Gewalterfahrung und Prophetie 9783205789604, 9783205788133


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Gewalterfahrung und Prophetie
 9783205789604, 9783205788133

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VERÖFFENTLICHUNGEN DES INSTITUTS FÜR HISTORISCHE ANTHROPOLOGIE E.V. herausgegeben von PETER BURSCHEL CHRISTOPH MARX Band 13

Gewalterfahrung und Prophetie herausgegeben von

Peter Burschel und Christoph Marx

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch die Stiftung „Forum für Verantwortung“

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co.KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung: Michael Haderer Satz: Bettina Waringer Druck und Bindung: General Nyomda Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Hungary ISBN 978-3-205-78813-3

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Inhalt

Peter Burschel Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Johannes Harnischfeger Wahn und Prophetie. Der Kreuzzug einer Igbo-Prophetin . . . . . . 21 Jakob Rösel Vorbestimmung , Eroberung und buddhistischer Herrschaftsanspruch in Geschichte und Politik der Singhalesen . . . . 69 Michael Dickhardt Heilsbewegungen zwischen Macht und Ohnmacht. Gewalt als Kontext und Form der Cargokulte Melanesiens . . . . . . 121 Hans Martin Krämer „Die Flamme , die in einer Gefängniszelle entzündet worden war …“. Repression und Prophetie bei Religionsgemeinschaften im japanischen Faschismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Jürgen Reulecke Von der väterlichen Gewalt im Kaiserreich zum Führerkult im Jungmännerbund der 1920er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . 167 Lutz Häfner „Gottesmutter“, „Rachegott“ und „Golgatha“. Autokratie , Sozialrevolutionäre Partei und Legitimationsstrategien terroristischer Gewalt im Russländischen Reich an der Wende zum 20. Jahrhundert . 183 Gesa Mackenthun „I then saw the Multitude Plainly“. Die Ghost Dance-Religion , das Wounded Knee-Massaker und ihre ‚postkoloniale‘ Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . 209

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Inhalt

Christoph Marx Kolonialeroberung und Prophetie in Südafrika . . . . . . . . . . 229 Karénina Kollmar-Paulenz Chinesische Siedler , mongolische Rebellen , prophetische Worte : Ein Fallbeispiel für buddhistische Bewältigungsstrategien sozialer und politischer Krisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Roman Loimeier Der Mahdi und die Realpolitik. Zur Dynamik endzeitlicher Szenarien in der islamischen Geschichte Afrikas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Susanne Lachenicht Kryptokalvinismus , Propheten und Gewalt in den Cevennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Andreas Pečar „He is a blessed man that takes and dashes the little ones against the stones“. Das Irland-Massaker als Zeichen des nahenden Endkampfes vor dem Ausbruch des Englischen Bürgerkrieges (1641–1642) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Andreas Bähr Gewalt , Furcht und retrospektive Prophetie. Petrus Lotichius’ „Elegie von der Belagerung Magdeburgs“ . . . . . . 353 Rebekka Voß Messias der Vergeltung: Gewaltvorstellungen im jüdischen Messianismus und ihre christliche Wahrnehmung . . . . . . . . . 381 Felicitas Schmieder Gewaltbewältigung in einem „Zeitalter der Gewalt“. Mittelalterliche Prophetie als Sprache politischen Krisenmanagements . . . . . . . . . . . . . . . . 415

Inhalt

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Kristin Skottki Vom „Schrecken Gottes“ zur Bluttaufe. Gewalt und Visionen auf dem Ersten Kreuzzug nach dem Zeugnis des Raimund d’Aguilers . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Öffentlicher Abendvortrag am 21. September 2010: August Nitschke Die Herrschaftsformen der Königin der Blattschneiderameisen und die Demutshaltung der Wölfe . . . . . . . . . . . . . . . 493 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517

Einleitung Peter Burschel

„No , I never came across the Prophet van Rensburg , the man who told General Kemp that it was the right time to rebel against the English. As you know , General Kemp followed his advice and they say that General Kemp still believed in Van Rensburg’s prophecies , even after the two of them were locked up in the Pretoria Gaol. But I knew another prophet. His name was Erasmus. Stephanus Erasmus. Van Rensburg could only foretell that so and so was going to happen , and then he was wrong , sometimes. But with Stephanus Erasmus it was different. Erasmus used to make things come true just by prophesying them.“ H. Ch. Bosman : The Prophet , in : ders. : Mafeking Road und Other Stories , Brooklyn 1998 (first edition : Kapstadt 1947) , S. 129–137 , hier S. 129.1 „So war es eine recht messianische Zeit , die damals kurz vor dem großen Kriege , und wenn selbst ganze Nationen erlöst werden wollten , so bedeutete das eigentlich nichts Besonderes und Ungewöhnliches.“ R. Musil : Der Mann ohne Eigenschaften , hg. von A. Frisé , Bd. 1 : Erstes Buch , Reinbek bei Hamburg 1978 , S. 520.

I. In seinem Buch „Deutschland , eine Reise“, das erstmals 2005 erschien , kommt der Journalist Wolfgang Büscher auch auf Pforzheim zu sprechen. Büscher war drei Monate lang zu Fuß , mit dem Bus oder als Anhalter Deutschlands Grenzen gefolgt und dabei auch in die Stadt am Nordrand des Schwarzwalds 1

Inzwischen auch in deutscher Sprache : Mafeking Road und andere Erzählungen , Frankfurt am Main u. a. 2010 („Der Prophet“, S. 15–23 , das Zitat hier S. 15). Dazu auch : Tobias Döring : Vom idealen Zeitpunkt , seine Pfeife auszuklopfen , in : FAZ 165 (20. Juli 2010) , S. 28.

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gereist. Er habe , so Büscher , sagen hören , dass Pforzheim bis in die sechziger Jahre hinein nach Frankfurt und Baden-Baden die Stadt mit den meisten Millionären in Deutschland gewesen sei. Das aber sehe man ihr heute nicht mehr an. Im Gegenteil. Die Fußgängerzone habe ihm das Bild einer „geschlagenen“ Stadt geboten , zwischen deren ärmlichen Nachkriegsbauten die Not auf und ab gegangen sei : „Es war ein Ort für Apokalyptiker. Und es war die richtige Saison , das heuchlerische Weihnachtsgeklingel aus den Discounthöhlen brachte einen um den Verstand. Die Not war groß , die Armut , die spirituelle Armut von Westdeutschland. Diese Fußgängerzone schrie nach einem Fanatiker. Einem Prediger mit Glut in den Augen und einem starken , einfachen Wort. Er würde kommen , dessen war ich nun sicher.“ Wie ist diese Beobachtung , ja , Mahnung , wie ist diese – fast möchte man sagen : prophetische – Sicherheit zu verstehen ? Bereits im folgenden Abschnitt gibt Büscher Auskunft , indem er an einen Mann erinnert , der zwei Jahre nach der Zerstörung der Stadt durch alliierte Bomber im Februar 1945 nach Pforzheim gezogen war : „Am Anfang , kurz nach der Apokalypse von Pforzheim , hatte ein Mann hier gelebt , der seine Anhänger eines Tages aufgerufen hatte , ihre Heimat zu verlassen , ihre Eltern , ihren Beruf , und ihm zu folgen – weit , weit weg , über den Ozean , auf eine unwirtliche Insel in der südlichen Hemisphäre. Und sie hatten es getan. Sie waren dem Prediger Wilhelm Cordier auf die Falkland-Inseln gefolgt und weiter. Weiter nach Patagonien. Ihm und seinem einfachen , machtvollen Wort. Und wenn man sie später , viel später , am Ende ihres Lebens , nach den Gründen dafür fragte , wurden sie einsilbig und sagten , er habe eine starke Ausstrahlung gehabt.“ Wilhelm Cordier , so Büscher weiter , kam aus dem Krieg , als er 1947 mit seiner Familie im zerstörten Pforzheim eintraf. Ein Prophet unter vielen in Deutschland. Rasch habe er Einfluss auf die evangelische Jugend der Stadt gewonnen. Immer offener , immer schärfer habe er die Amtskirche angegriffen – wie alles , „was sich daranmachte , das neue Land aufzubauen , den ganzen , langen , deutschen Zug auf seinem Weg aus toten Städten in die Fußgängerzonen.“ Büscher nennt die Titel von Predigten , die Cordier hielt : darunter „Abrechnung“, „Babylon“ oder „Letzte Stunde“. Predigten , die auch als Flugschriften kursierten – und die ein Christentum ohne Kirche und ohne Theologie forderten. Ein Christentum am Ende der Zeit. Cordier trat aus der Kirche aus , und über hundert seiner Anhängerinnen und Anhänger taten es ihm gleich. Er arbeitete in einem Steinbruch und überzeugte viele davon , ihm auch darin zu folgen oder Pflegeberufe zu ergreifen : „Und sie zogen aus den neu gebauten Einfamilienhäusern ihrer Eltern aus. Denn es waren keine

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Armen , die zu ihm kamen. Es war , mehr oder minder , die bürgerliche Jugend der Stadt. Manche hatten das Abitur mit Auszeichnung bestanden , manche hatten studiert und wurden darauf vorbereitet , einmal das elterliche Unternehmen zu führen. Die meisten stammten aus , wie man sagt , guten Familien , und davon gab es genug. Pforzheim war die Goldschmiede Deutschlands , die Medaillen der Olympischen Spiele in Berlin 1936 waren hier gegossen worden. Die Eltern dieser jungen Männer und Frauen verzweifelten. … Aber sie konnten nichts tun. Sie spürten , sie hatten keine Macht mehr über ihre Kinder. Was ihnen als die einzig mögliche Konsequenz aus dem totalen Untergang erschien – Arbeit und Aufbau als Weg zu Wohlstand und Glück – , war in den Augen ihrer Söhne und Töchter ein leerer , materialistischer Wahn. Die einen standen wie betäubt vor den Trümmern einer früheren Zeit , die anderen angewidert vor einer neuen Zeit , die sich besinnungslos daran machte , mitten in den Trümmern eine neue heile Welt zu bauen. Cordier sah nicht , wie man in einem so verdorbenen Land gottgefällig leben könnte.“2 Um es gleich in aller Deutlichkeit zu sagen : Die Geschichte der „Cordianer“, die 1954 begannen , Pforzheim zu verlassen , kann auch ohne Wolfgang Büscher erzählt werden ,3 auch wenn keineswegs sicher ist , ob sie dann weniger winterlich , weniger erlösungsnah ausfallen würde.4 Wenn es dennoch diese Geschichte ist , die am Anfang des vorliegenden Sammelbandes steht , dann vor allem aus einem Grund : Obwohl Büscher unmissverständlich zu erkennen gibt , dass der Erfolg des Predigers ohne die „Apokalypse von Pforzheim“ kaum denkbar gewesen wäre , lässt er das Verhältnis von „Gewalterfahrung und Prophetie“ doch merkwürdig , um nicht zu sagen : „frag-würdig“ unbestimmt und macht es damit produktiv. Mehr noch : Indem Büscher dieses Verhältnis als Konflikt „generationeller“ Lebens- und Zukunftsmodelle beschreibt , die miteinander konkurrieren , eröffnet er eine Perspektive , die es nahe legt , Gewalterfahrung und Prophetie prozesshaft aufeinander zu beziehen. Ihr Verhältnis wird auf diese Weise als 2 3

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W. Büscher : Deutschland , eine Reise , Reinbek bei Hamburg 22008 , S. 223–233. S. Kleinheins /  B. Rath : Pforzheims verlorene Söhne und Töchter. Willi Cordier , die „Cordianer“ und ihr Exodus nach Falkland und Patagonien , Ubstadt-Weiher u. a. 2011. – Ein Selbstzeugnis : H. Kirschler-Nessler : Als Siedler in Patagonien 1967–1997 , Norderstedt 2002. Vgl. nur I. Mangold : Mittwoch ist Zahltag , in : DIE ZEIT 3 (14. Januar 2010) , S. 48 – und ders. : Warten aufs Jüngste Gericht. Was die WikiLeaks-Enthüllungen mit unseren Erlösungs- und Endzeiterwartungen zu tun haben , in : ebd. 50 (9. Dezember 2010) , S. 51.

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dynamische (und durchaus ambivalente) Entwicklung erkennbar , in deren Verlauf sich Sinn-Verlust und Welt-Angst , Erlösungs-Hoffnung , ErwählungsGlaube und Heils-Erwartung auf spezifische Weise miteinander verschränken – und dabei nicht zuletzt auch utopische Energie freisetzen. In anderen Worten , wenn die Geschichte der „Cordianer“ in der Lesart der Winterreise des Journalisten Wolfgang Büscher am Anfang dieses Sammelbandes steht , dann auch deshalb , weil sie in besonderer Weise zu Erkundungen herausfordert , die mit einigem Recht als historisch-anthropologisch bezeichnet werden dürfen.5

II. Ausgehend von dieser „Versuchsanordnung“, stellten die Herausgeber rasch fest , dass die historische „Endzeitforschung“ zwar Konjunktur hat , dass sie alles in allem aber weit davon entfernt ist , die einschlägigen Befunde der historischen Gewaltforschung angemessen zu berücksichtigen , und wohl auch deshalb selten nach dem Verhältnis von Gewalterfahrung und Prophetie gefragt hat – wie umgekehrt auch die historische Gewaltforschung. Keineswegs erstaunlich also , dass wir bislang auffällig wenig über die kulturelle , religiöse und politisch-soziale Wirkmächtigkeit prophetischer Botschaften im Schatten von Kriegen und anderen Formen physischer Gewalt wissen. Von den transformativen Folgen (und Potentialen) dieser Botschaften ganz zu schweigen.6 5

Ausführlicher zu diesem Verständnis von „Historischer Anthropologie“: P. Burschel : Wie Menschen möglich sind. 20 Jahrgänge „Historische Anthropologie“, in : Historische Anthropologie 20 (2012) , S. 152–161. 6 Zur Konjunktur der historischen Endzeitforschung hier nur : W. Brandes /  F. Schmieder (Hg.) : Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Weltreligionen , Berlin 2008 ; V. Jerofejew : Russische Apokalypse , Berlin 2009 ; W. Brandes /  F. Schmieder (Hg.) : Antichrist. Konstruktionen von Feindbildern , Berlin 2010 ; M. Delgado /  V. Leppin (Hg.) : Der Antichrist. Historische und systematische Zugänge , Stuttgart 2011 ; R. Voß : Umstrittene Erlöser. Politik , Ideologie und jüdisch-christlicher Messianismus in Deutschland , 1500–1600 , Göttingen 2011 – sowie demnächst : V. Wieser u. a. (Hg.) : Abendländische Apokalyptik. Kompendium zur Genealogie der Endzeit , Berlin 2012 = Kulturgeschichte der Apokalypse , Bd. 1. – Vgl. exemplarisch ( !) auch folgende Tagungen der vergangenen beiden Jahre : „Messianism – Jewish and Christian Perspectives“ (Budapest , Central European University’s Summer School , 5.–16. Juli 2010) ; „Prophetie und

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Gleichzeitig fiel auf , dass diese Beobachtung durchaus auch für koloniale und postkoloniale Gewalterfahrungen und deren mentale Bewältigung gilt7 und zudem dort ihre Bestätigung findet , wo „transnational“ oder „transkulturell“ gearbeitet wird.8 Hinzu kam der auffällige Befund , dass die historische Forschung beginnt , „das Charisma“ wiederzuentdecken , wenn auch weitgehend unabhängig von der Endzeitkonjunktur.9 Kurz , es gab kein Zurück mehr. Die Herausgeber beschlossen , den Weg zu betreten , den ihnen Wolfgang Büscher

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Prognostik“ (Berlin , Zentrum für Literatur- und Kulturforschung , 25.–27. November 2010) ; „Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung“ (Halle , Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung , 23.–25. März 2011) ; „Autorschaft und Prophetie. Prophetische Schau und allegorische Deutung“ (Münster , Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“, 27.–29. Mai 2011) ; „Repräsentationen der Zukunft. Zur kulturellen Matrix des Prognostischen“ (Münster , Seminar für Volkskunde /  Europäische Ethnologie , 7. /  8.  Juli 2011) ; „Formen des Wissens über die Zukunft“ (Erfurt , Institut für Historische Anthropologie , 26.– 28. September 2011) ; „Völker der Endzeit. Apokalyptische Vorstellungen und politische Szenarien“ (Frankfurt am Main , Seminar für Judaistik u. a. , 23.–25. Oktober 2011). Vgl. exemplarisch Th. H. Reilly : The Taiping Heavenly Kingdom. Rebellion and the Blasphemy of Empire , Seattle 2004 ; F. Becker /  J. Beez (Hg.) : Der Maji-MajiKrieg in Deutsch-Ostafrika 1905–1907 , Berlin 2005 ; H. G. Kippenberg : Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung , München 2008 ; M. Ourghi : Schiitischer Messianismus und Mahdī-Glaube in der Neuzeit , Würzburg 2008 ; S. Kuß : Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts , Berlin 2010 ; St. Hagemann : Die Siedlerbewegung. Fundamentalismus in Israel , Schwalbach am Taunus 2010 ; S. Dehghani : Martyrium und Messianismus. Die Geburtsstunde des Bahā’ītums , Wiesbaden 2011. Um nur ein (allerdings besonders aufschlussreiches) Beispiel zu nennen : M. Weiberg-Salzmann : Die Rolle des Buddhismus in Transformations- und Entwicklungsprozessen , in : J. Wilhelm /  H. Ihne (Hg.) : Religion und globale Entwicklung. Der Einfluss der Religionen auf die soziale , politische und wirtschaftliche Entwicklung , Berlin 2009 , S. 64–88. Vgl. z. B. L. Herbst : Hitlers Charisma. Die Erfindung eines deutschen Messias , Frankfurt a. M. 2010 ; F. Brändle : Über eine wirkungsmächtige Kraft an der Schnittstelle zwischen Ereignis , Individuum und politischer Kultur , in : Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 61 (2011) , S. 17–35 – sowie demnächst : Ch. Meier-Staubach /  M. Wagner-Egelhaaf (Hg.) : Prophetie und Autorschaft. Charisma , Heilsversprechen und Gefährdung , Berlin 2012.

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gewiesen hatte , und organisierten im interdisziplinären Rahmen des Instituts für Historische Anthropologie10 die Tagung „Gewalterfahrung und Prophetie“, die vom 20. bis zum 22. September 2010 in der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“ in Mülheim an der Ruhr stattfand. Der vorliegende Sammelband ist aus dieser Tagung hervorgegangen.11

III. Als die Herausgeber im Laufe der Tagungsvorbereitungen immer häufiger auf einschlägige „koloniale Fälle“ stießen – auch jenseits der europäischen Expansion – und damit das transkulturelle Potential ihrer Versuchsanordnung immer deutlicher erkennbar wurde , trafen sie zwei Entscheidungen. Sie beschlossen zum einen , koloniale (und postkoloniale) Gewalterfahrungen und deren prophetische Folgen in besonderer Weise zu berücksichtigen , und reihten die Beiträge des Bandes nicht zuletzt auch deshalb umgekehrt chronologisch. Und sie beschlossen zum anderen , auf begriffliche Vorgaben zu verzichten. Das aber hieß : Sie überließen es den Teilnehmerinnen und Teilnehmern , die Gefahren eines „kognitiven Imperialismus“ (Karénina Kollmar-Paulenz) zu begrenzen , ohne einem kulturellen Autismus das Wort zu reden , der sich jedem Vergleich verweigert.12 Obwohl diese Offenheit nicht ohne zentrifugale Folgen bleiben konnte , lassen die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes doch einen begrifflichen Konsens erkennen , der es erlaubt , gemeinsame Perspektiven zu identifizieren , bei 10 http ://www.historische.anthropologie.de. 11 Tagungsbericht : R. Forsbach : Tanna schafft sich ab. Prophete rechts , Prophete links : Eine Tagung über das Gewaltpotential von Weissagungen im globalen Vergleich , in : FAZ 241 (16. Oktober 2010) , S. 36. – Der öffentliche Abendvortrag „Propheten der jüdischen Siedlerbewegung in den besetzten Gebieten Palästinas“, den Hans G. Kippenberg am ersten Tagungstag hielt , konnte aus terminlichen Gründen keinen Eingang in den vorliegenden Sammelband finden. Versuche , Referentinnen bzw. Referenten für den Taiping- und für den Maji-Maji-Aufstand zu gewinnen , scheiterten ebenfalls aus terminlichen Gründen. 12 Immer noch grundlegend zu diesem Problem : R. King : Orientalism and Religion. Postcolonial Theory , India and ‘The Mystic East’ , London 1999 , S. 187– 218 („9. Beyond Orientalism ? Religion and Comparativism in a Postcolonial Era“).

Einleitung

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aller „emischen“ Ausdifferenzierung im Einzelnen. So wird Gewalt – physische Gewalt , kollektive Gewalt – mehr oder weniger durchgängig als historische Praxis verstanden , die sowohl Leidens- als auch Handlungsform ist ;13 Erfahrung , um mit Reinhart Koselleck zu sprechen , als „gegenwärtige Vergangenheit , deren Ereignisse einverleibt worden sind und erinnert werden können“;14 Charisma als Medium kollektiver Bedürfnisse , kollektiver Nöte und kollektiver Hoffnungen und damit nicht zuletzt als „Quelle von Gegenmacht“;15 und Prophetie schließlich als Ensemble von Botschaften , die spezifische (auch prognostische) Formen kulturellen und religiösen Wissens so aktualisieren , dass sie zu Fiktionen sozialer und politischer Zukunftsgewissheit werden können.16

IV. Wie sehen diese gemeinsamen Perspektiven aus ? Versucht man , diese Frage in kulturanthropologischer Absicht zu beantworten , so scheinen folgende Beobachtungen von besonderer Bedeutung zu sein : 1. Wer nach der Gewalt fragt , die Prophetinnen und Propheten macht , fragt in aller Regel nach einer Gewalt , die aufs Ganze geht – und die so noch nicht erfahren wurde ; nach einer Gewalt , die nicht zufällig in Prozessen koloni13 Vgl. dazu nach wie vor Th. Lindenberger / A. Lüdtke : Einleitung. Physische Gewalt – eine Kontinuität der Moderne , in : dies. (Hg.) : Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit , Frankfurt a. M. 1995 , S. 7–38. 14 R. Koselleck : „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien , in : ders. : Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten , Frankfurt a. M. 1989 , S. 349–375 , hier S. 354. – Vgl. auch P. Münch : Einleitung , in : ders. : „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte , München 2001 , S. 11–27 sowie M. Jay : Songs of Experience. Modern American and European Variations on a Universal Theme , Berkeley u. a. 2006 (12005) (insbesondere Kapitel 9). 15 Charisma als „Quelle von Gegenmacht“ explizit im Beitrag von Christoph Marx in diesem Band. 16 Vgl. dazu auch das Programm der in Anm. 6 genannten Tagung „Prophetie und Prognostik“ des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin : www. zfl-berlin.org  /  veranstaltungen-detail  /  items  /  prophetie-und-prognostik.html (Zugriff August 2012) – sowie : K. Schreiner : „Wann kommt der Retter Deutschlands ?“ Formen und Funktionen von politischem Messianismus in der Weimarer Republik , in : Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 49 (1998) , S. 107–160.

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aler Eroberung besonders konturiert – um nicht zu sagen : idealtypisch – in Erscheinung tritt , wie die Kriege gegen die südafrikanischen Xhosa ebenso erkennen lassen wie jene gegen die nordamerikanischen Plains-Indianer , um nur zwei Beispiele des Bandes zu nennen.17 Diese Gewalt verstört kollektiv und kann kollektiv traumatisieren , weil sie soziale und mentale Strukturen bedroht oder doch zu bedrohen scheint. Diese Gewalt überschreitet Grenzen : nicht zuletzt jene zwischen „zivil“ und „militärisch“, zielt in vielen Fällen auf die materiellen Lebensgrundlagen der Betroffenen und erschüttert schließlich deren Wertekosmos , kann sie doch mit den tradierten kulturellen und religiösen Deutungsmustern nicht mehr „sinn-voll“ erfasst werden. 2. Obwohl es die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes kaum zulassen und wohl auch kaum zulassen können , das Verhältnis von Gewalterfahrung und Gewaltdeutung auf den (gemeinsamen) Punkt zu bringen , lassen sie doch eines erkennen : Sobald die bewährten Deutungsinstanzen und Deutungsmächte nicht mehr in der Lage sind , Gewalterfahrungen kollektiv verstehbar und damit kulturell integrierbar zu machen , schlägt die Stunde der Prophetie. Ob der Camisarde Abraham Mazel oder der Xhosa Makana alias Nxele , der Linkshänder , ob der Mahdi Muhammad Ahmad , die Sioux-Krieger Kicking Bear und Short Bull , der aus Tibet stammende achte Boγda Gegen oder die ehemalige Igbo-Sklavin Ngozi – sie alle verdanken ihre Erfolge wesentlich der Fähigkeit , kollektive traumatische Gewalterfahrungen prophetisch in Zukunftsgewissheit zu überführen , die ihrerseits Zukunftshandeln erst möglich macht , wie labil , wie ambivalent , wie zerstörerisch (und selbstzerstörerisch) diese Gewissheit auch sein mag.18 3. Wie dieses Muster selbst , macht der transkulturelle und transepochale Vergleich auch die prophetische und oft genug charismatische Transformation von Gewalterfahrungen sichtbar. Eine Transformation , die kulturell gesteuert ist , die gleichzeitig aber auch kulturell irritieren und modifizieren kann. Denn 17 Zur Einordnung dieses Befundes aus „Täter“-Perspektive weiterhin grundlegend : T. von Trotha : Koloniale Herrschaft. Zur soziologischen Theorie der Staatsentstehung am Beispiel des „Schutzgebietes“ Togo , Tübingen 1994 , insbesondere S. 37–43 ; vgl. auch Ch. Büschges : Gewaltsame Kulturkontakte. Massaker in der spanischen Eroberung Mexikos , in : Claudia Ulbrich u. a. (Hg.) : Gewalt in der Frühen Neuzeit , Berlin 2005 , S. 59–71. 18 Beispiele für den engen Zusammenhang von Zukunftsgewissheit und Zukunftshandeln auch bei Kippenberg , Gewalt als Gottesdienst (wie Anm. 7).

Einleitung

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nicht nur , dass sie allem Anschein nach eine starke Tendenz zur – emotionalen – Eigendynamik hat. Sie muss in aller Regel auch darauf angelegt sein , ihre lebensweltliche Attraktivität gegen Konkurrenz unter Beweis zu stellen , und das nicht zuletzt medial. In anderen Worten : Keine prophetische Transformation von Gewalterfahrungen ohne kulturelles Risiko. Nur konsequent , dass sich immer wieder auch Zusammenhänge zwischen Konkurrenz , Mobilität , Transfer und „Exil“ einschlägiger Prophetien beobachten lassen. 4. So unterschiedlich die prophetische Transformation von Gewalterfahrungen kulturell , sozial und politisch auch ausfallen kann : Die Beiträge lassen keinen Zweifel daran , dass die „neu“ justierten Wahrnehmungsmuster , Verhaltenslehren und performativen Praktiken , die diese Transformation hervorbringt , mehr oder weniger durchgängig darauf abzielen , künftiges – fremdes – Gewalthandeln „berechenbar“ und damit „beherrschbar“ zu machen , wobei die „Deutungsfunktion von Religion“ zumeist eine besondere Rolle spielt.19 Das aber heißt in vielen Fällen auch : Die prophetische Transformation dient dazu , das Unerhörte in eine religiöse oder doch religiös kommunizierte Sinn-Ordnung zu überführen , die es versteht , künftiges Gewalthandeln heilsgeschichtlich zu integrieren und auf diese Weise auch „innerweltlich“ produktiv werden zu lassen. Im Mittelpunkt steht dabei fast immer ein charismatisch vermitteltes , ja , oft genug charismatisch autorisiertes Erlösungsversprechen , das wiederum in handlungsleitende Erlösungsszenarien eingebettet ist.20 5. Obwohl auch für diese Erlösungsszenarien gilt , dass sie transkulturell und transepochal kaum auf einen Punkt zu bringen sind , offenbaren sie doch einen Zusammenhang , der geeignet zu sein scheint , die Beobachtungen der Einleitung abzuschließen. Nimmt man jene Beiträge in den Blick , die es erlauben , Gewalterfahrungen und Erlösungsszenarien über längere Zeiträume hinweg dynamisch aufeinander zu beziehen , so wird zumindest eines deutlich : Wann immer Gewalterfahrungen zu andauernden oder zu andauernd sich erneuernden Entgrenzungserfahrungen werden , geraten die tradierten oder eben erst etablierten Erlösungsszenarien unter Anpassungsdruck – und radikalisieren 19 Vgl. dazu perspektivisch auch F. W. Graf : Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur , München 2007 (12004) , S. 207–210 (und öfter). 20 Vergleiche ermöglicht : K. Hildebrand (Hg.) : Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung , Existenz und Wirkung des Totalitarismus , München 2003.

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sich , wobei am Ende fast immer die eschatologisch (und messianisch) befeuerte Aufforderung zum Selbstopfer steht : und damit „neue“ Gewalt.

V. Und doch : Die Intensivierung von Gewalterfahrungen und die Radikalisierung der prophetischen Transformation dieser Erfahrungen bis hin zu ihrer Militarisierung mögen Hand in Hand gehen. Das Feld aber , das der vorliegende Sammelband zu betreten versucht , ist weiter. Denn auch das führen seine Beiträge vor Augen : Wer nach der prophetischen Transformation von Gewalterfahrungen fragt und damit nach der Transformation von „Sinnwidrigkeit“ im Sinne Max Webers ,21 fragt immer auch nach kulturellen Eigengesetzlichkeiten , deren soziales , politisches und mentales Potential oft erst sichtbar und wirksam wird , wenn die Gewalterfahrungen „an sich“ zu verblassen beginnen. Und sei es in Wild West Shows.

21 H. G. Kippenberg : Religiöse Gemeinschaften. Wo die Arbeit am Sinn-Problem der Welt und der Bedarf sozialen Handelns an Gemeinschaftlichkeit zusammentreffen , in : G. Albert u. a. (Hg.) : Das Weber-Paradigma. Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm , Tübingen 2003 , S. 211–233.

Dank

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Dank Unser Dank gilt allen , die dabei halfen , auch den dreizehnten Band der „Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie“ auf den Weg zu bringen , vor allem aber : Dirk Ansorge , Karin Heilmann und Eva Seemann. Die Stiftung „Forum für Verantwortung“ hat sowohl die Tagung finanziert , die den Band ermöglichte , als auch dessen Drucklegung. Die Katholische Akademie des Bistums Essen „Die Wolfsburg“ ließ als Tagungsort einmal mehr keine Wünsche offen. Johannes van Ooyen und Bettina Waringer vom Böhlau Verlag haben den Druck wie stets umsichtig und verständnisvoll begleitet. Berlin und Essen , im Sommer 2012 Christoph Marx Peter Burschel

Wahn und Prophetie Der Kreuzzug einer Igbo-Prophetin Johannes Harnischfeger

Im Februar 1995 zerstörte Ngozika Ogbu , eine christliche Prophetin , zusammen mit ihren Anhängern die Kultstätte der Göttin Adoro. Sie berief sich dabei auf einen Auftrag Gottes , aber ihr Angriff auf den Schrein war auch Teil eines persönlichen Rachefeldzugs. Ihre Familie hatte unter einem Fluch der Gottheit gelitten , und Ngozi war , um diesen Fluch auf sich zu nehmen und die Familie zu entsühnen , dem Adoro-Kult geweiht worden. Doch sie verwarf ihre Identität als Kultsklavin und lief aus der Obhut des Schreinpriesters davon. Als sie nach langem Umherirren in ihre Heimatstadt zurückkehrte , hatte sie sich in eine Prophetin verwandelt , die einen Kreuzzug begann , um den ganzen Ort von „heidnischen“ „Idolen“ zu befreien. Nach ihrem Sieg über den Adoro-Schrein suchte sie ihre religiöse Führungsrolle zu institutionalisieren , indem sie aus ihrer Bewegung eine Kirche formte. Ich besuchte, während ich in Nigeria lebte, mehr als ein Jahr lang ihre Gottesdienste und durfte sie auf einigen ihrer Missionsreisen begleiten. Dabei erfuhr ich , dass sie bis zu ihrer Berufung zur Prophetin eine Wahnsinnige gewesen war. Beginnend mit Ngozis Kindheit möchte ich rekonstruieren , wie sich ihr Wahn in Prophetie verwandelte. Um zu verstehen , warum so viele Menschen bereit waren , einer jungen Frau zu folgen , die noch kurz zuvor eine mad woman gewesen war , ist es wichtig , sich indigene Konzepte von Wahn und Geistbesessenheit in Erinnerung zu rufen. Personen , die sich anormal verhielten , hatten in der Igbo-Gesellschaft die Möglichkeit , sich einem Besessenheitskult anzuschließen. Einige der Initiierten wurden Heiler und Wahrsager , ähnlich wie Ngozi , die mit Hilfe des Heiligen Geistes ebenfalls heilte , Hexen und Diebe identifizierte und die Zukunft vorhersah. Ihre prophetische Identität , durch die sie sich von (anderen) Wahnsinnigen abgrenzte , blieb freilich prekär. Um ihre Autorität zu festigen , suchte sie immer wieder die Konfrontation mit heidnischen Mächten und griff zu spiritueller und physischer Gewalt. Doch bevor ich die Entwicklung ihrer religiösen Karriere verfolge , beschreibe ich zunächst Ngozis Kreuzzug sowie die soziale und spirituelle Umgebung , in der er stattfand.

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1. Einleitung : Ngozis Kampf gegen die alten Götter Als ich die Prophetin einige Wochen nach dem Angriff auf den Adoro-Schrein kennenlernte , waren die Spuren ihrer Aktion noch zu sehen , denn Ngozi hatte die Kultgegenstände aus dem zerstörten Heiligtum zum Marktplatz des Ortes gebracht und dort ausgestellt. Außerdem hatte sie ein Videoteam gemietet und sich gleich nach ihrer Aktion neben den Trümmern eines der Schreingebäude filmen lassen. Der Ort des Geschehens , Ngozis Geburtsstadt Alor Uno , war nur eine unbedeutende Gemeinde in einer marginalen Region des Igbolands. Der Ort hatte nichts Urbanes , sondern war eine Ansammlung von 31 Dörfern mit einem gemeinsamen Marktplatz und einer Schule. Trotzdem sorgte Ngozis Angriff auf die Schutzgottheit von Alor Uno in der ganzen Region für Aufsehen , denn die Göttin Adoro galt als besonders mächtig und hatte sich zu einem Orakel entwickelt , das weit über Alor Uno hinaus Ratsuchende anzog. Bevor Ngozi diese Bastion des „Heidentums“ angriff , hatten es schon andere versucht , waren aber gescheitert. Ein selbsternannter „Apostel“, der im Mai 1990 einige Schreingebäude niederbrannte , wurde bald darauf wahnsinnig und starb noch im selben Jahr.1 Als Ngozi ihre Aktion plante , war ihr bewusst , dass eine schwere Prüfung vor ihr lag. Deshalb stärkte sie sich vor dem Angriff eine Woche lang durch Fasten und Gebet. Sie hatte bereits in einer anderen Igbo-Stadt Schreine zerstört und sich einen Ruf als Wundertäterin erworben. Da sie auch im Auftrag von Kunden arbeitete , hatten einige Verwandte sie nach Alor Uno eingeladen , damit sie in den Häusern versteckte Zaubermittel aufspürte. Aber sie begnügte sich nicht damit , nur einzelne Gehöfte zu durchsuchen , sondern bestand darauf , ganz Alor Uno von „Jujus“ zu „reinigen“. Gott habe ihr aufgetragen , alle heidnischen Objekte zu vernichten , so wie er einst Moses und Elias befohlen habe , gegen Götzenbilder vorzugehen. Bei unserer ersten Begegnung , im März 1995 , hatte sie bereits 17 Dörfer gereinigt. Die meisten Bewohner waren Mitglieder der katholischen oder anglikanischen Kirche , aber Ngozi hatte bei allen von ihnen Jujus entdeckt.2 Zusammen mit Dutzenden junger Frauen

1

2

Ogbuh 1991 , S. 50 , 102–104 , 110. – Auch ihn hatten persönliche Motive bewogen , die Göttin anzugreifen : „Adoro /  Nwada and their agents are responsible for my ill health [ …]. These idols caused my two children to become dumb , and lame“ (Apostel Chidi Eze , zit. in Ogbuh 1991 , S. 104). Das Christentum kam erst mit der kolonialen Eroberung in die nördliche IgboRegion. In Alor Uno erschien der erste anglikanische Missionar 1927 ; die katholische Kirche folgte 1930 , s. Izuchukwu 1988 , S. 25 , 30.

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und Männer war sie wochenlang von Gehöft zu Gehöft gezogen , hatte die Hausschreine zertrümmert und die Gebäude nach Zaubermitteln durchsucht. Was sie an verdächtigen Gegenständen einsammelte , brachte sie jeden Abend zum Marktplatz. Die Bewohner von Alor Uno beobachteten genau , was auf dem Marktplatz zusammengetragen wurde. Auch aus benachbarten Gemeinden kamen Schaulustige vorbei und ließen sich erklären , was die Prophetin aus den versteckten Winkeln der Häuser hervorgezerrt hatte. In dem Videofilm , den sie im Februar 1995 drehen ließ , werden die Jujus im Detail gezeigt , und ihr Bruder Chijioke gibt Erklärungen über die Herkunft einiger Objekte.3 Manches stammte von dem Zauberer Reuben Onah , der ein Geschäft als herbalist betrieb. Er hatte angeblich gestanden , dass er zur Herstellung einiger Zaubermittel Menschenknochen verwendet habe und dass einige seiner Mittel dazu bestimmt gewesen seien zu töten. Bei den meisten Objekten , die Ngozi zum Vorschein gebracht hatte , war jedoch nicht bekannt , wozu sie gedient hatten. Man sah Krüge , Tonscherben , Glasflaschen , und Tierknochen. Manche Objekte bestanden nur aus einem Gemisch undefinierbarer Substanzen , in Stoff gewickelt und mit Blut oder Fett verschmiert. Das Aussehen der Dinge gab keinen Hinweis auf ihre Funktion. Sollten sie Menschen schützen oder töten ? Im Prinzip konnte alles mit destruktiver Energie beladen sein. Deshalb machte es für die Bürger Alor Unos Sinn , dass Ngozi nicht zwischen guten und bösen Zaubermitteln unterschied , sondern alle verdächtigen Objekte konfiszierte. Ngozis Anhänger rechtfertigten ihr gewaltsames Vorgehen gegen alles Heidnische damit , dass sie der Stadt Fortschritt bringen wollten. Die Rückständigkeit Alor Unos hing , ihrer Meinung nach , mit der ungebrochenen Macht heidnischer Traditionen zusammen. Der Ort hatte keine Strom- und Wasserversorgung und keine richtige Sekundarschule. Andere Ortschaften , die viel weiter von der Distrikthauptstadt Nsukka entfernt lagen , hatten dagegen die Chance genutzt , am Fortschritt zu partizipieren. Stromleitungen , die weit entlegene Gebiete versorgten , führten direkt über die Häuser von Alor Uno hinweg. Die Gemeinde hätte sich nur zusammentun müssen , um einen 3

Der zweistündige Film enthält außerdem spektakuläre Szenen von Geistbesessenheit. Wegen der vielen Interviews , die fast alle auf Igbo geführt wurden , habe ich den Film in gekürzter Form ins Internet gestellt (zusammen mit Auszügen aus zwei anderen Video-Dokumentationen , in Ogbu 2012). Der etwa 30-seitige Filmtext ist dagegen in voller Länge zugänglich : in der Igbo-Version sowie in zwei englischen Übersetzungen (Ogbu 2013).

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Transformator zu kaufen und Kabel zu den einzelnen Gehöften zu ziehen. Doch die Bewohner kooperierten nicht miteinander , sondern verschwendeten viel Geld und Energie darauf , sich gegenseitig zu bekämpfen. Die gewaltige Ansammlung von Jujus auf dem Marktplatz war der Beweis. Ngozis Anhänger deuteten mit einem Ausdruck von Unwillen und Ekel auf die vielen Objekte , die zu kaufen Unsummen von Geld verschlungen hatte , die aber zu nichts anderem dienten , als Unheil zu stiften oder sich vor diesem Unheil zu schützen. Gegen dieses selbstzerstörerische Festhalten an der vorchristlichen Tradition vertraten Ngozi und ihre Mitstreiter die Sache des Fortschritts. Sie sahen sich , gerade weil sie Hexen , Zauberer und Schreinpriester verfolgten , als Wegbereiter der westlichen Moderne. Ein Großteil der Bürger unterstützte die Prophetin und ließ sie bereitwillig die eigenen Häuser durchsuchen. Andere dagegen sträubten sich gegen die Reinigungskampagne , aber sie konnten Ngozis Übergriffe nicht abwehren , denn im Gefolge der Prophetin befand sich ein halbes Dutzend junger Männer , die Eisenstangen und eine Axt mit sich führten , mit denen sie Schreine zertrümmerten.4 Nach dem Schock über die Niederlage Adoros dauerte es einige Wochen , bis sich Ngozis Gegner besser organisierten. Zum Lager der „Traditionalisten” gehörten der Häuptling von Alor Uno , einige Schreinpriester und andere Anhänger Adoros : meist ältere Männer , die aber eine Gruppe militanter Jugendlicher hinter sich gebracht hatten. Es kam zu Zusammenstößen mit den jungen Männern um Ngozi , und es gab einige Male Verletzte. Beide Seiten fürchteten Hinterhalte und verdeckte Gewalt , so dass sie sich gegenseitig genau beobachteten. In der Auseinandersetzung mit den traditionellen Autoritäten der Stadt war Ngozi auf Unterstützer angewiesen. Sie musste daher all jenen , die bereit waren , sich im Kampf gegen die Traditionalisten zu exponieren , Schutz vor physischer und spiritueller Gegengewalt bieten. Ein Mittel dazu war , sich als Kirche zu organisieren , mit regelmäßigen Gottesdiensten , die allerdings im Freien auf einem Gebetsplatz stattfanden , weil Ngozi noch kein Kirchengebäude besaß. Sie lebte gleich neben dem Gebetsplatz in einem weiträumigen Gehöft , das einem ihrer Anhänger gehörte. Von dieser provisorischen Missi4 Unter ihnen sollen sich ehemalige Straßenräuber befunden haben , die in der Stadt Awkuzu operierten , bis sie zufällig Ngozi kennenlernten und sich ihrer Bewegung anschlossen. Wegen ihrer gewalttätigen Vergangenheit galten sie als gefährlich : „Awkuzu boys were tough. They could beat you to coma“ (Thompson Attama , der frühere Public Relations Officer von Ngozi , 13.1.2007).

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onsstation aus leitete sie die Kirche , die sie unter dem Namen Jehovah Messiah Alleluyah Hossana Mission registrieren ließ. Die Schaffung institutioneller Strukturen , die den Aktivisten der Bewegung Schutz boten , hatte für die Prophetin noch weitere Vorteile. Als Besitzerin einer Kirche oder „Mission“ konnte sie leichter ihr Geschäft als Heilerin und Wahrsagerin betreiben. Neben den Einkünften aus den Kirchenkollekten bezog sie nämlich einen Teil ihres Einkommens von privaten Kunden , die zum Teil aus weit entlegenen Orten anreisten. Diese Kunden waren nicht daran interessiert , sich Ngozis Gemeinde anzuschließen , sondern wollten sie unter vier Augen sprechen. Da so viele Hilfesuchende anreisten , wurde es nötig , den Zugang zur Prophetin zu regulieren , und dazu eignete sich der innere Zirkel ihrer Gemeinde , der sie wie ein Kreis von Jüngern vor unerwünschten Kontakten abschirmte. Für eine junge , mittellose Frau wie Ngozi war es nicht leicht , eine Gemeinde an sich zu binden. Wunderpastoren und selbsternannte Prophetinnen gab es unter den Igbo zu Tausenden.5 Um sich vor anderen auszuzeichnen , musste Ngozi ihre charismatischen Fähigkeiten unter Beweis stellen , und dazu war der Sturm auf den Adoro-Schrein , der seit Generationen als unbezwingbar gegolten hatte , besonders gut geeignet. Die Überreste der einst mächtigen Kultstätte zusammen mit all den gefährlichen „Idolen“, die sie aus den Privathäusern zusammengetragen hatte , fungierten als die denkbar beste Reklame. Ihr war es daher ganz recht , wenn Besucher von weit her anreisten und die Überreste des verwüsteten Schreins in Augenschein nahmen. Auf diese Weise verbreitete sich die Geschichte von Ngozis Sieg , und der Marktplatz von Alor Uno verwandelte sich in eine Art Pilgerzentrum. Viele , die angereist kamen , um das „Wunder” von Alor Uno zu bestaunen , suchten gleich um eine Unterredung bei der Prophetin nach. Der Andrang von Bittstellern war so groß , dass Hilfesuchende manchmal tagelang warten mussten , bis sie vorgelassen wurden. Die spektakuläre Kampagne gegen den Adoro-Schrein half Ngozi , sich als Prophetin und Kirchenbesitzerin zu etablieren. Aber es ging ihr um mehr als den Erfolg ihres religiösen Unternehmens. Der Adoro-Schrein (oder einer sei5

Darin unterscheidet sich das Igboland nicht von anderen Regionen Afrikas. Kirchen sind low budget-Unternehmen mit hohen Gewinnspannen. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit , besonders unter jungen Akademikern , zieht es viele der talentiertesten Menschen in den Bereich spiritueller Dienstleistungen. Vermutlich bilden christliche Kirchen „the biggest single industry in Africa“ (Gifford 1998 , S. 315).

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ner Agenten) hatte ihre Eltern getötet ; davon waren nicht nur Ngozi , sondern die meisten Bewohner des Ortes überzeugt. Gleich nach dem Biafrakrieg , als Ngozi noch ein Kind war , hatte der Vater vor der Göttin einen Eid abgelegt , um in einem Rechtsstreit mit dem eigenen Bruder seine Unschuld zu beteuern. Offenbar war es ein Meineid , denn der Vater starb bald darauf , was als ein Zeichen gedeutet wurde , dass Adoro ihn gerichtet hatte. Es war üblich , Adoro als eine Orakelgottheit anzurufen , damit sie schwierige Streitfälle entschied. Ihre Urteile waren eindeutig. Wenn eine der Personen , die einen Eid geleistet hatten , innerhalb einer bestimmten Frist starb , galt sie als schuldig , und damit verfiel ihr gesamter Besitz der Gottheit und ihren Priestern. Die Leiche des Verstorbenen erhielt kein ehrbares Begräbnis , sondern wurde in den bad bush gebracht : in ein Stück Wildnis am Rande der Stadt , in dem sich das Heiligtum Adoros befand. Außerdem musste die Familie , um weiteres Unheil von sich abzuwenden , die Göttin durch ein Opfer beschwichtigen. Dieses Opfer musste ein Angehöriger der eigenen Familie sein. In der Regel wählte man dazu eine Tochter des Verstorbenen. Die Betreffende wurde jedoch nicht getötet , sondern nach Alor Uno geschickt , wo sie – in früheren Zeiten – dem Dienst der Göttin geweiht war. Kultsklaven , meist Osu genannt , gab es in den meisten Regionen des Igbolands. Sie bildeten eine Kaste von Unberührbaren , die dazu verdammt waren , abseits der menschlichen Zivilisation zu leben. Ihre Hütten befanden sich oft in der Wildnis , in der Nähe bedeutender Schreine , und man zwang sie , auch in ihrer äußeren Erscheinung zu verwildern , denn es war ihnen untersagt , sich zu waschen und die Haare zu schneiden. Durch die Macht Adoros waren so viele Osu nach Alor Uno gekommen , dass ihre Nachfahren fast die Hälfte der Bevölkerung bildeten. Nach einem Gesetz aus dem Jahr 1956 ist es nicht mehr erlaubt , sie zu diskriminieren , trotzdem leben sie weiterhin abgesondert von den Freigeborenen in eigenen Dörfern. Furcht vor Adoro sorgt bis heute dafür , dass Frauen und Mädchen aus benachbarten Orten der Göttin übereignet werden. Nur ist es nicht länger möglich , sie zu zwingen , als Kultsklavinnen in der Nähe des Schreins zu leben. Stattdessen werden sie von den Priestern an einheimische Männer verheiratet. Opfer , die aus Familien von Freigeborenen stammen , erhalten einen Freigeborenen als Mann , während Frauen aus Osu-Familien an Osu-Männer übergeben werden. Doch beide Gruppen sind geächtet und werden , wenn auch nicht öffentlich , Osu genannt. Nach dem Tod des Vaters und bald darauf der Mutter wurde Ngozi dazu bestimmt , als Opfer an Adoro den Fluch , der auf ihrer Familie lastete , auf sich zu nehmen. Doch sie entzog sich diesem Schicksal und rannte davon. Als sie

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Jahre später als erwachsene Frau nach Alor Uno zurückkehrte und ihre Reinigungskampagne begann , war der Angriff auf den Adoro-Schrein auch gegen das System der Kultsklaverei gerichtet. Aber davon sprach sie wenig , denn sie hatte die Osu-Identität zurückgewiesen und mochte nicht als eine Vorkämpferin der Ausgestoßenen gelten. Ein Aufstand gegen die Freigeborenen hätte auch keinen Erfolg gehabt. Stattdessen betonte Ngozi das gemeinsame Interesse aller Bürger , sich im Namen des Christentums von der Last heidnischer Traditionen zu befreien. Der Anspruch , im Auftrag des christlichen Gottes zu handeln , gab ihr die Möglichkeit , aus ihrer peripheren Rolle herauszutreten. Als Vertreterin einer überlegenen , globalen Macht konnte sie verlangen , dass die lokalen Autoritäten in Alor Uno sich ihren Geboten fügten. Mit Hilfe des biblischen Gottes , der keine anderen Götter neben sich duldete , verschaffte sie sich das Mandat , Rache zu nehmen an jenem Schrein , der ihr Leben zerstört hatte. Ihr Rachefeldzug war zugleich eine Rehabilitation , denn er erlaubte ihr , das Stigma einer verstoßenen jungen Frau abzulegen und Respekt zu gewinnen. Ihr Kampf gegen heidnische Mächte lässt sich aber noch auf andere Weise lesen : als Geschichte einer Wahnsinnigen , die darum kämpfte , nicht als verrückt zu gelten. Seit dem Tod der Eltern , der dem Zorn der Gottheit zugeschrieben wurde , waren die Kinder mit dem Familienfluch behaftet. Ngozi hatte zwar , so wie ihre Geschwister , Aufnahme bei Verwandten gefunden , doch niemand wollte das Mädchen dauerhaft bei sich behalten. Sie wurde hin und her gestoßen , rannte immer wieder davon in die Einsamkeit und wurde eine mad woman. Viele Anhänger , die sie später in Alor Uno gewann , erinnerten sich noch daran , wie sie verstört durch den Ort geirrt war. Im Nachhinein erschien es Ngozi , dass jene Leidensjahre Teil ihrer spirituellen Berufung waren. Die Stimmen , die sie gehört hatte , erhielten einen Sinn , als sie gewahr wurde , dass sie zu einer Mission berufen war , dass der Heilige Geist sie erwählt hatte , ihre Mitbürger vom Bösen zu befreien. Ngozi begann ihre religiöse Karriere aus einer Position völliger Schwäche. Sie war unrein , verstoßen und wahnsinnig. Für sie , wie für viele andere Gläubige , lag die Attraktivität des Christentums darin , dass es einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit versprach.6 Durch die spirituelle Wiedergeburt , die in vielen Kirchen Nigerias propagiert wird , erhielten Gläubige die Chance , sich neu zu erfinden. Im Falle Ngozis war es für jeden offensichtlich , dass sie als Prophetin eine andere Person geworden war. Sie war aus ihrer Isola6

Marshall 2009 , S. 51.

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tion herausgetreten und hatte in der charismatischen Kommunikation mit ihren Anhängern stabilere Objektbeziehungen aufgebaut. Doch ihr Verhalten zeigte weiterhin viele Züge , die normalerweise als Zeichen von Verrücktheit gedeutet würden. Wie weit war es ihr gelungen , den Wahn hinter sich zu lassen ? Ich möchte zunächst , in Kapitel 2 , ihre Lebensgeschichte erzählen , dann in Kapitel 3 auf ihre religiöse Berufung eingehen , und in Kapitel 4 das Verhältnis von Wahn und Geisterwelt untersuchen , so wie es in vorchristlicher Zeit im Igboland und in anderen Teilen Nigerias verstanden wurde. Kapitel 5 beschreibt , vor diesem Hintergrund , die Konstruktion einer neuen , prophetischen Identität. Diese Identität blieb jedoch fragil und hing von der charismatischen Kommunikation mit ihrer Gemeinde ab. Ngozi musste immer wieder beweisen , dass Gott in ihr wirkte und ihr außerordentliche Kräfte verlieh. Um ihr Charisma zu demonstrieren , suchte sie stets aufs Neue die Konfrontation mit heidnischen Mächten. Von diesem Kampf um Anerkennung handelt Kapitel 6.

2. Die Verstoßung Ngozis Lebensgeschichte wurde in verschiedenen Varianten erzählt. Ihr älterer Bruder Amobi berichtete einer Ethnologin , dass Ngozi erst bei ihrer Berufung zur Prophetin Symptome von Verrücktheit entwickelte.7 Doch in Alor Uno wusste jeder , dass sie seit Jahren als eine mad woman gegolten hatte. Ngozi selbst berichtete , dass sie „schon immer“ geistesgestört gewesen war : „I was mental“.8 Sie hörte Stimmen , die sie nicht verstand , und sie erzählte ihren Mitmenschen , dass sie Stimmen hörte. Um mehr über ihren Wahn zu erfahren , müssen wir uns genauer mit jenen Geschichten beschäftigen , die sie und andere über ihre Kindheit erzählten. Die Ereignisse lassen sich nicht mehr genau datieren , doch ihre Abfolge ist weitgehend klar. Ngozi , die während des Biafra-Kriegs (1967–1970) geboren wurde , war vielleicht vier Jahre alt , als 7 8

Achebe 2003 , S. 97. Vieles aus ihrem Leben erfuhr ich von Ngozi selbst. Dazu kommen Gespräche mit Personen , die ihr nahe standen : den zwei älteren Brüdern , einem Bruder der Mutter , einem Cousin und anderen Anhängern ihrer Kirche. Meine Aufzeichnungen aus der Zeit von März 1995 bis Dezember 1996 sind in Auszügen in Afrikanistik online erschienen , s. Harnischfeger 2013. Hier finden sich auch Informationen über die Organisation von Ngozis Kirche , den sozialen Status ihrer Anhänger und anderes , auf das ich in diesem Aufsatz nicht eingehen kann.

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ihr Vater sich mit einem älteren Bruder überwarf. Der Bruder beschuldigte ihn , ein wenig Geld , das er sich geliehen hatte , nicht zurückgezahlt zu haben. Ngozis Vater musste , um seine Unschuld zu beteuern , vor der Göttin Adoro jenen Eid schwören. Bald darauf hatte er einen Unfall ; die Wunde wollte nicht heilen , und er starb innerhalb der Frist , die das Orakel festgesetzt hatte , um den Streitfall zu entscheiden.9 Ngozis Mutter blieb im Haus ihres verstorbenen Mannes wohnen , was sie nicht hätte tun dürfen. Denn wenn Adoro eine Person richtete , fiel das Eigentum des Getöteten an die Gottheit , so dass niemand das Recht hatte , es zu nutzen. Ngozis Mutter starb wenige Jahre nach ihrem Mann , und da man ihren Tod als eine Strafe Adoros deutete , wurde das Haus aufgegeben , so dass es verfiel. Die sechs Kinder wurden getrennt und wuchsen weit verstreut in verschiedenen Familien auf. Ngozi kam zu einem Bruder des Vaters in Alor Uno , doch der hatte Angst , dass der Fluch , der auf dem Kind lastete , sich in seinem Haus ausbreiten könnte. Deshalb verstieß er das Mädchen , als es Symptome von Verrücktheit zeigte. Auch die beiden anderen Brüder des Vaters mochten Ngozi nicht auf Dauer aufnehmen. Sie wurde nach Ibagwa geschickt , wo eine Schwester der Mutter verheiratet war , kam wieder zurück nach Alor Uno , zu einem Bruder der Mutter. Doch dessen Frau wollte das Mädchen nicht im Haus dulden , so dass Ngozi etwas abseits der Familie in der Hütte der Großmutter lebte : „Die Leute hatten Angst. [ …] Sie wollten mich nur loswerden , wie etwas Böses“. Nach einigen Jahren gab man sie als Haushaltshilfe an eine wohlhabende Familie in der Provinzhauptstadt Enugu. Ngozi hatte , als sie im Rückblick darüber sprach , die Leute in freundlicher Erinnerung. Sie sprachen davon , dass es Möglichkeiten gebe , Personen mit mentalen Problemen untersuchen 9

Ngozis Vater starb , nachdem er von einer Palme gefallen war. (Ölpalmen spielten eine wichtige Rolle in der Ökonomie der Igbo-Region.) Nach Auskunft von Prof. Egbibo (19. 6.  1996) , einem Psychiater an der University of Nigeria , ist es nichts Ungewöhnliches , dass Unfälle dieser Art eintreten , wenn über einer Person ein Fluch oder ein göttlicher Schiedsspruch schwebt. Menschen , die den Eingriff einer höheren Macht erwarten , führen manchmal den eigenen Untergang herbei. Da sie von der Vorstellung des bevorstehenden Todes ganz besessen sind , kreist ihr Denken wie in einer Hypnose nur um diesen Punkt , so dass Gegenkräfte schwinden. Wenn die Person dann in eine heikle Situation gerät , die Vorsicht und Aufmerksamkeit verlangt , exekutiert sie sich selbst. Beim Überqueren einer Straße läuft sie vor ein Auto , oder wenn sie auf eine Palme klettert , lässt sie plötzlich die Hände erschlaffen und fällt herab.

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zu lassen. In Amerika könne man einen Blitz in den Kopf schicken und hineinschauen. In Nigeria allerdings ließ sich nicht viel machen. Ngozis Zustand besserte sich nicht ; ihre Arbeitgeber verloren die Geduld mit ihr und gaben sie zurück nach Alor Uno. Nach einem kurzen Aufenthalt bei der Großmutter brachte man sie ins Haus des wichtigsten Adoro-Priesters. Ein professioneller Wahrsager hatte nämlich festgestellt , dass man der Göttin Adoro , um sie zu beschwichtigen , die jüngste Tochter der Familie weihen müsse. Doch Ngozi weigerte sich , die Opferrolle anzunehmen. Sie lief davon und fand Unterschlupf bei einer kleinen charismatischen Kirche.10 Schon hier verkündete sie göttliche Botschaften , doch die Angesprochenen hörten ihr nicht zu , denn sie galt weiterhin als verrückt. Trotz ihres Umherirrens war Ngozi nicht völlig auf sich allein gestellt. Die beiden älteren Brüder Amobi und Chijioke lebten ebenfalls eine Weile in Alor Uno und kümmerten sich ein wenig um sie. Da sie befürchteten , dass Adoro nicht ablassen werde , gegen die Familie zu wüten , beteiligten sie sich daran , Ngozi dem Adoro-Priester zu übereignen. Aber sie versuchten der Schwester auch zu helfen , indem sie mit ihr diverse Heiler konsultierten : native doctors und Besitzer charismatischer Kirchen. Ngozi lernte das spirituelle Gewerbe also aus der Patientinnen-Perspektive kennen. Doch keine Therapie hatte Erfolg. Ngozi erinnerte sich , dass sie schon früh geächtet war : Niemand im Dorf ließ sie ins Haus , weil sie verrückt war. Schon als Kind habe sie immer wieder den Drang gehabt , in den Busch zu laufen. Auf die Frage , was sie dort gemacht habe , antwortete sie : „Nichts. Ich habe überhaupt nichts gemacht. Ich habe nichts gegessen , nichts getrunken. Einmal habe ich 21 Tage nichts gegessen und getrunken. Die Leute mussten kommen und mich suchen , um mich zurückzuholen“. Wie unter einem Wiederholungszwang durchlebte sie immer wieder die Trennung von den Mitmenschen. Mir scheint , ihr Davonlaufen 10 Ngozi soll sich später abfällig über diese Kirche geäußert haben. Der Pastor habe mit weiblichen Mitgliedern der Gemeinde Sex gehabt (nach Auskunft von Chima Eze , dem religiösen Lehrer Ngozis , 5. 2.  2001). Eze hielt es für möglich , dass der Pastor versuchte , auch mit Ngozi zu schlafen , doch habe sie nichts davon erzählt. Ähnlich mag es sich mit dem Adoro-Priester verhalten haben. Er hatte das Recht , Frauen , die Adoro geweiht wurden , zur Heirat an andere Männer weiterzugeben oder sie für sich selbst zu behalten. Als Ngozi zu ihm gebracht wurde , sollen acht geweihte Frauen bei ihm gelebt haben. Da in seinem Gehöft wenig Platz für eine weitere Person gewesen sei , habe der Priester Ngozi im Haus seines Sohnes untergebracht.

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war Ausdruck der Angst , verstoßen zu werden , und zugleich Versuch einer Heilung. Indem sie das Trauma re-inszenierte , suchte sie es zu bewältigen. Sie kam der Verstoßung zuvor , führte selbst die Trennung herbei und gewann dadurch ein wenig Kontrolle über die Affekte , die mit der Verstoßung verbunden waren. Vor allem aber machte sie die Erfahrung , dass sie gesucht und zurückgeholt wurde. Das Ritual der Trennung und Rückführung in die Gemeinschaft der Menschen zeigte ihr , dass sie nichts Böses oder Wertloses war. Meist war es ihr Bruder Amobi , der ihr hinterherlief. Doch eines Tages hatte er Alor Uno verlassen , und nun machte Ngozi sich auf die Suche nach ihm. Ihr wurde gesagt , Amobi sei nach Bauchi gefahren. Sie bestieg ein Auto , das sie nach einer langen Reise dorthin brachte. Doch Bauchi war nicht ein Ort wie Alor Uno , wo man nach Amobi hätte fragen können. Bauchi war ein Bundesstaat im muslimischen Norden Nigerias. Auf ihrer Irrfahrt durch ein fremdes Land verschlug es sie nach Kano , der größten Stadt Nordnigerias , wo sie bei einer Igbo-Geschäftsfrau Aufnahme fand. Hier musste sie allerdings harte , erniedrigende Arbeiten verrichten und erhielt immer wieder Schläge. Ein LKW-Fahrer , der ihr in dem Restaurant der Igbo-Frau begegnete , erlöste sie aus dieser bedrückenden Situation und brachte sie zurück zu ihren Verwandten. Ihr Onkel war nicht erfreut , die Nichte wiederzusehen , und beschied den LKW-Fahrer , er könne das Mädchen mitnehmen und es heiraten , wenn es älter sei. Einen Brautpreis müsse er nicht für sie zahlen. Ngozi heiratete mit etwa siebzehn Jahren und brachte einen Sohn zur Welt , ihr einziges Kind , das aber bald starb.11 Mit ihrem Mann , der 30 Jahre älter war als sie , wohnte sie erst in Kano , dann in dessen Heimatstadt Awkuzu , 100 km von Alor Uno entfernt. Zwischendurch aber lebte sie lange Zeit in Alor Uno im Haus eines Pastors , der ihr eine religiöse Ausbildung gab. Chima Eze , der Besitzer und Pastor der Foundation Of Faith Spiritual Family , sprach von einem theologischen Training und bezeichnete Ngozi , mit einigem Stolz , als seine Schülerin. Aber als sie die Kirche verließ und zu ihrem Mann nach Awkuzu zurückkehrte , war sie nicht geheilt. Die Leute in Awkuzu hielten sie für verrückt und zeigten offen ihre Verachtung. Ngozi wurde „Sklavin“ genannt , weil sie durch die Übereignung an Adoro zu einer Art Osu geworden war. Durch ihre Flucht aus dem 11 Frauen ohne Kinder zogen Verachtung auf sich. Henderson (1972 , S. 232) , der in der Igbo-Metropole Onitsha forschte , berichtete von dem Brauch , einer unfruchtbaren Frau , wenn sie starb , kein ehrbares Begräbnis zu geben : „her corpse is stabbed in the groin so that should she reincarnate her womb will be open next time“.

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Anwesen des Priesters hatte sie versucht , ihrem Schicksal zu entkommen , aber ihr Wahn schien zu bezeugen , dass Adoro längst von ihr Besitz ergriffen hatte. Als ein Wesen , das der Göttin verfallen war , verbreitete sie überall , wo immer sie hinkam , Angst und Widerwillen. Trotz dieser Ächtung fand sie in Awkuzu die ersten Menschen , die an ihre göttliche Mission glaubten , denn Ngozi konnte demonstrieren , dass sie über spirituelle Kräfte verfügte. Sie heilte Kranke und identifizierte Hexen , entdeckte versteckte Zaubermittel und zerstörte eine heidnische Kultstätte , die freilich weniger bedeutend war als der Adoro-Schrein. Um sie herum entstand eine erste Gemeinde , und Ngozi hatte so hohe Einkünfte , dass sie begann , in Awkuzu ein Haus zu bauen. Die Geschichte ihres Erfolgs verbreitete sich auch in Alor Uno , so dass einer ihrer Cousins , Jonathan Ogbu , sie besuchte und um Hilfe bat. Jonathan , der krank war und seine Krankheit nicht abschütteln konnte , verdächtigte seinen Vater , ihn umbringen zu wollen. Denn als Jonathan plante , das väterliche Gehöft zu verlassen und sich ein eigenes Haus zu bauen , hatte der Vater öffentlich erklärt , dass er ihn töten werde , falls er seine Pläne wahrmache. Der Vater , Ngwu Ogbu , wurde von vielen gefürchtet. Jeder im Dorf wusste , dass er einen extrem gefährlichen Zauber gekauft hatte , den er hinter seinem Haus in einem Schrein aufbewahrte. Aus Angst vor diesem charm hatten andere Dorfbewohner begonnen , sich ebenfalls teure Zaubermittel zuzulegen. Doch trotz dieser Gegenmaßnahmen fühlte niemand sich sicher. Ngwu Ogbu , der von manchen verdächtigt wurde , der Anführer der lokalen Hexen zu sein , war ein stolzer , wohlhabender Mann. Er war es , der Ngozis Vater gezwungen hatte , den Adoro-Eid zu schwören. Auf die Bitte ihres Cousins , ihm gegen den Vater beizustehen , erklärte sich Ngozi bereit , nach Alor Uno zu kommen. Die Rückkehr in ihr Heimatdorf , im September oder Oktober 1994 , war eine Reise an den Ursprung jenes Fluchs , den sie überall mit sich getragen hatte. Sie erfuhr durch die Dorfbewohner , dass Ngwu Ogbu im Verdacht stand , mehrere Menschen getötet zu haben , und sie erkannte durch eine göttliche Offenbarung , dass er auch für den Tod ihres Vaters verantwortlich war. Das Familiendrama erschien damit in einem ganz anderen Licht. Diese neue Sicht der Dinge , die Gott ihr zur Gewissheit gemacht hatte , suchte Ngozi durch ihre Predigten im ganzen Ort zu verbreiten : Ihr Vater war unschuldig gestorben , nicht durch einen Schuldspruch der Gottheit. Um den Verdacht auf Adoro zu lenken , hatte der Mörder , Ngwu Ogbu , den Bruder gedrängt , einen Eid zu schwören. Dabei hatte er nie die Absicht gehabt , das Urteil der Orakelgöttin zu überlassen ; vielmehr

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tötete er Ngozis Vater und später ihre Mutter durch einen Zauber. Dass man Ngozi der Göttin geopfert hatte , beruhte also auf einem Versehen. In Wirklichkeit hatte es keinen göttlichen Fluch gegeben , den die Tochter hätte auf sich nehmen müssen. Sie war keine Osu. Viele Bewohner Alor Unos standen auf Ngozis Seite , als sie Ende 1994 in das Gehöft ihres Onkels eindrang und ihn aufforderte , ihr seine Zaubermittel auszuhändigen. Da er sich weigerte zu kooperieren , führte man die Reinigungsaktion auf seinem Grundstück eigenmächtig durch. Ein Augenzeuge berichtete , dass eine Anhängerin Ngozis die Schreinhütte hinter dem Haus öffnete , um den berüchtigten charm zu entfernen. Doch als sie den Gegenstand berührte , fiel sie zu Boden und begann zu zittern. Ngozi trat hinzu und besprenkelte das Objekt mit Heiligem Wasser , so dass Rauch von ihm aufstieg. Ngwu Ogbu schaute dem Angriff auf seinen Hausschrein sprachlos zu. Er konnte nicht glauben , dass die Macht seines Zaubers gebrochen war. Doch dann gewann er die Fassung zurück und drohte seiner Nichte , dass sie innerhalb von zwei Wochen sterbe werde. Im Gegenzug soll Ngozi die Hand gen Himmel gestreckt und Gott angerufen haben , den Frevel ihres Onkels zu rächen. Zehn Tage später , Anfang Januar 1995 , fiel Ngwu Ogbu auf dem Weg zu seiner Farm tot um. Als man den Toten entdeckte , hatten sich soldier ants , eine aggressive Ameisenart , über den Leichnam verbreitet : ein Zeichen , dass er einen bösen Tod gestorben war. Der Tod jenes Mannes , der für die Eskalation spiritueller Konflikte verantwortlich schien , beendete nicht den Disput. Die Söhne des Verstorbenen , die zunächst auf Seiten Ngozis gestanden waren , beschuldigten sie nun , den Vater getötet zu haben. Sie wechselten die Fronten , schlossen sich den Traditionalisten an und spielten eine führende Rolle in der Kampagne , die Prophetin aus Alor Uno zu vertreiben. Ngozi deutete die plötzliche Feindseligkeit ihrer Cousins als einen Ausdruck der Angst. Sie befürchteten , dass der Geist des toten Vaters an ihnen Rache nehmen werde , wenn sie nicht ihrerseits seinen Tod rächten.

3. Die Berufung Ngozi hatte als Kind die anglikanische Kirche besucht. Doch rückblickend schien ihr , dass sie damals keine wirkliche Christin war , weil sie den Umgang mit heidnischen Kräften nicht abgebrochen hatte. Zu Gott geführt wurde sie erst 1993 oder Anfang 1994 durch ein Erweckungserlebnis , das sie dazu berief ,

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als Prophetin zu wirken. Sie befand sich gerade in ihrem Haus in Awkuzu , beim Yamskochen , als eine Stimme ihren Namen rief. Sie ging aus dem Haus , schaute zum Himmel und hatte eine Vision : Sie sah Musikinstrumente , die sie nie zuvor gesehen hatte , ähnlich wie Trompeten. Und sie sah ein Pferd , mit Jesus darauf sitzend. Sie wusste zunächst nicht , wer sie gerufen hatte. Sie war nur überwältigt von der Vision. Die Yamswurzeln , die sie damals gekocht hat , hat sie nie gegessen. Sie hat überhaupt nichts mehr gegessen und getrunken. Sie war außer sich , konnte nicht normal sein für 21 Tage und wurde sogar in Ketten gelegt. Ngozis Bericht über ihr Erweckungserlebnis betonte das Plötzliche , gänzlich Unerwartete ihrer Berufung. Durch die dramatische Verdichtung der Geschehnisse auf ein zentrales Ereignis ähnelte ihre Erzählung jenen Konversions-Narrativen , die in Pfingstkirchen und anderen charismatischen Kirchen zirkulieren. In der Darstellung wiedergeborener Christen erscheint die Begegnung mit Gott als eine überwältigende Erfahrung , mit der ein neues Leben beginnt. Um diesen Bruch hervorzuheben , werden das Davor und das Danach einander strikt entgegengesetzt. Vor dem Moment der Umkehr war man dämonischen Mächten verfallen und lebte in Angst , danach stand man unter dem Schutz Gottes.12 In Wirklichkeit gestaltete sich Ngozis Transformation in eine Prophetin als ein langwieriger Prozess. Schon Jahre zuvor , als sie sich in eine charismatische Kirche geflüchtet hatte , verkündete sie göttliche Botschaften , die aber niemand hören wollte. Sie musste erst mühsam lernen , die Stimmen , die zu ihr sprachen , zu verstehen und die Zeichen um sie herum konsistent zu deuten. Dieser Lernprozess war , auch als ich sie kennenlernte , noch nicht abgeschlossen. Gott sprach zu ihr und schickte ihr Visionen und Zeichen , nicht nur im Traum , sondern auch im Wachzustand. So empfand sie zum Beispiel einen Baum , der ihr im Weg stand , als ein Zeichen , war jedoch nicht sicher , was dieses Zeichen zu bedeuten hatte. In schwierigen Situationen konnte es passieren , dass sie lange grübelte , weil sie nicht verstand , was Gott ihr mitteilen wollte. Um den Willen Gottes zu verkünden , musste sie sich also intensiv mit den Bildern und Stimmen in ihrem Innern beschäftigen.13 12 Booth (1995) hat diese narrative Struktur an den Bekenntnissen wiedergeborener Christen in den USA herausgearbeitet. Die Rhetorik der Wiedergeburt spielt auch in vielen nigerianischen Kirchen eine Rolle , darunter in der Deeper Life Bible Church , einer evangelikal inspirierten holyness-Kirche , deren Gottesdienste Ngozi manchmal besuchte , als sie mit ihrem Mann in Kano lebte. 13 Ähnliches gilt für die alttestamentlichen Propheten ; vgl. Weber 1988 , S. 303–307.

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Außerdem musste sie lernen , ihr öffentliches Auftreten , also ihr Reden und Handeln , nach dem Vorbild christlicher Propheten zu modellieren , damit sie für potentielle Anhänger als eine gottgesandte Person erkennbar wurde. Die religiöse Ausbildung durch Chima Eze half ihr , sich das Idiom christlicher Spiritualität anzueignen und es auf die eigenen Erfahrungen zu beziehen. Trotzdem war sie , als sie diese Ausbildung abgeschlossen hatte , immer noch nicht in der Lage , andere von ihren prophetischen Gaben zu überzeugen. Ihr Ehemann hielt sie weiterhin für verrückt und behandelte sie als eine nichtsnutzige Person. Verrückte ziehen im Igboland viel Verachtung auf sich. Manche , die von ihren Angehörigen verstoßen wurden , irren nackt oder in Lumpen gehüllt die Straßen entlang , betteln ein wenig oder lesen vom Boden Essensreste auf. In den Reden der Wahnsinnigen , die sich oft im Kontakt mit spirituellen Mächten sehen , sind nicht selten religiöse Mitteilungen enthalten , doch diese Botschaften wecken bei den Mitmenschen keine Neugierde. In der Kirche , die Ngozi 1995 in Alor Uno gründete , ging man recht harsch mit Verrückten um. Ngozi hatte in ihrer Gemeinde zwei , drei Dutzend Kranke aufgenommen , um sie spirituell zu heilen , darunter einige Geisteskranke , die von ihren Angehörigen nach Alor Uno gebracht worden waren. Da Ngozi weder ein Kirchengebäude noch ein Heilerzentrum besaß , waren diese Patienten nicht weit von dem Platz , auf dem Ngozi die öffentlichen Gebete abhielt , in den privaten Quartieren ihrer Anhänger untergebracht. In einigen Fällen hieß es , die Geistesgestörten seien bösartig und gefährlich. Um zu verhindern , dass sie davonliefen und Schaden anrichteten , wurden zwei oder drei von ihnen an Baumwurzeln angekettet. Zu den täglichen Gebeten (morgens , mittags , abends und manchmal auch nachts) wurden sie losgebunden und zum Gebetsplatz geführt , wobei man ihnen , um sie unter Kontrolle zu halten , eine Fußkette anlegte oder ihnen eine alte Autofelge an den Fuß band , so dass sie nur in Trippelschritten laufen konnten. Die Heilung der Verrückten wurde durch Gebete , Handauflegen und Heiliges Wasser betrieben , doch nahmen einige nicht gerne an den christlichen Riten teil. Sie murrten oder sträubten sich , so dass man sie mit Ruten zum Gebetsplatz trieb. Wahnhaftes Verhalten fand in Ngozis Kirche aber auch große Wertschätzung. Prominente Mitglieder der Mission zeigten keine Scheu , in aller Öffentlichkeit wie besessen aufzutreten. Bei einer Missionskampagne in einem benachbarten Ort geriet einer von ihnen in so heftige Raserei , dass Ngozis Leute ihn in Ketten legen mussten und nach Alor Uno zurückbrachten. Das minderte jedoch nicht sein Ansehen bei anderen Anhängern der Gemeinde ,

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denn sein Wahn galt als ein notwendiges Durchgangsstadium auf dem Weg seiner religiösen Berufung. Ngozi hatte vorhergesagt , dass Obi diese Zeit der Anfechtungen durchschreiten müsse , bevor er reif sei , die Rolle eines spirituellen Führers zu übernehmen. Ngozi hatte ihn dazu ausersehen , die Gemeinde in Alor Uno zu leiten , damit sie (Ngozi) mehr Zeit fände , sich um zwei , drei andere Gemeinden zu kümmern , die sie außerhalb Alor Unos aufbaute. Obi brüstete sich zuweilen damit , stärker zu sein als Ngozi , aber er trat nicht öffentlich als Prophet auf und hatte keinen Kreis von Anhängern um sich geschart. Er empfing Ratsuchende , denen er die Zukunft vorhersagte und die er vor spirituellen Gefahren warnte. Dabei nahm er Geld ein , das er für sich behielt und nicht an die Mission – d. h. an Ngozi – weiterleitete. Besessenes Verhalten , wie Obi es in extremer Form demonstrierte , war anderen Anhängern der Mission nicht fremd. Während der Gottesdienste , die zu einem Großteil aus Trommeln , Singen und Tanzen bestanden , war oft zu beobachten , dass einzelne Gläubige – meist Frauen – in Trance verfielen. Sie begannen zu zittern und zu taumeln , fielen zu Boden und wälzten sich im Sand , oder sie liefen wild gestikulierend umher und vollführten bizarre Rituale. Dabei redeten sie manchmal in Zungen , d. h. sie artikulierten eine Flut unverständlicher Silben oder Worte. Jeder , der die Gottesdienste besuchte , war frei , seinen religiösen Eingebungen zu folgen. Selbst lautes Stöhnen oder heftiges Grimassieren erregte keinen Anstoß. Es hieß , dass in den Besessenen der Heilige Geist wirke. Deshalb durften sie sich , soweit ihnen das möglich war , an den Heilungsritualen beteiligen. Wer nur in milde Trance verfallen war , nahm oft einen anderen Teilnehmer des Gottesdienstes bei der Hand , zog ihn beiseite und drängte ihn niederzuknien , legte ihm die Hand auf die Stirn , streichelte oder massierte Teile seines Körpers , lief um ihn herum , zog mit der Hand einen Kreis um ihn und kritzelte geheimnisvolle Zeichen in den Sand. Von fünf oder sechs Personen , die zum inneren Kreis der Mission gehörten , hieß es , dass sie intensivere Kontakte zu spirituellen Kräften hätten. Ihnen wurde daher , besonders in Ngozis Abwesenheit , oft die Aufgabe zugewiesen , sich um Kunden zu kümmern. Gloria zum Beispiel sprach nicht nur Gebete und nahm Waschungen vor , sondern versetzte sich in heftige Trance und entwickelte dabei die Fähigkeit , Ratsuchenden göttliche Botschaften zu verkünden. Sie hatte Ngozi seit den Anfängen in Awkuzu begleitet und schien selbst zu einer spirituellen Autorität herangereift zu sein , so dass man vermutete , sie werde bald in ihre Heimatstadt zurückkehren und eine eigene Kirche gründen. Ngozi wies freilich den Gedanken zurück , dass Gloria und andere

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spirituelle Talente sich von ihr abspalteten : So wie zur Zeit Jesu , als alle Jünger ihm folgten , sei vereinbart , dass man zusammenbleibe und dass Gloria die Leitung einer jener Gemeinden übernehme , die Ngozi auf ihren Reisen durch Nigeria gegründet hatte. Ngozi wusste um die Nähe von Wahn und Prophetie , aber sie hatte ein klares Kriterium , um beides voneinander abzugrenzen. Während eines Aufenthalts in Kano , im Norden Nigerias , zeigte sie mir einen Wahnsinnigen , der vergeblich versucht hatte , Gläubige an sich zu ziehen. Wir trafen ihn auf Bompai Rock , einem flachen , langgezogenen Felsen am Stadtrand , wo sich täglich christliche Prediger und Propheten einfanden. Er stand allein auf dem Felsen , in ein wallendes weißes Gewand gehüllt , redete mit lauter Stimme und wedelte dabei mit den Armen durch die Luft. Für Ngozi war er nichts als ein Verrückter. Er hatte sie beschimpft und ihr verkündet , dass sie nie eine Kirche in Kano gründen werde. Aber diese Prophezeiung war falsch. Einige Wochen oder Monate später mietete Ngozi , mit Hilfe eines wohlhabenden Förderers , im Christenviertel der Stadt einen großen Raum , in dem jeden Tag zwei , drei Dutzend Personen ihre Gottesdienste besuchten. Ihr Rivale , der einsame Prediger auf Bompai Rock , war durch diese Entwicklung widerlegt worden. Er konnte kein Prophet sein , weil seine Voraussagen sich nicht bewahrheiteten. In ihm mochten spirituelle Kräfte wirken , aber er war kein Medium , um göttliches Wissen und göttliche Kraft zu übertragen. So wie bei anderen Verrückten war die spirituelle Energie in ihm blockiert , so dass sie sich nicht in Form von prophetischen Mitteilungen oder Geistheilungen äußerte und sich nicht von anderen Menschen nutzen ließ. Die Igbo sind gewohnt , in religiösen Dingen pragmatisch zu urteilen. Letztlich entscheidet der Erfolg darüber , ob jemand ein Prophet ist oder bloß ein Verrückter oder ein Betrüger. Schon in vorchristlicher Zeit gab es ein breites Angebot an religiösen Experten , die im Kampf um Kunden hart miteinander konkurrierten. Hilfesuchende waren weitgehend frei zu wählen , welchen Priester , Zauberer oder Wahrsager sie konsultierten. Deshalb musterten sie mit skeptischem Blick , was ihnen an spirituellem Beistand geboten wurde , und beurteilten religiöse Fachleute nach ihren Leistungen.14 Ngozi war bekannt dafür , dass sie verborgenes Wissen hatte , selbst über gänzlich fremde 14 Diese pragmatische Haltung war vor der Ankunft der Schriftreligionen auch in anderen Teilen Afrikas verbreitet : „Africans lacked sacred texts to define orthodoxy and heresy. The test of religious practices and practitioners was whether they worked“ (Iliffe 1995 , S. 87).

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Personen und Ereignisse. Noch bevor ein Ratsuchender von seinen Problemen berichtete , begann sie zu erzählen , was ihn bedrückte und welche Zukunft ihn erwartete. Ähnlich wie traditionelle Wahrsager oder Zauberer besaß sie eine scharfe Beobachtungsgabe und ein Gespür für die spirituellen Nöte , in die ihre Kunden geraten waren. Ihr öffentliches Wirken als Prophetin verlangte aber noch weitere Talente. Um ihren Kampf gegen das Heidentum zu führen und komplette Dörfer nach Jujus zu durchsuchen , musste sie Tag für Tag Dutzende von Unterstützern mobilisieren. Dafür hatte sie nichts weiter als ihre Stimme und ihren Körper , aber damit konnte sie Menschen stundenlang in ihren Bann ziehen. Sie stimmte Lieder an , leitete die Gläubigen im Gebet und predigte mit lebhaften Gesten. Zwischendurch verstummte sie plötzlich und vollführte , als sei sie völlig in sich gekehrt , eine Art pantomimischer Darstellung. Oder sie erfand immer neue , befremdliche Rituale , die sie so gravitätisch und mit so viel Nachdruck ausführte , als seien es wichtige , bedeutungsschwere Handlungen , die aber oft so rätselhaft oder absurd wirkten und ohne jeden religiösen Gehalt , dass sie mich an die Inszenierungen europäischer performance-Künstler , wie Joseph Beuys , erinnerten. In Ngozis Predigten ging es nicht nur um Religiöses ; vielmehr mischte sie Dorfgeschichten hinein und erzählte Begebenheiten aus ihrem Leben. Dabei sprach sie einige ihrer Getreuen persönlich an , erinnerte an gemeinsame Erlebnisse und hob das Verhalten Einzelner lobend oder tadelnd hervor. Während dieser Plauderei wanderte sie angeregt hin und her , näherte sich einigen der Umstehenden und involvierte sie in ein Spiel von Rede und Gegenrede. Ähnlich wie ihre Bewegungen waren auch ihre Worte lebhaft und auf den Effekt bedacht. Man spürte , wie sie die Anwesenden für sich zu gewinnen suchte , zuweilen durch flammende , aufwühlende Reden , oft aber auch , indem sie vertraulich plauderte und Scherze machte. Die charismatische Kommunikation der Prophetin schuf also , im Unterschied zu den monomanischen Reden der Wahnsinnigen , einen engen Kontakt mit den Menschen ihrer Umgebung. So wie andere Kirchengründer führte Ngozi in ihren Predigten Episoden aus der Bibel an und knüpfte daran Betrachtungen über aktuelle Geschehnisse. Aber sie war nicht besser mit der Bibel vertraut als manche ihrer Zuhörer. Was die Menschen bewog , Ngozis Gottesdienste zu besuchen , war nicht ihre Auslegung des Evangeliums. Niemand erwartete von der Prophetin , dass sie die Fähigkeit habe , die göttliche Botschaft reiner und unverfälschter zu verkünden als andere christliche Autoritäten. Das mangelnde Interesse an theologischer Belehrung hing sicher damit zusammen , dass die Mitglieder ihrer

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Gemeinde nur wenig Schulbildung besaßen.15 Aber das war nicht der einzige Grund. Unter den Igbo und vielen anderen Afrikanern , die erst spät mit Schriftlichkeit in Kontakt kamen , besteht insgesamt wenig Interesse an Kosmologien , religiösen Lehrsätzen und Fragen der Orthodoxie. Eine Vorstellung von Religion , wie sie sich in Europa entwickelte : als ein System von Glaubenssätzen und den dazugehörigen religiösen Praktiken ,16 ist den Menschen weitgehend fremd. Die meisten afrikanischen Sprachen kannten kein Wort für „Religion“ und oft auch kein Wort für „Glaube“ im Sinne des Fürwahrhaltens religiöser Überzeugungen.17 Niemand war gezwungen , seine Kontakte zu spirituellen Kräften so zu gestalten , dass sie mit den Gesetzen religiöser Lehren zusammenstimmten. Statt Reinheit des Glaubens herrschte Eklektizismus. Ob ein Ritual befolgt wurde oder ein Kult Zulauf fand , hing davon ab , ob sie sich als wirksam erwiesen. Mit der Ausbreitung des Christentums entstand zwar ein großes Interesse an der Bibel , aber die Entscheidung , sich dieser oder jener Kirche anzuschließen , wird bis heute selten damit begründet , dass Kirchenführer wahre oder falsche Doktrinen verkünden. Die Vorstellung , dass sich heilige Schriften auf ganz unterschiedliche Art deuten lassen , ist vielen Christen nicht vertraut. Orthodoxie kann für sie nicht das entscheidende Kriterium sein , um wahre und falsche Propheten zu unterscheiden. Von religiösen Spezialisten wird erwartet , dass sich ihre Kraft weniger in Worten beweist als in Taten. Dieser Pragmatismus ist ein Erbe der alten Igbo-Religiosität , aber auch eine Reaktion auf den intensiven Wettbewerb religiöser Experten. Wenn Hunderte von Kirchenbesitzern um Anhänger kämpfen , wäre es abwegig , sich darauf zu berufen , dass nur die eigene Auslegung der Bibel korrekt ist. Für Ngozi waren Fragen der Rechtgläubigkeit kaum von Belang. Wenn sie konkurrierende Kirchen kritisierte , ging es ihr nicht darum , über die richtige Auslegung der göttlichen Offenbarung zu streiten. Gegen Katholiken oder Anglikaner erhob sie den Vorwurf , dass ihnen der Mut fehle , die christliche 15 Die Besser-Gebildeten fanden Ngozis Kirche zu schmuddelig. Zudem war es beschwerlich , Gottesdienste zu besuchen , die selbst bei drückender Hitze unter freiem Himmel stattfanden und die man abbrechen musste , sobald tropische Regenschauer die Gläubigen vertrieben. Im Unterschied zu den Gemeindemitgliedern besaßen Kunden , die nur kamen , um die Prophetin unter vier Augen zu sprechen , zuweilen einen höheren sozialen Status. Unter ihnen befanden sich Geschäftsleute und Staatsbedienstete. Auch einige Studenten , die Examen zu bestehen hatten , suchten Ngozis Hilfe. 16 Tambiah 1990 , S. 5. 17 Brenner 1989 , S. 87–92 ; für das Igbo vgl. Arinze 1970 , S. 30.

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Botschaft ernst zu nehmen und mit den heidnischen Mächten zu brechen. Nie habe ich von ihr oder ihren Anhängern den Vorwurf gehört , dass andere Christen das Wort Gottes missverstehen oder es verfälschen würden. Empörend fanden sie höchstens , dass den frommen Worten nicht die entsprechenden Taten folgten. Die etablierten Kirchen hatten sich damit abgefunden , dass ihre Mitglieder neben den Sonntagsgottesdiensten auch Zauberer und heidnische Kultstätten besuchten. Im Gegensatz zu diesen halbherzigen Christen präsentierte sich Ngozi als eine konsequente Kämpferin für ihren Gott , verlangte sie doch , die Relikte der alten Religion restlos zu vernichten. Ihre Kompromisslosigkeit enthielt eine klare Botschaft , die aber weniger durch die Intoleranz des christlichen Monotheismus inspiriert war als durch die millenaristische Logik von Anti-Hexerei-Bewegungen. Sie evozierte die Vision einer dörflichen Gemeinschaft , die von allem Bösen gereinigt war : eine Welt , in der die Menschen einander ohne Argwohn in die Augen schauen konnten , weil sie nicht länger die versteckte Gewalt ihrer Nachbarn zu fürchten hatten. Von dieser Botschaft spiritueller Befreiung fühlten sich vor allem marginale , verarmte und kranke Personen angesprochen. Was sie bewog , Ngozi in eine gefährliche spirituelle Konfrontation zu folgen , waren nicht so sehr die flammenden Reden der Prophetin als der Umstand , dass die junge Frau durch ihr eigenes Schicksal auf dramatische Weise vorgeführt hatte , dass man die Last der Vergangenheit abschütteln kann. Durch die Zerstörung des Adoro-Schreins hatte sie den Fluch , der ihr Leben überschattet hatte , gebrochen. Ihre Anhänger identifizierten sich mit ihr , nicht einfach weil sie über spirituelle Macht verfügte , sondern weil sie sich aus einer Position völliger Schwäche und Verzweiflung hochgekämpft hatte. Sie hatte das Leid und die Entbehrungen , denen die Menschen in Alor Uno ausgesetzt waren , intensiver und tiefer durchlitten als andere. Als eine Ausgestoßene , von allen Verlassene war sie auf die unterste Stufe der sozialen Hierarchie herabgesunken , aber sie hatte die Kraft gefunden , sich aufzurichten und Würde zu gewinnen. Unerschrocken und todesmutig hatte sie sich , im Vertrauen auf die Kraft Gottes , ihren Feinden entgegengestellt und an ihnen Rache genommen. Durch die enge Assoziation mit der Prophetin suchten ihre Anhänger an dieser Kraft zu partizipieren.

4. Besessenheitskulte Den Igbo ist die Vorstellung , dass Wahnsinnige sich in spirituelle Experten verwandeln können , durch ihre vorchristlichen Traditionen vertraut. Die Fä-

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higkeit , als Wahrsager oder Heiler zu wirken , kündigte sich oft durch verstörende Erfahrungen an : durch eine schwere , chronische Krankheit oder durch eine Kette von Unglücksfällen , durch Unfruchtbarkeit oder den frühen Tod der eigenen Kinder , durch Albträume oder epileptische Anfälle , durch abnormes oder wahnhaftes Verhalten. All diese Zustände oder Ereignisse zeigten an , dass sich ein unbekannter Geist in das Leben eines Menschen gedrängt und von dessen Geist und /  oder Körper Besitz ergriffen hatte. Solche spirituellen Interventionen waren nichts Ungewöhnliches ; im Prinzip konnte jeder von ihnen heimgesucht werden. Für den Betroffenen war es in der Regel das Beste , den ungebetenen Gast zu vertreiben oder ihn durch eine einmalige Gabe zufriedenzustellen. Erst wenn die exorzistischen Rituale eines Heilers keinen Erfolg hatten , wählte man andere Therapien. Ein Kranker oder von Unglück Verfolgter , der einen lästigen Geist nicht abschütteln konnte , musste lernen , mit ihm zu leben. Das bedeutete , ihm einen Schrein zu errichten und sich seinen Wünschen wenigstens teilweise zu fügen. Denn der Geist , so schien es , hatte nur deshalb Leid über sein Opfer gebracht , um ihm zu bedeuten , dass er sich vernachlässigt fühlte und rituelle Anerkennung forderte. Um mit einem unbekannten Geist angemessen umzugehen , war es wichtig , seine Identität zu erfahren. Bei der Befragung durch einen religiösen Experten ergab sich nicht selten , dass es sich um einen Agwu-Geist handelte. In solchen Fällen bestand die einzige Kur darin , sich in den Agwu-Kult einweihen zu lassen. Durch die jahrelange Ausbildung bei einem erfahrenen Kultmitglied und die anschließende Initiation wurde der Kranke zu einem Wahrsager (dibia afa) oder einem Heiler (dibia ogwu). Ausgebildete Dibias betrieben ihr je eigenes spirituelles Unternehmen , doch waren sie , wenn auch recht lose und dezentral , zu einer Art Gilde zusammengeschlossen. Da ein erfolgreicher Dibia hohe Einkünfte hatte , suchte er sein Geschäft an einen seiner Söhne zu vererben. Es war deshalb üblich , schon bei Kindern darauf zu achten , ob sie Zeichen einer spirituellen Berufung zeigten : innere Unruhe , exzessives Schreien oder Krämpfe , übermäßige Aggressivität oder ein in sich gekehrtes Wesen. Ein Sohn , der solche Symptome erkennen ließ , durfte seinen Vater bei der Arbeit begleiten und erlernte dabei , je nach dessen Spezialisierung , Techniken der Divination oder das Verfertigen von Zaubermitteln , den Gebrauch heilkräftiger Pflanzen oder das Beschwören von Totengeistern. Bei all diesen Tätigkeiten wurden Dibias von ihrem Agwu-Geist unterstützt , allerdings hatten sie erst mühsam lernen müssen , diesen Geist zu besänftigen und sich gefügig zu machen. Denn vor dem Training zum Dibia konnten die Geister eine so unbändige Macht entfalten , dass Besessene die Kontrolle über sich verloren ,

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bis hin zur Raserei und zur Aggression gegen sich und andere.18 Durch die Ausbildung zum Dibia , mit ihrer Domestizierung des Geistes , kam es zu einer Heilung , die freilich nicht so weit ging , dass der Besessene zu einer normalen Existenz fand. Der Geheilte behielt meist einen etwas exzentrischen Charakter , denn Menschen , die von Agwu-Geistern ergriffen worden waren , hatten nicht viele Optionen : Sie konnten verrückt werden oder – durch das spirituelle Training – nur ein wenig verrückt werden.19 Ihre Ausbildung bestand darin , den kapriziösen Geist in ihr Leben und damit auch in ihre Persönlichkeit zu integrieren. Dazu gehörte , sich den Tabus zu unterwerfen , die ein Agwu-Geist seinem Adepten auferlegte. Zu diesem Zweck musste der angehende Dibia mit Hilfe eines erfahrenen Kultmitglieds den Namen und die Herkunft des Geistes erfahren und ihn befragen , was er von ihm verlangte. Im Gegenzug für den Gehorsam , den er seinem Schutzgeist schuldete , durfte er von ihm spirituellen Beistand erwarten. Zwischen dem Dibia und seinem Agwu entwickelte sich also ein kontraktuelles Verhältnis.20 Um die Kraft zu gewinnen , den Geist zu zähmen und einen geregelten Umgang mit ihm durchzusetzen , musste der Initiant des Agwu-Kults schwere Prüfungen bestehen. Teile seines Körpers wurden mit einer kochenden Flüssigkeit besprenkelt , und in seine Augen träufelte man , um sie zu „öffnen“ , eine stark brennende Tinktur aus Wasser und Pfeffer. Es folgten Tage der Seklusion sowie Riten , die Tod und Wiedergeburt symbolisierten. Eines der Rituale führte den Initianten in den bad bush – damit bezeichnet man bis heute jene Areale von Wildnis , die am Rand jeder Igbo-Stadt zu finden sind.21 Meist nur wenige Hektar groß , sind es die einzigen Flecken unberührten Regenwalds , die sich im Igboland erhalten haben. Hier wurden besonders gefährliche Zaubermittel aufbewahrt , und hier befanden sich die Schreine mächtiger Gottheiten. Die Kräfte der Wildnis waren gefährlich und mit vielen Tabus belegt , doch die Menschen , die ihre Felder immer weiter ausgedehnt und den Dschungel zurückgedrängt hatten , waren auf die Kräfte jenseits der Zivilisation angewiesen. Denn diese Kräfte brachten Leben , Gesundheit , Fruchtbarkeit und Tod. Mit ihrer Hilfe ließ sich die Identität von Hexen , Dieben und Mördern enthüllen und künftiges Unheil vorhersehen. Der Zugang zu diesen 18 „‚Are you seized by Agwu ?‘ it is just like saying , ‚Are you mad ?‘ “ (Metuh 1981 , S. 68 ; vgl. Aguwa 1995 , S. 44 ; Green 1964 , S. 53). 19 Arinze 1970 , S. 64. 20 Aguwa 1995 , S. 55 , 69 f. 21 Aguwa 1995 , S. 72–77 , 95 ; Okorocha 1987 , S. 188.

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spirituellen Ressourcen aber war beschränkt. Er führte über die Götter und Ahnen , denen man opferte , und über charismatische Personen wie die Dibias , die in intensiverem Kontakt mit der Geisterwelt standen als andere Menschen. Agwu-Geister , die mit unbändiger Gewalt ins Leben der Menschen eindringen konnten , waren mit der Wildnis konnotiert. Aber der Kontakt zu ihnen entstand oft im familiären Milieu des Besessenen , denn viele Agwu-Geister wurden in väterlicher und mütterlicher Linie weitergegeben. Jeder Dibia hatte sein eigenes Agwu. Es war kein einheitliches Wesen , sondern setzte sich aus verschiedenen Komponenten zusammen , die der Besessene im Laufe seiner Ausbildung bearbeiten musste. Einige Aspekte seines Agwu wurden kultiviert , andere abgespalten und verworfen.22 Durch die Auseinandersetzung mit dem eigenen , individuellen Geist reifte man zu einem spirituellen Berater und Helfer heran , aber man erwarb nicht die Qualifikation , einen öffentlichen Kult zu leiten. Zwischen einem Dibia und einem Priester (eze alusi) wurde klar geschieden. Priester , die einer Gottheit Opfergaben überreichten und ihr die Wünsche der Opfernden übermittelten , benötigten in der Regel kein längeres Training und keine charismatischen Fähigkeiten. Im Falle Adoros , der Stadtgöttin von Alor Uno , war das Amt des Hauptpriesters im Besitz von Ovoko Ani , einem der 31 Dörfer , und es war stets der älteste Mann des Dorfes , der im Namen seiner Gemeinde das Amt bekleidete. Im Unterschied zu den öffentlichen Götterkulten , die von Städten , Dörfern und anderen politischen Verbänden kontrolliert wurden , betrieben Dibias ein eigenständiges spirituelles Unternehmen , das sie selbst gegründet oder von ihrem Vater übernommen hatten. Ihnen war jeder Kunde recht , ungeachtet seiner sozialen oder ethnischen Herkunft. Erfolgreiche Dibia zogen aus weitem Umkreis Besucher an , doch zu einer Gemeindebildung , wie im Falle Ngozis , ist es wohl nur selten gekommen. Francis Arinze , ein katholischer Geistlicher , sagt über das Verhältnis der Dibias zu ihren Mitbürgern , dass sie mehr gefürchtet als geachtet waren. Sie waren eher ärmlich gekleidet und hatten das Gesicht mit Kalk und gelber Farbe bemalt : „They are rather weird-looking and do so on purpose , probably to impress on people their capacity to ‚see‘ the spirits , and [to put] fear into people“.23 Von Menschen , die heilen konnten , nahm man an , dass sie auch die spirituellen Mittel kannten zu töten. Deshalb trug man Sorge , nicht den Fluch eines Dibias auf sich zu ziehen. Aber Furcht und Respekt lagen

22 Aguwa 1995 , S. 31 , 35 , 87. 23 Arinze 1970 , S. 76.

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nicht weit auseinander.24 Deshalb ist es denkbar , dass Dibias zuweilen eine öffentliche , prophetische Rolle annahmen und eine große Gefolgschaft hinter sich brachten , insbesondere in Krisenzeiten , wenn die etablierten Autoritäten versagten.25 Auch Frauen hatten die Möglichkeit , Dibia zu werden , aber es waren nur wenige , meist ältere Frauen , die Aufnahme in den Agwu-Kult fanden.26 Vielleicht gab es im Igboland auch Besessenheitskulte , in denen Frauen eine dominante Rolle spielten , aber das lässt sich für die vorkoloniale Zeit nicht mehr verlässlich rekonstruieren.27 In anderen Teilen des heutigen Nigeria , insbesondere in den islamisch geprägten Städten des Hausalands , waren solche Kulte weit verbreitet. Die von Frauen kontrollierten Bori-Kulte waren allerdings peripher : abgekoppelt von der herrschenden islamischen Frömmigkeit und ohne Einfluss auf das öffentliche Leben.28 Die Kultaktivitäten blieben weitgehend verborgen , denn die zur Besessenheit neigenden Frauen trafen sich in kleinen Gruppen und veranstalteten ihre Séancen meist im Innern von Kultgehöften.29 Im Kreis von Gleichgesinnten waren sie frei , verbotene Wünsche und Impulse auszuleben , allerdings nur im Modus der Besessenheit , der ein weites Spektrum von Zuständen umfassen konnte : von Trance und Ekstase bis zur steifen Nüchternheit rituellen Handelns.30 In diesem Modus galt , dass alles , was sie sagten oder taten , von fremden Wesen gesagt und getan wurde , so dass die Besessenen keine Verantwortung dafür trugen. Selbst wenn sie beleidigende oder obszöne Äußerungen machten , wurden sie nicht zurechtgewiesen oder bestraft. Die Abwesenheit des Ichs im Zustand der Besessenheit hatte noch eine weitere Konsequenz. Die Besessenen waren an das , was fremde Stimmen aus 24 „People fear me“, sagte Ngozi stolz. 25 Aus anderen Teilen Afrikas ist gut dokumentiert , dass Magier und Wahrsager , auch wenn sie ein sehr deviantes Verhalten zeigten , in Krisenzeiten öffentliche Autorität erwarben. Personen , die Asche oder Fäkalien aßen , stiegen zu Beginn der Kolonialzeit bei den Nuer zu Propheten auf (Johnson 1997). 26 Arinze 1970 , S. 73. 27 Einige Hinweise gibt Achebe 2005. 28 Kramer 1987 , S. 104–112. 29 Zu öffentlichen Auftritten kam es im Rahmen von Hochzeitsfeiern und Namensgebungszeremonien , wenn Bori-Gruppen engagiert wurden , durch ihre Besessenheitstänze die Gäste zu unterhalten (Krings 1998 , S. 29–31 , 42–45). 30 Handeln , das wie ein Ritus inszeniert wird , verlangt eine strenge Kontrolle über den Körper , aber ähnelt der Trance darin , dass es nicht selbstbestimmtes , sondern fremdgeleitetes Handeln ist.

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ihnen sprachen , nicht gebunden. Sie mussten das Gesagte also nicht erklären und deuten , sondern überließen den anderen alle Interpretationsverantwortung.31 Ähnlich wie Wahnsinnige unterlagen sie nicht dem Zwang , sich konsistent zu verhalten und sinnvoll zu sprechen. Sie mussten sich nicht auf das , was sie gesagt und getan hatten , beziehen und sich entsprechend verhalten. Vielmehr konnten sie , ohne Rücksicht auf frühere Handlungen und Äußerungen , nach Belieben reden oder verstummen , weiterreden , sich widersprechen und das eben Gesagte wieder aufheben. Da die Besessenen sich nicht festlegten , wurde ihr Ich nicht fassbar und ließ sich nicht in der symbolischen Ordnung der Realität verorten.32 Die Entlastung von Verantwortung hatte in den Bori-Kulten einen therapeutischen Effekt. Sie schuf einen Raum , in dem das ungelebte Leben sich artikulieren konnte : der Hang zu erotischen Ausschweifungen , Luxusgütern und einem hohen sozialen Status , oder unterdrückte Aggressionen und das Streben nach männlicher Dominanz. Ein weiterer therapeutischer Effekt bestand darin , dass die kollektive Beschäftigung mit spirituellen Kontakten dabei half , das Besessensein zu kultivieren und die wilden , exzentrischen Formen , die es anfangs zeigte , ins Spielerische zu transformieren. Eingebunden in die Interaktion mit anderen Kultmitgliedern kam es zu einer „Konventionalisierung“ der Besessenheit.33 Betrachten wir diesen Prozess , der für alle Besessenheitskulte typisch ist , etwas genauer. Um das unsichtbare Etwas , das sich einer Besessenen bemächtigt hat , zu beeinflussen , musste man es ansprechen können. Ein erfahrenes Kultmitglied versuchte daher , den Namen dieser fremden Macht zu erfahren. Der Akt der Namensgebung setzte voraus , dass es sich bei dem Un31 De Certeau 1991 , S. 196. 32 Die Weigerung , sich in eine soziale Rolle einzufügen und die soziale Ordnung mitzutragen , verbindet die Besessenheit mit dem Wahn (de Certeau 1991 , S. 184– 187). Im Falle Ngozis hatten wir gesehen , dass sie die ihr angetragene Identität nicht annahm. Sie sträubte sich dagegen , Osu zu werden , konnte jedoch keine andere Identität ausbilden , weil nach dem Tod der Eltern niemand sie als Tochter bei sich aufnehmen wollte. Sie irrte umher , aber fand keinen Platz , von dem aus sie sich dauerhaft zu anderen in ein Verhältnis hätte setzen können. Die Erfahrung des Ausgestoßen-Seins verfestigte sich in einer devianten Form der Kommunikation. Aus ihr sprachen Stimmen , die für andere nicht verständlich waren , d. h. sie sprach auf eine Weise , die es vermied , ihre Beziehung zu anderen zu definieren , vgl. Hailey 1981. 33 „Die Hyperkinesen erstarren in Figuren [ …]. Ein anfänglich impulsiver Akt wird zu einem rituellen Element“ (Mühlmann 1972 , S. 74).

