschnörkelten Armen‘, ebd.] und dann wollte er auch kein Eis mehr haben und ist schweigend gegangen.“ (Ebd.) Ähnliche persönliche Reaktionen hatte sie auch in vergleichbaren frühren Situationen gezeigt, wo sie ähnlich unbeschadet herausgekommen war. Das Beispiel kann also sehr gut veranschaulichen, wie in den heiklen Situationen antisemitischer Anmache ihre beiden Eigenschaften ,weiblich‘ und ,selbstbewusst‘ im gepaarten Auftreten einen sich ergänzenden positiven Abschreckungseffekt auf Seiten der jungen Muslime, die sie bedrohen, auslösen. Allerdings bekennt die selbstbewusste junge Frau auch, in bestimmten Situationen Ängste zu entwickeln: Als Beispiel wählt sie die ihr vertraute Situation, eines neben ihr stehenden palästinensischen Jugendlichen im öffentlichen Bus, wobei in diesen Fällen die Angst „ständig ein Begleiter [ist]“ (P19/54) So frage sie sich in diesen Situationen sofort: „Habe ich irgendwas an mir dran, woran er erkennt, dass ich Jüdin bin, damit ich jetzt Angst haben muss?“ (Ebd.) Außerdem gibt es für sie in der Metropole auch Situationen, in denen sie sich einer judenfeindlichen Übermacht nicht gewachsen sieht und diese, wenn auch mit innerem Widerwillen, meidet. So schildert sie eine persönliche Rückzugssituation vor antiisraelischen Bekundungen, die auf Grund der dichten Beschreibung der widersprüchlichen Gefühlslagen der daran beteiligten Jüdinnen ausführlicher zitiert werden soll. Wenige Monate vor dem Gespräch hatte eine größere, gegen Israel gerichtete palästinensische Demonstration stattgefunden, deren Abschlusskundgebung auf dem Kurfürstendamm stattfand. An diesem Sonntag saß die Berufsschülerin mit drei jüdischen Freundinnen in einem Straßencafé in unmittelbarer Nachbarschaft des Geschehens. Eindringlich beschreibt sie die gemischten Gefühle, die sie und ihre Freundinnen umtrieben, angesichts des von der Demonstration ausgehenden Hasses gegen Israel und gegen Juden überhaupt: „Einerseits möchte man sich ja gerne mit den Leuten einfach nur unterhalten, weil man die ja nicht ganz versteht. Weil die denken immer nur: ,Töten, töten, töten und das Land wegnehmen. Israel hat uns das Land weggenommen, und das möchten wir nicht, und wir möchten ihnen nicht noch mal Land abgeben. Und am besten alle töten‘. So, und dann sitzt du da und denkst: ,Hm, man möchte sich doch gern mal mit denen unterhalten, weil das kann ja wohl nicht alles sein. Wir sind die Schlechten und die sind die Guten. Weil so ist es ja auch nicht.‘ Aber man geht natürlich den Schritt nicht.“ – „Vor allem weil, dann denkt man sich: ,Hm, wenn jetzt einer von denen erfährt, dass du Jüdin bist, was machen die anderen 500 dann mit dir?‘ (…)“ – „(…) Dann haben wir uns gesagt, da brauchen wir uns auch nicht reinsetzen. Weil, das ist sicherer für uns alle. Da wir alle eine große Klappe haben. Aber man muss auch wissen, wann man sie einsetzen“ – „kann und wann man sie lieber nicht aufmacht.“ (P19/11 f.)
Ungeachtet des Mutes von P 19, ihre jüdische Identität auch gegenüber den muslimischen Antisemiten zu zeigen, macht ihr dieser ihr ohne Ansehen ihrer Person per se entgegengebrachte Hass von israel- und dabei überhaupt judenfeindlichen arabisch bzw. palästinensisch oder islamistisch geprägten Jugendlichen enorm
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zu schaffen Dabei stellt sie mit großem Ärger und gleichzeitigem Bedauern für sich und die jüdische Gemeinschaft in Berlin und in Deutschland insgesamt fest: „Das ist halt das, was mir in Deutschland fehlt: dass ich rausgehen möchte mit meinem Davidstern und keine Angst haben muss, dass mir irgendetwas passiert“ – „und dass ein Rabbiner rausgehen kann auf die Straße und dass er keine Angst haben muss, dass ihm irgendetwas passiert.“ (P19/54) b) Erfahrungen des persönlichen Umfelds von P 19 mit antiisraelischem Antisemitismus und deren Reaktionsweisen hierauf: In keinem der Interviews wurde so deutlich, welche verschiedenen Umgangsweisen jüdischerseits mit der Gefährdung durch antiisraelisch motivierte antisemitische Übergriffe gezogen werden wie in dem Gespräch mit P 19. Dies soll über ihre eigene, bereits geschilderte persönliche Haltung hinaus mit drei weiteren von ihr in je unterschiedlichen Kontexten angesprochenen Beispielen aus ihrer Familie und ihrem Freundeskreis (2) bis (4) belegt werden: Wie bereits erwähnt bekennt sich die engagierte Sportlerin P 19 seit ihrer Jugend durch das Tragen jüdischer Embleme an Kopf- und Halsschmuck sowie auf Kleidungsstücken von wenigen Ausnahmen abgesehen in der Öffentlichkeit selbstbewusst zu ihrem Jüdisch-Sein. Bestärkt wird sie bis heute in dieser Haltung offensichtlich durch die o. g. Erfahrungen der Irritation und Abschreckung, die ihr Verhalten bei den judenfeindlichen arabisch-muslimischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen auslöst. – Zwar sieht die Berufsschülerin auch bei männlichen jüdischen Jugendlichen einen unbedingten Vorteil darin, wenn diese sich in der Öffentlichkeit gegenüber antiisraelisch/antijüdischen Gleichaltrigen selbstbewusst zu ihrem Jüdisch-Sein bekennen. Trotzdem räumt sie zugleich ein, dass jüdische Jungen gegenüber jüdischen Mädchen in diesem Fall im Nachteil wären, auf Grund des gleichen Geschlechts zu den sie in judenfeindlicher Absicht bedrohenden Jugendlichen: „Bloß als Junge hat man es immer schwieriger, weil es dann nicht mehr bei den mündlichen Aussagen bleibt, sondern dass dann öfters mal Fäuste geschwungen werden“. (P19/9) Eine ganz andere Position als diejenige der ,russisch‘-stämmigen Berufsschülerin nahm zu ihrem erkennbar jüdischem Auftreten in ihrer Jugend bspw. ihre in der SU geborene Mutter ein: In der Zeit als P 19 noch minderjährig war wollte diese nicht zulassen, dass sie mit gut sichtbaren jüdischen Emblemen auf die Straße ging: „Ich habe jedes Mal da erst mal Probleme mit meiner Mutter bekommen: ,So gehst du mir nicht auf die Straße!“ – „Aber, in dem Alter von 14, 15 hört man da sowieso nicht drauf“. (P19/8) Interessant an diesem ,klassischen‘ Generationenkonflikt ist in diesem Kontext, dass dieser mittlerweile länger als 10 Jahre zurückliegt, also in der Zeit vor den weltweit und damit auch in Berlin spürbaren antiisraelischen Radikalisierungen seit dem 11. September 2001 und der zweiten Intifada. D. h. bereits damals schien in dem muslimisch geprägten City-Stadtteil, welchen ihre Familie damals bewohnte, Anlass für entsprechende Sorgen jüdischer Eltern um ihre sich offen jüdisch zeigenden Kinder zu bestehen.
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Passend zu der zuvor angeführten elterlich kritischen Haltung gegenüber dem optisch sichtbaren Auftreten ihrer jugendlichen Tochter in der Öffentlichkeit als Jüdin ist auch die Umgangsweise der Familie von P 19 mit massiven antisemitischen Bedrohungen, deren sich ein jüngerer Bruder von ihr vor nur wenigen Jahren ausgesetzt sah. Er besuchte damals die Mittelstufe einer öffentlichen Schule im Berliner Bezirk Tiergarten. Die Familie lebte zu dieser Zeit außerdem noch in einer Gegend mit einem relativ hohen Anteil türkisch- und arabischstämmiger Bevölkerung (s. o.). Auch an der damaligen Schule ihres Bruders stellte diese Bevölkerungsgruppe einen höheren Anteil unter den Schülern. Aus dieser Gruppe heraus kam es immer wieder zu massiven Bedrohungen ihres Bruders, des einzigen jüdischen Mitschülers, wie P 19 mit einem drastischen Zitat verdeutlicht: „Und dann hieß es: ,Ja wir vergasen euch‘“. (P19/6) Ihrer heutigen Einschätzung nach hätte ihrem Bruder damals in der Schule oder auf der Straße jeden Tag etwas Ernsthaftes passieren können. Trotz des in dem o. g. Zitat zur Geltung kommenden hohen Aggressionspotentials, blieb ihr Bruder von körperlichen Übergriffen der ihn judenfeindlich bedrohenden Mitschüler verschont. Denn die Familie entschloss sich zu entschiedenen Konsequenzen: „War uns dann doch ein bisschen zu gefährlich.“ (P19/9) Sie nahmen den Jugendlichen von der öffentlichen Schule und gaben ihn auf die Jüdische Realschule. Erleichtert wurde der Schritt dadurch, dass sich hier bereits viele seiner Freunde befanden. Sehr eindringlich schildert P 19 die Ambivalenz der im Zuge dieser Entscheidung für ihren Bruder eintretenden Normalisierung, da diese mit einem neuerlichen Verlust an Normalität ,erkauft‘ wurde: So wäre dieser zwar natürlich glücklich gewesen, nun nicht mehr direkt bedroht zu sein und mit den Freunden auch im schulischen Alltag zusammen zu sein, nur würde ihm wie seiner Familie nun eine neue Gefährdung schmerzlich bewusst: „Nur wenn man sich dann in jüdischen Institutionen aufhält, gerade wie die Jüdische Oberschule, dann tauchen neue Probleme in Anführungszeichen auf. Das ist die Sicherheit. Das ist, die Eltern machen sich Sorgen, die Kinder gehen auf eine jüdische Oberschule, die bewacht wird, die gefährdet ist“. (P19/7) Auch wenn die Sicherheitsmaßnahmen immer mehr erhöht werden, gilt ihrer Einschätzung nach: „Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit. Da kann man noch so viele Sicherheitsleute hinstellen. So lange [...] da auf anderen Ebenen nichts passiert.“ (Ebd.)350 Dennoch sieht P 19 ihren Bruder heute weniger gefährdet als noch vor einigen Jahren: Neben dem o. g. Schulwechsel und einem Umzug der Familie in eine durch Antiisraelismus weniger gefährdete Gegend benennt sie ein drittes Argument, welches das Jugendspezifische des alltäglich im Umgang gezeigten antiisraelischen Antisemitismus aufzeigt. Ihr Bruder befände sich heute nach Abschluss der jüdischen Oberschule in der Berufsausbildung, was eine Verringe-
350 Aus dem Kontext des Gesprächs geht hervor, dass P 19 hier insbesondere eine für beide Seiten einvernehmliche Lösung im Nahostkonflikt meint; vgl. unten Kap. III.4.2.3., S. 411 f.
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rung der antisemitischen Gefahr mit sich brächte: „Man wird ja auch erwachsener irgendwann mit der Zeit.“ (Ebd.) Einen ganz anderen Verhaltensaspekt im Angesicht des arabisch/palästinensischen oder islamistisch geprägten Antisemitismus in Berlin reißt die im jüdischen Sportwesen aktive Berufsschülerin im Zusammenhang mit Freundinnen und Bekannten an, die als Israelis oder zeitweilig in Israel Lebende fließend Hebräisch (bzw. Iwrit) sprechen. Dies wäre bspw. bei ihrer besten Freundin der Fall, da sie eine Zeit lang in Israel gelebt hätte. Jedoch würde sich die Freundin, obwohl an sich kein schüchterner Typ, nicht trauen, auf offener Straße in Berlin Iwrit laut zu sprechen aus Angst vor israelfeindlichen Judenhassern: Die Freundin „mag es sogar nicht, öffentlich auf der Straße mit ihrer Mutter Hebräisch zu reden.“ – „Sag ich: ,Du, aber was ist, wenn du keine andere Sprache kennst? Und nur Hebräisch? Du kannst doch nicht die ganze Zeit nur Englisch oder leise reden! Das geht doch nicht.‘“ – „Sie redet Deutsch und Russisch, aber wenn es dann mal irgendwie Hebräisch sein muss“ – „oder wenn sie hört, dass unsere Bekannten in unserem Bekanntenkreis laut Hebräisch reden, auf der Straße, dann hat sie ein ungutes Gefühl. Also dann sieht man aber öfters mal Touristen aus Israel hier, [...] die es [beim Iwrit reden, A. J.] überhaupt nicht interessiert, wo sie sich aufhalten. Das ist ihre Muttersprache. Keiner kann sie ihnen verbieten.“351 (P19/12-13) Bemerkenswert an diesem Zitat ist, dass es offenbar bei Israelis und anderen Iwrit Sprechenden unter Sicherheitsgesichtspunkten ganz verschiedene Positionen dazu gibt, Neuhebräisch in Berlin in der Öffentlichkeit zu benutzen. P 22: Ein ganz anderes erfahrungsgesättigtes Statement zu arabischem und islamistischem Antisemitismus soll noch dasjenige, der in der israelkritischen Nahostgruppe Engagierten hier angefügt werden. Ihre heutigen Erfahrungen mit arabischem und islamistischem Antisemitismus werden en detail unten in Kap. III.4.2.2. im Kontext ihres Engagements in der Nahostgruppe aufgeführt. Hier soll lediglich ihre Gesamteinschätzung der aktuellen Gefährdungen durch antiisraelisch codierten Antisemitismus und zuvor eine in die längst vergangenen DDR-Tage weit zurückreichende Begebenheit wiedergegeben werden: Mit ihrer eindrücklichen Schilderung aus dem damaligen Ostberlinerin trägt die dort Geborene die älteste, immerhin ein Vierteljahrhundert zurückreichende Erfahrung mit arabischer Judenfeindschaft zu der vorliegenden Zusammenschau bei: Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre war die junge Frau in der Hauptstadt der damaligen DDR auf dem Alexanderplatz mit einem schwarzen Pullover mit goldenem Davidstern unterwegs. Dort geriet sie, die gerade ihr frisch entdecktes Judentum extensiv auslebte, wie sie es nennt in eine „irrwitzige Situation“ (P22/19): Plötzlich wurde sie auf dem Platz von einer Gruppe wahrscheinlich auf 351 Diese Einschätzung korrespondiert sowohl mit dem im gleichen Cluster oben angeführten Zitat von P 8 zu sich auf Hebräisch unterhaltenden Israelis wie im übrigen mit meinen eigenen Beobachtungen im Umfeld jüdischer Sehenswürdigkeiten und mit jüdischer Thematik befasster Einrichtungen in Berlin.
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Grund der günstigeren Preise zum Einkaufen aus dem Westteil der Stadt herübergekommener junger arabischer Männer in eindeutig feindlicher Absicht bedrängt. Die auf dem Platz immer präsente Polizei bemerkte zwar die hilfesuchenden Blicke von P 22, unternahm aber nichts weiter.352 Ein befreundeter Journalist befreite sie schließlich aus der misslichen Situation. Trotz oder gerade wegen ihres heutigem Engagements nimmt die Israelkritikerin sehr deutlich eine zunehmende Melange aus der ihrer Ansicht nach berechtigten Kritik an der Politik des Staates Israel und radikalfundamentalistischem arabischem und islamistischem Antisemitismus wahr (s. u. Kap. III.4.2.2.). Hier sei vorwegnehmend nur kurz ein von P 22 erwähntes antisemitisches Hetzflugblatt angesprochen, welches in Kreuzberg zweisprachig, in Türkisch und Arabisch, verteilt wurde. Auch wenn sie Fundamentalismus nicht für ein ,Privileg‘ der Urheberkreise solcher Pamphlete, sondern im Gegenteil auch Israelis, Deutsche und andere westlich Orientierte für Rassismus für empfänglich hält, bereitet ihr die von ihr scharf kritisierte Verbindung aus Israelkritik und Judenhass ernsthaft Sorgen: „Das vermischt sich auch immer mehr, [...]. Also das ist eine gefährliche Form, die sich in den arabischen Gemeinden ja entwickelt.“ (P 22/70) P 9 I: Ein latentes Unsicherheitsgefühl und entsprechende persönliche Konsequenzen auf Grund antiisraelischen Antisemitismus äußert die seit einigen Jahren in Berlin lebende und bei der jüdischen Homosexuellengruppe Yachad353 Aktive mit Herkommen aus dem westeuropäischen Ausland. Dabei nimmt auch sie innerhalb der Metropole sehr deutliche räumliche Unterschiede in der Gefährdung durch islamistischen und arabischen Antisemitismus wahr. Im Bezug auf diesen bestünde auf Grund ihrer Alltagserfahrung innerhalb des West-Teils von Berlin, wo sie sich privat wie beruflich überwiegend aufhält, ein deutliches Gefälle: So hält auch sie in Berlin lebende Juden genauso wie die zuvor angeführten Befragten in Bezirken mit einem relativ hohen Wohnbevölkerungsanteil an Palästinensern sowie überhaupt an Personen arabischer Herkunft, wie etwa die von ihr selbst bewohnten Gegenden in Kreuzberg und Neukölln, für weitaus gefährdeter, als die in anderen Bereichen der westlichen Innenstadt.354 Der Grad der persönlich von der bekennenden jüdischen Lesbe wahrgenommenen Gefährdung durch einen in Berlin virulenten antiisraelisch motivierten 352 Die Gründe der damaligen polizeilichen Passivität sind P 22 nicht klar. Allerdings muss hierfür nicht unbedingt latenter Antisemitismus ausschlaggebend gewesen sein. Sie mutmaßt ebenfalls, dass eine Befangenheit im Umgang von nichtjüdischer Seite in der DDR mit den zahlenmäßig noch viel weniger Juden als in der BRD, für den Fall der seltenen bewussten Begegnung mit ihnen, eine Rolle gespielt haben könnte. Schließlich hält sie es ebenfalls für möglich, dass die Polizisten möglicherweise dachten, dass zwischen den Arabern und der jungen Frau in geschlechtlicher Hinsicht etwas stattfand. 353 Vgl. zu Yachad näher die Einzel-Studie im vierten Teil in Kap. IV.6. 354 Dies meint also implizit Gegenden wie etwa der ,vornehmere‘ Westen, wie etwa Charlottenburg oder Wilmersdorf, wo auch das Gruppeninterview mit P 9 I und P 9 II stattfand.
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Antisemitismus drückt sich darin aus, dass sie für sich, bezogen auf ihr öffentliches Erscheinungsbild, persönliche Konsequenzen gezogen hat: „Ich merke es privat, [...] ich laufe nicht mit so einem Davidstern“ – „rum, und das mache ich auch bewusst nicht.“ (P9 I/29) Allerdings gilt diese bewusste Entscheidung auch im Hinblick auf unterschiedliche Reaktionen von deutscher Seite, denen sie auf diese Weise ebenfalls aus dem Weg gehen möchte (s. u.). Ihre Erfahrung bilanziert sie: „[...] aber in Berlin [...], wenn man sich nicht offen als Jude outet, dann passiert [nichts; A. J.]“. (Ebd.) Entsprechend ihrer auf Unauffälligkeit bedachten Haltung ist sie bisher noch kein Opfer eines antiisraelisch motivierten tätlichen Übergriffs geworden, auch trotzdem ist auch sie schon in unangenehme Situationen geraten. Eine besonders heikle Begebenheit, bei der auch sie zugegen war, wird von ihrem Yachad-Kollegen berichtet und im Folgenden wiedergegeben: P 9 II: Das ursprünglich aus Ostdeutschland stammende männliche Mitglied der jüdischen Homosexuellen-Gruppe Yachad schildert eine mit P 9 I und anderen aus diesem Kreis gemeinsam erlebten Vorfall, der sich nach ihrem gemeinsamen Besuch der Synagoge Pestalozzistraße an Schabbat in der westlichen Innenstadt in Charlottenburg ereignet habe. Einige aus der Gruppe hatten vom Gottesdienst her noch eine Kippa auf und waren daher eindeutig als Juden zu erkennen. Als sie gerade dabei waren, vor einem Lokal ihre Fahrräder abzustellen: „[...] da war der Besitzer offensichtlich Araber, weil arabisch angeschrieben ist, hat uns ganz einfach davongejagt [...], weil, einfach Juden, [...] das käme nicht in Frage“. (P9 II/30) Der Konflikt eskalierte so weit, dass schließlich sogar die Polizei zur Schlichtung erscheinen musste. Besonders bemerkenswert an dem von dem bekennenden Schwulen kolportierten Übergriff ist insbesondere, dass dieser sich nicht in einer überwiegend von Arabern bzw. Muslimen bewohnten Gegend, sondern mitten im gutbürgerlichen Charlottenburg zugetragen hatte. P 23: Eindeutig spricht die ursprünglich aus Westdeutschland nach Berlin gekommene Publizistin von einer Zunahme an Antisemitismus allgemein in Berlin und überhaupt in Deutschland, wie oben im Bereich der von Deutschen ausgehenden judenfeindlichen Übergriffe erwähnt. Insbesondere im Hinblick auf die hier behandelte antiisraelisch codierte Judenfeindschaft berichtet sie von negativen Alltagserfahrungen und entsprechenden Vermeidungsstrategien: Als eine konkrete Negativerfahrung mit diesem Phänomen gibt P 23 zu denken, dass eine gute Bekannte von ihr innerhalb des letzten Dreivierteljahres vor dem Erhebungsgespräch alleine dreimal auf offener Straße von Personen aller Wahrscheinlichkeit nach mit arabischem Herkommen oder mit islamistischem Hintergrund tätlich angegriffen wurde. Dieses Beispiel nimmt sie nur als exemplarische Erscheinungsform einer auch durch entsprechende Medienberichte (s. o.) gestützte, generelle Entwicklung wahr: „Von daher sehe ich das sehr deutlich, dass Antisemitismus im Alltag zugenommen hat.“ (P23/23) Auch die journalistisch insbesondere zu jüdischen Themen Arbeitende macht eine räumliche Konzentration in bestimmten Gegenden im Westteil von Berlin
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aus. An erster Stelle nennt sie den Bezirk Neukölln. Gegen, insbesondere arabische und islamistische manifeste Übergriffe (aber auch von deutscher Seite, s. o.) sucht die sich häufig in der Öffentlichkeit und mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewegende Journalistin heutzutage im Unterschied zu noch vor einigen Jahren durch das weitgehende Vermeiden von allgemein erkennbaren Hinweisen auf ihr Jüdisch-Sein zu schützen: „Also ich gehe z. B. jetzt nicht mehr mit T-Shirts raus, wo irgendwelche hebräischen Sachen drauf stehen. Also ich hatte [...] ,Jewish community of Pensacola‘ [gemeint: ein T-Shirt; A. J.] habe ich mal geschenkt gekriegt. So was fungiert bei mir jetzt als Nachthemd. Oder hier in Deutschland mit Davidstern rumlaufen, dass mache ich einfach nicht mehr. Und ich [...] zensiere mich auch. Ich lese in der U-Bahn Zeitungen, aber sicherlich keine jüdischen mehr.“ (Ebd.)
P 12: Diese Studentin besitzt mit der oben ausführlich mit ihren antiisraelisch motivierten antisemitischen Negativerfahrungen aufgeführten im jüdischen Sportwesen engagierten Berufsschülerin P 19 zunächst zwei biographische Gemeinsamkeiten: Auch sie entstammt dem Einwanderungsmilieu aus der ehemaligen SU und gehört ebenfalls zur gleichen Alterskohorte der Mitzwanziger. Im deutlichen Kontrast zu dieser weiß sie von keinen ihr persönlich widerfahrenen islamistischen oder arabischen judenfeindlichen Vorkommnissen zu berichten. Zwei, sich noch zu ihrer Schulzeit ereignende judenfeindliche Vorfälle lassen diesen Hintergrund nicht erkennen. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass durch den biographischen Bildungshintergrund die im jüdischen Studentenbund Aktive sich eher in bildungsbürgerlichen Kreisen bewegt und aus diesem Grund bereits deutlich weniger mit entsprechenden Situationen in ihrem Alltag konfrontiert ist als die o. g. Berufsschülerin Studentin P 19. P 18: Die mit ihren ausführlicheren Statements im Bereich des latenten deutschen Antisemitismus o. g. USA-stämmige Journalistin und Sozialwissenschaftlerin hat bislang ebenfalls keine direkten antiisraelisch motivierten Negativerfahrungen mit arabischer und islamistischer Judenfeindschaft in Berlin gemacht. Unbenommen von ihrer eigenen Unversehrtheit spricht sie eine Grundbefürchtung aus, wie ich sie im jüdischen Berlin der letzten Jahre über dieses Statement hinaus vielfach vernommen habe: „Und was mir besonders Angst macht, ist diese sich entwickelnde Zusammenarbeit der extremen Rechten und der islamitischen Extremen.“ – „[...] ich bin kein Fan von Goldhagen, aber der nationalistische Antisemitismus in extremistischen, islamistischen Kreisen ist übernommen und wiederholt, dass Juden eliminiert werden müssen“. (P18/33-34)
Zwischenergebnis Aktueller antiisraelisch motivierter Antisemitismus von arabischer und islamistischer Seite hat einen in dieser Intensität zunächst kaum erwarteten Niederschlag in den Statements der Erhebungsgespräche gefunden. Hieraus lassen sich einige generalisierbare Befunde festhalten:
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Täterseite: Zunächst fallen die vielen Schilderungen von direkten körperlichen Bedrohungen im Bereich antiisraelisch motivierter Judenfeindschaft ins Auge. Die sich Äußernden oder ihr unmittelbares Umfeld sollen bei diesen Übergriffen offensichtlich weitgehend erniedrigt werden, was vor allem die drastischen Schilderungen von P 19 und P 20 veranschaulichen. In den meisten Fällen handelt es sich sowohl auf Täterseite überwiegend um Jugendliche und junge Erwachsene wie auch bei den Opfern (s. u.), allerdings überwiegend um männliche. Bei der Frage des Herkunftsmilieus der Angreifer fällt auf, dass es den Betroffenen kaum möglich ist zu bestimmen, ob es sich bei diesen um arabische bzw. palästinensische und/oder um islamistische Herkunftskreise handelt. Der Grund scheint offensichtlich. Opfer und Täter kennen sich in den meisten Fällen nicht oder nicht näher, und die hohe Aggressivität und Unvermitteltheit der Angreifenden sowie ihre jähe Flucht verhindern genauere Bestimmungen ihrer Herkunft und auch ihrer weiterreichenden Motive. Im Fall sehr junger Täter ist auf Grund ihres Alters eine genauere Motivbestimmung zwischen einem arabischnationalistischen oder islamistischen Hass auf Israel und Juden kaum möglich. Opferseite: Dafür Opfer antiisraelisch motivierter Übergriffe in der Metropole zu werden scheint jüdischerseits Herkommen keine entscheidende Rolle zu spielen. So äußerten sich Personen aller Herkunftskreise – Deutschland, Osteuropa, westliche Staaten und Israel – zu antiisraelisch motivierten Übergriffen. Solange die aus Israel Stammenden sich durch öffentliches Sprechen von Iwrit ihr Herkommen nicht ausweisen, müssen sie offenbar keine judenfeindliche ,Sonderbehandlung‘ erleiden. Auch das personenbezogene Merkmal Geschlecht scheint nicht entscheidend dafür zu sein, Opfer dieser Spielart von Antisemitismus zu werden. Geschlechtsspezifisch ins allenfalls der höhere Grad an Gewalterfahrung bei männlichen Opfern (vgl. P 19) und die Reaktionen der überwiegend männlichen Täter auf selbstbewusst auftretende weibliche Opfer (s. u.). Demgegenüber scheint die Chance bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ungleich höher zu sein, Opfer von Attacken der meist ähnlich alten Tätern zu werden, als bei Älteren. Außerdem wurden sich entsprechend Äußernde oder Personen aus deren jüdischem Umfeld häufig direkte Opfer auf Grund der Tatsache, dass sie in der Öffentlichkeit an äußerlichen Merkmalen wie Haartracht, Kleidungsstücken oder Schmuckemblemen als Juden erkennbar waren. Die Gelegenheitsstruktur lässt also vor allem drei Voraussetzungen jüdischerseits als begünstigend für antiisraelisch/islamistisch motivierte Übergriffe erscheinen: • äußere Erkennbarkeit als Juden • Jugendliche und junge Erwachsene • sowie stadträumliche Faktoren: – in innenstadtnah gelegenen Gründerzeitquartieren wie Kreuzberg, Moabit und Neukölln mit einem höheren Anteil arabischer und muslimischer Bevölkerung (P 19, P 20, P 22 und P 23);
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– auf belebten öffentlichen Verkehrswegen für Passanten wie Straßen sowie U- und S-Bahnen bzw. U- und S-Bahnhöfen sowie in öffentlichen Verkehrsmitteln (P 19, P 20 und P 21); – in oder im Umfeld von Schulen, in denen Täter- und Opfer gleichermaßen Schüler sind oder auf dem Schulweg (P 12 und P 19). Im Fall unmittelbarer Umgangsweisen mit persönlich erlittenen antiisraelisch motivierten judenfeindlichen Übergriffen stehen eindeutig Notwehrreaktionen im Vordergrund. (P 19 und P 20) Allgemein dominiert die Haltung, sich auf keinen Fall von den offenbar meist sehr aggressiv auftretenden Tätern einschüchtern zu lassen. In der Konfrontation mit judenfeindlichen Arabern und Islamisten wird im Gegenteil sogar ein ausgesprochen selbstbewusstes weibliches Auftreten angesichts der dadurch kulturbedingt bei diesen Antisemiten ausgelösten Irritationen sogar als besonderer Vorteil benannt. (P 19) Eine vordergründig etwas ähnlich gelagerte längerfristige Vermeidungsstrategie wie gegenüber manifest fremdenfeindlichen Rechtsextremen in Berlin findet sich gegenüber dem antiisraelisch bestimmten Antisemitismus unter Arabern und Islamisten, der ansonsten in seiner hohen körperlichen Gewaltbereitschaft ausgesprochen gegen Juden im manifesten Antisemitismus bei Deutschen keine Entsprechung besitzt. Auch hierbei wird in einer stadträumlichen Strategie eine bekannte höhere Dichte von radikal antiisraelischen Islamisten und Arabern in bestimmten innerstädtischen Wohnquartieren als Anlass genommen, sich in diesen Quartieren nicht explizit als jüdisch erkennbar aufzuhalten. (P 9 II, P 19, P 20) Allerdings zeigt sich, dass hierbei diese stadträumliche Vermeidungsstrategie viel schwächer ausgeprägt ist wie gegenüber Rechtsextremen bzw. den östlichen Randbezirken. Denn tatsächlich werden die benannten innerstädtischen und innenstadtnahen Viertel wie Moabit, Wedding, Kreuzberg und Neukölln von den Interviewten gar nicht wirklich gemieden. Im Gegenteil, halten sich in diesen Vierteln viele von ihnen privat, beruflich oder wie im Fall des InternetDienstleisters Milch und Honig (P 15) und der Nahostgruppe (P 22) sogar in innerjüdischen Kontexten auf (s. u. Kap. III.4.2.2.). Und zweitens zeigten die Beispiele von Übergriffen im entsprechenden Cluster zu antiisraelischem Antisemitismus aber auch in der Auflistung in Kap. III.4.1.1., dass sich neuralgische Punkte dieser Gefährdung überall in der belebten Berliner Innenstadt finden, nicht nur in den Wohnquartieren potentieller Täter. Daher überwiegen gegenüber den räumlichen offensichtlich eher das eigene Auftreten betreffende längerfristige Vermeidungsstrategien im Fall des antiisraelisch motivierten Antisemitismus: Die sich hierzu Äußernden oder Personen ihres Bekanntenkreises verschleiern ihre jüdische Identität etwa durch den Verzicht, auf der Straße Hebräisch zu reden (von P 19 genanntes Beispiel), eine Kippa zu tragen (P 20) oder sich überhaupt durch irgendetwas als jüdisch kenntlich zu zeigen. Dieses Verhalten wird allerdings, wie die Äußerungen von P 8 und P 19 zeigen, von anderen wiederum gerade als nicht adäquate Umgangsweisen mit der
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Gefährdung durch antisemitische Gewalttäter abgelehnt oder sogar innerjüdisch heftig kritisiert, wie im Fall von P 8. (3) Zwischenbilanz der persönlichen Erfahrungen und Umgangsweisen mit Antisemitismus in Berlin Schließlich gilt es noch, die entsprechend dem Schema der drei AntisemitismusClustern dargestellten persönlichen Umgangsweisen des Erhebungskreises sowie ihres jüdischen Umfelds insgesamt knapp einer vorläufigen Bewertung zu unterziehen. Eine abschließende Würdigung erfolgt am Ende des gesamten Kapitels. Alle drei bereits in der vorläufigen Analyse der Auflistung der antisemitischen Vorfälle in Berlin in den letzten Jahren gefolgerten Schlüsse wurden auch durch die Äußerungen der Befragten zu den verschiedenen Teilaspekten der Antisemitismus-Problematik bestätigt: • die Existenz von antisemitischen Bekundungen in ganz unterschiedlichen Bevölkerungsschichten; • eine zeitliche und räumliche uneingeschränkte Gefährdung von Juden durch latente und manifeste Formen von Antisemitismus, vor allem in Fällen, in denen sie sich durch äußere Merkmale wie Haartracht, Kleidung oder mit Schmuckemblemen in der Öffentlichkeit als solche kenntlichen zeigen; • das reziproke Gefälle zwischen der persönlich höheren Gelegenheitsstruktur, Opfer antisemitischer Übergriffe im Berliner Innenstadtbereich zu werden und der größeren allgemeinen Gefährdung in den gemiedenen Peripheriebereichen der Metropole. Darüber hinaus zeigte sich sehr starke Unterschiede im Fall der für die Unterscheidungen der Statements zuvor geclusterten wichtigsten verschiedenen Formen und Motive von Antisemitismus: • Latenter Antisemitismus von deutscher Seite wird in nahezu allen gesellschaftlichen Schichten wahrgenommen oder vermutet. • Manifester Antisemitismus von deutscher Seite wird als eher randständiges Teilproblem rechtsextremer Fremdenfeindlichkeit erörtert und nur selten (insbesondere Demonstrationen) als Face-to-face-Begegnung erlebt. • Manifester Antisemitismus von arabischer/islamistischer Seite wird als sehr aggressive, ausgesprochen gegen Personen gerichtete Bedrohung erfahren. Schließlich gilt es, noch auf das Schweigen und Nichtverhalten aus der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft zu den antisemitischen Verhaltensweisen in Berlin einzugehen. Wie der Zentralratsvorsitzende P. Spiegel und andere jüdische Repräsentanten kritisieren, wird aus der Antisemitismus verabscheuenden Mehrheit der deutschen Gesellschaft immer wieder die jüdische Zuständigkeit für Antisemitismus explizit oder implizit behauptet. Selbst wenn diejenigen, die zu Antisemitismus Stellung bezogen, Kritik an der nichtjüdisch-deutschen Mehrheitsgesellschaft in diesem Kontext nur sehr dezent äußerten, stützt die Erhebung die o. g. kritische Aussage insofern, als in keinem Fall ein Eingreifen von Nichtjuden in Beispielen antisemitischer Negativerfahrungen von den Betroffenen be-
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nannt wurde. In wenigen Fällen wurde dies auch explizit kritisiert, wie etwa von dem Ladenbetreiber (P 20). Um die kaum verbalisierte, aber nicht minder im Untersuchungsfeld zu spürende Enttäuschung in den abschließenden Wünschen des von allen Interviewten am stärksten mit Antisemitismus konfrontierten Ladenbetreibers auszudrücken355: „[...] bisschen mehr Anerkennung hier auch von den deutschen Einwohnern.“ (P20/24) Allerdings soll die Untersuchung der Auswirkungen von Antisemitismus im jüdischen Berlin nicht auf der individuellen Ebene der Erfahrungen der InterviewpartnerInnen und ihres Umfelds stehen bleiben. Vielmehr wird im Folgenden außerdem der Frage nachgegangen, inwieweit die in der Studie behandelten jüdischen Gruppenaktivitäten an der Peripherie und außerhalb der Gemeinde ebenfalls spezifischen Restriktionen durch in Berlin virulente Formen von Antisemitismus unterworfen sind.
4.2.2. Bedrohung jüdischer Gruppenaktivitäten in Berlin durch Antisemitismus und daraus resultierende Sicherheitsaspekte Der Zusammenhang zwischen jüdischen Aktivitäten und antisemitischen Bedrohungen in Berlin stellt sich als ein äußerst komplexer Untersuchungsbereich dar. Ausschlaggebend hierfür ist die große Vielfalt jüdischer Einrichtungen wie auch die große Bandbreite antisemitischer Akteure und entsprechender Formen von judenfeindlichen Handlungen. Der Grund dafür, dass dieser thematische Schwerpunkt im vorliegenden Untersuchungsteil behandelt wird und nicht in dem die Gruppenaktivitäten thematisierten vierten Teil der Studie, liegt darin, dass diese Erörterung nur im Kontext der übrigen Gesichtspunkte von Judenfeindschaft und jüdischen Umgangsweisen hiermit sinnvoll erscheint. Auf der einen Seite existieren hochgesicherte zentrale Gemeindeeinrichtungen356 wie das Gemeindehaus, die Synagogen sowie die schulischen Einrichtungen, die von jüdischer Seite per se den schärfsten Sicherheitsstandards unterliegen und außerdem unter polizeilicher Rundum-Bewachung stehen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch jüdische Aktivitäten, die nicht in dem Maße exponiert sind und entsprechend andere Sicherheitsstandards pflegen. Schließlich gibt es dazwischen auch solche Einrichtungen, die sich unter Sicherheitsgesichtspunkten, ohne zur JGB zu gehören, freiwillig unter das schützende Gemeindedach begeben. Im Fall der hier untersuchten Gruppenaktivitäten spielen vielerlei Aspekte eine direkte oder indirekte Rolle für den Grad ihrer jeweiligen Gefährdung bzw. Sicherheit: • inhaltliche Ausrichtung • Gemeindebezüge • räumliche Situation • Modalitäten des für Besucher 355 Dem in der U-Bahn bei einem antisemitischen Übergriff nicht geholfen wurde; vgl. oben im islamistisch/arabischen Antisemitismus-Cluster Kap. III.4.2.1, S. 382 f. 356 Nicht zu sprechen von der festungsartig gesicherten israelischen Botschaft.
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Bei den explorativen Besuchen im Untersuchungsfeld wie auch im Zuge der Erhebung zeigte sich rasch, dass alle aufgelisteten Faktoren unter Sicherheitsaspekten aufs Engste miteinander verknüpft sind. Verständlicherweise spielen für diejenigen untersuchten Gruppenaktivitäten Bedrohungs- vs. Sicherheitsaspekte die größte Rolle, welche an die JGB angebunden sind oder in deren unmittelbaren organisatorischen und räumlichen Umfeld agieren. Sie bzw. ihre Mitglieder und Besucher sind ein exponiertes Ziel manifester antisemitischer Übergriffe wie auch zugleich hiervor am weitest möglichen geschützt. Hierzu zählen etwa das Jugendzentrum, der Studentenbund (JGB-Räume) oder der Jüdische Kulturverein und die Jüdische Galerie (räumliche Nähe). Umgekehrt verhält es sich mit Initiativen, die weder organisatorisch noch räumlich mit der Gemeinde verbunden sind. Sie kommen zwar nicht in den Genuss des Sicherheitsstandards der Gemeinde, stehen allerdings zugleich auch weniger oder gar nicht im Rampenlicht der öffentlichen und damit potentiell auch der antisemitisch motivierten Aufmerksamkeit. Dies trifft etwa für Initiativen wie das Internetportal (öffentlich zugängliche eigene Räume) sowie den israelischen Stammtisch (öffentliche Räume) zu. Am ausgeprägtesten gilt dies aber in den Fällen, in denen die Aktivitäten privat stattfinden wie die Homosexuellengruppe und die Kidduschgruppe (nicht öffentlich zugängliche Räume). Mit der Tabelle 2 am Ende des Eingangsabschnitts zu den untersuchten Gruppenaktivitäten in Kap. IV.1. (S. 438) wird die absolute Verteilung der Gruppeneigenschaften ,formaler Gemeindebezug‘ und ,räumliche Situation‘ aller durch die Erhebungsgespräche repräsentierten Gruppenaktivitäten dargestellt. (1) Gruppenaktivitäten in Gemeinderäumen oder in deren unmittelbarer Nachbarschaft In diese Kategorie fallen ganz unterschiedliche Initiativen und Einrichtungen. Sie reichen von primär religiösen über soziale und kulturelle bis hin zu gewerblichen Aktivitäten. Einige der solche Gruppen repräsentierenden GesprächspartnerInnen äußerten sich dezidiert hinsichtlich der Bedeutung der Berliner Antisemitismus-Problematik für sie und sollen damit im Weiteren angeführt werden. Deren Reihenfolge bestimmt sich durch den Grad der jeweiligen organisatorischen Verbundenheit mit der Berliner Gemeinde, in der Richtung von den der JGB näher zu den ihr ferner stehenden. P 8 und P 15 für den Egalitären Minjan (EM): Beide aus Westdeutschland Stammende engagieren sich seit einigen Jahren in dem nach Ritus für Männer und Frauen gleichberechtigten Betkreis. Dieser hat, wie im Berliner EinführungsKap. II.2.1.3 näher ausgeführt, seinen dauerhaften Platz unter dem Gemeindedach der JGB in dem Betraum des wiedererstellten Frontbaus der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße gefunden. Diese Baulichkeit mit ihrer Kuppel leuchtendes Symbol des wiedererstandenen jüdischen Lebens in Berlin bzw. Gesamtdeutschlands ist sicherlich einer der durch Sicherheitskräfte der Gemeinde und einen Rund-um-die-Uhr-Polizeischutz bestbewachten jüdischen Einrich-
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tungen der Stadt und nur über eine Sicherheitsschleuse zu betreten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Betkreis bei seinen Treffen von aggressiven Formen von Antisemitismus ähnlich den anderen jüdische Betkreisen Berlins bislang verschont geblieben ist. Zu dieser Sicherheitssituation äußert sich die mit ihrem Internet-Service Milch und Honig (MuH) unten noch ausführlicher angeführte, ebenfalls dem EM angehörende Medienredakteurin P 15 über das Wachpersonal der Neuen Synagoge: „[...] da halten die uns also wirklich frei davon, sind supertolle Leute auch, die erleben halt schon wahrscheinlich Geschichten, die nicht so erfreulich sind, aber bis zu uns dringt das [...] also nicht“. (P15:1/9) Vor diesem Hintergrund ist umso interessanter, dass die ebenfalls in dem Egalitären Betkreis engagierte P 8, der in der schwer bewachten Örtlichkeit Neue Synagoge angesiedelt ist, von Versuchen christlicher Judenmission berichtet. Auch wenn es sich hierbei nicht immer um aggressive Ausprägungen von Antisemitismus handeln muss und in den nichtjüdischen Medien kein Thema sind, sind diese Bekehrungsversuche gegenüber gläubigen Juden in jedem Fall ein Akt judenfeindlichen Verhaltens. Nach ihren Schilderungen wären zwei bis drei christliche Frauen bereits mehrfach in dem reformjüdischen Betkreis in missionarischer Absicht erschienen. Deren konkretes Auftreten bestand darin, Broschüren auszulegen und außerdem jüdische Teilnehmende der Egalitären Gottesdienste in dem jüdischen Gotteshaus in entsprechende Gespräche zu verwickeln. Aufschlussreich ist, dass sich der für Gäste betont offene Betkreis bisher, vor dem Hintergrund unterschiedlicher interner Auffassungen gegenüber dem Problem Judenmission, nicht dazu durchgerungen hat, Hausverbote gegen die o. g. Personen auszusprechen. Die über dieses judenfeindliche Phänomen Berichtende gehört zu den Mitgliedern des Minjans, die sich einen solchen Schritt in der Zukunft durchaus vorstellen könnte, sollten solche Vorkommisse fortbestehen. P 12 für den Jüdischen Studentenbund Berlin (JSB): Der JSB ist hochgesichert in rückwärtigen, nur über eine Sicherheitsschleuse erreichbaren Räumen ohne Laufpublikum angesiedelt. Im Unterschied zum zuvor angeführten EM ist beim JSB ein spontanes ,Hineinschneien‘ ohne Verabredung in ihren Treff im Hinterhof eines gut bewachten Hauses der JGB unter der Synagoge Joachimstaler Straße kaum möglich. Trotzdem berichtet auch die in dem studentischen Zusammenschluss engagierte Berliner Studentin von zu dem o. g. Betkreis ähnlich gelagerten Versuchen christlicher Judenmission gegenüber ihrer Gruppe. Allerdings würden diese Versuche lediglich in brieflicher Form unternommen und würden daher von dem jüdischen Studentenbund mit großer Gelassenheit gesehen. Mit manifesteren Formen von Judenfeindschaft, wie etwa an ihn gerichtete Drohbriefe, wäre der JSB bislang nicht konfrontiert gewesen. Allerdings macht dem studentischen Zusammenschluss, wie bereits in der Einzelfallstudie der Gruppe gezeigt wurde, offensichtlich seine hochgesicherte, jedoch für Studierende wenig attraktive Lage zu schaffen.357 Die sich zu der 357 Vgl. in der Einzelfallstudie zum JSB Kap. IV.3.4, S. 478.
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Gruppe Äußernde scheint sich nicht sicher, ob dieser Sicherheitsstandard für die Gruppe tatsächlich notwendig ist: „Es ist [...] nur einfach so schade, dass das alles so hinter diesen Türen und hinter den Mauern stattfinden muss einfach. Was heißt muss? Man sagt [Hervorhebung: A. J.] muss“. (P12/33) Auf die Frage, ob der JSB es auf einen Versuch ankommen lassen könnte, deutet P 12 als Antwort eine unterschiedliche Wahrnehmung der Sicherheitsthematik zwischen Gemeinde und Studentenverband an: „Da würde dann nicht wirklich jemand mitziehen, also vor allem die da oben.“ (Ebd.) Jedenfalls berichtet die säkular orientierte Jüdin aus ihrer studentischen Gruppe von einem ähnlich großen Sicherheitsgefühl bei den sich aus religiösen Gründen mit Kippa im Berliner Innenstadtbereich in der Öffentlichkeit Zeigenden wie bei ihr selbst: „Aber, aber wenn wir jetzt irgendein Event hatten oder ähnliches und dann mit Kippot auf die Straße gehen..., das habe ich schon öfters gesehen. Das ist gar kein Problem.“ (P12/34) Dabei tragen diejenigen, die im Unterschied zu P 12 immer eine Kopfbedeckung auf haben, im Alltag außerhalb explizit jüdischer Veranstaltungen einen Baseball-Cap, offenbar als Konzession an ihre säkulare Umwelt in der Metropole. P 11 für die Jüdische Galerie: Diese Einrichtung befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu der Neuen Synagoge und damit auch zu dem oben angeführten EM in straßenseitigen Räumen des ZWSt-Gebäudes in der ,Touristenmeile‘ Oranienburgerstraße (vgl. Kap. IV.5.). Damit ,genießt‘ sie wie dieser Betkreis die höchste Sicherungsstufe jüdischer Einrichtungen in Berlin mit allen zwar kaum vermeidbaren, jedoch nicht minder unangenehmen Begleit-erscheinungen gerade auch für eine Verkaufsgalerie. Diese bestehen u. a. in Überwachungskameras, elektronischer Türschleuse mit Pförtnerloge sowie vor der Türe rund um die Uhr Streifen der Polizei, bei besonderen Anlässen auch Polizeischutz mit gepanzerten Fahrzeugen. Ohne dieses lästige Überwachungsprocedere zu durchlaufen, ist es keinem Kunden der Galerie möglich, deren Räume zu betreten. Wobei die Galerie doch von einer mehrheitlich nichtjüdisch deutschen, darunter auch nur als Touristen mehr oder weniger zufällig vorbeikommenden Kundschaft lebt. Offensichtlich auf Grund der beschriebenen Sicherheitsstandards sind bisher antisemitische Übergriffe etwa auf die Straßenfront der Galerie bisher kein Problem gewesen. Wie erwähnt zeigt sich unter nichtjüdisch deutschen Besuchern der JÜG gegenüber judenfeindlichen Ressentiments eher das andere Extrem eines für die jüdische Seite nicht minder unangenehmen Philosemitismus. Wie bei wenig anderen untersuchten Gruppenaktivitäten stellen die beschriebenen Sicherheitsmaßnahmen, denen die Jüdische Galerie in dem wohl berühmtesten jüdischen Bauensemble Berlins also einen lästigen Störfaktor für deren Attraktivität gegenüber den in diesem Fall auch unter geschäftlichen Gesichtspunkten erwünschten potentiellen neuen Kunden dar. Daher verwundert es nicht, dass die in dieser Einrichtung maßgeblich beschäftigte Kunsthändlerin als eine der wenigen Interviewten bei ihren Wünschen für die Zukunft jüdischer Existenz in Berlin als ihr allerdringendstes Anliegen den expliziten Wunsch äußert, „dass
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wir [...] keine Sicherheitsmaßnahmen (brauchen), die wir hier im Haus haben,“ – „irgendwann.“ (P11/33) P 20 für ein jüdisches Lebensmittelgeschäft: Dieses Geschäft befindet sich in einem der jüdischen Gemeinde gehörenden Gebäudekomplex in der westlichen City, welcher mehrere jüdische Gruppen und Organisationen, darunter den Sportverein Makkabi (s. u.) sowie eine Rabbinerwohnung beherbergt. Der Lebensmittelhändler deutet nur an, dass der durch die Gemeinde und die Polizei gewährte Rund-um-die-Uhr-Schutz vor antisemitischen Übergriffen entscheidendes Kriterium dafür war, den Laden gerade in diesen Räumlichkeiten zu eröffnen: Eindeutig stellt er fest: „Jüdische Geschäfte sind immer eine Risikosache. Man hat immer Angst.“ (P20/3) Zur Bekräftigung schiebt sie nach: „Die Polizisten sind immer noch da und ich freue mich.“ (Ebd.) So affirmativ wie bei keiner der übrigen Befragten werden von P 15 bewachte Gemeinderäume gegenüber frei angemieteten Räumen bevorzugt. Denn, wie er ausführt, könnte er bei einer Entscheidung für normale Geschäftsräume mit keinem Sonderschutz rechnen, da dies für die Gemeinde und die Polizei aus finanziellen Gründen gar nicht zu leisten wäre. Doch welche Erfahrungen hat der ursprünglich aus Israel Stammende vor dem Hintergrund des dem jüdischen Laden in diesen speziellen Gemeinderäumen mitgewährten Schutzes mit konkretem Antisemitismus gemacht? P 15 berichtet zunächst von Deutschen, die in seinen Laden kämen, um ihn über den IsraelPalästina-Konflikt im Staat Israel und in Juden pauschal verurteilende Diskussionen zu verwickeln. Er würde in diesen Fällen trotz innerer Wut versuchen zu deeskalieren, Sogar im Fall von Neonazis, die auch in den Laden kamen, hätte er sich bemüht, höflich zu sein: „Ich bin freundlich zu allen“. (P20/19) Offenbar weitaus belastender ist für ihn, dass seit Ausbruch der Al-Aksa-Intifada direkte Übergriffe auf den Laden stattfänden. So fände er häufiger morgens beim Öffnen des Geschäfts die Schaufensterscheibe bespuckt vor. Er vermutet aus dem genannten zeitlichen Kontext des vermehrten Auftretens dieser Vorfälle die Täter auch eher unter dem arabischen bzw. islamistischen Spektrum als unter Neonazis, die sich überdies üblicherweise auch nicht im Citybereich von Berlin gewalttätig hervortun würden. Vor dem Hintergrund dieser Negativerfahrungen macht der sich in der Hauptstadt wie nirgends sonst in Deutschland seiner expliziten Auskunft nach sehr wohlfühlende Wahlberliner358 allerdings im Hinblick auf den auch vor Ort virulenten Antisemitismus eine eindeutige stadträumliche Einschränkung für die Standortwahl des Ladens (ebenso wie zuvor für sein Wohnen): Auf Grund der seiner Ansicht nach an der Peripherie stärkeren manifesten Fremden- und Judenfeindschaft kann er sich beides demnach nur im westlichen Stadtzentrum vorstellen (P20/18).359 Aus den eingangs zitierten Äußerungen von P 20 lässt sich als seine zweite unbedingte standortbezogene Einschränkung für das jüdische 358 Vgl. hierzu näher das Berlinspezifika-Kap. III.2.1.1., S. 254. 359 Das entsprechende Zitat findet sich oben in Kap. III.4.2.1., S. 375.
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Geschäft die o. g. Rund-um-die-Uhr-Bewachung durch privates Sicherheitspersonal der Gemeinde sowie durch die Berliner Polizei benennen. Einige vorläufige Schlüsse lassen sich aus den genannten Beispielen der Betroffenheit von in Gemeinderäumen oder in deren unmittelbarer Nachbarschaft gelegenen Gruppenaktivitäten von Antisemitismus ziehen. Zunächst fällt auch bei diesen vier Gruppen ein gewisses Sicherheitsgefälle auf. Zwar sind sie alle durch Sicherheitspersonal der Gemeinde sowie mit Polizeischutz auf der Straße gesichert. Jedoch ist als einziger dieser Aktivitäten im Fall des JSB der Zutritt für ein Laufpublikum nicht möglich. Außerdem kann man den EM sowie den JSB nur durch Sicherheitsschleusen betreten, während dies in den beiden straßenseitigen Verkaufsräumen der JÜG und des Ladens wie in nichtjüdischen Geschäften auch ohne Hindernis möglich ist. Die erste Frage lautet, in wiefern sich die genannte Sicherheitssituation in den geschilderten Erfahrungen dieser Aktivitäten mit Antisemitismus widerspiegelt. Tatsächlich verteilen sich die angeführten antisemitischen Übergriffe entsprechend der beschriebenen Sicherheitsstandards mit Ausnahme der Kunstgalerie: So wird das am leichtesten zu frequentierende offen zugängliche Lebensmittelgeschäft durch anonyme Attacken auf das Schaufenster sowie durch judenfeindliche Kundschaft am stärksten bedrängt. Der innerhalb der Neuen Synagoge weitaus gesichertere EM wird lediglich von Judenmissionarinnen bedrängt. Zwar ist eine Voranmeldung auch bei diesem reformjüdischen Betkreis erwünscht, jedoch kann an ihm faktisch ,einfach so‘ von die Synagoge Besichtigenden und anderen durch die mit dem Centrum Judaicum geteilte Sicherheitsschleuse ins Haus Gelangten teilgenommen werden. Der noch gesichertere JSB wiederum macht zwar ähnliche Erfahrungen wie der EM mit Judenmission, allerdings nur in schriftlicher Form. Wie erwähnt ist im Unterschied zu dem Betkreis bei ihm der Zugang für ein Laufpublikum gerade nicht möglich. Das Ausbleiben von offenem Antisemitismus im Fall der JÜG dürfte wiederum damit erklärbar sein, dass sie als Kunstgalerie kein adäquates antisemitisches Feindbild abgibt und/oder die Neue Synagoge und ihre Nachbargebäude ebenso wie im Falle des EM die bewachtesten ,Meter‘ im jüdischen Berlin darstellen. Eine weiterführende Frage ist diejenige nach Vor- und Nachteilen der sicherheitsstrategischen Lage der jeweiligen Aktivitäten unter den ,Fittichen‘ der Berliner Gemeinde. Am günstigsten fällt die Bilanz offensichtlich im Fall des egalitären Betkreises aus. Dieser dürfte seine deutschlandweite Prominenz einem Gutteil seiner nicht minder prominenten Lage unter der goldenen Kuppel der Neuen Synagoge verdanken. Die auch anderenorts für Synagogen in Berlin üblichen Sicherheitsmaßnahmen können bei geringen Problemen mit judenfeindlichen Außeneinwirkungen verkraftet werden. Ähnlich sieht es bei der Jüdischen Galerie aus. Auch sie kann durch die Sicherheitsmaßnahmen bedingte Nachteile in der Attraktivität als nur über eine Sichtpforte erreichbare Räumlichkeit durch ihre attraktive Lage in dreifach günstiger Lage im ,jüdischen‘, Touristen- und Galerieviertel immerhin wettmachen. Negativer sieht die Bilanz im Fall des
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Lebensmittelgeschäfts aus. Hier stellen die Attacken für die Mitarbeiter eine starke Belastungsprobe dar. Allerdings scheint es mittelfristig, wie noch zu zeigen sein wird, keine Alternative zu geben. Die schlechteste Bilanz ergibt sich für den JSB: Wie in der Einzelfallstudie ausgeführt, ist einer studentischen Organisation die extreme Einbunkerung am wenigsten adäquat. Die Kostenseite dürfte die Nutzenseite der Sicherheitsmaßnahmen möglicherweise aufwiegen. (2) Gruppenaktivitäten in gemeindefernen eigenen und öffentlich zugänglichen Räumen Dieser Kategorie lassen sich ebenfalls verschiedene Initiativen, in denen sich Interviewte engagieren, zuordnen. Daher werden auch aus diesem Kreis einige aussagekräftige Beispiele angeführt. Aufschlussreich erscheint die Klärung der Frage, in wieweit die Gefährdung durch manifesten Antisemitismus bei diesen Beispielen jüdische Aktivitäten mit entsprechenden räumlichen Bedingungen sich anders darstellt, als bei den zuvor benannten Beispielen von räumlich unter dem Gemeindedach oder in dessen unmittelbarem Umfeld angesiedelten Aktivitäten. P 15 für die Internetgruppe Milch und Honig (MuH): Hierbei handelt es sich um eine jüngere, erst 2001 entstandene Aktivität im jüdischen Berlin, die explizit außerhalb der organisatorischen Strukturen und besonders gesicherten Räume der Berliner Gemeinde angesiedelt ist. Wie bereits näher in der Einzelfallstudie im dritten Teil der Studie ausgeführt wurde360, bezogen die Initiatorinnen offen zugängliche straßenseitige Räume in einer Nebenstraße im muslimisch geprägten Berliner Bezirk Kreuzberg. Außerdem hatten sie in ihrem Internet-Auftritt sowie in den Presseberichten zu ihrer Gründung ganz bewusst auf eine Anonymisierung ihrer Namen und ihres Aussehens verzichtet. P 15 räumte daher auch ein, dass sie und ihre Kolleginnen im Vorfeld der Einrichtung von MuH durchaus intensive Überlegungen zu den Konsequenzen ihres nichtanonymen Auftretens sowie zu ihrem Standort in Kreuzberg unter Sicherheitsgesichtspunkten angestellt hätten. Trotz anfänglicher Bedenken hätten sie sich ganz bewusst gegen die Anonymisierung entschlossen: „Wobei, ich weiß gar nicht, was wir gemacht hätten, wenn jetzt die großen Morddrohungen gekommen wären oder so, aber da haben wir gedacht, [...] das ist auch so ein bisschen ein Ziel des Ganzen, [...], zu sagen, wir sind da auch als Personen da, wir stehen da als Personen.“ (P15:2/42) Als im thematischen Kontext besonders interessant kann gelten, dass die Initiatorinnen sich damals, also kurz nach dem Millennium, dazu entschlossen, ihr explizit jüdisches Medienprojekt in dem für jüdische Aktivitäten bisher völlig untypischen Berliner Bezirk Kreuzberg und darüber hinaus auch noch in straßenseitigen Büroräumen anzusiedeln. Zwar besitzt dieser Berliner ,Szenestadtteil‘ im Gegensatz zu insbesondere einigen Ostbezirken kein ausgesprochen neonazistisches Potential. Jedoch erschien zu diesem Zeitpunkt unmittelbar nach Ausbruch der Al-Aksa-Intifada gerade Kreuzberg mit seinem überdurchschnittlich großen 360 Vgl. zu MuH die Einzelfalluntersuchung im vierten Teil der Studie in Kap. IV.8.
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Anteil an muslimischer sowie arabischstämmigen Bevölkerung als ein nicht ganz ungefährliches Pflaster für ein solch prononciertes jüdisches Medienunternehmen, von dem außerdem anzunehmen ist, dass sich seine Bekanntheit auf Grund der Internet-Technologie besonders schnell verbreitetet. Außerdem war es gerade zu dieser Zeit, nämlich im Oktober 2000, zu einem anonymen Anschlag auf die nicht sehr weit von dem Netz-Anbieter entfernt, ebenfalls in Kreuzberg gelegene Synagoge Fraenkelufer gekommen, die bereits mehrfach von antisemitischen Übergriffen heimgesucht wurde.361 Die Internet-Redakteurin erwähnt in diesem Zusammenhang, dass es vor der Eröffnung ihres Kreuzberger Büros des jüdischen Netz-Anbieters zu einem Gespräch zwischen den Initiatorinnen und einem Vertreter der Sicherheitsabteilung der Gemeinde gekommen sei. Dabei habe dieser sich damals verständlicherweise zu der Entscheidung der Ansiedlung von MuH an dieser Örtlichkeit sehr skeptisch geäußert: „[...] der hat damals sogar gesagt, zieht [besser; A. J.] nach Friedrichshain als nach Kreuzberg.“ (P15:2/43) Hintergrund dieses Ratschlags ist die Tatsache, dass der größtenteils innerhalb des die Innenstadt von Berlin umschließende Eisenbahnrings gelegene ehemalige Ostberliner Bezirk Friedrichshain bislang nicht als jüdische Risikogegend aufgefallen ist. Er ist weder für eine ausgesprochene Neonazi-Szene wie etwa die östlichen Randbezirke bekannt, noch besitzt er einen größeren Anteil muslimischer und arabischer Bevölkerungsgruppen wie etwa Kreuzberg. Die Realität hat dem mutigen Schritt des neuen Medienprojekts aus dem jüdischen Berlin bisher offensichtlich Recht gegeben, bewusst auf die Anonymisierung der Mitarbeiterinnen sowie mit der Standortentscheidung auf die Nähe zu jüdischen Gemeindeeinrichtungen und deren Sicherheitsstandards zu verzichten. Die Mitbegründerin von MuH betonte, dass es bislang zu keinen antisemitisch motivierten Übergriffen gegen den jüdischen Internet-Dienstleister bzw. seine Räumlichkeiten gekommen sei. So bilanziert sie entsprechend erfreut: „[...] bis jetzt ist wirklich noch niemand hier unfreundlich ins Büro gekommen und hat angerufen oder sonst was.“ (P15:1/7). Außerdem erhielt der jüdische Netz-Dienst bislang auch nur ganz vereinzelt judenfeindlich motivierte E-Mails, obwohl, wie P 15 betont, „wir in allen großen Suchmaschinen unter dem Stichpunkt ,jüdisch‘, ,deutsch‘, also ,Deutschland‘, ,Berlin‘ und in der Kombination zu finden sind [...] das ist das einzige, was bis jetzt passiert ist, damit kann ich problemlos leben.“ (Ebd.) Für den unmittelbaren ,Kiez‘ um das Büro des jüdischen Netz-Anbieters, beschreibt dessen Mitbegründerin im Gegensatz zu möglichen antisemitischen Bedrohungsszenarien eine ganz gewöhnliche Nachbarschaftssituation: So würden die Mitarbeiterinnen von MuH in Geschäften ihrer Kreuzberger Straße regelmäßig Flyer mit Hinweisen auf die Angebote des jüdischen Netz-Dienstes auslegen, etwa in einem von ihnen frequentierten Zigarettengeschäft. Die Flyer würden von dessen Kunden auch regelmäßig mitgenommen. (Ebd.) 361 Vgl. hierzu oben in der Auflistung in Kap. III.4.1.3., S. 348, 349 u. 350.
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P 19 für den Sportverein Makkabi: Der Berliner Ableger des bundesweit existenten jüdischen Sportverbands mit jüdischen wie nichtjüdischen Mitgliedern besitzt im Unterschied zu den anderen hier angeführten Aktivitäten sowohl im Freien gelegene Sportanlagen als auch Innenräume für Verwaltungsaufgaben. Seinen Verwaltungssitz hat der Sportverein zusammen mit anderen jüdischen Einrichtungen und Aktivitäten in einem gemeindeeigenen Gebäude in der Passauer Straße in der westlichen Berliner City. Demgegenüber liegen seine Sportanlagen und das Vereinsheim westlich der Innenstadt in Charlottenburg.362 Im thematischen Kontext geht es bei den Äußerungen der Sportlerin und Sportfunktionärin P 19 hier nur um die Außen- bzw. Sportanlagen des Vereins. Wie gezeigt werden konnte, stellt für die Sportlerin und Sportfunktionärin der in Berlin virulente und offen gezeigte Antisemitismus eine entscheidende persönliche Herausforderung dar. Vor dem Hintergrund der ausführlichen persönlichen Schilderungen berichtet sie nur knapp über die vereinsinternen Sicherheitsüberlegungen gegenüber judenfeindlichen Übergriffen. Aber für die Öffentlichkeit bestimmten Details der Sicherheitskonzepte des jüdischen Vereins dürften hierfür ausschlaggebend sein. Dennoch besitzen sie im Kontext der Statements zu den anderen jüdischen Gruppenaktivitäten ebenfalls eine hier berücksichtigte Aussagekraft. Die von der Makkabi-Aktiven angesprochenen Sicherheitsüberlegungen des Vereins beziehen sich auf die ausschließliche Nutzung von Sportanlagen im Westen der Metropole. Dies habe, wie sie ausführt, zwar seinen primären Grund darin, dass hier die überwiegende Zahl der in Berlin lebenden Juden wohnhaft sei und nicht etwa in den östlichen Randbezirken. Jedoch dürfte für deren stadträumliche Westkonzentration und damit mittelbar auch für den jüdischen Vereinssport die o. g. fremdenfeindlichere Haltung im ,fernen Osten‘ von Berlin eine nicht unerhebliche Rolle spielen, wie aus den im vorherigen Kap. III.4.2.1. angeführten Äußerungen der Interviewten hierzu nahe legt. So räumt sie für die Sicherheitsüberlegungen bei Makkabi auch ein: „Und auch aus Sicherheitsgründen ziehen wir alles mehr in den Westen. Also wir würden jetzt keinen Fußballplatz anmieten, [...] in Lichtenberg, Marzahn oder sonst was. Da würde kein Mensch hinfahren.“ (P19/36) P 17 für den Israelischen Stammtisch (IS): Dieses Beispiel soll hier nur kurz angeführt werden. Die maßgeblich an dessen Entstehung im Millenniumsjahr beteiligte P 17 hatte sehr deutlich hervorgehoben, dass diese informelle Gruppe gerade nicht wie ihre Vorgängergruppe Kesher sich in den gemeindeeigenen Räumen des Jüdischen Studentenbundes (s. o.) treffen wollte, wenn auch hierfür die beengte und düstere Lage und nicht die Sicherheitssituation der ausschlaggebendste Grund war. Die gruppenintern bekannten, wechselnden Lokalitäten im Berliner 362 Die Schachspieler treffen sich in den Räumen der ZWSt in der Oranienburger Straße im östlichen Zentrum Berlins, in dem gleichen Gebäudekomplex, in dessen straßenseitigen Teil die zuvor unter (1) thematisierte Jüdische Galerie angesiedelt ist.
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Westen werden ohne den gemeindeüblichen Schutz den JGB-Räumen vorgezogen. Im Unterschied zum JSB handelt es sich, wie in dem IS-Kapitel aufgezeigt werden konnte, bei dem informellen Stammtisch nach wie vor um eine prosperierende Gruppe. P 22 für die Nahostgruppe (NG): Die gemischt jüdisch-nichtjüdische Initiative ist eine völlige Ausnahme hinsichtlich des Zusammenhangs der von den Befragten repräsentierten Gruppenaktivitäten und der Antisemitismusproblematik. Um den Standort der Treffen, über die in der Einzelfallstudie noch Näheres ausgeführt wird, soll es hierbei auch nicht gehen. Denn das explizite Thema dieses sich politisch verstehenden jüdisch-nichtjüdischen Zusammenschlusses ist eine kritische Auseinandersetzung mit der Politik Israels, wozu sich, wie in der Einzelfallanalyse bereits ausführlicher geschildert wurde, in Berlin lebende Juden, Nichtjuden sowie Palästinenser und Israelis in ihm zusammengefunden haben.363 Damit ergeben sich für die beim NG aktive gebürtige Ostberlinerin aus den spezifischen Bezügen zwischen dieser Gruppe und antiisraelisch motiviertem Antisemitismus ganz besondere Erfahrungen. Vor allem zwei Erfahrungen mit entsprechenden judenfeindlichen Bekundungen, die sie in ihrer Funktion als NG-Vertreterin bzw. in dieser Gruppe Engagierte machen musste, werden von ihr näher geschildert: So berichtet P 22 von einem im Jahr 2002 von radikalislamischer Seite verfassten Flugblatt, welches auf arabisch und türkisch in Kreuzberg verteilt wurde und vor antisemitischer und rassistischer Hetze nur so gestrotzt hätte, indem Juden generell als Verderben bezeichnet und den israelischen Juden ein Existenzrecht abgesprochen wurde. Auf einer aus diesem Anlass von Radio Multikulti veranstalteten Podiumsdiskussion vertrat P 22 die NG und verurteilte hierbei das islamistisch-fundamentalistische Pamphlet. Wichtig ist ihr bei aller an ihm geäußerter Kritik daran zu erinnern, dass es ihrer Überzeugung nach Fundamentalisten aber auch auf anderen Seiten gäbe und diese „immer bescheuert [sind], egal wo sie herkommen.“ (P22/69) Die andere Erfahrung mit antiisraelisch motiviertem Antisemitismus machte P 22 auf Pro-Palästina-Kundgebungen, auf der sie mit ihrem Nahost-Arbeitskreis ebenfalls präsent war. Auch dort schlug ihr vereinzelt insbesondere von einigen jungen Palästinensern bzw. Arabern eine Haltung entgegen, die sich nicht allein gegen die israelische Politik, sondern per se gegen Juden gerichtet und damit eindeutig antisemitisch sei. Immer wenn sie mit ihren jüdischen Mitstreiterinnen dort explizit als Jüdin erschiene, wären diese jungen Demonstrierenden völlig überrascht, denn es läge „außerhalb ihres Gesichtskreises, dass in einer [...] pro-palästinensischen Demonstration Juden gehen! [...] Juden sind ihre Feinde.“ (P 22/70). Mit diesen Reaktionen müsse leider gerechnet werden, umso wichtiger sei ihrer Meinung nach die Präsenz der Nahostgruppe auf solchen Veranstaltungen, um berechtigte Israelkritik von antisemitischen Bekundungen zu unterschei363 Vgl. hierzu näher in der Einzelfalluntersuchung zur NG Kap. IV.4.4.2, S. 486 u. 489 ff.
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den. Ein in diesem Sinne positives Verhalten bescheinigt P 22 auch der Vereinigten Palästinensischen Gemeinde, indem diese im Vorfeld solcher Veranstaltungen durch Vorabveröffentlichung gemäßigter und nicht-antisemitischer Positionen auf die radikal-fundamentalistischen Judenfeinde reagiert habe. Vorläufige Schlüsse lassen sich auch aus den genannten Beispielen der Betroffenheit von Antisemitismus bei Gruppenaktivitäten, die gemeindefern in eigenen öffentlich zugänglichen Räumen angesiedelt sind, ziehen. Erwartungsgemäß ist die Situation hier eine völlig andere als im zuvor dargestellten Fall der in der oder nahe bei der Gemeinde angesiedelten Gruppenaktivitäten. Sowohl bei den Sportplätzen von Makkabi wie beim Israelischen Stammtisch und bei dem Internetanbieter scheinen die Zusammenhänge zwischen Ortswahl und Antisemitismus augenscheinlich, während die Nahostgruppe als Sonderfall anschließend separat gewürdigt wird. Alle drei genannten Gruppenaktivitäten sind explizit im Westen der Metropole angesiedelt, wo auch ihre Klientel überwiegend wohnt. Der Zusammenhang zwischen Ortwahl und Antisemitismus ist somit kein direkter. Interessant ist, dass alle drei Gruppen in ganz unterschiedlichem Maße als jüdische Aktivitäten in Erscheinung treten und dabei bislang keine explizite Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht hat. Unter Sicherheitsgesichtspunkten wie auch als Beispiele der stadträumlichen Erweiterung jüdischer Aktivitäten in Berlin stellen der informelle IS sowie der Internet-Service MuH augenscheinlich interessante Innovationen dar. Immerhin haben sie sich bewusst dafür entschieden, gerade nicht den Schutz der Gemeinde, mit der sie ansonsten, etwa organisatorisch, gar nichts verbindet, in Anspruch zu nehmen: Der IS gibt sich durch sein weitgehend anonymisiertes Organisationsprinzip, das gruppen-intern über den Mailverteiler ermöglichte kurzfristige ,Tingeln‘ ohne feste Adresse, unter Sicherheitsgesichtspunkten keine Blöße.364 MuH wiederum beweist, dass es im muslimisch geprägten Kreuzberg in einer funktionierenden nicht anonymen Kiezstruktur möglich ist, stadträumlich und inhaltlich gleichermaßen jüdisches Neuland zu betreten. Die positiven Erfahrungen des Sportvereins dürften demgegenüber möglicherweise ein Stück weit auch dem völkerverständigenden und kulturübergreifenden Charakter von Sport gerade in einer Metropole wie Berlin geschuldet sein. Die Aufnahme der Nahostgruppe in diese Auswahl gemeindeferner Gruppenaktivitäten erfolgt hier im Hinblick darauf, dass gezeigt werden soll, dass und damit inwiefern die in großer inhaltlicher Ferne zur Berliner Gemeinde agierende israelkritische Gruppe ebenfalls von Antisemitismus betroffen ist bzw. sich mit diesem auseinandersetzt. Aus den Äußerungen der die gemischt jüdischnichtjüdische NG repräsentierende P 22 geht deutlich hervor, dass es der Gruppe dabei offensichtlich wichtig ist, zwischen legitimer Israelkritik und antisemitischem Antiisraelismus zu unterscheiden und sich entsprechend von letzterem zu 364 Damit nimmt er einen ähnlichen Status wie die erst unten unter (3) in die Erörterung einbezogenen, sich privat treffenden Initiativen ein.
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distanzieren. Erst die Zukunft wird zeigen, inwieweit es dem politischen Zusammenschluss gelingen wird, unter der auch von P 22 gesehenen zunehmenden Radikalisierung fundamentalistischer nationalarabischer und islamistischer Kreise eine auch weiterhin für hiesige Juden und Israelis gangbare Position zu finden. (3) Abschließende Bewertung des Zusammenhangs zwischen den untersuchten Gruppenaktivitäten und Antisemitismus Wie gezeigt werden konnte, gibt es eine große Bandbreite an Umgangsweisen jüdischer Einrichtungen und Aktivitäten mit der Herausforderung durch antisemitische Gefährdungen. Außerdem mussten sie teilweise Erfahrungen mit gegen sie gerichteten judenfeindlichen Übergriffen machen. Im Bereich der antisemitischen Negativerfahrungen kann als vielleicht wichtigstes Ergebnis festgehalten werden, dass nicht der Grad der Sicherung für die untersuchten jüdischen Aktivitäten das einzig entscheidende Kriterium dafür ist, inwieweit sie Opfer antisemitischer Attacken wurden. Schlagende Beweise hierfür sind das jüdische Lebensmittelgeschäft wie der jüdische Internet-Service MuH. Das Geschäft wurde trotz Sicherheitspersonal und polizeilicher Rundum-Bewachung auf der Straße immer wieder von Antisemiten aufgesucht und auch nach Ladenschluss verunstaltet. Während umgekehrt MuH und andere in den letzten Jahren jenseits der Gemeindestrukturen entstandene jüdische Aktivitäten, die sich nicht davon abhalten ließen, sich auch außerhalb der JGB-Gebäude und deren Sicherheitsstandards in öffentlich zugänglichen Räumen einzurichten, damit weitgehend vor judenfeindlichen Übergriffen unbehelligt blieben. Der letzte Punkt bedarf allerdings einer genaueren Prüfung. Hierfür seien als weitere Beispiele einige ähnlich aktuelle, erst nach dem Jahr 2000 entstandene gemeindeferne jüdische Aktivitäten mit ihren jeweiligen Bezirks-Standorten genannt: der Kulturverein ,Chagall‘ (Mitte), die Fischräucherei Balmi (Neukölln) sowie das Café Taidtler (Charlottenburg). Auch bei ihnen zeigt sich bislang keine höhere Gefährdung durch judenfeindliche Übergriffe als in den unter Gemeindeschutz stehenden Einrichtungen. Allerdings teilen die genannten Beispielen eine stadträumliche Voraussetzung hierfür: Zwar haben sie sich mit Ausnahme des Café Taidtler in ‚Neuland‘ fern der bisherigen neuralgischen Punkte jüdischer Einrichtungen in der westlichen City sowie um die Neue Synagoge im östlichen Zentrum Berlins angesiedelt. Jedoch befinden sie sich dabei aber immer noch im oder dicht am Eisenbahnring, der die Berliner Innenstadt umschließt. Außerdem verbindet sie, dass es sich bei ihnen ähnlich zu dem IS und MuH um im eigentlichen Sinne nicht als jüdische Aktivitäten kenntliche Einrichtungen oder Institutionen handelt. Es sind also entsprechend den im vorherigen Abschnitt aufgezeigten personenbezogenen Gefährdungen die beiden Kriterien Standort und Erscheinungsbild entscheidend für die Sicherheit sich neu herausbildender jüdischer Gruppenaktivitäten. Als Beleg für dieses Ergebnis kann abschließend das bereits im Kap. III.4.1.3. bei der Auflistung der antisemitischen Vorkommnisse in Berlin in den
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letzten Jahren angeführte schlimmste Negativbeispiel eines Übergriffs auf eine jüdische Einrichtung außerhalb der Gemeinde nochmals herangezogen werden: die Attacken gegen das jüdische Feinkostgeschäft Israel Deli und deren Folgen.365 Dieser Fall ist bislang beispiellos in der Metropole. In dem im Norden Berlins gelegenen Randbezirk Reinickendorf im Ortsteil Tegel hatte ein gebürtiger Berliner Jude seit 1997 ein Lebensmittelgeschäft betrieben, welches er seit dem Spätjahr 2002 als koscheres Delikatessengeschäft unter dem Namen Israel Deli führte. Hierfür warb der immer mit Bart und Kippa auftretende Betreiber u. a. auch mit einer kleinen Israelfahne mit Davidstern. Zahllosen Beschimpfungen durch Glatzköpfige mit Hennigsdorfer Autokennzeichen366 und Verunstaltungen seiner Schaufensterscheibe durch palästinensische Jugendliche waren die Folge. Bereits nach einem halben Jahr sah er sich nach einem anonymen Einwurf der Scheibe mit anschließender Verwüstung seines Geschäfts am 09. Dezember 2002 während des Staatsbesuches des israelischen Präsidenten Katzav in Berlin zur Geschäftsaufgabe gezwungen. Hierauf wanderte der gläubige Jude nach Israel aus. Dieses Beispiel ist im vorliegenden Zusammenhang insofern besonders aufschlussreich, da es nahezu alle hier und im vorherigen Abschnitt genannten Kriterien der aufgezeigten judenfeindlichen Gefährdungsszenarien erfüllt.
4.2.3. Jüdische Zukunftsperspektiven in Berlin angesichts der antisemitischen Herausforderung Auch wenn sie nicht in der Erhebung im Untersuchungsfeld gestellt wurde, steht am Abschluss dieses Untersuchungskomplexes die Frage im Raum: Welche Perspektiven besitzt die jüdische Gemeinschaft in Berlin künftig in ihrem Umgang mit den weiterhin virulenten Ausprägungsformen von Antisemitismus? Wie aus den Statements der Interviewten in den beiden letzten Abschnitten deutlich hervorgeht, lässt sich für die jüdische Seite konstatieren, dass vor Ort erstaunlich pragmatische Umgangsweisen mit den antisemitischen Bedrohungen gefunden wurden und werden. Allerdings lassen diese ein wie auch immer geartetes Sich-Abfinden von jüdischer Seite mit diesen jederzeit von neuem als schmerzlich erlebten Restriktionen durch Sicherheitsmaßnahmen keineswegs erkennen. Von dem Hintergrund der geschilderten permanenten Gefahr durch Antisemitismus werden die Sicherheitsmaßnahmen überwiegend akzeptiert. Doch wird von einigen über die bedauernde Zustandsbeschreibung hinausgegangen: Die im Jüdischen Studentenbund aktive Studentin spricht vor dem Hintergrund der diesbezüglichen Nöte ihrer eigenen Gruppierung ein Hauptproblem der Sicherheitsmaßnahmen an: „[...] dieses Abkoppeln von der Außenwelt, was mehr oder weniger sein muss, leider, fruchtet nicht sehr in diesem Wachstum [...] der 365 Alle folgenden Angaben nach Nina Wagner: „Zerbrochenes Glas. ,Israel Deli‘ bleibt...“, in: JA 02.01.03 sowie Heike Runge: „Ein Traum von Heimat. Ari Tamm musste...“, in: JA 09.09.04. 366 Hennigsdorf ist ein unmittelbar an der nordwestlichen Stadtgrenze von Berlin in Brandenburg gelegener Vorort.