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bekannten , das aus der Besessenen sprach , um eine Art Person handelte , mit charakteristischen Eigenschaften , die von einer Séance zur nächsten identisch blieben : „An individual may be possessed sequentially by more than one spirit , but the identity of any given spirit remains consistent“.34 War der Name festgelegt , suchte man dem Geist typische Attribute zuzuweisen , was nur möglich war , indem man die Worte und Gesten der Besessenen genau beobachtete. Der Geist , der selbst nicht sichtbar wurde , wurde also in charakteristischen Sprachund Verhaltensweisen seines Mediums erkennbar. Es entstand ein fester Code , der die Besessene , wann immer sie von diesem bestimmten Geist ergriffen war , in ihren Äußerungen einschränkte.35 Sie konnte sich dieser Festlegung natürlich entziehen , sich also weigern , die Rolle des Geistes weiterzuspielen , indem sie den Code verletzte und etwas anderes aus sich sprechen und handeln ließ. Aber dann gingen die Bemühungen der anderen Kultmitglieder wiederum dahin , dieses Fremde zu identifizieren , d. h. den Namen des Geistes zu erfahren und ihn in ein Netz von Signifikanten einzuspinnen. Die Teilnehmerinnen von Besessenheitskulten lernten , die Äußerungen ihrer Besessenheit so zu modellieren , dass der Geist , der darin wirkte , erkennbar wurde und andere Kultteilnehmer mit ihm kommunizieren konnten. Der Bori-Kult etwa besaß ein Repertoire von mehr als 200 Geistern mit je typischen Rede- und Verhaltensweisen. Zwischen den Medien , die diesen Geistern ihren Körper und ihre Stimme liehen , entwickelte sich eine rituelle Interaktion , die ganz anderen Regeln folgte als die Alltagswelt. In ihr konstituierte sich eine Welt , in der schwache , marginale Personen mit Hochachtung behandelt wurden und Frauen so selbstbewusst und anmaßend auftreten konnten wie Männer. Doch es scheint , die befreiende , heilende Wirkung der Kultsitzungen war recht beschränkt. Für viele war es weniger eine Therapie als ein Ausagieren von Symptomen , das nur vorübergehend Erleichterung verschaffte , denn die pathogenen Lebensumstände , in die die Frauen eingeschlossen waren , änderten sich nicht.36 Die Welt der Besessenheit , die für die Versagungen der realen Welt kompensierte , schien nur eine imaginäre Befriedigung zu gewähren. Doch es wäre falsch , die kollektiven Inszenierungen des Bori , nur weil sie die herrschende Ordnung nicht antasteten , als phantasmagorisch zu verstehen. Die Teilnehmer der Séancen bewegten sich nicht einfach in ihrer je eigenen Phantasiewelt. 34 Lambek 1993 , S. 309. 35 de Certeau 1991 , S. 189 f. 36 Lewis 1978 , S. 76 , 94.

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Mit dem Eintritt in einen Kultzirkel öffnete sich ihnen eine Art Zwischenreich zwischen dem Imaginären und dem Realen (der herrschenden Ordnung). Sie partizipierten an einem rituellen Drama , das zwar deviant war , aber seine eigene Regelhaftigkeit hervorbrachte , die es den Akteuren erlaubte , eingespielte Rollen zu übernehmen und sich in dem Kosmos der Bori-Geister zu verorten. In dem Maß , in dem sich die Besessenen an der rituellen Kommunikation mit anderen beteiligten , waren sie nicht länger eingeschlossen in die Spiegelwelt ihrer individuellen Phantasien oder Eingebungen. Die Konventionalisierung exzentrischen Verhaltens , die jeder Besessenheitskult leistet , zeigt sich besonders anschaulich an dem Personal der Voodoo-Kulte , das sich über Jahrhunderte entwickelt und in viele Länder hinein verbreitet hat. Gemäß den transnationalen Standards der Voodoo-Religiosität tritt eine Person , die von Baron Samedi besessen ist , wie ein morbider , bösartiger Adliger auf und wird von anderen Teilnehmern der Séance entsprechend behandelt. Die Anwesenden erweisen der Person den schuldigen Respekt , zeigen Unterwürfigkeit oder Angst , so als wäre Baron Samedi leibhaftig vor sie getreten. Die bloß eingebildete Identität der Besessenen wird also in dem Maße real , als sie von anderen anerkannt und beglaubigt wird. Im Igboland waren Frauen sehr viel weniger vom öffentlichen Leben ausgeschlossen als in den Städten des muslimischen Nordens. Darin dürfte einer der Gründe liegen , warum periphere weibliche Besessenheitskulte – nach den Berichten der Historiker und Ethnographen – in der vorchristlichen Igbo-Gesellschaft kaum eine Rolle spielten. Frauen hatten die Möglichkeit , als Priesterinnen zu fungieren oder sich in die mächtigsten politischen Verbände , in Geheimgesellschaften , initiieren zu lassen. Sie konnten sich zudem unabhängig von den Männern organisieren , etwa in Zusammenschlüssen von Markthändlerinnen. Da der lokale Handel (im Unterschied zum Fernhandel) von Frauen dominiert war , lag die Verwaltung dörflicher Märkte weitgehend bei den Händlerinnen , die zu diesem Zweck eigene Schreine mit Schutzgottheiten unterhielten. Wie effektiv sich Frauen organisieren konnten , zeigte sich in der frühen Kolonialzeit , als die Proteste von Marktfrauen den bedeutendsten anti-kolonialen Aufstand im Igboland auslösten. Während der Aba Women’s Riots 1929 beteiligten sich , nach Angaben der Kolonialverwaltung , Zehntausende von Frauen daran , koloniale Einrichtungen zu zerstören und die von Briten eingesetzten Häuptlinge zu attackieren.37 Regierungsethnologen und Distriktoffiziere , die von der Vehemenz der Proteste überrascht waren , hoben 37 Leith-Ross 1965 , S. 26 f. ; Gailey 1971 , S. 107–133.

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den irrationalen Charakter der Bewegung hervor und behaupteten , die Beteiligten hätten sich in eine Art Wahn (frenzy) hineingesteigert.38 Züge von Besessenheit waren zwei Jahre zuvor , bei einer militanten , von Frauen getragenen Bewegung am Rande des Igbolands , sehr viel deutlicher hervorgetreten. Aber hier handelte es sich , im Gegensatz zu den Aba Riots , um eine christliche Erweckungsbewegung , die von frisch konvertierten Anhängern einer protestantischen Mission ausging : “It took the form of a religious hysteria , and bands of Christian converts , most of whom were women , went about the country declaring themselves to be inspired , destroying objects sacred to the pagans , and torturing those who refused to confess their sins. Some of the victims were bound with thongs tightened with levers , and after water had been poured over them they were left to die. [ …] The subjects rolled their eyes , contorted their limbs , foamed at the mouth , and fell into a frenzy. The condition appeared to be contagious and a whole village sometimes became affected by contact with a single ‚inspired’ individual.”39

Weibliche Besessenheit war nicht in die Sphäre häuslicher Rituale eingeschlossen , wie in den Bori-Kulten , sondern suchte die Konfrontation mit den herrschenden Kulten und wurde , zumindest auf Dorfebene , zur Bedrohung für die soziale Ordnung. Einer anderen christlichen Erweckungsbewegung , die sich – zehn Jahre zuvor – ebenfalls gegen heidnische Zaubermittel und Kultgegenstände gerichtet hatte , war es gelungen , innerhalb von Monaten Zehntausende von jugendlichen Anhängern zu mobilisieren. Ihr Führer , Garick Braide , war ein anglikanischer Laienprediger , der sich zu einem ekstatischen Propheten und Wunderheiler entwickelte. Er war ein Ijaw aus dem Nigerdelta , aber seine Bewegung breitete sich bis ins südliche Igbogebiet aus , und in ihr waren Frauen „überraschend stark“ vertreten.40 Die meisten Kolonialbeamten und Missionare deuteten die militante , enthusiastische Religiosität der Braide-AnhängerInnen als ein pathologisches Phänomen , als weder christlich noch traditionalistisch , sondern einfach nur destruktiv : „The movement , a kind of negro Mahdism , all but paralysed trade , undermined Government authority and Christian influence , made a holocaust of untold numbers of 38 Meek 1937 , S. IX ; Leith-Ross 1965 , S. 26. 39 Meek 1937 , S. 86. 40 Ludwig 1992 , S. 305.

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irreplaceable cult objects , and wiped out of existence nearly all the principle Jujus [Schreine]“.41 Ngozis Kirche ähnelte , was die Herkunft ihrer Mitglieder betrifft , einem peripheren Kult. Die meisten Besucher ihrer Gottesdienste waren soziale Außenseiter. Unter jenen , die in Trance gerieten oder andere Formen der Besessenheit zeigten , dominierten Frauen , und es schien zuweilen , als würden sie Regungen ausleben , die ihnen sonst verboten waren. Vor allem die Prophetin selbst nahm sich das Recht , sich ihren Eingebungen zu überlassen , ohne Rücksicht auf die Regeln , die für eine Frau ihres Alters galten. So sah ich , wie sie , in einer Art improvisiertem Strafritual , Männer wie Frauen zwang niederzuknien und sie mit Ruten schlug , einem von ihnen die Füße fesselte und ihn über einen Sandplatz hüpfen ließ , andere mit Schmutz bewarf und Öl über sie schüttete.42 Auch andere Frauen zeigten gelegentlich ein recht aggressives , gewalttätiges Verhalten , freilich mehr in einer gespielten , pantomimischen Form. Besessenheit äußerte sich in sehr vielfältigen , expressiven Formen , aber es kam nicht , wie in den Bori-Kulten , zu einer Kommunikation der Geister. Statt die spirituellen Kräfte zu befragen und mit ihnen zu interagieren , überließ man die Besessenen sich selbst. Es hieß , in allen , die auf dem Gebetsplatz in Trance gerieten und bizarre Riten vollführten , wirke stets der Heilige Geist. Diese radikale Reduktion der Geisterwelt auf ein einziges spirituelles Wesen war nur möglich , weil man den Worten der Besessenen nicht zuhörte und ihre expressive Mimik und Gestik nicht zu verstehen suchte. Die Exkommunikation der Besessenen fiel jedoch nicht weiter auf , weil ihnen gestattet war , an den Heilungsritualen mitzuwirken. Sie konnten mit anderen Gläubigen interagieren und ihre spirituelle Kraft – die nicht weiter definiert , sondern einfach als Heiliger Geist bezeichnet wurde – weitergeben. Mit der Behauptung , nur vom Heiligen Geist ergriffen zu sein , verwahrten sich die Kirchenmitglieder gegen den Verdacht , mit dämonischen Mächten zu verkehren. Da Ngozi die Fähigkeit besaß , Hexen zu identifizieren oder Regen zu vertreiben , wurde ihr nachgesagt , selbst eine Hexe zu sein oder mit Hilfe von Mami Water Spirits Magie zu betreiben. Um solchen Gerüchten entgegenzutreten , musste die Prophetin zeigen , dass sie , im Unterschied zu ihren Gegnern , mit reinen Waffen kämpfte. All die Requisiten christlicher Frömmigkeit – seien es Bibelsprüche oder Kirchenlieder , heiliges Wasser oder die weißen Gewänder der Gläubigen – dienten dazu , ihr Respektabilität zu 41 District Commissioner P. A. Talbot , in Ludwig 1992 , S. 325. 42 Vgl. die Tagebuchaufzeichnungen vom 14.4.1996, in Harnischfeger 2013.

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verschaffen. Die Berufung auf den Heiligen Geist hatte aber nicht nur eine defensive Funktion. Sie delegitimierte alle anderen Quellen spiritueller Macht und gab der Mission die Rechtfertigung , die Kulte ihrer Gegner zu zerstören. Im Namen des christlichen Monotheismus verlangte Ngozi , dass ganz Alor Uno sich ihrer Säuberungskampagne unterwerfe. Die spirituellen Impulse , die sie empfing , wirkten also , anders als in den peripheren Kulten , über den Gebetsplatz hinaus. Das Christentum ermächtigte sie , bei der Rückkehr in ihren Heimatort ins Zentrum der politischen Macht vorzudringen.

5. Eine neue Identität Ngozis Mission präsentierte sich , ähnlich wie die urchristlichen Gemeinden der Antike , als ein pneumatischer Kult.43 Die Attraktivität ihrer Gottesdienste lag unter anderem darin , dass sie der Besessenheit viel Raum ließ und sie kaum reglementierte.44 Das Wirken des Heiligen Geistes , an dem alle unmittelbar partizipieren konnten , schuf ein Gefühl der Verbundenheit zwischen Ngozi und ihren Anhängern. Doch trotz dieser spirituellen Nähe war die Prophetin den anderen entrückt , denn als eine von Gott erwählte Person war sie mehr als eine bloß temporär Besessene. Verglichen mit anderen jungen Frauen der Mission geriet Ngozi nur selten in Trance , und wenn , geschah es in einer recht verhaltenen , kontrollierten Weise. Doch dafür schien sie in allem , was sie sagte oder tat , göttlich inspiriert zu sein. Während die übrigen Gläubigen durch ihre Körpersprache klar erkennen ließen , ob sie sich im Zustand der Besessenheit befanden oder nicht , gab es im Leben der Prophetin keine Phasen , in der die Kraft Gottes oder des Heiligen Geistes nicht in ihr präsent gewesen wäre. Da sie auf extremere Weise als andere mit der Welt der Geister konfrontiert worden war , hatten die spirituellen Begegnungen oder Erschütterungen ihre Persönlichkeit völlig verändert. Ihre Anhänger verfolgten daher aufmerksam all ihre Worte und Gesten , so als könne sich jede ihrer Äußerungen als bedeutsam erweisen. Ngozis ungewöhnliche Stellung zeigte sich bereits in ihrer äuße43 Leutzsch 1997. 44 Darin ähnelte Ngozis Mission anderen unabhängigen Kirchen in Nigeria : „There is in most of the prophetic Churches a mad rush to acquire these supernatural powers and [ …] there is complete freedom to make use of spiritual gifts thus acquired [ …]. Ecstatic manifestations could therefore take any form” (Ndiokwere 1981 , S. 77 , 84).

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ren Erscheinung. Während die übrigen Frauen der Mission züchtig gekleidet waren , häufig in lange , weiße Gewänder , trat Ngozi oft nur spärlich bekleidet auf : mit BH und einem dünnen weißen Unterrock. Bisweilen war sie auch in Lumpen gehüllt , so dass sie jenen Verrückten ähnelte , die verwahrlost durch die Straßen liefen. Das charismatische Christentum verspricht den Gläubigen , dass sie mit der Vergangenheit brechen und ein neues Leben beginnen können. Ngozi verkörperte diese Selbstbefreiung auf beeindruckende Weise. Seit sie sich Gott geweiht hatte , war sie nicht länger einsam und verlassen , sondern die Menschen drängten sich , ihr nahe zu sein. Dabei hatte sie in ihrer äußeren Erscheinung und ihrem Verhalten viele Züge ihrer früheren Existenz bewahrt. So wie in ihrer Kindheit und Jugend lief sie auch nach ihrer Berufung zur Prophetin immer wieder davon und war oft für Tage oder Wochen nicht aufzufinden. Manchmal zog es sie in den Busch , und sie schlief über Nacht außerhalb der menschlichen Siedlungen im Freien. Oder sie reiste , ohne jemandem Bescheid zu geben , an weit entlegene Orte. War sie in Alor Uno , im Kreis ihrer Getreuen , zeigte sie ebenfalls ein unstetes Verhalten und überraschte ihre Umgebung mit immer neuen , rätselhaften Handlungen. Bei einer Ausfahrt aus der Missionsstation ließ sie den Wagen nach wenigen Metern anhalten , ging zu den nahegelegenen Marktständen , nahm sich eine Handvoll Getreide , das sie in die Luft warf , so dass die Körner auf sie herabrieselten , und stieg wieder in den Wagen. Dabei sprach sie kein Wort , denn sie hatte sich eine Kerze in den Mund gesteckt , und diese Kerze behielt sie während der Fahrt stets im Mund , selbst als der Wagen an einer Polizeisperre angehalten wurde. Die Polizisten schauten sie irritiert an , aber wagten es nicht , sie anzusprechen und eine Erklärung zu verlangen. Durch ihre Transformation in eine Prophetin hatte sie gelernt , sich eine sozial akzeptierte Rolle anzueignen , aber es war Teil dieser Rolle , sich anormal und unberechenbar zu verhalten. Ngozi war durch ihre Bibellektüre mit der Idee vertraut , dass Propheten sich nicht an soziale Konventionen hielten , und sie erinnerte in ihren Predigten an drastische Beispiele : an Jesaja , der auf Geheiß Gottes drei Jahre lang nackt war , sowie an einen anderen Propheten , der angeblich ein Ziegenfell trug. Auch Ngozi hatte sich , nach eigenem Bekunden , während eines Aufenthalts in der Millionenmetropole Kano in ein Ziegenfell gehüllt. Eine andere biblische Kleidung , auf die sie in ihren Predigten Bezug nahm , war das grobe , sackleinene Gewand , das im Zusammenhang mit Sühneritualen erwähnt wird. Um es zu imitieren , ließ sie sich aus zwei Plastiksäcken eine Art Kleid verfertigen. Passend dazu trug sie den

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Kopf kahlgeschoren und schmierte sich zuweilen Sand oder Salz aufs Haupt. In ihren Predigten gab sie für ihr merkwürdiges Aussehen eine theologische Begründung : Manche Leute meinten , sie sei verrückt , weil sie fast nackt herumlaufe. Aber sie tue es nur , weil Gott es ihr befohlen habe. Würde sie sich schöne Kleider anlegen , brächte das Verderben über die Menschen. Sie habe sich verpflichten müssen , Gott drei Jahre lang zu dienen. Während dieser Zeit könne sie kein normales Leben führen , sondern müsse stets tun , was Gott von ihr verlange. Erst nach Ablauf dieser Frist werde sie schöne Kleider tragen , heiraten und Kinder aufziehen. Neben der Ankündigung , nach der Prophetenkarriere ein gewöhnliches Familienleben zu führen , deutete sie aber auch eine andere , grandiosere Zukunft an : Wenn ihre Verpflichtungen in Nigeria erfüllt seien , werde sie in ferne Länder reisen , um anderen Völkern das Wort Gottes zu künden. Gott habe ihr vorausgesagt , dass sie viele Idole zerstören werde.45 Indem Ngozi auf biblische Vorbilder verwies , konnte sie viele Aspekte ihres Verhaltens legitimieren. Sie verglich sich mit Moses , der sich und seinem Volk auf dem Weg zum Gelobten Land viele Entbehrungen habe auferlegen müssen , und mit dem Propheten Micha , dem Jahwe aufgetragen habe , einen unerbittlichen Kampf gegen die Idolatrie zu führen.46 Neben diesen offiziellen Vorbildern , die ihr geholfen hatten , sich in eine christliche Prophetin zu verwandeln , hatte Ngozi sich noch von vielen anderen Bildern und Ideen inspirieren lassen. Der Kampf gegen Zauberer und Schreinpriester , auf den sie ihre prophetische Karriere gründete , war ein wichtiges Motiv in nigerianischen Spielfilmen , die damals in Form von Videokassetten auch in ländlichen Regionen zirkulierten. Diese frühen Nollywood-Filme , die Ngozi und viele ihrer Anhänger gut kannten , boten viel Gelegenheit , sich mit christlichen Kämpfern gegen das Böse zu identifizieren. Denn die Filme stellten die verborgene Welt des spiritual warfare ähnlich dar , wie die Pfingstkirchen es taten : als einen dramatischen Kampf zwischen Gut und Böse , Christentum und Heiden45 Ogbu 2012b. 46 Für das Zerstören von Schreinen , auch im großen Stil , liefert das Alte Testament viele Vorbilder : „The Book of Joshua is a chronicle of massacre , exulting in the wiping out of one population after another [ …] on the grounds that they were idolaters who would lead the children of Israel astray from the worship of the Lord” (Hastings 2003 , S. 31). Im Buch Micha erhebt Jahwe den Kampf gegen andere Kulte zu einer Art globalem Programm : „Ich will deine Götzenbilder und Steinmale aus deiner Mitte ausrotten , daß du nicht mehr anbeten sollst deiner Hände Werk [ …]. Und ich will mit Grimm und Zorn Vergeltung üben an allen Völkern , die nicht gehorchen wollen“ (Micha 5 , 12 und 14).

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tum.47 Als ich mit Ngozi „Living in Bondage“ und andere Nollywood-Filme anschaute , erklärte sie mir , dass die Begebenheiten darin nicht erfunden seien. Sie selbst sei mehrmals von verzweifelten Klienten konsultiert worden , die einen Pakt mit dämonischen Mächten abgeschlossen hatten und die nun durch die Prophetin Erlösung suchten. Eine weitere inoffizielle Quelle , aus der sich Ngozis Vorstellungen einer prophetischen Laufbahn speisten , war die Welt der traditionellen Wahrsager und Heiler , die sie aus der Patientenperspektive kannte. Die alten Besessenheitskulte der Dibia waren zwar verfallen , aber für Ngozi und ihre Gemeinde war es noch eine vertraute Idee , dass Wahn und Krankheit eine spirituelle Berufung ankündigen können und dass die Heilung erst eintritt , wenn man dieser Berufung folgt , sich also durch eine Art Vertrag an einen Geist bindet , von dem man Schutz und übernatürliche Kräfte empfängt , dem man aber auch dienen muss. Mir scheint , dass Ngozis Konstruktion einer prophetischen Identität , ohne dass es ihr bewusst war , noch durch einen weiteren Ideenkomplex geprägt war , der mit Wahrsagerei und anderen spirituellen Begabungen nichts direkt zu tun hatte : die Kultsklaverei. In der Vorstellung , einem Gott dienen zu müssen , wiederholte sich das Trauma ihrer Kindheit , die Übereignung an Adoro. Für diese Deutung spricht , dass Ngozi ihren „Dienst“ für den christlichen Gott als ein Opfer definierte. So wie den Osu , die sie in diesem Kontext freilich nicht erwähnte , war es ihr nicht erlaubt , ein normales Leben zu führen. Sie erklärte zudem , dass sie (ähnlich wie die Osu) unschuldig leide : Sie müsse spärlich bekleidet in Sack und Asche gehen , nicht um für eigene Sünden zu büßen , sondern für die Sünden anderer. Der Schmutz und die dürftige Kleidung mahnten an Wahnsinnige , die die Kontrolle über ihr Leben verloren hatten und sich verwahrlosen ließen. Doch Ngozis Büßergewand erinnerte auch an die Verwilderung und rituelle Unreinheit , zu der man die Kultsklaven einst gezwungen hatte. Als unschuldige Opfer , die man dem Zorn der Götter preisgegeben hatte , waren die Osu dazu verdammt gewesen , ein Leben am Rande der menschlichen Zivilisation zu führen. Ihre Siedlungen hatten sich meist im bad bush befunden , in der Nähe mächtiger Schreine. Ngozi , die unter ihren Mitmenschen nicht heimisch werden konnte , hatte sich ebenfalls in dieser Grenzregion bewegt. Selbst nach ihrer Berufung zur Prophetin zog es sie immer wieder fort von den Menschen , in den Busch , so als habe der Fluch Adoros weiterhin Kraft über sie. Da Ngozi an vielen Eigenheiten ihrer Kindheit festhielt , stellt sich die 47 Meyer 2004.

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Frage , inwieweit die Karriere als Prophetin sie von ihrem Wahn geheilt hat. Die alten Zwänge wirkten offenbar fort , nur wurden sie umgedeutet , so dass Ngozi , trotz des Gefühls , ein Opfer spiritueller Kräfte zu sein , sich mit den Versagungen abfinden konnte. Die Gottesknechtschaft hatte ihren Schrecken verloren ; sie war nicht Schande , sondern Zeichen der Erwähltheit. Durch die Konstruktion einer prophetischen Identität wurde es ihr möglich zu akzeptieren , dass sie anders war als die Menschen um sie herum. Hilfreich war sicher auch , dass die christliche Botschaft ihr ein Interpretationsschema gab , um den ungewöhnlichen Lauf ihres Lebens zu verstehen. Sie konnte die verstörenden , überwältigenden Erfahrungen , die sie aus der Bahn geworfen hatten , in eine sinnvoll strukturierte Lebensgeschichte einfügen.48 Die Lektüre der Heiligen Schrift gab ihr die Gewissheit , dass ihr Wahn kein Stigma war , sondern Teil einer gottgewollten Bestimmung. Denn gerade die bedeutendsten religiösen Gestalten , die Propheten des Alten Testaments , zeichneten sich durch ihr deviantes Verhalten aus. Sie waren , nach dem Urteil Max Webers , Ekstatiker mit einer starken Neigung zu „pathologischen Handlungen“: „Das Gesicht der Propheten verzerrt sich , wenn der Geist über sie kommt , der Atem versagt , sie stürzen zuweilen betäubt , zeitweilig des Sehens und der Sprache beraubt , zu Boden , winden sich in Krämpfen (Jes. 21). Sieben Tage lang dauerte bei Hesekiel (3 , 15) eine Lähmung nach einem seiner Gesichte. Die Propheten vollziehen seltsame , als ominös bedeutsam gedachte , Handlungen. Hesekiel baut sich wie ein Kind aus Ziegelsteinen und einer eisernen Pfanne ein Belagerungsspiel. Jeremia zerschmettert öffentlich einen Krug , vergräbt einen Gürtel und gräbt ihn verfault wieder aus , läuft mit einem Joch auf dem Nacken umher , andere Propheten mit eisernen Hörnern oder , wie Jesaja während längerer Zeit , nackt. Wieder andere , so nach Sacharja , bringen sich Wunden bei , noch anderen wird eingegeben , ekelhafte Nahrung zu sich zu nehmen , wie dem Hesekiel. Ihre Verkündigungen schreien sie (karah) bald laut in die Welt : teils in unverständlichen Worten , teils in Verwünschungen , Drohungen , Segnungen : manchem läuft dabei der Geifer aus dem Munde (hittif , ‚geifern‘ = prophezeien) , bald murmeln sie oder stammeln.“49 48 Traumatische Erfahrungen , wie sie Ngozi seit der Kindheit erlitten hatte , bewirken , dass die moralische Ordnung zerbricht (oder gar nicht erst feste Gestalt annimmt). Erst die christliche Botschaft brachte ihr Gewissheit : Was man ihr angetan hatte , war böse. 49 Weber 1988 , S. 300 f.

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In die Überzeugung , berufen zu sein , mischten sich bei Ngozi Züge von Größenwahn. Nach ihrem Sieg über Adoro erklärte sie , dass Gott sie dazu bestimmt habe , nicht in Alor Uno zu bleiben , sondern die ganze Welt zu lehren. Es werde die Zeit kommen , da sie mit einer Polizeieskorte in einem großen Konvoi von Autos durchs Land reisen werde. Jehova habe ihr vorhergesagt , dass die Menschen darum kämpfen werden , mit ihr in körperlichen Kontakt zu kommen , um errettet zu werden. Und genau das sei bereits geschehen. In dem Videofilm , den sie gleich nach der Zerstörung des Adoro-Schreins am 11. Februar 1995 drehen ließ , ist in der Tat zu sehen , wie Menschen sich an sie drängten , um mit der Hand ihren Körper zu berühren.50 Ngozis exzentrische Selbstinszenierung und das Vermessene ihrer Ansprüche stießen das Publikum nicht ab. Ihre Mitstreiter folgten ihr in gefährliche Situationen , ohne die Angst , dass eine Wahnsinnige sie in die Irre führen könnte. Kunden , die sich nicht ihrer Gemeinde anschlossen , hatten natürlich ein distanzierteres Verhältnis zu ihr. Manche mochten nicht die Art , wie sie sich kleidete , aber sie waren bereit zu akzeptieren , dass eine gottgesandte Person gute Gründe hatte , keine normale Kleidung zu tragen : Vielleicht war es ein Zeichen , dass ihr nicht an materiellem Erfolg gelegen war.51 Ngozi hatte sich eine neue Welt erschaffen , in der sie als Erlöserin im Mittelpunkt stand. Diese Welt wurde in dem Maße real , wie sie von anderen beglaubigt wurde. Unter den Mitgliedern der Gemeinde und oft auch unter fremden Besuchern wurde es üblich , sich der Prophetin demütig zu nähern und bei der Begrüßung vor ihr niederzuknien. Ngozi war , wann immer sie wollte , von ein oder zwei Dienern umgeben , die jeden ihrer Befehle auf der Stelle ausführten. Indem sich die Mitglieder ihrer Gemeinde ehrerbietig zeigten , stabilisierten sie die Identität , die Ngozi sich erdacht hatte. Zugleich aber veränderten sie diese Identität , indem sie ihr zu verstehen gaben , was sie von einer Prophetin erwarteten. Um Anerkennung zu finden , musste Ngozi diese Erwartungen wenigstens zum Teil erfüllen. Die charismatische Interaktion zwischen Ngozi und ihrer Gefolgschaft hatte wichtigen Anteil an der Gestaltung der prophetischen Identität und damit am Übergang von Wahn zu Prophetie. Betrachten wir zum Vergleich einen 50 Siehe den Videofilm (Ogbu 2012 , 18. Minute). Ngozis Aussagen über ihre Zukunft als Prophetin finden sich in Ogbu 2013 . 51 Ngozi hatte den Ruf , weniger auf Geld bedacht zu sein als andere christliche Wahrsager und Heiler. Sie verlangte kein Honorar , sondern akzeptierte , was ihr die Kunden beim Abschied als Geldgeschenk überreichten.

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Fall , in dem eine charismatische Interaktion nicht zustande kam : die viel diskutierte Krankengeschichte von Daniel Paul Schreber , der in einer Psychiatrie eingeschlossen war , wo er niemanden von seiner religiösen Mission überzeugen konnte , der aber seine Erfahrungen mit der Geisterwelt aufgezeichnet und 1903 als Buch veröffentlicht hat. So wie viele andere Patienten , die von Ärzten als psychotisch , schizophren oder paranoid diagnostiziert wurden , sah sich Schreber in engem Kontakt mit göttlichen Mächten und machte reli­ giöse Mitteilungen.52 Er war überzeugt , mehr „Gottesstrahlen“ anzuziehen als andere Menschen und deshalb für die Erlösung der Menschheit von zentraler Bedeutung zu sein.53 Sein göttliches Gegenüber , das sich durch unterschiedliche Stimmen äußerte , bestand aus verschiedenen Komponenten , die Schreber genau benannte und in ihrem Verhältnis zueinander beschrieb : der obere Gott Ormuzd , der untere Gott Ahriman und andere , niedere Wesen. Dieses System himmlischer Wesen , das in Schrebers Buch breit ausgeführt wird , war eine Art Privatmythologie , die niemand mit ihm teilte. Die Konstruktion einer überschaubaren spirituellen Welt hatte jedoch eine ähnlich stabilisierende Funktion wie das System von Geistern , in das die Teilnehmer von Besessenheitskulten initiiert wurden. Zwar wird die Geisterwelt , von der Psychotiker berichten , üblicherweise mit dem Wahn identifiziert , unter dem sie leiden , aber die Krankengeschichte Schrebers illustriert , dass die religiöse Systembildung bereits Teil eines „Heilungsvorgangs“ war.54 Sie setzte ein , nachdem sich die Beziehungen zur Außenwelt aufgelöst hatten und der Kranke in einer Flut unverständlicher Zeichen zu versinken drohte. Auch wenn Schrebers „Rekonstruktion“55 nur eine wahnhaft entstellte Welt hervorbrachte , wirkte sie stabilisierend , weil sie half , das Gewirr von Stimmen und visuellen Eindrücken zu strukturieren. Die Welt , die der Kranke wahrnahm , gewann an Kohärenz , indem die Dinge sich ordneten. Für ihn war real , „was immer an demselben Platz wiederkehrt“.56 52 Auch im säkularen Europa und Nordamerika neigen Psychotiker dazu , religiöse Wahngebäude zu errichten. In den geschlossenen Abteilungen psychiatrischer Kliniken gibt es , nach dem Urteil eines Experten , keine Atheisten , vgl. Grotstein 1979 , S. 409. 53 Daniel Paul Schreber : Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken ; zit. nach Freud 1999 , S. 248 , 250 , 252 , 262 , 315. 54 Freud 1999 , S. 308 ; Lacan 1975 , S. 100 f. 55 Freud 1999 , S. 308. 56 Lacan 1975 , S. 106. – Die Konstruktion einer religiösen Ordnung , die dem Kranken Halt gibt , hat im Wahn wie in der Prophetie den Charakter einer Kom-

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Der Versuch , Halt zu finden , indem man sich im Zentrum einer religiösen Ordnung imaginiert , verbindet als ein charakteristisches Merkmal Wahn und Prophetie. Ein wichtiger Unterschied aber fällt ins Auge. Während Ngozi ihre religiösen Mitteilungen an die christliche Lehre anzupassen suchte , entwarf Schreber eine ganz abseitige religiöse Kosmologie. Eingeschlossen in sein Krankenzimmer fügte er sein religiöses Universum ganz allein , ohne die Anleitung anderer religiöser Experten , aus diversen mythischen , philosophischen und naturwissenschaftlichen Quellen zusammen. Aber auch außerhalb der Psychiatrie wäre er mit seiner Geisterwelt allein geblieben , denn in seiner Gesellschaft fanden religiöse Experten , die ihre Erkenntnisse göttlichen Stimmen verdankten , kein Gehör. Im heutigen Igboland dagegen teilen die meisten Bürger ein spirituelles Weltbild , das dem der Bibel ähnelt.57 Für die Bewohner Alor Unos war es vorstellbar , dass eine junge Frau Wunder wirkte und göttliche Botschaften verkündete. Um die Menschen zu überzeugen , dass Gott aus ihr sprach , musste sie freilich lernen , ihre Eingebungen im Idiom christlicher Spiritualität auszudrücken. Das bedeutete , ihre Worte und Gesten stärker zu kontrollieren als in der Zeit ihres Wahns. Sie gewann mehr Autonomie über ihren Körper und ihre Gedanken , und diese Selbstdisziplinierung ermöglichte ihr , auf die Wünsche und Ansprüche ihrer Gesprächspartner angemessener einzugehen. Für Schreber waren die Menschen , die er erlösen sollte , nur die imaginäre Kulisse seines Größenwahns. Für Ngozi hingegen wurden die Mitmenschen real , sofern sie in ihrer Wahrnehmung ein Eigenleben entwickelten und sich ihren Phantasievorstellungen nicht fügten. Ngozi musste den Mitgliedern ihrer Gemeinde zuhören , auf ihre Probleme eingehen und Streitigpromissbildung. Sie gestaltet sich als imaginäre Versöhnung widerstreitender psychischer Kräfte. Im Falle Ngozis hatten wir gesehen , dass sie sich damit aussöhnte , einer Gottheit dienen zu müssen. Im Zentrum von Schrebers Wahngebäude stand ein ähnlicher Kompromiss. In früheren Phasen seines Wahns , der eine stark erotische Komponente hatte , sträubte er sich gegen sein homosexuelles Begehren und reagierte darauf mit dem Verfolgungswahn , er solle entmannt werden. Doch mit der Ausgestaltung seiner religiösen Ordnung gelangte er zu der Erkenntnis , dass Gott selbst die Verwandlung in ein Weib von ihm verlangte. Durch die „Befruchtung mit göttlichen Strahlen“ sollte er die Erde mit „neuen Menschen“ bevölkern (zit. nach Freud 1999 , S. 253). Er spürte , wie sein Körper sich in einen weiblichen Körper verwandelte , aber er sah darin nicht mehr eine Schmach , gegen die er sich auflehnte , sondern einen gottgewollten Prozess , der ihn über gewöhnliche Menschen erhob. 57 Kalu 1996 , S. 31.

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keiten zwischen ihnen schlichten. Der enge Kontakt hatte für Ngozi den Vorteil , dass die Menschen um sie herum ihre Konstruktion einer prophetischen Identität bestätigten. Ihr Selbstbild als göttliche Wundertäterin und ihre reale soziale Existenz begannen übereinzustimmen. Doch indem ihre Anhänger sie auf eine bestimmte Rolle festlegten , übten sie Druck auf sie aus , sich konsistent zu verhalten. Ngozi fand sich in ein Netz von Ansprüchen und Erwartungen eingebunden , und es scheint , dass sie diese Zwänge oft nicht ertrug. Immer wieder entzog sie sich den Verpflichtungen , brach ihre Versprechen und lief davon. Im Nachhinein rechtfertigte sie ihr unberechenbares Verhalten damit , dass sie einer höheren Autorität habe gehorchen müssen : Sie konnte nicht , wie angekündigt , zum Gottesdienst erscheinen oder ein großes Fest ausrichten , weil Gott ihr befahl , nach Kano zu reisen oder die Nacht in Fasten und Gebet in einem Cassava-Feld zu verbringen. Das ständige Sich-Berufen auf den Willen Gottes war für sie bequem , aber auch riskant. Ihre Anhänger konnten die Erklärungen der Prophetin zwar nicht offen in Zweifel ziehen , aber sie konnten sich von Ngozi abwenden und sie mit ihren göttlichen Offenbarungen allein lassen. Um nicht als verrückt zu gelten , musste sie darum kämpfen , gehört zu werden.

6. Kampf um Anerkennung Die Mitglieder der Gemeinde hatten klare Vorstellungen davon , wie die Prophetin ihre Talente einsetzen sollte. Sie sollte ihnen Gesundheit , Wohlstand und Fruchtbarkeit bringen  und feindliche spirituelle Einflüsse vertreiben. Als Leiterin der Gemeinde musste Ngozi sich Zeit nehmen für die Nöte ihrer Schutzbefohlenen und dabei viele lästige Verpflichtungen auf sich nehmen. So wurde von ihr erwartet , dass sie in regelmäßigen Abständen das Wasser segnete , das Anhänger und Besucher der Mission in Plastikkanistern auf den Gebetsplatz stellten. Zu diesem Zweck berührte sie das Wasser in jedem Gefäß mit ihrem Zeigefinger oder sie nahm ein Plastikschwert zur Hand und tauchte dessen Spitze in das Wasser. Ihr Alltag als Prophetin bestand aus vielen solchen Routinetätigkeiten , die ihr Leben einengten. Die größte Belastung aber waren die vielen Besucher , die ihre persönlichen Probleme mit ihr besprechen wollten. Um sich vor der Zudringlichkeit der Menschen zu schützen , zog sie sich oft in ihr Zimmer zurück , oder sie ging aus dem Dorf hinaus in ein Gebüsch , wo ihre Vertrauten sie vor dem Publikum abschirmten und nur vereinzelt Bittsteller vorließen. Besucher fanden es befremdlich , dass Ngozi ihre Kunden

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manchmal im Freien empfing , aber ihnen wurde gesagt , dass die Prophetin keinen Lärm vertrage. Damit ihre Visionen fließen , müsse sie Ruhe haben. Da sie keine festen Sprechzeiten hatte , mussten Kunden oft stundenlang warten , ohne die Gewissheit , noch vorgelassen zu werden. Manchmal wurden sie auf den nächsten Tag vertröstet , um dann wiederum vergebens zu warten. Es sprach sich herum , dass viele enttäuscht wieder abreisten , und so nahm der Andrang an Besuchern allmählich ab. Wer dennoch in einer dringlichen Angelegenheit nach Alor Uno kam , erhielt häufig die Auskunft , Ngozi sei überraschend verreist , und niemand könne sagen , wohin und für wie lange. Ihre Reinigungskampagne , die ganz Alor Uno von Idolen befreien sollte , hatte Ngozi schon im April 1995 ohne Begründung abgebrochen. Vielleicht spürte sie , dass sie in ihrer Heimatstadt ihr Reservoir ausgeschöpft hatte. Das Heidentum ließ sich nicht ausmerzen , und viele Christen , die Ngozi anfangs unterstützt hatten , glaubten nicht mehr , dass das Einsammeln von Jujus einen nachhaltigen Wandel bewirken werde. In jenen 17 Dörfern , die bereits gesäubert worden waren , begannen die Bewohner wieder , sich Jujus zuzulegen , und sei es nur , um sich zu schützen. Denn nach einer kurzen Phase der Euphorie regte sich wieder die alte Angst , dass ihre Nachbarn oder Angehörige ihnen durch verborgene Mittel zu schaden suchten. Ngozis Anhänger konzentrierten sich darauf zu verhindern , dass der Adoro-Kult wieder auflebte , aber sie konnten nicht ein zweites Mal die Privathäuser nach Jujus durchsuchen. Die millenaristische Begeisterung war zum Teil verflogen , und da Ngozis religiöse Bewegung dabei war , sich in eine Kirche zu transformieren , richtete sich der Blick mehr nach innen : auf das soziale Leben der Gemeinde und das Wohlergehen ihrer Mitglieder. Hätte Ngozi sich mehr um die Anhänger in Alor Uno gekümmert , wäre es ihr möglich gewesen , gestützt auf einen Kreis loyaler Helfer ein erfolgreiches Heilerzentrum aufzubauen. Doch es trieb sie immer wieder davon , und damit gefährdete sie den Fortbestand der Gemeinde. In privaten Gesprächen erklärte sie , dass ihr die Menschen zu viel seien. Sie kämen nur deshalb zu ihr , weil sie sich davon Vorteile versprächen. Während ihrer Kindheit habe das ganze Dorf sie verstoßen , doch nun würden selbst Verwandte , die sie damals aus dem Haus getrieben hätten , ihre Gottesdienste besuchen. Bei der Erinnerung an das vergangene Leid brach zuweilen eine heftige Verbitterung aus ihr heraus. Sie sprach von der Boshaftigkeit der Menschen , nicht nur in Alor Uno , sondern auch in Awkuzu und anderen Orten. Nigeria sei das schlimmste Land auf Erden. Sie wolle weit weg , denn in Nigeria werde sie nie Ruhe finden. Die Reisen weg aus Alor Uno brachten ihr keinen Frieden , sondern führten

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sie nur in neue Auseinandersetzungen. In der Millionenmetropole Kano , im islamischen Norden , gab es keine heidnischen Schreine zu zerstören , aber sie fand andere Prüfungen , die sie zu bestehen hatte. Auf den Befehl Gottes hin zog sie zum Bompai Rock , harrte wochenlang auf dem Felsen aus und trotzte dabei der Sonne und den tropischen Wolkenbrüchen. Selbst die Nächte verbrachte sie dort und schlief auf dem nackten Stein. Trotz dieser eremitischen Existenz brachte sie auch auf Bompai Rock andere gegen sich auf , in diesem Fall andere Prediger und Propheten. Ihre Rivalen hetzten die Polizei auf sie ; sie wurde in eine Zelle gesperrt , wo sie aber weiter predigte und den Polizisten die Zukunft voraussagte , bis man sie laufen ließ. Ähnlich wie in Kano geriet sie auch bei anderen Missionsreisen in Gefahr. In Awkuzu , wo sie anfangs nur zwei Begleiter um sich hatte , wurde sie tätlich angegriffen. Man riss ihr die Kleider vom Leib und schlug mit Stöcken auf sie ein. Auch von einer Reise nach Alor Agu kehrte sie mit Verletzungen zurück , weil die Traditionalisten dort nicht zulassen wollten , dass sie heidnische Kultstätten zerstörte. Selbst in Alor Uno , wo sie den stärksten Rückhalt besaß , suchten die Traditionalisten sie mit Gewalt zu stoppen. Zu diesem Zweck heuerten sie vom nahegelegenen Campus eine Gruppe von 15 Studenten an , die einem Geheimkult namens Black Axe angehörten. Bewaffnet mit Äxten und einer Pistole tauchten die Angreifer plötzlich auf dem Marktplatz auf und stürzten sich auf den Kreis um Ngozi , mussten dann aber vor der Übermacht ihrer Anhänger flüchten. Ngozi sprach davon , dass die Studenten den Auftrag hatten , sie zu exekutieren. Ähnliche Vorwürfe richtete sie gegen den Polizeichef von Nsukka : Er habe einen Zivilpolizisten geschickt , um sie zu töten. Ein weiterer Angriff auf ihr Leben wurde angeblich von einer Gruppe Soldaten verübt , auf dem Marktplatz von Alor Uno , als Ngozis Anhänger den Sieg über Adoro feierten. Die Szene ist in dem Film festgehalten , den sie nach der Erstürmung des Schreins drehen ließ. Mitten während der Feierlichkeiten sieht man , wie Uniformierte sich dem Marktplatz nähern. Es fallen Schüsse , Menschen rennen in Panik davon , an einigen Stellen kommt es zu einem Handgemenge und junge Männer schlagen aufeinander ein.58 Ngozi ist nirgends zu sehen , und sie behauptete später , Gott habe sie rechtzeitig gewarnt , so dass sie dem Anschlag entgehen konnte. In ihren Predigten sprach sie häufig von der Verfolgung , die sie im Namen Gottes habe erdulden müssen. Dabei hob sie hervor , dass sie den Nachstellungen ihrer Feinde stets entkommen sei. All die Anschläge auf ihr Leben seien misslungen , nicht weil sie – Ngozi – so stark sei , sondern weil Gott hinter ihr 58 Ogbu 2012 , 16. Minute.

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stehe. Alles , was sie tat , tat sie im Auftrag Gottes , und deshalb konnten ihre Gegner ihr nichts anhaben. In diesem Zusammenhang erinnerte sie an biblische Propheten wie Micha , die sich nicht einschüchtern ließen , sondern mit Gottes Hilfe alle Verfolgungen überstanden. Im Alten Testament findet sich in der Tat ausgiebig beschrieben , wie die Gesandten Gottes verhöhnt , verfolgt und geschlagen wurden. Aber sie verloren nie den Glauben an ihre Mission und fanden dadurch in entscheidenden Momenten göttliche Hilfe. In ähnlicher Weise schien auch Ngozi überzeugt , dass sie Gott auf ihrer Seite habe , solange sie nur konsequent seinen Befehlen folge. Ihre Anhänger hatten ihr göttliches Mandat anerkannt und sich ihrem spirituellen Schutz unterstellt. Doch ihre Gegner , die Traditionalisten , behaupteten gegenüber der Polizei und der Lokalverwaltung , dass sie verrückt sei. Gegenüber dieser Diffamierung blieb ihr nur , das Zeugnis Gottes anzurufen. Solange der biblische Gott ihr die Kraft gab , mächtige Kultstätten wie den Adoro-Schrein zu zertrümmern , konnte sie keine Wahnsinnige sein. Die Frage , welche der beiden Parteien Recht hatte , entschied sich im Kampf gegeneinander. Wahrheit war eine Frage der Macht. Im Vertrauen auf die Überlegenheit des christlichen Gottes forderte Ngozi ihre Gegner heraus , um sie zu zwingen , ihre prophetische Identität anzuerkennen. Wie in einer nicht enden wollenden Kette von Ordalen setzte sie sich immer neuen spirituellen und physischen Gefahren aus , damit Gott stets aufs Neue bestätigte , dass sie wirklich in seinem Auftrag handelte. Die von ihr erdachte Welt , in der sie als Erlöserin fungierte , sollte von allen anerkannt und damit real werden. Ihr Wirken als Prophetin führte sie daher vor allem an Orte , in denen sie bereits gelebt hatte und wo man sie als eine Verfluchte und Wahnsinnige kannte. In Alor Uno , Awkuzu , Kano , Itchi und Unadu bestand ihre Mission wesentlich darin , die eigene radikale Umdeutung der Realität öffentlich durchzusetzen : Nicht sie war unrein und verflucht , sondern ihre Gegenspieler , die Traditionalisten. Ngozis Rebellion hat die Unterscheidung zwischen rein und unrein also nicht aufgehoben , sondern einfach umgekehrt. All die Idole , die sie in Alor Uno konfiszierte und in der Mitte des Ortes zur Schau stellte , wurden als rituell unrein definiert und entsprechend behandelt. Statt sie gleich auf dem Marktplatz zu verbrennen , trug man sie zunächst aus der Stadt heraus und verbrannte sie an einem gefährlichen , verrufenen Ort , der von Menschen gemieden wurde , weil hier ein Ritualmord und andere Verbrechen geschehen waren. Neben Objekten wurden auch Personen , die mit dem Heidentum konnotiert waren , als rituell unrein behandelt. Nachdem Ngozis entschiedenster Widersacher – Ngwu Ogbu , dem sie die Strafe Gottes prophezeit hatte – tatsächlich starb , drängte

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sie darauf , ihm eine ordentliche Bestattung zu verweigern , so wie man den Opfern Adoros stets ein ehrenhaftes Begräbnis verweigert hatte. Die vielen Kämpfe , in die sie sich verzettelte , waren dem Bemühen , eine Kirche aufzubauen , oft nicht förderlich. Dass sie sich wochenlang in Awkuzu aufhielt und dabei auch heidnische Kultstätten entweihte , hatte nicht den Zweck , dort ein zweites Mal eine Gemeinde aufzubauen ; es diente eher dazu , eine Art private Fehde gegen ihren früheren Ehemann zu führen. Ihre Anhänger in Alor Uno , die sich oft allein gelassen sahen , betrachteten die unentwegten Kampagnen mit Missvergnügen. Immer wieder hatten sie potentielle Kunden , die nach Alor Uno gekommen waren , zurückweisen müssen , weil die Prophetin nicht da war. In ihrer Abwesenheit fanden zwar weiterhin Gottesdienste statt , und einige Gemeindemitglieder boten spirituelle Dienstleistungen an , für die die Hilfesuchenden ein wenig Geld zahlten : Waschungen mit Heiligem Wasser , Handauflegen , Gebetsheilungen und manchmal auch Wahrsagerei. Aber es gab niemanden , der ähnlich erfolgreich wahrsagen und heilen konnte wie Ngozi , und so entgingen der Mission in ihrer Abwesenheit viele Einnahmen. Unter dem Rückgang der Einnahmen litt vor allem der innere Kreis der Gemeinde : ein bis zwei Dutzend Personen , die in der Missionsstation oder in nahe gelegenen Häusern untergebracht waren und die an den gemeinschaftlichen Mahlzeiten teilnahmen. Da sie neben ihrer Präsenz in der Mission keiner anderen Beschäftigung nachgingen , waren sie auf Ngozis materielle Unterstützung angewiesen.59 Viele vermissten auch Ngozis spirituellen Beistand. Vor allem wenn wichtige Entscheidungen anstanden – bei Gerichtsterminen , Verhandlungen mit den Behörden oder Vollversammlungen der Alor Uno Town Union – , bedauerte man , ohne Ngozis Rat auskommen zu müssen. Doch es ist zweifelhaft , ob Ngozis Anwesenheit bei offiziellen Anlässen eine große Hilfe gewesen wäre. Bei den Gerichtsprozessen gegen Angehörige der Mission , die wegen Raub , Nötigung und Sachbeschädigung angeklagt wurden , ging es häufig um Verfahrensfragen : um die Herausgabe von Akten und Ähnlichem. Beklagte wie Zeugen verstanden oft nicht , was verhandelt wurde , und ließen sich den Ver59 Mit den Einkünften der Mission ließ Ngozi Lebensmittel kaufen , um den inneren Kreis der Mission zu versorgen. Doch nicht alles an Einnahmen wurde geteilt. Einen Teil investierte sie in ihr Kirchenunternehmen , indem sie die Jehovah Messiah Alleluyah Hossana Mission für eine sehr hohe Gebühr in der Hauptstadt Abuja staatlich registrieren ließ und indem sie Land erwarb , um darauf Kirchengebäude zu errichten.

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lauf der Gerichtssitzungen im Nachhinein von den Anwälten erklären. Auch Ngozi wäre mit den undurchsichtigen Regeln des staatlichen Rechtssystems nicht besser zurechtgekommen als andere Dorfbewohner. Als sie zu einer Polizeibehörde nach Lagos geladen wurde , um dort vernommen zu werden , versuchten einige Geschäftsleute aus Alor Uno , die Ngozis Mission mitfinanzierten , sie für ihren Auftritt zu präparieren : Sie solle in einem sauberen , weißen Gewand erscheinen , um nicht den Gerüchten Vorschub zu leisten , dass sie verrückt sei. Außerdem solle sie sich auf keinen Fall nachsichtig zeigen und ihren Gegnern verzeihen. Man habe viel Geld investiert , um in Lagos das Verfahren gegen den Häuptling und andere Traditionalisten anzustrengen. Deshalb wolle man sicherstellen , dass die Angeklagten nicht mit einer Ermahnung davonkommen. Doch Ngozi zog es vor , zu dem Polizeitermin gar nicht erst zu erscheinen. Und sie erschien auch nicht , als die Behörden in Nsukka sie und ihre Gegner zu einem Vermittlungsgespräch luden. Mit offiziellen Dingen mochte sie nichts zu tun haben , so dass sie es an andere delegierte , Briefe und Petitionen zu schreiben und sich mit Rechtsanwälten zu besprechen. Sie führte die Gläubigen in eine gefährliche Konfrontation , aber kümmerte sich wenig um die juristischen Konsequenzen. Ngozis Anhänger waren gewohnt , ihren Anweisungen zu folgen. Da die Prophetin im Namen Gottes auftrat , konnten sie sich ihrer Autorität nicht offen widersetzen. Im Konfliktfall blieb nur die Möglichkeit , sich von ihr zurückzuziehen. Unmut über Ngozis Verhalten regte sich am ehesten , wenn sie wochenlang nicht nach Alor Uno kam. Bei einer ihrer vielen Reisen rief sie aus dem 600 Kilometer entfernten Lagos an und verlangte , dass man ihr Emmanuel schicke , den sie gerne als Diener um sich hatte. Doch ihre Brüder und andere prominente Mitglieder der Gemeinde in Alor Uno stimmten überein , Emmanuel nicht zu ihr reisen zu lassen , denn man wollte Ngozi veranlassen , aus Lagos zurückzukommen. Die langen Phasen der Abwesenheit führten dazu , dass einige ihrer Anhänger das Interesse an der Mission verloren. Außerdem entstand das Problem , dass Ngozi nur noch unzureichend über die Geschehnisse in Alor Uno informiert war. Wenn sie von einer Reise zurückkehrte , besprach sie sich ausgiebig mit ihren Brüdern und anderen Informanten. Dennoch hat sie die lokalen Machtkonstellationen manchmal falsch eingeschätzt , denn sie traf schwerwiegende Fehlentscheidungen. Bei ihrer Rückkehr aus Kano im Februar 1996 erfuhr sie , dass der Häuptling von Alor Uno einige Bäume , die nicht ihm , sondern der Gemeinde gehörten , an einen Holzhändler verkauft hatte , um mit den Einnahmen Polizisten zu bezahlen , die dafür acht Mitglieder der Mission inhaftierten. Erbost darüber ,

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dass ihre Anhänger und andere Bürger Alor Unos es zugelassen hatten , dass der Häuptling sich illegal Geld verschafft hatte , gab sie Anweisung , die Stände auf dem Marktplatz von Alor Uno abzureißen. Ihre Anhänger führten den Befehl aus , doch waren sie , ohne es offen zu sagen , überzeugt , dass Ngozis Strafaktion falsch war. Denn sie traf weniger ihre Gegner als Personen , die zur Mission gehörten oder mit ihr sympathisierten. Niemand in Alor Uno fand legitim , was Ngozi getan hatte , und das gab ihren Gegnern Gelegenheit , in die Offensive zu gehen. Dutzende von Jugendlichen zogen , Kampflieder singend , zum Gebetsplatz der Mission und zertrümmerten dort ein noch unfertiges Gebäude , in dem Ngozi ein Heilerzentrum hatte einrichten wollen. In den Tagen danach sprach Ngozi davon , Rache zu nehmen. Sie sei lange genug nachsichtig gewesen ; nun werde sie entschieden gegen ihre Gegner vorgehen. Doch mit ihren Brandreden konnte sie keine zusätzlichen Unterstützer mobilisieren. Sie strahlte keine Zuversicht aus , nur unbeherrschte Wut. Am 11. März griffen die Traditionalisten wieder an , und diesmal drangen sie in die Missionsstation und einige umliegende Häuser ein , so dass Ngozi und mehr als hundert ihrer Anhänger aus Alor Uno fliehen mussten. Eine Woche später waren sie zurückgekehrt , und das Machtgefüge verschob sich langsam wieder zu ihren Gunsten. Aber es war klar , dass keine Seite die andere verdrängen konnte. Ngozi hat noch einige Jahre an verschiedenen Orten ihren Kreuzzug weitergeführt. Noch kurz vor ihrem Tod , am 25. Dezember 1999 , zerstörte sie in Enugu Ezike , 25 Kilometer nördlich von Alor Uno , einen bedeutenden Schrein. Sie starb dort wenige Tage nach dem Angriff , aber nicht durch äußere Gewalteinwirkung , sondern durch eine Krankheit. Als die Leiche in Alor Uno eintraf , weigerte sich die Gemeinde , Ngozi zu bestatten , in der Hoffnung , dass sie nach drei Tagen wieder auferstehen werde. Nachdem das nicht eintrat , behaupteten sie , Ngozi habe ihren Tod vorausgesagt und sei im Einklang mit sich und ihrem Gott gestorben. Doch die meisten Bürger Alor Unos , Christen wie Traditionalisten , deuteten den frühen Tod als eine Niederlage. Adoro – oder irgendeine andere Gottheit , mit der Ngozi sich angelegt hatte , – hatte sich als stärker erwiesen. Gegen das Bild der Prophetin als einer Gescheiterten hat ihre Gemeinde keinen überzeugenden Gegen-Mythos entwerfen können. Ihr Tod ließ sich nicht verherrlichen. Immerhin ist ihre Kirche damals nicht auseinandergefallen. Sie wird bis heute von ihren Brüdern weitergeführt. Amobi , der als Pastor wirkt , teilt sich die Leitung mit Chijioke , der den Titel eines Propheten trägt.

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Vorbestimmung , Eroberung und buddhistischer Herrschaftsanspruch in Geschichte und Politik der Singhalesen Jakob Rösel

Nichts , so scheint es , liegt dem Buddhismus ferner als Gewalt und Prophetie. Nicht nur die Erlösungslehre , der edle achtfache Weg , und die Sozialethik , die fünf Vorschriften , fordern Gewaltlosigkeit , „Nicht-Töten“, Ahimsa. Der Begründer selbst , der „Erleuchtete“, ist kein Prophet in der begriffs- und stilprägenden Tradition des Monotheismus des Vorderen Orients : Er warnt , droht , verflucht , verwünscht oder bannt nicht. Weder führt oder richtet er seine Anhänger noch kritisiert , demaskiert oder denunziert er Könige und Kaufleute , die Herrscher oder einfach nur die Reichen. Er begründet auch keine dementsprechende ethische oder sozial engagierte Tradition. Allenfalls lässt sich der Buddha im Sinne Max Webers als exemplarischer Prophet bezeichnen : Er strebt zwar ausschließlich nach dem eigenen Seelenheil , der Überwindung der Ich-Gebundenheit ; er kann und will allerdings nicht verhindern , dass ihm dabei Anhänger und Schüler nachfolgen. Diese schreiben ihm Autorität und übersinnliche Kräfte zu. Sie erheben schließlich sein Leben , seine Lehre , seine Erlösungstechnik , nicht nur zu ihrem Vorbild.1 Diese Einschätzung des Buddhismus kann sich vordergründig auf viele Plausibilitätsannahmen und auf historische Tatsachen stützen. Im Falle Sri Lankas , des ersten außerhalb (Nord)Indiens gelegenen vorgeblichen Missionsgebiets , liegen die Dinge anders. Hier wurde die Ankunft des Buddhismus – vermutlich Jahrhunderte nach dem Geschehen – zu einem bis heute fortwirkenden fünfteiligen Mythos umgearbeitet : In ihm spielen prophetische Vorhersagen , eine buddhistische Prädestination und die Darstellung und Rechtfertigung von Gewalt – gegen Glaubens- und heute gegen Volksfeinde – eine zentrale Rolle. Diese außerordentliche Mythenarbeit soll im Folgenden über drei Schritte dargestellt werden : Prophetie und Gewalterfahrung – im Eroberungs- und Bekehrungsmythos der „Singhalesen“; Zerstörung und Wiederbelebung des Buddhismus ; Praxis 1

Weber 1972 , S. 273.

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und Rechtfertigung von Gewalt – im transformierten Buddhismus , also im aktuellen singhalesischen Nationalismus.

I. Gewalterfahrung und Prophetie auf der Dharma-Insel Der künftig „Erleuchtete“ wird als Prinz in einem kleinen nepalesischen Herrschergeschlecht um 563 v. Chr. geboren. Nach seinem „großen Auszug“ durchwandert er jahrelang die Ebenen des mittleren Ganges-Tales , des späteren Bihar – abgeleitet von „vihara“, Kloster. Nach Wochen findet er , unter einem Pipalbaum bei Gaya meditierend , schließlich zur befreienden Erkenntnis. Die letzten Jahrzehnte seines Lebens durchzieht er meditierend und lehrend weiterhin die Region , insbesondere das Regionalreich von Magadha. Immer mehr Anhänger , der Grundstock einer künftigen Sangha , Gemeinde , folgen ihm. Um 483 v. Chr. stirbt er bei Kushinagara in Nepal. Er erreicht damit das Maha-Pari-Nirvana. Alles an diesem lakonischen Lebensweg ist entweder Element oder Erfindung der späteren Buddhalegenden. Unter der unübersehbaren Schar der Varianten und Zäsuren dieser Legendenbildung nehmen aber die mehr als ein halbes Jahrtausend nach der Ankunft des Buddha festgelegten Chroniken Sri Lankas eine Sonderstellung ein. Diese „Inselüberlieferung“ – Dipavamsha – und eine elaborierte , später geschriebene „große Überlieferung“ – Mahavamsha – sind im vierten und im sechsten Jahrhundert auf Sri Lanka , vermutlich in der Hauptstadt Anuradhapura , von Mönchen verfasst worden. Beide Chroniken , vor allem das Dipavamsha , gehen auf verlorene , frühere Schriften und Überlieferungen zurück.2 Beide Chroniken haben weit über Sri Lanka hinaus Bedeutung erlangt. Sie verbinden die Geschichte des Buddhas mit der Geschichte der Insel und der frühen Geschichte Nordindiens. Darüber hinaus relativieren sie ein altes Vorurteil : Vor der Ankunft des Islam habe es in Südasien keine ernstzunehmenden Chroniken , keine Geschichtsschreibung gegeben. Den beiden „Vamshas“ liegt eine bis heute fortdauernde Tradition der Guten Werke , des „Verdienstmachens“ (Punyakarma /  Pinkama) zugrunde. Solche Guten Werke wurden frühzeitig memoriert , rezitiert und sehr bald notiert. Der Buddhismus ist eine Mönchslehre , die von Anfang an auf die Patronage durch Laien , vorrangig Herrscher und Kaufleute , angewiesen ist. Herrscher und Kaufleute können nicht damit rechnen , sich unmittelbar befreien , erlösen zu können – das kann nur der 2

Oldenberg 1879 ; Geiger 1912 / 1950.

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Vollordinierte , der Mönch. Sie können aber gutes Karma , guten Verdienst akkumulieren – durch „Merit Making“, „Punyakarma“. Gutes Karma verhilft zu besserer Wiedergeburt und damit zu erhöhten Klostereintrittschancen – die traditionell nur den höheren Kasten , auf Sri Lanka nur der dominanten Bauernkaste , der Goyigama , und der Aristokratie vorbehalten waren. Gutes Verdienst kann darüber hinaus wie Geld auch geteilt , verteilt und übertragen werden. Es ist deshalb wichtig , dass die Guten Werke memoriert und am Ende niedergeschrieben werden : in Verdienstbüchern , Punya Pothis. Auf der Ebene von Königen und einer Dynastie lag es nahe , diese einzelnen Bücher zu einer , am Ende Jahrhunderte umspannenden Chronik der ganzen Dynastie zusammenzufassen. Zugleich konnten die Chroniken um weitere , nicht nur ethische und karitative , sondern militärische und politische Leistungen des Herrschers erweitert werden. Dipavamsha und Mahavamsha bilden damit formal die Kompilationen von vermutlich Dutzenden ursprünglichen Verdienstbüchern. Sie enthalten aber in ihrer Endfassung sehr viel mehr : In mal archaischer und lakonischer , mal elaborierter und poetisch korrekter Form beschreiben die beiden Chroniken , wie der Buddha unmittelbar nach seiner kosmischen Erkenntnis beginnt , das fern gelegene Sri Lanka dreimal zu besuchen. Die Chroniken heben eine zukunftsträchtige Koinzidenz hervor : Während der sterbende Buddha die Insel zu seiner künftigen „Dharma-Insel“ bestimmt , beginnt der auf Sri Lanka gestrandete „Siegreiche“, „Vijaya“, mit seinen 700 Gefolgsmännern die Insel zu erobern. Vijaya ist „Sinhala“, der Löwengleiche , der von einem Löwen abstammende Führer der Inseleroberer , der „Singhalesen“. Vijaya sichert sich aus Südindien , aus Madurai , reine , „tamilische“ Bräute – seine einheimische Konkubine , die Hexe Kuvanna , wird verstoßen. Die Ureinwohner , die Veddas , werden vertrieben und fast ausgerottet. Schließlich , in einem dritten ausführlichen Abschnitt , schildern die Chroniken den Machtaufstieg der Mauryas in Nordindien. Dieser bildet den Hintergrund für die Darstellung der Karriere des Imperators Ashoka (ca. 273–232 v. Chr.). Dabei akzentuieren die Chroniken , wie der böse Ashoka zum guten Ashoka wird – Kalashoka /  Dharmashoka – , und sie widmen der Missionsexpedition , die dieser erste buddhistische Imperator nach Sri Lanka entsendet haben soll , eine ausführliche Darstellung. Die Chroniken bleiben aber mit der harmonisierenden Bekehrungs- und Klosterbaugeschichte nicht stehen. Die Missionsgeschichte erweitert sich rasch zur Schilderung eines homerischen Kampfes – zwischen einem südindischen , allerdings weisen Usurpator Elara (145–101 v. Chr.) und einem vertriebenen singhalesischen heldenhaften Königssohn Dutugemunu (101–77 v. Chr.). Mit der Verherrlichung des

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Siegs und der Bauanstrengungen Dutugemunus enden die Chroniken. Die auf Dutugemunu folgenden Herrscher werden in aller Kürze stereotyp und fast statistisch abgehakt. Als diese in Pali , der Mönchssprache , verfassten Chroniken zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Hochland von Sri Lanka (wieder)entdeckt wurden , waren sie eine Sensation : Sie warfen nicht nur ein Schlaglicht auf die gesamte Inselgeschichte – das Mahavamsha wurde bis zur Ankunft der Briten ab dem 6. Jahrhundert kontinuierlich weitergeschrieben , als Culavamsa , kleine Chronik. Die Chroniken gaben auch eine erste Einsicht in die bislang unbekannte Geschichte des Buddhismus und Nordindiens vor dem Alexanderzug 326 v. Chr. Darüber hinaus boten sie eine ausführliche Darstellung des Imperators Ashoka. Bislang war Ashoka nur durch seine schwerverständlichen Säulenund Felsenedikte den frühen Indienhistorikern bekannt gewesen.3 Auch wenn zwischen der Niederschrift der Chroniken und der für das zweite vorchristliche Jahrhundert vermuteten Ankunft des Buddhismus mehr als 500 Jahre liegen , so verweist der Besuchs- , Abstammungs- , Eroberungs- , Missions- und Befreiungsmythos auf entscheidende Bilder und Motive , die beim Verständnis der frühen Inselgeschichte helfen können. Vor allem aber fügen sich die fünf Mythen und Entwicklungszäsuren zu einer Meistererklärung zusammen , die zumindest heute , eventuell aber bereits seit mehr als einem Jahrtausend entscheidende Gruppen der singhalesischen Gesellschaft – Hof , Aristokratie , Sangha – prägen und mobilisieren konnte. Da die fünf Bestandteile des Mythos seit fast einem Jahrhundert zur Grundlage einer Ideologie des singhalesischen Nationalismus oder „Sinhala-Buddhismus“ geworden sind , lohnt es sich , sie im Folgenden genauer zu betrachten. Es handelt sich dabei 1. um die Besuche und schließlich Prophezeiung des Buddha , 2. um die nordindische , heute „indo-arische“ und löwenhafte Herkunft Vijayas und seiner Gefolgsleute , 3. um die Eroberung der Insel und die Errichtung einer korrekten Herrschaftsordnung , 4. um die buddhistische Mission und die Errichtung eines prototypischen sakralen Zentrums Anuradhapura , schließlich 5. um die ebenfalls prototypische Rückeroberung des Reiches, des Rajaratha, durch Dutugemunu und die Tötung des tamilischen Gegners , des Königs Elara. 3

Keay 1988 , S. 19–63 ; Allen 2002 , S. 140–217.

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Die fünf Motive ergänzen sich zu einer Magna Charta , mit deren Hilfe die Vorrangstellung des Buddhismus und des Ordens ebenso wie der Herrschaftstitel der jeweils herrschenden Dynastie gerechtfertigt werden konnten. Diese buddhistische und dynastische Meistererzählung war aber weit davon entfernt , einen ethnischen Nationalismus , die Mission und die Sonderstellung eines Löwenvolkes ideologisch und vor allem wissenschaftlich , historisch begründen zu können. Diese außerordentliche Umarbeitung erfolgte erst im 19. Jahrhundert , also im Rahmen des britischen Kolonialstaates , einer neuen Sprach- und Geschichtswissenschaft und eines zunehmend anti-imperialistischen Reformbuddhismus.4 Bei der folgenden Darstellung beziehe ich mich ausschließlich auf das Mahavamsha , weil es die sehr viel ausführlichere , wenn auch glattere und stärker rationalisierende Fassung des Gründungsmythos enthält. „That (Mahavamsha) which was compiled by the ancient (sages) was here too long drawn out and there too closely knit ; and contained many repetitions. Attend ye now to this (Mahavamsha) that is free from such faults , easy to understand and remember , arousing serene joy and emotion and handed down (to us) by tradition , – (attend ye to it) while that ye call up serene joy and emotion (in you) at passages that awaken serene joy and emotion.“ (MV I , Vers 2–4)

Inselbesuche und Prophezeiung : Dreimal besucht der „Tathagata“ die glänzende Insel , denn : „Lanka was known to the conqueror as a place where his doctrine should (there after) shine in glory ; and (he knew that) from Lanka , filled with the yakkha (Dämonen J. R.) , the yakkhas must (first) be driven forth.“ (MV I , Vers 20)

Der Buddha besucht deshalb im neunten Monat nach der Erleuchtung , am Vollmondtag des zehnten Monats des Mondkalenders , Lanka ; später , im fünften Jahr seiner Buddhaschaft , begibt er sich wieder nach Sri Lanka , am Upasatta-Tag , der dunklen Mondhälfte des Monats Citta , diesmal zu einer im Norden vermuteten Neben(halb)insel , der Nagadipa – vermutlich das heutige Jaffna ; schließlich , im achten Jahr der Buddhaschaft besucht er mit 500 4

Gombrich 2002 , S. 172–197.

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Mönchen zur Stunde des Mittagsmahls , am zweiten Tag des Monats Veshaka , Kalyani , eine beim heutigen Colombo gelegene Inselgegend. Diese Besuche dienen jeweils dem Exorzismus der Dämonen , ihrer Bekehrung und Belehrung und vorrangig der Berührung und Heiligung – durch Sitzen und Meditieren – der jeweiligen Dämonen- oder Schlangenorte. Denn an diesen Punkten sollen künftig die wichtigsten Stupas , Viharas und damit Wallfahrtsorte der Insel entstehen. Besonders eindrücklich ist der erste Besuch , denn er dient einem dramatischen Kehraus , einer , wie die Nationalisten heute glauben , ethnischen Säuberung : „And he knew also that in the midst of Lanka , on the fair river bank , in the delightful Mahanaga garden , three yojanas long and a yojana wide , the (customary) meeting-place for the yakkhas , there was a great gathering of (all) the yakkhas dwelling in the island. To this great gathering of that yakkhas went the Blessed One , and there , in the midst of that assembly , hovering in the air over their heads , at the place of the (future) Mahiyangana-thupa , he struck terror to their hearts by rain , storm , darkness and so forth. The yakkhas , overwhelmed by fear , besought the fearless Vanquisher to release them from terrors , and the Vanquisher , destroyer of fear , spoke thus to the terrified yakkhas : ,I will banish this your fear and your distress , O yakkhas , give ye here , to me with one accord a place where I may sit down.‘ The yakkhas thus answered the Blessed One : ,We all , O Lord , give you even the whole of our island. Give us release from our fear.‘ Then , when he had destroyed their terror , cold and darkness , and had spread his rug of skin on the ground that they bestowed on him , the Conqueror , sitting there , made the rug to spread wide , while burning flame surrounded it. Daunted by the burning heat thereof and terrified , they stood around on the border. Then did the Saviour cause the pleasant Giridipa to come here near to them , and when they had settled there , he made it return to its former place. Then did the Saviour fold his rug of skin ; the devas assembled , and in their assembly the Master preached them the doctrine. The conversion of many kotis of living beings took place , and countless were those who came unto the (three) refuges and the precepts of duty.“ (MV I , Vers 21–32)

Der Buddha vertreibt oder terrorisiert nicht nur die den Dämonen gleichgesetzten Adivasis , also die Ureinwohner , die seit Jahrhunderten in den Dschungel abgedrängten Veddas. In der Stunde seiner Erlösung erhebt er auch formal die Insel zu seiner künftigen Dharma-Insel :

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„When the Guide of the World , having accomplished the salvation of the whole world and having reached the utmost stage of blissful rest , was lying on the bed of his nibbana , in the midst of the great assembly of gods , he , the great sage , the greatest of those who have speech , spoke to Sakka who stood there near him : ,Vijaya , son of king Sihabahu , is come to Lanka from the country of Lala , together with seven hundred followers. In Lanka , O lord of gods , will my religion be established , therefore carefully protect him with his followers and Lanka.‘ When the lord of gods heard the words of the Tathagata he from respect handed over the guardianship of Lanka to the god who is in colour like the lotus (Vishnu). And no sooner had the god received the charge from Sakka than he came speedily to Lanka and sat down at the foot of a tree in the guise of a wandering ascetic. And all the followers of Vijaya came to him and asked him : ,What island is this , sir ?‘ ,The island of Lanka ,‘ he answered. ,There are no men here , and here no dangers will arise.‘ And when he had spoken so and sprinkled water on them from his water-vessel , and had wound a thread about their hands he vanished through the air. And there appeared , in the form of a bitch , a yakkhini who was an attendant (of Kuvanna).“ (MV VII , Vers 1–9)

Das wichtigste Vermächtnis des sterbenden Buddhas ist es damit , die LankaInsel unter allen anderen buddhistischen Königreichen herauszuheben. Lanka , nicht Nordindien , Magadha wird damit zur wahren Terra sancta des Buddhismus. Die Prophezeiung unterstreichend , setzt zeitgleich die Eroberung und Besiedelung der Insel durch einen löwenabgestammten Herrscher und dessen Gefolgsleute ein. Damit diese sich der noch verbliebenen Dämonen erwehren können , werden sie durch weiße Magie , durch Schutzschnüre am Handgelenk – eine uralte indische Volkssitte – geschützt. Dem von einem Löwen abgestammten Helden gilt aber jetzt die ganze Aufmerksamkeit der Chronik. Vijaya – Löwenenkel und Inseleroberer : Ausführlich schildert das Mahavamsha eine außerordentliche Geschichte : „In the country of the Vangas in the Vanga capital there lived once a king of the Vangas. The daughter of the king of the Kalingas was that king‘s consort. By his spouse the king had a daughter , the soothsayers prophesied her union with the king of beasts. Very fair was she and very amorous and for shame

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the king and queen could not suffer her. Alone she went forth from the house , desiring the joy of independent life ; unrecognized she joined a caravan travelling to the Magadha country. In the Lala country a lion attacked the caravan in the forest , the other folk fled this way and that , but she fled along the way by which the lion had come. When the lion had taken his prey and was leaving the spot he beheld her from afar , love (for her) laid hold on him , and he came towards her with waving tail and ears laid back. Seeing him she bethought her of that prophecy of the soothsayers which she had heard , and without fear she caressed him stroking his limbs. The lion , roused to fiercest passion by her touch , took her upon his back and bore her with all speed to his cave , and there he was united with her , and from this union with him the princess in time bore twin-children , a son and a daughter. The son’s hands and feet were formed like a lion’s and therefore she named him Sihabahu , but the daughter (she named) Sihasivali. When he was sixteen years old the son questioned his mother on the doubt (that had arisen in him) : ‚Wherefore are you and our father so different , dear mother ?‘ She told him all. Then he asked : ‚Why do we not go forth (from here) ?‘ And she answered : ‚Thy father has closed the cave up with a rock.‘ Then he took that barrier before the great cave upon his shoulder and went (a distance of ) fifty yojanas going and coming in one day. Then (once) , when the lion had gone forth in search of prey , (Sihabahu) took his mother on his right shoulder and his young sister on his left , and went away with speed. They clothed themselves with branches of trees , and so came to a border-village and there , even at that time , was a son of the princess’s uncle , a commander in the army of the Vanga king , to whom was given the rule over the border-country ; and he was just then sitting under a banyan-tree overseeing the work that was done. When he saw them he asked them (who they were) and they said : ‚We are forest-folk‘ ; the commander bade (his people) give them clothing ; and this turned into splendid (garments).“ (MV VI , Vers 1–18)

Da der zürnende Löwe nunmehr alle Grenzdörfer bedroht , ist Sihabahu am Ende bereit , den Löwen , seinen Vater , zu töten ; zunächst fallen aber die Pfeile an dem Löwen ab , da dieser voller buddhistischen Mitleids mit seinem Sohn

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ist ; erst nachdem sich der Vater erzürnt , kann ihn ein Pfeil Sihabahus töten. Der Vatermörder bringt den Löwenkopf zurück , er übernimmt schließlich das Königreich von Vanga /  Bengalen , dessen König , Sihabahus Großvater , gerade gestorben ist. Sihabahu ehelicht jetzt seine Zwillingsschwester Sihasivali. Nachdem er Bengalen seiner Mutter und deren neuem Ehemann überantwortet hat , sichert sich Sihabahu sein eigenes Reich : Mitten im nahegelegenen riesigen Dschungelgebiet errichtet er Sihapura , die Löwenstadt , und rodet den Dschungel. Zwillingsbruder und Zwillingsschwester haben nun ihrerseits Zwillingskinder , 16 Mal. Der Älteste ist Vijaya , „der Siegreiche“. Da dieser präsumtive Thronfolger aber „untragbare Gewalttaten“ – zumindest für einen buddhistischen Herrscher – ausübt , wird er mit 700 seiner Anhänger schließlich verbannt ; ihre Frauen und Kinder werden auf gesonderte Schiffe gebracht , diese landen schließlich an fremden Inseln. Vijayas Schiff aber – welches zwischendurch in Supparaka /  Sopara , an der Bombayküste , anlandet – strandet am Ende auf Sri Lanka „in the region called Tambapanni , on the day that the Tathagata lay down between the two twinlike sala-trees to pass into nibbana.“ (MV VI , Vers 47) Entscheidend an dieser Vier-Stufen-Genealogie ist , dass sie Motive ineinander mengt , die sich in den archaischen , lokalisierenden Abstammungsmythen vieler zeitgenössischer buddhistischer und vor allem späterer Hinduregionaldynastien finden. Prachtvolle und phantastische Abstammungsmythen dienen hier ursprünglich obskuren Kriegsherren und außerhalb der brahmanischen und buddhistischen Zivilisation stehenden Dschungelhäuptlingen dazu , Respekt und Einordnung in die Kasten- und Ständeordnung zu finden – als Krieger , Kshatriyas , und angemessen konsekrierte Rajas. Vor allem die späteren Hindudynastien wollen von der himmlischen Ganga – der Milchstraße – , von mythischen (Mann)Löwen oder Ebern – Inkarnationen Vishnus – abgestammt sein. Nur die angesehensten und größten von ihnen können behaupten , dass sie von einer in der brahmanischen Purana- und Epenliteratur geschilderten Sonne- oder Mondlinie abgestammt sind. Manche dieser Herrscher sind einem lokalen sakralen Berg entstiegen – Shailodbhava. Wiederum andere Herrschaftsgenealogien berichten , wie ein wandernder oder vertriebener Kshatriya in die zu diesem Zeitpunkt noch endlosen Dschungelregionen Mittelindiens gerät , wie er hier den lokalen Stammesfürsten erschlägt , dessen Kopf der lokalen Erdgöttin als Opfer darbringt und am Ende ein mit der Göttin versöhntes , zugleich aber brahmanisch angeleitetes Lokalreich be-

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gründet.5 In merkwürdiger buddhistisch-pietätvoller Brechung finden sich hier viele dieser Motive : Die Löwenabstammung wird durch die amourösen Neigungen einer weggelaufenen Königstocher begründet ; der wichtige , aber für Mönchsbuddhisten schlimme Akt des Vatermordes wird nicht Vijaya , sondern seinem Vater überantwortet ; der Löwenvater stirbt erst , nachdem ihn verständlicher , aber unbuddhistischer Zorn ergreift ; Sihabahu erweist sich als prototypischer Kshatriya und Pionier , der in die riesigen zwischen Bengalen und Orissa , Vanga und Kalinga gelegenen Stammes- , Elefanten- und Urwaldregionen eindringt. Wichtig aber für die Legitimitätsbedürfnisse der Eroberer und neuen Herrscher Sri Lankas ist der Fortgang der Geschichte : Nachdem die Hexe Kuvanna die 700 Gefolgsleute Vijayas trotz ihres Schutzbandes fast vernichtet , kann Vijaya deren Widerstand nur brechen , indem er sie zur Frau nimmt. Nur dank dieser Liaison können die Dämonen überlistet und getötet werden. Kuvanna nimmt die Form einer wunderschönen 16-Jährigen an , Vijaya liegt mit ihr „blissfully on the bed“ und sie zeigt ihm , wie er alle Yakkhas erschlagen kann. „For the yakkhas will slay me , for it was through me that men have taken up their dwelling (in Lanka)“. (MV VIII , Vers 31) Vijaya erschlägt nun während eines Festes alle Yakkhas und legt die Gewänder des Yakkha-Königs an. Er gründet eine erste Stadt , Tambapanni , während seine Gefolgsleute weitere Siedlungen gründen. Vijaya aber will ein korrektes , ein kasten- und standesgemäßes Königreich errichten. Dazu ist es notwendig , „reine“, zweigeborene Frauen im Königs- und im Kshatriya-Rang für sich und die 700 Anhänger zu sichern. Zugleich müssen Handwerker und Hofbeamte mit einem niedrigeren Kastenrang in dem neuen Königreich , an seinem Hofe dienen. Diese Kshatriya-Frauen , 700 an der Zahl , eine Prinzessin im Königsrang und die angemessenen 18 reinen Dienstkasten , insgesamt 1.000 Dienstfamilien , sie alle werden in dem nahegelegenen Königreich der Pandyas , im tamilischen Madurai gefunden. Es sind also auf Dauer tamilische Bräute , die in das singhalesische Königshaus und in die Aristokratie fortwährend einheiraten ; es sind tamilische Hofspezialisten , die eine korrekte Herrschafts- und Residenzordnung etablieren – nach dem zweifelsfreien Wortlaut der singhalesischen Gründungslegende. Mit der Ankunft dieser Tamilen , „Damilas“, kann auch die Dämonengeliebte , die inzwischen Vijaya zwei Kinder geboren hat , verstoßen werden : Vijaya sagt zu ihr : „Go thou now , dear one , leaving the two children behind ; men are ever in fear of superhuman beings.“ (MV VII , Vers 60) 5

Kulke 1979 , S. 6–26.

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Kuvanna geht schließlich , mit ihren Kindern ; sie wird erwartungsgemäß von den übrigen , rachsüchtigen Yakkhas erschlagen. Ihre zwei Kinder aber fliehen in den Süden zum Adams Peak , Sumanakuta : Aus ihrer Ehe gehen schließlich die „Pulindas“, also die späteren Veddas , die Ur- und Dschungeleinwohner der Insel hervor. Vijaya aber kann nunmehr die Pandu-Königstochter ehelichen und sich offiziell zum König konsekrieren lassen. Die Pandu-Prinzessin gebiert ihm aber keinen Sohn , deshalb bestimmt Vijaya seinen in Siha-Pura im bengalischen Dschungel herrschenden Zwillingsbruder zum Nachfolger. Dieser entsendet schließlich einen seiner Söhne mit 32 Ministern ; glücklicherweise segeln wenig später eine weitere bengalische Prinzessin und 32 Hofdamen nach Tambapanni , so dass auch dieser zweite Löwenabkömmling angemessen verheiratet und konsekriert werden kann. Dieser König Panduvasudeva begründet die eigentliche „Löwenlinie“. Das Mahavamsha lässt keinen Zweifel daran , dass mit „Sihala“ zu diesem Zeitpunkt vorrangig Vijaya und die ihm folgende herrschende Dynastie gemeint ist ; erst in Übertragung gilt dies für die 700 Gefolgsleute , also über ganze Generationen hinweg für die qua Maduraiheirat zum Kshatriyaanspruch legitimierte singhalesische Aristokratie. Das Mahavamsha macht das ganz deutlich : Die Chronik muss sich damit auseinandersetzen , dass der ursprüngliche Name der Insel Tambapanni war. Dafür spricht auch , dass bei den antiken Autoren , vor allem bei Ptolemäus , die Insel als Taprobane = Tambapanni bezeichnet wird. Das Mahavamsha schreibt : „When those who were commanded by Vijaya landed from their ship , they sat down wearied , resting their hands upon the ground – and since their hands were reddened by touching the dust of the red earth that region and also the island were (named) Tambapanni. But the king Sihabahu , since he had slain the lion (was called) Sihala and , by reason of the ties between him and them , all those (followers of Vijaya) were also (called) Sihala.“ (MV VII , Vers 40–42)

Die Intentionen des Mönchsautors des Mahavamsha sind damit überdeutlich : Die frühzeitige , fast kosmische buddhistische Vorherbestimmung der Insel soll deutlich gemacht werden. Zugleich soll , vergleichbar den zeitgenössischen Abstammungsmythen und Genealogien in indischen Regionalreichen , der lokalen Dynastie eine (brahmanisch) korrekte Standes- und Kastenabstammung und Herrschaftsordnung attestiert werden. Die Könige sind qua Ehe und Abstammung nicht nur Kshatriyas , Krieger , sie sind zugleich „löwenartig“. Die Aristokratie , aus den Gefolgsleuten Vijayas und aus Maduraibräuten hervorgegangen ,

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verfügt ebenfalls über zweifelsfreien Kriegerrang. Über keinen Kriegerrang , aber über eine angemessene Kastenstellung verfügen die auf 18 Kasten verteilten Handwerker- und Dienstbotenfamilien. Der überwältigende Rest der Bevölkerung steht außerhalb des Wahrnehmungshorizonts der Mönchsautoren und Aristokraten ; sie galten vermutlich lange Zeit als „Pulindas“ und „Adivasis“, Ureinwohner. Diese Darstellung der Herrschaftsentstehung und diese rituelle und soziale Aufwertung der Herrschaftsschichten bilden die Vorbedingung , die Vorgeschichte zum Mittelpunkt der Chronik , der buddhistischen Bekehrung. Eine buddhistische und darüber hinaus imperiale Mission kann nur in ein standesgemäß hierarchisiertes und reines Königreich entsandt werden. Der Geschichte dieser Mission sind 10 der 37 Kapitel des Mahavamsha gewidmet. Die buddhistische Mission : Die Vorgeschichte der Bekehrung ist von gravierenden , aber legitimatorisch unabwendbaren Tabubrüchen gekennzeichnet ; mit der buddhistischen Bekehrung bricht dagegen eine glückhafte Phase kosmischer Harmonie und Friedfertigkeit an : Bestialität , Vatermord , Inzest , Sohnesaufruhr und Sohnesverstoßung , am Ende ein Hexenpakt und eine Hexenverstoßung – all das war notwendig gewesen , um eine , den übrigen Regionalreichen analoge Herrschaft begründen zu können. Jetzt , 200 Jahre nach Vijayas Ankunft , ist alle Gewalt von der Insel getilgt. Die Chronik überspringt mit vier verdächtig lange regierenden und stereotypen Herrschern 200 Jahre , um mit dem König Devanampiyatissa , dem „Göttergeliebten“, nunmehr die Ankunft der buddhistischen Mission feiern zu können. Die von Ashokas Sohn Mahinda angeführte Mission kommt , wie der Buddha , auf dem Luftwege. Ein endloser Triumph des Wahren , Guten , Schönen bahnt sich an. Es gibt keinerlei Widerstand gegen die neue , gewaltfreie , kosmisch-harmonische Ordnung. Tausende von Bhikkhus besuchen Anuradhagama , das erst jetzt zur Stadt , zu Anuradhapura wird. Zehntausende von Stadtbewohnern bewundern ehrfurchtsvoll die Mönche , alle Götter assistieren bei der Mission und die Erde bebt ständig , weil endlich die kosmische , die Welt befreiende Lehre nach Lanka im Wortsinne „verpflanzt“ wird. Vor allem aber wird in der Chronik jetzt minutiös geschildert , wie wertvolle Reliquien nach Lanka gebracht werden , welche großartigen weißgekalkten Stupas über ihnen errichtet werden , welche Klöster , Almosenhallen , Badeteiche , Erd- und Staudämme , Blumenund Fruchtgärten angelegt werden , wie schließlich ein Spross des Bodhibaumes in die neue heilige Stadt gebracht wird. Buddhistische Bekehrung bedeutet die Übertragung eines in riesigen Reliquienhügeln , Stupas , manifestierten neuen politischen Repräsentationsmodells. An die Stelle vorbuddhistischer

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blutiger (Götter)Opfer tritt nun das „Mahadana“, das „große Geschenk“, an den Orden : vorrangig der Bau riesiger Reliquienhügel und das anschließende periodische Schmücken dieses Monuments. Es wird sowohl mit dem Erhabenen als auch mit dem Kosmos gleichgesetzt. Mit teuren Stoffen , Sandelholz und Blumenketten bekleidet , mit Lampen geschmückt und mit Prozessionen umwandelt , dient das „große Geschenk“ dem Nachweis imperialer Vorrangstellung. Das Mahadana exorziert nicht nur das „Mahayajna“, das „große (Blut)Opfer“, es etabliert auch eine neue galaktische , imperiale Herrschaftsordnung. In diesem Bild einer regionalen Herrschaftskonstellation steht der buddhistische Dharmaraja an der Spitze vor vielen lokalen Feudalherrschern ; während der Imperator den buddhistischen Orden patronisiert und die zentralen Reliquienhügel baut , schmückt und beschenkt , bleiben die untergeordneten Feudalherren noch vorbuddhistischen , manchmal brahmanischen Riten und Blutopfern verpflichtet. Der buddhistische König , der Dharmaraja , steht damit im Zentrum einer „Galaxie“, einer Kreis- oder Mandalakonstruktion. Kleinere Fürsten , „Samantarajas“, ordnen sich ihm unter und entsenden Geschenke in das sakrale Zentrum. Sie selbst verehren noch Lokalgottheiten und bringen die zunehmend despektierlichen blutigen Opfer dar.6 Damit ist das Mahadana- , Stupa- und Mandalamodell die perfekte Repräsentationsform , um die rituelle Vorrangstellung eines buddhistischen Zentrums , um imperiale Ansprüche auf den „inselweiten Schirm der Herrschaft“ gegenüber einem fortdauernden „feudalen“ Partikularismus anzudeuten. Genau dieses Modell wird im Mahavamsha blumig und barock dargestellt , seine Ankunft und Übertragung intensiv und repetitiv gefeiert. Mit der Bekehrung der Insel enden aber nicht die legitimatorischen Anliegen des Mahavamsha. Die Chronik geht nach der lakonischen Schilderung von sechs Nachfolgern Devanampiyatissas sofort zu einem fünften Element über : dem Kampf zwischen dem weisen Tamilenkönig Elara und dem „Befreier aus dem Süden“ Dutugemunu. Dieser einzelnen Episode sind 12 der 37 Kapitel des Mahavamsha gewidmet. Welches Gewicht diesem Heroen zugemessen wird , zeigt sich allein daran , dass in den letzten fünf Kapiteln stereotyp „die 10“, dann die 11 , dann die 12 und dann die „13 Könige“ abgehandelt werden. Der Befreiungsheld Dutugemunu : Während der Damila-König Elara in Anuradhapura herrscht , existieren weitere Königreiche auf der Insel , vor allem das Reich von Mahagama /  Tissamaharama im tiefen Süden , in der Region von 6

Inden 2006 , S. 89–101.

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Hambantota. Elara ist ein gerechter Herrscher , in exemplarischer Weise beschützt und beschenkt er die Sangha. Der König in Mahagama , Kakavanna , hat eine treue Buddhistin zur Frau , Viharadevi. Doch die Ehe bleibt kinderlos , bis Viharadevi einen sterbenden Einsiedler dazu überredet , in ihr , als ihr Sohn , wiedergeboren zu werden. Seinen anfänglichen Widerstand bricht sie durch immer größere Geschenke. Der künftige Sohn Gemunu ist damit ex ovo ein Erleuchteter und ein Krieger. Das zeigt sich bereits während der Schwangerschaft Viharadevis ; in einer besonderen Variante des in Indien verbreiteten Fabelmotivs der Schwangerschaftsgelüste , fordert Viharadevi das Folgende : „This did she crave : that while making a pillow for her head of a honeycomb one usabha long and resting on her left side in her beautiful bed , she should eat the honey that remained when she had given twelve thousand bhikkus to eat of it ; and then she longed to drink (the water) that had served to cleanse the sword with which the head of the first warrior among king Elara’s warriors had been struck off , (and she longed to drink it) standing on this very head , and moreover (she longed) to adorn herself with Garlands of unfaded lotus-blossoms brought from the lotus marshes of Anuradhapura.“ (MV XXII , Vers 42–46)

All diese Wünsche werden ihr erfüllt ; bereits vor der Geburt des Prinzen Gemunu wird Elara gedemütigt. Auch die Wahrsager prophezeien bereits vor der Niederkunft : „The queen’s son , when he has vanquished the Damilas and built up a united kingdom , will make the doctrine to shine forth brightly.“ (MV XXII , Vers 47)

Bereits kurz nach der Geburt wird ein wunderbar starkes Elefantenkind gefunden , Kandula genannt. Kandula wächst zu Gemunus unüberwindlichem Kriegselefanten heran. Frühzeitig zeigt Gemunu kriegerische Kräfte und Absichten : Als der König ihm und seinem Stiefbruder Tissa drei Versprechen abnehmen möchte – die Mönche zu schützen und sich nicht zu streiten – , kommt es beim dritten zum Eklat : Der König will Frieden mit Elara und hält die Mahaveliganga für eine angemessene Grenze zwischen den zwei Herrschaften : „‚Never will we fight with the Damilas ; with such thoughts eat ye this (rice) portion here.‘ Tissa dashed the food away with his hand , but Gamani who

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had (in like manner) flung away the morsel of rice , went to his bed , and drawing in his hands and feet he lay upon his bed. The queen came , and caressing Gamani spoke thus : ‚Why dost thou not lie easily upon thy bed with limbs stretched out , my son ?‘ ‘Over there beyond the Ganga are the Damilas , here on this side is the Gotha-ocean , how can I lie with outstretched limbs ?‘ he answered. When the king heard his thoughts he remained silent. Growing duly Gamani came to sixteen years , vigorous , renowned , intelligent and a hero in majesty and might.“ (MV XXII , Vers 82–87)

Gemunu rekrutiert nun zehn große Krieger von märchenhafter Stärke ; einem Schneeballsystem folgend werben diese jeweils zehn weitere Krieger , bis schließlich ein Heer der 11.110 besten Kämpfer des Südens zusammengekommen ist. Als der Vater Gemunu warnt , die Mahaveliganga in Richtung Anuradhapura zu überschreiten , schickt ihm dieser Frauenschmuck : „If my father were a man he would not speak thus : therefore shall he put this on.“ (MV XIV , Vers 5) Gemunu muss jetzt in das unzugängliche Hochland fliehen und erhält seitdem den Namen „zorniger Gemunu“, Dutugemunu. Erst nach dem Tode Kakavannas und der Unterordnung seines Stiefbruders Tissa kann König Dutugemunu zu seinem großen Kriegszug ausrücken. Er lässt eine Buddhareliquie in seinen Speer legen ; dieser dient als Waffe und Standarte. Auf dem Kriegszug lässt er sich von 500 Mönchen begleiten , „since the sight of bhikkhus is blessing and protection for us.“ (MV XXV , Vers 4) Der Kriegszug legt den unterhalb der jeweiligen Alleinherrschaftsansprüche herrschenden politischen Partikularismus offen ; über eine kurze Wegstrecke ist von 17 Lokalherrschern die Rede. „In ������������������������������� Antarasobbha he subdued Mahakottha , in Dona Gavara , … Jambu also did he subdue , and each village was named after (its commander).“ (MV XXV , Vers 11–15) Die Grenzen zwischen Anuradhapura und Mahagama /  Tissamaharana sind dementsprechend fließend , die Leute sagen : „Not knowing their own army they slay their own people.“ ������������������������������������������� Daraufhin erklärt der Heerführer programmatisch : „‚Not for the joy of sovereignty is this toil of mine , my striving (has been) ever to establish the doctrine of the Sambuddha. And even as this is truth may the armour on the body of my soldiers take the colour of fire.‘ And now it came to pass even thus.“ (MV XXV , Vers 17 , 18) Schließlich rückt Dutugemunu auf Anuradhapura vor. In Kampfszenen , die an ein Ritterturnier erinnern , wird Elara schließlich besiegt und ehrenvoll bestattet :

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„He caused the drum to be beaten , … and celebrated the funaral rites for king Elara. On the spot where his body had fallen he burned it with the catafalque , and there did he build a monument and ordain worship. And even to this day the princes of Lanka , when they draw near to this place , are wont to silence their music because of this worship. When he had thus overpowered thirty-two Damila kings Dutthagamani ruled over Lanka in single sovereignty.“ (MV XXV , Vers 71–74)

Der König , obwohl von Parfüm und Tanzmädchen umgeben , kann sich aber über seinen Sieg nicht freuen – „remembering that thereby was wrought the destruction of millions (of beings)“. Deshalb besucht ihn eine Mönchsdelegation. Dem in Ashokahaltung trauernden König erklären sie : „‚From this deed arises no hindrance in thy way to heaven. Only one and a half human beings have been slain here by thee , O lord of men. The one had come unto the (three) refuges , the other had taken on himself the five precepts. Unbelievers and men of evil life were the rest , not more to be esteemed than beasts. But as for thee , thou wilt bring glory to the doctrine of the Buddha in manifold ways ; therefore cast away care from thy heart , O ruler of men !‘ “ (MV XXV , Vers 109–111)

Nichtbuddhisten kann man demnach wie Tiere erschlagen. Der nunmehr wieder beglückte König verbringt die ihm verbliebenen Herrschaftsjahre jetzt damit , prachtvolle Monumente , darunter den Lohapasada(palast) und die bislang größte Stupa zu errichten. Vor allem beim Bau der über vier Kapitel minutiös geschilderten „großen Stupa“, Mahathupa , zeigt sich Dutugemunu als exemplarischer Schutzherr der Sangha , als Dharmaraja und buddhistischer Imperator. Die Chronik lässt keinen Zweifel daran , dass die Mahathupa und vor allem ihr Innerstes , eine immens prachtvolle Reliquienkammer , das neue sakrale und politische Zentrum der Insel bilden : In der Kammer befindet sich (angeblich) ein vollständiges Achtel der nach dem Maha-Pari-Nibbana von den Göttern aufgeteilten Reliquienreste. Ein Mönch hat sie einem der mächtigsten Naga- , Schlangenkönige mit Hilfe eines endlos langen Armes aus dessen Versteck , seiner Magenhöhle , gerissen. Der Buddha selbst reinkarniert sich während der Konsekration der Reliquienkammer mithilfe dieser Knochen und schwebt über dem Haupt Dutugemunus in der Luft. Alle großen Götter , alle Schutzgottheiten der Insel , alle Nymphen , Kobolde und Schlangenwesen assistieren bei der Zeremonie , ebenso wie Mönchsdelegationen aus

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allen Teilen Indiens und selbst des Vorderen Orients , etwa aus Alexandria. Dutugemunu entschließt sich jetzt zu einem folgenreichen Schritt : „,To the Master of the world , to the Teacher who bears the threefold parasol , the heavenly parasol and the earthly and the parasol of deliverance I consecrate three times my kingly rank.‘ With these words he , with joyful heart , thrice conferred on the relics the kingship of Lanka.“ (MV XXXI , Vers 91 , 92)

Damit wird der Buddha , inmitten der großen Zentralstupa , verkörpert in seinen Reliquien , zum eigentlichen Herrscher der Insel. Das Mahavamsha exaltiert damit die für Indien künftig so wesentliche Legitimationslegende einer (regional-)göttlichen Stellvertreterherrschaft. Obwohl die Spitze der Stupa noch nicht mit Ziegelsteinen befestigt ist , kann der König sich jetzt zum Sterben niederlegen. Er stirbt nach einem letzten Blick auf die Stupa ; er wird sofort in göttlicher Form wiedergeboren , auf seinem Götterwagen umrundet er dreimal die Mahathupa und entschwindet in den Tushitahimmel. Die Erzählmotive und Zäsuren von Besuch , Prophetie , Löwenabstammung , Eroberung , Mission und Rückeroberung bilden mithin eine den zeitgenössischen brahmanischen sowie buddhistischen Legitimitäts- und Reinheitserwartungen angemessene Meistererzählung. Diese Herrschafts- und Vorranglegende – für Sihalakönige und Sangha – ist nicht nur angemessen , sie ist weitaus detaillierter und zugleich stringenter als die vergleichbaren Gründungsmythen zeitgenössischer oder späterer (Hindu)Regionalreiche. Die Insel wird im Heilsplan des Buddha über alle anderen frühen buddhistischen Reiche hinausgehoben ; der Kshatriyastatus des Inseleroberers und seiner Gefolgsleute wird doppelt , qua bengalischer Herkunft und qua Maduraiheirat , unterstrichen ; ein rituell reiner und sozial akzeptabler Herrschaftskern ist damit ex urbe condita gegeben : Sihaladynastie , Sihala-gleiche Aristokraten und 18 höfische Dienstleistungskasten. Über die Bevölkerungsmasse der „Pulindas“, also Veddas , muss die Chronik ähnlich wie indische Herkunftsmythen kein Wort verlieren. Der Bruch zur Vorgeschichte , zu Hexerei , Barbarei , Blutopfer und Kastenlosigkeit wird radikal vollzogen – durch Massentötung , Verrat an der Konkubine und Abwandern der Kinder. Die spätere buddhistische Konversion und die ethische Harmonisierung des Herrschaftsgeschäfts sind damit frei von jeder Gefahr der Kontaminierung durch Barbaren und Unberührbare. Die Schilderung der buddhistischen Mission gerät schließlich zu einer Orgie der Superlative – was die Demut des Königs , die Pietät des Hof-

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staats , die Bauwut des Herrschers , die Pracht der Geschenke und nicht zuletzt die Strahlkraft der Doktrin , der Mönche , der Reliquien und des Bodhibaumes betrifft. Das Ganze endet mit der Exaltierung eines Glaubenskriegers und seiner Rückeroberung der Dharmainsel. Ist aber ein dem nachbuddhistischen Jahrtausend , ein dem Indien der buddhistischen und frühen hinduistischen Regionalreiche angemessenes Legitimitäts- und Repräsentationsmodell auch die angemessene ideologische und historische Grundlage für einen singhalesischen Nationalismus und Chauvinismus des 20. Jahrhunderts ? Wir werden sehen , dass diese Ideologisierung und Radikalisierung Reformbuddhisten , singhalesischen Honoratioren und „ethnischen Unternehmern“ tatsächlich gelungen ist. Diese Reinterpretation negiert aber wesentliche Aussagen des Mahavamsha : Das Mahavamsha will die Entstehung einer hoch ritualisierten und hierarchisierten Herrschafts- und Gesellschaftsordnung schildern. Ihm geht es um den „homo hierarchicus“, nicht um die Entstehung eines (massendemokratischen) „Löwenvolks“, in dessen Binnenraum alle sozialen und regionalen Distanzen eingeebnet werden. Im Mahavamsha ist von den Sihalas überhaupt nur zweimal die Rede.7 Sihala sind , das zeigen die beiden Stellen (MV VII , 42 und MV XXXIII , 43) , die Mitglieder der Dynastie und , in Übertragung , die Abkömmlinge der 700 Gefolgsleute Vijayas , also die Kshatriyastatus beanspruchende Aristokratie. An dieser kastenspezifischen Beschränkung ändert sich erst Jahrhunderte später etwas. Erst in der Fortschreibung des Mahavamsha , dem „Chulavamsha“, der „kleinen Chronik“, die in Abschnitten bis Ende des 18. Jahrhunderts , also bis zur Ankunft der Briten , fortgeschrieben wurde , zeigt sich ein anderes Bild.8 In wachsendem Maße werden jetzt alle Krieger und in einem weiteren Schritt alle unter der Herrschaft der Sinhalakönige stehenden (buddhistischen) Untertanen als Sihalas bezeichnet. Zu diesem Zeitpunkt hat sich aber die politische und religiöse Balance auf der Insel vollständig verschoben. Bis zum 8. Jahrhundert A. D. sind in Südindien machtvolle , auf hinduistische Tempelstädte und Kulte gestützte Regionalreiche entstanden. Eine aggressive (Hindu) Shaivabewegung hat den lange Zeit prominenten südindischen Buddhismus marginalisiert und ausgelöscht. Dem notorisch von Zwietracht und Herrschaftspartikularismus geprägten buddhistischen Inselreich sind diese Hinduregionalreiche überlegen. Unter den „imperialen“ Cholas wird sogar die Insel erobert und über Jahrzehnte einer sakralen und symbolischen Cholakontrolle 7 8

Gunawardana 1990 , S. 45–86 , 60. Geiger 1928 / 1953.