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jüdischen Gemeinde.“ (P12/34) Bei der Studentin scheint die Einsicht in die Notwendigkeit der Sicherheitsmaßnahmen bis ans äußerste strapazieret.367 In der Bilanzierung des Sinns der Maßnahmen werden von Einigen durchaus auch deren negative Folgen einbezogen. In ihrer Abwägung gelangen diese dabei zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen: Dies wird besonders bei zwei InterviewpartnerInnen deutlich, die in diesem Kontext auf die Jüdische Oberschule, die in der östlichen Stadtmitte liegt, zu sprechen kommen. Hier ist der repressive Eingriff der Sicherheitsmaßnahmen besonders deutlich, da die Schule im Unterschied zu gewöhnlichen schulischen Einrichtungen in Berlin von ihrer Umgebung durch einen übermannshohen, kameraüberwachten Stahl- und Betonzaun hermetisch abgeriegelt ist. So bezeichnet die Kunsthändlerin der Jüdischen Galerie, die sich für ihre Einrichtung sehnlichst ein Ende der Sicherheitsmaßnahmen herbeiwünscht (s. o.), die Maßnahmen zur Sicherung der jüdischen Oberschule als ,traurig und notwendig‘. Die in der israelkritischen Nahostgruppe Aktive artikuliert am deutlichsten eine andere Einschätzung: Sie findet es schrecklich, dass durch die Sicherheitsmaßnahmen der Jüdischen Oberschule „die armen Schüler ja leider alle eingesperrt sind“ (P 22/2) und befürchtet durch entsprechende Gefühle negative Auswirkungen auf diese. Außerdem hält sie die Maßnahmen für „sehr fragwürdig, weil ich weiß nicht, wie groß der Bedrohungsgrad wirklich ist.“ (Ebd.) In wenigen Statements wird nicht bei der Bewertung der weiteren Notwendigkeit der auf den virulenten Antisemitismus in Berlin reagierenden Sicherheitsmaßnahmen stehen geblieben, sondern die Bekämpfung der Wurzeln der Fremdenfeindlichkeit- und Antisemitismusproblematik aus jüdischer Sicht thematisiert. Die ganz unterschiedlichen Gedankensplitter geben die Komplexität der Problematik wieder und sind in ihrer fragmentarischen Form darüber hinaus ein Hinweis auf diese nicht tiefer behandelten Aspekte der Gesamtthematik Antisemitismus. Dennoch ist es sinnvoll, diese als deren in die Zukunft weisenden Ausblick hier noch kursorisch anzuführen. Die in vielfacher Weise insbesondere mit antiisraelisch motiviertem Antisemitismus konfrontierte innerjüdische Sportlerin und Sportfunktionärin sieht diesem gegenüber zukünftig nur zwei schwer zu verwirklichende Lösungsmöglichkeiten: Ihre zentrale Forderung für ein künftiges gedeihliches Zusammenleben, wie sie es persönlich mit Muslimen und Christen mit ganz unterschiedlichen kulturellen Herkünften bereits seit ihrer Schulzeit praktiziert368, ist ein Ende der Erziehung zum Judenhass in bestimmten streng religiösen muslimischen Familien: „Und das muss aufhören!“ (P19/57) Denn bereits Drei- bis Fünfjährigen würde dort beigebracht: „Juden sind schlechte Menschen.“ (P19/14) Außerdem, gibt sie sich überzeugt, müsse im Nahen Osten notgedrungen die israelischen Seite „den
367 Wie auch in ihrem Statement oben zur Fraglichkeit des Sinns dieser Sicherheitsmaßnahmen für den JSB deutlich wurde, vgl. Kap. III.4.2.2., S. 400 f. 368 Zu der muslimischen Mitschülerin von P 19 vgl. oben Kap. III.4.3.1., S. 386.
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ersten Schritt tun, denn, wenn Israel nicht zu einer friedlichen Lösung kommt, wird es auf der ganzen Welt keine geben.“ (19/57-58) Ohne dass die Rolle der Mehrheitsgesellschaft im Kampf gegen Antisemitismus ausgesprochen thematisiert wurde, zeugen die vielen Statements zu antisemitischen Bemerkungen und Übergriffen davon, dass Nichtjuden überwiegend nicht als gegen die Täter opponierende Akteure vorkommen, am ehesten noch als unbeteiligte, teilnahmslose Dritte. Einige Befragte hätten sich von diesen einen deutlicheren Akzent gesetzt gewünscht entsprechend den Eingangsworten des Kapitels von Paul Spiegel (P 20, P 21, P 23). Nur in einem Fall wird im Zusammenhang mit der Zurückdrängung oder Überwindung von Antisemitismus, insbesondere in Berlin, die Rolle der nichtjüdischen Seite für die Gegenwart sowie die nähere Zukunft ausgesprochen positiv hervorgehoben.369 Abgeschlossen wird die Erörterung der Erhebungsergebnisse zu Antisemitismus mit Hinweisen auf bisherige Defizite jüdischerseits im interkulturellen und interreligiösen Austausch, aber auf erste positive Gegenentwicklungen. P 3: Die im interkonfessionellen Gespräch zwischen Juden und Christen lange Zeit Aktive ist über wechselseitige Vorbehalte hinweg ein Rassismus wie Antisemitismus vorbauender interreligiöser und interkultureller Diskurs ein zentrales Anliegen. Jedoch sollte das Gespräch, wo es von anderen Minderheiten gesucht würde, auf jüdischer Seite nicht, wie teilweise in der Vergangenheit geschehen, ausgeschlagen werden. Vielmehr sollten jüdischerseits unterschiedliche ethnische und weltanschauliche Gruppen viel mehr beachtet werden, deren jeweilige spezifische Minderheitensituation mit der eigenen verglichen ohne gleichgestellt zu werden und – wo es politisch geboten erscheine – sollte man „doch von Fall zu Fall den Schulterschluss wagen.“ (P3/13) So macht sie etwa zwischen der jüdischen Community und der großen türkischen Minderheit in Berlin auf Grund früherer Versäumnisse einen erhöhten Handlungsbedarf aus. Wobei sie zwischen beiden Gruppen Anknüpfungspunkte für einen sich erst herausbildenden Dialog sieht. Als Positivbeispiel weiß sie davon zu berichten, dass die Türken als Minderheitsgruppe in Berlin sich hinsichtlich ihrer Organisationsformen auf das Vorbild der örtlichen Juden besonnen hätten. Als Negativbeispiel erwähnt sie jüdischerseits erst spät und dann umso emphatischer geführte Gespräch mit anderen NS-Opfergruppen: Am Beispiel der Sinti und Roma illustriert sie, dass NichtWahrnehmung in eine „falsche Harmonie“ (ebd.) umgeschlagen sei. P 23: Ähnlich zu P 3 sieht auch die vielfältig engagierte Journalistin und Bildungsreferentin deutliche Defizite im interkulturellen und interreligiösen Bereich auf jüdischer Seite in Berlin. Hier gelte es, die Anstrengungen deutlich zu erhöhen. So hält sie es für tragisch, dass mit dem Tod des liberalen Gemeinderabbiners A. Assabi im Sommer 2003, der sich sehr stark im Sinne der Überwindung 369 Als positive Aspekte der Abwehr von Antisemitismus sieht die im Egalitären Minjan Engagierte nämlich eine zunehmende Bereitschaft, „dass die Politik sich mehr dem Kampf [...] [gegen; A. J.] Antisemitismus verschrieben hat.“ (P8/51)
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dieser Defizite engagiert habe, ein seltener Impulsgeber in dieser Richtung in Berlin weggefallen sei, ohne Aussicht auf baldigen Ersatz.370 Tatsächlich scheint es aktuell Anzeichen für stärkere Bemühungen auf unterschiedlicher Ebene im jüdischen Berlin zu geben, zusammen mit in der Stadt lebenden Muslimen Zeichen eines interkulturellen und interreligiösen Dialogs zu setzen, wie sie von Einzelnen wie der zuvor angeführten P 3 seit längerem schon eingefordert wurden. Dies soll mit einigen Beispielen knapp belegt werden: So kondolierten unmittelbar nach den blutigen Bombenattentaten in der Londoner U-Bahn im Sommer 2005 der orthodoxe Rabbiner der Berliner Gemeinde Yitshak Ehrenberg gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland Nadeem Elyas sowie mit dem Pfarrer der anglikanischen Kirche Christoph Jager-Bowler in der Britischen Botschaft in Berlin. Dieser öffentlichkeitswirksame gemeinsame Auftritt kann durchaus mehr als eine nur symbolische Geste des gemeinsamen Bemühens um interreligiöse Eintracht gewertet werden. – Und auch die insbesondere im Zusammenhang mit dem im muslimisch geprägten Kreuzberg angesiedelten Internet-Service MuH erwähnte einzige Kreuzberger Synagoge Fraenkelufer kann als Positivbeispiel angeführt werden. Die mehrfach durch anonyme antisemitische Übergriffe bedrohte Synagoge hatte bislang keinerlei Probleme mit ihren muslimischen Nachbarn. Ganz im Gegenteil hat sich die überwiegend konservative Betgemeinschaft in jüngster Zeit, d. h. in der ersten Jahreshälfte 2005 an der Initiative ,InterReligiöser Dialog‘ in Kreuzberg beteiligt: „Dabei trafen sich Menschen unterschiedlicher Religionen – mal in der evangelischen Marthagemeinde, dann mit Vertretern der alevitischen Gemeinde und dann wieder in der Synagoge Fraenkelufer.“371 Als letztes soll ein besonders denkwürdiges dialogorientiertes Positivbeispiel angeführt werden. Ein antisemitischer Vorfall nach bekanntem Strickmuster hatte am 4. Mai 2005 in Berlin für Schlagzeilen gesorgt.372 In einer eskalierenden Rempelei zwischen Schülern der jüdischen Oberschule (JOS) und der PommernHauptschule (PoS) in der S-Bahn, an der zunächst die russischsprachigen JOSSchüler mit aggressiven Beschimpfungen auf Russisch beteiligt waren, fielen im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung antisemitische Beschimpfungen von muslimischen PoS-Schülern gegen die JOS-Schüler. Eine mitfahrende PoSLehrerin konnte angesichts des hohen Aggressionspotentials diese judenfeindlichen Attacken nicht unterbinden. Auch Mitfahrende schritten wie so oft auch hierbei nicht ein. Der Vorfall wurde erst durch einen Brief der Direktorin der JOS Barbara Witting an den Schulsenator von Berlin Klaus Böger ruchbar. Pi370 Zu hier nur angedeuteten problematischen Situation der Besetzung der zweiten liberalen Rabbinerstelle in der Gemeinde und den ihr vorausgehenden Entwicklungen im Bereich der liberalen Gemeinderabbiner vgl. näher das Berliner Einführungs-Kap. II.2.1.3. sowie das gemeindebezogene Berlinspezifika-Kap. III.2.1. 371 Johannes Boie: „Frische Brise am Kanal.“, in: JA 28.07.05 372 Alle Angaben zu dem Vorfall nach Anke Ziemer: „Ein Rempler und seine Folgen“, in: JA 14.07.05
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kanterweise trägt die PoS seit Dezember 2004 den Titel „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Die Besonderheit des Falles besteht darin, dass nun die Schulbehörde eingriff und die betreffenden Schüler im Centrum Judaicum zu einem Versöhnungstreffen zusammenbrachte. Die JOS-Schüler sind von den SoS-Schülern zu einem Sommerfest eingeladen und werden dort einen künstlerischen Beitrag zu jüdischer Kultur aufführen. Zunächst brachte das ungewöhnliche Treffen im CJ eine Debatte über Defizite auf beiden Seiten zu Tage. Die muslimischen Schüler zeigten sich nicht schuldbewusst, stellte der mit der Aufarbeitung des Falls beschäftigte Oberschulrat Siegfried Arntz fest, der dafür ein geringes entsprechendes Bildungsniveau der Hauptschüler und eine erst längerfristige Wirkung von Toleranzerziehung verantwortlich machte. Aber auch auf jüdischer Seite wurden im Nachhinein öffentlich Defizite eingeräumt: So bedauerte die Rektorin der JOS, trotz Anti-Gewalt-Training für Schüler und Lehrer im Realschulzweig ihrer Schule dort ein erhöhtes Gewaltpotential und bemerkte außerdem selbstkritisch: „Wir müssen bei unseren russischsprachigen Schülern und Kollegen die Einsicht festigen, im Schulalltag konsequent deutsch zu sprechen, damit keine Missverständnisse aufkommen können.“373 Ohne im Einzelnen auf diesen Fall weiter eingehen zu können, zeigt er doch sinnbildlich den hohen Klärungsbedarf von vielen über Antisemitismus hinausreichenden, gleichwohl für den Ausbruch manifest antisemitischer Gewalt mitentscheidenden Faktoren. Dies meint insbesondere in judenfeindlichen Situationen nicht minder problematische interkulturelle Schwierigkeiten wie sprachliche Barrieren bis hin zu Defiziten auch im jüdischen Schulbereich sowie allgemein wachsende Aggressionen unter Schülern. Im Kontext der hiesigen Thematik zeigt er jedoch, wie sehr antirassistische Basisarbeit – auch auf jüdischer Seite – noch in den Kinderschuhen steckt und um so nötiger, aber auch mit vergleichsweise geringen Mitteln möglich erscheint. Mit den genannten Beispielen wird erkennbar, dass es also gerade in Berlin neuere Ansätze von jüdischer, aber auch nichtjüdischer Seite gibt, im Kampf sowohl gegen Antisemitismus wie auch gegen Fremdenfeindlichkeit neue kulturübergreifende und interkonfessionelle Wege zu beschreiten. Dass es sich hierbei möglicherweise um eine generelle, auch andernorts in der hiesigen jüdischen Diaspora sich abzeichnende Tendenz handeln könnte, lässt sich daran ersehen, dass ähnliche jüdisch-nichtjüdische Initiativen aktuell auch andernorts entstehen, ohne dass hier näher darauf eingegangen werden kann. Sollten die genannten Initiativen von jüdischer Seite sich zu einer generellen Tendenz ausweiten, bestünden damit m. E. gute Voraussetzungen für eine künftig weniger reaktive, sondern vielmehr aktivere Rolle in der Metropole bei konstruktiv auf Konfliktvermeidung und Dialog setzenden Bemühungen gegen Antisemitismus und 373 Ebd. – Sogar der damalige Gemeindevorsitzende Albert Meyer äußerte: „Unsere Schüler sollten in ihrem Auftreten keinen Anlaß zu Provokationen geben“; ebd.
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Fremdenhass und für eine tolerante Gesellschaft. Diese Rolle könnte durchaus der zunehmenden Größe und Bedeutung sowie dem wachsendem Selbstbewusstsein der jüdischen Gemeinschaft in Berlin entsprechen, ohne damit die nichtjüdische Seite aus deren Pflicht zum Handeln zu entlassen.
4.2.4. Zusammenfassende Bilanzierung Ausgangspunkt der Bewertung des Themenblocks Antisemitismus in Berlin ist die starke persönliche Betroffenheit der sich hierzu Äußernden und ihres jüdischen Umfelds hiervon. Dies meint einerseits die konkrete lebensweltliche Seite, also im eigenen Alltag Judenfeindschaft ausgesetzt zu sein, wie anderseits die individuelle wie auch kollektive Notwendigkeit jüdischerseits, hiergegen permanent Vermeidungsstrategien und Schutzmaßnahmen ergreifen zu müssen, welche das eigenen leben z. T. empfindlich stören. Es konnte gezeigt werden, dass der überwiegende Teil der Erhebungsauswahl direkt mit Judenfeindschaft und seinen Auswirkungen vor Ort konfrontiert ist. Alle sich zu der Problematik Äußernden bestätigen für Berlin durch die Fülle ihrer Schilderungen P. Spiegels als Eingangsmotto des Kapitels zitierte deutschlandweite Einschätzung, der großen Virulenz von Antisemitismus. Es zeigte sich, dass sich auf jüdischer Seite eine differenzierte Gelegenheitsstruktur der persönlichen Betroffenheit von den ganz unterschiedlichen judenfeindlichen Akteuren und Tatmotiven ergibt: • Im Fall des latenten Antisemitismus von deutscher Seite zeigte es sich, dass dieser nahezu überall und unverhofft im alltäglichen Ungang mit Nichtjuden auftreten kann. Daher spielen auf jüdischer Seite Herkunft, religiöse Orientierung und Alter keinerlei erkennbare Rolle für die Wahrscheinlichkeit, hiervon betroffen zu sein. Auch ist es jüdischerseits kaum möglich, das Konfrontiertwerden mit ihm zu vermeiden oder sein Auftreten zu verhindern. • Im Fall des manifesten Antisemitismus von deutscher Seite ist die Situation ganz anders gelagert. Dieser wird aus dem Erhebungskreis heraus sehr stark als Bestandteil allgemeiner Ausländerfeindlichkeit bei überwiegend Jugendlichen und jungen Erwachsenen der östlichen Randbezirke von Berlin gesehen, Gegenden in denen sich offensichtlich weder der überwiegende Teil der Interviewauswahl (noch andere Berliner Juden) bevorzugt aufhalten. Hierzu wird überwiegend ohne eigene Erfahrungen (mit Ausnahme rechtsextremer Demonstrationen durch die Berliner Innenstadt) gesprochen. • Ein wiederum völlig anderes Erfahrungsprofil ergibt sich im Fall des sich häufig in tätlichen Übergriffen äußernden antiisraelisch motivierten Antisemitismus unter Islamisten und Arabern. Hier ist die persönliche Betroffenheit besonders ausgeprägt unter Jüngeren sowie aus religiösen oder anderen Gründen sich als Juden kenntlich Zeigenden unterschiedlicher Herkunft. Bei den Jüngeren ergibt sich eine große Bandbreite der Gelegenheitsstruktur auf nichtgymnasialen öffentlichen Schulen, auf dem Schulweg und in der Freizeit auf Grund überwiegend gleichaltriger Täter. Bei sich als Juden kenntlich Zeigenden überwiegen Gelegenheiten in öffentlichen Straßen und Verkehrs-
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mitteln. In diesem Bereich von Antisemitismus reichen die Eigenerfahrungen von keinen bis zu erheblichen Übergriffen auf die eigene Person. In allen drei thematischen Clustern persönlicher Erfahrungen mit Judenfeindschaft in Berlin wird erkennbar, dass den sich hierzu Äußernden über diese situativen Zumutungen hinaus ganz unterschiedliche, jedoch immer diskriminierende Identitätszuschreibungen aufgenötigt werden. Zu denken geben können einem in diesem Kontext viele der von den Befragten angeführten Beispiele: so etwa die multikulturell geprägte und engagierte Sportlerin P 19, indem sie einem Mitschüler bedeutet, sie zwar mit der negativen Kollektivzuschreibung ,Russin‘, auf keinen Fall aber als ,Jüdin‘ beschimpfen zu dürfen.374 Umgekehrt wurde in weiteren Statements deutlich, dass auf Grund eines allgemeinen Rassismus – insbesondere in den östlichen Randbezirken Berlins – viele der in der Stadt lebenden Juden über die gar nicht ihr Jüdischsein meinende negative Kollektivzuschreibung als ,Russen‘ überhaupt erst in ein fremdenfeindliches Visier gerät. Außerdem wurde sichtbar, dass von islamistischer, aber auch von deutscher Seite Juden und das jüdische Kollektiv in Berlin für die Politik Israels mitverantwortlich gemacht werden. Schließlich berichten Homosexuelle davon, dass sie in der ,Homo-Szene z. T. entsprechend auf ihre jüdischen Identitätsanteile reduziert werden usw. Gemeinsam ist all diesen Beispielen, dass in Berlin lebende Juden (und andere herabgesetzte Minderheiten) von juden- wie fremdenfeindlichen Akteuren über selektiv-negative Identitätszuschreibungen in einer Art Diskriminierungs-Ökonomie auf bestimmte Merkmale und angebliche Eigenschaften reduziert und damit ihrer individuellen Persönlichkeitsbestandteile beraubt werden sollen. Eine sich hieraus ableitende Frage jenseits direkter Betroffenheit von Antisemitismus ist die eines reaktiven und prophylaktischen Verhaltens der Erhebungsauswahl. Wie im Bereich der vorgelagerten Eigenerfahrungen mit Judenfeindschaft, divergieren auch die persönlichen Umgangsweisen mit der Problematik. Ein Teil der sich hierzu Äußernden gibt sich in der Öffentlichkeit weiterhin explizit als Juden zu erkennen. Dies gilt sowohl für solche, die Negativerfahrungen wie solche, die keinerlei Eigenerfahrungen mit örtlichem Antisemitismus gemacht haben. Andere gaben demgegenüber an, in Berlin aus Selbstschutzgründen ihre persönliche Bewegungsfreiheit einzuschränken, indem sie etwa Ostberliner Randbezirke explizit meiden. Oder sie verzichten sogar auf ihr an äußerlichen Merkmalen erkennbares jüdisches Auftreten in der Öffentlichkeit, in einem Fall sogar den Nachbarn gegenüber am Fenster der eigenen Wohnung. Das Faktum dieser Vermeidungsstrategien bedarf allerdings noch einer abschließenden Bemerkung: Besitzt es doch insofern eine gewisse Brisanz, als es sich hierbei um von antisemitischer Seite über Gewaltausübung aufgezwungene, schmerzliche Selbstbeschränkungen der persönlichen Freiheit handelt.375 Die 374 Vgl. in Kap. III.4.2.1. den Cluster zu manifestem deutschem Antisemitismus. 375 Nicht anders als etwa Frauen im Fall eines entsprechenden prophylaktischen Verhaltens gegenüber der Gefährdung durch potentielle sexistische Gewalttäter.
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wissenschaftliche Behandlung dieser jüdischen Schutzreaktionen sollte m. E. auch im vorliegenden Fall nicht dazu dienen, sie ex post – etwa gemessen an ihrer Effizienz als Vermeidungsstrategie – zu rationalisieren. Im Gegenteil, die Absicht bestand hier vielmehr darin, in einer problemorientierten Perspektive diese unterschiedlichen Selbstbeschränkungen, denen jüdisches Leben in Berlin auch über die sichtbaren und allgemein bekannten Sicherheitsmaßnahmen hinaus auf Grund von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit unterliegt, zunächst eindeutig nachzuweisen. Zukünftig müssten unter Zuhilfenahme dieser und weiterer wissenschaftlicher Erkenntnisse Schritte zur Überwindung der diesen Restriktionen zu Grunde liegenden gesellschaftlichen Ursachen der AntisemitismusProblematik geleistet werden, wie ansatzweise im vorherigen Abschnitt für die jüdische Seite aufgezeigt wurde. Im Fall der untersuchten Gruppenaktivitäten an der Peripherie und außerhalb der jüdischen Gemeinde, die mit Ausnahme eines Lebensmittelgeschäftes von manifesten antisemitischen Übergriffen nicht direkt betroffen waren, standen Vermeidungsstrategien im Zentrum des Interesses. Hierbei waren die Kriterien Standort und Erscheinungsbild entscheidend für deren Sicherheit. D. h., dass sich die innerstädtischen Bezirke in der Wahrnehmung der in diesen Aktivitäten Engagierten durchweg als sicherer erwiesen als außerhalb davon gelegene Stadträume. Das gleiche gilt der Tendenz nach für jüdische Aktivitäten in privaten Räumen oder in bzw. neben bewachten JGB-Einrichtungen gegenüber in öffentlich zugänglichen Räumen gelegenen als gefährdeter empfundenen Standorte. Ein auffällig ,jüdisches‘ Erscheinungsbild (etwa durch hebräische Schriftzeichen und israelische Flaggen an der Außenfassade) wird hierbei als besonders risikoreich wahrgenommen. So finden Übergriffe und antisemitische Beschimpfungen im Fall des als eindeutig jüdisch erkennbaren Lebensmittelgeschäfts trotz der sichernden Überwachung in einem in der West-City gelegenen JGB-Gebäude statt. (P 20) Demgegenüber erfreut sich der unscheinbaren in einer muslimisch geprägten Gegend gelegene Internet-Service MuH (P 15) einer guten Kieznachbarschaft. Die Mischung aus Außenbezirklage und auffällig jüdischem Erscheinungsbild potenziert offenbar die Gefährdung, wie das Extrembeispiel der Verwüstung und anschließende Geschäftsaufgabe des Israel Deli zeigte. Das Ergebnis der Betroffenheit neuerer jüdischer Aktivitäten peripher und außerhalb der Berliner Gemeinde ist ambivalent: Es sieht danach aus, dass Antisemitismus noch länger ein restriktives Moment der Gestaltungs- und Standortentscheidungen jüdischer Initiativen außerhalb gesicherter Gemeindeeinrichtungen in der Metropole bleiben wird. Dennoch ist ebenfalls unübersehbar, dass diese Initiativen, jedenfalls in deren innerstädtischem Bereich, den judenfeindlichen Einschüchterungsszenarien eine allmählich wachsende und damit alltäglicher werdende Präsenz entgegensetzen. Jüdische Aktivitäten entwickeln sich gegenwärtig im innerstädtischen Berlin an verschiedenen Orten, an denen bisher keine jüdische Präsenz bestand, wie unscheinbar zunächst auch immer. So entstehen Stück für Stück weitere jüdische Geschäfte, Gastronomiebetriebe und Theater-
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spielstätten, möglicherweise auch ein jüdisches Kulturzentrum mitten in der Stadt und außerhalb der Gemeinde und ihrer Sicherheitsstandards. Auch in diesen Fällen ist zu vermuten, dass längerfristig den Verhaltens- und Umgangsweisen der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft in öffentlich zugänglichen jüdischen Einrichtungen im Berliner Stadtraum eine entscheidende Rolle zukommt: Werden diese mehr und mehr als selbstverständlicher oder sogar erwünsch ter Bestandteil der Stadtkultur wahr- und angenommen, dürften antisemitische Übergriffe keine ernsthafte Chance mehr haben, jüdischem Leben den Stadtraum streitig zu machen. Jenseits der direkten lebensweltlichen Betroffenheiten von gegenwärtigem Antisemitismus und der durch ihn erzwungenen Einschränkungen und Gegenmaßnahmen auf dem persönlichen Sektor wie im Bereich von Gruppenaktivitäten im jüdischen Berlin erscheint ein letztes Ergebnis dieses Untersuchungsblocks sehr bemerkenswert: So spricht aus den Äußerungen der Betroffenen ein erstaunlicher Pragmatismus im Umgang mit dieser schwerwiegenden Problematik. Entsprechend geht aus keinem einzigen Statement hervor, dass aus dem Befragtenkreis oder aus dessen Umfeld auf Grund des allgegenwärtigen Antisemitismus in Berlin daran gedacht wird, ,Koffer zu packen‘, um der Stadt den Rücken zu kehren. Die sehr interkulturell verortete Sportlerin P 19 dürfte für das Gros der Erhebungsauswahl sprechen, indem sie in diesem Zusammenhang betont, sich zwar aus beruflichen oder privaten Gründen vorstellen zu können, woanders hinzugehen, nicht aber wegen des in Berlin virulenten Antisemitismus. Eine Ursache dieser Haltung der Interviewten frei von Larmoyanz und Aufgeregtheit dürfte m. E. auch darin zu suchen sein, dass Juden in Berlin möglicherweise viel stärker als die nichtjüdische Bevölkerung Judenfeindschaft in einem internationalen Kontext wahrnehmen. Schließlich ist Antisemitismus gerade heutzutage eine globale Herausforderung und kein nationales oder lokales Problem mehr. Im jüdischen Berlin sind entsprechende Gefährdungen von Juden und jüdischen Einrichtungen in den letzten Jahren aus anderen Ländern sehr wohl, bekannt wie etwa aus der Türkei, Tunesien aber auch aus Frankreich. Außerdem ist zu vermuten, dass die unzähligen blutigen Bombenattentate in Israel in den letzten Jahren ein übriges bewirkten: Gegen die dortige allgegenwärtige Bedrohung der jüdischen Zivilbevölkerung durch diese Attentate erscheinen die Gefährdungen für in Berlin (wie auch in anderer westlichen Metropolen) lebenden Juden auf Grund von Antisemitismus geradezu gering. Immerhin ist hier in den letzten Jahren im Unterschied zu Israel kein Jude auf Grund antiisraelisch motiviertem Judenhass zu Tode gekommen. Erst der historische Hintergrund gibt Judenfeindschaft im heutigen Berlin, als der ehemaligen Schaltzentrale der NSJudenverfolgung, eine im internationalen Vergleich besondere ortsspezifische Note. Abschließend lässt sich sagen, dass Antisemitismus im Untersuchungsfeld vom Erhebungskreis als eine sehr ernste, jedoch die jüdische Existenz in Berlin nicht ernsthaft gefährdende Problematik wahrgenommen wird.
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5 . E r g e b n i s g e l e i te te Th e s e n z u jü d is c h e r E x is te n z i n B e r l i n u n d i h r e r Z u k u n f ts p e r s p e k t i ve n Die zuvor dargestellten vier thematischen Durchgänge zu übergreifenden Aspekten jüdischer Existenz in Berlin führten zu einer Reihe von Ergebnissen, die hier abschließend zu einem Gesamtbild zusammengebracht werden sollen. Hierfür werden die Einzelergebnisse in mehreren, teilweise aufeinander bezogenen Thesen verdichtet. Das hierbei entstehende Panorama soll den kleinräumigeren Einzelfallstudien zu kulturell bestimmten Gruppenaktivitäten an der Peripherie und außerhalb der Berliner Gemeinde und deren Bilanzierung im abschließenden vierten Teil der Studie quasi als Hintergrundsfolie und Bezugspunkt dienen. Vor der Zusammenschau der ergebnisorientierten Thesen gilt es, sich den Zusammenhang zwischen dem Themenfeld des vorliegenden dritten Parts der Studie und den in seinen jeweiligen Kapiteln angeführten Stimmen aus den Erhebungsgesprächen zu vergegenwärtigen. Auf Grund der gezielten Auswahl zeichnen sich alle hier zu Wort Kommenden untereinander durch bestimmte für die Thematik ausschlaggebende Gemeinsamkeiten und Unterschiede aus. Gemeinsam ist ihnen demnach ihr starkes innerjüdisches Engagement an der Peripherie und außerhalb der Gemeinde, ihr hierdurch bedingter intensiver Bezug zum jüdischen Leben der Metropole sowie, als Bewohner Berlins, ihre lebensweltliche Vertrautheit mit ortsspezifischen Rand- und Außenbedingungen. Unter schiede bestehen demgegenüber besonders in ihrem Herkommen und in ihrer religiösen Orientierung, aber auch in der Art ihres innerjüdischen Engagements und in den Motiven für ihr Leben in Berlin. Wichtig ist es also nochmals festzuhalten, dass der Befragtenkreis jenseits der Gemeinsamkeit ihres JüdischSeins verschiedenen, sich teilweise überschneidenden jüdischen, gemischten und außer-jüdischen Familien, Peergroups und Milieus angehören. Das Ziel der Befragung zu den vier Themenbereichen bestand in Erkenntnisgewinnen auf zwei Ebenen: Einerseits sollte sie Aufschlüsse über reale Entwicklungen in den über den religiösen und JGB-bezogenen Kernbereich hinausgehenden Bereichen des jüdischen Berlin ermöglichen. Andererseits versprach ein Abund Vergleich der geäußerten Erfahrungswerte, Einschätzungen und Meinungen mit den o. g. personenbezogenen Merkmalen, Zusammenhänge zwischen beiden Größen ausmachen zu können. Die folgenden, ergeb- nisorientierten Thesen sind Ausdruck dieses zweifachen Erkenntnisinteresses.
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T h e se 1 : He r ku nf t s üb e r g re i f en d e W a hr ne hm un g e i n e r V i t a l i si e ru n g o hn e R e na i s sa n ce In der Bewertung der im weitesten Sinne kulturellen Entwicklungen im jüdischen Berlin der letzten Jahre überwiegen zwei Einschätzungen: Zum einen werden diese Auf- und Umbrüche nicht als ein Anknüpfen an jüdische Existenz in Berlin und im übrigen Deutschland vor 1945 wahrgenommen. Die auch innerjüdisch publizistisch und durch Repräsentanten in der Öffentlichkeit als Chiffren des Wandels der letzten Jahre gebrauchten Wachstumsnarrative ,Renaissance‘ und ,Revitalisierung‘ finden in der Erhebungsauswahl keine Verwendung, unbenommen von Unterschieden in der personenbezogenen Merkmalsstruktur sowie aus unterschiedlichen herkunftsbezogenen Gründen heraus. Dem Wissen um den unwiederbringlichen Verlust jüdischer Kultur in Deutschland vor 1933 auf Seiten von hier Stammender steht geringes Wissen hierüber bei den Zugewanderten gegenüber. Diese Positionierungen bestehen vor dem Hintergrund, dass, wie in der Studie vielfach aufgezeigt, Berlin wie kein anderer Ort hierzulande einen Referenz- und Erinnerungsraum jüdischer Emanzipationsgeschichte in Deutschland seit frühbürgerlicher Zeit wie gleichsam auch deren Vernichtung durch den NS darstellt. Zum anderen werden die heutigen örtlichen innerjüdischen Veränderungen überwiegend als ein Aufschwung jüdischen Lebens in der Stadt wahrgenommen, allerdings als einer mit vielfachen Hürden und Fallstricken (s. u.). Erwartungsgemäß werden hierfür über die eigene Gruppenaktivität hinaus viele andere Beispiele aus dem Peripherbereich und außerhalb der Gemeinde benannt. Sehr spezifisch für die Erhebungsauswahl erscheint die größere Bedeutung weltlicher gegenüber religiöser Beispiele (s. u. Religionsthese). Die Merkmalsstruktur ist im Bereich Herkommen bei dieser Frage etwas ausdifferenzierter als im ersten Teil der These: Im Kontinuum zwischen Skepsis und Zuversicht sind die Bedenkenträger eher bei aus Deutschland Stammenden, die Optimisten stärker bei den ,freiwillig‘ hierher gekommenen Osteuropa- und Israelstämmigen auszumachen. Über personenbezogene Merkmalsunterschiede hinweg lässt sich als vorherrschende Grundhaltung in der Erhebungsauswahl ein mit skeptischen Einsprengseln versehener Optimismus ausmachen. Die in weiteren Thesen behandelten Schwierigkeiten und Probleme erscheinen entsprechend insgesamt der Tendenz nach nicht substanzgefährdend und überwindbar. T h e se 2 : B en e n n u n g au s ge sp ro c he ne r Or t s spe zi fi ka ( o h ne Z u o rd n un g n a ch Pe r son e nm e r km a l e n ) Berlin ist ein ,besonderes Pflaster‘ heutiger jüdischer Existenz in Deutschland, wie in den ersten beiden Teilen der Studie zur Genüge aufgezeigt wurde. Daher verwundert es nicht, dass sich dies auch in den Erhebungsgesprächen vielfach abbildete. Dabei wurden nicht nur inner- wie außerjüdische berlinspezifische Vorzüge artikuliert, sondern nicht minder entsprechende neuralgische Punkte und Probleme. Etwas pointiert lässt sich sogar sagen, dass auf Grundlage der
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Gesprächsäußerungen der größte Beweis für die wachsende Vitalität (s. These 1) im jüdischen Berlin die vielen sich hiermit auftuenden Schwierigkeiten für die hiesige jüdische Gemeinschaft sind. Wegen der Komplexität der verschiedenen Ebenen (innerjüdisch, jüdisch-nichtjüdisch, außerjüdisch) und der Fülle der vom Befragtenkreis positiv wie negativ gewerteten Aspekte werden alle bedeutsamen berlinspezifischen Gesichtspunkte, die in den vorherigen Kapiteln dargestellt und erörtert wurden, in einem schematischen Schaubild aufgeführt. Sich inhaltlich diametral widersprechende Berlinspezifika verweisen auf unterschiedliche Urheber aus dem Erhebungskreis oder aber auf Ambivalenzen und Paradoxien im Untersuchungsfeld selbst, wie in den vorangegangenen thematisch bestimmten Durchgängen näher überprüft werden kann. Die Auflistung bietet auch eine Art Orientierungshilfe und Inhaltsverzeichnis für die nachfolgenden Thesen: Berlinspezifika
Positive
Negative
innerjüdische
Jüdische Gemeinde
Jüdische Gemeinde – Desintegrative religiöse Tendenzen innerhalb der EG durch den Aufbau von Parallelstrukturen durch außerhalb von ihr stehender orthodoxer Organisationen (s. u.)
−
Religiös plurale Einheitsgemeinde
−
Herkuftsvielfalt
–
Tendenzen zu ,russischen‘ und ,deutschen‘ Parallelgemeinden
–
Von der Basis abgelöstes Gemeindeestablishment
–
Zu geringe Autonomie der Betgemeinschaften in den JGBStrukturen
–
Vakanz der zweiten liberalen Rabbinerstelle
–
Teilweise eine Anbiederung mit Kulturangeboten der JGB an den nichtjüdischen Publikumsgeschmack
422 | TEIL III: JÜDISCHE EXISTENZ IN BERLIN UND IHRE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN innerjüdische
innerjüdische
außerjüdische
Defizite im Schulwesen der JGB (Ausstattung, Kooperation mit öffentlichen Schulen, Qualität der Vermittlung jüdischer Inhalte)
–
Defizite von offizieller JGBSeite im interkulturellen und interreligiösen Dialog
Über die Gemeinde hinaus – Religiöse Pluralität außerhalb der JGB –
Im jüdischnichtjüdischen Feld
–
Über die Gemeinde hinaus – Aufbau von Parallelstrukturen von außerhalb der JGB stehender orthodoxer Organisationen Kulturelle Pluralität außerhalb (s. u. These 3) der JGB
–
Berlin als jüdischer Geschichtsraum
–
Hybride Kulturäußerungen – (sich neu eröffnende kulturelle Horizonte)
Hybride Kulturäußerungen (Verlust an jüdischer Authentizität)
–
Modische Inszenierungen des Jüdischen (Hype) als Brücke zu originär jüdischen Kulturäußerungen
–
Modische Inszenierungen des Jüdischen (Hype) als Verdrängung originär jüdischer Kulturäußerungen
–
Geringere Reduzierungen auf – ihre jüdischen Anteile in der Wahrnehmung durch Nichtjuden bzw. auf Klischees bei – sich öffentlich als Juden Bekennenden, die in anerkannten – Berufen tätig sind
Relativ hohe Fremdenfeindlichkeit in östlichen Rand- und Außenbezirken
–
Aktive jüdische Existenz statt passivem Objektstatus gegenüber nichtjüdischer Betrachtung
–
Vergleichsweise liberale, kos- – mopolitische und multikulturelle Atmosphäre im Innenstadtbereich
–
Wählbare Anonymität
–
Zusammenwachsen der ehemals geteilten Stadt Tabelle 2
Relativ hoher islamistischer und arabischer Antisemitismus (beiderseitige) Defizite im organisierten jüdisch-christlichen Dialog
Mental noch immer geteilte Stadt
THESEN ZU JÜDISCHER EXISTENZ IN BERLIN | 423
T h e se 3 : A m b i val e n t e Ei n s chä tzu ng en d e r z un eh m en de n r el i gi ö se n V i el fa l t be i rel i g iö s R ef o rm o rie n ti e rte n Insgesamt wird die gerade in Berlin seit 1990 sehr stark voranschreitende religiöse Vielfalt innerhalb wie außerhalb der Gemeinde begrüßt. Jedoch sehen die überwiegend aus dem religiös reformorientierten Spektrum Stammenden damit einhergehende, größere Probleme innerhalb der Berliner Gemeinde. Vor allem das Berliner Spezifikum der in religiöser Hinsicht pluralen Einheitsgemeinde erscheint ihnen auf Grund der sehr dynamischen Entwicklung der letzten Jahre vor allem in struktureller Hinsicht eindeutig in die Krise gekommen. Einerseits wird eine mangelnde Autonomie der Betkreise gegenüber den ihnen entrückten, überwiegend auf ihre internen Probleme fixierten Leitungsgremien festgestellt. Anderseits werden Spaltungsgefahren durch die Entstehung von Parallelstrukturen zur Gemeinde in Form von religiösen und Bildungsaktivitäten von außen kommender, orthodoxer Organisationen konstatiert. Dennoch halten die kritischen Stimmen die Einheitsgemeinde als Gemeindeform überwiegend für ebenso erhaltungswürdig wie reformierbar. T h e se 4 : He r ku n f t s s pe zi f i s ch e S ic h t a u f d i e I nt eg r a t i on d e r o st eu ro pä i sch e n E i n wa nd e re r Die Zuwanderungsbewegung der letzten 15 Jahre wird ebenfalls als enorme Herausforderung wie als große Chance für das jüdische Berlin in der durchweg sehr gut integrierten Erhebungsauswahl angesehen, unbenommen von eigenem Herkommen. Dabei überwiegt die Sicht auf Chancen. Vor allem herkunfsspezifisch wird jedoch der Prozess der Integration gegensätzlich beurteilt, hier idealtypisch und antithetisch formuliert: • der Appell von einheimischer Seite zu einer größere Integrationsbereitschaft bei den Russischsprachigen Einwanderern, um einer drohenden Herausbildung paralleler jüdischer Gemeinschaften in Berlin zu begegnen; • das Insistieren von russischsprachiger Seite auf einen geringeren Integrationsdruck gegenüber den Zuwanderern, um sie nicht zu verprellen und ihnen die Gelegenheit zu geben, ausgehend von ihrer säkularen ,russischen‘ Herkunftskultur, ins Judentum und das jüdische Berlin hineinzuwachsen. Erwartungsgemäß lässt sich hierbei eine eindeutige Herkunfts- und z. T. Tätigkeitsspezifik feststellen: Aus dem deutsch-jüdischen Milieu Stammende vertreten tendenziell die erstgenannte Haltung, während solche aus dem Einwanderermilieu und ihnen auf Grund ihrer soziokulturellen Arbeit mit ihnen Nahstehende eher zu der zweiten Annahme tendieren. Die unterschiedlichen Haltungen erscheinen dabei weniger aporetisch als es den ersten Anschein hat, da es sich bei der diskutierten Problematik offensichtlich vor allem um generationsspezifische desintegrative Verfestigungen bei älteren Zuwanderern handelt. Demgegenüber wird eine Abnahme separater innerjüdischer Vergemeinschaftung bei Jüngeren beider Herkunftsmilieus vermutet, die bereits heute und in Zukunft gemeinsam jüdische wie außerjüdische Bildungseinrichtungen durchlaufen.
424 | TEIL III: JÜDISCHE EXISTENZ IN BERLIN UND IHRE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN
T h e se 5 : He r ku n f t s s pe zi f i s ch e W a h r n eh m un g e n d e s ni ch t j ü di s che n H yp e s um d en D a vi d s t e r n Kaum ein anderes Berlinspezifikum stellte sich in den explorativen Vorrecherchen wie bei einem Teil der Erhebungsauswahl als so ausgeprägt heraus wie die nichtjüdischen Inszenierungen des Jüdischen unter modischen und touristischen Gesichtspunkten mit allen fließenden Übergängen zu Orten und Einrichtungen originärer jüdischer Geschichte und Gegenwart. Umso bemerkenswerter erscheint die herkunftsspezifische Sicht auf diese Hype-Phänomene im deutschjüdischen Feld: • Die Stimmen aus deutsch-jüdischem Herkunftsmilieu haben sich am stärksten mit diesen Phänomenen beschäftigt und besitzen eine überwiegend kritische Einschätzung ihnen gegenüber. Ihre Kritik bezieht sich dabei sowohl auf negative Auswirkungen auf nichtjüdischer wie auch auf jüdischer Seite: • Auf nichtjüdischer Seite wären damit einhergehende tendenziell verzerrte Wahrnehmungen der jüdischen Gegenwartsexistenz wie eine geschichtsklitternde Verharmlosung der Schoah die Folge (s. o. die Revitalisierungsthese. Während im Hinblick auf die jüdische Seite die Sorge vor einer Konkurrenz darüber, was hierzulande als jüdische Kultur angesehen wird, eher implizit durchscheint und ein ,Jewish Disneyland‘ als eine Bedrohung der ohnehin noch immer fragilen jüdischen Identität in Deutschland gewertet wird. • Unter den aus dem russischsprachigen Einwanderermilieu Stammenden werden Hype-Phänomene demgegenüber nicht sehr deutlich wahrgenommen, schon gar nicht als konkurrierende und identitätsbedrohende Angebote im deutsch-jüdischen Feld. Die 70-jährige Verlust- und Verbotserfahrung jüdischer Kulturäußerungen in der SU dürfte hierbei eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Aber auch die Tatsache, dass die als mehrheitlich säkular und in gemischt jüdisch-nichtjüdischen Familien wunschgemäß gerade in Berlin bzw. Deutschland Lebenden lebensweltliche, ebenfalls ausgeprägt hybride, kulturelle Erfahrungen besitzen (,russisch‘, jüdisch, deutsch), dürfte hierfür von Bedeutung sein. • Schließlich besteht unter den Israel- und den USA-Stämmigen eine eigene Sicht auf die Hype-Phänomene, die sie mit Gelassenheit oder sogar sympathisierend wahrnehmen. Außerjüdische schtetlromantische Exotik um den Davidstern können ihrer herkunftsgemäßen, relativ gefestigten, jüdischen Identität kaum etwas anhaben. Außerdem rücken sie diese hypeorientierten Inszenierungen z. T. in einen deutschlandübergreifenden, europaweiten Zusammenhang vor dem Hintergrund des weitgehenden schoahbedingten Verlustes europäisch-jüdischer Kultur. Hierbei beziehen sie sich insbesondere auf in Osteuropa zunehmend anzutreffende, mit denjenigen in Berlin vergleichbare modische Inszenierungen.
THESEN ZU JÜDISCHER EXISTENZ IN BERLIN | 425
T h e se 6 : Un te r sc hi e d e i n d en l eb e n s we l tl i che n E r f ah r un g e n m it A n ti s em i ti sm u s Viel stärker als im Bereich nichtjüdischer Hype-Phänomene, mitunter geradezu existenziell, wird Antisemitismus (und Fremdenfeindlichkeit) und seine Auswirkungen im jüdischen Berlin von der Erhebungsauswahl wahrgenommen und als entscheidendes Charakteristikum vor allem persönlich erfahren: • Latenter Antisemitismus unter nichtjüdischen Deutschen in Berlin wird herkunfts- und religionsbezogene Merkmale übergreifend, in ganz unterschiedlichen Situationen und bei den verschiedensten Kreisen der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft von den sich entsprechend Äußernden wahrgenommen. Daher können sie sich diesen Formen von Judenfeindschaft in ihrer Lebenswelt in der Metropole weitgehend auch nicht entziehen. • Auch im Fall von manifestem Antisemitismus unter nichtjüdischen Deutschen, vor allem als Bestandteil einer erhöhten Fremdenfeindlichkeit in Ostberliner Randbezirken, spielen die untersuchten personenbezogenen Merkmale der Erhebungsauswahl für dessen Wahrnehmung ebenfalls keine signifikante Rolle. Entsprechende Negativsituationen können vor dem Hintergrund des konstatierten stadträumlichen Gefälles zwischen Außen- und innerstädtischen Bezirken durchwegs vermieden werden. Dies ist insbesondere auf Grund der innenstadtzentrierten Standortverteilung der Gemeindeeinrichtungen und von dem Befragtenkreis maßgeblich mitgetragenen jüdischen Gruppenaktivitäten sowie der Wohnverteilung der jüdischen Bevölkerung in den westlichen Innenstadtteilen sichergestellt. • Anders sieht es bei israelfeindlich motiviertem Judenhass bei Islamisten und Arabern aus. Der erhöhten physischen Gewaltbereitschaft in diesem Bereich von Antisemitismus sehen sich einerseits vor allem junge, in der schulischen, nichtgymnasialen und nichtakademischen Ausbildung Befindliche aus dem Erhebungskreis oder dessen Umfeld ausgesetzt. Die andere Gruppe besteht aus sich durch Haartracht, Kleidungsstücke, Schmuckembleme oder Zeitungen im öffentlichen Stadtraum als Juden Wahrnehmbaren. Ein prophylaktisches Verhalten ist hier also am stärksten mit Selbsteinschränkungen der persönlichen Freiheiten verbunden wie andererseits in diesem Bereich die Gefahr eindeutig am stärksten ist, Opfer von Gewalt zu werden. Ähnlich verhält es sich im Fall der Gruppenaktivitäten. Auch hier ist im Stadtraum das sichtbare jüdische Erscheinungsbild, insbesondere mit oder ohne israelische Embleme, ausschlaggebend für die Bedrohung durch Sachbeschädigung. • Insgesamt wird die Bedrohung durch Antisemitismus von niemandem aus dem Befragtenkreis als Anlass genommen, aus Berlin wegzuziehen oder hierüber nachzudenken. Die Gründe dürften darin liegen, dass sich die judenfeindliche Gefährdung nicht exorbitant von derjenigen in anderen westlichen Metropolen unterscheidet.
426 | TEIL III: JÜDISCHE EXISTENZ IN BERLIN UND IHRE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN
T h e se 7 : Z u sam m en hä ng e z wi s che n E i n s ch ä t z u ng e n jü di s ch e r E xi s te n z i n Be rl i n un d pe r s on en be zog e ne n Me r kmal en Die absichtlich kein konsistentes innerjüdisches Milieu repräsentierende Erhebungsauswahl an der Peripherie und außerhalb der Berliner Gemeinde weist eine deutliche Streuung in den hier vorrangig für die Analyse verwendeten personenbezogenen Merkmalen ,religiöse Orientierung‘ und ,Herkunft‘ auf. Im Fall der vorangegangenen Thesen, wie darüber hinaus, lässt sich festhalten, dass die Herkunft als das entscheidende personenbezogene Merkmal, von Ausnahmen abgesehen, für Einschätzungen verschiedener hier behandelter Gesichtspunkte jüdischer Existenz in Berlin gelten kann. Lediglich in zwei Fällen erwiesen sich zusätzlich weitere untersuchte Merkmale als besonders bedeutsam: Bei ausgesprochen religiösen Aspekten erschien die religiöse Orientierung und bei der innerjüdischen Integrationsthematik die Art der Tätigkeit im jüdischen Berlin ebenfalls als relevante Parameter für die Positionen des Befragtenkreises. Und einzig beim thematischen Schwerpunkt ,subjektive Bedrohung durch Antisemitismus unterschiedlicher Couleur‘ zeichneten sich die hier ansonsten nicht näher untersuchten Eigenschaften Geschlecht, Alter und Bildungsweg als ausschlaggebende personen-bezogene Merkmale ab. Für Bewertungen der herkunftsvielfältigen jüdischen Gemeinschaft Berlins an der Peripherie und außerhalb der Gemeinde spielt in der Erhebungsauswahl also das Herkommen aus deutsch-jüdischem oder aus russischsprachigem Milieu wie auch aus Westeuropa, den USA oder Israel eine zentrale Rolle. Auch für die aus diesem Kreis heraus geäußerten Perspektiven der Erneuerung und Weiterentwicklung jüdischer Existenz in der Metropole erscheint diese Merkmalsverteilung maßgeblich.
Teil IV: Jü dische Gruppenaktivitäten in Ber lin
1 . V o r ü b e r le g u n g e n u n d V e r o r t u n g d e s Untersuchungsfelds „Ein Vergleich der Veranstaltungskalender von 1987 und 1997 zeigt, dass sich das Programm vervierfacht hat, bei Verdoppelung der Mitgliederzahl. Theater-, Kunst- und Computergruppen sind entstanden, neue egalitäre Formen des Gottesdienstes, Folklore und Traditionsgruppen haben sich gebildet [...]. Jüdische Institutionen sind an die historischen Orte in Berlins Mitte zurückgekehrt.“ Y. Michal Bodemann1
Im diesem zweiten erhebungsgestützten Part der Studie stehen ausgewählte Gruppenaktivitäten im jüdischen Berlin im Zentrum, die jeweils in eigenen Einzelfalluntersuchungen behandelt werden. Grundlage bilden auch in diesem Fall Erhebungsgespräche mit Befragten, die sich jeweils in einer der vorgestellten Initiativen maßgeblich engagieren. Wie bereits in der Einleitung der Studie erwähnt (Kap. I.1.), handelt es sich dabei um nichtreligiöse kulturelle sowie soziokulturelle Aktivitäten an der Peripherie oder außerhalb der Berliner Gemeinde. Sie sind alle öffentlich zugänglich und von einer Ausnahme abgesehen überwiegend deutschsprachig. Die Bandbreite reicht von informellen und vereinsförmig organisierten Gruppierungen bis zu Kunst- und Medienprojekten mit geschäftlichem Charakter. Dabei werden zwei Interessenstränge verfolgt: • Auf der Einzelfall-Ebene geht es um die gruppenspezifischen Inhalte und Entwicklungen. • Auf einer übergeordneten Ebene wird untersucht, in wieweit sich auf Grundlage dieser Einzelstudien Hinweise auf den generellen, über den religiösen Kernbereich hinausweisenden gegenwärtigen kulturellen Wandel im jüdischen Berlin gewinnen lassen. 1
Ders.: „Sie sitzen nicht mehr auf gepackten Koffern“, in: BZ 14./15.03.1998
428 | TEIL IV: JÜDISCHE GRUPPENAKTIVITÄTEN IN BERLIN
Der Ausgangspunkt im Vorfeld der eigentlichen Erhebung bestand darin, dass sich jüdische Gruppenaktivitäten in Berlin seit 1990 offensichtlich quantitativ erheblich ausgeweitet wie qualitativ nicht minder ausdifferenziert haben. Bereits in der Vorrecherche zeigte sich, dass im jüdischen Berlin Vieles, was zuvor hier wie andernorts in der deutschlandweiten Diaspora-Gemeinschaft überhaupt noch nicht existiert hatte, entstand und entsteht. Entsprechend wurden für die Untersuchung sieben innovative Gruppenaktivitäten ausgesucht, die in der chronologischer Reihenfolge ihrer Gründung dargestellt werden: Kap. IV.2.: Jüdischer Kulturverein (JKV, 1990), Kap. IV.3.: Jüdischer Studentenbund (JSB, Ende 60er), Kap. IV.4.: Nahostgruppe (NG, 1989), Kap. IV.5.: Jüdische Galerie (JG, 1993), Kap. IV.6.: Homosexuellengruppe ‚Yachad‘ (Ya, 1995), Kap. IV.7.: Israeli scher Stammtisch (IS, 2000) sowie Kap. IV.8. Internetanbieter ‚Milch und Honig‘(MuH, 2000). In einem letzten Durchgang, wird in Kap. IV.9. thesenartig einen Gesamtbewertung dieser Initiativen vorgenommen.
1.1. Formale Bestimmungskriterien Grundvoraussetzungen für das Bestehen einer sozialen Gruppe sind mindestens zwei Personen, die sich in einer zeitlich als relativ beständig erweisenden sozialen Interaktion zueinander befinden (s. u.). Dies bedeutet den Vorrang von sozialen gegenüber räumlichen Kriterien für die Existenz/Nichtexistenz einer Gruppe, jedenfalls über einen längeren Zeitraum hinweg. Das private wie öffentliche Leben der gesellschaftlichen Individuen findet maßgeblich in sozialen Gruppen wie Dyaden, Familien, Betrieben, Vereinen und Verbänden statt. Menschen sind üblicherweise Mitglieder verschiedener sozialer Gruppen. Als eine für die vorliegende Studie geeignete erste nähere Bestimmung der untersuchten jüdischen Gruppenaktivitäten kann die Definition sozialer Gruppen durch Bernhard Schäfers gelten, nach der eine soziale Gruppe „eine bestimmte Zahl von Mitgliedern (Gruppenmitgliedern) [umfasst], die zu Erreichung eines gemeinsamen Zieles (Gruppenziel) über längere Zeit in einem relativ kontinuierlichen Kommunikations- und Interaktionsprozeß stehen und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit (Wir-Gefühl) entwickeln. Zur Erreichung des Gruppenziels und zur Stabilisierung der Gruppenidentität ist ein System gemeinsamer Normen und eine Verteilung der Aufgaben über ein gewisses Rollendifferential erforderlich.“2
In dieser Definition sind einige, noch allgemein gefasste Merkmale enthalten, die im Weiteren spezifischer Eingrenzungen und Konkretisierung bedürfen (s. u.). Bereits auf dieser allgemeinen Ebene lassen sich mit Schäfers einige bedeutsame Funktionen sozialer Gruppen benennen, wie sie auch für die hier behandelten jüdischen Gemeinschafts-Initiativen gelten: Demnach verbindet die Gruppe „in einzigartiger Weise die Individualnatur eines Menschen mit seiner Sozialnatur, Individuum und Gesellschaft. Die Gruppe kann daher als Paradigma der ‚Vergemein-
2
Bernhard Schäfers: „Die soziale Gruppe“, in: ders./H. Korte: Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie, 4. Aufl., Opladen: Leske + Budrich UTB, 1994, S. 85.
VORÜBERLEGUNGEN UND VERORTUNG DES UNTERSUCHUNGSFELDS | 429
schaftung und Vergesellschaftung‘ (Schwonke 1995) angesehen werden: In der Gruppe wird das Soziale – seine Normiertheit und Strukturiertheit, Differenzierung und Hierarchisierung – für die Individuen anschaulich, verstehbar und nachahmbar“.3
Entsprechend den vielfältigen Funktionsweisen, Formen und inhaltlichen Ausprägungen sozialer Gruppen zeigen auch die ausgewählten Initiativen im jüdischen Berlin z. T. erhebliche Unterschiede nach Struktur, Größe und Zielsetzung. Eine hier bereits vorweg angeführte entscheidende Gemeinsamkeit der in der Studie untersuchten Gruppenaktivitäten besteht darin, dass es sich um reale, von deren Mitgliedern wahrgenommene bzw. geschaffene soziale Gruppen handelt, gegenüber teilweise in der wissenschaftlichen Literatur angeführten Gruppen, in denen Menschen nach bestimmten wissenschaftlich relevanten Merkmalen zu Gruppen zusammengefasst werden (etwa nach Alter oder Einkommen), die daher auch in keiner persönlichen Interaktion miteinander stehen müssen. (1) Mitgliederzahl: Im Weiteren werden fast ausnahmslos Kleingruppen untersucht. Schäfers geht bei Kleingruppen, die als wissenschaftlicher Begriff durch die US-Soziologie (‚small groups‘) geprägt wurde, von drei bis 25 Mitgliedern aus. Diese Zahl wird in der vorliegenden Studie in einigen wenigen Fällen etwas überschritten, allerdings nur hinsichtlich der Mitgliederzahl, nicht hinsichtlich der Zahl der Aktiven. (2) Gruppenzweck und inhaltliche Ausrichtung: In den meisten Fällen der untersuchten Gruppenaktivitäten bestehen deren Zielsetzungen in der Verbindung jüdischer4 mit sozialen und/oder kulturellen, in seltenen Fällen zusätzlich auch in kommerziellen Motiven. Bei der Konzipierung der Studie wurde bewusst ein Sampling vielfältiger Gemeinschaftsinitiativen entsprechend der methodischen Prämisse maximaler Kontrastierung5 gewählt. (3) Längerfristige Existenz: Es erübrigt sich fast, darauf hinzuweisen, dass nur solche Gruppenaktivitäten in die Untersuchung einbezogen wurden, die bereits seit mehreren Jahren bestehen. Nur so lassen sich gruppenspezifische Entwicklungsprozesse, aber auch Erfahrungen der InterviewpartnerInnen sinnvoll auswerten. (4) Zusammengehörigkeitsgefühl, Gruppenidentität und gemeinsame Normen: Im Fall dieser Merkmale ist von einer breiten Streuung der untersuchten Gruppen auszugehen, die in unmittelbarem Zusammenhang zu ihrer jeweiligen inhaltlichen Beschaffenheit steht. Allerdings bedeutet das verbindende Element ‚jüdisch‘ ein gewisses weltanschauliches Mindestniveau gegenüber etwa Gruppenbildungen im Freizeit-Bereich. 3 4
5
Ebd., S. 82 Zur Bestimmung der personellen Zusammensetzung und inhaltlichen Ausrichtung der untersuchten Gruppenaktivitäten nach dem Kriterium ‚jüdisch‘ vgl. unten ausführlich Kap. IV.1.3. Vgl. hierzu das Methoden-Kap. I.6.3.1., S. 74
430 | TEIL IV: JÜDISCHE GRUPPENAKTIVITÄTEN IN BERLIN
(5) Formalisierungsgrad bzw. Aufgabenverteilung und Rollendifferential: Dieser Merkmalsbereich ist in Gegenwartsrealität des untersuchten sozialen Felds in einer fast unendlichen Variationsbreite vorhanden. In der Summe der für alle behandelten Gruppenaktivitäten geltenden Merkmalsausprägung kann insgesamt ein mittlerer Formalisierungsgrad konstatiert werden.6 Allerdings ist die Bandbreite der jeweiligen Formalisierung bei den untersuchten Gruppenaktivitäten relativ groß. Sie reicht von festen Gemeindeeinrichtungen über klassische Vereinsstrukturen bis zu regelmäßigen Stammtischtreffen mit Einladungen. Den in der Studie untersuchten Gruppen sind über dies, von wenigen methodisch begründeten Ausnahmen abgesehen, sechs weitere formale Eigenschaften gemein, deren Setting sich aus dem spezifischen Forschungsinteresse bestimmt. Demnach zeichnen sie sich durch a) den Standort Berlin, b) eine Gründung durch eine Basisinitiative, c) einen Entstehungszeitraum in der Dekade seit 1990, d) einen Bezug zur örtlichen jüdischen Gemeinschaft, e) öffentliche Zugänglichkeit und räumliche Verortung, f) offizielle Namen und Kontaktadressen aus. a) Standort Berlin: Ausnahmslos erfüllen alle untersuchten Gruppenaktivitäten diese Bedingung. Lediglich zwei Gruppierungen sind Berliner Sektionen von deutschlandweiten Zusammenschlüssen, nämlich der in traditioneller Verbandsform organisierte Jüdische Studentenbund Berlin (JSB) sowie die in einer eher losen Netzwerkstruktur mit vergleichbaren Organisationen verbundene Homosexuellen-Vereinigung Yachad Berlin.7 b) Gründung durch eine Basisinitiative: Mit Ausnahme des o. g. Studentenbundes und der Jüdischen Galerie sind alle Gruppenaktivitäten auf Initiative einzelner und kleiner Gruppen in der Metropole lebender Juden entstanden. In ihnen drücken sich daher vor Ort bestehende jüdische Bedürfnisse und Interessen unmittelbar aus, die erst mit der Gruppengründung ihre Konkretisierung im jüdischen Berlin erfahren haben. 8 6
7 8
Die idealtypische Unterscheidung zwischen ‚formell‘ und ‚informell‘ ist relativ einfach zu bestimmen, wie folgender klassischer Definitionsversuch zeigt: „Die Unterscheidung von formalen und informellen Gruppen bezieht sich auf die Art der Gruppenbildung und Gruppenorganisation. Bei der informellen Gruppe handelt es sich um einen spontanen, nicht geplanten Zusammenschluss von Personen, die ihrem Gruppenleben auch keinen besonders festgelegten und genau umrissenen Rahmen geben. Die formelle Gruppe besitzt die gegenteiligen Merkmale der informellen Gruppe.“ Ralf Zoll/Hans-Jörg Binder: „Die soziale Gruppe. Grundformen des menschlichen Zusammenlebens“, Frankfurt a. M.: Diesterweg 1971, S. 12 f. Zum JSB vgl. Kap. IV.3., zu Yachad Kap. IV.6. Nicht behandelt wurden dagegen von externen Entscheidungsträgern hier angesiedelte Dachorganisationen oder Vertretungen deutschlandweiter, europäischer, israelischer oder internationaler jüdischer Organisationen (wie etwa der Zentralrat der Juden in Deutschland, die israelische Botschaft oder Chabad Lubawitsch).
VORÜBERLEGUNGEN UND VERORTUNG DES UNTERSUCHUNGSFELDS | 431
c) Entstehungszeitraum in der Dekade seit 1990: In der Studie wird nach gegenwärtigen Ausprägungen und Bedingungen jüdischen Lebens in Berlin gefragt, dabei erscheint wie insbesondere in den Kap. II.1. und 2. dargelegt wurde, den Zeitabschnitt seit der globalen Umbruchsituation in Ost- und Mitteleuropa um die Jahreswende 1989/90 als eine eigenständige historische Phase. Entsprechend sind alle untersuchten Gemeinschafts-Initiativen zwischen 1990 2000 entstanden. d) Bezug zur örtlichen jüdischen Gemeinde und anderen jüdischen Gruppen: Ein Hauptaugenmerk der Studie richtet sich dabei auf solche Initiativen die an der Peripherie oder ganz außerhalb der JGB angesiedelt sind wie bereits mehrfach erklärend ausgeführt. Dabei wurde auf eine große Bandbreite geachtet: Sie reichen von Kooperationen über punktuelle Kontakte bis hin zu konfligierenden oder Spannungsverhältnissen mit anderen jüdischen Gruppierungen oder mit der Berliner Gemeinde. e) Öffentliche Zugänglichkeit und räumliche Verortung der Zusammenkünfte: Dass Interesse der Studie ist auf öffentlich wahrnehmbare Aspekte des jüdischen Lebens in Berlin gerichtet. Daher sollen die Aktivitäten • zum einen für Interessierte allgemein zugänglich sein; • zum anderen über feste Räumlichkeiten oder zumindest lokalisierbare Treffpunkte verfügen. f) Offizielle Namen und Kontaktadressen: Alle Gruppenaktivitäten besitzen einen eigenen offiziellen Gruppennamen. Damit sind sie im direkten Face-to-faceKontakt oder in der medialen Vermittlung in der Öffentlichkeit als eigenständige, abgrenzbare Bestandteile des jüdischen Lebens in Berlin wahrnehmbar Außerdem verfügen sie ausnahmslos über Kontaktadressen oder -personen, wodurch sie auf postalischem Wege, über Telephon, E-Mail usw. oder mit persönlichem Erscheinen erreicht werden können.
1.2. Das Bestimmungskriterium ‚jüdisch‘ Einen zweiten Bereich der Bestimmung der untersuchten Gruppen, der einer Vorfeldklärung bedarf, stellt die Kategorie ‚jüdisch‘ dar. Was ist hierunter zu verstehen? Es sind die zwei Komponenten des personellen und inhaltlichen Bezugs zur jüdischen Gemeinschaft Berlins bzw. zur JGB, die erst durch ihr Zusammenwirken bestimmend für die Auswahl der zu erforschenden Gruppenaktivitäten sowie der Interviewpersonen sind: das bedeutet, dass in der Erhebung ausschließlich Juden und Jüdinnen befragt wurden, die zum Untersuchungszeitraum maßgeblich an Gruppenaktivitäten in Berlin teilnahmen, die durch personelle Struktur und inhaltliche Ausrichtung einen jüdischen Charakter besitzen. Die für diese Auswahl notwendige Definitionsarbeit ist schwieriger zu leisten, als es zunächst den Anschein hat. Sie wird in den beiden folgenden Abschnitten für die personelle wie inhaltlich Ebene vorgenommen.
432 | TEIL IV: JÜDISCHE GRUPPENAKTIVITÄTEN IN BERLIN
1.2.1. Personelle Ebene Zunächst gilt es, das Merkmal ‚jüdisch‘ für die personelle Ebene in zweierlei Hinsicht einzugrenzen, nämlich • bezüglich der jüdischen Identität der Gruppenmitglieder • sowie bezüglich der jüdischen Identität der in der Studie befragten Personen. Ausschlaggebend für die Auswahl jüdischer Gruppenaktivitäten ist insbesondere die jüdische Identität deren Initiatoren, d. h. dass Juden maßgeblich (wenn vorhanden auf der Leitungsebene) diese Aktivitäten nach Form und Inhalt (s. u.) gestaltet bzw. mitgestaltet haben. Wie bereits ausgeführt9, folgt die Auswahl der Eingrenzung der Gruppenaktivitäten entsprechend der Eingrenzung des Personenkreises der Befragung im Bezug auf das Merkmal ‚jüdisch‘ im wesentlichen der Definition von J. Schoeps, nach der als Juden „nur Mitglieder einer Religionsgemeinschaft bezeichnet [werden].“10 Allerdings werden im Weiteren auch solche Initiativen aufgenommen, bei denen Nichtjuden mitwirken. Dieser Personenkreis wurde allerdings gezielt in der Erhebung nicht befragt. Doch büßen diese Aktivitäten nicht ihren jüdischen Charakter ein durch die dauerhafte Beteiligung von Nichtjuden? M. E. erübrigt sich diese Frage angesichts der in Kap. II.3.1. ausführlich behandelten endgültigen Überwindung der sozialen Separierung und räumlichen Segregation von Juden und Nichtjuden in Deutschland in den letzten Jahren. Dies gilt sogar für ‚offizielle‘ jüdische Einrichtungen. Auf Gemeindeebene wird erfreulicherweise Nichtjuden die Teilname oder das Betreten von Synagogen und anderen Einrichtungen, ungeachtet immer verstärkterer Sicherheitskontrollen, nicht versagt. Der Besuch durch Nichtjuden, z. T. auch die Teilnahme (z. B. JVHS) ist möglich und häufig auch erwünscht. Auch jüdische Sportvereine haben (‚Makkabi‘) häufig nichtjüdische Mitglieder, im Fall der Jüdischen Oberschule sind sogar Schüler und Lehrer in der Mehrheit nichtjüdisch. Entscheidend für die Erhebungsauswahl ist also nicht der Ausschluss von Nichtjuden, sondern die maßgebliche Gestaltung von Aktivitäten durch die jüdische Seite mit jüdischen Inhalten.11
1.2.2. Inhaltliche Ebene Auch auf dieser Ebene ist das Gruppenmerkmal ‚jüdisch‘ von verschiedenen Aspekten bestimmt, deren Vorhandensein bei den untersuchten Gruppenaktivitäten jeweils unterschiedlich ausgeprägt ist. Am einfachsten kann die Zuordnung des Merkmals ‚jüdisch‘ bei den behandelten religiösen Gemeinschaftsinitiativen ge9 Vgl. zu der Eingrenzung der befragten Personen das Kap. I: 6.3.1., S. 74 f. 10 Julius H. Schoeps.: „Der Umgang mit dem Judesein. Zur Debatte um ein schwieriges Identitätsproblem“, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte, Bd. 5 (1994), München/Zürich 1994, S. 22.; zit. nach L. Mertens: Davidstern unter Hammer und Zirkel, S. 19 – Zu der entsprechenden personellen Eingrenzung des Merkmals ‚jüdisch‘ vgl. o. das Begriffsbestimmungs-Kap. I.3.1.2. 11 Nichtjüdische Inszenierungen des Jüdischen sind hiervon etwas völlig Verschiedenes; vgl. das Begriffs-Kap. I.3.2. sowie vor allem das empirische Hype-Kap. III.3.
VORÜBERLEGUNGEN UND VERORTUNG DES UNTERSUCHUNGSFELDS | 433
leistet werden. In diesen Fällen besteht deren jüdischer Charakter in einer bestimmten Ausrichtung gemeinschaftlich begangener jüdisch-religiöser Praxis, die es bis zur Bildung der jeweiligen Gruppe im Angebot der JGB noch nicht gegeben hatte und die von der jeweiligen Gruppe als Betgemeinschaft praktiziert wird, wie etwa in den dargestellten Beispielen des ‚Egalitären Minjans‘ oder des ‚Sephardischen Minjans‘.12 In den meisten der hier behandelten Gruppenaktivitäten besteht allerdings deren jüdischer Charakter überwiegenderweise nicht in gemeinsamer Religionsausübung. Dieser Auswahl liegt eine bewusste Entscheidung zu Grunde. Denn wie bereits im Einführungs-Kap. I.1. dargestellt, handelt es sich bei der vorliegenden Untersuchung über keine im eigentlichen Sinne religionssoziologische Studie. Deren Interesse richtet sich primär auf säkulare kulturelle Aktivitäten an der Peripherie und außerhalb der Berliner Gemeinde. Es soll daher im Folgenden um über das Religiöse hinausgehende oder dieses um weltliche Aspekte erweiternde jüdische Gemeinschaftsaktivitäten in Berlin gehen. Das entscheidende inhaltliche Auswahlkriterium ‚jüdisch‘ besteht bei den untersuchten Zusammenschlüssen aus den beiden Dimensionen • persönliches jüdisches Selbstverständnis der Gruppenmitglieder sowie • jüdische Inhalte der Gruppenaktivitäten. Beide Elemente sind in je spezifischer Weise für den Charakter der behandelten Aktivitäten bestimmend: In einigen der untersuchten Gemeinschaftsinitiativen besteht der jüdische Charakter darin, dass Juden mit ihren Aktivitäten für sich selbst eine inhaltliche Arbeit leisten, die Jüdischkeit außerhalb unmittelbarer Religionsausübung zum Thema hat, sei es thematisch im religiösen, kulturellen oder politischen Bereich (z. B. die Künstlergruppe Meshulash).13 In anderen behandelten Gruppen dominiert das Gruppenziel, außerhalb der jüdischen Gemeinde oder sogar des jüdischen Kollektivs stehenden Juden, also nichtjüdisch sozialisierten Juden, jüdische Thematik näher zu bringen (z. B. der Jüdische Kulturverein). Eine weitere Art von jüdischen Aktivitäten liegt in den Fällen vor, in denen die eigene jüdische Existenz der Teilnehmer mit ihren eigenen, das Judentum nicht unmittelbar berührenden Neigungen verbunden wird (z. B. der Sportverein Makkabi oder die Homosexuellengruppe Yachad).14 In den Erhebungsgesprächen genannte Aspekte des jüdischen Selbstverständnisses der jeweiligen Gruppierung werden ebenfalls für die Bestimmung des inhaltlichen Gruppenmerkmals ‚jüdisch‘ einbezogen. Zusammengefasst bestehen die jüdischen Charakteristika der untersuchten Aktivitäten demnach
12 Zum Egalitären Minjan sowie zum Sephardischen Minjan vgl. das Kap. II.2.2.3. sowie II.2.3. 13 Zu der Künstlergruppe Meshulash vgl. das Kap. II.2.3.2, S. 155 f. 14 Zum Sportverein Makkabi vgl. das Antisemitismus-Kap. III.4.2.2., S. 406; zur Homosexuellengruppe Yachad deren Einzelfallanalyse Kap. IV.6.
434 | TEIL IV: JÜDISCHE GRUPPENAKTIVITÄTEN IN BERLIN
• • • • •
in der Ausübung rituell-religiöser Praxis in Sinne einer bestimmten oder gerade keiner bestimmten jüdischen Glaubensrichtung; in der von der bzw. für die jeweilige Gruppe geleisteten und auf jüdische Thematik bezogenen inhaltlichen Arbeit; in Angeboten zu jüdischer Thematik für außerhalb der Aktivitäten befindliche Juden und/oder Nichtjuden; in der gruppenstiftenden Verbindung des jeweiligen eigenen jüdischen Herkommens der Gruppenmitglieder mit deren gemeinsamen Interessen oder Neigungen, die für sich genommen nicht als jüdisch gelten sowie in dem jüdischen Selbstverständnis der jeweiligen Initiative.
Der überwiegende Teil der behandelten Gemeinschaftsaktivitäten deckt in ihrer inhaltlichen Arbeit mehr als einen der genannten Aspekte ab. Aber auch in den Fällen, in denen nur ein einziges die jeweilige Aktivität als ‚jüdisch‘ charakterisierendes inhaltliches Kriterium erfüllt ist, erweist sich deren jüdischer Charakter in einem Nexus zwischen der jüdischen Identität maßgeblicher Akteure mit der jüdischen Bestimmung der inhaltlichen Ausrichtung dieser Initiativen. Die folgende Analyse der behandelten Gruppenaktivitäten ist sehr stark durch das Wechselspiel von Gemeinsamkeiten15 und Unterschieden zwischen diesen Initiativen bestimmt. Während auf formaler Ebene häufiger Gemeinsamkeiten bestehen, lassen sich Unterschiede vor allem in einer großen Variationsbreite ihrer inhaltlichen Arbeit ausmachen. Weitere deutliche Unterschiede bestehen in der Mitgliederstruktur. Angesichts der relativen Vielschichtigkeit der jüdischen Gemeinschaft in Berlin, insbesondere nach örtlichem Herkommen ihrer Mitglieder, bildet sich diese Vielfalt selbstverständlich auch in den untersuchten Gruppenaktivitäten ab. Dies bedeutet damit aber auch, dass die für die Studie relevante Vergleichbarkeit der Gemeinschaftsinitiativen weniger in der Art ihrer jeweiligen Tätigkeit besteht, sondern vielmehr in ihrer jeweiligen Positionierung in dem durch die o. g. Trias ‚jüdisch‘, ‚in Berlin ansässig‘ und ‚Entstehung in den letzten Jahren‘ bestimmten Untersuchungsrahmen liegt. Die genannten Unterschiede erfahren im Bereich der Erhebung eine weiterte Potenzierung durch die Verschiedenartigkeit der Befragten – als wichtigster Informationsquelle des folgenden Untersuchungsblocks – die mit ihrem Engagement jeweils eine Basisinitiative repräsentieren16: Diese Unterschiede betreffen u. a. die aus dem Forschungsinteresse heraus besonders interessanten Merkmale Herkunft, religiöse Orientierung sowie innerjüdische Tätigkeitsbereiche. Diese Unterschiedlichkeit ist methodisch beabsichtigt, da sich hierbei eine weitmögliche Streuung im Sinne maximaler Kontrastierung an im untersuchten sozialen Feld vorfindbaren Ausprägungsmerkmalen der Befragten in der Erhebung abbil15 Vgl. die in den vorherigen Abschnitten behandelten gemeinsamen Bestimmungsmerkmale aller Gemeinschaftsinitiativen des Samplings. 16 In einigen Fällen sind in der Erhebung befragte Personen auch in mehr als einer jüdischen Gruppenaktivität in Berlin tätig.
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det. Auf Grund der genannten Unterschiede ergeben sich entsprechend multiperspektivische Sichtweisen auf die o. g. an alle untersuchten Gruppenaktivitäten angelegten Fragebereiche.17 Außerdem ist diese Unterschiedlichkeit auf Seiten der Erhebungsauswahl nahezu unvermeidlich: Schließt doch die Heterogenität der Zusammensetzung des jüdischen Kollektivs in Berlin, dass sich auch auf der Ebene vieler untersuchter Gruppenaktivitäten widerspiegelt, eine Auswahl in der Merkmalsverteilung gleicher oder ähnlicher InterviewpartnerInnen nahezu aus.
1.3. Die untersuchten Dimensionen der Gruppenaktivitäten Im Anschluss sollen die wichtigsten der an die Erhebungsauswahl herangetragenen gruppenaktivitätsbezogenen Fragebereiche kurz vorgestellt werden. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die Reihenfolge der Nennung dieser Bereiche weitgehend bereits der Abfolge in den Einzelfallanalysen der Gruppenaktivitäten entspricht.18 Mit den ersten thematischen Schwerpunkten (1 und 2) soll vor allem eine Deskription (D) ´bestimmter Gesichtspunkte der ausgewählten Gemeinschaftsaktivitäten (unter Heranziehen zusätzlicher Informationsquellen) geliefert werden. Demgegenüber geht es bei den jeweils im Anschluss daran angeführten Ebenen (3 bis 7) stärker um Interpretationen (I) von bestimmten soziologisch relevanten Aspekten der Wirklichkeit und der Zukunftsperspektiven der jeweiligen Gruppenaktivitäten durch die Befragten. Hierbei werden bereits erste einzelfallbezogene Bewertungen vorgenommen, während gruppenübergreifende Schlussfolgerungen im Anschluss daran in einem separaten Auswertungs-Kap. IV.9. thesenartig gezogen werden. Die Einzelfallstudien umfassen jeweils sieben Untersuchungsebenen: (1) Entstehungshintergrund (D) Ein großes Forschungsinteresse richtet sich auf den Entstehungshintergrund der jeweiligen Gruppenaktivitäten. Hierunter summierte Fragen sind solche nach den jeweiligen Akteuren im Entstehungsprozess sowie nach deren Motiven hierfür. Außerdem soll bereits in diesem ersten Durchgang, soweit möglich, die Zeitbezogenheit der der jeweiligen Gründung auf einer noch eher deskriptiven Ebene behandelt werden. Die Bedeutung Berlins für die Gründungsbedingungen bzw. die lokale Verortung der analysierten Initiativen wird ebenfalls bereits hier angesprochen (und häufig bei der Analyse der folgenden Themenbereiche fortgeführt). Kurze Hinweise umreißen Merkmalsbesonderheiten der jeweiligen Gruppenaktivität gegenüber den anderen behandelten Initiativen. In diesem ersten 17 Diese multiperspektivische Sicht, die sich aus der Summe der Erhebungsgespräche ergibt, bezieht sich natürlich auch auf die in anderen Kapiteln der Studie erörterten und über die jeweiligen Gruppenaktivitäten hinausreichenden Themenbereiche, die im vorherigen dritten Teil der Studie erörtert wurden. 18 Dies gilt selbstverständlicherweise nicht für die Reihenfolge der in den narrativen Leitfadeninterviews besprochenen Themen, die sich ebenso von Interview zu Interview unterscheidet, wie ihre jeweiligen deskriptiven und interpretativen Gehalte; vgl. hierzu näher das Methoden-Kap. I.6.2.4., S. 73.
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Durchgang werden die wichtigsten Quellen für die jeweilige gruppenspezifische Einzeluntersuchung benannt, also neben den jeweiligen Erhebungsgesprächen teilweise Medienberichte über diese Gemeinschaftsinitiativen. (2) Inhaltliche Ausrichtung (D) Die letztgenannte Unterfrage (1.) leitet zu dem zweiten Fragebereich über, nämlich zu demjenigen nach der jeweiligen inhaltlichen Ausrichtung der untersuchten Gruppenaktivitäten.19 Dabei gilt es, besonders bei Gruppen, die sich durch vielfältigste Aktivitäten auszeichnen, einen Querschnitt ihres Wirkens vorzustellen und dabei charakteristische Tätigkeiten in den Vordergrund zu stellen. Außerdem geht es in diesem Fragebereich um die wesentlichen Gesichtspunkte, nach denen sich die jeweiligen Gruppenaktivitäten nach dem o. g. Definitionsmuster (Kap. IV.1.2.2.) als jüdische verstehen bzw. bezeichnet werden können. Wie bereits ausgeführt, kann es sich dabei über inhaltlich an jüdischer Thematik orientierte Aktivitäten hinaus auch um solche handeln, die maßgeblich von einem Personenkreis mit jüdischer Zugehörigkeit im halachischen Sinn auf anderen Feldern (etwa im Bereich sportlicher Aktivitäten) für einen jüdischen oder eine gemischt jüdisch/nichtjüdische Klientel angeboten werden.20 (3) Formale Aspekte und personelle Struktur (D) Unter diesem Themenfeld fallen alle Fragebereiche, die sich mit gruppenspezifischen Strukturmerkmalen und quantifizierbaren Aspekten (etwa der Teilnehmerzahl oder der Häufigkeit von Veranstaltungen) beschäftigen. Es geht dabei vorrangig darum, unter welchen Verbindlichkeiten die Aktivitäten ‚funktionieren‘, etwa um die Fragen: Wie oft trifft sich die jeweilige Gruppierung? Wo trifft sie sich? Wie setzt sie sich nach Mitarbeitern, Mitgliedern, Besuchern usw. zusammen usw.? Insgesamt stehen in diesem Bereich also vor allem Fragen nach den räumlichen, zeitlichen und personellen Bedingungen der jeweiligen Gruppe im Vordergrund, die das bereits über die Beschreibung deren inhaltlicher Ausrichtung (s. o. 2.) gewonnene Bild der jeweiligen Gemeinschaftsinitiative abrunden. Dabei werden möglicherweise eintretende formale Veränderungen im Verlauf des Bestehens der Gruppierungen in diesem Abschnitt ebenfalls erwähnt. (4) Integrative und weitere soziale Prozesse (I) In diesem Themenkomplex stehen auf einer ausgesprochen mikrosoziologischen Ebene interne Prozesse der analysierten Gemeinschaftsinitiativen im Vordergrund. Gleichzeitig ist dieser Komplex im Rahmen der Gesamtuntersuchung einer der drei Fragebereiche (s. die folgenden Punkte 5 u. 6), die kontextuell eine Verbindung zu den übrigen Untersuchungsbereichen der Studie herstellen. Dabei 19 In einigen Fällen werden auf Grund zwingender Bezüge die inhaltlichen Aspekte mit den formalen (3) in einem gemeinsamen Gliederungsabschnitt behandelt. 20 Diese Kurzdefinition der Bestimmung des die verschiedenen untersuchten Gruppenaktivitäten verbindenden Aspekts ‚jüdisch‘ wurde in einem Einleitungs-Kap. 1.3.1.2. zur inhaltlich sowie formal bestimmten Eingrenzung der untersuchten Gruppenaktivitäten bereits genauer ausgeführt.
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geht es vor allem um die für das Fortbestehen der gesamten jüdischen Gemeinschaft in Berlin relevante Frage, welche Personen oder Personengruppen durch die jeweilige Gemeinschaftsaktivität in welcher Weise eine Vergemeinschaftung in Richtung des Judentums bzw. in das jüdische Kollektiv in Berlin erfahren. Dies schließt in bestimmten Beispielen der Untersuchung die Berücksichtigung des Scheiterns dieses Vergemeinschaftungsprozesses mit ein. (5) Äußere Beziehungsebene zur Berliner Gemeinde sowie zu anderen Gruppen und Einrichtungen im jüdischen Berlin (I) Die Kernfrage in diesem Untersuchungsbereich lautet, in wieweit die behandelten Gemeinschaftsinitiativen mit der Gemeinde oder mit anderen Aktivitäten aus dem jüdischen Berlin in Verbindung stehen, in wieweit sie das jüdische Leben in Berlin mitprägen sowie vice versa von dieser Seite selbst beeinflusst werden. Bei diesem Fragekomplex geht es also vorrangig um die Einbettung der untersuchten Zusammenschlüsse in das jüdische Leben der Stadt. Es entspricht dem nach der Schoah auf Gemeindeebene neubegründeten jüdischen Existenz in Deutschland und Berlin, dass dem spezifischen Verhältnis der jeweiligen untersuchten Gemeinschaftsinitiativen zur Berliner Gemeinde als größter und ältester jüdischer Organisation der Metropole,– jedenfalls bei der überwiegenden Mehrheit der behandelten Beispiele – eine überragende Bedeutung zukommt. (6) Pilot- und Vorbildfunktionen der jeweiligen Gruppenaktivität (I) In diesem Untersuchungsfeld wird die Bedeutung der inhaltlichen Arbeit der behandelten Gemeinschaftsaktivitäten für andere jüdische Gruppenbildungen und Initiativen thematisiert. Hierbei ist der Rahmen über den örtlichen Berlinbezug hinaus geweitet, da einige untersuchte Zusammenschlüsse diese Funktionen gerade für Gruppierungen an anderen Orten leisten, an denen das jüdische Leben sich noch nicht so weit (bzw. wieder) entwickelt hat wie in Berlin oder sich mit ähnlichen andernorts beheimateten Initiativen vernetzen. In diesem Sinne kann eine in der Perspektive über Berlin hinausreichende Erörterung dieser Thematik möglicherweise auch erste Hinweise liefern, welche Bedeutung jüdischen Gruppenaktivitäten in Berlin und darüber hinaus der jüdischen Gemeinschaft der Metropole überhaupt für die gegenwärtigen und zukünftigen jüdische Existenz in Deutschland und z. T. auch in anderen Ländern Europas zukommen (könnte). (7) Zukunftsperspektiven der jeweiligen Gruppenaktivität (I) In diesem letzten thematischen Kernbereich der Analyse der in den Erhebungsgesprächen thematisierten Gemeinschaftsinitiativen geht es darum, deren Entwicklung als Abschluss der jeweiligen Einzelanalysen zu bilanzieren. Die zentrale, erst an dieser Stelle zu klärende Frage ist die nach dem Erfolg der jeweiligen Gruppenaktivitäten gemessen an deren eigenen Ansprüchen sowie an der übergreifenden Fragestellung nach den aktuellen Möglichkeiten jüdischer Gemeinschaftsbildung in Berlin. Das Ziel dieser Ausführungen besteht darin, Tendenzen deren weiterer Entwicklung aufzuzeigen. Hierzu werden in die Ex-Post-Analyse der Erhebungsgespräche insbesondere solche Äußerungen der Gesprächspartne-
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rInnen einbezogen, in denen diese sich prospektiv zu den Perspektiven der von ihnen maßgeblich mitgetragenen Gruppierungen äußern. Dabei ist der Blick bereits auf dieser Untersuchungsebene über die jeweilige Einzelaktivität hinaus auf die je spezifische Bedeutung der einzeln behandelten Gruppierungen für die Entwicklung der örtlichen jüdischen Gemeinschaft, also auf die Entwicklungsperspektiven des jüdischen Lebens in Berlin als Ganze gerichtet, wie sie im dritten Teil der Studie im Zentrum standen: Denn schließlich sollen auf Basis dieser Einzelbefunde in dem abschließenden gruppenübergreifenden Schluss-Kap. IV.9. begründete Hinweise auf die Entwicklungsfähigkeit jüdischen Lebens in der Metropole, insbesondere außerhalb der Berliner Gemeinde, vorgenommen werden – eine zentrale mit der Studie verfolgte Forschungsabsicht. Vor den folgenden Einzelfallstudien werden zunächst alle in den Erhebungsgesprächen repräsentierten Gruppenaktivitäten aufgelistet. Dabei sollen in einem Schaubild schematisch ihre jeweiligen formalen Bezüge zur jüdischen Gemeinde sowie ihre räumliche Situation dargestellt werden.
1.4. Formaler Gemeindebezug und räumliche Situation der Basis-Initiativen Die in der Studie ausführlicher behandelten Aktivitäten erscheinen in Fettdruck. Räumliche Situation
Gemeinderäume
formaler Gemeindebezug JGB
Öffentlich zugängliche Räume in Nähe zu JGBEinrichtungen
Öffentlich zugängliche eigene oder öffentliche Räume
Privat
– Kulturverein Gesher (P 3) – Internetservice Milch und Honig (P 15) – Israelischer Stammtisch (P 17) – Nahostgruppe (P 22)
– Egalitärer Minjan (P 8) – Homosexuellengruppe Yachad (P 9 a + b) – Kidduschgruppe (P 16) – Zeitschrift Golem (P 18) – Kulturgruppe Meshulash (P 23)
– Jugendzentrum (P 2) – Seniorengruppe (P 10) – Jüdischer Studentenbund (P 12) – Jüdische Oberschule (P 21)
Umfeld
– Kulturzentrum Hatikva (P 4 + P 5) – Jüdische Galerie (P 11)
Kein Bezug
– Jüdischer Kulturverein (P 1) – Lebensmittelgeschäft (P 20)
Tabelle 3
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2 . D e r J ü d is c h e K u l t u r v e r e i n „[...] der Verein ist ein Produkt der Wende“. (P1/23) „[...] ich finde ganz wichtig, dass [...] jeder, der meint, dass er was tun kann fürs Judentum, soll es tun. Und ich glaube nicht, dass es eine Spaltung ist, ich glaube Vielfalt ist immer eine Bereicherung. Wenn die Vielfalt nicht ausgelegt wird, dass man sagt, man will aber das andere zerstören. [...] gibt ja Leute, die genau das wollen – und das nicht wollen. [...] Man muss eben [...] allen Bedürfnissen gerecht werden. Und das kann man nicht mit einer Form, also muss man viele Formen [schaffen; A. J.] und [...] was stark ist, überlebt.“ (P1/39)
2.1. Entstehungshintergrund Beim Jüdischen Kulturverein (JKV) handelt es sich um eine der ältesten, nach Angebot vielfältigsten, nach Mitgliederzahl größten und damit insgesamt um eine der bedeutendsten lokalen jüdischen Gruppenaktivitäten außerhalb der Berliner Gemeinde. Außerdem stellt die Fortexistenz des originär Ostberliner Vereins angesichts seines ungewöhnlichen Entstehungshintergrunds in der späten DDR über die dortige Wende hinaus bis heute zweifelsohne einen beispiellosen innerjüdischen Vergemeinschaftungsprozess dar. Wie in einem Brennglas bündeln sich quasi in seiner mittlerweile 15-jährigen Entwicklung bedeutsame Herausforderungen und Probleme jüdischer Initiativen jenseits anerkannter Gemeindestrukturen. Daher wird der JKV in einer gegenüber den anderen im Anschluss behandelten Aktivitäten in einer besonders umfassenden Einzelfallanalyse dargestellt. Neben dem Erhebungsgespräch mit der maßgeblich seit Anbeginn im JKV Engagierten konnte auf einen relativ breiten Fundus an Quellen in wissenschaftlichen Veröffentlichungen, Zeitungsartikeln sowie Texten von Vereins-Aktiven zurückgegriffen werden – ebenfalls ein Sonderfall im Untersuchungsfeld. 2.1.1. Die informelle Vorgängergruppe ‚Wir für uns‘ in der späten DDR Bereits die Entstehungsgeschichte des Jüdischen Kulturvereins stellt in der Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft der DDR nach 1945 einen einmaligen Sonderfall dar. Verdankt Der Verein doch seine Entstehung der spezifischen Situation in der Vorwendezeit in Ostdeutschland bzw. in Ostberlin Mitte der 80er Jahre. Dabei bildeten aus der Rückschau gesehen und vereinfacht formuliert drei verschiedene Einzelentwicklungen die damalige Hintergrundsfolie seiner Entstehung bzw. die seiner Vorgängerorganisation: • In der DDR säkular aufgewachsene Kinder von die Schoah überwiegend in der Emigration überlebenden Eltern mit deutsch-jüdischem Hinter-
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grund fanden sich in dem Wunsch zusammen, sich gemeinschaftlich mit ihren jüdischen Wurzeln auseinanderzusetzen. Die jüdische Gemeinde in Ostberlin (wie auch andernorts in der DDR) war wegen Überalterung nach einem jahrzehntelangen Schrumpfungsprozess Mitte der 80er Jahre beinahe an ihr Ende gekommen. Von daher besaß die Gemeindeleitung ein gesteigertes Interesse an Neueintritten. Die DDR-Oberen waren in den letzten Jahren vor der Wende insbesondere aus ökonomischen Gründen an einer Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten interessiert. Sie sahen in der medienwirksamen Förderung der wenigen noch in Ost-Berlin lebenden Juden ein geeignetes Instrument, an Prestige in den USA zu gewinnen.
In dieser Situation kam es im Mai 1986 auf Einladung der Ostberliner Gemeinde zu einem Treffen 70 bis 80 überwiegend säkularer, jüdischstämmiger Personen und damit zur Gründungsversammlung einer informellen Gruppe.21 Eine tragende Rolle bei diesem Gründungsakt wie später auch bei dem des JKV nahm Irene Runge ein. Sie hatte als säkular aufgewachsene jüdischstämmige Tochter von aus der West-Emigration nach dem Krieg in den Osten des geteilten Deutschlands Zurückkehrenden bereits in den frühen 70er Jahren den Weg in die Ostberliner Gemeinde gefunden. Mitte der 80er Jahre hatte sie in den USA auf einer vom Schriftstellerverband der DDR ermöglichten Amerikareise beeindruckt, mit welcher Inbrunst jüdisches Leben auch außerhalb etablierter Gemeinden praktiziert wurde.22 Mit anderen aus ihrem Milieu entwickelte sie daraufhin die Idee zu einem jüdischen Verein, in dem gemeindeferne Personen jüdischen Herkommens – also der Normalfall in der DDR bzw. in Ostberlin – sich über ihren jüdischen Hintergrund und jüdische Thematik austauschen könnten. Bereits Anfang 1986 stellte sie daher eine Liste von Personen zusammen, die eventuell an einem Kontakt mit der Gemeinde interessiert sein könnten und bereitete damit die o. g. Einladung vor. Die auf dem Treffen Versammelten beschrieb Runge folgendermaßen: „Die Eingeladenen kamen; die meisten von ihnen hatten noch nie mit so vielen Juden auf einmal in einem Zimmer gesessen. Aber die meisten kannten sich untereinander bereits. Viele hatten sich, ähnlich wie bei einem Klassentreffen, nach langen Jahren erstmals wiedergetroffen.“23 21 Vgl. E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 248 ff.; P. Kirchner: „Akzeptanz oder Widerspruch“, in: G. B. Ginzel (Hg.) Der Anfang nach dem Ende S. 93 f.; I. Runge: „Ein Neuling in der Jüdischen Gemeinde" (Interview von 1984), in: R. Ostow: Jüdisches Leben in der DDR, S. 75 f.; L. Mertens: Davidstern unter Hammer und Zirkel, S. 205 f. u. 393 sowie R. C. Schneider: Wir sind da!, S. 45 f. 22 Vgl. Christine-Félice Röhrs: "Jüdin sein kam lange nicht in Frage. DDR-Produkte: Wie Irene Runge und ihr jüdischer Kulturverein in die Bundesrepublik hineinwuchsen", in: ZEIT 02.03.2000 und I. Runge in: R. C. Schneider: Wir sind da!, S. 359 23 I. Runge in ebd. – Der von ihr beschriebene ‚Klassentreffen-Charakter‘ kann verständlich werden, wenn man sich vor Augen führt, dass die Anwesenden größtenteils aus Kindern der kleinen Gruppe nach Deutschland, d. h. bewusst in die DDR zurückgekehrter Emigranten bestanden; vgl. Kap. II.1.3.1., S. 106 f.
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Aus der Gründungsveranstaltung ging unter dem programmatischen Namen ‚Wir für uns‘ eine Art informelle ‚Selbsthilfegruppe‘ hervor – ein Novum in der DDR, nicht nur in jüdischen Kreisen! Die Gruppe umfasste anfänglich über 200 Personen, wenn auch die Teilnahme bis Herbst 1989 abnahm.24 Seit September 1987 traf sich der Kreis ein- bis zweimal im Monat in Gemeinderäumen bis in die Wendezeit der DDR. Bei diesen regelmäßigen Treffen wurden nicht nur Themen der Emigration oder des Faschismus behandelt, sondern auch religiöse Fragen sowie die jüdischen Feiertage begangen und sogar eine Kindergruppe initiiert. Die Teilnehmer zogen als einzigen Außenstehenden auch den liberalen Rabbiner der West-JGB Ernst Stein zu Rate, der in Vortragsreihen auch religionsphilosophische Themen behandelte.25 Zu der Ausrichtung der damaligen religiös-rituellen ‚Gehversuche‘ bemerkt I. Runge im Rückblick lapidar: „Damals waren wir noch nicht so orthodox. Es kamen viele Reformleute.“26 Die Gruppe umfasste ca. 200 Personen und bei ihren zwanglosen Treffen kamen zeitweilig bis zu 250 Personen zusammen. Damit erreichte sie gleichviel oder etwas mehr Personen als die Ostgemeinde zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch an Mitgliedern besaß.27 Allerdings machten offenbar nur die wenigsten dieser ‚nichtjüdischen Juden‘ den Schritt aus der Gruppe in die nicht nur in religiösen Fragen sich traditionell verstehenden Ostberliner Gemeinde28, die ihrerseits Befürchtungen wegen des erstmaligen Eintritts von Parteimitgliedern und der großen Zahl bei ‚Wir für uns‘-Aktiven, die im halachischen Sinn keine Juden waren, hegte.29 Offensichtlich war das Andocken an die informelle Gruppe unter dem kleinen Kreis derer, die sich schon zuvor aus dem Milieu der ‚nichtjüdischen Juden‘ 24 Vgl. E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 250 und Mertens: Davidstern unter Hammer und Zirkel, S. 205. Burgauer betont in diesem Zusammenhang, dass die Gruppe damit immerhin so viele Mitglieder wie die Gemeinde besaß und etwa 10 % der geschätzten ‚Dunkelziffer‘ der jüdischen Bevölkerung von Ostberlin; vgl. dies. ebd. 25 Vgl. E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 250 sowie Hermann Simon, in: R. Ostow: Jüdisches Leben in der DDR, S. 61, Anm. 1. – Rabbiner Stein half bereits seit Anfang der 80er Jahre vom Westen aus der Ostberliner und andere DDR Gemeinden bei Hochzeiten, Begräbnissen usw. 26 I. Runge, in: R. C. Schneider: Wir sind da!, S. 359; – Die Wendung „noch nicht so orthodox“ bezieht sich auf die weitere religiöse Orientierung des JKV; vgl. u. Kap. IV.2.4.3. Während der Hinweis auf die „Reformleute“ lediglich die Situation in der DDR – in der es ja keine orthodox-osteuropäischen DPs gab – widerspiegelt, in der, wenn überhaupt, religiöse Bezüge zum mehrheitlich reformjüdisch orientierten Diaspora-Judentum im Vorkriegs-Deutschland bestanden; vgl. Kap. I.1.3.1., S. 107. 27 Vgl. E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 250. Die Autorin geht außerdem davon aus, dass sich bei ‚Wir für uns‘ etwa zehn Prozent der geschätzten ‚Dunkelziffer‘ von ca. 2000 nicht in der Ostberliner Gemeinde als Mitglied gemeldeten Juden in Ostberlin engagierten; vgl. ebd. 28 Vgl. L. Mertens: Davidstern unter Hammer und Zirkel, S. 205 29 Zum Verhältnis von ‚Wir für uns‘ und Ostgemeinde vgl. näher im historischen Einführungsteil Kap. I.1.3.4., S. 111 f. Zur Vermeidung von Überschneidungen werden diese übergreifenden Aspekte hier ausgespart.
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Ostberlins kannten, kein allgemeiner Automatismus, vielmehr hielten sich einige auch bewusst fern: Hierzu äußert sich im Erhebungsgespräch die bereits in dieser Vorgängergruppe aktive JKV-Mitbegründerin P 1: „[...] als wir dann die Gruppe aufbauten ‘85, […] kamen mehr Leute dazu, auch von der Uni. Aber es dauerte ein bisschen [...] und zwar nicht, weil [die; A. J.] Leute sich nicht trauten, […], sondern es hat sie gar nicht interessiert. [...] weil einer im Außenministerium war, was hat den interessiert hier in irgend so einem komischen [Verein; A. J.] Leute zu treffen, die er sowieso kannte von der Schule und nicht leiden mochte.“ (P1/30)
Dabei mögen bei einigen aus dem Kreis der Zögerlichen neben persönlichen möglicherweise auch politische Vorbehalte eine gewisse Rolle gespielt haben, da ja ein Großteil der informellen Gruppe dem DDR-Staat nahe standen, jedenfalls der SED angehörten.30 Entscheidender als diese Tatsachen und kaum durch sie erklärbar erscheint allerdings der und von keiner Seite planbare erstaunliche Erfolg dieses für DDR-Verhältnisse so ganz untypischen Selbsthilfe-Experiments. Offensichtlich war das Bedürfnis nach einem Anknüpfen an die eigene verdrängte jüdische Herkunft gerade in den verkrusteten Verhältnissen in der DDR der Vorwendezeit besonders ausgeprägt. Doch welche Auswirkungen hatte die Wendezeit in der DDR auf ‚Wir für uns‘? Im Rückblick erscheint es mit einer gewissen Plausibilität konsequent, dass dieser Zusammenschluss ‚nichtjüdischer Juden‘ in Ostberlin weder einfach als vermeintlich staatsnahe ‚DDR-Altlast‘ mit dieser verschwand, noch sich in die 1990 kurzzeitig vom Westen protegierte ostdeutsche Oppositionsbewegung einreihte. Denn ‚Wir für uns‘ – wie wahrscheinlich überhaupt viele Juden in der Spätphase der DDR – stand ja irgendwie zwischen oder abseits der Hauptkonfliktlinien der Antagonisten der dortigen Wende31: Zwar waren die Gruppenmitglieder nach Herkunft sowie nach der eigenen Sozialisation zu sehr im dezidiert linken Sinne ‚antifaschistisch‘ und darüber hinaus der informelle Kreis durch seine organisatorische Stellung unter dem Dach der Ostberliner Gemeinde zu stark eingebunden für eine gegenüber dem Staat offen opponierende Haltung, wie sie die Oppositionellen in den DDR-Kirchen jener Tage etwa zeigten. Dennoch sprengte das Selbstverständnis der zur Wendezeit noch jungen Gruppe und ihre Aktivitäten „den staatlich gesetzten (und von der Gemeinde akzeptierten) Rahmen schon dadurch [...], dass die Frage nach den Möglichkeiten einer jüdischen Identität auch (oder gerade) im Kontext der atheistischen und latent antisemitischen Gesellschaftsstrukturen der DDR ein zentrales Thema war“32. Daher barg sie offensichtlich ein Entwicklungspotential in sich, dass – wie im Folgenden gezeigt wird – weit über das Ende der DDR hinaustragen sollte.
30 Vgl. E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 249 31 Vgl. zur Rolle der DDR-Juden in dieser Zeit im historischen Einführungs-Kap. II.1.3.4., S. 111 ff. sowie E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 241. 32 Ebd., S. 250
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2.1.2. Gründung des Jüdischen Kulturvereins Spätestens zum Jahreswechsel 1989/1990 erreichte die Wende in der DDR auch unmittelbar die lose jüdische Selbstfindungsgruppe: Einerseits war nämlich mit der sich abzeichnenden Übernahme der Ostberliner Gemeinde durch die WestJGB abzusehen, dass ‚Wir für uns‘ damit ihre Gemeindeanbindung verlieren würde. Denn die Gruppe stand informell, jedenfalls solange die Ost-Gemeinde noch existierte, unter deren ‚Schirmherrschaft‘ (Burgauer). Andererseits sank die Teilnehmerzahl seit den im Spätsommer 1989 immer dramatischer werdenden DDR-Umbrüchen drastisch auf ca. ein Viertel der vormaligen Größe (s. o.). In dieser Situation in der Noch-DDR entschloss sich ein aktiver Kern der Gruppe um Runge zur Gründung eines eigenständig und auch rechtlich formal mit entsprechender Satzung verfassten ‚Jüdischen Kulturverein‘ zwischen Dezember 1989 und Februar 1990.33 Im Gründungsaufruf hieß es: „Der jüdische Kulturverein ist der Zusammenschluss von in der DDR lebenden Bürgern jüdischer Herkunft und ihren Angehörigen, unabhängig von ihrer Weltanschauung.“34 Der Aufruf markiert bereits drei entscheidende Positionsbestimmungen: • die sozialen Beziehungen der Vorgängergruppe ‚Wir für uns‘ unter neuen, zunächst unabsehbaren Bedingungen zu bewahren sowie deren gemeindeexterne soziokulturelle Aktivitäten weiterzuentwickeln; • ebenfalls im Anschluss an die Vorgängergruppe das Kriterium ‚jüdisch im halachischen Sinn‘ nicht als Kriterium der Mitgliedschaft im JKV zu verwenden im Unterschied etwa zur Ost- wie Westberliner Gemeinde; • die klare Eingrenzung auf eine ostdeutsche Klientel.35 Auch die Gründung des JKV stellte sich ähnlich zu der seines Vorläufers ‚Wir für uns‘ als ein großer Erfolg heraus: Auf den Gründungsaufruf meldeten sich ca. 500 Personen, von denen sich kurz darauf ca. 200 in einem ehemaligen ZKNebengebäude versammelten.36 Die Vereins-Aktive skizziert dieses DDRstämmige Ursprungsmilieu des JKV, bis heute in personeller Hinsicht die tragende Säule der Vereinsstruktur (s. u. Kap. IV.2.3.): „Die, die [...] eigentlich seit 1986 dabei waren, beziehungsweise 1989 dazustießen, -89/ 90, waren natürlich vorwiegend aus dem Osten. Und waren in der Regel politisch engagierte Leute aus dem Exil zurückgekommen oder in Deutschland schon geboren. [...] in 33 Die Angaben über den genauen Gründungszeitpunkt schwanken in der Literatur zwischen Dezember 1989 bei L. Mertens: Davidstern unter Hammer und Zirkel, S. 205, Januar 1990 bei E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 250 sowie Ende Februar 1990 bei C.-F. Röhrs (02.03.2000) 34 Zit. nach ebd. 35 Im Rückblick äußert sich Runge hierzu wie folgt: „Da waren wir sektiererisch. Wir kamen gar nicht klar mit der Westberliner Art. Die waren so politisch, und wir wollten nur was lernen und jüdisch sein. Das sollte nur für uns Ossis sein.“ Zit. nach C.-F. Röhrs in: ZEIT 02.03.2000. Mit ,politisch‘ ist offenbar ,antikommunistisch‘ gemeint. 36 Vgl. zu den Zahlen E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 250 und C.-F. Röhrs in: ZEIT 02.03.2000
444 | TEIL IV: JÜDISCHE GRUPPENAKTIVITÄTEN IN BERLIN der Regel Leute, die [...] eine gediegene Ausbildung oder auch eine gute, professionelle Laufbahn hinter sich hatten. Entweder sie gingen in Rente, standen vor der Rente, oder suchten gerade einen neuen Job. Also die auch [...] politisch eher immer links als rechts oder eher links als gar nichts waren.“ (P1/26)
Offensichtlich setzte unter den ‚nichtjüdischen Juden‘ Ostberlins vor dem Hintergrund des eigenen jüdischen Herkommens wie der politischen Wende, mit der nicht wenige von ihnen auch ein Stück weit politische Heimat verloren haben dürften, erneut und verstärkt ein Bedürfnis nach Identitätssuche ein.37 Gegenüber ‚Wir für uns‘ war dies Suche diesmal jedoch generationsübergreifend. Der sichtbarste äußere Unterschied zwischen dem während der Wende in der DDR neu gegründeten jüdischen Verein und der informellen Vorgängergruppe ‚Wir für uns‘ bestand in der je unterschiedlichen formalen Stellung zur noch bis Ende 1990 weiterbestehenden Ostberliner Gemeinde: Jedoch obschon „es vereinzelt noch Kontakte und gemeinsame Aktivitäten zwischen Kulturverein und Gemeinde gab [...], zeichnete sich schon früh eine weitgehende Trennung ab.“38 Der JKV agierte von Anfang an eigenständig: Hierzu wurden eigene Räume am Monbijouplatz, nicht weit von der Neuen Synagoge und den Ost-Gemeindeeinrichtungen in der Oranienburger Straße, angemietet. Zwar entfiel mit der Eigenständigkeit gegenüber der Noch-Ost-Gemeinde zwar deren Erwartungsdruck an das integrative Potential des JKV (s. o.). Andererseits artikulierten sich nun aber auch deutlicher als zur Zeit der Vorgängergruppe in der ‚alten‘ DDR inhaltliche Differenzen zwischen Verein und Gemeinde. So störte sich deren Vorsitzender Peter Kirchner an der Bezeichnung ‚jüdisch‘ im Namen des JKV als irreführend, da der Verein ja auch von Anfang auch lediglich jüdischstämmige, allerdings im halachischen Sinn nichtjüdische Mitglieder besaß. Jedoch – und dies unterschied den Vorstand der Ost-Gemeinde deutlich von seinen Kollegen in der West-JGB – konnte er sich damals nach Eigenbekunden durchaus einen ‚freischwebenden‘ Verein von Juden und Jüdischstämmigen jenseits der etablierten Gemeindestrukturen vorstellen. Ungeachtet bestimmter Differenzen im Detail gab es nach wie vor große Gemeinsamkeiten zwischen Verein und Ostberliner Gemeinde durch die gemeinsame Sozialisation bzw. Vergangenheit als Juden in der DDR wie auch auf Grund einiger personeller Überschneidungen. Diese mehrschichtigen Verbindungen erloschen jäh mit deren Ende der Ost-Gemeinde bzw. ihrem Aufgehen in der West-JGB zu Anfang des Jahres 1991. Auf die bewegte Entwicklung der Beziehung des Kulturvereins zur JGB bis heute wird unten im Kap. IV.2.5. eingegangen.
2.2. Inhaltliche Ausrichtung der Tätigkeit des JKV Von Anfang an hatte der Jüdische Kulturverein eine zentrale übergeordnete Aufgabe, die von der JKV-Aktivistin in einem Satz prononciert zusammengefasst 37 In diesem Sinne auch I. Runge in: JK 07/08.04 38 E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 251
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wird: „Zweck ist ja, den Juden die Rückkehr oder überhaupt die Anbindung an [...] ihr Judentum zu ermöglichen.“ (P1/23) Im Einzelnen bedeutet dies: „[...] von Anfang an Holocaustüberlebenden und ihren Nachfahren zu helfen; Juden aus aller Welt zu unterstützen, wenn sie kommen [i. S. von zuwandern; A. J.], jüdische Traditionen zu bewahren, zu pflegen, weiterzugeben an die, die es nicht erlebt haben, darüber zu informieren, Judentum [...] das Jüdische in einer ganzen Breite für Juden – in Klammer und Nichtjuden – zu propagieren oder anzubieten.“ (P1/24)
Dabei stehen bis heute ähnlich wie bei der Vorgängergruppe im weitesten Sinne Jüdische Thematik wie jüdische Persönlichkeiten, der Holocaust oder Israel sowie darüber hinaus Antifaschismus und die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit im Mittelpunkt der inhaltlichen Angebote des seit seiner Gründung im Wortsinne Jüdischen Kulturvereins: I. Runge zählt regelmäßige Veranstaltungen zu „Exil, Emigration und deren künstlerische Umsetzung, jüdische Geschichte, jüdische Arbeiterbewegung, musikalisch-literarische Veranstaltungen“ auf, die vom JKV durchgeführt werden.39 diese Veranstaltungen finden bis heute nach dem gleichen Muster statt: Sie sind öffentlich, d. h. für Mitglieder wie für Besucher zugänglich und die z. T. prominenten Gäste aus Religion, Kultur, Wissenschaft und Politik sowie betagte Zeitzeugen sprechen auf ihnen alle ohne Honorar (!). Außerdem wurde ein vereinsinterner Treff von ehemals in der DDR beheimateten Auschwitz-Überlebenden eingerichtet und ein Sonntag-Morgen-Brunch40, die beide seit kurzem nicht mehr existieren. Durch die ihrer jüdischen Wurzeln größtenteils entfremdeten jüdischen und jüdischstämmigen JKV-Mitglieder41 wurde von der informellen Vorläufergruppe ‚Wir für uns‘ die Idee des Aus- und vor allem Einübens religiöser Praxis übernommen. Das regelmäßige gemeinsame Begehen des jüdischen Gottesdiensts zu Schabbat-Beginn am Freitagabend (KABBALAT-SCHABBAT) mit anschließendem Kiddusch im zweiwöchigen Turnus in den Vereinsräumen wurde zum bedeutsamen Bestandteil der JKV-Aktivitäten. Auch diese regelmäßigen rituellen Feiern sind als öffentlich zugängliche angelegt worden, daher wurden die Termine wie bei den übrigen öffentlichen Vereins-Veranstaltungen (s. o.) per Aushang und in den Medien angekündigt. Als regelmäßige Vorbeter standen dem Verein bis in die jüngste Vergangenheit zwei Vereinsmitglieder zur Verfügung. Trotzdem mussten sich bei diesen Zusammenkünften die überwiegend an keiner jüdischreligiösen Praxis geschulten Teilnehmer in einer Art ‚learning by doing‘ viele rituelle Details erst selbst beibringen. Unterstützung erhielt der JKV dabei außerdem durch verschiedene orthodoxe Gruppierungen bzw. Rabbiner, vor allem 39 I. Runge, in: R. C. Schneider: Wir sind da!, S. 364; die Liste ließe sich noch um viele weitere, vor allem auch aktuelle Themen, wie bspw. die Gefahren des islamistischen Terrorismus aus jüdischer und israelischer Sicht, erweitern. 40 Zu diesem Extraangebot wurde ein Unkostenbeitrag erhoben (P 1/45). 41 Die sich ja „,aus religiösen oder intellektuellen Gründen‘ für jüdische Themen interessieren“. I. Runge zit. nach L. Mertens: Davidstern unter Hammer und Zirkel, S. 206; Hervorhebung von L. Mertens.
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durch den israelischen Rabbiner Zwi Weinmann und den auch für die Berliner Gemeinde als Jugendrabbiner tätigen Rabbiner Jehuda Teichtal. Eine weitere Besonderheit der religiösen Vereinspraxis besteht sicherlich darin, dass der JKV als Ausdruck seiner interkonfessionellen und interkulturellen Offenheit das Brechen des muslimischen Ramadan (als dessen Abschlussfest), das kurdische Nevrozsowie das buddhistische Frühlings-Fest beachtet bzw. begeht.42 Neben den genannten kulturellen und religiösen Angeboten wurde schon früh – seit Frühjahr 1990 – ein weiterer zentraler Tätigkeitsbereich für den Kulturverein im Sinne des Vereinszwecks (s. o.) bestimmend: Der Einsatz für die seit dieser Zeit verstärkt nach Ostberlin kommenden jüdischen Zuwanderer aus der (Noch)-SU bzw. später den GUS-Staaten. Mit vielfältigen sprachlichen und soziokulturellen Angeboten verfolgt der JKV das Ziel deren Integration in die jüdische Gemeinschaft sowie in die sie umgebende nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft, wobei er sich von Anfang an auch auf der politischen Ebene für die jüdischen Zuwanderer aus Osteuropa stark machte, So hatte er bereits „Ende Februar 1990 [...] die Teilnehmer des Zentralen Runden Tisches in Ost-Berlin auf die Probleme [der Juden; A. J.] in der UDSSR hingewiesen und um Hilfe gebeten.“43 Die frühe Vereinstätigkeit für die osteuropäischen Zuwanderer bedeutete eine echte ‚Pionierarbeit‘ insofern der JKV noch vor der Ost- und später der vereinigten jüdischen Gemeinde in Berlin daran ging, entsprechende Angebote einzurichten. Dieses Wirken markiert den Beginn des bis heute anhaltenden großen Engagements des Kulturvereins für diese aus Osteuropa stammende Klientel als einen seiner zentralen Arbeitsschwerpunkte, welches über die soziale und kulturelle Arbeit hinaus immer auch das politische Eintreten für diese Gruppe einschließt. Damit wandelte und weitete sich der Verein bereits kurz nach seiner Gründung von dem ursprünglich nach Herkunft seiner Klientel recht homogenen Club von ähnlich gesinnten ostdeutschen Juden und Judenstämmigen in eine nach personeller Basis und nach soziokulturell Angeboten äußerst heterogenen Einrichtung. Die Angebote des JKV für die russischsprachige Klientel sind im Einzelnen sehr vielfältig:44 So bietet er für ältere Einwanderer, die keine Sprachförderung erhalten, Deutschunterricht an, organisiert russischsprachige Kulturveranstaltungen (z. B. die Vorführung russischsprachiger Filme mit anschließender Diskussion). Er veranstaltet Literaturworkshops für russische Literaten und Journalisten. Es existiert ein deutsch-russischer Club, der den Besuch von Gedenkstätten, Mu42 Vgl. I. Runge in: JK 07/08.04. Diese Praxis erinnert an heutige für kultur- und religionsintegrative Ansätze offene Kindergärten in Deutschland. 43 L. Mertens: Davidstern unter Hammer und Zirkel, S. 153. – Außerdem machte der Verein erfolgreich Druck auf die DDR-Übergangsregierung, die gesetzlichen Voraussetzungen für die Aufnahme der Zuwanderer aus Osteuropa zu schaffen. Tatsächlich beschloss die Interimsregierung die Aufnahme aller Juden aus der SU, die eine Einwanderung in die Noch-DDR wünschten – Beginn der später deutschlandweit geregelten, bis heute anhaltenden jüdischen Zuwanderung aus Osteuropa. 44 Alle Angaben zu den JKV-Aktivitäten für die Russischsprachigen sind aus dem P 1Interview und dem Runge-Interview in R. C. Schneider: Wir sind da!, S. 364.
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seen und Theatern organisiert. Und aus dem Nachwuchs jüngerer Zuwanderer hat sich ein Kinderchor gebildet, der russische und hebräische Lieder einübt. Darüber hinaus leistet der JKV der russischsprachigen Klientel praktische Hilfestellung im Umgang mit außerjüdischen Dienststellen und hat für sie eine psychologische Beratung eingerichtet. Außerdem unterhält er seit dem Jahr 2000 einen eigenen, mit Fördermitteln angestellten Integrationsbeauftragten. 45 Bestimmte Ausgaben der Vereinszeitung bringt er ebenfalls auf Russisch heraus.46 JKV-Vertreter engagieren sich u. a. im ‚Migrationsrat Berlin-Brandenburg‘ politisch für Flüchtlinge im allgemein und für eine befriedigende Einwanderungslösung für die im halachischen Sinn als Juden anerkannte jüdischstämmige osteuropäische Bevölkerung im Besonderen. Außerdem steht der JKV in engem Kontakt mit der kommunalpolitischen Ebene und Behörden in Berlin.
2.3. Formale Aspekte und Strukturmerkmale des JKV Die Mitglieder- und Teilnehmerstruktur des Kulturvereins hat sich seit seiner Gründung mehrfach verändert: Zunächst bestanden die Mitglieder vor allem aus ihrer jüdischen Wurzeln weitgehend entfremdeten Emigranten und Emigrantenkindern und seit 1992 ‚ihrer‘ Gemeinde verlustig gegangene Mitglieder der von der West-JGB einverleibten Ost-Gemeinde. Etwa seit Mitte der 90er Jahre, mit dem Bemühen des Vereins um die Integration jüdischer Einwanderer aus den GUS-Staaten, stießen aus diesem Kreis weitere zum JKV. Außerdem wurde ein Fördererkreis mehrheitlich nichtjüdischer und jüdischstämmiger ‚Freunde‘ des Vereins initiiert. Die Mitgliederzahlen sind in den letzten Jahren wegen Überalterung deutlich gesunken: von 171 Mitgliedern und 50-60 Förderfreunden für das Jahr 200047 auf 125 Mitglieder und 22 Freunde 2004.48 Die Zahl der Männer und Frauen ist unter den Mitgliedern in etwa ausgeglichen, das Durchschnittsalter liegt mittlerweile bei über 60 Jahren.49 Unter den Mitgliedern sind die deutschen und russischen Muttersprachler etwa paritätisch vertreten. Doppelmitgliedschaften zwischen dem Kulturverein und der JGB sind üblich.50 Geleitet wird er durch einen Vorstand bzw. Sprecherrat.51 Der JKV besitzt keine fest angestellten Mitarbeiter. Der Großteil der anfallenden Arbeit wird durch eine hohe Anzahl an 45 46 47 48
Vgl. Andreas Poetke: „Aus dem JKV-Rechenschaftsbericht", in: JK 07/08.04. Vgl. Näheres zur JKV-Zeitung ‚Jüdischen Korrespondenz‘ im Kap. IV.2.4.4. Die Zahlen für 2000 stammen aus dem Interview mit P 1, S. 35. Die Zahlen für 2004 stammen aus dem Finanzbericht des Schatzmeisters A. Poetke in der JKV-Zeitung; vgl. ders. in: JK 07/08.04. 49 P 1, S. 23 sowie A. Poetke, der die aktuelle Altersverteilung aufgelistet hat: „12 % bis 50 Jahre, 17 % 51 bis 60 Jahre, 22 % 61 bis 70 Jahre, 25 % 71 bis 80 Jahre, 24 % über 80 Jahre.“ Ders. in: JK 07/08.04. – Zum damit verbundenen aktuellen und zukünftigen Überalterungsproblem vgl. unten Kap. IV.2.7.1. 50 P 1, S. 7. – Zum wechselhaften und zeitweise schwierigen Verhältnis zwischen dem JKV und der JGB vgl. unten Kap. IV.2.5. 51 Der für jeweils ein Jahr gewählte Vorstand besteht aus drei Geschäftsführenden und zwei Beisitzern; vgl. Ralf Bachmann: „Wahlbilanz im JKV", in: JK 07/08.04.
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Ehrenamtlichen verrichtet. Die zwei Deutschlehrerinnen und ein Integrationsbeauftragter werden über immer wieder neu auf kommunaler Ebene zu beantragenden ABM-Stellen und weitere Fördermaßnahmen des Arbeitsamts finanziert. Insgesamt bietet der Kulturverein regelmäßig über 10 verschiedene vereinsinterne und öffentliche Veranstaltungen bzw. Angebote im Monat an, wobei die religiösen Feste von den deutschen wie osteuropäischstämmigen Teilnehmern gemeinsam begangen werden und nach Anmeldung auch die Teilnahme von interessierten jüdischen wie nichtjüdischen Besuchern möglich ist. Die Besucher der öffentlichen Veranstaltungen sind sehr gemischt und bestehen neben Vereinsmitgliedern und Vereinsfreunden etwa zur Hälfte aus externen jüdischen wie nichtjüdischen Interessierten.52 Von diesen Besuchern kommen auch zahlreiche aus dem Westteil der Stadt zu den Veranstaltungen des Ostberliner Vereins. Die mediale Verbreitung der öffentlichen Termine des Vereins findet über die Mitgliederzeitung Jüdische Korrespondenz, einen Aushang im Eingangsbereich, Printmedien wie Berliner Tageszeitungen, Stadtmagazine sowie über jüdische Medien (wie die Jüdischen Allgemeine und die beiden Internet-Angebote haGalil und ‚Milch und Honig‘ statt. Die eigentliche Finanzierung der Kulturvereins-Arbeit und der Miete für die Vereinsräume wird primär über Mitgliedsbeiträge gesichert. Diese Beiträge fallen für Einkommensbezieher deutlich höher aus als für Nichtverdiener. Die einzige öffentliche Förderung besteht in zeitlich befristeten immer wieder aufs Neue beantragten ABM-Stellen (s. o.). Auch wenn der Verein sich bisher noch finanziell tragen konnte, scheint seine Finanzierung auf Grund der Mitgliederstruktur und der Befristung der Stellen nicht gesichert. 1999 bezog der Kulturverein Räume im zweiten Stock des Neubaus des ‚Jewish Trade und Communication Center‘ auf der Ecke Krausnicker/Oranienburger Straße in unmittelbarer Nachbarschaft der o. g. Gemeindeeinrichtungen und des Centrum Judaicum. Damit gab er zugleich die fast 10 Jahre lang angemieteten Räume am Monbijouplatz auf (s. o. Kap. IV.2.1.2.). Die Gelegenheit zum Bezug dieser Räume hatte sich nach Auskunft der JKV-Mitbegründerin eher kurzfristig ergeben und entsprang keiner expliziten Strategie zur exponierten Platzierung. Allerdings musste sich der Verein vor dem Hintergrund sinkender Mitglieder- bzw. Mitgliederbeitrags-Zahlungen im Juli 2003 zu einem Umzug in kleinere Räume des Gebäudes entschließen.53
52 I. Runge legte in der Vereinszeitung Besucherzahlen vor: „Zwischen Mai 2002 und Mai 2004 wurden 405 Veranstaltungen (324 auf Deutsch, 75 auf Russisch, 9 deutsch und russisch) durchgeführt. 6 072 Besucherinnen und Besuchern kamen, davon 3 107 Mitglieder (und Förderfreunde) sowie 2 965 Gäste. Im Durchschnitt waren das 15 Personen pro Veranstaltung – aber nur 7 Mitglieder und Freunde.“ Dies. in: JK 07/08.04 53 Vgl. ebd.
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2.4. Integrative und weitere soziale Prozesse innerhalb des JKV Die Entwicklung des Kulturvereins in seiner 15-jährigen Geschichte insgesamt erstaunlich stabil verlaufen.54 Eine große Bedeutung besitzt offensichtlich die warme Atmosphäre, die im Kulturverein vorherrscht, von der man sich bei einem Veranstaltungsbesuch leicht überzeugen kann. Zwischenmenschlich gehe es nach I. Runge „um das Gefühl, Freunde zu haben. Das ist viel mehr als ein privates, offenes Haus. Es ist wie eine Familie: wenn man drinnen ist, kommt man nicht mehr raus.“55 So stießen in den frühen Jahren außer den Russischsprachigen weitere Personen zu dem originären Ostberliner Kulturverein. Allem Anschein nach ist die Fluktuation unter den Interessierten bis auf den heutigen Tag recht hoch, besonders unter den erst nachträglich Dazugestoßenen, wobei die VereinsAktivistin P 1 den je individuellen Prozess des An- wie Abkoppelns im Sinne der auch andernorts üblichen ‚Vereinsmeierei‘: „Man geht ja nicht in so einen Verein, wo man den Vorstand nicht leiden kann. Und ich denke, dass auch Leute ausgestiegen sind, die zum Beispiel mich oder uns alle nicht leiden konnten, die wir aber auch nicht mochten.“ – „Und oft haben wir dann auch gesagt: ‚Na ja, von der Sache her ist es ja traurig, aber eigentlich geschenkt. Während wir uns sehr bemühen, um Leute, die wir mögen, also da versuchen wir sehr, die zu überreden, Mitglied zu werden. Oder zumindest zu kommen. [...]. [...] es hat was mit Stallgeruch [Hervorhebung A. J.] zu tun, so ein Club.“ – „[...] das hat nichts mit jüdisch oder nichtjüdisch zu tun.“ (P1/36-37)
2.4.1. Vereinsinterne Bedeutung der ost-/westdeutschen Herkunft der Mitglieder und Besucher im JKV Neben einigen weiteren ehemaligen DDR-Bürgern, die zum Kreis der Auschwitz-Überlebenden (s. u.) und zum Kreis der ehemaligen Exilanten gehörten, waren es immer mal wieder kleinere Gruppen und Einzelpersonen aus dem Westteil Berlins, die den Weg zum Kulturverein fanden. Offensichtlich scheiterten gerade in der Anfangszeit einige von ihnen an den Ost-/West-Mentalitätsunterschieden, die sich in ihrer mangelnden Motivation, sich für den Verein zu engagieren niederschlugen, wie P 1 rückblickend schildert: „[...] wir hatten auch [...] Westleute im Vorstand. Das ging überhaupt nicht. Weil die haben sicherlich uns anders erlebt, als wir glauben, dass sie uns erlebt haben.“ – „Aber der Hauptgrund war sicherlich auch, [...] das sind ja keine Linken, die [...] aus solchen studentischen Bewegungen kommen, das waren im Grunde ältere Herren, die schon immer mal in irgendwelchen jüdischen Organisationen präsidiert haben. [...] denen war nicht klar, dass man nicht sagen kann, [...] das Personal soll dann das und das machen. Wir hatten nämlich damals noch gar keines. Sondern es war immer so, wer einen Vorschlag hat, muss ihn umsetzen“. (P1/25) 54 Vgl. ebd. – Außerdem besteht nach Bekunden der befragten JKV-Aktivistin eine relativ hohe und stabile Teilnahme bei den Mitgliederversammlungen sowie bei den Mitgliedsbeiträgen eine recht gute Zahlungsmoral (P1/26). 55 Ebd., S. 366
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Interessant im Zusammenhang mit der Ost-/West-Problematik ist auch, dass der über 10 Jahre im Kulturverein existierende Stammtisch von Auschwitz-Überlebenden fast ausschließlich von ehemaligen DDR-Stämmigen besucht wurde, während aus der entsprechenden Gruppe aus Westberlin kaum einer sich dazugesellte, wie die JKV-Aktivistin berichtet: „[...] das ist doch wirklich absurd. [...] Und die anderen sind nicht dabei. [...] aber verstehe ich auch, was sollen die zu diesen Politischen hier kommen, die also hier [lacht auf] ganz andere Interessen haben.“ (P1/48) Als Ergänzung hierzu kann einen Aussage von I. Runge im Gespräch mit C. Schneider gelten, die stärker auf Milieu-Differenzen abhebt: „Im Westen [...] waren mehr Überlebende des Holocausts: Geschäftsleute, Ärzte, Unternehmer, nicht solche ‚Schreiberlinge‘ wie bei uns. Deshalb waschen wir hier auch selbst ab, haben kein Personal.“56 Die unterschiedlichen Sozialisationen und Lebensläufe in Ost- und Westdeutschland überlagern offensichtlich die biographische Gemeinsamkeit der Verfolgung durch den NS! Doch unbenommen von diesen gescheiterten Versuchen von Mitgliedern der West-Gemeinde sich im JKV zu etablieren, findet sich seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre einige Besucher aus dem Peripheriebereich der JGB im Westteil Berlins ein, wie P 1 ausführt: „[...] aus dem Westen kamen [...] eher dazu Leute, die [...] das Milieu mochten, die weniger qualifiziert waren, eher Ostjuden, die in der Gemeinde ein bisschen sich ausgebissen fühlten und die [...] mehr zum Freitagabend kamen57 oder zu bestimmten Veranstaltungen.“ (P1/26) Aus der Melange der Merkmale ‚Westen‘, ‚Ostjuden‘, ‚Freitagabend‘ sowie ‚weniger qualifiziert‘ ist erkennbar, dass diese Personengruppe aus dem Kreis der ehemaligen DPs und weiterer Zuwandererbewegungen, die vor allem aus Polen und Ungarn zwischen 1945 und 1990 nach Westberlin gekommen sind. Es handelt sich damit also auch um ältere Personen. Die im JKV Aktive fährt in der Beschreibung der Veranstaltungsbesucher fort: „Inzwischen kommen auch andere [...], wer voll im Berufsleben steht, kommt eben mal zu einer Veranstaltung“. (Ebd.) Unter den sporadischen Besuchern öffentlicher Veranstaltungen des JKV sind aber auch junge Mitglieder der Berliner Gemeinde, die vorzugsweise im Westen der Stadt wohnen sowie ursprünglich aus dem westlichen Ausland stammende Juden: „Sie nutzen das reichhaltige Vortragsangebot und besuchen die Kulturveranstaltungen, zu denen national und international bekannte Persönlichkeiten anreisen.“58 Abgesehen von der relativ bunten Mischung der Besucher bei den öffentlichen Veranstaltungen des Kulturvereins springt ins Auge, dass bis dato eine dauerhafte Mitarbeit weststämmiger Interessierter innerhalb des Vereins oder gar auf dessen Vorstandsebene bislang nicht erfolgt ist. Offensichtlich sind die Unterschiede nach Sozialisation und Lebenserfahrung noch immer zu groß. 56 Ebd., S. 363. ‚Überlebende des Holocausts‘ markiert offensichtlich den Gegensatz zu dem Emigrantenmilieu des JKV (s. o.). 57 Gemeint ist der Freitagabend-Gottesdienst (Kabbalat Schabbat) im JKV. Auf ihn wird ausführlicher unten in Kap. IV.2.4.3. eingegangen. 58 C.-F. Röhrs in: ZEIT 02.03.2000
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2.4.2. Vereinsinterne Integrationsaspekte zwischen der aus der DDR sowie der aus der ehemaligen SU stammenden JKV-Klientel Natürlich war die durch die Mehrheit der ostdeutschen Stammmitglieder getragene Entscheidung und langjährige Praxis des Kulturvereins, sich mit einem spezifischen Angebot an die aus der SU bzw. den GUS-Staaten kommenden Zuwanderer zu öffnen, kein durch Misserfolge ungetrübtes Unterfangen. So berichtet die befragte Verein-Aktivistin bspw. von einer Minderheit der DDR-stämmigen JKV-Mitglieder, die „dann als die Russischsprachigen kamen, also als die Einwanderung begann, irgendwie ausgestiegen [sind; A. J.], aus irgendwelchen Gründen. Und dann als sie wiederkamen, nicht den Anschluss fanden.“ (P1/17) Aber auch umgekehrt zeigt es sich auf Seiten der Russischsprachigen, dass kulturspezifische Unterschiede zwischen ihnen und dem DDR-Stamm-Milieu bei ihrer vereinsinternen Integration durchaus erschwerend wirken: „[...] das ist sehr schwierig, weil..., also wir haben einige, die kommen vor allem aus dem Baltikum. Weil die sind ja auch deutschsprachig, die haben überhaupt keine Probleme. Egal wie lange sie hier sind. [...] es ist nicht nur Sympathie, es ist auch eine kulturelle Nähe. Wenn Leute kulturell sich nicht aufgehoben fühlen..., also [...] wenn ein Westeuropäer in diese Räume kommt, ist er entzückt. Aber [...], in der sowjetischen [Klientel; A. J.] [...], das spricht sie nicht an. Da muss es anders aussehen. [...] es ist wirklich eine andere Ästhetik. [Russischsprachige; A. J.] Kommen her zu Veranstaltungen natürlich, aber es mischt sich sehr, sehr schwer.“ (P1/17-18)
Unterschiedlicher Einrichtungsgeschmack – die Russischsprachigen würden gegenüber den hellen, fast nüchternen Räumen mit abstrakten Bildern an den Wänden es eher rustikaler bevorzugen – stehen dabei stellvertretend für kulturelle Unterschiede wie auch die JKV-Prägung durch das ostdeutsche Gründungsmilieu: „[...] wir sind ja kein russischsprachiger Club. Wir sind ein Kulturverein.“ (P1/18) Dabei zeigten sich gerade auch bei Veranstaltungen des JKV unterschiedliche herkunftsspezifische Bedürfnisse. So wurde eine sehr gut besuchte öffentliche Veranstaltung zu ‚Antisemitismus in Russland‘ durchgeführt. Allerdings wäre das Interesse unter den russischsprachigen Vereinsmitgliedern überraschend gering ausgeprägt gewesen: Von ihnen kamen nur zwei Personen. Umgekehrt würden Veranstaltungen mit russischer und sowjetischen kulturellen Inhalten bei dieser Klientel eindeutig ‚ziehen‘: „Wenn hier jemand Klavier spielt, kommen sie alle oder wenn man einen Film zeigt.“ (Ebd.) Dank der mittlerweile vielen Angebote für Russischsprachige im jüdischen Berlin konnte der JKV seine spezifischen Angebote für diese Klientel mittlerweile deutlich reduzieren. Beim JKV handelt es sich also keineswegs in Entsprechung zu seiner Mitgliederzusammensetzung einfach um einen quasi semideutsch/semirussisch jüdischen Verein. Vielmehr wird die Leitungs- und organisatorische Arbeit überwiegend von Personen aus dem Kreis der ostdeutschen Vereinsaktivisten geleistet. Dabei haben diese durchaus ein Interesse, Personen aus dem Zuwanderermilieu für Sprecher- bzw. Vorstandsposten zu gewinnen. Allerdings waren über die Jahre hinweg nur zwei, drei Russischsprachige bereit bzw. befähigt, sich auf der Lei-
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tungsebene zu engagieren, wobei in den letzten Jahren meistens keiner von ihnen im Vorstand vertreten war, wie das JKV-Vorstandsmitglied erklärt: „[...] also wir haben das immer sehr versucht [...] paritätisch zu halten. Jetzt haben wir niemanden [von den Russischsprachigen; A. J.] […). Und das Problem ist natürlich, die [...], [...] die sonst kandidiert hätte, und auch natürlich gewählt worden wäre, die hat bei uns wieder eine Arbeitsstelle. Und man kann nicht beides.“ (P1/19) Weitere Ursachen für die Unterrepräsentanz der Russischsprachigen auf der Leitungsebene des Kulturvereins erscheinen offensichtlich: Demnach setzt die Vorstandsarbeit einen großen kontinuierlichen Kraftaufwand in der Organisation der Vereinsarbeit und vor allem eine hohe fachliche und sprachliche Kompetenz bei dem Ringen um Fördermittel auf kommunalen Ebene voraus, die von den meisten Zuwanderern wohl (noch) nicht geleistet werden können. Außerdem sind die für diese Arbeiten in Frage Kommenden finanziell auf die ABM-Stellen des Vereins angewiesen, womit sie für die ehrenamtliche Vorstandsarbeit ausfallen. Trotz der genannten Schwierigkeiten kann angesichts der 15-jährigen konzeptionellen Kontinuität des Kulturvereins-Arbeit eine insgesamt positive Bilanz der integrativen Bemühungen festgehalten werden: Denn dem Verein gelingt es offensichtlich bis heute, auf die je spezifischen Bedürfnisse seiner beiden nach milieuspezifischer Herkunft völlig unterschiedlichen Mitgliederkreise in sehr vielfältiger Weise und in familiärer Atmosphäre einzugehen. Jedenfalls spricht die Stabilität der ansonsten problematischen, weil überalterten Mitgliederstruktur unter beiden Hauptmitgliedergruppen des JKV gerade dafür, dass sich diese noch immer von seinen spezifischen Angeboten angesprochen fühlen. Darüber hinaus ist der Verein offenbar im Stande – m. E. der erstaunlichste Erfolg seiner Arbeit und zugleich dessen Schlüssel – eine beide Herkunftsgruppen übergreifende positive Atmosphäre herzustellen (s. o.). Als möglicherweise komplementäre Erklärungsmuster für diesen unzweifelhaften Erfolg der auf beide Herkunftsgruppen ausgerichteten integrative Vereinstätigkeit werden im Folgenden drei verschiedene Aspekte benannt: a) Parallelstruktur der Angebote: Der erste Schlüssel für den offensichtlichen Erfolg der Integration beider Herkunftsgruppen dürfte in der vom Kulturverein gewählten spezifischen Konstruktion der Vereinsarbeit liegen: Auf der einen Seite gab und gibt es im Verein eine z. T. asymmetrische Parallelstruktur russischsprachiger und deutschsprachiger Angebote,59 wie etwa den Treff der deutschsprachigen Auschwitzüberlebenden oder den russischsprachigen Literatur- und Filmclub und. Sprachkurse. Wobei beide Gruppen mit jeweiligen Ausgaben der Vereinszeitung bedient werden. Jedoch werden im JKV von Anfang an die sehr familiären religiösen Feiern, Sommerfeste, Vereinsjubiläen und Mitgliedergeburtstage von beiden Sprachgruppen gemeinsam begangen, ein nicht zu unterschätzender Faktor für den Zusammenhalt beider Herkunftsgruppen im JKV. 59 Vgl. hierzu im vorherigen Part der Studie in Kap. III.2.2.2. der sich auch im Erhebungskreis widerspiegelnde Kontroverse um dieses bilinguale Konzept.
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b) Herkunftsgemeinsamkeiten: Ein weiterer Gesichtspunkt für das relativ gut funktionierende Zusammenkommen der ostdeutschen und russischsprachigen JKV-Mitglieder dürfte in der deutschlandweit recht einmaligen Situation bestehen, dass sich hier zwei Milieus begegneten, die neben den ersichtlichen großen Herkunftsunterschieden ebenso große Herkunftsgemeinsamkeiten aufweisen: Die beiden Gruppen sind nicht nur über die russische Sprache – Lingua franca des ehemaligen sowjetischen Machtbereichs – miteinander verbunden, sondern durch viele weitere geteilten lebensweltliche und gesellschaftliche Erfahrungen des Ostblocks und der dortigen Wende, aber auch eines perspektivisch eher linken Antifaschismus. Beide Gruppen sehen sich vor die Aufgabe gestellt, aus dieser Erfahrung heraus in der westlich geprägten Gesellschaft und z. T. in der jüdischen Gemeinde heimisch zu werden. Schließlich handelt es sich beiderseits überwiegend um Akademiker und Intellektuelle. c) Hegemonie des DDR-Milieus: Schließlich gilt es, als dritten stabilisierenden Faktor der herkunftsmilieu-überschreitenden Vereinstätigkeit die im JKV eindeutige Prägung durch die DDR-Stämmigen zu berücksichtigen. als: Dieser StammKreis stellte somit ein durch vielfache persönliche, kulturelle, politische sowie berufliche Bezüge bereits vor der JKV-Gründung ‚organisch‘ gewachsenes Milieu dar. Als Aufgabe öffneten sie erst ex post und dabei sehr rasch den Verein für die osteuropäischen Zuwanderer und ihre Belange. Vor dem Hintergrund der Komplementarität aus gesuchter Aufgabe und gefundener Hilfe erscheint der ‚lange Atem‘ bzw. die Stabilität des Vereins ebenfalls ein Stück weit plausibel. Jedoch muss bei allen integrativen Erfolgen deutlich bleiben, dass der kleine Verein keinen große Gemeinde ersetzt oder ersetzen könnte, in den Worten der im JKV Aktiven: „Integration [bedeutet] natürlich auch, dass sie jemanden haben, der integriert. [...] also wir zum Beispiel haben gedacht, wir sind der ideale Ort zur Integration. Stimmt natürlich nicht, man kann ja nicht Gruppen oder Massen integrieren, das ist ja immer ein individueller Prozess“. (P1/30)
2.4.3. Ein orthodox orientierter Verein von Nichtorthodoxen – Erfolge und Schwierigkeiten der religiösen Integration (1) Das Konzept der Vermittlung religiöser Tradition Bei den vom Kulturverein bis 2003 regelmäßig durchgeführten KabbalatSchabbat-Gottesdiensten mit Kiddusch (vgl. Kap. IV.2.3.) sowie bei den von ihm an besonderen Feiertagen angebotenen größeren religiösen Feiern steht das gemeinsame Lernen und Einüben religiös-ritueller Praxis der Mitglieder und Besucher im Zentrum. Mit diesem ‚Learning-by-doing-Konzept‘ nahm der von der Berliner Gemeinde autarke JKV für die beiden unterschiedlichen, im ehemaligen Ostblock überwiegend säkular sozialisierten Vereinsmilieus zu Beginn der 90er Jahre im Jüdischen Berlin eine eindeutige Vorreiterrolle ein. Dieser Schwerpunkt der Vereinsarbeit fand und findet heute – wenn auch in reduzierter Form (s. u.) – vor dem Hintergrund zweier auf je unterschiedlichen Ebenen angesiedelten Grundprämissen statt:
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a) Offenheit des Kulturvereins gegenüber Juden (und Jüdischstämmigen) aller religiösen oder areligiösen Orientierung zwischen atheistisch und ultraorthodox: Kulturverein versteht sich nicht als Versammlungsort an einer bestimmten religiösen Richtung orientierten Juden, wie etwa die religiös unterschiedlich orientierten Synagogen und Betkreise in Berlin. „Das interessiert nicht.“ –- „Wir sind ja keine Gemeinde.“ (P1/33-34) Diese Haltung erscheint aus der Geschichte des Vereins heraus konsequent, da die Mehrzahl seiner DDR-stämmigen sowie aus der SU kommenden Vereinsmitglieder überhaupt keine jüdisch-religiöse Prägung bzw. Kenntnisse besessen hatten. Heute hat diese religiöse Offenheit des JKV zur Folge, dass religiös eingestellte Mitglieder auch außerhalb seiner religiösen Angebote Gottesdienste der unterschiedlich ausgerichteten Berliner Synagogen und Betgemeinschaften von orthodox bis liberal sowie darüber hinaus bis zu denen der orthodoxen Austrittsgemeinde Addas Jisroel besuchen.60 b) Weitmögliche Orientierung an der jüdisch-religiösen Orthodoxie: Dennoch finden sich bei allen Schabbat-Gottesdiensten und religiösen Feiertagen im Kulturverein in ritueller Hinsicht eine Anlehnung an die Orthodoxie. „Bei uns, wenn überhaupt etwas stattfindet, religiös, ist es in der Regel orthodox, weil die einzigen, die etwas tun, sind Orthodoxe [Hervorhebung: A. J.].“ (P1/34) Hinter dem „was tun“ verbirgt sich also eine spirituelle Beraterfunktion durch außerhalb der Gemeinde und an deren Peripherie angesiedelte orthodoxe Geistliche: „Und ich habe [...] gelernt von den […] von den chassidischen Lubawitscher-Juden einfach dieses [...], dass man immer wieder bereit sein muss, [...] für die jüdischen Belange einzustehen [...]. Die Frommen sind immer da, die kann man nachts anrufen mit einem Problem, und sie haben immer ein passendes Wort, immer eine Erklärung, immer eine Lösung parat. Und wenn nicht, dann rufen sie noch mal an.“ (P1/38/39)
Das zweite Motiv für diese bemerkenswerte Zusammenarbeit des JKV von Anbeginn an mit orthodoxen Rabbinern aus dem Ausland wie aus dem Peripheriebereich der Berliner Gemeinde dürfte darin bestehen, dass diese bereit waren, dem anfänglich noch in gegenseitiger Distanz zur Westgemeinde61 agierenden Verein zu helfen, ohne ihn zu bevormunden. Positiv bemerkt die JKV-Aktive zu dieser Art spirituellen Hilfe: „[...] und das kommt natürlich aus einer ganz tiefen jüdischen Tradition. Dass man dazu da ist, dass man seine Probleme auf der Welt selber löst [Hervorhebung A. J.], für den Fall, es regelt sich dann alles.“ (P1/39) Für den anfänglich in religiösen Dingen noch völlig unbewanderten Kulturverein leistet der israelische Rabbiner Zwi Weinmann seit seinen Anfängen im Frühjahr 1990 als eine Art spiritueller Nestor beratende Hilfe aus der Ferne. Au60 Vgl. R. C. Schneider: Wir sind da!, S. 364. Zur orthodoxen Austrittsgemeinde Addas Jisroel vgl. das gemeinde-geschichtliche Eingangs-Kap. II.2.2.3., S. 142 f. 61 Zum Gemeindebezug des JKV vg. unten Kap. IV.2.5. – Interessanterweise hatte der ehemalige liberale (!) Rabbiner der Westberliner Gemeinde E. Stein einst für die Vorläufergruppe des JKV ‚Wir für uns‘ ähnliche Funktionen wie die hier genannten orthodoxen Rabbiner für den Kulturverein eingenommen. Allerdings waren die damaligen Bedingungen gänzlich andere; vgl. oben Kap. IV.2.1.1., S. 441.
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ßerdem stand er dem JKV auch an besonderen Feiertagen für Gottesdienste zur Verfügung. Burgauer beschreibt ihn als „einen orthodoxen (aber undogmatischen und weltoffenen) Rabbiner, der ihnen [gemeint: den JKV-Mitgliedern; A. J.] nicht nur die religiösen Hintergründe, sondern auch eine ungebrochene jüdische Atmosphäre vermitteln sollte.“62 Darüber hinaus hielt der chassidische Chabad Lubawitsch-Rabbiner Jehuda Teichtal im Kulturverein häufiger SchabbatGottesdienste ab.63 Schließlich erhält der Verein noch ‚moralische Unterstützung‘ durch die ebenfalls religiös orthodox orientierte und international tätige Ronald S. Lauder Foundation, die in Berlin eine eigene JESCHIWA unterhält.64 Neben den Stammmilieus des JKV fand das regelmäßige praktisch-religiöse Freitagabendangebot offensichtlich auch bei weiteren Grüppchen und Einzelpersonen Anklang. So berichtet die im JKV Engagierte interessanterweise von aus dem Westteil der Stadt kommende, nicht in die JGB integrierte „Ostjuden“ (P1/26), die des Milieus wegen gerne zum Freitagabend-Gottesdienst kamen.65 Oder es kamen beispielsweise „Leute aus USA, die immer wenn sie in Deutschland sind, sich vorher melden, ob wir einen Schabbat machen oder so. Aber oft eben nur Leute, die (kommen) und dann sind se da und dann reisen sie wieder ab.“ (P1/35). Vereinzelt scheinen die Bemühungen des Vereins in den letzten Jahren, jüdische Religiosität zu vermitteln, sogar besonders erfolgreich gewesen zu sein. So bemerkt die Kulturvereins-Aktive: „[...] finden wir natürlich auch Juden, die gar kein Zugang mehr haben. Und für die ist das ganz wichtig der erste Schritt, aber wenn sie dann wirklich sich interessieren, dann verlieren wir sie meist, weil sie dann natürlich [...] weiter wollen.“ (P1/14) Für den genannten Personenkreis ist der Verein offensichtlich nur eine Durchgangsstation – wenn auch eine entscheidende – auf deren Entwicklung hin zu jüdischen Gemeinden oder ‚professionellen‘ religiös-jüdischen Gruppierungen. An beiden Beispielen kann sehr gut deutlich werden, wie sehr der Verein spezifische Bedürfnisse anspricht, die offensichtlich nicht von der Berliner Gemeinde abgedeckt werden. Allerdings bedeutete dieses Verständnis zugleich eine Ablehnung der Öffnung des Kulturvereins für die gerade in seiner Frühphase in Berlin in der Luft liegenden nicht-orthodox-reformjüdischen Experimente: So schildert die JKVAktive das Scheitern einiger Westberliner Jüdinnen damit, zu Beginn der 90er Jahre, in dem gemeindeexternen Verein egalitäre Gottesdienste abzuhalten66 Sie 62 E. Burgauer Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 251 63 Die aus dem Verein Berichtende zeigt sich von dessen Wirken sichtlich beeindruckt: „Es war eine bestimmte Atmosphäre, die es wahrscheinlich nur gibt, in dem chassidischen Milieu.“ (P1/39) 64 R. C. Schneider: Wir sind da!, S. 365; zu Lauder vgl. Kap. II.2.3.1., S. 153. 65 S. o. Kap. IV.2.4.1., S. 452. 66 Aus den längerfristigen Bemühungen um einen eigenen Betkreis ging kurze Zeit nach der o. g. gescheiterten Bemühungen egalitär orientierter Frauen, im Kulturverein Fuß zu fassen, 1993 der bis heute mit einigen Veränderungen existierende gemischtgeschlechtliche Egalitäre Minjan hervor; zu diesem Betkreis vgl. das Einführungs-Kap. II.2.2.3., S. 141 f.
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verteidigt dabei im Rückblick noch die strikt ablehnende Haltung des JKV, unbenommen von ihrer an anderer Stelle geäußerten persönlich positiven Einstellung gegenüber der generellen Ausweitung religiöser und kultureller Vielfalt in der jüdischen Gemeinschaften Berlins und im übrigen Deutschland67: „Zum Beispiel das Problem am Anfang, [...] wir sollen hier Frauengruppen [einrichten; A. J.] [...], und dann fing auch noch der Senat an, das würden sie fördern. Ja haben wir einmal probiert, dann kamen so drei Westfrauen, ja die also sich emanzipiert hatten von allen Männern, und die andern Frauen haben dann gleich ihre Männer mitgebracht [...]. Und es war auch keine Notwendigkeit. [...] wenn Frauen sich treffen wollen, können sie sich ja treffen. [...] also die Frauen die sehr stark feministisch orientiert sind, müssen ja nun nicht gerade in den Kulturverein kommen. [...]. Die haben nämlich ihre eigenen Vereine. Und dadurch war das nicht so relevant.“ (P1/40)
Offensichtlich stehen hierbei auch Milieuunterschiede Kooperationen entgegen. (2) Probleme im Konzept der Vermittlung religiöser Tradition Trotz aller Erfolge in der praktischen Vermittlung religiöser jüdischer Tradition und Atmosphäre an das Stammpublikum des Vereins ist das geschilderte Kulturvereins-Konzept nicht durchweg erfolgreich. Aus den Äußerungen der Vereinsaktivistin geht vielmehr hervor, dass offenbar gerade einige Angehörige des zu DDR-Zeiten links-atheistisch sozialisierten Stammmilieus zunächst viel größere Schwierigkeiten als die Zuzügler aus der SU und den GUS-Staaten im Umgang mit den wöchentlichen religiösen Vereinsangeboten besaßen. Bei einer Minderheit stieß die jüdisch-religiöse Vereinspraxis auch noch nach Jahren auf gänzliches Unverständnis. Insgesamt zeichnet sich auf der Grundlage der Aussagen der im Kulturverein Engagierten ein JKV-internes Muster eines z. T. gebrochenen Mitgliederinteresses an den religiösen Vereinsangeboten ab, welches sich an den Schnittpunkten der beiden Parameter Generationsspezifika und Säkularisierungstendenzen festmachen lässt. Vor den einzelnen Interpretationsschritten wird die Situation mit einigen anschaulichen narrativen Sequenzen der im JKV Engagierten beleuchtet, die wegen ihres Sinngehalts etwas ausführlicher zitiert werden: a) Problembeschreibung: „Und [...] dann habe sie die Leute, die zwar kommen, aber immer meckern: alles so viel Religion. Was aber unsinnig ist hier. Also diese Angst vor Religion ist zum Beispiel was ganz komisches. Also Religion nicht als Kultur zu nehmen, und als eine große Kultur..., [...] also als ob das eine ansteckende Krankheit ist. Auch diese Unfähigkeit, sich hinzusetzen und so einen Abend durchzustehen, der ja eigentlich auch nett ist, so ein Sabbat. Also manchmal ist es auch langweilig, wenn jemand gar nicht aufhört zu reden.68 Was aber auch nicht der Zweck des Abends ist, aber das kann natürlich passieren. [...] und alle singen mehr oder weniger schlecht, also es ist eine nette Gemeinschaft, die
67 Vgl. hierzu ihren gerade auch in religiöser Hinsicht gemeinten Appell oben als Motto des gesamten JKV-Kapitels. 68 offensichtlich ein Hinweis auf besonders langwierige Zeremonien von Seiten des den Gottesdienst leitenden Rabbiners oder Vorbeters.
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miteinander am Tisch sitzt, was isst, was trinkt, Gebete sagt, Lieder singt, sich was erzählt, ein bisschen über die Woche, über den Wochenabschnitt redet, wenn jemand sich vorbereitet hat. [...] eigentlich ist es ein sehr zwangloser Abend, und für manche ist es unerträglich. Und dann hatten wir hier auch Debatten, wo dann Leute wollten, dass man an dem Abend was ganz anderes macht. Wo ich dann sage, dann muss man sich ja nicht hier treffen. Muss man das ja nicht Sabbat nennen. [...] ich weiß noch nicht, ob Leute dann scheniert sind, weil sie es nicht können. Aber auch das ist unerheblich, weil jeder merkt, dass wir ja alle nur so irgendwie rumeiern. Ich meine, wir können die Gebete und wir können das, was nötig ist, aber alles andere, wenn ein komplizierter Feiertag [ist]..., und das muss man sich auch mal erkundigen. Und da weiß ich nicht, worin [...] diese Unbeholfenheit besteht, das nicht einfach hinzunehmen, dabeizusitzen und das nett zu finden, oder meinetwegen auch langweilig zu finden.“ [Hervorhebung: A. J.] (Ebd.)
Die Wendung „Angst vor Religion“ beschreibt sehr deutlich die Ausgangssituation der ihrer Religion entfremdeten völlig säkularen jüdischen und jüdischstämmigen aus der DDR kommenden Mitglieder des Kulturvereins mit häufig linksintellektuellem Hintergrund.69 In einer weiteren Passage wird kenntlich, wie vor diesem Hintergrund biographisch verschütteten Zugänge zu jüdischen religiösen Feiern bei den Älteren nach einer geraumen Zeit zum Vorschein kommen: b) Gelingender Vergemeinschaftungsprozess der älteren Generation: „[…], am Anfang war es ganz schwer für die Alten, die sind nicht gekommen. So, und dann haben sie alles Mögliche erzählt, ja sie sind alle Atheisten und weiß nicht was. Und im Lauf der Jahre hat sich dann gezeigt, der Grund war ein anderer. [...] das war ihre Kindheit. Und aus ihrer Kindheit sind sie gerissen worden, die Großeltern sind vergast worden und abgeholt worden [...]. Es hat sie erinnert an das letzte Mal, wo sie mit den Großeltern bei Pessach gesessen haben, und dann sind sie weg und die Großeltern kamen ins Lager. Und sie wollten dieses nicht wachmachen. [...], am Anfang haben sie es nie gesagt, und als sich das irgendwann herausgestellt. Dann hat man sie doch überredet zu kommen. Ja und dann stellen wir alle ganz bibelfest [fest, A. J.]. Können die Gebete auswendig, die Genossen. Aber sie haben sich unheimlich gesperrt. Zum Teil auch aus Prinzip gehen sie auch nicht in die Gemeinde, weil sie sagen ‚wir sind nicht religiös, wir wollen das nicht usw., jetzt kommen wir hier her.‘ [...] Die wissen das ja auch alles nicht mehr. [...]. Also da kommen sehr viele Brüche immer zum Tragen [Hervorhebung: A. J.].“ (P1/15)
Den älteren DDR-stämmigen scheint gerade die religiöse Praxis des Kulturvereins bis heute erfolgreich eine jüdisch geprägte weltanschaulich-religiöse Sinnstiftung, sozialen Halt und Familiarität zu vermitteln. Nach einer gewissen ‚Inkubationszeit‘ konnten sie offenbar an ihre eigenen jüdisch-religiösen Wurzeln anknüpfen.
69 Interessanterweise beschreibt eine in der innerjüdischen Integrationsarbeit mit Zuwanderer aus den GUS-Staaten Beschäftigte (P4/14) ihre Erfahrungen damit, unter welchen emotionalen Schwierigkeiten ihre in der ehemaligen SU atheistisch sozialisierte Klientel sich erst wieder der jüdischen Tradition öffnet mit der gleichen Wendung ‚Angst vor der Religion‘(!).