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unterstellt (ca. 985 – ca. 1070 A. D.). Erst in einer solchen Konfrontation kann ein Sihala-buddhistischer vs. tamilisch-hinduistischer (shivaitischer) Gegensatz konzeptualisiert werden.9 Die Übermacht der „Damilas“ erleichtert die Ausdehnung des Sinhalakonzepts auf alle Krieger und schließlich alle Untertanen des Sinhalakönigs. Diese „Volksbezeichnung“ bleibt aber notgedrungen wenig trennscharf. Denn seit frühesten Zeiten , seit mehr als tausend Jahren , sind die ethnischen Grenzen zwischen Damilas und Sinhalas fließend. Seit jeher dienen tamilische Söldner , „Generäle“ und Minister dem Sinhalakönig. Von Anfang an lassen sie sich auf Jaffna , im Nordwesten und vor allem bei dem Brückenkopf von Mannar nieder. Sie feudalisieren sich und kontrollieren ihre eigenen Gefolgschaften , Dörfer und Küstenabschnitte. Die prominenten Damilas heiraten in die Königsfamilie ein und übernehmen immer wieder die Macht. Da „schwarz wie die blaue Lilie“ für die Sinhalaeliten eine ebenso schöne Hautfärbung ist wie „Goldfarbe“, gibt es auch keine Farbdifferenzierung zwischen Damilas und Sinhalas. Vor allem aber : Die Sinhalamonarchen halten daran fest , ihre Bräute aus Madurai zu beziehen. Oft genug herrscht damit auch nach Elara ein tamilischer Herrscher in Anuradhapura. Dies führt nicht zu Widerstand und zu Unruhen , solange er buddhistisch ist und den Pflichten eines Dharmaraja folgt. Nur wenn der Herrscher Hindukulte patronisiert und gegen die Klöster vorgeht , regt sich Widerstand bei Sangha und Aristokratie. Die hohen Hofbeamten in Anuradhapura sind ohnehin Brahmanen. Sie werden , wie die Vorfahren Bandaranaikes , aus Südindien rekrutiert. Die Sihaladynastie ist damit in vielfacher Weise durch Heiratsbande , durch Hofdienste und Armeeorganisation mit der Kastenordung und den Dynastien Südindiens verflochten. Eindeutig – politisch , ethnisch und religiös – wird der Gegensatz auf dem Schlachtfeld deshalb erst , nachdem das buddhistische Königtum die Kontrolle über seine „terra sancta“ verliert und das Rajaratha und Anuradhapura verloren gehen. Über sechs neue Hauptstädte zieht sich die Sinhalamonarchie vom 10. bis zum 15. Jahrhundert in den Südwesten zurück. Das Rajaratha wird Dschungel. Zwischen „Damilas“ im Osten , auf Jaffna und im Nordwesten und den Singhalesen liegt jetzt eine riesige Dschungelzone , das Vanni , in dem wenige Bauerngemeinschaften und deren Dschungelhäuptlinge , die „Vanniyas“, inmitten der geborstenen oder überwucherten Stauanlagen ein armseliges Leben fristen.10 Der für die Legitimitätsbedürfnisse eines periphe9 Spencer 1983 , S. 27–65. 10 Lewis 1895 / 1993.

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ren buddhistischen Königreiches geschaffene Mythos ist also schwerlich in der Lage , die moderne chauvinistische Formel von „the land , the race and the faith“ eines Volkes von „Sinhala-Buddhisten“ zu untermauern. Genau das ist aber dem singhalesischen Nationalismus seit 100 Jahren gelungen.

II. Zerstörung und Wiederbelebung des Buddhismus Wenige Jahre nach der Lokalisierung und Konsolidierung eines den Indischen Ozean überspannenden Raub- und Handelsimperiums in Goa erreichen die ersten portugiesischen Karacken die ceylonesische Westküste. Hier hat die singhalesische Monarchie nach einem 500-jährigen Rückzugsprozess und sieben aufgegebenen Hauptstädten ein neues Zentrum gefunden , in Kotte , in unmittelbarer Nähe des späteren Colombo. Aus dem ursprünglichen „hydraulischen“ Agrarreich ist jetzt ein Handelsreich geworden , das vom Export von Elefanten , Zimt , Edelsteinen , Perlen etc. lebt. Der Estado da India sucht ergebnislos eine Kontrolle über die Zimtgewinnung durchzusetzen. Er kann sich zwar an der Westküste und im immens fruchtbaren Küstenbereich festsetzen , aber weder die übrigen Küstenabschnitte noch das unzugängliche Hochland können die portugiesischen Fidalgos kontrollieren. Ersteres schaffen die Holländer , die VOC , die Eroberung des Hochlandes gelingt erst den Engländern zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Was die Fidalgos und die portugiesischen Missionsorden , Dominikaner , Augustiner , Jesuiten allerdings erreichen , ist die Zerstörung des Buddhismus. Die Klöster , Viharas, und Reliquienhügel , Stupas, werden zerstört ; die Steine wandern in die neuen katholischen Bauwerke ; der Stiftungsbesitz alimentiert diese Missionsinstitutionen ; die Blumen- und Obstgärten dienen der Versorgung der Kirchen , Padres und Waisen. Die Tieflandsinghalesen wandeln sich zu „Sonntagschristen“, unter Druck oder freiwillig besuchen sie die Sonntagsmesse ; der Mönchsbuddhismus ohne Mönche und Klosterzentren kollabiert. Seiner Institution und Überlieferungstraditionen beraubt , verbäuerlicht und fragmentiert der Buddhismus. Er lebt in der Form heimlicher Haushaltsriten und eines ländlichen und ohnehin vorbuddhistischen Geisterglaubens weiter. Das Gleiche geschieht im Hochland , im Binnen- und Rückzugsreich von Kandy. Es wird zunehmend vom Verkehr mit der verbliebenen buddhistischen Ökumene abgeschnitten – in Birma , Siam oder Vietnam. Seine wenigen Bauernmönche verwandeln sich zu Astrologen und magisch-rituellen Dienstleistern. Fast keiner ist mehr korrekt ordiniert , viele sind Analphabeten. Die

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große Wende , die Rettung , kommt während der späten holländischen Herrschaft , während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ihr Geiz hatte die VOC immer an der großzügigen Förderung einer Mission gehindert , aber im 18. Jahrhundert weicht der begrenzte protestantische Glaubenseifer endgültig der Aufklärung und einer kalkulierten Indifferenz. Das verschafft einer neuen , mittelständischen Kastenelite nunmehr neuen Spielraum. Der Sturz des singhalesischen Königtums und das Fehlen eines für Ordens- und Gesellschaftseinheit haftenden Dharma Rajas hatten seit dem Estado die auf Sri Lanka ohnehin schwache Kastenhierarchie weiterhin untergraben. Die vormals niedergestellten Kasten der Salgam , Zimtschäler , der Durava , Kokosnussheger und Palmweinhersteller , und der Karava , Fischer , Bootsbauer , Seehändler , konnten unter den Portugiesen und Holländern sozial aufsteigen. Auch einige Schichten innerhalb der Bauernkaste , der Goyigama , konnten neue soziale und politische Mobilitätschancen nutzen. Ihrer aller Bekenntnis zum Katholizismus war oft nur erzwungen und opportunistisch gewesen. Ein bemerkenswerter Rekonversionsprozess bricht sich jetzt Bahn. Aus religiösen wie aus politischen Gründen will der singhalesische König Raja Kirtisri (1747–1782) in Kandy den Orden im Hochland reformieren und auf seine Person zentralisieren.11 Vor allem geht es ihm um eine korrekte Ordination , die Mönchsweihe , durch ihrerseits korrekt ordinierte Mönche aus Übersee. Darüber hinaus will er buddhistische Grundlagentexte , korrekt konsekrierte Buddhafiguren und Reliquien importieren – alles aus Thailand. Nachdem die VOC einwilligt , ihm ein entsprechend ausgerüstetes Schiff zur Verfügung zu stellen , kann die Reformreise nach Siam unternommen werden. Das Schiff kommt mit korrekt ordinierten Mönchen und einem umfangreichen „Heilsfundus“ zurück. Im Hochland entsteht jetzt die „Siam-Nikaya“, mit deren Hilfe der Monarch die singhalesischen Bauernmönche buddhistisch ausbilden und diskret politisch steuern kann. Diese Selbstreinigung und Reform imponiert den Kasteneliten im Flachland. Sie sind reich , ehrgeizig und sehnen sich nach einem erneuerten Buddhismus – zugleich lehnen sie aber die Kontrolle seitens eines Dharma Raja ab. Sie , die bereits begonnen haben , wieder lokale „Bilderhäuser“, Reliquienhügel , Bhobäume und Mönchsstätten einzurichten , wollen als Laienkomitees und „Temple trustees“ lieber die Mönche selbst kontrollieren. Nach dem Vorbild des Königs , aber unter eigener Regie entsenden diese Laienkreise weitere Reformexpeditionen , diesmal nach Birma , nach Amarapura und nach Ramanya. Zurückgekehrt , begründen diese korrekt ordinierten Mönche 11 Malalgoda 1976 , S. 90–120.

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weitere Sekten , Nikayas. Da sie allerdings im Gegensatz zum Hochland von keinem König zusammengehalten werden , beginnen sich diese Sekten alsbald entlang von Dorf- , Kasten- und selbst Familiengrenzen aufzuspalten. Der Prozess verhindert aber nicht , eher fördert er noch eine in die Tiefe gehende ReBuddhisierung des Tieflandes. Diese von Laien und sektiererischen Mönchen vorangetriebene Wiederbegründung unterscheidet sich grundlegend vom Reformbuddhismus , von der Siam Nikaya , im Hochland. Zum ersten Mal entsteht jetzt ein von Laien kontrollierter und stark lokalisierter „Gemeindebuddhismus“. Da die neuen , bescheidenen Viharas und ihre Bikkhus von Laien , von Kloster Trustees finanziert und kleinteilig überwacht werden , beginnt sich dieser Reformbuddhismus von Anfang an vorrangig auf die Befriedigung von Laienbedürfnissen auszurichten. Und da die Laienbedürfnisse seit dem 16. Jahrhundert vom portugiesischen Katholizismus mit geprägt sind , orientiert sich der neue Buddhismus an diesem Modell : Die neuen Klosteranlagen erhalten einen freistehenden Glockenturm ; an den freistehenden Figuren katholischer Heiliger orientieren sich auch die Buddhisten ; sie stellen jetzt den stehenden oder meditierenden Buddha auch außerhalb des Bilderhauses an Straßenkreuzungen und heute inmitten eines Kreisverkehrs auf. Der klassische Mönchsbuddhismus konnte den Laien keine „rites de passage“ bieten , der neue auch nicht ; er toleriert aber vom Katholizismus übernommene Feste und Kleiderformen , so das weiße Brautkleid und den schwarzen Anzug für Braut und Bräutigam ; das Dekor der buddhistischen Verbrennung und der anschließende Grabschmuck sind dem katholischen Beerdigungsritual nachempfunden. Vor allem werden jetzt in großem Umfange lokale Umzüge und Reliquienprozessionen organisiert. Auch die buddhistische Vollmond-, die PoyaFeier , vor allem aber das Geburts- , Erleuchtungs- und Sterbedatum des Buddha , Vesakh – die Ereignisse fallen alle auf den gleichen Tag – wird mit einem an das portugiesische Weihnachten erinnernden Lichterglanz begangen. Es gibt , wie bei den Katholiken , Vesakhgesänge , Vesakhgeschenke und Vesakhgrußkarten. Der neue Reform- und Gemeindebuddhismus ist damit zugleich ein uneingestandenermaßen katholischer Buddhismus ; eine neue überregionale , institutionelle Gestalt , die Form eines protestantischen ­Buddhismus , erhält er zusätzlich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts.12 Mit der Etablierung der britischen Kolonialherrschaft ist zugleich der Anglikanismus auf Ceylon eingeführt worden. Seitdem die Kolonialmacht ab 1848 die Insel in umfassender Weise administrativ , ökonomisch und später 12 Gombrich 2002 , S. 172–197.

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auch politisch zu modernisieren versucht , zeigt sich eine massive protestantische Mission. Sie wird von Engländern ebenso wie Amerikanern getragen. Die Missionare operieren auch deshalb gerne in dem kleinen und deshalb infrastrukturell vollkommen erschlossenen Ceylon , weil die Kolonialmacht hier , im Gegensatz zu Britisch Indien , nicht zahlreiche Hindernisse in den Weg legt. Auf Ceylon fürchtet die Kolonialmacht keinen massiven , von Muslimen oder Brahmanen ausgelösten militanten Backlash. Diese Missionsfreiheit bedroht den so stark segmentierten , oft zerstrittenen und politisch unorganisierten Laienbuddhismus. Die Missionare werden vom Kolonialstaat unterstützt ; sie verfügen über genügend Finanzmittel ; sie haben in Ceylon ein Netzwerk von Schulen , eigenen Einrichtungen , Verlagen und Sparkassen errichtet. Vor allem die „Barfüßer“-Missionare haben die unangenehme Fähigkeit , mit eigenen Planwagen gerade in jenen abgelegenen Gegenden aufzutauchen , in die sich die kleinstädtischen küstennahen Reformbuddhisten bislang nicht vorgewagt haben. Schlimmer noch : Wo immer diese Missionare predigen , fordern sie die lokalen Mönche zu einem öffentlichen Streitgespräch über Jesus und Buddha heraus. Diese unter offenem Himmel , vor Tausenden von Zuschauern durchgeführten Debatten enden stets mit dem Sieg Jesus und seines Missionars : Die Missionare sind nicht nur theologisch versiert und in „Debating Societies“ geschult worden , sie haben auch die buddhistischen Texte ausführlich , oft in Pali , studiert. Wie sich rasch zeigt , können die Buddhisten diese Attacken der Protestanten nur abwehren , indem sie ihrem Buddhismus die Institutionen , Techniken und Ressourcen der protestantischen Mission verschaffen. Aus Notwehr entsteht nach dem katholischen auch ein protestantischer Buddhismus. Dabei ist der Einsatz eines demobilisierten amerikanischen Bürgerkriegsoffiziers , Colonel Olcotts (1832–1907) , von allergrößter Bedeutung. Der arbeitslose Colonel hatte nach dem Bürgerkrieg in New York die rätselhafte russische Emigrantin Petrovna Blavatzky getroffen. Er hatte sich voller Enthusiasmus ihrem theosophischen Kreis angeschlossen und war mit Blavatzky über Bombay bis nach Madras gereist. In Madras hatten die beiden eine theosophische Zweigstelle errichtet. In deren Tempel kommunizierte Blavatzky mit übermenschlichen , im Himalaya lebenden „Arhants“ – drahtlos und in Trance. Zur Übermittlung ihrer Weissagungen wurde ein hinter der Tempelrückwand versteckter Mitarbeiter Blavatzkys eingesetzt. Die Aufdeckung des Schwindels bewirkte einen Skandal. Olcott hatte sich allerdings bereits frühzeitig weiter , nach Colombo begeben. Hier findet er seine neue Mission – den von den Protestanten attackierten Buddhisten will er jetzt helfen. Diese Aufgabe geht

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der alte Offizier militärisch an. Er konstruiert seinen eigenen doppelstöckigen Planwagen und taucht damit jetzt in den abgelegensten Dörfern , also im Rücken selbst der Missionare auf. Er entwirft eine buddhistische Flagge und einen buddhistischen Katechismus. Vor allem aber begründet er buddhistische Zeitungen , Verlage , Sparvereinigungen , Schulen und Colleges.13 Das alles gelingt , weil er die begeisterte Unterstützung der führenden Mönche und Laienvertreter gewinnen kann. Diese begraben ihre sektiererischen Differenzen und schließen sich dem pragmatischen Yankee an. Als Mitarbeiter dient ihm Don David Hewavitarne (1864–1933) , ein katholischer Kleinstadtsinghalese , der aber von seiner Mutter heimlich buddhistisch erzogen wurde und frühzeitig und dramatisch mit dem Christentum gebrochen hat. Dank Olcott verfügen die Buddhisten nicht nur über eine den Protestanten vergleichbare institutionelle Infrastruktur , sie können bei den großen Debatten jetzt den Missionaren Paroli bieten. Diese neue Organisationskompetenz und Militanz verschafft den Kleinstadt- und Tieflandhonoratioren zudem ein neues Selbstvertrauen. In wachsendem Maße wenden sie sich vom Anglikanismus ab , sie werden wieder zu Buddhisten und setzen sich gegenüber der Kolonialmacht für die Förderung buddhistischer Schulen , Colleges , Klöster und Kultur ein. Diese Elitenpatronage verschafft dem Buddhismus eine neue Autorität und Legitimität – auch in den Büros und Salons der Kolonialherren. Diese kulturelle und politische Aufwertung des katholischen ebenso wie des protestantischen Reformbuddhismus verbindet sich mit einem weiteren , anfänglich auf die britische Elite beschränkten Transformationsprozess : Seit Beginn des 19. Jahrhunderts entsteht ein neues kulturelles und historisches Wissensgebilde , ein sogenannter „viktorianischer Buddhismus“. Ebenso wie der Brahmanismus und der Hinduismus bildet der Buddhismus ein von europäischen Kulturwissenschaften entdecktes , statuiertes und systematisiertes Wissenskonzept. Die Entdeckung und Übersetzung des Palikanons , vor allem die Entdeckung des Mahavamsha und der Ashokainschriften tragen seit Beginn des 19. Jahrhunderts entscheidend zur Ausbreitung dieses neuen „epistemischen Feldes“ bei. Es war aber zunächst keineswegs selbstverständlich , dass der Buddhismus als eine asienweite , im Kern aber dennoch einheitliche Erlösungslehre , Religion und Zivilisation bestimmt werden konnte. Die seit einem Jahrtausend verlassenen buddhistischen Höhlenkomplexe in Indien , der Gott Budu auf Sri Lanka , die Nathgeisterkulte in Birma und die im Dschungel verlorenen Anlagen von Angkor in Kambodscha 13 Olcott 1924 / 1980 , S. 3–55.

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oder Borobudur in Indonesien schienen ganz und gar unterschiedlichen Kulturen anzugehören. Das einheitliche Modell eines neuen „Buddhismus“ wird vorrangig in Ceylon , in der Asiatic Society Colombo Branch , erarbeitet. Hier sitzen Missionare , antiquarisch interessierte Gentlemen , klassisch gebildete Beamte und wenige , anfänglich noch anglikanische Einheimische an einem Tisch. Energisch wird darum gestritten , ob der Buddha eine einheitliche panasiatische Gottheit ist. Wichtiger aber noch ist für die protestantischen Missionare , den lokalen anglikanischen Bischof und die kolonialen Modernisierer die moralische Bewertung dieses Glaubensschöpfers. Ist er ein Atheist und Nihilist , ein Agnostiker , ein Humanist , ein Sozialreformer oder ein Prophet ? Nach vielen Debatten stellt sich ein tragfähiger Kompromiss ein. Ihm zufolge ist der Buddha ein großer Reformer. Er ist ein Vorläufer von Jesu , aber nicht mit Jesus Christus zu vergleichen. Denn der Erleuchtete bringt Erkenntnis , aber keine Erlösung ; er verfügt über Wissen , aber über keine Gnade. Dieses Wissens- und sehr bald Bildungskonstrukt wird völlig zu Recht als viktorianischer Buddhismus bezeichnet : Der Buddha , ein historisch bestimmbarer Philosoph , vergleichbar mit Sokrates , hat dieses Wissenssystem begründet. Aus dieser Philosophie ging eine große Tradition , eine asienweite Ökumene hervor. Sie ruht auf dem Pali. In Sri Lanka zeigt sich diese große Tradition in den „verlorenen Städten“ der nördlichen Trockenzone , also den ehemaligen Hauptstädten einer inzwischen aufgegebenen hydraulischen Kultur. Mit Hilfe eines empirischen Zangenangriffs , mit Hilfe kolonialer Archäologie und kolonialer Philologie , der Exegese der Palichroniken , lassen sich die Monumente und die Geschichte dieser großen Tradition empirisch bestimmen.14 Auch wenn der viktorianische Buddhismus , diese Wiederentdeckung und Idealisierung einer großen Tradition , den zeitgenössischen Reformbuddhismus , diese kleine Tradition , eher belächelt , verschaffen die „Viktorianer“ den Reformbuddhisten doch unerwartete Legitimität und neue Gelegenheiten : Die singhalesischen Honoratioren können sich seit der Jahrhundertmitte nunmehr in aller Offenheit für die Ausgrabung des alten und die Förderung des neuen Buddhismus einsetzen. Der Reformbuddhismus ist salonfähig und politisch akzeptabel geworden. Da die Kolonialmacht sich vordergründig auf einen Laizismus verpflichtet hat , muss sie jetzt buddhistische Schulen und Colleges ebenso wie Missionskollegien durch „Grant in Aid“ finanziell fördern. (Katholischer) Laienbuddhismus , (protestantischer) Reformbuddhismus und (viktorianischer) Zivilisationsenthusiasmus treiben sich also wechselseitig an. 14 Almond 1988 , S. 7–131.

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Es ist mithin nur eine Frage der Zeit , bis der neue Buddhismus sich politisch radikalisiert und sich zu einem antikolonialen , einem ideologischen Projekt erweitert. Diese Radikalisierung und Erweiterung leistet der langjährige Mitarbeiter Olcotts , der kleinstadtsinghalesische Don David Hewavitarne. Dabei leistet Don David ein Mehrfaches : Ihm gelingt nicht nur die Umwandlung eines Reformglaubens , des Laienbuddhismus , zu einem ethnisch exklusiven , zu einem singhalesischen Nationalismus ; indem er jetzt den fünfteiligen Gründungsmythos der Chroniken wissenschaftlich , „historisch“, deutet und aktualisiert , gelingt ihm ein Weiteres : Die Prophetie und die Gewalt , die der Mythos schildert und die er propagiert , sie werden jetzt in der singhalesischen Politik auf Dauer virulent – als Propaganda und Praxis der großen „demokratischen“, vor allem aber singhalesischen Parteien.

III. Gewalt und Prophetie in der modernen singhalesischen Politik Don David Hewavitarne legt sich frühzeitig einen neuen Namen zu : Anagarika Dharmapala – der „hauslose Hüter des Dharma“. Er begründet damit zugleich eine neue , im Buddhismus nicht vorgesehene Rolle , diejenige des selbsternannten , in der Welt , nicht im Kloster lebenden „Laienmönchs“. Bald überwirft er sich mit Olcott und den Theosophen und nimmt künftig eine Doppelgestalt an. Auf Auslandsreisen und im Medium des Englischen stellt er sich als Botschafter buddhistischer Toleranz und einer neuen humanistischen Weltreligion dar. In dieser Funktion besucht er asienbegeisterte Enthusiasten und Förderer in England und vor allem in den USA. Hier gewinnt er auch eine schwerreiche Witwe für seine Anliegen. Er brilliert in Chicago auf einem Weltkongress der Religionen. In Ceylon stattdessen , auf Sinhala , zeigt er sich als xenophober , gegen Ausländer und Kolonialherren hetzender Nationalist. Das bringt ihm frühzeitig die dauerhafte Aufmerksamkeit des britischen Geheimdienstes und später seine Ausweisung nach Calcutta ein.15 Die neue , radikalisierte buddhistische Ideologie , die er entwirft , ist ein originelles , rassistisch und ideologisch zugespitztes Amalgam aus dem viktorianischen Kultur- und dem reformatorischen Laienbuddhismus. Bereits die Gelehrten unter den singhalesischen Honoratioren hatten sich , gestützt auf die neue Lehre der inzwischen nicht mehr indoeuropäisch , sondern „indo-arisch“ genannten Sprach15 Guruge 1965 , S. LI.

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verwandtschaft , eine kompromisslose Position zu eigen gemacht. Sinhala galt und gilt ihnen als eindeutig indoeuropäische , also aus dem Sanskrit , aus Nordindien abgeleitete Sprache. Entgegen den verspäteten Warnungen des britischdeutschen Indologen Max Müller besteht für diese Honoratioren – ebenso wie für die europäischen und die brahmanischen Bildungsschichten – eine Verbindung von Sprach- und „Bluts“verwandtschaft. Indoarier haben Sanskrit nach Nordindien , Nordinder – und keineswegs dravidisch sprechende Tamilen – haben Sinhala nach Ceylon gebracht. Damit verschafft die Sprachund Blutsverwandtschaft dem Vijayamythos eine (kultur)wissenschaftliche , eine philologische Bestätigung. Gefährlich lebt , damals wie heute , wer diese Gleichstellung in Frage stellt.16 Indem die „Sprachwissenschaft“ den letztendlich indo-arischen Rassenkern der „löwengleichen“ Singhalesen beweist , liefert sie zugleich die Vorlage für die „wissenschaftliche“ Aufwertung und Rezeption des gesamten fünfteiligen Mahavamshamythos : Buddhas Inselbesuche und prophetische (Dharmadipa)Vorgabe , Vijayas Seefahrt , Eroberung und Herrschaftsbegründung , schließlich Ashokas Ceylonmission und Dutugemunus Reconquista , all diese Elemente bildeten und bilden heute die Grundlagen einer vorgeblich wissenschaftlich fundierten Inselgeschichte. Dank Archäologie und (Sprach)Verwandtschaftsnachweis gilt der Mahavamshamythos seitdem als historisch ernstzunehmende Chronik. Damit haben die singhalesischen Honoratioren , ob anglikanisch oder neobuddhistisch , seit langem eine Meistererzählung in Händen , mit deren Hilfe sie unangenehmen Forschungsfragen ausweichen können : Kam der Buddhismus nicht vom buddhistischen Tamil Nadu auf die Insel ? Enthält der mehr als ein halbes Jahrtausend später entstandene nordindische Eroberungsmythos nicht gesamtindische Motive , welche in vielen zeitgenössischen Regionalreichsmythen zu finden sind ? Ist die vermutlich indoeuropäische Sprachherkunft des Sinhala ein sekundärer Effekt – geschuldet der Tatsache , dass über Jahrhunderte das Mönchspali auf lokale , dravidische Dialekte einwirkte ? Anagarika Dharmapala , so zeigen die Geheimdienstberichte ebenso wie seine Pamphlete , geht aber weit über dieses Wissenskonstrukt hinaus. Unter seinen Händen entstehen jetzt ein kompakter ethnischer , also singhalesischer Nationalismus und eine Lehre von der Mission des Löwenvolkes. Der Buddha ist ein „Edler“, er hat einen edlen achtfachen (Erlösungs)Pfad begründet. Der Sanskrit- /  Palibegriff für Edel ist „Arya“. Anagarika Dharmapala zeigt , dass es sich beim Buddhismus um eine Rassenqualität handelt , die sich qua 16 Spencer 1990.

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Vijayas Eroberung und Mission auf alle Singhalesen übertragen hat. In seinen Schriften verliert der Buddhismus jetzt seine Offenheit und Universalität , er wird zur exklusiven Religion eines Volkes , der Singhalesen : „Buddhism is spiritualized Aryanism“.17 Konsequent spricht er nur vom Sinhalabuddhismus und von den Sinhalabuddhisten. Die Sinhalabuddhisten herrschen über die Dharmainsel – qua Vorherbestimmung , Eroberung und Bekehrung. Es geht damit seit mehr als zweitausend Jahren um die Verteidigung einer unauflöslichen Dreieinigkeit von „the land , the race and the faith“. Von Anfang an musste das Löwenvolk sich gegen Invasoren und Aggressoren – die Verbündeten Maras , des Teufels – verteidigen. Zunächst attackierten die „Damilas“ die Sinhalabuddhisten , später Portugiesen , Holländer und nunmehr die Briten. Der britische Kolonialismus bildet die bislang tödlichste der Bedrohungen : Die britischen Kolonialherren haben die Tamilen , die bislang nur in Südindien und im fernen Norden und Osten der Insel lebten , als ihre Fachbeamten in alle Amtsstuben der Insel gebracht. Sie haben darüber hinaus mitten im Rückzugsgebiet der Buddhisten , im Hochland von Kandy , einen Kaffee- und dann Teeplantagensektor etabliert. Sie siedelten hier so viele tamilische Kontraktarbeiter an , dass deren Zahl derjenigen gleichkommt , die seit langem auf der Insel leben. Hinzu kommt , dass die Tamilen , Muslime und die Burgher , Nachfahren der Holländer , beständig an Einfluss und Macht gewinnen. Auf der eigenen Insel , der Dharma Dipa , werden die Singhalesen von aggressiven Minderheiten , von Verbündeten der Kolonialmacht , bedroht. Sie drohen selbst zur Minderheit zu werden. Hinzu kommt , dass sich , von den Briten und den Missionaren gefördert , Alkoholkonsum und Fleischgenuss breit machen und Gesundheit und Moral des Löwenvolkes untergraben. Anagarika Dharmapala macht deshalb nicht nur Front gegen Tamilen , Kulis , Moors , Burgher und die britischen Kolonialherren , er entwirft auch ein Programm der nationalen Reform : Singhalesen sollen sich alte , sanskritisch inspirierte Familien- und Vornamen geben und die volkstümlichen oder christlichen ablegen ; ablegen sollen sie aber auch die von den Kolonialherren übernommenen Kleider , insbesondere die Hüte und die elenden , bäuerlichen Hüfttücher. Für eine angemessene einheitliche Neueinkleidung entwirft Anagarika ein neues , ein „National Costume“. Es besteht aus dem alten , nunmehr aber sauber gewaschenen , korrekt gefalteten Hüfttuch und einem von den portugiesischen Herrenhemden abgeleiteten weißen Baumwollhemd. Anagarika hat damit einen neuen , ethnisch 17 Dharmapala in Guruge 1965 , S. 442.

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exklusiven Nationalismus geschaffen , auf buddhistischer , mythischer und inzwischen wissenschaftlicher , historischer Grundlage. Er selbst aber bleibt eine Randfigur. Die um koloniale Anerkennung bemühten singhalesischen Honoratioren lehnen diesen „Marginal Man“ ab. Allerdings , ein gegen Muslime , Moors , gerichteter Hass ist bereits weitverbreitet. 1915 bricht er sich in Angriffen singhalesischer Mobs gegen die Muslime Bahn. Der britische Gouverneur greift mit aller Härte durch und lässt die Drahtzieher der Attacken zum Tode verurteilen. Anagarika wird jetzt auf Dauer , bis zu seinem Tode 1933 , nach Calcutta verbannt. Seine Person und seine Lehre werden aber durch einen machiavellistischen Schachzug der Kolonialbehörde vor der Vergessenheit bewahrt.18 1930 plant London eine weitreichende politische Reform für Ceylon , um den Machtkampf gegenüber dem Congress in Britisch Indien zu gewinnen. Nehru und Gandhi soll anhand eines ceylonesischen Exempels signalisiert werden , dass sie weitgehende Selbstbestimmungsrechte erhalten können – wenn sie auf eine vollständige , formale Unabhängigkeit verzichten. Um dieses stumme Angebot plausibel zu machen , wird die sogenannte Donoughmore-Reform auf Ceylon gegen den Willen der singhalesischen und tamilischen Honoratioren durchgesetzt. 1930 wird der Insel , zum abgrundtiefen Schrecken der singhalesischen Plantageneliten , das vollständige und geheime Wahlrecht zugesprochen. Zugleich erhält eine von Ceylonesen gebildete Regierung fast alle Ministerien und damit die de facto Kontrolle über die Insel. Gegenüber Britisch Indien erweist sich das Manöver als Misserfolg. Auf der Insel aber entsteht nunmehr über Nacht und entgegen dem Willen der einheimischen Eliten eine ethnische , von der singhalesischen Mehrheit dominierte Demokratie. Das neu entstandene Parteienspektrum stützt sich von Anfang an auf die ethnischen Blöcke : Der Ceylon National Congress , 1946 in die UNP verwandelt , mobilisiert die Singhalesen ; der Tamil Congress stützt sich auf die tamilischen , insbesondere die Jaffna-tamilischen Wähler ; der Ceylon Indian Congress , eine zur Partei umgewandelte Teearbeitergewerkschaft , stützt sich auf die tamilischen Plantagenkulis. Da sich der Ceylon National Congress auf drei Viertel der Inselbevölkerung , auf die Singhalesen , stützt , kann er seit 1931 jede Wahl gewinnen , die Regierung stellen und die Politik bestimmen. Die singhalesischen Honoratioren aber , die durch die Donoughmore-Reform über Nacht in die demokratische Massenpolitik gestürzt werden , müssen verzweifelt nach einer ethnischen Mobilisierungsstrategie suchen , mit deren Hilfe sie die Masse 18 Obeyesekere 1979 , S. 279–313.

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der singhalesischen Wähler an sich binden können. Eine solche ethnische Parteiideologie ist auch deshalb unumgänglich , weil die singhalesischen Wähler allen Grund dazu hätten , trotzkistische oder sozialistische Parteikonkurrenten zu wählen. Die Masse der Singhalesen , Kleinbauern und Tagelöhner , ist seit vier Generationen von der singhalesischen Plantagenelite vom Land verdrängt und pauperisiert worden. Von Anfang an greift der Ceylon National Congress deshalb zum rabiaten Nationalismus und Sinhalabuddhismus des Anagarika. Dessen buddhistischer Nationalismus wird von nun an staatstragend und breitenwirksam.19 1948 wird die Insel auf der Grundlage singhalesischer Mehrheitsherrschaft und eines ethnisch polarisierten Parteiensystems in die Unabhängigkeit entlassen. Ein Jahr später entzieht die singhalesische UNP-Regierung den indischen Tamilen , den „Kulis“, das Bürger- und damit das Wahlrecht. Deren Partei , der CIC , kollabiert , das gesamte tamilische Stimmengewicht ist halbiert. Daraufhin spaltet sich vom Tamil Congress eine sogenannte Federal Party ab. Die tamilische „Vote Bank“ verliert somit ihre Bedeutung und ist manipulierbar. 1951 aber wird eine zweite , noch sinhala-radikalere Massenpartei begründet , die SLFP. Sie steht nicht , wie die UNP , rechts , sondern nunmehr links vom Interessenspektrum der singhalesischen Mehrheit. Damit entsteht eine bis heute bestehende pro-singhalesische Zweiparteiendemokratie , bei der sich die beiden singhalesischen „Volks“parteien mit xenophoben Parteiprogrammen wechselseitig übertrumpfen und sich normalerweise – bis auf die Phase 1977–1986 – an der Herrschaft ablösen. Die zwangsläufige Folge dieser aus der Zweiparteienkonkurrenz resultierenden ethnischen Radikalisierung ist zunächst die Vollsinghalisierung des Staates – sprachlich , beschäftigungspolitisch , entwicklungspolitisch , kulturell – und anschließend , in Konsequenz der Ausgrenzung der tamilischen Minderheit , der Bürgerkrieg. Seit 1976 fordern militante Tamilorganisationen , vor allem die „Tiger“, den eigenen Staat. 2009 wird nach einem Vierteljahrhundert dieser Bürgerkrieg durch den Sieg der singhalesischen Armee beendet – der ethnische Konflikt damit aber nicht beigelegt. Diese Geschichte der Singhalisierung und des Bürgerkriegs ist in zahlreichen Studien umfassend analysiert worden. Stattdessen sollen an dieser Stelle Gewalt und Prophetie , also wesentliche Antriebsmomente dieses Prozesses , genauer dargestellt werden.

19 Russell 1982 ; Spencer 1990 , S. 283–300.

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Dharmadipa-Prophetie Seit den 30er Jahren , verschärft seit der dauerhaften Konsolidierung der UNPSLFP-Konkurrenz , also seit dem SLFP-Sieg 1956 , bildet die buddhistische Vorherbestimmung und Sonderstellung der Dharmadipa Ausgangs- und Mittelpunkt politischer Forderungen , Programme , Folklore und Rhetorik. Bis heute bleibt das „wissenschaftliche“ Geschichtsmodell zweifelsfrei und stilprägend für die singhalesische Machtelite : „Two thousand four hundred and forty-six years ago a colony of Aryans from the city of Sinhapura , in Bengal , leaving their Indian home , sailed in a vessel in search of fresh pastures , and they discovered the island which they named Tambapanni , on account of its copper coloured soil. The leader of the band was an Aryan prince by the name of Wijaya , and he fought with the aboriginal tribes and got possession of the land. The descendants of the Aryan colonists were called Sinhala after their city , Sinhapura , which was founded by Sinhabahu , the lion-armed king. The lion-armed descendants are the present Sinhalese , whose ancestors had never been conquered , and in whose veins no savage blood is found. Ethnologically , the Sinhalese are a unique race , inasmuch as they can boast that they have no slave blood in them , and never were conquered by either the pagan Tamils or European vandals who for three centuries devasted the land , destroyed ancient temples , burnt valuable libraries , and nearly annihilated the historic race. The Britons who are now administering the government of the island , two thousand four hundred years ago were in a state of absolute savagery. They were conquered by the Romans , and their men and women were sold as slaves in the markets of Rome. For several hundred years they remained in a state of barbarism , and not until the reign of Elizabeth did the British people emerge from their isolation. Although they are a powerful race today yet their hereditary tendencies of primitive barbarism still cling to them. Cruelty , drunkenness , slaughter of innocent animals , wife-beating , roasting the whole ox on feast days , promiscuous dancing of men and women regardless of the laws of decency , are the vestiges of their primitive customs , when they lived half naked and painted their bodies and wore skins to ward off the cold. Compassion , gentleness , mercy , are divine qualities which are absolutely foreign to the savage. Several centuries of ethical development are required to generate the psychological qualities of perfect manhood in

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a race. The Englishmen of the type of Clive , Warren Hastings , North , Sladen , Rhodes , etc. , men of low morality , have been the chief makers or the present ,British Empire‘. Cunning , intrigue , dishonesty , alcoholism have been the principal instruments of the empire makers on dealing with the unsophisticated Asiatics , who have not the training in the art of political lying. [ …] There exists no race on this earth today that has had a more glorious , triumphant record of victory than the Sinhalese. Sons of Aryan ancestors , they built their first city and called it Anuradhapura , after the prince Anuradha and the constellation Anura. Fifty-four years before the Battle of Marathon , the Sinhalese had conquered Ceylon ; nine years after the conquest of the Kingdom of Candahar by Alexander the Great ; and one hundred and eleven years before the destruction of the Carthagian Power ; and forty-three years before the consolidation of the Roman Empire , the Religion of the Buddha was established. [ …] Neither Jerusalem , Rome , Athens , Babylon , Benares , Gaya , nor Mecca can boast of a continuous stream of pilgrims visiting their shrines uninterruptedly for twenty-two centuries. Jerusalem was destroyed nineteen centuries ago , and it went out of Jewish hands ; Rome , imperial Rome of the great Emperors , declined , and its ancient monuments were destroyed after the introduction of Roman Christianity ; Athens declined after the fall of the Grecian Empire ; Babylon fell after the decline of the Byzantine Empire ; Benares was destroyed by the Mohammedans and so was Gaya. But Anuradhapura , the sacred city , stands today unique with its historic Thuparama and Ratnamali shrines , with its artifical lakes and the sacred Bodhi Tree , the most ancient , historic tree in the world. Brahmanism and Christianity were the two forces that came like avalanches and buried the pure , refined , kindhearted children of Lanka.“20

Seitdem die singhalesische Elite die Regierung stellt , dient ihr der bislang obskure Sinhala-Buddhismus und Nationalismus des Anagarika als Orientierungshilfe und Programm – in vielfacher Hinsicht : Das ausgegrabene Anuradhapura wird jetzt zu einem antikolonialen Kampfgebiet und singhalesischen Nationalmonument erhoben. Inzwischen besuchen Tausende von Pilgern , aber auch von Touristen die ausgegrabene Stadt. Es haben sich Basare , Hotels , 20 Dharmapala in Guruge 1965 , S. 479–482.

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Schnapsläden und Schlachtereien – und die Minderheiten , Moors und Tamilen – etabliert. Daran nehmen Reformmönche und die „Sinhala-Buddhisten“ Anstoß. 1903 brechen erste Unruhen aus ; aber erst seit den 30er Jahren mit der Machtergreifung durch CNC /  UNP kann das Projekt einer „Säuberung“ der Ruinen , eines Abrisses der für Reformbuddhisten anstößigen Gebäude und eines Neubaus einer weit entfernt liegenden modernen Versorgungsstadt durchgesetzt werden. Es ist der junge Bandaranaike , der als Local Government Minister diesen Plan umsetzt. Er kommt ihm auch politisch zugute. Für seine bislang noch nicht zur (SLFP)Partei aufgewertete Bewegung Sinhala Maha Sabha – Großversammlung der Sinhala – nutzt er jetzt die heiligen Orte als Versammlungsplatz. Seinem Beispiel folgen rasch die UNP und bis heute alle ehrgeizigen singhalesischen Politiker. Die Ruinen , vor allem die als anti-tamilisches Monument verstandene Maha-thupa Dutugemunus , der „große Reliquienhügel“, werden jetzt wenig sachgemäß , aber monumental restauriert. Bei der Rekonstruktion findet man eine Statue , die den Nationalisten seitdem als Dutugemunu gilt – es ist vermutlich ein Buddha mit der in Furchtlosigkeitsgeste erhobenen rechten Hand. Die Politiker stellen sich neben sie , halten Reden und legen anschließend in gleicher Handstellung ein Gelübde , ein politisches Versprechen ab. Aber nicht nur Anuradhapura wird zu einem Zentrum des Sinhala-Buddhismus. Alle legendären 16 Besuchsorte des Erhabenen werden jetzt , manchmal wider besseres Wissen , bestimmt , ausgegraben und politisch und religiös wieder in Betrieb genommen. Acht befinden sich in Anuradhapura , weitere acht in allen Himmelsrichtungen und Regionen der Insel. Dies erlaubt vordergründig pietätvolle , unterschwellig militante inselweite politische Umzüge und Prozessionen. „Heiliges“ Wasser aus allen Strömen oder neuen Wasserkraftwerken wird über das Sakralzentrum Kandy an die jeweiligen Stupas gebracht , die Buddhafiguren damit gewaschen. Das Löwenvolk bekräftigt damit einen neuen Kontrollanspruch auf alle , also vor allem auf die tamilischen Gebiete im Norden , Jaffna – „Nagadipa“ – und Osten – „Dighavapi“, ebenfalls ein vorgeblicher Landeplatz des Buddhas. Die Prozessionen nehmen oft Buddhastatuen mit , über den Prozessionsjeeps fliegen Helikopter , aus denen Blumenblätter oder heiliges Wasser hinabregnen.21 Dem gleichen Ziel dient eine seit den 30er Jahren unter dem Local Government Minister verstärkte Neigung , überall Sprösslinge des Bhobaumes einzupflanzen. Seit der Jahrhundertwende hatten einzelne Reformmönche die britische Kolonialverwaltung bereits dadurch provoziert : Entweder hatten 21 Tennekoon 1988 , S. 294–310.

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sie vorgebliche heilige Pipalbäume inmitten eines Regierungscompounds zu verehren begonnen oder an prominenter Stelle Bhosprößlinge eingepflanzt – etwa an Stellen , wo einst Stupas gestanden haben sollen. Sie hatten damit lokale Unruhen provoziert und manchmal der vorsichtigen Kolonialmacht Geldzahlungen abgepresst – damit sie sich wieder zurückzögen. Diese Pflanzkultur dehnt sich nunmehr bis heute auf die ganze Insel aus : Keine Dorfsanierung – buddhistische „Dorferweckung“ – , keine Raiffeisenbankoder Projekteröffnung ohne Bhobaumpflanzung. Aus einer begrenzten , auf den Gayabaum zurückgehenden , sakralen Genealogie wird eine von UNP und SLFP monopolisierte partei- und entwicklungspolitische Dauertätigkeit. Zugleich nimmt der Bau von „politischen“ Stupas und anderen Monumenten zu. Nicht mehr lokale Kasten- und Laienkomitees , sondern die von Olcott und Anagarika gegründete Mahabodhigesellschaft oder UNP- und SLFP-Politiker errichten jetzt Monumente. Solche riesenhaften Stupas entstehen an prominenter Stelle – im Colombohafen oder auf Hügeln – , wo sie die großen anglikanischen oder katholischen Kirchen überragen. Vor allem greift man die auf das Raja Ratha zurückreichende Sitte auf , vereinzelte , monumentale Buddhastatuen zu errichten. Im Tiefland bei Colombo , vor allem aber in den singhalesischen Neusiedlerkolonien werden riesige , die Landschaft überragende sitzende , vor allem aber stehende Buddhafiguren errichtet. Aus Zement modelliert und glänzend weiß gekalkt , „segnen“ und schützen sie die Löweninsel. Vor allem mit dem Wahlsieg der SLFP nehmen diese Geschichtsverweise , symbolischen Aktionen und militanten Inszenierungen zu – bei beiden Parteien. Die SLFP stellt 1956 mit Erfolg ihren „millenaristischen“ Wahlkampf ganz unter das Motto der „Buddha Jayanti“ und des „Mara Yuddhaya“: 1956 sollen 2.500 Jahre vergangen sein , seitdem „der Buddha Erleuchtung fand“; so lange aber herrscht auch der „Kampf des Teufels“, der bereits in Gaya versucht hatte , durch schöne Frauen , Lanzenangriffe , Dämonen , Gewitter und Terror den Buddha von seiner Erkenntnis abzubringen. Seitdem hat sich Mara in den Damilas , den Kolonialherren und Missionaren , in Alkohol , sexueller Freizügigkeit und Tierschlachtung inkarniert und manifestiert. Um die Wähler davon zu überzeugen , bringen die mit Bandaranaike verbündeten Mönchsorganisationen 1956 ein Wahlkampfbild heraus : „Der Kampf Maras“. Die Karikatur ist dramatisch : Gegen den unter dem Bhobaum meditierenden Buddha rennt von rechts eine wüste Horde von Feinden an. Auf einem rasenden UNPElefanten , der sich mit dem Rüssel Schnaps in das Maul schüttet , hat der als Atheist und Frauenheld verachtete UNP-Premier Platz genommen. Er richtet

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seine Lanze auf den Buddha , neben ihm sitzt eine halbnackte Bayadere , eine seiner vielen Freundinnen. Neben dem Elefanten marschieren amerikanische Geschäftsleute , die den Buddha mit einer riesigen Dollarmünze bestechen wollen. Hinter dem Elefanten tanzt ein UNP-Politiker mit einer Europäerin und schwenkt eine Singhalesin ein Sektglas. Ein getötetes Kalb wird auf einem Handkarren herbeigerollt , es erinnert daran , dass UNP-Premier Kotelawala in aller Öffentlichkeit ein Kalb gegrillt und aufgeschnitten hat. Vor dem Hintergrund einer christlichen Kirche stürmen Soldaten mit Bajonetten heran. Feindselige Politiker schwenken UNP-Lakehouse-Zeitungen. Alle Gewalt und alle Verlockung sind jedoch vergeblich , weil der Erhabene an seinem Glauben festhält. Unter dem Bild steht : „In diesem Jahr des Buddha Jayanti rette Dein Land , Deine Rasse und Deinen Glauben vor der Macht Maras.“22 Die Karikatur wird inselweit verteilt und trägt erheblich zum Wahlsieg der SLFP bei. Seitdem ist der einst nur von Anagarika kultivierte Minderheitskomplex Allgemeingut geworden : Nur auf der Dharmadipa blüht der wahre Glaube , die Minderheit der Singhalesen aber ist umgeben von unzähligen äußeren und vor allem inneren Feinden. Die massenpsychologischen Folgen dieses Bildes zeigen sich daran , dass viele Singhalesen inzwischen überzeugt sind , dass der eigentliche , der ursprüngliche Bhobaum in Anuradhapura steht , der Buddha folglich ein Singhalese war – befinden sich nicht alle wichtigen Reliquien auf Lanka ? Singhalesische Kinder , aufgefordert , „Apa Gama“, „Unser Dorf“, zu zeichnen , zeichnen auch unbeirrt einen Bewässerungsteich und eine Stupa , „Tank and Temple“, „Wewa aur Dagoba“, weil dies die seit Jahrzehnten festgelegte Schulbuchformel ist – obwohl in der Mehrzahl der Dörfer keine Stupa steht und im (Monsun)Südwesten nur selten ein Bewässerungstank. Die Vollalphabetisierung in Sinhala seit 1956 geht einher mit der „Sinhala-Buddhisierung“ des Primarschulunterrichts. Die Schulkinder werden damit von Anfang an mit den fünf Bestandteilen jetzt nicht mehr eines Mythos , sondern der offiziellen Nationalgeschichte vertraut gemacht. Seit Anfang der 70er Jahre bildet diese nunmehr wahlfähige , militante und arbeitslose Jugendgeneration deshalb einen neuen beunruhigenden Faktor der singhalesischen Innenpolitik. 1973 versuchen singhalesische Jugendliche mit Hilfe eines vordergründig maoistischen , in Wirklichkeit radikal-chauvinistischen Aufstandes , die Macht an sich zu reißen. Nur mit Mühe kann die Jugendrevolte mit sowjetischer , britischer und indischer Militärhilfe niedergeworfen werden. 30.000 Jugendliche werden interniert , „umerzogen“, 5.000 22 Rösel 1996 , S. 194.

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getötet. Aus ihren Schulbüchern hatten die Aufständischen unter anderem das Folgende gelernt : „‚In der großen Schlacht von Vijitapura wurde der Mut unserer Feinde von Dutu Gemunu aus Ruhuna zerschlagen. Wiederum triumphierten unsere Krieger ( …) Auch du mein Kind dieser Hela-Erde hattest das Glück , als Hela-Kind geboren zu werden. Werde stark und wachse heran , um der Welt den Glanz dieser Erde zu zeigen.‘ (im Sinhala-Reader für die 5. Klasse) ‚Unter dem Baum , nahe dem Strauch , neben diesem Fels ( …) floß SinhalaBlut zur Rettung des Vaterlandes … Der neue Monsunwind bläst aus dem Nordosten , die neue Sonne blickt morgens zuerst auf dieses Gestade. Seit 2500 Jahren ist dies das Land unserer Nation , die Totenglocke der Singhalesen wird an dem Tag erklingen , an dem wir dieses Land verlieren.‘ (im Sinhala-Reader für die 9. Klasse)“23

Durch Sinhala-Buddhismus , chauvinistische Zweiparteienkonkurrenz und durch eine spektakuläre Bevölkerungszunahme bei ungenügendem Wirtschaftswachstum ist der singhalisierte Staat bis 1973 , einem Dampfkessel vergleichbar , unter einen unkontrollierbaren Problemdruck geraten : Mit Hilfe von Verstaatlichungswellen haben SLFP und UNP die tamilischen Minderheiten in vielen Wirtschaftsbereichen entlassen , um Platz für arbeitslose , chauvinistische Jugendliche und Parteigefolgschaften zu schaffen. Diese Strategie hat sich Anfang der 70er Jahre totgelaufen. Der Aufstand von 1973 ist die erste „Revolution der gestiegenen (und frustrierten) Erwartungen“ der chauvinistischen Jungwähler. Der „Sozialismus“ der bis 1978 herrschenden SLFP führt das Land in die Isolation , den Bankrott und in die erste inselweite Hungerkrise. Damit bleibt der 1977 mit einer 5 /  6 Parlamentsmehrheit siegreichen UNP nur ein Weg , um die Sinhala-Ideologie und ihre eigene Vorrangstellung abzusichern. Sie errichtet jetzt ein de facto Einparteiensystem – verschleiert als „französischer Semipräsidentialismus“; sie liberalisiert die Inselökonomie – im Rahmen eines der ersten radikalen und erfolgreichen Strukturanpassungsprogramme ; und sie geht mit aller Macht gegen die Tamil Tiger vor , die inzwischen den Separatstaat fordern.24

23 In Siriwardena et al. 1982 , S. 26. 24 Manor 1984 , S. 1–32.

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Alles das bildet aber nur den Rahmen für eine machtvolle innenpolitische Neuinszenierung der Dharmadipa und Sinhala-Ideologie. Bereits die Briten hatten begonnen , in der aufgegebenen Nord- und Trockenzone alte Staudämme wiederherzustellen ; auch in den 50er und 60er Jahren waren Bewässerungs- und Umsiedlungsprojekte durchgeführt worden. Jetzt , unter dem neuen „imperialen“ Präsidenten J. R. Jayewardene kommt es zu dem Plan einer gewaltigen buddhistischen Reconquista des verlorenen Nordens. Das alte Rajaratha , das buddhistische „Zion“, soll zurückgewonnen werden : Das größte innenpolitische Problem seit der Jahrhundertwende ist die Landarmut der seit über 500 Jahren im Südwesten , um Colombo siedelnden Mehrheit der Singhalesen. Die Landarmut ist hausgemacht : Die Bodenspekulation der singhalesischen Planterelite im Hochland , vor allem aber ihre immensen Kokosplantagen im Tiefland , der ursprünglichen Kornkammer der Insel , haben die Mehrheit der Singhalesen enteignet und pauperisiert. Diese , die UNP und SLFP dominierende Elite denkt aber nicht an eine Bodenreform. Hinzu kommt , dass die Malariaausrottung und eine exemplarische Gesundheitsversorgung eine Verdoppelung der Bevölkerung bewirkt haben – von 1946 bis 1971. Gestützt auf die Entwicklungszusagen der Weltbank und großer EULänder glaubt Jayewardene , den Gordischen Knoten zerschlagen zu können : durch ein „beschleunigtes Mahaweli-(Bewässerungs)Programm“. Er stilisiert sich jetzt zum „Dharmaraja“ und trägt auf seinem National Costume eine entsprechende Schärpe ; das Mahavamsha lässt er bis zu seinem Regierungsantritt weiterschreiben ; nach Wahlen verspricht er den Oppositionswählern , er werde ihnen kraft seines kosmischen buddhistischen Mitleids verzeihen.25 Insgesamt , in seinen Reden und im neuen Mahavamsha kündigt er die Wiederkehr eines buddhistischen Gerechtigkeitszeitalters , einer „Dharmista Rajya“ an. 20 Kilometer westlich von Colombo wird mit Hilfe von japanischen Entwicklungskrediten die letzte buddhistische Hauptstadt wiedererrichtet – als gigantischer neuer Parlamentspalast in der Form einer kandysinghalesischen Königshalle , inmitten eines künstlichen „Wewa“, eines Bewässerungsteichs , umstanden von Stupas , Viharas und einer gigantischen Buddhafigur. Die alte Hauptstadt hieß glücklicherweise – wie die neue – „Sri Jayewardena Pura“. Seine zwei wichtigsten Minister, R. Premadasa und G. Dissanayake, sind aber dazu ausersehen , die Dharmadipa in den Zustand des Heils und der Macht zurückzuversetzen , wie zu Zeiten der Blüte Anuradhapuras : Dissanayake ist der Mahaweli- und Umsiedlungsminister. Mit Hilfe deutscher , hol25 Kemper 1990 , S. 187–204.

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ländischer und britischer massiver Finanzzusagen wird der größte , ganzjährige Strom der Insel , die Mahaweli , in vier gewaltigen Reservoirs aufgestaut. Die Weltbank koordiniert das Projekt. Nach außen , auf Englisch , in Washington , wird das Projekt als Energiegewinnungsprojekt dargestellt ; nach innen , auf Sinhala , zeigt sich , wie einst bei Anagarika , eine andere Seite : Dissanayake und Jayewardene schwadronieren jetzt von der Umsiedlung , der Rückkehr der Tausenden und Abertausenden von Singhalesen in ihre alte Heimat , die sie zu Unrecht vor 1000 Jahren verlassen mussten. Es ist von historischer Wiedergutmachung die Rede – wenn etwa den tapferen Kandysinghalesen ein primäres Rückkehrrecht zugesprochen wird. Die Kunstsiedlungen sollen – „Tank and Temple“ – Archetypen der alten , klassischen Raja-Ratha-Dörfer bilden ; hier sollen die alten Handwerkskünste , Ayurveda und Sinhala-Maskentänze aufleben – angeblich auch für touristische Zwecke. Die Siedlungsgebiete , so groß wie das Saarland , sind nur den Singhalesen , nicht den Minderheiten vorbehalten. In die Gebiete werden riesige Buddhafiguren gestellt. Neuerfundene Wasserpujas und Wasserprozessionen werden anlässlich der Eröffnung der Staudämme organisiert. Hübsche singhalesische Nymphen und „Fruchtbarkeitsgöttinnen“ tanzen vor den erstaunten Diplomaten und Entwicklungsexperten. Was der Mahaweliminister ihnen zu sagen vergisst , ist : Der Schwerpunkt der Neusiedlungen liegt gar nicht in der alten Trockenzone , sondern im Hinterland der Ostprovinz. Das Umsiedlungsprojekt dient dazu , die ethnische und politische Balance in der Ostprovinz zu kippen ; es dient der Vertreibung der tamilischen und der tamilisch-islamischen Bauern ; es verschärft den anlaufenden Bürgerkrieg. Während Dissanayake blumig die Wiedereroberung der Dharmadipa seitens des Löwenvolkes antizipiert und zelebriert , hat Premadasa eine andere Aufgabe.26 Er ist „Buddha Sasana Minister“; er ist also für die seit 1971 in die Verfassung eingeschriebene Vorrangstellung und -förderung des buddhistischen Ordens zuständig. Denn , der Buddhismus ist keine Religion , er ist eine Philosophie der Toleranz , er steht damit über den eigentlichen Religionen , wie Hinduismus , Christentum und Islam. Dharmadipa und Rajaratha ruhten auf dem Heils- und Wohlstandsaustausch von Mönchen und Bauern , im Kleinen ; Sangha und Dharmaraja im Großen. Jayewardene ist für das Große , Premadasa für das Kleine zuständig. Er muss die „Dörfer (wieder)erwecken“: mit Hilfe der nationalen Lotterieeinnahmen , privater Geldsammlungen und Kleiderspenden. Die „Zivilgesellschaft“ und vor allem die lokale UNP-Gefolgschaft 26 Rösel 1996 , S. 86–121.

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ist gefragt : Es geht aber nicht nur um Erweckung , sondern auch um UNPKontrolle. Premadasa ebenso wie der neue Dharmaraja sehen in einer parteilosen Demokratie , in der Keinparteienherrschaft , die Grundlage einer buddhistischen Gerechtigkeitsherrschaft. Durch die Parteien , Teile , Partikel gegen das Ganze wird Streit in alle Bereichen der Gesellschaft getragen : Anlässlich einer Dorferweckung erklärt Premadasa 1984 : „It is because of this party system that disunity , division and rivalry have arisen in society. We see even the young and growing children getting divided [ … ]This party system is not going to be a permanent feature of our life , but humanity is permanent. I have a vision of future development , I see in my mind’s eye a new situation arising [ …] where people will reject this party system altogether and it will vanish from our life [ …]“27

Schafft man die Parteien ab , so endet Streit , Yuddha , und es herrscht Ruhe , Shanti. Deswegen soll es auf Dorfebene keine Wahlen mehr geben , stattdessen Dorferweckungs- bzw. Entwicklungskomitees. Ex officio sind in ihnen die Dorfmönche und die Vorsitzenden zivilgesellschaftlicher und entwicklungsrelevanter Organisationen Mitglied. Das sind die Leiter der (buddhistischen) „Gut-Sterbevereine“, des „Youth Club“, der lokalen Molkereivereinigung , der Tempeltrustees etc. Zufälligerweise sind die meisten von ihnen in den 80er Jahren UNP-Mitglieder. Diese Erweckungskomitees in Zusammenarbeit mit Premadasas Erweckungsministerium sorgen für die buddhistische Regeneration von Dörfern – den Bau von Häusern (für UNP-Wähler) und Postfilialen ; das Pflanzen von Bho-Bäumen ; die Aufstellung von inzwischen serienmäßig in Beton gefertigten Buddhafiguren. Nach der Erweckungsarbeit erhalten die Dörfer oft einen neuen , pietätvollen buddhistischen Namen – Maidri Gama (Dorf des Mitleids) , Samadi Gama (Dorf der Erlösung). In zwischen SLFP und UNP polarisierten Dörfern kann es zum völligen Neubau kommen. Die erweckten (UNP-) Bauern siedeln dann in Distanz zu den zurückgelassenen Verlierern – aber im Genuss des Stromes , des Wassers und der Postverbindung. Einmal im Jahr zelebriert der Minister in dem zur Erweckung adoptierten Distrikt eine Erweckungsfeier mit historischen Umzügen und Repräsentationen : „A striking exhibit of the Gam Udawa 88 at Anamaduwa is the artistic rendering of the arrival of Vijaya and his followers from India. There are bigger 27 Bei Kemper 1989 , S. 31.

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than lifesize images of Vijaya in Royal attire … in the background , in relief , are the followers of Vijaya wading through the shallow seas [ …]“ (Daily News 10. 4.  1988)

Die Prophezeiung des Buddha , die Dharmadipaprädestination , ist damit zum fortdauernden Orientierungsschema , Paradigma , Programm und auch Imaginationsmodell der singhalesischen Parteiwählermassen geworden. Psychologisch und propagandistisch konzeptualisiert man die Heimat als Maragefährdete und Bho-Baum-überdachte Insel. Parteien fordern entwicklungspolitische Vorfahrt für das auserwählte und zugleich gefährdete Löwenvolk ; Schulbücher , Politiker , Journalisten spielen ständig mit der Innen- und Außenperspektive von prädestinierter Mehrheit und gefährdeter Minderheit : Etwa der UNP-Hardliner C. Mathew : „Tamils can go everywhere , Sinhalese can go nowhere“.28 Diese Ambivalenz muss Gewaltbereitschaft geradezu systematisch erzeugen : Als Mehrheit und Löwenvolk ist man zu Gewalt prädestiniert und berechtigt , als Minderheit und Opfer innerer und äußerer Feinde ist man zu Gewalt verpflichtet : Gewalt ist Mission und Notwendigkeit. Sie ist das notwendige Korrelat der politisch radikalisierten , der zur Geschichtsideologie transformierten Prophezeiung.

Gewalt Seit Anagarika , vor allem aber seit dem Einsetzen der UNP- und SLFP-Herrschaft avanciert Dutugemunu zum Prototyp des singhalesischen Nationalhelden ; damit wird zugleich dessen Tröstung durch acht Arhants zur neuen moralischen Maxime : Das Töten nichtbuddhistischer Feinde ist kein Frevel : „From this deed arises no hindrance in thy way to heaven[ …] Unbelievers and men of evil life (are) not more to be esteemed than beasts.“ (MV XXV : Vers 109 / 110) Vor Dutugemunus angeblicher Statue legen die Politiker Gelübde ab. Noch bemerkenswerter : Weit länger als ein Jahrtausend hatte ein Grabhügel in Anuradhapura als Elaras Grab gegolten und bei Hindus wie Buddhisten tiefe Verehrung gefunden. Nach der Unabhängigkeit gilt der Erdhügel jetzt aber als „Dakkhina Thupa“, „Südliche Stupa“. 1979 wird die Thupa schließlich zum wahren Grab des Befreiers erkoren : Der neue Dharmaraja Jayewardene lässt die 28 In Rösel 1996 , S. 175.

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Stupa ausgraben , die gefundenen Aschereste gelten als diejenigen Dutugemunus und werden jetzt öffentlich ausgestellt. In der vom Kulturminister dazu veröffentlichten Broschüre heißt es : Diese Reliquie diene dazu „(to) impress the minds of both the present and future generations of the virtues , heroism , nationalism , patriotism , religious devotion and piety of the great king Dutu Gemunu.“29 Ein Dutugemunukult entsteht. Der Siegeszug des Helden aus dem Süden wird rekonstruiert , auf Karten vermerkt und entlang des Weges werden Stupas und Viharas errichtet. Dutzende von Mönchen , Blumenkettenverkäufern und Teebuden profitieren davon. Es gibt Dutugemunuregimenter , Statuen , drei historische Schauspiele , drei epische Gedichte. Eine Parteirede ohne Bezug auf oder Vergleich mit dem Nationalhelden muss als unvollständig gelten. Alle Details seines Lebens sind jetzt sprichwörtlich geworden und informieren die politische Rhetorik und Folklore. So soll Dutugemunu seinem feigen Vater Frauenkleider geschenkt haben : 1986 bringen unzufriedene Soldaten heimlich Frauenkleider an der Villa Jayewardenes an etc. Weitaus beunruhigender aber ist die seit der Jahrhundertwende beobachtbare , vor allem seit der Unabhängigkeit eskalierende politische Gewalt. Sinhala-Nationalismus und vor allem anti-tamilische Gewalt treiben sich wechselseitig an. Seit der Jahrhundertwende registriert die Kolonialmacht eine neue Militanz einzelner Reformmönche und deren Fähigkeit , lokale Gefolgschaften gegen die Kolonialmacht , vor allem aber gegen die Minderheiten zu mobilisieren. 1915 zeigt sich ein erster fremdenfeindlicher Aufstand – gegen die den Reformbuddhisten verhassten „raffenden“, tierschlachtenden , tabakimportierenden Moors.30 Seit dem Wahlsieg der SLFP , der offiziellen Machtübernahme eines militanten Staatsbuddhismus und dem Einsetzen der Vollsinghalisierung des Staates zeigen sich zwei beunruhigende Trends : Singhalesische Mobs attackieren die Minderheiten , vor allem die Sri Lanka-Tamilen , oft aber auch Ersatzopfer , die leicht erreichbaren Plantagentamilen. Vor allem aber : Nach jeder Wahl brechen jetzt tagelange Unruhen zwischen SLFP- und UNPAnhängern aus. Beide Gewaltphänomene sind eng miteinander verbunden.31 Post election riots : Seit 1956 wechseln sich die beiden Sinhala-nationalistischen Volksparteien an der Macht ab – 1960 , 1960 , 1965 , 1971 , 1977. Beide Parteien versprechen ihren arbeitslosen , voll alphabetisierten und militanten Jungwäh29 Ebd. , S. 182. 30 Jayawardena 1970 , S. 223–233. 31 Manor 1979 , S. 21–46.

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lern Staatsstellen , Gelegenheitsjobs oder (Erwerbs)Lizenzen – auf Kosten der Tamilen : dank neuer Verstaatlichungen oder in neuen Staats- und Entwicklungsprojekten. Zugleich entlässt der Wahlsieger Tausende von Staatsangestellten , die Gefolgsleute der Vorgängerregierung. Der Wahlkampf ist zu einem Kampf um Arbeitsplätze auf Kosten der Minderheiten und der Wahlverlierer geworden. Die Wahlkampfbeteiligungen steigen jetzt auf über 70 Prozent. Mobs beider Parteien , in die Parteisymbole eingekleidet , durchstreifen am Wahltag die Nachbarschaften – „to get the vote out“. In der radikalisierten Atmosphäre kennen die Bewohner die Sympathien und Parteimitgliedschaften ihrer Nachbarn. Der Wahlsieg von SLFP oder UNP gilt damit den jeweiligen Jugendlichen als Triumph. Er wird mit Feuerwerk , reichlich Alkohol , Gesängen , Tänzen und Prozessionen gefeiert. Wie von selbst gehen die Siegesfeiern in Massenschlägereien , sehr rasch in das Plündern und Abbrennen der Häuser der Wahlverlierer über. In Dörfern und Stadtvierteln kennt man sich , viele Rechnungen sind offen. Zwar wird nunmehr nach jedem Wahltag ein inselweiter „Curfew“ ausgerufen – aber Sri Lanka verfügt lediglich über eine „Parade Ground Army“. Hinzu kommt , dass der gesamte Staatsapparat , auch Polizei und Armee durch Parteienpatronage inzwischen demotiviert und gespalten ist. Diese Gewalt ist ein Alarmzeichen für die Unfähigkeit des singhalesischen Staatswesens , immer mehr und immer militantere SinhalaJugendliche ökonomisch zu integrieren und politisch zu kontrollieren. Bald zeigt sich der erste koordinierte Gewaltausbruch gegen den eigenen Staat , der Aufstand von 1973. Er wird blutig unterdrückt , aber wenige Jahre später sind die Rädelsführer wieder entlassen und aus opportunistischen Gründen lässt die UNP – um der eher linken SLFP Jungwähler zu stehlen – diese „maoistische“ und zugleich Sinhala-buddhistische Organisation als (Jugend)Partei wieder zu. Nachdem Indien 1987 der Jayewardene-Regierung eine Lösung des Tamilenkonflikts aufzwingt , bricht ein zweiter , weit schlimmerer Jugendaufstand aus : diesmal als Schattenkrieg. Die JVP , die „Volksbefreiungsfront“, so zeigt sich , hat jetzt fast die Gesamtheit der männlichen Jugendlichen , vor allem der abgelegenen und der Südregionen hinter sich. Sie haben alle von Jayewardenes fabelhaftem Liberalisierungskurs und Wachstum nicht profitiert. Im Dunkel der Nacht greifen diese ländlichen Verlierer die mit Sandsäcken und Scheinwerfern geschützten Bungalows der UNP-MPs , der Parlamentsabgeordneten , an. Oft wird die ganze Familie ausgelöscht. Die Leichen werden zerhackt , die Körperteile in den Palmen des Dorfes aufgehängt. Beamte , Basarhändler , Polizisten , die weiterhin Dienst machen oder ihre Läden öffnen , werden mit dem Tode bedroht. Ein Zettel , von einem Zwölfjährigen

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auf dem Fahrrad überbracht , reicht aus , um Ministerien , Polizeistationen , den internationalen Flughafen zu leeren. Basar- und Kleinstädte werden zu Geisterstädten. Das UNP-Regime und Jayewardene kämpfen jetzt um ihr Überleben – ebenfalls im Untergrund , mit Hilfe von Todesschwadronen. Der zunächst gelähmte UNP-Einparteienstaat schlägt schließlich zurück – mit Dienstwagen ohne Nummernschild und all seinen lokalen Beamten in Zivilkleidern. Nach der Vergeltungsformel 1 :10 oder 1 :20 bezahlen die lokalen Jugendlichen einen politischen Mord mit ihrem Leben. Sie werden zu Tode gefoltert , in den benachbarten Wahlkreis gefahren , hier werden die Leichen auf sogenannten „Höllenfeuern“ oder (buddhistischen) „Dharmachakras“, „Rädern der Lehre“, also auf Autoreifen , verbrannt. Oder die Leichen werden in Flüsse oder ins Meer geworfen. Der britische Botschafter warnt schließlich die UNP-Wirtschaftselite : „Dead bodies on the beach are bad for business“. Um den Preis von geschätzten 60.000 „verschwundenen“ Jugendlichen wird der Aufstand niedergeschlagen. USA und EU schweigen. Danach setzt der gewohnte Machtwechsel zwischen den beiden etablierten Parteien wieder ein.32 Es herrscht bis heute eine Konspiration des Schweigens. Das Gewaltpotential innerhalb der singhalesischen Bevölkerung , vor allem der Jugendlichen , aber besteht weiter. Es würde sich sofort entladen und jede Regierung wegfegen , die wie Jayewardene 1987 – unter indischem Druck – politische , „ethnische“ Konzessionen an die Tamilen macht. Mit einem solchen (Friedens)Angebot ist allerdings nicht zu rechnen , seitdem der neue starke Mann aus dem Süden , Staatspräsident Rajpakshe , SLFP , die Tiger Organisation und Tausende von Zivilisten Anfang 2009 militärisch vernichtet hat. Dementsprechend lässt er sich seitdem als Dutugemunu feiern. Ausschreitungen gegen Minderheiten : Der SLFP-Wahlsieg 1956 begründet nicht nur mit der radikalen Zweiparteienkonkurrenz eine innersinghalesische , am Ende der Parteienkontrolle entgleitende Gewaltbereitschaft , der Wahlsieg öffnet die Tore für eine jetzt zunehmende Gewalt gegenüber den Sri LankaTamilen. Das Entwicklungs- und Begründungsschema ist einfach : Die meisten Singhalesen und immer mehr Jugendliche glauben , dass erst seit 1956 die Mehrheit , das Löwenvolk , seine berechtigte Vorrangstellung nach Jahrhunderten wieder durchsetzen kann : durch die wortwörtliche „Sri Lanka Freedom Party“. In den Augen dieser Wähler ist es nur gerecht , wenn ihre Sprache Staatssprache ist , wenn im Staatsapparat und in der Staatsindustrie vorrangig 32 Rösel 1997 , S. 249–290.

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Singhalesen beschäftigt werden ; wenn sich Entwicklungsprojekte auf den singhalesischen Siedlungsraum konzentrieren ; wenn singhalesisches (Mahaweli) Wasser nur singhalesischen Siedlern im ehemals singhalesischen Siedlungsland zugute kommt. Jeder Protest der Tamilen muss und darf deshalb massiv beantwortet werden – von Polizei , Mönchen , SLFP- und UNP-Gefolgschaften oder den Bürgern. Damit besteht seit 1956 ein Gewaltkreislaufmodell , bei dem harmlose Zwischenfälle massive singhalesische Reaktionen auslösen. Nicht nur geht der Kreislauf rasch weiter ; auf der singhalesischen Seite zeigt sich seit 1956 die beunruhigende Tendenz , dass über das gesamte singhalesische Siedlungsgebiet hinweg kompensatorische Attacken auf Tamilen verübt werden. Die Gewalt wird unberechenbar – sie breitet sich , beliebige Distanzen überspringend , aus wie ein Buschfeuer.33 James Manor schildert in seiner großartigen Bandaranaike-Biografie einen der ersten dieser Gewaltkreisläufe : „(In 1958) The first serious violence was touched off by an innocuous incident in Valaichennai , a mainly Tamil town on the east coast rail line. Sinhalese travellers inflated this into a Tamil atrocity and carried it forty miles westward along the railway to the mainly Sinhalese city of Polonnaruwa. This had an incendiary effect upon people there , and at about midnight on the night of 22–23 May , about 500 agitated Sinhalese met a train at Polonnaruwa station which was believed to contain Tamils. They found only one passenger on board whom they severely beat without allowing him to explain that he was not a Tamil. On the next night , the 23rd , near Eravur , another train was derailed , resulting in three deaths. The train was then attacked and most of the injured were Sinhalese. Meanwhile , back in the Polonnaruwa area on the 24th , at every main junction large crowds of Sinhalese thugs gathered , halted vehicles that passed by and assaulted passengers who were in them. These sometimes murderous attacks were directed against Tamils. They were accompanied by successful intimidation of Sinhalese merchants who had been asked by hard-pressed civil servants to provide food for Tamils in their care. On the evening of the 24th , the station was again invaded by a crowd of ,nearly a thousand‘ who assaulted numerous persons and wrecked property until armed police cleared the area. At Giritale , five miles to the north , several persons were grievously wounded that night by toughs. At nearby 33

Ebd. , S. 162–182.

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Hingurakgoda , a mute scavenger of indeterminate communal origins was brutally murdered , while there and at Minneriya – eight miles from Polonnaruwa – men were burned alive. ( …) At several places , strangely naive and revealing reactions occurred when police came to the aid of Tamil victims. In Kurunegala , bhikkhus led a procession through the streets to protest the arrest of a man who had stoned Tamil shops. Their assumption was that with state power in the hands of men elected by the Sinhalese revival such things should be permitted. The same evening , a policeman was stabbed when he intervened to stop a murderous attack upon Tamils there. At two other places police had to open fire when their stations were attacked for similar reasons. In one case , the crowd of between 1000 and 3000 apparently did not believe that this government’s security forces would fire upon them.“ 34

Diesem Beispiel könnten Dutzende von weiteren beigefügt werden. Die Gewaltkreisläufe münden schließlich in den anlaufenden Bürgerkrieg. Er beginnt 1983 mit den tagelangen , von UNP-Gefolgschaften organisierten Pogromen an Tamilen , vor allem in Colombo , aber auch im übrigen singhalesischen Siedlungsgebiet. Mit dem offenen Bürgerkrieg setzt schließlich die neue , die mechanische Gewaltlogik des Krieges ein. Weder auf die früheren Gewaltkreisläufe noch auf die Bürgerkriegsgewalt soll hier detailliert eingegangen werden. Unser Augenmerk richtet sich vielmehr auf die Verbindung zwischen Prophetie und Gewalt , zwischen Nationalismus und Gewaltbereitschaft. Gibt es eine Verbindung zwischen Sinhala-Mythos oder -ideologie und Gewalt ? Und : Welche motivierende oder blockierende Rolle kommt in diesem Wirkungszusammenhang dem vorgeblich friedlichen Buddhismus zu ? Nach einer theoretisch begründbaren Einschätzung setzten der neue Theravada- und Staatsbuddhismus , seit Ashoka , tatsächlich ein Friedens- und Harmoniemodell der Herrschaft durch. Eine periphere , lokale , „feudale“ Dynastie mag sich durch traditionell begrenzte oder durch exzessive Gewalt eine überregionale , eine imperiale Stellung gesichert haben. Nachdem sie aber diese imperiale , „galaktische“ politische Mittelpunktstellung erreicht hat , ist sie aus Gründen der Repräsentation , der Legitimität und der ihr nun zugeschriebenen Autoritätsstellung verpflichtet , eine Tradition der Blutopfer , der vorrangigen Brahmanenpatronage und der (proto)hinduistischen Pujapraxis aufzugeben. In das 34 Manor 1989 , S. 287–290.

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Zentrum der Herrschaftspraxis und Selbstprivilegierung tritt jetzt das um den Bau von Stupas und Viharas kreisende Modell der Geschenkezirkulation und landesweiten friedlichen Herrschaftsprozession. Indirekt stützt selbst die brahmanische Herrschaftslehre , das Arthashastra , dieses Modell. Denn der perfekte Herrscher soll unter den Herrschaftsmitteln stets den weniger riskanten und unblutigen den Vorrang geben : Bestechen , Beschenken , kluge Allianzen , Bespitzeln , Intrigen genießen Vorrang vor Gewalt ; der politische Mord dabei Vorrang vor Krieg. Für das knappe buddhistische Jahrtausend Indiens überzeugt dieses (Kreislauf )Modell des Aufstiegs und Abstiegs der Dynastien – in Grenzen. Betrachtet man jedoch die (Theravada-)buddhistische Peripherie Indiens , so wachsen die empirischen und analytischen Zweifel. Diese südostasiatische Peripherie wird aber seit dem 4. und 5. Jahrhundert A. D. immer bedeutsamer , während der Buddhismus in Indien an sozio-politischer Attraktivität verliert. Einerseits verliert er seine spezifische Gestalt , andererseits wird er seit dem 7. Jahrhundert durch einen unblutigen , einen reformierten Brahmanismus , also durch ein jetzt ausgearbeitetes hinduistisches Pujamodell ersetzt. In Südostasien zeigen sich derweil machtvolle (Theravada-) buddhistische Monarchien , in Birma , in Siam /  Thailand , in Vietnam. Da sie bis zur Kolonialära und länger überdauern , gestatten sie uns einen direkten Blick auf eine Herrschaftspraxis voller unbekümmerter Gewalt. Diese scheint dem nur vordergründig harmonisierenden Ideal des Gesetzeskönigs , des Dharmaraja , direkt eingeschrieben. Seine Legitimität und Macht steht und fällt mit seiner Fähigkeit , innere und äußere Bedrohungen und Feinde vorrangig mit Gewalt zu beseitigen. Im Inneren muss der galaktische Herrscher die Spaltung der Sangha , „Sanghabeda“, mit allen Mitteln verhindern. Nach außen gilt es , Angriffe abzuwehren , buddhistische Konkurrenten zu überfallen , deren Reliquien zu rauben , deren Hauptstädte zu plündern und deren Bauern oder Dienstleute zu deportieren und zu versklaven.35 Auf diese gewalttätige Außen- und Sicherheitspolitik kann an dieser Stelle nicht im Detail eingegangen werden : Die Ähnlichkeit dieser Herrschaftskonstellation mit Sri Lanka ist allerdings aufschlussreich. Auch auf der Löweninsel ist der „Schirm der Herrschaft“ immer prekär , selbst die Chronik spricht oft genug von 32 Königen , vor allem zeigt sich hier seit dem 7. Jahrhundert A. D. eine klare religiöse und politische Konfrontation zwischen dem triumphalen Shivaismus der tamilischen Regionalreiche und dem offiziellen Buddhismus der Löwenherrscher. Hinzu kommt der gegenüber Südostasien einzigartige bzw. außerordentlich 35 Exemplarisch das Reich von Pagan , Birma , 1044–1287 ; Hall 1961 , S. 124–132.

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gesteigerte Hegemonialmythos : Hier herrschen die Sinhalas qua Prädestination , qua Eroberung und qua (Ashoka)Mission. Einzigartig unter allen Theravada-Ländern scheint damit auf Sri Lanka eine besondere Disposition zur Gewalt- und Verteidigungsbereitschaft vorzuliegen ; sie wird spätestens seit dem 6. Jahrhundert A. D. in der Figur Dutugemunus inkorporiert und idealisiert. Seit der Aufgabe des Rajaratha und der Südwestdrift der Singhalesen wird bei Monarchie und Aristokratie diese religiös und politisch begründete Gewaltherrschaft psychologisch gesteigert – durch eine jetzt unausweichliche Bedrohungsperzeption. Dies ist zumindest die Ansicht des Anthropologen Bruce Kapferer : Ihm zufolge besteht seit langem eine Verbindung zwischen dem offiziellen und zur Gewalt disponierenden Sinhalamythos und einem von dem Mehrheits-Minderheitsschema ausgelösten latenten Angstzustand und Bedrohungsszenario.36 Diese Verbindung erleichtert die Gleichsetzung von stolzer (Löwen)Nation mit dem verwundbaren eigenen Körper – frühzeitig auf der Ebene der Eliten. Wird der Mythos aber zur alle Unterschiede nivellierenden , zeitgenössischen Massen- und Staatsideologie , dann generalisiert und verstärkt sich die von Angst , Stolz und Überzeugung getragene Gewaltbereitschaft – in Angriff wie in vermeintlicher Verteidigung. Eine solche , zunächst historische , dann durch Modernisierung beschleunigte Kausalität ist vordergründig einleuchtend , aber nicht ausreichend. Die Theoretiker eines singhalesischen Gewaltpotentials verweisen aber auf ein weiteres , ein eher alltägliches und mikrosoziologisches , psychologisches Potential.37 Bereits die britischen Zensusbeamten , endgültig seit 1948 die amerikanischen Soziologen und Politikwissenschaftler , verweisen auf drei , vermutlich miteinander verknüpfte Gewaltphänomene auf der Individual- und Alltagsebene : Mord , Suizidbereitschaft und Hexerei. Sri Lanka verfügt – zumindest seit dem Einsetzen des kolonialen Zensus – über eine gleichbleibende , relativ hohe , aber nicht exzessiv hohe Mordrate. Es handelt sich dabei bis heute in der überwältigenden Masse um Morde im Affekt. Streit , Erregung , Alkohol , aufgestaute Ressentiments bilden den Auslöser. Die Morde konzentrieren sich auf die Dörfer , auf Verwandte und Nachbarn. Parallel zeigt sich eine von Anfang an hohe , seit der Unabhängigkeit erschreckend ansteigende Selbstmordrate. Sie zählt zu den höchsten Südasiens und der Welt. Die Selbstmorde konzentrieren sich auf den inneren Kreis der Familie – sie „richten sich“ gegen die nächsten Verwandten , gegen Ehemann , Ehefrau , Schwiegereltern , 36 Kapferer 1988. 37 Rogers 1987(a) , S. 583–602.

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Eltern und Geschwister. Wie die traditionelle Auffassung und wie Aussagen der Mönche zeigen , bilden Selbstmorde das (buddhistische ?) Äquivalent von Mord . So vermerkt der Anthropologe Wood : „Martin then struck her across the thigh with a piece of firewood ; next he pulled out a clasp knife and threatened to stab her. She worshiped him and pleaded on her knees not to harm her. With this , Martin said , ‚All right ! I won’t stab you ! I will stab myself !‘ And he plunged the knife into his abdomen.“38

Mit anderen Worten , in intimen , familiären Konstellationen ist Mord auch im Affekt vollständig ausgeschlossen : Morde ich mich dagegen selbst , dann füge ich dem für den Selbstmord Verantwortlichen Leid , „Dukha“, eine buddhistische Zentralkategorie , zu ; ihm erwächst nunmehr schlechtes Karma.39 Es gibt aber Gegner , Hassobjekte , Feinde , die weder durch Mord beseitigt noch durch Selbstmord beschädigt werden können. Vor allem der Anthropologe G. Obeyesekere hat auf die weite , wenn auch nie systematisch untersuchte Verbreitung der Hexerei hingewiesen. Wie seine Beobachtungen zeigen , findet Hexerei eher in kleinstädtischen als ländlichen Milieus statt ; sie richtet sich gegen Nichtverwandte , oft gegen Höhergestellte , denen mit anderen Mitteln nicht beizukommen ist ; Hexerei soll geheim bleiben , die „Auftraggeber“ reisen zu entfernten Hexenschreinen , um unerkannt zu bleiben.40 Im Gegensatz zu Mördern , die sich überwiegend stellen , und Selbstmördern , die ihr Leiden schrecklich und dramatisch verlängern – durch das Schlucken von Insektengift – , wird Hexerei im Geheimen praktiziert. Es scheint mithin unabhängig von der historischen , politischen Hypothek des Löwenmythos ein bereits traditionelles , eventuell vorbuddhistisches , individuelles Gewaltpotential zu geben. Traditionell äußert es sich in dem im Affekt an Nachbarn begangenen Mord. Es bricht das zentrale buddhistische Gebot der Ahimsa , des Nichttötens. Ambivalent äußert sich das Potential im Selbstmord. Dieser umgeht Ahimsa und nutzt zugleich buddhistische Moralvorstellungen. Schwer erfassbar äußert sich das Potential bei der Hexerei. Sie steht außerhalb des Reformbuddhismus. Sie ist der Bestandteil eines traditionellen Glaubenssystems , das nach der ironischen Definition eines christlichen 38 Bei Wood 1961 , S. 64. 39 Kearney /  Miller 1985 , S. 81–101. 40 Obeyesekere 1975 (bei Manor 1989) , S. 1–24.

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Singhalesen aus dem folgenden Glaubensgradienten besteht : „Buddhism , Kapuism , Grahaism and Demonism“ – also (Erlösungs-)Mönchslehre , priester- , kapu-gestützte Buddha-puja , Astrologie (von Graha , Planet) und weiße und schwarze Magie , die Exorzismus , Maskentänze , Ordale und Hexerei einschließt. Lassen sich Aussagen über das Zusammenspiel dieser Komponenten machen ?41 Über Jahrzehnte der Zunahme von (Entwicklungs)Krisen , Arbeitslosigkeit und Frustration hat der Mord durch Affekt nicht zugenommen – er steht aber unter immer stärkerer sozialer , reformbuddhistischer Missbilligung , vergleichbar mit weiteren rückständigen Verhaltensweisen wie Trunksucht , Müßiggang , Ausschweifung. Im Gegenzug hat die Selbstmordrate enorm zugenommen , hauptsächlich unter Jugendlichen , vor allem unter jungen Frauen. Er bildet vor dem Hintergrund des ideologisch radikalisierten Reformbuddhismus den einzig akzeptablen Ausweg aus Lebenskrisen und Frustrationen , die durch Wirtschaftsstagnation (auch nach 1980) und Massenarbeitslosigkeit beständig verschärft wurden. Über die Hexerei ist wenig bekannt. Es fällt allerdings auf , mit welchem Enthusiasmus die Singhalesen sich inzwischen ekstatischen und exorzistischen Schreinen und Kulten außerhalb der Grenzen des Reformbuddhismus zuwenden. Denn der zur Politik und Ideologie geronnene SinhalaBuddhismus scheint den emotionalen und privaten moralischen Ansprüchen der Gläubigen wenig bieten zu können.42 Durch die Zweiparteienkonkurrenz gesteigerte nationale , also ethnische und religiöse Ambitionen und darauf folgende Modernisierungsfrustrationen haben das individuelle Gewaltpotential und die Selbstmordneigung steigen lassen. Der gleiche Prozess hat zugleich die Neigung verschärft , sich mit dem Löwenvolk zu identifizieren , diese so gefährdete Minderheit gegen die Mehrheit ihrer Feinde zu verteidigen – mit der dazu notwendigen Gewalt. In dieser massenpsychologischen Gleichsetzung verschmilzt der eigene mit dem nationalen Körper. Und was für die eigene , die alltägliche Gewaltpraxis undenkbar wäre , wird jetzt machbar : Die tamilischen Opfer müssen singhalesische Sätze sprechen – um sie zunächst präzise zu identifizieren. Sie müssen manchmal niederknien. Mit Gasolin überschüttet , werden sie mit Auto- und Fahrradreifen schließlich verbrannt.

41 In Halverson 1977 , S. 224. 42 Obeyesekere 1978 , S. 457–476.

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Heilsbewegungen zwischen Macht und Ohnmacht Gewalt als Kontext und Form der Cargokulte Melanesiens Michael Dickhardt

Was sind Cargokulte ? Die sogenannten Cargokulte sind wohl eines der schillerndsten Phänomene , die die Ethnographie Melanesiens hervorgebracht hat. Prototypisch erscheint vielen die John Frum-Bewegung auf der Insel Tanna in Vanuatu , auf die später noch detaillierter einzugehen sein wird :1 Melanesier versuchen durch Rituale – hier das Paradieren in militärischer Formation mit nachgeahmten Gewehren und das Abhalten von Flaggenappellen unter der Flagge der USA – , durch die Imitation westlicher Technologie – hier die Anlage von Flugfeldern und der Aufbau von Funk- und Telefonverbindungen aus Buschmaterialien – und durch die Anrufung von Ahnen und von Heilsbringern von außen – hier des John Frum aus Amerika – unter Führung charismatischer prophetischer Kultführer , die Ankunft westlicher , meist aus Amerika stammender Güter in Flugzeugen oder Schiffen herbeizuführen. Immer wieder erscheinen diese oder ähnliche Momente in den Beschreibungen , doch es bleibt schwierig , sie stimmig zu einem einheitlichen Phänomen zusammenzufügen. Cargokulte wurden auf viele Ursachen zurückgeführt : Erfahrungen der Demütigung , Unterwerfung , Unterlegenheit und Unsicherheit im Kontext von radikalem Wandel , Kolonialisierung und Missionierung sowie die Konfrontation mit einer technologisch überlegenen Moderne. Sie wurden ganz unterschiedlich gedeutet : als nativistische und revitalistische Bewegungen ebenso wie als protonationalistische Widerstandsbewegungen , als Beharren auf Gleichberechtigung , als kulturelle Selbstbehauptung oder als religiös-ethische Bewegungen auf dem Wege der Aneignung der Moderne. Zudem führte die immer wieder vorzufindende westliche Fixierung auf die scheinbare Irrationalität des Bezuges der Cargoisten zum materiellen Wohlstand und zur westlichen Technologie zu reduktionistischen Interpreta1

Zusammenfassendes findet sich bei Guiart 1952 und Lindstrom 1981.

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tionen.2 Und so dienten Cargokulte nicht selten als dankbare Folie zahlloser Deutungen , was Kenelm Burridge dazu veranlasste , sie mit allesfressenden , aber unterwürfigen Chamäleons zu vergleichen : „They gobble up positivist and mechanistic social theory and have plenty of spit left over ; they are very good at appearing as any one might imagine them to be.“3

Doch nicht nur die Deutung der Cargokulte ist umstritten , auch der Begriff selbst. Es wurde sogar gefordert , ihn gänzlich als deskriptiven und analytischen Begriff zu vermeiden , da er lediglich zu einer kulturkritischen Analyse der Diskurse über diese Bewegungen tauge , nicht aber zur Analyse der Bewegungen selbst.4 Entstanden in kolonialen und missionarischen Diskursen um die Mitte der 1940er Jahre , wurde der Begriff der Cargokulte immer auch dazu verwendet , soziale , politische oder religiöse Bewegungen zu diskreditieren , zu kontrollieren und zu unterdrücken. Symptomatisch erscheint hier schon die Herkunft des Begriffes , die sich bis auf einen Leserbrief N. M. Birds , eines seinerzeit in Neuguinea ansässigen Australiers , zurückverfolgen lässt.5 Schon hier tritt nicht nur das Moment des Irrationalitätsvorwurfs auf , sondern auch das der Gewalt – allerdings nicht als Teil der Kulte , sondern als Angstvorstellung der Kolonialisten : „By his very nature the New Guinea native is peculiarly susceptible to these ‚cults‘ and to the influence of the ‚kings‘ [i. e. Kultführer]. The very fact that he is being trained as a soldier [im Zweiten Weltkrieg] , and is expected to fight alongside the white man , and the fact that he is accepted as an equal in barracks by the whites , but is not accepted as equal by society in general , will aggravate the condition and render him still more susceptible to these ‚cults‘ and to the influence of the ‚kings‘. His discipline and training will be discarded at a moment’s notice and he will emerge , as he is , as a primitive savage with all a primitive savage’s instincts. The New Guinea native is not unreliable. He is worse – he is unpredictable. 2 3 4 5

Für Überblicke s. Jebens 2004a , Jebens /  Kohl 1999 , Lindstrom 1993 , Otto 2009 und Trompf 1990. Burridge 1965 , S. 97. Eine Zusammenfassung der Argumente findet sich bei Jebens 2004b. Von dort verbreitete sich der Begriff schnell in koloniale , missionarische und ethnologische Diskurse ; s. dazu Lindstrom 1993 , S. 15–40.

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The result of an organised uprising of these armed savages could be the massacre of Europeans in these islands , together with a host of natives.“ 6 In drastischer Klarheit treten hier wesentliche Momente des kolonialen Diskurses hervor : die Beschreibung der lokalen Bevölkerung als wild , primitiv und irrational , der Verweis auf die Gefährdung der gesellschaftlichen Ordnung , die diffuse Angst vor dem gefährlichen Wilden. Mögen die Beschreibungen bei philanthropisch Gesinnten dann auch weniger harsch geworden sein , so blieb doch oft der Vorwurf mit den Cargokulten verknüpft , dass sie irrational seien und letztlich der sozialen und ökonomischen Entwicklung der Melanesier großen Schaden zufügten. Dieser machtvolle Diskurs seitens der Kolonialverwaltung , der weißen Siedler und der Kirchen zusammen mit den tatsächlich oft desaströsen Erfahrungen der lokalen Bevölkerung mit enttäuschten Hoffnungen , ökonomischen Verlusten und Repressionen seitens der Kolonialverwaltung und der Kirchen haben dazu beigetragen , dass die diskreditierende Funktion der Rede von Cargokulten Eingang gefunden hat in die lokalen Diskurse :7 Als Anhänger eines Cargokultes zu gelten ist ein Stigma im heutigen Papua-Neuguinea. Wäre dies alles nicht Grund genug , auf diesen Begriff zu verzichten ? Und dennoch : Der Begriff Cargokult bleibt tief verwurzelt im Diskurs , als praktischer , deskriptiver und analytischer Begriff. Wie kann man ihn also zu einem sinnvollen Ausgangspunkt einer vergleichenden Betrachtung machen ? Ich denke , dass der Begriff der Cargokulte trotz aller Problematik eine spezifische Charakteristik besonderer Heilsbewegungen bzw. bestimmter Phasen im Verlauf von sozialen Bewegungen zum Ausdruck bringt , die sich 6 Bird 1945 , S. 69 f. 7 Ein eindrückliches Beispiel liefert hier Elfriede Hermann mit ihren Arbeiten unter den Ngaing östlich von Madang , in deren Region die Yali-Bewegung in den 1950er Jahren aktiv war und unter denen bis heute viele emotional sehr unter dem Stigma des Cargokultes zu leiden haben (Hermann 1995 , 1997 , 2004). Hermann kommt zu dem Schluss , dass der Begriff Cargokult , einer Konvention Jaques Derridas folgend , nur sous rature – also geschrieben , aber durchgestrichen – zu verwenden sei , da er zwar zur Bezeichnung notwendig , aber als Begriff unangemessen ist (2004 , S. 37–39). Die stigmatisierende Funktion des Cargokult-Vorwurfs konnte ich selbst in meiner eigenen Feldforschung unter den Qaqet-Baining auf der Gazellehalbinsel Neubritanniens zwischen 2004 und 2007 beobachten , wo 1954 /  55 eine Kultbewegung blutig von der Kolonialverwaltung niedergeschlagen wurde und seither als abschreckendes Beispiel des Cargodenkens angeführt wird (s. u.).

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in Melanesien ethnographisch fassen lassen.8 Diese spezifische Charakteristik ergibt sich aus zwei Aspekten : 1. aus dem , was angeeignet werden soll – nämlich dem Cargo /  Kago , verstanden als ein sozio-spirituell-materieller Komplex von Gütern , der von den Akteuren meist in Verbindung gebracht wird mit den Gütern und der Technologie der Kolonialmächte , mit der durch diese Güter und Technologien repräsentierten Macht sowie mit einem ersehnten Zustand egalitären Heils9 – und 2. aus der Art und Weise , wie angeeignet werden soll – nämlich rituell-performativ und mit Hilfe inspirational erlangten spirituellen Wissens und prophetisch-charismatischer Führungspersönlichkeiten. Diese beiden Aspekte könnte man als Cargokomplex zusammenfassen , der sich in ganz unterschiedlichen Ausformungen beobachten lässt. Dabei kommt es zu sehr unterschiedlichem Umgang mit den Elementen der traditionellen und christlichen Religion und Mythologie sowie mit Formen der alten und der neuen , europäisch geprägten Lebensweise , finden sich doch sowohl nativistisch-revitalistische Formen als auch solche , die das Neue revolutionär in ihre Bewegung aufnehmen. Auch die heilsbringende Instanz kann sehr unterschiedliche Verkörperungen annehmen – als Einzelperson , als Ahn oder als Gruppe wie im Falle der Amerikaner , die bei der Erlangung des Cargo je unterschiedliche Rollen spielen können. Ebenso wird der Glaube an eine ideale Zukunft in sozialer , politischer , ökonomischer und spiritueller Gerechtigkeit und Fülle sehr unterschiedlich formuliert. Substrat und Kontext all dieser unterschiedlichen Ausformungen sind vier soziokulturelle Momente , die sich in weiten Teilen Melanesiens finden. Das erste Moment ergibt sich aus dem Beharren auf der ganzheitlichen Einheit von Materialität und Spiritualität , von Ökonomie und Religion , die letztlich in vielen melanesischen Religionen tief verwurzelt ist , denn materielles Wohl , sei es der Erfolg als Pflanzer oder der Erfolg als Tauschpartner im Rahmen ausgedehnter Handels- und Gabentauschnetze , wird immer auch im Kontext der Unterstützung durch spirituelle Mächte wie die der Ahnen gesehen. Spiritualität und Religiosität (Kult) werden vor diesem Hintergrund verknüpft mit westlichen Gütern (cargo).10 8 9

Ähnlich argumentiert auch Otto 2009. Um deutlich zu machen , dass den materiellen Gütern im Rahmen der Cargokulte immer auch eine spirituelle Dimension und eine Dimension der Macht zu eigen ist , wird der englische Ausdruck cargo und seine Entsprechung kago in den Pidginsprachen Melanesiens hier im Text großgeschrieben. 10 Dazu s. a. Otto 2004 u. 2009.

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Das zweite Moment besteht in der Verknüpfung der westlichen Güter mit Vorstellungen von Gesellschaftlichkeit und Personalität , die nicht durch die Akkumulation von Besitz geprägt sind , sondern wesentlich durch den Gabentausch und das Prinzip der Reziprozität und somit bestimmt werden durch Egalität und wechselseitige soziale Verpflichtung der an dem Austausch Beteiligten. Güter sind hier nicht der Endzweck des Tauschs , sondern sein Medium , und das Ziel des Tauschs ist nicht Akkumulation ökonomischen Kapitals , sondern sozialen und symbolischen Kapitals.11 Vor dem Hintergrund ist Cargo nicht bloß materieller Wohlstand als Selbstzweck oder Statussymbol , sondern vor allem auch das Symbol für einen ganzheitlichen und von Egalität geprägten Idealzustand von Gesellschaftlichkeit , was auch deren spirituelle Dimension mit einschließt , und Cargo ist auch das Medium zum Erreichen und zur Aufrechterhaltung dieses Idealzustandes im Rahmen reziproker Tauschbeziehungen , in denen soziales und symbolisches Kapital die wesentlichen Faktoren sind.12 Zudem wird die besondere rituellperformative Form verständlicher , die in den Cargokulten zum Erlangen des Cargo notwendig scheint , denn zum einen nimmt der Umgang mit der spirituell-religiösen Sphäre in Melanesien oft rituelle Formen an und zum anderen ist die Gabe jene Form der Distribution von Gütern , die immer zeremonielle Form annimmt und somit ins Ritual überführt werden kann.13 Über die beiden genannten Momente hinaus aber erweisen sich zudem die Momente der Macht und des Wissens als notwendig für ein tieferes Verstehen der Cargokulte. Macht (in den Pidginsprachen paua , aber jeweils auch mit lokalsprachlichen Entsprechungen) wird in einem sehr umfassenden Sinne verstanden : nicht bloß politisch oder physisch , sondern auch spirituell und magisch. Oft wird sie im Sinne einer ganzheitlichen Wirkmächtigkeit verstan11 Zur Gabe in melanesischen Gesellschaften s. z. B. Fajans 1993 , Gregory 1982 oder Strathern 1988. Für eine Interpretation des Gabentauschs in der Terminologie der Kapitalien s. Bourdieu 1998 [1994]. 12 Diese Deutung durchzieht z. B. Peter Lawrences Deutung der Yali-Bewegung in den 1950er Jahren an der Nordküste Neuguineas ; dazu s. Lawrence 1964 , v. a. S. 225. 13 Die Gabe kann nur zu symbolischem und sozialem Kapital werden , wenn dieser Tausch von dem rein ökonomischen , auf Berechenbarkeit angelegten Tausch abgegrenzt wird. Dies geschieht , wie Bourdieu gezeigt hat , z. B. durch die zeitliche Verzögerung der Gegengabe (Bourdieu 1998 [1994]) , aber auch , so kann man hinzufügen , durch die zeremonielle Form , mag sie auch nur in einer kleinen Geste bestehen.

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den , die verbunden ist mit einer gewissen Ambivalenz , denn für alles Gute und für alles Gelingen ist paua unabdingbar , aber paua kann auch sehr gefährlich und bedrohlich sein. In diesem Sinne ist paua der Welt immanent und man sucht oft Formen der physischen Partizipation. Doug Dalton hat dies wie folgt ausgedrückt : „[ …] , if we understand ‚power‘ as cosmic force , where Westerners endeavor to harness , predict , and control natural forces and power through cultural convention , which entails the scientific application of reason to nature and thereby impose a Cartesian mind-body or subject-object dualism , Melanesians see power as imminent in all things and as accessible through direct physical participation in them. Melanesians therefore continually and deliberately innovate , enact , and do power by physical performing context.“ 14

Die rituell-performativen Formen der Cargokulte können vor diesem Hintergrund auch als physische Partizipation an der Macht /  paua gedeutet werden. Doch diese physische Partizipation erfolgt nicht nur durch physische Performanz , sondern wird auch angestrebt in und durch die Erlangung besonderen Wissens. Wissen ist hier nicht bloß technologisches Wissen , sondern spirituell fundiertes Wissen , das Macht /  paua verleiht und das oft mit der Qualität des Geheimen in Verbindung gebracht wird. Zudem wird diese Art von Wissen weniger sukzessive prozessual erschlossen , sondern durch Offenbarung unmittelbar. Es hat also eher einen inspirationalen als einen kreationalen Charakter. So schreibt Lamont Lindstrom mit Bezug auf Tanna , Vanuatu : „In local discourse , people achieve knowledge from external sources. Melanesians have an inspirational rather than creational conception of knowledge. People know knowers not to invent or create their ideas. Instead , knowers receive these from supernatural or external sources. Knowledge is passed down rather than made up.“15

Eine der wichtigsten Quellen dieses Wissens sind die Ahnen , mit denen zumeist in Träumen und Besessenheitszuständen kommuniziert wird. Dies macht nicht nur die besondere Rolle prophetisch-charismatischer Führungspersönlichkeiten mit einer besonderen Empfänglichkeit für solches Wissen 14 Dalton 2000 , S. 290 f. 15 Lindstrom 1990 , S. 248.

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verständlicher. Auch die Nachahmung westlicher Kommunikationstechnologie wie Funkstationen oder Telefone aus Buschmaterialien erscheint weniger als irrationale Verkennung der Technologie denn als Erschließung anderer Kommunikationswege zu diesem inspirationalen Wissen. Vor diesem Hintergrund werden Cargokulte also fassbar als eine durch eine spezifische Grundcharakteristik – den Cargokomplex – gekennzeichnete Reihe von Heilsbewegungen , die auf der Grundlage bestimmter soziokultureller Momente melanesischer Gesellschaften verstanden werden müssen. Wie nun der Cargokomplex jeweils ausgeformt wird und welche Rolle ihm im Verlauf einer Bewegung zukommt , hängt freilich von den konkreten historischen Kontexten ab. Viele Bewegungen weisen eine erstaunliche Kontinuität gepaart mit einer großen Flexibilität in Ideologie und ritueller Praxis auf. Traditionelle und christliche Religion , soziale , politische , ökonomische und spirituelle Motive übernehmen im Laufe einer solchen Geschichte oft wechselnde Rollen und erfahren durchaus erhebliche Umwertungen. Diese flexible und wandelbare Kontinuität sowie eine oft bemerkenswerte Fähigkeit zur Wiederbelebung kann auf verschiedene Faktoren bzw. eine Kombination dieser Faktoren zurückgeführt werden : eine lange aktive Führungspersönlichkeit , einen gemeinsamen historischen Bezugspunkt oder ein gemeinsames mythologisches , religiöses und epistemologisches Substrat , das Deutungsmuster für den Zusammenhang zwischen materiellem Wohlstand und den Ahnen oder Mythen zur Verfügung stellt , die die technologische Überlegenheit der Weißen erklären. Ein gutes Beispiel für diese flexible und wandelbare Kontinuität ist die Mount Rurun-Bewegung , eine soziale Bewegung , deren Beginn 1969 anzusetzen ist und die von Pat Gesch bis in die 1990er Jahre beobachtet werden konnte.16 Ihren Ausgangspunkt nahm diese Bewegung , die geprägt war von den beiden Führungspersönlichkeiten Matias Yaliwan und Daniel Hawina , in zwei Betonmarkierungsblöcken , die amerikanische Geographen auf dem spirituell bedeutsamen Mout Rurun 1962 gebaut hatten und die für die mangelnde Fruchtbarkeit des Landes verantwortlich gemacht wurden. Um dem Geistwesen Rurun die Wiederherstellung der Fruchtbarkeit zu ermöglichen , sollten diese beiden Betonmarkierungen entfernt werden , was mit großem Aufwand und Medieninteresse am 7. Juli 1971 durchgeführt wurde. Auch wenn schon mit diesem Ereignis die Zuschreibung „Cargokult“ in der Berichterstattung der Medien auftauchte , betont Gesch , dass diese Anfänge als Millenarismus 16 Dazu s. Gesch 1985 u. 1990.