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c) Schwieriger oder scheiternder Vergemeinschaftungsprozess in der mittleren Altersgruppe: „Warum dann aber die nächste Generation sich manchmal so anstellt, das verstehe ich..., also auch mit diesem ungeheuren: ‚bin nicht religiös, bin nicht religiös‘.“ – „[...] Das ist mir völlig unklar. Also ich verstehe, dass man hingeht und sagt: ‚interessiert mich nicht‘. Oder das man hingeht und ‚da ist mir langweilig‘, oder was soll denn das? Aber dieses von vorne herein sich da so verstarren ja, also ich glaube, das sind ganz neurotische Reaktionen darauf. [...] Dies Gefühl, weil die Eltern, die dann inzwischen vielleicht schon verstorben sind, ihnen das nicht gesagt haben, dass man sozusagen im Nachhinein denkt, dass die Eltern, wenn sie es gesagt hätten, wäre es so. Also da müssen völlig verquere psychische Reaktionen ablaufen. Denn rational ist das überhaupt nicht. Rational ist, dass jemand keine Lust hat, weil er an dem Abend ins Kino will. [...] Aber die, die sich so verbeißen ja, ist ganz schwierig. Also Leute, die auch mit sich selber nicht klarkommen.“ (P1/16)
Im Unterschied zu den Älteren können sie einerseits gerade nicht mehr an religiös-jüdische Kindheitserinnerungen als emotionale Reminiszenzen wie noch ihre Elterngeneration anknüpfen. Andererseits ist zu vermuten –dies bleibt in ihren Ausführungen unreflektiert – dass die mittleren Jahrgänge der DDR-stämmigen JKV-Klientel weltanschauliche Gewissheiten nicht mehr in dem Maße wie die Älteren besessen haben und daher auch weniger kompensatorischer Angebote bedürfen. Außerdem sind sie meistens beruflich stärker integriert und es gibt für sie vielerlei Konkurrenzangebote zu jüdischer Religion/Kultur und dem JKV. d) generationsübergreifend erfolgreiche religiöse ‚Events‘: „Aber wir freuen uns eigentlich, dass zum Beispiel bei Pessach [...] kommen inzwischen auch Ältere mit Kind und Kindeskindern, und [...] Chanukka kommen sie alle. Chanukka ist ein heiteres, historisches Fest. […] Da gibt's die Probleme nicht, und wir haben ja also jedes Mal vorne die volle Zeremonie mit Rabbinern [...]. Da haben sie alle keine Probleme, aber weil das so Sinne öffnet... . 400 Leute und das ist ein Tanz und Buffet, und da glaub ich, dass es auch sehr erhellend erwirkt. Es ist eine andere Atmosphäre. Und das hat man früher auch nicht so gefeiert. Also da sind die Erinnerungen nicht da, aber der Pessachtisch, am Familientisch zu sitzen, [...]. [...] man sitzt ja da auch vier Stunden fest. Also da gibt es viele, viele Überschneidungen.“ (P1/15-16)
In dieser Sequenz kommt offensichtlich eine aus den hiesigen christlichen Kirchen hinlänglich bekannte Säkularisierungstendenz zum tragen: An hohen Feiertagen und familiären religiösen Feiern erscheinen viel mehr Besucher als sonst, die in ihrem säkularen Alltag kaum mehr direkte Bezüge zu ihrer Herkunftsreligion besitzen. Die vormalige Sinnsuche in der Phase der JKVGründung kann demgegenüber als eine zur Generaltendenz antizyklische einmalige Gegenbewegung gelesen werden. Seit Juli 2003 wurde im Kulturverein auch auf den Kabbalat Schabbat verzichtet. Seit dieser Zeit kamen außerdem auch immer weniger Mitglieder zu den traditionellen jüdischen Festtagen.70 70 Vgl. I. Runge in: JK 07/08.04
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2.4.4. Die Bedeutung der Vereinszeitung Jüdische Korrespondenz für die Mitgliederbindung und als Informationsquelle für Interessierte Das DIN-A-4 große und etwa 10 Seiten umfassende „Jüdische Korrespondenz. Monatsblatt des jüdischen Kulturvereins Berlin e. V.“ (‚Korrespondenz‘ oder JK) erscheint seit den Anfängen des Kulturvereins im Jahr 1990. Es wird in einer Auflage von 1000 Stück hergestellt71 – ein erster Hinweis auf seine weit über den JKV hinausreichende Verbreitung. Die Zeitung ist eine von nur vier regelmäßig erscheinenden jüdischen Periodika in Berlin und außerdem eine der wenigen nicht als Gemeindeblätter erscheinenden jüdischen Gazetten in Deutschland. Die ‚Korrespondenz‘ wird vom Vorstand des Kulturvereins nahezu in Eigenarbeit geschrieben und redigiert. Regelmäßige Artikel von Gastautoren komplettieren das Blatt. Inhaltlich stehen Berichte über die kulturellen Aktivitäten und organisatorische Interna des Vereins, aber auch zu den weiteren inhaltlichen Schwerpunktthemen des JKV, im Vordergrund. Darüber hinaus werden religiöse Feiertage und andere Gedenktage mit Artikeln gewürdigt. Einen immer größeren Raum nehmen die Nachrufe auf verstorbene Vereinsmitglieder ein. Auf andere jüdische Organisationen sowie auf Veranstaltungen im Bereich jüdischer Thematik wird auf der Terminseite hingewiesen. Die anspruchsvolle Sprache, die Länge der Beiträge und der geringe Bildanteil der JK können als Ausdruck der überwiegend akademischen Herkunft ihrer Autoren sowie ihrer Leserschaft gewertet werden. Dagegen kann das sparsame und altertümlich wirkende Design Hinweise auf das relativ hohe Alter beider Gruppen, auf ein geringes Vereinsinteresse an gestyltem Glanzpapieroutfit sowie auf das Bemühen um geringe Herstellungskosten liefern. Tatsächlich wird die JK über die Mitglieder hinaus auch von einigen hundert Nicht-Mitgliedern abonniert. (P1/35) Des Weiteren gäbe es noch Interessierte aus dem Besucherkreis der öffentlichen Kulturveranstaltungen und religiösen Feiern des JKV, also „Leute, die regelmäßig herkommen, sich hier die Zeitung abholen, jüdische wie nichtjüdische Leute, die also oft kein Geld haben, arbeitslos [sind] oder Strafrente oder so.“ (P1/35) Aus den Äußerungen der auch für die JK schreibenden JKV-Aktiven wird deutlich, dass die Zeitung sowohl für die mittlerweile betagte Ostberliner Gründungsgeneration des Vereins wie auch für seine osteuropastämmigen Mitglieder (in Form der russischsprachigen Ausgabe, s. o.) ein die Gemeinschafsbildung förderndes Bindeglied darstellt: „Aber [...] viele, die ganz selten kommen, die haben immer das Gefühl, dass sie immer hier sind, weil sie die Zeitung lesen, also einfach Leute, die nicht so gut laufen können, die weit weg wohnen.“ (P1/27). Erst nach jahrelanger Vereinstätigkeit erkannten die JK-Macher die große Bedeutung der Korrespondenz für den internen Zusammenhalt: „[...] wir haben ja viele Dinge angefangen, ohne wirklich also das so genau zu bedenken. Jetzt wo wir das wissen, bemühen wir uns auch mehr über Veranstaltungen [zu berichten; 71 Vgl. (P 1/35) sowie I. Runge in: JK 07/08.04
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A. J.]. Es heißt nur immer, einer muss schreiben. Aber es ist schon interessant, [...] die einen lesen nur das, die anderen lesen nur das“. (Ebd.) Aber auch im Hinblick auf das Vereinsinteresse an Personen aus seinem Umfeld wird die JK als ‚Bindungsmittel‘ eingesetzt: „Die beschenken wir ja dann auch mit der Zeitung eine Weile, also da sind wir ziemlich hinterher.“ (P1/37) Darüber hinaus vermuten die Zeitungsmacher eine von ihrem Mitteilungsblatt ausgehende werbewirksame Außenwirkung für den Verein, ohne diese im Einzelnen immer bestimmen zu können. Dies erläutert die JK-Autorin mit einem anschaulichen Beispiel: „[...] und letztens war eine hier aus Amerika, und die war ganz ehrfürchtig, weil in ihrer Bibliothek, bevor sie nach Deutschland ging [...] die Zeitung, die haben sie dort also zu lesen. [...] die ist in Hamburg, die hat hier jemand angeschleppt [...]. Aber es war eigentlich auch interessant, wir sind uns ja auch der Außenwirkung nicht ganz bewusst. Das ist auch so eine komische Sache.“ (P1/27)
Gezielt verteilen die JKV-Aktiven ihre Zeitung an Interessierte außerhalb von Berlin. Besonders die in russischer Sprache verfassten Ausgaben scheinen in Gemeinden mit überwiegend russischsprachigen Mitgliedern auf großes Interesse zu stoßen, wie die JKV-Aktive am Beispiel ihres Besuchs in der Baden-Badener Gemeinde erläutert. (P1/38) Darüber hinaus werden nach Bekunden der JKVBegründerin I. Runge sogar russischsprachige Exemplare der JK an zur Auswanderung nach Deutschland interessierte Juden in Osteuropa verschickt: „Wir haben viele Kontakte in die frühere Sowjetunion und schicken unsere Zeitung zu den dortigen jüdischen Kulturvereinen. Dann kriegen wir von denen Briefe. Wir sind für sie die einzige Informationsquelle über das Land, in das sie einwandern wollen“72 Teilweise wird die JKV sogar als Vorbild für jüdische Zeitungsprojekte in Deutschland wie in Osteuropa genommen (s. u. Kap. IV.2.6.) Schließlich bietet das Blatt Mitgliedern, Freunden sowie regelmäßigen Besuchern eine wichtige Informationsquelle zu dem reichhaltigen Veranstaltungsangebot des Kulturvereins. Demgegenüber holt sich die hauptsächlich externe jüdische wie nichtjüdische Laufkundschaft aus dem Westteil Berlins (s. o.) Informationen über öffentliche JKV-Veranstaltungen aus der lokalen Tagespresse. oder wie zu vermuten ist, aus dem Internet. Last but not least wurde die ‚Korrespondenz‘ bei dem immer schwierigeren Bemühen auf kommunaler Ebene um Finanzierung der ABM-Stellen als eine Art Werbeträger verwendet. Als Fazit kann festgehalten werden, dass die ‚Korrespondenz‘ in ihrem über 15-jährigen monatlichen Erscheinen für viele Menschen innerhalb wie außerhalb des JKV zu einer der wichtigsten und verlässlichsten jüdischen Stimmen in Berlin avancierte. Damit kam ihr ein nicht zu unterschätzender Anteil an der relativ langen Existenz des Vereins und seiner erstaunlichen Kontinuität zu. Im Sommer 2006 musste sein Erscheinen eingestellt werden. Die abnehmenden personellen Ressourcen des Vereins reichten offenbar zu Fortführung nicht mehr aus.
72 I. Runge in: R. C. Schneider: Wir sind da!, S. 366
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2.5. Äußere Beziehungsebene des JKV zur Berlin Gemeinde: vom Outlawstatus zur Kooperation Der Wandel im Verhältnis des originär Ostberliner Kulturvereins zur westlich dominierten, seit 1991 wieder vereinigten Berliner Gemeinde kann im jüdischen Berlin von der Nachwendezeit bis heute als einmaliger Sonderfall gelten. Denn, wie eingangs erwähnt, der JKV ist sowohl dienstälteste originär Berliner jüdische Initiative wie auch einziges jüdisches ‚Produkt‘ Ostberlins außerhalb der JGB.73 2.5.1. Erste Phase der Beziehung zwischen West-JGB und JKV: ein Differenzverhältnis In der Rückschau lässt sich konstatier, dass besonders in den ersten Jahren der Nachwendezeit mit der Westberliner Gemeinde und dem Ostberliner Verein zwei extrem verschiedene deutsch-jüdische ‚Welten‘ aufeinander trafen: beider gemeinsames jüdisches Erbe wurde offensichtlich durch Jahrzehnte unterschiedlicher Systemerfahrungen in den beiden deutschen Teilstaaten überlagert. Diese konträre Situation war in dieser Deutlichkeit allerdings im Erhebungszeitraum – über ein Jahrzehnt nach den ‚Vereinigungswehen‘ – bereits größtenteils passee. Bereits vor der Vereinigung der beiden Berliner Gemeinden zum Jahreswechsel 1990/1991 machten sich im Verhältnis zwischen JGB und JKV deutliche gegenseitige Vorbehalte bemerkbar. Zumal der autonome Kulturverein noch während der Existenz der Ost-Gemeinde für die chronisch unterversorgte jüdische Klientel im Ostteil der Stadt wöchentliche religiöse Angebote zum Schabbat, teilweise sogar mit rabbinischer Unterstützung, machte (s. o. Kap. IV.2.2.).74 Aus einer Vorfeld-Gruppe ursprünglich gemeindeferner Personen zur Ostberliner Gemeinde (s. o. ‚Wir für uns‘) wurde in dieser historischen Phase über drastische Brüche und Wandlungen hinweg der Kulturverein zu einer Nachfeld-Gruppe der unterbzw. in der JKV aufgegangenen Ost-Gemeinde. Retrospektiv äußert sich entsprechend I. Runge: „Wir haben quasi die Ostberliner Gemeinde fortgesetzt.“75 Als viel größeres Problem für das Verhältnis zwischen der mehrheitlichen West-Gemeinde und dem Ostberliner Kulturverein erwiesen sich aber die seitens maßgeblicher Kreise der JGB und deren Vorsitzenden H. Galinski dem JKV gegenüber gehegten starken Vorbehalte. Immerhin war er, der zur dieser Zeit auch Vorsitzender des Zentralrats war, die einflussreichste hiesige jüdische Persönlichkeit während des deutschen Einigungsprozesses. War Galinskis und der 73 Die Spaltung der Gemeinde wurde bereits im historischen Eingangsteil der Studie für die östliche Seite in Kap. II.1.3.1. und für die westliche in Kap. II.2.1.1. sowie die o. g. neuerliche Fusion beider Gemeinden in Kap. II.2.2.1. im Kontext der Entwicklung des jüdischen Lebens in Berlin in der jüngeren Vergangenheit dargestellt. 74 Im Gegensatz zu diesem neuen religiösen Angebot sahen sich die Ost-Gemeindemitglieder auch nach ihrer Übernahme durch die West-Gemeinde weiterhin in der Situation, den für sie noch immer lediglich mitzuständigen liberalen JGB-Rabbiner E. Stein mit den Gemeindemitgliedern in den mehrheitlich nichtorthodoxen Synagogen im Westteil Berlins teilen zu müssen. 75 I. Runge in: R. C. Schneider: Wir sind da!, S. 363
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West-JGB-Führung Haltung gegenüber der Ost-Gemeinde schon sehr distanziert, so traf den JKV in noch schärferer Weise deren völlige Ablehnung. Dass es sich bei dem Verein um einen DDR-Ableger handeln würde, der einer Integration der Ost-Gemeindemitglieder in die JGB entgegenstünde, lautete summarisch der dem JKV gegenüber oder öffentlich nie artikulierte Vorwurf.76 Dabei bestanden von Galinskis Seite die Vorbehalte in dreierlei: • Einerseits hatte er große Angst vor einer Spaltung durch den JKV.77 • Außerdem befürchtete er, dass sich der JKV über die Akzeptanz von Kindern jüdischer Väter und nichtjüdischer Mütter in seinen Reihen ‚Juden selber mache‘78 • Schließlich hatte er politische Vorbehalte gegen das ‚Ostgewächs‘ (s. o.)79 Auch die JKV-Aktive kommt in einer aufschlussreichen Passage kurz auf die anfängliche (Nicht)-Beziehung zwischen der West-JGB und dem Ost-JKV zu sprechen. Dabei erscheint diese bereits damals nicht monolithisch und ‚festbetoniert‘: „[...] am Anfang haben wir gar nicht mitgekriegt, dass die Gemeinde uns nicht wollte. Und als wir es dann mitgekriegt haben, hatten wir so viel zu tun, [...], also wir haben das nie so richtig zur Kenntnis genommen. Vor allen Dingen, weil es auch so war, Galinski [...] verachtete uns, aber die Opposition war [...] mit uns. [...] natürlich redet man doch nur mit den Leuten, die mit einem reden, und dadurch haben wir es gar nicht mitgekriegt so richtig.“ (P1/27)80
Es ist vielleicht für das bisher geschilderte Verhältnis zwischen dem JKV und der West-JGB bezeichnend, dass trotz der scheinbar unüberbrückbaren sozialisationsbedingten und politischen Mentalitätsunterschiede der Zwist von beiden Seiten unmittelbar nach der Vereinigung der beiden Berliner Gemeinden nicht zu einer finalen Eskalation getrieben wurde: Bemerkenswerterweise schlossen weder die JGB noch der JKV die faktisch bestehenden Doppelmitgliedschaften durch bestimmte Regelungen aus.81 Man kann also abschließend für diese Phase insgesamt sagen, dass sich beide Organisationen eine ‚angelehnte Tür‘ für die Nach-Galinski-Zeit ‚offenhielten‘. 76 I. Runge: „Ich glaube, er hat keinem [gemeint: unter den Ostberliner Juden; A. J.] so richtig getraut [...] – [...] Wir haben ihn gleich als den Mann akzeptiert. Er war immer korrekt und höflich, hat aber klar gemacht, daß er nichts mit uns zu tun haben will. Durch andere haben wir […es; A. J.] mitgekriegt“. Dies in: R. C. Schneider: Wir sind da!, S. 362 f. 77 Vgl. ebd. sowie E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 252. 78 Vgl. I. Runge nach C.-F. Röhrs in: ZEIT 02.03.2000. – Den Vorwurf mussten sich damals auch die religiös Progressiven gefallen lassen; vgl. Kap. II.1.4.4., S. 125 f. 79 Immerhin gehörten zu den Gründern und Förderern des Vereins verdiente SEDMitglieder (s. o.) und auch einige DDR-Funktionsträger wie z. B. der DDRStaatsminister a. D. Andreas Poetke; vgl. Röhrs, C.-F., in: ZEIT 02.03.2000. Poetke hat sich als Vorstandsmitglied und als Schatzmeister in den JKV eingebracht. 80 Gemeint ist die damalige Gemeindeopposition der ‚Demokratischen Liste in der RV der West-Gemeinde; vgl I. Runge in: R. C. Schneider: Wir sind das!, S. 362 81 Während heute sogar eine Doppelmitgliedschaft üblich ist; vgl. oben Kap. IV.2.3.
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2.5.2. Zweite Phase der Beziehung zwischen West-JGB und JKV: ein Annäherungs- und Kooperationsverhältnis In der zweiten Hälfte der 90er Jahre zeichnete sich eine positive Veränderung des Verhältnisses zwischen der offiziellen JGB und dem JKV ab. Die Entspannung zwischen beiden Organisationen vollzog sich für Außenstehende fast unmerklich, gerade da es zuvor ja, wie oben ausgeführt, zu keinem offen ausgetragenen Konflikt gekommen war. Die im JKV engagierte Auskunftsperson sieht dabei vielfältiger Ebenen der praktischen Alltagskooperation zwischen der West-Gemeinde und dem Ost-Verein, auf denen sich dies ergeben hätte: Demnach gäbe es „konkrete Anlässe wo alle gefragt sind, es gibt Anlässe wo man sich drauf verlässt, dass die Gemeinde das macht und wo es Absprachen oder wo man einfach mal nachfragt ob die was machen.“ (P1/7) Mit dem Amtsantritt von Nachama als JGB-Vorsitzender werden die Kontakte erstmals zur direkten Kooperationen. Nachama war dem Verein von Anfang an gewogen und hatte bereits vorher im JKV auf Veranstaltungen gesprochen.82 Wie bereits im Abriss der JGB-Entwicklung ausgeführt, war die damalige Phase davon geprägt, dass Nachama und seinen Mitstreitern überhaupt an einer Einigung bzw. Dialog mit Gruppen an der Peripherie oder außerhalb der Gemeinde gelegen war.83 Von nun an konnten die Kontakte im offiziellen Rahmen stattfinden. Jetzt sprechen Nachama und andere als Gemeindevertreter auf Veranstaltungen des Vereins. Auch kooperiert der Verein seitdem eng mit der Sicherheitsabteilung der Berliner Gemeinde. Dabei sei die mittlerweile sogar so weit gediehen, dass der JKV sich für bestimmte Veranstaltungen von der JGB auch Personal ausleihen würde. Aber auch „[...] wenn wir Probleme haben, sicher hören wir uns erst mal jemanden von der Gemeinde an, […] einer unserer Förderer ist Repräsentant [...] der Gemeinde, [...] also ohne ihn hätten wir [...] keinen Chanukka-Ball84 [...], der finanziert ungefähr die Hälfte der Kosten, das ist wahnsinnig teuer. [...]. [...] und da haben wir eben unsern Spender, unsern Sponsor, der dann, weiß ich woher, von andern Leuten mit viel Geld das Geld anschafft.“ (P1/27-28)
Aber auch der Kulturverein hatte nach Abschluss der Deutschland-, Berlinund gemeindebezogenen ‚Vereinigungsprozeduren‘ sukzessive Veränderungen vollzogen, die im Bezug auf sein Verhältnis zur west-dominierten JGB offensichtlich eine Rolle spielten: Einerseits wurde mit der Ausweitung der Vereinstätigkeit auf die jüdischen Zuwanderer aus den GUS-Staaten aus dem ‚DDR-Club‘ ein ‚Russen-Club‘ – wenigstens zur Hälfte. Andererseits trugen auch die Diskus82 I. Runge in: R. C. Schneider: Wir sind das!, S. 364 83 Zu diesen ganz verschieden Initiativen und Kreisen sind neben dem JKV z. B. die orthodoxen Austrittsgemeinde Addas Jisroel, die jüdische Homosexuellengruppe Yachad und der Egalitäre Minjan zu zählen; vgl. hierzu die gemeindegeschichtlichen Ausführungen in den Eingangs-Kap. II.2.2.3., S. 141 und 2.2.4. 84 Chanukka-Bälle entsprechen in jüdischen Einrichtungen und Gemeinden jahreszeitlich in etwa Weihnachtsfeiern ihrer christlich geprägten Pendants.
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sionen mit aufgeschlossenen West-Besuchern zur Binnendifferenzierung und Öffnung des Kulturvereins bei.85 Schließlich hat sich die ehemals während des NS-Regimes oder während der daran anschließenden DDR-Zeit politisch links sozialisierte jüdische Stammkundschaft des Kulturvereins ähnlich zu anderen Ostberliner Bürgern mittlerweile in der westdominierten gesamtdeutschen Realität eingerichtet – inklusive einer damit einhergehenden politischen Entpolarisierung (nicht Entpolitisierung!).86 Aber auch auf Grund nichtintendierter Nebenfolgen der dynamischen Mitgliederentwicklung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Berlins in den letzten eineinhalb Dekaden kam es teilweise zu einer Annäherung beider Organisationen: Lernprozesse in der mehrheitlich westgeprägten Gemeinde auf Grund der ‚Russifizierung‘ trugen zur Reduzierung des politisch-kulturellen Gefälles bei: Während bspw. der JKV schon seit langem den 8. Mai gemeinsam mit ‚seinen‘ oft ordensbehangenen ‚Russen‘ als Siegtag über den NS begeht, hat die Gemeinde erst später dieser Tradition übernommen.87 In der Summe der in diesem Abschnitt angeführten und dabei insbesondere von der JKV-Aktiven mit konkreten Beispielen illustrierten Aspekte der Kooperation zwischen der etablierten Gemeinde und ihrem weitgehend autarken Verein kann deutlich werden, welchen Grad an Normalität mittlerweile das beiderseitige Verhältnis erreicht hat. Der von ihr beiläufig erwähnte positive Zusammenhang zwischen dem vergleichsweise stabilen pluralen Gefüge der Gemeinde und deren entspannterem Verhältnis gegenüber gemeindeexternen jüdischen Gruppierungen88 scheint in dem mittlerweile recht stabilen Verhältnis zwischen der westgeprägten JGB und dem originär Ostberliner JKV seine Entsprechung gefunden zu haben. Diese Einschätzung wird von ihr ausdrücklich bestätigt, indem sie die mittlerweile erlangte Stellung des Vereins gegenüber der Gemeinde als Erfolg bilanziert: „Wir haben ganz sicher unseren Platz. [...] ich glaube diese lose Kooperation mit der Gemeinde ist ideal.“ (P1/28)
2.5.3. Exkurs: Brückenfunktion des Centrum Judaicum ins jüdische Berlin Schließlich muss noch die renommierte Forschungs- und Bildungseinrichtung Centrum Judaicum (CJ) als immerhin neben dem Kulturverein einzige aus DDRTagen stammende und mit jüdischer Thematik befasste Institution Ostteil Berlins in seiner Brückenfunktion für den JKV ins jüdische Berlin hinsichtlich einer 85 Hiervon konnte ich mir – selbst nichtjüdischer ‚Wessi‘ – bei mehreren Besuchen in den Räumlichkeiten des JKV, nicht zuletzt durch das zeitweise erregte, jedoch insgesamt sehr anregende Interview mit einer Vereinsaktiven ein eigenes Bild machen. 86 Zu dem letzten Punkt bemerkt I. Runge: „Die Leute hier sind nicht mehr so politisch, im Gegenteil, die halten sich eher fern, weil es schwer zu verstehen ist, was in Deutschland abläuft.“ Dies. in: R. C. Schneider: Wir sind das!, S. 365 87 Ebd. – Diesen Effekt gibt es natürlich auch – teilweise noch stärker – in vielen nahezu hundertprozentig ‚russisch‘ geprägten keinen bzw. Neu-Gemeinden. 88 Vgl. Kap. III.2.2.1., S. 265
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Klientel jenseits des Stammpublikums erwähnt werden. Sie befindet sich, wie erwähnt, in unmittelbarer Nähe zum Domizil des Kulturvereins in dem Seitengebäude der Neuen Synagoge ebenfalls in der Oranienburgerstraße. Das CJ verdankt seine Entstehung dem gleichen ‚judenfreundlichen‘ Klima der späten DDR wie die JKV-Vorgängergruppe ‚Wir für uns‘.89 Dr. Simon, der Leiter des CJ war von Kindesbeinen an in der Ostberliner Gemeinde groß geworden und in der späten DDR in deren Leitungsgremium vertreten. Beider Ost-Wurzeln bedeuten hierbei mehr als einen stadträumliche Nachbarschaft, wie die JGB-Aktivistin ausführt: „[...] und dadurch, dass wir uns ja alle kennen, [...] fast alle in einem Alter sind, das spielt ja auch eine Rolle. [...]“ – „[...] ich habe alles, was ich am Anfang gelernt habe, von ihm gelernt oder gehört.“ – „Ja das war DDR [gemeint: zeitlich; A. J.]. Und da war er für mich der Partner.“ (P1/28-29) Offenbar führte er ‚Quereinsteiger‘, wie die im JKV Engagierte, in die Ostberliner Gemeinde wie das Judentum überhaupt ein. Plastisch veranschaulicht die JKV-Aktivistin das offensichtlich eingespielte Kooperationsverhältnis zwischen JKV und CJ etwa im Falle von (versäumten) Terminabsprachen: „[…] dann rufe ich mal wieder an: und sage: ‚Mensch müsst ihr das denn machen?‘ Wir halbieren uns gegenseitig das Publikum, [...] es sind doch immer die gleichen 200 Leute, die kommen. Und das ist so, weil es nebeneinander ist [...]. Wenn das in Zehlendorf wäre, würde sich das überhaupt nichts nehmen.“ – „[...] das überlappt sich manchmal. Aber in der Regel versuchen wir, Dinge abzusprechen miteinander. Also von unserer Seite immer. Die anderen vergessen das mal, aber die rufen dann auch mal an.“ (1/28)
Auch einen Kooperation im Bereich geteilter ABM-Stellen wäre für die Zukunft denkbar. (Ebd.)
2.6. Pilot- und Vorbildfunktionen des JKV für andere jüdische Gruppenaktivitäten in Berlin und andernorts Aus der bisherigen Untersuchung des Kulturvereins sollte bereits seine vergleichsweise große Originalität im Rahmen des jüdischen Gemeinschaft Berlins deutlich werden. Im Zusammenhang mit der Gesamtperspektive der Studie stellt sich an dieser Stelle die Frage, in wieweit der JKV trotz oder vielleicht auch gerade auf Grund seiner beispiellosen Entwicklung Impulse für andere jüdische Zusammenschlüsse in Berlin außerhalb der JGB aber auch andernorts in Deutschland oder sogar im Ausland bietet oder bieten könnte. Offensichtlich erfüllt der Kulturverein mittlerweile zwei entscheidende innerjüdische Voraussetzungen dafür, für andere jüdischen Gruppenaktivitäten inspirierend zu wirken: Er besitzt • einen relativ hohen Bekanntheitsgrad • sowie ein gewisses Renommee. Vor diesem Hintergrund lassen sich ganz unterschiedliche Pilot- und Vorbildfunktionen des Kulturvereins für jüdische Basisinitiativen ausmachen lassen: 89 Zum CJ und seinem Entstehungshintergrund in der Spätphase der DDR vgl. das Einführungs-Kap. II.1.3.4., S. 111.
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Als wichtigstes Beispiel für einen Vorbildfunktion des Vereins gegenüber zukünftigen jüdische Initiativen benennt die im JKV Engagierte dessen langjährige Erfahrungen als jüdische Aktivität in der Rechtsform eines Vereins: „Wir können für die russischen [gemeint: russischsprachig-jüdischen; A. J.] Vereine, die es leider noch nicht gibt, ein Vorbild sein, dass wir ihnen sagen, wie man eine Satzung schreibt, und dass man ihnen sagt, dass es kein Geld gibt, und dass man ihnen sagt, es ist harte Arbeit. Zehn Jahre, jeden Tag arbeiten, dann kommt irgendwann die Anerkennung.“ (P1/40) Dabei lässt sich offenbar einen gewisse Desillusionierung der Interessenten nicht ausschließen: „Na ja, das sagen sie mal Leuten, die eigentlich einen Verein gründen, weil sie morgen Geld wollen und Anerkennung und einen Job.“ (Ebd.) Entsprechende Anfragen erhält der JKV im Übrigen nicht nur aus Berlin, sondern bundesweit. (P1/41) Ein weiteres Beispiel für die Weitergabe von Erfahrungswissen ist das Feld der Irrtümer der langjährigen Entwicklung des Vereins: „Ich glaube, wir können auch insofern Hilfe leisten, dass wir sagen können, [...] was bei uns nicht funktioniert hat. Wo wir also einfach Irrwege gegangen sind. Wir haben dann immer relativ schnell die Situation analysiert und abge-[brochen; A. J.].“ (P1/40)90 Die gerade auch außerhalb des Kulturvereins vielgelesene Vereinszeitung stellt ein weiteres, bereits in Kap. IV.2.4.4. kurz erwähntes Beispiel der Inspirationsquelle des JKV für andere jüdische Initiativen dar. Hierzu äußert sich die im Verein Engagierte, die selbst sehr stark die Außenkontakte pflegt, in einer aufschlussreichen Bemerkung: „Und zum Beispiel unser Blättchen ist das Vorbild für ein Blättchen in Koblenz, und für ein Blättchen in Petrosowozk..., unsere Zeitung. Ist doch auch rührend.“ – „In der Ukraine. Das ist eine kleine Gemeinde, und die haben dann auch so was gemacht wie wir. Und die in [Koblenz; A. J.], die machen jetzt das ‚Deutsche Eck‘ [...].“ (P1/41) Aus der anfänglichen Vorbildfunktion hat sich inzwischen sogar eine Zusammenarbeit zwischen beiden Gruppen in Form des gegenseitigen Austauschs von Autorenbeiträgen entwickelt: „Und die nehmen von uns auch Texte. Und der Chefredakteur dort, also ganz kleines Blättchen, der schreibt auch für uns. [...]“ – „Na ja, dass mal andere Leute schreiben, kompetente Leute. Der ist gut, der schreibt mal so über Israels Militärpotential und so was, so ein Experte. Und er schreibt auch auf Englisch [...]. Also ich krieg immer eine englische und eine russische Version, [...].“ – „Und für den bin ich jetzt gerade auf der Suche nach einem Computer, weil der keinen hat und da hoffe ich..., also da habe ich jetzt vielleicht was angeschoben in Koblenz.“ (P1/41-42)
Als letztes Beispiel einer Pilotfunktion des Kulturvereins soll dessen Weitergabe von Erfahrungswissen aus der Integrationsarbeit mit den russischsprachigen Zuwanderern angeführt werden. Dabei erfüllt der Verein diese Funktion längst auch
90 Das im Weiteren von ihr angeführte Referenzbeispiel ist das von ihr als „Flop“ bezeichnete, oben in Kap. IV.2.4.3., S. 455 f. zitierte Scheitern religiös egalitär orientierter jüdischer Frauen, im Kulturverein Raum für ihre Aktivitäten zu erhalten.
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über die jüdische Gemeinschaft hinaus auch für mit der Migration der jüdischen Zuwanderer aus den GUS-Staaten beschäftigte staatliche Stellen: „Und wir können sicherlich auch, und das haben wir auch angeboten, dem Zentralrat und allen, mit unseren wirklich ja weitreichenden Erfahrungen des Umgangs, der Integration von russischsprachigen Juden, da sind wir ganz sicherlich auch in der Lage, bedeutende Hinweise zu geben. Wir haben ja auch eine Broschüre gemacht, [...] für das Land Brandenburg. Ich glaube [...] einige sind dann auch nachgedruckt in andern Ländern, also angepasst mit den Rechtsvorschriften. Mit solchen Sachen glaube ich könnten wir auch helfen, weil wir natürlich da auch keine Illusionen haben, sondern wirklich eine Erfahrung von zehn Jahren was nicht geht und von unseren Vermutungen, warum Dinge nicht gehen. [...], das ist glaube ich sehr nützlich.“ (P1/40-41)
Bilanzierend kann festgehalten werden, dass auf Seiten des Kulturvereins die Bereitschaft zur Weitergabe der eigenen Erfahrungen gleichermaßen besteht wie das Bedürfnis bei jüdischen wie nichtjüdischen Institutionen zu deren Nutzung. Die ostdeutsche Herkunft des JKV scheint hierbei – reziprok zu den anfänglichen Schwierigkeiten in dessen Verhältnis zur Berliner Gemeinde – für die heutige Erfahrungsweitergabe gerade von Vorteil zu sein, nämlich auf Grund seiner sprachlichen und gesellschaftspolitischen Kompetenzen im Umgang mit den interessierten ‚Russen‘. Ein aufschlussreiches Detail am Rande stellt das Interesse deutscher Behörden an der JKV-Broschüre zur Einwanderung der jüdischen Kontingentflüchtlinge dar. Offensichtlich wird auch dort das akkumulierte Erfahrungswissen des Vereins längst (an-)erkannt und als Informationsquelle geschätzt. Als Prognose lässt sich aus den Aussagen der im Kulturvereins Engagierten in Übereinstimmung mit den Befunden aus den anderen Erhebungsgesprächen mutmaßen, dass insgesamt von Seiten interessierter jüdischer Gruppenaktivitäten das Bedürfnis an der Partizipation an den Erfahrungen des Vereins zunehmen wird. Dies wird insbesondere für den Fall gelten, dass jüdische Zuwandererkreise in Berlin und andernorts zukünftig vermehrt beabsichtigen sollten, jüdische Gruppenaktivitäten zu initiieren. Denn genau damit stellt der Kulturverein in seiner Langlebigkeit in der jüdischen Diaspora Deutschlands noch immer eher die Ausnahme dar. Voraussetzung hierfür ist allerdings die Fortexistenz des Kulturvereins in seiner gegenwärtigen Form – eine entscheidende Frage – um die es im letzten Abschnitt der Einzelfallstudie zum Kulturverein noch gehen soll. 2.7. Zukunftsperspektiven Nach allem kann davon ausgegangen werden, dass der JKV gegenwärtig an einer entscheidenden Zäsur seiner weiteren Entwicklung angelangt ist. Ähnlich hierzu sieht offenbar auch die Leitungsebene des Vereins dessen bisherige erfolgreiche Arbeit zur Disposition stehen. So schreibt ein Vorstandsmitglied jüngst in der Vereinszeitung: Die räumliche Situation ist davon bestimmt, dass der Verein zur Jahresmitte 2005 seine angemieteten Räume in der Oranienburger Straße verlassen musste und im benachbarten Alt- und Anbau der Neuen Synagoge untergekommen ist. Und wie oben erwähnt musste die ‚Korrespondenz im Sommer 2006
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eingestellt werden. Zu diesen ressourcenbedingten Schrumpfungen gesellen sich in den beiden folgenden Abschnitten behandelte Probleme im Wandel der Mitgliederstruktur wie auf inhaltlicher Ebene.
2.7.1. Probleme und Perspektiven der sich wandelnden Mitgliederstruktur Einen entscheidenden Knackpunkt für die Zukunft des Kulturvereins stellt die Frage dar, in wieweit es ihm gelingen wird, seiner drohenden Überalterung, die bereits oben in Kap. IV.2.3. behandelt wurde, entgegenzuwirken. Die im Verein Aktive äußert sich hierzu besorgt: „[...] unsere stabile Mitgliederschaft ist ja nun über 60.“ (P1/23) Dabei sei der Anteil der mittlerweile betagten und hochbetagten Besucher der JKV-Angebote recht hoch: „[...] inzwischen haben wir ja dauernd 90er Geburtstage und 80-Jährige und 75-Jährige. Und in fünf Jahren [...] ein Teil vermutlich, kommt nicht mehr her. Die 90-Jährigen, die jetzt noch brav zu Veranstaltungen kommen, werden eines Tages nicht mehr kommen.“ (Ebd.) als offensichtlicher Hinweis nicht nur auf die Überalterung, sondern ebenso auf den generationsspezifischen Erfolg des anfänglich als eine besondere Selbsthilfegruppe fungierenden Vereins. Als Folgen der Überalterung musste er in jüngster Zeit bereits drastische Änderungen in seinem Angebot vornehmen: 2003 wurde, wie bereits erwähnt, das religiöse Angebot deutlich heruntergefahren91 und aus „Altersgründen fand im Januar 2003 das letzte Treffen der ‚Auschwitzer‘ statt.92 Entsprechend wurde die Zahl der angemieteten Räume reduziert. Die angesichts dieser Problematik zentrale Frage für das Überleben des Vereins ist die, in wieweit es dem JKV gelingt, neue Aktivisten – und dies meint naheliegenderweise vor allem die Nachkommen seiner ostdeutschen Stammmitglieder – zu gewinnen. Die im Kulturverein Engagierte zeigt sich diesbezüglich wenig hoffnungsvoll. Sie sieht den JKV als ein Generationsprojekt: „immer für eine bestimmte Generation, die sich da findet“. (P1/24). In Kapitel II.2.4.3. waren bereits die besonders großen Vorbehalte der in der DDR aufgewachsenen Juden und Jüdischstämmigen mittleren Alters mit den religiösen Angeboten des Vereins aufgezeigt und analysiert worden. Sie führt weitere, lebensweltliche Aspekte an, weswegen die mittleren Jahrgänge trotz ihrer vagen Sympathien für den JKV, diesem mehrheitlich fernblieben: „Wenn sie politisch [...] aktiv sind, sind sie [...] in der Regel bei der PDS. Oder sie sind beruflich aktiv, das heißt sie haben zu tun, oder es interessiert sie nicht, und sie freuen sich, dass ihre Eltern einen Ort haben, wo sie hingehen können.“ (P1/26) Selbstverständlich würde dieses Milieu erst Recht die mehrheitlich west-geprägte JGB meiden (P1/23). Über das künftige Interesse dieser Gruppe ‚nichtjüdischer Juden‘ für den Kulturverein aus Kinder- und Enkelgeneration dessen Stammbesetzung spekuliert sie vorsichtig: „[...] vielleicht kommen die dann auch wenn sie 60 sind. [...] Aber dass muss man ab91 Vgl. oben das Ende des Kap. IV.2.4.3., S. 259. 92 Vgl. I. Runge in: JK 07/08.02.
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warten“. (Ebd.) Doch nur unter bestimmten inhaltlichen Voraussetzungen könnte sie sich im JKV einen ‚organisch‘ verlaufenden Generationswechsel vorstellen, wie im nächsten Abschnitt aufgezeigt werden soll.
2.7.2. Ein komplementäres Angebot im jüdischen Berlin die Fortexistenz des originär Ostberliner Vereins erscheint stark davon abhängig, dass es ihm auch in Zukunft gelingt, mit einem gegenüber originellen und auf bestimmte InteressentInnen abgestimmten spezifischen Angebot potentielle Klientel anzusprechen. Dies bedeutet vor allem, wie in den vorherigen Abschnitten ausgeführt, das Heranführen bestimmter, am Rand oder außerhalb der Berliner Gemeinde stehender ‚nichtjüdischer Juden‘ an ihr Judentum. In einer sehr eindringlichen Passage spricht die maßgeblich im JKV Engagierte die Risiken an, die mit dem Weiterführen des bisher erfolgreichen Konzepts für dessen zukünftige Entwicklung verbunden sind, in der sie darüber hinaus einen interessanten Verweis auf entsprechend defizitäre Angebote der jüdischen Gemeinde für randständigere Juden gibt. Diese Aussage soll wegen ihrer Bedeutung im Kontext der Ausführungen fast ungekürzt wiedergegeben werden: P 1: „[...] man muss es wirklich abwarten, auch ob wirklich die Notwendigkeit ist [das Angebot des JKV weiter aufrecht zu erhalten; A. J.]. Denn wenn zum Beispiel die Synagogen sich anders strukturieren, [...] also wenn die Gemeinde [...] offener wird für die [peripheren; A. J.] Mitglieder, dann werden vielleicht auch mehr Leute hingehen, dann werden die vielleicht auch Mitglied der Gemeinde werden. Aber wenn die Gemeinde ist wie sie ist, dann werden vielleicht mehr Gemeindemitglieder hierher kommen.“ – In.: „[…] Sie meinen, je offener die Gemeinde für die Bedürfnisse der Mitglieder ist, desto weniger Leute kämen dann vielleicht hierher, dass das für ihren Verein gar nicht so gesund wäre (…)“ – P 1: „Nein, ich glaube..., wenn dass der Zweck ist, ja ... . Also mein Zweck ist ja, den Juden die Rückkehr oder die Anbindung an [...] ihr Judentum zu ermöglichen. Wenn die Gemeinde das in dieser Form überhaupt nicht praktiziert, sondern die nimmt ja schon die fertigen Menschen [Hervorhebung A. J.] und auch nicht so Orte schafft, wie wir einer sind. Wenn die Gemeinde das hätte, [...] würden wir zwar keinen Freitagabend machen müssen.93 [...] dann könnten wir hier nur Kultur machen. Aber die Frage ist ja dann, braucht man dann einen jüdischen Kulturverein, um interessante Kulturveranstaltungen zu machen. Oder kann man da nicht ein beliebiger Verein sein, der dann auch gefördert wird, und da würde man die gleichen Veranstaltungen machen [lacht], von mir aus mit dem jüdischen Schwerpunkt. [...] mein Interesse ist natürlich, den Mitgliedern zur Seite zu stehen. Aber wenn wir eines Tages vielleicht keine jüdischen Mitglieder mehr haben, sondern nur noch nichtjüdische Freunde, dann verliert ja der Verein seinen Zweck.“ (P1/23-24)
Interessanterweise kann sich die JKV-Aktive den Wandel des Vereins in einen nichtjüdischen Treff zu jüdischer Thematik erstaunlich gut vorstellen, wie er in zwei der genannten Szenarien in den Bereich des Denkbaren gerückt wird:
93 Damit sind die oben in Kap. IV.2.2., S. 445 f. beschriebenen, vom JKV angebotenen Kabbalat-Schabbat-Gottesdienste mit anschließendem Kiddusch gemeint.
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„Und wenn es die [Juden; A. J.] nicht mehr gibt, dann muss man überlegen für wen man es macht. Und warum sollte man dann nicht ein Verein sein, der sich der Geschichte zuwendet oder von mir aus auch der Gegenwart und der Zukunft. Der [...] eine Galerie ist oder ein Café. [...] das ist hier alles möglich.“. (P1/24) Erleichtert wird ihr dieser Gedanke durch ihre am Ende des vorherigen Abschnitts angeführte Überzeugung des generationsspezifischen Charakters jüdischer Initiativen außerhalb der bestehenden Gemeindestrukturen. Als entscheidend für die künftige Fortexistenz des Kulturvereins erscheint also dessen Vermögen, ein nichtkonkurrentes Komplementärangebot zur etablierten Gemeinde und anderen jüdischen Organisationen in Berlin anzubieten, welches auf die sich wandelnde Klientel und deren Bedürfnisse an der Peripherie und außerhalb der JGB reagiert. Doch genau mit solcherlei Angeboten steht der Verein nicht zuletzt auf Grund der eigenen Pilotfunktion im jüdischen Berlin längst nicht mehr alleine da, wovon die in der Studie behandelten weiteren Gruppenaktivitäten zeugen. Diese für die Zukunft des Kulturvereins brisante Einschätzung wird von dessen Leitenden offensichtlich geteilt. So bemerkt die Vorstandsvorsitzende des JKV I. Runge im Hinblick auf eine mögliche Auflösung des Vereins auf Grund der Zunahme des Angebots im jüdischen Berlin nicht ohne einen gewissen Stolz ob der eigenen ‚Pionierarbeit‘: „Heute ist die Jüdische Gemeinde, sind weitere Berliner jüdische Einrichtungen mit vielen Angeboten für die jüdische Bevölkerung geöffnet. Es gibt Bildungsveranstaltungen, jüdisches Theater, Musik, Geschäfte. Der JKV hat die Vielfalt mit angeregt. [...] Kaum haben wir begonnen, schon sind wir Zeitzeugen in eigener Sache, und das in der Gewißheit, dass wir in einer historisch brisanten Zeit den Kopf nicht verloren, sondern deutsch-jüdische und Zeitgeschichte mitgeschrieben haben. Für vieles haben wir den Boden bereitet, für manches auch in religiöser Hinsicht.“ [Alle Hervorhebungen A. J.]94
2.7.3. Fazit Offensichtlich sind es zwei ineinander greifende Aspekte, die als entscheidende Parameter der Fortexistenz des Kulturvereins angesehen werden können: • einerseits generative Effekte des Gelingens oder Scheiterns eines kulturvereinsinternen Generationswechsels • und andererseits Komplementaritätseffekte des Andockens bestimmter jüdischer Kreise an den Verein auf Grund von Nischenangeboten, die sie nirgends sonst in der jüdischen Gemeinschaft Berlins erhalten können. Aus dem bisher Gesagten zu den Zukunftsperspektiven des Kulturvereins wird ersichtlich, dass sein absehbares Ende – jedenfalls als explizit jüdischer Verein – in den Bereich des Möglichen rückt, ohne dass dies als ein Indiz des Misserfolgs seiner 15-jährigen Arbeit gewertet werden sollte. Im Gegenteil, kann dies doch als Folge einer von ihm mitangestoßenen und gewünschten Entwicklung im heutigen jüdischen Berlin gelesen werden: und zwar der Entstehung jüdischer Initia94 I. Runge in: JK 07./08.02
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tiven und Aktivitäten außerhalb der Berliner Gemeinde mit Komplementärangeboten für die er als eine Art Pilotprojekt fungiert (s. o.) bezeichnet werden kann. Diese Möglichkeiten der künftigen Entwicklung scheinen innerhalb des Vereins durchaus bewusst zu sein: „[...] entweder der Verein hat sich erledigt, erübrigt, weil er eben doch ein Produkt der Wende ist, was ich manchmal denke, in dieser Struktur [...], mit der Altersgruppe. Oder aber es braucht diesen Verein in dieser Stadt, [...] dann wird er auch überleben.“ (P1/23) Insgesamt lassen sich demnach drei alternative Szenarien als mögliche Perspektiven der zukünftigen Entwicklung des noch mehrheitlich jüdischen Kulturvereins umreißen: • Entweder der JKV löst sich in absehbarer Zeit auf. • Oder er wandelt sich in einen zur Mehrheit aus Nichtjuden bestehenden Kulturverein um. • Oder aber es gelingt ihm, säkular orientierte Nachkommen der betagten DDR-Gründergeneration als feste Mitglieder sowie einige von ihnen und aus der Gruppe der Russischsprachigen als Aktive zu gewinnen.
3 . D e r jü d i s c h e S tu d e n te n b u n d B e r l i n „[...] wenn man sich mit dem Judentum irgendwie auseinandersetzen möchte von sich aus oder auch mit jüdischen Leuten zusammen sein, dann sind wir die Anlaufstation dazu.“ (P12/22)
3.1. Ausgangssituation Beim ,Jüdischen Studentenbund Berlin‘ (im folgenden mit JSB abgekürzt) handelt es sich um eine Gruppenaktivität, die in vielfacher Weise einen Kontrapunkt zu der überwiegenden Mehrzahl der übrigen in der Studie behandelten BasisInitiativen darstellt: So ist sie nicht wie die meisten anderen untersuchten Aktivitäten außerhalb, sondern in organisatorischer und räumlicher Anbindung im Peripheriebereich der Berliner Gemeinde angesiedelt. – Darüber hinaus liegt ihre Entstehungszeit Jahrzehnte vor den übrigen Gruppenaktivitäten, die alle in oder um die Dekade zwischen 1990 und 2000 gegründet wurden. – Schließlich ist die studentische Initiative Bestandteil eines traditionell organisierten Dachverbandes, der aus bundesweit vernetzten Regionalgruppen besteht und dessen Leitungsgruppe ebenfalls ihren Sitz in Berlin hat. Aus den genannten Unterschieden zu den im Zentrum der Erhebung stehenden neueren peripher oder außerhalb zur JGB stehenden jüdischen Basis-Initiativen wird der JSB diesen gegenüber in der Systematik der Untersuchung als ,Kontrastfolie‘ behandelt. 3.2. Formale und inhaltliche Aspekte (1) Formale Ebene Auf bundesweiter Ebene begannen sich jüdische Jungakademiker erstmals 1960 zu organisieren. 1968 entstand der Bundesverband jüdischer Studenten (im Fol-
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genden mit BJSD abgekürzt).95 In den späten 60er Jahren entstand bereits der Berliner Landesverband. Zwischen beiden Gruppierungen besteht eine enge räumliche und personelle Verbindung, schließlich teilen sie sich die gleichen, von der Berliner Gemeinde zur Verfügung gestellten Räume (s. u.). Aber auch inhaltlich und bei der Durchführung öffentlicher Aktionen kommt es häufig zu Kooperationen zwischen den beiden in der Hauptstadt ansässigen VerbandsGliederungen. Außerdem nehmen Mitglieder des JSB und anderer Landesverbände (LVs) an Veranstaltungen und Seminaren des Bundesverbandes teil.96 Darum werden hier zunächst die entsprechenden Aspekte des BJSD in die Darstellung der formalen und inhaltlichen Charakteristika des JSB eingeflochten. Trotz stetigen Wachstums sieht sich der BJSD auch mit handfesten strukturellen Problemen konfrontiert: Eine große Herausforderung stellen die nach wie vor noch schwach ausgeprägten Strukturen des Verbandes in Ostdeutschland dar.97 Ein weiteres schwerwiegenderes Problem stellt die mangelnde finanzielle Unterstützung des Verbandes durch den Zentralrat dar. So kritisierte der aus dem BJSD heraus 2003 zum Präsidenten der europäischen Dachorganisation EUJS gewählte Julian Voloj den ZdJ für die chronische Unterfinanzierung der deutschlandweiten jüdischen Studierendenvertretung. Dies würde sich in relativ schwachen Vernetzungsstrukturen des BJSD mit den einzelnen Landesverbänden niederschlagen und hätte teufelskreisartig eine weitere Unterfinanzierung zur Folge.98 Daher wird auf Verbandsebene verstärkt an Fundraising-Konzepten gearbeitet.99 Andere Schwierigkeiten, wie etwa noch vor einigen Jahren die mangelnde Kontinuität der Verbandsarbeit durch hohe Fluktuation und starke Beanspruchung der jährlich wechselnden Vorstände, erinnern sehr stark auch an andere, nichtjüdische Studierendenorganisationen. Der JSB ist der regionale Zusammenschluss von in Berlin sowie umliegender Städte Brandenburgs eingeschriebenen und/oder wohnenden jüdischen Studie95 Er wuchs bis Ende der 90er Jahre auf etwa 1500 Mitglieder an; vgl. E. Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung, S. 43 sowie A. Roth/M. Frajman: Jüdisches Berlin heute, S. 54. 96 Als größte Veranstaltung dieser Art organisiert der Dachverband seit 2002 alljährlich die sog. ,Jewish Winter University‘ mit hochkarätigen ReferentInnen zu verschiedenen aktuellen Themen unter dem Oberbegriff „Was ist Judentum?“, bei denen es dem Anspruch der studentischen Veranstalter darum geht, Judentum als „Diskussionskultur“ zu leben, „Tabus [zu] brechen und warten was passiert“; so der damalige BJSD-Vorsitzende und Mitinitiator der ersten Winteruniversität in Würzburg Uriel Kashi; zit. nach: Michael Olmer: „Heilig, revolutionär oder modern?“, in: JA 17.01.02. – 2004 richtete der BSJD auch eine ,Summer University‘ für den Europäischen Dachverband jüdischer Studierender aus – erstmals in Deutschland. 97 Von Berlin aus versucht er für diese, bislang ohne eigenen LV – eine Basisversorgung aufzubauen; vgl. Heide Sobotka: „,Ich bin Zionistin‘“, in: JA 05.08.04 98 Vgl. exemplarisch für andere BSJD-VertreterInnen Julian Voloy: „Wir sind viel weiter als die EU“, in: JA 13.02.03 99 Vgl. Heide Sobotka: „Man darf nicht das Große vor dem Kleinen beginnen“, in: AJW 02.08.01
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renden. Er ist für Interessierte im Alter zwischen dem 18. und dem 35. Lebensjahr offen.100 Von den ca. 2000 jüdischen Studierenden in Berlin erreicht der JSB etwa 500 Interessierte, von denen wiederum etwa 300 eingetragene Mitglieder sind.101 Unter den aktiven wie passiven Mitgliedern sind nach Herkommen diejenigen aus den GUS-Staaten mit etwa 2/3-Anteil deutlich in der Mehrheit.102 Das Geschlechterverhältnis ist zahlenmäßig in etwa ausgewogen. (P18/16) Der jährlich neu gewählte JSB-Vorstand besteht inklusive dem/der Vorsitzenden aus fünf bis acht Mitgliedern. Er spiegelt in der Zusammensetzung nach den o. g. Kriterien mittlerweile in etwa diejenige der gesamten Gruppe wieder.103 Der JSB teilt sich mit dem BJSD die etwas dunklen und beengten Räume im Kellergeschoss der orthodoxen Gemeindesynagoge in der Joachimstalerstraße.104 (2) Inhaltliche Ebene Die grundsätzliche Aufgabe sehen der BJSD ebenso wie seine Berliner Sektion zweifelsohne in der innerjüdischen Integrationsarbeit. Diese Bemühungen zielen seit den frühen 90er Jahren insbesondere auf jungen Juden aus dem Zuwanderermilieu. zwei thematische Bereiche stehen dabei im Vordergrund105: Einerseits wollen die beiden Gruppen jungen Zuwanderern dabei behilflich zu sein, in Deutschland eine jüdische Identität zu entwickeln. Ein zweites Aufgabenfeld sehen sie traditionell darin, einen positiven Bezug zu Israel zu vermitteln.106 Das inhaltliche Programm des JSB wird von Vorständen und aktiven Mitgliedern monatlich ausgearbeitet. Die vielleicht wichtigste interne Veranstaltung ist der regelmäßig am letzten Freitag im Monat durchgeführte Kabbalat Schabbat mit anschließendem Kiddusch in den Gruppenräumen. An diesen religiös geprägten Freitagabendtreffen nehmen meistens etwa 50 JSB-Mitglieder teil. Auch ein sog. ,Open Beit Midrasch‘, eine Art Bibelkreis mit dem orthodoxen Gemeinderabbiner Y. Ehrenberg, führt die Berliner Studierendengruppe in ihrem Angebot. Im Themenbereich zwischen Religion und Freizeit ist der Kochkurs ,Der JSB 100 Vgl. ebd. Geregelt sind diese Bestimmungen in der Satzung des jüdischen Studentenbundes. 101 Alle genannten Zahlen nach H. Sobotka in: JA 05.08.04 die befragte JSBAktivistin gibt die Zahl der JSB-Mitglieder mit 400 an. (P12/11) 102 Nahezu übereinstimmend (P12/13) sowie M. Olmer in: JA 22.04.04. 103 Vgl. hierzu genauer die unten in Kap. IV.3.3.2., S. 476 angeführten Bemerkungen der im JSB Aktiven (P12/13). 104 Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kap. IV.7.2. S. 524 zur ehemaligen Gruppe Kesher, die sich, als von israelischen Studierenden begründet, ebenfalls in den Kellerräumen der beiden jüdischen Studierendenorganisationen getroffen hatte. 105 Vgl. Michael Olmer: „Nicht nur Schabbat feiern“, in: JA 22.04.04 106 Der BJSD initiierte 2002 in Berlin maßgeblich ein ,Forum für Israel‘ als Netzwerk vor allem für hier lebende jüdische Jugendliche und junge Erwachsene, die sich mit Israel aktiv solidarisch zeigen wollen, wie es sie in den großen angelsächsischen Diaspora-Gemeinschaften schon länger Zeit gibt. Vgl. Anke Ziemer: „Jung, jüdisch, politisch aktiv“, in: JA 07.11.02. Das Forum ging am 14. Juni 2002 erstmals in Berlin auf die Straße mit einem Info-Stand am Kurfürstendamm; vgl. JA 20.06.02.
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kocht gefillte Fisch‘ angesiedelt. Ebenfalls auf der gruppeninternen Ebene setzt bereits die intensive Beschäftigung mit Israel an. Dabei ist der Nahost-Konflikt nur einer von mehreren Themenschwerpunkten der Gruppenarbeit zu Israel mit Themen wie Kultur, Theater, Musik, Leben im Kibbuz oder Israel als HighTech-Land.107 Darüber hinaus bieten die Studierenden im Rahmen ihrer IsraelArbeit speziell für Interessierte Hebräisch-Intensivkurse an. Die Beschäftigung mit der über die hiesige jüdische Gemeinschaft hinausreichenden gesellschaftlichen Situation in Deutschland wurde erst in jüngster Zeit als weiteren Arbeitsschwerpunkt gewählt. Hierzu äußert das JSB-Vorstandsmitglied Alfred Goldenberg: „Nur in Form einer direkten Beteiligung am öffentlichen Diskurs könne man ,Brücken schlagen zur nichtjüdischen Welt‘, was eine Bedingung für junge Juden sei, damit sie es cool finden hier in Berlin und bewußt als Juden leben können“.108 So besucht der Studentenbund auch für ihn interessante politische Diskussionsveranstaltungen etwa der Berliner Bildungseinrichtung Urania. (P12/23) Außerdem stehen auch gemeinsame Sportaktivitäten wie Schwimmen, Go-Kart fahren und Golf spielen auf dem Programm. (P12/22) Schließlich ist der JSB auch in der jüdischen wie nichtjüdischen Öffentlichkeit mit Aktionen präsent: So führt die Vertretung der jüdischen Studierenden in Berlin alljährlich am 19. April, am sog. ‚Jom Haschoa‘, dem Jahrestag des Warschauer Ghettoaufstands von 1944, mit etwa fünf bis zehn Mitgliedern eine Namenslesung für die 55.696 vom NS-Regime ermordeten Berliner Juden vor dem Gemeindehaus in der Fasanenstraße durch.109 Bei Jüngeren im jüdischen Berlin ist die jüdische Studierendengruppe darüber hinaus mit den ebenfalls von ihr regelmäßig ausgerichteten großen Tanzbällen präsent, die sie im Frühjahr zu Purim und im Spätjahr zu Chanukka ausrichtet. Diese beliebten Großveranstaltungen sind mit meist mehreren hundert Gästen durchweg sehr gut besucht.110 Der Standort Berlin wird über die JGB hinaus von der im JSB Engagierten zur Etablierung einer jüdischen Studentengruppe etwas günstiger eingeschätzt gegenüber anderen Städten: „Also in zweierlei Hinsicht. Erstens, weil das in Berlin, was Judentum angeht, sehr viel historischer ist als wie eine [...] Stadt irgendwo. Und zweitens [...] kann man das Programm sehr viel attraktiver gestalten für die Mitglieder.“ So benennt sie vielfältige Betätigungsmöglichkeiten etwa im Sportbereich (s. o.) oder die Kontaktmöglichkeiten zu anderen inner- wie außerjüdischen Institutionen (s. u. Kap. IV.3.5.) Allerdings hätte dieser Vorzug auch eine Schattenseite: Auf Grund der starken Konkurrenz durch andere ‚Verlockungen‘ muss der JSB sich bemühen, seinen Mitgliedern einiges zu bieten.
107 Angaben nach der ehemaligen JSB- und BJSD-Vorsitzenden sowie überzeugten Zionistin Lena Eyngorn; zit. nach H. Sobotka in: JA 05.08.04 108 Zit. nach A. Olmer in: JA 22.04.04 109 Ebd. 110 Ebd.
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3.3. Integrative und weitere gruppeninterne soziale Prozesse 3.3.1. Das Andocken der JSB-Aktivistin an die Gruppierung Wie oben im Motto-Zitat der JSB-Aktiven bereits benannt, sind es zwei Motive, weswegen sich junge Juden ihm anschließen: nämlich um sich mit dem Judentum auseinanderzusetzen sowie aus Suche nach Geselligkeit unter Juden. Besonders interessant erscheint hierbei ihr Bericht ihres eigenen Andockens an die Gruppe. Demnach ist die Vorbereitungsphase eines BJSD-Straßenfests das Schlüsselerlebnis ihres späteren JSB-Beitritts: Damals, kurz nach ihrem Abitur, wurde sie von einem ihr aus dem Jugendzentrum bekannten Jugendleiter angesprochen, ob sie bei der Vorbereitung des Festes mithelfen wollte. Er fragte außerdem noch andere ihr aus dem JUZ bekannte Gleichaltrige, die auch einwilligten: „[...] da habe ich halt [...] geholfen bei der Planung und es hat ziemlichen Spaß gemacht, weil [...] ich mag es, zu organisieren und zu planen bisschen“. (P12/9) Ein weiterer Faktor erleichtert ihr zusätzlich das Andocken an den JSB: „Also ich war ja nicht die einzige, die geholfen hat, aber da waren schon mal ein paar Leute. Und [...] da gab es ziemlich viel zu tun auch mit Presse und, keine Ahnung was und organisieren. Und da waren wir wirklich tagelang zusammen. Und das schweißt schon irgendwie zusammen, wenn die wirklich an etwas arbeiten, was sie auch mögen.“ (P12/10) Die Clique tritt geschlossen in den JSB ein, auch wenn sie durch die o. g. Festvorbereitungen zunächst vor allem ältere Studierende des Bundesverbandes kennen lernten. Doch rasch können sie im Berliner Verband Kontakte zu anderen Jungakademikern knüpfen. Die frisch im JSB aktive entschließt als einzige der Clique zu den jährlich stattfindenden Vorstandswahlen anzutreten und wird darauf auch prompt in den fünfköpfigen Vorstand gewählt. Später übernimmt sie – mittlerweile Publizistikstudentin – für eine Legislaturperiode auch den Vorsitz des Gremiums. In dieser Schilderung des Eintritts der JSB-Aktivistin in dien Studentenbund werden drei bedeutsame Charakteristika der Gruppe deutlich: • eine relativ starker Austausch zwischen dem JSB und dem JGB-Jugendzentrum; • eine niedrigschwellige Zugangsmöglichkeit zu der Studierendengruppe • ein vergleichsweise rasches und unkompliziertes Kontakte Knüpfen über die Gruppe und in ihr. 3.3.2. Integration nach Herkommen und weitere Motive des Gruppenzusammenhalts Wie bereits in Kap. IV.3.2. für den Bereich formaler Aspekte des JSB angeführt, überwiegen in der studentisch geprägten Gruppe die aktiven Mitglieder mit russischsprachigem bzw. osteuropäischem Herkommen bzw. Familienhintergrund. Die JSB-Aktive betont, dass dieser Herkunftskreis ein weites Spektrum darstellt, da einige in den Staaten der ehemaligen SU geboren und/oder aufgewachsen sind, während andere Berliner, aber aus Familien mit sowjetischem Hintergrund
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abstammen. Auch der JSB-Vorstand war bis vor einigen Jahren noch durchgängig von den Russischsprachigen dominiert. Diese zweifache Majorität der ,Russen‘ brachte in dem Berliner Studentenbund das Problem der Separierung durch Sprache mit sich. Da im JSB mehrheitlich Russisch gesprochen wurde, mieden viele Nichtrussischsprachige den eigentlich für alle jungen Juden offenen Berliner Studentenbund. Daher hatte der JSB bis noch vor einigen Jahren in jüdischen Kreisen „das Image eines ,Russentreffs‘“.111 Allerdings hätte sich nach Auskunft der maßgeblich im JSB Engagierten die Situation grundlegend zum Positiven verändert: Die jährlich wechselnden Vorstände der Gruppe seien nun nach Herkunft gemischt, also auch z. T. mit aus Deutschland oder Israel stammenden Kommilitonen besetzt, berichtet das befragte Vorstandsmitglied erfreut – als eine selbst im Kindesalter russischsprachig nach Berlin Gekommene. Ein noch weitreichenderer positiver Wandel als Folge dieser Veränderungen auf Vorstandsebene sei ihrer Meinung nach die deutliche Zunahme des Gebrauchs der deutschen Sprache unter den JSB-Mitgliedern aus dem Zuwanderermilieu; gruppenintern hätte sich das Deutsche mittlerweile durchgesetzt: „Also vor allem ich und auch die anderen [offensichtlich: Vorstandsmitglieder; A. J.] haben darauf bestanden, dass [...] man schon auch bei den Events und auch anderen Sachen vorrangig oder nur Deutsch spricht, weil auch die Russischsprachigen können Deutsch, aber die Deutschen können nicht Russisch.“ (P12/14) Jenseits einer das unterschiedliche Herkommen der JSB-Aktiven überbrückenden gemeinsamen Sprachebene stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Religiösen als Ebne der gruppenimmanenten Gemeinschaftsbildung. Zunächst konstatiert das Vorstandsmitglied eine breite religiöse Vielfalt im JSB: „Also es sind schon ab und zu Leute da, die streng religiös sind. Es sind Leute da, die gläubig sind, sag' ich mal, und traditionell leben, ein paar mehr oder weniger religiös und traditionell, ein paar gar nicht. So und das ist natürlich sehr schwer zu erklären, weil es gibt so viele Abstufungen. Es gibt kein Schwarz/Weiß, sondern es gibt Tausende von Facetten.“ (Ebd.)112. Das gemeinsame religiöse Erleben über die unterschiedliche religiösen Orientierungen hinweg wird bei den Schabbat-Abenden außerdem dadurch begünstigt, dass sie öfters Berliner Rabbiner von orthodox (Y. Ehrenberg) bis liberal (W. Rothschild) einladen. Am häufigsten ist der orthodox orientierte Chabad- und JGB-Jugendrabbiner J. Teichtal zu Gast. Der JSB-Aktive diese auf Grund der pluralen Berliner Einheitsgemeinde mögliche Abwechslung als positiv. Ab und an werde in der Gruppe zwar über die unterschiedlichen Auffassungen zu religiösen Fragen diskutiert, aber „[...] ich habe noch nie auch eine winzig kleine Streitigkeit gehört. Noch nie.“ (P12/15) Gemäß dem jüdischen Brauch werde das im Anschluss an die Schabbat-Feier stattfin-
111 H. Sobotka in: JA 05.08.04 112 Die aus dem JSB Berichtende schätzt sich selbst an anderer Stelle des Interviews als eher atheistisch eingestellt ein (P12/5).
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dende Kiddusch-Esssen von Gruppenmitgliedern koscher zubereitet. Dabei verläuft das gemeinsame Speisen und das anschließende gesellige Beisammensein üblicherweise in „angenehmer, lockerer Atmosphäre“ (P12/16) Über die jeweilige persönliche religiöse Orientierung hinweg, steht bei den aktiven JSB-Mitgliedern „der Kontakt zu anderen“, „ein Beisammensein“, also „Gemeinschaft an sich“ (P12/14-15) als das verbindende Element der Gruppe eindeutig im Mittelpunkt. Dabei ist der Studentenbund altersspezifisch auch eine bedeutsame innerjüdische ,Kontaktbörse‛, um „Freunde für ‘s Leben [...] oder die Liebe seines Lebens“ (P12/21) zu finden. Allerdings teilt sich der Berliner Studentenbund diese Funktion mit den o. g. Aktivitäten des Bundesverbandes. Schließlich bieten dessen deutschlandweite sowie ins Ausland führenden Angebote genügend Gelegenheit für seine aus dem JSB und anderen Regionalgruppen kommenden Mitglieder, jüdische Studierende aus anderen Städten kennen zu lernen bzw. ihnen näher zu kommen, wie die JSB-Aktivistin bestätigt: „da gab es auch schon Geschichten, dass Leute von verschiedenen Städten natürlich zusammengekommen sind, und da gab es Fernbeziehungen ohne Ende.“ (P12/21)
3.4. Gemeindebezug Der JSB ist die Berliner Sektion des deutschlandweiten jüdischen Studentenverbandes und zugleich ein Bestandteil der jüdischen Gemeinde in Berlin. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Studentenbund in der Nähe und in Abstimmung mit anderen Bereichen der JGB agiert. Dies zeigt sich bereits in der Wahl seiner Räumlichkeiten in Kellerräumen der Gemeinde. Weitere bereits genannte Indizien lassen den JSB als in das Gemeindeleben geradezu eingebettet erscheinen: So wurde bereits oben in Kap. IV.3.3.1. das Jugendzentrum in seinen personellen Überschneidungen und als Rekrutierungspool für den JSB benannt. Die von der Befragten geschilderte enge Zusammenarbeit mit den Gemeinderabbinern kann ebenfalls als Ausdruck dieser Anbindung des Studentenbundes an andere Bereiche der JGB gewertet werden. Und die von der studentischen Gruppe am Mahnmal vor dem Gemeindehaus alljährlich abgehaltene Gedenkveranstaltung für die während der NS-Zeit umgekommenen Berliner Juden weist ihr quasi einen Ehrenplatz im Gemeindegeschehen zu. So bemerkt auch M. Olmer über den Berliner Studentenbund: „Als studentische Vereinigung der Berliner Gemeinde sind die JSB-Aktivitäten vom Gemeindegeschehen nicht zu trennen.“113 Ein regelmäßiger Kontakt zu einer bestimmten Gemeindeeinrichtung ergibt sich, wie oben bereits im Abschnitt zum Andocken an den JSB ausgeführt, zum ebenfalls in dem Gebäude der orthodoxen Synagoge ansässigen Jugendzentrum Olam. Die Möglichkeit, aus dieser Einrichtung für Jüngere immer wieder an Nachwuchs zu gelangen, wird über die räumliche Nähe hinaus immer wieder durch personelle Überschneidungen zwischen Leitern und Jugendgruppenleitern des Jugendzentrums und deren Mitgliedschaft in dem jüdischen Studentenbund 113 A. Olmer in: JA 22.04.04
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erleichtert. Zuletzt war bis in den Sommer 2004 ein Leiter des Jugendzentrums zugleich für die Öffentlichkeitsarbeit der Studierendengruppe zuständig.114 Auch die erwähnten regelmäßigen Besuche verschiedener Gemeinderabbiner zeugen von der Kontinuität der konkreten Kontakte zu anderen Bereichender JGB. Bei einer ersten Betrachtung der Bedingungen dieser gemeindenahen Konstruktion lassen sich zunächst fast ausschließlich Vorteile für den JSB ausmachen: An erster Stelle sind dabei die hohe Bekanntheit und die damit günstige Rekrutierungsbasis (ähnlich dem Jugendzentrum) zu nennen, welche die Integration in die Gemeindestrukturen der studentischen Gruppe bietet: So hat sich die Initiative ich einen Platz im Gemeindegeschehen erarbeitet.115 Außerdem ist der Gruppentreff in den gemeindeeigenen Kellerräumen in der Joachimstaler Straße zentral und verkehrsgünstig in der westlichen Berliner City gelegen. Jedoch sind mit dieser für eine studentische Gruppierung sehr ungewöhnlichen räumlichen (!) ,Einbettung‛ unter dem Dach der jüdischen Gemeinde für sie auch einige erhebliche Nachteile und Probleme verbunden: So ist die Örtlichkeit des Gruppentreffs im Souterrain unter der im Hinterhof gelegenen Synagoge Joachimstaler Straße zugleich auch mit einem schwerwiegenden Manko verbunden: Im Gegensatz zu unzähligen anderen studentischen Initiativen in Berlin, sind die Räume des JSB-Treffs nicht frei zugänglich, denn sie sind nur durch eine mit Sicherheitskräften der Gemeinde besetzte Pforte im ebenfalls gemeindeeigenen und rund um die Uhr von Polizeikräften bewachten Vorderhaus zu erreichen. Der Schutzraum Gemeinde gegenüber möglichen antisemitischen Übergriffen erweist sich damit umgekehrt als eine gewisse Abgeschottetheit.116 Ein ,Reinschnuppern‘ oder flüchtiges ,Vorbeischauen‘ wie bei vielen anderen studentischen Gruppen, aber auch den meisten der untersuchten jüdischen Gruppenaktivitäten, erscheint hier gar nicht möglich.117 Ein anderes Problem stellt die finanzielle Abhängigkeit des JSB von der Berliner Gemeinde dar: Ähnlich der von seinen SprecherInnen beklagten zu geringen Unterstützung des BJSD durch den Zentralrat118 hängt auch der JSB am ,Tropf‘ der JGB. Schließlich zahlen keine 10 % der im E-Mail-Verteiler der Gruppe aufgenommenen jungen Erwachsenen Mitgliedsbeiträge.119 Angesichts der finanziell prekären Situation der Gemeinde fallen auch deren Zuschüsse für den JSB immer geringer aus, ohne dass ein Ende dieser Misere absehbar ist.120
114 Vgl. ebd. sowie Detlef D. Kauschke: „Jugendzentrum selbstverwaltet“, in: JA 04.11.04. 115 Vgl. die Ausführungen zur inhaltlichen Arbeit der JSB im Kap. IV.3.2., S. 473 f. 116 Vgl. zu der Antisemitismus- und Sicherheitsproblematik des JSB näher im entsprechenden Kap. III.4.2.2., S. 400 f. 117 Dieses Problem äußerten mir gegenüber auch Jugendliche, die das jüdische Jugendzentrum im gleichen Gebäude der Gemeinde besuchen. 118 Vgl. zur finanziellen Situation des BJSD oben in Kap. IV.3.2., S. 472. 119 Vgl. Natalie Kon: „Studentenverbund vor der Auflösung?“, in: JA 21.07.05. 120 Vgl. A. Olmer in: JA 22.04.04.
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Die Kritik der chronischen Unterfinanzierung wird von nahezu allen Verantwortlichen der Bundesebene der Berliner Sektion des Studentenverbands in den letzten Jahren mit dem die Gemeinden in Deutschland kritisierenden Hinweis verknüpft, dass es außer den jüdischen Studierendengruppen kaum Angebote für junge jüdische Erwachsene in Deutschland gäbe.121 Diese Einschätzung wird von der Berliner JSB-Aktivistin ausdrücklich geteilt: „Die [Altersgruppe; A. J.] decken wir mit unter anderem, alleine fast ab. Leider, hier in Berlin. Es gibt natürlich jetzt Sportvereine, aber ansonsten.“ (P12/21)122 In diesem Sinne stellte bereits vor Jahren die damalige Bundesvorsitzende und seit Anfang 2005 zur Vorsitzenden des Weltverbandes jüdischer Studierender gewählte Victoria Dolburd die Bedeutung der jüdischen Studierendenvertretungen in Deutschland für die generationsspezifische Vermittlung jüdischer Kultur und Religion an junge Erwachsene innerhalb der hiesigen Diaspora heraus. So betonte sie damals in einem JA-Artikel, dass ohne diese Vermittlungsarbeit gerade diejenigen alleingelassen seien, derer die hiesige jüdische Gemeinschaft als Nachwuchskräfte dringend bedürfte: „Vorher durch Kinder- und Jugendgruppen in die Gemeinden integriert, seien es doch gerade sie, die in der jüdischen Gemeinschaft nach ihrem beruflichen Abschluss Aufgaben übernehmen sollten.“123 Ohne die studentische Arbeit würde vielfach die Verbindung zur jüdischen Gemeinschaft abbrechen. Diese solitäre Stellung des JSB (wie auch der anderen LVs des BJSD) dürfte nolens volens zu deren Überforderung, unter dem Konkurrenzdruck außerjüdischer Freizeitangebote, für Studierende und andere junge Erwachsene führen. So verwundert es kaum, dass die aus dem JSB berichtende Berliner Studentin auf die Frage nach ihren Wünschen für die Zukunft an erster Stelle anführt: „Auf jeden Fall viele oder mehr Aktivitäten für die Jugendlichen.“ (P12/34) Die Summe der hier genannten Aspekte zeugt von den wachsenden Problemen, die sich für langjährig erfolgreiche Einrichtungen und institutionelle Konstruktionen im jüdischen Berlin unter den gewandelten gegenwärtigen Bedingungen ergeben können. Hierauf wird noch im übernächsten Abschnitt (Kap. IV.3.6) zu den Zukunftsperspektiven des JSB rückwirkend Bezug genommen.
3.5. Beziehung zu anderen Gruppen und Institutionen Schließlich gilt es aufzuzeigen, mit welchen anderen Gruppierungen oder Einrichtungen außerhalb der Berliner Gemeinde die Studierenden-Gruppe Kontakte besitzt. Dieses Thema wird von der JSB-Aktivistin vor allem im Zusammenhang mit ihren Betrachtungen über die vielfältigen Möglichkeiten, die sich für die Arbeit der studentischen Gruppe am Standort Berlin eröffnen, thematisiert. 121 Vgl. das Zitat der JSB-Aktiven am Ende der Seite zu ihren Zukunftswünschen. 122 Eine der wenigen Ausnahmen stellt seit einigen Jahren – allerdings ausschließlich für junge Zuwanderer – der von der Zentralwohlfahrtsstelle unterstützte Club Bnej Israel im Ostteil der Stadt in der Oranienburger Straße dar. Hier treffen sich regelmäßig etwa 20 junge Erwachsene. 123 H. Sobotka in: AJW 02.08.01
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Als Beispiel für innerjüdische Kooperationen der jüdischen Studierendenvertretung erwähnt sie die Zusammenarbeit mit der Jewish Agency for Israel. Dabei unterstützt die international tätige und auch mit einem Büro in Berlin angesiedelte Organisation interessierte Studierende des JSB, die in Israel ein Auslandsjahr an einer Universität, in einem Kibbuz oder Workcamp absolvieren wollten oder beabsichtigen, ALIJA zu machen, mit Informationen oder der Vermittlung von Studien- oder Arbeitsplätzen. Durch die Vermittlung der Agency kam so in einer „Dreier-Beziehung“, wie sie sich ausdrückt, die Einladung eines Botschaftssekretärs der Israelischen Botschaft in den jüdischen Studierendentreff zu Stande. Aber auch der Besuch jüdischer Kultureinrichtungen wie etwa des Jüdischen Museums werden von ihr an-geführt.124 (P12/24) Als seltenes Beispiel der Kooperation mit außerjüdischen Gruppierungen erwähnt die in dem Berliner Studentenbund Engagierte ein Treffen mit dem Evangelischen Studierendenverband Berlin, auf dem das gegenseitige Kennenlernen und der Gedankenaustausch im Vordergrund standen. (P12/25) Allerdings zeigt sich in diesem Zusammenhang wie bereits im Gemeindekontext (s. o. 3.5.) die durch den Gruppenstandort in gemeindeeigenen Kellerräumen bedingte Problematik der mangelnden Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme mit außerjüdischen studentischen Initiativen: Denn die JSB sitzt in den Innenhof-Räumen unter der streng bewachten orthodoxen Synagoge fern der über das riesige Stadtgebiet verstreuten Berliner Hochschulen und Groß-Universitäten, wo sich üblicherweise studentische Gruppierungen treffen. Die JSB-Aktivistin spricht im Zusammenhang mit diesen durch äußere Bedingungen erzwungenen Sicherheitsaspekten von einem „Abkoppeln von der Außenwelt“. (P12/34) Daher haben andere Gruppierungen an den Berliner Hochschulen im Normalfall gar nicht die Gelegenheit, von der Existenz der jüdischen Gruppierung zu erfahren. Die aus der JSB-Perspektive Berichtende vermutet, dass ihre eigene mangelnde Präsenz als Gruppe an den Berliner Hochschulen der entscheidende Grund dafür ist, dass es bisher noch zu keinerlei Anfragen anderer studentischer Gruppierungen an sie, mit Ausnahme der o. g. christlichen Studierendengruppe, gekommen ist. Angesichts dieser von der in der jüdischen Studierendengruppe Engagierten geschilderten misslichen Situation der Isolation von dem hochschulöffentlichen Leben in Berlin wurde innerhalb des JSB schon mehrfach der Vorschlag gemacht, sich an einer der Berliner Hochschulen um einen Raum zu bemühen, wie sie versichert. Allerdings bestehe das große Problem in der Vielzahl an Hochschulen in der Metropole und an deren Peripherie, über die ja auch die studentischen Mitglieder des JSB verteilt sind. Dieses in dem Zwiegespräch erörterte, möglicherweise existentielle Problem lässt sich m. E. unter den geschilderten Bedingungen der jüdischen Studierendengruppe kurzfristig kaum lösen.
124 Im Jüdischen Museum, wo mehrere JSB- und BSJH-Aktive auch in Studierendenjobs arbeiten; vgl. H. Sobotka in: AJW 02.08.01 und A. Ziemer in: JA 07.11.02.
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3.6. Fazit und Zukunftsperspektiven In der Untersuchung der jüdischen Studierendengruppe sollte bis hierher deutlich geworden sein, dass sich diese über viele Jahre hinweg, allen spezifischen Veränderungen und Problemen zum Trotz, als eine sehr rührige und zugleich beständige Gemeinschaftsaktivität erwiesen hat. Die studentische Gruppe erfüllte über die letzten Jahre hinweg zweifelsohne eine bedeutsame generationsspezifische Vergemeinschaftungs-Aufgabe im jüdischen Berlin. Diese Bedeutung für die jüdische Gemeinschaftsbildung in der Metropole kann m. E. gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Eine Auflösung der Gruppe würde daher eine nicht zu schließende Lücke innerhalb der jüdischen Angebote der Stadt bedeuten, zumal kaum andere jüdische Aktivitäten in Berlin (oder gar andernorts in Deutschland) für diese spezifische Altersgruppe jüdischer Twens bis Mittdreißiger existieren. Dabei scheinen einige für das Weiterbestehen oder sogar das weitere Wachstum der Gruppierung im Grunde günstige strukturelle Voraussetzungen und Rahmenbedingungen vorhanden zu sein. Schließlich wird die Größe der potentiellen JSB-Zielgruppe junger jüdischer Erwachsener in Berlin in den nächsten Jahren durch das noch einige Jahre, zuwanderungsbedingt anhaltende Wachstum der hiesigen Gemeinden weiter zunehmen. Auch eine baldige innerjüdische Konkurrenz durch ähnlich attraktive Angebote für die Klientel der etablierten Gruppe ist für die unmittelbare Zukunft noch nicht auszumachen. Auch scheinen sich bisher genügend Interessierte für die Leitungsfunktionen der Gruppe zu finden.125 Auch scheint die Binnen-Integration zwischen insbesondere den Aktiven aus dem Kreis der Zuwanderer der letzten Jahre aus der ehemaligen SU und den in Deutschland aufgewachsenen Mitgliedern Stück für Stück voranzugehen. Schließlich scheint die Gruppierung bei aller Kritik an der zu geringen Unterstützung durch die JGB andererseits gemeindeintern eine stabile Position einzunehmen. Die inhaltlichen Schwerpunkte der langjährigen Arbeit der örtlichen jüdischen Studierendengruppe – innerjüdische Integration bei Anerkennung religiöser Vielfalt und die Förderung des Israelbezugs – liegen auf dem gleichen Kurs wie die Berliner Einheitsgemeinde. Vor diesem Hintergrund scheinen, ungeachtet der immer geringeren Finanzierungsmöglichkeiten der Aktivitäten des studentischen Gruppentreffs durch die Gemeinde, dessen Standort in den Gemeinderäumen nicht in Frage zu stehen. Dass die Gruppe in ihrem Bestand dabei keineswegs gesichert ist, wurde bereits von P 12 artikuliert. Als einen der größten Zukunftswünsche für den Studentenverband benannte sie bezeichnenderweise, dass dieser „nicht aufhört zu existieren. Das ist ja alles so auf einer freiwilligen Basis. Und das könnte jederzeit 125 Die Vorstandsarbeit für den JSB kann sich sogar auf überregionaler als erfolgreich erweisen, da sich seit Anfang 2005 erstmals auf der deutschen Ebene jüdischer Studierendenvertretungen mit Lena Eyngorn eine ehemalige JGBVorsitzende befindet. Außerdem steht zugleich mit Victoria Dolburd an der Spitze des Welverbandes eine ehemalige Gruppenleiterin des Jugendzentrums der JGB; vgl. H. Sobotka in: JA 05.08.04 sowie eine Kurzmeldung der JA vom 13.01.05.
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abbrechen [Hervorhebung: A. J.].“ (P12/34) Genau dies trat kurze Zeit später tatsächlich ein: Anfang Juli 2005 trat der JSB-Vorstand geschlossen zurück, da sich bei den satzungsgemäßen Neuwahlen im Juni zu wenig, nämlich nicht die notwenigen 15 Mitglieder, beteiligt hatten. Einzelne JSB-Mitglieder äußerten Fluktuation, Arbeitsaufwand und Konkurrenz durch andere Angebote in der Metropole Berlin als wichtigste Gründe für die Vorstandskrise.126 Ohne hier im Einzelnen diese aktuellen Schwierigkeiten eines stärkeren Engagements unter festen Mitgliedernarbeitern außerhalb der Leitungsebene einbeziehen zu können, scheinen sich doch ein Ergebnis der vorliegenden Untersuchung zu bestätigen: Trotz gleichbleibend attraktiver und frequentierter Angebote des JSB und einer hohen Interessiertenzahl scheinen die misslichen finanziellen und räumlichen Rahmenbedingungen und die innerjüdisch solitäre Stellung der jüdischen Studentengruppe in Berlin die Attraktivität des Engagements für die Gruppe zu schmälern. Wohl und Wehe der JSB scheinen in Zukunft nahe beieinander zu liegen. So lässt die in den letzten Jahrzehnten unter finanziellen und sicherheitsbezogenen Bedingungen vorteilhafte formale und angebotsbezogene Nähe der studentischen Gruppierung zur JGB und ihr ‚Verschanztsein‘ in deren Kellerräumen wenig Raum für Veränderungen: Moderne Gruppenarbeit, schnelle gruppenübergreifende Kooperationen sowie spontaner Austausch, wie sie im heutigen Informationszeitalter gerade auch studentisches Engagement auszeichnen, und nicht zuletzt Präsenz an den Hochschulen erscheinen unter diesen Bedingungen kaum realisierbar. Bei einer weiteren Zunahme an innerjüdischen Pluralisierungstendenzen und einer zunehmenden Debattenkultur, wie sie im JSB und seinem Dachverband gerade unter jüngeren Juden gewünscht werden, könnte sich das organisatorisch-räumliche Junktim mit der Gemeinde zunehmend als Prokrustesbett für den anstehenden Wandel im Selbstverständnis der Gruppe erweisen. Jedoch scheint sich mittelfristig für diese Situation nur sehr schwer ein Ausweg aufzutun. Vielleicht könnten gerade die aktuellen Bestrebungen des gemeindeeigenen Jugendzentrums um stärkere Selbstverwaltung gegenüber der JSB eine gewisse Pilotfunktion für den jüdischen Studentenbund erfüllen.127 Dies dürfte in Zukunft um so mehr der Fall sein, wenn sich, wie bisher auch, JugendzentrumsbesucherInnen künftig in der jüdischen studentischen Gruppe organisieren werden. Jedenfalls erscheint eine funktionale und räumliche Eigenständigkeit des JSB ein entscheidender Schlüssel für eine durchaus denkbare, künftige positive Entwicklung. In diesem Sinne äußert die in dem Studentenbund Engagierte als ihren größten Wunsch für die Zukunft der Gruppe, dass sie „nicht (...) speziell auf diese Gemeinde (...) angewiesen sind, sondern irgendwo tatsächlich unser eigenes Büro haben und unsere eigenen Räume“. (P12/35)
126 Zu den Angaben der jüngeren Krise des JSB vgl. Clemens Hoffmann: „Krise des jüdischen Studentenbunds in Berlin“ in: Deutschlandfunk 02.09.05 sowie N. Kon in: JA 21.07.05. 127 Vgl. Detlef D. Kauschke in: JA 04.11.04
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4. Die Nahostgruppe „Wir verstehen uns nicht als Vorbild.“ (P22/45)
4.1. Entstehungshintergrund: Die ,Jüdische Gruppe Berlin‘ als Vorgängergruppe und die Gründung der Nahostgruppe Bei der Nahostgruppe (NG) handelt es sich um eine der ungewöhnlichsten im Rahmen der Studie untersuchten Gruppenaktivitäten: Stellt sie unter diesen Fallbeispielen doch in zweifacher Hinsicht eine Ausnahme dar. Zum einen handelt es sich bei der Gruppe bereits nach Absicht ihres Gründerkreises um eine explizit gemischt jüdisch/nichtjüdische Initiative, die gerade hierin einen wichtigen Gruppenzweck erfüllt sieht. Zum anderen ist ihr Verhältnis zur Jüdischen Gemeinde bzw. zu einigen deren Mitgliedern sehr konfliktträchtig. Beides ist der Tatsache geschuldet, dass sich die Basisinitiative zur Aufgabe gesetzt hat, sich auf der Grundlage einer dezidiert israelkritischen Haltung mit dem Nahostkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern unter Mitwirkung von Beteiligten beider Seiten dialogisch auseinanderzusetzen. Bereits aus diesen wenigen Details wird deutlich, dass es sich bei diesem Arbeitskreis bezogen auf Mitgliederstruktur und Gemeindebezug im Kontext der Gesamtauswahl um ein im systematischinhaltlichen Sinne extrem oder sogar maximal kontrastiertes Fall-Beispiel handelt. Auf die beiden Aspekte Mitgliederstruktur und Gemeindebezug wird im Folgenden ein besonderes Augenmerk gerichtet. Die einleitende Beschreibung der Entstehung und die Darstellung inhaltlicher und formaler Aspekte der NG greifen als Primärquellen auf im Internet zugängliches Material zurück. Demgegenüber stehen die Aussagen einer seit längerem in der NG Aktiven (P 22) in den weiteren Abschnitten zu gruppeninternen sozialen Prozessen sowie zur Beziehung zur jüdischen Gemeinde und anderen jüdischen Gemeinschaft im Zentrum. Der Entstehungshintergrund der Nahostgruppe reicht über 20 Jahre in die Zeit der israelischen Intervention im Libanon zurück, als auf israelischer Seite stehende ,christliche Milizen‘ dort 1982 ein Massaker in zwei palästinensischen Flüchtlingslagern verübten. Im Anschluss an dieses Verbrechen richtete sich weltweit eine starke Kritik gegen die israelische Regierung, die gerade auch in Israel selbst mit der damals sehr großen ,Peace-Now-Bewegung‘ eine bedeutende Stimme besaß. Auf dieser Linie waren auch in jener Zeit entstehende jüdische Initiativen in den Diaspora-Gemeinschaften vor allem der westlichen Welt angesiedelt, von denen die damalige israelische Regierung für ihr Vorgehen kritisiert wurde bzw. eine Wende der israelischen Nahostpolitik – nicht zuletzt im israelischen Interesse – eingefordert wurde. Diese Zeit war gleichsam auch die Phase eines innerjüdischen Aufbruchs in der Diaspora Deutschlands, insbesondere aus der zweiten Generation heraus, wie bereits im historischen Kap. II.1.3.4. ausgeführt wurde. Führte diese innerjüdische Politisierung in den meisten Fällen noch zu keiner Gruppenbildung, verhielt sich dies in Berlin anders: Aus Protest gegen den israelischen Einmarsch im
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Libanon und insbesondere gegen das Vorgehen des damaligen Generalstabschefs und späteren israelischen Ministerpräsidenten (2005) Ariel Scharon Westberliner Juden die ,Jüdische Gruppe Berlin‘. A. Roth und M. Frajman schreiben über sie im Rückblick: „Sie war eine der ersten jüdischen Basis-Interessengruppen, die im Berlin der Nachkriegszeit aktiv wurde und auch eine der ersten, die mit ihrer Meinung an die Öffentlichkeit ging und dabei den Widerspruch zur offiziellen Politik der Gemeinde nicht scheute.“128 In dem Satz wird bereits ein Spezifikum sich kritisch zu Israels Nahostpolitik äußernder jüdischer oder teilweise jüdischer Initiativen wie der NG deutlich: Auf Grund ihrer dezidierten Israelkritik geraten sie nolens volens in eine dissidente Rolle bezogen auf die vorherrschenden Positionen der hiesigen Gemeindevertreter, die in der Regel gegenüber Israel eine absolut solidarische Haltung einnehmen. So kann die erstaunlich frühe Gründung einer jüdischen Basisinitiative (1982!) außerhalb der etablierten Berliner Gemeinde verständlich werden, von denen das jüdische ,Reiseführer-Duo‘ berichtet. Allerdings veränderte Ende der 80er Jahre die Jüdischen Gruppe ihre inhaltliche Ausrichtung. Daher ging damals aus ihr eine neue Initiative hervor, wie diese in einer frühen Selbstdarstellung von 1990 erklärt: „Es war […] so, daß sich mit den Jahren und mit der Entwicklung der deutschen Politik die Interessen verlagert haben. Schwerpunkt der jüdischen Gruppe sind jetzt mehr die Probleme in Deutschland, beispielsweise die Wiedervereinigung und ihre Folgen. Die Nahostpolitik ist etwas unter den Tisch gefallen. Daher entstand der Wunsch, neben der jüdischen Gruppe eine Nahost-Gruppe zu gründen“.129 Bereits im September 1989, also noch unmittelbar vor der ostdeutschen Wende, begründete sich der ,Arbeitskreis Nahost‘ (meistens als Nahostgruppe benannt) in Westberlin. Dabei ging der Impuls von Alisa Fuss, einem Gründungsmitglied der alten Gruppe und bekannten jüdischen Menschenrechtsaktivistin aus.130 Über die personelle Konti-
128 A. Roth/M. Frajman: Das Jüdische Berlin heute, S. 207 129 „Dokumentation zur Tagung der Nahostgruppen in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin 30.6.-1.7.1990. Veranstalter: Bildungswerk für Demokratie und Umweltschutz e. V.“ www.nahost.org (08.12.04). Alle auf dieser Tagung vertretenen Gruppen sind in der Dokumentation mit einer kurzen Selbstdarstellung erwähnt. 130 Aus einem Kurzportrait von A. Fuss im Internet: „1919 in Berlin geboren, schloß sich Alisa Fuss der zionistischen Jugendbewegung an, als die Nazis an die Macht kamen. Als 16jährige emigrierte sie nach Palästina. Als Lehrerin an einer experimentellen Schule kam sie 1976 in das Land der Täter zurück - und blieb. Seit 1990 stand sie der Internationalen Liga für Menschenrechte vor, der einst Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky und Albert Einstein angehört hatten. Ohne der Bundesrepublik, wie sie sagte, ein ,menschenrechtliches Alibi‘ zu bieten, stand die Jüdin und Emigrantin immer dann in der ersten Reihe, wenn sich im neuen Deutschland das Alte zusammenrottete: Ob nach der Brandstiftung in der jüdischen Baracke 38 in Sachsenhausen oder nach dem Pogrom von Hoyerswerda. Die schwere Erkrankung war Alisa Fuss kaum anzumerken. Sie starb am 20. November 1998 in Tel Aviv.“ Zit. nach www.hagalil.com: „Wer war Alisa Fuss?“ (08.12.04).
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nuität zwischen der alten und neuen israelkritischen Basisinitiative hinaus kommt es zu einer entscheidenden Akzentverschiebung in der Mitgliederstruktur: Denn es bestand von Anfang an der Wunsch, eine neue Initiative „mit Mitgliedern der jüdischen Gruppe, die daran interessiert sind, aber auch mit palästinensischen und ebenso mit nichtjüdischen deutschen Mitgliedern“131 zu gründen.
4.2. Inhaltliche Ausrichtung und einige Strukturmerkmale der NG Im Folgenden werden inhaltliche und formale Aspekte des Nahost-AKs gemeinsam behandelt, da dies separat kaum möglich erscheint. Dies zeigt sich insbesondere im engen Bezug zwischen politischer Zielsetzung und Mitgliederstruktur: Das Hauptziel des Nahost-AKs besteht darin, sich für einen dauerhaften Frieden im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern einzusetzen. Als zentrales Anliegen und ideelles Ziel hat sie in ihre Statuten den Dialog zwischen den israelischen und palästinensischen Kontrahenten des Nahostkonflikts geschrieben Einig sind sich die NG-Mitglieder unabhängig von ihrer Herkunft in ihrer Kritik an der israelischen Regierung, die sie als legitim ohne antisemitischen Hintergrund begreift. Bezogen auf die israelische Politik gegenüber den Palästinensern spricht die Gruppe von Apartheid und ethnischen Säuberungen. Daher sympathisiert die Initiative mit dem Kampf der Palästinenser um einen eigenen Staat. Im Prinzip ist die Gruppe gegen Gewalt, wie die NG-Aktive betont, allerdings sei das Recht auf militanten Widerstand intern ein „heiß diskutiertes Thema“. (P22/31) Über den politischen Sinn der Selbstmordattentate auf palästinensischer Seite scheint es unter den jüdischen Gruppenmitgliedern der NG unterschiedliche Einschätzungen zu geben. Einige von ihnen können dieses Vorgehen offenbar nachvollziehen, anderen erscheint dies politisch kontraproduktiv. Direkt unterstützt der Arbeitskreis um beiderseitigen Interessensausgleich im Nahostkonflikt bemühte politische Initiativen, vor allem die israelische Friedensbewegung.132 Der Basiskonsens des Kreises besteht in der Zweistaaten-Lösung, also aus der Position, das Existenzrecht eines noch zu schaffenden palästinensischen Staates einzufordern und dabei zugleich für die Weiterexistenz des Staates Israel einzutreten. Eine Minderheit der ist persönlich für einen multiethnischen Staat Israel-Palästina, wie etwa auch P 22, wobei sie aber den Palästinensern das Recht auf einen eigenen Staat zugestehen. Die Hauptforderungen des Nahost-AKs lauten: „Ende der Besetzung, Auflösung der israelischen Siedlungen in den okkupierten Gebieten, Anerkennung eines souveränen Staates Palästina mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt, Rückkehrrecht der palästinensischen Vertriebenen. [...] Die Gruppe unterstützt den Aufruf ihres Mitglieds Ruth Fruchtmann an alle Diaspora-Juden, auf ihr eigenes Rückkehr-
131 Ebd. 132 Unterschiedliche Bewertungen wurden auf einer Pressekonferenz der jüdischen NG-Mitglieder geäußert, vgl. Steffie Kammerer: „Die schlimmsten Antisemiten“, in: SZ 09.04.02.
486 | TEIL IV: JÜDISCHE GRUPPENAKTIVITÄTEN IN BERLIN recht nach Israel zu verzichten. Vielmehr müsse Israel Entschädigung an palästinensische Vertriebene zahlen, sagt Sprecherin Petra Mendelsohn.“133
Die Nahostgruppe besitzt sowohl eine ethnisch wie religiös vielfältige Zusammensetzung: Ein zentraler Gruppenzweck besteht darin, gezielt Betroffene beider Seiten des blutigen Israel-Palästina-Konflikts als Mitglieder zu gewinnen. Denn die Initiative bezeichnet sich entsprechend ihrer Zielsetzung (s. o.) auch explizit als Dialoggruppe, der es zunächst darum geht, die Positionen des jeweiligen Gegenübers kennen zu lernen. Eine Absicht besteht darin, ein auf gegenseitiges Verstehen beruhendes zukünftiges friedliches Zusammenleben von Israelis und Palästinensern bereits ein Stück weit gruppenintern zu praktizieren. Außer in Berlin lebenden Israelis und Palästinensern gehören der israelkritischen Gruppe außerdem von Anfang an auch in der Metropole beheimatete jüdische wie nichtjüdische Deutsche an. Mittlerweile besitzt der Arbeitskreis auch Mitglieder aus anderen arabischen oder mehrheitlich arabischen Ländern wie einige Sudanesen. Die konkrete Sacharbeit ist weit gefächert und reicht von interner Bildungsarbeit über lokale politische Aktionen bis zu überregionalen und internationalen Vernetzungen. Die späteren Arbeitsschwerpunkte haben sich während der anfänglichen Orientierungsphase bereits größtenteils herausgebildet: „Es hat bei uns unterschiedliche Ansichten darüber gegeben [...]. Einige wollten eher Informationsarbeit; andere wollten Informationsarbeit und praktische politische Arbeit; andere wieder hatten nicht so viele Ansprüche und dachten, wir machen erst einmal und sehen dann, was dabei herauskommt. Nach meiner Einschätzung haben wir einen glücklichen Anfang mit einer Mischung aus Information und politischer Arbeit gemacht.“134
Konkrete Aktionen und Arbeitsfelder werden in dem Bericht aufgezählt: „Wir bearbeiten das Buch ,Die Geburt Israels, Mythos und Wirklichkeit‘ von Simcha Flapan. Und wir haben einen Basar veranstaltet, es hat auch früher schon Basare gegeben zur Unterstützung der Friedensbewegung in Israel. Im März zum Internationalen Frauentag hatten wir eine Demonstration zur Unterstützung der ,Frauen in Schwarz‘, an der 60 Frauen teilgenommen haben, jüdische, nichtjüdische, Palästinenserinnen und Deutsche. Außerdem hatten wir auch größere Veranstaltungen zusammen mit der Internationalen Liga für Menschenrechte und mit dem Bildungswerk für Demokratie und Umweltschutz. Nach der Friedensdemonstration im Dezember 1989 in Israel hatten wir im Januar 1990 einen Diskussionsabend. Kürzlich haben wir auch einen Abend mit den AnwältInnen und JournalistInnen veranstaltet, die sich für die inhaftierten palästinensischen Frauen engagieren“.135
Seit den Anfängen sind weitere Wirkungsfelder hinzugekommen: So wurden von der Initiative Mahnwachen in der City durchgeführt mit dem Schwerpunkt der Kritik an der Israelischen Besatzungspolitik und gegen Israels Beteiligung am ersten Golfkrieg, zunächst am Brandenburger Tor, später am Hackeschen Markt
133 Ebd. 134 „Dokumentation zur Tagung ...“ www.aknahost.org (08.12.04) 135 Ebd.
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und am Kurfürstendamm. (P22/46 u.64 f.). Außerdem beteiligte sich die NG in Berlin an Pro-Palästina-Demonstrationen (P22/75).136 Dabei wurde die Zusammenarbeit mit anderen in Deutschland und international tätigen israelkritischen Nahost-Initiativen verstärkt.137 Hierzu gehören neben den bereits von Anfang an mit anderen Gruppen gemeinsam durchgeführten Konferenzen und Demonstrationen (s. o.) sowie überregionale und internationale Kampagnen Briefe mit ihren politischen Anliegen verschickt die NG an Politiker wie an den Bundesaußenminister, an Parteivorsitzende und Bundestagsabgeordnete. Außerdem bemüht sie sich darum, über Veranstaltungen mit Persönlichkeiten aus dem Spektrum der israelischen Friedensbewegung in Berlin, diesen ein europäisches Forum zu bieten.138 Zweimal im Jahr veranstaltet die sie Solidaritätskonzerte für andere Organisationen. Schließlich betreibt die Nahostgruppe, als relativ kleiner Zusammenschluss mit begrenztem Einfluss, intensive Öffentlichkeitsarbeit. Dabei ist es ein zentrales Anliegen der Basisinitiative, die Berliner sowie die überregionale Presse über ihre o. g. politischen Aktivitäten zu informieren. Für die Zukunft wird von einigen NG-Mitgliedern ein verstärkter Dialog mit den parlamentarischen Parteien angestrebt. Außerdem hat sich im Arbeitskreis eine gruppeninterne Initiative gebildet, die beabsichtigt, in der Zukunft zur Aufklärung über die Gruppenziele mit möglichst einer PalästinenserIn und einer Israelin in Berliner Schulen zu gehen. Die Nahostgruppe wirkt also insgesamt auf zwei unterschiedlichen Ebenen: • gruppeninternen im dialogischen Suchen nach gemeinsamen Positionen im Israel-Palästina-Konflikt; • öffentlich in vielfältigern politischen Aktivitäten der Verbreitung diese Positionen. Zum Abschluss werden noch einige formale Aspekte und Strukturmerkmale der NG benannt139: Sie ist ein für Interessierte offener Kreis ohne Vereinsstruktur. Nach dem Tod ihrer langjährigen Leiterin A. Fuss (s. o. Kap. IV.4.1.) entschloss sich die Gruppierung dazu, eine Leitungsstruktur zu geben, die mit einer deutschen, israelischen und palästinensischen VertreterIn ihre Zusammensetzung widerspiegeln sollte. Es gibt keine festangestellten Mitarbeiter. Alle anfallenden Arbeiten werden ehrenamtlich verrichtet. Die Mitgliederzahl lag in der Anfangszeit bei über 10 Personen. mittlerweile kommen regelmäßig etwa 15 Personen zu den Treffen. Darüber hinaus besteht ein größerer, fluktuierender SympathisantenKreis. (P22/28) Die jüdischen Mitglieder stellen ein gutes Drittel, davon die 136 Auf beide Handlungsfelder wird unten im Kap. IV.4.4. zum Verhältnis zwischen der NG und der Berliner Gemeinde näher eingegangen. 137 Dieser Aktions-Bereich wird noch genauer im Kap. IV.4.5. dargestellt. 138 Zu den Bildungsveranstaltungen der Basis-Initiative wurden immer wieder auch von außen kommende Fach-Referenten eingeladen. 139 Alle Informationen dieses Abschnitts stammen aus haGalil: „Nahostgruppe (2001)“ www.hagalil.com (08.12.04) sowie aus dem Erhebungsgesprächgespräch mit P 22.
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Deutsch- und Israelstämmigen jeweils etwa die Hälfte. Der Arbeitskreis kommt einmal im Monat zu Gruppentreffen zusammen. Den Mitgliedern dient das Gebäude eines anderen Vereins im Bezirk Kreuzberg als Treffpunkt. (P22/47) Die sich an die Öffentlichkeit wendenden Bildungsveranstaltungen fanden in den ersten Jahren der NG auf Grund einer festen Kooperation in den Räumen der Heinrich-Böll-Stiftung in den ,Hackeschen Höfen‘ in Berlin-Mitte statt.140 Für Veranstaltungen nutzt die Gruppe vermehrt das ,Haus der Demokratie‘ in der Saarbrücker Straße ebenfalls im Ostteil der Stadt. Für deren Durchführung beantragt sie halbjährlich immer geringer ausfallende Fördergelder. (P22/48).141 Für Mitglieder und Interessierte existiert ein Mail-Verteiler. (P22/53)
4.3. Integrative und weitere soziale Prozesse innerhalb der NG Vordergründig weisen die Ausgangsbedingungen im Fall der Nahostgruppe kaum größere Unterschiede zu denjenigen anderer behandelter jüdischer Gruppenaktivitäten auf. Erst ihre politische Ausrichtung an einer mit der israelischen Administration wie der offiziellen Linie der Berliner jüdischen Gemeinde nicht konformen Haltung zum Israel-Palästina-Konflikt lässt die Art und weise des Andockens wie des Engagement ihrer jüdischen Mitglieder als etwas Singuläres innerhalb der Auswahl an jüdischen Basisinitiativen erscheinen. 4.3.1. Persönliches Andocken von P 22 an die NG Die aus dem AK-Nahost Berichtende macht deutlich, dass dieser neue Mitglieder hauptsächlich über persönliche Bekanntschaften rekrutiert. Dies galt auch in ihrem Falle: Die zu DDR-Zeiten in Ostberlin völlig säkular aufgewachsene NGAktive hatte von sich aus nach der Pubertät damit begonnen, sich intensiv mit ihrer jüdischen Herkunft auseinanderzusetzen. Hierbei gelangt sie über ihre tiefgründige Beschäftigung mit der Schoah zu einem Interesse an Gegenwartsfragen, speziell zum Staat Israel und der Nahostproblematik. In diesem Zusammenhang bezeichnet sie ihr ursprüngliches, zu DDR-Tagen entstandenes Israel-Bild als Idealisierung: „In der Zeit sah man das auch noch romantischer, muss man auch sagen. [...] den Sechs-Tage-Krieg [...] hat man erst als was Positives gesehen.“ (P22/21) Dieses Bild schlägt in eine „sehr kritische Haltung zu Israel“ (ebd.) um: „So, was das für Folgen für dieses andere Volk hatte, darüber war ich mir noch nicht im Klaren. Und dann habe ich angefangen, mich damit zu beschäftigen“. (Ebd.) Ihre Kritik bezieht sich von nun an immer stärker auf den Umgang der Israelischen Administration mit den Palästinensern. Schließlich solidarisiert sie sich mit deren politischen Forderungen nach einem eigenen Staat. Ein weltläufiger Freund aus der DDR mit ebenfalls jüdischem Hintergrund will sie zunächst ohne Erfolg in die originär Westberliner Nahostgruppe bringen: „,Du musst da hingehen, weil was du denkst, das denken genau die auch!‘ Da 140 Zu den Hackeschen Höfen vgl. das Hype-Kap. IV.3.1.3., S. 300 f. 141 Honorare für die gruppeneigenen Moderatoren gehen seit 2002 als Spende an die israelisch-palästinensische Initiative ,Tajush‘. (P22/50)
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habe ich gesagt: ,Nein, um Gottes Willen, ich will in keinem Haufen laufen, und ich will in keinem Verein vereint sein.‘“ (ebd.) Zwei Jahre später bzw. Ende der 90er Jahre nimmt er sie schließlich auf eine der monatlichen Bildungsveranstaltungen der Nahostgruppe mit. Offenbar macht diese Veranstaltung wie die rührige Initiative insgesamt auf P 22 einen positiven Eindruck: „Ja und da habe ich auch ein paar Leute kennen gelernt, die mir [...] gut gefielen, und dann wurde damals auch gerade dieser Gedanke geboren, dass man nicht nur eine Bildungsveranstaltung machen sollte, sondern auch ein bisschen Aktivitäten entwickeln, also so eine Aktiv-Gruppe.“ (P22/24-25) Zur gleichen Zeit wie sie steigt noch eine weitere, mit einem palästinensischen Ehepartner verheiratete Deutsche bei der Nahostgruppe ein, die ebenfalls politische Aktionen befürwortet. Die aus der NG Berichtende hat sofort maßgeblichen Anteil an der praktisch-politischen Arbeit der Gruppierung, Unter ihrer tatkräftigen Mitwirkung wurde eine bereits von der Vorgängergruppe in den 80er Jahren erprobte politische Aktionsform wiederbelebt: die Durchführung von Mahnwachen.142
4.3.2. Zusammenhang zwischen dem unterschiedlichen Herkommen der Mitglieder und den integrativen Prozessen innerhalb der NG Wie bereits ausgeführt, handelt es sich bei der Nahostgruppe um eine nach Zusammensetzung multiethnisch/-religiöse Initiative, die sich einem gruppeninternen Dialog verpflichtet sieht, wie er künftig auch im nahen Osten zu einen gerechtern Frieden zwischen den israelischen und palästinensischen Kontrahenten führen soll. Laut NG-Aktiver ist die Gruppe mit ihrem multiethnisch/-religiösen Konzept in der Palästina-Solidaritätsarbeit ein ziemliches Unikum.143 Selbstverständlich ist der Arbeitskreis daher in seiner Gruppenpraxis nicht frei von fast unausweichlich auftretenden internen Spannungen: „[…] natürlich, das geht nicht so ohne [...] haarige Auseinandersetzungen manchmal ab, […], aber das ist natürlich auch produktiv“. (P22/27) Allerdings räumt sie auch auf Grund der internen Debatten Abgänge ei: „Also man muss sagen, es gibt auch Leute, die natürlich dann wirklich verletzt sind und sagen ,O. K., also das kann ich nun nicht mehr ertragen‘ und so. Also, vieles ist eben auch ein Minimalkonsens, muss man einfach sagen.“ (P22/28)144 Die oft völlig unversöhnlichen Maximalpositionen im 142 Während des zweiten Golfkriegs hält die israelkritische Initiative am Kurfürstendamm, also in zentraler Lage in Berlin, Mahnwachen gegen die US-amerikanische und israelische Militärpolitik ab. – Im Rahmen der Untersuchung des Verhältnisses der NG zur Berliner Gemeinde werden weitere Statements von P 22 zu diesen Mahnwachen angeführt, s. Kap. IV.4.4., S. 495. 143 Dieses bewusste Konzept der Berliner Basis-Initiative bringt allerdings immer wieder Probleme mit sich, in zur Nahost-Problematik arbeitenden Netzwerken ethnisch einheitlicher Basis-Initiativen nicht als Gesamtgruppe mitwirken zu können; vgl. u. Kap. IV.4.5., S. 497. 144 Zu den politischen Positionen dieses ,Minimalkonsenses‘ der israelkritischen Initiative s. oben in Kap. IV.4.2., S. 485.
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Nahost-Konflikt außerhalb des Arbeitskreises holen natürlich die internen Diskussionen der Basisinitiative immer wieder ein.145 (1) Palästinensische NG-Mitglieder Der Berliner Arbeitskreis sieht sich vor dem Hintergrund der extremen politischen Differenzen eines Großteils der Israelis und Palästinenser im NahostKonflikt mit dem Vorfeld-Problem konfrontiert, eine genügende Anzahl an Palästinensern als Mitglieder zu gewinnen bzw. zu halten. Mit der Problembenennung führt P 22 allerdings auch einen Weg an, über den die NG bisher auch auf palästinensischer Seite an Mitglieder gekommen ist. Demnach „war es von uns, [...] auch sehr klug, sich in dieses Palästina-Solidaritätsbündnis einzuklinken, obwohl ich da auch sehr große Schwierigkeiten [sehe; A. J.], wir haben da schon Probleme. Aber um diesen Kontakt einfach nicht zu verlieren.“ (P22/28) Dieses Palästina-Solidaritätsbündnis ist ein erst seit wenigen Jahren bestehender Zusammenschluss hauptsächlich palästinensischer Initiativen in Deutschland. Die Probleme der NG beziehen sich offenbar auf immer wieder unterschiedliche Positionen gegenüber der Gewaltfrage und der Existenz Israels. Die NG war die erste nichtpalästinensische Gruppe, die den Kontakt zu diesem Bündnis gesucht hat – offensichtlich eine Folge der gruppeninternen multiethnischen Perspektive. Ein weiteres Problem der Gewinnung von Palästinensern für die NG besteht für P 22 in der Existenz palästinensischer Eigenstrukturen in Berlin, die sich gerade in den letzten Jahren stärker herausentwickelt hätten. So gäbe es alleine zwei sich vereinigende palästinensische Gemeinden in Berlin und Brandenburg. Von einer dieser beiden palästinensischen Gemeinden berichtet die NG-Aktive an anderer Stelle, dass diese bei Pro-Palästina-Demonstrationen in Berlin eine wichtige Arbeit leisten würden gegen den Einfluss radikal-islamistischer Fundamentalisten. Insgesamt ist es P 22 ein persönliches wie auch an der Weiterexistenz der NG orientiertes Anliegen, die Zusammenarbeit von jüdischen und israelischen Mitgliedern mit Palästinensern innerhalb der Initiative fortzusetzen: „[...] aber ich finde wir brauchen diese Zusammenarbeit, weil wir sonst irgendwann mal weggewesen wären, wenn da gar kein Palästinenser mehr da ist. Also ich meine, wie willst du dich dann noch Dialoggruppe nennen?“ (P22/29) (2) Nichtjüdisch-deutsche NG-Mitglieder Eine weitere Besonderheit der Nahostgruppe im israelkritisch-jüdischen Spektrum stellt nach Bekunden der über sie Auskunft Gebenden die große Rolle dar, die gruppenintern offenbar nichtjüdische Deutsche in ihr spielen. Deren generelle Motivation zur Mitarbeit in der NG sei häufig durch palästinensische EhepartnerInnen oder eigene Palästinaaufenthalte motiviert. Als Beispiel für deren Engagement erwähnt sie, dass diese einen Großteil der Vorbereitungen eines von der 145 Diese Positionen reichen bei einigen auch in Deutschland aktiven palästinensischen Organisationen bekanntlich bis zur Forderung der Beseitigung des Staates Israel, eine Position, die mit derjenigen der NG unvereinbar ist; s. o. Kap. IV.4.2., S. 485.
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Berliner Basisinitiative organisierten überregionalen Dialog-Treffens zwischen verschiedenen Nahost-Gruppen übernommen hätten. (P22/44)146 Offenbar spielen auf das deutsch-nichtjüdische Teilkollektiv bezogene integrative und/oder politische Schwierigkeiten offenbar gruppenintern eine relativ geringe Rolle etwa im Vergleich zu der o. g. Problematik, genügend Palästinenser für die Mitarbeit in der dialogorientierten Gruppierung zu gewinnen. Nur an einer Stelle betont die in der Nahostgruppe Engagierte im Gespräch ein offensichtliches internes Unverständnis deutscher Gruppenmitglieder an dem Verhalten der im Arbeitskreis aktiven Juden und Jüdinnen: Demnach tun sich nichtjüdische Mitglieder damit schwer, die mitunter nicht einfache Positionsbestimmung der jüdischen NG-Aktiven nachzuvollziehen und zu respektieren. Als Beispiel schildert sie leicht ironisch einen gruppeninternen Konflikt zwischen ihr, als jüdischem, mit einem deutschen Gruppenmitglied, welches offenbar die Meinung auch der übrigen deutschen NG-Mitglieder ausdrückte. Der äußere Anlass dieser Kontroverse ist ein von der Nahostgruppe organisiertes Konzert mit der israelkritischen schwedisch-jüdischen Band um den Musiker Dror Feiler in Berlin. Dort hatte Feiler an die jüdischen Mitglieder des Berliner Nahostkreises appelliert, eine eigene israelkritisch-jüdische Gruppierung zu bilden, nach Art der 150 Mitglieder zählenden entsprechenden Gruppe in Schweden. Auch von nichtjüdisch-deutscher Seite werden sie NG -intern zu diesem Schritt gedrängt: „Ich habe das vehement verteidigt […] [gemeint: sich nicht zu separieren; A. J.], was z. T. auf Unverständnis gestoßen ist bei vielen Deutschen auch, weil die sagten dann immer ,Na, Ihr müsst doch‘. Ich lasse mir so von keinem vorschreiben, was ich muss.“ – „[...] da fiel wirklich auf dieser Veranstaltung ein Satz ,Wenn ich Jüdin wäre, dann würde ich das und das tun‘.“ – „Also, da brach mir der Angstschweiß aus.“ (P22/41)
Trotz der in dem Zitat deutlich werdenden Emotionalität, mit der diese Kontroverse entlang der Linie jüdisch/nichtjüdisch gruppenintern geführt wird, gilt auch in diesem Fall die obige Aussage der NG-Aktiven mitzubedenken, dass die NG „haarige Auseinandersetzungen“ (P22/27) insgesamt als produktiv empfindet. (3) Jüdische NG-Mitglieder Einen eigenen Aspekt bedeutsamer sozialer Prozesse innerhalb der NG stellt die integrative Rolle ihrer jüdischen Mitglieder sowie deren Positionsbestimmung gruppenintern dar. Wichtig im Zusammenhang der nach Herkommen gemischten Nahostgruppe ist die Frage, ob die jüdischen NG-Mitglieder gemeinsame inhaltliche Positionen im Unterschied zu den anderen Herkunftsgruppen vertreten. Hierzu äußert sich die über die NG-Aktivistin unmissverständlich: „Die [jüdische MG-Mitglieder; A. J.] haben eigentlich keine gemeinsame Position.“ – „Also PY und ich, haben denke ich klar, in den meisten Fragen eine gemeinsame Posi146 Die maßgebliche Rolle nichtjüdischer Deutscher in der politischen Arbeit der Gruppe zum Israel-Palästinakonflikt ist aus verständlichen Gründen nicht bei allen anderen jüdisch/israelischen Gruppierungen dieses Spektrums gleichermaßen akzeptiert; vgl. hierzu Kap. IV.4.5., S. 497.
492 | TEIL IV: JÜDISCHE GRUPPENAKTIVITÄTEN IN BERLIN tion. PX hat eigentlich ,ne andere Position. Aber sie..., wenn ich mit ihr darüber rede, ist es für sie relativ unproblematisch. Dann kann sie damit relativ gut umgehen.“147 – „nein, die Position ist unterschiedlich [...]“. – „Im Moment sehe ich gerade, dass also zum Beispiel ein nichtjüdisches Mitglied das Gleiche sagt, wie ich sage, es aber ganz anders bei PX ankommt.“ (P22/61)
Unterschiede in der Herkunft der Gruppenmitglieder drücken sich ihrer Meinung nach weitaus weniger in inhaltlichen Positionen aus, denn in verschiedenen Befindlichkeiten: P 22 erläutert dies mit einem konkreten Beispiel: „Ich bin Deutsche. PX ist IsraelIn. Das ist das Land, das sie natürlich kritisiert, und zwar sehr stark kritisiert. Aber das ist ihre Heimat.“ – „Und natürlich diese Angst, dass es des nicht mehr geben soll oder so, ist natürlich auch extrem groß. Das sind auch ganz andere Befindlichkeiten.“ (P22/61-62) Außerdem erwähnt sie die Erfahrung der ständigen Angst vor Selbstmordattentaten, die einen biographischen Unterschied zwischen ihr und zwei israelischen Neu-Mitgliedern in der NG markiert. Allerdings sieht sie wie die dialogorientierte Gruppe insgesamt in dem unterschiedlichen Erfahrungshintergrund ihrer Mitglieder kein unüberwindliches Hindernis, gruppenintern zu gemeinsamen politischen Positionen zu gelangen. Ein entgegengesetztes Beispiel eines Zwangs aller jüdischen Mitglieder der Nahostgruppe – also der aus Deutschland wie aus Israel stammenden – zu einer gemeinsamen gruppeninternen Position zu finden, stellt, die bereits am Ende des obigen Abschnitts zu den deutschen NG-Mitgliedern angeschnittene Frage einer Schaffung einer separaten jüdischen israelkritischen Gruppierung in Berlin dar.148 Inhaltlich macht die NG-Aktive gegenüber den entsprechenden Aufforderungen der nichtjüdisch-deutschen Mitglieder zur Bildung einer rein jüdischen Gruppierung geltend, dass die jüdischen Mitglieder nicht die Kraft besäßen, noch eine zweite israelkritische Gruppierung parallel zum bereits bestehenden, herkunftsgemischten Arbeitskreis zu schaffen. Ginge die Initiative von anderen Personen aus, sähe die Sache auch für sie anders aus: „[…] wir wollten nicht die Träger dieser Geschichte sein.“ (P22/43) Ohne separate Gruppe gelingt es den jüdischen Mitgliedern der Nahostgruppe offenbar dennoch bei bestimmten Anlässen, ein Medienecho zu erzielen: Als Beispiel hierfür kann eine Pressekonferenz gelten, welche die jüdischen NGMitglieder aus Protest gegen die Israelische Nahostpolitik Anfang April 2002 anberaumten, wie P 22 bemerkt: „[…], in der Situation war es sicherlich klug, 147 Unmittelbar vor der zitierten Stelle des Erhebungsgesprächs erwähnt P 22, dass es zwischen ihr und der Israelstämmigen PX sehr starke Differenzen und Auseinandersetzungen über den Stellenwert heutigen Antisemitismus in Deutschland gibt. PX misst diesem vor dem Hintergrund der Schoah eine weitaus höhere Bedeutung zu als die hier darüber Berichtende. 148 Hintergrund dieses gruppeninternen Ringens um eine Positionsbestimmung der jüdischen Mitglieder der Nahostgruppe ist ihr großes Interesse an der Vernetzung mit anderen israelkritischen Initiativen nicht nur im palästinensischen Spektrum (s. o. Kap. IV.4.3.2.), sondern auch mit ausschließlich jüdischen Gruppierungen auf deutscher wie auf europäischer Ebene; s. u. Kap. IV.4.5.
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wir haben […] so eine Pressekonferenz gemacht, nur die jüdischen Mitglieder aus dem Nahost-Arbeitskreis“ um der Öffentlichkeit zu zeigen, „dass es auch noch eine andere Meinung zu [...] der Sharon-Regierung und […]-Politik gibt, als die offizielle Meinung der jüdischen Gemeinden.“ (P22/27). Der Erfolg der Aktion rechtfertige diesen solitären Schritt der jüdischen Mitglieder: „[…] das hatte den Vorteil, dass wir ein extrem hohes Medienecho hatten. [...] das wirklich für so eine kleine Gruppe, echt eine Medienbreite hatten, die wir normalerweise auch mit den andern Aktionen so nicht [...] hätten [haben; A. J.] können.“ (P22/27-28) Tatsächlich berichteten mehrere regionale wie überregionale Tageszeitungen ausführlich über diese Pressekonferenz.149 Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Fritz Teppich, ein hochbetagtes NGMitglied und Schoah-Überlebender, mit seiner gruppenintern umstrittenen Position einer Analogie zwischen der NS-Politik und derjenigen Israels in dem Artikel der Süddeutschen Zeitung über die Pressekonferenz wörtlich zitiert wird.150 Als Fazit des gesamten Abschnitts zu den sozialen, vor allem integrativen vs. desintegrativen Prozessen innerhalb der Nahostgruppe kann festgehalten werden, dass diese Initiative angesichts der Fülle an Konfliktstoff auf Grund ihrer Zusammensetzung und politischen Ausrichtung insgesamt eine erstaunliche Stabilität aufweist. Die kollektive israelkritische Beschäftigung mit dem Nahostkonflikt ähnlich motivierter Juden151 zusammen mit Nichtjuden bewirkt hierbei eine Art innerjüdischen Vergemeinschaftungsakt mit negativen Vorzeichen: Denn diese werden gruppenintern (wie in anderer Form -extern; s. u.) auf ihren jüdischen Hintergrund verwiesen. Allerdings scheint der intern gelingende Verständigungsprozess den guten Absichten der Mitglieder zum Trotz immer wieder eine große Kraftanstrengung zu bedeuten. Dabei scheint die Initiative ihrem eigenen Anspruch, eine Dialoggruppe zu sein, nach innen gerecht zu werden. Inwiefern sich diese produktiv-kontroverse dialogische Haltung auch auf der externen Ebene und dabei primär im Verhältnis zur Jüdischen Gemeinde in Berlin sowie in der Zusammenarbeit mit anderen israelkritischen Gruppen findet, wird in den beiden folgenden Abschnitten Kap. IV.4.4. und Kap. IV.4.5. aufgezeigt.
4.4. Problematische Beziehungsebene zwischen der NG und der Berliner Gemeinde Das Verhältnis der sehr israelkritischen Nahostgruppe zur generellen Proisraelischen jüdischen Gemeinde in Berlin nimmt, wie in der Einleitung kurz erwähnt, innerhalb der ausgewählten Gruppenaktivitäten einen besonderen Platz ein: Denn wie bei keiner anderen Basisinitiative erscheint diese Beziehung stark 149 Als Beispiel für das von P 22 benannte Medienecho kann der bereits o. auf S. 487 in der Anm. 112 angeführte Artikel gelten: S. Kammerer, in: SZ 09.04.02. 150 Das Zitat F. Teppichs lautet wörtlich: „Nach Hitler sind die Israelis die schlimmsten Antisemiten“ und: „Der antisemitische Speer, der sich gestern von den Nazis gegen die Juden gerichtet hat, richtet sich heute gegen die Palästinenser“; ebd. 151 Einschließlich der hier jüdisch-israelischen NG-Mitglieder.
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getrübt. Dabei besitzt die der Nahost-AK unter seinen jüdischen Mitgliedern sowohl Mitglieder, ehemalige Mitglieder der Gemeinde der JGB wie etwa die NGAktive selbst (vgl. P22/10) sowie schließlich während und wegen ihres Engagements in der israel-kritischen Initiative aus der Berliner Gemeinde Ausgetretene.152 Ähnlich zu der oben in Kap. IV.2.5.2. dargestellten Frühphase des Verhältnisses zwischen dem Jüdischen Kulturverein und der offiziellen Berliner Gemeinde nimmt die JGB auch im hier behandelten aktuellen Fall keine Stellung zu den Forderungen der dissidenten Gruppierung: „Die strafen uns durch Nichtachtung“, wie eine NG-Sprecherin gegenüber der Presse äußert.153 Vor der weiteren Untersuchung des schwierigen (Nicht)-Verhältnisses zwischen dem israelkritischen Arbeitskreis und der Berliner Gemeinde gilt es jedenfalls, sich zu vergegenwärtigen, dass die jüdischen Gemeinden bzw. deren offizielle Vertretungen der Diaspora in (West-)Deutschland nach 1945 bis heute Israel und dessen jeweiligen Regierungen gegenüber eine durchweg solidarische Position eingenommen haben. Für den Bereich der der hiesigen Diaspora sowie der JGB ist bereits oben im historischen Eingangsteil der Studie auf die jahrzehntelange Melange aus der Rechtfertigung des Wiederaufbaus jüdischen Lebens in Deutschland nach 1945 gegenüber Israel bei gleichzeitiger nahezu vorbehaltlosen Unterstützung dieses Staats gegenüber seinen Feinden verwiesen worden.154 An Pro-Israel-Demonstrationen beteiligen sich bis zu mehreren hundert Gemeindemitglieder an einer Pro-Israel-Demonstration in Berlin.155 Allerdings sind in den letzten Jahren immer öfter bekennende jüdische Gemeindemitglieder bereit, sich vor dem Hintergrund ihrer grundsätzlichen Israel-Solidarität durchaus auch kritisch gegenüber der aktuellen israelischen Politik medienöffentlich zu äußern.156 Im Folgenden wird die inhaltlich bedingte Dissens zwischen der JGB und der NG, aus der Wahrnehmungsperspektive der gemeindekritischen jüdischen ,Dissidenten‘-Gruppierung bzw. der in ich aktive ,Dissidentin‘ dargestellt. P 22 umreißt aus NG-Sicht sehr deutlich, wie sich ihrer Erfahrung nach die Mehrheit der Berliner Gemeindemitglieder gegenüber der NG positionieren: „[...] also es gibt einen ganz großen Teil, die von uns überhaupt gar nichts wissen. 152 In dem o. g. SZ-Artikel wird ein NG-Mitglied erwähnt, welches einige Monate zuvor aus der JGB ausgetreten ist; vgl. ebd. 153 Ebd. Hinsichtlich des Wortes ,Nichtachtung‘ vermute ich einen Übertragungsfehler P. Mendelsohns Äußerung auf der Pressekonferenz der NG, auf der diese fiel. Inhaltlich stimmiger erscheint mir vielmehr das Wort ,Nichtbeachtung‘. 154 Vgl. Kap. II.1.2.4., S. 100 f. – Einige innerjüdische Kritiker dieser synchronen Pro-Israel-Muster auf Gemeindebene sprechen in diesem Zusammenhang von einer Art moralischen Entlastungsversuchen, d. h. davon, über die politische und finanzielle Solidarität mit Israel, die eigene Diasporaexistenz zu rechtfertigen. M. Wolffsohn spricht im Zusammenhang mit dieser Israel-fixierten Disposition auf Gemeindeebene kritisch von ,Israelismus‘; vgl. Ders. Ewige Schuld?, S. 168 f. 155 Bspw. am 14. April 2002; vgl. Detlef David Kauschke: „,Es könnte mehr sein...‘. Zeigt die Berliner Gemeinde genug Verbundenheit mit Israel?“, in: JA 25.04.02. 156 Vgl. Ayala Goldmann: „Auf gleicher Augenhöhe. Akzeptiert Israel...?“, in: JA 24.11.05
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Dann gibt's einen ganz großen Teil, die von uns nichts wissen wollen, und dann gibt's natürlich einen Teil, durch die Pressekonferenz und so, auch Reaktionen, also die dann schon von uns gehört haben und die uns unmöglich finden.“ (22/31) Ebenso sieht sie über Berlin hinaus in den übrigen Gemeinden der hiesigen Diaspora auf der Leitungsebene eine einheitliche ablehnende Haltung gegenüber der NG bzw. deren Positionen: „Also, ich habe nicht das Gefühl, dass es eine Gemeinde gibt, wo, sagen wir mal, die kritischen Stimmen stärker wären.“ – „[...] die sind dann meiner Meinung nach sehr einig „. (P22/33-34) Die Gründe für das Zustandekommen dieses offiziellen Meinungskanons der Berliner und anderer jüdischer Gemeinden können von der im Arbeitskreis Engagierten sowie den übrigen jüdischen NG-Mitgliedern, die z. T. im Gegensatz zu ihr außerdem auch Mitglieder der Jüdischen Gemeinde sind, bestenfalls nur erahnt werden: So wird von ihnen innerhalb der JGB als für deren kompromisslose Position verantwortlich, eine kleine einflussreiche Lobby – „In-Group sagen wir immer“ (P22/34) – vermutet. Daher und auf Grund der realistischen Einschätzung der unterschiedlichen Größenrelationen zwischen JGB und der NG überwiegt bei ihr wie den übrigen NG-Mitgliedern ein eher defensives Auftreten: „Also wir wollen nicht, dort jetzt, [...] breit in der jüdischen Gemeinde [informieren; A. J.], weil dazu sind wir nicht in der Lage. Wir sind ein ganz kleiner Kreis und was soll das, ja?“ (P22/33) Diese Einschätzung untermauert P 22 mit den gemeindeinternen Erfahrungswerten einer Kollegin aus der NG, die trotz ihres entschiedenen Engagements in der israelkritischen Basisinitiative zugleich auch Mitglied der JGB ist: „Aber ich glaube auch, sie hat das Gefühl, dass man da [innerhalb der JGB; A. J.] also, gar keine Möglichkeit hat“. (P22/35). Bei den Mahnwachen, welche die Nahostgruppe zeitweise im 14-tägigen Turnus am Kranzlereck auf dem Kurfürstendamm durchführte, kam es zu nahezu vorprogrammiertem Zusammentreffen mit Gemeindemitgliedern, da die Örtlichkeit in der unmittelbaren Nachbarschaft zu mehreren Gemeindeeinrichtungen liegt. Dabei überwiegt aus ihrer Sicht offenbar auf der Gegenseite das Unverständnis gegenüber der NG, gipfelnd in der Vermutung: „,Na, das sind ja Selbsthasser‘“.(22/74) Auch nimmt sie die Atmosphäre diese Auseinandersetzungen als sehr emotional aufgeladen war: „[...] und da gab es [...] zum Teil auch haarige und bösartige Diskussionen.“ (ebd.) Dabei ginge ihrer subjektiven Einschätzung nach die Negativ-Stimmung von der Gegenseite aus: Die Kommentare der JGBMitglieder seien „mal mehr und mal weniger aggressiv. Es gibt auch Leute, die nicht aggressiv [sind; A. J.], ... aber häufig ist es aggressiv.“ (ebd.) Trotzdem glaubt P 22 durchaus, dass es auch in den jüdischen Gemeinden in Deutschland mitunter Personen gäbe, die entgegengesetzt zum Offiziellen-Kanon der NG-Position zustimmend gegenüberstünden, soweit sie ihre israelkritische Gruppierung überhaupt wahrnähmen oder sich in der Öffentlichkeit trauen würden, eine entsprechende Position zu äußern: „[...] ist ja nicht so, dass sie überhaupt gar keine Kritik an Israel hätten“. (22/35) Zum einen denke sie dabei primär an die Zuwanderer aus Osteuropa, in dem Sinne, dass „die russischen Juden
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vollkommen andere Probleme haben.“ (22/34) Zum anderen spricht sie in diesem Zusammenhang vage von „sehr gebildeten Kreisen“ (P22/35) innerhalb der Gemeinde. Außerdem weiß sie von einer pro-palästinensischen Demonstration in Berlin, an der die NG teilgenommen hatte, zu berichten, dass dort von ihrer Gruppe abgesehen auch andere, überwiegend nichtdeutsche in Berlin lebende Juden – „Engländer“ sowie „Niederländer“ – „komischerweise“ (! – Hervorhebung: A. J.) teilgenommen hätten. (P22/74) Außerdem berichtet P 22 von einer vom Nahost-Arbeitskreis initiierten Podiumsdiskussion zwischen dem israelischen regierungskritischen Friedensaktivisten Rouven Moskovits und dem ehemaligen JGB-Vorsitzenden und Rabbiner Andreas Nachama. Sie fand in einer christlichen Bildungseinrichtung unter der Moderation eines NG-Mitglieds (!) im Jahr 2002 stattfand. Von Anfang an bestand auf Seiten der NG wie auch des israelischen Referenten der Wunsch nach einem JGB-Mitglied auf dem Podium: „[...] und wir müssten jemand, [...] der auch zumindest wirklich klar aus der Gemeinde kommt, dazu haben, das wäre nicht schlecht. Und da habe ich gesagt ,Versuchen wir es.‘ Und Nachama ist gekommen.“ (P22/38) Allerdings sei dieser nicht als JGB-Mitglied, sondern ausschließlich als Privatperson aufgetreten, betont sie: „[...] ja, nun muss man dazu sagen, dass damals zu dem Zeitpunkt, wo er Vorsitzender war, sicher nicht gekommen wäre“. (Ebd.)157 Anerkennend stellt sie für die Veranstaltung fest: „Wobei [...] wir [...] da auch sehr anständig miteinander umgegangen [sind]“. (Ebd.) Die NG-Aktive resümiert den JGB-/NG-Konflikt: „[…], vielleicht wird es einen Wandel geben, der aber sicherlich nicht mit dem Einfluss, den wir haben zum Beispiel zu tun hat, also, also wir haben eher auf die allgemeine Bevölkerung schon Einfluss [...] bei den jüdischen Gemeinden kann das nur durch andere Punkte entstehen.“ (P22/73) Insgesamt erscheint aus allem von ihr geäußerten naheliegend, dass mit den ,anderen Punkten‘ eine Stärkung der Reformkräfte innerhalb der Gemeinden sowie eine wie auch immer geartete zukünftige wirkliche Lösung des Nahostkonflikts gemeint ist.
4.5. Kooperation mit anderen israelkritischen Gruppen Eine Zusammenarbeit mit anderen israelkritischen Gruppen ist erklärtermaßen einer der Hauptschwerpunkte der Arbeit der Nahostgruppe. In der Beschäftigung mit dieser Berliner Basisinitiative kann man vordergründig den Eindruck gewin157 Dennoch kann sein öffentlicher Auftritt an diesem Ort und in dieser Besetzung ebenso auch als ein eindeutiges Signal in Richtung Dialog zwischen der Gemeinde und den außerhalb von ihr stehenden jüdischen Israelkritikern gewertet werden. A. Nachama ist bereits aus seiner Zeit als JGB-Vorsitzender für seine große Dialogbereitschaft und -fähigkeit gegenüber Gruppierungen bekannt geworden, mit denen die jüdische Gemeinde sich zunächst in einem schwierigen Verhältnis befand. Erinnert sei an dieser Stelle nur an sein erfolgreiches Agieren gegenüber der orthodoxern Austrittsgemeinde Addas Jisroel sowie gegenüber dem Egalitären Minjan; vgl. Kap. II.2.2.3., S. 141 ff.; aber auch seine Haltung gegenüber dem JKV; vgl. Kap. IV.2.5.2., S. 463.
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nen, dass sie den typischen Charakter vieler von einer Stadt aus international agierender Non Government Organisationen (NGOs) besitzt: Eine übernationale politische Perspektive geht mit örtlichen Agieren Hand in Hand, wobei eine internationale Vernetzung mit ähnlich orientierten Gruppierungen angestrebt wird. Tatsächlich gibt es im deutschsprachigen Raum sowie auf europäischer Ebene einen relativ große Anzahl an zum Nahost-Konflikt arbeitenden Basisinitiativen, die einen gerechten Frieden zwischen Palästinensern und Israelis zum Ziel haben und dabei eine kritische Position gegenüber der israelischen Regierung einnehmen. Ein Großteil dieser Gruppierungen hat jüdische bzw. jüdisch-europäische und jüdisch-israelische Mitglieder. Die Nahostgruppe hat demgegenüber allerdings die Schwierigkeit, gerade auf Grund des multiethnischen Ansatzes als ,Dialoggruppe‘, in den ihr inhaltlich nahestehenden jüdischen Netzwerken auf internationaler Ebene nicht mitwirken zu können: „[...] diese ,European Jews for a Just Peace‘ zum Beispiel können uns nicht im Grunde genommen einbeziehen.“ – „[...] Natürlich wäre es interessant“. (P22/26-27)158 Die Initiierung einer entsprechenden Parallelstruktur mit jüdischer Untergruppe ist, wie oben in Kap. IV.4.3.2. bereits dargestellt, von den jüdischen Mitgliedern der NG nicht zu leisten. Allerdings betont die NG-Aktive in diesem Zusammenhang, dass sie ihre Mitarbeit im Falle einer Gründung durch andere in Berlin lebende Juden nicht ausschließen. Aber auch im deutschsprachigen Raum stellt der multiethnische Ansatz der NG unter den Nahost-Initiativen eine völlige Ausnahme dar und bereitet ihr mitunter Schwierigkeiten bei ihrer Vernetzungsarbeit, wie P 22 berichtet: „Die [anderen Gruppen; A. J.] funktionieren einfach ganz anders. Sie haben überhaupt gar keine deutschen Nichtjuden.“ – „Also die gehen auch diesen klaren Dialog. Die [...] denken auch viele Dinge ganz anders als wir.“ – „[...] wir haben ja [...] so ein Dialoggruppen-Treffen und da hat sich natürlich dann schon klar dieser multiethnische Punkt bei uns als hinderlich erwiesen für sie. [...] Ja, nun sind die Deutschen bei uns natürlich auch sehr aktiv gewesen, d. h., sie haben theoretisch zum Beispiel den ganz großen Teil der Vorbereitung dieser Geschichte [deutschlandweites Treffen; A. J.] gemacht, und dann waren die ganz überrascht, so ungefähr, dass die deutschen Nichtjuden bei uns so eine große Rolle spielen. Also die dachten mehr, sie sollten begleiten den Dialog. Und, ich meine, diese Haltung haben wir ja nicht [...], ich finde das auch schwierig“. (22/44)
4.6. Zukunftsperspektiven und Fazit Abschließend gilt es, einige Zukunftsperspektiven der Nahostgruppe im Kontext der gesamten Studie aufzuzeigen. Bei dem hier analysierten Berliner Arbeitskreis handelt es sich entsprechend seinen in der heterogenen Mitgliederstruktur begründeten internen Differenzen und seinen Schwierigkeiten in der externen politischen Arbeit zum Trotz um eine erstaunlich stabile Gruppenaktivität. In der Un158 Die NG-Aktivistin berichtet, dass sich gerade eine deutsche Sektion der ‚European Jews for a Just Peace‘ begründet und ein Israelstämmiges Mitglied der Nahostgruppe sich daran beteiligt; vgl. (P22/40).
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tersuchung dieser Basisinitiative lässt sich der Eindruck gewinnen, dass sie wie bereits in ihrer bisherigen Entwicklung auch in Zukunft in der Lage ist, die vielen Schwierigkeiten mit denen sie konfrontiert ist, zu meistern. Auch hat es den Anschein, dass die Gruppe die Fähigkeit aufweist, sich entsprechend ihrer multiethnischen Zusammensetzung auch zukünftig zu regenerieren. Dabei besteht offenbar auf Seiten der hier besonders interessierenden jüdisch-deutschen Mitglieder ein stabiles Regenerations-potential. Diese Erfolge im Ausgleichen von Austritten aus der NG erscheinen mir nicht zuletzt der Größe und Internationalität der jüdischen Gemeinschaft Berlins geschuldet – ein weiterer Beleg für die Singularität der Gruppe im deutschlandweiten Maßstab. Die hier konstatierte Stabilität dieser Initiative bezieht sich also sowohl auf ihre gleichbleibende Größe wie auf den gruppeninternen Zusammenhalt. Dennoch erscheinen entscheidende Parameter der zukünftigen Entwicklung der Nahostgruppe kaum absehbar: Insbesondere die weitere Entwicklung ihres Verhältnisses zur Jüdischen Gemeinde und der übrigen jüdischen Gemeinschaft Berlins ist mit einem Fragezeichen zu versehen. Zu unwägbar sind ganz verschiedene, die hier untersuchte Basisinitiative unmittelbar tangierende Einzelprozesse wie etwa der zukünftige Verlauf des Israel-Palästina-Konflikts nach dem Tod von Jassir Arafat oder die weitere Ausprägung von Pluralismus und Streitkultur innerhalb der jüdischen Gemeinschaft der Metropole. Auch der Wandel des Selbstverständnisses der hiesigen jüdischen Diaspora gegenüber dem Staat Israel und dessen Repräsentanten sowie die weitere Entwicklung der Beziehungen zwischen Deutschland und Israel werden für die Zukunft des Arbeitskreises eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Allerdings deuten bereits einige in dem Erhebungsgespräch kenntlich werdende Anzeichen darauf hin, dass unbenommen von den benannten externen Einflussgrößen die Konfliktkurve zwischen dem israelkritischen Nahost-Arbeitskreis und Teilen der örtlichen jüdischen Gemeinde bereits ihren Höhepunkt überschritten hat. Einen zentralen Stellenwert der zukünftigen Tätigkeit der Nahostgruppe wird offensichtlich auch die über Berlin hinausreichende weitere Zusammenarbeit insbesondere mit jüdischen israelkritischen Nahostinitiativen einnehmen. Schließlich forcierte die Berliner Initiative bereits in den letzten Jahren, wie erwähnt, diese Vernetzungsarbeit. Die in der NG Engagierte erwähnt bspw. die Idee, zukünftig eine Art vernetzte Mahnwachenaktion von Nahostgruppen an einem bestimmten Tag im Monat gleichzeitig in verschiedenen europäischen Metropolen durchzuführen. Außerdem ist von Seiten des Nahost-Arbeitskreises eine engere Zusammenarbeit mit israelischen Kriegsdienstverweigerern angedacht. Ob es in Berlin, wie von den jüdischen NG-Mitgliedern gewünscht, zur Herausbildung einer ausschließlich jüdischen dialogorientierten Nahostinitiative kommen wird, ist gegenwärtig noch nicht absehbar. Ein Potential, wie gezeigt, besonders auch unter den in Berlin lebenden Juden aus westlichen Herkunftsstaaten, scheint offensichtlich vorhanden. Die innerjüdische Stellung der bisher im jüdischen Berlin singulären israelkritischen Gruppierung würde dies sicherlich ungemein stärken.
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Als abschließendes Resümee der Einzelfallstudie der Nahostgruppe ist festzuhalten, dass diese Initiative in mehrfacher Hinsicht als aufschlussreiches Beispiel bezeichnet werden kann: Hinsichtlich der wichtigsten untersuchten Aspekte verdient dieser Zusammenschluss innerhalb des Samples der analysierten Gruppenaktivitäten die Einordnung als am weitesten randjüdisch. Diese Einordnung gilt vorrangig für die beiden Untersuchungsbereiche ,Inhaltliche Ausrichtung‘ und ,Mitgliederstruktur‘: Findet doch in dem israelkritischen Arbeitskreis eine inhaltlich im Meinungsspektrum des hiesigen jüdischen Kollektivs prekäre – weil im Dissens mit der vorherrschenden Gemeindeposition – jedoch offensichtlich gelingende jüdische Vergemeinschaftung im Rahmen eines gemischt jüdisch/ nichtjüdischen Mitgliederspektrums der gesamten Gruppe statt. Die erfolgreiche Existenz dieses Projekts seit nunmehr eineinhalb Jahrzehnten erscheint daher umso bemerkenswerter. Gegenüber ihrer im jüdischen Berlin bereits innovativen Vorgängerinitiative ,Jüdische Gruppe Berlin‘, stellt die Nahostgruppe insofern eine bemerkenswerte Neuerung dar, als sie sich nicht nur aus jüdisch-deutschen und israelischen, sondern explizit multiethnisch auch aus palästinensischen und nichtjüdischdeutschen Mitgliedern zusammensetzt. Wird doch damit der Randbereich jüdischer Vergemeinschaftung in originär nichtjüdisches, obendrein israelkritisches Terrain, ausgedehnt. Von daher trägt sie erheblich zur innerjüdischen (Meinungs)-Vielfalt bei. Dass dieser Prozess im konkreten Beispiel nicht ohne teilweise heftige Spannungen zwischen der untersuchten Initiative und Mitgliedern der jüdischen Gemeinde vonstatten geht, erscheint angesichts der diesen gegenüber kontroversen bis an einen Tabubruch reichenden politischen Positionen der NG verständlich. Noch fehlt es an inner-jüdischen Foren, diese Kontroverse, insbesondere mit den etablierten jüdischen Vergemeinschaftungs-Agenturen wie vornehmlich dem JGB und der ZdJ, in konstruktiver Weise auszutragen. Die konstatierte Zunahme einer entsprechenden Diskussionskultur und Meinungspluralisierung innerhalb der Berliner und darüber hinausreichenden Diaspora lässt dies jedenfalls für die absehbare Zukunft als denkbar erscheinen.
5 . D i e J ü d i s c h e Ga l e r ie „[...] wir sind jetzt im Zentrum von dem Galerieviertel“. (P 11/16)
5.1. Ausgangssituation und Entstehung der Jüdischen Galerie Innerhalb des Gesamt-Samples der Basisinitiativen nimmt die Jüdische Galerie (JÜG) auf Grund der singulären Verbindung jüdischer/nichtjüdischer inhaltlicher Charakteristika eine einzigartige Position ein. Bei der JÜG handelt es sich gegenüber den übrigen Angeboten mit jüdisch-kultureller Ausrichtung im Peripheriebereich der jüdischen Gemeinde um etwas gänzlich Neues. Eine ihrer Besonderheiten besteht in der über die Ausstellung der Arbeiten jüdischer Maler und Graphiker sich manifestierende Jüdischkeit: Außerdem gehen in dieser Einrich-
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tung jüdische Inhalte mit geschäftlichen Überlegungen Hand in Hand. Daher bedarf ihre Analyse eine stärkere Berücksichtigung der nichtjüdischen (Käufer-) Seite als bei den meisten anderen Gruppen. Für die Einzelfall-Untersuchung wird vorrangig auf das in den JÜG-Räumen geführte Gespräch mit einer langjährigen maßgeblichen Mitarbeiterin (P 11) zurückgegriffen, die in den frühen 90er Jahren als Russischsprachige nach Berlin gekommene ist. Ihre Gründung verdankt die Jüdische Galerie den Um- und Aufbrüchen im Zuge der deutschen Einigung sowie dem Fall der Mauer zu Beginn der 90er Jahre, insbesondere aber dem damit einhergehenden Zuzug tausender Juden aus der ehemaligen SU nach Berlin. Noch in der späten Galinski-Ära wurde die JÜG vor 1993 in gemeinsamer Trägerschaft der JGB und der bundesweit tätigen jüdischen Zentralwohlfahrtsstelle (ZWSt) eröffnet. Damit ist sie keine private Galerie – eine Seltenheit nicht nur in der Berliner Galerienszene. Aus dem Gespräch mit P11 kann implizit geschlossen werden, dass die stärkeren Impulse zum Aufbau der Galerie von der ZWSt ausgingen, die auch die Räume in dem Gebäude des von ihr ebenfalls seit den frühen 90er Jahren betriebenen Kulturzentrums Hatikva zur Verfügung stellte. (P11/4-5)159 Damit befindet sich die JÜG in straßenseitigen Erdgeschossräumen des ZWSt-Domizils gleich links von der Eingangsfront der berühmten Neuen Synagoge– ein weiteres Accessoire des touristisch beliebten ‚Jüdischen Viertels in und um die der Oranienburger Straße (vgl. Kap. II.2.4.2.). In den ersten Monaten des Bestehens hatte die Galerie offenbar mit einigen Anlaufschwierigkeiten zu kämpfen. Der aus der ehemaligen SU stammende, mit ihrem Aufbau betreute Künstler, wurde bereits nach wenigen Monaten entlassen, offenbar fehlte es an Professionalität zu einer solchen Unternehmung in der ,Galerienhochburg‘ Berlin. Dennoch konnte sich in den folgenden Jahren die explizit Jüdische Galerie in der metropolitanen Galerie-Szene behaupten.
5.2. Formale Aspekte und inhaltliche Ausrichtung der JÜG Auch im Fall der Jüdischen Galerie werden formale und inhaltliche Aspekte gemeinsam abgehandelt, da diese eng miteinander verschränkt sind. In der JÜG sind dauerhaft zwei bis drei Mitarbeiter beschäftigt. Galerietypisch liegt ihr Tätigkeitsfeld in der Gewinnung neuer Künstler, der AusstellungsKonzeptionierung und Katalog-Gestaltung sowie der Präsentation und im Verkauf von Bildern. Die inhaltliche Grundkonzeption der Galerie lässt sich klar umreißen: Primär geht es darum, jüdischen Künstlern aus der ehemaligen SU, die größtenteils in Berlin und andernorts in Deutschland leben, eine Ausstellungsund Verkaufsmöglichkeit einzuräumen. Außerdem ist sie bemüht, über ihre überörtlichen Kontakte diesen Künstlern auch in anderen Städten Ausstellungsmöglichkeiten zu verschaffen. Als künstlerische Inhalte schreibt die JÜG den in159 Dies deckt sich auch mit Aussagen einer maßgeblich für die ZWSt in Berlin Tätigen (P 4), die ich im Vorfeld des Interviews mit der Galeristin sprechen konnte. – In dem Kulturzentrum für russischsprachige Juden verkehrten demnach schon vor Gründung der Galerie osteuropastämmige Künstler.
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teressierten Künstlern keine Beschäftigung mit jüdischer Thematik vor, um in das Galerie-Programm aufgenommen zu werden. Jedoch gibt es in der Galerie auch jüdische Künstler mit explizit jüdischen Inhalten.160 Die Künstler sollten allerdings in das Gesamtkonzept der JÜG-Galeristen – bestehend aus dem persönlichem Geschmack und der ,Preispolitik‘ – passen. Preispolitik meint, dass die Galerie versucht, den osteuropäischstämmigen Künstlern mit relativ geringen Preisen einen Einstieg in den für sie zunächst noch kaum zugänglichen hiesigen Kunstmarkt zu eröffnen. Die Anzahl der ausgestellten Künstler ist relativ hoch: 25 bis 35 Künstler werden von der in der JÜG arbeitenden Galeristin betreut. Manche Künstler werden allerdings nur für ein bis zwei Projekte eingeladen, an denen dann manchmal bis zu einhundert Maler beteiligt sind. So hatte die JÜG innerhalb von 6 Jahren alleine 75 Ausstellungsprogramme mit mehreren Künstlern in ihren Räumen. Die Kunsthändlerin betont aber, dass die JÜG kein jüdisches Ghetto sei. Zu ca. 20 % werden hier auch nichtjüdische Künstler gezeigt. Die Herkunft der ausstellenden Künstler liege zwar bei 80 bis 90 % in der ehemaligen SU. Der größte Teil von ihnen lebt aber heute in Deutschland. Allein etwa ein gutes Drittel von ihnen hat seinen Lebensmittelpunkt in Berlin.161 Die JÜG pflegt Beziehungen zu osteuropastämmigen Künstlern aus den größeren und älteren jüdischen Gemeinden im Westen Deutschlands, aber auch zu den dank des Zuzugs aus den GUS-Staaten aufgeblühten oder neuerstandenen jüdischen Gemeinden Ostdeutschlands wie etwa in Dresden oder in Cottbus. Ein kleiner Teil der Maler ist bereits vor mehreren Jahrzehnten aus der SU nach Berlin oder andernorts in Deutschland gekommen. Eine kleine Minderheit der betreuten Künstler lebt auch heute noch in den GUS-Staaten. Auf Grund des von der JÜG mittlerweile erreichten Renommees ist die Zahl der interessierten Künstler allerdings höher als ihr aktueller Bedarf. Die JK-Macher sind als Kunden neben dem Stammpublikum um potentielle Kunden mit Kontakten zu anderen Galerien sowie zu Banken und Firmen bemüht. Ein Laufpublikum wird mit Drucken und Postkarten angesprochen. Mittlerweile gibt es in Berlin diverse Galerien israelischer Künstler ohne den direkten Bezug zum jüdischen Berlin, weswegen der in der Namensgebung explizit ‚jüdischen‘ JÜG im Peripheriebereich der JGB der Vorzug gegeben wurde.
160 Vgl. hierzu genauer unten in Kap. IV.5.3.3. Auf der inhaltlichen Seite der ausgestellter Kunstwerke, welche deren jüdischen Charakter ausmachen, wird dort auf eine Inhaltsanalyse bewusst verzichtet, da diese den Rahmen der Untersuchung sprengen würde. Die Beschränkung liegt auf den Aktivitäten der Galerie und damit nicht auf dem Schaffen der in ihr ausstellenden Künstler, auch wenn sich dies nicht völlig trennen lässt. 161 Hierzu gilt es, sich zu vergegenwärtigen, dass die Stadt nicht nur die mit Abstand größte jüdische Gemeinde Deutschlands besitzt, sondern hier auch so viele nichtjüdische russischsprachige Kulturschaffende leben, wie vielleicht nirgends sonst in Deutschland. Außerdem ist gerade im Bereich der Gegenwartskunst Berlin darüber hinaus auch eine Kunst- und Künstlermetropole von weltweiter Bedeutung.
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5.3. Innerjüdische Integrationsaspekte bei den von der JÜG betreuten Künstlern Integrative Aspekte werden bei der Analyse der hier präsentierten Gruppenaktivitäten üblicherweise gruppeninhärent erörtert. Im Falle der Jüdischen Galerie besteht das Forschungsinteresse an der übergeordneten Frage ausgerichtet, in wiefern die Kooperation der JÜG mit den jüdisch-osteuropäischen Künstlern deren Integration ins jüdische Berlin förderlich ist. Die Analyse besteht hierbei aus mehreren Untersuchungsschritten. 5.3.1. Die Förderfunktion der JÜG für ihre osteuropäisch-jüdische Künstler-Klientel Eine über die hier untersuchten innerjüdischen Integrationsaspekte hinausreichende Problematik für in Berlin und andernorts in Deutschland lebende osteuropäisch-jüdische Künstler stellen deren mit anderen jüdischen Zuwanderern aus den GUS-Staaten geteilte Schwierigkeiten dar, in der hiesigen Mehrheitsgesellschaft Fuß zu fassen. Die Galeristin kolportiert, dass diese größtenteils erst in den letzten Jahren nach Berlin resp. Deutschland gekommenen Künstler darüber hinaus das spezifische Problem besäßen, sich einem breiten, potentiell interessierten hiesigen Publikum zu präsentieren: „Keine seriöse Galerie nimmt jemanden aus der ehemaligen Sowjetunion“ (P11/10)162 Erst vor diesem Hintergrund können die bedeutsamen sozialen wie ökonomischen Funktionen, welche die Jüdische Galerie für ihre Klientel erfüllt, verständlich werden. Als Hauptschwierigkeit der osteuropäisch-jüdischen Künstler in der hiesigen Kunstszene benennt die Galeristin drei Problembereiche: Zum einen seien es zunächst Sprachprobleme163, die ihnen den Zugang zu der fremden Kunstwelt versperrten. Außerdem würde es ihnen an Möglichkeiten mangeln, sich mit anderen Künstlern mit einem ähnlichen biographischen Hintergrund über ihre spezifische hiesige Situation auszutauschen.164 Schließlich bestehe ein weiteres spezifisches Problem auf dem hiesigen Kunstmarkt darin, dass dieser tendenziell an hohen Preisen ausgerichtet sei, welche osteuropäisch-jüdische Künstler im Normalfall nicht erzielen könnten. Diese Schwierigkeiten erscheinen um so problematischer, als diese Künstler fast ausschließlich auf dieses für sie kaum erreichbare deutsche bzw. deutschsprachige Publikum angewiesen sind, um als Kunstschaffende auf den Kunstmärkten in Berlin und im übrigen Deutschland bestehen zu können.
162 Offenbar gilt dies weniger für israelische Künstler, wie die privat geführten Galerien mit Israelis im Programm beweisen. 163 Sprachliche Schwierigkeiten sind der Kunstverkäuferin aus ihrer eigenen Anfangszeit in Berlin sehr geläufig. Positiv hebt sie im Zusammenhang mit ihren Ausführungen zu diesen Problemen der osteuropäisch-jüdischen Zuwanderern die von den Behörden eingerichteten deutschen Sprachkurse wie auch entsprechende Angebote der jüdischen Volkshochschule hervor. (P11/9) 164 Es sind also genau die Motive, die ins Positive gewendet in der Grundkonzeption der JÜG eine große Rolle spielen; vgl. hierzu oben Kap. IV.5.1.
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Daher überrascht es wenig, dass die Galeristin auch für ihre Einrichtung bestätigt: „Unser breites Publikum, unsere Kunden sind Deutsche“ (P11/13); dabei fast ausschließlich nichtjüdisch. Damit lässt sich die Frage nach den Hauptmotiven der zugewanderten osteuropäisch-jüdischen Künstler ihr Interesse, in der Jüdischen Galerie auszustellen, beantworten. Si erfüllt für diese vier Funktionen: • Zum einen bietet se den von ihr ausgewählten osteuropäisch-jüdischen Künstlern die Möglichkeit, vor einem für sie ansonsten kaum erreichbaren Publikum in bester stadträumlicher Lage auszustellen.165 • Darüber hinaus stellt sie für eine Minderheit der von ihr präsentierten Kunstschaffenden ein ,Sprungbrett‘ für deren weitergehende Ambitionen auf dem hiesigen Kunstmarkt dar. • Des Weiteren erhalten diese Kunstschaffenden von der ihr die Gelegenheit, ihre Arbeiten auf einem für sie realisierbaren niedrigen Preisniveau zu präsentieren. • Schließlich bemüht sie sich darum, unter den von ihr betreuten Malern und Graphikern einen gegenseitigen künstlerischen Austausch zustande zu bringen. Die hohe Zahl an durch die Jüdische Galerie betreuten Künstlern und realisierten Ausstellungsprogramme kann als Beleg für den Erfolg dieses diaspora-jüdischen Kulturförderungsprojekts gewertet werden. Natürlich würden in seltenen Fällen einige Künstler nach sich außerhalb der JÜG einstellenden Erfolgen dieser den Rücken kehren, worüber sich die Auskunftsgeberin aber eigentlich freue. Viele Künstler blieben der Jüdischen Galerie aber treu und hätten sich und der JÜG damit eine recht große Stammkundschaft erschlossen. Allerdings machten der Jüdischen Galerie, als durch jüdische Dachorganisationen subventioniertem Förderungsmodell osteuropäisch-jüdischer GegenwartsKünstler, auch noch nach Überwindung ihrer Anfangsschwierigkeiten (s. o.), in der Wahrnehmung durch die örtliche Galerie-Szene noch eine ganze Weile ein gewisses Negativ-Image zu schaffen166. Den früheren Anwürfen zum Trotz betont die JÜG-Kunsthändlerin aber, dass sich mit dem sich für die Jüdische Galerie einstellenden Erfolg die Situation eindeutig zum Positiven verändert habe, die JÜG mittlerweile anerkannt sei.
165 Vgl. ausführlich das Kap. IV.5.5. 166 Auf gezielte Frage hin bestätigt die Kunsthändlerin, dass es aus der GaleristenSzene der Metropole in der Frühphase der Einrichtung Hohn und Spott für deren Ansatz subventionierter Kunst gegeben habe. – Hiermit deckt sich auch das Statement eines in Berlin arbeitenden jüdischen Künstlers mir gegenüber in der Explorationsphase der Studie. Er brachte mir seinen Unwillen zum Ausdruck, seine Bilder jemals in dieser Galerie ausgestellt zu haben und betonte mit einem gewissen Stolz, dass er diese Art von Förderung nicht nötig habe und sie außerdem nicht gut heiße.
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5.3.2. Die Bedeutung der JÜG für die innerjüdische Integration der in der Galerie ausstellenden osteuropäisch-jüdischen Künstler Nach den Erfahrungen der in der JÜG tätigen Galeristin mit den von ihr betreuten zugewanderten russischsprachigen Künstlern würde sich die Mehrzahl von ihnen rasch in die Gemeinde integrieren. Häufig besäßen sie dort viele Bekannte und einen großen Freundeskreis. Auf Nachfrage ergab sich allerdings, dass sich diese optimistische Einschätzung für die in den letzten Jahren zugewanderten Kunstschaffenden ausschließlich auf die Integration in das russischsprachige Milieu der JGB bezieht. Die selbst russischsprachige Galeristin betont dabei, dass diese vergleichsweise schnelle Integration der von ihr betreuten Künstler in die JGB nicht dem Bemühen der JÜG, sondern den eigenen Anstrengungen dieser Kunstschaffenden zu verdanken sei: „[...] es geht einigermaßen von selbst [...], wir zeigen nur die Bilder. Wir beeinflussen nicht diesen Prozess“. (P11/8) Diese positive Aussage zur integrativen Situation der eingewanderten Künstler gegenüber dem russischsprachigen Gemeindemilieu kontrastiert deutlich zu ihrer Einschätzung deren Integrationsvermögen in den deutschsprachigen Teil der Berliner Gemeinde. Hierzu zeichnet sie ein hinlänglich bekanntes Bild der Zuwandererproblematik in den hiesigen jüdischen Gemeinden auch für die Gruppe der von der JÜG betreuten osteuropäisch-jüdischen Künstler nach: Demnach würden unterschiedliche Lebenserfahrungen sowie mangelnden Sprachkenntnisse Barrieren für ihre Integration in das deutschsprachige Gemeindemilieu (wie auch in die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft). Entsprechend gering seien in den ersten Jahren die gegenseitigen Kontakte.167 Auch wenn der überwiegende Teil der Kundschaft der Galerie nichtjüdisch ist, wie bereits oben in Kap. IV.5.2.1. erwähnt wurde, bilden auch „Leute aus unserem Freundeskreis, auch ehemalige russische Juden, ukrainische Juden“ (ebd.), ebenfalls einen festen Kundenstamm der Galerie. Interessant ist, dass auch hier, wie in den Kontakten der Künstler in der JGB insgesamt (s. o.), die Kontakte fast ausschließlich im russischsprachigen Milieu stattfinden. In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll, das unmittelbare räumliche Umfeld der Jüdischen Galerie in die Untersuchung einzubeziehen. Schließlich ist die JÜG auf Initiative und durch die Finanzierung der ZWSt im Vorderhaus des gleichen Gebäudes wie das von der Wohlfahrtsorganisation betriebene Kulturzentrum Hatikva für die Zuwanderer aus den GUS-Staaten untergebracht.168 Daher ist die Frage naheliegend, wie sich die Kontakte der Galerie zu diesem Zentrum und seinen Besuchern darstellen. Auch in diesem Fall bestätigen sich die die bereits o. g. milieuspezifischen Kontakte zwischen der JÜG bzw. den von ihr be167 In diesem Zusammenhang lobt sie die hiesigen Sprachschulen sowie die von der jüdischen Volkshochschule angebotenen Sprachkurse. Dennoch ist die Galeristin optimistisch für deren integrative Entwicklung in den nächsten Jahren. Vgl. ihre entsprechenden Äußerungen im Berlinspezifika-Kap. III.2.2., S. 281. 168 Ein Erhebungsgespräch konnte ich mit einer leitenden Mitarbeiterin dieser Einrichtung führen (P 4).