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im Kontext traditioneller lokaler Glaubensvorstellungen zu deuten sind und dass Momente dessen , was oben als Cargo umrissen wurde , erst später in der Bewegung Artikulation fanden.17 Die Bewegung hatte bis in die 1990er Jahre Bestand , aber nicht als einförmige religiöse Bewegung , sondern als soziale Bewegung in einer Abfolge von fünf Formen mit insgesamt 16 Ausformungen :18 die Form der traditionellen Religion mit den Ausformungen 1. Millenarismus , 2. Cargokult , 3. synkretistischer Totenkult und 4. Fruchtbarkeitsritual ; die Form des Politischen mit den Ausformungen 5. ziviler Ungehorsam , 6. Graswurzelnationalismus , 7. nationale politische Partizipation , 8. alternative lokale Verwaltung und 9. militärische Muster ; die Form der Ökonomie mit den Ausformungen 10. Schneeballsysteme , 11. kommerzielle Unternehmungen und 12. Genossenschaft ; die Form der sozialen Entwicklung mit den Ausformungen 13. Frauenklub und 14. Schule sowie die Form des Christentums mit den Ausformungen 15. Bibelpraxis und 16. Kirchenpraxis. Es zeigt sich , dass ein Cargokult hier nicht einfach als eine eigenständige Form religiöser Bewegungen gesehen werden kann. Die Momente des Cargokultes sind vielmehr eingebettet in die komplexe Entwicklung einer sozioreligiösen Bewegung , die , auf der Grundlage einer traditionellen religiösen Weltsicht und über die Dauer komplexer historischer Entwicklungen hinweg , Momente des Religiösen , Sozialen , Politischen und Ökonomischen zusammenführt sowie gesellschaftliche Ziele setzt und über eine Bandbreite als legitim angesehener Mittel und Vorstellungen verfügt.19 Kurz , es geht darum , immer wieder neue Versuche zu starten , im Rahmen einer bestimmten Vorstellungswelt einen materiell-spirituellen Heilszustand zu erreichen , die aber nicht alle als Cargokulte bezeichnet werden können , auch wenn Cargovorstellungen zu bestimmten Zeiten eine dominante Rolle übernehmen können. Im Zusammenhang mit der Mount Rurun-Bewegung war dies an drei Punkten zu beobachten , an denen Momente zum Vorschein kamen , die in ähnlicher Form in vielen Cargokulten Melanesiens eine wichtige Rolle spielen : die Prophezeiung der Ankunft von 400 Flugzeugen mit 4.000 Amerikanern , die das Cargo bringen sollten (Ausformung 2 , 1971 /  72) ; das Vertrauen auf eine Geldvermehrung durch den rituellen Einsatz von Ge17 Dazu s. ders. 1990 , S. 217 , 219. 18 Ebd. , S. 218–233. 19 Ebd. , S. 214. Auch andere Beispiele zeigen dies , wie etwa die weiter unten noch zu betrachtende Koreri-Bewegung oder die schon erwähnte Yali-Bewegung (dazu s. Lawrence 1964).

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schirrwaschen und roten Koffern im Kontext traditioneller Fruchtbarkeitsvorstellungen (Ausformung 4 , 1972) und die Prophezeiung einer radikalen Umwälzung durch die russische Armee als transformativer Macht Ende der 1970er Jahre (Ausformung 9).20 Interessant ist hier nicht nur , dass sich im Rahmen dieser drei Ausformungen Elemente finden , wie sie auch aus anderen Cargokulten bekannt sind , sondern auch , dass sie Gesch zufolge im Kontext unterschiedlicher Formen auftauchen , einmal in der Form traditioneller Religion und einmal in der Form der Politik. Cargokulte , so der Schluss , können weder auf eine einheitliche ideologische Basis oder eine einheitliche praktische Form noch auf eine einheitliche Zweck-Mittel-Relation reduziert werden.

Cargokulte und Gewalt Welche Rolle spielt nun die Gewalt bei den Cargokulten ? Nun kann im Rahmen dieses Artikels keine umfassende vergleichende Studie vorgelegt werden , zumal eine umfassende Analyse der Cargokulte unter dem Gesichtspunkt der Gewalt noch immer ein Desiderat ist. Aber es können einige Dimensionen aufgezeigt werden , innerhalb derer das Verhältnis der Cargokulte zur Gewalt als Kontext und praktische Form betrachtet werden kann.

Gewalt als Kontext Der Kontext , in dem alle melanesischen Cargokulte gesehen werden müssen , ist zunächst einmal die Erfahrung der Missionierung und Kolonialisierung. Diese Erfahrungen waren in Melanesien oft mit Gewalt verbunden. Betrug , Zwang und physische Gewalt bei der Rekrutierung von Arbeitern , Gewalt und Demütigung auf den Plantagen , Landenteignungen und brutale Vergeltungsaktionen für Widerständigkeiten prägten lange Zeit den kolonialen Alltag. Die Lehren daraus waren überdeutlich : eine demütigende Überlegenheit der weißen Kolonialherren und die Verweigerung der Gleichberechtigung , was nicht zuletzt auch als Widerspruch zu den Predigten der Missionare und 20 Flugzeuge und Amerikaner als Heilsbringer , der Einsatz roter Behältnisse und das Militärische sind auch aus anderen Cargokulten bekannt , etwa in der John Frum-Bewegung (s. u.) oder aber auch im Hochland Neuguineas (s. z. B. Strathern 1979 / 1980).

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den Wohlstands- und Modernisierungsversprechen der Kolonialherren empfunden wurde.21 Mit dem Zweiten Weltkrieg erhielt diese Gewalterfahrung eine weitere Dimension. Die Vernichtungsmacht und der Vernichtungswille , mit dem dieser Krieg geführt wurde und unter denen die Melanesier zu leiden hatten , waren eine erneute Demonstration der Überlegenheit der Fremden.22 Allerdings hielt der Zweite Weltkrieg auch andere Erfahrungen bereit. Die japanischen Besetzungen zeigten , dass die Weißen keineswegs unbesiegbar waren. Die mit Unmengen an Material und Waffen ausgestatteten Armeen und ihre sichtbare Organisiertheit zeigten das enorme transformative Potenzial , das für eine revolutionäre Umgestaltung der Welt nötig schien. Das freigiebige Verhalten vor allem der Amerikaner und die scheinbare Gleichberechtigung der Schwarzen im amerikanischen Militär zeigten die Möglichkeit moralisch guter fremder Mächte. Und schließlich kämpften viele Melanesier selbst in den regulären alliierten Truppen und machten dort – wenn auch bei weitem nicht gleichberechtigt – die Erfahrung , Teil des sie sonst beherrschenden Systems zu sein , und erfuhren Respekt als tapfere Soldaten.23 Über diese allgemeinen Erfahrungen mit der Gewalt in den Kontexten von Kolonialisierung , Missionierung und Krieg wurde Gewalt auch als Antwort der Kolonial- und Kriegsmächte auf die Cargokulte selbst erfahren. Die übliche Reaktion der Kolonialverwaltungen war die Repression der Kultbewegungen , was zumeist dazu führte , dass die Führungspersönlichkeiten verhaftet und z. T. zu mehrjährigen Gefängnisstrafen oder Verbannung verurteilt wurden. Im Zuge dieses repressiven Vorgehens kam es auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen , bei denen es Tote gab.24

21 Die Kolonialisierung und Missionierung Melanesiens begann durchgreifend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die gravierenden Auswirkungen sind vielfach diskutiert und haben Anlass zur These gegeben , dass Demütigung ein wichtiger historischer Faktor für die Identität vieler Melanesier und ihren Umgang mit der Moderne ist ; dazu s. Robbins /  Wardlow 2005. 22 Einen anschaulichen Überblick verleiht White 1989. 23 Der Kriegseinsatz , das dabei erworbene Wissen und Ansehen sowie die dabei gemachten Erfahrungen waren nicht zuletzt für Yali , einen der herausragenden Kultführer , außerordentlich bedeutsam (Lawrence 1964 , v. a. S. 116–140). Verwiesen sei auch auf das oben angeführte Zitat von Bird 1945 , S. 69 f. 24 Stellvertretend sei auf den Verlauf der Yali-Bewegung (Hermann 1995 ; Lawrence 1964) , der John Frum-Bewegung (s. u.) und der Koreri-Bewegung (s. u.) verwiesen. Bei der Letzteren gab es in ihrem katastrophalen Ende viele Tote.

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Freilich darf bei all dieser von außen auf die Melanesier hereinbrechenden Gewalt nicht vergessen werden , dass Gewalt auch in den traditionellen Gesellschaften eine wichtige Rolle gespielt hat , sei es bei der Austragung von Konflikten , sie es in den Sozialisationspraktiken , Initiationen und gruppeninternen Sanktionspraktiken. Ohne hier auf alle Dimensionen dieser Gewalt eingehen zu können ,25 soll hier vor allem auf zwei Punkte verwiesen werden , die uns auf den vorhin schon angesprochenen Begriff der paua zurückverweisen. Zum einen hatte der erfolgreiche Einsatz von Gewalt z. B. im Kampf nicht bloß eine rein physische Dimension , sondern war meist davon abhängig , ob man über eine besondere Wirkkraft verfügte. Magie und die Macht der Ahnen waren hierfür die Quellen. Daraus ergab sich nun zum anderen , dass der erfolgreiche Einsatz von Gewalt zugleich eine Demonstration bzw. ein Anzeichen für eine solche paua war. Das Beispiel der Qaqet-Baining im nächsten Abschnitt wird dies anschaulich machen.

Gewalt als Form Gewalt als Ausdruck eines spirituellen Kampfes Es gab also eine ganze Reihe spezifischer Gewalterfahrungen , die als Kontext jeweils in ihren formgebenden Konsequenzen für die verschiedenen Kultbewegungen untersucht werden müssen. Dass dabei Gewalt in den jeweiligen lokalen kulturellen und soziopolitischen Kontexten zu verstehen ist , zeigt ein Beispiel von der Gazellehalbinsel Neubritanniens. Unter den dort ansässigen Qaqet-Baining26 kam es in dem Dorf Alaqasam 1954 zu einer Cargokultbewegung , die 1955 blutig niedergeschlagen wurde. Bis 1954 /  55 war Alaqasam im Einflussbereich der methodistischen Mission , geriet dann aber in den Einflussbereich der 1954 gegründeten katholischen Missionsstation in Raunsepna , zu dessen Pfarrei es bis heute gehört. Im Verlauf der Kultbewegung27 gerieten 25 Für einen Überblick auch in aktuellen Kontexten s. Dinnen /  Ley 2000. 26 Das Folgende beruht auf den Ergebnissen meiner 15monatigen Feldforschung in Papua-Neuguinea (mit Förderung durch die Gerda Henkel Stiftung (AZ 47 /  F /  03)) , die gerade für eine Buchpublikation vorbereitet werden. Zu den Qaqet-Baining s. Fajans 1997 und Hesse / Aerts 1996 [1982]. 27 Ich folge hier George Arigini aus Raunsepna , dem Sohn Saulmets (s. u.) , und Hagen 1955 u. 1956 sowie Patrol Report 1955 : S. 2–5. Hinsichtlich der Rolle , die die Erwartung westlicher Güter hierbei spielte , unterscheiden sich die Angaben

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die beiden Kultführer in einen offenen Konflikt mit zwei älteren Bigmen ,28 die sich offen gegen den Kult stellten. Einer der beiden wurde erschlagen , der zweite konnte schwer verletzt an die Küste fliehen. Vom Sitz der australischen Kolonialverwaltung in Rabaul wurde sofort eine Patrouille , bestehend aus zwei Offizieren und mehreren , aus anderen Landesteilen stammenden melanesischen Polizisten , losgeschickt , die von Steven Saulmet begleitet wurde , einem der einflussreichsten Bigmen der Region , der wesentlichen Anteil an der erfolgreichen Etablierung der katholischen Mission im Gebiet der QaqetBaining hatte. 29 Als die Patrouille auf Alaqasam zumarschierte , wollte einer der Poli­zisten aus Bougainville mit seiner Magie die Aktion absichern , doch der magisch besproche­ne Kalk , den er in Richtung Alaqasam geblasen hatte , kam zurück. Dies verunsicherte die Po­lizisten erheblich , doch Saulmet sagte , sie sollten sich auf ihn verlassen. Man zog weiter und traf auf die ekstatisch tanzenden Leute in Alaqasam , die bald zum Angriff mit Äxten und Kampfknüp­peln übergingen. Den ersten Schlag gegen sich und einen der beiden Patrouillenoffiziere konnte Saulmet abfangen , doch als die Polizisten schießen wollten , hatten ihre Gewehre La­dehemmung. Geistesgegenwärtig , der Patrol Reports interessanterweise von denen der oralen Tradition in Raunsepna. Aus dem Patrol Report 1955 , S. 3 geht hervor , dass in dem von 1951 bis 1953 in Malasait aufgekommenen Cargokult westliche Güter eine Rolle gespielt hatten , nicht aber in dem in Alaqasam. In den oralen Traditionen und den lokalen historischen Bewertungen spielen aber auch in dem Kult von 1955 westliche Güter eine wesentliche Rolle , v. a. Reis. 28 Bigmen (im Qaqet a barlta) sind Führungspersönlichkeiten , wie sie in weiten Teilen Melanesiens zu finden sind. Ihr Führungsanspruch wird durch persönliche Autorität und Leistungen erworben. Es handelt sich dabei um einen Status , der von der Dorfgemeinschaft informell anerkannt wird , nicht aber um ein Amt in einer definierten soziopolitischen Struktur. Dazu s. z. B. auch Sillitoe 1998 , S. 99–111. 29 Das Folgende beruht im Wesentlichen auf dem Bericht des Sohnes Saulmets , George Arigini. Der Bericht wurde von vielen anderen unabhängig voneinander bestätigt. Über Saulmet gibt es viele Heldengeschichten , in denen er mit viel Mut den Japanern entgegentrat , die mit brachialer Gewalt die Qaqet als Träger und Boten einsetzten. Selbst vor dem Krieg schon in Missionsstationen als Arbeiter tätig , wurde Saulmet nach dem Krieg zu einer der treibenden Kräfte bei der Erschließung der Baininger Berge durch die Kolonialverwaltung und die katholische Mission. Er war zudem aufgrund seiner Fähigkeiten als Zauberer respektiert und wohl auch gefürchtet und gilt bis heute als der klassische Vertreter der alten Bigmen , eines Status , den er durch geschickte Netzwerkbildung , Heirat von sieben Frauen und Bereitschaft auch zur gewaltsamen Durchsetzung festigte.

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so die Erzählung seines Sohnes Arigini , übernahm Saulmet die Initiative und forderte die Polizisten auf , direkt auf die Anführer zu zielen – seine Magie werde sie nun treffen lassen. Die zweite Salve traf und tötete ei­nige der Männer.30 Während die Berichte der australischen Beamten und P. Hagens den Sieg der Patrouille auf die überlegene Feuerkraft der Gewehre zurückführen , taucht in der oralen Tradition ein weiterer Grund auf : die Magie und die Stärke (Tok Pisin : paua ; Qaqet : a dlek) des Saulmet. Deutlich wird an diesem Beispiel , dass lokale Formen der Gewalt und ihre soziokulturelle Einbettung formgebend für den gewalttätigen Verlauf von Kultbewegungen waren – und zwar nicht nur aufgrund des Konfliktpotenzials innerhalb der Dörfer zwischen Anhängern und Nicht-Anhängern und zwischen neuen Führern und alten Bigmen , sondern vor allem auch durch die Deutung der Gewalt als Ausdruck eines spirituellen Kampfes mit magischen Mitteln und der damit verbundenen Macht (paua oder im Qaqet a dlek). Gewalt als Mittel Dass Gewalt gezielt als Mittel zum Erreichen des mit der Ankunft des Cargo verbundenen Heilszustandes eingesetzt wurde , ist wohl die Ausnahme gewesen , auch wenn das Militärische und die Vorstellung von der Vertreibung der Europäer oft in den Cargokulten zu finden waren. Im Falle der Koreri-Bewegungen im Bereich der Geelvink Bay im Westen der Insel Neuguinea unter den Biak-Numfor findet sich jedoch ein besonders tragischer Fall , in dem Gewalt als Mittel eingesetzt wurde , um den Heilszustand herbeizuführen.31 Es handelt sich hierbei um eine lange Reihe von Heilsbewegungen , die verbunden sind durch den gemeinsamen Bezug auf die mythologische Gestalt des Manarmakeri , eines Mannes , der nach einer Reise in die Totenwelt und Kontakt mit dem Morgenstern als Manseren Manggundi im Sinne eines Heilsbringers , der Macht und Wohlstand bringt , zurückkehren wird.32 Die Bezeich-

30 Hier gehen die Zahlenangaben der verschiedenen Berichte auseinander. Während P. Hagen von fünf Toten berichtet (Hagen 1956 , S. 36) , sprach George Arigini von drei. 31 S. Kamma 1972 [1954] und Rutherford 1998 , 2000 , 2003 u. 2005. 32 Dazu s. Kamma 1972 [1954] , S. 17–96. Diese Figur spielt bis heute eine wichtige Rolle im spirituellen Leben der Biak ; dazu s. v. a. Rutherford 1998 , 2000 , 2003 u. 2005.

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nung Koreri bezieht sich dabei auf den Heilszustand nach der Rückkehr des Manseren Manggundi , eine Vorstellung , die im Kontext der kolonialen und missionarischen Durchdringung eine enorme millenaristische Dynamik entfaltete.33 Erstmals dokumentiert sind diese Bewegungen 1855 , und man zählt bis heute mehr als 45 von ihnen , die jeweils ein unterschiedliches Verhältnis zur Gewalt und zum Cargo aufweisen , angelegt in den regional verbreiteten Mythen und Traditionen , aber auch unter Einbindung christlicher Vorstellungen.34 Die Bewegungen nahmen nach und nach Cargoelemente in sich auf und führten im Zuge einer Radikalisierung , bei dem die Bezugnahme zu traditionellen Momenten wesentlich erscheint , in einen gewalttätigen Konflikt mit den japanischen Besatzern und so zur Katastrophe im Jahre 1943. Erste Berichte über eine Koreri-Bewegung stammen aus dem Jahre 1855 von der Insel Numfor , auf die der Sultan von Tidore mit der Entsendung einer Flotte antwortete , um die ausbleibenden Tribute einzufordern.35 Seitdem brachen diese Bewegungen im Kontext einer sich Ende des 19. Jahrhunderts fester etablierenden kolonialen und missionarischen Durchdringung durch die Holländer unter unterschiedlichen Führungspersönlichkeiten immer wieder hervor. Als wesentliche Momente können benannt werden : die konoor genannten visionären Propheten , meist ehemalige Schamanen und Heilkundige aus der traditionellen Religion , die über Kontakte zu den Ahnen visionäre Entwürfe entwickelten , die sog. advent nights , in denen das Heraufkommen des Koreri erwartet und rituell herbeigeführt werden sollte , und die Rückkehr des Manarmakeri in Gestalt des Manseren Manggundi und der Beginn des Koreri , einer Utopie in friedlicher Fülle und mit Schätzen. Hier knüpften dann später Cargovorstellungen an. Schon 1867 tauchen schöne Objekte und Dampfschiffe zur Verteidigung in den Erwartungen auf , in Biak sind es 1884 Baumwolle , Silbermünzen und Gewehre , auf der Insel Waar 1897 Waffen , Silbermünzen , Kupfergeschirr , Baumwolle und anderes.36 Schon früh allerdings zeichneten sich zwei Richtungen innerhalb der Bewegungen ab , die sich beide aus unterschiedlichen Anknüpfungspunkten der regional verbreiteten Mythologie und Vorstellungswelt ergaben : eine , die Gewalt , auch mit dem

33 Dazu s. Kamma 1972 [1954] , S. 97–102 sowie Rutherford 2000 , S. 324 f. u. 2005 , S. 149–154. 34 Dazu s. Kamma 1972 [1954] , S. 102–156 (bis 1967) und Rutherford 2000 , S. 325. 35 Dazu s. Kamma 1972 [1954] , S. 106. 36 Ebd. , S. 113 , 128 u. 133.

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Verweis auf Maseren , ablehnte ,37 und eine , die anknüpfte an die reiche Tradition an Helden- und Kriegsgeschichten der Biak und die Gewalt als Weg zum Koreri sah. Ob schon der Überfall auf ein Handelsschiff und die Tötung des Kapitäns und dreier Matrosen bei Bosnik auf Biak am 22. Juli 1886 mit diesem gewaltbereiten Millenarismus zusammenfiel , kann heute nicht mehr geklärt werden ,38 doch zeigt eine Äußerung von 1884 , dass schon zu dieser Zeit Frustrationen um sich griffen , die aus vielen anderen Cargokontexten bekannt sind. Als nämlich der Missionar W. L. Jens vor falschen Propheten warnte , bekam er folgende Antwort : „The Lord in Heaven [the Numfor people presumably said ‚Manseren Nanggi‘ = the Lord Sky [Einfügung FK]] made the Papuans first , when he did not yet quite know how , therefore they are stupid and black and do not wear clothes. After that he made the Malays of Ternate , they are lighter skinned and wear clothes. And it was only after that that he made the Dutch ; they are white , wear good clothes , know a great deal and eat bread and good food every day.“ 39

In der Folge gab es zwar eine Bestrafungsaktion durch die Kolonialverwaltung und eine Friedensverhandlung mit Kompensationsgaben , was zur Deutung seitens der Biak-Leute führte , dass der Vorfall letztlich von den Holländern hingenommen und der lokale Titelträger (korano) von ihnen anerkannt worden sei.40 Allerdings dauerte es lange , bis sich die gewaltbereiten Richtungen tatsächlich durchsetzten – und dies im Kontext einer überaus dramatisch verlaufenden Bewegung. Ihren Ausgang nahm diese Bewegung 1938 in Supiori und erfasste bis 1943 weite Teile der Geelvink Bay.41 Die entscheidende Rolle spielte hier zunächst Angganitha Menufaur als Prophetin , die nicht nur zahlreiche Traumvisionen und Besessenheitserfahrungen hatte , sondern auch über genealogische Verbindungen zu den mythologisch relevanten Personen sowie über magische und

37 Dazu s. z. B. ebd. , S. 112 u. 159. 38 Ebd. , S. 128 f. 39 W. L. Jens , in : Berichten van de Utrechtsche Zendingsvereenigin , 1884 , No. 12 , S. 209 (Kamma 1972 [1954] , S. 129). 40 Dazu s. Kamma 1972 [1954] , S. 130. 41 Das Folgende basiert auf ders. 1972 [1954] , S. 157–213 sowie Rutherford 2003 u. 2005.

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heilende Fähigkeiten verfügte. Ihre Vision war die einer gewaltfreien Utopie , die aber auch nur gewaltfrei zu erreichen sei. Allerdings radikalisierte sich diese Vision im Laufe der Zeit unter dem Eindruck von Verhaftungen und repressivem Vorgehen der Kolonialverwaltung und des Einmarschs der Japaner 1942 zunehmend. Missionaren wurde vorgeworfen , die eigentliche Wahrheit geheim zu halten : Jesus ist Manseren Manggundi und wurde in Meokwundi auf Biak geboren. Diese Wahrheit aber nicht zu kennen , verwehrte den Biak-Leuten die Macht über Leben , Tod und Reichtum.42 Gleichzeitig kamen Cargovorstellungen in den Prophezeiungen von Angganitha auf.43 Darüber hinaus entstanden nach und nach neben den sich radikalisierenden Vorstellungen und Erwartungen , die sich immer stärker in Opposition zu den fremden Mächten artikulierten , auch Richtungen innerhalb der Bewegung , die gewaltbereit waren. Es kam zu einer Differenzierung zwischen der gewaltfreien Utopie Koreri (Judäa) und dem eher säkularen Korore (Gadara) , dem technischen und politischen Fortschritt , der durch Gewalt herbeigeführt werden kann , was nicht zuletzt auch durch die japanischen Kriegserfolge belegt worden zu sein schien.44 Bedeutsam ist hier vor allem das Anknüpfen an die Kriegstraditionen und an Vorstellungen von einem Wasser , das unverwundbar macht.45 In diesem Kontext und durch die mehrmalige Festnahme Angganithas kam es zum Aufstieg des Stephanus Simopyaref und zur Katastrophe. Nach einer erneuten Festnahme Angganithas begann der Aufbau einer militärischen Organisation in Anlehnung an die in den kolonialen Kontexten erfahrenen Formen46 zur Vertreibung der Besatzer und der Gegner unter den Biak. Nach der Festnahme Stephanus’ im Juli 1942 , einem langsamen Aufschaukeln der Situation sowie internen Konflikten um die Zulässigkeit von Gewalt und um das Verhältnis zu den Japanern geriet die Bewegung in direkte Konfrontation mit den Japanern und Gegnern unter den Biak , die bis Ende 1943 mehrere Tausend Todesopfer kostete. Im Falle der Koreri-Bewegung wurde somit Gewalt zum Mittel der Herbeiführung des Heilszustandes. Dies geschah im Rahmen einer in der traditionellen Mythologie angelegten Eschatologie , die die Vorstellung von Gewalt als Mittel zur Herbeiführung des Heils beinhaltete. Von wesentlicher Bedeutung 42 43 44 45 46

Dazu s. z. B. Kamma 1972 [1954] , S. 161 u. Rutherford 2005 , S. 149. Dazu s. z. B. Kamma 1972 [1954] , S. 166. Dazu s. z. B. ebd. , S. 164. Dazu s. z. B. ebd. Dazu s. z. B. ebd. , S. 168–174 u. Rutherford 2005 , S. 150 f.

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war hierbei zudem das Vertrauen auf die traditionelle Macht , wie sie sich nicht zuletzt in den Krieger- und Heldentraditionen spiegelte , und auf die magisch gesicherte Unverwundbarkeit. Gewalt als Repräsentation : Die John Frum-Bewegung Im Kontext der Cargokulte gibt es aber auch einen grundsätzlich anderen Umgang mit Gewalt , einen Umgang , der auf der Erfahrung aufbaut , dass die traditionelle Macht schlicht nicht ausreicht , um den Heilszustand herbeizuzwingen. Dies führt uns zur John Frum-Bewegung auf der Insel Tanna in Vanuatu.47 Wie eingangs schon erwähnt , finden sich hier viele der als prototypisch für einen Cargokult geltenden Elemente. Aus der großen Fülle ist für die hier zu behandelnde Thematik vor allem ein Aspekt von besonderem Interesse , der eine weitere Facette des Verhältnisses von Cargokulten und Gewalt hervortreten lässt : Gewalt als Repräsentation. Anders als in der beschriebenen Koreri-Bewegung wird Gewalt in der John Frum-Bewegung , mit der Ausnahme zweier Episoden , nicht als Mittel auf dem Weg zum Heil physisch angeeignet und benutzt. Vielmehr wird hier der Ausdruck der Gewalt par excellence rituell und prophetisch genutzt : das Militär. Schon Pat Gesch hatte im Zusammenhang mit der Mt. Rurun-Bewegung und der darin Ende der 1970er Jahre aufkommenden Prophezeiung einer radikalen Umwälzung durch die russische Armee von der transformativen Macht gesprochen , die das Militär für diese Bewegung repräsentierte.48 Zusammen mit Doug Daltons These zum physisch-partizipativen Verhältnis der Melanesier zur Macht /  paua49 ergibt sich hier eine interessante Deutung : Die Imitation der militärischen Gewalt in Form der Paraden mit nachgeahmten Gewehren unter dem Sternenbanner der USA ist nicht eine unverstandene irrationale Nachahmung , sondern Teil einer rituell-performativen Partizipation an der durch die Form des Militärischen repräsentierten außergewöhnlichen

47 Siehe Guiart 1952 , Lindstrom 1981 , 1990 , 1993 sowie Martin-Jordan 2007. Verwiesen sei auch auf folgende Internetseiten : Smithsonian Institution http :// www.smithsonianmag.com /  people-places / 10021366.html [28. 05. 2011] ; BBCReportage von 2007 http ://www.pri.org /  theworld /   ?q=node /  8139&answer=true [28. 05. 2011]. 48 Dies ist die Bewegung 9 , die Gesch beschreibt , s. o. und Gesch 1990 , S. 218 , 226. 49 S. o. und Dalton 2000 , S. 290 f.

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Macht , die als paua ambivalent in ihrem transformativen Potenzial und in ihrer Gefährlichkeit erfahren wird.50 Ihren Anfang nahm die John Frum-Bewegung 1940 , als erstmals eine mysteriöse Figur mit diesem Namen auf einem Kava-Platz auftrat ,51 die Prophetien einer heilsvollen Zukunft mit ethischen Forderungen verband. Stand am Anfang zunächst der Aufruf zur besseren Arbeitskooperation untereinander und mit der Regierung und der Mission , so kamen bald revitalistische Forderungen auf , in denen sich auch das spannungsgeladene Verhältnis zur angloprotestantischen Mission widerspiegelte und die auf die Wiederbelebung des Kavatrinkens und Tanzens , das von der Mission verboten worden war , abzielten.52 Den kirchlichen und kolonialstaatlichen Stellen fiel dieser Kult mit aller Deutlichkeit am 11. Mai 1941 auf , als die Kirchen von einem auf den anderen Tag leer blieben. Es wurde repressiv reagiert und es kam zur Festnahme zweier Männer , von denen Manehevi gestand , sich als John Frum ausgegeben zu haben. Von diesem Zeitpunkt an wurden bis 1956 mehr als 140 Männer im Zusammenhang mit der John Frum-Bewegung durch die Kolonialverwaltung deportiert , um die Bewegung zu beenden – was freilich ohne Erfolg blieb. Nach und nach nahm die Bewegung die heute bekannte Form an. Es wurde ein Bezug hergestellt zu dem Geistwesen Karaperamun , das im Vulkan Mt. Tukosmeru lebt , und die Botschaft wurde zunehmend millenaristischer. Schon im Laufe des Jahres 1941 sind folgende Momente festzustellen : die Erwartung einer neuen Zeit ; der Versuch , alles europäische Geld loszuwerden ; 50 Leider kann hier auf diese Ambivalenz nicht tiefer eingegangen werden. Anschaulich wird diese Ambivalenz zwischen der Macht als positive Transformation und als Gefahr für die eigene Lebensweise in dem Film von Richard MartinJordan (Martin-Jordan 2007). 51 Das Folgende stützt sich v. a. auf Guiart 1952 sowie Lindstrom 1981 , 1990 u. 1993. Die Kavaplätze mit den darauf vollzogenen Kavazeremonien (rituelles Trinken eines berauschenden Trankes aus den Wurzeln des Pfefferstrauches Piper methysticum) und Tänzen waren von zentraler Bedeutung für die traditionellen Gesellschaften Tannas. Das Verbot dieser traditionellen Praktiken durch die Mission hatte tiefgreifende Folgen für die lokalen Gemeinschaften , was auch einer der Gründe dafür war , dass sich bis heute einige Gemeinschaften völlig von den christlichen und auf westliche Güter und Formen orientierten Gemeinschaften abgrenzen und allein in traditionellen Formen mit den Kavaplätzen als sozialem Zentrum leben. Zur traditionellen Kultur Tannas s. a. Bonnemaison 1994. 52 Im Kontext der John Frum-Bewegung gibt es bis heute sowohl Bezugspunkte für antitraditionalistische Bewegungen als auch für nativistische Bewegungen ; auch dazu s. den Film von Richard Martin-Jordan (Martin-Jordan 2007).

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das Töten der Rinder und Ziegen sowie die Aufgabe der Gärten und Häuser in Erwartung neuen Geldes , neuer Häuser , neuer Nahrung und neuer Tiere ; die Erwartung , dass die Berge eingeebnet und dass die Europäer Tanna verlassen würden. Im September 1941 , drei Monate vor Pearl Harbor , träumte Joe Nalpin , ein Polizist in britischen Diensten , dass John Frum seinen Sohn nach Amerika schicken werde , um den König zu holen.53 Auch von Flugzeugen , die Cargo bringen , träumte er. Schließlich erreichte am 17. März 1942 die amerikanische Flotte Vanuatu. Die amerikanischen Streitkräfte unterhielten von 1942–1946 zwei große Militärbasen in Vanuatu , auf denen , bei einer Einwohnerzahl von 60.000 , zeitweise bis zu 100.000 US-Soldaten stationiert waren und 500.000 US-Soldaten durchgeschleust wurden. Obwohl auf Tanna selbst keine Militärbasis war , leistete praktisch jeder arbeitsfähige Mann aus Tanna mindestens drei Monate Dienst in einer der beiden Basen – und erfuhr dort eine gute Versorgung und Behandlung , die Freigiebigkeit der Amerikaner und eine eindrucksvolle Demonstration des Reichtums und der Organisationsfähigkeit. Im Oktober 1943 entstand eine große Kultbewegung unter Neloiag mit Anlage eines Flugfeldes und einem beinahe gewalttätigen Zusammenstoß mit der britischen Kolonialverwaltung , der aber mit Hilfe amerikanischer Offiziere und der Demonstration der Feuerkraft amerikanischer Waffen verhindert wurde. Hier kam erstmals Gewaltbereitschaft zur Erreichung des Heils auf , das in Verbindung gesehen wurde mit der Vertreibung der Briten , die als Hindernis zum Heil galten , wurde aber mit einem symbolischen Akt der Demonstration des Gewalt- und Machtpotenzials der Amerikaner beendet. Dies führte aber nicht dazu , dass Gewalt als Motiv aus den Ritualen und Vorstellungen der John Frum-Bewegung verschwand. Gewalt tauchte zwar nach diesem Ereignis – mit einer Ausnahme – nicht mehr als ein Mittel auf , das den Akteuren als Mittel zur unmittelbaren Herbeiführung der Umwälzung diente. Gewalt schien nicht mehr konkrete Handlungsoption zu sein. Sie tauchte aber im Bereich des Rituals und der Vorstellungen über die Ereignisse im Zusammenhang mit der Ankunft John Frums in einer unbestimmten Zukunft 53 Das Motiv des Sohnes bzw. der Söhne John Frums spielt in verschiedenen Versionen der Prophezeiungen eine Rolle. Guiart merkt an , dass es auch Geschichten um Söhne John  Frums gab , die aus Amerika geschickt würden (Guiart 1952 , S. 167 f.) , und in dem Film Martin-Jordans „God is American“ begreift sich Isaak the Last One , der eine herausragende Rolle als Führungspersönlichkeit der John Frum-Bewegung innehat , als Sohn von John Frum , wenn auch nicht in einem aus westlicher Perspektive leiblichen Sinne , sondern in einem sozialen und spirituellen Sinne (Martin-Jordan 2007).

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auf : als Vorstellung über eine Armee , die im Berg Tukosmeru wartet und von John Frum bei dessen Rückkehr in Marsch gesetzt wird , und als repräsentative Form in Gestalt der Uniformen , Militärparaden und Flaggenappelle mit Bezug auf die USA am 15. Februar.54 Obwohl sich also im Ritual und in der Vorstellungswelt der John Frum-Bewegung zahlreiche Hinweise auf Gewalt in Form des Militärischen finden , wurde die Bewegung nur noch einmal in gewalttätige Aktionen verwickelt , und zwar im Zusammenhang mit den Unabhängigkeitswirren Vanuatus 1979 /  80 und der Unabhängigkeitserklärung Tafeas , einer Region im Süden Vanuatus , am 15. Feb. 1980. Am 27. Mai 1980 kam es zu einem Schusswechsel mit Regierungstruppen , bei dem die TafeaArmee schnell zerstob und einer ihrer Führer , Alexis Iolou , zu Tode kam.55 Doch dies blieb nur eine Episode : Was sich bis heute erhalten hat , ist nicht eine militante Form des Separatismus , sondern es sind die Symbole der Macht in der militärische Form des Rituals und im Glauben an die Rückkehr John Frums samt der Armee aus dem Berg Tukosmoru. Die rituelle Partizipation an einer transformativen Macht , wie sie das Militär und sein Gewaltpotenzial repräsentiert , die sich aber erst mit der Ankunft des Heilsbringers artikuliert , steht im Vordergrund. Gewalt ist hier nur als Teil der Umwälzung selbst gedacht , die mit dem Kommen des Heilsbringers und seiner Armee einhergeht , nicht aber als Mittel , die Ankunft des Heilsbringers und die damit einhergehende Umwälzung selbst möglich zu machen.

Schluss Um sich der Frage nach dem Verhältnis der melanesischen Cargokulte zur Gewalt zu nähern , wurde als Ausgangspunkt ein Begriff der Cargokulte entworfen , der diese nicht als reduzierbar auf eine einheitliche Ideologie , eine einheitliche praktische Form und eine eindeutige Zweck-Mittel-Relation versteht. Cargokulte wurden vielmehr als je kontextspezifische Ausformungen eines sogenannten Cargokomplexes über z. T. längere historische Entwicklungen hinweg und im Zusammengang mit rituell-performativen Formen zur 54 Dieses Datum geht auf Nampas zurück , einem der Kultführer , der am 15. Feb. 1957 aus dem Exil zurückkehrte und eine rote Flagge hisste , die er nach eigenen Angaben von John Frum und den Amerikanern erhalten hatte (Lindstrom 1981 , S. 105). Diese Fahne ist inzwischen durch das Sternenbanner ersetzt worden. 55 Dazu s. Lindstrom 1981 , S. 109.

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Erlangung des Cargo genannten sozio-spirituell-materiellen Güterkomplexes begriffen , die sich aus der Rolle der Spiritualität , der Gabe , des physischpartizipatorischen Verhältnisses zur Macht und einer inspirationalen Wissenskonzeption ergeben. Ohne im gegebenen Rahmen den Anspruch erheben zu können , eine systematische vergleichende Analyse vorzunehmen , konnten unterschiedliche Dimensionen aufgezeigt werden , die für eine noch immer ausstehende umfassende Analyse der Cargokulte unter dem Gesichtspunkt der Gewalt berücksichtigt werden müssen. Gewalt wurde fassbar als Kontext und Form der Cargokulte , auch wenn diese nur selten gewalttätig in einem physischen Sinne waren. Als Kontext erschien Gewalt in der historischen Erfahrung von Kolonialisierung , Missionierung , Krieg und repressiver Reaktion auf die Kulte sowie in den traditionellen Vorstellungen über den Zusammenhang von Gewalt und Macht. Als Form wurde Gewalt greifbar im spirituellen Kampf – wie am Beispiel der Qaqet-Baining gezeigt – , in der Herbeiführung des Heilszustandes auf der Grundlage einer traditionellen millenaristischen Vorstellung – wie im Falle der Koreri-Bewegung – und in der Repräsentation in der Form des Militärischen , das nicht nur enormes Transformationspotenzial birgt , sondern in der rituellen Form die physische Partizipation daran ermöglicht – wie im Falle der John Frum-Bewegung. Insgesamt also erscheint das Verhältnis der Cargokulte zur Gewalt als überaus vielgestaltig. Gewalt wurde in den beschriebenen Beispielen auf sehr unterschiedliche Art und Weise relevant für die Kulte und deren Verlauf. Diese Unterschiedlichkeit der Rolle der Gewalt entspricht der allgemeinen Spezifik der Cargokulte. Doch trotz dieser Vielgestaltigkeit zeichnet sich vor diesem Hintergrund ein gemeinsamer Bezugspunkt ab : Rolle und Funktion der Gewalt in den Cargokulten sind nur zu verstehen , wenn man diese in Bezug setzt zum soziokulturellen Moment der Macht (paua) , wie es in Melanesien anzutreffen ist. Gewalt ist dabei nicht bloß physisches Mittel zum Zweck , Reaktion auf repressives Vorgehen von Mission und staatlicher Gewalt , Resultat übersteigerter Emotionalität oder gar Ausdruck „primitiver Instinkte“.56 Von besonderer Bedeutung ist vielmehr , dass paua hier immer in Beziehung zu den Bereichen des Spirituellen und Magischen einerseits – man denke an die Beipiele der Qaqet-Baining und der Koreri-Bewegung – und zu Formen physischer Partizipation andererseits – man denke an die John Frum-Bewe56 Hier sei noch einmal auf den schon zu Beginn des vorliegenden Textes zitierten N. M. Bird und seine kolonialistische Angstvorstellungen verwiesen (1945 , S. 69 f.).

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gung – konzeptionalisiert und erfahren wird. In diesem Kontext wird Gewalt und ihr erfolgreicher Einsatz zum Ausdruck der besonderen Beziehung zur Welt der Ahnen und Heilsbringer und deren transformativen Potenzial , an dem man direkt teilhat oder an dem man rituell-performativ partizipiert. Das Moment der Gewalt – sei es als physisch ausgeübte Gewalt , sei es als rituellperformativ umgesetzte Repräsentation – verweist somit auf für Cargokulte wesentliche Dimensionen kosmologischer und eschatologischer Art und erscheint damit für das Verständnis von Cargokulten von besonderer Relevanz , auch wenn die meisten dieser Bewegungen selbst keineswegs physische Gewalt anwenden.

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„Die Flamme , die in einer Gefängniszelle entzündet worden war …“ Repression und Prophetie bei Religionsgemeinschaften im japanischen Faschismus Hans Martin Krämer

Einleitung Am 3. Juli 1945 , sechs Wochen vor Ende des Zweiten Weltkrieges in Japan , wurde Toda Jōsei1 (1900–1958) aus dem Gefängnis entlassen. Der ehemalige Grundschullehrer war im Juli 1943 wegen Verdachts auf Majestätsbeleidigung sowie auf Verstoß gegen das Gesetz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung verhaftet worden. Eine spätere Schilderung seiner Freilassung in einem Roman aus dem Jahre 1965 liest sich wie folgt : Die frische Luft war wirklich gut nach zwei Jahren in der abgestandenen Luft der Einzelzelle. Obwohl es um ihn herum dunkel war , schien in der Tiefe seines Seins ein strahlendes Licht. Alleine mit der Flamme , die in einer Gefängniszelle entzündet worden war , schwelgte er in ihrem Glanz. Das ruhige , sichere Licht des Glaubens brannte stetig in seinem Herzen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch nicht die Mittel , andere von diesem Glanz wissen zu lassen , doch er war sich sicher , dass das Licht niemals ausgelöscht würde.2

Toda sollte „die Mittel , andere von diesem Glanz“ seines Glaubens wissen zu lassen , bald finden : 1946 gründete er die buddhistische Laienbewegung Sōka Gakkai , deren Präsident er 1951 wurde. Die Mitgliederzahl dieser Religionsgemeinschaft , die sich auf das Lotos-Sutra als zentralem heiligen Text beruft , stieg von 1 2

Dem ostasiatischen Gebrauch folgend wird in diesem Aufsatz bei japanischen Personennamen der Familienname zuerst genannt. Ikeda 1972 , Bd. 1 , S. 9.

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nicht einmal 500 im Jahre 1946 bis zum Tode Todas 1958 auf über zwei Millionen. Bis etwa 1970 erhöhte sich diese Zahl immer weiter ; heute gibt die Sōka Gakkai ihre Mitgliederzahl mit etwa sieben bis acht Millionen Haushalten weltweit an. Die Sōka Gakkai stand mit diesem spektakulären Erfolg nicht allein. Eine Vielzahl weiterer neuer Religionen konnte sich unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Japan etablieren : „Sie tauchen auf wie Bambussprossen nach dem Regen“, wie zeitgenössische japanische Beobachter kommentierten ;3 ein frühes englischsprachiges Buch zum Phänomen neue Religionen in Japan trug den Titel The Rush Hour of the Gods.4 Tatsächlich hatten sich zwischen Kriegsende und Ende 1949 bereits 403 neue Religionen als Körperschaften registrieren lassen. Bis 1955 gab es überdies fünf Gruppen mit jeweils mehr als einer Million Mitgliedern , darunter auch die Sōka Gakkai (vgl. Tabelle 1) ; insgesamt hatten die neuen Religionen zu diesem Zeitpunkt wohl über zehn Millionen Mitglieder (dies bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 90 Millionen).5 Tabelle 1 : Die fünf größten neuen Religionen 1955 Name der Religionsgemeinschaft

Mitgliederzahl

Reiyūkai

2 ,3 Mio.

Risshō Kōseikai

1 ,1 Mio.

Tenrikyō

2 ,0 Mio.

Seichō no Ie

1 ,5 Mio.

Sōka Gakkai

1 ,0 Mio.

Der spektakuläre Gründungsboom der neuen Religionen nach 19456 speiste sich fraglos aus der spezifischen Sinnkrise und Orientierungslosigkeit der ja3 4 5 6

Shimazono 2006 , S. 222. McFarland 1967. Zahlenangaben aus Watanabe 1957 , S. 154–156. Im strengen Sinn war freilich keine der nach 1945 erfolgreichen neuen Religionen neu ; alle fünf oben in Tabelle 1 genannten Gruppen waren vielmehr älteren Ursprungs , zumeist der 1930er Jahre : Reiyūkai (1930) , Risshō Kōseikai (1938) , Tenrikyō (1838) , Seichō no Ie (1930) und Sōka Gakkai (1930 ; hierzu s. unten). Zumindest die Risshō Kōseikai und die Sōka Gakkai aber , die bis 1970 zu den größten neuen Religionen mit jeweils über 5 Millionen Mitgliedern werden sollten , hatten Ende 1945 nur wenige hundert Mitglieder , so dass durchaus von einem phänomenalen Wachstum gesprochen werden kann. Zu den Zahlen von 1945 vergleiche Métraux 2001 , S. 15 und Kohler 1962 , S. 257.

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panischen Gesellschaft unmittelbar nach Kriegsende. Zu der weit verbreiteten materiellen Not gesellte sich ein spirituelles Vakuum , nachdem der StaatsShintō 1945 aufgelöst worden war , der Tennō 1946 seine Göttlichkeit widerrufen hatte und der Großteil der etablierten Religionen als durch Verstrickung in Krieg und Faschismus diskreditiert erschien. Der Autoritätsverlust des bislang als Gottkaiser verehrten Tennō äußerte sich auch darin , dass ab Herbst 1945 mehr als ein Dutzend Individuen auftauchten , die behaupteten , die wahren und einzig legitimen Nachfolger der Sonnengöttin zu sein.7 Die Aufhebung des restriktiven Gesetzes über religiöse Organisationen im Oktober 1945 schuf den organisatorischen Rahmen für den Wildwuchs neuer Gruppierungen. Die Erweckungserfahrung , die Toda Jōsei 1944 im Gefängnis machte , deutet darauf hin , dass bei der Erklärung des Erfolgs der neuen Religionen der Zusammenhang zwischen individueller Gewalterfahrung und dem Auftreten von Propheten eine Rolle gespielt haben könnte. Möglicherweise handelt es sich jedoch auch bloß um einen Zusammenhang , der von Religionsgemeinschaften selbst mit einem ganz konkreten Legitimationsinteresse hergestellt wurde. Ohne diese Möglichkeit aus dem Auge zu verlieren , soll im Folgenden besonderes Augenmerk gelegt werden auf die beiden Problemkomplexe , die der Titel dieses Bandes thematisiert : Welche Rolle spielte Gewalterfahrung tatsächlich für das rasche Wachstum neuer Religionen in Japan nach 1945 , und kann man sinnvoll davon reden , diese Bewegungen hätten prophetischen Charakter gehabt ? Zu klären ist also zunächst , welcher Gewalt Religionsgruppen in Japan vor 1945 ausgesetzt waren und ob ihre Entwicklung von dieser Gewalt beeinflusst war. Ferner gilt es , den prophetischen Charakter der neuen Religionen , wie sie nach 1945 auftraten , zu analysieren und schließlich einen etwaigen Zusammenhang zwischen der erfahrenen Gewalt und prophetischen Elementen in der Lehre dieser Gruppen herauszuarbeiten. In allen Fällen soll neben einer Betrachtung von neuen Religionen allgemein der Sōka Gakkai besonderes Augenmerk gelten.

1. Repression als Gewalterfahrung Bei Kriegsende gab es kaum eine Religionsgemeinschaft in Japan , die nicht auf die eine oder andere Art und Weise in den zurückliegenden anderthalb Jahrzehnten staatlicher Repression ausgesetzt gewesen wäre. Die Religions7

Dower 1999 , S. 305–307.

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politik des japanischen Staates änderte sich Anfang der 1930er Jahre zwar deutlich ; doch wichtige Voraussetzungen für die während Faschismus und Krieg betriebene Politik Religionsgruppen gegenüber waren bereits Ende des 19. Jahrhunderts geschaffen worden. Obschon nämlich die Verfassung von 1890 Glaubensfreiheit garantiert hatte , führte der Staat seit den 1890er Jahren einen zunehmenden Zwang zu bestimmten Kulthandlungen ein , der v. a. über das Schulwesen ausgeübt wurde. Dieser Zwang umfasste die Verehrung des als lebendigen Gott verstandenen Kaisers und dessen mythischer Vorfahren , insbesondere der Sonnengöttin , sowie den Besuch von Shintō-Schreinen. Diese Gleichzeitigkeit von verfassungsmäßig garantierter Glaubensfreiheit und erzwungenen Handlungen mit religiösem Charakter wurde durch eine Rechtskonstruktion ermöglicht , die seit 1945 mit der Bezeichnung „Staats-Shintō“ gefasst wird. Diesem zufolge handelte es sich gerade nicht um religiöse Handlungen , sondern um Respektbezeugungen , die legitim von allen Untertanen verlangt werden konnten ; durch die Definition von Teilen des Shintō als areligiös wurde der Konflikt mit der Verfassung vermieden.8 Gerade Religionsgemeinschaften mit einem exklusiven Verständnis von Zugehörigkeit gerieten leicht in Konflikt mit dem Zwang zu Verhaltensweisen , die sie als religiös konnotiert auffassten. Mit Beginn des 15-jährigen Krieges 1931 wurde es für diese Religionen zunehmend schwieriger , sich zu verweigern , und sie mussten mit wachsenden Repressionen seitens des Staates rechnen. Betroffen waren insbesondere christliche Gruppen , die ihren Mitgliedern nur unter großen Schwierigkeiten die Beteiligung an „heidnischen“ Kulthandlungen erlauben konnten.9 Doch auch viele der neuen religiösen Bewegungen traten ebenfalls mit einem exklusiven Glaubensanspruch auf und gerieten dadurch im 20. Jahrhundert in Konflikt mit der Obrigkeit. Unter „neuen religiösen Bewegungen“ werden hier im Sinne eines Fachbegriffs solche Gruppen verstanden , die sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts in Japan gebildet hatten , häufig eine sozial niedrigstehende Anhängerschaft besaßen und sich inhaltlich aus dem Fundus der bestehenden Religionen – also insbe8

9

Diese Definition war auch deswegen möglich , weil der Begriff „Religion“ erst in den 1870er Jahren aus den europäischen Sprachen übernommen worden und seine Anwendung auf den Shintō daher alles andere als selbstverständlich war. Zu Forschungskontroversen über den Staats-Shintō seit 1945 vgl. die neueste Monographie des Religionswissenschaftlers Shimazono Susumu , der argumentiert , wichtige Bestandteile des Staats-Shintō hätten bis heute überlebt (Shimazono 2010 , S. 214–223). Zur Reaktion der katholischen Kirche vgl. Krämer 2002.

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sondere Buddhismus und Shintō , zu einem geringeren Grade auch Christentum – bedienten , zugleich aber organisatorisch selbständig waren.10 Dass solche Gruppen seit den 1930er Jahren zunehmend unter Druck gerieten , lag nicht nur an einer veränderten Haltung staatlicher Organe. Vielmehr hatten die neuen religiösen Bewegungen selbst einen Aufschwung in den 1920er Jahren erlebt : Angetreten mit dem Versprechen , soziale Probleme zu lösen oder alternative Heilmethoden anzubieten , waren sie in den von beschleunigter Verwestlichung und Modernisierung geprägten 1920er Jahren auf große Resonanz bei den vom schnellen Wandel verunsicherten städtischen Unterschichten gestoßen. Schon diese Fähigkeit zur Massenmobilisierung rief das Misstrauen der gebildeten Bürokratenschicht hervor , die alle neuen Formen von Religion als „Aberglauben“ verachteten.11 Seit Ende der 1920er Jahre begannen Polizei und Staatsanwälte gewaltsam gegen den vermeintlich die Gesellschaft gefährdenden Einfluss dieser Gruppen vorzugehen. Einer der spektakulärsten Vorfälle ereignete sich im Dezember 1935 , als mehrere Hundertschaften Polizei den Schreinbezirk der neuen Religion Ōmotokyō in der Nähe von Kyōto abriegelten. Zum gleichen Zeitpunkt durchsuchten Polizisten Räumlichkeiten der Gruppe in ganz Japan ; insgesamt wurden an diesem Tag und in der Folgezeit fast 1.000 Anhänger der Ōmotokyō festgenommen. Vier Monate später , im März 1936 , erteilte der Innenminister den Befehl zur Auflösung der Gruppe ,12 woraufhin von der Polizei beauftragte Abrissunternehmen anrückten , um den Hauptschrein und andere religiöse Gebäude zu zerstören. In den sich anschließenden Gerichtsprozessen erhielten 51 Amtsträger der Ōmotokyō Gefängnisstrafen ; der Führer der Gruppe wurde zu lebenslanger Haftstrafe mit harter Arbeit verurteilt.13 Anlass für das rigorose Durchgreifen der Strafverfolgungsbehörden , die der Ōmotokyō vorwarfen , sie sei ein „Zusammenschluss mit dem Ziel , die Staatsform (kokutai) zu verändern“,14 waren nicht zuletzt die Prophezeiungen , die Bestandteil der Lehre der Gruppe waren. Die Ōmotokyō , wörtlich „Lehre vom Großen Ursprung“, geht zurück auf Offenbarungen , die die Bäuerin De10 Zur Problematik neuer religiöser Bewegungen vgl. allgemein Krech 1999 , S. 49– 60 , und speziell für Japan Reader 1991 , S. 194–233. 11 Garon 1986 , S. 296–299. 12 Zum genauen Zustandekommen des Auflösungsbefehls siehe Watanabe 1979 , S. 133–136. 13 Zusammenfassung nach Garon 1986 , S. 274 und 290 , sowie Lins 1976 , S. 231. 14 Näheres zu den Motiven der Sicherheitsbehörden , dieses Gesetz anzuwenden , findet sich bei Watanabe 1979 , S. 126–133.

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guchi Nao 1892 niedergeschrieben hatte. Darin prophezeite sie im Namen des Gottes Konjin eine Erneuerung der Welt : Wenn die Dinge so bleiben , wie sie jetzt stehen , wird es keine Ordnung in der Welt geben. Daher wird die Welt durch die Wirkung Göttlicher Macht umgebaut und zu einer völlig neuen Welt umgewandelt werden. Nachdem sie durch eine umfassende Reinigung gegangen ist , wird die Welt in ein Königreich des Himmels verwandelt werden , in dem für alle Zeiten Frieden herrschen wird.15

Der Kern des Konflikts mit der immer wieder beschworenen besonderen japanischen „Staatsform“ (kokutai) lag darin , dass die Verfassung von 1890 bestimmte , dass der „heilige , und daher unverletzliche“ Tennō „in einer für alle Zeiten ununterbrochenen Linie das Großjapanische Kaiserreich regiert“.16 Diese Bestimmung der Stellung des Tennō war mit beiden Varianten der prophetischen Eschatologie nicht vereinbar : weder mit derjenigen der Ōmotokyō und anderer japanischer Neureligionen , die eine Erneuerung dieser Welt vorhersagten , noch mit der chiliastisch orientierter christlicher Gruppen , die auf der Grundlage der Offenbarung des Johannes und anderer Bibelstellen den Untergang dieser Welt und die Heraufkunft einer anderen Welt prophezeiten.17 Waren es in den 1930er Jahren zunächst nur die mitgliederstarken , gesellschaftlich wirkmächtigen Gruppen gewesen , die staatlichen Repressionen anheimgefallen waren , so wurde seit Beginn des „totalen Kriegssystems“ 15 Zitiert nach Yamashita 1998 , S. 13. 16 Art. 3 bzw. Art. 1. Die offizielle zeitgenössische englische Übersetzung von Art. 1 sprach von der „seit ewigen Zeiten ununterbrochenen Linie“. Dementgegen betont die japanische Originalfassung die zukünftige Ewigkeit der Kaiserlichen Linie. So wurde die entscheidende Phrase bansei ikkei auch in einem Kommentar , der im Namen des wichtigsten Verfassungsschöpfers Itō Hirobumi veröffentlicht wurde , im Sinne von Verhaltensanweisungen für die Zukunft ausgelegt  (Itō 1889 , S. 3 f.). 17 Die Unterscheidung folgt Yamashita 1998 , S. 4. Ein Beispiel dafür , wie die japanische Staatsanwaltschaft während des Zweiten Weltkriegs mit Gruppen der letztgenannten Prägung umging , bietet der Fall des Anhängers der „Kirchenlosen Kirche“ (Mukyōkai) Asami Sensaku , der 1945 vor dem Obersten Gerichtshof verhandelt wurde , vgl. Krämer 2002 , S. 2 f. Zum Konflikt zwischen christlichen Vorstellungen vom Jüngsten Gericht und der Staatsideologie des japanischen Faschismus vgl. Takeda 1967 , S. 344–348.

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um 1940 herum die staatliche Orthodoxie zunehmend enger ausgelegt. Der Staat verlangte im Zuge der Mobilmachung aller Ressourcen für den Krieg die uneingeschränkte Folgsamkeit auch in ideologischen Fragen.18 In diesen Zeitraum fiel auch die eingangs erwähnte Verhaftung von Toda Jōsei. Dieser hatte 1930 zusammen mit dem Grundschulrektor Makiguchi Tsunesaburō (1871–1944) die Sōka Kyōiku Gakkai („Studiengesellschaft für werteschaffende Erziehung“) gegründet , einen Verein , der das Studium pädagogischer Probleme aus philosophischer Perspektive mit der religiösen Weltanschauung des Nichiren-Buddhismus verknüpfte.19 Im Laufe der 1930er Jahre wurde das religiöse Element im Leben des Vereins , dem zunächst vorrangig Lehrer angehört hatten , immer wichtiger , und die Sōka Kyōiku Gakkai verstand sich zunehmend als Laienverband einer bestimmten Schule des Nichiren-Buddhismus , der durch ihren radikalen Exklusivismus in der Geschichte hervorgetretenen Nichiren Shōshū. 1943 rief Makiguchi als Präsident der Sōka Kyōiku Gakkai die Mitglieder des Vereins dazu auf , keine Talismane vom Shintō-Schrein in Ise anzunehmen. Die in Ise verehrte Gottheit ist die Sonnengöttin Amaterasu, die als mythische Vorfahrin des Tennō-Hauses gilt – somit hatte Makiguchis Aufruf aus Sicht der Behörden zur Zeit der totalen Kriegsmobilisierung zweifellos staatszersetzenden Charakter. Makiguchi war sich der Konsequenzen seines Handelns völlig bewusst : Tatsächlich war seinem öffentlichen Aufruf eine Diskussion zwischen der Sōka Kyōiku Gakkai und der Priesterschaft der Nichiren Shōshū vorausgegangen , die vergeblich für einen Kurs der Akkommodation plädiert hatte.

2. Prophetie als Reaktion auf Gewalterfahrung Im Juli 1943 wurden Makiguchi und Toda zusammen mit 19 weiteren Führungsmitgliedern der Sōka Kyōiku Gakkai verhaftet. Im Juli 194920 erinnerte 18 Im Bereich der Religionspolitik äußerte sich dies am sichtbarsten im Erlass des Gesetzes über religiöse Organisationen , das am 1. April 1940 in Kraft trat und mit dem offen das Ziel verfolgt wurde , die religiösen Organisationen des Landes für die Zwecke der Mobilmachung der Bevölkerung einzuspannen. Vgl. Krämer 2011. 19 Der Nichiren-Buddhismus , institutionell in mehrere distinkte Schulen aufgeteilt , ist eine der zahlenmäßig bedeutendsten buddhistischen Richtungen in Japan. Sie führt sich zurück auf Nichiren (1222–1282) , einen buddhistischen Reformer des japanischen Mittelalters. 20 Dieser Text Todas erschien zuerst in der ersten Nummer von Daibyaku renge , der

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sich Toda selbst daran , wie es dazu kam , dass „die Flamme des Glaubens im März 1944 in einer Gefängniszelle entzündet worden war“: Zu der Zeit , als es unter Ausnutzung des Shintō unseres Landes durch Ultranationalismus und Totalitarismus zum Ausbruch des unbesonnenen Pazifischen Krieges gekommen war , vertrat ich zusammen mit meinem verehrten Lehrer , dem verstorbenen Makiguchi Tsunesaburō , und lieben Gleichgesinnten mit Nachdruck die außerordentliche Falschheit der damaligen Religionspolitik. Ich erläuterte nämlich , warum es unlogisch und unmoralisch war , das japanische Volk zur Verehrung an Shintō-Schreinen zu zwingen. Aus diesem Grund verbrachte ich , nachdem wir im Sommer 1943 unterdrückt worden waren , zwei Jahre im Gefängnis. Während ich meine Tage in dem kalten Gefängnis , ohne Schuld gefangengenommen , zubrachte , stieß ich , nachdem sich Gedanke an Gedanken gereiht hatte , schließlich auf das kaum lösbare Grundproblem des menschlichen Lebens : das Wesen des Lebens. „Was ist das Leben ?“, „Ist es nur die Existenz in dieser Welt ?“, „Oder dauert es auf ewig fort ?“: Dies sind ewige Rätsel. Zudem lehrten die alten Heiligen und Weisen ein jeder auf seine Weise ihre Lösung dieser Fragen. Weil die Läuse das schmutzige Gefängnis liebten , vermehrten sie sich dort rasch. Sich in der Frühjahrssonne badend , kamen die Läuse schamlos hervorgekrochen. Als ich zwei Läuse auf den Schreibtisch legte , strampelten sie mit aller Kraft mit ihren Beinen. Ich zerdrückte die eine Laus , aber die andere bewegte sich weiter , ohne sich darum zu kümmern. Wo ist wohl das Leben der zerdrückten Laus hingegangen ? Ist es für immer von dieser Welt verschwunden ? Oder ein Kirschbaum. Bricht man einen Zweig ab und stellt ihn in eine Vase , dann wächst aus der Knospe irgendwann eine Blüte und zarte Blättchen entfalten sich. Ist das Leben dieses Kirschzweiges getrennt von dem des ursprünglichen Kirschbaumes , oder sind sie ein und dieselbe Sache ? Leben ist eine zunehmend undurchdringliche Sache. Ich versuchte mich daran zu erinnern , wie ich dereinst gelitten und Schmerzen gehabt hatte , als meine jüngere Schwester gestorben war. Damals , als meine Schwester gestorben war , hatte ich fürchterlich gelitten. Danach hatte ich mit Schaudern daran gedacht , was wäre , wenn meine Frau stürbe monatlichen Verbandszeitschrift der Sōka Gakkai  (Sōka gakkai kyōgakubu 1968 , S. 48).

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(und sie war später tatsächlich gestorben , was mich traurig gemacht hatte) , oder wenn meine Eltern stürben (und sie waren tatsächlich gestorben , so dass ich sehr hatte weinen müssen). Schließlich war mir schwindlig bei dem Gedanken daran geworden , wie es sein würde , wenn ich selbst dem Tod entgegentreten müsste. Seitdem war ich unablässig auf der Suche gewesen : ich war dem Christentum beigetreten und hatte gemäß des Amida-Sutra21 gelebt , doch über die Frage nach dem Leben hatte ich aus der Tiefe meines Herzens keinerlei Einsicht gewinnen können. Diese Leiden wiederholte ich in meiner einsamen Zelle. Ich , der ich schon immer ein Interesse an Wissenschaft und Mathematik hatte , konnte an nichts glauben , wenn ich nicht theoretisch davon überzeugt war. Da begann ich von ganzem Herzen das Lotos-Sutra und die Schriften des Heiligen Nichiren zu lesen. Da ich auf mysteriöse Stellen im Lotos-Sutra traf und wünschte , diese vollständig zu durchschauen , rief ich gemäß der Lehre des Heiligen [Nichiren] immer und immer wieder das daimoku22 an. Als ich nahe daran war , das daimoku zwei Millionen Mal angerufen zu haben , stieß ich auf etwas höchst Merkwürdiges : Ein nie zuvor gekanntes Reich tat sich vor meinen Augen auf. Vor Freude heftig zitternd , stand ich alleine in meiner Zelle , die 100.000 Buddhas und Bodhisattvas sowie alle Lebewesen aus den drei Zeitaltern vor mir und rief : „Fünf Jahre später als Konfuzius habe ich keine Zweifel mehr , fünf Jahre vor Konfuzius habe ich das Gebot des Himmels erkannt.“23

Diese Schilderung eines Erweckungserlebnisses ist für das Selbstverständnis der Sōka Gakkai bis heute von zentraler Bedeutung und wird immer wieder prominent zitiert. Die direkte Vorlage für die hier gegebene Übersetzung entstammt z. B. der 34. Auflage des wichtigsten Einführungsbuchs in die Lehren der Sōka Gakkai aus dem Jahre 1968 , also aus den Zeiten intensivster und 21 Die Sōka Gakkai gehört zu denjenigen buddhistischen Gruppen in Japan , die sich in letzter Instanz von dem Lotos-Sutra herleiten. Diesen gegenüber stellt Toda hier die Schulen und Gruppen des Reine-Land-Buddhismus , die die einfache Anrufung des Amida Buddha als zentralen Weg zur Erlösung lehren. 22 Kurze Beschwörungsformel , mit der Vertrauen in das Lotos-Sutra ausgedrückt wird. 23 Sōka gakkai kyōgakubu 1968 , S. 28–30. Im letzten Satz spielt Toda , der 1945 45 Jahre alt war , auf eine Passage aus dem Lunyu an , in dem es von Konfuzius heißt , mit 40 Jahren habe er keine Zweifel mehr gehabt und mit 50 Jahren habe er das Gebot des Himmels erkannt.

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erfolgreichster Mitgliederwerbung. In der 1965 entstandenen Romanfassung von Todas Leben werden ihm kurz nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis die folgenden Worte in den Mund gelegt : „Studieren ist nicht genug. Ich glaube , ich habe das Wesen des Sutra durch tiefes Leiden erfasst. Erst dann wurde es leicht für mich zu verstehen.“24 Während in diesem Roman die Gefängnis-Szene selbst nicht vorkommt , nimmt die Passage von der Einweisung ins Gefängnis bis zur Erleuchtung Todas in einer Verfilmung des Romans aus dem Jahre 1973 mehrere Minuten ein.25 Auf der von der Sōka Gakkai International betriebenen Webseite www.joseitoda.org findet sich an prominenter Stelle eine Schilderung der Gefängnis-Episode mit der expliziten Deutung , Toda habe durch diese Erfahrung „Erleuchtung“ erlangt : After a process of repeated deep contemplation and prayer , he had a revolutionary insight : The Buddha is life itself. It exists within one’s life and through­out the universe. It is the entity of cosmic life. As Toda continued to read the Lotus Sutra , he focused his thoughts on the purpose for which it was expounded : to enable the enlightenment of all people without exception. He came to the realization that his mission was to spread the Lotus Sutra as widely as possible in order to lead people to happiness , and resolved to dedicate the remainder of his life to this endeavor.26

Der Zusammenhang zwischen dem durch Repression zugefügten Leiden und der Erweckung wird also von der Sōka Gakkai selbst klar hergestellt. Was aber ist eigentlich der Inhalt dessen , was Toda weitergeben wollte , was der Gegenstand der Prophetie – wenn die Kategorie Prophetie hier angemessen ist ? Laut Todas eigenen Worten war es die Einsicht , dass der Buddha identisch mit der Kraft des Lebens ist , die ihn mit einem Schlag in den Stand versetzt habe , alle Sutren zu verstehen.27 Schon die Nichiren Shōshū hatte gelehrt , der Glaube an das gohonzon , das von Nichiren selbst im 13. Jahrhundert angefertigte Text-Mandala , und die Anrufung des daimoku selbst seien identisch mit der Verwirklichung der Buddhaschaft in diesem Leben (sokushin jōbutsu). Toda reinterpretierte diese Auffassung nun vitalistisch , was ihm erlaubte , die Mög24 Ikeda 1972 , S. 37. 25 Der Film Ningen kakumei (Die Menschliche Revolution) wurde 1973 von Tōhō produziert. 26 Sōka Gakkai o. J. 27 Shimazono 1999 , S. 437.

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lichkeit zur Erleuchtung in das Alltagsleben der Menschen einzubinden : Der Buddhismus wurde für ihn ein Problem der Lebensführung in der diesseitigen Welt. Heil sei in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit der Welt zu finden , und zwar im Bemühen darum , diese zu verändern , zu transformieren. Diese Neuinterpretation der Doktrin der Nichiren Shōshū ergab sich zwar nicht logisch zwingend aus Todas vitalistischer Wende ; doch die Gleichsetzung von Buddha und Leben erlaubte ihm , eine in seinen Augen moderne und zeitgemäße Anbindung an das Alltagsleben in die Doktrin hineinzutragen.28 Trotz dieser nach 1945 von ihm allmählich entwickelten theoretischen Differenz suchte Toda die Verbindung zur Nichiren Shōshū , die schon vor 1945 bestanden hatte , nach Kriegsende zunächst zu vertiefen. Die Sōka Gakkai war für die Mitgliederwerbung und die Organisation der Mitglieder zuständig ; für Fragen der Heilserlangung hingegen die Nichiren Shōshū. So war etwa auch das gohonzon als zentrales Anbetungsobjekt für die Mitglieder , dem sie sich zweimal am Tag zuzuwenden hatten – eine Abschrift des Mandalas von Nichiren aus dem Jahre 1279 – , immer von Priestern auf der Grundlage der im Haupttempel der Nichiren Shōshū aufbewahrten Originalvorlage anzufertigen. Ohne eine solche Abschrift war keine Glaubenspraxis möglich. Einem idealtypischen Bild des Propheten , wie es die Religionssoziologie zeichnet , entspricht Toda kaum. Pierre Bourdieu etwa hat den Propheten als „unabhängige[n] Heilsunternehmer ohne jegliches Ausgangskapital“ charakterisiert und den Inhabern des gesellschaftlich anerkannten und institutionalisierten Kapitals an religiöser Autorität , nämlich den Priestern der Kirche , gegenübergestellt , Prophetie somit als dasjenige gekennzeichnet , das etablierte Religiosität herausfordert , und zwar als häretisches Potenzial von „innen“.29 Todas Verhältnis zur etablierten Kirche zeichnete sich indes statt durch die zu erwartende Opposition zur Priesterschaft eher durch eine Stärkung und Kooperation mit dieser aus. Im Übrigen gilt nicht nur für die Sōka Gakkai , sondern für alle nach 1945 erfolgreichen großen Neureligionen , dass sie Anhänger weniger durch prophetische Aussagen , sondern am ehesten durch Hilfe im Alltag gewinnen konnten – Shimazono Susumu spricht davon , dass diese Gruppen „als Religionen ‚dies-weltlichen Heils‘ charakterisiert werden“ könnten.30 Hier sticht vor allem die Praxis der Aussprache oder Diskussion unter Mitgliedern in kleinen 28 Ebd. 29 Bourdieu 2009 , S. 78–82. 30 Shimazono 1999 , S. 446–448 , 451.

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Nachbarschaftskreisen hervor , die in drei der in den 1950er Jahren größten Gruppen , eben der Sōka Gakkai und den ebenfalls dem Lotos-Sutra anhängenden Risshō Kōseikai und Reiyūkai , einen ganz zentralen Stellenwert hatte und hat. Während in diesen in der Sōka Gakkai einfach „Gesprächsrunde“31 genannten Zusammenkünften von zehn bis 20 im Kreis Sitzenden das gemeinsame Lesen grundlegender Schriften Nichirens eine Rolle spielte , war fraglos für viele Mitglieder der ebenfalls mögliche Austausch über alltägliche Probleme in einer hierarchiefreien Umgebung in der jungen Nachkriegsdemokratie ein wichtiger Attraktionsfaktor. War somit der Charakter des Propheten , also desjenigen , der , in den Worten Max Webers , „den Heilsbedürftigen auf[fordert] , den gleichen Weg wie er selbst zu betreten“,32 und zwar einen neuen Weg , der von dem abweicht , den die Amtskirche anbietet , in der frühen Nachkriegszeit eher von nachrangiger Bedeutung , so haben Entwicklungen Anfang der 1990er Jahre dazu geführt , dass Toda Jōsei in heutigen Sōka-Gakkai-Publikationen viel eher als idealtypischer Prophet porträtiert wird. Nachdem die Sōka Gakkai nämlich jahrzehntelang mit ihren Millionen Mitgliedern neben der ursprünglich nur wenige tausend Mitglieder umfassenden Nichiren Shōshū existiert hatte , kam es Anfang der 1990er Jahre zu dem – angesichts des Missverhältnisses zwischen Mitgliederzahlen und Deutungshoheit in doktrinären Fragen – vielleicht unausweichlichen Zusammenstoß über Machtfragen. 1991 exkommunizierte die Nichiren Shōshū die Sōka Gakkai ; seitdem ist die Sōka Gakkai organisatorisch unabhängig und verteilt ihre eigenen Abschriften der Schrift Nichirens aus dem 13. Jahrhundert. Nun wird auch Todas Rolle für die eigene Geschichte neu interpretiert und seine Hinwendung zur Lebensphilosophie deutlicher akzentuiert. So nimmt ein Autor der Sōka Gakkai auf deren Webseite wie folgt Bezug auf Todas Erweckungserlebnis im Gefängnis : Darum glaube ich , dass es von Anfang an unausweichlich und sogar notwendig war , dass die Sōka Gakkai einen Bruch mit ihrer priesterlichen Mutterorganisation Nichiren Shōshū erleben würde. Das Leben an die erste Stelle zu

31 Japanisch zadankai. Bei der Reiyūkai und der Risshō kōseikai , die diese Praxis genealogisch aus der Reiyūkai übernommen hat , heißen die Diskussionsrunden „Dharma-Sitz“ (hōza). Aussprachetreffen , ebenfalls zadankai genannt , bot die Ōmotokyō schon Mitte der 1920er Jahre an , wo sie eines der wirksamsten Mittel zur Mitgliederwerbung waren , vgl. Lins 1976 , S. 146. 32 Weber 1980 , S. 273.

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setzen , wie es Toda Jōsei tat , bedeutete , dass jedes Mitglied der zukünftigen Sōka Gakkai direkt mit dem Buddha in Verbindung gesetzt würde , ohne Umweg über irgendeine „professionelle“ autoritäre Struktur oder irgendwelche physischen Ressourcen oder Reliquien , die eine solche Struktur vielleicht in ihrem Besitz haben könnte , so wie etwa das Original des gohonzon.33

Eine solche offenbar von der Vorstellung der Priesterschaft aller Gläubigen beeinflusste Sicht Todas als gleichsam reformatorischen Propheten ist schwerlich mit den historischen Zeugnissen , die Toda selbst hinterlassen hat , in Einklang zu bringen. Vielmehr hat Toda selbst in strategischen Texten der 1940er und 1950er Jahre zum Verhältnis von Sōka Gakkai und Nichiren Shōshū die Zuständigkeit der Laienorganisation stets in der Mitgliederwerbung , der organisatorischen Dimension und dem Schutz der Nichiren Shōshū vor Komplikationen , die sich etwa aus der aggressiven Mitgliederwerbung der Sōka Gakkai ergeben , gesehen.34

3. Prophetie , Gewalterfahrung und religiöser Pazifismus Neuere Selbstdarstellungen der Sōka Gakkai neigen also dazu , Toda als Propheten im engeren Sinne zu porträtieren , als jemanden , dem in einer Vision eine inhaltlich neue Mission auferlegt wurde. Eine gewisse Plausibilität erfährt diese Darstellung wohl auch dadurch , dass Prophetie auch im engeren Sinne in der japanischen Religionsgeschichte – freilich ohne Zusammenhang mit Gewalterfahrung – durchaus eine wichtige Rolle gespielt hat. Dafür steht einmal die Figur des Nichiren , auf den sich auch die Sōka Gakkai zurückführt. Nichiren sagte im Jahre 1260 dem Regenten Unheil für das Reich vorher , sollte sich die politische Führung weiter weigern , sich an der wahren buddhistischen Lehre zu orientieren. Aber auch in der neueren japanischen Geschichte standen Prophezeiungen in engem Zusammenhang mit der Gründung neuer Religionen oder neuer religiöser Richtungen , wie der oben referierte Fall von Deguchi Nao , die zu Ende des 19. Jahrhunderts die Ōmotokyō stiftete und einen radikalen Umbau der Welt predigte , zeigte. Schließlich gab es im Zusammenhang mit einem Nostradamus-Boom in Japan Anfang der 1970er Jahre eine Gründungswelle neuer Religionsgruppen , die teils stark prophetische 33 Strand o. J. 34 Vgl. etwa Métraux 1992 , S. 327.

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Züge hatten. Erinnert sei nur an die Aum Shinrikyō , deren Anführer Asahara Shōkō den Weltuntergang für 1997 vorhersagte und die schließlich 1995 den Giftgasanschlag auf das Tokyoter U-Bahn-System mit tödlichen Folgen verübte. Auch ist der Topos des Propheten , der während eines mit starker Deprivation35 verbundenen Gefängnisaufenthaltes eine Vision erfährt , die ihn zwingt , einen neuen Weg einzuschlagen , in der Religionsgeschichte nicht unbekannt. Hier ist zu denken etwa an den Yogi Sri Aurobindo (1872–1950) , der bis zu seinem Gefängnisaufenthalt 1908 als politischer Freiheitskämpfer in Indien bekannt gewesen war , was auch der Grund für seine Verhaftung war. Ihm begegnete im Gefängnis der Geist des Hindu-Aktivisten Swami Vivekananda (1863–1902) und unterwies ihn in Geistesübungen zur Erlangung einer höheren Bewusstseinsstufe. Erst nach seiner Entlassung 1910 gründete Sri Aurobindo seinen Ashram in Pondicherry und wurde zum weltweit bekannten Guru.36 Ein weiteres prominentes Beispiel ist Bahá’u’lláh (1817–1892) , der zwar schon 1844 vom Islam zum Bábismus konvertiert war ; doch der Anstoß zur Weiterentwicklung des Bábismus zur Bahá’í-Religion kam Bahá’u’lláh erst , als er 1852 in einem Untergrundgefängnis in Teheran festgesetzt war. Wie er später selbst schrieb : During the days I lay in the prison of Tihran , though the galling weight of the chains and the stench-filled air allowed Me but little sleep , still in those infrequent moments of slumber I felt as if something flowed from the crown of My head over My breast , even as a mighty torrent that precipitateth itself upon the earth from the summit of a lofty mountain. Every limb of My body would , as a result , be set afire. At such moments My tongue recited what no man could bear to hear.37

In allen drei Fällen ist freilich interessant , dass es sich zunächst einmal um Narrative von Prophetie handelt , die von den späteren konsolidierten Religionsgruppen selbst konstruiert wurden. So weiß man von Sri Aurobindo , dass er schon vor seinem Gefängnisaufenthalt unter Anleitung eines Yogi prakti35 Makiguchi Tsunesaburō , der zusammen mit Toda verhaftete Präsident der Sōka Kyōiku Gakkai , verstarb 1944 im Gefängnis aufgrund der schlechten Haftbedingungen. Toda selbst brauchte mehrere Monate , um sich körperlich von dem Gefängnisaufenthalt zu erholen. 36 Heehs 2008 , insbes. S. 177–179. 37 Bahá’u’lláh 1982 , S. 17.

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zierte , und Bahá’u’lláh offenbarte seine Vision im Gefängnis erstmals elf Jahre später seinen engsten Vertrauten. Auch Toda gab seine nach der Entlassung aus dem Gefängnis gleich wieder aufgenommene unternehmerische Tätigkeit als Schulbuchverleger erst 1949 auf und wurde erst ab diesem Zeitpunkt zum Vollzeit-Heilsunternehmer. Zur wissenschaftlichen Erklärung scheint also trotz gewisser Verbindungslinien der Zusammenhang zwischen Gewalterfahrung und Prophetie wenig geeignet , den Boom der neuen Religionen in Japan nach Kriegsende zu erklären. Insgesamt scheint weniger die Kriegserfahrung maßgeblich gewesen zu sein als die der Niederlage sowie die Neuorientierung auf eine liberaldemokratische Gesellschaft. Wenn auch Erfahrungen im Krieg ein Beitrittsmotiv für die einzelnen Mitglieder selbst gewesen sein mag , so thematisierten die Gruppen dies inhaltlich nicht. Damit ist übrigens nicht gesagt , dass die massive Gewalterfahrung des Zweiten Weltkriegs überhaupt keinen religiösen Niederschlag in Japan gefunden hätte. Im Gegenteil : Spätestens seit Ende der 1950er Jahre ist ein aus der spezifischen japanischen Kriegserfahrung38 begründeter Pazifismus ein konstitutives Merkmal der großen neuen religiösen Bewegungen. Prominent findet sich dies z. B. in der Außendarstellung der Risshō Kōseikai. Deren langjähriger Vorsitzender Niwano Nikkyō (1906–1999 ; Vorsitzender von 1938–1991) war 1970 an der Gründung der World Conference on Religion and Peace beteiligt , die bei den Vereinten Nationen beratenden Status hat ; bis heute sitzen Vertreter der Risshō Kōseikai dort im Vorstand. In der Sōka Gakkai verkündete Toda Jōsei 1957 als wichtiges Ziel der Gruppe die Abschaffung von Atomwaffen weltweit ; auch die Sōka Gakkai ist als beratende Nicht-Regierungs-Organisation bei den Vereinten Nationen registriert. Ikeda Daisaku , der Nachfolger Todas als Präsident der Sōka Gakkai , ist im Ausland v. a. für seine Bemühungen um den Weltfrieden bekannt. Er hat zu diesem Zweck mit zahlreichen Staatsmännern Gespräche geführt und hat 1983 selbst den Friedenspreis der Vereinten Nationen erhalten.39

38 Eine große Mehrheit der japanischen Bevölkerung erkennt an , dass Japan im Zweiten Weltkrieg Täternation war und großes Leid über die asiatischen Nachbarländer gebracht hat ; zugleich ist das Bewusstsein , Opfer gewesen zu sein – maßgeblich durch die Erfahrung der Atombombenabwürfe und der strategischen Bombardierung japanischer Städte bestimmt – , für die japanische Erinnerungskultur zentral. Vgl. Schölz 2009. 39 Kisala 1999 , S. 84–86.

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Für eine japanische neue Religion steht das Beten für den Weltfrieden sogar im Zentrum ihrer Aktivitäten. Die Byakkō Shinkōkai („Gesellschaft des Weißen Lichts“) errichtet seit den 1970er Jahren in aller Welt Friedenspfähle mit der Botschaft „May Peace Prevail on Earth“. Die Haupttätigkeit der Mitglieder besteht darin , ein kurzes Friedensgebet zu sprechen , um so positive Energien auf der Welt zu verbreiten : Jede einzelne Äußerung wandere um die Welt und beeinflusse somit auch das Geschehen auf der ganzen Welt.40 Der Gründer der Gruppe , Goi Masahisa (1916–1980) , beschrieb 1955 ein Erweckungserlebnis , das er auch als „Schau der Einheit von Gott und Selbst“ bezeichnete. Im Jahre 1949 habe er eine göttliche Stimme („nicht aus meinem Kopf und nicht aus meinem Herzen , sondern vollständig vom Himmel herkommend“) vernommen , die ihn als Diener angenommen habe : „Von diesem Zeitpunkt an wurde ich gänzlich zu einer Sache Gottes , und das Individuum Goi Masahisa , das Ich Goi Masahisa hörten auf zu sein.“ Diese Stimme habe ihm die Mission aufgetragen , die Welt zu lehren , wie man für den Frieden bete.41 Es gibt gute Gründe dafür , das aus der Gewalterfahrung sich speisende pazifistische Programm der neuen Religionen selbst in einem losen Sinne nicht Prophetie zu nennen. Dafür ist das „Sendungsbewußtsein im Hinblick auf den Weltfrieden“42 nicht nur zu sehr Anliegen aller Religionen , auch der etablierten.43 Es zieht sich überdies durch die gesamte japanische Gesellschaft und ist somit kein genuin religiöses Phänomen , geschweige denn eines , das nur mit neuen Formen von Religiosität in Verbindung zu bringen wäre. Darüber hinaus wäre es problematisch , die heute prominente Rolle des Pazifismus innerhalb der neuen Religionen historisch auf die unmittelbare Nachkriegszeit zurück zu projizieren. Es ist vielmehr auffällig , dass sich die pazifistische Programmatik nicht vor Anfang der 1950er Jahre zu artikulieren beginnt : Selbst in der Byakkō Shinkōkai sind explizite Aktivitäten für den Frieden frühestens 40 Kisala 1998 , S. 66–68. Der Text des Gebetes findet sich auf Japanisch und Englisch in Pye 1994 , S. 80. 41 Goi 1955. 42 So ein Teil des Titels eines Buches zu einem auffälligen Charakteristikum neuer japanischer Religionen (Woirgardt 1995). 43 Vergleiche etwa den Zusammenschluss „Konferenz der Religionsamtsträger der Präfektur Nagasaki“, in der sich buddhistische Mönche , Shintō-Priester , katholische Priester und Amtsträger dreier neuer Religionen zusammengeschlossen haben. Hauptanliegen des Zusammenschlusses sind „der Austausch zwischen den Religionen und Friedensaktivitäten“ (http ://www.feature.jp /  ngs_shukon /  index.html , letzter Zugriff 12. 04. 2012).

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für das Jahr 1950 festzustellen , als programmatischer Kern einer konsolidierten Gruppe mit breiter Anziehungskraft erst ab 1955. Viel mehr als die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs haben wohl die Umstände des Kalten Krieges , der mit dem Korea-Krieg seit Juni 1950 in unmittelbarer Nachbarschaft Japans heiß wurde , zur Hinwendung religiöser Gruppen zur Friedensproblematik beigetragen.

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Von der väterlichen Gewalt im Kaiserreich zum Führerkult im Jungmännerbund der 1920er Jahre Jürgen Reulecke

Die folgenden Ausführungen fallen insofern ein wenig aus dem Rahmen der im vorliegenden Band versammelten Beiträge heraus , als die Begriffe „Gewalterfahrung“ und „Prophetie“ nicht so sehr auf allgemeine historische Ereignisse , ethnologische Zusammenhänge oder ähnliches bezogen , sondern als Elemente konkreter individueller Erfahrungen wie auch altersspezifischer Prägebedingungen verstanden werden – hier im Wesentlichen im Hinblick auf das Jahrzehnt vor und das nach dem Ersten Weltkrieg. Es geht also um einen erfahrungs- und wahrnehmungsgeschichtlichen Ansatz , bei dem die Frage nach der „Generationalität“ spezifischer Altersgruppen ebenso wie nach der generationellen Weitergabe von Erfahrungen im Mittelpunkt steht. Einschränkend sei gesagt , dass es sich hierbei allerdings um einen Aspekt der Männlichkeitsgeschichte im 20. Jahrhundert handelt und die weibliche Seite nicht angesprochen wird. Um die Zwiespältigkeit des Spannungsfeldes von Männlichkeit , Autorität und Gehorsamserziehung im Vorfeld des Ersten Weltkriegs exemplarisch vorzuführen , soll einleitend eine Episode vorgestellt werden , die sich im Herbst 1906 ereignet hat. In jenen Tagen saß ein streitbarer Philologe , Gymnasialprofessor am Steglitzer Gymnasium und einer der geistigen Väter des „Wandervogels“, nämlich Ludwig Gurlitt (1855–1931) , an seinem Schreibtisch und war gerade dabei , ein Manuskript mit dem Titel „Erziehung zur Mannhaftigkeit“ abzuschließen , als ihn eine Nachricht erreichte , die ihn höchst amüsierte.1 Daraufhin entschloss er sich , seinem Text noch ein Nachwort beizufügen , das er mit dem Satz beginnen ließ : „Ich kann mit hellem Lachen schließen“: Er hatte nämlich in der Zeitung über jenes Ereignis in Köpenick gelesen , das unter dem Titel „Der Hauptmann von Köpenick“ bekannt wurde. Zwar amüsierte sich damals ganz Deutschland über dieses Ereignis , aber für Gurlitt war die Köpenicker Tragikomödie ein Musterbeispiel für die Folgen , die sich aus einer „Menschenabrichterei“ und quasimilitärischen Dressur ergaben , die seiner Meinung nach das Klima im Wilhelminischen Deutschland und vor allem das 1

Hierzu und zum Folgenden Gurlitt 1906 , S. 217.

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gesamte Erziehungswesen bestimmten : „Die Schutzleute stehen auf Befehl des schmierigen Hauptmanns selbst Schmiere , und der Soldat erstarrt vor der heiligen Uniform in ‚eingetrichterter Demut‘ “. Das Ereignis sei , so Gurlitt , ein „trauriger Triumph preußisch-militärischer Abrichtungskunst“, ein „Triumph der ‚geistigen Hosennaht‘ “ ! Man wird Gurlitts „helles Lachen“ wohl eher als ein höhnisch-bitteres , also als ein „sardonisches“ Lachen interpretieren müssen. Und so ruft er denn auch abschließend anklagend aus : „Du hast es so gewollt , Erziehung zur Subalternität , Geist der Dressur !“ und fordert eine „Erziehung zur Mannhaftigkeit“, bei der das freie Individuum im Mittelpunkt stehen sollte und nicht die Erzwingung blinden Gehorsams mit Hilfe brutaler Erziehungsmethoden , bei denen die Prügelstrafe an erster Stelle stand : „Sonst wird unser ernstes Leben schließlich zum Possenspiel.“ Die damals stark zunehmende Zahl von Schülerselbstmorden war für ihn ein bedrückender Beleg dafür , wie sehr der damalige Schulbetrieb bei vielen Schülern zu „Verzweiflung und Lebensüberdruss“ geführt hatte. „Männer setzen Knaben voraus“, lautete Gurlitts Kernmotto ; nur in einer freien Knabenerziehung sah er die Voraussetzung gegeben , dass in Zukunft „neue und ganze Männer“ die Geschicke des Deutschen Reiches bestimmen würden und nicht „servile Lakaien mit Untertanendemut und hässlichem Strebergeist“. 1908 widmete Gurlitt übrigens dann den Gründen für die Schülerselbstmorde ein weiteres Buch ,2 und Sigmund Freud lud zeitgleich zu einer entsprechenden Tagung nach Wien ein. Auf solche Folgen der Gewalterfahrung in der wilhelminischen Schul- und Familienerziehung soll jetzt jedoch nicht näher eingegangen werden. Zudem sei hier auch nur beiläufig daran erinnert , dass seit dieser Zeit zunehmend Romane und Dramen von jüngeren Literaten verfasst und auf den Markt gebracht wurden , die das Vater-Sohn-Problem im Extremfall bis zum Vatermord behandelten , z. B. von Franz Werfel , Frank Wedekind , Walter Hasenclever , Arnolt Bronnen und Wilhelm Schmidtbonn.3 Und wenig später schrieb dann auch Franz Kafka seinen berühmten „Brief an den Vater“ mit dem Untertitel „der riesige Mann , mein Vater , die letzte Instanz“.4 Besonders bedeutsam ist jedoch , dass von nun an nicht zuletzt in den Älterenkreisen der bürgerlichen Jugendbewegung ebenfalls das Thema aufgegriffen wurde , so dass ab etwa 1910 augenfällig eine Art kollektiver Vater-Sohn-Konflikt immer deutlicher angesprochen wurde , der dann nach dem Ersten Weltkrieg spezifische Konturen erhalten sollte. 2 3 4

Gurlitt 1908. Siehe dazu Dahlke 2006. Kafka 1919 , Nachdruck 2004.

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Vorab jedoch noch kurz einige Hinweise darauf , wie das im späten Kaiserreich allgemein akzeptierte Vaterbild aussah. Wer in einem Bestseller aus der Endphase des Kaiserreichs mit dem Titel „Ratgeber für den Guten Ton in jeder Lebenslage“5 danach sucht , wie damals das Männer- und Väterbild offiziell und breitenwirksam ausgemalt worden ist , wird rasch fündig : Das Männerkapitel des Ratgebers wird nämlich mit dem Goethe-Wort eingeleitet , Hammer zu sein , sei jedem Mann „rühmlicher und wünschenswerter … als Ambos“. Der Mann als Vater , dessen Funktion und Rolle dann vor allem als „Hausherr“ beschrieben wird , sollte also wie ein Hammer oder – so an anderer Stelle – wie eine Eiche sein : Als solche habe er mit stolzem Sinn fest auf seinem Platz zu stehen und solle „lieber über die Welt den Hals (brechen) , als er von ihr den auf richtiger Überzeugung gewurzelten Kopf sich brechen ließe.“ Die Welt müsse er wahrnehmen und beherrschen , ohne sich nach ihr ummodeln zu lassen. In diesem Sinne habe er auch die absolute Richtschnur für das „Leben und Wesen“ seines Hauses , besonders seiner Söhne , zu liefern. Vor allem in der Zeit der „Flegeljahre“, in denen die Knaben manchmal „unbescheiden und rücksichtslos“ seien , müsse der Vater „mit Strenge , mit seiner ganzen Autorität eingreifen.“ Der Autor dieses Buches , Franz Albrecht , gehörte zu einer Altersgruppe , die man als „Wilhelminer“ bezeichnet hat , benannt nach dem 1859 geborenen Wilhelm II.6 Gemeint sind damit vor allem die männlichen Angehörigen jener Generation im Deutschen Reich , die etwa zwischen 1854 und 1864 geboren waren und dann den Sieg im deutsch-französischen Krieg bzw. den Rausch der Reichsgründung von 1870 als Heranwachsende erlebt hatten. Vielen dieser „Wilhelminer“ waren Persönlichkeitsmerkmale eigen , die sich aus der Rückschau tendenziell zu einer altersspezifischen Mentalität verdichten lassen : Autoritätsfixiertheit , Harmoniestreben in den Formen von Anpassung einerseits , Ausgrenzung andererseits und vor allem eine spezifische , nämlich von „Panzerung und Angriff“ bestimmte Aggressivität. Wie zum Beispiel Max Weber (1864–1920) litten jedoch manche von ihnen in den letzten beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg unter dem Gefühl , unter einem „Fluch des Epigonentums“ zu stehen , also bloß Erben oder Zuspätgekommene zu sein , sodass sie daran zweifelten , „ob sich die Nachwelt zu uns als ihren Ahnen“ bekennen werde : Es werde seiner Altersgruppe , so Weber , wohl „nicht gelingen , den Fluch zu bannen , unter dem wir stehen : Nachgeborene zu sein einer po5 6

Albrecht 1910 , S. 27 f. S. zum Folgenden Doerry 1986.

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litisch großen Zeit – es müsste denn sein , dass wir verstünden , etwas anderes zu werden : Vorläufer einer größeren.“7 Und er fragte sich halb zweifelnd , halb hoffend : „Wird das unser Platz in der Geschichte sein ?“. Diese „Wilhelminer“ mit ihrem – wie man zugespitzt und pauschalisierend sagen könnte – Minderwertigkeitskomplex und gleichzeitig aggressiven Selbstbehauptungswillen besetzten um 1900 / 1910 die Führungspositionen in Politik , Militär und öffentlichem Leben ; sie bestimmten weitgehend die Werthierarchien , Stilformen und Verhaltensnormen des Wilhelminischen Deutschland und definierten dabei nicht zuletzt auch das , was – wie es damals hieß – „Mannhaftigkeit“ ausmachte und was die Väter als Richtschnur für ihre Söhne begreifen sollten. Manche Angehörige der auf sie folgenden Generation , geboren in den 1870er und frühen 1880er Jahren , registrierten jedoch immer deutlicher die Fragwürdigkeit dieser autoritär vertretenen männlichen Normensetzung und die Hohlheit des dröhnenden Pathos. Als einer der ersten formulierte schließlich 1904 der damals 28jährige Arthur Moeller van den Bruck (1876–1925) die Vorwürfe der Jüngeren gegen die „Wilhelminer“, indem er ihnen politische Inkompetenz und kulturelles Versagen vorwarf : Die Schuld an der allgemeinen geistigen Misere treffe nicht nur den Kaiser , sondern seine gesamte Generation , die „sich ein Zeitalter wilhelminischer Laienhaftigkeit“ habe gefallen lassen.8 Sein Schluss aus diesem Befund lautete folglich : „Ein Blutwechsel tut der Nation not , eine Empörung der Söhne gegen die Väter , die Ersetzung des Alters durch die Jugend“ – ein ohne Zweifel nicht nur klingendes , sondern bemerkenswert folgenreiches Motto ! 1904 ist auch das Jahr , in dem der amerikanische Kinderpsychologe Stanley Hall ein damals in Deutschland vielbeachtetes Buch mit dem Titel „Adolescence“ herausbrachte , in dem er die verhängnisvollen Folgen eines , wie er meinte , massiv um sich greifenden gesellschaftlichen Gefährdungspotentials , nämlich eine rasant voranschreitende „Überzivilisation“ in erster Linie der Knaben , geradezu prophetisch an die Wand malte.9 Die Adoleszenz war für Hall eine höchst gefährdete und für die Weiterentwicklung von Gesellschaften zugleich höchst gefährliche Lebensphase , wobei er alle damals breiter diskutierten negativen Zivilisationsfolgen wie zum Beispiel Hysterie , Neurasthenie , Depressionen und Melancholie vor allem auf die in den Großstädten He-

7 8 9

Weber 2002 , S. 45. Moeller van den Bruck 1904 , S. 142 ; s. auch Stambolis 2003 , S. 21 f. Siehe dazu ausführlich Dahlke 2006 , S. 34 ff.

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ranwachsenden bezog.10 Die Schülerselbstmorde spielten bei seiner Analyse ebenso eine Rolle wie eine angebliche Verweichlichung der Knaben , die er mit einer „Effemination“, also einer Verweiblichung in Verbindung brachte , und eine um sich greifende „Grübelsucht“. Eine Folge dieses bedrohlichen Szenarios war im Wilhelminischen Deutschland die Propagierung eines noch massiveren Zugriffs der Vätergeneration auf den männlichen Nachwuchs , wobei es darum ging , den zunehmenden Verfall der Sittlichkeit und die sinkende Wehrtauglichkeit der jungen Männer , deren Demoralisierung – nicht zuletzt infolge der Trinksitten der Studenten – , deren „geistige Erschöpfung und Überreizung“, „Pietätlosigkeit“ usw. aufzuhalten. Allenthalben begann jetzt , weil nun auch konservative Kräfte und „Jugendfreunde“ mobil machten , ein „Kampf um die Jugend“, der zu einem großen Teil davon bestimmt war , dass unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen mit ihren jeweiligen Männlichkeitsbildern die heranwachsende männliche Jugend traktierten und entsprechend auszurichten versuchten11 – dies angesichts des von allen Beobachtern unisono diagnostizierten Niedergangs traditioneller „Mannhaftigkeit“. Das oben zitierte Motto Moeller van den Brucks aus dem Jahre 1904 wies aber bereits in eine andere Richtung , die eine gegensätzliche Perspektive favorisierte bzw. eine ganz andere Prophetie ansprach. Beeinflusst von dem Schulreformer Gustav Wyneken (1875–1964) und besonders von dem jungen Freud-Schüler Siegfried Bernfeld (1892–1953) erschienen z. B. in der in Wien herausgegebenen Zeitschrift „Der Anfang“ Artikel , die nachdrücklich die Eigengesetzlichkeit der Jugend und die Notwendigkeit einer Abkehr von den autoritären Verhältnissen in Schule und Elternhaus betonten.12 Die Schule sei , so hieß es dort , letztlich nur ein „Lerngefängnis“, und in der Familie sei das Kind bloß „Eigentum der Eltern oder , extrem ausgedrückt , es befindet sich im Zustand der Sklaverei.“ Bernfeld hatte im Frühjahr 1913 in der ersten Nummer des „Anfang“ als Leitgedanken einer sich gegen diese Verhältnisse richtenden Jugendkulturbewegung plakativ verkündet : „Kindheit und Jugend sind nicht die zwecklosen Durchgangsstadien zum erwachsenen Menschen , sondern notwendige , in sich geschlossene Entwicklungsstufen. Jugend und Mannheit sind nicht graduelle , sondern qualitative Unterschiede. Die Jugend ist also nicht unvollkommene , unreife Mannheit , sondern ein vollkommener Zustand für sich.“ 10 Vgl. dazu auch Radkau 1998 11 S. z. B. dazu Reulecke 1982. 12 S. Herrmann und Laermann in Koebner u. a. 1985 , S. 224 ff. und S. 360 ff. , Zitate S. 372 , s. auch Bernfeld , Bd. 1 , 2010.

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Die sich ab 1910 zum Beispiel in Göttingen und Jena in „Akademischen Freischaren“ sammelnden , nun zu Studenten gewordenen Wandervögel – von all diesem argumentativen öffentlichen Hin und Her aufgerüttelt – luden schließlich zu einem Jugendfest auf den Hohen Meißner , einen Bergrücken östlich Kassel , ein , wo es am 12. Oktober 1913 zum folgenden seither viel zitierten Meißner-Gelöbnis kam : „Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung , vor eigener Verantwortung , mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein“ – ergänzt durch den lebensreformerischen Zusatz : „Alle gemeinsamen Veranstaltungen der Freideutschen Jugend sind alkohol- und nikotinfrei.“13 Dahinter stand die Vorstellung von einer Jugend , die – wie es in der Einladung zu diesem Fest hieß – „ihr Selbst frei entwickeln [werde] , um es dann dem Dienst der Allgemeinheit zu widmen.“ Wenig später hat angesichts des Weltkriegserlebnisses der Dichter Walter Flex (1887–1917) in seiner in den darauf folgenden Jahrzehnten weit verbreiteten Erzählung „Der Wanderer zwischen beiden Welten“ dieses Kernziel auf die besonders griffige Formel gebracht : „Rein bleiben und reif werden – das ist schönste und schwerste Lebenskunst.“14 Hatten die Freideutschen noch Anfang 1914 in einem Telegramm an den Kaiser diesen beschworen , alles daran zu setzen , der Jugend einen Krieg zu ersparen , so ließ dann für die meisten jungen Männer das „Augusterlebnis 1914“, d. h. der Kriegsausbruch und der Marsch zur Front , alle bisherigen Debatten über Männlichkeit und Väterproblematik für einige Zeit zurücktreten. Für viele waren anfangs die Schützengrabenerlebnisse und die „Stahlgewitter“ geradezu eine Initiationserfahrung : Der Krieg bot ihnen die Chance mannhafter Bewährung und schuf zugleich die Voraussetzungen zur Überwindung einer verweichlichenden „welschen“ Zivilisation. Männliche Tugenden waren nun gefragt und gefordert : Tapferkeit und Härte , Treue und eiserner Wille , Kameradschaft , Liebe zum Volk und Einsatzbereitschaft bis zum Opfertod. Die Kriegslyrik , die Soldatenlieder , die Heldenberichte und die Frontpropaganda enthielten alle den gleichen Topos : Der Jüngling oder junge Mann trennt sich freudig , aber ernst von der Mutter , der Geliebten und von seiner Familie , um seiner eigentlichen Bestimmung entgegenzueilen und sich in den „Stahlgewittern“ und im soldatischen Jungmännerbund als Mann zu bewähren. Das 13 Dazu Mogge /  Reulecke 1988. 14 Zu Flex s. Sautermeister in Koebner 1985 , S. 438 ff. , Ulbricht 1988 sowie Koch 2006.

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Rauschhafte , das ganz und gar nicht Rationale dieses Vorgangs kommt z. B. in folgendem Kriegsgedicht des 1892 geborenen Heinrich Zerkaulen deutlich zum Ausdruck : „Aus zieh ich meiner Jugend buntes Kleid und werf es hin zu Blumen , Glück und Ruh. Heiß sprengt das Herz die Brust mir breit , der Träume Türen schlag ich lachend zu. Ein nacktes Schwert wächst in die Hand hinein , der Stunden Ernst fließt stahlhart durch mich hin. Da steh ich stolz und hoch gereckt allein Im Rausch , dass ich ein Mann geworden bin !“15

Beim Fronteinsatz , in der Schützengrabengemeinschaft schlug dann die große Stunde des Männerbundes : „Langemarck“ sollte der sinnstiftende neue Mythos werden , mit dem die folgende Jugendgeneration ein Vierteljahrhundert später erneut in einen Weltkrieg geschickt wurde. Mit „Männerbund“ ist neben „Adoleszenz“ ein weiterer Kernbereich angesprochen , der von nun an eine erhebliche Bedeutung gewinnen sollte. Eine breite zeitgenössische Debatte darüber hatte 1902 mit einer Darstellung der in vielen Kulturen nachweisbaren Formen des Männerbündischen begonnen , die der Volkskundler und Mitarbeiter am Bremer Übersee-Museum Heinrich Schurtz in dem sogleich sehr stark beachteten Buch „Altersklassen und Männerbünde“ geliefert hatte.16 Unter den Frontbedingungen des Ersten Weltkriegs trat jetzt im Bereich der Männlichkeitskonstruktionen an die Stelle des bisherigen Bildes von reiferen Männern , die temporär – wie zum Beispiel noch 1870 /  71 – in den Krieg zogen und als Väter Vaterland und Heimat und damit das Wohl ihrer Familien verteidigten , immer stärker das Bild einer Jungmannschaft , die als eine Art Kriegerkaste sich auf dem „Altar der Nation“ zu opfern bereit war. Doch dann endete dieser Krieg in einer Katastrophe. Nicht nur tiefe Depression einerseits und Flucht in die aus dem Boden schießenden Freikorps (als Möglichkeit , die Kameraderie des Männerbundes fortzusetzen) andererseits waren jetzt gängige Reaktionen , sondern es begann zudem eine breite Suche nach Schuldigen. Eine zentrale Schuldzuweisung richtete sich an die wilhelminische Vätergeneration. Jetzt waren es deren um 1885 /  90 geborenen Söhne , die sich in erster 15 Zit. nach Böhme 1934 , S. 11. 16 Reulecke 2001.