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treuten Künstlern sowie den Besuchern der benachbarten soziokulturellen ZWStEinrichtung. Ein Teil von ihnen kommt lediglich in das Gebäude, um ihre Kinder im Kulturzentrum abzuholen. So haben diese Eltern häufig eine bis drei Stunden Zeit und nutzen diese teilweise auch, um in der Galerie vorbeizuschauen. Nasch Angaben der Galeristin ist ein Teil der Hatikva-Besucher auf diese Weise tatsächlich zu Kunden der Jüdischen Galerie geworden: „Oder die wollen etwas für zu Hause kaufen.“ – „Komischerweise, [...] es gibt Beispiele.“ – „Nicht reiche Menschen kaufen bei uns.“ (Ebd.) Insgesamt lässt sich also eindeutig eine herkunftsbezogene und sprachliche Verbundenheit zwischen den osteuropastämmigen Mitarbeitenden der Galerie, den von ihr betreuten osteuropäisch-jüdischen Künstlern und an deren Schaffen Interessierten mit ähnlichem biographischen Hintergrund konstatieren.
5.3.3. Ein ,Jewish turn‘? Künstlerische Beschäftigung mit dem Judentum im Schaffen der in der JÜG Ausstellenden Angesichts des Befunds des letzten Abschnitts erscheint es um so spannender, ob diese geschilderte innerjüdische Verbundenheit der von der JÜG ausgestellten Künstler lediglich eine milieuspezifische Vergemeinschaftung ohne explizit jüdischen Hintergrund in einem noch fremden Land und einer noch wenig vertrauten Millionenstadt darstellt. Oder, so ist weiter zu fragen, ob darüber hinaus vielmehr auch eine gewisse Identifikation mit dem Judentum stattfindet. Diese im Themenbereich Integration noch ausstehende Frage zielt auf die inhaltlichen Aspekte ihres künstlerischem Schaffens. Für die Erörterung dieser Frage auf Grundlage der Aussagen der JÜG-Angestellten ist es zunächst sinnvoll zu rekapitulieren, dass ein Gros der osteuropäischen Künstler entsprechend ihrem Herkommen aus der ehemaligen SU keine oder kaum noch authentische jüdische Kultur in ihrer früheren Heimat kennen gelernt hatte. Außerdem ist, wie bereits erwähnt, die Wahl jüdischer Motive für die Aufnahme in die Jüdische Galerie keinerlei Aufnahmekriterium. Es lässt sich also auch angesichts dieser Situation konstatieren, dass für einen Großteil der erstmals in der Galerie ausstellenden osteuropäischjüdischen Künstler insgesamt zunächst wenig Gründe bestehen, in ihrem jeweiligen Schaffen das Judentum zu thematisieren oder Bezüge zu ihm herzustellen. Dennoch stellt die Galeristin im Schaffen der JÜG-Künstler einen eindeutig erkennbaren Wandel in Richtung einer stärkeren Beschäftigung mit dem Judentum fest, nämlich „dass ein Drittel von unseren Künstlern [...] mehr gläubig geworden (sind)“ – „mehr jüdisch, selbstverständlich in der Kunst, es ist mehr in die Richtung [...] gegangen.“(11/6) Ein von der Galerie betreuter Künstler arbeite mittlerweile sogar ausschließlich als im bildhauerischen Bereich und in ihren Gemälden mit jüdischen Motiven. Angesichts dieser überindividuell eindeutigen Entwicklung stellt sich natürlich die Frage nach den Gründen für diese überraschende Hinwendung zu jüdischen Bildmotiven. Kommerzielle Gesichtspunkte lassen sich von vornherein auszuschließen, da die Galerie ja insgesamt erfolgreich mehrheitlich nichtjüdi-
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sche Motive an ein mehrheitlich nichtjüdisches Publikum verkauft (vgl. oben Kap. IV.5.3.1.). Die Kunsthändlerin interpretiert jedenfalls den von ihr beschriebenen Prozess des ,jewish turns‘ eines Teils ihrer Künstler-Klientel als eindeutigen Effekt deren Umzugs in den Westen: Demnach hätten diese russischsprachigen Kunstschaffenden erst hier die Möglichkeit erhalten, gelebte Jüdischkeit kennen zu lernen und wären davon angeregt worden, sich auch mit der eigenen jüdischen Herkunft auseinanderzusetzen: „Mit dem [neuen; A. J.] Wissen kommt wahrscheinlich der Wille, etwas zu schaffen“ (P11/7), das von diesem Wissen geprägt ist. Die Wahl jüdischer Bildmotive reflektiere diese mit der lebensweltlichen Veränderung des Herzugs und des Eintritts in die hiesige Gemeinde verbundene Erweiterung der Wissensbestände über das Judentum: „[…] die zeigen mehr Interesse an der jüdischen Gemeinschaft, der jüdischen Geschichte.“ – „und an der jüdischen Folklore auch.“ (ebd.) Darüber hinaus gäbe es eine Minderheit unter den sich jüdischer Thematik widmenden Künstlern, die bereits in der Nach-SU-Zeit in ihren osteuropäischen Heimatgegenden angefangen hätten, sich jüdischer Thematik zu widmen oder die über den Umweg Israel nach Deutschland gekommen seien und in ihrer hiesigen Wahl jüdisch geprägter Motive dortige Einflüsse verarbeiteten. Außerdem spielt der Austausch mit anderen Künstlern auch für den ‚jewish turn‘ eine gewisse Rolle, „im Bilde zu sein [über] andere Künstler, dieser Kommunikationsfaktor, das ist immer so, [...] in jedem Land und jeder Kultur ist es sehr wichtig, [dass] die Künstler zusammen etwas [...] vorbereiten {Hervorhebung: A. J].“ (P11/10)
5.4. Kontakte der JÜG zu anderen jüdischen wie nichtjüdischen Aktivitäten in Berlin und andernorts Die Zusammenarbeit der Jüdischen Galerie mit anderen inner- wie außerjüdischen Initiativen der Metropole wird hier in einem Abschnitt zusammengefasst. Den Anfang macht die Erörterung der Kooperationen der Jüdischen Galerie innerhalb des jüdischen Berlin. Ein schlaglichtartig ihre besondere Situation beleuchtendes Beispiel stellt ihre Haltung zum direkt vor ihrer Haustür auf der Oranienburger Straße alljährlich im Frühsommer stattfindenden Jüdischen Straßenfest dar.169 Es mag zunächst überraschen, dass die JÜG wenig Interesse zeigt, sich hieran zusammen mit anderen jüdischen Einrichtungen zu beteiligen. Die JÜG-Mitarbeiterin benennt allerdings als nachvollziehbaren Grund, dass sie sich bis jetzt „von Kunsthandwerkartikeln distanziert“ hätten. (P11/25) Offensichtlich befürchtet die Galerie eine Trivialisierung ihres in der Berliner Künstler- und Galeristenszene mühsam erarbeiteten Renommees (s. o. Kap. IV.5.3.1.). Dennoch bestehen in geringerem Umfang Kooperationen der JÜG im jüdischen Berlin. So war sie bereits mehrfach mit einigen ihrer osteuropäischen Künstler an den alljährlich im Spätjahr stattfindenden Jüdischen Kulturtagen170 169 Zum Jüdischen Straßenfest vgl. Kap. II.2.3.2., S. 156. 170 Zu den Jüdischen Kulturtagen vgl. Kap. II.2.1.2., S. 134 sowie II.2.2.2., S. 140.
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beteiligt. Aber auch zu mit Jüdischem befassten Kulturinstitutionen außerhalb der Gemeinde unterhält die Galerie ebenfalls Kontakte, vor allem zum Jüdischen Museum171: „[...] wir haben die Leitung des Museums informiert über unsere Künstler. Zwei von unseren Künstlern sind von dem jüdischen Museum [...] eingekauft [worden]“ (ebd.). Die Kunsthändlerin sieht diese erfolgreiche Vermittlung als einen Anfang für in der Zukunft durchaus noch weitreichendere Kooperationsmöglichkeiten ihrer Galerie mit dem Museum. Die weitere Entwicklung hinge aber nicht unerheblich von der Fortexistenz guter Kontakte der JÜG zu bestimmten Mitarbeitenden dieser Einrichtung ab, gibt sie dabei zu bedenken. Aber auch außerhalb des jüdischen Spektrums in Berlin bestehen einige interessante Kooperationen der Jüdischen Galerie. So berichtet die in der JÜG Tätige über ein von einer anderen bekannten Galerie in Zusammenarbeit mit dem Kulturamt von Berlin-Köpenick veranstaltetes Ausstellungsprojekt zu unterschiedlichen Künstlern aus verschiedenen Ländern und Kulturen Osteuropas mit dem mehrdeutig-programmatischen Namen ,Kosmopolit‘. An dieser Aktion hätte sich die JÜG ebenfalls beteiligt. Die Bemühungen gingen in Zukunft auch über Berlin hinaus darum, noch mehr als bisher mit professionellen Institutionen zusammen Ausstellungsprojekte ihrer osteuropäisch-jüdischen Künstler zu machen.
5.5. Berlinspezifische Entwicklungsbedingungen und stadträumliche Besonderheiten der JÜG Es kann davon ausgegangen werden, dass die Entwicklung der Jüdischen Galerie wie bei kaum einer anderen untersuchten Gruppenaktivität durch ihr stadträumliches Umfeld und dessen starke Veränderungen in den letzten eineinhalb Jahrzehnten mitbestimmt worden ist. Die existenzielle Bedeutung des äußeren Umfelds für die JÜG erklärt sich zunächst aus ihrem Charakteristikum als einer Verkaufsgalerie, also dem Interesse am Verkauf der von ihr ausgestellten Gemälde an eine zahlende Kundschaft. Dabei lässt sich die äußerst ,prominente Lage‘ der JÜG im alten Berliner Zentrum in der Spandauer Vorstadt als ein für ihre Geschäftstätigkeit entscheidender positiver Standortfaktor ausmachen: • Zum einen wird die Oranienburger Straße sowie auf dieser Straße das Bauensemble mit der darin aufragenden Neuen Synagoge, in dem sich neben verschiedenen jüdischen Einrichtungen auch die Jüdischen Galerie befindet, touristisch als die ,Jüdische Meile‘ der Metropole schlechthin wahrgenommen, wie bereits mehrfach thematisiert. Entsprechend hat sich die JÜG auf das touristischen Laufpublikum mit Postern, Postkarten und jüdischem Kunsthandwerk eingestellt.172 • Zum anderen befindet sich die JÜG darüber hinaus zugleich mittlerweile in dem Galerien-,In-Viertel‘ der Berliner Stadtlandschaft, wenn nicht überhaupt in Deutschland. Dies war bei Einrichtung der Galerie in diesem 171 Zum Jüdischen Museum vgl. Kap. II.2.4.1., S. 162 ff. 172 Vgl. auch M. Frajman./A. Roth: Das jüdische Berlin heute, S. 42.
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Maße noch gar nicht absehbar gewesen: „Ja, es ist so passiert, dass wir sind schon im Jahre ‘93 hier [gewesen; A. J.] es gab [...] eine jüdische Galerie, noch zwei, drei Galerien, und, es ist so geworden, [...] wir sind jetzt im Zentrum von“ – „dem Galerieviertel“ (P11/16), ein echter Glücksfall für die Galerie und für deren Gewinnung eines Stammpublikums. Allerdings ist mit dieser prominenten Lage der Jüdischen Galerie zugleich auch ein größeres Manko verbunden: Die JÜG unterliegt nämlich wie alle anderen jüdischen Einrichtungen im exponierten Bauensemble der Neuen Synagoge den dortigen strengen Sicherheitsmaßnahmen mit einer besetzten Pforte im Eingangsbereich und rund um die Uhr laufendem Polizeischutz auf der Straße: Auch wenn die Kunden bereit sind, dies hinzunehmen, stellt dieser Faktor einen nur schwer zu ertragende Beeinträchtigung für Galerie dar.173 Abschließend stellt sich die Frage, ob die Jüdische Galerie ein Vorbild für vergleichbare Projekte in anderen Orten mit größeren jüdischen Gemeinden in Deutschland wie etwa in Frankfurt oder München sein könnte. Auf diese Frage antwortet die in der Galerie tätige Kunsthändlerin ambivalent. Zum einen bekundet sie Skepsis angesichts der vor allem anderen rangierenden Frage der Finanzierung eines solchen Vorhabens. Hierbei habe gerade Berlin als größte jüdische Gemeinde in Deutschland immer noch Vorteile. In diesem Zusammenhang spricht sie außerdem die günstige Lage und räumliche Situation an. Dennoch hält die Galeristin längerfristig auch an anderen Orten in Deutschland die Einrichtung vergleichbarer jüdischer Galerien für möglich. Die erfolgreiche Durchsetzung eines solchen Galeriekonzepts über die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen hänge ihren eigenen Erfahrungen nach nämlich vorrangig daran, dass von den Verantwortlichen – dies meint also implizit auf der Ebene der federführenden Gemeinden – ein entsprechender Wille hierzu auch wirklich vorhanden sei. Für diesen Fall gälte: „Alles ist möglich.“ (P11/20)
5.6. Fazit und Zukunftsperspektiven Als Fazit der Analyse der Jüdischen Galerie lässt sich zunächst festhalten, dass die JÜG als zugleich soziokulturelles wie kommerzielles Unikat ein bislang erfolgreiches Experiment darstellt. Allen in der vorherigen Erörterung herausgearbeiteten Widrigkeiten zum Trotz kann die Galerie offenbar ihre prominente Lage nutzen, um sowohl innerjüdisch wie zugleich gegenüber interessierten Kreisen der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft als ein Ausstellungsort osteuropäischjüdischstämmiger Künstler mit Wohnsitz in Berlin bzw. im übrigen Deutschland zu fungieren. Als ein weiteres zentrales Ergebnis kann festgehalten werden, dass deren Bedeutung für die innerjüdische Integration eher nachgeordnet erscheint: Demnach sind die innerjüdisch gemeinschaftsbildenden Prozesse in der JÜG vielmehr ein 173 Auf diese Randbedingungen wurde im Rahmen der Antisemitismus-Untersuchung in dem entsprechenden Kap. III.4.2.2., S. 401 f. näher eingegangen.
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Ausdruck der integrativen Situation ihrer Künstler-Klientel im jüdischen Berlin überhaupt, als dass sie diese beeinflussen oder erst herstellen. Damit erweist sich die Galerie im deutlichen Unterschied zu den meisten übrigen untersuchten jüdischen Gruppenaktivitäten als kein vorrangiger Ort der Integration in die hiesige jüdische Gemeinschaft. Vielmehr sind viele der Künstler in dem hiesigen osteuropäisch-jüdischen Milieu verankert und bringen teilweise ihre entsprechend jüdische Identitäts- und Gemeinschaftsbildung auf Grund der Motivwahl der in der JÜG gezeigten Bilder zunehmend zum Ausdruck. Darüber hinaus finden allerdings auch in der JÜG gemeinschaftsstärkende Austauschprozesse zwischen osteuropäisch-jüdischen Künstlern und Galeristen sowie mit einem herkunftsgleichen Publikum statt. Wie weit die Galerie zukünftig ein vergleichbarer Ort des innerjüdischen Austauschs jüngerer Künstler aus dem russischsprachigen Milieu mit den ihnen bisher noch wenig vertrauten in Deutschland geborenen oder aufgewachsenen Gemeindemitgliedern und originär deutschsprachigen Künstlern bzw. Kunden werden wird, lässt sich gegenwärtig noch nicht absehen. Die Jüdische Galerie scheint hierfür als Forum zumindest eher prädestiniert als manche der abgeschlosseneren jüdischen Aktivitäten, wie sie z. T. in der Studie behandelt werden.
6 . D i e jü d i s c h e Ho m o s e x u e l le n g r u p p e ,Y a c h a d ‘ „Von Woody Allen gibt es den Witz über den schwarzen, der im Rollstuhl in der New Yorker U-Bahn sitzt und eine jüdische Zeitung herauskramt. Als ein Jude das sieht, fährt er ihn an: ,Jetzt übertreiben sie aber!‘“ Philipp Gessler174
6.1. Der Entstehungshintergrund von Yachad Auch die Berliner Gemeinschaftsinitiative ,Yachad – Vereinigung lesbischer, schwuler und bisexueller Jüdinnen und Juden‘ (Ya) stellt nach inhaltlicher Ausrichtung wie nach Mitgliederstruktur in der hiesigen jüdischen Gemeinschaft etwas Neuartiges dar: Denn in dieser Basisinitiative werden zentrale außerjüdische Identitätsmerkmale der Gruppenmitglieder unmittelbar mit deren Zugehörigkeit zum Judentum verbunden: Entsprechend ihrer Selbstdefinition finden sich in ihr gleichermaßen Angehörende beider Minderheiten in Berlin lebender Juden wie Homosexueller zusammen, die mit dieser doppelten Zugehörigkeit in den jeweiligen Minderheiten selbst wieder eine Minderheit bilden. Trotz des mittlerweile auf gesamtgesellschaftlicher Ebene in Deutschland erreichten relativen Normalisierung im Umgang mit Homosexuellen, Juden u. a. ehemals hier diskriminierten und verfolgten Minderheiten ist die Herausbildung der jüdischen Schwulen-Lesben-Initiative auch im heutigen Berlin bemerkenswert. Schließlich stellt die weitgehende rechtliche Gleichstellung von Juden und 174 Ders.: „Raus aus Reihe 7 der Synagoge“, in: TAZ 03.02.00
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Homosexuellen mit der übrigen Bevölkerung in der Metropole und im übrigen Deutschland – ähnlich wie in anderen westlichen Staaten – keinen Hinderungsgrund für nach wie vor fortbestehende oder sogar neuentstehende antisemitische und homophobe Vorurteilsmuster dar. So ist es auch in Berlin nicht völlig problemlos, sich als Angehöriger zweier in Teilen der Mehrheitsgesellschaft noch immer nicht wohlgelittenen Minderheiten zu bekennen.175 In der folgenden Darstellung und Untersuchung der Berliner jüdischen Homosexuellen-Initiative wird vorrangig auf ein Erhebungsgespräch Bezug genommen, welches mir möglich war, mit einem lesbischen (P 9 I) sowie mit einem schwulen Yachad-Mitglied (P 9 II) zu führen. Auf Grund der schwullesbischen Zusammensetzung dieser Gruppenaktivität erschien es sinnvoll, sowohl ein männliches wie ein weibliches Mitglied zu befragen. Es ist das einzig Gruppengespräch der Haupterhebung. Außerdem wurde für die Analyse auf einige ausgewählte Zeitungsartikel und Internetseiten zurückgegriffen.
6.1.1. Die Ausgangssituation der Gruppengründung Es kann davon ausgegangen werden, dass in Berlin wie auch in anderen größeren Städten Deutschlands schon ,immer‘ homosexuell orientierte Juden bzw. Homosexuelle mit jüdischem Hintergrund lebten. Bis vor kurzem zogen sie es vor, nicht individuell, erst recht nicht als jüdisch-homosexueller Zusammenschluss öffentlich in Erscheinung zu treten. Dies beruhte offensichtlich auf vorherrschenden Vorbehalten in beiden Minderheiten gegen die Zweifach-Minderheit: Einerseits galt Homosexualität im Judentum über Jahrhunderte – wie ähnlich auch in den monotheistischen Religionen Christentum und Islam – als nicht gottgewollt.176 Daher lehnten religiöse wie weltliche jüdische Repräsentanten gleichgeschlechtliche Liebe lange Zeit strikt ab. In religiös streng orthodox orientierten jüdischen Kreisen gilt dies heute noch, auch in Deutschland. Allerdings zeichnete sich etwa seit Ende der 60er Jahre im Zuge einer allgemeingesellschaftlichen allmählichen Liberalisierung gegenüber Homosexuellen in den westlichen Staaten, auch im Judentum (ähnlich zu den dortigen Amtskirchen, s. u.) ebenfalls ein
175 Eine entsprechende, gerade in Großstädten mögliche Mehrfachdiskriminierung auf Grund der häufigeren Gemeinschaftsbildungen unter Minderheiten sollte mit der zitierten Szene aus einem Woody Allen-Film verdeutlicht werden: Sie spielt in New York – der jüdischen und Homosexuellen-Metropole schlechthin 176 Entsprechende Stellen finden sich bereits in der Bibel, z. B. im 3. Buch Mose (18,22) bzw. in Wajjikra/Lev (18, 22): „Du sollst nicht mit einem Mann schlafen, wie man mit einer Frau schläft; ein Gräuel ist das.“ Weibliche Homosexualität findet in der jüdischen Bibel (AT) demgegenüber keine Erwähnung und wird erst durch spätere auslegende Kommentare im Talmud ebenfalls als gottungewollt, allerdings nicht als Sünde, sondern nur als Obszönität erklärt. Eine sehr gute Einführung zu „Judentum und Homosexualität“ von Felice-Judith Ansohn findet sich im Internet unter www.hagalil.com/yachad/homosexual.htm. (14.01.05). Die Autorin des Aufsatzes ist Professorin für Geschichte und Medizin und Mitglied bei Yachad Berlin. Ihrem Text ist das obige Bibelzitat entnommen.
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allmählicher Wandel im Umgang mit diesen ab: Die stärksten Impulse gingen dabei vom Reformjudentum in den USA aus, in dessen Reihen sich bis heute eine weitgehende Akzeptanz für Schwule und Lesben durchgesetzt, z. T. bis hin zu homosexuellen RabbinerInnen. – In letzter Zeit lassen sich sogar in Teilen der jüdischen Orthodoxie Anzeichen für einen Wandel in dieser Frage vernehmen: So versammelten sich um den Jahreswechsel 2003/04 einige Dutzend orthodoxe Rabbiner in Jerusalem erstmals, um zu debattieren, wie traditionell orientierte Geistliche mit Gemeindemitgliedern umgehen sollten.177 Andererseits erfüllte Homosexualität in Deutschland bis 1977 einen juristischen Straftatbestand. Erst in den letzten 30 Jahren erkämpften die hier lebenden Schwulen und Lesben sukzessive eine bis heute immer noch nicht in Gänze – etwa im Heiratsrecht – erreichte rechtliche Gleichstellung. Nicht zuletzt auf Grund dieser politischen und rechtlichen Erfolge war es Homosexuellen nun besser möglich, sich auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene Respekt zu verschaffen. Dies gilt nicht zuletzt auch für den Bereich der christlichen Kirchen, in denen mit Homosexuellen mittlerweile – ähnlich zum Judentum – ganz unterschiedlich umgegangen wird. Auch wenn sich zu ihrer Veranlagung bekennende Schwule und Lesben mittlerweile in allen gesellschaftlichen Kreisen und Berufsfeldern anzutreffen sind, wird gleichgeschlechtliche Liebe bis heute noch längst nicht in allen Teilen der deutschen Gesellschaft der Heterosexualität gegenüber als gleichwertig anerkannt und z. T. noch immer diskriminiert. Man denke nur welche Wogen das das homosexuelle Coming-Out von Klaus Wowereit vor seiner Wahl zum regierenden Bürgermeister von Berlin geschlagen hatte, ein Schritt, den viele Politiker bis heute scheuen!
6.1.2. Die Entstehung der Berliner Yachad-Gruppe Eine günstige Voraussetzung für die Rekonstruktion der Gründung der Berliner jüdischen Homosexuelleninitiative besteht darin, dass das männliche YaMitglied P 9 II zu deren Gründungsmitgliedern zählt. Der Interviewte war Mitte der 90er Jahre nach Berlin gekommen. Kurzzeitige Ansätze für eine ähnliche Gruppe in Berlin aus den frühen 90er Jahren existierten zu dieser Zeit bereits nicht mehr, diese war an der hohen Fluktuation des überwiegenden studentischen Mitgliederkreises durch deren Wegzug aus Berlin wieder eingegangen. Daher bestand keine personelle Kontinuität zu deren InitiatorInnen. Zeitgleich mit dem Zuzug des Gesprächspartners nach Berlin bildete sich 1995 in Köln eine frühe jüdische Homosexuellengruppe als erste Yachad-Gruppe. Ohne genauere Kenntnis der Kölner Initiative lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit vermuten, dass für die Gründungsidee jüdische Homosexuelleninitiativen in den USA Pate gestanden hatten, die dort bereits seit Jahrzehnten existieren.178
177 Vgl. Michael Borgstede: „Neuland. Orthodoxe Rabbiner diskutieren erstmals über Homosexualität“, in: JA 15.01.04. 178 Vgl. Philipp Gessler: „Geduldet, aber nicht geachtet“, in: AJW 06.07.00.
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1997 erfährt der Berichtende durch einen kleinen Zeitungsartikel in der AJW von der Existenz der Kölner Gruppe mit Kontaktadresse. Daraufhin melden sich sehr viele Interessierte aus verschiedenen Städten bei den Kölnern. Offensichtlich bewirkte der Artikel in der ,Homo-Hauptstadt‘ Berlin eine Initialzündung: Denn unter den sich Meldenden waren nämlich: „sehr viele Berliner auch dabei und da hieß es doch ,oh, warum sollen Berliner sich gegenseitig treffen über Köln.‘ Haben wir einfach gesagt, ,O. K. wir gründen eine eigene Gruppe, hier in Berlin‘, also ,Yachad Berlin‘, die Regionalgruppe, das haben wir gemacht und das war auch ganz erfolgreich“ (P 9 II/4) Der Gesprächspartner hält die Veröffentlichung des Artikels in der Rückschau für den entscheidenden Impuls der Berliner Gruppenbildung, ohne die es nicht zu Yachad-Berlin gekommen wäre. Es sind anfangs ca. 10 Leute, die so als zusammenkommen. Sie „haben in der ,Siegessäule‘ eine Rubrik, also eine Kontaktadresse eingerichtet, im ,Mann-OMeter‘ hing [...] das schwul-lesbische Switchboard in Berlin, da hing ein Zettel, eine ziemlich lange Zeit, dass es Yachad gibt“. (Ebd.)179 Abschließend gilt es noch kurz die Entstehungsbedingungen von Yachad Berlin zu reflektieren: Vor dem Hintergrund des für die Gruppe sicherlich positiv bedeutsamen quantitativen Effekts, dass nirgendwo sonst in Deutschland so viele bekennende Juden und Homosexuelle leben wie hier, werden in dem zuletzt zitierten Statement günstige Berlinspezifische Ausgangsbedingungen für die dort entstehende jüdische Homosexuellen-Gruppe angesprochen: D. h. in Berlin gibt es nicht nur einen relativ große potenzielle Zielgruppe für Yachad, sondern es ist auch in der Schwul-lesbischen Szene der Stadt eine ebenso einmalige Infrastruktur vorhanden, die es erleichtert in ihr einen hohen Bekanntheitsgrad zu erreichen. Die entscheidende Bedeutung dieser beiden Faktoren ,Masse‘ und ,Klasse‘ für die eigene Gruppenbildung schätzt auch der befragte Ya-Aktivist ähnlich ein: „Das würde schon bei einer mittelgroßen Gemeinde nicht mehr richtig hinhauen, da eine dauerhafte Gruppe aufzuziehen“ (P9 II/8) Eine gewisse metropolitane Liberalität und großstädtische Anonymität dürften weitere begünstigende Faktoren der Gründungsphase gewesen sein.
6.2. Inhalt und Formalia Allerdings stellt die Berliner Yachad-Gruppe keine singuläre, nur hier existente Initiative dar, sondern es besteht ein kleines bundesweites Netzwerk gleichen Namens, das im Folgenden auch kurz mitberücksichtigt wird: Der von allen Einzelgruppen und dem bundesweiten Netzwerk geführte Name Yachad ist das hebräische Wort für ,gemeinsam‘.180 Der Name ist Programm: Nach außen geht es zum einen unabhängig von Herkunft, Alter und Weltanschauung der Mitglieder „um ein gemeinsames Auftreten von Homosexuellen jüdischer Religion in einer
179 Die ,Siegessäule‘ ist das Berliner Schwulenmagazin, das ,Mann-O-Meter‘ ein bekannter Treff der örtlichen Schwulenszene. 180 Vgl. P. Gessler in: AJW 06.07.00.
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christlich und heterosexuell geprägten Mehrheitsgesellschaft“181. Zum anderen ist Yachad als Einzelgruppe wie als bundesweiter Zusammenschluss eine nicht minder politische „Demonstration auch innerhalb der jüdischen Gemeinden“, in denen es laut einem Sprecher der Berliner Gruppe „so viele Homophobe gibt wie in allen anderen [gesamtgesellschaftlichen, A. J.] Gruppen auch: Ihnen gegenüber gemeinsam Flagge zu zeigen: Darum geht es: demonstrieren, dass Schwule und Lesben zur Gemeinde gehören.“182 Intern steht bei Yachad das gemeinsame Ausüben jüdischer Religiosität jenseits einer Festlegung auf eine bestimmte Ausrichtung sowie das gesellige Zusammensein der Mitglieder im Vordergrund.183 Der Dachverband Yachad Deutschland besteht aus einer Handvoll in den größten Städten Deutschlands beheimateter jüdischer Homosexuellen-Initiativen. Außer in Berlin gibt es bereits längerfristig existierende Yachad-Gruppen in den großen Städten Frankfurt a. M., Köln und München sowie ein kleines Grüppchen in Hamburg mit zusammen etwa 90 bis 100 Mitgliedern. Zwischenzeitlich hatte auch in Nürnberg eine kleinere Gruppe bestanden. Über die einzelnen Städtegruppen hinaus besteht ein größerer Freundeskreis.184 Auffallend ist, dass es sich bei allen genannten Städten mit existierenden Yachad-Gruppen um Orte mit einerseits überdurchschnittlich großen jüdischen Gemeinden wie andererseits auch große schwul-lesbische Szenen handelt, also um einen Gelegenheitsstruktur im Sinne G. Simmels Theorie der sozialen Kreise.185 – Yachad Deutschland gehört mit ca. 70 weiteren schwul-lesbisch jüdischen Gruppen dem sich regelmäßig treffenden ,World Congress of Gay, Lesbian, Bisexual and Transgender Jews‘ an. Kontakte bestehen zu anderen jüdischen Schwulen-Lesben-Gruppen in den Niederlanden, in Österreich, England, Frankreich, den USA und Israel. Außerdem nimmt die deutsche Sektion an den europäisch-israelischen Regionalkonferenzen teil bzw. lädt im Turnus hierzu auch in eine der deutschen Yachad-Städte ein.186 Yachad-Berlin besitzt mit etwa 20 Mitgliedern die höchste Gruppengröße aller Yachad-Gruppen in Deutschland. Sie hat sich dazu entschlossen, gegenüber dem bundesweiten Zusammenschluss autonom zu arbeiten.187 Die Organisationsform der Initiative ist ein eingetragener Verein. Eine Kontaktadresse besteht über den o. g. Szenetreff Mann-O-Meter. Die Altersspanne ihrer Mitglieder reicht von 27 bis 70.188 Allerdings liegt deren Altersdurchschnitt ohne große Streuung in der 181 Eine Yachad-Sprecherin nach ebd. 182 P. Gessler in: TAZ 03.02.00 183 Vgl. hierzu genauer die im folgenden Themenblock folgenden Kap. IV. 6.3.1. und 6.3.2. 184 Zu den Angaben über die bundesweiten Yachad-Gruppen vgl. P 9 II, S. 7 sowie Fred Fischer: „Identität stiften“ (Interview), in: QUEER. Bundesweit 02.01 sowie Elke Wittich: „Dabei sein ist alles“, in: JA 08.01.04 185 Vgl. hierzu das Zitat Simmel-Zitat als Motto des soziologische Verortungs-Kap. II.3., S. 170. 186 F. Fischer in: QUEER 02.01 187 Vgl. ebd. 188 Vgl. P. Gessler in: AJW 06.07.00
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Dekade der 30 bis 40-Jährigen. Die Homosexuellen-Gruppe besitzt neben in Deutschland gebürtigen relativ viele ihrem Herkommen nach ursprünglich aus dem westlichen Ausland oder aus Israel189 stammende Mitglieder. Auf der inhaltlichen Ebene spielt das gruppeninterne Ausleben der gemeinsamen jüdischen Identität die wichtigste Rolle der privat bei Ya-Mitgliedern stattfindenden Gruppentreffen. Der Schabbat wird von der Initiative gemeinschaftlich begangen und auch die wichtigen jüdischen Feiertage werden gemeinsam mit Freunden zelebriert.190 1997 fand in Berlin ein größeres Ausstellungsprojekt zum Thema ,Geschichte der Diskriminierung von Homosexuellen und 100 Jahre Sexualwissenschaft‘ statt. An einem Wochenende stellten die Angehörigen verschiedener Religionen die unterschiedlichen Positionen in ihren Religionen zur Homosexualität dar, wobei die neugegründete Gruppe die jüdischen Sichtweisen thematisierte.191 Die Ya engagiert sich bei Gedenkveranstaltungen, Demonstrationen und regelmäßig beim jüdischen Straßenfest in der Oranienburger Straße. Auch beim großen, von Hunderttausenden gesäumten Umzug in Berlin am Christopher-Street-Day ist die Gruppe mit einem eigenen Wagen vertreten. Außerdem führt sie Aufklärungsveranstaltungen unter jungen Juden wie unter interessierten Nichtjuden durch.192 Zu erkennen ist die Berliner jüdische Schwulen-Lesben-Initiative – wie auch die übrigen Ortsgruppen – bei öffentlichen Auftritten immer an der von den Mitgliedern hochgehaltenen Regenbogenflagge der Homosexuellen, in deren Mitte sich ein weißer Davidsstern befindet.
6.3. Integrative und weitere soziale Prozesse innerhalb der Gruppe 6.3.1. Gruppenbildung als Familienersatz Bei der näheren Beschäftigung mit Yachad fällt der familienartige Charakter als spezifisches Gruppenmerkmal ins Auge. Der männliche Yachad Aktive „[...] ja also für mich ist eben Yachad so von Anfang an so ein bisschen Familienersatz gewesen und da hier in Berlin halt Familie [...] nicht ist [...], und es war einfach wichtig, jemanden zu haben, mit dem man halt die Feiertage begehen kann, mit dem man sonstige Feste begeht, mit dem man einfach unterwegs ist und auch den kulturellen Hintergrund teilt.“ P9 II/4) Dem familiären Gruppencharakter liegt vielmals eine biographisch bedingte Problematik der Mitglieder zu Grunde, da
189 Es kann davon ausgegangen werden, dass sich unter den auf bis zu mehrere Tausend geschätzten Israelis in Berlin eine überproportional große Zahl an Schwulen und Lesben befindet, für die Berlin wegen seiner im Vergleich mit Israel sehr toleranten Haltung gegenüber Homosexuellen eine hohe Attraktivität besitzt; vgl. im Israelischen Stammtisch-Kap. IV.6.1., S. 523. 190 Vgl. hierzu genauer unten Kap. IV.6.3.2. 191 Vgl. hierzu im Internet Yachad: „Selbstdarstellung“ www.hagalil.com/yachad/mjahad.htm. (14.01.05) 192 Vgl. hierzu unten Kap. IV. 6.5., S. 520.
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viele „wegen ihrer Homosexualität Probleme mit ihren Eltern“ hätten.193 Einige Eltern haben offenbar als Holocaustüberlebende auch Schwierigkeiten damit, auf Grund der Homosexualität ihrer Kinder keine Enkelkinder erwarten zu können, bemerkte ein männliches Ya-Mitglied an gleicher Stelle.194 Ein andere für den weiteren Gruppenbestand nicht unproblematische Eigenheit von Yachad stellt die relativ hohe Fluktuation der Gruppenmitglieder dar. So berichtet die befragte Ya-Aktive davon, dass eine große Zahl der aus Israel und anderen westlichen Ländern stammenden Ya-Mitglieder nach verhältnismäßig kurzer Zeit wieder in ihre Herkunftsländer gehen würden – etwa aus beruflichen Gründen. Außerdem seien Homosexuelle sowieso eine relativ mobile soziale Gruppe (etwa gegenüber Kleinfamilien). Manche -Interessierte kämen von vorn herein nur mit ,Schnupperabsicht‘ in die Gruppe: „Also, viele sagen einfach, ,O. K. Ich geh' da mal hin, bleibe eine Weile, kucke mir das an, ist nett und gehe wieder woanders hin, weil andere Interessen sich auftun.‘“ (P9 II/10) Gerade der o. g. Charakter der Gruppe als Familienersatz hat zur Folge, dass einige Mitglieder die Gemeinschaftsinitiative für den Fall verlassen, dass sie dieser Ersatzfunktion nicht mehr bedürfen: Als persönliches Beispiel hierfür erwähnt der YachadAktive seine eigene jüdische Schwulen-WG, die sich durch Yachad gefunden hätte und um die wiederum ein Umfeld entstanden sei. Damit hätte sich bei den meisten dieses Freundeskreises das Bedürfnis nach Familienersatz erledigt. – Einen weiteren Hinweis auf das Szenetypische der geschilderten Problematik des überhöhten Fluktuations-Faktors bei Yachad kann die oben bereits angeführte Tatsache liefern, dass deren informelle Vorgängergruppe schon zu Beginn der 90er Jahre offenbar an dieser Schwierigkeit gescheitert ist.195 Interessant vor dem Hintergrund der häufig auch durch Yachad gruppenintern sich herausbildenden persönlichen Freundschaften bzw. Freundeskreise erscheint, dass die Initiative für ihre Mitglieder offensichtlich keinen Partner- oder Heiratsmarkt darstellt. Der in der Berliner Gruppe engagierte männliche Gesprächspartner vermerkt allerdings zu diesem Faktum auch: „Es [Yachad; A. J.] ist kein Heiratsbüro.“ – „Es möchten viele [dies; A. J.] gern daraus gemacht sehen, aber ist es auf keinen Fall.“ (P 9 II/10) Angesichts der vergleichsweise winzigen Anzahl an jüdischen Schwulen und Lesben in der Millionenstadt gegenüber zehntausenden bis hunderttausenden hier lebender Homosexuellen erscheint nahezu zwingend, dass die Gruppe diese Funktion nicht erfüllen kann. So haben nahezu alle Ya-Mitglieder auch LebenspartnerInnen außerhalb der Gruppe.196 193 Selbstdarstellung“ www.hagalil.com/yachad/m-jahad.htm. (14.01.05). Schließlich geht man in vielen Gemeinden heute noch sogar generationsübergreifend „mit homosexuellen Mitgliedern nach dem Motto um ,Don't ask, don' t tell‘“, ebd. 194 Vgl. ebd. 195 Vgl. oben Kap. IV. 6.1.2., S. 511. 196 Die beiden von P. Gessler befragten männlichen und weiblichen Ya-Sprecher äußerten, dass sie persönlich zum Gesprächszeitpunkt mit nichtjüdischen, also ebenfalls gruppenexternen PartnerInnen liiert seien; vgl. ders. in: TAZ 03.02.00.
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6.3.2 Religiöse Identitätsstiftung und westlich-weltlicher Charakter von Yachad Eine weitere Besonderheit in Homosexuellenkreisen stellt neben dem jüdischen Herkommen ihrer Mitglieder deren gemischtgeschlechtliche Zusammensetzung dar. Der Schlüssel für das Funktionieren der gemischtgeschlechtlichen Zusammensetzung der Initiative scheint dabei in deren jüdischem Charakter, speziell in den von allen Gruppenmitgliedern gemeinsam mit Freunden und Gästen in Privaträumen begangenen Kabbalat Schabbat mit anschließendem Kiddusch und geselligem Beisammensein zu liegen. Die Gruppe praktiziert dabei die traditionell im Jüdischen vorhandene rituelle Aufgabenverteilung zwischen Männern und Frauen, worauf die weibliche Ya-Aktive im Interview dezidiert verweist: „Aber, es hat natürlich auch was mit den jüdischen Traditionen zu tun, ich meine, man feiert gemeinsam, Männer und Frauen haben beide verschiedene Aufgaben, die wir auch immer versuchen [entsprechend zu verteilen; A. J.]“. (P9I/11-12) Beide Ya-Aktive betonen die primäre Bedeutung des Jüdisch-Religiösen gegenüber dem homosexuellen Aspekt: P 9 I: „Und [...] Sexualität spielt hier eigentlich […] weniger eine Rolle, als das [...] Judentum, das ist viel wichtiger und dann ist die Homosexualität dieses Anderssein, was verbindet, glaube ich, es könnte auch was anderes sein.“ – P 9 II: „Denke schon, dass, dass [...] unser Vorteil eben gegenüber anderen sexuellen Gruppierungen [ist], dass“ – „wir also [und] nicht über den Sex, Sexualität definieren, sondern ausschließlich auf dem kulturellen Hintergrund“ – „und in diesem kulturellen Hintergrund, die Homosexualität dann an Wert gewinnt.“ – „Und innerhalb der jüdische Gemeinde, innerhalb also des jüdischen Lebens und innerhalb der jüdischen Gemeinschaft und als dieser Teil in der jüdischen Gemeinschaft sind wir ein Teil.“ – P 9 I: „Ja, ja.“ (P9 I u. II/12)
Eine wichtige Frage angesichts der primären Bedeutung des jüdisch-religiösen Charakters für die gruppenspezifische Identitätsstiftung stellt der interne Einigungsprozess in der religiösen Praxis von Ya dar: P 9 II: „Also man versucht einfach, Kompromiss einzugehen, und sagen, O. K., die da die Liberalen sind, die versuchen halt doch mit der konservativen Richtung zurecht zu kommen und denen Zugeständnisse zu machen, wenn die Konservativen und halt den liberalen und egalitären Leuten dann zugestehen, dass halt die Frauen eine größere Rolle spielen, und so halt das wunderbar macht. Und man ist ja auch nicht dogmatisch mit dem Sinne, dass nur die einen von sich glauben nur die alleinige alleingültige Wahrheit zu besitzen, man ist da schon pragmatisch, denke ich...“ – P 9 I: „Obwohl wir natürlich auch Probleme haben...“ – P 9 II: „[...] schönreden kann man es nicht, aber...“ – P 9 I: „Aber letztendlich ist jeder auch kompromissbereit.“ (P9 I u. II/13)
Dennoch scheint insgesamt der demokratische Gruppenanspruch in deren religiöser Praxis zu funktionieren, wie beide GesprächspartnerInnen unisono bestätigen: Als von der Initiative insgesamt als positiv empfundene Gruppenerlebnisse heben die beiden Ya-Mitglieder auch das gemeinsame Begehen jüdischen Feiertage,
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namentlich von PURIM und Pessach197 hervor. Hierzu wird auch das Umfeld der Gruppe eingeladen, so dass etwa 50 Personen an einem solchen Fest teilnehmen. Dabei gelingt es ihnen an wichtigen Feiertagen, Rabbiner zu verpflichten – neben liberalen auch den orthodoxen Gemeinderabbiner (ebd.). Ein letzter hier behandelter Aspekt der Gruppenidentität ist der westliche Charakter von Yachad auf Grund der Zusammensetzung aus jüdisch-deutschen, westeuropäischen sowie israelischen Mitgliedern sowie wegen dem entsprechend offenen Umgang mit Homosexualität. Die in den letzten eineinhalb Dekaden nach Berlin zugezogenen osteuropäischen Juden sind demgegenüber personell bei Yachad fast gar nicht existent. Dieses Fernbleiben erklärt das männliche Gründungsmitglied vor allem mit einem herkunftsbedingten Mentalitätsunterschied: Gegenüber der vergleichsweise liberalen mittel- und westeuropäischen Haltung gegenüber Homosexualität wäre in der ehemaligen SU Homosexualität viel stärker stigmatisiert. Viele der homosexuellen Zuwanderer hätten durch ein unfreiwilliges Coming Out die Befürchtung, aus den eigenen Kreisen verstoßen zu werden. Die von dort stammenden Homosexuellen würden „einfach erst mal versuchen, Fuß zu fassen, Integration über die jüdische Gemeinde“, während demgegenüber „ihre Homosexualität zu entdecken, zu forcieren, zu dokumentieren, der Außenwelt gegenüber [...], dieses Bedürfnis schon ziemlich weit hinten steht“. (P9 II/27) Teilweise gäbe es bei Einigen aus dieser Herkunftsgruppe auch Sprachbarrieren gegenüber der deutschen und englischsprachigen Initiative. Einige der schwulen Zuwanderer aus den GUS-Staaten, die Deutsch könnten, würden allerdings schon mal zu den Yachad-Treffen kommen oder bspw. eine Zeitung über die Initiative beziehen und dabei ein starkes Bedürfnis nach Anonymität äußern. Die bei Ya Aktive stellt allerdings in diesem Zusammenhang erstaunt fest: „[…] aber bis jetzt hab ich noch keine lesbische russische [...] Jüdin kennen gelernt“. (P 9 I/28). Sie kann sich diesen Unterschied nicht genau erklären, mutmaßt aber dass es mit dem Grad weiblich-lesbischer Emanzipation im Zuwanderermilieu zu tun hat. Dennoch vernutet sie, dass dieses völlige Fernbleiben russischsprachiger Frauen sich in den nächsten fünf Jahren ändern könnte. Wieweit die religiös offene und westlich geprägte Gruppe für jüngere Homosexuelle des Zuwanderermilieus mit deren zunehmender Sprachkompetenz und kultureller Angleichung einen Weg eröffnet, ihre zweifache MinderheitsOrientierung auszuleben, wird sich allerdings erst in Zukunft zeigen.
6.4. Die Beziehung zur Jüdischen Gemeinde sowie zu Gruppen aus deren Umfeld Für die Frühzeit des Verhältnisses der Berliner Schwulen-Lesben-Initiative zur Berliner Gemeinde seit ihren Anfängen 1997 äußert sich das männliche Grün197 Yachad hat zu ein eigenes „Comig-Out-Gebet“ entwickelt, welches sprachlich Frauen miteinschließt sowie auch die Perspektive schwul-, lesbisch- oder bisexuell lebender Menschen berücksichtigt. Es kann unter www.berlin-judentum.de/ gruppen/yachad.htm. (14.01.05) nachgelesen werden.
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dungsmitglied. Demnach wäre Yachad von Anfang an offen der Gemeinde gegenübergetreten und hätte bei ihr als „ein eingetragener Verein Yachad, als Institution, nicht bloß [als] eine Gruppierung von irgendwelchen Leuten“ P 9 II/14) um Unterstützung nachgefragt. Der zu dieser Zeit frisch gewählte Gemeindevorsitzende Andreas Nachama zeigte sich der Gruppe gegenüber von Anfang an aufgeschlossen, wie er weiter ausführt: „[…] und er hat damals gesagt: ,Ja‘, – hat uns Räume angeboten in der Gemeinde, die man nutzen kann, [...] hat also prinzipiell positiv reagiert und das war eigentlich so das offizielle Statement.“ (P 9 II/ 15) Auch die Kontaktadresse der Initiative werde in der Gemeindezeitung ‚Jüdisches Berlin‘ abgedruckt. Insgesamt bezeichnet er das Verhältnis zwischen Yachad und der JGB bilanzierend als „ein Stück Normalität“ [Hervorhebung: A. J.] (ebd.) Das männliche Ya-Mitglied stellt A. Nachama als die entscheidende Person für das von vorn herein erstaunlich positive Verhältnis zwischen Yachad und der Gemeinde heraus und vergleicht diese Phase mit der des Vorgängers im JGBVorsitz: „Nein, das war Nachama. Ach, unter Kanal, wäre das nicht möglich gewesen.“ (ebd.). Er sieht Kanal198, ähnlich dessen Vorgänger H. Galinski199, als Repräsentanten der unmittelbaren Überlebendengeneration von Auschwitz: „[…] es war die Generation... nicht in seiner Person, […]“ – „war so in ihrem Opfersein verfestigt, […], dass da kein Platz für andere Leute war und auch kein Platz für Toleranz.“ – „außerhalb der eigenen... ist mein Empfinden.“ – „Also wenn ich alte Leute aus der Generation treffe, sie haben Schreckliches mitgemacht, ohne Zweifel, aber die Welt geht weiter und es gibt mehr Dinge zu tun als [...] diese Dinge und das war mit der alten Generation nicht zu machen, es bedurfte einer neuen Generation.“ (P 9 II/24)
Nachamas Öffnung der Gemeinde für Anliegen, wie sie durch die jüdische Schwulen-Lesben-Initiative verkörpert werden, hält er dabei für einen Bestandteil dessen gemeindepolitischem Versuch, die Einheitsgemeinde-Konzeption zu reformulieren: „[...] dass die [Berliner; A. J.] Gemeinde als die letzte wirkliche große Einheitsgemeinde daran festhält, die Einheitsgemeinde zu sein, und auch nach außen dokumentieren, das ist dem Herrn Nachama auch zu verdanken, seiner Politik [...]“ – „[...] und auch es versucht wird, alle Richtungen unter diesem 198 Zu dieser Bemerkung gilt es, sich kurz zu vergegenwärtigen, dass C. Kanal gegenüber seinem Vorgänger, wie später auch im Vergleich zu seinem Nachfolger, kaum gemeindepolitische Akzente gesetzt hat. Vgl. zu diesem Interims-JGBVorsitzenden das historische Einführungs-Kap. II.2.2.1., S. 136 f. 199 Über Galinski wiederum berichtet der Publizist Philipp Gessler, dass dieser zwar selbst keine Vorbehalte gegen Homosexuelle innerhalb der Gemeinde besessen hätte, dennoch vermied, dies gemeindeoffiziell kund zu tun: „Gad Beck, langjähriger Leiter der Jüdischen Volkshochschule, erinnert sich noch gut an Heinz Galinski [...], der um die Homosexualität Becks gewusst habe – aber nie daran Anstoß nahm: Ab und zu habe Galinski ihn angerufen, wenn er seine Leibwächter habe abschütteln können [sic! A. J.], ob sie nicht zu viert, mit Galinskis Frau und Becks Lebensgefährten spazieren gehen wollten.“ Zit. nach P. Gessler in: AJW 06.07.00.
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Dach Einheitsgemeinde zu behalten“. (P 9 II/16)200 Dieses Integrationsmodell bedeute zwar einen ,Zwang zur Kooperation‘, jedoch für Gruppen wie Yachad eine unbedingte Chance. Dass es sich dabei um einen irreversiblen Prozess handelt, zeigt sich auch daran, dass unter Nachamas Nachfolgern A. Brenner, A. Meyer und G. Joffe die gegenüber der jüdischen Homosexuellen-Gruppe eingeschlagene kooperative Linie nicht revidiert wurde.201 Natürlich herrsche unterhalb der Leitungs-Ebene in der JGB bezogen auf jüdische Homosexuelle nicht durchweg eitel Sonnenschein, betont der Ya-Aktive: „[…] die Leute kennen uns, es gibt natürlich genauso homophobe Leute bei den Juden, wie bei den Nichtjuden auch, [...] es gibt [...] die selbe Vielfalt an Meinungen und Ablehnung oder Zustimmung wie in anderen Bevölkerungsschichten auch und aber der Grundtenor einfach bei den Leuten, die halt bissel progressiv sind auch war halt im Grundtenor im Grunde positiv uns gegenüber.“ (ebd.)202
Angesichts des von vorn herein bis heute positiven Klimas zwischen der Berliner Schwulen-Lesben-Gruppe und der offiziellen Berliner Gemeinde stellt sich natürlich die Frage nach möglichen Berlinspezifika dieser günstigen Entwicklung: Die weibliche Ya-Engagierte macht hierbei auch JGB-intern einen gewissen ‚Großstadtbonus‘ aus: „[...] und das prägt natürlich auch eine jüdische Gemeinde, […] die haben natürlich auch Homosexuelle in den Bekanntenkreisen.“ – „[…], das hat man nun doch weniger in den kleinen Käffchen“. (P 9 I/16) Doch mit welchen Teilgruppen in der Berliner Gemeinde kooperiert Yachad konkret? An erster Stelle nennt die Ya-Aktive den Egalitären Minjan und andere Gruppen aus dem progressiven religiösen Spektrum. Begünstigt werde dies dadurch, dass es Doppelmitgliedschaften zwischen Yachad und derlei Gruppierungen gebe. Eie konkrete Aufklärungsveranstaltung mit der Zionistischen Jugend wäre schon verabredet gewesen, jedoch aus Termingründen bisher nicht zustande gekommen. Auch die Jüdische Oberschule würde als wichtige Klientel der eigenen Aufklärungsarbeit kontaktiert. Viele dieser arbeitsintensiven Kontakte kommen aber auf Grund des gruppenintern nicht übermäßig ausgeprägten Interesses, sich über die bestehenden Treffen der Gruppe hinaus öffentlich als jüdische Schwule und Lesben zu engagieren, nicht zu Stande, wie das männliche Gründungsmitglied zu bedenken gibt. Doch sei das gegenseitige sich Kennen mit anderen informellen Gruppen im jüdischen Berlin recht ausgeprägt. Yachad würde 200 Ganz ähnlich hierzu würdigt auch P. Gessler die positive Rolle Nachamas für das Verhältnis Yachad – JGB und zitiert den ehemaligen JGB-Vorsitzenden indirekt mit der Aussage: „In einer liberalen Gemeinde sei für eine Gruppe wie Yachad ebenso Platz wie etwa für die jüdischen Veteranen der Sowjetarmee.“ Ebd. 201 Meyer gehörte gegenüber seinem Vorgänger, ganz ähnlich zu Nachama, der in Berlin nach dem Krieg geborenen, religiös liberalen zweiten Generation der JGB an. Zu den Gemeindevorsitzenden der letzten Jahre sowie dem Ende 2005 in das Amt neugewählten Gideon Joffe vgl. Kap. II.2.2.4., S. 148 ff. 202 P. Gessler berichtet aus seinem Gespräch mit zwei männlichen und weiblichen Ya-SprecherInnen, dass in der JGB viele „alte Schwule [...] sich bis heute nicht geoutet (hätten), bedauert man bei Yachad.“ Ders. in: TAZ 03.02.00
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sich als Gruppe aber auch zu gemeindeöffentlichen Anlässen zeigen, wie etwa auf dem WIZO-Basar. Als Bilanz des Verhältnisses zwischen Ya und der JGB kann festgehalten werden, dass sie ungeachtet der Diskriminierung durch Einzelne, sich insgesamt in einem positiven gegenseitigen Verhältnis mit dieser befindet. Dass diese Beziehung sich seit Anfang an in dieser bemerkenswert günstigen Weise entwickeln konnte, ist, als ein wichtiges Teilergebnis der Untersuchung, eindeutig im Zusammenhang mit der liberalen Einheitsgemeinden-Konzeption, wie sie von dem ehemaligen JGB-Vorsitzenden A. Nachama durchgesetzt und von seinen Nachfolgern bis heute mehr oder weniger vertreten wird, zu sehen. Allerdings verzichtet Yachad auch auf spektakuläre bzw. provokative Aktionen etwa gegenüber den auch innerhalb der JGB vorhandenen homophoben Mitgliedern.
6.5. Kontakte zu gemeindeexternen jüdischen wie nichtjüdischen Gruppen und Einrichtungen sowie Reaktionen von außen Yachad ist tatsächlich primär eine JGB-intern orientierte gemeindeperiphäre Basisinitiative: So ist das männliche Yachad-Mitglied davon überzeugt, „dass unsere Arbeit letztendlich mehr innerhalb der jüdischen Gemeinde wichtig ist“. (P 9 II/23) Außenaktivitäten der Gruppe beschränken sich nicht auf innerjüdische Kontakte. Yachad kooperiert bei Gedenkveranstaltungen und antifaschistischen Demonstrationen auch bereitwillig mit Initiativen aus dem nichtjüdischen Spektrum und beim ,Christopher-Street-Day‘ auch mit Gruppen aus der überwiegend nichtjüdischen Schwulen-Lesben-Szene. Schließlich leistet Ya Aufklärungsarbeit an Schulen und im gesellschaftspolitischen Bereich, soweit es die knappen Kraftund Zeit-Ressourcen der Ya-Mitglieder zulassen. Als Beispiel erwähnt YaAktive eine Veranstaltung mit den GRÜNEN in Freiburg. Als Positivbeispiel des Austauschs mit einer anderen Berliner Basis-Initiative erwähnen sie den Kontakt zu den als Deutsche hier lebende Schwarze: „[…] da konnte man einfach auch ein Bierchen trinken ohne gleich alles zu problematisieren“ (P 9 I/18), wie die Lesbe schwärmerisch erwähnt, während der Schwule die von beiden Gruppen ähnlich erfahrene gesellschaftliche Diskriminierungshintergrund betont: „Weil es einfach die selbe Problematik ist, man lebt in Deutschland, man ist deutsch und trotzdem anders.“ (P 9 II/ebd.) Kontakte mit anderen nichtjüdischen Gruppen wie etwa mit einer Vereinigung christlicher Schwuler haben sich demgegenüber für Yachad als nicht sehr ergiebig herausgestellt: So persifliert die Interviewte den Austausch beider Gruppen mit der gegenseitig bei dem Treffen von deren Gruppenmitgliedern gestellten Frage: „,Wie seht ihr das die Bible-Stelle bla de die bla, versus bleu de die bleu?‘“ (P 9 I/19) Weiter erwähnt die Ya-Aktive Polit-Lesben aus ihrem lesbischen Umfeld, die sie – als Nichtisraeli – häufig mit dem Israel-Palästina-Problem bedrängen würden: „Da kann ich sehr schwierig mit umgehen, obwohl die alle ganz nett [...] sind und reizend und mich danach tot knutschen wollen als Philosemitismus“. (P 9 I/19) Außerdem stößt die Befragte in lesbisch-politischen Kreisen auf sehr
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viele lesbische Frauen, die sich gerade über Konzentrationslager-Arbeit politisch definieren. Auch hierbei macht sie eher die negative Erfahrung, die an sie herangetragenen vorurteilsgeprägten Erwartungen nicht zu erfüllen. Demgegenüber berichtet das männliche Ya-Gründungsmitglied kritisch aus der Berliner Schwulen-Szene eher das Gegenteil: „Die Schwulenszene ist schon sehr entpolitisiert“ (P 9 II/20) und würden sich auf den Errungenschaften der 70er und 80er Jahre ausruhen. Schwule Yachad-Mitglieder bekämen daher ebenfalls immer wieder die Vorbehalte aus der gegenwärtigen jungen Schwulenszene der Metropole gegenüber den vormaligen ,Bewegungsschwestern‘ und ,PolitSchwulen‘ a la Rosa von Praunheim zu spüren. In der Öffentlichkeit wiederum sieht sich Ya demgegenüber relativ häufig mit Vorurteilen Einzelner konfrontiert. Unter diesen befänden sich mitunter auch solche, die einer, der beiden durch Yachad repräsentierten Minderheiten angehören würden: So führt die YA-Aktive aus, dass die auf einer Gedenkveranstaltung unter ihrem Regenbogen-Davidstern-Banner präsente Yachad-Gruppe von zwei offensichtlich Lesben mit aggressivem Unterton angesprochen worden wäre: Diese hielten offensichtlich das zweifache Minderheiten-Bekenntnis der Initiative, ähnlich zu dem eingangs erwähnten Woody-Allen-Witz, für übertrieben. Dass sich Yachad von den genannten Negativbeispielen, in denen die Gruppe oder einzelne ihrer Mitglieder mit Vorurteilen vor allem von nichtjüdischer Seite konfrontiert sind, kaum beeindrucken lässt, dürfte an zweierlei liegen: Zum einen erhält sie ihr ‚Standing‘ aus ihrer innerjüdischen Verankerung. Zum anderen sehen die sich geouteten Homosexuellen als ‚starke Persönlichkeiten‘ (P 9 II/14).
6.6. Resümee und Zukunftsperspektiven Es kann festgehalten werden, dass es sich bei Yachad gemessen an dem doppelten Minderheitsstatus ihrer Mitglieder und den ihr entsprechenden entgegengebrachten Vorurteilen, um eine erstaunlich erfolgreiche jüdische Basisinitiative handelt. Ausschlaggebend dürften hierfür einige Ausgangsvoraussetzungen sein: • Yachad profitiert davon, dass ihre Gründungszeit in die zeitgleich einsetzende Öffnungsphase der JGB in der zweiten Hälfte der 90er Jahre fällt. • Der Metropole Berlin bietet objektiv die günstigste Gelegenheitsstruktur zur Bildung und Regenerierung einer jüdischen Homosexuellengruppe. • Die Anonymität der Großstadt Berlin erleichtert das Andocken potentiell Interessierter an eine jüdische Schwulen-Lesben-Initiative. Doch welche weiteren Entwicklungschancen besitzt die Gruppierung? Ähnlich dem JSB ist die Gruppe wie ihr überörtlicher Zusammenschluss, nach der Erhebung in die Krise geraten.203 Aus Mangel an Neumitgliedern erscheint die weitere Zukunft offen. Als Gründe lassen sich zum einen die oben in Kap. IV.6.3. aufgezeigten Schwierigkeiten benennen, eine russischsprachige Klientel zu errei203 Zu den in dem Absatz angesprochenen bundesweiten Probleme vgl. Tobias Kühn: „Kaffeeplausch statt Politik“; in: JA 08.12.05
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chen. Außerdem macht sich die in Kap. IV.6.5. angesprochene Entpolitisierung, namentlich der Schwulen-Szene, auch für Ya negativ bemerkbar. Auf der anderen Seite dürfte es u. a. der Berliner und den vergleichbaren Gruppe anderorts zu verdanken, dass innerjüdisch das Verständnis für Homosexuelle zunimmt. Ähnlich zum JKV und der innerjüdischen Integration von Ostdeutschen, schlägt der Erfolg der Gruppe(n) auf sie in Form abnehmender Nachfrage negativ zurück. Unbenommen von der weiteren Zukunft kann die Gruppe exemplarisch für ein erfolgreiches Kooperationsmodell zwischen einem innovativen jüdischen Zusammenschluss und einer sich solchen jüdischen Basis-Aktivitäten gegenüber öffnenden jüdischen Gemeinde angesehen werden und damit eine gewisse Pilotfunktion für künftige vergleichbare Gruppen wahrnehmen.
7 . D e r is r a e l is c h e S ta m m t is c h „Mir wird hier in Berlin klar, daß das Verbindende das Hebräische ist. […] Die Wiederbelebung des Hebräischen, nicht die gemeinsame Staatsbürgerschaft, ist es, die Israelis trotz all ihrer Verschiedenheit einander so nahe sein läßt.“ Fania Oz-Salzberger204
7.1. Ausgangssituation Im Vergleich zu den übrigen untersuchten Gruppenaktivitäten ist der israelische Stammtisch (IS), wie bereits aus seinem Namen hervorgeht, ein relativ loser Zusammenschluss und fast vollständig nach innen gerichtet. Außerdem handelt es sich um keine Deutsch sprechende Initiative. Einmalig ist ebenfalls das ethnische Herkunftsmerkmal ihrer Mitglieder – als in Berlin lebende Israelis: Der jüdische Charakter des Zirkels ergibt sich primär daraus, dass seine Mitglieder als Israelis aus diesem Heimatland gelebte Jüdischkeit bereits nach Berlin ,mitgebracht‘ und nicht qua Geburt oder als Zugerwanderte hier erworben haben. Primäre Quelle der folgenden Einzelfall-Analyse ist das Gespräch mit einer der beiden InitiatorInnen und langjährigen Koordinatorin des IS (P 17). Darüber hinaus fließen Informationen aus dem Buch der zeitweilig)in Berlin lebenden und an der Universität Haifa als Historikerin lehrenden Israelin Fania OzSalzberger205 sowie aus einigen Zeitungsartikeln und Internet-Seiten ein. Im Vorfeld der eigentlichen Analyse gilt es zu klären, wie es kommt, dass heute eine größere Zahl Israelis in Berlin lebt. Schließlich war die Stadt in der jüngeren Vergangenheit die eigentliche Schaltzentrale eines beispiellosen Völkermords an Juden, entscheidender Impuls für die Gründung des Staates Israel. Ohne eine erschöpfende Antwort liefern zu können, kann als wichtigster Grund gewertet werden, dass die Beziehungen zwischen Israel und Deutschland
204 Dies.: „Israelis in Berlin“, S. 213 205 S. o. das Kap.-Motto. – Es erschien 2001 gleichzeitig auf Hebräisch und Deutsch.
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längst aus dem Schatten der unvergessenen Vergangenheit herausgetreten sind, Deutschland sich sogar als wichtigster europäischer Partner Israels auf internationaler Ebene erweist. Daher ist die deutsche Metropole seit 15 Jahren in ihrer Hauptstadtfunktion mit israelischer Botschaft und weiteren Wirtschafts- und Handelsvertretungen zugleich zentraler Ort der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen beider Länder. Darüber hinaus ist Berlin aber auch Vaterstadt abertausender Israelis und ihrer Vorfahren.206 Außerdem ist die Wissenschaftsmetropole, vor allem mit bedeutsamen Einrichtungen zur deutsch-jüdischen Geschichte und zur NS-Judenverfolgung, für viele israelische Forscher ein wichtiger Standort, zumal die Stadt – auch das eine Besonderheit der Israelisch-Berliner Beziehungen – einer der Ursprungsorte des Zionismus bzw. der Idee der Gründung des Staates Israel ist. Die Metropole ist aber auch als internationales kulturelles Zentrum für israelische Künstler207 und Homosexuelle208 attraktiv, von denen einige hier zeitweilig ihren Lebensmittelpunkt gefunden haben. Schließlich arbeiten einige Israelis in jüdischen Einrichtungen innerhalb wie außerhalb der JGB. Die zweite Frage, die sich im Vorfeld der IS-Erörterung stellt, lautet: Wie viele israelische Juden leben eigentlich in Berlin? Auch hierzu kann keine letztgültige Antwort gegeben werden, da hierüber keine gesicherten Angaben vorliegen. Vielfältige Aufenthaltsgründe mit unterschiedlichem passrechtlichen Status209 wie beiderlei Wandel in kurzer Zeit sind hierfür ebenso ausschlaggebend wie die Tatsache, dass nur ein Bruchteil der hiesigen Israelis Mitglied der JGB ist. M. Frajman und A. Roth gehen von 500 bis 1000 hier lebenden Israelis aus210, während F. Oz-Salzberger, verschiedene Quellen mit den Zahlenangaben von mehreren hundert bis 1900 Israelis zitierend, schreibt: „Niemand weiß genau zu sagen wie viele Israelis in Berlin leben.“211 206 Ein untergründiges Verbindungsband lässt unter betagten Jeckes noch immer ein Stück Vorkriegs-Berlin mitten in Israel weiterleben. Vgl. hierzu die Artikel von Ludger Heid: „Besuch in Kfar Shmaryahu“, in: JA 16.01.03 sowie von Gisela Dachs: „Pünktlich, manierlich, fleißig“, in: ZEIT 12.05.05. 207 An prominentester Stelle steht der Stardirigent der Berliner Staatsoper Daniel Barenboim, jedoch ließen sich im Kulturbereich viele weitere Beispiele anbringen. 208 Dass sich gelebtes Judentum und ein ebenso offenes Bekenntnis von Homosexualität gerade in Berlin nicht ausschließen müssen, zeigt die Behandlung der örtlichen jüdischen Schwulen-Lesben-Initiative Yachad oben in Kap. IV.6. Auch die Mitinitiatorin des israelischen Stammtischs bemerkt hierzu, dass sie schon mehrere israelische Schwule in Berlin getroffen habe, für die Berlin, als Schwulen gegenüber relativ liberale Stadt, als eine „interessante Stadt“ gilt. (P17/14) 209 Die befragte IS-Mitinitiatorin führt aus, dass Ausländer die Israel Bewohner des Landes heiraten, die israelische Staatsbürgerschaft zuerkannt bekommen, während Israelis, die bspw. die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen wollten, bei Vollzug die israelische automatisch verlören. 210 M. Frajman/A. Roth: Das Jüdische Berlin heute, S. 56 – Die ebenfalls aus Israel stammende IS-Mitinitiatorin P 20 schätzt deren Zahl auf 1000. 211 F. Oz-Salzberger: Israelis in Berlin, S. 9. – Auch der Sprecher der israelischen Botschaft erklärte der Autorin, er habe keine Ahnung. Ähnlich äußert sich auch P 17.
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7.2. Die Vorgängergruppe und die Gründung des IS Der Stammtisch ist als israelischer ,Community‘-Treff in Berlin kein Novum. 1997 hatten israelisch Studenten mit der Gruppe ,Kesher – Israelis in Berlin‘ in den Räumen des jüdischen Studentenbundes einen bescheidenen Anfang gemacht. Kesher bedeutet auf Hebräisch ,Verbindung‘ oder ‚Knoten‘. Der auch für Nichtstudenten und Ältere offene Kreis traf sich regelmäßig aller paar Wochen in den von der JGB zur Verfügung gestellten Kellerräumen unter der Synagoge Joachimstaler Straße. Bis zu 150 Personen sollen Mitgliederzahl gewesen sein.212 Zwar bot das Proteges der Gruppe durch den JSB und die JGB gewisse Vorteile wie eine feste Kontaktadresse und die zentrale Lage, doch waren hiermit auch eklatante Nachteilen verbunden. Das 1999, etwa eineinhalb Jahre nach der Entstehung von Kesher über israelische Bekannte zu der Gruppe gestoßene spätere Gründungsmitglied des Israelischen Stammtischs erinnert sich im Rückblick: „das war aber ein schrecklicher Raum, […]. Das ist wirklich im Keller und dunkel.“ (P17/8) Es gab Tee aus Plastikbechern und spendierten trockenen Marmorkuchen.213 Mit dieser misslichen Situation wollen sich die Befragte sowie ein weiterer zu dieser Zeit längst dem Studentenalter entwachsener Israeli nicht abfinden und fassen schon bald darauf den Beschluss sich andernorts zu treffen: „Wir sind in der Lage jeder für eine Tasse Kaffe zu zahlen, warum treffen wir uns nicht alle in einem Café, einmal im Monat?‘“ (P17/9) Den beiden InitiatorInnen gelingt es tatsächlich bereits im Spätjahr 2000 eine neue, regelmäßige Zusammenkunft israelischer Juden in Berlin zu organisieren: „Und das hat so begonnen, dass wir uns mit anderen Israelis damals im Café ,Rimon‘, das es inzwischen nicht mehr gibt, getroffen haben.“ (P17/9)214 Am Anfang kommt nur ein aus sechs Personen bestehender Bekanntenkreis in dem geräumigen Café zusammen.215 Sie verstehen sich dabei nicht als Konkurrenz zu Kesher, im Gegenteil, deren Organisatoren kamen auch zu dem IS-Treffen. Trotz deren Idee sich als ‚e. V.‘ zu organisieren kommt Kesher 2001 ohne formale Auflösung zu ihrem Ende. Für das Scheitern von Kesher sowie für den Erfolg des neugegründeten Stammtischs macht dessen Gründungsmitglied eine entscheidende Innovation in der Organisation verantwortlich: „Das Problem bei Kesher war immer so, sie haben auf altmodische Kommunikationsmittel noch gesetzt [lacht], das heißt Brief, Briefmarken und jemand musste es alles schreiben. Und ich hab' mich entschieden, wenn ich das organisiere, das läuft alles nur per E-Mail. Einmal im Monat schicke ich ein Rundschreiben an alle Mitglieder […], die ich auf meiner Liste habe, […] und das ist ein Klick und alle sind informiert“. (P17/10) 212 M. Frajman/A. Roth: Das Jüdische Berlin heute, S. 56 213 Vgl. auch J. Boie in: JA: 06.01.05 214 Das nicht koschere Café und Restaurant befand sich bis Ende 2000 in einem Neubau im gleichen Haus wie der jüdische Kulturverein direkt neben dem Centrum Judaicum sowie der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße. Im Rimon wurden u. a. auch israelische Spezialitäten serviert. 215 J. Boie in: JA: 06.01.05
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Der Rest der Interessierten wird von der Organisatorin per Handy mit SMS oder über ein Fax über die Gruppentreffen informiert. 7.3. Inhaltliche und formale Aspekte des israelischen Stammtischs (1) Die inhaltliche Seite Der Inhalt der Zusammenkünfte lässt sich rasch auf den Punkt bringen. Einerseits steht das gesellige Beisammensein mit persönlichem Austausch der Teilnehmenden im Vordergrund. Als Sprache wird bei den Gruppentreffen das in Israel gesprochene Neu-Hebräisch bzw. Ivrit gepflegt. Als zweiter Schwerpunkt stehen regelmäßig externe ReferentInnen auf dem Programm, die meist in hebräischer Sprache über ihre Tätigkeit oder andere interessante Aspekte berichten. Zwei Beispiele erwähnt die IS-Begründerin: Zum einen führt sie den Schlachter der Berliner Gemeinde an, der zu seinem Vortrag über Schlachtbräuche auch seine verschiedenen Arbeitsmesser zum IS-Treffen mitbrachte. Ihr zweites Beispiel ist ein über ein wissenschaftliches Austauschprogramm nach Berlin gekommener Geologe, der über die Wasserproblematik in Israel referierte. In dem o. g. ist außerdem davon die Rede, dass ein Vertreter der israelischen Polizei zu Gast war, der von Deutschland aus EU-weit begangene Verbrechen mit daran beteiligten Israelis bekämpft.216 Die Gemeinsamkeiten der Beispiele sind augenfällig: Alle Referenten teilen mit dem IS-Publikum die israelische Herkunft, die hebräische Sprache und eine gegenwärtige Tätigkeit in Europa. Inhaltlich sind die Vorträge im weitesten Sinn an israelisch/jüdischer Thematik orientiert. Im Unterschied zur studentisch geprägten Vorgängergruppe Kesher finden darüber hinaus keine gemeinsam besuchten oder gestalteten Gruppenaktivitäten des IS statt.217 Dies erscheint angesichts der Heterogenität der überwiegend Berufstätigen bzw. in der Ausbildung befindlichen IS-Mitglieder sowie auf Grund des informellen Charakters der Gruppe sehr verständlich. Allerdings hat sich jenseits des eigentlichen Stammtischs in den letzten Jahren der E-Mail-Verteiler der Gruppe zu einem vielfältigen Service- und Austauschmedium weiter entwickelt (s. u.). Noch im Aufbau befindet sich eine von der IS-Koordinatorin gestaltete Internetseite, die sich spezielle an israelische Neuankömmlingen in Berlin oder andernorts in Deutschland wendet, um ihnen als praktischer Ratgeber mit Tipps für einen möglichst problemlosen Start in deren hiesigen Leben zu dienen.218 Die Philosophie des israelischen Stammtischs lässt sich mit den drei Bereichen Gemeinschaft, Information und Hilfestellung auf den Punkt bringen.219 Im Sinne des Eingangs-Mottos von F. Oz-Salzberger lässt sich hierbei die große Bedeutung der unter den IS-Besuchern gepflegten hebräischen Sprache ermes-
216 Vgl. J. Boie in: JA: 06.01.05 217 Die Mitbegründerin des israelischen Stammtischs erwähnt, dass Kesher z. B. am israelischen Unabhängigkeitstag ein Picknick veranstaltet hatte. 218 Ebd. 219 Vgl. hierzu auch J. Boie in: JA: 06.01.05
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sen, zumal es nach Auskunft der IS-Initiatorin in Berlin keine nennenswerten anderen Gemeinschaftsaktivitäten hier lebender jüdischer Israelis gibt.220 (2) Formale Aspekte Die Größe des Verteilers bzw. des sich via Internet über den israelischen Stammtisch regelmäßig informierenden Personenkreises betrug in den ersten Jahren etwa 60 Leute, während mittlerweile über den Verteiler 350 Leute erreicht werden.221 Davon erscheinen im Durchschnitt etwa 20 bis 30 Besucher bei den Treffen. Deren Alterstruktur ist relativ weit gestreut von Anfang 20 bis über 60 Jahren.222 Allerdings kommen keine Personen im Rentenalter, was vor allem daran liegt, dass nahezu keine Israelis dieser Altersgruppe in der Metropole leben. Das zahlenmäßige Geschlechterverhältnis ist bei den Stammtisch-Treffen in etwa ausgewogen. Als Treffpunkt diente nach Schließung des Café Rimon seit 2001 zunächst ein von einem Israeli geführtes Lokal im West-Teil der Berliner Innenstadt nicht weit entfernt von der etwa zeitgleich eröffneten neuen israelischen Botschaft. Heute trifft sich die Gruppe in wechselnden Lokalen. Der Termin ist regelmäßig einmal im Monat montags. Der Kreis hat keinen offiziellen Namen; ,Israelischer Stammtisch‘ hat sich als inoffizielle Bezeichnung eingebürgert.
7.4. Integrative und weitere gruppeninterne soziale Prozesse Von den 20 bis 30 Teilnehmenden des IS gibt es eine „Stammgruppe“ (P17/11), die regelmäßig erscheinen. Diese Gruppe sucht untereinander gezielt den Kontakt. Andere kommen nur einmal und bleiben danach dauerhaft weg, weil ihnen offenbar die Anwesenden nicht entsprechen. Außer einem einmaligen Einbruch mit nur zwei BersucherInnen kommt regelmäßig ein Großteil der o. g. Teilnehmerzahl. Die IS-Koordinatorin bezweckt mit dem Referenten-Programm einer Erstarrung entgegenzuwirken. Dabei zeitigt gerade die dritte Säule der ISAktivität, der Service für sich in Berlin bzw. Deutschland aufhaltende Israelis, hierfür positive Effekte, wie die IS-Engagierte beispielhaft ausführt: P 17: „[…] und da rief er bei mir an und sagt ,Hör mal zu, […]. Kannst Du mir sagen vielleicht, wo ich einen [Synagogen-; A. J.] Platz für PESSACH bekommen kann?‘“ – „Und dann haben wir uns unterhalten und ich hab' auch gefragt, wer und was er ist und […] angefragt ,Hast Du Interesse mal bei uns ein bisschen zu erzählen?‘ und da sagt er ,Warum nicht?‘ Er kommt jetzt nächsten Montag.“ – „Er hat einen [Synagogen-; A. J.] Platz unabhängig davon.“ (P17/12-13)
Seit der Einrichtung der Gruppe ist deren E-Mail-Verteiler ständig gewachsen und umfasst mit zuletzt 350 Eintragungen weit über das Zehnfache der am 220 Sie erwähnt lediglich einen losen Sportstreff von Mitarbeitern eines israelischen Reisebüros und Mitarbeitern der israelischen Botschaft in Berlin, die wöchentlich gemeinsam auf einem Sportplatz einem Mannschaftssport nachgehen sowie einen Kreis englischsprachiger Juden, bei der auch Israelis mitmachen würden. 221 Vgl. J. Boie in: JA: 06.01.05 222 In einem Zeitungsartikel wird ein IS-Gründungsmitglied zitiert, das damals 63 Jahre war ist; vgl. Alexander Zeller: „,Ich kriege Wutanfälle‘“, in: AJW 19.07.01
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eigentlichen Stammtisch Teilnehmenden.223 Damit gewinnt der Verteiler mehr und mehr ein Eigenleben und hat sich regelrecht zu einer Austauschbörse weiterentwickelt, wie mehrere anschauliche Beispiele eines Presseartikel belegen: „,Frau Lewy bietet ihre Wohnung in Berlin von April bis Juni 2005 zur Untermiete an‘“ […]. Ein anderes Beispiel: ,Die Schule der Israelischen Botschaft sucht ein(en) Bibellehrer(in)‘ oder ,Tomer lehrt Yoga in hebräischer Sprache‘. Alle Nachrichten erscheinen sowohl auf deutsch als auch in hebräischer Sprache. Schließlich hat […] [er, A. J.] auch Leser in Israel. Besonders bemerkenswert: Eine Empfängerin in Israel liest den elektronischen Brief regelmäßig ihren aus Deutschland kommenden Großeltern vor. – Wer eine schöne Ferienwohnung in Israel zu vermieten hat, wer für Neuankömmlinge aus dem Süden einen besonderen Internettarif parat hält, der wird gerne […] aufgenommen.“224
Allerdings läuft der Verteiler bisher noch über die IS-Begründerin Deren Koordinationsarbeit für den IS ist insgesamt also auf drei Ebenen angesiedelt: • Koordination der Treffen über die o. g. Verteilerlisten und Rundmails; • Entwickelung und Durchführung des Referenten-Programms • Sowie Weitergabe und Beantwortung von Mail-Anfragen aus dem ISKreis, aber auch von externen Interessierten (s. u.). Zu ihrer persönlichen Motivation merkt die für den IS koordinierend Tätige an: „Das ist keine Lebensaufgabe, ich mache das, weil es mir Spaß macht.“ (P17/16) Dabei legt sie großen Wert darauf festzustellen, dass ihr gesamtes Engagement für den Stammtisch ehrenamtlich ist und ohne persönliche Vorteilnahme abläuft. Bilanzierend kann festgehalten werden, dass der israelische Stammtisch offensichtlich eine sehr große interne Stabilität besitzt. Die Mischung aus einer einerseits relativ starken Verbindlichkeit durch regelmäßige Termine und den Einladungsmodus mit der Abwechslung durch die personell und inhaltlich wechselnden Vorträge, scheinen den Bedürfnissen der durch Beruf oder Ausbildung vielbeschäftigten IS-Teilnehmer mehrheitlich entgegenzukommen. Die per EMail versandten News und die sich daraus entwickelnden Kommunikationsmöglichkeiten dürften zusätzlich zu der wachsenden Attraktivität des IS beitragen.