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Linie zu Wort meldeten. Den Hauptvorwurf , der auf schuldhaftes Versagen und Charakterlosigkeit der Väter hinauslief , formulierte in der aus Jugendbewegungskreisen stammenden Zeitschrift „Junge Menschen“ ein anonymer Autor 1922 folgendermaßen : „Die Generation unserer Väter übernahm 1890 ein herrlich blühendes Reich , dessen Adler seine Schwingen zur Weltmacht ausbreitete. Dieses Erbe von 1890 haben die Herren in wenigen Jahrzehnten verwirtschaftet. Was sie uns hinterlassen haben ist – Konkurs.“17 Da ist von „bankrotter Generation“ die Rede sowie von einer wie nie zuvor vorhandenen , unüberbrückbaren Spannung zwischen zwei Generationen , nämlich „der Generation der Kriegsschuldigen und der Kriegsteilnehmer“, und der Autor beendet schließlich seine Philippika auf die Väter mit dem Ruf nach einer neuen „Führerjugend“, der gleichzeitig der Ruf nach einem Führer dieser Jugend war – ein damals weit verbreiteter Ruf , der z. B. auch bei Eduard Spranger (1882–1963) in seinem in vielen Auflagen verbreiteten Buch aus dem Jahre 1924 „Psychologie des Jugendalters“ zitiert wird.18 Spranger sprach vom Warten auf einen „Jugenddiktator“ und meinte damit einen Mann , „der an der Spitze der Jugend die neue Welt heraufführt , wenn die alte endgültig in ihrer Sackgasse gescheitert ist.“ Er selbst distanzierte sich allerdings von diesem Gedanken , weil dieser „viel Problematisches“ enthalte , doch müsse man davon ausgehen , dass er „in einer eigenen Jugendwelt neben der Gesellschaft der Erwachsenen heute schon weit durchgebildet ist.“ Eine neue Art Zukunftsvorstellung kam damit auf den Markt der Erwartungshorizonte , da mit den vernichtend beurteilten Vätern mit ihrer wilhelminischen Vergangenheit „kein Staat mehr zu machen“ war. Obwohl sie weiter die politische Macht in Händen behielten , konnten sie der „jungen Generation“ offenbar keine Orientierung mehr liefern und schienen ihre Rolle als Wegweiser gründlich verspielt zu haben. Auch deren Männlichkeitsbild war damit obsolet geworden : Der Freud-Schüler und Wiener Psychoanalytiker Paul Federn (1871–1950) prägte damals das Wort von der „vaterlosen Gesellschaft“, das noch mehrfach im 20. Jahrhundert Konjunktur haben sollte , und lieferte – verbunden damit – eine geradezu prophetische Deutung , indem er die radikale Abgrenzung nach 1918 von der Vätergeneration als Folge der Auflösung der bisherigen „Ehrfurchtsverpflichtungen gegen die väterliche Autorität“ und der Aufkündigung des traditionellen Vater-Sohn-Verhältnisses

17 Junge Menschen , 3. Jg. (Februar 1922) , S. 51. 18 Spranger , hier zit. nach der 3. Aufl. 1925 , S. 164.

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interpretierte.19 Diese Auflösung könne jedoch – so Federn – zu einer verhängnisvollen psychischen Bedürfnislage führen , dass nämlich die vaterlosen Söhne von nun an „nur auf eine geeignete , neu auftretende Persönlichkeit warten , die ihrem Vaterideal entspricht , um sich wieder als Sohn zu ihm einzustellen.“ Mit großer Regelmäßigkeit habe nämlich nach dem Sturz von Königen die darauf folgende Republik bald wieder der Herrschaft eines Volksführers Platz gemacht. Der Sozialist Federn plädierte deshalb , um dieser Gefahr zu entgehen , für eine nichtpatriarchalische , genossenschaftliche Gesellschaftsordnung mit neuen Familienstrukturen und einem bruderschaftlichen Männerbild sowie einem neuen männlichen Arbeitsethos , denn auch die aktuellen Streiks , eine weit verbreitete Arbeitsunlust und die Straßenkämpfe seien „Zeichen dafür , dass kein Vater mehr die Seelen der Söhne zu friedlicher Arbeit vereint.“ Auf die mehrfach bereits angesprochene bürgerliche Jugendbewegung bezogen : Vor dem Weltkrieg repräsentiert durch die verschiedenen Wandervogelgruppierungen und die Freideutsche Jugend mit ihrer auf das „Selbst“ bezogenen Meißner-Formel , trat sie jetzt in eine neue Phase : die Phase der Bündischen Jugend – dies nicht zuletzt deshalb , weil es in der Folgezeit zu einer zunehmenden Vermischung der Wandervogelformen mit pfadfinderischen Vorstellungen kam. Ein zukunftsträchtiges Ereignis im Rahmen des bisher stark hierarchisch aufgebauten und von sogenannten Feldmeistern geleiteten , recht militaristisch organisierten Pfadfindertums war ein großes Treffen 1919 auf Schloss Prunn bei Regensburg.20 Hier wurde ein weiterer Kernbegriff favorisiert , der von nun an eine Fülle von Debatten weit über den Bereich der Jugendbewegung hinaus auslösen sollte , nämlich der Begriff „Führer“. In einem schließlich von den sich jetzt „Neupfadfinder“ nennenden Reformgruppen angenommenen Gelöbnis hieß es deshalb nach den ersten beiden Sätzen : „Wir Pfadfinder wollen jung und fröhlich sein und mit Reinheit und innerer Wahrhaftigkeit unser Leben führen. Wir wollen mit Rat und Tat bereit sein , wo immer es gilt , eine gute und gerechte Sache zu fördern“ im dritten Satz programmatisch : „Wir wollen unseren Führern , denen wir vertrauen , Gefolgschaft leisten.“ Von „Feldmeistern“ war hier also keine Rede mehr. Hatte die zitierte Meißner-Formel der Freideutschen Jugend von 1913 noch die Reif- und Selbstwerdung des Einzelnen durch das Gemeinschaftserlebnis in den Gruppen in den Mittelpunkt gestellt , so ging es jetzt um ein durch das Charisma von Führern bestimmtes Leben im gefolgschaftstreuen Jungmänner19 Federn 1919 , S. 598. 20 Dazu und zum Folgenden Reulecke 2010 , S. 61 ff.

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bund. In vielen jugendbewegten Kreisen kam es nun in deutlicher Abgrenzung zu allen Arten von öffentlicher Jugendpflege zu einer Reihe von speziellen Ausprägungen , die – zugespitzt – auf folgenden Ideen beruhten : charismatisches Führertum mit treuer Gefolgschaft , Aufbruch eines „neuen Menschen“ in Richtung auf ein „neues Reich“, elitäre Auslese bzw. jugendbewegte Elitebildung , opferbereite Treue zum „Bund“, „vagierende Religiosität“ in einer „arteigenen Religion“ (zum Beispiel unter Heranziehung des Gralsmythos) und nicht zuletzt radikale Profilierung von Jungmannschaft und Jungmännerbund mit klar formulierten „männlichen Werten“. Auf die Spitze getrieben konnte das im ersten Fall auf einen völligen Rückzug in eine sich nach außen abschottende Gemeinschaft , zur „Flucht in die Wälder“, zu einem sektiererischen , eventuell sogar esoterischen Abkapseln führen. Im zweiten Fall war man der Verführung ausgesetzt , seinem gesamten Handeln und Denken zunächst völkische , schließlich dann rassistische Deutungen zu geben , sich diesen immer ausschließlicher auszuliefern und in entsprechenden radikalen Organisationen bis hin zur HJ mit deren Slogan „du bist nichts , dein Volk ist alles“ aufzugehen. Rationaler denkende Kreise aus der Frontgeneration , nicht zuletzt auch in Teilen der Bündischen Jugend , sahen dagegen im „Bund“, der nach einer Grundsatzschrift von Herman Schmalenbach aus dem Jahre 1922 zwischen der engen , rein emotionalen „Gemeinschaft“ auf der einen und der kalten , von nüchternen Kalkülen bestimmten „Gesellschaft“ auf der anderen Seite stehen sollte ,21 eine andere Lösung : In den jugendbewegten Bünden sollte es ihrer Meinung nach darum gehen , die dort versammelten Heranwachsenden in die Front derer einzureihen , die sich willig zu einem neuen Reich bekannten. Der Staat , der ja – so der 1903 geborene Student Friedrich Kreppel 1924 bei einem großen Langemarck-Treffen der Bündischen Jugend in der Rhön – nicht von Knabenbünden , sondern von Männern geführt werde , brauche die tragende Schicht einer lebendigen jungen Generation.22 Man müsse deshalb , so war in einer Zeitschrift der Deutschen Freischar aus dem Jahre 1926 zu lesen , bescheidener denken und mit langen Entwicklungszeiten rechnen und wolle keinen „Aufmarsch militärspielender halbwüchsiger Burschen [und] politisch bearbeiteter junger Männer“, denn letztlich gehe es um den alles entscheidenden Formwillen einer handlungsbereiten Elite sowie um „harte und ernsthafte Arbeit“ für Volk und Vaterland.23 Doch das waren mäßigende Töne noch aus der Mitte der 1920er Jahre ! 21 Schmalenbach 1922. 22 Zit. nach Kindt 1963 , S. 436 f. 23 Zit. ebd. , S. 234.

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Exkurs : An dieser Stelle bietet es sich an , auf ein von dem Philosophen und Pädagogen Theodor Litt (1880–1962) im Jahre 1927 mit dem Titel „Führen oder Wachsenlassen. Eine Erörterung des pädagogischen Grundproblems“ veröffentlichtes , die hier angesprochene Problematik abständig analysierendes Buch zu verweisen.24 Diese Schrift gilt als eine der umfassendsten Positionierungen der Rolle des Erziehers und der Aufgabe der Erziehung. Hier nur so viel : Der Jugendbewegung der Wandervögel , Freideutschen und Pfadfinder bescheinigte Litt in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre , dass sie sich inzwischen durchaus von dem anfangs vehement vertretenen Prinzip des individuellen Wachsenlassens abgewandt habe. Ein solches Wachsenlassen sollte zwar seiner Meinung nach weiterhin eine wichtige Rolle im Erziehungsprozess spielen , aber nicht irgendwie ziellos , sondern zielgerichtet in eine sich von einer „verworrenen Gegenwart“ und Vergangenheit abwendende Zukunft. Hier kommt nun bei ihm der Führer bzw. das Führen ins Spiel : Der Führer , so Litt , sei es günstigenfalls , der in der Lage sei , den Blick auf das zu richten , „was als Verheißung der Zukunft vor ihm auftaucht , und reißt die Jugend , die ihm anvertraut ist , sich nach und dem lockenden Ziel entgegen. Denn eben dies ist es doch , was den ‚Führer’ zu dem macht , was sein Name besagt : Er weiß , wo das Ziel liegt ; er kennt den Weg , auf dem man zum Ziel gelangt , und schreitet kraft dieser Überlegenheit denen voran , die solchen Wissens ermangeln.“25 Jene Jugend – so Litt weiter – , die kurz vor dem Ersten Weltkrieg den rigiden Erziehungsstil im Kaiserreich mit seinen Formen massiven Zwangs bekämpft und das Recht des selbstbestimmten Heranwachsens eingefordert habe , beginne sich jetzt darauf zu konzentrieren , ein Führertum zu favorisieren , das „die kommende Gestalt des Lebens aus eigener Verantwortung in die Wirklichkeit überführen werde.“ Der Führer , so könnte man demnach im Anschluss an Litt etwas ironisch sagen , sollte also so etwas wie ein begeisternder „Überführer“ in eine individuelle „Selbstverwirklichung“ sein. Ein solches Verständnis des Führens verwandelte also letztlich das „oder“ im Titel seines (übrigens noch 1967 in 13. Auflage nachgedruckten) Buches in ein differenzierendes „und“. Zurück zur Situation Ende der 1920er Jahre : Solche Verhaltensempfehlungen wie die zitierten von Friedrich Kreppel konnten allerdings ab etwa 1927 /  28 viele der im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg geborenen Jüngeren 24 Litt , hier zit. nach der 13. Aufl. 1967. 25 Ebd. , S. 20.

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kaum noch begeistern. Eine zweite verhängnisvolle Generationenkonstellation bahnte sich an , bei der Teile der Frontgeneration , d. h. immer stärker auf Revanche drängende , enttäuschende Frontsoldatenkreise – die Protagonisten waren etwa 35 bis 40 Jahre alt , allen voran Adolf Hitler – den eher nüchternen und zumindest ansatzweise politisch-realistisch denkenden Wortführern in der Bündischen Jugend wie z. B. Ernst Buske (1894–1930) , Bundesführer der Deutschen Freischar , den Rang abliefen. Sie propagierten jetzt immer lautstärker eine „Revolution der jungen Generation“, welche die „Republik der Greise“ hinwegfegen müsse – dies im Zusammenwirken der Frontkämpfergeneration mit der nachfolgenden Generation. Der viel zitierte Slogan Gregor Strassers (1892–1934) aus einer Rede des Jahres 1927 „Macht Platz , Ihr Alten !“ mit seinem Vorwurf der Charakterlosigkeit und Krämerhaftigkeit , der Ehrlosigkeit und des Verrats an die Adresse der Väter26 fand seine Überspitzung kurze Zeit später in dem Satz „Der Vater ist tot !“, womit Peter Suhrkamp (1891–1959) die Diagnose meinte , dass das System von Weimar den nachwachsenden Generationen letztlich keine wirklichen „Väter , Lehrer und Meister“ mehr bereitgestellt habe , die junge Generation also einem von den Vätern verschuldeten Chaos „preisgegeben“ und nun zu einem „mit Jammer , Hass , Wut und edler Empörung geladene[n] Material [geworden sei] , bereit für jede Revolution.“27 Dass solche demagogischen Argumente eine verführerische Komplexitätsreduktion für viele vor allem bürgerliche junge Männer aus der Kriegskindergeneration des Ersten Weltkriegs darstellten , liegt auf der Hand. Als inzwischen Vierzigjähriger stellte Suhrkamp damals fest : „Ich bin niemals ein Vater. Mein Haus ist nicht gerichtet. Ich habe noch nicht meinen Acker bestellt , um darauf zu ernten.“ Die männliche Entscheidung , welche immer die tragische Möglichkeit von Schuld und völligem Untergang – „den Kern des Mannseins von jeher“ – einschließe , sei noch nirgends gefallen !28 Übrigens hat auch Hitler in „Mein Kampf“ betont , er werde und wolle niemals Vater sein , was der Psychoanalytiker Erik Erikson in einer Hitlerstudie aus dem Jahre 1942 als Bestreben des damals 35jährigen Hitler gedeutet hat , sich als jugendlichen Held zu stilisieren , „der mit der Väterwelt gebrochen und gewissermaßen als älterer Bruder versprochen [habe] , die junge Generation in eine neue Zukunft zu leiten.“29 26 27 28 29

Strasser 1932 , S. 171 ff. Suhrkamp 1932 , S. 696. Ebd. , S. 684. Erikson 1942 , hier zit. nach Stambolis 2003 , S. 175 f. und S. 214.

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An dieser Stelle soll der Überblick über den Niedergang des traditionellen Vaterbildes seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts und den Aufstieg des männerbündischen Führertums in der Nachkriegszeit abgebrochen werden , denn mit der NS-Zeit begann ein weiterer Schritt bei der Demontage der Väter parallel zu einer sehr spezifischen Aufladung eines heldischen Jungmännerbildes nach dem Hitlerjugendmotto „treu leben , todtrotzend kämpfen , lachend sterben“ – eines Bildes , das oft erst 1944 /  45 definitiv zerbrach. Der Bogen des vorliegenden Beitrags hat sich unter einer etwas eigenwilligen Auslegung des Rahmenthemas „Gewalterfahrung und Prophetie“ von der immer rasanter werdenden Erosion des ehemals autoritären Vaterbildes der „Wilhelminer“ über die Propagierung und das Ausleben männerbündischer Gemeinschaften sowie des Führermythos in der Weimarer Republik bis hin zum Vorabend dessen gespannt , was Sebastian Haffner einmal das „Gift der Kameradschaft“ im Hinblick auf die jungmännliche Erziehung in NS-Schulungslagern genannt hat.30 Diese „Feldlager“ – so Haffner – seien es in erster Linie gewesen , in denen die jungen Männer nach 1933 zu „Kameraden“ im NS-Geist gemacht werden sollten ; solche Lager hätten als „Lockmittel“ und als „große Köder“ des NS-Regimes gedient , um den männlichen Nachwuchs „vom widerstandslosesten Alter an an dieses Rauschmittel“, also an die Kameradschaft im NS-Männerbund , zu gewöhnen. Diese jungen Männer waren dann unsere Väter bzw. Großväter , und das , was sie , wenn sie den Krieg überlebt haben , uns Kindern bzw. Enkeln als mentalitätsgeschichtliche oder gar psychohistorische „Staffelstäbe“ hinterlassen haben , ist erst seit wenigen Jahren , nachdem die sogenannte Kriegskindergeneration des Zweiten Weltkrieges „in die Jahre gekommen ist“, zum Gegenstand einer schnell anwachsenden Zahl von interdisziplinären Untersuchungen sowie populärwissenschaftlichen Darstellungen und biographischen Erinnerungswerken geworden.31

30 Haffner 2002 , S. 13 ff. 31 S. dazu z. B. die inzwischen acht Aufsatzsammelbände umfassende Reihe „Kinder des Weltkrieges“ der gleichnamigen Studiengruppe , 2006 ff. , Weinheim /  München.

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Von der väterlichen Gewalt im Kaiserreich zum Führerkult im Jungmännerbund

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„Gottesmutter“, „Rachegott“ und „Golgatha“ Autokratie , Sozialrevolutionäre Partei und Legitimationsstrategien terroristischer Gewalt im Russländischen Reich an der Wende zum 20. Jahrhundert Lutz Häfner

Einleitung „G[H]irš Lekkert [ …] Im Helden fließt Hass mit Liebe zusammen. Was ist ihm das Leben wert , falls noch ein Bösewicht am Leben ist , solange er nicht die Schande der durch Rutenhiebe Gequälten mit dem Blut des teuflischen Gesindels von sich gewaschen hat ? Held-Arbeiter ! An Deinem Grab Stehen wir mit stummem Wehmut : In ihm hat das Schicksal unseren Stolz , unsere Ruhe Für immer begraben. Du , Gott meiner Vorväter , Du Rachegott ! Von Dir habe ich mich stolz , in hoher Meinung von mir selbst , abgewendet ; Jetzt aber , jetzt bin ich erschöpft Von sklavischen Tränen , vom kraftlosen Rachedurst ! [ …] Du hast die Gottlosen vernichtet Mit Blitzpfeilen vom Firmament. Oh , wie hast Du die Feinde des auserwählten Volks [izbrannika-naroda] Verjagt , wie vernichtet ! [ …] Aber nein , es lebt – es lebt unser heimatliches Volk : In seinen Reihen gibt es Kämpfer-Helden ! [ …] Ja , Du bist gestorben ; aber von neuem bin ich voller Hoffnung ,

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dass mein unglückliches Volk nicht stirbt , es , das ohne Maß verschmähte und verachtete ; aber heldenhafte Volk ! Leb wohl , Genosse ! Mit dem Abschiedslied Ehren wir alle Deine Leiden , durch ein letztes Lied – voller Gram und Trauer – für den Kämpfer für die Sache der Brüderlichkeit und Liebe !“1

Dieses hier mit zahlreichen Auslassungen wiedergegebene Gedicht war dem sozialrevolutionären Arbeiter mosaischen Glaubens Hirš Lekkert zugeeignet , der am 5. [18.] Mai 1902 ein erfolgloses Attentat auf den Wilnaer Generalgouverneur Generalleutnant Viktor Vil’gel’movič von Wahl [fon Val’] verübt hatte.2 Für seine Tat wurde Lekkert Ende des Monats gehängt. Das Poem , dessen Verfasser sich hinter dem Pseudonym „Jude“ [Evrej] verbarg , ist eine doppelte Parabel : Es thematisiert nicht nur die Leidensgeschichte des jüdischen Volkes , sondern zugleich auch der russländischen Revolutionäre in ihrer Auseinandersetzung mit der Autokratie. Präsentiert wird ein manichäisches Weltbild : Der Held fiel im Kampf gegen die Mächte der Finsternis. Sein Tod ist ein Fanal , das die Reihen derer zusammenschweißt , die die Leiden des verschmähten und verachteten Volks durch ihre Aktionen sühnen werden. Sie sind die Kämpfer für die Sache der „Brüderlichkeit und Liebe“. Jeder dieser Kämpfer ist ein Rachegott des auserwählten Volks – nicht nur des jüdischen , sondern eben auch des Volks der Werktätigen und ihrer noch zu errichtenden neuen , sozialistischen Welt. Im Grunde vollzieht sich eine Metamorphose – möglicherweise wäre sogar der Begriff Emanation gerechtfertigt – vom individuellen Helden zum heldenhaften Volk , das kollektiv die sozialrevolutionäre Zielutopie , gleichsam das sozialistische Himmelreich auf Erden erkämpfen wird. Das Gedicht rekurriert in seinem Kern auf die urchristliche Prophetie einschließlich der ihr eigenen Gedanken von Vergeltung und Rache. Zugleich wohnt ihm eine prophetische Prognose inne : Die Gewissheit der gleichsam naturgesetzlichen Demission der alten Ordnung.3

1 2

3

Revoljucionnaja Rossija , No. 10 , Avgust 1902 , S. 3. Abendblatt des Pester Lloyd , No. 173 , 30. 7. 1904 , S. 1 ; Neue Freie Presse , No. 13554 , 20. 5.  1902 , S. 6 ; Times , 20. 5. 1902 , S. 3 ; Kolosov 1905 , S. 8. Zu von Wahl vgl. Lieven 1989 , S. 249. Vgl. Weber 1972 , S. 303 ; ders. 2006 , S. 476.

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Es ist ein nicht der Ironie der Geschichte entbehrendes Paradoxon , dass die zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zarenreich gegründete Partei der Sozialrevolutionäre [PSR] , deren sozialistische Ideologie einem strikten Atheismus verpflichtet war , ungeachtet aller praktizierten Profanität in die Nähe des Religiösen gerückt werden kann. Die sozialrevolutionäre Semantik bediente sich wiederholt biblischer Termini , Topoi und Metaphern.4 Zur Illustration mögen einige wenige Beispiele genügen. Die sozialrevolutionäre Terroristin Marija A. Spiridonova beschrieb den ersten Chef der Kampforganisation [Boevaja organizacija , BO] der PSR , den jüdischen Revolutionär Grigorij A. Geršuni mit folgenden Worten : „In ihm war , vielleicht , wie im Leben selbst , die Fähigkeit zur Sünde. [ …] In ihm war eine Weite , eine sowohl Elan [razmach] als auch Ruhe , kein Maß kennende Geisteskraft [duchovnaja sila]. Vor allem wenn es einem nicht peinlich ist , in biblischer Sprache zu reden , denn gerade mit ihr ließe sich am besten alles über Geršuni sagen. Es schien , als ob er selbst von dort , aus biblischen Zeiten , hierhin gebracht worden sei , nur in dem jetzigen kulturellen Antlitz [oblič’i].“5 Der hier Charakterisierte schrieb aus dem berüchtigten Gefängnis für politische Gefangene in Šlissel’burg , dessen Schließung im Jahre 1905 er mit dem Fall der Mauern von Jericho deutete , dass er nicht bereit sei , das russische Volk für ein Linsengericht zu verkaufen und dass er ungeachtet der fürchterlichen Umstände seiner Isolationshaft in der Festung „gläubig der Zukunft Russlands entgegensehe“. Auf dem II. PSRParteitag 1907 wandte sich Geršuni mit der Formulierung , man dürfe „nicht in die Lage des Pontius Pilatus kommen und die Hände“ in Unschuld waschen , gegen Expropriationen , also revolutionäre Überfälle zum Zwecke der Geldbeschaffung. Sein Credo kulminierte in dem Bekenntnis , die Revolution sei „etwas Heiliges“.6 Die PSR war keineswegs ein untypischer Einzelfall. Auch andere radikale Ideologien wie beispielsweise Anarchismus , Bolschewismus , Kommunismus oder Nationalsozialismus sind als „politische Religion“ charakterisiert worden. Ohne hier zu versuchen , den wenig trennscharfen , indifferenten Begriff der „politischen Religion“ zu definieren , ist der pointierten Formulierung des Göttinger Osteuropahistorikers Manfred Hildermeier beizupflichten , dass letztlich jede Bewegung , „die ihre Ideen als einzig wahre ausgibt und jedes Mittel gutheißt , um ihnen Geltung zu verschaffen , zum Kandidaten für ‚po4 5 6

Lavrov 2001 , S. 17 , 19. Spiridonova 1996 , S. 460. Gerschuni 1909 , S. 38 f. , 180 ; Černov 2007 , S. 346.

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litische Religiosität‘ “ avanciert.7 Hans-Ulrich Wehler hat eine enge Affinität von Nationalismus und Religion betont. Eine ähnlich enge Beziehung lässt sich auch für die sozialrevolutionäre Variante des Sozialismus im Zarenreich konstatieren. Zu dem kulturellen Deutungssystem ihrer Ideologie gehörte u. a. , dass es seinen Adepten erstens das Versprechen einer Kontingenzbewältigung und umfassenden Sinndeutung für das Leben im Diesseits vermittelte. Hinzu trat zweitens die Sinnstiftung im Rahmen einer als unfehlbar erachteten Welterklärung einschließlich des Postulats , sich für die Erfüllung dieses Sinns aufzuopfern. Darüber hinaus nahm die PSR drittens ein Deutungsmonopol der Auslegung der wahren Lehre für sich in Anspruch , machte viertens das Angebot eines umfassenden Weltbildes mit ethisch-moralischen Normen , dessen Begründung sich aber der diesseitigen Vernunft entzog und insofern überzeitliche Gültigkeit beanspruchen konnte , vergemeinschaftete fünftens ihre Anhänger in einem auf dem Prinzip der Solidarität basierenden Verband mit ausgeprägten Mechanismen der In- und Exklusion , konsolidierte sechstens die Solidargemeinschaft durch Rituale und andere mehr oder weniger regularisierte Handlungen , Symbole bzw. Insignien der Zugehörigkeit , gab ihren Anhängern siebtens die Versicherung künftiger , meist jenseitiger Kompensationen für gegenwärtige diesseitige Entbehrungen durch das Versprechen eines endzeitlichen Paradieses auf Erden und nahm schließlich achtens Bezug auf ein Jenseits , das die diesseitige Moral begründet und eventuelle Opfer rechtfertigt.8 Im Folgenden soll zuerst sehr kurz der Begriff Prophetie im sozialrevolutionären Kontext erklärt werden. Es folgt zweitens eine Darstellung der Charakteristika und Legitimationsstrategien des sozialrevolutionären Terrorismus. Abschließend wird drittens das Verhältnis der Partei zum Heilsgedanken thematisiert.

1. Begrifflichkeit : Prophetie Im klassischen Griechisch bedeutete „Prophetie“ vor allem die Interpretation des göttlichen Willens. Im modernen Sprachgebrauch wird das Wort als „Vorhersagen“ und im wissenschaftlichen zumeist als Übermittlung einer Botschaft , die eine Person (Prophet /  in) (angeblich) von einer Gottheit emp7 Hildermeier 2003 , S. 92. 8 Wehler 2001 , S. 32 f.

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fängt , um sie dem oder den Adressaten zu offenbaren , verwendet. Botschaft und deren Übermittlung sind ein Kommunikationsprozess , und zwar ein wechselseitiger. Die Akzeptanz der Prophetie hängt im Wesentlichen von der allgemeinen Akzeptanz des Senders ab.9 Prophetie bezieht sich auf etwas Zukünftiges , wobei im Alten Testament in aller Regel bevorstehendes Unheil , z. B. Gottesgerichte o. Ä. , verkündet wird. Allerdings gibt es auch die Form des Heilsorakels bzw. der Heilsverheißung.10 Letztere war von zentraler Bedeutung für die Ideologie des „revolutionären Sozialismus“, wie ihn die PSR in ihrem Parteiprogramm verfocht , indem sie sich zur universellen „Befreiung der Menschheit“, zur „Abschaffung aller Formen des Kampfes unter den Menschen , aller Formen der Gewalt und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“, zur „Expropriation des kapitalistischen Eigentums“ sowie „der Reorganisation der Produktion und der gesamten gesellschaftlichen Ordnung nach sozialistischen Prinzipien“ bekannte.11

2. Sozialrevolutionärer Terrorismus a) Charakteristika und Formen Zentrale Kategorien der sozialrevolutionären Argumentation waren Moral und Pflicht. Aus einem ethischen Imperativ ließ sich die Legitimation für revolutionäre und vor allem auch rigorose terroristische Tätigkeit ableiten. Einen Menschen zu töten , bedeutete beispielsweise für den Pleve-Attentäter Egor Sazonov , „ein schweres moralisches Opfer zu bringen“.12 Ungeachtet ihres Verstoßes gegen das christliche Gebot , nicht zu töten , und der Anmaßung , an Gottes statt über Leben und Tod zu richten , war es ein vordringliches Ziel der sozialrevolutionären Propaganda , an der moralischen Integrität der idealistischen sozialrevolutionären Attentäter , die nahezu selbstvergessen ihr eigenes Leben zu opfern bereit waren ,13 für die lichte Zukunft der Gesellschaft , 9 10 11 12 13

Martti Nissinen : Prophetie (Alter Orient) http ://www.bibelwissenschaft.de /  nc /  wibilex /  das-bibellexikon. Jutta Krispenz : Prophetische Redeformen http ://www.bibelwissenschaft.de /  nc /  wibilex /  das-bibellexikon. Programm der Partei der Sozialrevolutionäre 1972 , S. 33 f. , 35. Černov 1911 , S. 7 ; vgl. ders. 2007 , S. 338 ; Manchester Guardian , No. 18262 , 18. 2.  1905 , S. 9. Kuklin 1903 , S. 144 ; Revoljucionnaja Rossija , No. 2 , Maj 1901 , S. 2 ; N. M. 1911 ,

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für die „heilige Sache des Volks“,14 dessen Wohl , Frieden und Freiheit ,15 keinen Zweifel aufkommen zu lassen. Die Attentate wurden als eine moralische Pflicht bzw. „heilige Verpflichtung“ bezeichnet.16 „Bombenwerfen wurde zur ‚heiligen Sache‘ , zur Erlösertat“17 und die Attentäter zugleich als „Sühneopfer“ [iskupitel’naja žertva] stilisiert , die mit ihrem Leben für den von ihnen begangenen Mord bezahlten.18 In einem zeitgenössischen revolutionären Gedicht hieß es : „Du leidest für die Freiheit /  So tröste Dich : Deine Heldentat /  Wird dem Volk immer im Gedächtnis bleiben /  Wie der Anblick einer heiligen Ikone.“19 Durch eine sehr starke moralische Aufladung insbesondere der terroristischen Aktion fanden (pseudo)religiöse Vorstellungen ihren Eingang in die sozialrevolutionäre Argumentation , was Formulierungen wie Hass , Opfermut u. a. m. illustrieren. Argumentiert wurde hier mit dem rhetorischen Stilmittel der Dilemmataktik : Die Intransigenz der Regierung unterband eine politische Auseinandersetzung mit ihr auf friedlichem Wege. Der PSR blieb – obwohl sie das Mittel des Terrors in der politischen Auseinandersetzung als nicht wünschenswert betrachtete – keine Alternative , um das rechtlose Volk vor weiteren willkürlichen Übergriffen sowie der Grausamkeit der Regierung zu schützen.20 Mehr noch : Die PSR konnte sich sowohl auf das von dem Lehrstuhlinhaber für systematische Philosophie an der Universität München Theodor Lipps in seinen „Ethischen Grundfragen“ thematisierte „Recht der sittlichen Notwehr“21 berufen , das in der zeitgenössischen europäischen Öffentlichkeit zweifelsohne

14

15 16 17 18 19 20 21

S. 9 ; Pamjati Egora Sazonova 1910 , S. 1. Zum (sozial)revolutionären Opfermythos vgl. Hildermeier 1978 , S. 61 f. ; Mogil’ner 1999 , S. 41–60. Kolosov 1905 , S. 26 (Zitat) ; Boevyja predprijatija 1918 , S. 9 ; vgl. Revoljucionnaja Rossija , No. 10 , Avgust 1902 , S. 10 ; Tyrkova-Vil’jams 2007 , S. 112 ; Izvol’skij 2003 , S. 178. Revoljucionnaja Rossija , No. 11 , Sentjabr’ 1902 , S. 2 ; Dokumenty Partii Socialistov-Revoljucionerov 1907 , S. 31 ; Los Angeles Times , 18. 2.  1905 , S. 1. Černov 1902 , S. 2–5 ; Revoljucionnaja Rossija , No. 50 , 1. 8. 1904 , S. 23. Revoljucionnaja Rossija , No. 10 , Avgust 1902 , S. 2. Revoljucionnaja Rossija , No. 3 , Janvar’ 1902 , S. 7 ; ebd. , No. 7 , Ijun’ 1902 , S. 1. Ol’ge o. J. , S. 11 : „Ty stradaeš za svobodu , /  Tak uteš’sja : Podvig tvoj /  Budet pamjaten narodu , /  Kak ikony lik svjatoj.“ Revoljucionnaja Rossija , No. 10 , Avgust 1902 , S. 25 ; Geršuni 1904 , S. 394 ; Dokumenty Partii Socialistov-Revoljucionerov 1907 , S. 29. Lipps 1899 , S. 239 ; vgl. Eisner 1988 , S. 333.

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große Akzeptanz fand ,22 als auch auf die höhere Moral im Sinne eines : Salus revolutionis suprema lex. In ihrer binären Weltsicht , in der autokratische Barbarei mit ihrer Willkür und Vergewaltigung auf die revolutionäre Zivilisation mit ihrer Freiheit und Selbstherrschaft des Volkes stieß , hing die PSR dem Manichäismus an.23 Diese Auseinandersetzung von Gut und Böse verlangte von allen Beteiligten eine eindeutige Positionierung. Tertium non datur. In einem hymnischen sozialrevolutionären Nachruf auf den Pleve-Attentäter Egor Sazonov , der 1910 aus Protest gegen die Wiedereinführung der Körperstrafe in den Gefängnissen der sibirischen katorga Selbstmord begangen hatte , hieß es : „Im Jahre 1904 , als der grausame und unsittliche Mensch fonPleve Innenminister in Russland war , beschloss Egor Sazonov , sich selbst zu opfern , um das gerechte Urteil der Revolutionäre zu vollstrecken. Er ging mit der Bombe fort und tötete Pleve. Alle erinnern sich , wie frei damals Russland aufseufzte. Dies war ein fürchterliches , aber zutiefst gerechtes Urteil. Niemand fragte , warum der Minister getötet worden sei. Jeder verstand , dass man mit einem Menschen niemals anders verfahren dürfe , der dem Volk so viel Böses zugefügt hat. Für Leute , für die es keine gesetzliche Macht gibt , die weder den Willen des Volkes noch dessen Elend in Betracht ziehen – für solche Leute gab es und wird es immer nur das höchste Gericht geben , das Gewissensgericht , das Volksgericht. Durch das Gewissensgericht wurde der grausame Minister verurteilt , und die kühne Hand des sich selbst aufopfernden Menschen hat ihn bestraft.“24 Diese ratio legitimierte den Terrorismus und glorifizierte seine Akteure.25 Der in London lebende anarchistische russische Emigrant Sergej M. Stepnjak [Kravčinskij] schrieb in seinem gleichnamigen Werk „Der Terrorist“: „[ …] er ist edel , fürchterlich , unwiderstehlich faszinierend ; denn er vereint in sich die zwei Erhabenheiten menschlicher Größe : den Märtyrer und den Helden.“26 Der für mehrere Attentate verantwortliche lettische SR Al’bert Davidovič 22 Vgl. die Charakterisierung der englischen Tageszeitung Observer , No. 5900 , 19. 6.  1904 , S. 4 , die keinesfalls im Ruf stand , radikale Vorlieben zu hegen : „When a man , armed with despotic power , is ruthless in the exercise of it , and those who suffer are deprived of all legal means of defence , human nature is apt , in defiance of all rules of morality , to try and temper tyranny by assassination.” 23 Vgl. Savinkov 1985 , S. 136. 24 Pamjati Egora Sazonova 1910 , S. 1. 25 So argumentierte beispielsweise auch der Strafverteidiger Hugo Haase im Königsberger Prozess , vgl. Eisner 1988 , S. 329. 26 Stepniak 1973 , S. 39 f. ; vgl. Los Angeles Herald , No. 140 , 18. 2.  1905 , S. 2.

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Trauberg äußerte vor Gericht : „Der Weg der Terroristen ist sehr dornig ; und auf ihm gehen nur tief , tief überzeugte Leute.“27 Die Terroristen waren erstens überzeugt von der Notwendigkeit des Terrors , zweitens betrachteten sie ihr Handeln als Opfer und Heldentat , um das Leben des unterdrückten Volkes zu erleichtern , und drittens verblassten alle moralischen Einwände gegen terroristische Akte , weil diese „für Rußland , für die Revolution , für den Triumph des Sozialismus“, des „zukünftigen Evangeliums“ „notwendig“ seien , weil ihnen das Ancien régime eine Veränderung der sozialen und politischen Verhältnisse auf legalem Wege verweigere.28 Im Hinblick auf die Akteure wies der sozialrevolutionäre Terror eine Arbeitsteilung zwischen Theoretikern , Organisatoren und Praktikern auf. Die sozialrevolutionären Theoretiker , die Mitglieder des ZK , und die Organisatoren des Terrors , die Leiter der Kampforganisation , hatten in ihrer überwiegenden Mehrheit keinerlei terroristische Praxiserfahrung. Diejenigen , die den Terror exekutierten , waren mehrheitlich jung – das Durchschnittsalter der Terroristen lag bei 22 Jahren – , ohne Berufserfahrung und selten Akademiker : 70 % waren Arbeiter oder Bauern , lediglich 30 % gehörten der intelligencija an. Der Anteil von Frauen und Juden – letztere galten gerade im monarchistischen bzw. nationalistischen Lager als die „wahren Urheber aller Terrorakte“29 – war mit jeweils etwa 30 % beträchtlich.30 Den Terrorismus und seine Aktivisten umgab eine Aura. Beide faszinierten nicht nur viele Zeitgenossen , sondern übten auf sie eine bemerkenswerte Attraktivität aus. Die sozialrevolutionäre Terroristin A. A. Izmajlovič schrieb über ihre berühmte Kampfgefährtin M. A. Spiridonova : „Der Terrorist , indem er jedem einen gnadenlosen Krieg erklärt , der das erwachende Volk nicht leben , atmen , wachsen lässt , vereinte sich in ihrer Gestalt mit der ‚Märtyrerin‘ 27 Pokazanie Al’berta Trauberga 1910 , S. 7 ; Zajavlenie Al’berta Trauberga 1910 , S. 20. 28 Černov 1902 , S. 2 ; Savinkov 1985 , S. 27 , 47 f. [Zitat] ; Eisner 1988 , S. 199–203 , 313 ; Izmajlovič 1918 , S. 9. 29 The Manchester Guardian , No. 18707 , 24. 7.  1906 , S. 8. 30 Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii , f. 102 , Osobyj Otdel , d. 1800 (1905 g.) , č. 29 , ll. 49ob –50 ; Boniece 2010 , S. 175 ; Knight 1979 , S. 139–159 ; Perrie 1982 , S. 63–79 ; dies. 1972 , S. 229 ff. ; Radkey 1958 , S. 69 f. ; Rice 1988 , S. 68. Naimark 1990 , S. 174 betont , dass der Anteil der Frauen , die tatsächlich ein Attentat verübt hätten , mit 11 % deutlich geringer gewesen sei. Geifman 1993 , S. 11 beziffert den Arbeiteranteil unter den Attentätern auf 50 %. Auch minderjährige Jugendliche waren unter den Attentätern , vgl. Kuznecov 2010 , S. 24.

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[mučenicej], ‚Dulderin‘ [stradalicej] für dieses Volk. Als Terrorist schritt sie in den ersten Reihen neben denen , die mit ihren Leichnamen den zukünftigen Weg ebnen und in ihrer Brust die neue Kraft tragen , die noch nicht völlig verständlich und für zwei Drittel des Volks Angst einflößend ist – sogar in der Zeit des allgemeinen Enthusiasmus. Aber sie war nicht nur ein stolzer Rächer der Leiden des Volkes. Sie war , wie auch er [der Terrorist , L. H.] , niedergedrückt , gequält durch jahrhundertlange Knechtung , trank bis zum letzten Tropfen den bitteren Kelch der Erniedrigung aus. Jener flammende Zorn des Terroristen war bei weitem nicht jedem verständlich , dass er seine Hand erhob [ …]. Aber die Qualen waren für jeden verständlich. Vereint mit Schwäche schufen sie [die Qualen , L. H.] das große Mitgefühl , das an der Grenze zur Liebe steht und leicht in sie übergeht. Vereint mit der Kraft und der mächtigen Schönheit des Geistes [ …] riefen sie einen Ozean der Anbetung [obožanija] und Verehrung hervor.“31 Die liberale Gesellschaft nicht nur im Zarenreich , sondern auch in Westeuropa attestierte den sozialrevolutionären Terroristen , Musterbeispiele der Selbstlosigkeit , des Heroismus , der Opferbereitschaft und Tugendhaftigkeit zu sein , deren Taten durch einen tiefen Humanismus motiviert gewesen seien.32 Der Manchester Guardian beispielsweise sprach von „glamour“, so dass das Reservoir , aus dem die Kampforganisation schöpfen konnte , einem Füllhorn glich.33 Von großer Bedeutung für den sozialrevolutionären Terrorismus war seine Medialisierung im internationalen Maßstab. Indem es der PSR und ihrer liberalen „Unterstützerszene“ gelang , ihre Interpretation des Terrorismus zu internationalisieren und vor allem im deutschsprachigen und anglophonen Ausland durch die Empörung der dortigen Öffentlichkeit über den in der Presse als brutal und intransigent charakterisierten Zarismus eine Legitimation des Terrorismus zu erzielen , errang die Partei ab 1904 einen bemerkenswerten propagandistischen Triumph.34 So argumentierte beispielsweise auch der sozialpolitisch interessierte freikonservative preußische Historiker und einflussreiche Publizist Hans Delbrück : „Wenn der Despotismus schlechthin unerträglich geworden ist oder die Gewalttat so furchtbar , daß alle Gesetze 31 Izmajlovič 1918 , S. 409. 32 The Los Angeles Times , 30. 7. 1904 , S. 1 ; vgl. Geifman 1993 , S. 14 ; McDaniel 1976 , S. 97 f. 33 Manchester Guardian , No. 18862 , 22. 1.  1907 , S. 6. 34 Marks 2003 , S. 18. Zur propagandistischen Wirkung in der Auslandspresse vgl. Manchester Guardian , No. 18262 , 18. 2.  1905 , S. 9.

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der Menschlichkeit aufgehoben sind , wie mit Geßlers Forderung des Apfelschusses , so erscheint als letztes und äußerstes Hilfsmittel , das Menschentum zu retten oder wenigstens zu rächen , der Mord.“35 Dies war nichts anderes als die Anerkennung eines gleichsam naturrechtlich hergeleiteten Rechts auf physische Notwehr bzw. Widerstand.36 Bemerkenswert ist , dass vom sozialistischen über das liberale bis hin zum konservativen Lager Einigkeit in Bezug auf das Widerstandsrecht bestand , als ein legitimes , äußerstes Mittel. Rosa Luxemburg urteilte , dass seit dem Attentat auf Alexander II. kein terroristischer Akt eine solche politische Resonanz gefunden habe „wie die Tötung des Moskauer Bluthundes“, des Moskauer Generalgouverneurs Großfürst Sergej Aleksandrovič : „Und vom Standpunkte der moralischen Befriedigung , die jeder anständige und rechtlich denkende Mensch bei der befreienden Tat empfinden muss , steht das Attentat auf den Großfürsten [ …] auf derselben Stufe wie im vergangenen Jahr das Attentat auf Plehwe. Es atmet sich förmlich leichter , die Luft scheint reiner , nachdem eine der abstoßendsten und beleidigendsten Bestien des absolutistischen Regimes ein so schnödes Ende gefunden hat und wie ein toller Hund auf dem Straßenpflaster verendet ist. Diese Empfindungen sind so natürlich bei allen Kulturmenschen , dass die Tat in Moskau in unserer Presse allgemein und wie aus einem Munde als sittlicher Racheakt , als Vergeltungsakt aufgefasst wurde.“37 Ohne Zweifel darf die propagandistische Wirkung , die von den Terrorakten ausging , nicht unterschätzt werden. Allerdings wäre ihnen die Aufmerksamkeit versagt geblieben , hätte die Presseöffentlichkeit diesen Taten nicht ein Forum gegeben. Die bemerkenswerte Wirksamkeit des Terrorismus in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts beruhte auf einer politischen Interessenkongruenz des liberalen und des sozialistischen Lagers. Die Propaganda der Tat erfuhr durch die liberalen überregionalen Organe , die auch in der Arbeiterschaft rezipiert wurden , eine weite Verbreitung und zugleich auch gesellschaftliche Akzeptanz.38 Die Positionen des (sozial)revolutionären Untergrunds wurden salon- und gesellschaftlich mehrheitsfähig. Dabei legten die Propagandisten des Terrorismus darauf Wert , dass die Attentäter nicht als Terroristen geboren wurden , sondern erst durch das Regime und seine Politik 35 D. 1904 , S. 376. 36 Vgl. Lipps 1899 , S. 239. 37 Luxemburg 1983 , S. 519. Der Vorwärts hatte bereits Pleve als Bestie bezeichnet , vgl. Berliner Neueste Nachrichten , No. 352 , 30. 7.  1904 , S. 1. 38 „Liberal“ v političeskoj policii 2008 , S. 73 , 75 ; Lomonosov 2008 , Sp. 2215 f.

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dazu gemacht worden seien. Per se seien Terroristen weiche und warmherzige Menschen. Erst die lebensweltlichen Erfahrungen mit der intransigenten , willkürlichen und brutalen Politik der Autokratie hätten die Terroristen hart „für diesen grausamen Kampf“ gemacht.39 Aufgrund dieser Konstellation avancierten die Attentäter zu furchtlosen „Rächer-Helden“ [geroj-mstitel’] , „Befreier-Rächer“ [osvoboditel’-mstitel’] oder „Rächer-Kämpfern“ [geroj-borec] , „Märtyrer-Kämpfern“ [mučenik-borec] , „Verteidigern“ [zaščitnik] der Interessen des Volkes , seiner Freiheit , seines Glücks und seiner Ehre , zu kühnen Ausführenden des Mehrheitswillens der russischen Bevölkerung.40 In gewisser Weise verkörperten sie ein dialektisches Prinzip : Wenn die christliche Religion die These und die sozialistische Weltanschauung die Antithese darstellte , so erwiesen sich die sozialrevolutionären Terroristen als Synthese , weil sie – wie es A. A. Bicenko formulierte – „Kreuz und Bombe“, Religion , Weltanschauung und (sozialistische) Heilserwartung miteinander verquickten.41 Diese Terroristen avancierten zu den zentralen anbetungswürdigen Ikonen des Martyriums des Volks. Gedichte , Broschüren und Bilder beschrieben , verklärten und memorierten andächtig ihre Taten.42 Wichtige Elemente waren für die SR neben dem Opfergestus , der zu einem Gutteil dem Credo des lišnyj čelovek entstammte , wie er zunächst im Adel , später in der intelligencija verbreitet war , vor allem die lebensweltliche Askese , die Verurteilung von Konsum und weltlichem Besitzstreben bzw. -denken , um sich ganz der Revolution im Namen des Volks widmen zu können.43 Damit war ein Element des Dienstes am Volk für ein höheres Ziel , nämlich die Beseitigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und letztlich seiner Freiheit , verbunden , das in seiner Unbedingtheit zentrales Element nicht nur des sozialrevolutionären Credo , sondern auch ihres Handelns wurde , wie dies Sergej Bulgakov – versehen mit einer sehr kritischen Note – 1909 in seinem Beitrag für den Sammelband Vechi formulierte : „Die russische Intelligenzija zeichnete besonders in früheren Generationen ein Gefühl der Schuld 39 Zajavlenie Al’berta Trauberga 1910 , S. 20. 40 Kolosov 1905 , S. 9 , 32 ; Revoljucionnaja Rossija , No. 11 , Sentjabr’ 1902 , S. 24 ; Dokumenty po istorii Partii S.-R. 1907 , S. 21 ; Marija Aleksandrovna Spiridonova 1917 , S. 15 ; Vladimirov 1905 , S. 103 ; Gosudarstvennaja Duma Stenografičeskie Otčety 1907 , sessija 2-ja , sozyv 2 , t. 1 , Sp. 494 f. , 1685. 41 Bicenko 1996 , S. 548. 42 Vgl. das Gedicht über Girš Lekkert. Zum Gedanken der Andacht Zenzinov 1953 , S. 108. 43 Vgl. Bulgakov 1990 , S. 88.

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gegenüber dem Volk , eine spezifische ‚soziale Reue‘ aus , die sich natürlich nicht auf Gott , sondern auf ‚das Volk‘ oder ‚das Proletariat‘ bezieht. Obwohl diese Gefühle des ‚reumütigen Adligen‘ oder des ‚über den Klassen schwebenden Intellektuellen‘ nicht frei sind vom Beigeschmack der Herrenmentalität , haben sie doch dem Antlitz der Intelligenzija den Stempel besonderer Versenkung , besonderen Leidens aufgeprägt. Hinzu kommt ihre Opferwilligkeit , die unverbrüchliche Bereitschaft ihrer besten Vertreter , jegliches Opfer nicht nur auf sich zu nehmen , sondern sogar zu suchen. Was auch immer das psychologische Motiv für diese Opferhaltung sein mag , so befestigt sie doch jene Weltfremdheit der Intelligenzija , die sie so sehr vom Kleinbürgertum unterscheidet und ihr besonders religiöse Züge verleiht.“44

b) Legitimation Die Kampforganisation der PSR rechtfertigte beispielsweise in ihrem „an das gesamte russische Volk“ gerichteten Bekennerschreiben das Attentat auf Fürst I. M. Obolenskij , den Generalgouverneur von Char’kov , im Sommer 1902 , das im theoretischen Organ der Partei , Revoljucionnaja Rossija , abgedruckt wurde , mit den Worten : „Wir haben diesen blutigen Weg des bewaffneten Kampfes nicht gewählt : Auf ihn hat uns die Autokratie gestoßen.“45 Die Verantwortung für Terrorakte wies die PSR-Führung , die sich zumindest in den für die westliche Öffentlichkeit bestimmten Verlautbarungen als prinzipielle Feinde der Gewalt und der Willkür stilisierte ,46 von sich. Ihr sei der Kampf aufgezwungen worden und in diesem Zweikampf herrsche keine Waffengleichheit. Vielmehr handele es sich um eine asymmetrische Auseinandersetzung zwischen dem starken , als unzivilisiert und asiatisch charakterisierten Staat47 sowie dem als schutzlos charakterisierten Volk.48 Diesen Konflikt , in dem es darum ging , mit geringstmöglichem Aufwand das größtmögliche Re44 Bulgakov 1990 , S. 88 f. 45 Revoljucionnaja Rossija , No. 11 , Sentjabr’ 1902 , S. 23. 46 Revoljucionnaja Rossija , No. 10 , Avgust 1902 , S. 25 ; Proclamation du Comité de Moscou du Parti Socialiste 1906 , S. 24. 47 Kuklin 1903 , S. 144 ; vgl. Vossische Zeitung , No. 362 , 4. 8. 1904 , S. 9 ; Nevedomskij 1907 , S. 60 ; Gosudarstvennaja Duma Stenografičeskie Otčety 1907 , sessija 2-ja , sozyv 2 , t. 1 , Sp. 494. 48 Kuklin 1903 , S. 144 ; Za Narod , No. 27 , Mart 1910 , S. 9 ; ebd. , No. 28 , Aprel’ 1910 , S. 7.

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sultat zu erzielen , deutete die PSR konsequenterweise als einen Bürgerkrieg.49 Da das Volk sich selbst zu verteidigen , mehr noch : frei zu sprechen und somit seine Interessen zu artikulieren nicht imstande sei , betrachtete es die Partei – durchaus aus einer Position der Schwäche heraus – als „ihre moralische Verpflichtung“, an seine Stelle zu treten. Zur Legitimation des eigenen Gewalteinsatzes schöpfte die PSR aus zwei Quellen. Indem sie einerseits die im Zarenreich herrschenden Verhältnisse skandalisierte , bediente sie sich des Arguments der strukturellen Gewalt. Anderseits berief sie sich ähnlich wie auch Herbert Marcuse Jahrzehnte später auf die Existenz eines moralischen Rechts respektive eines Naturrechts auf Widerstand. Dabei stilisierte die PSR sich bzw. ihre Kampforganisation als „gesellschaftliches Gewissen“50 und gab als Ziel vor , durch ein Bündnis mit dem Volk dessen Selbstbefreiung zu erringen. So lautete auch das Motto der PSR : „Nur im Kampf wirst Du Dein Recht erlangen !“ Semantisch wurde die Gewalt als „Selbsterhaltung“ [samosochranenie] bzw. „Selbstverteidigung“ [samooborona , samozaščita]51 gegen die willkürlichen Übergriffe des Staates legitimiert. Da die Gesellschaft zur Selbstverteidigung nicht imstande sei , argumentierten die SR , werde diese Funktion an die Partei delegiert : „Der Terror von unten als Antwort auf den Terror von oben“52 49 Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis , Archiv PSR 830 / 1 , S. 16 , 18 , 21 ; Revoljucionnaja Rossija , No. 10 , Avgust 1902 , S. 26 ; Znamja Truda , No. 39 (1912) janvar’ , S. 7. 50 Revoljucionnaja Rossija , No. 10 , Avgust 1902 , S. 25 , 26 [Zitate] ; ebd. , No. 7 , Ijun’ 1902 , S. 1 ; The San Francisco Call , No. 110 , 19. 3.  1905 , S. 25. 51 Revoljucionnaja Rossija , No. 10 , Avgust 1902 , S. 5 , 7 ; Osvoboždenie , No. 52 , 19. 7. 1904 , S. 34 ; Boevyja predprijatija 1918 , S. 5 ; Černov 1902 , S. 2 f. ; ders. 2007 , S. 311 , 339 ; Dokumenty po istorii Partii S.-R. 1907 , S. 21 ; Kolosov 1905 , S. 8 ; Ritina 1912 , S. 10 ; Russkija Vedomosti , No. 201 , 12. 8.  1906 , S. 1 ; Neue Freie Presse , No. 14544 , 18. 2.  1905 , S. 5 ; O. Budnickij 2000 , S. 135. Auch das SPD-Mitglied Luxemburg 1983 , S. 276 ff. akzeptierte diese „reinen Abwehrakte“ des Individuums , lehnte aber den „systematischen Terrorismus“ der PSR „als zielbewusste Taktik einer bestimmten sozialistischen Organisation“ und „Spielerei“ ab. 52 Šumakov 1906 , S. 424 ; Osvoboždenie , No. 1 , 18. 6.  1902 , S. 5 ; ebd. , No. 7 , 18. 9.  1902 , S. 104 ; ebd. , No. 53 , 2. 8.  1904 , S. 52 ; Revoljucionnaja Rossija , No. 11 , Sentjabr’ 1902 , S. 24 ; Liberal’noe dviženie v Rossii 1902–1905 gg. 2001 , S. 72 ; Gosudarstvennaja Duma Stenografičeskie Otčety 1907 , sessija 2-ja , sozyv 2 , t. 1 , Sp. 362 , 428 , 463 , 523 ; Geršuni 1904 , S. 6 ; Gerschuni 1909 , S. 28. Geršuni formulierte es auf dem I. Parteitag der PSR wie folgt : „Wo Riemenpeitsche und Nagajka sind , dort sind auch Revolver und Bombe.“ Partija socialistov-revoljucionerov

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oder wie es in einer anderen Formulierung hieß : „Wir werden erneut auf den weißen Terror der Reaktion mit dem roten revolutionären Terror antworten müssen.“53 Hierin könnte man beinahe das alttestamentarische Prinzip des Auge-um-Auge , Zahn-um-Zahn erkennen , denn jedes Verbrechen , jeder Terror , jede Wunde , jeder Ehrverlust sollte mit gleicher Münze zurückgezahlt werden.54 Als Anhänger der subjektiven Soziologie N. K. Michajlovskijs einerseits sowie als überzeugte Neukantianer anderseits verstanden die Sozialrevolutionäre den Menschen , die Entwicklung und Vervollkommnung seiner Persönlichkeit und moralischen Qualitäten als Selbstziel.55 Der Dienst für die Gesellschaft begründete daher den Selbstwert der menschlichen Persönlichkeit. Wie konnte vor diesem Hintergrund Mord bzw. das terroristische Attentat gerechtfertigt werden ? Das basale Argument zur Legitimation des Terrors war die Rache.56 Der Terrorist avancierte nicht nur zum Rächerhelden , der mit einem Attentat das von der Autokratie am schutzlosen Volk begangene Unrecht rächte , sondern stellte auch den Höhepunkt menschlicher Entwicklung dar , erhob sich also über die breite Masse auch der übrigen Revolutionäre. Denn durch seine Bereitschaft , sich für die gerechte Sache , die Revolution , auf dem Altar selbst zu opfern , sühnte er – wie es das ZK-Mitglied der PSR Vladimir Zenzinov formulierte – die von ihm eingesetzte Gewalt und erfuhr dadurch eine moralische Selbstrechtfertigung seiner Gewalt. In klassisch-antiker Formulierung

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1996 , S. 533. Der führende Liberale P. B. Struve rechtfertigte den gesellschaftlichen Terror wie folgt : „Als Bedingung , die mit historischer Notwendigkeit den revolutionären Terror gebar und gebärt , erscheint in unserem Land die Schwäche der öffentlichen Meinung , des Gesetzes und des Rechts.“ Struve 1911 , S. 28 , vgl. S. 153 ; vgl. ferner Kolosov 1905 , S. 9 ; Miljukov 1907 , S. 353 ; Petrunkevič 1934 , S. 245 ; Caricynskij Put’ , No. 4 , 13. 5.  1906 , S. 2 ; Caricynskij Vestnik , No. 3045 , 13. 1.  1909 , S. 2 ; Reč’ , No. 36 , 13. 4.  1906 , S. 5 ; ebd. , No. 77 , 1. 6.  1906 , S. 1 ; Neue Freie Presse , No. 14342 , 29. 7.  1904 , S. 1 , 3 ; New York Times , 29. 7.  1904 , S. 2 ; Manchester Guardian , No. 18087 , 29. 7.  1904 , S. 4 ; ebd. , No. 18262 , 18. 2.  1905 , S. 9 ; The San Francisco Call , No. 110 , 19. 3.  1905 , S. 25 f. ; La Presse , No. 4648 , 19. 2.  1905 , S. 1. Volja , No. 90–91 , 6. 1.  1907 , S. 10. Zum Motiv des „weißen Terrors“ vgl. Revoljucionnaja Rossija , No. 51 , 25. 8.  1904 , S. 12. Vgl. Sazonovs Bekenntnis , The San Francisco Call , No. 110 , 19. 3.  1905 , S. 26. Komov 1918 , S. 10 ; Kamkov 1917 , S. 22–46 ; Protokoly pervago S”ezda 1918 ; S. 34 f. ; Häfner 1994 , S. 161 ; Walicki 1969 , S. 56 ff. Pomorcev 1909 , S. 2 ; Ritina 1912 , S. 12 ; Washington Times , No. 3905 , 18. 2.  1905 , S. 1 ; Zenzinov 1953 , S. 159 ; Leonov 1997 , S. 127.

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bekannten die SR : „Ave , Revolutio , morituri te salutant !“57 Allerdings räumte der Pleve-Attentäter Egor Sazonov ein , dass ihn ob seiner Tat das „Bewusstsein der Schuld (Sünde) [soznanie grecha]“ nie verlassen habe. Hier fand sich die auf der neukantianischen Ethik basierende Theodizee [Rechtfertigung] des Terrors : Der terroristische Akt müsse frei von Egoismus erfolgen. Nur unter dieser Prämisse sei er „schöpferische Extase“, „die höchste Erhebung des menschlichen Geistes , [ …] fast eine religiöse Hymne , [ …] ein psychologischer Idealismus“.58 Ein weiteres wichtiges Element war die Verklärung der Terroristen. Sie wurden gleichsam religiös verehrt. Sie und ihre Aktionen erhielten eine sakrale Dimension.59 Der im Londoner Exil lebende Vladimir Burcev beispielsweise bezeichnete das Attentat des Studenten Petr Karpovič auf den Bildungsminister Bogolepov als „Apotheose“. Marija Spiridonova , aber auch der Attentäter des Moskauer Generalgouverneurs und Zarenonkels Großfürst Sergej Aleksandrovič , Ivan Kaljaev , erhielten einen Platz im revolutionären Olymp.60 Kaljaev führte zwei Anschläge auf den Großfürsten nicht aus , weil in der Kutsche jeweils dessen Frau und Kinder saßen.61 Für Kaljaev , dem Albert Camus in seinem Drama „Les Justes“ ein literarisches Denkmal gesetzt hat , erschien der Terrorismus als Kalokagathie , als idealtypische geistige und körperliche Vollkommenheit. Einen Terrorakt dürfe nur begehen , wer sittlich rein sei. Unter dieser Bedingung sei ein Attentat „schöpferische Extase“, „fast eine religiöse Hymne“. Auch wenn ein Attentat legitim sein konnte , lud der Attentäter gleichwohl Schuld auf sich.62 Der durch die Gewaltausübung bzw. das Töten hervorgerufene moralische Konflikt , in dem sich der Attentäter befand , wurde durch seine Selbstaufopferung [samootverženie] gerechtfertigt63 und kann daher im Sinne des christlichen Bußegedankens interpretiert werden. 57 Pomorcev 1909 , S. 7 (Zitat) ; Zenzinov 1953 , S. 108. 58 Vgl. Pomorcev 1909 , S. 7. 59 Vgl. Proclamation du Comité de Moscou du Parti Socialiste 1906 , S. 26 ; Breshkovskaia 1931 , S. 344 f. 60 Burcev 1901 , S. 27. 61 Vgl. Ivanovskaja 1996 , S. 85 f. ; Zenzinov 1953 , S. 157 f. ; Savinkov 1985 , S. 116 , 118 , 128 ; The Los Angeles Times , 18. 2.  1905 , S. 1. 62 Vgl. Steinberg 1981 , S. 184 ; Spence 1991 , S. 52. 63 Zenzinov 1953 , S. 108 ; Pamjati Egora Sazonova 1910 , S. 1 ; Savinkov 1985 , S. 47 ; Steinberg 1981 , S. 180 f. , 185 , 187 ; vgl. Spiridonova 1919 , S. 11 ; Gosudarstvennaja Duma Stenografičeskie Otčety 1907 , sessija 2-ja , sozyv 2 , t. 2 , Sp. 271 ; Nevedomskij 1907 , S. 55.

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Die PSR und der Heilsgedanke Die sozialrevolutionäre Ideologie wies Erlösungsgedanken und Erlösungsziel auf. Wie wohl jede Geschichtsphilosophie , die als säkularisiertes Heilsgeschehen gedeutet werden kann ,64 wohnte auch der sozialrevolutionären Vision eine religiöse Komponente inne : Sie basierte auf einem radikalen Neuanfang menschlichen Zusammenlebens in der Form einer im Diesseits zu errichtenden sozialistischen Gesellschaft , die gemessen an allen bisherigen Formen menschlichen Zusammenlebens als höherwertig zu betrachten sei. Insofern war dem sozialrevolutionären Denken der Aspekt menschlicher Vervollkommnung inhärent. Die Revolutionen von 1905 und erst recht 1917 intensivierten die eschatologischen Hoffnungen der SR und nährten das Gefühl des Anbruchs einer neuen , der Menschheit Erlösung verheißenden Epoche. In ihr sollte die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen aufgehoben sein , Wahrheit , Freiheit , Gerechtigkeit und soziale Gleichheit herrschen.65 Diesen Enthusiasmus speiste ein chiliastisches bzw. religiöses Moment. Wer – wie die sozialrevolutionären Terroristen – seine Existenz aufs Spiel setze , um den autokratischen Staat , den sie als „Leviathan“ deuteten , zu zerschlagen , um eine neue , gerechtere Ordnung an ihrer statt zu etablieren ,66 dürfte dies auch in der Hoffnung bzw. dem Glauben tun , am besten noch im Diesseits und zu Lebzeiten den gerechten Lohn für seine Genossen – und im Falle des eigenen Überlebens auch für sich – zu erhalten. Das Ziel der Revolutionäre , wie es Ivan Kaljaev , der Attentäter des Großfürsten Sergej Aleksandrovič , ausdrückte , sei nicht der Kampf gegen die Autokratie , sondern „wir sind vor allem Ritter des Geistes , wir kämpfen für eine neue Welt …“ – „den großen Triumph des Sozialismus“.67 Für die Sozialrevolutionäre war das „werktätige Volk“ [trudovoj narod] „das einzige gesellschaftliche Heiligtum , dem sie dienen und alle ihre Kräfte widmen wollten“.68 Denjenigen aber , die die neue sozialistische Welt nicht mehr erlebten , versicherte die PSR ewiges „heiliges Andenken“ [svjaščennaja … pamjat’].69

64 Vgl. die klassische Studie von Löwith 1953. 65 Bicenko 1996 , S. 546 ; Pamjati Egora Sazonova 1910 , S. 1. 66 Vgl. Steinberg 1981 , S. 187 ; Vladimirov 1905 , S. 88 ; Revoljucionnaja Rossija , No. 3 , Janvar’ 1902 , S. 4. 67 Pomorcev 1909 , S. 8 ; Zenzinov 1953 , S. 159 ; Savinkov 1985 , S. 131. 68 Geršuni 1904 , S. 392 f. 69 Revoljucionnaja Rossija , No. 6 , Maj 1902 , S. 20.

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Nach dem Oktoberumsturz 1917 erlebte der neopopulistische Spiritualismus im Gewande des internationalistischen linkssozialrevolutionären Radikalismus eine Renaissance ,70 insbesondere durch Marija Aleksandrovna Spiridonova , die sozialrevolutionäre Ikone par excellence. Sie hatte im Januar 1906 ein erfolgreiches Attentat auf das Mitglied des rechtsradikalen „Bundes des Russischen Volkes“ [Sojuz Russkogo Naroda] Staatsrat G. N. Luženovskij in Borisoglebsk , Gouvernement Tambov , verübt , der zuvor durch seine brutalen Strafmaßnahmen gegen Studenten und Arbeiter , aber auch gegen bäuerliche Unrast für Schlagzeilen gesorgt hatte. Spiridonova wurde nach dem Anschlag verhaftet , dort brutal misshandelt , vergewaltigt , zum Tode verurteilt , aber zu lebenslanger katorga in Sibirien begnadigt.71 Attentat , Haft und Verurteilung erlebten insbesondere in der auflagenstarken und meinungsbildenden liberalen Presse eine vorher nicht gekannte Medienpräsenz. Spiridonova war Gegenstand von Parlamentsdebatten72 und erfuhr nicht nur seitens der Parteigenossen , sondern auch durch die Gesellschaft – der bekannte Rechtsanwalt , Mitglied des ZK der Konstitutionellen Demokraten und spätere Staatsdumaabgeordnete Nikolaj Vasil’evič Teslenko war ihr Strafverteidiger – eine Heldenverehrung ohnegleichen. In Russland wurde sie zur Märtyrerin , Christus gleich als „gekreuzigtes Opfer“, ja sogar nachgerade als Gottesmutter der revolutionären Bewegung stilisiert.73 In der dem neonarodničestvo nahe stehenden Zeitschrift Russkoe Bogatstvo fand sich im Dezemberheft 1907 der Bericht über eine bäuerliche izba im Gouvernement Voronež , in deren Herrgottswinkel sich mit brennender Kerze davor anstelle der Ikone ein Porträt Spiridonovas befunden habe.74 Dies erinnert an die Marienverehrung als Gottesmutter , wobei im Falle Spiridonovas ihr Vorname diesen Schluss noch unterstützte. Durch eine sehr umfangreiche Berichterstattung wurde Spiridonova aber auch in der europäischen und amerikanischen Öffentlichkeit zu einer populären Person.75 Nach der Februarrevolution 1917 prägte sie , wie sich ihr Parteige70 Vgl. Protokoly pervago S”ezda 1918 , S. 35 ; Häfner 1994 , S. 163. 71 „Blažennaja“ Marija 1992 , S. 17–25 ; Vladimirov 1905 , S. 35 , 84 , 115 ; Boniece 2010 , S. 172. 72 Gosudarstvennaja Duma Stenografičeskie Otčety 1907 , sessija 2-ja , sozyv 2 , t. 1 , Sp. 409 , 494 , 1673. 73 Vladimirov 1905 , S. 7 (Zitat) , 9. 74 Petriščev 1907 , S. 85. 75 Vladimirov 1905 , S. 121–159 ; Marie Spiridonova , in : The Manchester Guardian No. 18707 , 24. 7.  1906 , S. 8 ; Times , No. 37953 , 26. 2.  1906 , S. 5 ; Boniece 2003 , S. 571–606 ; dies. 2010 , S. 176 ; Gusev 1992 ; McDermid 2006 , S. 36–54 ; Patyk

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nosse und Mitglied des linkssozialrevolutionären ZK Vladimir Aleksandrovič Karelin äußerte , den Neologismus des „Golgathaismus“ [golgofizm]. Darunter subsumierte sie die eigentümliche Bereitschaft der Revolutionäre , insbesondere der aus der intelligencija , sich selbst als Opfer auf dem Altar der Revolution darzubringen.76 Aleksandra Adol’fovna Izmajlovič berichtete in ihren Erinnerungen über ihre Haftzeit , die sie u. a. mit dem berüchtigten sozialrevolutionären Terroristen Lev Ivanovič Zil’berberg , alias „Karl“, verbrachte. In Erwartung ihrer Todesurteile „unterhielten wir uns wie bisher über die Liebe , über das Glück , und darüber , dass der Tod , den wir , Revolutionäre , sterben , um so schöner ist , um so mehr , kräftiger man das Leben liebt“.77 Im Prinzip brachte sie ein dichotomisches Prinzip von Diesseits und Jenseits , von Schuld und Sühne zum Ausdruck. Dabei blieb aber das Objekt der revolutionären Propaganda der Tat , das Opfer , unberücksichtigt. Die Revolution war für die Sozialrevolutionäre sakrosankt. Alles , was ihre Machtfülle beeinträchtigte , war ein Sakrileg. In diesem Sinne lassen sich die Ausführungen Vadim Viktorovič Rudnevs auf dem I. Parteitag der PSR zur Jahreswende 1905 /  6 interpretieren , der ausführte : „Die große russische Revolution ist eine weltweite Aufgabe , eine Mission der gesamten Menschheit – und in ihrem Namen hat sie das Recht der revolutionären Diktatur – das Recht , nicht nur die Garantien der Völker , die durch einen Wink des Schicksals mit Russland verbunden sind , sondern auch der ganzen Welt zu verletzen.“ Hier offenbarte sich der globale sozialrevolutionäre Messianismus.78 Als der langjährige Chef der PSR-Kampforganisation , Evno Fišelevič Azef , Ende 1908 als Agent provocateur enttarnt wurde , waren der politische und moralische Schaden , den Partei und ihr Werkzeug , der Terrorismus , genommen hatten , immens. Die Dimension der sog. azefščina , des politischen Verrats , den Azef begangen hatte , war für die PSR inkommensurabel : Er hatte seit 2010 , S. 204 f. Der bol’ševik Jaroslavskij 1919 griff diesen sozialrevolutionären Opfer- und Heldenmythos auf und karikierte in seiner antilinkssozialrevolutionären Propagandabroschüre Spiridonova als „Muttergottes der drei Heiligen Hierarchien“. 76 Vladimirov 1905 , S. 87 f. ; Partija levych socialistov-revoljucionerov 2000 , S. 18 ; vgl. Litvin /  Ovruckij 1992 , S. 55 , 83 ; Boniece 2004 , S. 191. Zum Gedanken des revolutionären Golgatha vgl. Krasnaja golgofa 1920 ; Kachowskaja 1923 , S. 5. 77 Izmajlovič 1996 , S. 365. 78 Protokoly pervago s“ezda 1906 , S. 172. Zum (links)sozialrevolutionären Messianismus nach der Februarrevolution 1917 vgl. Häfner 1994 , S. 163.

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1892 für die zarische Geheimpolizei , die ochrana , gearbeitet. Sein Nachfolger als Chef der BO der PSR , Boris Viktorovič Savinkov , rekurrierte auf die Bibel , um den durch Azefs Verrat erlittenen Schaden ermessen zu können : Azef sei niemand anders als Judas Ischariot. Aber mit diesem Vergleich verknüpfte er die Zuversicht , dass die Partei wie auch das Christentum nicht sterben werde.79

Schluss In der russischen Revolution von 1905 bis 1907 mutierte der individuelle Terrorismus zu einem ubiquitären Phänomen. Die Konturen wurden diffus : Politische Attentate waren kaum noch von kriminiell motivierten Morden zu unterscheiden. Die russische Historikerin Marina Mogil’ner hat unlängst versucht , den Mythos des sozialrevolutionären Terrorismus auf der Basis ihrer Analyse zeitgenössischer Literatur zu entzaubern. Sie verweist auf einen Fall , in dem ein Attentäter unmittelbar vor der Vollstreckung seines Todesurteils einen vorgefertigten „Musterabschiedsbrief“ verschickte.80 Damit bringt sie gemessen an einem Kaljaev die sittliche Leere des Attentäters „neuen Typs“ aus den Jahren der Revolution von 1905 bis 1907 zum Ausdruck. Nachdem die Revolution gescheitert war , wandte sich ein großer Teil der literarischen intelligencija von ihr ab. Es handelte sich nicht nur politisch um eine Reaktion , sondern auch ideell um eine Neuorientierung , eine Sinnsuche. Gerade die im Kontext der durch die Publikation der Vechi ausgelösten Debatten zeigten eine wachsende kritische Distanz der Gesellschaft zum revolutionären Terrorismus. Zu einer Demystifizierung des in der Gesellschaft kolportierten Bildes des tugendhaften terroristischen Helden trug auch der vom Chef der PSR-Kampforganisation Boris Savinkov unter dem Pseudonym N. Ropšin 1909 veröffentlichte Roman „Das weiße Pferd“ [Kon’ blednyj] bei. Savinkovs Protagonist war vielmehr vereinsamt , psychisch und moralisch defekt. Sein Skeptizismus gegenüber allen Idealen und auch der sozialistischen Ideologie war seine herausragende Eigenschaft. Noch dazu beging er aus rein persönlichen Motiven einen Mord. Savinkovs Roman lässt sich inhaltlich und politisch einbinden in die antiintellektualistische und antisozialistische Grundstimmung , wie sie in Vechi zum Ausdruck kam. Zugleich fand sich bei 79 Savinkov 1909 , S. 10. 80 Mogil’ner 1999 , S. 97.

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Savinkov eine zweite Grundtendenz dieses „silbernen Zeitalters“ wieder : eine Wendung zur Religion , verbunden mit einem ausgeprägten Spiritualismus und einer apokalyptischen Mentalität.81 Auch in Teilen der sozialistischen Bewegung ließ sich eine Wendung zur Religion feststellen , die beispielsweise in der Form des sog. „Gottbildnertums“ [bogostroitel’stvo] selbst vor der marxistischen Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei nicht Halt machte. Der bol’ševik Anatolij Vasil’evič Lunačarskij deutete die eigene sozialistische Ideologie nicht ausschließlich als eine strikt rationalistische Theorie , sondern versuchte , ihren Anhängern auch eine emotionelle Nähe zu vermitteln.82 Er bezeichnete die sozialistische Lehre als „fünfte Weltreligion“: „Der Sozialismus ist eine besondere Art der Religion – ohne Gott , ohne eine jenseitige Welt , ohne auch nur ein Gramm Mystik und Metaphysik zu enthalten“.83 Vor diesem Hintergrund relativiert sich die bei der im Wesentlichen auf das (russische) Volk [narod] rekurrierenden PSR zu beobachtende religiöse Affinität. Warum bedienten sich die revolutionären Terroristen religiöser Zeichen , Motive und Textbausteine ? Erstens kann auf ihre eigene Sozialisation verwiesen werden. Führende Terroristen wie z. B. der langjährige Chef der sozialrevolutionären BO , Grigorij Geršuni , oder auch der Attentäter Pleves , Egor Sazonov , dessen Pseudonym in Parteikreisen Avel’ [Abel] war ,84 stammten aus sehr religiösen Familien , waren z. T. Kinder von Priestern und dementsprechend sozialisiert.85 Zweitens diente eine enge Verflechtung mit religiösen Topoi der Legitimation der eigenen Sache. Gottes Sache war gerecht. In der sozialistischen Teleologie trat die Revolution an die Stelle Gottes. Ihre Exegeten , die Revolutionäre , kämpften für eine gerechte Sache [za pravoe delo].86 Die Autokratie hingegen , die sich durch das Gottesgnadentum legitimierte , hatte durch ihr willkürliches Regiment die gesellschaftliche Zustimmung eingebüßt , war unge81 Vgl. A. P. 1911 , S. 5 ; Geifman 1993 , S. 201 f. ; Kelly 1987 , S. 201 f. ; Mogil’ner 1999 , S. 102 ff. ; Spence 1991 , S. 92 ff. 82 Für diese Vergemeinschaftung hatte Max Weber nur Spott übrig : „Und die Kathederprophetie wird vollends nur fanatische Sekten , aber nie eine echte Gemeinschaft schaffen.“ Weber 2006 , S. 1039. 83 Zit. nach Grille 1966 , S. 37. 84 Savinkov 1985 , S. 38. 85 The San Francisco Call , No. 110 , 19. 3. 1905 , S. 27. Kaljaev bezeichnete sich als einen gläubigen Menschen , der aber die rituellen Praktiken nicht beherrscht habe , vgl. Mandel’štam 1931 , S. 260. 86 Pamjati Egora Sazonova 1910 , S. 1.

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recht und damit auch des göttlichen Beistands nicht wert. Die Argumentationsstrukturen blieben religiösen Traditionen verbunden , auch weil diese drittens der breiten Masse der Bevölkerung , die mehrheitlich gläubig war , vertraut gewesen sind. Viertens schließlich ist zu fragen , welcher Semantiken sich die PSR alternativ hätte bedienen können. Die PSR hätte eine eigene , neue Semantik kreieren können , wäre aber Gefahr gelaufen , von den Massen nicht verstanden zu werden. Allein schon Utilitaritätserwägungen dürften die PSR in ihrer Nähe zu kirchlichen Traditionen und orthodoxen Riten oder sogar deren Übernahme bestärkt haben ;87 denn eine stärkere , bildhaftere und dem Volk besser vertraute Semantik als die biblische , die gleichsam die Sprache strukturierte , dürfte nicht bestanden haben. Im Übrigen war die russisch-orthodoxe Religion bis zur Revolution von 1905 Staatskirche , d. h. das Ancien régime war weiter als die europäischen Nachbarn davon entfernt , ein säkularisierter Staat zu sein. Wenn also Geršuni beispielsweise auf Pontius Pilatus verwies und den sozialrevolutionären Terroristen attestierte , dass diese angesichts der Verbrechen des Staats am Volk nicht wegschauen und ihre Hände in Unschuld waschen dürften , sondern moralisch verpflichtet seien , zu handeln und Attentate zu verüben , dann befanden sie sich in Übereinstimmung mit der Heilsgeschichte.88

87 Hilbrenner 2008 , S. 415 ; Figes /  Kolonitskii 1999 , S. 37 f. 88 Geršuni 1904 , S. 3 , 6.

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„I then saw the Multitude Plainly“ Die Ghost Dance-Religion , das Wounded Knee-Massaker und ihre ‚postkoloniale’ Repräsentation Gesa Mackenthun

In einem Band zum Thema „Gewalt und Prophetie“ sollte ein Beitrag zu den USA nicht fehlen – vereinigen sich diese beiden Begriffe doch zur auch heute noch politisch wirksamen Ideologie der USA , mit Gottes Hilfe die Kräfte der Wildnis zu besiegen und die biblisch angekündigte „city upon the hill“ zu errichten. Doch statt der allseits bekannten Staatsideologie scheint mir eine Episode aus der Geschichte der Westexpansion besonders aussagefähig im Rahmen unserer Fragestellung zu sein , weil sie den Aspekt des kolonialen Kulturkontakts enthält und uns statt einer dualistischen Sichtweise wie der anfangs beschriebenen eine wesentlich komplexere Perspektive auf das Zusammenspiel von Gewalterfahrung und Prophetie abverlangt. Das Massaker von Wounded Knee im Dezember 1890 wird oftmals als Kulmination des Ausrottungskrieges gegen die Plains-Indianer sowie als Endpunkt der prophetischen Ghost Dance-Religion betrachtet. Seine Repräsentation in Wort und Bild ist erwartungsgemäß sehr ungleich auf die beteiligten Seiten verteilt. Es gibt Berichte vor allem von Armeeangehörigen , die an dem Kampf beteiligt waren , sowie von wenigen Scouts , die teilweise indianischer Abstammung waren. Von indianischer Seite gibt es eine Reihe von Aufzeichnungen mündlicher Berichte , die längere Zeit nach dem Ereignis gemacht wurden. Die berühmteste von ihnen finden wir in der Autobiographie des religiösen Führers Black Elk , die im Jahr 1932 vom US-amerikanischen Ethnologen John Neihardt aufgezeichnet und publiziert wurde. Die Gewalterfahrung , insbesondere diejenige der überlebenden Lakota , die wir hinter den verschiedenen Repräsentationen vermuten müssen , ist aufgrund dieser asymmetrischen Quellenlage nur sehr bedingt zu rekonstruieren , und dies zu tun kann nicht meine Absicht sein. Es ist trotzdem wichtig , den Begriff der „Erfahrung“ als theoretischen Fluchtpunkt für die eigene Fragestellung im Auge zu behalten , gerade beim Versuch , die Zusammenhänge zwischen Gewalt und dem Auftreten prophetischer Bewegungen zu verstehen.

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Das Massaker von Wounded Knee ist eines jener Beispiele , bei denen wohl selbst hartgesottenen Konstruktivisten der Satz „Il n’y a pas de hors-texte“ im Hals stecken bleibt. Dieses Ereignis sowie der vorausgegangene Vernichtungskrieg gegen die Plains-Indianer haben die Gefühlskultur insbesondere der Lakota nachhaltig geprägt ; ihre psychischen Nachwirkungen sind noch über hundert Jahre später unter den Nachkommen spürbar.

Vernichtungskrieg und Prophetie in den Plains Am 29. Dezember 1890 zog der Minneconjou-Chief Big Foot mit seiner aus ca. 300 Männern , Frauen und Kindern bestehenden Gruppe von Norden kommend in Richtung Pine Ridge Reservation (in South Dakota) , um einer Einladung der dortigen Stammesmitglieder zu folgen. Am Wounded Knee Creek wurde die Gruppe von einem Bataillon der US-Kavallerie aufgehalten , dessen Auftrag es war , die Männer zu entwaffnen und die Gruppe in die Reservation zu führen. Die Stimmung war aufgeladen , denn es gab Gerüchte eines bevorstehenden Aufstandes der außerhalb der Reservation lebenden ­Sioux. Gerade 14 Tage zuvor war als Resultat dieser angespannten Stimmung der berühmte Lakota-Anführer Sitting Bull ermordet worden. Die Entwaffnungsaktion verlief sehr langsam und für die Armeeangehörigen unbefriedigend ; insbesondere die jüngeren Lakota-Krieger wollten ihre Waffen nicht abgeben. Als ein tauber Krieger sich weigerte , sein Gewehr auszuliefern und sich daraus im Handgemenge ein Schuss löste , brach das Chaos aus – am Ende des Tages lagen 146 Lakota , viele von ihnen Frauen und Kinder , tot im Schnee , während viele andere geflohen waren und abseits vom Schlachtfeld an ihren Wunden starben oder erfroren. Die Gesamtzahl der Toten unter den Indianern wird auf ca. 220 beziffert , auf US-Seite starben 39 Soldaten , die meisten von ihnen durch die Kugeln der eigenen Soldaten – heute euphemistisch „friendly fire“ genannt. Überlebende Lakota wurden in eine nahegelegene Kirche gebracht , die in ein Hospital umfunktioniert wurde. Auf den Fotos ist noch die Weihnachtsdekoration an den Wänden zu sehen ; den Weihnachtsbaum hatte man entfernt , um Platz für die vielen Verwundeten zu machen. Bereits am Tag nach dem Massaker wurde das Schlachtfeld von einer Vielzahl von Reportern und Fotographen besucht , die das Vorgefundene dokumentierten , dabei die Positionen der Toten manchmal manipulierten (am bekanntesten das Foto des im Schnee erstarrten Chief Big Foot) und sich mit exotischen Artefakten , darunter auch einige ghost shirts , eindeckten , mit

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denen sie sich wiederum fotografieren ließen. Einer der indianischen Zeugen , die aus Pine Ridge heraneilten , um zu sehen , was am Wounded Knee Creek geschah , war ein junger Mann namens Black Elk. Dies sind seine von John Neihardt vierzig Jahre später aufgezeichneten Worte über das , was er sah und fühlte : Men and women and children were heaped and scattered all over the flat at the bottom of the little hill where the soldiers had their wagon-guns , and westward up the dry gulch all the way to the high ridge , the dead women and children and babies were scattered. When I saw this I wished that I had died too , but I was not sorry for the women and children. It was better for them to be happy in the other world , and I wanted to be there too. [ …] It was a good winter day when all this happened. The sun was shining , but after the soldiers marched away from their dirty work , a heavy snow began to fall. The wind came up in the night. There was a big blizzard , and it grew very cold. The snow drifted deep in the crooked gulch , and it was one long grave of butchered women and

Abb. 1 : Weiße nach dem Massaker von Wounded Knee : ein Mann trägt ein Frauenkleid , ein anderer (Mitte , mit Feder im Hut) ein Geistertanzhemd. Quelle : Jensen /  Eli /  Carter 1991.

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children and babies , who had never done any harm and were only trying to run away.1

Das Massaker von Wounded Knee wird spätestens seit Dee Browns einflussreichem Buch Bury My Heart at Wounded Knee (1971) , das zum erstenmal versucht , den Plains War aus Sicht der Indianer zu beschreiben , als Endpunkt dieser breit angelegten Kampagne betrachtet , deren Ziel es war , alle freilebenden Indianer in Reservationen zu bringen und an eine europäische Lebensweise zu gewöhnen.2 Der Name „Wounded Knee“ wurde durch die gewaltsame Besetzung der Stelle , an der das Massengrab liegt , im Jahr 1973 zum Synonym für Niedergang und Wiedergeburt indianischer Widerstandskraft. Bis in die siebziger Jahre hinein repräsentierte das Massaker von Wounded Knee in der Historiographie der Westexpansion aber vor allem das spirituelle Ende der Lakota-Kultur im Besonderen und derjenigen der Plains-Indianer im Allgemeinen. Wie Black Elk weiter schreibt , starben dort nicht nur 200 Männer , Frauen und Kinder , sondern eine ganze Kultur : I did not know then how much was ended. When I look back now from this high hill of my old age , [ …] I can see that something else died there in the bloody mud , and was buried in the blizzard. A people’s dream died there. It was a beautiful dream. And I , to whom so great a vision was given in my youth , ‒ you see me now a pitiful old man who has done nothing , for the nation’s hoop is broken and scattered. There is no center any longer , and the sacred tree is dead.3

Der „Traum“, von dem Black Elk spricht , kann sich sowohl auf die traditionelle indianische Lebensweise beziehen als auch konkret auf die Ghost DanceReligion , die seit 1890 von Black Elk selbst und vielen seiner Stammesmitglieder praktiziert wurde. Auch diese , so die allgemeine Annahme der Historiker , sei in Wounded Knee gestorben , denn ihre Prophezeiung – u. a. die Rückkehr zur alten Lebensweise und die Wiedererweckung der toten Freunde und Familienmitglieder – war nicht eingetroffen.

1 2 3

Black Elk 1972 , S. 221 , 223. Dee Browns Buch endet mit der Beschreibung des Massakers. Black Elk 1972 , S. 230.

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Abb. 2 : Der Medizinmann Sits Straight oder Good Thunder auf dem Schlachtfeld von Wounded Knee , mit nachträglich hinzugefügtem Gewehr. Quelle : Jensen /  Eli /  Carter 1991.

In der Tat kann es sein , dass die hysterische Furcht seitens der US-Armeeangehörigen vor einer von der prophetischen Bewegung ausgelösten Militarisierung der Sioux einer der Auslöser für das Massaker gewesen ist. Viele Mitglieder der Gruppe von Big Foot praktizierten die Rituale in messianischer Erwartung ; die steppenbrandartige Verbreitung dieser religiösen Praxis unter den verschiedenen Plains-Stämmen innerhalb nur weniger Monate hatte zu großer Nervosität unter den weißen Indianer-Agenten und zur Aufrüstung der US-Truppen geführt. Laut Aussage eines mixedblood-Scout waren die Lakota am Wounded Knee im Begriff , einen Ghost Dance durchzuführen , als die Entwaffnungsaktion begann. Diese religiöse Praxis wurde von weißer Seite also als extrem gefährlich eingestuft. Gleichzeitig handelt es sich jedoch auch um eine künstlich produzierte Gefahr : Eines der Fotos vom Schlachtfeld zum Beispiel zeigt einen im Tod erstarrten Mann, dem unterschiedliche Identitäten zugeschrieben werden und bei dem es sich wahrscheinlich um den Medizinmann Yellow Bird  handelt. Das Foto , das fast so berühmt wurde wie das des toten Big Foot , wurde wie jenes als Souvenir vermarktet. Jensen , Paul und Carter argumentieren , dass das Gewehr nachträglich fotogen platziert wurde , um den engen Zusammenhang zwischen Militanz und Ghost Dance-Praxis zu betonen.4 4

Jensen u. a. 1991 , S. 111.

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Das Auftreten und der überwältigende Erfolg der Ghost Dance-Religion gerade unter den Sioux und Arapaho lässt sich unter anderem dadurch erklären , dass diese Stämme erst kurz vorher zur Aufgabe ihrer Lebensweise gezwungen und in Reservationen eingeliefert worden waren. Das Vertragsland der Great Sioux Reservation , das in dem Vertrag von Ft. Laramie 1868 den Sioux für immer zugesprochen worden war , war seitdem auf einen Bruchteil geschrumpft. Es bildete Ende der 1880er Jahre kein zusammenhängendes Stammesgebiet mehr ; der Vertragsbruch führte vor allem zum Verlust der Black Hills , einem vielen Indianerstämmen heiligen Gebirge , weil dort Gold gefunden worden war. Im Jahr 1887 wurde der verhängnisvolle Dawes Act (General Allotment Act) vom Kongress verabschiedet , der die Privatisierung von Stammesland vorschrieb und die Großfamilien in eine europäische Kleinfamilienstruktur zwang. Den Indianern , die Land nur kollektiv genutzt und keinen Begriff von privatem Landbesitz hatten , wurde eine privatisierte Landnutzung oktroyiert. Im Februar 1890 wurde in Umsetzung des Dawes Act die Great Sioux-Reservation in fünf kleinere Reservationen aufgeteilt ; das verbleibende Land – ein beträchtlicher Teil des vertraglich zugesicherten Territoriums – wurde an weiße Siedler verkauft. Die Indianer wurden einem umfangreichen Umerziehungsprogramm unterworfen – ihre Kinder wurden in weit entfernt gelegene Missionsschulen geschickt , wo ihnen die indianische Lebensweise ausgetrieben wurde ; die Erwachsenen mussten beginnen , Ackerbau im europäischen Stil zu betreiben , wenn ihnen nicht die staatlichen Rationen gekürzt werden sollten. In South Dakota waren wiederum im Jahr 1890 die Menschen gezwungen , ihren Lebensunterhalt durch Ackerbau zu bestreiten. South Dakota ist jedoch kein Ackerland ; die Ernte vertrocknete , die Rationen blieben aus , die Leute begannen zu hungern.5 Die Präriestämme , insbesondere die Lakota , standen Ende der 1880er Jahre in der Tat vor ihrer physischen und psychischen Vernichtung. In diese traumatisierte Gesellschaft gelangte im Jahr 1889 die Botschaft von einem besseren Leben – unter der Bedingung , dass die Menschen bestimmte Rituale einhielten , bestimmte Tänze tanzten und Lieder sangen. Der Ursprung der Ghost Dance-Religion liegt weit weg von South Dakota , bei den Paiute in Nevada.6 Dort lebte ein junger Mann namens Wovoka , der als Sohn eines berühmten spirituellen Führers , vor allem aber aufgrund seiner eigenen 5 6

Kehoe 2006 , S. 15–17. Die Geschichte des Ghost Dance führt in die 1860er und 1870er Jahre zurück , als er erstmals unter Stämmen des Westens auftrat (Kehoe 2006 , S. 33 f.).

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Visionen und seines Wissens über das Wetter hohes Ansehen genoss. Im Januar 1889 , als Wovoka alias Jack Wilson krank im Bett lag , hatte er während einer Sonnenfinsternis einen prophetischen Traum : He [ …] was taken up to the other world. Here he saw God , with all the people who had died long ago engaged in their old-time sports and occupations , all happy and forever young. It was a pleasant land and full of game. After showing him all , God told him he must go back and tell his people they must be good and love one another , have no quarreling , and live in peace with the whites ; that they must work , and not lie or steal ; that they must put away all the old practices that savored of war ; that if they faithfully obeyed his instructions , they would at last be reunited with their friends in the other world , where there would be no more death or sickness or old age. He was there given the dance which he was commanded to bring back to his people. By performing this dance at intervals , for five consecutive days each time , they would secure this happiness to themselves and hasten the event.7

Der Traum enthält zunächst weder einen besonders großen prophetischen noch einen auffallend ‚indianischen‘ Anteil. Es handelt sich um eine Paradiesvision , wie sie im christlichen Glaubensraum spätestens seit der Verbreitung der Ideen Swedenborgs fester Bestandteil religiöser Alltagskultur war ; die wesentlichen Elemente (Leben ohne Mühe , Wiedersehen mit den Verstorbenen) deckten sich weitgehend mit indianischen Jenseitsvorstellungen. Die Instruktionen Gottes an Wovoka bestehen aus Regeln des guten sozialen Zusammenlebens , wie sie in christlichen und nicht-christlichen Gesellschaften praktiziert werden. Sowohl der Moralkodex als auch der Glaube an ein Jenseits , in dem man nach seinem Tod seine früher verstorbenen Freunde und Verwandten wieder trifft , sind unspektakulär – sie existierten sowohl in der euro-amerikanischen Gesellschaft als auch in indianischen Gesellschaften. Der Text sagt explizit , wo die Wiedervereinigung mit den Toten stattfinden sollte – im Jenseits : das ist ein allgemeinreligiöser Konsens. Anders wäre es , wenn sie auf der Erde stattfinden sollte , hervorgerufen durch die besonderen Tänze und Rituale. Dies wäre in der Tat ein Hinweis auf eine apokalyptische Vorstellung , nach der am Tag des Jüngsten Gerichts die Gläubigen belohnt und die Ungläubigen bestraft würden , die Toten aus ihren Gräbern aufstehen würden und eine neue Zeit anbrechen würde. So wurde Wovokas semantisch offene Ankündigung 7

Mooney 1965 , S. 14 ; Kucich 2004 , S. 104.

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von den meisten seiner Anhänger auch verstanden – ein deutlicher Hinweis auf eine allgemeine Bereitschaft für chiliastische Heilsversprechen , die in der Menschheitsgeschichte vielfach dokumentiert sind.8 Wovoka führte in Nevada weiterhin das Leben eines angesehenen Heilers , der in Frieden mit seinen weißen Nachbarn lebte und viel Besuch aus allen Teilen des amerikanischen Westens erhielt , jedoch ohne revolutionäre Bewegungen innerhalb seines Stammes auszulösen. Vielmehr praktizierte er einen friedlichen Reliquienhandel mit in Tomatendosen verpacktem rotem Ocker , schwarzen Sombreros und ähnlichen Fan-Artikeln , die mit der Post verschickt wurden.9 Seine Vision erfuhr erst mit ihrer Übersetzung in die zentrale Ghost Dance-Weissagung der Präriestämme eine Radikalisierung. Erst mit ihrer Rezeption durch die traumatisierten Opfer des amerikanischen Vernichtungskrieges , insbesondere gegen die Sioux-Stämme , nahm Wovokas Lehre eine eindeutig militante Qualität an. Während es sich anfänglich um eine religiöse Praxis gehandelt hatte , die angesichts historischer Umbrüche die Kraft der Gemeinschaft evozierte und zu stärken suchte , erweiterte sich die messianische und apokalyptische Botschaft mit ihrem Weg in den Norden : Wie die vom irisch-amerikanischen Ethnologen James Mooney 1892 gesammelten Ghost Dance-Lieder zeigen , kommen zu den eher traditionellen Elementen der Trauer um die Verstorbenen und um den Verlust der alten Lebensweise das Element einer revolutionären Wiederherstellung der ursprünglichen Lebensweise (vor Ankunft der Weißen) hinzu : „we shall surely be put again (with our friends)“;10 außerdem das Element der Verachtung gegenüber den Weißen : „the whites are crazy“.11 Beide Elemente verbinden sich schließlich zu einer messianischen Vision : „the spirit army is approaching , /  The whole world is moving onward“;12 „When I met him [the messiah] approaching – [ …] I then saw the multitude plainly“.13 Der synkretistische Charakter der Ghost DanceReligion wird evident durch die beiden letzten Zitate : Die „spirit army“ erinnert an die himmlischen Heerscharen aus der Offenbarung Johannes ; die genaue Identität der „multitude“ bleibt jedoch offen – es kann sich auch um eine visionäre Begegnung mit den Geistern der Toten handeln. 8 S. z. B. Cohn 1970. 9 Kehoe 2006 , S. 38. 10 Mooney 1965 , no. 2. 11 Kucich 2004 , S. 107. 12 Ebd. 13 Mooney 1965 , no. 9.

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Abb. 3 : Short Bull und Kicking Bear , Botschafter der Ghost DanceReligion. Quelle : Jensen /  Eli /  Carter 1991 , S. 5.

Die Agenten der prophetischen Radikalisierung sind bekannt. Es handelt sich um die Sioux-Krieger Kicking Bear und Short Bull , die die Botschaft von Nevada nach South Dakota trugen und dabei auf die Bedürfnislage ihrer Stammesmitglieder einstellten. In einigen der Lieder findet die Verzweiflung Ausdruck , durch die die Sioux zu leidenschaftlichen Rezipienten der Botschaft aus dem Süden wurden : Father , have pity on me , Father , have pity on me ; I am crying for thirst I am crying for thirst ; All is gone – I have nothing to eat , All is gone – I have nothing to eat.14

Im Zentrum der Ghost Dance-Religion standen die gemeinsamen Tänze und die individuellen Visionen , die die Gläubigen nach dem Erwachen aus ihrer Trance erzählten. Die Ethnologin Alice Beck Kehoe fasst die psychische Wirkung des Ghost Dance folgendermaßen zusammen :

14 Ebd. , no. 28 , S. 226.

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The gospel outlines personal behavior and provided the means to unite individuals into congregations to help one another. Its principal ceremony , the circling dance , pleased and satisfied the senses of the participants , and through the trances easily induced during the long ritual , it offered opportunities to experience profound emotional catharsis.15

Passend zur Radikalisierung des prophetischen Charakters dieser religiösen Erweckungsbewegung16 glaubten die meisten Anhänger des Ghost Dance an das nahe Bevorstehen der Erfüllung der Prophezeiung (Vertreibung der Weißen , Rückkehr der Verstorbenen , Wiedererstarken der alten Lebensweise). Das apokalyptische Ereignis wurde für das Frühjahr 1891 erwartet.17 Ein weiteres neues Element , das von den Präriestämmen eingeführt wurde (und von dem sich Wovoka sogar dezidiert distanzierte) , waren die sogenannten Ghost Dance Shirts. Diese wurden während der mehrere Tage andauernden Zeremonien getragen , während derer die Gläubigen in Trance fielen und Visionen hatten (die den Ursprung der Lieder bildeten). Die Hemden waren jedoch nicht nur äußerliches Zeichen einer transtribalen Gemeinschaft , sondern ihnen wurden auch magische Kräfte zugesprochen. Wer sie trug , so glaubte man , sei unverwundbar. Das Massaker von Wounded Knee beendete auf jeden Fall diesen Traum , denn in der Tat trugen viele aus Big Foots Gruppe Ghost Shirts (einige von ihnen wurden hinterher den Toten ausgezogen und an Souvenirhändler verscherbelt). Die Vorstellung der Ghost Dancer , im Besitz einer solchen Defensivwaffe zu sein , ist wohl das beste Beispiel für die Radikalisierung und Militarisierung des Ghost Dance. Wir können festhalten , dass die Lehre des Ghost Dance extrem flexibel war. Sie setzte sich zusammen aus indigenen und christlichen Elementen und 15 Kehoe 2006 , S. 8. 16 Kucich spricht von einem religiösen “revival” und einer “revitalization movement” : „Out of a context of cultural disintegration , a prophet arises promising a return of a community’s prestige and integrity if members adopt a new code of beliefs. The new code is nativistic in orientation , but incorporates enough new elements to address the changes that led to the cultural distortion in the first place.” Er betrachtet den Ghost Dance , wie auch schon frühere Erweckungsbewegungen (z. B. Handsome Lake bei den Seneca und Tensquatawa bei den Shawnee) als völlig normale Reaktionen auf kulturelle Stresssituationen und als Indizien für religiöse Anpassungen an kulturelle Veränderungen (s. ders. 2004 , S. 65). 17 Ebd. , S. 105.

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sie adaptierte sich aufgrund des Fehlens einer schriftlichen Grundlage während seiner Migrationen durch den amerikanischen Westen schnell an neue Bedürfnisse. Interessant ist allerdings die Ähnlichkeit vieler Glaubenselemente des Ghost Dance mit solchen des euro-amerikanischen Spiritualismus der Zeit vor und kurz nach dem Bürgerkrieg , wie John Kucich herausgearbeitet hat. Nicht nur gibt es Ähnlichkeiten in den Vorstellungen des Himmels bei bestimmten AnhängerInnen des Spiritualismus , wie Kucich betont (z. B. Elizabeth Phelps) ; die religiösen Bewegungen erfüllten offenbar auch teilweise ähnliche psychosoziale Zwecke. Insbesondere , so zeigen eindrucksvoll die von Mooney aufgezeichneten Liedtexte , halfen die gemeinschaftlichen Rituale (der Tanz , die Séancen) bei der Überwindung traumatischer Erlebnisse , vor allem des Verlusts von nahestehenden Verwandten (durch Kindstod ,18 durch den Krieg). Neben ihrer Funktion als Unterstützung bei der Trauerarbeit dienten beide Praktiken auch dem empowerment unterprivilegierter sozialer Gruppen – im Fall des Spiritualismus vor allem der Emanzipation der vom patriarchalen System unterdrückten Frauen , die durch die Séancen eine eigene Stimme und damit kulturelle Autorität errangen.

Ghost Dance und Wounded Knee zwischen Kollektivmythos und ‚postkolonialem‘ Geschichtsverständnis Im kollektiven Gedächtnis der Plains-Indianer – und seit der Besetzung des lieux de memoire Wounded Knee 1973 eigentlich aller politisch bewussten Bürger in den USA – nimmt das Massaker von Wounded Knee eine bedeutende Stellung ein. Ich möchte stellvertretend drei neuere Reimaginationen des Ghost Dance und des Massakers von Wounded Knee vorstellen , die die Themen „Gewalt“ und „Prophetie“ auf interessante Weise miteinander verbinden : den Roman The Heartsong of Charging Elk des Blackfoot-Autors James Welch (2001) , den Hollywood-Film Hidalgo von 2004 (dir. Joe Johnston) und den preisgekrönten Fernsehfilm Bury My Heart at Wounded Knee von Yves Simoneau (2007).19

18 So kehrte eine Sioux-Frau von ihrem „Trip“ in die Geisterwelt zurück und sang : „E’yehe’ye ! E’yehe’ye ! /  It is my own child /  It is my own child” (zitiert nach ebd. , S. 67). 19 Der Film gewann 6 Emmys ; er wurde für 11 weitere Emmys und 3 Golden Globes nominiert.

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Abb. 4 : Ghost Dancers als Gefangene in Fort Sheridan , Illinois. Sie wurden später als Akteure in Buffalo Bills Wild West Show engagiert. Quelle : Jensen /  Eli /  Carter 1991 , S. 171.

Welchs historischer Roman greift einen weiteren Kontext des Ghost Dance auf , der in scheinbar völligem Widerspruch zu allem steht , was die religiöse Erweckungsbewegung symbolisiert. In der Tat ist es aber so , dass viele Ghost Dancer kurz nach dem Massaker von Wounded Knee dem Angebot von Buffalo Bill Cody folgten und mit seiner Wild West Show in die Oststaaten und nach Europa reisten. Sogar die beiden spirituellen Begründer des Ghost Dance unter den Sioux , Kicking Bear und Short Bull , befanden sich unter den Darstellern von Codys die Wirklichkeit verzerrenden Darbietungen. Auf einem in Hagenbecks Tierpark entstandenen Foto posiert Short Bull gar in einem Original-Ghost Shirt. Die Tatsache , dass so viele junge Männer bereit waren , vor staunendem Publikum eine Travestie ihrer Lebensweise und der Geschichte ihres Verlusts darzubieten , wird partiell verständlich , wenn man sich ihre Alternativen vergegenwärtigt : ein Dahindämmern in Reservaten in völliger ökonomischer Abhängigkeit vom Bureau of Indian Affairs bei ungesicherter Versorgungslage und ohne jegliche politischen Rechte. James Welch greift in seinem Roman The Heartsong of Charging Elk Elemente aus der Autobiographie von Black Elk auf , der selbst 1887 /  88 mit Cody in Europa war. Sein Protagonist Charging Elk ist Mitglied der Buffalo Bill Wild West Show. In Marseille wird er krank , kommt ins Krankenhaus und wird aus Versehen von seinen weiterziehenden Kollegen vergessen. Er findet sich als Angehöriger einer nach internationalem Recht nicht existenten Nation (Indianer wurden erst 1924 per Erlass amerikanische Staatsbürger) allein in

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Abb. 5 : Short Bull in einem Ghost Dance Shirt. Foto : Frederick Weygold , Hamburger Völkerkundemuseum ca. 1909.

einem Land , dessen Sprache er nicht kennt. Auch sein Englisch ist äußerst rudimentär. Durch die Erinnerungssequenzen , die Charging Elk im Traum oder Halbschlaf erlebt , erhalten wir einen Eindruck von Charging Elks desolater Situation sowie von der kulturellen Kluft , die er mental zu überwinden hat : He dreamed of the feasts when he was a boy on the plains. The Oglalas ate real meat then. There were still buffaloes around the Tongue and Powder rivers , along the Missouri and the Milk rivers , and the men would come back to camp with their packhorses covered with meat and hides. Charging Elk dreamed of buffalo hump , of belly fat and boss ribs , of brains and marrow bones. But just as he was about to dig in , just as his mother passed him a bowl of sarvisberry soup , he would awaken to find himself on a stoop in an alley , or under some bushes in a park full of stark trees. Then he would walk again and look up at the darkness and recognize many star people , but they would be in the wrong place in the sky.20

Das Bild der unterschiedlichen kosmischen Konstellationen , deren individuelle Elemente Charging Elk bekannt sind , aber deren Zusammensetzung ihm fremd erscheint , erlaubt eine Vorstellung von der mentalen Energie , die er aufbringen muss , um sich in der unbekannten Welt zu orientieren. Denn was von ihm verlangt wird , ist nicht nur das Erlernen einer neuen Sprache und 20 Welch 2001 , S. 46.

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Sozialordnung. Vielmehr zeigt sich , dass er auch den Wandel von einem Leben in Freiheit als Junge in den Plains hin zu einem Leben in Armut in der Reservation bzw. im Versteck vor der US-Armee in den Badlands noch gar nicht überwunden hat. Seine Träume führen ihn nicht nur in die rezente Vergangenheit – seine Erlebnisse zusammen mit den anderen Lakota-Darstellern in London und Paris – , sondern vor allem auch in die Zeit des Umbruchs zwischen traditioneller Lebensweise und Reservation. Welch benutzt das Mittel der Traumerinnerung bzw. Traumvision jedoch auch , um den Lesern Hinweise über gleichzeitig stattfindende Ereignisse im amerikanischen Westen zu geben. Nach einigen Jahren in Frankreich (es könnte ca. 1890 sein) hat Charging Elk einen visionären Traum , der stark an Zeugenaussagen über das Massaker von Wounded Knee erinnert. Er träumt , er stünde an einem Abhang nahe des Stronghold (das Versteck der LakotaRenegaten in den Badlands , unter denen er lebte) und er spürt , dass er weint. Er versucht , den Abhang hinunterzuspringen , wird aber von einem starken Wind davon abgehalten. Dann schaut er hinunter und sieht , wie seine Leute auf einem Haufen am Boden liegen : They lay in all positions and directions – men , women , and children , even old ones. They lay like buffaloes that had been driven over the cliffs by hunters , and Charging Elk understood why he had been weeping. As he stood and looked down at his people , he heard the wind roar in his ears like a thousand running buffaloes , but in the roar , he heard a voice , a familiar voice , a Lakota voice , and it said , “You are my only son.” 21

Viele Jahre später trifft er erneut auf eine Buffalo Bill Show und begegnet Leuten aus seinem Clan. Er war inzwischen im Gefängnis , hat danach in Marseille mit Hilfe freundlicher Franzosen Fuß gefasst und ist nun im Begriff , eine Familie zu gründen. Den Gedanken an eine Rückkehr , der am Anfang sein ganzes Leben bestimmt hatte , hat er nun aufgegeben. Seine Verwandten erzählen ihm von der Verzweiflung , die nun den Alltag der Lakota bestimmt , und als er ihnen von seinem Traum erzählt , berichten sie vom Ghost Dance und vom Massaker am Wounded Knee. Sie fordern ihn auf , mit ihnen zurück zu seinem Volk zu gehen , was ihn in eine tiefe Entscheidungskrise wirft. Charging Elks visionärer Traum ist angelehnt an die Träume des spirituellen Führers Black Elk , die dieser während einer Fiebererkrankung in Paris 21 Welch 2001 , S. 235.

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hatte. Das Zusammentreffen von Ghost Dance , Überleben eines genozidalen Krieges und Beteiligung an einer Vergnügungsschau , die gerade diese traumatischen Ereignisse als unterhaltsames Abenteuer inszeniert , mag einem völlig absurd erscheinen. Die Bereitschaft der ehemaligen Lakota-Krieger , mit Cody nach Europa zu gehen , lässt sich nur damit erklären , dass viele von ihnen alternativ dazu ins Gefängnis gegangen wären (Cody hat sie freigekauft) oder ein deprimierendes Leben auf der Reservation hätten fristen müssen. Wie Vine Deloria hervorhebt , erfüllten die Reisen mit Cody für die beteiligten Lakota einen völlig anderen Zweck als für die auf Profit erpichten weißen Impresarios : Hier konnten sie der Umerziehungs-Maschine zu Hause entgehen , hier wurden sie wie entscheidungsfähige erwachsene Menschen behandelt , sie konnten das Gefühl haben , nützlich zu sein. Ohne die während der Reisen erhaltenen Kenntnisse über die Welt der Weißen , so Deloria , wäre es später noch schwerer für die Lakota gewesen , den genozidalen Praktiken der USRegierung entgegenzuwirken.22 Buffalo Bill inszenierte nicht nur Nachstellungen des Wounded KneeMassakers (unter Beteiligung authentischer Krieger) , sondern drehte 1913 sogar einen offenbar recht geschmacklosen Film über das Massaker. Auch der Film Hidalgo (2004) setzt an der Schnittstelle zwischen „Tragödie“ (Wounded Knee) und „Farce“ (Wild West Show) an. Er handelt von dem mixedbloodScout Frank Hopkins (Viggo Mortensen) und seinem Appaloosa-Pferd Hidalgo und ihrem gemeinsamen Sieg über rassistische Vorurteile. Hopkins leidet unter Identitätsproblemen aufgrund seiner prekären sozialen Stellung als Sohn eines weißen Scout und einer Sioux-Indianerin. Als Scout der USArmee wird er Zeuge des Wounded Knee-Massakers , das im Film getreu nach den Zeugenaussagen und mit Hollywood-typischer Detailliertheit der Gewaltdarstellungen inszeniert wird. Nach dem Massaker verfällt er in eine tiefe Depression , weil sich sein Identitätsproblem mit einem Schuldkomplex verbündet hat. Anstatt seine Fähigkeiten als kultureller Zwischengänger zu nutzen , um die Situation seiner Lakota-Verwandten zu verbessern , verfällt er in Suff und Selbstmitleid und spielt bei Buffalo Bill die Szenen nach , die ihn bis in seine Alpträume verfolgen. An dieser Stelle leistet der Film dem historisch uninformierten Zuschauer immerhin eine wertvolle Interpretationshilfe beim Versuch , die Faszination der Wild West-Show für die jungen indianischen Männer zu begreifen sowie einen Einblick in die desolate psychische Situation der Überlebenden – gerade auch der ‚verräterischen‘ ‚Bastarde‘ inof22 In Maddra 2006 , S. 154.

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fizieller inter-ethnischer Beziehungen – zu geben. Als Cody im Beisein eines saudi-arabischen Besuchers öffentlich behauptet , Hidalgo sei das schnellste Pferd der Welt , lädt der verschnupfte Araber Hopkins in den Irak ein , um die Fähigkeiten seines Mischlings mit den reinrassigen Pferden Arabiens während eines mörderischen Wüstenrennens von Bagdad nach Damaskus zu messen. Natürlich gewinnt Hopkins den Wettstreit , indem er allerlei unfaire Tricks der Araber und fieser europäischer Verbündeter abwehren kann (Sandsturm , Heuschreckensturm , Fast-Kastration , weil er mit der Tochter des Scheichs gesprochen hat ; außerdem muss er die Prinzessin vor den bösen arabischen Widersachern und ihrer perfiden britischen Upperclass-Auftraggeberin retten). Im Moment der Entscheidung , als Ross und Reiter mit den Kräften am Ende sind , hat Hopkins eine Vision , in der ihm die Geister seiner indianischen Ahnen erscheinen und ihm Mut zusprechen. Wie eine Fata Morgana tauchen die Schemen der Ghost Dancer in der schillernden Hitze der jordanischen Wüste auf – ein magisch-realistisches Element in diesem an ‚magischen‘ (aber sehr konventionellen) Plot-Wendungen nicht gerade armen Film. Der Film , der während des Irak-Krieges gedreht wurde , ist nicht deshalb interessant , weil er die Überlegenheit des amerikanischen Cowboys gegenüber den arroganten Arabern zeigt , sondern weil er den individuellen Wettstreit im mittleren Osten zur Katharsis für das Kollektiv-Trauma von Wounded Knee werden lässt. Hopkins repräsentiert aufgrund seines ‚kaukasischen’ Aussehens (blond und blauäugig) alle Amerikaner als Opfer. Sein Sieg ist nicht die Folge einer intendierten Aggression , sondern nur die Konsequenz einer Einladung durch rassenpuristische Orientalen. So gelingt es dem Film , die Fast-Ausrottung der Indianer in ein nationales Narrativ von Abenteuer und Kampf für Gerechtigkeit und Freiheit einzubetten. Die Rassisten und Puristen im Film sind die Araber , nicht die Weißen; amerikanische Täter kommen – bis auf die am anfänglichen Wounded Knee-Massaker beteiligten Soldaten – nicht vor. Hopkins repräsentiert auch nicht die imperiale Nation USA in diesem Pferderennen , sondern im Gegenteil die multikulturelle amerikanische Gesellschaft , basierend auf einer aufgeklärten und positiven Einstellung gegenüber Rassenmischung (bei Mensch und Tier). Die Flagge , die sein Hadschi Halef Omarartiger Diener ihm bastelt , zeigt allerdings den sacred hoop der Lakota (dessen Zerstörung Black Elk beklagte). So wird die Agenz des imperialen Staates USA gegenüber Sioux und Irakern in eine individuelle Abenteuergeschichte übersetzt , die sich zwischen den Vertretern rassisch hybrider und nicht-weißer Gruppen abspielt. Hopkins’ Sieg über die Araber wird legitimiert durch die Geister der indianischen Ahnen , die über hundert Jahre vor den historischen

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amerikanischen Irak-Kriegen von derselben Armee massakriert wurden. Der Film kaschiert auf diese Weise geschickt die Kontinuität zwischen dem imperialen Engagement der USA in den Indianerkriegen des 19. Jahrhunderts (in denen es u. a. um Rohstoffe ging , gerade in den Black Hills) und den Kriegen gegen den Irak im 20. und 21. Jahrhundert , die ähnlich motiviert sind.23 Mit der Begrifflichkeit von Roland Barthes gesprochen wirkt die mythische Ermächtigung individueller „Weißer“ durch die Geister der indianischen Ahnen wie eine „Impfung“: Das imaginäre Kollektiv verabreicht sich mit Hilfe solcher Film-Plots einen Schuss Opfer-Serum , dessen ideologische Funktion es ist , die Kontinuität imperialen Handelns (Irak-Kriege in Hidalgo , Uranabbau auf Indianerland in Thunderheart) in einem individualisierten ‚good guy vs. bad guy‘-chiaroscuro erscheinen zu lassen.24 Mein letztes Beispiel , Simoneaus Film Bury My Heart at Wounded Knee , besticht durch eine größere Treue gegenüber den historischen Ereignissen und verzichtet weitgehend auf Hollywood-typische Plot-Elemente und Effekte. Die Ereignisse von Wounded Knee und Ghost Dance finden erst im letzten Viertel des Filmes statt , in dessen Zentrum der mixedblood Charles Alexander Eastman (Ohiyesa) steht , der auf einer historischen Person basiert. Ohiyesa wurde nach einer Kindheit unter den Santee-Sioux als Jugendlicher in die weiße Gesellschaft assimiliert und geht als Arzt nach Pine Ridge , um seinen 23 Ein ähnliches die realen Konflikte harmonisierendes Identifikationsangebot enthält der vom selben Drehbuchautor geschriebene Film Thunderheart (Drehbuch John Fusco , Regie Michael Apted , 1992). Hier gilt die Sympathie dem gemischtrassigen FBI-Agenten Raymond Levoi (Val Kilmer) , der den Mord an zwei FBIAgenten in Oglala aufklären soll und während seiner Untersuchungen feststellt , dass die Lakota ihn für die Reinkarnation eines spirituellen Führers halten , der während des Wounded Knee-Massakers getötet wurde. Dies wird durch verschiedene Visionen bestätigt , die Levoi in Pine Ridge erhält. Seine Arbeit im Regierungsauftrag wird durch seinen spirituellen Opferstatus rhetorisch legitimiert. Wie in Hidalgo fällt bei der Wahl der Hauptrolle der absolut ‚kaukasische‘ Phänotyp des Schauspielers auf – angesichts der Überraschungen von DNA-Identitäten sicher als ein Zeichen der Emanzipation aus veralteten rassentheoretischen Identitätszuschreibungen gemeint. Wie in Hidalgo erscheint ein Repräsentant des kolonialen Regimes als Angehöriger der Opfer kolonialer Politik , während die Reservationsbewohner entweder keine Rolle spielen oder korrupt und untereinander hoffnungslos zerstritten sind. Die visionären Ghost Dancer , die Levoi erscheinen , werden von denselben Schauspielern gespielt , die auch in Hidalgo zum Einsatz kamen (http ://en.wikipedia.org /  wiki /  Hidalgo_(film)). 24 Barthes 1964 , S. 140.

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unter schweren Epidemien leidenden indianischen Landsleuten zu helfen. Parallel zur Erzählung der wachsenden Spannungen in der Reservation – neben Hunger und Krankheiten vor allem der Konflikt um die radikale Reduktion des Landes in Folge des Dawes Act – erfahren wir von den Aktivitäten Wovokas. Gespielt vom bekannten indianischen Schauspieler und Aktivisten Wes Studi (z. B. Geronimo oder Magua in Last of the Mohicans) , erscheint Wovoka in einer historisch so nicht verbürgten radikalisierten Form : Er verheißt die Rückkehr der Toten , die Unverwundbarkeit durch die Ghost Shirts und – mit diabolischem Lachen – den prädestinierten Untergang der Weißen. Die Indianer , so Wes Studis Wovoka , müssen die Weißen nicht hassen oder bekämpfen , denn dies würde ihren sicheren , von der Vorsehung beschlossenen Untergang nur verzögern. Er sagt dies auf Englisch in einer eindrucksvoll inszenierten Rede unter offenem Himmel , unterstützt von der pan-indianischen Zeichensprache. Diese Darstellung Wovokas weicht stark von derjenigen in den historischen Quellen ab , in denen Jack Wilson als eher zurückhaltend beschrieben wird. Der Film wertet durch die Radikalisierung Wovokas und seiner Prophezeiung die Subversivität des Ghost Dance als rituelle Praxis auf , was jedoch indirekt beim Zuschauer Verständnis für die hysterische Angst vor den Ghost Dancers unter den weißen Agenten und Armeeangehörigen auslösen mag. Dennoch ist Simoneaus Film um eine differenzierte Darstellung der beteiligten Parteien bemüht – insbesondere um eine einfühlsame Darstellung der inneren Konflikte , die das Handeln der Akteure (inkl. Regierungsagenten) beeinflussten. Die Ereignisse während des und kurz vor dem Wounded KneeMassaker werden sehr effektiv durch eine Kombination sehr realitätsnaher Fotographie (s /  w , orientiert an den historischen Fotos) und der Erzählung von verletzten Augenzeugen (das Massaker selbst) und der weißen Helferin Elaine Goodale (das verschneite Schlachtfeld) vermittelt , die in Eastmans Hospital in Pine Ridge gebracht werden bzw. die Wovoka dort hilft. Simoneaus Film enthält auch einen filmischen Verweis auf das Zustandekommen der von ihm benutzten Original-Schlachtfeldfotos : Eine Gruppe von Fotographen , die die Leichen im Schnee ablichten und den erstarrten Big Foot auf den Rücken legen , um das berühmte Foto des toten Anführers zu schießen. Vor allem aber artikuliert Bury My Heart die unlösbaren Konfliktsituationen , in denen gemischtrassige Akteure handelten : Anders als in Hidalgo und Thunderheart wird der mixedblood-Charakter hier nicht kollektiv-mythisch ausgeschlachtet , sondern in seiner ganzen psychischen Zerrissenheit gezeigt : Emotional von seiner indianischen Kindheit und der Sympathie mit seinem

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leidenden Volk geprägt , ist Eastman /  Ohiyesa als go-between zwischen den Kulturen immer wieder tief in die erzwungenen Assimilierungsmaßnahmen eingebunden – ein Interessen- und Gefühlskonflikt , an dem er emotional zerbricht. Wie viele historische Umbruchsituationen und Krisen , oft verbunden mit Gewalterfahrungen , generierte der Ausrottungskrieg gegen die Plains-Indianer eine allgemeine Empfänglichkeit für prophetisches Gedankengut. Mein Beispiel des Ghost Dance hat gezeigt , wie wandelbar prophetische Ideen gerade in einem von mündlicher Kommunikation bestimmten Kontext sein können. Wovoka und seine Anhänger haben dennoch geschickt die Informationsinfrastruktur ihrer Zeit genutzt – er selbst benutzte einen örtlichen Ladenbesitzer als Sekretär und Manager für seine öffentlichen Briefe und seinen Reliquienhandel ; die Vertreter und Botschafter der anderen Stämme reisten mit der Eisenbahn und nutzten den Postweg und Zeitungen , auch ohne selbst schreiben zu können. Dennoch ist der Ghost Dance in erster Linie eine mündlich tradierte prophetische Religion , was seine semantische Flexibilität erklärt. Wie die zeitgenössischen Fiktionen zeigen , nehmen Ghost Dance und Wounded Knee-Massaker inzwischen – nachdem sie lange Zeit lediglich eine traumatische Kollektiverinnerung unter den Plains-Stämmen waren – einen wichtigen Platz in der kollektiven Imagination der USA ein. Wie so oft bei mythisch verwertbaren historischen Ereignissen dienen sie unterschiedlichen , gar gegensätzlichen , ideologischen Positionen. Die beeindruckendsten unter ihnen – Welchs Charging Elk und Simoneaus Bury My Heart at Wounded Knee – verbinden den Diskurs über religiöse Visionen und Erwartungen mit psychologisch präzisen Einsichten in die komplexen Gemütslagen historischer Akteure in Situationen des Kulturkonflikts – allen voran solcher Akteure , die durch verschiedene Fügungen der Umstände (das Wort „Schicksal“ gehört zu einem romantisch-religiösen Paradigma , das hier zu vermeiden ist) in Situationen der kulturellen ‚in-betweenness‘ geraten , die für sie ein bleibendes seelisches Dilemma verursachen. Nur diese beiden fiktionalen Re-Imaginationen können aus meiner Sicht als postkolonial bezeichnet werden , da sie eine kritisch-reflektierte Sicht auf die limitierten Handlungsspielräume indigener Figuren in einer komplexen kolonialen Situation aufzeigen und sich nicht für eine Fortschreibung kolonialer Mythen zur Verfügung stellen. Solche Biographien im Zusammenspiel mit kollektiven Gewalterfahrungen und Heilserwartungen zu erforschen und kreativ zur Darstellung zu bringen , sollte weiterhin ein wichtiges Projekt von Kunst und Wissenschaft bleiben.

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Literatur Andersson , R.-H. 2008 : The Lakota Ghost Dance on 1890 , Lincoln. Barthes , R. 1964 : Mythen des Alltags , Frankfurt a. M. Black Elk 1972 : Black Elk Speaks , hg. von John G. Neihardt , New York. Cohn , N. 1957 : The Pursuit of the Millennium , Oxford (Repr. London 1970). DuBois , C. 2007 : The 1870 Ghost Dance , Lincoln. Forsyth , S. 2003 : Representing the Massacre of American Indians at Wounded Knee , 1890–2000 , Lewiston. Jensen , R. E. /  P. R. Eli /  J. E. Carter 1991 : Eyewitness at Wounded Knee , Lincoln /  London. Kehoe , A. B. 2006 : The Ghost Dance. Ethnohistory and Revitalization , Longrove , Ill. Kucich , J. J. 2004 : The Politics of Heaven. The Ghost Dance , The Gates Ajar , and Captain Stormfield , in : Spectral America. Phantoms and the National Imagination , hg. von. J. A. Weinstock , Madison , S. 101–123. Maddra , S. A. 2006 : Hostilities ? The Lakota Ghost Dance and Buffalo Bill’s Wild West , Norman. Mooney , J. 1896 : The Ghost-Dance Religion and the Sioux Outbreak of 1890 (Repr. Chicago 1965). Ostler , J. 2004 : The Plains Sioux and U.S. Colonialism from Lewis and Clark to Wounded Knee , Cambridge. Welch , J. 2001 : The Heartsong of Charging Elk , New York.

Filme Hidalgo. Dir. Joe Johnston , Touchstone , 2004. Bury My Heart at Wounded Knee. Dir. Yves Simoneau , HBO Films , 2007.

Kolonialeroberung und Prophetie in Südafrika Christoph Marx

Die spektakulärsten militärischen Operationen im Südafrika des 19. Jahrhunderts waren vermutlich die Eroberungszüge der Briten gegen die Reiche der Pedi und Zulu , die beide im selben Jahr , 1879 , niedergeworfen wurden. Beide Kriege waren verlustreich und wurden in großen Feldschlachten bzw. Belagerungen ausgefochten. Trotz der kriegerischen Gewalt kam es in beiden Fällen nicht zu einer Reaktion der Besiegten in Form von Prophetien. Nicht jede Erfahrung von Kriegsgewalt hat zur Folge , dass in ihrem Gefolge Propheten auftreten. Es wird darum genauer nach dem Zusammenhang bestimmter Formen kriegerischer Gewalt mit Prophetien zu fragen sein. Ein besonders markantes Beispiel sind die sich über hundert Jahre hinziehenden insgesamt neun Kriege (1779–1878) , die die weiße Siedlerschaft bzw. der Kolonialstaat gegen die südafrikanische Ethnie der Xhosa geführt hat , was die schrittweise Inkorporierung des Xhosalandes in die Kapkolonie und die Eingliederung der Bevölkerung in die Kolonialgesellschaft nach sich zog. Ein zweites , zu Vergleichszwecken und darum nur kursorisch angesprochenes Beispiel ist der Burenkrieg (1899–1902) , in dessen Gefolge auch unter der weißen Siedlerbevölkerung Propheten auftraten. Durch einen kulturübergreifenden Vergleich lässt sich die historisch-anthropologische Frage nach dem Zusammenhang von Gewalterfahrung und Prophetie schärfen und präzisieren , weshalb Überlegungen dazu am Schluss des Beitrages diskutiert werden.1

1

Es gab in Südafrika vor allem im 20. Jahrhundert zahlreiche Propheten , meist in christlichem Kontext , was als Antwort auf die „strukturelle Gewalt“ der Rassentrennungspolitik interpretiert werden kann , aber außerhalb der Fragestellung dieses Aufsatzes liegt , der physische Gewalt in Form von Kriegen zum Thema hat. Zu den zionistischen Kirchen , die meist von Propheten gegründet wurden , s. die klassische Studie von Sundkler 1970 , S. 53 ff. und 109 ff.

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Gesellschaftsstruktur und religiöse Weltbilder der bantusprachigen Afrikaner Die Wirtschaftsform der bantusprachigen Afrikaner , zu denen die Xhosa zählten , unterschied sich grundlegend von der allein auf Viehzucht basierten der Khoikhoi.2 Da die Xhosa neben der Rinderzucht auch intensiven Anbau betrieben , der in den Händen der Frauen lag , während die Männer für das Vieh zuständig waren , waren sie stärker ortsgebunden. Zudem war ihre gemischte Wirtschaftsform in einem Land mit häufigen Dürreperioden krisensicherer und erlaubte eine dichtere Besiedlung. Mit dem Rinderbesitz war sozialer Status verbunden , weswegen die Chiefs in der Regel die weitaus größten Herden besaßen. Besitz von Rindern bot Männern die Möglichkeit zu heiraten , wobei die Ehe als Verbindung zweier Familien verstanden und darum oft aus strategischem Kalkül geschlossen wurde. Diese Familienbündnisse wurden auf der einen Seite durch die Heirat besiegelt , auf der anderen durch eine vorher ausgehandelte Zahl von Rindern , die der Mann der Familie seiner neuen Frau übergeben musste. Weil sie größere Rinderherden besaßen , waren Chiefs in der Regel die einzigen , die polygamen Haushalten vorstanden und die Heiraten zielgerichtet als Mittel einsetzten , um politische Allianzen zu schmieden.3 Mit der Sesshaftigkeit ging eine deutlich erhöhte Autorität der XhosaChiefs im Vergleich zu denjenigen der Khoikhoi einher , die nur über geringen Einfluss verfügten. Die Chiefs der Xhosa waren als eine Art Erbadel vom Rest der Bevölkerung distanziert , was auch in der Religion zum Ausdruck kam. Wie in vielen agrarischen Gesellschaften war auch bei ihnen das kumulierte Wissen , das von Generation zu Generation weitergegeben wurde , von überlebenswichtiger Bedeutung , woraus sich ein klares intergenerationelles Machtgefälle ergab. Im Lebenszyklus eines Mannes nahmen seine Macht und sein Einfluss im Lauf seines Lebens kontinuierlich zu , wobei seine Machtquelle von der körperlichen Kraft des jugendlichen Kriegers zu den überlegenen Kenntnissen des Alters wechselte. Die Generationenhierarchie setzte sich über die Lebenden hinaus fort in Gestalt eines ausgeprägten Ahnenkults , der für die südlichen Bantuvölker kennzeichnend war. Die patrilineare Abstammung verlängerte sich gewissermaßen ins Jenseits , wobei die Verstorbenen als inter2 3

Die Khoikhoi , die nicht zu den bantusprachigen Afrikanern zählen , lebten insbesondere im Südwesten des heutigen Südafrika : Elphick 1977. Vgl. dazu das grundlegende Werk von Kuper 1982.

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ventionsmächtig galten , konnten sie doch für ausreichende Regenfälle sorgen und für die Wiederherstellung eines aus dem Lot geratenen Kosmos wirken. Dazu mussten sie gut gestimmt werden , wozu die rituellen Opfer dienten. Geopfert wurden Nahrungsmittel , wobei ihnen stets die besten Stücke Fleisch und das qualitativ hochwertigste Bier als Opfer zuteil wurden. Der Ahnenkult basierte auf der Vorstellung , dass die Welt des Jenseits von den Lebenden mit Hilfe von Opfern und Ritualen manipuliert werden konnte ,4 was erklärt , warum die Xhosa eine bemerkenswerte Aufgeschlossenheit gegenüber religiösen Neuerungen zeigten , da sie Religion primär am Erfolg religiöser Handlungen maßen. Quer zur segmentären Grundstruktur der Patrilineages lag die stratifizierte Ordnung , derzufolge die Familien der Chiefs aus der Bevölkerung herausgehoben waren.5 Ihnen kam schon zu Lebzeiten eine besondere spirituelle Macht zu , die sich darin kundtat , dass der Chief über magische Mittel verfügte , mit deren Hilfe er Rivalen und Feinde besiegen konnte. Die herausragende Macht der Chiefs setzte sich von der Hierarchie des Diesseits ins Jenseits fort , denn die Ahnengeister der Chiefs galten als besonders wirkungsmächtig und häufig nahmen sie in der Geisterwelt eine zentrale Position ein. Sie wurden vom Rest der Bevölkerung mindestens ebenso verehrt wie die jeweils eigenen Vorfahren.6 Zwar kannten die Xhosa wie alle südlichen Nguni einen monotheistischen Schöpfergott , doch spielte er im religiösen Alltag keine Rolle ,7 weshalb es keine direkte Gottesverehrung und folglich auch keine Priester gab. Die sog. Sangomas waren Spezialisten entweder hinsichtlich der Krankheiten und ihrer Heilung oder im Hinblick auf schwarze Magie , da sie Hexen ausfindig machten. Im Zentrum der Xhosa-Weltordnung stand darum die Harmonie des Kosmos , dessen Störungen durch spirituell machtvolle Menschen über ihren Zugang zu den Ahnen beseitigt wurden , wobei der Mikrokosmos des menschlichen Körpers ähnlichen Prinzipien gehorchte wie der Makrokosmos. Die Gesellschaft als Welt der lebenden Menschen fiel auch in deren Verantwortung und häufig war die Herstellung einer sozialen Ordnung Voraussetzung für ein wirkungsvolles Eintreten der Ahnen.

4 5 6 7

Hammond-Tooke 1975 , S. 17. Dies betont besonders Hammond-Tooke 1985. Hammond-Tooke 1975 , S. 32. Gluckman 1937 , S. 132 f.

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Der koloniale Kontext Die Vereinigte Ostindische Kompanie hatte von den Generalständen der Niederlande neben dem Handelsmonopol für die Meere östlich des Kaps der Guten Hoffnung auch staatliche Hoheitsrechte übertragen bekommen. Die Kolonie an der Südspitze des afrikanischen Kontinents entstand aus einer Versorgungsstation für die Ostindiensegler der Kompanie. Abgesehen davon hatte die Kompanie kein Interesse an der Region , da es dort weder Gewürze noch andere Handelsgüter gab. Als kommerzielle Organisation war die VOC darauf bedacht , ihre Ausgaben für die Kolonie am Kap so niedrig wie möglich zu halten , was sich in einem Verwaltungsminimalismus , insbesondere im Landesinneren , niederschlug. Darum war die Expansionsdynamik der Kapkolonie kein staatlicher , sondern ein gesellschaftlicher Prozess , der von den Siedlern vorangetrieben wurde. Die Expansion der Kapkolonie nahm die Form einer Frontier , einer sich bewegenden Siedlungsgrenze an , wobei die neuere Forschung Frontier als Interaktionsraum zweier verschiedener Gesellschaften versteht , nämlich der Siedler und der indigenen Bevölkerung.8 Während die Khoi­ khoi-Bevölkerung aufgrund ihrer schwachen politischen Strukturen und nach mehreren Pockenepidemien in den Jahren 1713 , 1755 und 1763 , die bis zu 80 % der Bevölkerung das Leben gekostet hatten , vergleichsweise schnell unterworfen und in die Kolonialgesellschaft eingegliedert wurde , trafen die Siedler gegen 1780 im Osten der Kolonie auf die Xhosa. Die ersten Konflikte mit dieser bevölkerungsreichen bantusprachigen Ethnie wurden auf burischer Seite von sogenannten Kommandos ausgetragen , die nur höchst unzulänglich durch die wenigen Beamten im Osten der Kolonie kontrolliert werden konnten. Aus diesem Grund waren die ersten drei (1779–81 , 1789–93 und 1799–1803) von insgesamt neun Grenzkriegen von internen Konflikten der burischen Siedler mit diesen Beamten9 ebenso geprägt wie von Auseinandersetzungen der Xhosa untereinander , die in mehrere unabhängige Chiefdoms aufgeteilt waren. Die bessere Bewaffnung der weißen Siedler machten die Xhosa durch ihre viel größere Zahl und den baldigen Übergang zu einer effizienten Guerillastrategie wett , so dass von einer instabilen Machtbalance gesprochen werden kann. Während der ersten Kriege drangen burische Kommandos in das Land der Xhosa vor , ohne dass es zu großen Landgewinnen kam , während im Gegenschlag die Xhosa in breiter Front angriffen und panische Fluchtbewegungen 8 9

Marx 2010 u. 2003. Vgl. dazu die klassische Studie von Marais 1962.

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unter den Siedlern auslösten. Die Briten , die im Verlauf der Kriege gegen das revolutionäre und napoleonische Frankreich vorübergehend die Kapkolonie in ihre Gewalt gebracht hatten (1795–1803) , griffen zwar in die Kämpfe ein , aber zunächst nur in der Absicht , die streitenden Parteien auseinanderzuhalten und eine stabile Lage herbeizuführen. So weit die Quellen zurückreichen , sind vor dem 19. Jahrhundert keine Propheten bezeugt , weshalb man davon ausgehen kann , dass es sich um eine Innovation handelte , ein Resultat der Gewalterfahrung seit dem Vierten Grenzkrieg (1811 / 12). Die ersten drei Grenzkriege waren von der Frontier geprägt , wobei die für eine Frontier typische graduelle Überlegenheit der einen über die andere Seite noch kaum erkennbar war. Dies sollte sich grundlegend ändern , als Großbritannien sich nach Aufflammen der europäischen Kriege die Kapkolonie 1806 endgültig aneignete und um Sicherung der unruhigen Ostgrenze der Kolonie bemühte. Dabei legten die vor Ort tätigen Amtsträger Priorität auf eine ethnische Entflechtung dieser interkulturellen Kontaktzone , da sie nur darin die Gewähr erblickten , dauerhaft eine Befriedung herbeiführen zu können. Ihr Ziel war es , die Xhosa über den Great Fish River zu drängen , wobei , wie so häufig , mit Flüssen denkbar ungeeignete Grenzen gewählt wurden. Großbritannien hatte die Kapkolonie 1795 in einem präventiven Zugriff erobert , um zu verhindern , dass das revolutionäre Frankreich , mit dem es sich im Kriegszustand befand , sich des Gebietes an der Südspitze Afrikas bemächtigen und den Seeweg zur wichtigsten kolonialen Besitzung , nämlich Indien , bedrohen könnte. Nach der Wiederherstellung einer niederländischen Republik gab Großbritannien die Kolonie 1803 wieder zurück , nur um sie 1806 erneut zu erobern , als Napoleon die Niederlande zu einem Satellitenkönigreich unter seinem Bruder Louis machte. Der militärische Charakter der Besetzung blieb auch dann noch erhalten , als Großbritannien nach 1806 die Kapkolonie dauerhaft seinem Empire einverleibte. Seit dieser Zeit blieben bis zur Jahrhundertmitte die meisten Gouverneure hohe Armeeoffiziere , von denen etliche den konservativen High Tories nahe standen , die während der antinapoleonischen Kriege Großbritannien regierten. Gouverneur Sir John Cradock (1811–1814) etwa sah die Situation an der Ostgrenze der Kolonie primär als militärisch zu lösendes Problem und entsandte erstmals reguläre britische Truppen in eine Region , in der bislang nur burische Siedlermilizen , die „Kommandos“ der VOC-Zeit , gegen die zahlreicheren , aber nur mit Speeren bewaffneten Xhosa-Armeen gekämpft hatten. Die meisten britischen Soldaten , die nun zum Einsatz kamen , waren kriegserfahrene und entsprechend verrohte und brutalisierte Veteranen des Krieges auf der Iberischen Halbinsel.

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Versuche der Xhosa , zu einer gütlichen Einigung im Sinn einer freiwilligen Räumung der Region nach der Ernte zu kommen , lehnten die Briten rundweg ab und griffen an. Die Truppen gingen mit großer Brutalität vor , indem sie systematisch die Getreide- und Gemüsegärten der Xhosa vernichteten , teilweise die reifenden Früchte mit Bayonetten abschlugen , teilweise die Felder anzündeten. Vieh wurde in Richtung der Kolonie weggetrieben , die Menschen dagegen in die entgegengesetzte Richtung über den im Osten gelegenen Great Fish River , der nach den Vorstellungen der Briten die Grenzlinie bilden sollte. Die Soldaten konnten in dem von Gebüsch und Wäldern bedeckten Gelände oft Männer und Frauen nicht voneinander unterscheiden , gingen jedoch nach dem Motto vor : Zuerst schießen , dann genauer nachsehen. Auf diese Weise kamen viele Frauen und Kinder ums Leben ; doch die britischen Soldaten vergriffen sich auch an einzelnen Chiefs , etwa als sie den greisen Chungwa , der auf seinem Sterbebett lag , kurzerhand erschossen.10 Damit hatten sie zentrale Tabus der Xhosa verletzt , die deren Vorstellungen von zivilisierter Kriegführung diametral widersprachen. Das Vorgehen der Briten war in deren Augen ungeheuerlich , weil sie all das taten , was die Xhosa in den Kriegen , die sie untereinander oder gegen ihre Nachbarn führten , vermieden : Die Briten schonten weder Frauen noch Kinder , sie griffen die Lebensgrundlage der Xhosa an , sie brannten Häuser nieder und sie vergriffen sich an Chiefs.11 Zudem war das Ziel nicht wie in den Kriegen der Afrikaner und auch noch in den ersten drei Grenzkriegen , so viele Rinder des Gegners wie möglich zu erbeuten ,12 sondern in diesem Krieg ging es erstmals um Land. Die Vertreibung der Xhosa aus ihren Siedlungsgebieten war für sie eine gänzlich neue und überaus verstörende Erfahrung. Umgekehrt verstanden die Briten bestimmte Bräuche der Xhosa nicht , etwa wenn diese die Körper getöteter Feinde aufschlitzten , um dem Geist des Toten die Freiheit zu geben. Die Weißen interpretierten dies als barbarische Leichenfledderei , woraus sich ihre eigenen Brutalitäten rechtfertigen ließen.13 So kam ein Teufelskreis der wechselseitigen Barbarisierung in Gang , der zu immer exzessiveren Gewalthandlungen führte und schließlich im Cattle Killing der Jahre 1856–57 kulminierte.

10 Peires 1982 , S. 58. 11 Zum Kriegsgeschehen detailliert Maclennan 1986 , S. 110 ff. 12 Über die traditionelle Kriegführung und die Stellung der Chiefs s. Etherington 2001 , S. 14 u. 18 ff. 13 Peires 1982.

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Mit dem Vierten Grenzkrieg zeichnete sich eine grundlegende Veränderung der Situation ab und die Machtbalance verschob sich zugunsten der Weißen. Neben dem Einsatz britischer Truppen machte sich der moderne Staat auch in Gestalt einer allmählichen administrativen Verdichtung durch die Vermehrung der Zahl der Distrikte und der Beamten bemerkbar. In der Folgezeit waren die Xhosa mit einem modernen Staatsapparat konfrontiert , der in den Jahrzehnten nach 1811 seine Macht immer stärker durchsetzte.14 Die Kapkolonie war definitiv in dieser Zeit kein „Laboratorium der Moderne“,15 sondern es war im Gegenteil der bereits in Europa voll ausgebildete moderne Staat , der in die Kapkolonie als Modell exportiert wurde. Die ruchlose Vorgehensweise der Europäer ging einher mit der Abqualifizierung , ja geradezu Dämonisierung der Xhosa. Hatte der Forschungsreisende John Barrow sie noch 1797–98 als edle Wilde charakterisiert und positiv gegenüber den Buren abgesetzt , trübte sich dieses Bild in den folgenden Jahrzehnten rasch ein. 16 Für die Xhosa war die Konfrontation mit dem britischen Militär eine außerordentlich verstörende Erfahrung. Im Gegensatz zu anderen ethnischen Gruppen Südafrikas brachten nur sie Propheten hervor , so dass es nahe liegt , einen Zusammenhang zu ihren Kriegserfahrungen herzustellen , was in besonders dezidierter Weise der südafrikanische Historiker Jeffrey Peires unternommen hat , auf dessen empirische Arbeiten diese Ausführungen sich weitgehend stützen.17 Ob man wirklich so weit gehen kann wie Peires mit seiner Behauptung , die Xhosa-Chiefs seien nicht in der Lage gewesen , die Folgeprobleme der Vertreibung zu lösen , und darum hätte sich hier eine Chance für Propheten geboten ,18 mag dahingestellt sein. Zwar hat der Prophet Nxele durchaus aktiv gehandelt und die Kompetenzen eines Chief für sich beansprucht , als er mit seinem Kriegszug gegen die Weißen 1818 den Fünften Grenzkrieg einleitete , doch liegt seine Bedeutung vor allem in der Anpassung der Xhosa-Kosmologie auf Grundlage der jüngst gemachten Erfahrungen mit den Weißen.

14 Vgl. auch die Bewertung bei Giliomee 1989 , S. 448 f. 15 Angesichts der häufig in die Kolonien exportierten anachronistischen Gesetze und Verordnungen erscheint mir diese Formel ohnehin übertrieben , zumal die Rede vom Labor der Moderne in Verdacht gerät , dem Kolonialismus eine Art geschichtsphilosophischer Notwendigkeit zuzusprechen. 16 Vgl. dazu Marx 2004. 17 Vgl. insbesondere Peires 1979 , S. 53 f. 18 Peires 1982 , S. 66.

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Makana alias Nxele , der Linkshänder Nur wenige Jahre nach dem Vierten Grenzkrieg meldeten sich die ersten Propheten zu Wort. Während man durchaus von einer Eigendynamik der Prophetie sprechen kann , was die Inhalte der Prophezeiungen betrifft , darf nicht übersehen werden , dass sie auf die weitergehende Gewalteskalation reagierten. Die Xhosa waren schon früher für religiöse Innovation offen gewesen und hatten ganz pragmatisch diejenigen Rezepte übernommen , die am erfolgversprechendsten waren. Dies erklärt den Austausch gerade auf dem Gebiet des religiösen und medizinischen Heilens mit den Khoikhoi und den San. Eine besondere religiöse Begabung Einzelner manifestierte sich bei den Xhosa wie bei vielen anderen Völkern in auffallendem und abweichendem Verhalten , in unerklärlichen Krankheiten und körperlichen Deformationen oder allgemeiner konstitutioneller Schwäche während der Jugend.19 Oft war es ein Erweckungserlebnis in Form einer Vision , die sich als entscheidend dafür erwies , dass der Jugendliche dann tatsächlich zu einem religiös-medizinischen Spezialisten wurde. So geschah es auch bei Makana , der den Beinamen Nxele , der Linkshänder , erhielt. Kurz nach dem 4. Grenzkrieg fiel er durch seltsames Verhalten auf , in dessen Zentrum seine Ablehnung alles Unreinen stand , wohingegen er gegen Hexerei und „Blut“ predigte.20 Der junge Mann hielt sich geraume Zeit in der Nähe der neu eingerichteten weißen Garnisonen und Missionsstationen auf , wobei er ein ausgeprägtes Interesse an religiösen Fragen an den Tag legte. Durch Gespräche mit Missionaren erlangte er eine ziemlich genaue Kenntnis der christlichen Lehre und schien sich eine Zeit lang zu ihr bekehrt zu haben.21 Ab 1816 jedoch ging er auf Distanz zu den Missionaren und zur Welt der Weißen und begann die überkommene Kosmologie der Xhosa mit christlichen Versatzstücken anzureichern. Um die Xhosa zu überzeugen , sagte er eine Wiederauferstehung der Toten bei einem markanten Felsen in der Nähe der heutigen Stadt East London voraus. Obwohl die Prophezeiung sich nicht erfüllte , wuchs die Zahl seiner Anhänger in den folgenden Monaten dramatisch an , wobei Nxele sich in seinem Verhalten nun ganz wie ein religiöser Heiler aufführte und dem Christentum entschieden den Rücken kehrte. Bereits einige Jahre zuvor hatte er sich Chief Ndlambe angeschlossen , des19 Dies ist etwa für den Schamanismus an vielen Beispielen belegt : Eliade 1980 , S. 43 f. S. auch Lan 1985 , S. 49 ff. 20 Peires 1982 , S. 69. 21 Kropf 1889 , S. 3 f.

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sen jahrelange Auseinandersetzungen mit seinem Neffen und Rivalen Ngqika zur Uneinigkeit unter den Xhosa beigetragen hatte. Nxele transformierte die Erfahrung des Vierten Grenzkriegs in ein geradezu manichäisches Bild von den beiden Göttern , nämlich Thixo , dem Gott der Weißen , und Mdalidiphu , dem Gott der Schwarzen. Die Weißen hätten den Sohn ihres Gottes getötet und seien daraufhin aus ihrem eigenen Land aufs Meer vertrieben worden , um sich dann das Land der Afrikaner anzueignen. Nxeles Lehre zufolge würde es sich bald erweisen , dass Madlidiphu der mächtigere Gott sei , der die Weißen bestrafen würde. Er war davon so überzeugt , dass er als Anführer einer großen Armee die Garnisonsstadt Grahamstown angriff und den Weißen diese Attacke vorher sogar ankündigte.22 Damit verband er , Thomas Pringle zufolge , die Prophezeiung von der Auferstehung der Ahnen : „Er habe Macht , die Geister ihrer Vorfahren aus dem Grabe emporzurufen , um ihnen im Kampfe gegen die Amanglezi [Engländer] beizustehen , welche sie ohne anzuhalten über den Swartkopsfluss und in das Meer treiben würden.“23 Nachdem die Weißen ihn aber zurückgeschlagen hatten , lieferte er sich selbst aus , um sein Volk vor Racheaktionen zu bewahren , und wurde auf die Gefängnisinsel Robben Island verschleppt , wo er einige Jahre später bei einem Fluchtversuch ertrank.24 Während in Nxeles Prophezeiung der Kampf der beiden Götter im Zentrum stand , spielte dennoch die Auferstehung von den Toten bereits eine nicht unbeträchtliche Rolle , wie sein erfolgloser Versuch der Totenerweckung gezeigt hatte. Dies war sicherlich eine Reaktion auf die im Vergleich zu früheren Kriegen große Zahl an Kriegstoten in den Jahren 1811 / 12.25 Es hatte aber auch viel mit der Vorstellung von Reinheit und den Umtrieben des Bösen zu tun , das sich innerhalb der Xhosa-Gesellschaft vorwiegend als Hexerei manifestierte. Die größte Form von Unreinheit war mit dem Tod verbunden , weshalb nach einem Todesfall umfangreiche Reinigungsrituale notwendig wurden. Wie im Zusammenhang mit dem Cattle Killing noch erkennbar wird , hatte das Meer mit der Welt der Toten zu tun , woraus sich auch erklärt , warum die südlichen Bantuvölker das Meer weder befuhren noch Seefisch aßen. Der britische Kapitän Owen , der in den 1820er Jahren eine Vermessung der afrikanischen Küsten vornahm , nahm einen Xhosa auf seinem Schiff mit und be-

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Siehe dazu Maclennan 1986 , S. 190 ff. Pringle 1836 , S. 270. Peires 1982 , S. 69 ff. Zur älteren Form der Kriegführung s. ebd. , S. 135 ff.

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richtet , dass dieser vor Angst schlotternd an Bord stand.26 Wenn der Gott der Weißen diese aus ihrem Land vertrieb und aufs Meer jagte , so ist hier ebenfalls eine Konnotation mit dem Totenreich sichtbar und das Verhalten der Weißen gegenüber den Xhosa ließ unübersehbar werden , dass sie mit den Mächten des Bösen verbündet waren. Sie ermordeten massenhaft Xhosa , wobei sie sich nicht an die Grundregeln zivilisierter Kriegsführung hielten , sondern unerhörte Verbrechen begingen. Dafür wurden sie aber nicht zur Rechenschaft gezogen , sondern im Gegenteil , sie schritten von Erfolg zu Erfolg. Darum war eine neue Erklärung notwendig , die Möglichkeiten eröffnete , der Gewalt der Weißen neue Macht entgegenzusetzen. Während die Missionare Nxele meist als einen verschlagenen Lügner darstellten , der sein Volk aus eigennützigen Motiven zum besten hielt , findet sich eine erstaunlich positive Bewertung bei einem Autor , der selbst erst zwei Jahre nach dem Fünften Grenzkrieg südafrikanischen Boden betrat. Thomas Pringle war der Anführer einer schottischen Einwanderergruppe , die sich mit den sogenannten 1820 Settlers , einer vom britischen Staat organisierten Immigration , im Osten der Kolonie niederließ. In Südafrika war er als Journalist tätig und legte sich mit dem autokratischen Gouverneur Charles Somerset an , als dieser seine Zeitschriften verbieten ließ. In späteren Jahren wurde Pringle , der nach Großbritannien zurückkehrte , Sekretär der Antislavery Society. Seine offensichtlich liberale und humanitäre Grundhaltung kommt auch in einem Bericht über seinen Südafrikaaufenthalt zum Ausdruck , der im Jahr 1836 auch in einer deutschen Übersetzung erschien. Pringle stellte Nxeles Handlungsweise als völlig legitim dar und präsentierte den Propheten als einen durchweg ehrenwerten und von lauteren Motiven inspirierten Menschen , der nur das Beste für sein Volk wollte. Er stellte auch erstmals eindeutig die Verbindung zwischen seiner Wirksamkeit als Prophet und der vorangehenden Gewalterfahrung her. „Die Folgen dieser Politik [der Briten] zeigten sich bald. Die große Mehrzahl des Amakosa-Stammes wurde nicht nur durch einen so unveranlassten Einfall muthwilliger Weise erbittert , sondern völlig zur Verzweiflung gebracht , da Tausenden von ihnen jedes Unterhaltsmittel fehlte.“27

26 Owen 1968 Bd. I , S. 147 f. und 142 : „These people have an extraordinary dislike to trust themselves on the water.“ 27 Pringle 1836 , S. 267 ff.

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Ntsikana Gegenüber der starken Wirkung Nxeles blieb sein Widersacher und Rivale Ntsikana eine deutlich inferiore Figur. Er fand jedoch in der Literatur eine ungleich größere Aufmerksamkeit , da er sich dem Christentum in affirmativer Weise näherte und ihm darum in den Schriften der christlichen Missionare wohlwollende Beachtung zuteil wurde , zumal sich seine Prophetie als eine erbauliche Konversionsgeschichte darstellen ließ , während Nxele als „Lügenprophet“ apostrophiert wurde.28 Ntsikana ist für das vorliegende Thema von geringerem Interesse , da seine Prophetie nicht als Reaktion auf die koloniale Gewalterfahrung zu verstehen ist. Tatsächlich lässt sich sogar fragen , ob es sich überhaupt um eine Prophetie handelte , da Ntsikana eher ein Propagandist des Christentums war , ohne selbst konvertiert zu sein. Denn bei ihm fehlt die Einpassung christlicher Elemente in die Xhosa-Religion und die daraus gewonnene Prophetie. Vielmehr beschränkte er sich weitgehend darauf , zentrale Elemente der christlichen Botschaft ohne vermittelnde Elemente zur Xhosa-Religion zu verkünden. Sein Auftreten lässt sich weitgehend als Antwort auf Nxele interpretieren , wofür auch spricht , dass er bei dem von Nxele bekämpften Ngqika Unterschlupf und Schutz fand. Seine Botschaft einer allmählichen Annäherung an das Christentum spiegelt die politische Haltung seines fürstlichen Beschützers wider , der ebenfalls eher in der Anpassung und Kooperation mit den Weißen seine Macht zu festigen suchte als in der Gegnerschaft.29 Ntsikana und Nxele bezogen sich aufeinander , sie repräsentieren die Bandbreite der kulturellen Innovation , denn beide gingen in jeweils entgegengesetzte Richtungen. Während Nxele dem Christentum bestimmte Elemente entnahm , die er in den kulturellen Wertekosmos der Xhosa einfügte und ihn damit dynamisierte , vertrat Ntsikana eine kulturelle Assimilation der Xhosa an die Welt der Weißen , wie sie sich einige Jahre später in Gestalt der Missionskirchen und der neuen christlichen Bildungselite entwickeln sollte.

28 Kropf 1889 und s. insbesondere die rührselige Darstellung von Ntsikanas Tod : Kropf 1891 , S. 19 ; Bokwe 1914 ; der South African Native Congress , eine Vorläuferorganisation des 1912 gegründeten Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) , der im Wesentlichen von der christlichen Bildungselite unter den Afrikanern getragen wurde , bezog sich noch 1909 auf Ntsikana : Odendaal 1984 , S. 162. 29 Peires 1982 , S. 72 ff.

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Der Mord an Hintsa Eine weitere Eskalationsstufe wurde mit dem Sechsten Grenzkrieg von 1834 /  35 erreicht , ausgelöst abermals durch angebliche Rinderdiebstähle der Xhosa. Gouverneur Benjamin D’Urban (1834–38) entwickelte die fixe Idee , der weit entfernt vom Geschehen lebende Xhosa-König Hintsa sei der eigentliche Drahtzieher. Hintsa erschien unter Zusicherung freien Geleits zu Verhandlungen und wurde dann bei einem Fluchtversuch erschossen , seine Leiche wurde von Soldaten zusätzlich verstümmelt.30 Die Demütigung der Chiefs und die Entwürdigung des toten Königs destabilisierten die Gesellschaft der Xhosa weiter , da mit diesem Krieg die bis dahin sakrosankten Chiefs in einer Weise behandelt wurden , wie sie für die Xhosa unvorstellbar gewesen war. Alle Chiefs waren mehr oder wenig eng miteinander verwandt , denn alle gehörten dem patrilinearen Tshawe-Clan an. Die Zugehörigkeit zu den Xhosa ergab sich demzufolge aus der Loyalität gegenüber einem Mitglied dieses Clans , d. h. die Xhosa waren als Ethnie keine Kultur- und auch keine Abstammungsgemeinschaft , sondern ein politisch verfasstes Gemeinwesen.31 Die zentrale Stellung der Chiefs in diesem Gemeinwesen schändeten die Briten auf eine Weise , die den Zusammenhalt der Gesellschaft insgesamt in Frage stellte. Dies stärkte wiederum den Einfluss der Propheten. Allerdings dämpfte die britische Regierung den Konflikt für die folgenden zehn Jahre , als sie den eigenen Gouverneur zwang , das unter dem Namen Queen Adelaide Province annektierte Gebiet der Rharhabe-Xhosa , der im Westen lebenden Gruppe , wieder zurückzugeben.32 Außerdem folgte sie einem Vorschlag des ehemaligen Landdrost der Grenzregion Graaff-Reinet , Andries Stockenström , der statt auf Gewalt zu setzen ein System wechselseitiger vertraglicher Verpflichtungen zur Verfolgung von Rinderdieben vorschlug , da angeblicher oder wirklicher Rinderdiebstahl der Hauptgrund für gewalttätige Auseinandersetzungen gewesen war.33 Dieses System funktionierte einige Jahre ganz zufriedenstellend , was zeigt , dass den Xhosa an einer berechenbaren Situation gelegen war. Es waren vielmehr der düpierte Gouverneur D’Urban , seine Offiziere und die seit 1820 im Osten der Kolonie lebenden britischen 30 Etherington 2001 , S. 232 f. 31 Siehe dazu bes. Hammond-Tooke 1985 u. besonders deutlich ders. 1992 ; Etherington 2001. 32 Macmillan 1963 , S. 173 ff. 33 Hutton 1964 , Bd. 2 : S. 29 ff. ; Keegan 1996 , S. 149 f.

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Siedler , die das System nach Kräften unterminierten ,34 bis die Lage so destabil war , dass es 1846 /  47 zu einem erneuten Krieg kam , dem nur wenige Jahre später (1850–53) der blutigste von allen folgte. Mit dem Zusammenbruch des stockenströmschen Systems begann 1846 ein Dauerkonflikt , der einen Neuaufschwung der Kriege und der darauf antwortenden Propheten zur Folge hatte. Hinzu kam das unberechenbare Verhalten des cholerischen neuen Gouverneurs Sir Harry Smith , der die Xhosa-Chiefs öffentlich demütigte , indem er sie zwang , ihm die Stiefel zu küssen.35

Mlanjeni Mlanjeni ähnelte in seinem Verhalten wie in den Inhalten seiner Prophezeiungen seinem Vorgänger Nxele. Er war ein junger Mann von etwa 18 Jahren , als er zu lehren begann. Schon in früher Jugend hatte er sich aus einer Welt , die ihm durch und durch unrein erschien , zurückgezogen und lebte eine Art halbamphibisches Leben , indem er endlose Zeit in einem Wasserbecken am Keiskammafluss verbrachte. Er griff die Lehren Nxeles wieder auf und wurde von einigen sogar als dessen Reinkarnation betrachtet. Allerdings verlor Nxeles dichotomische Lehre vom weißen und schwarzen Gott bei Mlanjeni die klare Entgegensetzung und die Identifizierung des Feindes. Stattdessen bezog sich Mlanjeni allgemeiner auf das Böse (ubuthi) , das die Welt vergiftete. Der Makrokosmos war aus seiner harmonischen Ordnung geworfen und nur der Sieg über das Böse konnte sie wiederherstellen. Ein entscheidendes Ereignis , das Mlanjeni in dunklen Andeutungen ankündigte , konnte erst nach diesem Sieg eintreten , womit den Menschen die Aufgabe zugewiesen wurde , das Böse auszurotten. Doch folgte daraus kein allgemeiner Aufruf zur Jagd auf Hexen , sondern Mlanjeni griff den weiteren , allen offenbaren Übelstand der inneren Spaltung der Xhosa und ihrer Uneinigkeit auf und verband dies mit dem Kampf gegen das Böse. Um die innergesellschaftliche Harmonie wiederherzustellen , war es notwendig , die Hexen zu identifizieren , aber nicht , um sie zu töten , sondern um sie zu heilen. Dies war eine echte Innovation , denn bislang galt die Affizierung eines Menschen mit dem Bösen als unauslöschlich , was es erlaubte , diesen Menschen außerhalb der Rechtsordnung zu töten. Mlanjeni ließ alle , die sich vom Verdacht der Hexerei befreien wollten , zwischen zwei 34 Lester 2001 , S. 143 ff. 35 Peires 1982 , S. 165.

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Pfosten , die eine Tür symbolisierten , hindurchlaufen. Hexen schreckten davor zurück wie Vampire vor einem Kreuz , woraufhin sie von Mlanjeni gemeinsam mit der versammelten Menge einem Reinigungsritual unterzogen wurden und anschließend das Tor problemlos passieren konnten.36 Entscheidend dabei ist , dass Hexerei geheilt werden konnte wie eine Krankheit und dass diese Heilung von allen Versammelten vollzogen wurde und damit ihrerseits gemeinschaftsstiftend wirkte. Der Exorzismus des Bösen heilte auf diese Weise die Gemeinschaft der Menschen und schuf die Grundvoraussetzung für eine Regenerierung der kosmischen Harmonie. Der überwältigend starke Zuspruch , den Mlanjeni für diese Maßnahmen erfuhr und der seinen Prophetenstatus noch weiter stärkte , ist auf dreierlei zurückzuführen. Erstens war jedem klar , dass die Chiefs die Hexereivorwürfe benutzten , um lästige Rivalen loszuwerden oder Gegner auszuschalten. Der instrumentelle Charakter der Hexereivorwürfe lag offen zutage , so dass sich die Maßnahme Mlanjenis als eine populäre Ermächtigung gegen die Chiefs interpretieren lässt. Zweitens war möglicherweise der Glaube nicht so weit verbreitet , dass Hexen für immer verdammt waren , sonst hätte Mlanjeni mit seiner Therapiemethode keine Resonanz gefunden. Drittens macht die Zustimmung deutlich , dass es um mehr ging als darum , einige Individuen zu retten und wieder in die Gemeinschaft zu integrieren. Vielmehr ging es um die Gemeinschaft selbst , die seit der Rivalität zwischen Ngqika und Ndlambe von tiefsitzenden Feindschaften durchzogen und gegenüber den Weißen geschwächt war. Die von Pringle wiedergegebene Rede eines Xhosa-Chiefs an die Weißen dokumentiert eindrucksvoll , dass die Xhosa klar erkannt hatten , dass die Weißen die Uneinigkeit unter ihren Chiefs nutzten , um ihre eigene Macht zu erweitern. Insbesondere Ngqika wurde von vielen als eine Art Verräter betrachtet , der sich den Weißen angebiedert und übergeordnete Interessen aller Xhosa seiner eigenen Machtsteigerung und persönlicher Bereicherung untergeordnet hatte.37 Noch in den Jahrzehnten nach seinem Tod setzte sich die Spaltung der Xhosa-Gesellschaft fort , die nun durch die allmähliche Teilung in Christen und Nichtchristen eher noch vertieft wurde. Der Exorzismus der Hexerei bewirkte eine Reinigung der gesamten Gesellschaft , denn Hexen standen für ungebundenen Individualismus , für die Überschreitung aller sozialen Normen. Indem man Hexen in die Gesellschaft zurückholte , erfuhr die Gesellschaft als Ganze Reinigung und Heilung , sie ge36 Die Informationen zu Mlanjeni beziehe ich aus Peires 1989 , S. 1 ff. 37 Pringle 1836 , S. 274 f.

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wann neue Macht. Dadurch aber wurden große Erwartungen geweckt , denn ein Mann , der das Böse aus den Menschen exorzieren konnte , musste jemand sein , der auch die Welt wieder ins Lot zu bringen imstande war. Tatsächlich wurde Mlanjeni für viele Xhosa zu einer messianischen Gestalt , weil sie sich an die Prophezeiungen Nxeles vom Gott der Schwarzen erinnerten. Seine Anweisungen , Rinder zu töten , trugen zusammen mit der Aggressivität des bombastischen Draufgängers Harry Smith als Gouverneur zu einer raschen Eskalation bei. Doch schnell stellte sich heraus , dass Mlanjenis Prophezeiung , die Kugeln der Briten würden sich in harmloses Wasser verwandeln , nicht eintraf. Der nach dem Propheten benannte Krieg zog sich über drei Jahre hin und wurde der blutigste Konflikt des 19. Jahrhunderts im südlichen Afrika. Immerhin gelang es dem überragenden Strategen Maqoma , mit nur 200 Kriegern eine britische Armee von ca. 4.000 Mann über Monate in den unzugänglichen Amatolabergen zu bekämpfen.38 Letztlich zwangen die Strategie der verbrannten Erde und ein erbarmungsloser Terror der Armee die Xhosa in die Knie. Damit wurden die grundlegenden Probleme , nämlich Landverlust , Hunger und Autoritätszerfall der Chiefs , nur noch verschlimmert. So war es wenig überraschend , dass neue Propheten wieder viele Gläubige fanden.

Das Cattle Killing Bestimmte Grundaussagen waren seit Nxeles erstem Auftreten immer wieder in den Prophezeiungen aufgetaucht , wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung und Kontextualisierung : die Auferstehung der Toten , das Schlachten der eigenen Rinder , die Ausrottung bzw. Heilung von Hexerei. Gleichzeitig wurden die Propheten immer jünger , was als krisenhaftes Zeichen gelesen werden kann in einer Gesellschaft , in der die Weisheit der Alten , die im Ahnenkult noch überhöht wurde , offenbar keine Antworten auf die dringenden Probleme der Gegenwart mehr hatte. Die Tatsache , dass ältere Männer , gar der Xhosa-König Sarhili , an die Prophezeiungen glaubten , ist ein deutlicher Hinweis auf das verbreitete Bewusstsein einer tiefen Krise.39

38 McKay 1970 , S. 178. 39 Demgegenüber hat Stapleton 1994 , S. 179 behauptet , das Cattle Killing sei eine Art Bauernaufstand gegen die Macht der Chiefs gewesen , eine Ansicht , in der ihm aber , soweit ich sehe , bislang niemand gefolgt ist.

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Der Ethnologe Max Gluckman stellte fest , dass die Bantugesellschaften entweder einen Ort für die Toten definieren im Sinn eines sozialen Status , durch den sie in die Gesellschaft funktional eingebunden bleiben (Ahnenkult) , oder dass es eine klare Beschreibung des Wegs eines Toten ins Jenseits gibt , aber nie beides gleichzeitig.40 Da die Xhosa einen Ahnenkult betrieben , blieb der Weg ins Jenseits unerklärt. Diese Leerstelle konnte die Prophetie von der bevorstehenden Wiederauferstehung füllen und dies erklärt ihre starke Resonanz bei den Xhosa , die über Krankheiten und Krieg so viele Angehörige verloren hatten , allen voran der König Sarhili , dessen Vater Hintsa von den Briten ermordet worden war. So hatte die Übernahme des Glaubens an eine Auferstehung der Toten für viele Xhosa etwas außerordentlich Verlockendes. 1856 wurden die Elemente früherer Prophezeiungen von einer Prophetin im Rahmen einer neuen historischen Herausforderung erneut figuriert , was fatale , ja katastrophale Folgen für die Xhosa haben sollte. Nxele hatte mit seiner Lehre von den beiden Göttern und der Schuld der Weißen als Mörder des weißen Gottessohns eine neue moralische Welterklärung im Sinn eines Feindbildes geliefert , die als direkter Impuls zu politisch-militärischem Handeln diente. Die erforderliche Eigenleistung der Xhosa beschränkte sich auf den Glauben an seine Prophezeiungen. Unter seinen Nachfolgern nahmen die Forderungen an die Opferbereitschaft der Xhosa als Voraussetzung für das Eintreten der Prophezeiung ständig zu. Dies hatte aber auch damit zu tun , dass der Inhalt der Prophezeiungen selbst immer mehr aus dem überkommenen Weltbild der Xhosa heraustrat. Je phantastischer also die Prophezeiung , desto größer die Herausforderung an die Bevölkerung , sich als wahre Gläubige zu beweisen. Im April 1856 begegnete die etwa 15jährige Nongqawuse in der Nähe einer Flussmündung zwei Männern , die sich ihr vorstellten mit den Namen längst Verstorbener und verkündeten , „that the whole nation will rise from the dead if all the living cattle are slaughtered because these have been reared with defiled hands , since there are people about who have been practising witchcraft.“41 Diese Vision wurde wiederholt und im folgenden ausgeschmückt sowie von Nongqawuses Onkel Mhlakaza alias Wilhelm Goliat bestätigt.42 Nongqawuse und Mahlakaza ergänzten und stabilisierten 40 Gluckman 1937 , S. 125 u. 127. 41 Zit. nach Peires 1987 , S. 43. Die ausführlichste Darstellung der Prophetie und des folgenden Cattle Killing findet sich bei Mostert 1992 , S. 1181 ff. 42 In der Folgezeit wurde Mhlakaza zu einem kriminellen Betrüger stilisiert , während Nongqawuse als von ihm manipuliert dargestellt wurde , s. bereits Kropf 1889 , S. 9 ff.

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einander in den Prophezeiungen , die dadurch eine stärkere Kohärenz und Überzeugungskraft erhielten. Mlanjeni hatte verlangt , bestimmte Rinder zu schlachten , die von ihrer Farbe her mit den Briten assoziiert und von ihm zu Trägern von Unreinheit erklärt wurden. Nongqawuse radikalisierte diese Forderung , indem sie als Wunsch der Ahnen bekannt gab , dass die Xhosa sämtliche Rinder schlachten mussten , um die Wiederkehr der Ahnen herbeizuführen. Die Botschaft verbreitete sich schnell , was bereits ein Hinweis darauf ist , dass die Bevölkerung nach dem verheerenden Krieg für jede hoffnungsvolle Botschaft aufgeschlossen war. Während des Cattle Killing nahmen die Forderungen der Prophetin Nongqawuse ein Ausmaß an , die ihre Befolgung nur noch mit der Erfahrung einer Ausnahmesituation erklären lassen. Jeff Peires hat die Forderung nach dem Schlachten der Rinder als Reaktion auf eine neue Rinderseuche erklärt. Die offenbar mit einem Schiff eingeschleppte Lungenkrankheit war hoch ansteckend , doch traten die Symptome bei den Tieren erst auf , wenn sie bereits todgeweiht waren. Quarantänemaßnahmen , die die Xhosa ergriffen , zeigten darum nicht immer Wirkung , da viele Tiere bereits angesteckt waren. Die Botschaft von Nongqawuse , das Schlachten aller Rinder sei die Voraussetzung für die Wiederauferstehung der Ahnen , die neue gesunde Rinderherden mitbringen würden , hatte daher durchaus Verlockendes für eine Bevölkerung , der die Krankheit nur als ein Symptom mehr für eine zerrüttete Weltordnung erscheinen musste. Nongqawuses Prophetie knüpfte an gängige Quarantänemaßnahmen sowie prophylaktische Rinderschlachtungen zur Seuchenbekämpfung an und bewegte sich damit in bereits bekannten Mustern. Während die Prophetien hinsichtlich der Art der verlangten Opfer nicht über bereits Bekanntes hinausgingen , so war doch die Radikalität der Forderungen und der Umfang der Rinderschlachtungen neu und ein Zeugnis der Verzweiflung. Während die Mittel zur Erreichung des Ziels maßloser wurden , blieb die Prophetie hinsichtlich ihrer Zielsetzung im Rahmen der Lebens- und Erfahrungswelt , da die Zeit vor der Ankunft der Weißen als goldenes Zeitalter restituiert werden sollte. Das Ungeheuerliche der Prophetien lag vielmehr in der Verbindung dieser eigentlich konservativen Zielsetzung mit der Auferstehung der Toten , einer Revolutionierung der Vorstellungswelten. Etwa 400.000 Rinder wurden von den Xhosa geschlachtet , wobei sich etwa 85 % der Bevölkerung beteiligten , d. h. eben nicht alle. Jeff Peires hat in einer genauen Untersuchung nachweisen können , dass diejenigen Chiefs und ihre Anhänger , die intensiven Kontakt zu christlichen Missionaren pflegten und sich der Werteordnung des Christentums gegenüber aufgeschlossen zeigten ,

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wenn sie nicht sogar schon konvertiert waren , gegenüber den Prophezeiungen Nongqawuses resistent blieben. Man könnte dies als die Kontinuitätslinie bezeichnen , die seinerzeit von Ntsikana begründet worden war , nämlich das Christentum zu akzeptieren und in die neue Glaubenswelt Teile der alten einzupassen. Doch ganz so einfach war es nicht , da Mhlakaza , der Onkel Nongqawuses , der den weißen Machthabern als der eigentliche Übeltäter und Manipulator seiner unbedarften Nichte galt , offensichtlich längere Zeit unter dem Namen Wilhelm Goliat bei dem anglikanischen Bischof Merriman gelebt hatte und die christliche Lehre gut kannte.43 Auf der anderen Seite übernahmen die Xhosa nicht einfach die Lehre von der Wiederauferstehung , sondern Nongqawuses Prophezeiung lief auf eine Neuerschaffung der Welt im kosmologischen Verständnis der Xhosa hinaus.44 Wie dem auch sei , festzuhalten ist jedenfalls , dass diejenigen , die über die christliche Lehre eine alternative Welterklärung parat hatten , den Prophezeiungen keinen Glauben schenkten , wobei Ntsikana wegen der Neuheit der christlichen Botschaft noch auf wenig Gehör stieß. Eine Generation später während des Cattle Killing war das Christentum soweit vertraut und bereits adaptiert , dass es das Weltbild der von ihm beeinflussten Xhosa bereits hinreichend verändert hatte. Hinzu kommt , dass die Verheißung von Nongqawuse , nämlich die Wiederkehr der Ahnen , als Lehre von der Wiederauferstehung zum Kernbestand der christlichen Heilslehre zählte und von dort in die Kosmologie der Xhosa neu aufgenommen worden war. Diejenigen , die dem Christentum aufgeschlossen gegenüber standen , hatten darum keine Veranlassung , Nongqawuse zu folgen. Interessanterweise setzte die Teilung in Gläubige (gegenüber Nongqawuses Prophezeiung) und die ca. 15 % Ungläubigen die früheren Spaltungen zwischen Ndlambe und Ngqika sowie ihren Propheten Nxele und Ntsikana fort.45 Die Prophetie von Nongqawuse und Mhlakaza entfaltete nun eine fatale Eigendynamik , die Vorhersagen eignet , wenn sie nicht eintreffen. Der Grund für das Ausbleiben der Ahnen konnte nur im unvollständigen Vollzug der sie voraussetzenden Leistung der Bevölkerung bestehen : Es waren nicht alle

43 Allerdings gab es zur Identität von Mhlakaza alias Wilhelm Goliat in der jüngeren Zeit neue Kontroversen , die aber für den vorliegenden Zusammenhang von untergeordnetem Interesse sind : vgl. Boniface Davies 2007 , Wright 2008 , Peires 2008. 44 Peires 1987 , S. 54. 45 Peires 1986 , S. 447 f. Bereits Kropf 1889 , S. 10 spricht von den weichen Gläubigen und den harten Ungläubigen.

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Rinder geschlachtet worden. Dies brachte die Gläubigen und Ungläubigen in eine sich immer mehr verschärfende Konfrontation , da die Ungläubigen ihre Lebensgrundlage keinesfalls zu opfern bereit waren. Damit aber brach das Versprechen , das Mlanjeni nur wenige Jahre zuvor mit seinem Exorzismus gegeben hatte , in sich zusammen. Die Gesellschaft der Xhosa war Mitte der 1850er Jahre stärker uneins als jemals zuvor. Eine zweite Möglichkeit für erfolglose Propheten liegt darin , neue Forderungen auf die alten aufzusatteln und neue Termine für die Wiederauferstehung anzugeben , was Nongqawuse auch bald unternahm , als sie verkündete , die Ahnen verlangten auch die Vernichtung des Getreides. Damit wurde die gesamte Gesellschaft in das Selbst­ opfer als Voraussetzung für die Befreiung hineingezogen , da außer den Rindern als Reichtum und Machtressource der Männer nun auch die von Frauen erwirtschaftete Ernährungsgrundlage vernichtet werden musste. Das Ergebnis war verheerend , denn ca. 40.000 Menschen verhungerten und der Gouverneur der Kapkolonie , Sir George Grey , nutzte die günstige Gelegenheit , die westlichen Xhosa in die Kolonialgesellschaft der Kapkolonie einzugliedern , indem er ihre Chiefs entmachtete , da er sie für die Hauptübeltäter hielt.46 Gleichzeitig konnte er damit sein radikales Assimilierungsprogramm im Sinn einer Zivilisierungsmission umsetzen.47 Die Tragödie der Xhosa war also keineswegs auf Irrationalismus zurückzuführen oder , wie Elias Canetti das Cattle Killing interpretierte , auf den Willen des Xhosa-Königs Sarhili , sein eigenes Überleben vor dem Untergang seines Volkes zu zelebrieren.48 Vielmehr geht es um die Kulmination der sich wechselseitig verstärkenden Eskalation von Gewalterfahrung und Prophetie. Neue Erklärungsmuster wurden in das überkommene Weltbild eingepasst , dies wurde erweitert , aber nicht gänzlich ersetzt. Daraus ließ sich eine neue Orientierung in einer veränderten Welt gewinnen und Macht schöpfen , so konnten Handlungsmöglichkeiten zurückgewonnen werden. Im Kontext einer sich radikal verändernden Frontier-Situation reagierten die Xhosa auf die Erfahrung der Kriegsgewalt : Sie fingen gewissermaßen verstörende Ereignisse als kontingente in ihr Weltbild ein , um Zukunftshandeln

46 Peires 1989 , Kap 7. 47 Dies hatte auf Seiten der Xhosa eine Verschwörungstheorie zur Folge , in deren Zentrum Grey stand , der seinerseits eine Verschwörung der Chiefs sah. Zu gegenwärtigen Perspektiven der Xhosa auf das Cattle-Killing s. Peires 1990. 48 Canetti 1981 , S. 214–222 , hier bes. S. 222.

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zu ermöglichen.49 Es war keineswegs so , dass Kontingenz im Weltbild der Xhosa nicht vorgekommen wäre , denn die religiösen Antworten auf schwarze Magie sowie die Funktion der Ahnen bei der Wiederherstellung harmonischer Verhältnisse weisen ja gerade darauf hin , dass die Möglichkeit , die Dinge könnten aus dem Lot geraten , als stets vorhanden gesehen wurde. Gleichwohl war die traumatische Gewalterfahrung der Grenzkriege für die Xhosa etwas so Unerwartetes und in ihrem Ausmaß , in ihrer Regelverletzung etwas derart Unerhörtes , dass neue Lösungen gefunden werden mussten. Kontingenz enthält ein gewisses Maß an Berechenbarkeit , da unerwartete Ereignisse immerhin für möglich gehalten werden können. Um aber das gänzlich Unbegreifliche , das außerhalb jedes Erwartungshorizonts lag , als kontingent wahrnehmen zu können , musste es zunächst in einen schlüssigen Erklärungszusammenhang gebracht , in das Weltverständnis eingebunden werden. Mehrere aufeinander folgende Propheten verlangten soziale und kulturelle Innovationen als Voraussetzung für die Erfüllung ihrer Vorhersagen. Dabei radikalisierten sich ihre Forderungen wie die Vorhersagen im Verlauf der Eskalation an der Frontier. Diese Situation war durch zweierlei gekennzeichnet , einerseits den fortschreitenden Landverlust mit allen Folgen von Hungersnot , kleiner werdenden Parzellen und schrumpfender Macht der Chiefs , die kein Land mehr verteilen konnten. Auf der anderen Seite war es die Eskalation im Verhalten der Gegenseite , nämlich die fortgeführten Tabubrüche , die mit immer größerer Brutalität verbunden waren. Hannah Arendt hat die Begründung staatlicher Macht aus Gewaltverhältnissen kritisiert und statt dessen eine klare Unterscheidung , ja Entgegensetzung von Macht und Gewalt gefordert , um die analytischen Möglichkeiten durch eine präzise Begriffsbestimmung zu schärfen. Ihre Differenzierung kann zu einem Verständnis des Zusammenhangs von Gewalterfahrung und Prophetie wesentlich beitragen. Denn Gewalt ist ihrem Verständnis zufolge stets instrumentell und auf Handeln in der unmittelbaren Zukunft ausgerichtet , wohingegen Macht die Vergangenheit als Ressource ihrer Legitimation nutzt.

49 Hammond-Tooke 1975 , S. 17 hält es für möglich , dass das Konzept Gott bei den Xhosa als eine Personalisierung des Zufalls gelten kann , wobei er mit Zufall offenbar Kontingenz meint : „Chance is ruled out in the logic of witch-caused or ancestrally caused misfortune , but there is some evidence that reference to uThixo is used as a last resort at the limits of man’s explanatory powers.“ Freilich ist nicht klar , ob dies möglicherweise ein Ergebnis der Prophetien oder gar deren Voraussetzung war.

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Macht kann nur gewonnen werden , wenn die Zukunft berechen- und kalkulierbar ist. Während Gewalt reines Mittel zum Zweck ist , mit der inhärenten Tendenz , dass die Mittel diesen Zweck „überwältigen“ und sich solchermaßen verselbständigen , ist Macht ihrer Definition zufolge stets die Macht sozialer Gruppen , während Autorität und Stärke eher als individuelle Eigenschaften gefasst werden.50 Macht ist darum auch keineswegs mit Herrschaft gleichzusetzen. Das sind wichtige Differenzierungen , wenn es darum geht , die Verbindung der Prophetie mit dem Charisma des Propheten zu verstehen. Dabei geht es gerade nicht um charismatische Herrschaft im Weberschen Sinn , sondern Charisma ist die Quelle für eine Gegenmacht. Emile Durkheim hat das Charisma aus dem Gleichklang der Nöte , Wünsche und Ziele bei dem prophetischen Individuum und seinen Anhängern erklärt : „Es spricht nicht mehr der einzelne , sondern die verkörperte und personifizierte Gruppe.“51 Charisma ist , um Arendts Begrifflichkeiten anzuwenden , zunächst die persönliche Autorität des Propheten , die er durch seine Glaubwürdigkeit erwirbt. Aufgrund dieser Autorität kann er zur Quelle einer Gegenmacht gegen die vordringenden Weißen werden , weil er Antworten auf bis dahin unlösbare Fragen hat. Die Resonanz , die er bei seinen Anhängern findet , begründet seine Autorität. Prophet und Anhänger begeben sich auf diese Weise in einen Zirkel wechselseitiger Bestätigung , die aus einer neuen kosmologischen Erklärung resultiert. Die Macht beruht im Wesentlichen darauf , dass kontingente Ereignisse als notwendig erkannt und damit eine berechenbare Zukunft hergestellt werden. Die Propheten von Nxele bis Nongqawuse sind in einer historischen Kontinuität zu betrachten und die chronologische Abfolge offenbart die Dynamik des Zusammenhangs von Gewalterfahrung und Prophetie.

Der „Siener“ van Rensburg und der Burenkrieg Bis hierhin wurde der besondere Fall der Xhosa und ihrer Propheten behandelt. Das wirft die Frage auf , ob die Verknüpfung von Gewalterfahrung und Prophetie ein singulärer Vorgang war. Darum soll anhand eines zweiten Bei50 Arendt 1994 , S. 44 ff. u. 53. Arendt will durch diese Entscheidung nicht nur die Autonomie des Politischen herstellen , sondern das Politische selbst erweitern von herrschaftlichem Handeln in das Handeln solidarischer Gruppen zur Durchsetzung ihrer Ziele. 51 Durkheim 1994 , S. 290.

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spiels gezeigt werden , dass möglicherweise ein genereller Zusammenhang zwischen beidem bestand. Stand der Vierte Grenzkrieg von 1811 am Beginn der kriegerischen Unterwerfung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen Südafrikas unter die britische Kolonialherrschaft , so schloss der Burenkrieg von 1899–1902 diesen Prozess ab. Damit war das 19. Jahrhundert gleichzeitig das Jahrhundert eines Staatsbildungsprozesses , in dessen Verlauf sich das Modell des modernen Staates alternativlos durchsetzte , wenn auch nicht territorial einheitlich , sondern in Gestalt verschiedener kolonialer Staaten , die erst 1910 zur Union von Südafrika vereint wurden. Die angewandten Mittel der instrumentell eingesetzten Gewalt ähnelten sich , was nicht primär dem Prinzip der modernen Staatlichkeit geschuldet ist , sondern vielmehr der Form gewalttätiger Konfliktaustragung. Da sowohl am Anfang des Jahrhunderts , beginnend mit dem Vierten Grenzkrieg , als auch an seinem Ende mit dem Burenkrieg Guerillakriege geführt wurden , reagierte die britische Macht in der Weise , wie Reaktionen auf Guerillakriege mit großer Regelmäßigkeit erfolgen , nämlich mit der Anwendung einer Strategie der verbrannten Erde. Der erobernde Staat – das gilt aber ebenso für den defensiven – muss die Ressourcenbasis einer ungreifbaren Guerilla ausschalten , was nur durch flächendeckende Gewalt , durch die Totalisierung des Krieges erreicht werden kann. Erst als sich die exzessive Gewalt nach hundert Jahren erstmals gegen Weiße richtete , wurde sie in Europa als skandalös wahrgenommen , wie ja auch die kurz vor Beginn des Burenkrieges verabschiedete Haager Landkriegsordnung „unzivilisierte“ Völker ausklammerte , d. h. in Kolonialkriegen auch Methoden erlaubte , die in Europa verpönt waren. Um nur ein paar Angaben zum Ausmaß der angewandten Mittel zu geben , die die Buren in die Knie zwingen sollten : Tausende Kilometer Stacheldrahtverhaue , die vorgefertigte Blockhäuser miteinander verbanden , sollten die Bewegungsfreiheit der burischen Guerillakämpfer einschränken. Um ihnen ihre Ernährungsbasis zu nehmen , wurden mehr als 30.000 Farmen niedergebrannt und mehrere Dörfer völlig zerstört. Die obdachlos gewordene Zivilbevölkerung wurde in Lagern konzentriert , wobei in diesen Konzentrationslagern etwa 26.000 weiße Frauen und Kinder sowie mindestens 14.000 Schwarze an Krankheiten starben. Damit verbunden war eine tiefe Traumatisierung derjenigen , die mit neuartigen Formen flächendeckender und überwältigender Gewaltausübung konfrontiert waren , die als existenzbedrohend empfunden wurde. Wenn die Beobachtungen zu den Grenzkriegen zutreffen , dass die instrumentelle Gewalt der Gegenseite ein Bedürfnis nach Ermächtigung durch Berechenbarkeit

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der Zukunft hervorruft und die Reaktion zwar kulturell strukturiert ist , aber gleichzeitig historisch-anthropologisch vergleichbar bleibt , so wäre mit dem Auftreten von Propheten im und nach dem Burenkrieg zu rechnen. Tatsächlich gab es Propheten , deren Tätigkeit eine zutiefst verunsicherte Bevölkerung mit Vertrauen auf eine erkennbare Zukunft inspirierte. Dabei lassen sich zwei Typen von Propheten unterscheiden , einerseits im eher unmittelbaren Verständnis von Prophetie das Auftreten medial begabter Prognostiker , auf der anderen Seite das Agieren von Politikern , die mit prophetischem Gestus auftraten und Zukunftsgewissheit durch überlegenes Wissen verbreiteten. Wie im Fall der Xhosa-Propheten ist auch beim sogenannten „Siener“ (Seher) van Rensburg die Tatsache von Interesse , dass er breite Resonanz bei der burischen Bevölkerung fand. Das aktive Eingreifen Gottes in den Geschichtsverlauf war im Kontext der burischen Religiosität nicht nur vorstellbar , sondern erhielt mit der heilsgeschichtlichen Deutung der Schlacht am Blood River , in der ein burisches Kommando im Jahr 1838 eine ganze Zuluarmee besiegte , eine zentrale Funktion.52 Aus diesem Grund konnte auch Nicolaas van Rensburg (1862–1926) Glauben finden mit seinen Erklärungen , dass Gott ihm seine Prophezeiungen eingab. Mit dieser Autorität ausgestattet , fand er Gehör bei Generälen und Politikern während des Burenkriegs , insbesondere bei General de la Rey und Präsident Steyn , die ihrerseits bald zu Ikonen der burisch-nationalistischen Historiographie wurden. Obwohl es auch unter Afrikaanern zahlreiche Personen gab , die van Rensburg misstrauten ,53 war die Zahl derjenigen , die ihm glaubten , beträchtlich , insbesondere unter armen Weißen. Während des Burenkriegs sagte er mehrfach Ereignisse erstaunlich präzise vorher und er soll auch während der Rebellion enttäuschter Buren zu Beginn des Ersten Weltkriegs künftige Ereignisse prophezeit haben , als sich die Regierung unter den ehemaligen Burenkriegsgenerälen Louis Botha und Jan Smuts nicht , wie sie erwartet hatten , vom ehemaligen Feind Großbritannien lossagte , sondern auf dessen Seite kämpfte. Van Rensburg wirkte als Prophet in einer Zeit , da sich zahlreiche Buren Pfingstkirchen anschlossen und sich der afrikaanse Kulturnationalismus formierte. Ziel der politischen Aspirationen war die Errichtung einer Republik , die stellvertretend für eine verlorene Welt des späten 19. Jahrhunderts stand.54 Nun fällt auf , dass van Rensburg 52 Thompson 1985 , Kap. 5. 53 Leipoldt 1980 , S. 159 f. 54 Grundlingh 1996 u. 1979.

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immer dann eine breite Rezeption erfuhr , wenn unerwartete Ereignisse eintraten , die die Zukunftsgewissheit unterminierten. Allerdings zeigen die angeblichen Gesichte van Rensburgs , die seine Tochter später aufzeichnete und die 1991 „zufälligerweise“55 im Museum von Lichtenburg wiedergefunden und veröffentlicht wurden , dass er – ähnlich Nostradamus – sich in höchst unklaren Andeutungen und kryptischen Sätzen erging , die reichlich Spielraum zur Deutung ließen. Genau darin liegt auch das Geheimnis der mehrfachen Konjunkturen , die seine Prophetien nach seinem Tod erlebten , insbesondere nach dem Ende der Apartheidpolitik.56 Da van Rensburg direkt Anteil an zentralen Ereignissen hatte , die später zu Bestandteilen der burisch-nationalistischen Geschichtsmythologie wurden , kam über seine Visionen und ihre (angebliche) Bestätigung durch nachfolgende Ereignisse eine Zukunftsgewissheit in den burischen Nationalismus , der keineswegs , wie immer angenommen , nur vergangenheitsorientiert und auf Geschichte ausgerichtet war. Prophetie reduzierte die Kontingenz des geschichtlichen Verlaufs durch Gewissheit und machte dadurch Zukunftshandeln nach der traumatischen Erfahrung der Niederlage im Burenkrieg überhaupt erst möglich. Gleichzeitig heißt dies aber nicht , dass Alternativen und Handlungsoptionen damit grundsätzlich ausgeschaltet wurden , aber sie waren in eine Vorstellung von „richtigem“ Handeln eingespannt und damit auf eine kleinere Anzahl möglicher und tragbarer Alternativen reduziert , da alle diejenigen , die sich außerhalb davon bewegten , durch ideologische Exklusionsstrategien ausgeschlossen wurden. Die Prophetie setzte kreatives Handeln frei , das gleichzeitig durch die Heilsbotschaft der Prophetie in „erlaubtes“ und „unerlaubtes“ Zukunftshandeln unterschieden wurde. Der Blick in die Zukunft , den van Rensburg mit seinen Visionen noch im Kontext einer ländlichen Lebenswelt des 19. Jahrhunderts eröffnete , wurde im Verlauf des frühen 20. Jahrhunderts modernisiert und verwissenschaftlicht , indem das überlegene Wissen von Experten und politischen Führern an die Stelle der göttlichen Offenbarung trat. Nationalistische Literaten und Politiker übernahmen den prophetischen Gestus , der insbesondere während des 55 Ohne bestreiten zu wollen , dass der Fund selbst zufällig war , kann man davon ausgehen , dass die Suche danach durchaus etwas mit der politischen , beruflichen und privaten Unsicherheit zu tun hat , mit der sich viele Buren am Ende der Apartheid konfrontiert sahen. 56 Typisch für die Rezeption van Rensburgs in Esoterikerkreisen ist etwa die Publikation Snyman 2006.

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symbolischen Ochsenwagentrecks während der Hundertjahrfeier der Schlacht am Blood River 1938 verstärkt zu beobachten war. Die Zukunft der Buren liege in den Städten , predigten insbesondere jüngere Afrikaaner-Nationalisten mit enger Bindung an die kulturnationalistische Geheimgesellschaft Afrikaner Broederbond. Dabei fällt auf , dass der Gestus prophetischer Wahrheitsverkündung im Afrikaaner-Nationalismus eine bislang kaum beachtete Konstante darstellt und in der Rhetorik von Minister (1950–58) und Premierminister (1958–66) Hendrik Verwoerd ihren Höhepunkt fand. Die Autorität der politischen und intellektuellen Führer erwuchs aus ihrer erfolgreichen Vermittlung der Zukunftssicherung durch überlegenes Wissen. Zwei Dinge sind bei Prophetie als Reaktion auf Gewalterfahrung zu unterscheiden. Erstens beanspruchten Propheten wie Nxele oder Mlanjeni , durch die Vorhersage künftiger Ereignisse auch künftiges Gewalthandeln in den Raum des Berechenbaren hereinzuholen. Zweitens ist die Vorhersage häufig eng mit der Forderung verbunden , schmerzliche persönliche Opfer zu bringen. Der Prophet verlangt von seinen Anhängern eine generelle Verhaltensänderung , denn ein bestimmtes , neu eingeführtes Verhalten kann künftige Gewalt ausschließen oder besiegen helfen. Nur wenn die Anhänger ihre Regeln des Zusammenlebens verändern , lässt sich das Unerhörte wenigstens als kontingent – und damit erwartbar – entschärfen. Gemeint ist damit aber vor allem : Die Änderung des gesellschaftlichen Zusammenlebens , das durch religiöse Ge- und Verbote geregelt und rituell sakralisiert ist , wird mit Autorität vorgenommen und ist darum legitimiert. Prophetie dient angesichts unerwarteter Gewalterfahrung dazu , eine Gesellschaft auf die neuen Herausforderungen umzustellen , wenn es sich als erforderlich erweist , dazu grundlegende Normen und Regelungen zu verändern.

Fazit Abschließend sollen aus den hier vorgestellten Beispielen mit aller gebotenen Vorsicht Schlussfolgerungen gezogen werden. Propheten treten dann auf , wenn die Gewalterfahrung die gesamte Gesellschaft erfasst. Ihre Forderungen richten sich an alle Mitglieder der Gesellschaft , um Einheit herbeizuführen , was aber im Fall des Cattle Killing große Uneinigkeit zum Resultat hatte. Ein Sieg in einer Feldschlacht oder in einem „regulären“ Krieg , der sich nur auf die Kombattanten im engeren Sinn beschränkt , wird nicht als traumatisch und die Fortexistenz der gesamten Bevölkerung bedrohend empfunden. Dies war

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anders bei Xhosa wie Buren , die mit extremen und bis dahin unbekannten Ausmaßen kriegerischen Gewalthandelns konfrontiert waren. Die Prophetien hängen von den kulturellen Erklärungsmustern ab , die sie gleichzeitig modifizieren und neuen Umständen anpassen , indem Voraussagen als Integration von Kontingenzerfahrung eine Berechenbarkeit der Welt wiederherstellen und damit zum Handeln ermächtigen sollen. Ungeachtet dieser kulturellen Einbettung von Prophetie zeigt das Beispiel von Xhosa und Buren , dass allgemeinere Muster erkennbar werden. Die Kontingenzerfahrung , die extrem verstörend und traumatisierend wirkt , ist das Erlebnis exzessiver Gewalt von bislang ungeahntem Ausmaß. Sie bringt die als harmonisch gedachte kosmische Ordnung völlig aus dem Lot und erfordert starke Mittel zu ihrer Wiederherstellung. Die Strategie der verbrannten Erde scheint in vielen Fällen ein Auslöser für Prophetien gewesen zu sein und die große Zahl von Propheten im 19. und 20. Jahrhundert lässt sich als Indikator für die Brutalität kolonialer Eroberung durch Zerstörung von Lebensgrundlagen lesen ,57 darüber hinaus aber als Kennzeichen einer Epoche , in der kriegerische Gewalt sich weltweit immer stärker gegen Zivilbevölkerungen richtete.58

57 Zu Nordamerika s. Utley 1984 , S. 251 ff. und 1993 , S. 281 ff. sowie Mackenthun in diesem Band. 58 Vgl. dazu Büscher 2005 , S. 227 ff. Auch die verschiedenen marxistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts sind zu den Prophetien zu rechnen , da sie durch den wissenschaftlichen Ansatz ihrer Lehre von einem objektiv erkennbaren Geschichtsverlauf ausgingen und vielfach Gewalterfahrungen mit der Gewissheit einer kommenden Utopie beantworteten. Dabei ist insbesondere an die kommunistischen antikolonialen Kriege in Vietnam oder China zu denken.

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Chinesische Siedler , mongolische Rebellen , prophetische Worte : Ein Fallbeispiel für buddhistische Bewältigungsstrategien sozialer und politischer Krisen Karénina Kollmar-Paulenz

Einleitung1 Im Jahr 1892 wurde im Namen des 8. Jebtsundamba Qutuγtu ,2 des damals höchsten buddhistischen Würdenträgers der Äußeren Mongolei ,3 ein prophetisches Schreiben in Umlauf gesetzt , das wie folgt beginnt : „Seine Heiligkeit der Jebtsundamba Qutuγtu , der sämtliche geistliche und weltliche Bewohner der 57 Banner4 der drei nördlichen Qalqa-Ayimaγ5 und der 49 Banner der Inneren Mongolei beschützt und errettet , hatte einen Traum , und dann erließ er ein Edikt. In der 15. Nacht des weißen Monats des schwarzen Drachenjahres (1892) hatte ich , der Qutuγtu , einen merkwürdigen Traum : plötzlich kam ein Mann auf einer fünffarbigen Wolke geritten

1

Die Umschrift des Mongolischen erfolgt nach de Rachewiltz 1996 , mit folgenden Ausnahmen : Suffixe werden durch einen Bindestrich getrennt , das mongolische c und j werden ohne Haček gegeben. Die Umschrift des Tibetischen erfolgt nach Wylie 1959 , die des Sanskrit in der heute allgemein üblichen wissenschaftlichen Transliteration. Dieser Aufsatz verdankt viel der konstruktiven Kritik von Frank Neubert , dem ich an dieser Stelle herzlich danke. 2 Zu den Jebtsundamba Qutuγtus s. Bawden 1961 , zum tibetisch-buddhistischen Konzept der Wiedergeburten Samuel 1993 , S. 281–286. 3 Mit „Äußere Mongolei“ ist das Gebiet der heutigen unabhängigen Mongolei mit der Hauptstadt Ulaanbaatar gemeint. Der Ausdruck geht auf eine Qing-zeitliche politisch-administrative Einteilung zurück , s. weiter unten in diesem Beitrag und Anm. 32 , ebd. 4 Mong. qosiγun , die grundlegende soziopolitische , zivile und militärische Verwaltungseinheit der Mongolen im Qing-Reich (1644–1911). 5 In der Qing-Zeit war ein Ayimaγ die dem Banner übergeordnete politisch-administrative Einheit.

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[ …]. Er verneigte sich respektvoll und sagte : Der Gott Khan Qormusta6 hat mich gesandt , und dies ist sein Befehl : Weil er die Leiden der vielen Mongolen ständig vor Augen hat , [ …] und weil zu verschiedenen Zeiten die Lebensweise der Weisen und Guten völlig unbekannt geworden ist , ist nun ein Zeitenwechsel unabwendbar geworden – dies ist es , warum er mich entsandt hat. Dies ist der Befehl des Himmels : Die schwarzhäuptigen7 Chinesen sind viele geworden und haben das höchste Maß an Nicht-Ordnung erreicht , daher sollte der mitleidsvolle Buddha sich der vielen Mongolen erinnern , die an die religiösen Lehren glauben. [ ….]“8

Solche Lüngden ,9 „prophetische Ermahnungen“, die vor allem dem 8. Jebtsundamba Qutuγtu (auch Boγda Gegen genannt) , aber auch dem Dalai und Panchen Lama und sogar dem Buddha selbst zugeschrieben wurden , waren in zahlreichen Abschriften in den mongolischen Regionen gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Umlauf. Sie alle thematisierten eine „Zeit des Niedergangs“ (mong. čöb-un čaγ , Qalqa-mong. tsövijn tsag) , die sich unter anderem dadurch auszeichnete , dass die Zahl der in mongolischen Gebieten lebenden Chinesen drastisch zunahm und die moralischen Gebote des Buddhismus10 nicht mehr eingehalten wurden. Die Lüngden rufen nicht nur zu einer Rückbesinnung auf die buddhistischen Lehren , sondern oft gleichzeitig zur Gewalt gegen die Chinesen auf. Allein die Fülle solcher Schreiben , die alle aus dem späteren 19. Jahrhundert stammen , weist auf die Bedeutung hin , die ihnen in den mongolischen Gebieten am Vorabend des 6 Die allen 99 Tngri („Himmlischen“) vorstehende Gottheit im mongolischen Pantheon. Autochthone und buddhistische Vorstellungen sind in der Gestalt Qormustas eine Synthese eingegangen. Der Name deutet zudem auf iranischen Einfluss hin. Zu Qormusta tngri s. Heissig 1972 , S. 353 f. 7 In der mongolischen Farbsymbolik ist die schwarze Farbe negativ konnotiert. So wurde die nicht-adlige Bevölkerung qaracus , „Schwarze“, respektive qaracus kümün , „schwarze Leute“, genannt. Die Bezeichnung der Chinesen als „schwarzhäuptig“ impliziert ihre soziale Herabsetzung. 8 Ohne Titel. Mongolischer Text in Sarközi 1992 , S. 127 , englische Übersetzung ebd. , S. 129. 9 Aus dem tibetischen lung bstan , „Prophezeiung , Vorhersage“. 10 Vor allem die für Laien wie Ordinierte gleichermaßen verbindlichen „fünf Gebote“ (Sanskrit pañca-śīla) , 1. nicht Leben zu nehmen , 2. nicht zu nehmen , was nicht gegeben wurde , 3. sexuelles Fehlverhalten zu vermeiden , 4. nicht zu lügen und 5. keine berauschenden Getränke zu sich zu nehmen.

Buddhistische Bewältigungsstrategien sozialer und politischer Krisen

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Zusammenbruchs der Qing-Dynastie zukam. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden , inwieweit die prophetischen Schreiben des 8. Boγda Gegen als Reaktion auf die damalige politische und soziale Krisensituation ein buddhistisches Sinndeutungsangebot zur Verfügung stellen und zur Dynamik der entstehenden revolutionären Bewegung beizutragen vermochten.

Begrifflichkeiten : Einige theoretische Vorbemerkungen Die Begriffe „Prophetie“ und „Prophet“, die sowohl als alltagssprachliche wie metasprachliche Begriffe verwendet werden , sind durch die alttestamentarischen und antiken Religionskulturen geprägt worden. Das griechische profétes wie auch das hebräische nābī’ bezeichnen beide einen „Rufer , Künder , der etwas heraussagt“,11 wie auch einen Berufenen , jemanden , durch den etwas verkündet wird. Ein Prophet war jemand , der „aufnimmt , deutet und weitergibt , was ihm selbst durch göttliche oder göttlich vermittelte Eingabe (Inspiration) zukommt.“12 Dabei wurden schon im alten Israel wie bei den Griechen verschiedene religiöse Spezialisten mit dem Begriff benannt. Das Spektrum reicht hier von ekstatischen Propheten , die sozial eher marginalisiert waren , über Seher , die sich auch divinatorischer Methoden bedienten , bis hin zu politischen Propheten , die enge Verbindungen zu den damaligen Herrschern aufwiesen.13 Spätere Entwicklungen sehen die Hinwendung zur Kündung einer Zukunft , die nicht als Fortschreibung gegenwärtiger Entwicklungen verstanden wird , sondern als radikaler Bruch. Hier kommt ein weiterer Aspekt der Prophetie zum Tragen , das Verkünden-Müssen , der innere Zwang zum Sprechen , der den Propheten als Opponenten herrschender politischer und /  oder religiöser Verhältnisse positioniert. In die alltagssprachliche Verwendung des Begriffs „Prophetie“ sind diese ursprünglichen Bedeutungen eingegangen und selektiv rezipiert worden. Die selektive Rezeption hat sich ebenfalls in der wissenschaftlichen Theoriebildung fortgesetzt , wie an der von Max Weber entwickelten Typologie des Propheten deutlich wird.14 Im heutigen alltagssprachlichen wie wissenschaftlich-deskriptiven Sprachgebrauch zeichnet einen Propheten 11 Ebach 1998 , S. 349. 12 Ebd. 13 Einen kurzen Anriss der Entwicklung alttestamentarischer Prophetie gibt Ebach 1998 , S. 352 f. 14 Weber 2010 , S. 346–355.

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die Vorhersage der Zukunft und die Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen aus. Letzteres markiert ihn zugleich als deviante Persönlichkeit , die gesellschaftlich tendenziell marginalisiert ist. Eine Untersuchung über Prophetie bei den Mongolen wirft die Frage auf , ob die Übernahme der Begrifflichkeit „Prophetie“ respektive „Prophet“ nicht anderskulturelle Vorstellungen in ein ihnen nicht adäquates Begriffsraster zwängt und damit zum Missverstehen der mongolischen kulturellen Konzepte führt. Eine Möglichkeit , solche Verständnisschwierigkeiten zu umgehen , besteht im konsequenten Verzicht des Gebrauchs der europäischen Begriffe und der Anwendung der mongolischen Termini , deren Semantik zu erläutern wäre. Der Verzicht auf die europäische Begrifflichkeit in komparatistischer Perspektive verdankt sich der im Zuge des Postkolonialismus gewonnenen Einsicht , dass Begriffe keineswegs unschuldige Werkzeuge der Beschreibung sind , sondern historische Produkte diskursiver Prozesse.15 In der Verwendung europäischer Begrifflichkeit für die Beschreibung und Analyse außereuropäischer Kulturen16 werden damit auch die asymmetrischen politischen Machtverhältnisse zwischen dem „Westen“ und dem „Rest der Welt“ perpetuiert. Der vorgeschlagene Ausweg aus diesem Dilemma , die Verwendung emischer Begrifflichkeiten , hat jedoch ebenfalls seine Tücken. ���������������������������������������� Der Versuch , keinen kognitiven Imperialismus zu begehen , führt durch die Verwendung unübersetzter emischer Begriffe oder neu kreierter Termini oft zu einem – wahrscheinlich gänzlich ungewollten – Ausschluss , zur Konstruktion einer kulturellen Partikularität , die sich dem Vergleich verweigert und damit eine unüberwindbare Differenz festschreibt. Zugleich führt sie im Umkehrschluss zur Singularisierung spezifisch europäischer kultureller Errungenschaften , an denen die „Anderen“ keinen Anteil haben. Der „���������������������������������������������������� Sonderweg Europa“, der durch Stichworte wie „Aufklärung“ oder „Säkularisierung“ charakterisiert ist , bleibt unangetastet. Hier soll ein dritter Weg beschritten werden , der dazu führen kann , die europäischen theoretischen Perspektiven auf „Prophetie“ um die mongolischen Perspektiven zu erweitern.17 Die ausdifferenzierte mongolische Begrifflichkeit

15 Zur Bedeutung der Begriffsgeschichte für die Geschichtswissenschaft sind immer noch die Ausführungen von Koselleck 1989 (zuerst 1979) , S. 107–129 grundlegend. 16 Talal Asad hat in diesem Zusammenhang von einer „Ungleichheit der Sprachen“ gesprochen , s. Asad 1993 , S. 189–193. 17 Hierzu kann dieser Beitrag lediglich Vorarbeiten aus einem spezifischen empirischen Bereich leisten.

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zum semantischen Feld , das wir als „Prophetie“ abbilden , gilt es einzubeziehen in die Diskussion.18 Im Folgenden sollen die Begriffe „Prophetie“, „prophetische Worte“ etc. als deskriptive Termini beibehalten , jedoch auf der Basis der mongolischen Begrifflichkeiten das semantische Feld von Prophetie im mongolischen kulturellen Kontext spezifiziert werden.