7.5. Außenbeziehungen zur Berliner Gemeinde und zu anderen Gruppen im jüdischen Berlin Beide Aspekte werden im konkreten Fallbeispiel zusammengezogen, da dem informellen Charakter des IS entspricht, dass diese über ihre Treffen hinaus als Gruppe nicht öffentlich agiert – etwa auf Straßenfesten oder Demonstrationen. Gemeindeebene: Einer der größten Unterschiede zwischen dem Stammtisch und der studentisch geprägten Vorgängergruppe Kesher besteht darin, dass er einen von der Gemeinde unabhängige Organisationsform gewählt hat, wie im Kap. IV.7.1. über ihre Anfänge bereits dargestellt. Auch wenn die IS-Koordinatorin vermutet, dass eine Mehrheit der Besucher Mitglied der JGB ist, liegt für sie der 223 Ebd. 224 Ebd.
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Vorteil auf der Hand, dass so „alle kommen [können], die wollen.“ (P17/18) Genauer führt sie aus: „Aber wir haben mit der Gemeinde offiziell keinen Kontakt. Wir sind weder für noch gegen [sie], also ich persönlich. Also, es ist auch so, ich kann nicht von ,Wir‘ sprechen, weil es gibt kein ,Wir‘. Das ist eine freiwillige [Hervorhebung A. J.] Gruppe.“ (P17/17) Andere jüdische Gruppen: Für die Seite des Bezugs des IS zu anderen jüdischen Initiativen kann ähnliches konstatiert werden: Die informelle Initiative pflegt zu ihnen als Gruppe keine ,offiziellen‘ Kontakte. Außerdem existieren im Israelischjüdischen Spektrum Berlins nahezu keine anderen Aktivitäten (s. o.). Nach allem bisher Ausgeführten stellt sich damit die abschließende Frage, ob es überhaupt eine Gemeinschaftsebene zwischen den Besuchern des Stammtischs und dem übrigen jüdischen Leben der Stadt gibt. Ein zentraler Indiz hierfür ist der o. g. Hinweis der IS-Mitinitiatorin auf den hohen Anteil an JGB-Mitgliedern unter den Stammtischbesuchern Teilnehmenden des an, dass diese zumindest partiell an dem jüdischen (Gemeinde)-Leben der Stadt partizipieren. Auch ist zu vermuten, dass die Gläubigen unter den IS-Besuchern Berliner Gemeindesynagogen frequentieren. Da hier über die einzelnen IS-Besucher nur Vermutungen angestellt werden können, wird die Frage allgemein auf Israelis in Berlin erweitert, bzw. auf biographische Äußerungen der IS-Mitinitiatorin fokussiert. Die Israelin Oz-Salzberger stellt sich in ihrem o. g. Buch zu Israelis in Berlin die Frage nach deren Anzahl in den Berliner Synagogen. Zu deren Beantwortung zitiert sie den orthodoxen, israelstämmigen Gemeinderabbiner Yitzchak Ehrenberg: „Von den dreißig, vierzig Betenden, die regelmäßig an Werktagen kommen, spricht etwa die Hälfte Hebräisch“225 Außerdem hat sich mittlerweile aus den sephardisch-orthodoxen Betern der Synagoge Joachimstaler Straße ein mehrheitlich israelstämmiger sephardischer Minjan (von zwei) herausgebildet.226 Auf ihre persönliche, lebensweltliche Situation in Berlin bezogene Ausführungen der IS-Mitinitiatorin liefern einige weitere aufschlussreiche Hinweise auf innerjüdische Vergemeinschaftungsebenen der in der Metropole lebenden Israels im jüdischen Berlin227: So berichtet sie, die in Israel landestypisch in einer gering religiös bis säkular geprägten familiären Situation gelebt hat, von ihren für sie bedeutsamen religiös motivierten Besuchen der im Ritus konservativen Berliner Synagoge Fraenkelufer.228 Und mit ihren israelischen Gästen geht sie noch heute gerne in die altliberale Synagoge Pestalozzistraße der Atmosphäre, die sie bereits vor langer Zeit in ihrer Berliner Studienzeit besuchte. Weiter kolportiert sie: „Also […] ich gehe hier öfter zur Synagoge in Deutschland, als ich es in Israel […] getan habe, weil es ist mitunter der einzige Weg, sich mit seinem Judentum zu identifizie-
225 F. Oz-Salzberger: Israelis in Berlin, S. 210 226 Zu diesem Sephardischen Minjan vgl. das Kap. II.2.2.3., S. 146 f. 227 Vgl. zu den folgenden biographischen Angaben von P 17 ihre Äußerungen im Revitalisierungs-Kap. III.1.2.3., S. 234 f. 228 Diese Synagoge ist relativ weit von dem Berliner Wohnort der Israelin entfernt.
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ren, dass man in die Synagoge geht.“ – „Ja, vor allem auch für meine Kinder ist das wichtig, wenn ich das schaffe, und leider immer weniger, sie mitzuschleppen in die Synagoge, ist das für mich auch eine sehr wichtige Sache, weil […] für sie noch weniger Verbindung zum Judentum besteht. Und das ist mitunter einer der stärksten Verbindungen zum jüdischen Volk, die sie haben.“ (P17/7)
Doch wie sieht es darüber hinaus mit der Präsenz von Israelis in religiösen und im Kontext der Studie besonders interessierenden kulturellen jüdischen Aktivitäten außerhalb der JGB in Berlin aus? Zunächst ist daran zu erinnern, dass eine größere Anzahl an Israelis wichtige Positionen innerhalb jüdischer Institutionen in Berlin einnimmt, die nicht wie der Stammtisch ausschließlich aus hier lebenden Israelis bestehen. Bereits meine eigenen explorativen Aufenthalte im jüdischen Berlin brachten mich mit vielen in der Metropole lebenden sowie innerjüdisch sehr engagierten Israelis in Kontakt. Auch aus den Äußerungen der IS-Koordinatorin zu ihren eigenen lebensweltlichen Erfahrungen im Freizeitbereich innerhalb des jüdischen Berlins lesen sich als aufschlussreich im Sinne dieser Annahme allgemeiner israelischer Präsenz innerhalb der jüdischen Gemeinschaft der Stadt. Diese sollen hier nur nochmals kurz rekapituliert werden. So bestätigt die IS-Aktive, dass sie in Berlin als filmbegeisterte Israelin häufiger israelische Filme sehen würde als ihre Freunde in Israel – ein Hinweis auf die Anziehungskraft der seit 1995 von der Jüdischen Volkshochschule der JGB ausgerichteten jüdischen Filmtage in Berlin, in denen regelmäßig auch neuere israelische Produktionen auf dem Programm stehen, für Israelis. Aber auch das von einem Israeli geleitete jüdische Theater ,Bamah‘ wird als eine von ihr gerne frequentierte jüdische Einrichtung der Stadt benannt, zu deren Förderkreis sie darüber hinaus selbst zählt. Zu diesen herkunftsübergreifenden, auch für jüdische Israelis interessanten Aktivitäten im jüdischen Berlin kann außerdem wohl auch die Idee zu einem eigenständigen israelisches Filmfestival in Berlin, gezählt werden.229 Als Ergebnis dieses Abschnitts lässt sich zunächst konstatieren, dass der jüdische Stammtisch als Ausdruck seines sehr informellen Charakters in keiner direkten Beziehung zur Berliner Gemeinde oder zu anderen jüdischen Aktivitäten in Berlin steht. Allerdings spricht vieles dafür, dass dessen Besucher als Individuen in vielfacher Weise Bezüge ins übrige jüdische Berlin besitzen. Man kann davon ausgehen, dass erst die Existenz eines relativ ausdifferenzierte innerjüdischen Präsenz israelischer Juden in der Stadt, die Voraussetzung für den immer noch im Wachstum begriffenen Stammtisch bietet. Aber auch die inhaltliche Seite dieser Gruppenaktivität, d. h. die Einladung Israelstämmiger und gleichzeitig in Berlin tätiger gruppenexterner Referenten, ,lebt‘ von der israelischen Präsenz in der Metropole und insbesondere innerhalb deren jüdischer Gemeinschaft. Der jüdische Stammtisch und seine Besucher sind jedenfalls Bestandteil des jüdischen Lebens der Stadt, ohne dessen Hintergrund er kaum existieren würde. 229 Vgl. J. Boie in: JA: 06.01.05
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7.6. Fazit und Zukunftsperspektiven Als Fazit der Analyse des israelischen Stammtischs kann festgehalten werden, dass er innerhalb des untersuchten Settings nicht formal und inhaltlich, sondern auch in seiner Entwicklung einen einmaligen Platz einnimmt: Wartet der informelle Gruppe doch durch eine Kontinuität bei seinen inhaltlichen Kernaktivitäten auf bei einem gleichzeitig vergleichsweise hohem quantitativen Wachstumspotential Der gemeinschaftliche hebräischsprachige Face-to-face-Austausch der Anwesenden steht bis heute im Zentrum des Kreises im jüdischen Berlin. Darüber hinaus entfaltet die erst mit der Zeit jenseits dieser Treffen dazugekommene internetgestützte Informations- und Austauschbörse unter den Mitgliedern und Interessierten vom IS eine starke Eigendynamik. Gleichermaßen erfüllt die Basis-Initiative damit in zunehmender Weise auch vielfältige Funktionen für ihre Klientel. Denn schließlich gab es für israelische Juden bislang noch kaum spezifische Angebote in Berlin, abgesehen von religiösen Aktivitäten. Dass der informelle Kreis, der nicht zuletzt Dank seiner guten kommunikationselektronischen Vernetzung nicht auf die Gemeindestruktur angewiesen ist, Vorbildsfunktionen für andere sich erst im Aufbau befindliche oder künftige innerjüdische Interessengruppen, ist durchaus vorstellbar. Jedenfalls scheint der IS mittlerweile ein hohes Renommee im jüdischen Berlin zu besitzen. Welche Auswirkungen die angeführten Internetaktivitäten im Einzelnen für den Stammtisch haben werden, ist noch nicht abzusehen, jedenfalls ist davon auszugehen, dass sie weiter zunehmen werden. Ob aus der Internet-Informationsund Austauschbörse des IS neue Formen israelischer und/oder allgemeinjüdischer Vergemeinschaftung hervorgehen werden (etwa im sportlichen Bereich), ist dabei noch nicht absehbar und wird sich erst in der mittelfristigen Zukunft erweisen. Dass von dem israelischen Stammtisch selbst wiederum Impulse für das jüdische Leben der Stadt ausgehen, deutet sich aktuell zwar durch einige im Aufbau befindliche bzw. angedachte Projekte an (Informations-Portal, israelische Filmtage), ist aber noch nicht gänzlich ausgemacht.
8 . D e r In te r n e t a n b i e te r , M i lc h u n d H o n i g ‘ „[...] die Entstehungsgeschichte [...] war also mehr oder minder eine Schnapsidee.“ (P15:2/8)
8.1. Entstehungshintergrund und Gründungsphase Im Rahmen der Gesamtauswahl aller in der Studie näher vorgestellten Gruppenaktivitäten nimmt ,Milch und Honig‘ (MuH) eine besondere Stellung ein, da ihre Haupttätigkeit im noch relativ jungen Medium Internet angesiedelt ist. Allerdings bedeutet dies auf Grund der räumlichen Entgrenzung der medialen Kommunikationsmöglichkeiten über das Internet auch, dass die Klientel des Net-Dienstes nicht auf die Berliner jüdische Gemeinschaft beschränkt ist. Viele der Nutzer von MuH sind weder jüdisch noch aus Berlin, wie noch zu zeigen sein wird. Trotz-
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dem oder gerade deshalb lassen sich an dieser kurz nach dem Milleniumswechsel entstandenen Initiative exemplarisch die durch das Internet eröffneten Möglichkeiten und Grenzen für die jüdische Gemeinschaftsbildung in Berlin ausloten. Eine der MuH-Begründerinnen (P 15) ist die Hauptquelle der folgenden Einzelfall-Analyse. Außerdem wurden einige Artikel und Internetseiten herangezogen. Bereits vor der Entstehung des Internet-Dienstleisters Milch und Honig gab es auch im jüdischen Berlin bereits Internetangebote bedeutenderer jüdischer Einrichtungen, jedoch keinen ausgesprochenen jüdischen Internet-Informationsdienst.230 Die JGB leistet sich erst seit Herbst 2004 eine große und aktuelle, zweisprachig Deutsch und Englisch gehaltene Homepage.231 Die Gründung von MuH fällt in eine Phase des allgemeinen Wandels der Internetnutzung in Deutschland. Wurde das World Wide Web in den 90er Jahren hierzulande noch weitgehend als Informationsmedium genutzt, entwickelte es sich seitdem darüber hinaus sehr stark auch als Kauf- und Verkaufsbörse weiter, wie zuvor schon in den USA. Die Netz-Redakteurin berichtet von einem lockeren Beisammensein bzw. einer „Schnapsidee“ als spontanem Gründungsakt des Projekts (s. o. das einleitende Motto-Zitat). Bei dem Treffen nahmen zwei weitere Personen aus ihrem Bekanntenkreis teil, einer Journalistin mit internationalen Erfahrungen, die sie aus dem Gemeindespektrum kannte sowie eine Bekannte aus einer Computerfortbildung. Die eigentliche Initialzündung für die Gruppengründung bestand bei dem Treffen darin, dass die Journalistin zunächst positiv von ihren Erfahrungen in den USA berichtete, die sie als im Medienbereich tätige Jüdin gemacht hatte. Dabei hob sie als Positivbeispiel hervor, dass es da „[...] so viele Angebote und Sachen [gibt], die man über das Internet bekommen kann“. (P15:2/8) Angesichts eines entsprechenden Defizits in der hiesigen jüdischen Diaspora reift bei ihnen der Entschluss, etwas Ähnliches hierzulande bzw. in Berlin aufzuziehen. Die Grundidee bestand darin, Information zu jüdischer Thematik mit der Möglichkeit des Kaufs und Verkaufs im weitesten Sinn jüdischer Angebote in einem InternetAnbieter zu integrieren. Anfang Januar 2001 begann MuH zunächst noch im bescheidenen Rahmen, Informationen aus dem jüdischen Berlin ins Netz zu stellen. Dabei zeigte sich „immer mehr, dass es viele Lücken gibt, in dem bisherigen Angebot in und rund ums jüdische Leben, in Berlin nicht so direkt, aber auch [...] Berlin“ (P15:2/9) Zur Behebung dreier Defizite wolle dabei MuH beitragen:
230ȱ Allerdings bietet der größte deutschlandweite jüdische Oneline-Dienst ,haGalil‘ bereits seit Mitte der 90er Jahre eine eigene Sparte ,Jüdisches Berlin‘ als täglich aktualisierten zweisprachigen Info-Service an; vgl. Kap. II.2.3.2., S. 159. Bis dahin „spuckten die Suchmaschinen, mit dem Begriff ,Judentum‘ gefüttert, in Deutschland jahrelang vor allem Adressen von neonazistischen Organisationen aus.“ Joanna Wiórkiewicz: „Kein Geld für jüdische Kultur online“, in: TAZ 29.10.98 231 Vgl. Christine Schmitt: „www.jg-berlin.org. Die Jüdische Gemeinde hat einen neuen Auftritt im Internet“, in: JA 24.02.05
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a) Mangelnde Ressourcen der JGB für den Kulturbereich: Demnach würden vor allem die enormen Fürsorgeanstrengungen und finanziellen Aufwendungen, zu denen die Berliner Gemeinde sich auf Grund der sozialen Misere unter den Zuwanderern aus den GUS-Staaten bemüßigt sieht, dazu führen, „dass ganz viele Sachen irgendwie hinten rüberfallen, also die Kultur […], sehen wir mal von den Kulturtagen ab, die immer auch ein Kraftakt sind“. (P15:2/9) b) Mangelnde Professionalität der JGB im Bereich des Marketings kultureller Aktivitäten: Dies zeige sich bei den jährlich ausgerichteten Jüdischen Kulturtagen, wo Gemeindevorstände, nur weil sie „oft genug Musik gehört haben“ (P15:2/10), kaum professionelles Kulturmanagement betreiben könnten. c) Defizite im Informationsservice für Gäste der JGB und jüdische Zuwanderer: P 15 illustriert dies mit dem Beispiel der über das Gemeindegeschehen schlecht informierten Pförtner im JGB-Gemeindehaus. Ebenso fehlten bspw. für Israelis und jüdische Amerikaner, die beabsichtigten, nach Berlin zu ziehen, ebenfalls entsprechende Anlaufstellen: „[...] die landen eher bei uns.“ (Ebd.)
8.2. Formale Aspekte und inhaltliche Ausrichtung von MuH (1) Formale Aspekte Der Internet-Informationsdienst MuH wird von drei weiblichen Mitarbeitern als festes Team erstellt. Die Arbeit ist weitgehend ehrenamtlich. Außerdem wird auf Grund von auf kommunaler Ebene beantragten Fördermaßnahmen eine Praktikantenstelle finanziert. Die presserechtlich Verantwortlichen des Projektes sind Jüdinnen. Allerdings arbeiten von Anfang an auch nichtjüdische Kolleginnen mit. Ebenfalls von Anbeginn an richtet sich MuH sowohl an ein jüdisches wie an ein nichtjüdisches Zielpublikum. In der Selbstdarstellung im Netz findet eine andere Zielgruppen-Dichotomie Erwähnung: MuH „bietet Ihnen interessante Informationen zum jüdischen Leben in Berlin – für Touristen und Berliner!“232 Straßenseitige Räume wurden in einer bis dato von jüdischen Aktivitäten gänzlich ausgesparten Gegend im südlichen Randbereich der Berliner Innenstadt in einer Nebenstraße in Kreuzberg angemietet. Der wohlklingende Name von MuH – aus der bekannten biblischen Umschreibung des gelobten Landes233 – ist, ähnlich der Gründungsidee (s. o.), aus einem Brainstorming hervorgegangen, nachdem sich kein geeignetes deskriptiven Label für den inhaltlich vielseitigen NetDienst fand. Die MuH-Macherinnen entschieden sich bewusst gegen Anonymität: Sowohl Adresse, Name der Verantwortlichen und ein Photo des Macher-Teams finden sich auf ihrer Homepage.234 Im Herbst 2001 wurde ein eingetragener Ver232 Vgl. www.milch-und-honig.com (18.03.05). 233 Als das Land, in dem Milch und Honig fließen. 234 Die prompt auch durch Medienberichte weiter verbreitet wurden, z. B. Meike Wöhlert: „Judentum im Netz. Koscher mit Computer“, in: ZITTY 21.03.01. – Die bewusste Entscheidung gegen Anonymität ist ein bemerkenswerter Unterschied zu anderen jüdischen Internet-Auftritten (wie etwa im Fall des größten Anbieters jüdischer Internetseiten in Deutschland bei haGalil). Zu den damit verbundenen
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ein gleichen Namens gegründet: ,MuH – Verein zur Förderung jüdischer Kultur‘, um die laufende Finanzierung des Projektes sicherzustellen. Der Verein bemüht sich um die Akquirierung von Spenden und Fördermitteln. (2) Inhaltliche Aspekte Die MuH-Aktiven hatten ihren Net-Dienst von Anfang an als Informations- und Dienstleistungsangebot im jüdischen Berlin konzipiert. Konkret dachten sie an eine Verbindung aus Informationsservice über das Judentum mit der Vermittlung von Schulungsangeboten (primär Hebräischkursen) und jüdischen Künstlern sowie mit einem Vertrieb von Judaika. Offensichtlich entwickelte das jüdische Internet-Projekt von Anfang an eine sehr starke Eigendynamik, denn das Echo war bereits in den ersten Monaten überwältigend: „Und dann purzelten quasi die verschiedenen Angebote, Anfragen, Nachfragen, Vorschläge usw. in einem mehr oder minderen Schwall auf uns ein […]! Also wir haben mit einem kleinen Angebot angefangen und es kamen immer mehr Ideen von Außen auch auf uns zu, also Leute, die gesagt haben, […] ,ich mache Musik‘, ,ich vertreib' koschere Lebensmittel‘, ,[…] eine israelische […; Person; A. J.], die sich hier in Berlin so ein Netzwerk aufgebaut hat, für Israelis, die nach Berlin kommen...“ – „...Informationstexte herausgibt, wo sind die Arbeitsämter und so235“ (P15:2/8-9)
Offensichtlich hatte die Initiative in eine Marktlücke in der gegenüber den USA nachhängenden Internet-Entwicklung in der jüdischen Diaspora Deutschlands (s. o. Kap. IV.8.1.). Dabei kristallisierten sich nach einiger Zeit drei schwerpunktmäßige Angebotsbereiche heraus: a) Informationsvermittlung jüdischer Thematik vor allem in Berlin: Informiert wird über die Geschichte der jüdischen Gemeinde, jüdische Sehenswürdigkeiten sowie über Gottesdienstorte und -zeiten. Außerdem wird mit Informationen über den jüdischen Geschäfts-, Gastronomie- und Kulturbereich sowie mit einem relativ aktuellen Adressenteil aufgewartet und es werden mehrere Tourenvorschläge für Berlinbesucher geboten. Auf einer überörtlichen Ebene reichen die Informationen von dem aktuellen Kalender jüdischer Feiertage über aktuelle Nachrichten auf deutschlandweiter, israelischer sowie internationaler Ebene bis zu einem Rabbiner-Chat zu weitergehenden religiösen Fragen. Außerdem werden auf separaten Kinderseiten Informationen zu jüdischer Geschichte und Religion vermittelt. Die News aus Berlin und der übrigen Welt werden über einen E-MailVerteiler als bestellbarer Newsletter an Interessierte verschickt. Dessen Erstellung ist zwar aufwendig und damit eine „völlig brotlose Geschichte, [...] aber es hat sich gezeigt, dass das im Endeffekt am meisten Werbung bringt.“ (P15:2/13)
Implikationen MuH hinsichtlich Antisemitismus vgl. das entsprechende Kap. III.4.2.2., S. 404 f. 235 Vgl. die Ausführungen über die Internetaktivitäten des IS in Kap. IV.7.3., S. 527.
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b) Touristenservice für Berlin-Reisende aus dem In- und Ausland: Dieses Tätigkeitsfeld mit hat sich ebenfalls erst nach einer Anlaufphase entwickelt.236 Im Arbeitsaufwand geht dieser Bereich mit individuell konzipierten Touren, Programmen und ,After Work Tours‘ für Reisegruppen und Schulklassen sowie der individuellen Bearbeitung von Anfragen weit über den o. g. Info-Service hinaus. c) Präsentation jüdischer Kunst und Kultur. Dies meint die Vermittlung jüdischer Künstler wie das Betreiben eines sog. CD-Shops. Dabei ist bemerkenswert, dass Aufnahmen Berliner Synagogalmusik sowie jüdischer Musiktradition aus deutschsprachigen Landen, dargeboten von Berliner InterpretInnen237, gegenüber den kommerziell sicherlich erfolgreicheren Klezmeraufnahmen deutlich überwiegen. Die unter der Rubrik ,Kunst und Kultur‘ portraitierten jüdischen Musiker, Literaten und Schauspieler sind fast ausschließlich in Berlin oder in Osteuropa beheimatet. Noch (?) ist deren Auswahl recht überschaubar.
8.3. Integration per Mouseclick? – Die jüdische Nutzerseite von MuH Bei den meisten zuvor behandelten Gruppenaktivitäten standen innerjüdischintegrative Aspekte auf gruppeninterner Ebene oder im Bereich ihrer jeweiligen Besucher im Mittelpunkt. Auf Grund der formalen Beschaffenheit von MuH als Internet-Anbieter ist dessen Nutzerseite von Interesse. Dabei geht es zunächst um die grundsätzliche Frage, in wieweit die Betreiberinnen Kenntnisse über die Nutzung ihrer Angebote durch Juden wie Nichtjuden besitzen, bevor der eigentlichen Frage der innerjüdischen Bedeutung von MuH nachgegangen werden kann. Auf Grund der relativ anonymen Kommunikation und allgemeinen Zugänglichkeit des Internet-Auftritts von MuH wissen dessen Betreiberinnen tatsächlich nicht, wer ihre Internet-Seiten abruft. Auch ihre diversen Angebote, wie der Newsletter oder der CD-Shop, beinhalten keine getrennten oder unterschiedlichen Angebote für Juden und/oder Nichtjuden. Dennoch haben – bei allem gebotenen Datenschutz – die MuH-Anbieterinnen einige Indizien für jüdische NutzerInnen. So bestehen etwa bei den Internetbestellungen der jüdischen Music-CDs auffallende Unterschiede zwischen Bestellungen aus Deutschland und den USA. Während in den USA häufig typisch jüdische Namen der Nutzer zumindest auf ein jüdischstämmiges Milieu verweisen und viele dieser Kunden sich bei der weiteren Nutzung des Net-Services als Juden zu erkennen geben (s. u.), fehlen bei den hiesigen Bestellungen entsprechende Hinweise.238 In den Rückmeldun-
236 S. hierzu auch im folgenden Kap. IV.8.3., S. 535. 237 Die zum Verkauf angebotene Synagogalmusik besteht insbesondere aus Interpretationen des verstorben Berliner Oberkantors Estrongo Nachama, die historischweltliche Musik von der Berliner jüdischen Sängerin Jalda Rebling. 238 Allein aus demographischen Gründen und der großen Popularität von Klezmermusik und anderen Judaika unter deutschen Nichtjuden ist davon auszugehen, dass diese hierzulande per se von mehr Nichtjuden als von Juden goutiert werden.
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gen auf den Newsletter, Einträgen in das Gästebuch mit persönlich gehaltenen Anfragen geben sich wiederum viele Nutzer als Juden zu erkennen, wie im Folgenden exemplarisch erläutert wird. Zentral für die Tätigkeit von MuH ist, wie zuvor erwähnt, die innerjüdische Informationsvermittlung. Die MuH-Betreiberinnen sehen die Notwendigkeit über die vor allem für nichtjüdische Interessierte erstellten ‚Grundinformationen‘ zu jüdischen Feiertagen (s. u.) hinaus religiöse ‚Spezialinformationen‘ für mit gewissen Vorkenntnissen auf das Angebot stoßende Interessierte bereitzustellen. Außerdem existiert das o. g. Angebot eines Rabbiner-Chats. Für jüdische Kinder wiederum wurden Spiel-Vorschläge für die religiösen Feiertage entwickelt. Von jüdischer Nutzerseite aus Deutschland zugemailte vielfältige und z. T. sehr spezielle Anfragen werden soweit möglich beantwortet. Als Beispiele erwähnt die MuH-Aktive Detail-Fragen zu religiösen Familienfeiern, die Vermittlung einer Person, die einen Ehevertrag (KETUBBA)239 verfassen kann oder die drängende Anfrage nach den Bezugsmöglichkeiten koscherer Lebensmittel.240 Zunächst erfolgte dank der in den USA vorangeschrittenen Internet-Nutzung der elektronische Verkauf von jüdischen Musik-CDs zunächst vor allem dorthin. Doch bald kamen, auf diese Weise auf MuH aufmerksam geworden, die ersten Anfragen von Amerikanern, die sich für ihre geplante Berlin-Reise nach Sehenswürdigkeiten im jüdischen Berlin erkundigten oder für die der Anbieter Gruppenreisen konzipiert. Aber auch schwierige, arbeitsintensive Anfragen, etwa nach der Lage der Gräber von Verwandten auf Berliner jüdischen Friedhöfen, erhält MuH von dort. Nach der Aufbauphase ist eine MitarbeiterIn ausschließlich mit dem Arbeitsschwerpunkt Tourismusservice beschäftigt. Das Vermittlungsangebot an jüdischen Künstlern als drittes innerjüdisches Hauptaufgabenfeld des Net-Dienstes entwickelte sich in viel geringerem Maße als ursprünglich angedacht: Im Gegensatz zu jüdischen Großstadtgemeinden in den USA, wo dies gang und gäbe sei, zeigte sich, dass etwa für BAR MIZWAFeiern, Hochzeiten oder Gemeindeevents „die Künstler, die wir präsentieren, relativ leicht auch ohne uns zu erreichen sind [...] und der Kontakt geht dann einfach persönlich“. Und angesichts der immer noch relativ überschaubaren hiesi-
Zur hiesigen Klezmer-Rezeption vgl. im Hype-Kap. die Abschnitte III.3.1.1., S. 292 und III.3.1.2., S. 299. 239 Gerade an diesem Beispiel zeigt P 15 wie wichtig dem Netz-Dienst die Aufhebung der Anonymität seiner Mitarbeiterinnen aus Reputationsgründen ist: „[...] und das ist natürlich auch für unser Angebot dann irgendwo wichtig, weil ich finde, für Dienstleistungen ist das einfach wichtig, also da muss schon jemand, dem ich die Erstellung einer Ketubba vermittele, [...] mir auch trauen, dass ich das geprüft habe, ob das seriös ist oder nicht und der muss mich auch als Person kennen, da reicht es nicht übers Internet.“ (P15:1/8) 240 Bei der nichtreligiös-jüdischen Person aus einer hiesigen Großstadt hatte sich plötzlich Bedarf wegen jüdischen Schüleraustauschs der Tochter aus den USA ergeben!
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gen jüdischen Gemeinschaft zeigte sich, dass „die Leute die [...] in der Community drin stecken, […] die [Vermittlung; A. J.] nicht mehr“ brauchen. (Ebd.) Ein zielgruppenorientiertes MuH-Angebote besteht in integrativen Bemühungen hinsichtlich der russischsprachigen Zuwanderer. Längerfristiges bestehe das Ziel darin, „Integrationsarbeit zu betreiben, die auch ein bisschen gegenseitig ist.“ (P15:2/21) Einerseits gehe es MuH darum, die Integration der Zuwanderer in die hiesige jüdische Gemeinschaft zu erleichtern, und andererseits, bei den hiesigen Juden für die Russischsprachigen und deren Kultur Interesse zu wecken. Dies bedeute zweierlei: „[...] auf dieser Website bestimmte Dinge für ,Russen‘ bereitstellen, allerdings […] auch ein bisschen versuchen, das, was die russischen Juden mitbringen an Kultur und an jüdischem Erbe auch, auch wenn's nicht unbedingt religiös ist, aber überhaupt an jüdischem Erbe auch ein bisschen für ,die Deutschen‘ bereitzustellen.“ (P15:2/22) In diesem Sinn haben die MuH-Anbieterinnen einen ersten konkreten, noch bescheidenen Anfang damit unternommen, dass sie in dem virtuellen ,CD-Shop‘ und in der Rubrik der von ihnen rezensierten Bücher zu jüdischer Thematik bewusst InterpretInnen und AutorInnen aus dem russischsprachigen Raum aufgenommen haben. Weiter berichtet die bei MuH Aktive, dass sie gezielt eine aus den GUS-Staaten stammende Praktikantin als wechselseitige Übersetzerin eingestellt hätten: „[...] also wir haben es in unserem Veranstaltungskalender teilweise so gemacht, als die PX [die Praktikantin; A. J.] da war, kulturelle Veranstaltungen, Musikveranstaltungen oder so die russischen Musikveranstaltungen auch auf Deutsch anzukündigen und andersrum, deutsche Veranstaltungen auch auf Russisch“. (P15:2/22) Außerdem habe die Praktikantin auch Reise-Angebote ins jüdische Berlin ins Russische übersetzt. Allerdings ist dieser auf die russischsprachigen Zuwanderer zielende Integrationsbereich bei MuH nicht dauerhaft gesichert, da nur über die Förderung durch das Arbeitsamt die ABM-Stelle bzw. die Übersetzungsarbeit weiter betrieben werden kann. Weitere von MuH konzeptionell angepeilte oder bereits berücksichtigte innerjüdische Zielgruppen stellen bestimmte Altersgruppen dar. Bspw. die Älteren: „[...] wenn man die Senioren sieht, die machen einfach internetmäßig schon eine ganze Menge.“ (P15:2/28) Das Problem läge eher in ihren mangelnden Kapazitäten, spezielle Seniorenangebote einzurichten, wie etwa die eigentlich mit dem Seniorenclub der JGB bzw. dessen Computersektion bereits verabredete Computerkurse. Dennoch meint die bei MuH Aktive optimistisch: „Ja und es gibt also diesen Computerseniorenclub […] das ist auch eine Idee, einfach aufzubauen, eine spezielle Seite für Senioren mit speziellen Angeboten für Senioren auch vielleicht mit speziellen Kontaktmöglichkeiten.“ (Ebd.) Diese künftige Ausrichtung der MuH-Arbeit hält P 15 für sehr vielversprechend, gerade da sich auch andernorts im Bereich jüdischer Senioren, bspw. mit Seniorenwochenenden und Seniorenpartnersuche, viel Neues auftun würde. Zwei weitere Altersgruppen, die MuH mit seinem Internet-Auftritt gezielt anspricht bzw. zukünftig erreichen will, sind Kinder und Jugendliche. Für Kinder
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existieren bereits seit der Frühphase des Portals eigene Seiten: Sorgfältig wurden die Bereiche ,Jüdische Geschichte‘, ,Bücher‘ sowie ,Spiele‘ mit bunten Bildern sowie ansprechenden Texten als kindergerechte Seiten eingerichtet. Offenbar mit Erfolg: „Die Kinderseite ist super gut akzeptiert,“ – „also da kriegen wir auch immer wieder Rückmeldungen“ (P15:2/29) Gegenüber diesen weit gediehenen Angeboten für Kinder fehlen allerdings bei MuH ausgesprochene Net-Seiten für Jugendliche. Dabei bestehen durchaus Pläne für eine eigene Jugendseite. Diese könnten neben politischen Informationen, Veranstaltungshinweise aber auch „Lifestylgeschichten“ umfassen, aber auch zu Jugendliche interessierender Thematik in Israel und den USA wie etwa jüdische Studiengänge oder Chat-Möglichkeiten mit dortigen jüdischen Gleichaltrigen. Schließlich könnten sich die MuH-Macherinnen sogar eine künftige Verlinkung von den Seiten für Ältere und Jüngere vorstellen: Jugendliche könnten sich so etwa mit den Lebensläufen von SeniorInnen beschäftigen. Für die ambitionierten Ideen im Bereich der Jugendlichen gebe es aber wie schon im Fall der o. g. Angebote für eine russischsprachige Klientel Kapazitäts- und Kompetenzschwierigkeiten: Denn zur Realisierung der Projekt-Idee bedürfte es aber nach Meinung der MuH Redakteurin Leute, „die halt in dem entsprechenden Alter sind, weil wir können nicht das Spezifische, ich weiß nicht was ein jüdischer DJ jetzt an Platten auflegt, muss ich mich nicht auch noch darum kümmern.“ – „[...] aber da brauche ich einfach Leute, die selber aus dem Bereich kommen.“ (P15:2/30) Innerjüdisch in der Leitung des JGB-Jugendzentrums oder des jüdischen Studentenbundes Engagierte Bekannte von ihr beispielsweise könnten schlichtweg die Zeit nicht aufbringen, um die bei dem Internet-Dienst erwünschten Angebote für Jugendliche mit aufzubauen. Aufschlussreich hinsichtlich der übergreifenden Fragestellung innerjüdischer Gemeinschaftsbildung ist eine Aussage von P 15 zu ihren Erfahrungen, mit speziellen Angeboten gerade auch randjüdische InteressentInnen anzusprechen: „[...], wobei mir auch immer wieder auffällt, so gerade auch in der NewsletterBestellung, dass wir auch was schaffen, […], so ein bisschen auch die Leute dazu kriegen, die nicht so oft in die Gemeinde kommen, […] die auch halachisch jüdisch sind, aber die eigentlich nicht mit der Gemeinde verwoben sind, […], aber dann über uns halt mal ein paar Sachen mitkriegen, die ja die eigentlich so in den Alltag vorher nicht rein gehörten, wo sie aber vielleicht doch teilweise ein Interesse haben. Das finde ich toll, und das war auch eines meiner Ziele, zu sagen, ich mache jetzt auch mal grad etwas, was nicht wieder für Leute ist, die schon immer dabei sind, sondern [was; A. J.] auch mal die Juden [...] im kulturellen Sinne verstehen.“ (P15:2/16)
Die Kommunikation zwischen einem engagierten ,Inner Circle‘ und der Peripherie in hiesigen jüdischen Kollektivs wäre noch vor einigen Jahren von kultureller wie von technologischer Seite her (Internet!) sicherlich kaum denkbar gewesen. Nicht minder als im Fall jüdischer Nutzer erhalten die Mitarbeiterinnen von MuH auch Hinweise auf nichtjüdische Nutzer ihres Net-Dienstes. Es kann von einem großen nichtjüdischen Kundenkreis im deutschlandweiten Vertriebsbe-
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reich von jüdischen Musik-CDs ausgegangen werden. Im Gegensatz zu der im vorherigern Abschnitt angesprochenen nur mäßig laufenden innerjüdischen Künstlervermittlung durch MuH, funktioniert dieses Serviceangebot umgekehrt bei der nichtjüdischen Klientel sehr gut: Hier kommt es neben den Anfragen von Einzelpersonen auch zu Erkundigungen von Stiftungen und kirchlichen Einrichtungen. Ein weiterer Angebotsschwerpunkt richtet sich an interessierte Schüler und Lehrer nichtjüdischer Bildungseinrichtungen mit der Vermittlung von Dozenten bzw. Vorträgen, Seminaren und Workshops zu jüdischer Thematik,241 worauf hier nicht näher eingegangen werden kann. Festgehalten werden kann, dass MuH seine Existenz wie andere gewerbliche jüdische Aktivitäten (z. B. die Jüdische Galerie oder Lebensmittelgeschäfte) auch der Nachfrage ihrer Angebote von nichtjüdischer Seite verdankt. P 15 macht insgesamt eine überraschende Interessensvielfalt an den Nutzermöglichkeiten von MuH und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für den jüdischen Netz-Dienstleister: „[...] das macht einfach den Spagat noch mal ein bisschen schwieriger, weil das Zielpublikum […], weil die Interessen sind manchmal so viel breiter, als ich das gedacht habe.“ (P15:2/15) Dabei ist es der MuH-Mitbetreiberin gegenüber allen NutzerInnen ihrer Net-Angebote wichtig, „gerade weil so viele Leute etwas machen über Juden242, […], auch zu zeigen, zu vermitteln, dass wir Juden sind.“ (P15:2/41) Damit kann MuH bereits in der jetzigen Phase als ein leuchtendes Beispiel dafür genommen werden, welches große Potential das Internet für jüdische Gemeinschaftsbildung bereithält.
8.4. Außenbeziehungen von MuH zu jüdischen Gruppen und Einzelpersonen Berlins und über die Stadt hinaus Es liegt in der Natur von MuH als Internet-Service zu jüdischer Thematik, dass dieser mit anderen jüdischen Gruppen und Einzelpersonen in einem weit größeren Maße als die meisten anderen untersuchten Basisinitiativen kommuniziert. Im Rahmen der Studie interessieren primär seine Kontakte im jüdischen Berlin. Auf den recht eindeutigen Gemeinde-Bezug von MuH wird hier nur knapp eingegangen und im Zusammenhang mit den anderen Kontakten ins jüdische Berlin behandelt. Die jüdischen Mitglieder der Internet-Initiative sind Mitglieder der JGB. Dabei ist das Portal eindeutig eine private Initiative außerhalb der Berliner Gemeinde, zu der wie im Fall einiger anderer hier untersuchten Gruppenaktivitäten keine offiziellen Beziehungen bestehen.
241 Unter der Rubrik Bildung findet sich auf den Seiten des Portals der Hinweis: „Wir vermitteln Dozenten auf Honorarbasis: Judaisten, Historiker und Pädagogen. Nicht nur in Berlin, sondern überall dort, wo Bedarf besteht.“ www.milch-undhonig.com (18.03.05) Aber auch für Schulklassen, die einen Berlinbesuch planen, bietet MuH. individuell abgestimmte Stadtrundgänge sowie altersgemäße Eintages- oder Mehrtagesprogramme an, vgl. ebd. 242 Etwa angesichts der in der Studie ausführlich behandelten nichtjüdischer Inszenierungen des Jüdischen, vgl. im Hype-Kap. die Abschnitte III.3.1. und 3.2.
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Das vorrangig von der bei MuH Aktiven angesprochene Beispiel der Kontakte in die JGB wie auch darüber hinaus ist das Verhältnis von MuH zu den verschiedenen religiösen Strömungen. Hierzu äußert sie: „Nein ich habe eigentlich nicht das Gefühl, dass uns bestimmte [religiöse; A. J.] Kreise meiden“ (P15:2/27) Für ihre eigene, die Anbieterseite von MuH, spricht sie von den redaktionellen Prinzipien, dass „jeder was machen kann, der die anderen akzeptiert“. (Ebd.) Allerdings räumt sie eine gewisse Grundausrichtung der religiösen Angebote des Net-Dienstes ein, ohne andere religiöse Orientierungen per se auszuschließen: So gehe „es natürlich schon so ein bisschen eher in die konservativ-liberale Richtung von bestimmten Grundentscheidungen her“. (Ebd.) Immerhin finden sich auch Beiträge orthodoxer Rabbiner auf den Seiten von MuH. Außerdem erwähnt sie gute Kontakte zum Sephardischen Minjan ,Or Zion‘243 sowie zu einem dessen Mitbegründer, der Lebensmittel seines in Berlin ansässigen koscheren Geschäfts über ihren Internet-Dienst vertreibt. Dieses Verhältnis sei sehr gut, „weil wir ihn kennen und weil die Leute auch persönlich einfach sympathisch sind und eine Offenheit haben und [...] die Kontakte gehen halt erst mal nicht über ideologische Brücken, weil dann würden wir uns nicht verstehen.“ (P15:2/28) Tatsächlich bestehende innerjüdische religiöse Differenzen überlagern offenbar nicht die kulturell und kommerziell motivierten Kooperationen des Internet-Services. Allerdings deutet die Interviewpartnerin an, dass unbenommen von den genannten Positivbeispielen bei einigen aus dem eher orthodoxen Spektrum Vorbehalte bestünden, sich auf dem Internet-Auftritt von MuH zu präsentieren: „[...] wobei das natürlich immer so ein Drahtseilakt ist, weil es schon manche Leute gibt, die sagen, ,Oh, wenn der auf der Seite ist, dann mache ich da nicht mit‘.“ (Ebd.) Das letzte Zitat verweist dabei eher auf innerjüdisch-religiöse Vorbehalte, denn auf solche des im jüdischen Berlin angesiedelten Internet-Projekts. Weitere, hier nicht im Einzelnen aufgeführte Kontakte im jüdischen Berlin bestehen vor allem im soziokulturellen sowie im Lebensmittel- und Gastrobereich. Aus der Untersuchung von MuH ergibt sich, dass Kooperationen mit dem ,russischen‘ Teil der jüdischen Gemeinschaft in Berlin noch eher gering sind. Hierbei gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass wie bereits im Abschnitt IV.8.3. erwähnt, die Absicht auf Seiten des Internetprojekts sehr ausgeprägt ist, Angebote für und damit implizit mit der Gruppe der ,Russen‘ abhängig von den eigenen Ressourcen aufzubauen. Allerdings zeigt sich für die P 15 immer wieder, wie schwierig es ist, in Berlin als frei finanzierte Internet-Initiative finanziell sich rechnende BildungsAngebote in Kooperationen mit etablierten jüdischen oder nichtjüdischen Einrichtungen zu jüdischer Thematik zu entwickeln: „Offensichtlich sind die Töpfe so klein, die Leute [in den Institutionen, A. J.] haben einfach Angst“ (P15:2/1920) in eine Art Verdrängungswettbewerb zu geraten, trotz oder weil im deutschjüdischen Berlins gälte: Hier „hat jeder seinen festen Platz“. (P15:2/20) 243 Zu diesem Minjan vgl. II.2.2.3., S. 148.
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Dies leitet über zu einem letzten hier angeführten Bereich potentieller Kommunikationsmöglichkeiten zu ähnlich ausgerichteten jüdischen Web-Diensten. Wie bereits oben in Kap. IV.8.1. zum Entstehungshintergrund von MuH erwähnt, sind in den letzten Jahren weitere Internet-Auftritte mit Informationen zum hiesigen jüdischen Leben entstanden. Die MuH-Mitbegründerin bedauert, dass eine Kooperation mit einem anderen jüdischen Internet-Dienst leider nicht möglich gewesen sei, trotz ihres Versuchs in den Anfängen ihres Berliner Projektes. So berichtet sie: „[...] ich hätte mir eine Zusammenarbeit gewünscht, ich hätte gedacht, so das sind sowieso Leute, die machen den ganzen Informationsteil, dass brauche ich nicht zu machen,“ – „[...] ich habe den Redakteuren ja auch angeboten, dass man sich verlinkt und eben [...] über eine Verlinkung ganz klar [...] abgetrennte Bereiche, aber ich habe da wirklich nur negative Rückmeldungen gekriegt.“ (P15:19-20) Offenbar ist die Konkurrenzsituation im Bereich bezahlbarer jüdischer Internet-Dienstleistungen recht hoch und wirkt sich daher negativ auf die Kooperationsbereitschaft zwischen den ohnehin finanziell nur sehr gering ausgestatteten jeweiligen Anbietern aus.244 Dies dürfte um so mehr gelten, als sich auch bei MuH unter den vergleichsweise günstigen örtlichen Ausgangsbedingungen eine Lücke zwischen den angedachten weiteren Angeboten und deren tatsächlichen Realisierungsmöglichkeiten auftut, die sich offenkundig aus strukturellen Schwierigkeiten solcher Internetdienste überhaupt herleiten. Die vorläufige Konsequenz daraus besteht für MuH, etwa für den jüdischamerikanischen Touristenbereich regionale, über Berlin hinausgehende Informationen zu bündeln, wie etwa für das gesamte Ruhrgebiet einschließlich Köln.245 Damit beantwortet sich aber zugleich die Frage nach den Pilotfunktionen von MuH für etwaige ähnliche jüdische Internet-Projekte in anderen Städten: Solange sich das auch von der über MuH Auskunft Gebenden als expandierend wahrgenommene jüdische Leben andernorts noch keine nur ansatzweise mit Berlin vergleichbare Vielfalt entwickelt hat, fehlen dort die örtlichen Bedingungen für den Aufbau entsprechender Internet-Angebote. Dies beleuchtet sie an Hand der Beispiele Düsseldorf und Frankfurt: „Also Düsseldorf kenne ich halt ein bisschen.“ – „Furchtbar, [...], und es wird sicher noch eine Weile dauern, also so optimistisch, wie wir uns das am Anfang gedacht haben. Und dann versuchten wir das gleiche Angebot halt auch irgendwie in die anderen Großstädte [...] zu übertragen, es ist einfach [...] irreal [...] und ich habe gar nicht genug Anbieter in Frank-
244 Dies zeigt sich schlaglichtartig den finanziellen Schwierigkeiten der eingangs in Kap. IV.8.1. Anm. 230, S. 533 erwähnten jüdischen Internetplattform haGalil, vgl. Elke Wittich: „Falsche Eingabe“, in: JA 24.03.05. 245 Als mögliches Beispiel führt die MuH-Mitbegründerin eine kleine religiös egalitär ausgerichtete Landsynagoge in der Nähe von Dortmund an, von deren Existenz man normalerweise nichts wüsste, und über die sich etwa an einem solchen Angebot interessierte amerikanische Reformjuden, die sich auf der Düsseldorfer Messe aufhalten, durch Internet-Informationsservices, wie von ihrem Berliner angedacht, informieren könnten.
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furt. Wenn ich in Frankfurt nach einem [...] Restaurant suche, [...] und dann habe ich nur das Gemeindeforum, sonst was gibt es eigentlich nichts.“ (P15:2/33)
8.5. Pilotfunktionen und Zukunftsperspektiven Es kann bilanzierend festgehalten werden, dass es dem kleinen MitarbeiterinnenTeam mit vielfältigen Angeboten ihres Internet-Service offensichtlich gelingt, gleichsam jüdische wie nichtjüdische Interessierte in Berlin und andernorts zu erreichen. Außerhalb der örtlichen Gemeinde stellen diese eine echte Bereicherung im jüdischen Berlin dar. Dabei ist die Einschätzung der MuH-Mitbegründerin besonders positiv zu werten, unterschiedliche innerjüdische Zielgruppen, bis hin zu Personen aus dem randjüdischen Bereich mit spezifischen Angeboten zu erreichen oder künftig ansprechen zu wollen. An dem gewählten Beispiel der in Kap. IV.4. genannten Projekt-Ideen für Jugendliche wie auch in den anderen Bereichen der theoretisch möglichen zielgruppenorientierten Angebote zeigen sich m. E. allerdings deutlich Kompetenzgrenzen und Kapazitätsschwierigkeiten des innerjüdischen Internet-Diensts und seines jüdischen Umfelds, das weite Feld an bereits eingerichteten sowie angedachten Bereichen gänzlich abzudecken: Ein nicht unerhebliches Dilemma besteht für MuH also darin, dass ungeachtet des großen Engagements und Ideenreichtums seiner Betreiberinnen, das Internet-Projekt ein von ihm kaum zu erbringendes sehr hohes Maß an milieuspezifischen kulturellen Kompetenzen besitzen müsste, um en détail auf die angestrebten Zielgruppen adäquat eingehen zu können. Andrerseits besitzt der Internet-Dienst offenbar nicht den ausreichenden finanziellen Hintergrund, um hierfür die befähigten ,Professionals‘ zu gewinnen. Damit wird aber m. E. der Internet-Service selbst von vielen der in der innerjüdischen Kulturarbeit bestehenden Problemen eingeholt, welche die MuHredakteurin zu Recht in der Berliner Gemeinde konstatiert und bemängelt hatte. Wenigstens ein Teil der benannten Probleme von MuH könnte sich als bloße Anfangsschwierigkeiten einer kulturell und technologisch innovativen innerjüdischen Entwicklung erweisen und im Zuge einer verstärkten Nutzung jüdischer auf Berlin bezogener und darüber hinausweisender Internet-Angebote bewältigt werden. Professionalität und Lukrativität der von dem Netzdienst vermittelten innerjüdischen Angebotenen – dies zeigen außerjüdische Beispiele der letzten 10 Jahre zur Genüge – würden damit ebenfalls deutlich zunehmen.
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9 . E r g e b n i s g e l e i t e t e Th e s e n z u n e u e r e n G r u p p e n a k t i v i t ä t e n i m j ü d is c h e n B e r l i n u n d ih r e n Z u k u n f t s p e r s p e k t i ve n Die Ergebnisse der Einzelfallanalysen der sieben ausgewählten Gruppenaktivitäten sollen abschließend in verdichteten Thesen entlang der an alle Initiativen angelegten Fragekomplexe zu einem konsistenten Schlussbild synthetisiert werden. Dabei wird auf die Abschlussthesen des vorangegangenen dritten Teils der Studie (Kap. III.5.) als Hintergrundsfolie und Bezugspunkt ausdrücklich rekurriert. 1. These: Jüdische Gruppenaktivitäten als innerjüdische Vergemeinschaftungsagenturen Im Kontext der übrigen Untersuchung zeigte sich, dass jüdischen Gruppenaktivitäten in Berlin auf einer übergreifenden Ebene für die jüdische Gemeinschaft der Metropole gegenwärtig eine bedeutsame soziale und soziokulturelle Funktion zukommt. Hierfür gilt es, sich • die historisch bedingte, abnehmende Bindekraft der traditionellen Gemeindeangebote in der hiesigen Diaspora246 voranschreitende gesellschaftliche Individualisie• wie auch die allgemeine rung und Pluralisierung247 zu vergegenwärtigen. Vergemeinschaftung im Sinne M. Webers schließt über das sachliche Verhältnis hinaus und diesem quasi vorgeordnet aber immer auch ein gemeinschaftliches Erleben ein.248 Ohne es kann daher keine jüdische Gemeinschaft – auch in Fällen formaler Mitgliedschaften – bestehen. Vor dem Hintergrund der o. g. nachlassenden Bindekraft traditioneller Gemeinden erscheint es plausibel, dass die Zunahme neueren jüdische Basisinitiativen an der Peripherie wie außerhalb der JGB nach 1990 als bedeutsam für aktuelle innerjüdische Vergemeinschaftungsprozesse gewertet werden kann. Es zeigte sich schnell, dass die untersuchten wie auch andere offenen, ‚niedrigschwellige‘ Gruppenaktivitäten Bestandteile und Glieder eines dynamischen und wechselseitigen sozialen Beziehungsgeflechts zwischen den Ebenen in Berlin lebender jüdischer Individuen, jüdischen Gruppenaktivitäten und der örtlichen Gemeinde sowie der jüdischen Gemeinschaft als Ganzes angesehen werden können. Diese verschiedenen Interaktionsebenen und der personelle Austausch der jüdischen Basisinitiativen können in einem vereinfacht skizzierten Dobbelbind-Modell veranschaulicht werden: 246 Als Gründe hierfür wurden in der bisherigen Untersuchung vor allem die Schoah, der vor allem bei den Juden der ehemaligen SU weit fortgeschrittenen Religionsferne sowie eine jahrzehntelang winzige religiös bestimmte Diaspora-Existenz innerhalb der überwiegend säkularen hiesigen Mehrheitsgesellschaft benannt. 247 Vgl. hierzu Kap. II.3.2.1. und 3.2.2.; – s. hierzu auch unten die 3. These S. 544 f. 248 Vergemeinschaftung beruht nach M. Weber eben grundsätzlich „auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten.“ Vgl. ders. Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, besorgt von J. Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen: Mohr, 2002 [1921], S. 21.
THESEN ZU NEUEREN GRUPPENAKTIVITÄTEN | 543
Gruppenaktivitäten als Interaktionsebene:
Jüdische Gemeinschaft in Berlin
ൿඁ൹ൻൾ Gruppenaktivität N 1
Gruppenaktivität N 2 Gruppenaktivität N 3
ൻ൹ൻ൹ൻ൹ Individuen Grafik 1
Gibt es wie in Berlin eine größere Anzahl dieser niedrigschwelligen Basisinitiativen, die sich von der Gemeinde her gesehen eher am Rand oder außerhalb befinden, können sie nach Art einer Membran Einlassfunktionen in die jüdische Gemeinschaft (wie auch das Gegenteil) erfüllen. Bieten sie doch häufig die Möglichkeit, sich mit anderen Juden persönlich auszutauschen und sich Jüdischkeit anzueignen, ohne Gemeindemitglied, oder wie es eine Befragte treffend formulierte, ‚ohne ein fertiger Mensch‘ im Sinne einer jüdischer Identität zu sein. So eröffnen einige der im Weiteren näher vorgestellte Gruppierungen, bspw. ihrer jüdischen Wurzeln entfremdeten ‚Randjuden‘, vielfältige Möglichkeiten, an die örtliche jüdische Gemeinschaft wieder oder erstmals anzudocken.
Membran-Funktion der Gruppenaktivitäten: ȱ
GruppenAktivitäten
Peripherie
GruppenAktivitäten
Jüdische Gemeinschaft in Berlin
GruppenAktivitäten Grafik 2
GruppenAktivitäten
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2. These: Berlinspezifika als Entstehungshintergrund Bereits in der thematischen Eingrenzung zu Beginn der Studie wurde auf die Berliner Besonderheit einer relativ großen Zahl jüdischer Basisinitiativen an der Peripherie und außerhalb der Berliner Gemeinde verwiesen. In der Zusammenschau der in der Erhebung zu Tage geförderten Berlinspezifika mit den Entstehungsbedingungen der hier untersuchten Gruppenaktivitäten wird deutlich, wie stark es sich bei der überwiegenden Zahl von ihnen um in den örtlichen Bedingungen wurzelnde Gemeinschaftsinitiativen handelt.249 Besonders günstige innerjüdische örtliche Voraussetzungen werden dabei erkennbar. Entsprechend lässt sich eine Reihung der sieben untersuchten Gruppen nach ihre Gründung begünstigenden Ortsspezifika mit abnehmender Bedeutung vornehmen: • Der Jüdische Kulturverein (JKV) besitzt in der einmaligen historischen Situation sowohl der krisenhaften Endphase der DDR und der Wendezeit wie der damaligen inner- wie außerhalb der Ostberliner Gemeinde lebenden Juden als Gründungshintergrund. • Im Fall des Israelischen Stammtischs (IS), der Nahostgruppe (NG) und der Homosexuellen-Gruppe Yachad (Ya) besitzt Berlin im stadtsoziologischen Sinn deutschlandweit die beste personelle Gelegenheitsstruktur auf Grund einer vergleichsweise großen Zahl an in der Stadt lebender jeweiliger potentieller Gruppenklientel. • Für die Jüdische Galerie (JÜG) wie auch für den Internetanbieter Milch und Honig (MuH) bieten sich in der Metropole immer noch vergleichsweise günstige örtliche Bedingungen mit großer Gemeinden (JÜG und MuH) und einer touristisch erschlossenen Kunstszene (JÜG), wie sie hierzulande nur sehr wenige Städte aufweisen. • Schließlich hat die religiöse Pluralisierung im jüdischen Berlin seit den frühen 90er Jahren über hier nicht in die Auswahl aufgenommenen religiös bestimmten Basis-initiativen (wie den Egalitären und den Sephardischen Minjan) hinaus, sich auch im vorliegenden Sample positiv ausgewirkt. Aktivitäten wie der JKV, MuH und Ya profitieren unmittelbar von den vielfältigeren religiösen Kooperationsmöglichkeiten im reformjüdischen wie orthodoxen Judentum innerhalb wie außerhalb der Gemeinde. • Lediglich der als gemeindenahe Vergleichsgruppe gewählte Jüdische Studentenbund (JSB) weist als langjährig existenter LV eines bundesweiten Dachverbandes keine ausgeprägte Ortsspezifik aktuellerer Entwicklungen auf. 3. These: Gesellschaftlicher Wandel als Entstehungshintergrund Bei den zuvor behandelten jüdischen Gemeinschaftsinitiativen verschränken sich als Entstehungshintergrund innerjüdische mit allgemeingesellschaftlichen Entwicklungen, sind doch viele neuere Gruppierungen im jüdischen Berlin – nicht nur technischer Art – ohne den aktuellen Wandel der mehrheitlich nichtjüdischen 249 Vgl. die Auflistung der Berlinspezifika der untersuchten Gruppen im Schaubild 2 des III. Teils der Studie Kap. 5., S. 423 f.
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Mehrheitsgesellschaft nicht denkbar.250 Die im Kap. II.3.2. zur gesamtgesellschaftlichen Verortung der Studie angeführten Entgrenzungs- und Modernisierungsprozesse, wie insbesondere lebensweltliche Individualisierungs- und Pluralisierungsschübe, lassen sich auch auf der Ebene der untersuchten Gruppenaktivitäten ausmachen. So zeigte sich beim JKV die quasi postmoderne Situation von Verlusterfahrungen alter Gewissheiten des DDR-stämmigen Gründungsmilieus, wobei dem Verein offensichtlich eine kompensatorische Bedeutung zukommt. Andere Gruppen wie Ya und die NG erweisen sich demgegenüber milieubedingt und inhaltlich durch die in den 70er und 80er Jahren aufkommenden Neuen sozialen Bewegungen und Non-Government-Organisationen geprägt. Und mit dem kommunikationstechnologischen Wandel auf gesamtgesellschaftlicher Ebene einhergehende neuere Formen der Vergemeinschaftung bilden sich schließlich in der großen Bedeutung und ganz unterschiedlichen Nutzung des Internets beim IS und dem Netzanbieter MuH ab.
4. These: Inhaltliche und formale Vielfalt Bereits die bloße Auswahl der sieben Gruppenaktivitäten lässt eine große Bandbreite der thematischen Orientierung und des strukturellen Aufbaus der in der Dekade nach 1990 entstandenen jüdischen Gemeinschaftsinitiativen am Rand und außerhalb der Berliner Gemeinde erkennen. • Auf inhaltlicher Ebene wird deutlich, dass sich das Gros der untersuchten Gruppen an bis zu ihrer Gründung nicht durch das Angebot der Gemeinde gestillten innerjüdischen Bedürfnissen orientiert. Im Fall des JKV, des IS, und bei Ya, aber auch beim gemeindenahen JSB, wird Jüdischkeit für einen bestimmte Klientel (s. u. 4. These) überwiegend durch gemeinsame Beschäftigung mit jüdischen Inhalten und dem Begehen religiöser und anderer Feiertage generiert. Demgegenüber sind es bei der JÜG und bei MuH neben stark inhaltlich jüdischen Orientierungen, insbesondere der Verbreitung jüdischer und von Juden geschaffener Kulturgüter, auch kommerzielle Bedürfnisse der Anbieter- wie der Nutzerseite, die von ihnen verfolgt werden. • Auf formaler Ebene wird die neue innerjüdische Vielfalt in der Metropole ebenfalls in der Auswahl an untersuchten Aktivitäten deutlich. So finden sich neben traditionell strukturierten Vereinen und Bünden (JKV und JSB), informelle Treffen (IS), Kunstgewerbe- (JÜG) und moderne Dienstleistungsunternehmen (MuH), aber auch posttraditionale Basisinitiativen (NG du YA). • Gemeinsam ist allen Aktivitäten (außer dem JSB) damit, dass sie für die in der Studie bereits zuvor konstatierte Vitalisierung und qualitative Weitung im kulturellen Bereich des jüdischen Berlin stehen.251 250 Dieser allgemeingesellschaftliche Wandel zeichnet sich allerdings auf Grund der Spezifika der jüdischen Gemeinschaft in Berlin und Deutschland in dieser nicht im Maßstab eins zu eins ab und wirkt sich in ihr teilweise erst mit Zeitverzug aus. Zu zentralen Aspekten dieses Wandels vgl. Kap. II.3.2 und II.3.3. 251 Vgl. das Revitalisierungs-Kap. II.2. sowie die erste Abschluss-These in Kap. III.5.
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5. These: Integrative Aspekte Eine ausgesprochene Stärke in der Auswahl untersuchten Gruppenaktivitäten (wie darüber hinaus) scheint in deren innerjüdischen integrativen Potentialen zu liegen. Nahezu alle Gruppen leisten dabei Beachtliches: • Es sind überwiegend spezifische milieu- oder tätigkeitsbedingte Interessen geleitete Teilkollektive im jüdischen Berlin, die sich zu soziokulturellen bis hin zu politischen Aktivitäten zusammenfinden (IS, JKV, JSB, JÜG, Ya). Hier findet eine eindeutige milieuspezifische Vergemeinschaftung zugleich mit einer Vermittlung jüdischer Gehalte statt. • Die oben in These 1 mit zwei graphischen Modellen aufgezeigte Membranfunktion gegenüber ,randständischen‘ Juden (aus Gemeindesicht gesehen), die nie, noch, schon oder wieder Gemeindemitglieder sind, konnte eindeutig aufgezeigt werden. Gerade die ehemals zur Gemeinde dissidenten und abseitigen Gruppierungen JKV und Ya (s. u. These 4.) nehmen eine solche Funktion ein, indem in ihnen Juden und Jüdischstämmige an lebendiges Judentum herangeführt werden und sich mit anderen Juden hierbei auszutauschen können, die ebenfalls keine Gemeindeverwurzelung besaßen oder besitzen. • Aber auch im Fall milieuübergreifender integrativer Bemühungen besitzen die untersuchten Basisinitiativen den Vorteil – etwa gegenüber einer Gemeinde – dass sie ohne der Verpflichtung einer Großorganisation, allen Mitgliedern gerecht werden zu müssen und ohne deren tendenziell eher schwerfälligen Verwaltungsapparat, Neues ausprobieren können. Dies zeigte sich hinsichtlich der russischsprachigen Zuwanderer par excellence im Fall des JSB und des JKV. In Ansätzen werden gegenüber dieser Gruppe auch innovative Wege bei YA wie auch bei MuH sichtbar. • Schließlich bieten die zuvor behandelten Gruppen mit ihren ebenfalls gegenüber einer Gemeinde eher niedrigschwelligen Angeboten auch Nichtjuden häufiger die Möglichkeit zur Mitarbeit. Dies gilt für so unterschiedliche Aktivitäten wie den JKV und MuH gleichermaßen. Im hochgradig verminten Bereich des Nahostkonfliktes betritt eine Gruppe wie die NG hierbei geradezu integratives Neuland. 6. These: Verhältnis zur Berliner Gemeinde Auch bei diesem Punkt erweist sich das Untersuchungsfeld gemeindeperipherer oder -ferner Gruppierungen als ausgesprochen ortsspezifisch geprägt. Die Existenz aller untersuchten Basisinitiativen wäre ohne die Berliner Gemeinde als Nukleus jüdischen Lebens der Metropole nicht denkbar, unbenommen von dem jeweiligen Verhältnis zwischen Gemeinde- und Initiativenseite. Außer im Entstehungszusammenhang zeigt sich dies auch daran, dass alle untersuchten Aktivitäten gegenüber der JGB komplementäre Arbeit, im Fall der NG sogar Die jeweiligen Beziehungen zwischen Gruppenaktivitäten und Gemeinde erweisen sich als vielschichtig und in Bewegung. Insgesamt wurde in den gruppenbezogenen Einzelfallanalysen die zentrale Bedeutung der seit der Ära des ehema-
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ligen Gemeindevorsitzenden Andreas Nachama (1996-2001) gegenüber neuen und z. T. ungewöhnlichen bis provokanten Initiativen offenen Haltung der JGB bestätigt, wie sie im berlinbezogenen Einleitungs-Kapitel bereits zuvor aufgezeigt wurde. Zwischen der Gemeinde und ehemals dissidenten und randständigen Gruppierungen wie der JKV und Ya entwickelte sich seitdem ein Kooperationsverhältnis, ohne dass diese Initiativen dabei ihre Autonomie einbüßten. Umgekehrt besteht offensichtlich kein Druck zur gegenseitigen Zusammenarbeit wie das Beispiel des IS oder auch von MuH beweisen. Spaltungsbefürchtungen von Gemeindeseite wurden in keinem der untersuchten Beispiele erkennbar.252 Die Grenzen der Belastbarkeit einer gegenwärtigen Parallelexistenz zwischen der Gemeinde in Berlin und einer jüdisch (mit-)geprägten örtlichen Basisinitiative zeigte sich schlaglichtartig im Fall der stark israel-kritischen, durch hiesige und israelische Juden maßgeblich mitgetragenen NG und ihres konfligierenden Nichtverhältnisses zur JGB. Zwischen der Gemeindeleitung und ihrer offiziellen weitgehenden Pro-Israel-Position einerseits sowie dem hierzu dissidenten Arbeitskreis andererseits erscheint eine offene Kontroverse (noch?) nicht möglich. Immerhin bestehen in einigen Fällen Doppelmitgliedschaften bei beiden Organisationen. Außerdem finden kontroverse Gespräche zwischen Einzelnen beider Seiten in der Öffentlichkeit auf der Straße statt und es bestehen ernstgemeinte Kontakte unterhalb der offiziellen Ebene. Die durch die Herausbildung jüdischer Basisaktivitäten im jüdischen Berlin hervorgerufene ,Landschaftsveränderung‘ auf die Berliner Gemeinde ebenfalls nicht ohne Wirkung geblieben. Weitere hier noch nicht abzusehende Wechselwirkungen sind zu erwarten. Wie weit die Öffnung der Berliner Gemeinde gegenüber den jüdischen Basisinitiativen voranschreitet, wird sich erst in der Zukunft erweisen. Jedenfalls ist zu vermuten, dass das jüdische Berlin in der Vielfalt an Beziehungen zwischen Gemeinde und außerhalb von ihr engagierten jüdischen Akteuren weiterhin eine in der deutschlandweiten Diaspora führende, möglicherweise auch eine wegweisende Rolle einnehmen wird.
7. These: Kontakte zu anderen jüdischen Gruppenaktivitäten und externen Einzelpersonen sowie mögliche Pilotfunktionen Erwartungsgemäß konnten bei den meisten behandelten Aktivitäten Kooperationen mit anderen Gruppierungen jenseits der JGB nachgewiesen werden. Die Gründe hierfür bestehen einerseits darin, dass sie als am Rand und außerhalb der Berliner Gemeinde gelegen, gerade in ihren Anfängen häufig auf Zusammenarbeiten angewiesen sind. Besonders die ehemaligen Gemeindedissidenten JKV und Ya erweisen sich dabei als ausgesprochene Networker auch über Berlin hinaus. Dies gilt ebenso für die heutige gemeindedissidente NG. In all diesen Fällen 252 Ein Vorwurf wie er immerhin unter dem Gemeindevorsitzenden Heinz Galinski (bis 1994) noch unterschwellig gegenüber dem JKV bestand; vgl. Kap. IV.2.5.2., S. 461 f., aber auch über Berlin hinaus in den vergangenen Jahren immer wieder gegenüber liberal-religiösen Aktivitäten; vgl. Kap. II.1.5.4., S. 125 f.
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dürften diese Kontakte also kompensierend zu den anfänglich noch fehlenden oder gegenwärtig nicht existenten Kontakten zur Gemeinde gewirkt haben. Einige Initiativen kooperieren darüber hinaus oder ausschließlich mit Einzelpersonen, insbesondere mit Rabbinern (JKV und Ya) und Referenten (IS, JKV, MuH) oder mit Künstlern und deren Kundschaft (JÜG und MuH). Wieweit die untersuchten Gruppierungen über Berlin hinaus eine gewisse Pilotfunktion oder einen Vorbildcharakter erfüllen können, lässt sich aus ihrer Perspektive und zum gegenwärtigen Zeitpunkt (noch?) kaum feststellen. Die Suche nach einer Antwort würde außerdem eine Untersuchung in verschiedenen Städten in Deutschland erfordern. Nur die älteste Gruppierung, nämlich der JKV, leistet mittlerweile auf Grund seines Know-hows, etwa im Erstellen der Vereinszeitung, auch eine gewisse Aufbauhilfe bei Gemeinden und anderen Gruppierungen außerhalb von Berlin bis ins Ausland. Allerdings deuten sich bei einigen Aktivitäten bereits entsprechende Vorbildfunktionen an (MuH, Ya), wie sie neuere religiöse Initiativen in Berlin für entsprechende Bestrebungen an anderen Orten bereits erfüllen (vor allem der egalitäre Minjan). Ein Projekt wird in seinen überregionalen Zusammenhängen auf Grund seiner berlinspezifischen herkunftsvielfältigen Zusammensetzung geradezu als exotisch wahrgenommen (NG).
8. These: Zukunftsperspektiven Die Aussichten der in den Einzelfalluntersuchungen analysierten jüdisch-berliner Gruppenaktivitäten für die Zukunft erscheinen bemerkenswert heterogen und vielschichtig. Dabei kann nach einer Gründerzeit im jüdischen Berlin zwischen der deutschen wie der Berliner Einigung und dem Millennium insgesamt von einer gewissen Konsolidierungsphase jüdischer Basisinitiativen in der Metropole gesprochen werden. Die Stagnation der Gemeindegröße wie die anhaltend schwierige gesamtwirtschaftliche Situation lässt keine große Welle von Gruppenneugründungen erwarten. Im weiterem Verlauf der aktuellen Phase werden möglicherweise einige Aktivitäten, auch unter den hier analysierten, an ihr Ende gelangen oder sich strukturell und inhaltlich verändern müssen. Außerdem kommen aller Voraussicht nach weitere Gründungen, insbesondere im Medien- und Gastronomiebereich sowie in milieu- und interessengruppen-spezifischen Dienstleistungen hinzu. Die hier behandelten Initiativen spiegeln trotz oder besser gerade auf Grund ihres bisherigen Erfolgs in nuce Chancen und Restriktionen wieder, die sich jüdischem Leben in Berlin, teilweise auch für die deutschlandweite jüdische Diaspora insgesamt gegenwärtig als Herausforderungen für die Zukunft stellen: Zuerst seien die wichtigsten Defizit- und Problembereiche der untersuchten Gemeinschaftsinitiativen kurz vergegenwärtigt: So wird in mehreren Fällen die Notwendigkeit weiterer gruppeninterner Integrationsbemühungen benannt, insbesondere hinsichtlich der russischsprachigen Zuwanderer (JKV, JSB, MuH; vgl. These 4). In einem Fall erscheint der mangelnde Zuspruch aus der russischsprachigen Klientel als ein die weitere Existenz der Gruppe gefährdendes Problem
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(Ya). Die schwierige gesamtwirtschaftliche Situation wie auch diejenige der öffentlichen Hand machen sich entsprechend gerade bei den Projekten als Unwägbarkeit bemerkbar, die auf öffentliche Unterstützung etwa durch ABM-Kräfte angewiesen sind (JKV, MuH). Bei dem gemeindenahen und finanziell unterausgestatteten ,Veteran‘ JSB ergibt sich aktuell die Schwierigkeit, genügend Ehrenamtliche zu finden, die arbeitsintensive Leitungsarbeit zu verrichten. Die zunehmende Überalterung der eigenen Klientel erscheint in einem Fall im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung dieser Gruppe besonders problematisch (JKV). Vereinzelt werden auch die als einengend empfundene Last der Sicherheitsmaßnahmen auf Grund von Antisemitismus angeführt (insbesondere JÜG). Doch auch einige vielversprechende Zukunftsperspektiven zeichnen sich bei den analysierten Basisinitiativen ab: Der IS bspw. ist immer noch in einer Expansionsphase begriffen und wandelt oder weitert sich möglicherweise über den Stammtisch hinaus internetgestützt zu einer berlinweit oder deutschlandweiten Kontaktbörse israelischer und an Israel interessierter Juden. Auch MuH scheint seine internetgestützten Angebotsmöglichkeiten noch lange nicht ausgeschöpft haben. Hier scheint sowohl in geographischer wie in thematischer Hinsicht gerade in den Bereichen alter- und herkunftsbezogener jüdischer Klientel ein großer Entwicklungsraum zu liegen. Für Ya wird sich erst künftig erweisen, inwiefern es der Gruppe gelingt, Homosexuelle aus dem Zuwandererbereich zu gewinnen oder zum Aufbau einer eigenen Gruppe zu motivieren. Möglicherweise bedarf es hierbei auch Impulse auf bundesweiter Ebene. Schließlich könnte es dem JKV, ebenfalls ,Veteran‘ unter den behandelten Basisinitiativen, zukünftig gelingen, Teile der Kindergeneration seiner DDR-stämmigen Gründungsklientel zu gewinnen oder sich zu einem expandierenden Zeitschriftenprojekt um die vereinseigene ,Korrespondenz‘ weiterzuentwickeln. Jenseits der absehbaren Potentiale können sich relativ schnell weitergehende Perspektiven auch für den JSB und die JÜG ergeben, etwa wenn – die Nah-Utopie sei erlaubt – in Zukunft ein jüdisches Kulturzentrum entstehen würde, wie vereinzelt bereits angedacht. Jedenfalls werden die untersuchten wie auchandere jüdische Basisaktivitäten am Rand und außerhalb der Berliner Gemeinde auch in Zukunft als Träger vielfältiger kultureller Inhalte wie als Kristallisationspunkte innerjüdischer Vergemeinschaftung in Berlin von großer Bedeutung sein. Es kann davon ausgegangen werden, dass in Zukunft stärker als bisher in den gemischtjüdischen Gruppenaktivitäten insbesondere junge Aktive ,russischer Herkunft‘ eine bedeutende Rolle spielen werden, und dabei, wie heute schon etwa im Studentenbund, eine trikulturelle Prägung (,russisch‘ – jüdisch – deutsch) einbringen werden.
Faz it und Au sblick
„Können wir in Deutschland nur das sein: Vertreter eines fast ausgerotteten Volkes? Ich glaube, dass die Zeit reif ist, sich anders zu definieren. Das soll nicht heißen, daß man dem Judentum den Rücken kehrt, sondern, daß jüdische Identität ein Teil wird – ob groß oder klein, daß sei jedem überlassen – einer der Welt zugewandten Gesamtpersönlichkeit.“ Gila Lustiger1 „The three challenges that will confront them [Jews in Europe; A. J.] in the future are the pluralist democratic challenge, the multicultural challenge, and the Jewish presence inside Europe's growing Jewish Space.“ Diana Pinto2
Fazit Diese Studie stellt einen umfassenderen Versuch dar, kulturelle und hierzu in Korrespondenz stehende soziale Aspekte des gegenwärtigen Wandels innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Berlin zu beschreiben und zu analysieren. Wie im Einleitungsteil ausgeführt, wird jüdischer Existenz in Berlin auf Grund historischer und gegenwärtiger Bedingungen eine Sonderrolle innerhalb der hiesigen jüdischen Diaspora beigemessen, weswegen sich in der Metropole, ähnlich einem Laboratorium, neuere Entwicklungen abzeichnen können, die anderswo möglicherweise erst später oder teilweise auch in geringerem Ausmaß zum Tragen kommen. Als sinnfällige Beispiele lassen sich hierfür die für die vorliegende Studie besonders interessante Vielfalt an jüdischen Gruppierungen an der Peripherie und außerhalb der Gemeinde, aber auch das traditionell in der Metropole vorhandene und sich weiter ausdifferenzierende breite innerjüdisch-religiöse Spektrum anführen. Zunehmend aufbrechende innerjüdische Reibungspunkte und Konflikte, etwa aktuell (Ende 2005) auf der Leitungsebene der JGB, zeugen
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Dies.: „Interview: ,Müssen wir immer nur das eine sein?‘“, in: JA 24.03.05 Dies.: „The third pillar?“, in: GOLEM 1999, S.37
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von dem konstatierten Wandel und seiner Dynamik – kaum überraschend für eine an sozialen Problemlagen orientierte Sozialwissenschaft. Die Studie brachte auf die zentralen Fragen, wie sie in Kap. I.1. benannt wurden, vielschichtige Antworten zu Tage, die abschließend zu einem (mehr)stimmigen und doch weitgehend konsistenten, Gesamtbild zusammengetragen werden sollen. Im Mittelpunkt stehen demnach aktuelle Ausweitungs- und Ausdifferenzierungsprozesse jüdischer Existenz in der Metropole. Diese wurden vor allem in dem über den religiösen Kernbereich des Judentums hinausgehenden Bereich kultureller sowie soziokultureller Gruppenaktivitäten im Sinne von Deutungs- und Handlungspraktiken sowie der Verbreitungen jüdischer Inhalte untersucht. Neben dem Auftreten innerjüdischer Schwierigkeiten wurde der restriktiven Rolle bestimmter Handlungsweisen aus der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft heraus eine große Bedeutung für die genannte innerjüdische Entwicklung beigemessen (nichtjüdische Inszenierungen des Jüdischen, Antisemitismus). Die Absicht besteht darin, mit der Einbeziehung dieser Einflussgrößen explizit aus jüdischer Sicht, zu deren Erforschung einen originären Beitrag zu leisten. Das Zentralthema des aktuellen Wandels jüdischer Existenz in Berlin wurde in drei klar abgegrenzten Untersuchungseinheiten behandelt (Teil II bis IV). Zu Beginn des zweiten Teils der Untersuchung stand in mehreren Durchgängen zunächst eine sozial- und kulturgeschichtliche Rekonstruktion der Entwicklung jüdischen Lebens in Deutschland und Berlin, insbesondere für die Zeit seit 1945 bis heute im Vordergrund. Dies meinte deutschlandweit (Kap. II.1.) unter Rückgriff auf bereits vorhandene Studien den schwierigen und nicht minder erstaunlichen Prozess der Konstitution einer zunächst noch auf Grund unterschiedlichen Herkommens sehr heterogenen jüdischen Schicksalsgemeinschaft auf deutschem Boden und den nicht explizit beschlossenen Übergang von einem Provisorium zu einem dauerhaften Bleiben. Einige Abschnitte sind auch gegenüber der BRD ganz anders verlaufenden Entwicklungen in der DDR bzw. Ostberlin gewidmet, ohne die ein Verständnis der Äußerungen zweier GesprächspartnerInnen aus der ehemaligen DDR sowie die Einzelfallstudie zum Jüdischen Kulturverein (Kap. IV.2.) in der weiteren Studie nicht nachvollzogen werden können. Die Skizzierung der Entwicklung der jüdischen Diaspora in Deutschland wurde als eigener Rekonstruktionsbeitrag der Studie bis in die Gegenwart verlängert. Dabei standen die russischsprachige Zuwanderung seit 1990, aktuelle religiöse Pluralisierungstendenzen und die sie begleitenden Konflikte, die Ebene der Repräsentanz mit dem offiziellen Verhältnis zur Bundesregierung (Staatsvertrag) sowie das weitaus schwierigere zur Staatsführung Israels im Vordergrund (Kap. II.1.5). Auf der Berliner Ebene (Kap. II.2.) wurde JGB-bezogen der ebenfalls schleichende Übergang nach 1945 von einer Liquidations- zu einer Aufbaugemeinde chronologisch nachgezeichnet. Für die jüngere Vergangenheit und Gegenwart wurden berlinspezifische Entwicklungen der zuvor skizzierten deutschlandweiten genauer beschrieben. Dies sind namentlich die in der Metropole bereits mit dem
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Interim der Wende-DDR einsetzende Zuwanderung aus der SU bzw. den GUSStaaten, die zu der bereits vor Ort bestehenden religiösen Vielfalt hinzukommenden weiteren Pluralisierungen innerhalb und außerhalb der Gemeinde sowie die seit Jahren zunehmende Krise der Führungsebene der JGB. Außerdem konnten konkrete Beispiele der Neubildung kultureller sowie soziokultureller Aktivitäten, als für die weitere Untersuchung besonders interessante Indizien wachsender gegenwarts-jüdischer kultureller Aufbrüche in der Metropole, angeführt werden. Damit zeigte sich bereits auf dieser explorativen und noch ausschließlich deskriptiven Ebene, dass es nach 1990 in Berlin regelrecht zu einer Gründerzeit jüdischer Initiativen und Gruppierungen auf nahezu allen o. g. inhaltlichen Ebenen kam. Die Frage eines möglichen Anknüpfens an das jüdische Vorkriegsberlin (,Renaissance‘) wurde dabei zunächst noch offen gelassen. Ein letzter Durchgang leistete expressis verbis eine soziologische Verortung heutiger jüdischer Gemeinschaftsbildung in Berlin und der übrigen jüdischen Diaspora in Deutschland (Kap.II.1.3.). Einbezogen wurden dafür Aspekte des gegenwärtigen gesamtgesellschaftlichen sozialen Wandels (namentlich die Individualisierung von Lebenslagen und die Pluralisierung von Milieus und Lebensstilen). Damit konnte die ausgesprochen umfangreiche explorative Ebene im Vorfeld der Erörterung der Ergebnisse der Erhebungsgespräche beendet werden. Wie in den Eingangsabschnitten erwähnt, war es auf diese Weise möglich, größere Lücken in der Forschungsliteratur zu schließen, wie auch die ,BlackboxSituation‘ des gleichwohl historisch bestimmten wie dynamischen Forschungsfelds im Vorfeld der eigentlichen empirischen Hauptuntersuchungs-Parts III und IV ein Stück weit aufzuhellen. Im dritten Teil der Untersuchung wurden auf der Grundlage der Ergebnisse der Hauptbefragung übergreifende Aspekte des kulturellen Wandels im jüdischen Berlin und seiner örtlichen und durch die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft bedingte Randbedingungen erörtert. Dabei zeigte sich, dass die Erhebung ein überraschend differenziertes Bild innerjüdischer Einschätzungen dieser Entwicklungen lieferte. Die unterschiedlichen Positionen wurden in allen vier thematischen Blöcken dieses Untersuchungsteils in sog. Meinungsclustern kontrastiert. Dabei zeigte sich, dass von den personenbezogenen Merkmalen (Alter, Geschlecht), religiöse Orientierung, innerjüdische Tätigkeit und Herkommen das letzte Merkmal am deutlichsten mit bestimmten inhaltlichen Positionen korrelierte. Das in der Studie anonymisierte Merkmal Geschlecht zeigte bezogen auf die Untersuchungsbereiche keine signifikante Auswirkung, während die Altersabweichung bei den überwiegend innerhalb der Gruppen der jungen Erwachsenen und der mittleren Altersgruppen (20 bis 50 Jahre) angesiedelten GesprächspartnerInnen ebenfalls keine erkennbaren Unterschiede erbrachte.3
3
Auf das Ausnahmebeispiel der Bedeutung der Variablen der Merkmale ,Alter‘ und ,Geschlecht‘ wird im Bereich des Antisemitismus unten im Zusammenhang mit der Bilanzierung des entsprechenden Untersuchungsabschnitts kurz eingegangen.
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Die primär herkunftsbezogene sowie z. T. tätigkeitsbedingte Vielfalt zeigte sich bereits bei der generellen Frage nach der Bewertung der innerjüdischen kulturellen Aufbrüche und Wachstumsprozesse in nuce (Kap. III.1.). Hierfür konnte zunächst in einer Begleituntersuchung mit Beispielen die programmatische Verwendung der Anknüpfungs-Narrative ,Renaissance‘ und ,Revitalisierung‘ bei jüdischen Verantwortungsträgern, Publizisten und in jüdischen Printmedien (also außerhalb der Haupterhebung) nachgewiesen werden. Umso überraschender erscheint, dass im Erhebungskreis zwar durchweg, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung, jüdische Vitalisierungen in der Metropole wahrgenommen wurden, ein positiver Rekurs auf das jüdische Vorkriegsberlin dabei aber überhaupt nicht stattfand. Während aus Osteuropa Stammende mit den o. g. Wachstumsnarrativen überhaupt nichts anfangen können, sind es die aus Deutschland Stammenden, die deren Gebrauch massiv kritisieren und im Gegenteil zu der Anknüpfungsthese die unwiederbringliche Zerstörung des jüdischen Berlins der Vor-NS-Zeit durch die Schoah betonen. Das überraschendste Ergebnis ist, dass Israelstämmige den deutlichsten Optimismus der künftigen Entwicklung jüdischen Lebens in Berlin an den Tag legen. Ein gewisser herkunftstypischer ,Pioniergeist‘ ist dabei herauszuhören. – Lediglich in der erweiterten Perspektive persönlicher Berlinbezüge taucht das vergangene jüdische Berlin als Motivationshintergrund des eigenen innerjüdischen Engagements in der Metropole vereinzelt bei WahlberlinerInnen verschiedener Herkunft auf. Im Kap. III.2 ging es um das möglichst umfassende Ausloten von für die jüdische Existenz vor Ort bedeutsame innerjüdische wie außerjüdische Berlinspezifika, die von den Befragten als eher positiv oder negativ eingeschätzt wurden, namentlich in der Rolle Berlins als Metropole sowie im Bereich der Berliner Gemeinde. Daher waren Meinungs-Clusterbildungen nach personenbezogenen Merkmalen hierbei nicht zu erwarten und erfolgten von eindeutig thematisch bestimmten Ausnahmen abgesehen auch nicht. Als allgemeine Tendenz lässt sich unter den mehrheitlich befragten WahlberlinerInnnen im außerjüdischen Bereich eine positive Bewertung der großstädtischern Situation (Multikulturalität, Toleranz, Anonymität, kulturelles Angebot) feststellen. Allerdings wurde Antisemitismus als eigenständiger Untersuchungsbereich nicht hier, sondern separat in einem eigenen Abschnitt behandelt (s. u.). Die Einschätzungen der Berliner Gemeindesituation erwiesen sich demgegenüber als sehr differenziert, wobei die Darstellung der Aussagen auf die religiöse Pluralisierung sowie die Integration der russischsprachigen Zuwanderer fokussiert wurde.4 Die religiöse plurale Berliner Einheitsgemeinde wurde von den überwiegend außerreligiös-jüdisch Engagierten unterschiedlicher religiöser Provenienz begrüßt, wobei Defizite in der Grundversorgung mit liberalen Rabbinern sowie vereinzelt die Gefahr von Abspaltungstendenzen durch ultraorthodoxe 4
Im vierten Teil der Studie stellte außerdem der Gemeindebezug der behandelten Gruppenaktivitäten einen eigenen Untersuchungsstrang dar (s. u.).
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Aktivitäten innerhalb wie außerhalb der JGB kritisiert wurden. In der allgemein nur peripher behandelten Frage der Integration russischsprachiger Gemeindemitglieder zeigte sich eine herkunfts- und tätigkeitsspezifische Positionierung. Aus Deutschland Stammende und nicht unmittelbar in der Integrationsarbeit Tätige bemängelten eine unzureichende Bereitschaft bei einigen ,Russen‘, sich auf die deutschsprachige JGB einzustellen. ,Russen‘, Israelstämmige und/oder in der Integrationsarbeit Tätige betonten dagegen die positive Bedeutung einer ohne Druck vonstatten gehenden, allmählichen integrativen Entwicklung bei Verweis auf die rasche Eingewöhnung der jüngeren Zuwanderer. Bemerkenswert vor dem Hintergrund der jüngeren Konflikte auf der Leitungsebene der JGB erscheint, dass die Interviewten auf Grund religiöser und herkunftsbezogener Differenzen innerhalb der JGB keine wirklichen Spaltungstendenzen ausmachten. Vielmehr wurde von einigen eine deutliche Entfremdung des Gemeindeestablishments von den religiösen Betendengemeinschaften und der Gemeindebasis kritisiert. Ähnlich gelagert wie im o. g. Revitalisierungs-Kap. III.1. erwiesen sich die Einstellungsverteilungen in der Erhebung zu nichtjüdischen Inszenierungen des Jüdischen bzw. zum modischen Hype um Jüdisches bei Nichtjuden (Kap. III.3.). Insbesondere ist hierunter die gerade in Berlin sehr ausgeprägte Präsenz sich originär jüdisch gebender Lokale, Theaterstücke und Klezmerkonzerte zu verstehen. Auch hierzu bildete sich im Meinungsspektrum der Erhebungsauswahl die spezifische Herkunftsvielfalt im jüdischen Berlin ab. Die aus Deutschland bzw. Berlin Stammenden sahen in den o. g. Phänomenen eine Vereinnahmung oder Kolonialisierung jüdischer Inhalte durch Nichtjuden. Teilweise machten sie sogar die Gefahr der Entstehung eines Jewish Disneyland, wahlweise unter Verzicht oder vereinzelt, zur Effektsteigerung, unter Mitwirkung in Berlin lebender Juden aus. Demgegenüber reagierten die Russischsprachigen auf diese Phänomene überwiegend mit Desinteresse oder nahmen sie überhaupt nicht wahr. Israelstämmige zeigten wiederum die Gelassenheit einer tourismus- und pilgergeprüften Erdenregion oder begrüßten sogar das außerjüdische Interesse an jüdischer Materie. Ein letzter Durchgang untersuchte den in Berlin vorhandenen latenten und manifesten Antisemitismus aus jüdischer Perspektive (Kap. III.4.).5 Bereits auf Grund der immer weiter ausgebauten Schutzmaßnahmen jüdischer Einrichtungen sind die meisten Berliner Juden mittelbar mit den Auswirkungen vor Ort existenter oder drohender judenfeindlicher Übergriffe konfrontiert.6 Die Recherchen erbrachten, dass vor Ort in mehrfacher Hinsicht eine besonders günstige Gelegenheitsstruktur für Antisemiten unterschiedlicher Couleur besteht. Außerdem zeigte sich im Untersuchungszeitraum (2001 bis 2004), über Berlin hinaus, europaweit die deutliche Zunahme antisemitischer Bedrohung durch einen wachsenden isla5
6
Diese Thematik, stellte sich bei explorativen Vorerkundigungen und erhebungsbegleitend bedauerlicherweise als zu bedeutsam heraus, um ,gleich unter gleichen‘ im o. g. Untersuchungsbereich zu Berlinspezifika in Kap. III.2. abgehandelt zu werden. Ähnliches gilt auch für Nichtjuden, die wie in meinem Fall, ebenfalls bewachte jüdische Einrichtungen in Berlin oder anderswo aufsuchen.
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mistischen Antizionismus., Entsprechend wurde daher die Beschäftigung mit der Thematik in der Erhebung intensiviert, um in diesem Bereich Anhaltspunkte für folgende sozialwissenschaftliche Studien zu liefern. So konnte eine bemerkenswerte Alters- und Tätigkeitsabhängigkeit in den Erfahrungen mit Antisemitismus bei den Befragten ausgemacht werden. Ältere und akademisch Ausgebildete thematisierten tendenziell eher mit latentem Antisemitismus aus der Mitte der Gesellschaft (vor allem durch Medien und Politiker) konfrontiert. Demgegenüber vermieden Jüngeren tendenziell den Aufenthalt in als fremdenfeindlich geltenden Gegenden im Berliner Peripherbereich und einigen Ostbezirken. Arabischer und islamistischer Antisemitismus erwies sich sowohl bei Jüngeren (Schulweg!) wie bei an äußeren Merkmalen als Juden erkennbaren Erwachsenen und jüdischen als besonderes Problem, z. T. mit massiven körperlichen Bedrohungen. Als Fazit des dritten Teils der Studie kann eine insgesamt positive Zwischenbilanz festgehalten werden, die in einem eigenen Abschnitt mit sieben Thesen zusammengefasst wurde (Kap. III.5): Demnach befindet sich das Jüdische Berlin seit einigen Jahren in einem ausgeprägten Wandlungsprozess und erlebt dabei in vielfacher Weise eine quantitative und qualitative Ausweitung. Die Fülle an aufgeworfenen innerjüdischen Schwierigkeiten sowie Konfliktlinien mit Teilen der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft zeugt hierbei eher von der besonderen Vielfalt und Dynamik im jüdischen Berlin, denn von ihrer Verhinderung. Der innerjüdisch engagierte und innovative Befragungskreis zeigte dabei keinerlei Defätismus. Von den mehrheitlich als Gemeindemitglieder an der Peripherie oder außerhalb der JGB Aktiven erklärte niemand die Absicht, auf Grund von gemeindeinternen Schwierigkeiten dieser bzw. Berlin den Rücken zu kehren. Auch der anhaltend virulente Antisemitismus wurde nicht gegen ein weiteres Engagement im jüdischen Berlin ins Feld geführt, sondern z. T. im Gegenteil sogar eine erkennbare Bereitschaft, noch mehr als bisher als Juden in der Öffentlichkeit Präsenz zu zeigen. Vielmehr wurde deutlich, dass die meisten Interviewten, sich dem vergleichbar mit der übrigen Situation jüdischen Lebens in Deutschland des durchaus besonders hohen Entwicklungsstands jüdischer Existenz in Berlin bewusst sind. Probleme und Restriktionen werden zumeist entsprechend als solche auf ,hohem Niveau‘ wahrgenommen. Der vierte und letzte Teil der Studie besteht aus sieben ausgewählten Einzelfallstudien jüdischen Gruppenaktivitäten. Untersucht wurden in der Reihenfolge ihrer Darstellung der ,Jüdische Kulturverein‘ (JKV, Kap. IV.2.), der ,Jüdische Studentenbund‘ (JSB, Kap. IV.3.), die ,Nahostgruppe‘ (NG, Kap. IV.4.), die ,Jüdische Galerie‘ (JÜG, Kap. IV.5.), die Homosexuellen-Gruppe ,Yachad‘ (Ya, Kap. IV.6.), der ,Israelische Stammtisch‘ (IS, Kap. IV.7.) sowie der Internetanbieter ,Milch und Honig‘ (MuH, Kap. IV.8.). Die besonders ausführliche Einzelfallanalyse zum ,Jüdischen Kulturverein‘ (JKV) wurde bewusst an den Anfang gestellt, da es sich bei ihm um eine der ältesten und größten sowie in seiner Entwicklung erstaunlichsten Initiativen außerhalb der örtlichen Gemeinde handelt. Der Werdegang dieses Berliner ,Gewächses‘ spiegelt ein Stück weit die Entwick-
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lung im jüdischen Berlin in den letzten eineinhalb Dekaden mit der BeitrittsVereinigung der winzigen Ostberliner Gemeinde zu ihrem westlichen Pendant, der Aufnahme der russischsprachigen Zuwanderer sowie der Ausweitung jüdischer Aktivitäten über die Gemeindeebene hinaus, wider. Die Untersuchung erfolgte in allen Fällen nach einem einheitlichen Auswertungsschema, welches den sehr unterschiedlichen Aktivitäten angepasst wurde. In diesem, gegenüber dem dritten Part thematisch kleinteiligeren Untersuchungsausschnitt, wurden die Befragten explizit in ihrer Expertensituation bezogen auf die jeweilige Initiative bzw. Einrichtung, welche sie mit ihrem persönlichem Engagement repräsentierten, interviewt. Dabei zeigte sich, dass ihr persönlicher Werdegang durchweg sehr eng mit den jeweiligen Gruppen verbunden ist. Daher wurde an den Anfang jeder Einzelfallanalyse eine knappe biographische Skizze der jeweiligen Auskunft gebenden Person gestellt. Bei allen Aktivitäten wurden Entstehungshintergrund, inhaltliche Ausrichtung, formale Aspekte, personelle Struktur, innerjüdische integrative bzw. Vergemeinschaftungsprozesse, die jeweilige Außenbeziehung zur Berliner Gemeinde und zu anderen Gruppen und Einrichtungen im jüdischen Berlin sowie die jeweiligen Zukunftsperspektiven untersucht. In abschließenden Thesen konnten einige gruppenübergreifenden Ergebnisse formuliert werden, in denen auch die vorangegangenen Untersuchungsschritte (Teil II und III) Eingang fanden (Kap. IV.9.). Auch auf dieser kleinteiligeren Ebene überwogen die positiven Aspekte, trotz z. T. großer Herausforderungen für die einzelnen Basisinitiativen. Insgesamt belegen diese zusammengefassten Ergebnisse der Einzelfallstudien die enorme Bandbreite der ausgesuchten, aber auch darüber hinaus mittlerweile im jüdischen Berlin existenten Gemeinschaftsaktivitäten am Rand oder außerhalb der etablierten Gemeinde. Außerdem zeigen sie vielfach deren Bedeutung als eine Art Membranfunktion7. zwischen dem aktivistischen Kern der jüdischen StadtCommunity und randjüdischen oder sogar außerhalb der Gemeinschaft stehenden Juden und Jüdischstämmigen. Hier soll nur noch abschließend die letzte entscheidende These zu den Zukunftsperspektiven der analysierten basisinitiativen rekapituliert werden: Insgesamt kann nach der stürmischen Gründerzeit der 90er Jahre für die Gegenwart von einer Konsolidierungsphase der Basisinitiativen gesprochen werden. Angesichts der aktuellen Turbulenzen des ,Flagschiffes‘ JGB erweisen sich viele untersuchten Gruppierungen als erstaunlich stabil bzw. elastisch. Allerdings besteht nicht in allen Fällen die Gewähr einer längerfristigen Weiterexistenz, jedenfalls nicht in der bestehenden Form (JKV, JSB, Ya). Außerdem entstehen weiterhin neue Aktivitäten, in jüngster Vergangenheit vor allem im geschäftlichen und im gastronomischen Bereich. Entscheidend erscheint mir die summarische Bilanz: Jüdische Basisaktivitäten im Peripheriebereich, wie auch völlig außerhalb der Berliner Gemeinde werden wie bereits in den letzten Jahren eine schöpferische und kreative Rolle bei 7
Vgl. hierzu die beiden Grafiken in der 1. These Kap. IV.9, S. 543.
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der Neuformulierung und Vermittlung jüdischer Bedeutungsräume als Ausdruck lebendiger jüdischer Gegenwartskultur und darüber hinaus als Membrane und Kristallisationspunkte innerjüdischer Vergemeinschaftung spielen.
Au s b l ic k Der vorliegenden Studie durchs gegenwärtige jüdische Berlin liegt ein weiter Forschungsgang zu Grunde, der auch den vermeintlichen Umweg über die Vergangenheit jüdischer Existenz in der Metropole nicht scheute. Denn wie kaum bei einer anderen Gruppe lässt sich das Werden von Gewordenem (N. Elias) bei der örtlichen jüdischen Gemeinschaft nur im Versuch des Begreifens vergangener Prozesse nachvollziehen. Dennoch ist die Studie von einem fragend in die Zukunft gerichteten Gedanken ,beseelt‘: Ist ein auf Dauer gestelltes jüdische Leben in Berlin und darüber hinaus in Deutschland möglich, indem ein Wachhalten der Erinnerung an vergangene Schrecken und Unrecht eine Verbindung mit heute noch nicht denkbarer Normalität im jüdisch-nichtjüdischen Umgang eingeht? Hierfür wurden viele Gespräche mit Juden in Berlin geführt, von denen nur ein kleiner Teil sichtbaren Eingang in die Untersuchung gefunden hat. Dennoch trugen alle zu deren Ergebnis bei. Denn die Basis der Untersuchung ist ein mehrjähriger Dialog, indem mir jede und jeder Befragte(r) ein Stück weit halfen, das folgende Gespräch zu führen und dabei etwas zu verstehen. Trotz einiger aufweisbarer Ergebnisse muss hier jedoch auch ein auf Grund der Studie erlangtes Wissen über eigenes Nichtwissen eingestanden werden. So taten sich einige bedeutsame Fragebereiche auf, auf die im Rahmen der Erhebung keine Antworten gefunden werden konnte. Daher sollen abschließend mit der Benennung einiger offen gebliebener bzw. aufgeworfener Fragebereiche weiteren empirisch soziologischen Forschungen einige Hinweise geliefert werden: Ein bedeutender Frageraum stellt unbestritten die traditionelle und noch weiter zunehmende Vielfalt jüdisch-religiöser Orientierungen in Berlin dar. Hier ist gerade im Hinblick auf die deutschlandweit sich zunehmend religiös auffächernde Diaspora zu fragen, in wieweit die Berliner Einheitsgemeinde ,funktioniert‘ bzw. ob einige ihrer Charakteristika Modellcharakter für andere Großgemeinden gewinnen können. Dies meint die Repräsentanz der verschiedenen religiösen Ausrichtungen auf Gemeindeebene wie auch der Austausch zwischen ihnen. Ebenso bietet sich eine Untersuchung im jüdischen Berlin unter stärker generativen Gesichtspunkten wie in der vorliegenden Studie an. Dabei können möglicherweise auch innerjüdische Karrieren, etwa unter dem Zuwanderungsaspekt, nachgezeichnet werden. Wie verliefen nach dem Zuzug nach Berlin innerjüdische Vergemeinschaftungsprozesse? Wodurch wird Integration gefördert bzw. blockiert. Wichtig erscheint mir dabei auf die früheren Zuwanderungserfahrungen zurückzugreifen, da ein Großteil, auch der nicht aus der ehemaligen SU stammenden Gemeindemitglieder, in den letzten Jahren und Jahrzehnten nach Berlin gezogen ist.
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Ein bereits oben erwähntes Untersuchungsfeld stellt die Frage nach der Bedeutung hier analysierter oder anderer Entwicklungen im jüdischen Berlin für andere jüdische Gemeinschaften und Gemeinden in Deutschland dar. So könnte man in einer vergleichenden Perspektive fragen: Gibt es ausgesprochene Berliner Pilot- bzw. Vorbildfunktionen oder umgekehrt: Werden Berliner Spezifika (etwa die religiös plurale Einheitsgemeinde) möglicherweise bewusst verworfen? Einen letzten hier anzusprechenden Bereich stellt der Unterschied männlicher und weiblicher Erfahrungen im jüdischen Berlin dar. Wie mehrfach angeführt, wurde in der Haupterhebung eine gleichgroße Zahl an Männer wie Frauen befragt. Für den Untersuchungsbereich Gruppenaktivitäten an der Peripherie und außerhalb der JGB wurde kein signifikanter Unterschied in der Bedeutung von Männern und Frauen festgestellt. Viele der untersuchten Gruppenaktivitäten werden maßgeblich von Frauen bestimmt, wie auch darüber hinaus viele Frauen in vorderster Reihe um die Zukunft jüdischer Diasporaexistenz in Berlin, Deutschland sowie im übrigen Europa ringen (vgl. die beiden Eingangsmottos des Abschnitts). Diese Tatsache erscheint mir in einer erweiterten Perspektive erklärungsbedürftig, denn auf der Ebene der Repräsentanz der Gemeinde sowie im Bereich reformjüdischer, religiöser Funktionsträger (RabbinerInnen und KantorInnen) sind sie unterrepräsentiert, wenn auch in Berlin aller Wahrscheinlichkeit nach weniger als in vielen anderen Gemeinden. So ließe sich fragen: Wie stark ist das genannte Gefälle durch bewusste Entscheidungen von Frauen für ihre Bereiche innerjüdischen Engagements bestimmt oder umgekehrt durch Exklusionsmechanismen von männlicher Seite in anderen Feldern? Eine abschließende Erkenntnis der vorliegenden Studie bleibt. Berlin ist, um nochmals den ehemaligen Berliner Gemeindevorsitzenden und Rabbiner Andreas Nachama zu zitieren, tatsächlich auf die ,jüdische Landkarte Europas zurückgekehrt‘.8 Innerhalb der örtlichen jüdischen Gemeinschaft werden bereits heute wieder Wege beschritten, die auch für die Ausweitung jüdischen Lebens andernorts Hoffnung geben können, gerade auch in einer gesamteuropäischen Perspektive. Schließlich leben in der Metropole Juden, die aus ganz unterschiedlichen Ländern hierher gefunden haben. Der größte Erfolg wird allerdings der weiteren Entwicklung jüdischer Existenz in der Stadt beschieden sein, wenn es zukünftig innerjüdisch gelingt, aus der eigenen Vielfalt eine Stärke zu machen, und mehr noch auch aus einem wachsenden jüdisch-nichtjüdischen Austausch ein weiterhin zunehmendes Selbstbewusst-Sein zu gewinnen.
8
Das vollständige Zitat findet sich als Motto über dem Revitalisierungs-Kap. III.1., S. 182
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AK Nahost (2004): Dokumentation zur Tagung der Nahostgruppen in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin 30.6.-1.7.1990. Veranstalter: Bildungswerk für Demokratie und Umweltschutz e. V. http://www.nahost.org, 08.12.04 Ansohn, Felice-Judith (2005): Judentum und Homosexualität, in: http://www. hagalil.com/yachad/homosexual.htm, 14.01.05 Assabi, Ady (2002): Israel ist Teil der Krise der jüdische Identität (Interview), in: TAZ Lokalausgabe Berlin 11.11.02 Augsburger Allgemeine Zeitung (2004): Antisemitismus in Deutschland mittlerweile leicht rückläufig. Studie: Dennoch hat jeder Dritte noch antijüdische Einstellung, (ap-Agenturmeldung), AZ 27.04.04 Augstein, Jakob (2004): Sprechproben zwischen Vergangenheit und Zukunft. Zu Tausenden lassen sich russische Juden in Berlin nieder – Die Verständigung mit den in Deutschland gebliebenen Juden fällt oft schwer, in: SZ 09.09.94 Bachmann, Ralf (2004): Wahlbilanz im JKV, in: JK 07/08.04 Bet-Debora (Rabinerinnenkonferenz) (1999): http://www.bet-debora.de 13.05.99 Betlehem, Nadja (2003): Umbau am Fraenkelufer. Synagoge bleibt noch bis Juli geschlossen, in: JA 08.05.03 Blumenthal, W. Michael (2001): Wir sind ein deutsches Geschichtsmuseum, W. Michael Blumenthal im Gespräch mit Judith Hart und Hans Ulrich Dillmann (Interview), in: Jüdisches Museum. Spezial der AJW, S. 20-26 Bodemann, Y. Michal (1998): Sie sitzen nicht mehr auf gepackten Koffern, in: BZ 14./15.03.1998 Boie, Johannes (2005a): Die Israel-Connection, in: JA 06.01.05 Boie, Johannes (2005b): Frische Brise am Kanal. Die Synagoge am Fraenkelufer lockt die Besucher mit außergewöhnlichen Angeboten, in: JA 28.07.05 Boie, Johannes (2005c): Messias auf dem Ku'damm. Gemeinde kritisiert Judenmission der amerikanischen Organisation ,Jews for Jesus‘, in: JA 25.08.05 Broder, Henryk M. (2005): Mit Wolffsohn, Gysi und Walesa. Neuerscheinung ,Jüdische Zeitung‘, in: SPIEGEL 01.09.05 Bundesregierung/Zentralrat der Juden in Deutschland (2003): ,Im Bewusstsein der Verantwortung‘. Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland im Wortlaut, in: JA 30.01.03 Dachs, Gisela (2005): Pünktlich, manierlich, fleißig. Die ,Jeckes‘, deutsche Juden in Israel, wurden erst verspottet, und beargwöhnt, dann geehrt, in: ZEIT 12.05.05 Dämmig, Lara (2002): Berliner Synagogen im Wandel, in: Jüdisches Berlin 11/02 Emmerich, Marlies (2000): Niederlage für den Vorsitzenden Nachama. Jüdische Gemeinde: Liberale und Orthodoxe im Streit, in: BZ 14.04.2000 Emmerich, Marlies (2003): Streit um Rabbiner-Ehrung durch Wowereit, BZ 18.02.03
572 | JÜDISCHES LEBEN IN BERLIN
Emmerich, Marlies (2003): Erstmals nach der Shoa wieder Rabbinerausbildung. Zehn Studenten bestehen in Berlin die Zwischenprüfung, in: BZ 20.02.03 Engelbrecht, Sebastian (1999): Kampf den Orthodoxen. Jüdinnen aus aller Welt trafen sich zur ersten europäischen Rabbinerinnnen-Konferenz, in: SZ 17.05.99 Eusterhus, Eva (2005): Jüdisches Leben in Berlin. Die jüdische Bevölkerung der Hauptstadt wächst wieder. Erkundungen zwischen Synagoge, Bar und Künstleratelier, in: National Geographic 04.05 Evangelischer Pressedienst (2005): „Neue überregionale ,Jüdische Zeitung‘ erschienen“ (Redaktionsbeitrag), epd 31.08.05 Figal, Günter (2002): Im milden Licht wechselnder Tageszeiten. Zum Tode von Hans-Georg Gadamer, in: NZZ 15.03 2002 Funke, Hajo (2000): Paranoides Alltagsbewusstsein. Der antisemitische Volksgeist weht auch in gehobenen Kreisen, in: ZITTY Nr.23/02.-15.11.00 Gessler, Philipp (2000a): Raus aus Reihe 7 der Synagoge, in: TAZ 03.02.00 Gessler, Philipp (2000b): Kündigung des liberalen Rabbiners Rothschild. Ein Rückschlag für das liberale Judentum, in: TAZ 14.04.00 Gessler, Philipp (2000c): Geduldet, aber nicht geachtet. Homosexuelle in der jüdischen Gemeinde, in: AJW 06.07.00 Gessler, Philipp (2002): Berlin jetzt vertreten. Die jüdische Gemeinde hat wieder einen Vertreter im Präsidium des Zentralrats der Juden: Alexander Brenner, in : TAZ 02.12.02 Gessler, Philipp (2003): Schily pusht Union liberaler Juden. Innenminister besucht Festakt zum 75. Jubiläum einer Berliner Konferenz der Weltunion für progressives Judentum, TAZ 12./13.06.03 Gessler, Philipp (2004a): Kampf gegen das Erinnern. Der neue Antisemitismus ist seit Jahren auf dem Vormarsch, in: TAZ Magazin 18./19.12.04 Gessler, Philipp (2004b): Nur mit Einladung. Die Zuwanderung von Juden aus der GUS soll neu geregelt werden, in: JA 23.12.04 Gessler, Philipp (2005): Berliner Muppetshow. In der größten jüdischen Gemeinde Deutschlands befehden sich Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion und altangestammte Berliner, in: TAZ 19./20.11.05 Ginzel, Günther B. (2000): Mittenmang und Zwischendrin. Juden in Berlin (Dokumentarfilm), Westdeutscher Rundfunk, eigene Abschrift (A. J.) Goddar, Jeanette (1002): Wider die Angst. Wie Berliner Juden mit der Gewalt umgehen, in: ZITTY Nr. 23/02.-15.11.02 Goldmann, Ayala (2005a): ,Hitler gefällt mir.‘ Eine Studie über Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen in Berlin, in: JA 07.07.05 Goldmann, Ayala (2005b): ,Auf gleicher Augenhöhe‘. Akzeptiert Israel. Juden in Deutschland als gleichberechtigte Partner?, in: JA 24.11.05 Gümbel, Miryam (2003): Offizielle Anerkennung der liberalen Gemeinde Beth Schalom, in: Jüdisches Europa. Jüdisches Leben in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Heft 4
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Lambeck, Martin S. (2005): Einspruch!, in: JA 04.03.05 Lerner, Gabriele Noa/Alfred, Ewa (2002): ,Erfahrungen auf der Karriereleiter‘. Bei einem Kongreß will sich ein Netzwerk jüdischer Frauen gründen. Interview mit Gabriele Noa Lerner und Ewa Alfred, in: JA 10.10.02 Loewy, Hanno (1982): Juden in der BRD – Bewältigung oder Mystifizierung, in: LINKS, 14. Jg. Nr. 144, Lorenz, Lutz (2005): ,Was hast du vor in deinem Leben?‘ Beith Midrash Berlin zieht um und erweitert sein Angebot“ in: JZ 09.05 Lüdke, Martin (2001): Der scheele Blick. Michael Brumliks Studie über den Judenhass im deutschen Idealismus, in: ZEIT 11.01.01 Lustiger, Gila (2005): Interview: ,Müssen wir immer nur das eine sein?‘, in: JA 24.03.05 Meir, Esther (2005): Beitrag über die H.-Gainski-Grundschule und die neu eröffnete Talmud-Thora-Schule v. Chabad, in: Deutschlandradio Kultur 09.09.05 Merten, Jola (2003): Quelle der Inspiration. ,Maayan‘: Jüdisches Lerncenter für Frauen, in: JA 23.10.03 Meyer, Albert/Rebo, Michail (2002): ,Russen‘ gegen ,Deutsche‘? Ein Gespräch mit den Repräsentanten Albert Meyer und Michail Rebo über Befindlichkeiten von Alteingesessenen und Zuwanderern, in: JA 17.01.02 Meyer, Albert (2002): ,Ich wollte eigentlich nie Gemeindevorsitzender werden‘. Albert Meyer über Finanzsorgen, Schulplanung, und ein koscheres Restaurant in den S-Bahnbögen (Interview), in: JA 08.01.04 Meyer, Sebastian Rainer (1999): Das Haus der Debora war gut besucht. Erste Tagung europäischer Rabbinerinnen, in: Aufbau 12/1999 Milch und Honig (Internetanbieter) (2005): http://www.milch-und-honig.com, 18.03.05 Mühlstein, Jahn (2004): Es bleibt ein mühsamer Weg (Interview), JA 22.07.04 Olmer, Michael (2002): Heilig, revolutionär oder modern? Würzburger WinterUniversität: Studenten diskutierten über ihr Judentum und die Lage in Israel, in: JA 17.01.02 Olmer, Michael (2003): Mit Tradition gegen Tabus. Würzburg: BJSD-WinterUniversity diskutierte Stereotype, in: JA 30.01.03 Olmer, Michael (2004): „Nicht nur Schabbat feiern. Der jüdische Studentenverband will neue Angebote machen, in: JA 22.04.04 Pergola, Sergio Della (2005): Verbreitung: Wo heute Juden leben, in: National Geographic Deutschland 04.05 Pinto, Diana (1999): The third pillar? Toward a European Jewish Identity, in: GOLEM. Europäisch-jüdisches Magazin Nr. 1, 1999, S. 33-38 Poetke, Andreas (2004): Aus dem JKV-Rechenschaftsbericht, in: JK 07/08.04 Presser, Ellen (2002): Spezialisten in Heimweh. Gespräch über Remigration nach 1945, in: JA 20.06.02 Rabinowitz, Baruch (2005): Glauben ohne Grenzen. In Deutschland kann und muß sich ein modernes, weltoffenes Judentum entwickeln, in: JA 10.11.05
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Rada, Uwe (2003): Die Welt hinter der Schranktür. Der Schtetl-Tourismus in Osteuropa ist eine Mischung aus kommerzieller Inszenierung und engagiertem Erinnern. Mit ,Schindler's List Tours‘ durch die Kulissen vergangenen Lebens, in: TAZ Mag. 23./24.08.03 Raumzeit (2001): Diskussion: Streit um das jüdische Museum: Was darf ein jüdisches Museum, was darf es nicht, was muss es? (Redaktionsbeitrag), in: Raumzeit 5, 19.03.01 Röhrs, Christine Félice (2000): Jüdin sein kam lange nicht in Frage. DDRProdukte: Wie Irene Runge und ihr jüdischer Kulturverein in die Bundesrepublik hineinwuchsen, in ZEIT 02.03.2000 Roll, Evelyn (1998): Antisemitismus. ,Da ist eine neue Qualität‘: Ein Schwein kennt keine Scham, in: SZ 07.12.98 Rosh, Lea (1990): Immer oben, immer vorne, in: ZEIT 24.08.90 Rothschild, Walter (2001): Eine kafkaeske Situation (Interv.), in: TAZ 10.01.01 Rozwaski, Chaim Z. (2003): Interview haGalil, Juli 2001: http://www.berlinjudentum.de., 17.03.03 Runge, Heike (2004): Ein Traum von Heimat. Ari Tamm musste sein Geschäft aufgeben und ging als Einwanderer nach Israel, in: JA 09.09.04 Runge, Irene (2004): Aus dem Rechenschaftsbericht, in: JK 07/08.04 Runge, Irene (2005): Jüdische Einwanderung bedingt erwünscht, in: JZ 09.05 Salewski, Sybille (2001): Vater, Mutter, Kind. Jüdinnen diskutierten über die Zukunft der Familie, in: AJW 21.06.01 Salewski, Sybille (2003): Ist Macht weiblich? ,Bet Debora‘: Jüdische Frauen und ihr Selbstverständnis, in: JA 05.06.03. Schimmeck, Tom (2002): Volkszorn in der Jüdenstraße. Antisemitische Pöbeleien bei einer Straßenumbenennung führen zu einem Eklat. Die Geschichte einer Eskalation, in: ZEIT 14.11.02 Schmitt, Christine (2005a): http://www.jg-berlin.org. Die Jüdische Gemeinde hat einen neuen Auftritt im Internet, in: JA 24.02.05 Schmitt, Christine (2005b): Mit Hilfe der Basis. Gemeindemitglieder sammeln Unterschriften für Neuwahlen, in: JA 01.12.05 Schneider, Christian (2002): Der Hass auf das Andere, in: TAZ Mag. 08./09.6.02 Schoeps, Julius H. (2005): ,Ein Preußenkönig hätte uns aus dem Amt gejagt.‘ Im Gespräch mit Julius H. Schoeps, Mitglied der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, in: JZ 09.05 Sephardischer Minjan (2003): http://www.or-zion.de., 25.03.03 Simon, Hermann (2001): Zur Stärkung von Lebensmut und Widerstandswillen. Das Berliner Jüdische Museum in der Oranienburger Straße 1933-1938 – ein Rückblick, in: Jüdisches Museum Berlin, Spezial der AJW, S. 30-32 Sobotka, Heide (2001): Man darf nicht das Große vor dem Kleinen beginnen. Mit Victoria Dolburd steht erneut eine Zuwanderin an der Spitze des BJSD, in: AJW 02.08.01
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Sobotka, Heide (2002): Gelungene Annäherung. Niedersachsens liberale und orthodoxe Gemeinden, in: JA 19.12.02 Sobotka, Heide (2004): ,Ich bin Zionistin.‘ Lena Eyngorn ist seit dem 1. Juni Vorsitzende des Bundesverbandes jüdischer Studenten in Deutschland, in: JA 05.08.04 Sobotka, Heide (2005a): Mit einer Stimme. Das Rabbinatskomitee Deutschlands hat sich konstituiert, in: JA 07.04.05 Sobotka, Heide (2005b): Zwischenstop auf der Zielgerade. Halle: Liberale Gemeinde wird vom Land unterstützt der Staatsvertrag muß weiter verhandelt werden, in: JA 14.10.05 Sobotka, Heide (2005c): „Chefsache. Tips für eine moderne Gemeindeführung – Ein Seminar des Zentralrats“, in: JA 15.12.05 Spiegel, Paul (2001a): Deutschkurse für Juden (Interview),in: SPIEGEL 25.06.01 Spiegel, Paul (2001b): Gespräch, in: Deutschlandradio, 21.07.01, 9.00 Uhr Spiegel, Paul (2002): ,Ein Haus der Hoffnung‘: Paul Spiegel bei der Einweihung der Wuppertaler Synagoge, in: JA 19.12.02 Spiegel, Paul: (2003): ,Wir vertreten alle Gemeinden.‘ Gespräch mit Paul Spiegel, in: JA 16.01.03 Spiegel, Paul (2004): Wir reichen der Union die Hand (Interview), JA 24.06.04 Spiegel, Paul (2005): ,Hier geht es um Machtgelüste einzelner Personen‘ Paul Spiegel über den Zustand und die Zukunft der Berliner Gemeinde (Interview), in: JA 10.11.05 Teichtal, Jehuda (2001): Interview mit Rabbiner Jehuda Teichtal, in: haGalil: http://www.berlin-judentum.de./rabbiner/teichtal.htm. 25.03.03 Voloy, Julian (2003): Wir sind viel weiter als die EU. Julian Voloy über die Arbeit der European Union of Jewish Students, in: JA 13.02.03 Wagner, Nina (2003): Zerbrochenes Glas. ,Israel Deli‘ bleibt trotzt eingeworfener Schaufensterscheibe geöffnet, in: JA 02.01.03 Weinberger, Eliot (2004): Das wahre Zion ist New York. Der Essayist Eliot Weinberger über die amerikanischen Juden und Israel (Interview), in: JA 29.09.04 Weiss, Iris (2000): Jewish Disneyland – die Aneignung und Enteignung des ,Jüdischen‘, in: GOLEM. Europäisch-jüdisches Magazin Nr. 3/2000, S. 43-48 Wiest, Peter (2001): Renaissance des Judentums ,ein Wunder‘. Festakt zur Einweihung des Bubis-Lehrstuhls mit Zentralratsvorsitzendem Spiegel und Innenminister Schily, in: RNZ 11.05.01 Wittich, Elke (2004): Dabei sein ist alles. Yachad beteiligt sich an den Gay and Lesbian Games 2004, in: JA 08.01.04 Wittich, Elke (2005a): ,Wir wollen unsere Ruhe haben.‘ Beobachtungen am Rande einer Demonstration gegen Antisemitismus in Spandau, in: JA 13.01.05 Wittich, Elke (2005b): Falsche Eingabe. Internetportal haGalil streitet mit Ministerium um Fördergeld – Zentralrat soll helfen, in: JA 24.03.05
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Wiórkiewicz, Joanna (1998): Kein Geld für jüdische Kultur online, in: TAZ 29.10.98 Wöhlert, Meike (1998): Der Hype um den Davidstern. Was als jüdisch gilt, ist schwer in Mode. Doch Normalität ist deshalb noch lange nicht eingekehrt. Im Gegenteil, in: ZITTY Nr. 16/30.07-12.08.1998 Wöhlert, Meike (2001): Judentum im Netz. Koscher mit Computer, in: ZITTY Nr. 6/08. – 21.03.01 Wyler, Bea (1999): Erfahrungen als erste Frau im rabbinischen Amt nach der Schoa in Deutschland, in: http://www.bet-debora.de, 13.05.99 Yachad (Homosexuellengruppe): Selbstdarstellung, in: http://www.hagalil.com/ yachad/m-jahad.htm, 14.01.05 Yachad (Homosexuellengruppe) (2005): Coming-Out-Gebet, in: http://www. berlin-judentum.de/gruppen/yachad.htm. 14.01.05 Zeller, Alexander (2001): ,Ich kriege Wutanfälle‘. Zwischen Bangen und Hoffen. Wie Israelis in Deutschland die jüngste Gewalt in Nahost erleben, in AJW 19.07.01 Zeller, Alexander (2002a): Anders als die Aschkenasim. Sefarden wollen eigenen Synagogenverein gründen, in: JA 28.02.02 Zeller, Alexander (2002b): Wir sind die modernste Synagoge Berlins. In der Oranienburger Straße trifft sich der egalitäre Minjan zum Gebet, in: JA 29.08.02 Zeller, Alexander (2003): Zurück nach Hause. Chabad-Rabbinerstudenten beenden ihre Ausbildung in Berlin, in: JA 19.06.03 Ziemer, Anke (2002a): Lehrerin aus Überzeugung. Barbara Witting ist neue Direktorin der Jüdischen Oberschule, in: JA 27.03.02 Ziemer, Anke (2002b): Synagoge zum Mitmachen. Kabbalat Schabbat für Vorschulkinder am Hüttenweg, in: JA 04.07.02 Ziemer, Anke (2002c): Der Chor der Synagoge Pestalozzistraße ist durch Sparmaßnahmen gefährdet, in: JA 01.08.02 Ziemer, Anke (2002d): Ein Lehrer der Betergemeinschaft. Rabbiner Ady Assabi ist zunächst für ein halbes Jahr in Berlin, in: JA 01.08.02 Ziemer, Anke (2002e): Jung, jüdisch, politisch aktiv. Uriel Kashi kämpft gegen Antisemitismus und Israelfeindlichkeit“, in: JA 07.11.02 Ziemer, Anke (2002f):Kinderbetreuung alternativ. Eltern suchen Angebote außerhalb der jüdischen Gemeinde, in: JA 21.11.02 Ziemer, Anke (2002g): Unterricht zum Übertritt. Gemeinde bietet Kurse für Konversionswillige an, in: JA 19.12.02 Ziemer, Anke (2003): Wie bei der Geburt eines Kindes. Synagoge Hüttenweg erhielt zwei Torarollen, in: JA 06.11.03 Ziemer, Anke (2004): ...und viele Fragen offen. Repräsentanten legten auf der Gemeindeversammlung eine Zwischenbilanz vor, in: JA 23.12.04 Ziemer, Anke (2005): Ein Rempler und seine Folgen. Wie es zu den antisemitischen Beschimpfungen gegen jüdische Schüler kam, in: JA 14.07.05
Anh ang und Glossar 1. Sozialstatistische Daten der Berliner Gemeinde ȱ
Grafik 1
Grafik 2
Grafik 3
Grafik 41
1
Grafiken aus: Kessler, Judith: Umfrage 2000. Mitgliederbefragung der Jüdischen Gemeinde, II. Teil, S. 1-3
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2. Glossar In diesem Glossar werden verschiedene, für das Verständnis der Arbeit notwendige Begriffe erklärt, die einen jüdischen Hintergrund besitzen. Hierunter fallen insbesondere religiöse und damit meist hebräische Begrifflichkeiten. Ein weiterer Bereich umfasst Bezeichnungen aus der jüdischen Geschichte. Außerdem werden solche Wörter aus dem heutigen jüdischen Gemeindeleben in Deutschland aufgenommen, die in der Arbeit häufiger Verwendung finden. Bei dem Glossar handelt es sich um Kurzbeschreibungen von Begriffen, die nicht in allen Fällen zur Erklärung ihrer genauen Bedeutung innerhalb der Studie ausreichen. In diesen Fällen wird an den entsprechenden Stellen über das Glossar hinausgehend vertiefend auf diese eingegangen. Bei Begriffen, deren Bedeutung im Laufe der die letzten Jahrtausende umfassenden jüdischen Geschichte sich gewandelt hat, wird hier nur die für die Arbeit gültige Bedeutung erklärt. Alle im Glossar aufgelisteten Begriffe erscheinen hier wie im Fließtext in Kapitälchen2 Für deren Erklärungen wurden verschiedene Quellen benutzt. An erster Stelle ist dabei das von Julius H. Schoeps herausgegebene „Neues Lexikon des Judentums“ (Schoeps 2000) zu nennen. Bei dort nicht behandelten Begriffen wird auf verschiedene Glossare sowie definitorische Textpassagen zurückgegriffen. Der besseren Lesbarkeit halber wird in dem vorliegenden Glossar, wie bereits in den hierfür herangezogenen, auf jeweilige Quellenangaben verzichtet. ALIJA (hebr. ,Aufstieg‘): hier (neben weiteren rituellen Bedeutungen) Auswanderung aus der Diaspora nach Israel. ASCHKENASEN oder ASCKENASIM (hebr., nach Aschkenas: ,Land am oberen Euphrat‘, im Mittelalter für Deutschland): im Hochmittelalter Bezeichnung für Juden in Deutschland, seit der Wende des 13./14.Jahrhunderts auch als Bezeichnung für Juden in (Nord-)Frankreich, England und (Nord-)Italien, in den darauf folgenden Jahrhunderten außerdem für die aus Mitteleuropa kommenden Juden in Nordost- und Osteuropa zur Unterscheidung der SEPHARDISCHEN Juden. AUSTRITTSGEMEINDEN: Hierbei handelt es sich um Gemeinden, die in Deutschland bewusst aus der hier seit dem 19. Jahrhundert üblichen, religiöse Strömungen übergreifenden EINHEITSGEMEINDEN und aus deren übergeordneten Landesverbänden und der zentralen gesamtstaatlichen Vertretungsstruktur ausgetreten sind. Erstes Beispiel einer A. stellt die kleine orthodoxe Gemeinde Addas Jisroel in Berlin dar, die sich 1969 begründete und juristische, fiskalische und kameralistische Anerkennung als eigenständige Gemeinde erlangte. Diesen Status konnte die zu DDR-Zeiten reaktivierte Splittergemeinde durch Bundesverwaltungsgerichtsurteil 1997 erneut erlangen.
2
Lediglich die religiösen Richtungsbegriffe werden auf Grund ihrer häufigen Nennung in der Arbeit nicht in Kapitälchen gesetzt.
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BAGELS: ursprünglich eine jüdische, der Form nach runde Mehlspeise, deren Herkunft, wie auch diejenige ihres Namens, nicht eindeutig geklärt ist; existiert in unzähligen Variationen. BAR MITZWA/BAT MITZWA (hebr.: ,Sohn/Tochter des Gebots‘): 13-jährige Jungen und 12-jährige Mädchen, die nach dem Religionsgesetz volljährig geworden sind; auch Bezeichnung für die entsprechende Feier in den Gemeinden mit festlichem Essen und Tanz; s. MITZWA. BET DIN: Rabbinatsgericht. Es entscheidet als ein Schiedsgericht in religiösen Angelegenheiten. Heutzutage beschäftigt es sich insbesondere Statusfragen wie Konversionen Adoptionen und Scheidungen. BIMA: Lesepult für die Toralesung in der Synagoge. Im Reformjudentum ,wanderte‘ die B. immer weiter in den vorderen Bereich der Synagoge in Annäherung an den Altar in Kirchen. CHABAD oder auch CHABAD LUBAWITSCHER (CHaBaD für ,CHoma Bina Da'at‘; hebr.: ,Weisheit‘, ,Verstand‘, ,Wissen‘): eine der auf den CHASSIDISMUS zurückgehende, von Rabbiner Schneur Zalman begründete ultraorthodoxe religiösjüdische Bewegung. CHABAD wurde von dem Rabbiner Menachem Schneerson (1902 bis 1994) gegründet und hat seine Zentrale in New York. Von dort wirkt CH. in den letzten Jahren sehr stark in Osteuropa am Aufbau von neuen Gemeinden mit. In Deutschland bzw. Berlin baut sie auch außerhalb von Gemeinden Schulen und religiöse Lehrhäuser. CHALLA (hebr.: ,Teighebe‘): ursprünglich ein an die Priester abzugebendes Opferbrot; heute überwiegend in der Bedeutung eines für den Schabbat gebackenen Brotzopfes, der am Schabbat-Abend gebrochen und gesegnet wird. CHASSIDISMUS,
CHASSIDEN: mystisch religiöse Bewegung, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Südostpolen entstanden ist und auf den charismatischen Lubawitscher REBBEN Baal Chem Tow (gest. 1760) zurückgeht. Er breitete sich zunächst in Osteuropa aus. Seit der Schoah liegen seine geistigen Zentren in Israel und den USA; s. auch CHABAD. CHANUKKA (hebr.: ,Einweihung‘): jüdisches Lichter- und Tempelweihfest. Es erinnert an die wundersame Rettung des ewigen Lichts nach der Zerstörung und an die Wiedereinweihung des Tempels in Jerusalem und die Vertreibung der hellenistischen Seleukiden durch die Makkabäer. Das achttägige Lichtanzünden wird mit dem achtarmigen Chanukka-Leuchter begangen. Da es im Winter gefeiert wird, kam es in der sehr stark assimilierten jüdischen Diaspora Deutschlands in der Vor-NS-Zeit vermehrt zu Vermischungen mit Weihnachtsbräuchen, ironisch Weihnukka genannt.
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DIASPORA (griech.: ,Zerstreuung): Bezeichnung für Juden, die außerhalb Palästinas/Israels gezwungenermaßen oder freiwillig leben. Seit Ende der Deportationen nach Mesopotamien – 722 v. sowie 597-586 v. Z. – gibt es auch eine freiwillige D. Anfänglich in griechischsprachigen Hafenstädten Ost- und Westeuropas, existieren seit der Zerstörung des zweiten Tempels 70 n. Z. auch D.-Gemeinschaften in Mitteleuropa bzw. im späteren Deutschland; vgl. ASCHKENASEN sowie SEPHARDEN. DISPLACED PERSONS (abgekürzt DPs, engl.): Bezeichnung für Überlebende unter den von den Nazis zwangsverschleppten Juden wie Nichtjuden nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese entwurzelten Menschen wurden von den West-Alliierten in sog. DP-Lagern in ihren Besatzungszonen in Deutschland übergangsweise untergebracht. In der Studie sind mit dem Begriff DPs speziell jüdische DPs gemeint. EGALITÄR, EGALITÄRER MINJAN: Gottesdienste und Betgemeinschaften, bei denen Frauen und Männer rituell völlig gleichberechtigt sind. Sie sind ein Ergebnis des jüngeren Reformjudentums nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere in den USA. In den 90er Jahren erreichte diese Reform auch Berlin und andere größere Städte Deutschlands, wo es seitdem einige feste E. Ms. gibt. EINHEITSGEMEINDEN: eine Besonderheit der im 19. Jahrhundert entstandenen jüdischen Gemeinden in Deutschland gegenüber anderen Ländern in Europa. Von staatlicher Seite wurde verfügt, dass alle an einem Ort vorhandenen religiösen Richtungen des Judentums sich organisatorisch unter einem Gemeindedach zusammenfinden sollten. Bis zur NS-Zeit dominierten in den meisten E. die religiös LIBERALEN. Nur in einigen großen Städten wie etwa in Berlin spalteten sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts orthodoxe AUSTRITTSGEMEINDEN ab. Seit 1945 dominiert die ORTHODOXIE osteuropäischer Provenienz die meisten hiesigen Gemeinden. HALACHA, Adjektiv: HALACHISCH (hebr.: ,Gehen‘, ,Wandeln‘): allgemeiner, das gesamte schriftliche und mündliche religionsgesetzliche System des Judentums umfassender Begriff. Sie umfasst damit alle Ge- und Verbote (MIZWOT) der TORA. Sie unterliegen bis heute teilweise und in bestimmten religiösen Strömungen des Judentums einem geschichtlichen Wandel. In der Arbeit geht es bei der Anführung der H. überwiegend um die grundlegende Bestimmung, dass Jude ist, wer eine jüdische Mutter besitzt oder vor einem anerkannten BET DIN zum Judentum konvertiert ist. HASKALA: die innerjüdische Aufklärungsbewegung seit etwa Mitte des 18. Jahrhunderts. Diese Öffnung gegenüber weltlichen Erkenntnissen gab den Anstoß für weitreichende Reformen innerhalb der Gemeinde, der Erziehung, des Gottesdienstes und der Ritualgesetze im 19. Jahrhundert. Als bedeutendster Vertreter der H. gilt der Berliner Philosoph Moses Mendelssohn (1729 – 1786), dessen Streben auf eine vernunftbedingte Gleichberechtigung zwischen Juden und Christen gerichtet war.
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JECKES: liebevoll-spöttische Bezeichnung am Aufbau des Staates Israel beteiligter Juden für aus Deutschland stammende Juden. In dem Wort ist das Wort Jackett enthalten, eine Anspielung auf die bei den J. sprichwörtlich anzutreffenden deutschen Sekundärtugenden, weswegen diese auch bei größter körperlicher Anstrengung und Hitze nicht ihre korrekte Haltung verlieren würden. JESCHIWA, Pl. JESCHIWOT (hebr.: ,Sitzen‘): übertragen Lehrhaus, eine Art jüdische Fach- und Volkshochschule, in der insbesondere die Auseinandersetzung mit der Bibel und weiteren heiligen Schriften gelehrt werden. JIDDISCH: seit dem Mittelalter aus dem damaligen Deutsch hervorgegangene Sprache der ASCHKENASISCHEN Juden. Es wurde ursprünglich mündlich, seit dem 13. Jahrhundert auch schriftlich, mit hebräischer Schrift, tradiert. J. ähnlich dem LADINO viele Lehnwörter aus dem Hebräischen und den jeweiligen ihre Sprecher umgebenden Mehrheitssprachen (insbesondere slawische und englische). Nach der durch die Pogrome des 14. Jahrhunderts bewirkten Abwanderung von ASCHKENASISCHEN Juden nach Osteuropa war das J. bis zur Schoah eine Art ,Lingua franca‘ der dortigen Juden. Heute wird das J. nur noch von wenigen Muttersprachlern insbesondere in chassidischen Kreisen (s. o.) in New York gesprochen, erlebt aber eine gewisse kulturelle Renaissance (s. u. KLEZMER). KABBALAT SCHABBAT: Gebet zu Beginn des SCHABBAT am Freitag Abend; im weiteren Sinn auch gemeinsame freitägliche SCHABBAT-Feier. KANTILIEREN (auch als KANTILLATIONSKUNST bezeichnet): liturgische, insbesondere gesangliche Gestaltung eines Gottesdienstes durch einen Vorbeter oder Kantor und z. T. durch einen Chor. Im 19. Jahrhundert entstand insbesondere mit dem Reformjudentum im deutschsprachigen Raum ein großes, erst langsam wieder entdecktes Repertoire an Synagogalgesängen.
KASCHRUT: → KOSCHER KETUBBA: Ein jüdisch-religiös bestimmter Heiratsvertrag. KIDDUSCH (hebr.: ,Heiligung‘): Segensspruch bei einem Becher Wein vor einer gemeinsamen Mahlzeit. Üblicherweise am Vorabend des Schabbat oder eines religiösen Festes, kann er auch bis Schabbatende gesprochen werden. Ist Wein nicht verfügbar, kann K. auch über zwei Brotlaiben, schärferen Alkoholika oder ,Nationalgetränken‘ gesprochen werden. KIPPA, Pl. KIPPOT (hebr): ein Käppchen als männliche Kopfbedeckung für religiös bestimmte Anlässe wie Gebet, Studium oder Mahlzeit, bei denen der Gottesname gesagt wird. Während Frauen bereits in der Antike aus religiösen Gründen Kopfbedeckungen trugen, setzte sich die K. unter Männern erst seit dem Mittelalter durch.
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KLEZMER: eine traditionelle Musik jiddischsprachiger Juden Osteuropas, die insbesondere an Freudenfesten wie Hochzeiten gespielt wurde. Über jüdische Einwanderer kam die Musik in die USA, weswegen vor allem dort ihre Tradierung die Schoah überstand. Heute gibt es weltweit jüdische wie auch viele nichtjüdische KLEZMER-Musiker. Deutschland ist mittlerweile ein Zentrum überwiegend nichtjüdischer KLEZMER-Spieler wie auch eines entsprechenden Publikums. KONSERVATIVES JUDENTUM, KONSERVATIV (auch MASORTI-Bewegung): religiös-jüdische Richtung, die seit der Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts von Deutschland ausgehend einen Mittelweg zwischen REFORMJUDENTUM und NEOORTHODOXIE zu gehen sucht. Es will das Religionsgesetz behutsam weiterentwickeln, indem dieses weiterhin als bindend, aber einer modernen Interpretation und Anwendung bedürfend angesehen wird (Motto: ,Tradition und Wandel‘). Auch der interreligiöse Dialog wird als wichtig angesehen. K. RabbinerSeminare (seit 1984 auch von zur Ausbildung von Rabbinerinnen) befinden sich in Israel und den USA. Heute wirkt das k. J. insbesondere von den USA aus weltweit, so bspw. auch in Deutschland. KOSCHER: (hebr. kascher: ,tauglich‘, ,passend‘), rituelle Reinheit. Sie bezieht sich auf die Herstellung und Unverletztheit von Torarollen und anderen Objekten des Kultes, auf die Gültigkeit und Fähigkeit von Zeugen im Bereich des rabbinischen Rechts sowie auf die jüdischen Speisegesetze (KASCHRUT). Hier betreffen die wichtigsten Bestimmungen reine (i. S. von erlaubten), rituell geschlachtete Tiere, die Trennung von Milchigem und Fleischigem einschließlich der entsprechenden Gerätschaften. LADINO: auch als Spaniolisch oder Judenspanisch bezeichnete Sprache der SEPHARDEN. Bei ihr handelt es sich um eine mit der Vertreibung aus Spanien 1492 von den Juden tradierte westromanische Sprache, die ähnlich dem JIDDISCHEN viele Lehnwörter aus dem Hebräischen und den ihre Sprecher umgebenden Mehrheitssprachen besitzt. Heute wird es nur noch von sehr wenigen Juden, insbesondere im östlichen Mittelmeerraum, gesprochen. RONALD-LAUDER-FOUNDATION LAUDER: 1987 von dem ehemaligen USBotschafterin Österreich und vermögenden US-amerikanischen Industriellen R. L. gegründete Stiftung. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, jüdische Gemeinden in Mittel- und Osteuropa zu unterstützen. In Berlin besitzt sie einen Vertretung und richtete Ende der 90er Jahre dort ein Lehrhaus ein. JUDENTUM, LIBERAL: Religiöse Richtung(en) des REFORMJUDENvor allem von Deutschland seit dem frühen 19. Jahrhundert ausgehend steht es in der Mitte zwischen dem rechten Flügel eher vorsichtiger und dem linken Flügel sehr weitreichenden Reformen des Judentums. Es gewann bis zur NSZeit einen Großteil des deutschen Judentums. Allerdings stellt das L. kein einLIBERALES TUMS;
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heitliches Glaubensgebäude dar und hat sich zunächst in Großbritannien, seit dem Zweiten Weltkrieg insbesondere in den USA stark weiterentwickelt. LUBAWITSCH, LUBAWITSCHER → CHABAD MACHSOR (hebr.: ,Wiederholung‘): ein Gebetbuch, welches als Kompendium das Religiöse innerhalb des Jahreszyklus, liturgische Regeln und Gebete mit Erklärungen umfasst. MAGEN DAVID (hebr.: ,Schild Davids‘): zwei Dreiecke, die häufig, aber im eigentlichen Sinne unrichtig, als Davidstern bezeichnet werden und ein Hexagramm oder einen sechszackigen Stern bilden. Zur biblischen Zeit war er ein dekoratives, nicht ausgesprochen jüdisches Symbol. 1527 wurde er Zeichen der Judengemeinde von Prag und erst durch den Zionismus zum Symbol der jüdischen Nationalbewegung Als solches ziert er die israelische Fahne. MASORTI → KONSERVATIV MAKKABI: sich nach dem biblischen Makkabäer-Aufstand benennende, 1911 gegründete internationale jüdische Sportlervereinigung mit Sitz in Tel Aviv. Seit 1932 werden in Palästina/ Israel im vierjährigen Turnus Wettkämpfe ausgetragen. In Deutschland gibt es Makkabi seit 1921 mit Sitz in Berlin. 1965 erfolgte die Neugründung in Düsseldorf. MERANEN: Zwangschristianisierte Juden in Spanien nach der Vertreibung des Judentums durch die spanische Krone 1492; vgl. SEPHARDEN. MINJAN: die Gegenwart von 10 religiös mündigen Personen, die erforderlich ist, um einen Gottesdienst durchzuführen. Im traditionellen Judentum wie der mittel und osteuropäischen Orthodoxie handelt es sich dabei um männliche Gemeindemitglieder. Im weiter gefassten, hier überwiegend gemeinten Sinn handelt es sich um nach bestimmter religiöser Ausrichtung orientierte Beter- bzw. Synagogengemeinschaften; siehe EGALITÄRER und SEPHARDISCHER M. MITZWA, Pl.: MITZWOT (hebr.: ,Gebot‘): ursprüngliche Bezeichnung für die Gesamtheit der religiösen Ge- und Verbote im Judentum. Neben den Zehn Geboten der Offenbarung am Berg Sinai existieren in der TORA 603 weitere M. (365 Verbote, 248 Gebote); s. BAR/BAT MITZWA. NEOORTHODOXIE → ORTHODOXIE ORTHODOXES JUDENTUM, ORTHODOXIE: eine der beiden Hauptrichtungen des (ASCHKENASISCHEN) Judentums als gesetzestreues neben dem REFORMJUDENTUM mit eigenen Organisationsformen. Das O. besitzt gegenüber diesem eine postemanzipatorische Grundrichtung. Im Zentrum des O. steht die überlieferte Schrift der TORA, als am Berg Sinai empfangene göttliche Offenbarung aber auch als ewige, unveränderliche und einzige, jedoch auslegbare Richtschnur für das alltägliche Leben angesehen wird und die der HALACHA als Religionsgesetz zu Grunde liegt. Eine sich im frühen 19. Jahrhundert herausbildende Gegenbewegung zum Reformjudentum wird auch als NEOORTHODOXIE, CHASSIDISCHE
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und andere streng religiöse, der Voraufklärungszeit verhafteten Richtungen als ULTRAORTHODOXE bezeichnet. PESSACH (Bedeutung des Wortes unbekannt): als erstes der drei biblischen Wallfahrts- und Erntefeste (Beginn der Gerstenernte) wird es als Befreiungsfest mit dem Auszug der Juden aus Ägypten verbunden. Biblisch siebentägig, in der Diaspora achttägig, sind der erste und siebte Tag Vollfeiertage, dazwischen Halbfeiertage. An P. ist neben der synagogalen Liturgie der häusliche Seder (,Ordnung‘) charakteristisch, bei dem mit besonderen rituellen Speisen und besonderem Geschirr an die Unterdrückung durch die Ägypter und die Entbehrungen des Auszugs gedacht wird. PROGRESSIVES JUDENTUM, PROGRESSIVE: mithin alle neueren reformjüdischen Strömungen einschließlich des REKONSTRUKTIONISMUS zusammengeschlossen in der ,World Union for Progressive Judaism‘. In der Arbeit werden als P. auch alle neueren, nach 1990 in Deutschland aktiven reformjüdischen Bestrebungen bezeichnet. PURIM (Herkunft des Wortes unbekannt): Freudenfest zur Erinnerung an die Rettung der persischen Juden vor der Verfolgung durch Haman, eines Günstlings des persischen Königs Ahasveros bzw. Xerxes. Es ist ein untergeordnetes Fest im jährlichen jüdischen Feiertagszyklus. Im ASCHKENASISCHEN Bereich wie etwa in Deutschland gilt es am Winterende mit seiner ausgelassenen Stimmung und mit seinen Kostümierungen insbesondere für Kinder als jüdisches Pedant zu Fastnacht und Karneval. REBBE (jid.): entsprechendes Wort für den Rabbiner. REFORMJUDENTUM: mit seinen Einzelströmungen neben der ORTHODOXIE eine der beiden Hauptrichtungen des Judentums. Es verbreitete sich seit dem frühen 19.Jahrhundert im Zuge der Aufklärung und der Judenemanzipation von Deutschland aus insbesondere in Nordeuropa und den westlichen Ländern incl. den USA. Der Grundgedanke des R. besteht darin, moderne Kultur und Judentum in Einklang zu bringen. Ritualgesetze werden als lehrreich, jedoch historisch als wandelbar angesehen Ein entscheidender Unterschied zur Orthodoxie besteht in der Aufwertung bzw. teilweise in der Gleichberechtigung der Frau in ritueller Hinsicht bis hin zur Ordinierung von Frauen als Rabbiner (Deutschland 1936, USA 1972); s. u. die Tabelle RELIGIÖSE RICHTUNGEN REKONSTRUKTIONISMUS: eine der jüngsten religiösen Strömungen des Judentums, die seit den 20er Jahren von den USA ausgehend insbesondere dort, in Zentralamerika und in Israel Anhänger besitzt. Ursprünglich von Mordechai Kaplan entwickelt, wird das Judentum vom R. als ein sich änderndes und weiter entwickelndes religiöses Zivilisationsmodell betrachtet. Der R. weist das Göttliche als übernatürliches Wesen zurück und versteht es stattdessen als Macht, Energie oder Prozessgeschehen, welche Leben ermöglichen und entfalten.
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RELIGIÖSE RICHTUNGEN:
Liberales Judentum/Rerformjudentum
Progressives Judentum
Rekonstruktionismus
Konservatives Juden tum
Die Mehrzahl deutscher Einheitsgemeinden heute
Das Judentum Nordafrikas, Frankreichs, des Jemen und des Nahen Ostens
Das traditionelle litauisch ge prägte Judentum Osteuropas (Mitnagdim des Gaon von Wilna)
Die „Union of Orthodox Jewish Congregations“ in den USA
Ultra-Orthodoxes
„Neture Karta“, „Gusch Emunim“
„Agudat Jisrael“, „Shas“,
Die Charedim
Judentum
Der Chassi-
dismus in Deutschland – „Israelitische Religionsgesell- Zum Beispiel schaft“ in Frankfurt (Samson die „Chabad“Bewegung, Raphael Hirsch) die Satmer – „Adass Jisroel“ Gemeinde in Chassidim Berlin (Ezriel Hildesheimer)
Orthodoxe Austrittsgemeinden
Orthodoxes Judentum
In den USA, Die Reformgemein- Das deutsche liberale Judentum Das konserNeo-Orthovative Juden- doxie in Zenralame- de Berlin Johannis- bis tum in den Deutschland rika und Is- straße vor dem 1938 Zweiten Weltkrieg USA (liberal- bis 1938 rael (und Berlin bis heute) konservativ, (Orthodoxie Die klassische ReDie Reform-Bewegung in den konservative der Vorformbewegung in USA im Geist der „Columbus Mitte und kriegs-Ein den USA im Geist Platform“ konservative heitsgeder „Pittsburgh PlatDie „Reform Synagogues of traditionelle meinden) form“ Great Britain“ Rechte) „Modern Die Union of Liberal and Progrsssive Die Reformbewegung in Aust- Internationale Orthodoxy“ ralien und Neuseeland, Belgien, Masorti“in den USA Synagogues“ in Zentralamerika, der Tschechi- Bewegung, und der Großbritannien schen Republik, der vor allem in Welt GUS, Ungarn, Indien Israel, Groß Der Ritus britanien und der jüdi Das progressive Judentum in Südamerika schen GeIsrael, Südafrika, Südamerika und Simbabwe meinde in Rom (Minhag Italia)
Das liberale Judentum in Frankreich und den Niederlanden
„Mizrachi“ (in Israel „Mafdal“)
Tabelle nach W. Homolka/G. S. Rosenthal: Das Judentum hat viele Gesichter, S. 186 – Den Autoren nach handelt es sich nur um eine vereinfachende schematische Darstellung
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ROSCH HA-SCHANA (hebr.: ,Beginn des Jahres‘): Jüdisches Neujahrsfest SCHABBAT (hebr.: ,Ruhen‘): der siebte Tag der Schöpfung und der Woche. Tag der Ruhe, Freude und des Friedens in Erinnerung an Gottes Ruhen nach der Erschaffung der Erde und des irdischen Lebens sowie des Auszugs des israelischen Volkes aus Ägypten. Der Sch. dauert von Anbruch der Dämmerung am Freitag bis Nachtwerdung am Samstag. Er ist von Arbeitsverboten, Beten, rituellen Handlungen, (Kerzenanzünden, Tischgebet; vgl. KIDDUSCH) bestimmt. In Synagogen finden Gottesdienste statt; s. auch KABALAT SCHABBAT. SCHÄCHTER (hebr.: Schochet): ein oft von den jüdischen Gemeinden fest angestellter Fachmann für das Schlachten der KOSCHEREN Tiere nach der einzigen durch die HALACHA anerkannten Schlachtmethode (Schächten): Dabei wird durch den Sch. die Halsschlagader sowie Luft- und Speiseröhre durch ein vorher wie hinterher geprüftes scharfes und schartenfreies Messer in einem Schnitt durchtrennt. SCHTETL: jüdische Kleinstadtgemeinden in Osteuropa. In ihnen wurden den Juden Religionsfreiheit und kommunale Selbstverwaltung gewährt. Hier konnten Juden ihre eigene Kultur mit Sprache (→JIDDISCH), Tradition und Gesetzen ohne Zwang zur Assimilation leben. Im Zuge der Pogrome in Russland im späten 19. Jahrhundert zogen immer mehr Juden in die dortigen großen Städte. Die russische Revolution und insbesondere die Schoah führten zu dem endgültigen Untergang des S. SEDER (SEDERABEND, SEDERTISCH usw.): Rituelle Abendmahlzeit vor PESSACH. oder SEPHARDIM (hebr., nach Sephard für die iberische Halbinsel): bis zu ihrer Vertreibung 1492 durch die spanische Krone Bezeichnung für die in Spanien und Portugal lebenden Juden, seitdem auch für die von dort vertriebenen Juden in Nordafrika, Asien, Nord- und Südamerika, England, Holland sowie Nord- und Nordwestdeutschland. Die S. unterscheiden sich von den ASCHKENASEN vor allem durch rituelle Eigenheiten sowie ihre Sprache, das LADINO. SEPHARDEN
MINJAN: eine aus mindestens zehn im religiösen Sinne mündigen Männern bestehende Betgemeinschaft, die im Kultus und ihren anderen religiös bestimmten Bräuchen nach der Tradition der Se. (s. o.) ausgerichtet ist; vgl. auch MINJAN.
SEPHARDISCHER
TALLIT (hebr.: ,Gebetsmantel‘): Es handelt sich bei ihm um ein viereckiges Tuch, meistens weiß mit blauen oder schwarzen Streifen aus Wolle, Baumwolle oder Seide sowie Schaufäden an den vier Ecken. Beim täglichen Morgengebet und an bestimmten Feiertagen wird von Männern als Mahnung zur Beachtung der Gebote getragen. Außerdem wird er Toten über dem Totengewand angelegt. TORA (hebr.: ,Lehre‘, ,Unterweisung‘): Im engeren Sinn bezeichnet die T. die Mose am Berg Sinai übergebene Offenbarung Gottes sowie die fünf Bücher Mose (Pentateuch), also die hebräische Bibel. Deren ganzjährige, abschnittweise Lesung steht im Zentrum des religiösen Lebens im Judentum. So sind die
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T.-Rollen, die in den Synagogen außerhalb der Lesung in einem Schrein verwahrt werden, deren kostbarster Besitz. – In einem weiteren Sinne werden auch die rabbinischen Auslegungen und Aktualisierungen als mündliche T. neben der o. g. schriftlichen T. bezeichnet. ULTRAORTHODOXE → ORTHODOXIE ZENTRALRAT DER JUDEN IN DEUTSCHLAND (ZdJ): 1950 als Körperschaft des öffentlichen Rechts (K.d.ö.R.) gegründeter Dachverband jüdischer Landesverbände und Gemeinden zunächst in Westdeutschland und seit 1990 im vereinigten Deutschland. Als seine Aufgaben sowohl alle wichtigen gemeindeübergreifenden innerjüdischen Belange wie auch eine wirksame politische Außenvertretung der jüdischen Diaspora-Gemeinschaft auf deutschlandweiter und internationaler Ebene. Der ZdJ ist seiner Satzung nach auf eine Neutralität gegenüber allen religiösen Strömungen in seinen Mitgliedsgemeinden verpflichtet. Der/Die ZdJVorsitzende gilt entsprechend als oberste jüdische Repräsentanz in Deutschland. ZENTRALWOHLFAHRTSTELLE (ZWSt): 1917 in Berlin gegründete jüdische Organisation zur sozialen Unterstützung bedürftiger Juden in Deutschland. In der Weimarer Republik der Reichsvertretung deutscher Juden angeschlossen, wurde diese in der NS-Zeit 1943 aufgelöst. 1951 Neugründung der Z. durch den ZdJ. Seit 1955 hat sie ihren Sitz in Frankfurt. Sie veranstaltet Freizeiten für Kinder (u. a. eigene Ferienheime), Seniorenprogramme und Bildungsreisen, Fortbildungsseminare für im jüdischen Sozial- und Bildungsbereich Tätige. In Berlin betreibt die Z. das Kulturzentrum Hatikva für russischsprachige Zuwanderer. 3. Abkürzungen: ABM: AJC: AJW: APO: AZ: BJSD: BMP: BRD: BTS: BZ: CDU: CJ: CSD: CSSR: CV: DDR: DIG: DP:
Arbeitsbeschaffungsmaßnahme American Jewish Committee Allgemeine Jüdische Wochenzeitung Außerparlamentarische Opposition Augsburger Allgemeine Zeitung Bundesverband jüdischer Studenten Berliner Morgenpost Bundesrepublik Deutschland Berliner Tagesspiegel Berliner Zeitung Christlich Demokratische Union Centrum Judaicum Christopher-Street-Day Tschechische Sowjetrepublik Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens Deutsche Demokratische Republik Deutsch-Israelische Gesellschaft Displaced Person
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DVU: EG: EM: EUJS: FDP: GB: GfCJZ: GUS: IKM: IS: JA: JB: JGB: JK: JKV: JOINT: JOS: JSB: JÜG : JZ: Kita: KZ: MuH: NG: NGO: NS: NZZ: OdF: PLO: PoS: RNZ: RV: SBZ: SIGMA: UPJ: VVN: WIZO: WJC: Ya: ZdJ: ZJD: ZWSt:
Deutsche Volksunion Einheitsgemeinde Egalitärer Minjan European Union of Jewish Students Freidemokratische Partei Deutschlands Großbritannien Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Gemeinschaft unabhängiger Staaten Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern Israelischer Stammtisch Jüdische Allgemeine (Zeitung) Jüdisches Berlin (Zeitung) Jüdische Gemeinde zu Berlin Jüdische Korrespondenz Jüdischer Kulturverein American Joint Distribution Committee Jüdische Oberschule Jüdischer Studentenbund Jüdische Galerie Jüdische Zeitung Kindertagesstätte Konzentrationslager Milch und Honig (Internetanbieter) Nahostgruppe Non-Government-Organisationen Nationalsozialismus/Nationalsozialisten Neue Zürcher Zeitung Opfer des Faschismus Palestine Liberation Organization Pommern-Hauptschule Rhein-Neckar-Zeitung Repräsentantenversammlung Sowjetische Besatzungszone Gesellschaft für internationale Marktforschung und Beratung Union Progressiver Juden Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Women's International Zionist Organisation World Jewish Congress Yachad (Homosexuellengruppe) Zentralrat der Juden in Deutschland Zionistische Jugend Deutschlands Zentralwohlfahrtsstelle
Kultur- und soziale Praxis Alexander Jungmann Jüdisches Leben in Berlin Der aktuelle Wandel in einer metropolitanen Diasporagemeinschaft
Birgit Glorius Transnationale Perspektiven Eine Studie zur Migration zwischen Polen und Deutschland
November 2007, 594 Seiten, kart., 41,80 €, ISBN: 978-3-89942-811-7
Oktober 2007, 340 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-745-5
Valentin Rauer Die öffentliche Dimension der Integration Migrationspolitische Diskurse türkischer Dachverbände in Deutschland
Karsten Kumoll Kultur, Geschichte und die Indigenisierung der Moderne Eine Analyse des Gesamtwerks von Marshall Sahlins
November 2007, ca. 255 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-801-8
Tina Jerman (Hg.) Kunst verbindet Menschen Interkulturelle Konzepte für eine Gesellschaft im Wandel Oktober 2007, 264 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-862-9
Christian Berndt, Robert Pütz (Hg.) Kulturelle Geographien Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn
September 2007, 432 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN: 978-3-89942-786-8
Constanze Pfeiffer Die Erfolgskontrolle der Entwicklungszusammenarbeit und ihre Realitäten Eine organisationssoziologische Studie zu Frauenrechtsprojekten in Afrika September 2007, 230 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-771-4
Katharina Zoll Stabile Gemeinschaften Transnationale Familien in der Weltgesellschaft
Oktober 2007, 384 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-724-0
August 2007, 246 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-670-0
Antje Gunsenheimer (Hg.) Grenzen. Differenzen. Übergänge. Spannungsfelder interund transkultureller Kommunikation
Peter Kreuzer, Mirjam Weiberg Zwischen Bürgerkrieg und friedlicher Koexistenz Interethnische Konfliktbearbeitung in den Philippinen, Sri Lanka und Malaysia
Oktober 2007, 308 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-794-3
August 2007, 602 Seiten, kart., 40,80 €, ISBN: 978-3-89942-758-5
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Kultur- und soziale Praxis Martin Baumann, Jörg Stolz (Hg.) Eine Schweiz – viele Religionen Risiken und Chancen des Zusammenlebens August 2007, 410 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-524-6
Daniel Münster Postkoloniale Traditionen Eine Ethnografie über Dorf, Kaste und Ritual in Südindien Juli 2007, 250 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-538-3
Reinhard Johler, Ansgar Thiel, Josef Schmid, Rainer Treptow (Hg.) Europa und seine Fremden Die Gestaltung kultureller Vielfalt als Herausforderung Juli 2007, 216 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 978-3-89942-368-6
Ulrike Joras Companies in Peace Processes A Guatemalan Case Study Juni 2007, 310 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-690-8
TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe (Hg.) Turbulente Ränder Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas (2. Auflage)
Klaus Müller-Richter, Ramona Uritescu-Lombard (Hg.) Imaginäre Topografien Migration und Verortung Mai 2007, 244 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-594-9
Dieter Haller Lone Star Texas Ethnographische Notizen aus einem unbekannten Land Mai 2007, 224 Seiten, kart., zahlr. Abb., 22,80 €, ISBN: 978-3-89942-696-0
Magdalena Nowicka (Hg.) Von Polen nach Deutschland und zurück Die Arbeitsmigration und ihre Herausforderungen für Europa Mai 2007, 312 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-605-2
Halit Öztürk Wege zur Integration Lebenswelten muslimischer Jugendlicher in Deutschland März 2007, 282 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-669-4
Pascal Goeke Transnationale Migrationen Post-jugoslawische Biografien in der Weltgesellschaft März 2007, 394 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-665-6
Mai 2007, 252 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-781-3
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Kultur- und soziale Praxis Holger Michael Kulturelles Erbe als identitätsstiftende Instanz? Eine ethnographisch-vergleichende Studie dörflicher Gemeinschaften an der Atlantik- und Pazifikküste Nicaraguas Februar 2007, 230 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-602-1
Elias Jammal, Ulrike Schwegler Interkulturelle Kompetenz im Umgang mit arabischen Geschäftspartnern Ein Trainingsprogramm Februar 2007, 210 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 978-3-89942-644-1
Corinne Neudorfer Meet the Akha – help the Akha? Minderheiten, Tourismus und Entwicklung in Laos Februar 2007, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-639-7
María do Mar Castro Varela Unzeitgemäße Utopien Migrantinnen zwischen Selbsterfindung und Gelehrter Hoffnung Januar 2007, 304 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-496-6
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de