„Prophetie“ und „Propheten“ im mongolischen Kulturraum Die mongolischen Sprachen besitzen eine Fülle von Termini für die Fähigkeit , Gegenwart und Zukunft zu deuten. Sie sind in ganz unterschiedlichen Kontexten angesiedelt. Grundsätzlich wird im mongolischen Kulturraum differenziert zwischen der spontanen Fähigkeit , die Gegenwart zu deuten und die Zukunft zu sehen , der prophetischen Vision (mong. jöng , Qalqa-mong. zöng , zön) , und dem willentlichen Akt , unter Zuhilfenahme eines materiellen Mediums , wie z. B. eines Schafschulterknochens , Zeichen zu lesen. Während die letztgenannte Technik von Spezialisten wie den „Zeichendeutern“ (tölgecin) durchgeführt wird , werden mit der prophetischen Vision oft ganz unterschiedliche Personen plötzlich „gesegnet“. Solche Personen werden jöngci (Qalqa-mong. zönch) genannt , „diejenigen , die die Vorausschau /  prophetische Vision besitzen“.19 Beide Aspekte der Schau können sich jedoch auch durchaus überschneiden : So sind Schamaninnen (iduγan) und Schamanen (böge) oft versierte Zeichendeuter , besitzen aber ebenfalls häufig die Gabe der direkten Schau. Die prophetischen Visionen beinhalten Gegenwartsdeutungen und Zukunftsvorhersagen , die vor grundlegenden Katastrophen warnen und entsprechend Instruktionen enthalten , wie diese zu bewältigen sind. Solche Visionen werden oft20 durch eine himmlische beziehungsweise außermenschliche Offenbarung legitimiert , haben eine allgemeine soziale Bedeutung und beziehen sich auf einen Referenzrahmen , der Konzepte wie „Volk“, „Nation“ (ulus) oder „Gesellschaft“ umspannt. Die Visionen werden nicht von religiösen Spezialisten ausgelegt , sondern von der Gemeinschaft interpretiert. Prophetische 18 Richard King (1999 , S. 198) stellte schon vor zwölf Jahren die rhetorische Frage : „ …why should theorists be limited by the Western framing of the debate ?“ 19 Das semantische Feld von mong. jöng umfasst auch Bedeutungen wie „Zufall , zufällig , spontan“. 20 Zuweilen wird die Quelle der Vision auch nicht spezifiziert.

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Visionen können in schriftlicher Form festgehalten werden.21 Sie werden dann mit verschiedenen Begriffen bezeichnet : 1. Die schon genannten lüngden verorten prophetische Aussagen in einem buddhistischen Kontext. Stets taucht als Topos das buddhistische Konzept einer degenerativen Zeit auf , der „Zeit des Niedergangs“, deren Fixpunkt der Dharma , die buddhistische Lehre ist. Mit „Zeit des Niedergangs“22 ist konkret der Niedergang der buddhistischen Lehre gemeint , der schon durch den Buddha selbst prophezeit wurde.23 Weitere für schriftlich fixierte prophetische Visionen verwendete Termini sind 2. surγal , „Belehrung“, 3. bicig („Brief“) sowie 4. jarliγ , was soviel wie „[kaiserlicher] Befehl“ oder auch „Edikt“ heißt. Der letztgenannte Begriff evoziert politische Macht. Obwohl die verwendete Begrifflichkeit verschiedene literarische Genres suggeriert , werden die Begriffe tatsächlich arbiträr verwendet. Die schriftlich fixierten Prophezeiungen entfalten eine lang andauernde Wirkung. Aufgrund des Interpretationspotentials der prophetischen Rede werden sie über Generationen hinweg immer neu gedeutet. So wurden die Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Prophezeiungen des 8. Jebtsundamba Qutuγtu 1998 und 1999 in einer mongolischen Zeitung erneut abgedruckt und verbreitet. Prophetische Worte können von ganz verschiedenen Personen geäußert werden  , von religiösen Spezialistinnen und Spezialisten  , von mächtigen Herrschern , von Kriegern , von Kindern. Ich gehe hier nur auf einen Typus des „Propheten“ ein , der in diachroner historischer Perspektive24 vor allem im mongolischen politischen Kontext eine bedeutende Rolle spielt und den ich daher als „politischen Propheten“ bezeichnen möchte. Bei den Mongolen standen Propheten oft mächtigen Fürsten beziehungsweise Khanen zur Seite. Sowohl allgemeine Zukunftsvoraussagen wie auch persönliche Offenbarungen durch den „Himmel oben“ sind schon in der „Geheimen Geschichte der Mongolen“, der ältesten überlieferten erzählenden Chronik der Mongolen , 21 Neben den schriftlich festgehaltenen prophetischen Aussagen gibt es auch mündlich tradierte Prophezeiungen , die sich auf Vorhersagen über spezifische Ereignisse für Individuen beziehen. Sie werden üge , „weises Wort , Weisheitsspruch“, oder duradqal , „Erinnerung“, genannt. Die Grenzen zwischen beiden Formen von Prophezeiungen sind fließend. 22 Mong. cöb-ün caγ , Tib. snyigs ma’i dus , Qalqa-mong. tsövijn tsag. Choimaa 2000 ,II , S. 278 , zählt fünf Arten des Niedergangs der buddhistischen Lehre auf. 23 Grundlegend zu diesem Konzept Nattier 1991. 24 Zur Geschichte von Prophetie und Propheten bei den Mongolen s. Humphrey 2006a , S. 61–97.

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im 13. Jahrhundert belegt und werden dort unter anderem durch Träume25 und Zeichen offenbart. So sah der Krieger Qorči ein „himmlisches Zeichen“ (tenggeri-yin ja’ arin) , dass Temüjin Herrscher über die Mongolen werden würde.26 Der Prophet ist hier kein religiöser Spezialist im eigentlichen Sinne , sondern ein einfacher Krieger , dem unreguliert und spontan die Gabe des Sehens gegeben ist.27 Das himmlische Zeichen „zeigte sich“ (uje’ ulbe) vor seinen Augen und „offenbarte mir die Zukunft“ („Geheime Geschichte“, Paragraph 121).28 Da Herrschern aufgrund des mongolischen Herrschaftskonzepts , das dem Herrscher Macht und Charisma vom „Himmel oben“ verlieh , sakrale Mächtigkeit zugesprochen und prophetische Botschaften durch himmlische Inspiration übermittelt wurden , konnten auch die Herrscher selbst zu Propheten werden. Hieraus bedingt auch , dass Prophetie im mongolischen Kontext tendenziell eine herrschaftslegitimierende Funktion (neben anderen Funktionen) zukam , wie auch in China. Neben politischen Führern wurden auch religiösen Persönlichkeiten prophetische Kräfte zugesprochen. Der Dalai Lama , Panchen Lama und der Jebtsundamba Qutuγtu besaßen zudem in ihren jeweiligen Gesellschaften erhebliche politische Macht. 29 Von allen Jebtsundamba Qutuγtus sind Prophezeiungen überliefert , die meisten besitzen wir vom 8. Jebtsundamba Qutuγtu , der nach dem Fall der Qing-Dynastie 1911 politisches Oberhaupt der unabhängigen Mongolei wurde und in seinen letzten Lebensjahren auch nominelles Oberhaupt der provisorischen revolutionären Volksregierung war. Die gesellschaftliche Wirkmächtigkeit der Prophetie soll im Folgenden anhand der prophetischen Worte des 8. Jebtsundamba Qutuγtu verdeutlicht werden. Bevor seine prophetischen Schreiben vorgestellt werden , muss kurz 25 So z. B. in Paragraph 63 , s. de Rachewiltz 2004 , 1 , S. 14. 26 Paragraph 121 , vgl. de Rachewlitz 2004 , 1 , S. 47 f. 27 Humphrey 2006a , S. 67. Humphreys Aussage , in der entsprechenden Passage der „Geheimen Geschichte“ werde der Begriff jöng benutzt , der diese Art prophetischer Vision bezeichnet , trifft jedoch nicht zu. 28 Der mongolische Text ist hier zitiert in der Ausgabe von Haenisch 1962 , S. 24. 29 Ende des 19. Jahrhunderts zirkulierten zahlreiche prophetische Texte , die dem Panchen Lama und dem Dalai Lama zugeschrieben wurden. Ein Text versucht schon im Titel , Panchen Lama und Dalai Lama mit Dschingis Khan zu verbinden : Boγ da Bancin erdeni. Dalai blam-a-yin gegen boγ da cinggis qaγ an narun jarliγ  , Sammlung Ernst /  Winterthur. Vgl. auch Sarközi 1992 , S. 67–75. Obwohl die Texte identische Titel tragen , differieren sie im Inhalt leicht.

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die sozialhistorische und wirtschaftliche Situation der Mongolen im QingReich während des 18. und 19. Jahrhunderts skizziert werden.

Die Mongolen im Qing-Reich : Politisch-administrative Strukturen Die Mongolen hatten sich im 17. Jahrhundert dem neu entstandenen QingReich (1644–1911) , das von den tungusischen Jürchen30 gegründet worden war , freiwillig unterstellt und waren politisch und administrativ in das Reich eingegliedert worden.31 Die Qing-Administration unterschied dabei zwischen „inneren“ (dotoγadu) und „äußeren“ (γadaγadu) Mongolen , worauf die uns geläufige Unterscheidung „Innere“ und „Äußere Mongolei“ zurückgeht.32 In beiden Regionen brachte die Eingliederung in das Qing-Reich dauerhafte , einschneidende gesellschaftliche Veränderungen mit sich. Das Banner (qosiγun) wurde zur grundlegenden zivilen wie militärischen Verwaltungseinheit der Mongolen im Qing-Reich. Drei Aspekte zeichneten ein Banner , das einem lokalen Regenten (Jasaγ) , gewöhnlich einem Fürsten aus der Linie Dschingis Khans , unterstand , aus : Seine Grenzen waren verbindlich festgelegt , dem Fürsten waren Untertanen zugeteilt , und die Bevölkerung des betreffenden Gebiets war in Unterbezirke , die „Pfeile“ (Sumun) , unterteilt , die aus je 150 Haushalten bestanden und in Kriegszeiten 150 Soldaten stellen mussten. Die Sumun waren noch weiter untergliedert in Fünfziger- , Zwanziger- und Zehner-Einheiten. Diese Ordnung entsprach einerseits den im 17. Jahrhundert geltenden 30 Sie sind auch unter dem Namen „Mandschu“ bekannt. Im Jahr 1635 proklamierte der Herrscher Hung Tayiji , dass die meisten seiner Gefolgsleute von nun an diesen Eigennamen annehmen würden. Die Herkunft des Namens ist in der Forschung bisher nicht eindeutig geklärt worden , vgl. Crossley 1997 , S. 15. 31 Zur Eingliederung der mongolischen Völker in das Qing-Reich s. Bawden 1989 , S. 39–80 , zu den Beziehungen zwischen Mandschus und Mongolen im frühen 17. Jahrhundert s. Di Cosmo /  Bao 2003. 32 Dies war zuerst eine politische Unterscheidung : Als „innere“ Mongolen wurden die Völker bezeichnet , die sich 1636 den Mandschus angeschlossen hatten , während als „äußere“ Mongolen die Völker galten , die damals noch nicht ins QingReich eingegliedert waren. Nach 1691 , als sich auch die Qalqa-Mongolen den Qing angeschlossen hatten , war die Einteilung obsolet geworden , wurde jedoch als administrativ-geographische Einteilung beibehalten.

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mongolischen Sozialstrukturen. Schon lange waren die Mongolen lokalen Fürsten , die ihre Abstammung auf Dschingis Khan zurückführten , den Tayiji , unterstellt , und hatten ihnen zugeteilte Weidegebiete bewirtschaftet. Andererseits veränderten die Mandschus die Funktionen der mongolischen Institutionen , die von sozio-politischen zu administrativen Einheiten wurden. Die Regenten hatten nicht mehr absolute zivile und militärische Autorität , sondern ihre Macht wurde vom Qing-Herrscher durch die Verleihung eines Siegels delegiert und umfasste im Wesentlichen die Administration des Banners. Die den mongolischen Fürsten zugeteilten Gebiete wurden damit von Nicht-Mongolen festgelegt und kontrolliert.33 In den innermongolischen Gebieten wurden die Mongolen in insgesamt sechs Bünde (ciγulγan) mit 49 Bannern untergliedert. Hinzu kamen acht Banner der Chakhar , die direkt der Zentralregierung unterstanden. Die Äußere Mongolei (das Gebiet der Qalqa-Mongolen) war in vier große Territorien (Ayimaγ) untergliedert , deren Khane außerhalb ihres Gebietes nur wenig Einfluss hatten. Die vier Ayimaγ waren nach 1691 in insgesamt 34 Banner aufgeteilt , die bis 1759 , trotz geringer Bevölkerungsdichte , auf 86 anwuchsen.34 Der Jebtsundamba Qutuγtu wurde als das formale Oberhaupt aller Qalqa anerkannt. Mobilität außerhalb des Banners war , außer für einige wenige Fürsten , praktisch unmöglich. Innerhalb der Bannergrenzen konnte man sich frei bewegen. Auch Ackerland konnte genutzt oder natürliche Ressourcen wie Salz abgebaut werden , beides gegen eher symbolische Gebühren. NichtBannermitglieder zahlten für solche Rechte allerdings ein Vielfaches an Geld.

Die wirtschaftliche Situation Die Banneradministration bei den Qalqa-Mongolen und in den innermongolischen Gebieten unterschied sich in der Beziehung zwischen den persönlichen Gefolgsleuten des Bannerfürsten und der gewöhnlichen Bevölkerung. In der Qalqa-Mongolei war die Bevölkerung unterteilt in die Albatu , „Abgabenpflichtige“, die öffentliche Dienste versahen und damit dem Qing-Kaiser respektive seinem Repräsentanten , dem Bannerregenten , unterstellt waren , 33 Zur mandschurischen Herrschaft in den mongolischen Regionen s. Sanjdorj 1980 , zur Geschichte der Qalqa ist immer noch Nacagdorž 1963 wichtig. 34 Zur Banneradministration bei den Qalqa im 18. und 19. Jahrhundert s. Barkmann 1988 sowie Veit 1990 , I , S. 40–60.

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und die Qamjilγa , die private Dienste für die Fürsten (tayiji) versahen. In den innermongolischen Gebieten wurde hingegen nicht zwischen Albatu und Qamjilγa unterschieden. Nur eine kleine Gruppe der Nicht-Adligen (qaraču kümün) war vom öffentlichen Dienst ausgenommen. Dies hatte zur Folge , dass die meisten gewöhnlichen Leute sowohl öffentliche Dienste für das Banner beziehungsweise das Qing-Reich als auch private Dienste für die Fürsten versahen. Die Steuereintreibung lag in den Händen der Bannerverwaltung. Die steuerpflichtige Bevölkerung musste in den mongolischen Gebieten für die Bannerfürsten und das Qing-Reich eine Vielfalt von Dienstverpflichtungen und Abgaben leisten. Dazu gehörten der Dienst in der Armee , das Stellen der Ausrüstung und Verpflegung für Kriegszüge und die Besetzung der Grenzwachtposten. Die persönlich geleisteten Dienste für die Bannerfürsten bestanden in der Weidetierhaltung und den damit verbundenen jahreszeitlich wechselnden Arbeiten wie Melken , Scheren , Filzzubereiten usw. sowie Dungsammeln (Brennmaterial) , Haushaltsdienste und Reisebegleitung. Steuern auf Erträge waren vom Lifanyuan , dem „Amt für die Verwaltung der Außenbezirke“,35 genau vorgeschrieben : von 20 Schafen war z. B. nur ein Schaf im Jahr abzugeben. Allerdings hielten sich die Bannerregenten oft nicht daran , sondern erhoben wesentlich höhere Steuerforderungen. Da nur der Bannerregent ein Gehalt bezog , waren zudem weitere Abgabenforderungen und Unterschlagung durch die Bannerbeamten an der Tagesordnung. Im 18. Jahrhundert verschuldeten sich immer mehr mongolische Fürsten bei chinesischen Handelshäusern , die sich sowohl in der Inneren als auch der Äußeren Mongolei niedergelassen hatten und den Handel mit den Nomaden tätigten. 1722 begannen die Mandschus , die Ansiedlung der Händler zu kontrollieren. Das Lifanyuan gab Lizenzen aus , die die Dauer des Aufenthalts , die gewöhnlich auf ein Jahr beschränkt war , und die Warenart genau bestimmten. Außerdem durften sich die Händler nur in bestimmten Siedlungen niederlassen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurden Kökeqota (das heutige Hohot) , Kalgan und Küriye (das heutige Ulaanbaatar) zu den wichtigsten Handelszentren in den mongolischen Regionen. Die Bestimmungen der Qing-Regierung wurden in der Realität oft umgangen. Die Händler errichteten Steinhäuser und nahmen sich mongolische Frauen , obwohl beides verboten war. Sie liehen den mongolischen Fürsten Silbergeld gegen Zins , und dies führte innerhalb kurzer Zeit zur Verarmung der 35 Zu diesem Amt s. Chia 1993.

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einfachen Bevölkerung. Die Schulden , die die Fürsten machten , mussten von ihren persönlichen Untertanen (qamjilγa) zurückgezahlt werden. In der Praxis jedoch wurden die Schulden oft der gesamten Bevölkerung eines Banners auferlegt.36 Die Zinsen waren hoch , und wenn die Schuldner weder Kapital noch Zinsen zurückzahlen konnten , erlangten die chinesischen Handelshäuser mitunter die völlige Kontrolle über die Finanzen einzelner Banner. In den Qalqa-mongolischen Territorien beliefen sich gegen Ende des zweiten Dzungarenkrieges 1757 die offiziellen Schulden auf insgesamt 155.739 Silberunzen.37 Es erstaunt daher nicht , dass es beim Aufstand des Qalqa-Fürsten Cinggünjab 1756 /  57 gegen die Qing-Herrschaft zu Plünderungen chinesischer Geschäfte kam. Der Qianlong-Herrscher (reg. 1736–96) beglich daraufhin die Summe von 68.000 Silberunzen aus dem Staatshaushalt , und die chinesischen Händler wurden gezwungen , auf die restlichen 87.739 Silberunzen zu verzichten. Zwischen 1776 und 1781 setzte Qianlong die lokalen Autoritäten unter Druck , sämtliche öffentlichen und die meisten privaten Schulden zu bezahlen und die Niederlassung und Aktivitäten der chinesischen Händler in den mongolischen Gebieten strikt zu kontrollieren. Die Maßnahmen griffen jedoch nur kurze Zeit , da der neue Qing-Herrscher Jiaqing (1796–1820) 1797 das bisher geltende Verbot , auf dem Land Handel zu treiben , aufhob. Herrschte in den wenigen Städten harte Konkurrenz zwischen den verschiedenen Handelshäusern , besaßen die einzelnen Händler auf dem Land zumeist eine Monopolstellung. Die Mongolen verkauften vor allem Vieh , Wolle und Felle , die chinesischen Händler begehrte „Luxus“güter wie Tee , Tabak , Seidenstoffe und Mehl. Des Weiteren war der Verkauf von Alkohol , Wein und später auch Opium an die Mongolen sehr lukrativ. Gravierende Auswirkungen auf das mongolische Handwerk hatte der Verkauf chinesischer Güter wie Stiefel , Sättel , Kochtöpfe , 36 In den Archiven der Qing-Zeit (18.–20. Jahrhundert) sind zahlreiche Eingaben an die Bannerautoritäten aufbewahrt , in denen es um die Zahlung der Schulden von Bannerregenten geht. Zuweilen wurden die reichen Fürsten der Banner von der Rückzahlung ausgenommen  und die Schuldenlast allein den verarmten Fürsten und der Bevölkerung auferlegt (s. z. B. Dokument 24 in Rasidondug /  Veit 1975 , S. 81–86 , besonders S. 85). Einige dieser Dokumente sind publiziert und in Übersetzung zugänglich , s. Bawden 1967 und Serruys 1984 /  85. Auch Strafprozessakten geben Einblick in die soziale , ökonomische und politische Struktur der mongolischen Gesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts , s. z. B. Sagaster 1967 und Bawden 1969a , 1969b , 1969c. 37 In den mongolischen Quellen wird als Gewichtseinheit das chinesische lang genannt , umgerechnet 37.3 Gramm.

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Nadeln und sogar Schmuck , Dinge , die die Mongolen früher selbst hergestellt hatten und die nun von Chinesen billig produziert wurden. Der Handel fand zuerst durch Tausch statt , aber in der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich Silber als Zahlungsmittel endgültig durchgesetzt.

Erste Widerstandsbewegungen Besonders in der Inneren Mongolei führte die Verschuldung dazu , dass die Fürsten das Bannerland , das ihnen de iure gar nicht gehörte , sondern nur von ihnen verwaltet wurde , an die Händler verkauften. Diese holten ihrerseits wiederum Siedler ins Land , welche das Land in Ackerland umwandelten. Die Nomaden verloren die Grundlage für ihre extensive Weidewirtschaft und wurden immer mehr in aride oder semi-aride Gebiete abgedrängt , wo sie ihre Herden nicht halten konnten. Wahrscheinlich siedelten schon im frühen 18. Jahrhundert die ersten Chinesen in der Inneren Mongolei. Mit dem Anwachsen der chinesischen Bevölkerung von 100–150 Millionen um 1650 herum auf 410 Millionen im Jahr 1850 wuchs der Siedlungsdruck in der Inneren Mongolei immens.38 Die Qing hatten 1748 per Edikt die Kolonisierung ohne vorher eingeholte Erlaubnis verboten. Ausnahmen wurden zuerst nur gemacht , wenn die Siedler im Winter wieder hinter die große Mauer zurückkehrten. Im 19. Jahrhundert wurden diese Regeln jedoch immer weniger durchgesetzt. Um 1800 herum belief sich die offizielle Zahl der chinesischen Siedler in den innermongolischen Gebieten auf mehr als 425.000 Leute. Trotzdem war die Siedlungspolitik noch bis 1901 insofern illegal , als sie offiziell gesetzlich verboten war. In dieser Zeit entstand in den innermongolischen Gebieten , wahrscheinlich zuerst im Ordosgebiet 1852 oder 1858 , eine Widerstandsbewegung gegen den Verkauf von Weideland an chinesische Siedler sowie die Willkürherrschaft der Bannerfürsten und -beamten.39 Sie nannte sich duγui oder duγuyilang , „Kreis“, wohl deshalb , weil die Mitglieder einer Gruppe während ihrer Versammlungen in einem Kreis zusammen saßen , so dass niemand erkennen konnte , wer der Anführer der Gruppe war. Eingaben und Gesuche an die Bannerregenten und die Qing-Verwaltung wurden unterzeichnet von allen 38 Zur chinesischen Kolonisierung in den Gebieten der Inneren Mongolei s. Atwood 2004 , S. 93 f. 39 Zu den Duγuyilang s. Serruys 1977 , S. 482–486.

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Gruppenmitgliedern , und zwar ebenfalls in einem Kreis , aus demselben Grund. Ihre Beweggründe für den Widerstand wurden von ihnen selbst in der folgenden Resolution formuliert : „Weil wir Leute alle kein Wasser zum Trinken , kein Land zum Wohnen haben , dies aber nicht zu ertragen vermögen , haben wir den Duγuyilang-Bund gegründet und werden den Anordnungen der Fürsten nicht folgen.“40 Und in einem mündlich tradierten Lied heißt es : „Mein goldenes Land hat man verkauft , nun wissen wir Leute nicht , wovon zu leben ! Herrscher der zehn Banner , was hast du getan , dass du mit uns Leuten nicht darüber gesprochen ? Das goldene Land zu beschützen , werden wir die zehn Banner durchstreifen …“41

Die Protestbewegung organisierte sich in voneinander unabhängigen Gruppen , die ihren Namen von dem Ort erhielten , an dem sie sich versammelten. Oft waren das die Höfe von Klöstern , da sie traditionell als Versammlungsorte für alle Arten von Treffen dienten. Auch Mönche , verarmte Fürsten und kleine Bannerbeamte waren Mitglieder der sich zunehmend radikalisierenden Bewegung. Die Duγuyilang-Gruppen reichten nicht nur Petitionen und Gesuche an die Behörden ein , sondern setzten auch tyrannische Bannerbeamte durch Mobbing und mitunter auch Folter unter Druck. Im Ordos-Gebiet sahen die Duγuyilang eine wichtige Aufgabe darin , den Buddhismus und den Kult des Dschingis Khan , der im Ordos-Gebiet seit dem 16. Jahrhundert beheimatet war , zu beschützen. Im späten 19. Jahrhundert dehnte sich die DuγuyilangBewegung auf die Äußere Mongolei aus , wo sich die ökonomische Situation ähnlich wie in der Inneren Mongolei entwickelt hatte.42

40 Cimeddorji 1958 , S. 50 , zitiert nach Heissig 1994 , II , S. 581 , mongolischer Text S. 589. 41 Mongγol teüke kele bičig  , 7  , 1958  , S. 17  , zitiert nach Heissig 1994  , S. 543  , mongolischer Text S. 566 f. 42 Schon 1855 lebten im Tüsiyetü Qan Ayimaγ der Qalqa-Mongolei circa 32.000 Menschen in Armut , um die 5000 von ihnen waren dem Hungertod nahe. 1896 wurde in einem offiziellen Bericht aus einem Banner des Secen Qan Ayimaγ festgehalten , dass die Bevölkerung , sowohl Adlige als auch gewöhnliche Leute , dermaßen verarmt waren , dass sie weder ihre Steuern bezahlen noch für ihren Lebensunterhalt aufkommen konnten , s. Bawden 1989 , S. 142 f.

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In dieser Zeit des ökonomischen Niedergangs und sozialen Verfalls blühte der institutionalisierte Buddhismus.43 Auch wenn die abenteuerliche Zahl von einem Anteil von 40 Prozent Mönchen an der gesamten männlichen Bevölkerung ein falsches Bild zeichnet , da ignoriert wird , dass die meisten Mönche nach ihrer Klosterausbildung in ihre Ayils zurückkehrten , dort häufig eine Partnerschaft eingingen44 und als nomadische Viehzüchter lebten ,45 horteten die Klöster und einzelne Lamas einen beträchtlichen Reichtum.46 Klosterinstitutionen waren generell von Steuern und Abgaben befreit , und ein Teil der Bevölkerung war den Klöstern dienstverpflichtet.47 Der Buddhismus in der Mongolei hatte seit seiner endgültigen Durchsetzung im späten 16. Jahrhundert durch tibetische Mönche der dGe lugs pa-Lehrtradition ein spezifisch mongolisches Gesicht. So hatten die eigentlich dem Zölibat verpflichteten hohen Geistlichen wie der Jebtsundamba Qutuγtu meistens eine Gefährtin (tib. yum). Bei der Bevölkerung waren die Mönche nicht nur beliebt. Obwohl sie einerseits eine hohe soziale Position innehatten , wurden sie andererseits für ihren oftmals unmoralischen Lebensstil scharf kritisiert. Dies ist durch die zahlreichen Spottlieder und Balladen belegt , in denen man sich über die lüsternen buddhistischen Wandermönche oder die fetten und geldgierigen Lamas in den Klöstern lustig machte.48 Mönche spielten aber auch eine aktive Rolle in der Widerstandsbewegung und engagierten sich vor allem gegen die chinesische Landnahme. Buddhistische Wandermönche wie der berühmte Saγdar (1869–1929)49 griffen die Fürsten direkt an und stellten sie bloß. Als der Bannerfürst Qafunga 1907 das Gebiet um Buura im Baγarin-Banner verkauft hatte , fragte ihn Saγdar in einem Gedicht spöttisch : 43 Zum Buddhismus bei den Mongolen s. Sagaster 2007. 44 Nominell durften sie nicht heiraten , sie lebten jedoch oft mit Frauen zusammen und hatten mit ihnen Kinder. Dies berichtet Pozdneev 1887. Aus publizierten Eingaben an die Regenten des Nördlichen Banners des linken Flügels des Tüsiyetü Qan Ayimaγ wissen wir , dass dies schon im 18. Jahrhundert alltäglich war , s. Heuschert 2009 , S. 188 ff. Vgl. auch Boikova 2007 , S. 36 f. 45 Vgl. Bawden 1989 , S. 160. 46 Lamas , die Wiedergeburten waren , besaßen ihren persönlichen Haushalt (tib. bla brang) , der aus Land , Leuten und weiteren Besitzgütern bestand und erblich war. Durch die Erblichkeit wurde ein beträchtlicher Reichtum in diesen Haushalten akkumuliert. 47 Zur Organisation der Klöster s. Miller 1958. 48 Heissig 1994 , S. 723–792 gibt eine Vielzahl von Beispielen solcher Spottlieder. 49 Zu seinem Leben s. Heissig 1994 , S. 756–771.

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„Unser Regent hat die drei Täler von Buura verkauft und verzehrt , aber es hat ihm nicht genügt. Denkt ihr nicht auch daran , den Himmel zu verkaufen ? Wäre doch des Himmels Farbe etwas blauer , könnte man da den Preis nicht erhöhen , eh Herr ?“50

Mönche und buddhistische Würdenträger beteiligten sich an den gewalttätigen Ausschreitungen gegen Chinesen. So griff im Jahr 1829 während des großen Tsam-Tanzfestes in Küriye eine Gruppe Mönche zuschauende Chinesen an. 1887 wurden bei einer solchen Gelegenheit chinesische Soldaten zusammengeschlagen. 1881 zerstörten hunderte Mönche chinesische Geschäfte in Küriye. Laien und Mönche beteiligten sich Seite an Seite an solchen Ausschreitungen. Der Boγda Gegen als höchste geistliche Autorität deckte die Aufrührer und rechtfertigte in einem seiner öffentlichen Schreiben sogar Gewaltverbrechen , indem er sie als Mittel zur „Verteidigung der buddhistischen Lehre“ pries.51

Der 8. Jebtsundamba Qutuγtu Ngag dbang blo bzang chos `dzin nyi ma bstan `dzin dbang phyug dpal bzang po , wie sein voller tibetischer Name lautet , wurde am 8. September 1870 in Lhasa52 als Sohn einer Beamtenfamilie im Dienst des Dalai Lamas geboren. Zusammen mit seinen Eltern wurde er im Alter von vier Jahren nach Küriye gebracht , wo er seine geistliche Ausbildung erhielt. Der 8. Boγda Gegen war 50 Örgen 1959 , S. 55 , übersetzt in Heissig 1986 , S. 294. 51 Jibcungdamba qutuγtu-yin tüsiyetü qan ayimaγ-un ciγulγan daruγ-a giyün vang tusalaγci bükün-dür ilegegsen bicig , in Sarközi 1992 , S. 102 f. , englische Übersetzung S. 108. 52 Die ersten beiden Jebtsundamba Qutuγtus waren Mongolen und führten ihre Linie direkt auf Dschingis Khan zurück. Als buddhistische Wiedergeburten und dschingisidische Fürsten verkörperten sie in ihrer Person das seit dem 17. Jahrhundert bei den Mongolen virulente Ideal eines buddhistischen Herrschers. Den Mandschus erwuchs in ihnen eine die Integration der Mongolen in das QingReich potentiell in Frage stellende Führungspersönlichkeit. Daher ordnete der Qianlong-Kaiser nach dem Aufstand des Cinggünjab 1756 /  57 an , dass die künftigen Wiedergeburten des Jebtsundamba Qutuγtu nur noch aus Tibet stammen sollten.

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ein aufgewecktes Kind , das sich besonders für moderne Technik wie Uhren aus dem russischen Ausland interessierte. Mit fünfzehn Jahren begann er , gegen seine geistlichen Tutoren zu rebellieren , und 1887 , als seine Mutter gestorben war , fing er an zu rauchen , zu trinken und auf den Straßen von Küriye gewagte Späße zu treiben. Sein ungezügeltes Verhalten wurde von vielen Mönchen und auch von einem Teil der Bevölkerung als Zeichen für seine tiefe Religiosität interpretiert , ganz im Sinne des tibetisch-buddhistischen Rollenmodells eines sogenannten „verrückten“ Heiligen.53 Dies galt auch für seine zahlreichen sexuellen Abenteuer mit Frauen und Männern.54 Untrennbar verbunden mit dieser Wahrnehmung war seine Position als Emanation des Bodhisattvas Mañjuśrī , als die die Jebtsundamba Qutuγtus traditionell gelten , sowie als Wiedergeburt seines Vorgängers. Die Position verlieh ihm eine religiöse Unantastbarkeit , die seine tatsächliche Lebensführung nicht in Frage zu stellen vermochte.55 Dies ist typisch für das Ansehen und die Stellung von Wiedergeburten in tibetischen und mongolischen Gesellschaften. Im Weberschen Sinne lässt sich hier von einer „Versachlichung“ des Charismas56 sprechen , die sich auch in den festgelegten Auswahlverfahren für Wiedergeburten zeigt.57

53 Tib. smyon pa. Das nicht den sozialen Konventionen entsprechende Verhalten eines Mönches oder Asketen wird im tibetisch-buddhistischen Kontext als Zeichen dafür gedeutet , dass die Person die Buddhaschaft verwirklicht hat und daher nicht mehr an weltliche Restriktionen gebunden ist , vgl. Ardussi /  Epstein 1978 und Samuel 1993 , S. 302–308. 54 Der 8. Boγda Gegen hatte mindestens einen Sohn aus einer seiner Liebschaften. Schon früh steckte er sich zudem mit Syphilis an , als deren Folge er nach 1911 langsam erblindete. 55 Diese Unantastbarkeit erlaubte ihm sogar , seine Geliebte Dondugdulma (1874– 1923) offiziell als seine tantrische „Gefährtin“ (tib. yum) 1902 zu inthronisieren. Eine Yum ist die Partnerin eines tantrischen Adepten im tantrischen Ritual der Vereinigung von höchster Weisheit (Sanskrit prajñā) und Methode (Sanskrit upāya) , d. h. dem buddhistischen Weg zur Befreiung. Die Vereinigung des Weiblichen und Männlichen steht symbolisch für die Erlangung der Buddhaschaft , s. Kollmar-Paulenz 1997 , S. 210. Heute erleben sowohl der 8. Boγda Gegen als auch seine letzte , 1923 inthronisierte Gefährtin im Zuge des Erstarkens des Buddhismus neue Aufmerksamkeit , s. Kollmar-Paulenz 2003 , S. 34 , Anm. 21. 56 Weber 2010 , S. 844. 57 Die starke Eingebundenheit eines solcherart begründeten Charismas ist insbesondere für politische Herrschaft von Bedeutung , daher wohl auch Webers Abhandlung des Charismas in seiner Herrschaftssoziologie , s. Weber 2010 , S. 841 ff.

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Darüber hinaus wurde die einzigartige Position des Boγda Gegen auch von autochthonen mongolischen Herrschaftskonzepten getragen : Durch die genealogische Rückführung der Linie der Jebtsundamba Qutuγtus auf Dschingis Khan besaß er su /  sutu , das persönliche Charisma , und Kraft , gücün , die beiden wichtigsten Aspekte von sülder , einer dem Menschen innewohnenden Vitalkraft , die sich nur in Menschen zeigt , die vom Himmel zur Herrschaft bestimmt sind.58 Der Boγda Gegen war damit doppelt legitimiert , einmal durch das buddhistische Rollenmodell der Wiedergeburt , zum anderen durch sein ihm vom „Ewigen Himmel“ zugeeignetes persönliches Charisma. Seine Auserwähltheit ließ ihn , wie Dschingis Khan , zugleich zum Propheten werden. Jenseits der tantrisch-buddhistischen Deutungsmuster für die Exzesse des 8. Boγda Gegen stieß sein Verhalten bei Teilen der Bevölkerung und des buddhistischen Klerus jedoch auch auf scharfe Kritik. Trotzdem wurde er schon bald zur Kristallisationsfigur des mongolischen Widerstands gegen mandschurische Repression und chinesische Landnahme. Dies gelang ihm vor allem mit seinen prophetischen Schreiben , in denen er die wirtschaftliche Verarmung der Mongolen als Zeichen der angebrochenen „Zeit des Niedergangs“ deutete und unter Androhung der schrecklichsten Höllenstrafen59 die Rückkehr zu einem buddhistischen Lebenswandel forderte. So übernahm er die Deutungshoheit über die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen und schwor in seinen prophetischen Worten die Bevölkerung auf die Unterstützung seiner selbst , der buddhistischen Lehre und damit auch der klösterlichen Institutionen ein.

Prophetie als Herrschaftslegitimation In seinen prophetischen Schreiben geißelte der 8. Jebtsundamba Qutuγtu „Laster“ wie Tabakgenuss oder Alkoholexzesse und rief die Bevölkerung zur Einhaltung der buddhistischen ethischen Normen auf : „Die Zeit ist gekommen , dass der Rauch des Tabaks , den ihr genießt , vollständig die Helligkeit der Sonne und des Mondes verdeckt. Ist es nicht so ? 58 De Rachewiltz 2004 , I , S. 329–331. 59 So heißt es im Boγda gegegen-ü lüngdeng : „Ihr werdet in eurer nächsten Wiedergeburt das Land der Höllen betreten !“ (Sarközi 1992 , S. 121 , englische Übersetzung S. 125).

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Die Menge an Alkohol , den ihr trinkt , gleicht unüberquerbaren Flüssen und Meeren. [ …] Ihr , mein Volk ! Die zehn Arten von schwarzen Verfehlungen , eure schwarzen und roten Flüche , sie werden sich in die schwarzen und roten Herrscher der Tuberkulose verwandeln und euch besuchen. Ist es nicht so ? Es wird euch Schaden bringen , ist es nicht so ? [ …] Um sich schnell zu beruhigen und alle diese schlechten Dinge zu beenden , sollt ihr [ …] die Sungdui60 [ ….]61 lesen. [ …] Die Lamas und die Mönchsgemeinschaft sollen die drei Tempelliturgien vollziehen und die Mañjuśrīnāmasamgīti62 und den Don yod grub pa63 10.000 und 100.000 Mal rezitieren.“64

Er kritisierte jedoch nicht nur die Laien-Bevölkerung , sondern fand auch harsche Worte für die Mönche : „Nachdem sich die Mönche , Novizen , und die Mönchsgemeinschaft Gürtel angezogen haben , werfen sie ihre Schalen weg , schmücken sich mit roten und gelben Roben , verlassen den heiligen Ort meines Tempelhofes zu Pferd und treiben Handel. [ …] In meinen Augen ist euer Glauben wie der Schatten einer Wolke , die , nachdem sie aufgetaucht ist , vorbeizieht.“65

Mit der Kritik an den Mönchen bediente der Jebtsundamba Qutuγtu die Ressentiments in der Bevölkerung gegen einen Klerus , der die monastischen Regeln , die Geldverleih und Handel für Mönche verboten , ignorierte und sich an der materiellen Not der Nomaden bereicherte. Der „Verfall der Sitten“ hatte ihm zufolge unweigerlich eine Wiedergeburt in den Höllen und 60 Eine Sammlung von liturgischen Texten , die in Tibet und der Mongolei äußerst beliebt und sowohl im Druck als auch in handschriftlicher Form weit verbreitet waren. 61 Es folgt eine lange Aufzählung verschiedener populärer buddhistischer Texte , die rezitiert werden sollen. 62 Ein populärer Gebetstext an den Bodhisattva Mañjuśrī. 63 Der Buddha Amoghasiddhi. 64 Nayimaduγar boγda gegegen-ü altan surγali orosiba , S. 2 ,7–3 ,2 , Sammlung Ernst /  Winterthur. Der Titel dieses Textes ist nicht identisch mit einem der bisher bekannten prophetischen Schreiben des 8. Boγda Gegen in den einschlägigen Katalogen sowie den Sammlungen von St. Petersburg und teilweise von Ulaanbaatar , vgl. Sarközi 1992 , S. 111–116. Der Text selbst weicht in zahlreichen Passagen von einem ähnlichen , in Sarközi 1992 , S. 118–126 publizierten Text ab. 65 Nayimaduγar boγda gegegen-ü altan surγali orosiba , S. 5 ,9–6 ,2.

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fürchterliche Qualen zur Folge. Er selbst stellte sich allerdings aufgrund seiner religiösen Position außerhalb dieser „Zeit des Niedergangs“: „Als fünfter , sechster , siebter und achter Boγda Gegen habe ich in vielen Geburten diese Lehren verbreitet“.66 Zugleich eröffnete er seinen Zuhörern eine Option , ihrem akkumulierten schlechten Karma zu entgehen , indem sie seinen Anweisungen und Geboten Folge leisteten : „Die Lamas und Laien , die mir folgen , will ich wie Gelehrte ansehen. Ich will sie in dem Ort Gangdentegchileng67 wiedergeboren werden lassen , indem sie zu Mönchen und Novizen werden. Die hochgeborenen Leute will ich wie Dākīnīs68 betrachten und will sie in der Sukhāvatī69 wiedergeboren werden lassen. Die gewöhnlichen Leute will ich als Vater und wie Mañjuśrī ansehen. Ich will sie im Akanishta-Ort70 als Mönchsgemeinschaft wiedergeboren werden lassen.“71

Der Prophet wird hier selbst zum Mittelpunkt seiner prophetischen Äußerungen. Wer ihm folgt , entgeht den negativen Folgen seines Karmas. Als höchster geistlicher Würdenträger in der Qalqa-Mongolei nutzte der Jebtsundamba Qutuγtu die Prophetie zur Bestätigung seiner eigenen sozio-religiösen Position. Seine ������������������������������������������������������������������� prophetischen Schreiben dienten damit der Stabilisierung der institutionalisierten Religion , sie waren im sozio-religiösen Kontext herrschaftslegitimierend und -bestätigend , so wie sie in einem größeren sozio-politischen Kontext destabilisierend wirkten.

66 Nayimaduγar boγda gegegen-ü altan surγali orosiba , S. 3 ,6–7. 67 Das wichtigste buddhistische Kloster bei Küriye. Der Name dGa’ ldan theg chen gling bedeutet wörtlich übersetzt „Kontinent des freudenvollen großen Fahrzeugs“. 68 Eine Art weiblicher Gottheit im Buddhismus , s. Kollmar-Paulenz 2002 , S. 1196 f. 69 Das Buddhafeld des Buddhas Amitābha. 70 Das Buddhafeld des Buddhas Vajradhara. Dieser Buddha ist besonders populär im mongolischen Buddhismus. In großen Klöstern wie Gandenthegchinlin finden sich seine Statuen. Der 1. Jebtsundamba Qutuγtu erhielt 1649 in Tibet Initiationen in den Zyklus dieses Buddhas. 71 Nayimaduγar boγda gegegen-ü altan surγali orosiba , S. 7 ,6–8 ,1. Die in der Passage genannten Buddhas und die Orte weisen alle eine enge Verbindung zur Wiedergeburtenlinie der Jebtsundamba Qutuγtus auf.

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Prophetie als Ausdruck politischer Kritik Dem Boγda Gegen zufolge war ein weiteres Merkmal der „Zeit des Niedergangs der Buddhalehre“ die chinesische Präsenz im Land der Qalqa-Mongolen. In dem eingangs zitierten prophetischen Schreiben wird die soziale und wirtschaftliche Situation diesem buddhistischen Deutungsschema unterworfen. Die Chinesen „lieben die Lehre des Buddha nicht“ (burqan šišin-tur qayiqaraqu ügei) und tragen so zum Niedergang des Dharma aktiv bei. Zugleich wird eine für die Mongolen anbrechende gute Zeit prophezeit , die sich mit der Abwesenheit der Chinesen in den mongolischen Weidegebieten einstellen würde. Damit dienen die Prophezeiungen des Boγda Gegen in zweiter Linie dem Ziel sozialer und politischer Veränderung. Um aus der „Zeit des Niedergangs“ heraus- und in eine materiell und spirituell blühende Zukunft hineinzuführen , ruft der Boγda Gegen zur gewaltsamen Veränderung auf : „Der Boγda Gegen gab einen Befehl : vom Beginn des 1. [Tages] des 4. Monats dieses Jahres [1892] reitet in den Süden und vernichtet die gelbe Chinesenbevölkerung. [ ….] Wenn ihr dieser Anordnung folgt , ist es gut. [ …] Wenn ihr diesen Befehl nicht befolgt , werden eure Sitten verfallen und ihr werdet zusammen mit den Chinesen sterben.“72

Der Aufruf zur Gewalt erstaunt nur auf den ersten Blick. Gewalt bis hin zur Tötung von Lebewesen wird in normativen Texten der verschiedenen buddhistischen Traditionen als Mittel gerechtfertigt , die buddhistische Lehre vor ihren Feinden zu verteidigen und zu schützen.73 Wenn also die chinesischen Siedler die Essenz der mongolischen kollektiven Identität , den Buddhismus , bedrohen , ist ihre Vernichtung legitim und zieht kein schlechtes Karma nach sich. Erweisen sich die prophetischen Schreiben des 8. Jebtsundamba Qutuγtu im Kontext der mongolischen buddhistischen Institutionen als herrschaftslegitimierend , so stellen dieselben Prophezeiungen im politischen Kontext des mandschurischen Kolonialreiches die Herrschaft der Qing über die QalqaMongolen in Frage. Dem Jebtsundamba Qutuγtu war es gelungen , eine sich auf bekannte buddhistische Sinndeutungen stützende Stellungnahme zur Krisensituation in der Mongolei des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu entwi72 Sarközi 1992 , S. 130 f. , mongolischer Text S. 128. 73 Zu Buddhismus und Gewalt s. Kollmar-Paulenz /  Prohl 2003.

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ckeln , die sämtliche sozialen , ökonomischen und politische Aspekte umfasste. Er bot seinen Anhängern eine neue Lebensführung an , die aus der Krise herausführen sollte , und diese implizierte den politischen Umbruch.

Fazit In der Mongolei des 19. Jahrhunderts hatten die prophetischen Äußerungen des 8. Jebtsundamba Qutuγtu eine Reihe von Funktionen. Sie dienten dazu , sich der Loyalität der Qalqa-Mongolen , die sich seit dem 17. Jahrhundert als das Volk des Jebtsundamba Qutuγtu , seine persönlichen Bediensteten (shabi) , verstanden , zu vergewissern und sie auf seine religiöse und politische Führungsrolle einzuschwören.74 Auf vertraute buddhistische Deutungsmuster zurückgreifend , lieferten sie eine religiöse Sinndeutung für die desolate soziale und wirtschaftliche Situation. Im politischen Kontext des Qing-Reichs bereiteten sie der Unabhängigkeitsbewegung den Boden. Mit seinen Schreiben nahm der 8. Boγda Gegen eine umfassende Deutung der desolaten sozialen , wirtschaftlichen und politischen Situation der Mongolen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor , reflektierte die in der Gesellschaft vorhandenen Tendenzen zu gewalttätigen Konfliktlösungsstrategien und verstärkte sie , indem er selbst zu gewalttätigem Vorgehen gegen die chinesischen Siedler aufrief. Pro���� phetie dient damit im mongolischen Kontext einerseits als ein Instrument , durch das politisches Handeln legitimiert und gesteuert werden kann (und zwar gleichermaßen herrschaftsstabilisierend wie destabilisierend) , andererseits als ein Mittel , soziale und politische Veränderungen zu verstehen und ihnen einen Sinn zu geben. Diese doppelte Funktion prophetischer Worte entfaltet sich durch die Interaktion zwischen dem Propheten und der Gemeinschaft , die die prophetische Selbstwahrnehmung affirmiert und verstärkt.75 Das hier präsentierte Fallbeispiel von Prophetie im mongolischen Kulturraum stammt aus dem 19. Jahrhundert. Prophetie ist jedoch in mongolischen

74 Dieser Anspruch wurde auch visuell vergegenwärtigt : Das Soyombo-Symbol , das der 1. Jebtsundamba Qutuγtu im 17. Jahrhundert entworfen hatte , wurde vom 8. Jebtsundamba auf der mongolischen Flagge und dem Staatssiegel benutzt. Nach 1924 wurde es zum Symbol der unabhängigen Mongolei. Auch heute schmückt es die mongolische Staatsflagge und die Banknoten. 75 Seiwert 2003 , S. 301. Diesem Aspekt der Prophetie im mongolischen kulturellen Kontext kann hier nicht nachgegangen werden.

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Gesellschaften kein vergangenes Phänomen , sondern heute wieder hochaktuell. Das wird schon deutlich an der periodisch wiederkehrenden Publikation der Prophezeiungen des 8. Boγda Gegen in mongolischen Zeitungen. Seher-Propheten haben dauerhaft Konjunktur in der Mongolei. So unterhielt der erste post-sozialistische Präsident der Mongolei , Ochirbat , eine sehr enge Beziehung zu dem Seher-Propheten Dashtseren.76 Dashtseren wurde nach einer eingehenden Prüfung durch eine eigens zu diesem Zweck einberufene Kommission der Mongolischen Akademie der Wissenschaften unter „Staatsschutz“ gestellt : Er bekam eine persönliche Leibgarde , ein Apartment und eine offizielle Position im Büro des Präsidenten , und am wichtigsten : Er durfte die Mongolei nicht verlassen. Letzteres stellte sicher , dass der Prophet seine Gabe ausschließlich dem mongolischen Volk zur Verfügung stellte. Damit wurde die ��������������������������������������������������������������������� Prophetie ����������������������������������������������������������� als ein wichtiger Aspekt politischer Imagination , der Entscheidungsprozesse , Konzepte von Autorität und Vorstellungen von Zeit und Kausalität zu beeinflussen vermag , mithin als Mittel , sozialen und politischen Wandel als die Entfaltung einer schon bekannten Zukunft zu verstehen , im mongolischen politischen Diskurs rehabilitiert.

76 Humphrey 2006b.

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Der Mahdi und die Realpolitik Zur Dynamik endzeitlicher Szenarien in der islamischen Geschichte Afrikas Roman Loimeier

a) Einleitung Krisen , Kriege , Katastrophen und damit Gewalterfahrungen unterschiedlichster Art und Weise haben (auch) in islamischen Gesellschaften seit alters die Vorstellung genährt , das Ende der Zeiten sei nahe und ein Erlöser würde kommen. Dieser „Mahdi“ (wörtlich : der – von Gott – Rechtgeleitete“, arab. ‫ )ﺃﻠﻤﻬﺪﻯ‬würde die Menschen von allem Unrecht (arab. Ûulm) befreien und die gerechte islamische Gesellschaftsordnung etablieren. In meinem Beitrag werde ich auf eine Reihe dieser mahdistischen Bewegungen in der islamischen Geschichte Afrikas eingehen und versuchen , die Besonderheiten mahdistischer Erhebungen in Afrika herauszuarbeiten. Obwohl die Idee des Mahdi ursprünglich im šÐÝÐtischen Kontext entstanden war ,1 übernahmen auch die sunnitischen Muslime schon früh die Idee des 1

Der Begriff Mahdi kommt dabei weder im QurÞÁn noch in den ÍadÐ×Sammlungen von BuÌÁrÐ oder Muslim vor. Der Begriff entstand im Kontext der frühen šÐÝÐtischen Bewegung im Iraq : Dort wurde al-Íusayn , der Sohn des vierten Kalifen ÝAlÐ , nach seinem Tode im Jahre 680 von dem Prophetengefährten SulaimÁn b. SurÁd als Mahdi betitelt. Im zweiten Bürgerkrieg , der von 680–692 dauerte und sich gegen den Herrschaftsanspruch der Umayyaden richtete , wurde der Begriff al-Mahdi dann verwandt , um den „erwarteten Herrscher“ zu bezeichnen , der den Islam in seiner ursprünglichen Reinheit wiederherstellen würde. Im Kontext des Bürgerkriegs proklamierte im Jahre 685 /  686 ein Araber aus ÓÁÞif , al-MuÌtÁr , der in Kufa die Aufständischen anführte , einen dritten Sohn ÝAlÐs , MuÎammad , der aber nicht der Ehe mit der Prophetentochter FÁÔima entsprungen war , zum Mahdi , und bezeichnete die beiden anderen Kalifats-Prätendenten in Damaskus und Mekka als irregeleitet. Zu diesem Zeitpunkt war der Begriff des Mahdi noch ein stark politisch besetzter Begriff. Er hatte noch nicht die millenaristischen Konnotationen des späteren Mahdi-Begriffes. Der Aufstand in

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Mahdi. In sunnitischen Überlieferungen war die Vorstellung vom Kommen eines Mahdi aber immer schwächer ausgeprägt als in šÐÝÐtischen Kontexten. Nach sunnitischen Vorstellungen soll dem Kommen des Mahdi zunächst der daÊÊÁl („Anti-Christ“, Schwindler) vorausgehen. Der Mahdi soll ein Quraiš sein , d. h. ein Mitglied aus dem Stamm des Propheten. Er soll MuÎammad heißen und der Ankunft des letztendlichen Erlösers ÝIsÁÞ (Jesus) vorausgehen oder aber , nach anderen Vorstellungen , mit dem Erlöser identisch sein. So führte ÝAsim b. Bahdala (gest. 744 /  746) in spät-umayyadischer Zeit eine Prophetenüberlieferung an , die besagte , „Die Welt wird nicht enden , bevor nicht aus meiner Familie ein Mann erscheinen wird , der meinen Namen trägt und die Araber regieren wird“. Im Rahmen der Ýabbasidischen Rebellion gegen die Umayyaden verstärkten sich unter den sunnitischen Muslimen mahdistische Heilserwartungen. So erhielt der erste Ýabbasidische Kalif den Beinamen alMahdi und sein Nachfolger AbÙ ÉaÝfar bemühte sich darum , mahdistischen Erwartungen gerecht zu werden. Gleichzeitig vermehrten sich Prophetenüberlieferungen mahdistischen Inhalts und es entstand ein umfangreicher Korpus mahdistischer Ideen : Eine weit verbreitete Ansicht war der Gedanke , dass es in jedem Jahrhundert einen muÊaddid („Erneuerer“) geben würde. Der 12. muÊaddid sei wiederum der Mahdi. Dieser Mahdi würde zunächst den daÊÊÁl bekämpfen , den „Anti-Christen“, der verheerend die Welt durchzieht und sie ins Chaos stürzt , und ihn besiegen. Anschließend würde er die Herrschaft über die Welt an den Erlöser ÝIsÁÞ (Jesus) übergeben , der die Menschen am Tag des Urteils (arab. yaum al-qiyÁma) ins Paradies führt.2

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Kufa brach jedoch zusammen , weil sich MuÎammad ibn al-Íanafiyya weigerte , nach Kufa zu kommen und seine Herrschaft anzutreten. Nach diesem Misserfolg und der Unterdrückung der šÐÝÐtischen Hoffungen auf die Übernahme des Kalifates nahmen die šÐÝÐtischen Mahdi-Erwartungen zunehmend messianische Züge an : Dabei spielte vor allem die Idee eine Rolle , dass der von al-MuÌtÁr proklamierte Mahdi in Wirklichkeit gar nicht gestorben , sondern lediglich der Welt entrückt worden sei und dereinst als der Erlöser zurückkommen und die Herrschaft der Gerechtigkeit auf Erden herstellen werde. Dieses Konzept der Entrückung (al-Èaiba) wurde ab dem 8. /  9. Jahrhundert von allen šÐÝÐtischen Gruppierungen übernommen (Halm 1988 , S. 25). Zu mahdistischen Erwartungen , zum Konzept des Mahdi im Allgemeinen und zu mahdistischen Bewegungen auch außerhalb des afrikanischen Raums s. Madelung 1986 , Goldziher 1925 und Peters 1979 ; angesichts der Themenstellung bleiben mahdistische Bewegungen außerhalb des afrikanischen Raums hier aber unberücksichtigt.

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Die Besonderheiten mahdistischer Heilserwartungen blieben auch den muslimischen Gelehrten nicht verborgen. Am prominentesten hat der nordafrikanische Historiker und Philosoph Ibn ËaldÙn in seiner Schrift al-muqaddima im späten 14. Jahrhundert das Auftreten eines Mahdi und der mit ihm verbundenen Erwartungen beschrieben. Seine Darstellung , die durchaus widersprüchliche Traditionen berücksichtigt ,3 wird bis heute in der akademischen Literatur als definitorische Ausgangsbasis für die Beschäftigung mit dem Thema akzeptiert und wird hier zunächst kurz wiedergegeben , bevor im Weiteren eine Reihe mahdistischer Bewegungen detaillierter vorgestellt wird : Die Menschen haben im Laufe der Zeit den Gedanken akzeptiert , dass am Ende der Zeit ein Mann erscheinen wird ; dieser „erwartete Imām“ wird der Familie des Propheten angehören ( …wa-haÆa imÁm al-muntaÛar wa huwa min ahl al-bait min walad FÁÔima , 303) und dem Glauben und der Gerechtigkeit zum Triumph verhelfen. Die Muslime werden ihm folgen und er wird über alle muslimischen Reiche (und Konstantinopel) regieren und alMahdÐ genannt werden. Der daÊÊÁl wird ihm vorausgehen , ebenso auch die anderen Zeichen (eigentlich : „Bedingungen“) für das Ende der Welt (ašrÁÔ al-sÁÝa). Nach dem Erscheinen des MahdÐ wird Jesus (zur Zeit des Abendgebets) herabsteigen (den daÊÊÁl töten) und die Welt erlösen (×umma yanzilu ÝIsÁÞ fi-waqt ÒalÁt al-ÝaÒr fa-yuÒliÎ al-dunya).4

b) Die BargawÁÔa Die erste mahdistische Bewegung Nordafrikas entwickelte sich nicht im arabischen Raum , sondern unter der autochtonen Bevölkerung des heutigen Marokko , den „Berbern“ (Eigenbezeichnung ImasiÈen , die „Freien“). Hintergrund der Bewegung der BargawÁÔa war die tiefgreifende gesellschaftliche und politische Transformation der Berbergesellschaft im Rahmen der Eroberung der MaÈribländer durch die arabischen Muslime im späten 7. Jahrhundert. Die 3

So vermerkt Ibn ËaldÙn , dass in einigen Überlieferungen , insbesondere den sunnitischen , der Mahdi mit Jesus identisch sei : „la mahdÐ illÁ ÝIsÁÞ“: Es gibt keinen Mahdi außer Jesus selbst , S. 310. 4 Ibn ËaldÙn zusammenfassend S. 303–310 ; Übersetzung Blichfeld 1985 , ergänzend RL.

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rasch einsetzende Islamisierung der Berber führte zu islamisch begründeten Rebellionen gegen die Vorherrschaft der umayyadischen Gouverneure und , seit der Mitte des 8. Jahrhunderts , zur Etablierung einer Reihe ÌariÊitischer5 Stammesförderationen im östlichen und zentralen MaÈrib. Auf dem Territorium des heutigen Marokko etablierten sich drei politische Vormächte : zum einen die Förderation der ÌariÊitisch-Òufritischen BanÙ MidrÁr mit dem Zentrum SiÊilmÁsa , die Familiendynastie der IdrÐsiden in Fes im mittleren Atlas und die Förderation der BargawÁÔa in den Küstenebenen am Atlantik. Die BargawÁÔa stellten dabei eigentlich eine religiös-politische Bewegung von verschiedenen Berberstämmen dar , die ÌariÊitisch-Òufritische , šÐÝÐtische und vorislamisch-berberische Elemente verschmolz und darauf aufbauend eine neue Berberreligion mit einem eigenen QurÞÁn in berberischer Sprache entwickelte.6 Die BargawÁÔa-Föderation wurde von TarÐf b. MallÙk begründet , eigentlich ein Führer der ZanÁta-Berber.7 Er war derselbe TarÐf b. MallÙk , der im Jahre 710 die ersten Berber-Truppen nach Andalusien geführt hatte. Für seine Kriegsleistung erhielt TarÐf b. MallÙk ein eigenes Lehen in der Landschaft Barbate auf der Iberischen Halbinsel zugesprochen. Von der Landschaft Barbate leitete sich auch die verballhornte Nisbe „BargawÁÔi“ ab. Die BanÙ TarÐf beteiligten sich auch am Berberaufstand des Jahres 740 , dem es im Jahre 740 /  741 gelang , gemeinsam mit anderen berberischen Gruppierungen die arabischen Heereseinheiten fast völlig aus Iberien zu vertreiben. Erst ein arabisches Ent5

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Die ËariÊiten (wörtlich : die „Dissidenten“, eigentlich : diejenigen , die bei der Schlacht von Siffin im Jahre 656 das Lager ÝAlÐs verließen und ihm den Beistand verweigerten) selbst bezeichnen sich als ahl al-istiqÁma , die „Aufrechten“. Sie zeichnen sich gegenüber den beiden anderen großen Glaubensrichtungen im Islam (Sunniten und ŠÐÝÐten) durch die besondere Betonung der prinzipiellen rechtlichen und politischen Gleichheit und Gleichberechtigung aller Muslime aus. Die Genese der BargawÁÔa ist jedoch nicht ganz eindeutig. Die wenigen arabischen Quellen , die sich über die BargawÁÔa äußern , insbesondere Ibn Íawqal (10. Jahrhundert) und al-BakrÐ (11. Jahrhundert) schreiben ihnen unterschiedliche Ursprünge zu. Am detailliertesten ist noch der in Cordoba verfasste Bericht des ÑÁÎib ÑalÁtihim , des „ehrwürdigen Vorbeters“ der BargawÁÔa , AbÙ ÑÁliÎ ZammÙr , der sich im Jahre 963 im Auftrag des siebten Königs (ImÁms) der BargawÁÔa , AbÙ ManÒÙr ÝIsÁÞ (reg. 953–979) , im Rahmen einer diplomatischen Gesandtschaft am Hofe des umayyadischen Kalifen in Andalusien , al-ÍÁkim al-MustanÒir (961– 976) in Cordoba aufhielt (Talbi 1973 , S. 218). Seine Angaben wurden im Wesentlichen von al-BakrÐ übernommen (s. al-BakrÐ 1992 II , S. 819 ff.). Talbi 1973 , S. 220 , auch im weiteren Text , S. 218–221.

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satzheer konnte nach Andalusien übersetzen und die berberischen Truppen schlagen. In der Folge warf sich das arabische Heer in Andalusien zur neuen Vormacht auf und vertrieb die berberischen Bevölkerungsgruppierungen nach Nordafrika , wo sie sich dem weiteren Aufstand gegen die umayyadische Herrschaft anschlossen. Nach einem letztlich gescheiterten Vorstoß auf QayrawÁn zog sich TarÐf b. MallÙk mit seinen Anhängern in die Region von TÁmasnÁ zurück und etablierte dort nach 742 einen eigenen Staat , der eine Reihe von lokalen Berbergruppierungen unter seiner Führung und später seiner Dynastie vereinte. Insgesamt war die Föderation der BargawÁÔa im 9. und 10. Jahrhundert in der Lage , eine Streitmacht von 10–12.000 Kriegern aufzubieten. Die Herausbildung einer eigenen Religion begann aber nicht unter der Herrschaft von TarÐf b. MallÙk , der lediglich den Staat begründete , sondern erst unter seinem Sohn und Nachfolger ÑÁliÎ b. TarÐf (reg. c. 748–793). Nach al-BakrÐ „proklamierte sich ÑÁliÎ zum Propheten und gründete eine Religion , die seine Anhänger bis zum heutigen Tage (d. h. bis ins 11. Jahrhundert) befolgen. Er erklärte , eine Offenbarung des QurÞÁn erhalten zu haben. Er ist auch , so AbÙ ÑÁliÎ ZammÙr , der von Gott im arabischen QurÞÁn in der sÙrat al-taÎrÐm (Sure 66 , Vers 3) angekündigte ÑÁliÎ al-MuÞminÐn (der ‚Aufrechte unter den Gläubigen‘)“. Und weiter : ÑÁliÎ gab seine religiösen Offenbarungen weiter an seinen Sohn IlyÁs … gab

ihm aber auf , nichts davon öffentlich preiszugeben , bevor er sich nicht sicher sei , dass die Botschaft ihn nicht gefährden würde. Erst dann solle er die neue Offenbarung bekannt geben und seine Feinde bekämpfen … Daraufhin begab sich ÑÁliÎ außer Landes in den Osten und er versprach , unter der Herrschaft des siebten Herrschers der Dynastie wieder zurückzukommen und zwar als der Mahdi , der am Ende der Zeiten erscheinen wird , um den daÊÊÁl zu besiegen (wa-ÛaÝim annahu al-mahdÐ al-akbar allaÆi yaÌraÊ fÐ aÌir al-zamÁn li-qitÁl al-daÊÊÁl) … Schließlich teilte er ihm noch mit , dass er neben seinem arabischen Beinamen ÑÁliÎ , den syrischen Beinamen mÁlik (arab. König) , den persischen Beinamen ÝÁlim und den berberischen Beinamen War-IyÁ-WarÁ trage , derjenige (Prophet) , nachdem es keinen mehr geben würde.8

In dieser ÑÁliÎ b. TarÐf zugeschriebenen Überlieferung findet sich eine Reihe unterschiedlicher religiöser Elemente , die starke šÐÝÐtische Merkmale tragen , 8

Al-BakrÐ 1992 II , S. 820.

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obwohl doch die ersten Führer der BargawÁÔa-Föderation noch der Òufritischen Richtung der ahl al-istiqÁma verbunden gewesen waren. Auch IlyÁs b. TarÐf (reg. 793–842) scheint dem Òufritischen Bekenntnis treu geblieben zu sein , er soll ein Leben der Askese , des Glaubens und der Entsagung geführt haben und nach einer Herrschaft von fast fünfzig Jahren verstorben sein.9 Erst sein Sohn , YÙnus b. IlyÁs (reg. 842–884) , trat mit der bis dahin verborgenen Botschaft seines Großvaters an die Öffentlichkeit , so zumindest die von alBakrÐ überlieferte Aussage AbÙ ÑÁliÎ ZammÙrs : Er soll seinen Großvater als den vom QurÞÁn angekündigten letzten Propheten bezeichnet haben , der den Berbern eine eigene Offenbarung übermittelt habe , so wie MuÎammad dies für die Araber getan habe :10 So kann YÙnus b. IlyÁs als der eigentliche Begründer der Religion der BargawÁÔa gelten. Nach der Überlieferung al-BakrÐs hatte sich YÙnus vor seinem Regierungsantritt mit einer Gruppe von Begleitern im Jahre 816 /  817 auf die Pilgerreise nach Mekka begeben. Im Osten beschäftigte er sich nicht nur ausführlich mit den scholastischen islamischen Wissenschaften , sondern auch mit Ýilm al-falak (Astrologie , Numerologie) und der Astronomie. Zumindest soll er nach seiner Rückkehr in den MaÈrib in der Lage gewesen sein , seine Zeitgenossen mit seinem exakten Wissen und mit seiner Fähigkeit , Sonnen- und Mondeklipsen vorherbestimmen zu können , beeindruckt haben. Die eigentliche daÝwa (Botschaft) von YÙnus begann aber erst nach seinem Machtantritt im Jahre 842 und war offenbar recht blutig , da sich nur ein Teil der Stammesgruppierungen der BargawÁÔa-Föderation dazu bereitfand , die Botschaft von YÙnus anzunehmen. Auch gelang es YÙnus nicht , das neue Bekenntnis zu seinen Lebzeiten durchzusetzen , vielmehr gingen die Konversionsbemühungen unter seinem Neffen und Nachfolger AbÙ Çufayr (reg. 884–913) weiter , dem eine Reihe von Blutbädern zur Last gelegt wurden , dem aber auch ein Sieg über das Königreich der Idrisiden in Fes gelang. Erst unter seinem Sohn , dem nunmehr sechsten ImÁm der BargawÁÔa-Föderation , ÝAbdallÁh AbÙ l-AnÒÁr (reg. 913–953) , kehrte wieder Friede ein , ohne dass freilich der neuen Religion vollständige Anerkennung innerhalb der BargawÁÔa-Föderation zukam : Lediglich zwölf der 29 Stammesgruppierungen , die der Föderation angehörten , zählten sich der neuen Religion zu , die anderen blieben dem Òufritischen Bekenntnis verbunden. In ihrem Kern zielte die neue Religion der BargawÁÔa darauf ab , den Islam in eine Nationalreligion der Berber zu verwandeln und damit eine Entwick9 Talbi 1973 , S. 222 , auch im Weiteren , S. 222–228. 10 Talbi 1973 , S. 222.

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lung logisch fortzuführen , die bereits mit der ÌariÊitischen Rebellion gegen die arabische Herrschaft im 8. Jahrhundert begonnen hatte. Im neuen Glaubensbekenntnis wurde zunächst (der „entrückte“) ÑÁliÎ b. TarÐf als der kommende Mahdi proklamiert , der den Berbern eine eigene Offenbarung gebracht habe. Mit ÑÁliÎ b. TarÐf wurde zudem ein berberischer Prophet proklamiert , der den Berbern einen eigenen QurÞÁn in berberischer Sprache und eine Reihe ritueller Vorschriften gebracht habe. Dies sei im Koran angekündigt worden. In der Tat tauchte im 9. Jahrhundert ein QurÞÁn auf , der aus 80 (statt 114) Suren bestand , die zum Teil neu verfasst , im Prinzip aber aus dem bestehenden QurÞÁn übernommen und lediglich übersetzt worden waren , und zwar angeblich von ÑÁliÎ b. TarÐf selbst , dessen Kenntnisse der arabischen Sprache die seiner berberischen Muttersprache übertroffen haben sollen. Bemerkenswert am QurÞÁn der BargawÁÔa war die Tatsache , dass fast alle Suren andere Namen trugen als die des arabischen QurÞÁn : Häufig waren sie nach Propheten benannt , zum Beispiel die erste Sure , AyyÙb (Hiob) , die auch von al-BakrÐ wiedergegeben wurde (al-BakrÐ 826) , und die letzte , YÙnus. Daneben gab es Suren mit der Bezeichnung FiraÝÙn , YaÊuÊ und MaÊuÊ , al-DaÊÊÁl , Nimrod , „Hahn“, „Perdrix“, „Heuschrecke“, „Kamel“, „Schlange“ und „Wunder der Welt“. Abgesehen von ihrem QurÞÁn verfügten die BargawÁÔa über eine Reihe eigener kultischer Vorschriften : So wurde die Zahl der täglichen Gebete auf zehn erhöht (fünf am Tag , fünf in der Nacht) , die rituellen Waschungen wurden ausgedehnt , zusätzliche Fastentage eingeführt (vierzehntägig) , zudem ersetzte der Monat RaÊab den Monat RamaÃÁn als Fastenmonat und der Donnerstag den Freitag als Tag des gemeinschaftlichen Gebets (arab. yaum al-ÊumÝa). Die im QurÞÁn festgelegten Îadd-Strafen wurden anerkannt und verschärft , so etwa konnten Lügner verstoßen werden. Andererseits wurde die Beschränkung auf vier Frauen aufgehoben und neue Speisetabus eingeführt , so das Verbot des Verzehrs von Tierköpfen , Eiern und Hähnen. Ihr iÎrÁm (Heiligungsformel) bestand nicht aus der Gebetsformel bi-smi-llÁhi , sondern aus der Formel bi-smi-yÁsuš (im Namen Gottes) , zudem riefen sie nicht mit dem aÆhan zum Gebet , sondern folgten dem Hahnenruf , was , so al-BakrÐ , auch der Grund dafür gewesen sei , dass der Verzehr von Hähnen verboten war.11 Hatte die BargawÁÔa-Föderation Ende des 9. Jahrhunderts noch das Königreich der Idrisiden militärisch besiegt , so mussten die BargawÁÔa im 10. Jahrhundert selbst eine Reihe von Niederlagen einstecken , etwa im Jahre 977 /  978 gegen den fÁÔimidischen Heerführer ÉaÝfar al-AndalÙsÐ und 978 /  979 gegen 11 Al-Bakri 1992 II , S. 819 ff.

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den fÁÔimidisch-zirÐdischen Heerführer BuluÊÊin b. ZirÐ. Im Jahre 998 /  999 folgte eine weitere Niederlage gegen einen Vasallen des umayyadischen Kalifats von Cordoba , das allerdings zu Beginn des 11. Jahrhunderts auseinanderbrach und damit der BargawÁÔa-Föderation Zeit gab , sich zu erholen. Im Jahre 1029 wurden die BargawÁÔa jedoch erneut geschlagen , dieses Mal von AbÙ l-KamÁl TamÐm , dem Führer der BanÙ IfrÁn-Berber , die im 9. Jahrhundert noch Teil der BargawÁÔa-Föderation gewesen waren. Zur endgültigen Auflösung und zum Ende der BargawÁÔa-Föderation kam es in Zusammenhang mit der Etablierung des almoravidischen Reiches , in dessen Kontext das Nordheer der Almoraviden unter der Führung von ÝAbdallÁh b. YÁsÐn zwischen 1059 und 1061 das Gebiet der BargawÁÔa eroberte. Die BargawÁÔa wurden vollständig besiegt und ins almoravidische Reich integriert. Einige Anhänger der BargawÁÔa-Religion soll es allerdings noch Mitte des 12. Jahrhunderts in der Region TÁmasnÁ gegeben haben , denn gegen sie richtete sich eine militärische Aktion der Almohaden im Jahre 1148 /  49. Bei dieser Aktion , die die endgültige Eliminierung der aufständischen BargawÁÔa zum Inhalt hatte , wurden die BargawÁÔa vollständig ausgerottet. Seither verliert sich ihr Name in den Quellen.

c) Der fÁÔimidische Mahdi Eine weitaus bedeutendere mahdistische Bewegung als die der BargawÁÔa stellte die der FÁÔimiden in Nordafrika dar , die im frühen 10. Jahrhundert auf dem Territorium des heutigen Tunesien ein šÐÝÐtischen Kalifat errichteten und im 10. und 11. Jahrhundert zu einem fÁÔimidischen Großreich ausbauten , dessen Reichszentrum Kairo war. Die Entstehungsgeschichte der fÁÔimidischen Bewegung weist große Ähnlichkeiten mit der Ýabbasidischen Revolte gegen die Umayyaden und der Ausbreitung der ÌariÊitischen Glaubensrichtung auf : Sendboten (arab. dÁÝis) verbreiteten konspirativ die Botschaft vom Kommen des Mahdi , der die Muslime von ungerechter Herrschaft erlösen und die regierenden Usurpatoren beseitigen sollte. Im Falle der FÁÔimiden erwuchs die religiöse Begründung aus der Bewegung der šÐÝÐtischen Sekte der IsmÁÝÐliten. Die IsmÁÝÐliten führten sich eigentlich auf den sechsten ImÁm der ŠÐÝÐten , IsmÁÝÐl , zurück , der zwar noch vor seinem Vater ÉaÝfar al-ÑÁdiq (gest. 765) im Jahre 755 gestorben , von ihm aber durch die Ernennung (arab. naÒÒ) zum legitimen Nachfolger und sechsten ImÁm bestimmt worden war. Während heute die meisten Anhänger der ŠÐÝa die Linie der ImÁme in der Nachfolge eines überlebenden Sohns ÉaÝfars bis zum zwölften ImÁm anerkennen , beste-

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hen die IsmÁÝÐliten darauf , dass die Kette der Nachfolger ÝAlÐs mit einem Sohn IsmÁÝÐls , MuÎammad , dem siebten und letzten ImÁm , weitergegangen sei. Der letzte (siebte) ImÁm , MuÎammad b. IsmÁÝÐl , sei von Gott entrückt worden und werde dereinst als der Mahdi zu den Muslimen zurückkehren und sie von aller Ungerechtigkeit befreien.12 In der Mitte des 9. Jahrhunderts , also etwa einhundert Jahre nach der Èaiba des siebten ImÁms MuÎammad b. IsmÁÝÐl , etablierten sich die IsmÁÝÐliten zunächst im südlichen Irak als politisch-religiöse Bewegung in Opposition zum Ýabbasidischen Kalifat. In der Mitte des 9. Jahrhunderts konnte der Händler ÝAbdallÁh „al-Mahdi“ („der Ältere“) aus der iranischen Handelsstadt ÝAskar Mukram bei AhwÁs in Ëuzistan die Führung der unterschiedlichen ismÁÝÐlitischen Gruppen beanspruchen. Die ismÁÝÐlitische daÝwa breitete sich im Zweistromland , im Jemen , in Arabien , Syrien , Iran , Sindh und Libanon rasch aus und sammelte dabei die anti-Ýabbasidischen Kräfte unter ihrer Führung. Nach seinen ersten öffentlichen Bekundungen musste ÝAbdallah al-Mahdi aber aus ÝAskar Mukram fliehen und begab sich zunächst nach BaÒra , von wo aus die ismÁÝÐlitische daÝwa weiter vorangetrieben wurde. In BaÒra gab sich ÝAbdallÁh als Nachkomme des ÝAqÐl b. AbÐ ÓÁlib , eines Bruders von ÝAlÐ und Vetter des Propheten aus.13 Wegen seiner anti-Ýabbasidischen Kritik musste er aber bald 12 Die daÝwa („Sache“, Appell) der IsmÁÝÐliten beinhaltet eine Botschaft , die für die meisten anderen Muslime häretisch erscheint : Die göttliche Offenbarung im QurÞÁn sei nämlich verschlüsselt , der Text nur eine äußere Hülle , der eigentliche Kern , nämlich die „wahre Religion“, daÝwat al-Îaqq , sei verborgen (arab. bÁÔin). Um der Menschheit die erlösende Erkenntnis zu offenbaren , hat Gott Propheten , „Sprecher“, zur Erde entsandt , um die Menschen auf den rechten Weg zu führen. Bisher seien sechs solcher Sprecher erschienen , und zwar : Adam , Noah , Abraham , Moses , Jesus und MuÎammad , und mit ihnen sind sechs Religionen erschienen , deren Gebote und Riten jedoch nur äußere Hüllen seien : Hinter ihnen verbirgt sich die wahre , siebte , Religion , die als geheimer Kern in Bibel , Thora und QurÞÁn bereits enthalten sei und vom kommenden siebten Sprecher verkündet wird. Auf jeden Sprecher folgten zudem jeweils sieben ImÁme , wobei der jeweils siebte ImÁm auch der Sprecher der neuen Offenbarung sei. Im gegenwärtigen Zyklus sind diese sieben ImÁme die leiblichen Nachkommen ÝAlÐs. Der siebte (entrückte) ImÁm , der dereinst als der Mahdi wiederkehren soll , wird den Zyklus der Religionen beenden und die wahre Religion verkünden : Diese Religion wird alle bisherigen Pfade , also auch den Islam und die Prinzipien des Rechts aufheben (arab. : rafÝ al-šarÐÝa)  und die reine Anbetung des einzigen Gottes ohne Verbote , Gebote und Kulthandlungen herstellen (Halm 1991 , S. 24 ff.). 13 Halm 1991 , S. 19.

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wieder fliehen und zog sich nach Salamiya in Syrien zurück. Dort lebte er im Untergrund , agitierte im Geheimen weiter und entsandte Sendboten in die Länder der islamischen Welt zur Verbreitung der wahren Botschaft (arab. daÝwat al-Îaqq).14 Infolge der Aufdeckung des ismÁÝÐlitischen Propagandanetzwerkes in Syrien im Jahre 902 wurde die syrische Gemeinde erneut zur Flucht gezwungen , die zunächst nach Ägypten führte. Im Zuge dieser Flucht erhob der zeitgenössische Führer der ismÁÝÐlitischen daÝwa und Urenkel von ÝAbdallah al-Mahdi , SaÝÐd , die Behauptung , er sei direkter Nachkomme des siebten ImÁm , MuÎammad b. IsmÁÝÐl. Von nun an nannte er sich auch nicht mehr SaÝÐd , sondern ÝAbdallÁh al-Mahdi („der Jüngere“). Da im Jahre 905 ein Ýabbasidisches Heer Ägypten eroberte , war die ismÁÝÐlitische Gemeinde aber gezwungen , weiter zu flüchten , und begab sich via Tripolis nach SiÊilmasa im südlichen Marokko. Die Sendboten der ismÁÝÐlitischen daÝwa bauten überall , wo sie hinkamen , kleine Gemeinden von Anhängern auf , die sich organisierten und auf die baldige Ankunft des Mahdi warteten. Der erfolgreichste dieser Sendboten war der aus Kufa stammende AbÙ ÝAbdallÁh al-Íusayn b. AÎmad b. ZakariyyÁ al-ŠÐÝÐ , der zunächst im Jemen wirkte , dann aber im Zuge einer Pilgerreise in Mekka eine Gruppe von KutÁma-Berbern aus dem zentralen MaÈrib traf und von diesen eingeladen wurde , mit ihnen nach Westen zu ziehen. 893 erreichte er das Stammesgebiet der KutÁma und begann dort von dem Bergdorf Tazrut bei Mila aus , eine kleine Gemeinde , ein dÁr al-hiÊra , aufzubauen. Noch 893 gelangen ihm erste kleine Siege über die lokalen Vasallen der aÈlabidischen Dynastie in Tunis , sodass bis 895 ein Großteil der KutÁma für die ismÁÝÐlitische daÝwa gewonnen werden konnte. Im Jahre 902 war AbÙ ÝAbdallah so stark , dass er einen ersten direkten Schlag gegen die AÈlabiden führen konnte. Im Jahre 908 gelang AbÙ ÝAbdallÁh ein erster Vorstoß nach Ifriqiyya selbst und im Frühjahr 909 griff er schließlich mit seiner gesamten Streitmacht , etwa 200.000 Mann , an und schlug das aÈlabidische Heer entscheidend. Nach diesem Sieg wurden auch QayrawÁn und der Rest Ifriqiyyas erobert , die aÈlabidische Herrscherfamilie floh nach Osten auf Ýabbasidisches Territorium. Nach dem Sieg des Jahres 909 wurden in Ifriqyiya der šÐÝÐtische Gebetsruf eingeführt und eine neue Verwaltung eingesetzt. Noch im gleichen Jahr zog AbÙ ÝAbdallÁh auch aus , um den Mahdi aus SiÊilmasa nach Ifriqiyya zu holen. Im Jahre 909 wurde ÝAbdallÁh al-Mahdi von seinem dÁÝÐ AbÙ ÝAbdallÁh feierlich aus SiÊilmasa nach QayrawÁn geleitet. In QayrawÁn wurde er als 14 Ebd. , S. 17 , auch im weiteren Text : S. 17 ff.

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ImÁm und Mahdi empfangen und am 5. Januar 910 unter dem Namen ÝAbdallÁh AbÙ MuÎammad als Kalif proklamiert. Seine Regierungszeit dauerte bis zu seinem Tode im Jahre 934. Im selben Jahr erklärte er öffentlich den Anspruch seiner Bewegung auf die alleinige Führung der gesamten Umma und unterstrich die Legitimität seines Anspruches mit der Veröffentlichung eines Stammbaumes , der seine Familie auf die Familie von al-Íusayn b. ÝAlÐ , einen der beiden Söhne der Prophetentochter FÁÔima , zurückführte , von deren Namen sich die dynastische Bezeichnung FÁÔimiden ableitete.15 Allerdings proklamierte er öffentlich , dass nicht er der Mahdi sei , sondern erst sein Sohn , AbÙ l-QÁsim MuÎammad , der im Jahre 934 unter dem Herrschernamen alQÁÞim bi-amr AllÁh („der Vertreter der Sache Gottes“) die Macht übernehmen sollte. Diese Proklamation des Kalifen führte zu einer ersten Staatskrise , weil die ismÁÝÐlitischen iÌwÁn („Brüder“) mit dieser Politik nicht einverstanden und zudem von der luxuriösen Herrschaftsausübung des Kalifen enttäuscht waren. Die Verschwörung der dÁÝis wurde jedoch aufgedeckt und im Jahre 911 durch die Hinrichtung der Verschwörer beendet. Unter den Hingerichteten befand sich auch AbÙ ÝAbdallÁh , der eigentliche Begründer des fÁÔimidischen Staates in IfrÐqiyya. In Fortführung der Bewegung der BargawÁÔa kannte die Bewegung der FÁÔimiden in Nordafrika nicht nur einen Mahdi und die Idee der Aufhebung des etablierten Gesetzes , die nach einem entsprechenden Versuch fÁÔimidischer Eiferer im Jahre 921 aber vom Kalifen selbst unterbunden wurde ,16 sondern auch die des daÊÊÁl. Der daÊÊÁl der FÁÔimiden war ein ÌariÊitischer Rebellenführer namens AbÙ YazÐd aus dem südtunesischen ÉarÐd , der nach Jahren der anti-fÁÔimidischen daÝwa im Jahre 944 einen großen Aufstand gegen die Herrschaft der FÁÔimiden in Nordafrika (konkret war dies der fÁÔimidische Kalif AbÙ l-QÁsim MuÎammad al-QÁÞim bi-amr AllÁh , reg. 934–946) organisierte und anführte , welcher die FÁÔimiden an den Rand des Untergangs führte. Mangels der Unterstützung der sunnitischen Rechtsgelehrten für den Aufstand war dieser aber letzten Endes zum Scheitern verurteilt und brach im Jahre 946 zusammen. Der Führer des Aufstandes , der sich selbst bezeichnenderweise nicht in ein chiliastisches Weltbild einordnete , sondern sich lediglich als „Scheich der Muslime“ bezeichnete , wurde 947 in einem letzten Gefecht in den Bergen getötet.17 15 Ebd. , S. 89 ff. 16 S. hierzu ebd. , S. 222. 17 Ebd. , S. 267.

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d) Der Mahdi der Almohaden Die Bewegung der Almohaden entstand als eine religiös-politische Reformund Oppositionsbewegung gegen die Dynastie der Almoraviden und wandte sich gegen die Überbetonung des islamischen Rechts auf Kosten der qurÞÁnischen Glaubensrichtlinien und gegen die Alleinherrschaft der almoravidischen SanhÁÊa. Da sich das almoravidische Reich mit seinen Kriegsanstrengungen selbst überfordert hatte und alle Kräfte in Spanien konzentrierte , um die Reconquista zu bekämpfen , gelang es den rebellischen Berberstämmen des Atlas , vor allem den MasmÙda , sich in kurzer Zeit von der Herrschaft der Almoraviden zu befreien und die Herrschaft der SanhÁÊa zu beenden. Auch die Bewegung der Almohaden ist als eine Bewegung anzusehen , die sich gegen wachsende Ungerechtigkeit der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse der Zeit wandte. Die Bezeichnung Almohaden ist die spanische Verballhornung des arabischen Begriffes al-muwÁÎÎidÙn , „diejenigen , die die Einzigkeit Gottes (arab. tauÎÐd) betonen“, womit auch schon das Programm der Bewegung skizziert ist : Im Zentrum ihrer Ideologie stand nicht mehr wie bei den Almoraviden die Durchsetzung der korrekten Normen des islamischen Rechts mÁlikitischer Prägung , sondern die Besinnung auf die Grundlagen des Glaubens , so wie sie im QurÞÁn dargelegt sind :18 Auch hier haben wir es also mit dem Versuch der Aufhebung einer bestehenden Rechtsordnung zu tun. Der Führer der Bewegung der Almohaden war der im Jahre 1091 in IgillÐz , einem kleinen Bergdorf im Antiatlas , geborene Gelehrte AbÙ ÝAbdallÁh MuÎammad b. TÙmart , ein Berber aus dem Stamm der HarÈa , der zur Föderation der MaÒmÙda-Berber gehörte. Im Jahre 1106 ging er zunächst zum Studium der islamischen Wissenschaften nach Cordoba , und von dort aus in den Mašriq , nach Damaskus und Bagdad , wo er in Kontakt mit den Ideen al-ÇazÁlÐs kam , der wenige Jahre zuvor in seiner Schrift IÎyÁÞ ÝulÙm al-dÐn („Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften“) zu einer Synthese von Recht (arab. fiqh) und Sufismus (arab. taÒawwuf ) gelangt war. Al-ÇazÁlÐs Schriften waren wegen ihrer fiqh-kritischen Aussagen im Reich der Almoraviden verboten und wurden dort auch verbrannt. Im Jahre 1116 trat Ibn TÙmart die Rückreise in den MaÈrib an , wo er 1117 ankam und sich zunächst bis 1121 in Tunis als Lehrer seinen Lebensunterhalt verdiente. Im Jahre 1121 begab er sich in die Hauptstadt des almoravidischen Reiches , Marrakesch , wobei er in BiÊÁya seinen späteren Nachfolger , ÝAbd al-MuÞmin , traf , der die Organisa18 Abun-Nasr 1987 , S. 88 , auch im weiteren Text.

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tion der Bewegung übernehmen sollte. Unmittelbar nach seiner Ankunft in Marrakesch kam es zu einem Konflikt zwischen Ibn TÙmart und den mÁlikitischen Rechtsgelehrten der Stadt , weil Ibn TÙmart hartnäckig auf die Einhaltung der qurÞÁnischen Vorschriften und der Sunna des Propheten pochte und die Laxheiten der Almoraviden , ihren Luxus , ihre Freude an Wein , Musik und schöner Kleidung , angriff. Dazu besaß Ibn TÙmart die Kühnheit , die Schwester des almoravidischen Herrschers tätlich anzugreifen und von ihrem Pferd zu ziehen , weil sie nach Sitte der SanhÁÊa-Frauen ohne Schleier zum Gebet in die Moschee geritten war. Damit war die Auseinandersetzung mit dem almoravidischen Establishment unvermeidlich geworden. Auf Grund seiner Kritik an den Almoraviden war Ibn TÙmart in den Augen der Bevölkerung zum politischen Rebell geworden , während ihn die Rechtsgelehrten wegen seiner Lehren als Ketzer betrachteten. Grundlage der Lehre von Ibn TÙmart war die Lehre von der Einzigkeit Gottes (tauÎÐd) , die er im Wesentlichen als eine spirituelle Konzeption Gottes verstand. Damit lehnte er die Vorstellungen der Almoraviden ab , die eine anthropomorphe Gottesidee vertraten , die auf einem wortwörtlichen Verständnis des QurÞÁn beruhte. Ibn TÙmart kritisierte an diesen Vorstellungen , dass eine anthropomorphe Gottesidee dazu führe , dass Gott menschliche Eigenschaften unterstellt würden. Dies würde den Glauben an die Einzigkeit Gottes untergraben. Da die Almoraviden ihre Glaubensinterpretation zur Staatsdoktrin erhoben hatten , mussten sie jede Kritik an diesem Dogma als Angriff auf die Legitimität ihrer Herrschaft sehen und entsprechend handeln : Sie verfolgten Ibn TÙmart , der daraufhin wiederum den religiös legitimierten Krieg (arab. ÊihÁd) gegen die Almoraviden damit rechtfertigte , dass sie den Glauben verfälschten.19 Der Krieg gegen sie sei wichtiger als der Kampf gegen die Ungläubigen. Ibn TÙmart verurteilte zudem das Dogma der Almoraviden , die Schriften der mÁlikitischen Rechtsschule mit der šarÐÝa gleichzusetzen und darüber die Bezüge zu QurÞÁn und Sunna zu vernachlässigen. QurÞÁn und Sunna stellten für Ibn TÙmart die Grundlagen der Religion dar , alles andere , auch die Rechtsschulen seien nur sekundäre Ableitungen der Menschen. In diesem Sinne lehnte Ibn TÙmart auch die Rechtsprinzipien qiyÁs (Analogieschluss) und iÊmÁÞ (Konsensus der religiösen Gelehrten) ab und akzeptierte lediglich den Konsensus der Prophetengefährten.20

19 Haarmann 1987 , S. 300. 20 Abun-Nasr 1987 , S. 87 , auch im weiteren Text , 87 ff.

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Nach seiner Flucht aus Marrakesch zog sich Ibn TÙmart mit seinen Anhängern in die Berge des SÙs zurück und ließ sich im Jahre 1124 in der Bergfestung Tinmallal südlich von Marrakesch im Hohen Atlas nieder , wo er sich unter den Schutz des Führers der Hintata-Berber , AbÙ Íafs ÝUmar , stellte. Bereits im Jahre 1122 hatte er sich zum Mahdi und amÐr al-muÞminÐn (Anführer der Gläubigen) proklamiert und als al-imÁm al-maÝsÙm („unfehlbarer ImÁm“) bezeichnet. Mit der Etablierung seiner Bewegung in Tinmallal begann auch der militärische Widerstand gegen die Almoraviden. Tragende Säule der Bewegung der Almohaden wurde die Berberföderation der MaÒmÙda , die von Ibn TÙmart neu organisiert wurde : In Tinmallal richtete er einen Rat der „Zehn“ ein , die ihm als Berater zur Seite standen. Die Führer der Teilstämme wurden in einem größeren Rat von 40 Vertretern zusammengefasst. Alle 50 Führer der Bewegung bildeten zusammen mit Ibn TÙmart eine große Ratsversammlung , die alle wichtigen Schritte und Entscheidungen beriet. Ibn TÙmart verwandte viel Zeit und Energie auf die persönliche Ausbildung der sogenannten ÎufaÛÁÞ (sg. ÎÁfiÛ , eigentlich : „Erinnerer“) , einer Art geistig-intellektuellen Elite der Bewegung , aus der sich später der Großteil der Führungskräfte des almohadischen Staates rekrutierte.21 In der Bergfestung Tinmallal gelang es den Almohaden , wiederholte Angriffe der Almoraviden abzuwehren. Die Einführung einer neuen Sozialordnung unter den Berbern ging jedoch nicht ohne deren Widerstand ab : Einige Stammesgruppen wehrten sich , sodass Ibn TÙmart sie mit Gewalt unterwerfen musste. Im Jahre 1129 kam es schließlich zu einer großen Säuberungsaktion (arab. tamyÐz) , bei der einige Tausend unsichere Parteigänger getötet wurden.22 Im Mai 1130 griffen die Almohaden zum ersten Mal Marrakesch an , wobei sie jedoch eine Niederlage erlitten. Kurze Zeit später , im August 1130 , starb der Mahdi Ibn TÙmart. Sein Tod wurde etwa drei Jahre lang geheimgehalten , bis sein alter Weggefährte und Militärführer ÝAbd al-MuÞmin zum Nachfolger proklamiert wurde.23 ÝAbd al-MuÞmin sollte letztendlich die Bewegung der Almohaden auch zum militärischen und politischen Sieg über die Almoraviden führen. Nach dem Zusammenbruch des almohadischen Reiches in der Mitte des 13. Jahrhunderts werden für die Geschichte der MaÈribländer zunächst keine weiteren mahdistischen Bewegungen mehr berichtet. Dies mag daran liegen , dass sich in den drei Nachfolgereichen der Almohaden , nämlich in den 21 Le Tourneau 1969 , S. 34. 22 Abun-Nasr 1987 , S. 90. 23 Le Tourneau 1969 , S. 41.

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Dynastien der Mariniden in Marokko , der Zayyaniden im zentralen MaÈrib und der Íafsiden in Tunesien , eine gewisse regionale und religiöse Stabilisierung ergab , die in der politischen Dreiteilung des MaÈrib im Übrigen bis heute erhalten blieb.24 Dies mag aber auch daran liegen , dass sich im Kontext des Zusammenbruchs des Reiches der Almohaden und der Entstehung der Nachfolgestaaten der Mariniden , der ZayyÁniden und der Íafsiden eine neue religiöse Strömung entwickelte , die sich für die folgenden Jahrhunderte für die Gesellschaften der MaÈribländer als außerordentlich bedeutend erweisen sollte. Diese neue religiöse Bewegung , die insbesondere in den zentrumsfernen Regionen der MaÈribländer gesellschaftliche und politische Bedeutung und Integrationskraft erlangte , war wiederum mit der Entstehung eines neuen Typus religiöser Gelehrter verbunden , nämlich den Sufi-Gelehrten und SufiHeiligen. Sufi-Gelehrte waren seit der Mitte des 13. Jahrhunderts auch immer wieder die Führer von religiös-politischen Protestbewegungen und Aufständen , aber ihre Bewegungen nahmen bis zum 19. Jahrhundert keinen mahdistischen Charakter mehr an. Erst mit dem Einsetzen des europäischen Kolonialismus im MaÈrib und insbesondere im Rahmen der französischen Eroberung des zentralen MaÈrib seit 1830 kam es zu erneuten mahdistischen Erhebungen , die mit dem außerordentlich brutalen militärischen Vorgehen Frankreichs und der umfassenden Destabilisierung der etablierten Gesellschaftsordnung erklärt werden können. Besonders umfangreich waren dabei die Bewegungen von AbÙ ZiyÁn (BÙ ZiyÁn) im Jahre 1849 im südostalgerischen Ziban und von MuÎammad b. ÝAbdallÁh zwischen 1851 und 1855 in der Region von WarqalÁ , die hier aus Platzgründen allerdings nicht weiter erörtert werden.25

e) Der Mahdi im Sudan Während es in den MaÈrib-Ländern bis zum 13. Jahrhundert und dann wieder im 19. Jahrhundert eine ganze Reihe mahdistischer Bewegungen und Aufstän-

24 In religiöser Hinsicht dominieren in den MaÈrib-Ländern seit dem 13. Jahrhundert die sunnitische Glaubensrichtung und die mit ihr verbundene mÁlikitische Rechtsschule. ŠÐÝÐtische Einflüsse sind seit dem 11. Jahrhundert vollkommen verschwunden ; es gibt aber noch einige wenige ÌariÊitische Gemeinschaften im südostalgerischen Mzab , auf der tunesischen Insel Dscherba und im nordwestlibyschen Éabal NafÙsa. 25 Siehe ausführlich Clancy-Smith 1994 , S. 92 ff.

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de gab , kannten die west- und zentralafrikanischen bilÁd al-sÙdÁn („Länder der Schwarzen“) vom Atlantik bis zum Roten Meer bis zum 19. Jahrhundert das Phänomen mahdistischer Bewegungen zunächst überhaupt nicht. Dieses historische Faktum ist in einer Reihe von Ursachen begründet : Im Gegensatz zu den MaÈribländern entwickelten sich in den subsaharischen bilÁd al-sÙdÁn weder šÐÝÐtische noch ÌariÊitische Gemeinschaften , die bilÁd al-sÙdÁn waren vielmehr bereits seit dem 12. Jahrhundert ausschließlich mit der mÁlikitischen Rechtsschule der sunnitischen Glaubensrichtung verbunden und blieben dies bis heute. Zum zweiten mussten sich die bilÁd al-sÙdÁn in Gegensatz zu den MaÈrib-Ländern nicht mit arabischen Eroberern auseinandersetzen , Konversion zum Islam war mit der friedlichen Ausbreitung von Händler- und Gelehrtengemeinschaften verbunden. Erst im 19. Jahrhundert stellten die Muslime in den subsaharischen bilÁd al-sÙdÁn zudem eine Mehrheit der Bevölkerung dar und die religiösen Erneuerungsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts wurden wiederum von Sufi-Gelehrten angeführt , denen es um eine gesellschaftliche Erneuerung , um die Beseitigung unislamischer („ÊÁhilitischer“) Praktiken und die Errichtung einer gerechten islamischen Gesellschaftsordnung ging und nicht um endzeitliche Erlösungsszenarien. Erst mit dem zunehmenden Vorstoß der Kolonialmächte in die subsaharischen Regionen Afrikas und den damit verbundenen politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen kam es auch im subsaharischen Afrika zu ersten mahdistischen Bewegungen , und zwar zunächst im Nilsudan. Im Jahre 1881 proklamierte sich auf der Nilinsel Aba südlich von Khartoum ein religiöser Gelehrter namens MuÎammad AÎmad b. ÝAbdallÁh zum Mahdi und leitete damit den Aufstand gegen die ägyptische Herrschaft im nilotischen Sudan ein , der nicht nur eine völlige Neuordnung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Sudan bringen sollte , sondern auch zu einem Menetekel für das britische Imperium wurde und eine über Jahrzehnte anhaltende britische Angst vor „mahdistischen“ Aufständen in Afrika hervorrief.26 Der Erfolg der Bewegung des Mahdi im Sudan ist vor dem Hintergrund der Destabilisierung der sudanischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert im Kontext der ägyptischen kolonialen Eroberung des Niltals zu sehen. Die gesellschaftlichen Verwerfungen wurden dadurch verstärkt , dass Ägypten unter britischem Druck seit den 1860er Jahren zunehmend härter gegen die Vielzahl lokaler Sklavenjäger und Sklavenhändler vorging. Die nachlassende Versorgung mit Sklaven traf vor allem die im Niltal ansässigen Großbauern , die auf Sklavenar26 Holt 1977 , S. 7 ff. ; s. auch unten zu Satiru.

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beit bauten und die ägyptische Herrschaft trotz aller Modernisierungserfolge zunehmend als interessensfremde Kolonialherrschaft empfanden. MuÎammad AÎmad b. ÝAbdallÁh wurde am 12. August 1844 auf der Nilinsel Labab in der Provinz Dongola geboren. Seine Familie beanspruchte šarÐfische Abstammung , sie waren also Teil des religiösen Establishments des Nilsudans. Er selbst erfuhr eine umfassende religiöse Ausbildung. Im Jahre 1861 begab er sich zur Fortsetzung seiner Studien zu Scheich MuÎammad ŠarÐf NÙr al-DÐn al-DÁÞim al-BÁšir , der ihn in die Sufi-Orden der SammÁniyya einführte. Bei Scheich MuÎammad ŠarÐf studierte MuÎammad AÎmad sieben Jahre lang und gewann dabei einen Ruf als Asket und großer Gelehrter. Nach dem Ende seiner Ausbildung wurde er von MuÎammad ŠarÐf ermächtigt , auf Reisen zu gehen und neue Mitglieder der SammÁniyya zu werben. Auf diesen Reisen kam MuÎammad AÎmad durch große Teile des Nilsudans und ließ sich im Jahre 1870 auf der im weißen Nil gelegenen Insel Aba nieder. Seine Niederlassung auf Aba wurde rasch Zentrum einer wachsenden Anhängerschar , was ihm zunächst auch die Anerkennung der ägyptischen Verwaltung einbrachte.27 Im Jahre 1878 kam es jedoch zu einem Streit zwischen ihm und seinem alten Lehrer Scheich MuÎammad ŠarÐf , der ihm offenbar seinen wachsenden Ruhm neidete und ihn aus der SammÁniyya ausschloss. Nach MuÎammad AÎmads eigener Darstellung brach er mit Scheich MuÎammad ŠarÐf , nachdem ihm ein Verstoß seines alten Lehrers gegen die šarÐÝa bekannt geworden war : Jener hatte die Beschneidung seiner Söhne festlich mit Musik und Tanz begangen. Der Streit mit MuÎammad ŠarÐf erhöhte das Prestige MuÎammad AÎmads und machte ihn in den Augen seiner Gefolgschaft zu einem eigenständigen religiösen Führer. Kurze Zeit später unternahm MuÎammad AÎmad eine weitere Reise , die ihn nach Kordofan führte , wo er unter den arabischen BaÊÊÁra-Stämmen und den ÉallÁba-Händlern , die unter der Beendigung des Sklavenhandels durch die ägyptische Verwaltung litten , zahlreiche Anhänger gewann. Neben den Sklavenhandelsorganisationen und den Stämmen , die vom Sklavenhandel profitierten , gewann MuÎammad AÎmad aber auch Unterstützung unter den Bauern , die Sklaven brauchten , um ihre Landwirtschaft zu betreiben , unter den Sufi-Gelehrten , die sich von der Ausbreitung des SufiOrdens der MirÈÁniyya bedroht fühlten und die Eingriffe der ägyptischen Verwaltung in ihr Leben und ihre gesellschaftliche Rolle ablehnten , sowie unter den Stammesgruppierungen , die unter den koptischen Steuereintreibern und ihren einheimischen Hilfstruppen , den Shayqiyya , den ÝAbabda und 27 Holt 1958 , S. 45 ff.

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den Šukriyya , litten.28 MuÎammad AÎmad versuchte bei Beginn seiner daÝwa durchaus auch , die Unterstützung möglichst vieler Sufi-Führer zu bekommen , und war in diesem Zusammenhang bereit , ihre lokalen Machtsphären anzuerkennen. So schickte MuÎammad AÎmad über seinen wichtigsten Kommandanten im Osten , ÝU×man Diqna , zwei Briefe an die Führer der MaÊÆÙbiyya und der MirÈÁniyya , mit der Aufforderung , ihm Gefolgschaft zu leisten. Während sich die MaÊÆÙbiyya daraufhin der Bewegung von MuÎammad AÎmad anschloss , verweigerte ihm die MirÈÁniyya , die mit der MaÊÆÙbiyya verfeindet war , die Gefolgschaft und stellte sich gegen ihn. Im Jahre 1881 erhielt MuÎammad AÎmad Besuch von ÝAbdallÁh b. MuÎammad , einem TaÝiši-BaÊÊÁra , der sich im Rahmen seiner Pilgerreise (arab. ÎaÊÊ) in Darfur niedergelassen hatte. Nach seinem Besuch bei MuÎammad AÎmad behauptete ÝAbdallÁh b. MuÎammad , dieser sei der erwartete Mahdi. Er sei gekommen , die Zwangsherrschaft der Turkiyya zu beenden. MuÎammad AÎmad hatte daraufhin eine Reihe von Visionen , die seine Berufung bestätigten und proklamierte sich am 29. Juni 1881 auf der Insel Aba öffentlich zum Mahdi. Er nahm seinen Anhängern , den AnÒÁr , einen Treueeid ab und rief sie dazu auf , die gottlose Herrschaft der Ägypter zu beenden. In einer Reihe von Briefen an Notabeln und Gelehrte in anderen Teilen des Nilsudan forderte er diese dazu auf , seinem Beispiel zu folgen und nach dem Vorbild des Propheten das Land der ungerechten Herrschaft im Rahmen einer hiÊra zu verlassen.29 In einem Rundbrief an seine Anhänger legitimierte der Mahdi sein Handeln mit folgender Argumentation : Es ist offensichtlich , dass sich die Zeiten verändert haben und dass die Sunna aufgegeben wurde. Niemand , der gläubig ist und Intelligenz hat , wird dies gut heißen. Deshalb wäre es besser , er verließe sein Heim und seine Geschäfte , wie auch seine Heimat , um die Religion und die Sunna wieder neu zu beleben … Die hiÊra ist obligatorisch … für alle diejenigen , die dazu in der Lage sind , um den ÊihÁd aufzunehmen , der vom QurÞÁn mit den Worten geboten ist , Oh Ihr Gläubigen , bekämpft die Ungläubigen , die in Eurer Nähe wohnen (QurÞÁn 9 : 36) … Frieden und Wohlergehen mit Gott kann nur dann erreicht werden , wenn man der Religion folgt , indem man die Sunna des Propheten neu belebt und die kürzlich eingeführten bidaÝ und Irrtümer bekämpft … Dies ist nunmehr von großer Bedeutung geworden , 28 Warburg 1978 , S. 8 f. , auch im weiteren Text. 29 Holt 1958 , S. 55.

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weil sich die Korruption und der Sittenverfall über alle Länder ausgebreitet haben. Denn angesichts der Machenschaften der Ungläubigen gegen die Muslime und angesichts der Irrtümer , die sie in die Herzen der Gläubigen eingepflanzt haben , ist die Religion verschwunden und die Vorschriften des QurÞÁns und der Sunna werden nicht mehr befolgt. Die Ungerechtigkeit ist weit verbreitet , die teuflischen Innovationen sind überall und was der Islam verboten hat , ist jetzt erlaubt , die wahrhaft Gläubigen befinden sich in großer Not.30

Nach der Proklamation MuÎammad AÎmads zum Mahdi entsandte der ägyptische Gouverneur in Khartoum , RaÞÙf Pascha , eine militärische Expedition gegen Muhammad Ahmad , die jedoch von den AnÒÁr bei einem Gefecht auf der Insel Aba am 12. August 1881 besiegt wurde. Dieser überraschende Sieg gegen eine modern bewaffnete Streitmacht erhöhte den Ruhm MuÎammad AÎmads und führte ihm weitere Gefolgsleute zu. Da er jedoch nicht damit rechnen konnte , eine zweite , größere Militärexpedition zu schlagen , rief MuÎammad AÎmad , dem prophetischen Vorbild folgend , zur hiÊra auf und begab sich mit seinen AnÒÁr in das Gebiet des Éabal QÁdir in Südkordofan.31 Die Verfolgung durch die ägyptische Armee blieb wegen der Regenzeit stecken und erst am 9. Dezember 1881 kam es zu einem weiteren Gefecht zwischen den AnÒÁr und ägyptischen Truppen bei Faschoda am weißen Nil , bei dem die AnÒÁr die ägyptische Streitmacht erneut schlugen und dabei zahlreiche moderne Gewehre erbeuteten. Mit diesen Siegen wuchs der Ruhm der Mahdiyya und die Zahl der Gefolgsleute des Mahdi , sodass dieser am 30. Mai 1882 eine dritte ägyptische Militärexpedition am Éabal QÁdir besiegen konnte und damit die arabischen Stämme in Kordofan davon überzeugte , dass die ägyptische Verwaltung kurz vor ihrem Zusammenbruch stand. Nach dem Sieg am Éabal QÁdir gingen die AnÒÁr in die Offensive und eroberten in kurzer Zeit die gesamte Provinz Kordofan. Der Hauptort al-Ubayyid wurde am 1. September 1882 eingeschlossen. Inzwischen hatte die ägyptische Regierung einen neuen Gouverneur , ÝAbd al-QÁdir Pascha Hilmi , eingesetzt , der zunächst am weißen Nil erfolgreich eine Gegenoffensive eingeleitet hatte , die dann aber durch die britische Okkupation Ägyptens unterbrochen wurde. Nach der britischen Besetzung Ägyptens entsandten die Briten Oberst Williams Hicks in den Sudan , mit dem Auftrag , die Mahdiyya zu zerschlagen. Hicks stellte eine Streitmacht 30 Zitiert in : Peters 1979 , S. 66 f. 31 Holt 1958 , S. 58 ff. , auch im weiteren Text.

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von 10.000 Mann auf und marschierte unter Vernachlässigung grundlegender Sicherheitsüberlegungen gegen die AnÒÁr. Seine Expedition wurde in einem blutigen Gemetzel zwischen dem 3. und dem 5. November 1883 eliminiert. Damit waren die AnÒÁr zum erstenmal in einer offenen Feldschlacht siegreich und hatten das Rückgrat der ägyptischen Armee im Sudan gebrochen. Die AnÒÁr erhielten nun einen enormen Zulauf neuer Anhänger , die sich in Erwartung von Beute der Mahdiyya anschlossen. In kurzer Zeit fielen die Provinzen BaÎr al-Çazal , Weißer Nil und Darfur an die Mahdiyya. Im Osten des Nils erhoben sich zahlreiche Beja-Stämme unter der Führung von ÝU×man Diqna und schnitten die Rückzugsmöglichkeiten der anglo-ägyptischen Verwaltung in Khartoum zum Roten Meer ab. Angesichts dieser katastrophalen Lage entschloss sich die britische Regierung dazu , General Gordon in den Sudan zu entsenden , um die anglo-ägyptische Verwaltung zu evakuieren. Gordon missachtete jedoch diesen Auftrag und entschloss sich zur Verteidigung Khartoums. Die AnÒÁr waren jedoch bereits bis vor Khartoum vorgestoßen und schnitten mit der Eroberung von Berber am 27. April 1884 die Fluchtmöglichkeit auf dem Nil nach Norden ab. Am 23. Oktober 1884 erreichte MuÎammad AÎmad selbst die belagerte Stadt und ließ sich auf dem gegenüberliegenden Ufer in ÝUmdurman nieder. Nur wenige Tage vor dem Eintreffen einer britischen Hilfsexpedition auf dem Nil eroberten die AnÒÁr am 26. Januar 1885 die letzten Widerstandsnester in Khartoum und töteten Gordon. Der Mahdi MuÎammad AÎmad überlebte seinen Sieg jedoch nur kurze Zeit und starb selbst am 22. Juni 1885. Wie in anderen mahdistischen Erhebungen bemühte sich auch der Mahdi im Sudan , das etablierte Rechtswesen durch ein neues Rechtssystem zu ersetzen. Das Rechtswesen der Mahdiyya basierte auf der obersten Autorität von QurÞÁn und Sunna sowie der Weisungskraft des Mahdi und seines Nachfolgers. Unislamische Gebräuche , die gegen die šarÐÝa verstießen , wie etwa das verbreitete Amulettwesen , wurden verfolgt , die Sufi-Orden , insbesondere die MirÈÁniyya , verboten. Für die Frauen wurde der ÎiÊÁb eingeführt , die Verschwendung von großen Geldsummen bei Festen wurde angeprangert und derartige Ausgaben auf den Brautpreis beschränkt. Oberster Richter war der Mahdi , beziehungsweise sein Nachfolger. Unter ihm kamen die anderen Kalifen und die Militärführer sowie die Verwandtschaft des Mahdi. Daneben gab es jedoch auch einen QÁÃÐ al-IslÁm , AÎmad Éubara , der an der AzharUniversität in Kairo studiert hatte , aber nur bis 1883 lebte. Ihm folgte AÎmad Wad AllÁh nach , der bis 1893 im Amt blieb. Dem QÁÃÐ al-IslÁm waren in allen Provinzen nuwwÁb (Stellvertreter) unterstellt , die auf regionaler Ebene Recht sprachen. Generell wurde das Rechtskorpus einer einzigen Rechtsschule

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jedoch mit Misstrauen betrachtet und angenommen , dass es durch das Erscheinen des Mahdi aufgehoben worden sei. So wurde etwa der Statthalter des Darfur , MuÎammad ËÁlid , vom Mahdi gerügt , weil er in einem Streitfall die ÝulamÁÞ um Rat gefragt hatte.32 Nachfolger (ËalÐfa) des Mahdi und neuer Herrscher des Nilsudan wurde ÝAbdallÁh b. MuÎammad aus der Stammesgruppe der TaÝišÐ-BaÊÊÁra. Der ËalÐfa wurde im Jahre 1841 als ÝAbdallÁh b. al-Sayyid MuÎammad in Darfur geboren und beanspruchte ebenfalls šarÐfische Abstammung : Sein Vater , MuÃammad Tor Shayn , war ein Gelehrter der SammÁniyya , der sich wiederum über seinen Vater , ÝAlÐ al-KarÁr , und seinen Urgroßvater , al-Sayyid MÙsa , auf einen religiösen Gelehrten namens MuÎammad al-QuÔbÐ al-WÁwÐ zurückführte , der in Tunis gestorben war und aus einer šarÐfischen Familie stammte. Von seinem Vater , MuÎammad Tor Shayn , hatte ÝAbdallÁh nach der Beendigung seiner religiösen Ausbildung den Auftrag erhalten , weiter nach Osten zu ziehen und den Mahdi zu suchen. Im Jahre 1881 traf er schließlich in al-Musallamiyya , der zÁwiya des 1878 verstorbenen SammÁniyya-Gelehrten al-QurÁšÐ Wad al-Zayn , auf MuÎammad AÎmad , wurde sein Schüler und Gefolgsmann und half ihm dabei , das neue Zentrum auf der Nilinsel Aba aufzubauen. Nach der Proklamation des Mahdi und im Zuge der darauffolgenden Kämpfe wurde ÝAbdallÁh zur rechten Hand des Mahdi und ein erfolgreicher Militärführer : Er erhielt den Beinamen „Abu Bakr“ und das Kommando über die schwarze Flagge , in der alle mahdistischen Militäreinheiten aus dem Westen des Sudan zusammengefasst wurden.33 Die Nachfolge des ËalÐfa ÝAbdallÁh wurde am 27. Januar 1883 in einer öffentlichen Proklamation des Mahdi festgelegt. In dieser öffentlichen Ansprache hatte der Mahdi erklärt : „Wisst , dass der ËalÐfa ÝAbdallÁh ËalÐfa al-ËulafÁÞ ist , der Kommandant der Armee der Mahdiyya , in einer prophetischen Vision als solcher bezeichnet“.34 Der Mahdi hatte ÝAbdallÁh wohl deshalb zu seinem Nachfolger erklärt , weil er die Ansprüche seiner eigenen Verwandtschaft auf die Führerschaft allein auf Grund ihrer Verdienste und ihrer Verwandtschaft mit ihm als anmaßend empfand und ÝAbdallÁh ihm andererseits immer zuverlässig zur Seite gestanden hatte. ÝAbdallÁh selbst , der damit ins Zentrum der Macht gelangte , wurde von der Familie des Mahdi und anderen Anhängern des Mahdi aus den etablierten gesellschaftlichen Gruppierungen des Sudan dagegen als ignorant und pri32 Bleuchot 1989 , S. 152. 33 Yagi 1990 , S. 62 ff. 34 Ebd. , S. 574 , auch im weiteren Text.

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mitiv angesehen und verachtet , weil er als TÁÝiši-BaÊÊÁra zu einer marginalen gesellschaftlichen Gruppe gehörte. Die Herrschaft des ËalÐfa ÝAbdallÁh wurde daher nicht nur von den britischen Eroberern des nilotischen Sudan , sondern auch von der Familie des Mahdi selbst nach 1898 /  99 sehr negativ dargestellt und mit zahlreichen Gräueln in Verbindung gebracht. Die Botschaft des Mahdi im Sudan führte zu einer regelrechten Serie von chiliastischen „Nachahmern“, die sich innerhalb des mahdistischen Paradigmas bewegten und sich in Reaktion auf das Erscheinen des Mahdi konsequenterweise als al-nabÐ ÝIsÁÞ ausgaben , also als den auf den Mahdi folgenden letzten Propheten Jesus. Bereits unmittelbar nach dem Sieg der Mahdiyya kam es 1887 zu einem ersten Aufstand , bei dem der Führer des Aufstandes , Àdam MuÎammad , erklärte , er sei der angekündigte al-nabÐ ÝIsÁÞ.35 Sein Aufstand wurde von mahdistischen Truppen zwar rasch niedergeschlagen , aber das Konzept blieb von gesellschaftlicher und politischer Relevanz : Auch und vor allem nach dem Ende der Mahdiyya im Sudan im Jahre 1898 kam es zu einer ganzen Reihe von Aufständen gegen die neue britische Kolonialherrschaft. Viele dieser Rebellionen wurden von Rebellen angeführt , die beanspruchten , al-nabÐ ÝIsÁÞ zu sein , und die häufig die Briten als den „daÊÊÁl“ der Zeit bezeichneten. Um ein Ausbreiten dieser Rebellionen zu verhindern , waren die Briten bemüht , sie so rasch wie möglich niederzuschlagen , was häufig mit dem Tod der Rebellen endete. Einige Rebellen wurden aber auch inhaftiert oder für verrückt erklärt , so gleich zwei „Jesuse“ im Jahre 1912 , AÎmad al-DirdirÐ und al-ÑÁdiq al-NÁÞim. Die wichtigsten post-mahdistischen „Jesus“-Rebellen waren :36 - ÝAlÐ ÝAbd al-KarÐm (1900 , verhaftet) , - al-ŠarÐf MuÎammad al-AmÐn (1903 , hingerichtet) , - Adam MaÎmÙd (1904 , im Kampf getötet) , - MÙsa AÎmad (1906 , verhaftet) , - ÝAbd al-QÁdir MuÎammad (1908 , hingerichtet) , - MuÎammad JumÝa und ÝAbdallÁh FaÃlallÁh (1909 , verhaftet) , - IlyÁs MÙsa Íusayn (1914 , verhaftet) , - MuÎammad Sambo (1918 , im Kampf getötet) , - MuÎammad b. SaÝÐd ÍamÐd (1919 , im Kampf getötet) , - ÝAbdallÁh MuÎammad IdrÐs al-SihaynÐ (1921 , mehr als 5.000 Aufständische , ÝAbdallÁh MuÎammad IdrÐs al-SihaynÐ wurde gehängt) , sowie ein letzter Aufstand im Jahre 1927. 35 Voll 1988 , S. 109. 36 Siehe hierzu ausführlich Ibrahim 1979.

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Diese Aufstände wie auch der Kampf gegen die eigentliche Mahdiyya begründeten eine anhaltende Paranoia der Briten vor mahdistischen Erhebungen nicht nur im Sudan , sondern auch in anderen Kolonialgebieten , insbesondere Nordnigeria. Den Briten kam im Sudan jedoch zupasse , dass der spirituelle Erbe der Mahdiyya und Sohn des Mahdi , Sayyid ÝAbd al-RaÎmÁn al-MahdÐ , die Jesus-Aufstände als Angriff auf den spirituellen (und politischen) Führungsanspruch seiner Familie sah und sie daher aufs Schärfste verurteilte. Die Jesus-Prätendenten wurden dabei in schöner Regelmäßigkeit als „Ungläubige“ bezeichnet und damit auch mögliche religiöse Bedenken in Hinblick auf ihre Bekämpfung und Tötung beseitigt.

f ) Mahdistische Erhebungen im Sokoto-Reich und in Nordnigeria Im Rahmen der Rebellionen der frühen Kolonialzeit regte sich in zahlreichen Kolonien Widerstand gegen die europäische Kolonialherrschaft , die etablierten politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse (wie die im Sokoto-Reich) waren obsolet geworden. Zahlreiche antikoloniale und „mahdistische“ Aufstände sind bezeugt , und zwar nicht nur für das britische , sondern auch das französische und deutsche Kolonialgebiet. Diese Aufstände sollen hier nicht in ihrer ganzen Breite untersucht werden , weil sie ihre Wirkung als mahdistische Erhebungen meist nicht voll entfalten konnten. Zudem bemühten sich die europäischen Kolonialmächte darum , religiöse Erhebungen generell als „mahdistisch“ zu diskreditieren , ohne dass diese Rebellionen notwendigerweise mahdistische Züge gehabt hätten. Erst Ende der 1920er Jahren gelang es den Briten , ihre Angst vor „mahdistischen“ Aufständen zu überwinden. Dazu trug eine umfassende geheimdienstliche Studie der britischen Kolonialbeamten Lethem und Tomlinson bei , die in einem Bericht im Jahre 1927 die Hintergründe „mahdistischer“ Bewegungen ausführlich untersuchten.37 Mit der Niederschlagung der Mahdiyya im Sudan hatten die Briten zwar die historische „Schande von Khartoum“ ausgewetzt , aber die Angst vor mahdistischen Aufständen blieb bestehen und begleitete die Briten über fast drei Jahrzehnte britischer Kolonialherrschaft in Afrika. Das Mobilisierungspotential mahdistischer Bewegungen wurde dabei wohl überschätzt , gleichzeitig wurden „mahdistische“ Aufstände gegen die britische Herrschaft mit beispiel37 Siehe hierzu Loimeier 1988 , S. 206.

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loser Härte niedergeschlagen , um eine Ausbreitung solcher Aufstandsbewegungen im Keim zu ersticken. Häufig profitierten die Briten von der Tatsache , dass auch das lokale politische und religiöse Establishment nicht am Erfolg chiliastischer Bewegungen interessiert und bereit war , sich mit den Briten zu arrangieren. Besonders deutlich war dies im Falle des sogenannten Satiru-Aufstands in Nordnigeria im Jahre 1906 , dem eine „Geschichte“ mahdistischer Agitation im Sokoto-Reich seit den 1870er Jahren vorausgegangen war : Im Jahre 1873 verließ der dissidente Gelehrte ÍayÁt b. SaÝÐd , ein Sohn MuÎammad Bellos , des zweiten Herrschers des Reiches , Sokoto und begab sich auf die Pilgerreise , ließ sich jedoch schließlich in Marwa im Emirat Adamawa (im heutigen Kamerun) nieder und baute dort eine Gemeinde von Anhängern auf , die in den folgenden drei Jahrzehnten eine intensive daÝwa im Sokoto Reich entfalteten. ÍayÁt b. SaÝÐd bekannte sich ab 1881 zur Mahdiyya und unterhielt einen regen Briefwechsel mit dem Mahdi im Sudan , zog aber nicht in den Nilsudan , sondern schloss sich 1893 dem aus dem Sudan kommenden „warlord“ RÁbiÎ b. FaÃlallÁh an. Diese Allianz war aber nur von kurzer Dauer , schon 1894 wurde die Familie von ÍayÁt b. SaÝÐd mit Ausnahme eines Sohnes von RÁbiÎ b. FaÃlallÁh ermordet.38 Das Gedankengut und Erbe von ÍayÁt b. SaÝÐd lebte jedoch weiter und inspirierte nachfolgende Generationen muslimischer Gelehrter in Nordnigeria zu chiliastisch verfassten Erhebungen gegen die britische Kolonialherrschaft. Der umfassendste mahdistische Aufstand der frühen britischen Kolonialzeit in Nordnigeria war die Erhebung in der Region von Satiru im Jahre 1906 :39 Dort hatte sich im Jahre 1904 der lokale Machthaber zum Mahdi erklärt , war aber von der Polizei des Sultans von Sokoto verhaftet worden , woraufhin sein Sohn ÝIsÁÞ die Führung übernahm. Im Jahre 1906 gingen er und seine Anhänger zum offenen Aufstand über und besiegten eine erste britische Militärmission. Die Truppen des Sultans von Sokoto weigerten sich , gegen Satiru ins Feld zu ziehen , doch letztendlich schlug eine zweite britische Militärexpedition die Rebellion im März 1906 blutig nieder. Das Scheitern des Satiru-Aufstands war dadurch bedingt , dass sich die 1903 besiegten politischen Würdenträger des Sokoto-Reichs mit der britischen Herrschaft abgefunden hatten und nicht bereit waren , sich einer Rebellion der „pious mallams“ anzuschließen , die ihre eigene politische und religiöse Deutungshoheit in Frage stellte. 38 Clarke 1982 , S. 121. 39 Siehe hierzu ausführlich Adeleye 1971 , S. 321 ff.

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g) Schluss Krisen und Kriege haben in islamischen Gesellschaften ebenso regelmäßig wie vorhersehbar chiliastische Erwartungen genährt und das Hervortreten religiös-politischer Führer begünstigt , die sich als Autorität der Rechtleitung , als „Mahdi“, präsentierten. Die Grundelemente „mahdistischer“ Erwartungen sind zwar nicht in allen mahdistischen Bewegungen zu identifizieren , sie wiederholen sich aber in einer bemerkenswerten Musterhaftigkeit. Grundlage aller mahdistischen Bewegungen war zunächst die religiös legitimierte Rebellion gegen die bestehenden Herrschaftsverhältnisse , die als ungerecht und unislamisch dargestellt werden. In allen mahdistischen Erhebungen findet sich zudem ein ausgeprägter Rückbezug zu den Grundtexten und Grundlagen des Glaubens , der mit dem Anspruch verbunden wurde , diese Grundlagen des Glaubens neu zu interpretieren. Gleichzeitig wird die Autorität der etablierten Gelehrten und ihr Anspruch auf Deutungshoheit in Frage gestellt oder ganz und gar abgelehnt. Ein wichtiges Wesenselement erfolgreicher mahdistischer Bewegung war in der Tat die Ersetzung der etablierten Gelehrtenautorität , insbesondere im Bereich der Rechtssprechung , durch die neue Rechtleitungshoheit des Mahdi. Besonders deutlich war dies im Falle der FÁÔimiden in Nordafrika und des Mahdi im Sudan. Auffällig ist auch der legitimatorische Bezug auf das Vorbild des Propheten MuÎammad und dessen Leben : Nach der Diagnose eines Systems der Unterdrückung (arab. Ûulm , abstrakt : daÊÊÁl) , der Gewalt und des Chaos (fitna) folgt der takfÐr (expiatio) des bestehenden politischen Establishments , der das religiös bedenkenlose Töten der Feinde erst ermöglicht , daraufhin die hiÊra und der ÊihÁd gegen das jeweils herrschende Regime , und schließlich die „medinensische“ Machtübernahme. Deutlich können diese mahdistischen Strukturmuster bereits in der fÁÔimidischen daÝwa gesehen werden : Sie entwickelte sich , wie auch alle anderen mahdistischen Bewegungen , in einem Kontext politischer und gesellschaftlicher Verwerfungen und gewalttätiger Verhältnisse und bemühte sich , ihre Botschaft religiös zu legitimieren und die eigene Gruppe zu heiligen. Der fÁÔimidische Mahdi begab sich , dem Vorbild des Propheten folgend , auf eine lange hiÊra und konnte nach langem Kampf schließlich in sein Reich einziehen. Zu genau diesem Zeitpunkt , nämlich mit der Machtübernahme des Mahdi , entwickelte sich ein wiederkehrendes Strukturproblem mahdistischer Bewegung. Die chiliastische Botschaft wurde nämlich mit harten realpolitischen Erwartungen konfrontiert : Nach dem Sieg des Mahdi erfolgten eben nicht die

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Aufhebung allen Unrechts und die Einlösung des Versprechens der Erlösung. Durch die Notwendigkeit , sich politisch zu verstetigen , verloren mahdistische Bewegungen rasch ihre endzeitliche Dynamik und waren beispielsweise gezwungen , mehr oder weniger offen auf die etablierten Normen des islamischen Rechts zurückzugreifen , um ihrer Verwaltung und Herrschaft eine Rechtsgrundlage zu geben. Damit geriet die Herrschaft des „Mahdi“ rasch zu einer Herrschaft wie alle anderen Herrschaften und es kam zur Entstehung von Protestbewegungen , die erneut von Propheten angeführt wurden , die sich , dem Modell mahdistischer Heilserwartungen folgend , häufig als „Jesus“ (al-nabÐ ÝIsÁÞ) ausgaben. Der Mahdi und seine Bewegung mussten somit eine Antwort auf die Frage finden , wie man das angekündigte Ende der Welt und das Kommen des wirklichen Erlösers auf absehbare Zeit vertagen konnte. Die Antwort auf diese Frage wurde nun aber nicht mehr chiliastisch , sondern machtpolitisch begründet und endete in der Regel mit dem Tode des jeweiligen al-nabÐ ÝIsÁÞ.

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Kryptokalvinismus , Propheten und Gewalt in den Cevennen Susanne Lachenicht

Die so genannten Religionskriege in Frankreich , die seit 1562 das Land in Kalvinisten und Katholiken gespalten hatten , wurden 1598 mit dem Erlass des Edikts von Nantes zunächst beendet. Hugenotten durften nun überall dort , wo 1596 und 1597 bereits protestantische Kirchen bestanden hatten , und in jeweils zwei Vorstädten in jeder Baillage (Vogtei) des Königreichs öffentlich Andachten abhalten und Temples (protestantische Kirchen) bauen. In den meisten Orten Frankreichs war es Kalvinisten damit jedoch weder erlaubt , Gottesdienste abzuhalten noch Schulen für ihre Kinder zu errichten oder protestantische Schriften zu drucken. Protestanten mussten überdies den Zehnten an die katholische Kirche entrichten. Dafür wurden den Hugenotten jedoch von der französischen Krone Entschädigungssummen für den Unterhalt ihrer Pastoren und Kirchen gezahlt , ebenso für protestantische Garnisonen in ca. 150 französischen Städten. Was die zivilen Rechte der Kalvinisten anging , so wurden sie überall in Frankreich den Katholiken gleichgestellt. Sie hatten freien Zugang zu Schulen und Universitäten , ebenso mussten sie in Hospitälern und Armenhäusern aufgenommen werden. Alle Ämter , öffentliche Institutionen , politische und jurisdiktionelle Rechte und Funktionen standen beiden Konfessionen gleichermaßen offen. Gleichzeitig wurde mit dem Edikt von Nantes der Katholizismus als Staatsreligion bestätigt. Das Edikt von Nantes stand am Ende einer Reihe von königlichen Dekreten , die den Religionskriegen ein Ende bereiten und zur Pazifizierung des Landes führen sollten. Damit etablierte sich ein Dualismus in Frankreich , eine Spaltung des Landes in mehrheitlich kalvinistische (oder hugenottische) bzw. katholische Dörfer , Städte und Regionen , die Entstehung eines , so Élisabeth Labrousse , „Staates im Staate“.1 Ab den 1660er Jahren wurden sukzessive die Privilegien , die das Edikt von Nantes gewährt hatte , zurückgenommen. Kalvinistische Pastoren durften ihren Habit nicht mehr außerhalb ihrer Temples tragen , Psalme durften nur während der Andacht gesungen werden , aber nicht , wenn außerhalb der Kirche eine katholische Prozession vorbeizog. Beerdigungen wurden auf genau 1

Labrousse 1985 , S. 285.

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bestimmte Friedhöfe beschränkt. Protestanten durften keine Katholiken mehr heiraten , missionarische Tätigkeiten wurden verboten , Kirchen , Schulen und Akademien (d. h. protestantische Universitäten) , die „illegal“ neu errichtet worden waren , zerstört. Besonders stark waren das Languedoc und die Dauphiné betroffen.2 Die Caisse des Écomats , von den Hugenotten als Caisse des conversions bezeichnet , führte , so Pierre Bayle , zu einer Foire aux âmes , einem wahren Markt , auf dem Konversionen individuell vergoldet wurden.3 Die 1681 zunächst im Poitou einsetzenden Dragonaden waren nichts Neues. Soldaten waren bereits 1615 (im Chablais) , 1627 (in Aubenas) und 1660 (in Montauban) in hugenottischen Haushalten einquartiert worden. Die Dragonaden von 1681 /  82 waren jedoch in ihrer Qualität und vor allem in ihren Konsequenzen anders dimensioniert als in den Jahrzehnten zuvor. Sie waren mit Trinkgelagen , der Zerstörung von Mobiliar und Geschirr , der Schikanierung der Hausbewohner bis zu Folter , Vergewaltigungen und Massakern verbunden. In der Regel wurden die Soldaten abgezogen , wenn sich die Bewohner bereit erklärten , zum Katholizismus zu konvertieren.4 Verantwortlich für die Dragonaden im Poitou war René de Marillac , der Intendant der Provinz , der nach heutigem Kenntnisstand auf Geheiß des Kriegsministers Louvois handelte. Die Dragonaden im Poitou lösten heftige Reaktionen im In- und Ausland aus. Der Kurfürst von Brandenburg zeigte sich empört über die Ausschreitungen gegen die kalvinistische Bevölkerung , ähnlich auch England und die Vereinigten Provinzen der Niederlande. Am Hof in Versailles protestierten die Députés-généraux , d. h. die offiziellen Vertreter der französischen Kalvinisten , ohne Erfolg. Ludwig XIV. lehnte die Verantwortung für die Geschehnisse im Poitou ab. Am 26. November 1681 wurden die Dragonaden offiziell eingestellt ; inoffiziell dauerten die Gewalttaten gegen hugenottische Haushalte bis in den Winter 1681 /  82 hinein an. Auf die Dragonaden folgte das Avertissement , das den Konsistorien protestantischer Gemeinden in ganz Frankreich von Intendanten und Bischöfen vorgelegt wurde. Es sollte die Konsistorien dazu zwingen , ihre Gemeindemitglieder von der Konversion zu überzeugen. Protestantische Juristen setzten eine Antwort auf , die in den kalvinistischen Gemeinden Frankreichs verbreitet wurde und auf subtile Weise die Forderungen von Krone und katholischer Kirche ad absurdum führte. Da das Avertis2 3 4

Ponton /  Cabanel 1994 , S. 38. Labrousse 1985 , S. 305–313. Labrousse 1990 , S. 153–181.

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sement somit fruchtlos blieb , setzten ab 1683 und dann vor allem von Mai bis September 1685 weitere Dragonaden ein. Letztere betrafen die Guyenne , die Gascogne , die Dauphiné , das Lyonnais , das Aunis , die Saintonge und noch einmal das Poitou. Protestantische Kirchen wurden zerstört , Pastoren gefangen gesetzt und drangsaliert. Am 18. Oktober 1685 wurde das Edikt von Nantes widerrufen. Mit dem Edikt von Fontainebleau wurden protestantische Gottesdienste überall in Frankreich verboten , ihre Temples der Zerstörung anheimgegeben. Pastoren mussten Frankreich innerhalb von zwei Wochen verlassen , wenn sie nicht bereit waren , zum Katholizismus zu konvertieren. Ihr Eigentum wurde beschlagnahmt. Protestantischen Laien , das heißt der Masse der in Frankreich lebenden Kalvinisten , wurde es allerdings untersagt , das Land zu verlassen. Ihre Kinder sollten im Katholizismus erzogen werden. Das Edikt von Fontainebleau war jedoch kein Edikt , das die französischen Kalvinisten expressis verbis zur Konversion zwang. Die Angehörigen der Religion Prétendue Réformée (RPR) mussten allerdings in Frankreich bleiben , was de facto die Konversion notwendig machte. Von den ca. 750.000 noch in Frankreich lebenden Hugenotten wanderten bis ca. 1710 150.000 bis 200.000 nach England , in die Vereinigten Provinzen der Niederlande , nach Brandenburg , Schweden , Südafrika und Nordamerika aus und begründeten das so genannte Grand Refuge , die restlichen ca. 500.000 Protestanten verblieben in Frankreich. Die Dragonaden der 1680er Jahre führten vor allem in den Zentren des Protestantismus in den Cevennen oder im Unteren Languedoc zu Massenkonversionen und zur Herausbildung der sogenannten Nouveaux convertis (Neukonvertiten). Der Revokation war kein wirklicher Erfolg beschieden. Viele Protestanten schworen nach 1685 ihrem Glauben nicht ab und ließen ihre Kinder , die katholisch getauft werden mussten , parallel protestantisch erziehen. Es ist unklar , wie viel Prozent der Nouveaux convertis Kryptokalvinisten waren , aber es gibt Hinweise , dass in einigen Regionen wie den Cevennen und der Provence der passive Widerstand der Konvertiten beträchtlich war. Dies zeigen Formeln in Testamenten im Südosten Frankreichs ,5 aber auch versäumte Besuche der Messe , mangelnde Beteiligung von Konvertiten an Prozessionen und die Nichtbeachtung von Fasttagen.6 Dass der Protestantismus im Süden Frankreichs nicht mit der ersten , 1685 erwachsenen Generation von Protestanten ausstarb und trotz fehlender Kir5 6

Vovelle 1978 , S. 42–59. Joutard 1985 , S. 359 f.

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chen und Pastoren von den Eltern der unter Zwang im katholischen Glauben erzogenen nächsten Generation am Leben gehalten wurde , zeigen insbesondere die Bewegung der „Propheten“ und der Aufstand der Camisarden. Sowohl die Propheten der Cevennen , die sich nun weniger am „Wort Gottes“ als an Prophezeiungen und Visionen orientierten , als auch die aufständischen Camisarden waren fast allesamt Kinder protestantischer Eltern gewesen , die , nach Meinung der katholischen Kirche und der französischen Krone , im katholischen Glauben groß geworden waren. Bereits kurz nach der Revokation waren die später sogenannten Églises du désert (Kirchen der Wüste) gegründet worden : Gruppen von Protestanten versammelten sich in Wäldern oder auf Feldern , um protestantische Andachten zu zelebrieren und Psalmen zu singen. Durch die Abwanderung ihrer Pastoren , die Auflösung der Konsistorien und damit auch der discipline ecclésiastique (Kirchenzucht und -ordnung der reformierten Kirchen Frankreichs) inklusive der sozialen Kontrolle , die die Konsistorien einschließlich Pastoren ausgeübt hatten , bekamen diese Églises du désert einen neuen , den kalvinistischen Kirchen Frankreichs bislang weitgehend unbekannten Charakter. Die Situation beschreibt Élie Marion , ein Camisardenführer aus Barre , wie folgt : J‘étois alors [1685] âgé de sept ans. Je n‘ay jamais fait aucune abjuration ni acte de la Religion romaine que d‘aller quelques fois à la messe , estant forcé comme tous les autres enfants par les maîtres d‘école que le Roy avoit envoyé dans tous les endroits protestants pour instruire la jûnesse. Les instructions secrettes que je recevois tous les jours par mon père et ma mère , augmentoint sy fort mon adversion pour l‘idolâtrie , et pour les erreurs du papisme , qu‘estant parvenu en âge de connoissance , je ne pratiquoi plus que les assemblées des protestants qui se faisoint dans les desertz ( …).7 7

„Ich war sieben Jahre alt. Ich habe niemals meinem Glauben [dem Kalvinismus] abgeschworen , niemals einen anderen religiösen Akt in der römischen Kirche vollzogen als den , ab und an zur Messe zu gehen , da ich wie alle anderen Kinder dazu vom Schulmeister gezwungen wurde , den der König in alle protestantischen Orte geschickt hatte , um die Jugend [im wahren Glauben] zu unterrichten. Die geheimen Anweisungen , die ich jeden Tag von meinem Vater und meiner Mutter erhielt , erhöhten meine Abneigung gegen die Götzenanbetung und die Irrungen des Papismus so stark , dass ich , als ich das Alter der Vernunft erreicht hatte , nur noch die Versammlungen besuchte , die die Protestanten in der Wüste abhielten ( …).“ Récits d‘Abraham Mazel et d‘Elie Marion , S. 43 f.

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Der Aufstand der Camisarden von 1702/03 stellte die erste gewaltsame Eruption in der Kontinuität des Protestantismus als Kryptokalvinismus im Süden Frankreichs dar , vor allem in den Cevennen , aber auch im Poitou , in der Normandie , in der Picardie und in der Saintonge , wo quasi-synodale Versammlungen und Gottesdienste abgehalten wurden.8 Prophetismus und Ausbrüche von Gewalt gegen katholische Kirche und französische Krone gingen in den ersten drei Jahrzehnten der Existenz des Kryptokalvinismus in Südfrankreich ein Amalgam ein. Im Januar 1688 hatte eine junge Hirtin der Dauphiné , Isabeau Vincent , Visionen , die sie schließlich vor Versammlungen von Kryptokalvinisten kundtat. Eine durch sie sprechende Stimme forderte die Protestanten der Dauphiné auf , dem Glauben ihrer Väter treu zu bleiben , nicht zur Messe zu gehen , der „Idolatrie“ des Katholizismus abzuschwören und Buße zu tun. Als Beweis für die Wahrhaftigkeit der Visionen und Stimmen galt den Zeitgenossen , dass die „Propheten“ auch in französischer Sprache sprachen , obwohl sie eigentlich nur ihres jeweiligen Patois mächtig gewesen seien. Begründet wurde die Notwendigkeit des Widerstands gegen die „Papisten“ durch das nahe Ende des Untergangs Babylons , d. h. des Endes der katholischen Kirche.9 Unterstützt wurden diese Prophezeiungen nicht zuletzt durch einen Text eines prominenten Pastors des Refuge , Pierre Jurieu , in seinem Accomplissement des prophéties von 1686 , der wiederum im Kontext der hugenottischen Hoffnungen auf den Frieden von Rijswijk (1697) zu sehen ist. 1689 überschritt der Prophetismus die Rhone und begann sich im Vivarais , ab Februar 1700 auch in den Cevennen und im Languedoc auszubreiten. Des „Prophetismus“ bzw. des Fanatismus angeklagt wurden insgesamt 462 Personen (im Regierungsbezirk Montpellier) , davon 233 Männer und 226 Frauen , im Durchschnitt 30 Jahre alt ; sie entstammten in der Regel einfachen Verhältnissen , d. h. Tagelöhner- , Wollkämmer- oder Textilwirkerfamilien.10 Die „Propheten“ gehörten also großenteils der Generation an , die die gewaltsame Unterdrückung des Protestantismus vor und nach 1685 und die kontinuierlichen Konversionsversuche der katholischen Kirche im Hinblick auf die Nouveaux convertis in Kindheit und Jugend am eigenen Leib erfahren hatten.

8

Joutard 1985 , S. 360–366. Zur Flucht und Aufnahme der Aufständischen in den Ländern des Refuge vgl. Krumenacker 2008. 9 Carpuat 2003 , S. 48 f. 10 Ebd. 2003 , S. 51 f.

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Die genauen Inhalte der Prophezeiungen sind nur mit Vorsicht rekonstruierbar. Verbreitet wurde in der Regel das nahe Ende der „Tyranney des Papismus“, das die Protestanten durch die Vertreibung von Priestern oder deren Hinrichtung mit vorantreiben sollten. Begleitet wurden die Visionen von krampfartigen Anfällen , Zucken des Körpers , Ohnmachtsanfällen , Seh- und Hörstörungen und Verrenkungen der Gliedmaßen.11 Wirklich millenaristische Ideen , d. h. die Notwendigkeit , den Sieg Gottes über den Teufel , also den Endkampf zwischen Gut und Böse , mit der Wiederkunft Christi auf Erden durch die Propheten und ihre Gewaltaktionen zugunsten Gottes mit vorzubereiten , wurden von den Propheten erst im englischen bzw. europäischen Exil konsequent weiter entwickelt.12 Zwischen 1702 und 1704 gab es die ersten Gewaltaktionen bzw. Aufstände gegen die katholischen Obrigkeiten. Sich selbst als „Kinder Gottes“ bezeichnend , führten die Camisarden , v. a. Bauern und kleine Handwerker , zwei Jahre lang einen Krieg gegen die katholische Bevölkerung der Cevennen , gegen Pastoren , Beamte der Regierung und gegen die Armee König Ludwigs XIV. von Frankreich , eine Art von Guerillakrieg. Zu den wichtigsten Führern zählten Jean Cavalier (1681–1740) , vor allem im Gebiet um Uzès , und Pierre Laporte (1680–1704) , genannt Rolland , letzterer vor allem in den Niederen Cevennen. Beide waren zum Zeitpunkt des Beginns des Aufstandes 21 und 22 Jahre alt. Im Bougès und am Mont Lozère kontrollierten Gédéon Laporte und später Salomon Couderc und Abraham Mazel (1677–1710) das Gebiet. Ausgelöst wurden die Aufstände durch eine Vision Abraham Mazels , die die Ermordung des Abbé du Chaila , der zum Inbegriff der Unterdrückung der Protestanten in den Cevennen geworden war , zur Folge hatte. Mazel , als Sohn eines laboureur (Tagelöhner) in Falguières in den Hautes-Cévennes geboren , soll am 9. Oktober 1701 eine göttliche Eingebung gehabt haben : In einem Garten sah er drei schwarze fette Ochsen , die dabei waren , das angebaute Kraut zu fressen. Eine Stimme habe ihm , Mazel , befohlen , diese Ochsen aus dem Garten zu vertreiben. Die Ochsen , so die Stimme , seien katholische Prälaten , die als Schädlinge vertrieben werden müssten.13 Weitere Propheten , die den Cévennois die Notwendigkeit eines Aufstandes gegen die „Papisten“ predigten , waren Esprit Séguier , Élie Marion und Jean Cavalier. Angeleitet wurden die Aufständischen in ihren Aktionen in der Re11 Ebd. 2003 , S. 57–59. 12 Siehe hierzu beispielsweise die Prophetien in Marion 1707. 13 Récits d‘Abraham Mazel et d‘Elie Marion , S. 4 f.

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gel durch ihre Propheten und ihre Visionen , ihre inspirations , wie es immer wieder in der Relation d‘Abraham Mazel heißt , die ihnen sehr kurzfristig befahlen , zu morden oder zu verschonen bzw. ihre Aktionen auszurichten. Im Bericht Abraham Mazels liest sich dies wie folgt : En faisant la prière , je fus saisi de l’Esprit de la même violence que je l’avois esté quand je reçeu l’ordre en question. Voici le commandement qui nous feut donné , en ces termes : ‚Que tes frères mettent du feu au pied de l’escalier , et que la maison et ceux qui y sont soint mis à l’interdit‘.14

Der Mord an den im Haus Befindlichen erfolgte also – so Mazel – auf der Basis göttlicher Eingebung ; göttlicher Wille sei geschehen , die Propheten seien letztendlich nur Ausführende der providence (Vorhersehung) bzw. führten einen (göttlichen) Befehl durch Eingebung aus (ordre par inspiration).15 Auch 1704 , als sich bereits ein Ende des Aufstandes der Camisarden abzeichnete , glaubten ihre noch lebenden Führer an ihre göttliche Mission : „( …) c‘estoit par commandement de Dieu que nous avions pris les armes , et que nous craignions de lui désobéir en les quittant.“16 Und doch kamen angesichts der schweren Verluste und der Schrecken des Camisardenkrieges Zweifel an Gott auf : „Tout-à-coup Dieu retire sa main protectrice de dessus nos armes“.17 Doch auch dies sei wohl Teil der göttlichen Vorhersehung , der sich die Camisarden fügen müssten.18 Sie wurden gleichsam zu Märtyrern der Vorhersehung , Teil eines göttlichen Plans , der für sie nicht einsehbar war. Zwar kam es auch zu einigen offenen Feldschlachten mit den Truppen Ludwigs XIV. , doch griffen die Camisarden meist aus dem Hinterhalt an , steckten katholische Kirchen , Klöster und Schlösser von Katholiken in Brand 14 „Während ich im Gebet war , wurde ich vom Heiligen Geist erfasst , mit der gleichen Macht , wie als ich den (oben genannten) Befehl bekommen hatte. Hier ist die Anweisung , die uns gegeben wurde : Deine Brüder sollen Feuer am Fuß der Treppe legen , damit die , die sich in dem Haus befinden, der Auslöschung preis gegeben werden.“ Ebd. , S. 8. 15 Ebd. , S. 25 , 31. 16 „Wir hatten aufgrund eines göttlichen Befehls die Waffen ergriffen , und nun fürchteten wir , Ihm nicht zu gehorchen , wenn wir sie [die Waffen] niederlegen würden.“ Ebd. , S. 79. 17 „Plötzlich hat Gott seine schützende Hand von unseren Waffen genommen“. Ebd. , S. 86. 18 Ebd. , S. 88.

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und ermordeten ihre Bewohner bzw. Priester und Mönche. Der Intendant des Languedoc , Nicolas de Lamoignon de Bâville , ließ wiederum Anführer der Camisarden hinrichten , was eine Spirale der Gewalt in Gang setzte. Die Camisarden verwüsteten rein katholische Dörfer wie Fraissinet-de-Fourques oder Valsauve und massakrierten ihre Bewohner. Bâville ließ daraufhin die protestantischen Bewohner von Mialet und Saumane zwangsumsiedeln , 1703 stimmte Ludwig XIV. dem so genannten „Verbrennen der Cevennen“ zu. Im Herbst 1703 wurden 466 Siedlungen in den Cevennen zerstört , ihre Bewohner ermordet oder deportiert und dann zwangsumgesiedelt. Bis 1710 ging der 1704 bereits weitgehend unterdrückte Aufstand der Camisarden weiter , endgültig befriedet wurde die Region 1715. Ein Teil der Anführer der Camisarden , u. a. Jean Cavalier und Élie Marion , emigrierte nach der Niederwerfung der Aufstände in den Cevennen in die Schweiz , dann nach England , wo sie als sogenannte French Prophets millenaristische Ideen zu verbreiten suchten. In den Gemeinden des hugenottischen Refuge (d. h. der Diaspora) in London riefen sie massiven Widerstand hervor : Die konformistische , d. h. offiziell unter dem Dach der Anglikanischen Kirche stehende , französisch-reformierte Kirche der Hugenotten , die Église de la Savoye , in London klagte die Gruppe um Durand Fage , Jean Allut , Élie Marion und Jean Cavalier an , fälschlicherweise zu verbreiten , dass sie vom Heiligen Geist inspiriert seien , und beschloss , die Propheten aus ihren Reihen auszuschließen.19 Infolge dieser Auseinandersetzungen publizierte Maximilien Misson , ein hugenottischer Anhänger der Propheten in London , 1707 das Théâtre sacré des Cévennes in London. Misson verwendete authentische Berichte , so genannte témoignages , u. a. von den Camisardenführern Abraham Mazel und Élie Marion. Beide sollen dem Londoner Réfugié (d. h. in der Diaspora lebenden Hugenotten) Charles Portalès ihre Berichte der Zeit zwischen 1702 und 1708 diktiert haben. Diese wurden 1931 von der Huguenot Society of Britain and Ireland publiziert. Dazu kommen die von Élie Marion 1707 ebenfalls in London publizierten Avertissements prophétiques , die zusätzlich die Sache der French Prophets und die „Rechtmäßigkeit“ der Aufstände der Camisarden untermauern sollten. Entsprechende Gegendarstellungen von katholischer Seite finden sich in den französischen Archives du Ministère de la Guerre (Bände 1797 und 1907) oder in den Papiers de l‘intendance de Bâville im Archiv des Département Hérault.

19 Ebd. , S. 160 f. , und Chamayou 2003 , S. 177–181.

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Die millenaristische Mission der French Prophets wurde in Halle , in Pennsylvania , in den Niederlanden , in Schweden , Preußen , Polen , Mähren und Ungarn , d. h. u. a. unter Pietisten und Herrnhutern , verbreitet. Ähnlich wie Abraham Jurieu , der in Rotterdam die Ankunft des Tausendjährigen Reiches für das Jahr 1715 erwartete , verbreiteten die französischen Propheten auf ihren Reisen durch Europa nun die baldige Apokalypse. Für Wien , „une ville condamnée“, sagten sie 1711 den Untergang der Stadt in einem der kommenden Jahre voraus.20 1712 ließ Élie Marion seinen Cri d‘alarme en avertissement aux nations , qu‘ils sortent des ténèbres pour rentrer dans le repos de Christ publizieren , in dem er der Menschheit das nahende Tausendjährige Reich prophezeite und sie zur Umkehr bewegen wollte. 1714 erschien von Élie Marion und Jean Allut der Plan de la justice de Dieu sur la terre dans ces derniers jours et du Relèvement de la chute de l‘homme par son péché. Die Nachwirkungen der French Prophets waren langlebig. Angeblich geht auch die Religionsgemeinschaft der Shaker in den heutigen USA auf die French Prophets zurück.21 Einen Zusammenhang zwischen Gewalterfahrung und Martyrium bzw. der Erinnerung daran in den nachfolgenden Generationen (Stichwort Dragonaden und Zwangskonversionen) , der Entwicklung von Prophetien und partiell der daraus resultierenden Gewaltausübung durch Mitglieder der verfolgten Religionsgemeinschaft selbst haben Spezialisten des Protestantismus in Frankreich wie Philippe Joutard oder neuestens Anna Bernard22 auch für den Südosten Frankreichs , für die Dauphiné und die Provence , festgestellt , wo der Großteil der ehemals protestantischen Bevölkerung ebenfalls als kryptokalvinistisch einzustufen gewesen sei. Laut Joutard hätten das Trauma der Abschwörung des Glaubens bzw. die Erinnerungen an die Dragonaden , der Verlust der eigenen protestantischen Kultur vor allem bei jungen Menschen immer wieder zu Visionen geführt , auf die erfahrene Gewalt bzw. die fortwährende Unterdrückung ihres Glaubens hätten sie mit Gegengewalt reagiert.23 Dieses psychologisierende Erklärungsmuster gilt in der Forschung als das plausibelste. Frühneuzeitliche Visionen und Massenprophetien bzw. ihre Konsequenzen in Form von Gewaltexzessen werden auch immer wieder mit mutterkornhaltigem Getreide , d. h. auf der Basis einer Ergotaminvergiftung , dem so genannten Antoniusfeuer , erklärt. Diese Erklärung hat man auch im Kontext 20 21 22 23

Récits d‘Abraham Mazel et d‘Elie Marion , S. 217 f. Cabanel 2003 , S. 238. Bernard 2003 , S. 142–150. Joutard 1977 , S. 87 f.

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der Visionen bzw. Massenhysterie der Salemer (Massachusetts) Hexenprozesse von 1692 bemüht.24 Ob die Ursachen für Prophetie und Gewalt in den Cevennen und im Vivarais nun in dem , was man heute psychologisierend als aus frühkindlichen Traumata hervorgehenden Massenpsychosen bezeichnen würde , liegen , ob medizinische Erklärungen im Sinne einer Ergotaminvergiftung plausibler sind oder wissenschaftlich nicht erklärbare spirituelle bzw. religiöse Erfahrungen vorlagen ,25 ist letztendlich nicht wirklich zu beantworten. Der Fall des Vivarais und der Cevennen zeigt den engen Zusammenhang zwischen Gewalterfahrungen , daraus folgender Prophetie , die wiederum zu Gewalt im Sinne eines langjährigen Aufstandes führte und – nach dessen Niederschlagung – millenaristische Prophetien bei den Überlebenden auslöste. Nicht nur die französischen Autoritäten versuchten , dem kryptokalvinistischen Prophetismus und den Gewaltexzessen in den Cevennen ein Ende zu bereiten. Die entscheidende Initiative kam aus der Diaspora , aus dem Refuge. Antoine Court ,26 1695 im Vivarais geboren , und selbst ein Kind der Kirchen der Wüste und des Prophetismus , wandte sich ab 1713 gegen diese „Ausartungen“ des Kalvinismus und führte in den Kirchen der Wüste in Frankreich erneut die discipline ecclésiastique der kalvinistischen Kirchen ein. Court versuchte , diesen Kirchen durch Konsistorien und Missionarspastoren eine Struktur zu geben , um damit Gewalt und Prophetismus ein Ende zu bereiten. Die violence vengeresse der Zwangskonvertierten sollte beendet werden. 1715 waren die Églises du désert in Frankreich wieder so weit reorganisiert , dass die geheimen Kongregationen ihre erste nationale Synode im Untergrund abhalten konnten. 1726 wurde in Lausanne von Antoine Court ein Pastorenseminar eröffnet , das die Églises du désert mit Seelsorgern versorgte. 1760 war die kalvinistische Bevölkerung Frankreichs auf 500.000 Mitglieder angewachsen.27 Die Geschichtsschreibung der Propheten und Camisarden bzw. des Kryptokalvinismus in Frankreich steht jedoch nach wie vor vor dem Problem , dass sie 24 Caporael 1976 , Matossian 1982. 25 Vidal 1977 und 1983. 26 Antoine Court (1695–1760) gilt als der restaurateur du protestantisme français. Im Languedoc als Sohn reformierter Bauern geboren , begann Court als Siebzehnjähriger geheime Treffen der Protestanten abzuhalten und verfolgte die Wiedererrichtung der reformierten Kirchen Frankreichs , ab 1730 aus dem Exil in Lausanne. Dort gründete Court ein Pastorenseminar , dessen Absolventen als Pastoren der Églises du Désert nach Frankreich geschickt wurden. Vgl. Hugues 1872 und Bost /  Loriol 1998. 27 Ligou /  Joutard 1977 , S. 244.

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sehr stark heroisierend ist , d. h. auch wissenschaftliche Publikationen die Geschichte von Kryptokalvinismus , Prophetismus und Gewalt in den Cevennen und anderen Gebieten Südfrankreichs allein als Geschichte des Widerstandes einer unterdrückten Minderheit gegen eine oppressive und gewalttätige Mehrheit schreiben. Angefangen mit der dreibändigen Histoire des troibles des Cévennes ou de la Guerre des Camisards von 1760 , die von einem der wichtigsten Protagonisten der Kirchen der Wüste , nämlich dem oben bereits erwähnten Antoine Court , verfasst wurde , über Henri Boscs La guerre des Cévennes , 1702–1710 , von 1985 bis 1993 in sechs Bänden publiziert , bis zu Philippe Joutards Darstellungen zu den Camisarden – die Geschichte der Cévennois bleibt oft einseitig. Betont wird im Kontext dieser einseitig heroisierenden Geschichtsschreibung ,28 dass die Camisarden zunächst spontan , auf die Visionen ihrer Propheten hörend , ohne Hilfe von Bürgerlichen oder protestantischen Adligen einen Kampf gegen die „Unterdrücker“, Krone und katholische Kirche , geführt hätten.29 Auch wenn der Aufstand in den Cevennen kein „Nebenschauplatz“ des Spanischen Erbfolgekriegs war , so stand er – ungeachtet der eigenständigen Motivationen und Ziele der Aufständischen – durchaus von Anfang an mit letzterem in einem engen Zusammenhang : Ludwig XIV. wurde 1701 durch den Savoyer vernichtend geschlagen ; im September des gleichen Jahres kam es zur Bildung der antifranzösischen Tripelallianz zwischen Kaiser Leopold I. , England und den Vereinigten Provinzen der Niederlande. Im Refuge fürchtete man ein hartes Durchgreifen Ludwigs XIV. gegen die Kryptoprotestanten in Frankreich , die – und genau dies geschah – aus Frankreich heraus die antifranzösische Koalition durch einen Aufstand unterstützen sollten.30 Die „protestantische Hydra“ lauerte im eigenen Land. So ging die französische Krone ab 1701 hart gegen die den Sieg des Protestantismus in Frankreich verkündenden Schwärmer in den Cevennen vor. Vor allem der eng mit den Cévenols zusammenarbeitende Réfugié Armand de Bourbon , Marquis de Miremont , versuchte von Anfang an , d. h. seit 1702 , die englische Krone zur finanziellen und militärischen Unterstützung (durch Lieferungen von Waffen und Munition) der aufständischen Cévenols zu bewegen.31 Dokumente in der British Library 28 Vgl. beispielsweise einen Großteil der Aufsätze in Bernat 2003. 29 So auch Bazalgette 2003 , S. 69 , die unterstreicht , dass der Aufstand in den Cevennen – zumindest in seinen Anfängen – kein „Nebenschauplatz“ des Spanischen Erbfolgekrieges gewesen sei. 30 Carpuat 2003 , S. 62. 31 Chamayou 2003 , S. 188–190.

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und die State Papers of Queen Anne zeigen , dass England den Aufstand der Cévenols von Beginn an insgeheim durch englische Subsidien unterstützte , d. h. die Revolte für die Friedensverhandlungen der Koalition mit Ludwig XIV. zu funktionalisieren suchte.32 1711 gelang es den Réfugiés sogar , Königin Anne von England zu bewegen , den Marquis de Miremont , Lieutenant General der englischen Armee ab 1704 , als Botschafter der französischen Protestanten im Auftrag Ihrer Majestät nach Utrecht zu senden.33 Dass der Londoner Réfugié Abel Boyer es sich bereits 1703 herausnahm , die Unterstützung der Camisarden durch die englische Krone in einem Pamphlet öffentlich zu diskutieren , war überhaupt nicht im Sinne der englischen Regierung , wie die Konfrontation mit Lord Nottingham von 1703 zeigt , der Boyer Hochverrat an den Interessen der englischen Nation vorwarf.34 Der etliche Jahre währende gewalttätige Widerstand der Cévennois erklärt sich also nicht allein aus der Wirkungsmacht von Prophetismus und selbst erlebter Gewalt , sondern auch aus der Tatsache , dass dieser von protestantischen Mächten in Europa durchaus im Kampf gegen die Hegemonialstellung Ludwigs XIV. in Europa und dessen antiprotestantische Politik zu funktionalisieren war , ein Phänomen , das für diesen Kontext noch wenig untersucht ist.

32 State Papers of Queen Anne , Bd. X , fol. 290–294 , 301 , Bd. XI , fol. 23–24 , Bd. XII , fol. 175 , Bd. XVI , fol. 97–98 (vom Juli 1710) , Bd. XXI , fol. 126 (von 1713) , 128–129 , 132 , Bd. XXIV , fol. 129–130 , Bd. XXVIII , fol. 2–4 , vgl. die Photostatkopien in Oxford , Bodleian Library. 33 Siehe Appointment of Marquis de Miremont to negotiate at Utrecht on Huguenot and Protestant affairs , London , British Library , Add. Ch. 76124 , von 1711. 34 British Library , Add. 61648 , Interrogation Abel Boyer’s by Lord Nottingham , 1703 , fol. 98–99.

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Literatur Bazalgette, S. 2003: Der Aufstand der Kamisarden, in: Die Kamisarden, hg. von Ch. Bernat, Bad Karlshafen, S. 69–92. Bernard , A. 2003 : Die Revokation des Edikts von Nantes und die Protestanten in Südostfrankreich (Provence und Dauphiné) 1685–1730 , München. Bernat , Ch. (Hg.). 2003 : Die Kamisarden. Eine Aufsatzsammlung zur Geschichte des Krieges in den Cevennen (1702–1710) , aus dem Französischen übertragen von E. Birnstiel , Bad Karlshafen. Bosc , H. 1985–1993 : La guerre des Cévennes , 1702–1710 , 6 Bde. , Montpellier. Bost , H. /  Loriol , C. (Hg.). 1998 : Entre Désert et Europe , le pasteur Antoine Court (1695–1760). Actes du Colloque de Nîmes (3–4 novembre 1995) , Paris. Cabanel , P. /  Joutard , Ph. (Hg.) 2002 : Les Camisards et leur mémoire , 1702–2002. Colloque du Pont-de-Montvert des 25 et 26 juillet 2002 , Montpellier. Cabanel , P. 2003 : Zum 300. ��������������������������������������������������� Jubiläum des Kamisardenaufstandes (1702–2002). Versuch einer ersten Bestandsaufnahme , in : Die Kamisarden. Eine Aufsatzsammlung zur Geschichte des Krieges in den Cevennen (1702–1710) , hg. von Ch. Ber���� nat , Bad Karlshafen , S. 225–249. Caporael , L. 1976 : Ergotism. The Satan Loose in Salem , in : Science 192 (4234) , S. 21–26. Carpuat , E. 2003: Das Wort im Dienste der Revolte. Propheten und Kamisarden , in : Die Kamisarden. Eine Aufsatzsammlung zur Geschichte des Krieges in den Cevennen (1702–1710) , hg. von Ch. Bernat , Bad Karlshafen , S. 47–67. Chamayou , F. 2003: Die Cevennen und das Refuge auf den Britischen Inseln , in : Die Kamisarden. Eine Aufsatzsammlung zur Geschichte des Krieges in den Cevennen (1702–1710) , hg. von Ch. Bernat , Bad Karlshafen , S. 173–194. Court , A. 1760 : Histoire des troubles des Cévennes ou de la Guerre des Camisards , Villefranche. Hugues , E. ���������������������������������������������������������������������������� 1872 : Antoi������������������������������������������������������������� ne Court. Histoire de la restauration du protestantisme frane çais au XVIII siècle , 2 Bde. , Paris. Joutard , Ph. 1977 : La légende des Camisards. Une sensibilité au passé , Paris. Joutard , Ph. 1985 : The Revocation of the Edict of Nantes. End or Renewal of French Protestantism ? in : International Calvinism , 1541–1715 , hg. von M. Prestwich , Oxford , S. 339–368. Krumenacker , Y. 2008 : Les French Prophets Français ou Anglais ? , in : Les huguenots dans les îles britanniques de la renaissance aux lumières. Ecrits religieux et représentations , hg. von A. Dunan-Page /  M.-Ch. Munoz-Teulié , Paris , S. 227–241.

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Labrousse , É. 1985 : Calvinism in France , 1598–1685 , in : International Calvinism 1541–1715 , hg. von M. Prestwich , Oxford 1985 , S. 285–314. Labrousse , É. 1990 : La révocation de l’Edit de Nantes. Une fois , une loi , un roi  ? , Paris. Ligou , D. /  Joutard , Ph. 1977 : Les Déserts , in : Histoire des Protestants en France , hg. von R. Mandrous et al. , Toulouse , S. 189–205. Marion , É. 1707 : Avertissements prophétiques d’Elie Marion , l’un des chefs des protestans , qui avoient pris les armes dans les Cevennes ; ou , discours prononcez par sa bouche , sous l’operation de l’esprit , London. Marion , É. 1712 : Cri d’alarme en avertissement aux nations , qu’ils sortent des ténèbres pour rentrer dans le repos de Christ , o. O. Marion , É. / Allut , J. 1714 : Plan de la justice de Dieu sur la terre dans ces derniers jours et du Relèvement de la chute de l’homme par son péché , o. O. Matossian , M. 1982 : Ergot and the Salem Witchcraft Affair , in : American Scientist 70 (4) , S. 355–357. Misson , M. 1707 : Théâtre sacré des Cévennes , London. Ponton , D. /  Cabanel , P. 1994 : Les protestants français du XVIe au XXe siècle , Paris. Récits d’Abraham Mazel et d’Élie Marion. 1931 , hg. von Ch. Bost , Paris. Vidal , D. 1977 : Théorie du prophétisme. Le discours camisard en Europe , 1706– 1713 , Paris. Vidal , D. 1983 : Le Malheur et son prophète. Inspirés et sectaires en Languedoc calviniste , 1685–1727 , Paris. Vovelle , M. 1978 : Jalons pour une histoire du silence , les testaments réformés dans le sud-est de la France du XVIIIe au XVIIIe siècle , in : Cinq siècles de protestantisme à Marseille et en Provence , hg. von Église réformée de Marseille et Fédération historique de Provence, Marseille, S. 42–59.

„He is a blessed man that takes and dashes the little ones against the stones“ Das Irland-Massaker als Zeichen des nahenden Endkampfes vor dem Ausbruch des Englischen Bürgerkrieges (1641–1642) Andreas Pečar

Einleitung Im Zusammenhang mit dem sogenannten Revisionismus , einer programmatischen Neuinterpretation des Englischen Bürgerkrieges und der Geschichte der Stuartmonarchie allgemein , wird seit ca. 30 Jahren auch eine konsequent britische Perspektive zur Analyse des Bürgerkrieges angemahnt.1 Damit sollte keineswegs die Homogenität eines Vereinigten Königreichs unterstellt werden. Vielmehr ging es darum , auf die gegenseitige Verflechtung und die Wechselwirkungen der politischen Ereignisse in den drei höchst unterschiedlichen Territorien England , Schottland und Irland zu verweisen , aus denen die composite monarchy der Stuarts seit 1603 bestand.2 Es ging darum , die bislang gängigen Begriffe ‚Englische Revolution‘ oder ‚Englischer Bürgerkrieg‘ ihrer scheinbaren Evidenz zu entkleiden und darauf hinzuweisen , dass der Bürgerkrieg in England kaum denkbar gewesen wäre ohne die vorangehende Erhebung in Schottland (1638) und in Irland (1641).3 Ohne den schottischen Aufstand und die daraus resultierenden beiden Bishop Wars hätte es in England kein Long Parliament gegeben , und ohne den irischen Aufstand keinen Ausbruch von Kampfhandlungen. Die vom irischen Aufstand ausgelöste Ereignisdynamik in England soll in diesem Beitrag genauer in den Blick genommen werden. Dabei geht es ins1

2 3

Zum Revisionismus vgl. Asch 1995 ; Burgess 1991 ; Hellmuth 1990. Zur British History vgl. Pocock 1975 ; Russell 1987 ; Bradshaw /  Morill 1996 ; Burgess 1999 ; Macinnes /  Ohlmeyer 2000. Asch 2006. Russell 1990 ; Lindley 1972 /  73.

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besondere um die Deutung und die Wahrnehmung der irischen Ereignisse in England und die sich daraus ergebenden Folgen für die Möglichkeiten , die Krise in Irland politisch und militärisch zu bewältigen.4 Dabei spielte die Prophetie , wie ich darlegen möchte , eine besondere Rolle : zur Einordnung der Gewalt in Irland ebenso wie zur Erörterung der notwendig erscheinenden politischen Maßnahmen. Diese Prophetie wiederum speiste sich aus bereits etablierten Deutungsmustern , mit denen Englands Verhältnis zu Gott beschrieben und die Zukunft des Landes bereits in der Gegenwart vorhergesagt werden konnte. Zunächst wird es darum gehen , die Ereignisse kurz zu benennen , die nach dem Aufstand in Irland innerhalb weniger Monate auch England in den Bürgerkrieg führten. Anschließend ist aufzuzeigen , auf welche Weise die Gewaltnachrichten aus Irland in England die Runde machten , und welche Schilderungen Plausibilität erlangten. Das Hauptaugenmerk wird dann der Prophetie gelten , also den Fastenpredigten vor dem Unterhaus , die im Anschluss an die Nachrichten aus Irland gehalten wurden und die deren Bedeutung für das Verhältnis Englands zu Gott reflektierten.

Die Dynamik der Ereignisse Am 22. Oktober 1641 begann in Irland eine Aufstandsbewegung , die das Land für die kommenden zehn Jahre in Atem halten sollte.5 Gälische Magnaten waren zu Beginn die treibende Kraft der Erhebung , sie versuchten , mit einer spektakulären Eroberung des Dubliner Schlosses ein Zeichen zu setzen , mit dem ein allgemeiner Aufstand gegen Repräsentanten der englischen Krone hätte ausgelöst werden sollen. Zwar scheiterte die Eroberung Dublins. In Ulster erfolgte aber nun ein Rachefeldzug von Katholiken gegen die protestantischen Siedler im Land , die entweder vertrieben oder massakriert wurden. Ulster war diejenige Provinz , in der schon unter Jakob I. größere Ansiedlungen protestantischer Siedler erfolgt waren , auf Kosten der katholischen Einwohner und Bauern , die nun immer weniger Eigentum an Land und Leuten besaßen.6 Die anderen irischen Provinzen Munster , Leinster und Connacht schlossen sich erst nach und nach dem Aufstand an , ebenso wie die sogenannten Old 4 5 6

Vgl. hierzu Shagan 1997. Zu den Ursachen vgl. Clarke 1981 ; Perceval-Maxwell 1994. Canny 2001 , Kap. 4.

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English , die Führungsschicht Irlands aus englischen Einwanderern früherer Jahrhunderte , die katholisch geblieben waren.7 Erst zu Beginn des Jahres 1642 war fast ganz Irland gegen die englische Herrschaft im Aufstand.8 Prägend für die Wahrnehmung der irischen Erhebung in England waren jedoch vor allem die Gewaltexzesse in der Provinz Ulster zu Beginn , bei der nach heutigen Schätzungen ca. 12.000 protestantische Siedler ihr Leben ließen ; davon wurden wohl ca. 3.000 Siedler ermordet , die Mehrheit starb infolge der Vertreibung von ihren Gütern ohne eigene Habe.9 Zehn Tage nach dem Beginn der Gewalttätigkeiten erreichte die Nachricht vom irischen Aufstand am 1. November 1641 das englische Parlament in Westminster.10 Die politischen Folgen dieses Ereignisses für England waren gravierend. Dies lag nicht nur am zweifelsohne dramatischen Ereignis selbst , sondern auch am Zeitpunkt des Geschehens. In England vollzog sich seit dem Herbst 1640 nicht weniger als eine politische Kehrtwende – manche sagen auch : eine politische Revolution. König Karl I. , der mit seiner Personal Rule seit 1629 die Politik des Landes wesentlich bestimmt hatte , war im Herbst 1640 dazu gezwungen worden , ein Parlament einzuberufen und auf dessen Auflösung zu verzichten. Die Autorität der Bischöfe , die als Mitglieder des Oberhauses sowohl politische Autorität ausübten als auch die entscheidende Obrigkeit innerhalb der englischen Kirche verkörperten , war im Herbst 1640 zusammengebrochen.11 Die wichtigsten Männer des persönlichen Regiments Karls I. , Thomas Wentworth und William Laud , der Erzbischof von Canterbury , saßen in Haft und warteten auf ihren Prozess wegen Hochverrats.12 Das Parlament legte dem König in der Folge ein Gesetz nach dem anderen vor , mit denen wesentliche Bestandteile seiner Regierungspraxis in den vergangenen zehn Jahren für illegal erklärt wurden : seine Steuerpolitik , seine Religions- und Kirchenpolitik sowie die in England etablierte Praxis der Recht-

7

Zu Connacht , Munster und Leinster vgl. Perceval-Maxwell 1994 , S. 492–534 ; ferner Clarke 1966. 8 Für die Vergesellschaftung der unterschiedlichen , am Aufstand beteiligten Gruppen war die Confederation of Kilkanny im Oktober 1642 ein zentrales Ereignis ; vgl. Actes 1878 ; ferner Lotz-Heumann 2000 , S. 213 f. 9 Maurer 1998 , S. 111 f. 10 Russell 1991 , S. 414–429. 11 Cressy 2003 ; ders. 2006 , S. 8–10 , S. 110–129 , S. 149–166. 12 Russell 1991 , S. 211 ; ferner Orr 2002 , Kap. 3 (Thomas Wentworth) und 4 (William Laud).

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sprechung.13 Karl I. fügte sich gleichwohl in sein Schicksal und unterzeichnete diese ihm vorgelegten Gesetze , mit denen sein Handlungsspielraum immer mehr eingeschränkt wurde. Diese Kompromisshaltung versprach auf lange Sicht jedoch politische Rendite. Der Forderungskatalog des Parlaments war weitgehend abgearbeitet , der Krieg zwischen England und Schottland beendet und ein Friedensabkommen unterschrieben , die Mission des Parlaments daher erfüllt. Damit rückte der Moment näher , an dem das Parlament sich einer Auflösung nicht hätte widersetzen können , und spätestens dann wäre die politische Initiative wieder an Karl I. zurückgefallen.14 Im Oktober 1641 erschien es durchaus möglich , dass die politische Krise in England in absehbarer Zeit hätte beigelegt werden können.15 Der irische Aufstand machte alle Aussichten auf einen friedlichen Ausgleich zunichte. Dies lag wesentlich daran , mit welchen Schablonen der Sinnstiftung das Ereignis wahrgenommen und kommentiert wurde und welche Handlungsimperative sich aus dieser Art der Deutung ergaben. Ich werde zu zeigen versuchen , dass die Prophetie dabei eine entscheidende Rolle spielte : Die Einordnung des irischen Aufstandes in die Heilsgeschichte und die Verknüpfung der aktuellen Politik mit endzeitlichen Erwartungen machten aus einem Problem mangelnder politischer Integration Irlands in die Stuartmonarchie einen apokalyptischen Showdown zwischen Christus und dem Antichristen. Bei diesem Showdown standen die aufrechten Protestanten des Parlaments gegen ihren König , der aufgrund seiner Religionspolitik der vergangenen Jahre als Handlanger des Antichristen wahrgenommen wurde.16 Hierbei spielte Irland bereits vor dem Aufstand eine unheilvolle Rolle : Um die schottischen Covenanters zurückzuschlagen , plante Thomas Wentworth im Frühjahr des Jahres 1640 die Mobilisierung einer irischen Armee aus 8.000 Mann , überwiegend Katholiken , mit denen die Covenanters in Schottland hätten bekämpft und niedergerungen werden können.17 In London machte überdies das Gerücht die Runde , die irischen Truppen wären für England bestimmt , um die königliche Herrschaftsstellung gegen die zunehmend aufsässige Bevölkerung 13 Schröder 1986 , S. 49. 14 Kishlansky 1996 , S. 147 f. ; Loades 1973 , S. 412 f. 15 Zum Krisenbewusstsein der Zeitgenossen in England vgl. Pečar (voraussichtl. 2013). 16 Kenyon 1966 , S. 189–191. 17 Russell 1991 , S. 127–129 ; Hibbard 1983 , S. 155 f.

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zu sichern. Beides erweckte den Anschein , dass Karl I. sich katholischer Verbündeter bediente , sei es gegen die schottischen Aufständischen , sei es gegen die Anhänger des soeben aufgelösten Short Parliament. Zwar blieben die irischen Soldaten eine Fiktion , konnten entsprechende Planungen nicht in die Tat umgesetzt werden. Der König wurde in Teilen der politischen Elite gleichwohl als jemand wahrgenommen , für den die irischen Katholiken eine potentielle Machtreserve darstellten.18 Es war daher wenig erstaunlich , dass der irische Aufstand vor allem als eine Bedrohung des Parlaments wahrgenommen wurde , weniger des Königs. Vielmehr bestand unter den Abgeordneten der Argwohn , der König könne auch bei dem Aufstand seine Finger im Spiel gehabt haben.19 Wenn es um die Niederschlagung des irischen Aufstandes ging , so die Logik des Parlaments , durfte der König dabei keine Rolle spielen , sollte nicht der Antichrist einen weiteren Sieg davontragen.20 Und da man zur Niederschlagung des Aufstandes Truppen in England ausheben musste , durfte der König diese Truppen nicht in die Hände bekommen.21 Das Parlament beanspruchte daher für sich selbst den Oberbefehl und verweigerte dem König sein althergebrachtes Vetorecht im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren , die Negative Voice. Beide Maßnahmen waren in England unerhört und ein klarer Bruch der Ancient 18 In der zu Beginn des Jahres 1641 gegen Thomas Wentworth erhobenen Anklage hieß es hierzu : „That he has persuaded the oppression of true religion in Scotland , fomented the war undertaken against [them] and endeavoured to embark and embroil all three kingdoms in the same ; and in the issue by the Irish army of papists to subvert the laws and liberties of England“; D’Ewes 1923 , S. 297. Vgl. ferner Russell 1991 , S. 276 , der darlegt , dass Karl I. gegenüber den schottischen Covenanters oder dem Parlament immer wieder damit gedroht habe , sich einer Irish Army zu bedienen. 19 Caroline Hibbard hält diese Annahme sogar für plausibel ; Hibbard 1983 , S. 214. Eher skeptisch beurteilen Aylmer 1986 , S. 26 und Russell 1988 , S. 177–179 die Annahme einer königlichen Verstrickung in den Aufstand. Es gab noch weitere Verdachtsmomente gegen den König. So ersuchte der Beichtvater der Königin den Papst im Mai 1641 um finanzielle Unterstützung für Karl I. und rechnete für diesen Fall sogar mit einer Konversion des Königs ; Fletcher 1981 , S. 60. 20 In der Great Remonstrance vom 1. Dezember 1641 stellten die Abgeordneten des Parlaments dem König nur dann Unterstützung für die Niederschlagung des irischen Aufstands in Aussicht , wenn der König mit dieser Aufgabe Personen beauftrage , die das Vertrauen des Parlaments hätten ; Kenyon 1966 , S. 207–217 , hier S. 216. 21 So beispielsweise die Position von John Pym ; Kenyon 1966 , S. 228.

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Constitution des Landes.22 Bei der Frage nach dem Oberbefehl über Truppen in England endete die Kompromissbereitschaft Karls I. Der Bürgerkrieg zwischen den Anhängern des Königs und denen des Parlaments war die logische Folge. Wie konnte es zu dieser Verhärtung der Positionen kommen ? Ich möchte zunächst darlegen , wie aus dem Gewaltereignis in Irland ein Medienereignis in England wurde.23 Die Darstellung des vermeintlich Geschehenen enthielt bereits alle Topoi eines bevorstehenden Endkampfes mit dem Antichristen und präfigurierte damit auch den politischen Umgang mit dem Ereignis. In einem weiteren Schritt werde ich dann exemplarisch vorstellen , wie selbsternannte Propheten aus dem irischen Aufstand politische Maxime ableiteten , die einen Bürgerkrieg unvermeidlich machten.

Filter der Wahrnehmung , Narrative der Darstellung Die politisch Handelnden in London verfügten über keinerlei persönliche Gewalterfahrung im Zusammenhang mit dem irischen Aufstand. Die Überlebenden der Gewaltexzesse von Ulster befanden sich noch in den irischen Wäldern , suchten in anderen Teilen Irlands Schutz oder versuchten , sich über die irische See zu retten. Ihre Augenzeugenschaft spielte in der politischen Öffentlichkeit in England zunächst keine Rolle. Später waren die protestantischen Flüchtlinge in England ein kommunales Problem , waren die Glaubensbrüder in England keineswegs überall gut gelitten.24 Nicht ihre Sicht der Dinge prägte das Bild , sondern offizielle Amtsschreiben irischer Amtsträger der Krone , inoffizielle Berichte , vor allem aber eine Vielzahl schnell zugänglicher Traktate.25 Diese Traktate zeichnen sich allesamt weniger durch eine besondere Nähe zum Ablauf der Ereignisse aus als durch eine spezifische Form der Darstellung. In allen Traktaten wimmelt es von Gewaltpornographie. Vergewalti22 Schröder 1986 , S. 51–57 , spricht von einem „Sicherheitsradikalismus“, der das Parlament schließlich dazu getrieben habe , die vom Common Law gesetzten Grenzen zu sprengen und den Bürgerkrieg in Kauf zu nehmen. 23 Vgl. nur die treffende Einschätzung von Kishlansky 1996 , S. 147 : „What really happened in Ireland was of less significance than what people in Scotland and England believed had happened.“ 24 Vgl. hierzu ausführlich Cope 2009 , Kap. 6 und 7. 25 Vgl. nur als Auswahl : Jerome 1641 ; Happiest News 1641 ; Salmon 1641 ; Bloody Battle 1641 ; Partington 1641 ; Cranford 1642.

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gungen , Attacken auf Kinder und schwangere Frauen etc. werden in grellen Farben ausgemalt und mit Liebe zum Detail geschildert. Spezifische Formen des irischen Aufstandes fanden hingegen nur wenig Aufmerksamkeit. So richtete sich die symbolische , zeichenhafte Gewalt der Aufständischen insbesondere gegen alle Zeichen der protestantischen Konfession : protestantische Geistliche wurden verprügelt , protestantische Kirchen desakralisiert. Gegen protestantische Predigten gab es Schmährituale , protestantische Bibelausgaben wurden verbrannt. Dieser Aspekt des Aufstandes , der die konfessionelle Dimension in den Vordergrund stellt , war jedoch nur in einem einzigen Bericht über die Abläufe in Irland enthalten.26 Ansonsten standen Bluttaten und Grausamkeiten im Vordergrund. Die Trennungslinie zwischen den protestantischen Opfern und den katholischen Tätern wurde in den meisten Erzählungen dadurch gezogen , dass die Aufständischen konsequent bestialisiert und damit aus dem Kreis der Mitmenschen ausgeschlossen wurden.27 Es ging nicht darum , die Aufständischen als katholische Überzeugungstäter zu stilisieren. Vielmehr zielten die Texte darauf ab , die Rebellen zu entmenschlichen und sie als Täter jenseits von Christentum und Menschlichkeit zu zeichnen. Zwei der fünf hier genannten Schriften stammen aus der Druckerpresse von John Greensmith , dessen Vorliebe für erfundene Gewaltgeschichten ihn sogar ins Gefängnis brachte : Das Parlament ordnete seine Verhaftung an , nachdem durchgesickert war , dass Greensmith zwei Studenten in Cambridge damit beauftragt hatte , blumige Gewaltgeschichten zu verfassen , um damit ihr Salär aufzubessern.28 Solche Bestrafungen konnten jedoch nichts daran ändern , dass scheinbar authentische Berichte von Massakern an irischen Protestanten in England reißenden Absatz fanden und die Vorstellungen von den dortigen Abläufen bestimmten. Diese Darstellungsweise mag auch deswegen vorherrschend gewesen sein , da sie bereits über mehrere Jahrzehnte in England praktiziert wurde , um den Landsleuten die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges nahezubringen , von denen England bis auf ein kurzes Zwischenspiel verschont geblieben war. Verschiedene Traktate schilderten das Kriegsgeschehen im Alten Reich 26 Jones 1642. 27 Cranford 1642 , S. 40 : „In the Country of Tyrone (even in that rebellious part) which is above all other inhabited by those Romish Locusts and wolves , which in nature differ not from the dog wolves that breed amoungst them“. 28 Cope 2009 , S. 80 ; Commons Journal 1802 , S. 396. Die beiden Publikationen waren Happiest News 1641 und A Bloody Battle 1641.

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in ­düsteren Farben , mit viel Raum für Mord und Totschlag. Vor allem aber wurde die Auseinandersetzung auf dem Schlachtfeld konsequent als Kampf zwischen zwei Konfessionsfeinden dargestellt , den katholischen Mördern und Schlächtern einerseits und den protestantischen Opfern auf der anderen Seite. Alle im Detail geschilderten Bluttaten waren daher Zeugnisse für den Leidenskampf der Protestanten um den wahren Glauben in Europa.

Cranford 1642 , S. 55.

Das Martyrium der Gottestreuen war eine seit der Reformation in England beliebte Erzählform. Ihren Höhepunkt fand sie in John Fox’ monumentalem Werk über die Acts and Monuments , das 1563 erstmals erschien und besser unter dem Namen Book of Martyrs bekannt ist. Kaum ein Werk , die Bibel eingeschlossen , war auf dem englischen Buchmarkt der Frühen Neuzeit so erfolg-

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reich wie diese protestantische Leidens- und Bekennergeschichte.29 Teile der zeitgenössischen Geschichtsschreibung ließen sich als eine Fortschreibung der protestantischen Leidensgeschichte verstehen. Dies war der Fall , wenn von der Bartholomäusnacht die Rede war , oder von den eingeschlossenen Hugenotten in La Rochelle , von den Glaubensbrüdern in der Pfalz und dem Schicksal der Stadt und Festung Magdeburg.30 Irland war hier nur das aktuellste Glied in einer langen Kette , zugleich aber auch stärker mit dem Schicksal Englands verknüpft als alle vorangehenden Fälle.

Cranford 1642 , S. 75.

Für die kollektive Wahrnehmung der Ereignisse in Irland blieb es nicht folgenlos , dass hierüber vor allem Erzählungen kursierten , die der Gattung 29 King 2006. 30 Vincent 1635 ; The Invasions 1638 ; Parker 1638 ; True Representation 1638.

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der protestantischen Martyrologie folgten und das dortige Ereignis mit den zahlreichen Vorfällen davor auf dem Kontinent parallelisierten.31 Auf diese Weise wurde der irische Aufstand zu einem Puzzlestück einer großangelegten internationalen Verschwörung der Papisten gegen den wahren Glauben , als Masterplan des Antichristen , den es aufzudecken und abzuwehren gelte. Im Jahr 1642 erschien auf dem Buchmarkt in England eine Schrift mit dem bezeichnenden Titel : „Black Box of Rome opened“.32 Und auch im Rückblick erschienen die Ereignisse zu Beginn des Bürgerkrieges wie eine globale Auseinandersetzung zwischen dem päpstlichen Lager inklusive seiner englischen Adjutanten und den protestantischen Rechtgläubigen , wie William Prynne es in seinem Buch mit dem bezeichnenden Titel „Rome’s Masterpiece“ ausführt.33 In England standen insbesondere das Königshaus und die Bischöfe des Landes seit längerem bei den Puritans unter Verdacht , heimlich eine Wiederannäherung Englands an die Papstkirche in Rom zu betreiben. Der irische Aufstand gab diesen Ängsten neue Nahrung und ließ die Chancen auf eine politische Einigung zwischen Krone und Parlament rapide schwinden. Die selbsternannten Propheten taten dann das ihre , um den Glaubenskrieg auszurufen und die Chancen eines Kompromisses endgültig zunichte zu machen.

Prophetie und Gewalt Die Suche nach politischen Lösungswegen in England für den irischen Aufstand hing entscheidend davon ab , mit welchen politischen Problemfeldern der Aufstand verknüpft wurde : Sieht man in dem Aufstand ein Problem der Integration Irlands in die Stuartmonarchie und der mangelnden Partizipationsmöglichkeiten der politischen Eliten des Landes ungeachtet ihrer unter31 Cranford 1642 , S. 22 : „They have flead the skin from the bones of others like Butchers : the principles of whose Religion is bloud. Witnesse our Books of Martyrs those Chronicles of bloud. Witnesse those thousands of butchered Protestants in France , in Germany“. Hier werden das Book of Martyrs sowie die aus dem Dreißigjährigen Krieg und bei der Belagerung von La Rochelle bekannten Ereignisse explizit ins Feld geführt , um die Plausibilität der aus Irland erzählten Gräueltaten zu erhöhen und sie in das dichotomische Schema katholischer Täter und protestantischer Opfer einzureihen. Zur Gattung der Martyrologie vgl. Burschel 2004a , v. a. S. 13–50 ; Burschel 2004b. 32 Black Box 1641. 33 Prynne 1643.

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schiedlichen kulturellen Wurzeln , hätten sich andere Lösungswege angeboten als im Falle eines allgemeinen Abwehrkampfes aller Protestanten gegen finstere katholische Mächte , gesteuert vom Papst in Rom als Handlanger des Antichristen und unterstützt von dunklen Feinden in England selbst , die ununterbrochen daran arbeiteten , die englische Monarchie der reinen Lehre Gottes wieder zu entfremden und Rom ein weiteres Mal auszuliefern.34 Um England vor diesem Schicksal zu bewahren und die protestantische Identität des Landes zu festigen , bedurfte es einer vollständigen Reformation , einer Absage an alle konfessionellen Zweideutigkeiten und einer Bekämpfung all derjenigen , die nicht als Fürsprecher einer vollständig reformierten Kirche auftraten , sondern als Gegner oder als Zauderer. Hier waren vor allem die englischen Bischöfe gemeint , aber auch die katholische Königin Englands , Henriette Maria , zahlreiche Hofmitglieder und nicht zuletzt König Karl I. selbst. Der irische Aufstand schuf daher nicht nur die Notwendigkeit militärischer Maßnahmen auf der grünen Insel. Durch ihn erhielten auch all diejenigen religionspolitischen Belange oberste Priorität , die zumindest aus der Sicht zahlreicher protestantischer Geistlicher für das Verhältnis zwischen Gott und England als seiner auserwählten Nation von entscheidender Bedeutung waren.35 Der König war dabei in deren Augen kein Garant mehr für das Heil Englands an Gottes Seite , sondern eher ein Schirmherr all derjenigen , die das Heil Englands in Gefahr brachten. Der irische Aufstand war in dieser Deutung ein weiterer Beweis für die Machenschaften der Gegner eines reinen , protestantischen England. Zahlreiche protestantische Geistliche , die sich diese Erzählung zu eigen machten , lassen sich als Propheten verstehen , und zwar aus folgenden Gründen : Zunächst zählte die Rolle des Propheten zu ihrer Selbstinszenierung , knüpften sie explizit an das Auftreten von Jeremias , Elias und Daniel an. Zweitens sahen sie sich in einer vergleichbaren Sprecherrolle wie die genannten Propheten des Alten Testaments :36 Sie hatten als Geistliche ihr Wort auch an die Herrschaftsträger zu richten , an den König und das Parlament. Dabei hatten sie den Machthabern Gottes Normen in Erinnerung zu rufen und daraus eine konkrete Erwartungshaltung zu aktuellen Ereignissen und Entscheidungen abzuleiten. In diesem Sinne verstanden sich die Propheten als Boten Gottes gegenüber der Obrigkeit. Ebenso wie bei den alttestament34 Zum Problem mangelnder politischer Integration vgl. Asch 1990. 35 Pečar 2011 , S. 62–105. 36 Zum Vorbild vgl. Saur 2007.

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lichen ­Propheten beinhaltete diese Rolle gegebenenfalls auch explizite Herrschaftskritik. Das Verhalten der Obrigkeit wurde gemessen an der Norm des Gesetzes Gottes. Sofern die Geistlichen Abweichungen vom Gesetz diagnostizierten , sparten sie nicht mit Angriffen auf eine Politik des Königs , die das Heil der ganzen Monarchie aufs Spiel setzte. Die Prophetenrolle beinhaltete drittens die beanspruchte Verfügbarkeit der zukünftigen Entwicklung Englands. Die Zukunft lag aber den Propheten nicht deswegen offen , weil sie über besondere seherische Fähigkeiten verfügten oder visionäre Qualitäten für sich beanspruchten. Vielmehr resultierte die Kenntnis der Zukunft aus einem bestimmten Gottesbild einerseits und der Idee vom konditionierten Bund Gottes mit den Menschen andererseits :37 Gott habe seit den Zeiten Abrahams mit den Menschen allgemein , insbesondere aber mit den von ihm auserwählten Völkern wie Israel oder in dessen Nachfolge England einen Vertrag geschlossen , der beide Seiten bestimmten Verpflichtungen unterwirft : Das Volk habe Gottes Gesetzen zu gehorchen , dann könne es göttlichen Beistands und des gemeinschaftlichen Heils sicher sein.38 Die Reformation in England wird in diesem Sinne als eine Bekräftigung des bereits bestehenden Bundes angesehen , als eine erneute Selbstverpflichtung Englands auf die Normen Gottes nach Jahren papistischer Verfehlungen und Abgötterei. Als Zeichen göttlicher Gnade verstand man die Errettung Englands vor der spanischen Armada (1588) und die Aufdeckung der Pulververschwörung gegen König und Parlament (1605).39 Mit diesem Deutungsschema konnten die Engländer nicht nur ihre jüngere Vergangenheit als Teil des göttlichen Wirkens in der Welt wahrnehmen , sondern die dem Bund innewohnende Kausalität auch in die Zukunft applizieren. Sofern England aus Sicht der Geistlichen mit den Normen Gottes in Übereinstimmung lebte , war der Schutz Gottes der Lohn für diese Normentreue. Im Falle einer Abweichung vom Gesetz waren indes Gottesstrafen 37 Hierzu demnächst Pečar 2013. 38 Vgl. hierzu allgemein Oestreich 1967 , S. 137–151 ; ferner mit einem darüber hinausgehenden Blick auf die in Zürich wirkenden Theologen Zwingli und Bullinger , deren Bundesidee in England auf weit größeren Widerhall stieß als die Bundeskonzeption Calvins ; Schmidt 1998. Als eines von zahlreichen Beispielen in den zeitgenössischen Fastenpredigten vgl. Calamy 1642 , S. 55 : „Gods Covenant with a nation is conditionall. It is quandiu se bene gesserit. If that Nation obey my voice , then will I build it and plant it : but if it disobey my voice , then will I pluck it up , pull it down , and destroy it.“ 39 Vgl. hierzu allg. Asch 2001.

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zu vermuten und Englands Zukunft unheilvoll.40 Insbesondere hinsichtlich der Ausbreitung von Götzendienst bzw. der Kooperation mit Götzendienern war keine göttliche Gnade zu erwarten , und um nichts anderes handelte es sich in den Augen zahlreicher Puritans bei der Religionspolitik Karls I. und des Erzbischofs von Canterbury , William Laud , und deren liturgischen Maßnahmen zur Förderung der „beauty of holiness“;41 von den Gerüchten einer Kooperation des Königs mit den irischen Katholiken zur Niederschlagung des schottischen Aufstands bzw. des unbotmäßigen englischen Parlaments ganz zu schweigen. Aus diesen drei Gründen stand manchen protestantischen Geistlichen nach der Einberufung des Long Parliament ein politischer Ort zur Verfügung , an dem sie ihre Prophetenrolle wahrnehmen konnten. In zunächst unregelmäßigen Abständen , seit Ende des Jahres 1641 dann in monatlicher Folge beauftragte das Unterhaus jeweils zwei Geistliche damit , an eigens dafür ausgelobten Fastentagen eine Predigt an alle Abgeordneten des Unterhauses , die sich in der Kirche von St. Margaret zusammengefunden hatten , zu richten. Diese Fastenpredigten vor dem Unterhaus waren gerade in Situationen , in denen wegweisende Dinge zur Entscheidung anstanden , zu einem wichtigen Bestandteil politischer Verständigung in diesem Gremium geworden , zu einem Mittel der politischen Auseinandersetzung über die Zukunft Englands.42 In den Fastenpredigten lässt sich ersehen , wie der Aufstand in Irland mit dem Mittel der Prophetie kommentiert wurde , welche Handlungsimperative von den Propheten in St. Margaret aus dem irischen Aufstand abgeleitet und an die Abgeordneten herangetragen wurden. Nach dem Bekanntwerden des irischen Aufstands beauftragte das Unterhaus die Geistlichen Stephen Marshall und Edmund Calamy damit , in sogenannten Fastenpredigten vor den Abgeordneten die politische Lage aus theologischer Sicht darzulegen. Diese Fastenpredigten fanden am 22. und 23. Dezember 1641 statt.43 Beide Geistliche hatten sich mit ihren Fastenpredigten bereits einen Namen gemacht , beide waren strikte Anhänger einer vollständigen Reformation und standen damit der politischen Haltung John Pyms nahe. Stephen Marshall präsentierte sich vor seinen Zuhörern mit einer Mischung aus Bescheidenheit 40 Auch hier hat Edmund Calamy die abschließende Formulierung gefunden : „Turn or burn for ever in Hell“; Calamy 1642 , S. 59. 41 Milton 1995 , S. 84–92 ; Fincham /  Tyacke 2007. 42 Trevor-Roper 1964 ; Wilson 1969 ; Durston 1992. 43 Commons Journal 1802 , S. 344.

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und Sendungsbewusstsein.44 Er betonte zum einen die große Ehre , vor dem Parlament predigen zu dürfen, und verwies auf die große Zustimmung , die er für frühere Predigten am selben Ort erfahren hätte. Zum anderen stellte er sich in die Tradition der alttestamentlichen Propheten Elias und Jeremias : In Momenten der Gefahr „men may bee stirred up with admirable spirits to attempt great things for God“.45 Und an späterer Stelle : „My duty this day is to doe that which Ieremy did : God calls him in a mourning time , and saith , goe to the King and Queen , and say come you down , sit in the dust , humble your selves“.46 Allerdings betonte er zugleich , dass man den Wahrheitsgehalt der Prophetie nicht abhängig machen dürfe vom Erfolg , sollte die Obrigkeit den Weisungen der Propheten nachkommen : „sincere endeavours to doe Gods service is our whole worke , but the successe of these endeavours is Gods worke“.47 Diese Kautele war wohl nicht ohne Brisanz. Schließlich wurde Stephen Marshall und seinen puritanischen Mitstreitern seit der Eröffnung des Long Parliament im Herbst 1640 auf der Kanzel für die Fastenpredigten vor dem Unterhaus gleichsam ein Deutungsmonopol eingeräumt , um dem Parlament die Agenda einer vollständigen Reformation in England einzuhämmern. Dreh- und Angelpunkt all dieser Predigten war der Bezug auf Gott als Weltenlenker , der das auserwählte Volk in England mit furchtbaren Gottesstrafen heimsuchen werde , sollte es auf dem Irrweg Richtung Popery fortschreiten , statt eine sofortige Umkehr einzuleiten. Diese Umkehr hatte das Parlament aber im Jahr 1641 weitgehend auf den Weg gebracht , weshalb nun gemäß der Lehre vom konditionierten Bund Gottes mit Israel – also mit England – Gottes Segen die Folge hätte sein müssen , nicht aber ein katholischer Aufstand in Irland. Für Marshall und Konsorten stand mit dem irischen Aufstand ihre Autorität und prophetische Sprecherrolle in der politischen Öffentlichkeit auf dem Spiel. Daher rief Marshall seinen Zuhörern im Parlament das Beispiel Hosias , des Musterkönigs von Juda , in Erinnerung , der die vollständige Umkehr zu Gott vollzogen habe , aber das Schicksal der babylonischen Gefangenschaft vom jüdischen Volk nicht habe abwenden können , da die Sünden seines Vorgängers Menasse zu groß gewesen seien , um Gottes Zorn durch eine Um44 45 46 47

Marshall 1642b. Ebd. , S. 5. Ebd. , S. 18. Ebd. , S. 6.

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kehr zu besänftigen.48 Überträgt man diese Lesart auf England , so sind für alle Schicksalsschläge , die England auch in Zukunft ereilen sollten , König Karl I. und seine Religionspolitik haftbar zu machen , nicht aber die Lehren der Prediger vor dem Unterhaus. Die Notwendigkeit einer Agenda der vollständigen Reformation der Kirche in England und einer energischen Bekämpfung aller Götzendiener blieb daher in Marshalls Augen bestehen.49 Als Trost an seine Zuhörer lieferte Marshall den Hinweis , dass Gott kleinere Strafen als Zeichen der notwendigen Umkehr aussende , bevor die vollständige Vernichtung drohe.50 Ohne dies explizit mit dem irischen Aufstand zu verknüpfen , könnte es sich hierbei doch um solch ein Zeichen gehandelt haben , das , sollte es richtig gedeutet werden , die Vernichtung abwenden könne. Marshall sah für die notwendige Umkehr in jüngster Zeit hinreichend Mitstreiter , sowohl unter den lokalen Amtsgewalten als auch unter den Pfarrern in der Kirche. Diese Saints fieberten dem Tag entgegen , „untill hee [God] bow the heavens and come downe , and set up for himselfe a glorious Throne amongst us : And unto these God hath made many promises of sparing the land for their sakes , and that their posterities after them shall be blessed“.51 Allerdings ließ er auch keinen Zweifel daran , dass die Mehrheit in England , die politische Elite des Landes eingeschlossen , in Unglauben und Verrat gegen Gottes Gesetz verharre. Sollte der Gottesgehorsam der frommen Minderheit in England nicht bald von allen geteilt werden , so Marshall , sei der Untergang nahe. Mit dieser Warnung war auch der Auftrag einer vollständigen protestantischen Konfessionalisierung in Irland verknüpft. Der irische Aufstand sei Gottes Antwort darauf , „because wee have not laboured to bring them to the knowledge of God and our Lord Jesus Christ“.52 Marshall ließ auch keinen Zweifel daran , dass das Werk der Reformation notwendig mit Gewaltmaßnahmen verbunden sei : „let not the men escape , whom God appoints out to punishment“.53 Die Predigt des Gesinnungsgenossen Edmund Calamy , die am Tag darauf vor den Abgeordneten gehalten wurde , konfrontierte die Zuhörer mit der­ 48 Ebd. , S. 1–5 und 8 f. 49 Ebd. , S. 7 : „But however goe on , yee Worthies of the Lord , with sincere hearts to doe what God requires at your hands ; and weather this Nation be gathered or not , you shall be glorious in the eyes of God and the Lord will be your strength.“ 50 Ebd. , S. 40. 51 Ebd. , S. 44. 52 Ebd. , S. 48. 53 Ebd. , S. 52.

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selben Erzählung von Reformation und Umkehr.54 Calamy beschwor bereits in seiner Einleitung die notwendige Einheit zwischen den wahren protestantischen Geistlichen und dem englischen Parlament. So wie die vorbildlichen Könige des Alten Testaments zusammen mit von Gott gesandten Propheten in Jerusalem das Haus Gottes errichteten , so solle dies nun auch in England geschehen.55 Auch Calamy sah in den Rückschlägen für die Protestanten in Europa göttliche Zeichen , das Werk der Reformation ohne Kompromisse in Angriff zu nehmen.56 Über den irischen Aufstand äußerte er sich folgendermaßen : „God speaks now more neerly to us , by the bloudy rebellion that is in Ireland. [ …] This sword is Gods warning peece to England. A Serpent , the neerer it is , the more dangerous it is. The sword is now come very neere us [ …] If the sword of the Spirit will not now last cut down our sinnes , we must expect the sword of the enemy to cut us down , and to destroy us“.57 Die Antwort auf den irischen Aufstand müsse sein , so Calamy , die vollständige Reformation im eigenen Land voranzutreiben und den Götzendienst überall zu bekämpfen.58 Die Verheißung eines solchen Kurses könne nur die Rückerlangung göttlicher Gnade und göttlichen Heils für England sein : „If we reform and turn , God will turn ; If we turn the evill of our sins God will turn from the evill of his judgements.“59 Handelt es sich bei diesen beiden Beispielen nur um die übliche Mahnungs- und Umkehrrhetorik , wie sie zu dieser Zeit gleichsam als lamentatio perpetua von allen Kanzeln der Christenheit den Gläubigen entgegenschallte ? Oder enthalten sie Elemente einer politischen Rhetorik , geeignet , England dem Bürgerkrieg näher zu bringen ? Lassen sich die Fastenpredigten überhaupt der politischen Rede zurechnen , da deren Sprecher darauf abzielten , die politische Willensbildung in ihrem Sinne zu beeinflussen , oder war es nur ihre Absicht , die Sündhaftigkeit Englands anzuprangern ? Der politische Stellenwert der Fastenpredigten ist in der historischen Forschung umstritten. Glenn Burgess hat den politischen Gehalt der Predigten bestritten und deutet sie als rein spirituellen Appell an den Glauben und die persönliche Lebensführung

54 55 56 57 58 59

Calamy 1642. Ebd. , S. 46 f. Ebd. , S. 15. Ebd. , S. 17. Ebd. , S. 39 und 45–49. Ebd. , S. 50.

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der Angesprochenen.60 Andere Historiker blenden die Fastenpredigten einfach aus , wenn es um die Frage geht , wie der Widerstand gegen den König im politischen Denken der Zeit begründet wurde.61 Mehrere Gründe sprechen jedoch in meinen Augen dafür , die Fastenpredigten der politischen Rhetorik der Zeit zuzuordnen , ja sie als politische Sprechakte zu verstehen , d. h. als Äußerungen , mit denen eine spezifische politische Wirkungsabsicht der Sprecher verknüpft war : die Absicht , auf die politische Entscheidungsfindung des Parlaments Einfluss zu nehmen.62 Dafür spricht zunächst der Kontext , in dem die Fastenpredigten erfolgten : die handverlesene Auswahl der Prediger durch das Unterhaus selbst , die Abgeordneten als Adressatenkreis der Prediger , vor allem aber der jeweilige Zeitpunkt der Predigten.63 Die Kommentierung des irischen Aufstandes von Calamy und Marshall vermittelt den Abgeordneten ihre zukünftige politische Agenda. Sah es bis zum Ausbruch des Aufstandes so aus , als wäre die Aufgabe des Parlaments mit dem Friedensvertrag mit Schottland und dem weitgehenden Kassieren der königlichen Prärogativrechte erfüllt , diente der irische Aufstand den beiden Geistlichen als mahnendes Beispiel , dass die vollständige Reformation Englands nach wie vor nicht erfolgt sei und sich an dieser Frage das zukünftige Wohl der englischen Nation entscheide. Die Messlatte zur Beurteilung politischer Entscheidungen war ebenfalls folgenreich. In den Fastenpredigten war Gott die oberste , letztlich die einzige Referenz für politisches Handeln , nicht aber der König. Das Gesetz Gottes war die Richtschnur , an der sich alle politischen Handlungen zu orientieren hätten , nicht aber die Gesetze des Landes. Dies war solange kein politisches Problem , solange die Normen Gottes und die Handlungen des Königs als miteinander übereinstimmend wahrgenommen wurden. Dieses Vertrauen war aber sowohl bei den meisten Abgeordneten als auch bei den Predigern in St. Margeret erloschen. Schlimmer noch : Man sparte nicht mit Kritik am Zustand der englischen Kirche , die den König implizit und die Bischöfe explizit als seine wichtigsten Amtsträger innerhalb der Kirche als Feinde der Reformation und als Götzendiener brandmarkte und damit den Feinden Gottes zurechnete.64 Die Sprecher der Fastenpredigten trugen mit der Dissoziation der 60 61 62 63 64

Burgess 1998 , S. 190–192. Friedeburg 1999 ; Skinner 2006. Zum Begriff der Sprechakte Austin 1992 ; Skinner 1970 ; Skinner 1988. Vgl. hierzu Wilson 1969 , S. 17 ; Trevor-Roper 1964 , S. 88–95. Vgl. hierzu Pečar 2011 , S. 82–84.

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Politik Karls I. vom Gesetz Gottes dazu bei , die Loyalität des Parlaments zum König als nachrangig darzustellen. Letztlich stand jeder Abgeordnete in der Logik der Umkehrrhetorik vor der Wahl , Gott oder dem König gehorsam zu sein , und die Prediger ließen keinen Zweifel daran , wie diese Wahl zum Wohle Englands auszufallen habe. Es war die logische Folge , dass Karl I. 1642 die wichtigsten Prediger in St. Margeret öffentlich des Hochverrats bezichtigte , was deren Status innerhalb des Parlaments aber nicht weiter beeinträchtigte.65 Vor allem aber war es die Forderung der Geistlichen an die Abgeordneten nach dem Eifer für die Sache Gottes , hinter der sich ein politischer Nebensinn verbarg. Stand bei dem gottgewollten Projekt der vollständigen Reformation die politische Verfassung des Landes im Weg , so sei es die Aufgabe der Abgeordneten , den wahren Eifer für die Sache Gottes dadurch zu beweisen , dass man sich über die bestehenden Grenzen der weltlichen Ordnung hinweg­ setzte.66 Es war wiederum Stephen Marshall , der diese Forderung an die Abgeordneten besonders lautstark und wortgewaltig erhob , in seiner Fastenpredigt am 23. Februar 1642 mit dem Titel „Meroz cursed“.67 Stephan Marshall war so von der Qualität dieser Predigt überzeugt , dass er sie insgesamt ca. 60 Mal an den verschiedensten Orten des Landes zum Besten gab , auch vor den Soldaten des Parlaments , die gegen die Truppen des Königs ins Feld geführt wurden. Auch im Druck sind mehrere Auflagen dieser Predigt überliefert.68 Marshalls Predigt kreist um die Stadt Meroz , die während der Kämpfe Israels mit den verschiedenen Völkern Canaans den bedrängten Juden keine Unterstützung gewährte. In Deborahs Siegeslied wurde die Stadt Meroz (Ri 5 ,23) dafür verflucht , Gott nicht zu Hilfe gekommen zu sein. Die Frage danach , ob man Gott zu Hilfe komme oder nicht , war für Marshall die Richtschnur , um generell politisches Handeln zu beurteilen. Wie man Gott mit Eifer dienen könne , bewies in Marshalls Augen die Gestalt Jaël , die sich nicht scheute , mit einer heimtückischen Tötung des kanaanitischen Feldhauptmanns Siseras der Sache Gottes zu dienen (Ri 4 , 19–22). Gottes Bannfluch gegen die hoffärtige Stadt Moab diente Marshall dabei als allgemeine Losung : „Verflucht sei , wer des Herrn Werk lässig tut ; verflucht sei , wer sein Schwert aufhält , dass es nicht 65 Vgl. aber die Antwort Edmund Calamys auf diesen Vorwurf : Answer to the Articles 1642. 66 Vgl. hierzu ausführlich Pečar 2011 , S. 73–105. 67 Marshall 1642a. 68 Trevor-Roper 1964 , S. 99.

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Blut vergießt“ (Jer 48 ,10). Daraus leitete Marshall allgemeine Prämissen für politisches Handeln ab : So könne und dürfe man sich zu den Streitfällen in der Kirche nicht neutral verhalten :69 Der Kampf gegen Babylon müsse vielmehr mit allen Mitteln geführt werden. Auch die Schranken des Gesetzes und der Moral wären in einem solchen Fall nachrangig : „Yet if this worke be to revenge Gods Church against Babylon , he is a blessed man that takes and dashes the little ones against the stone“.70 Marshalls politischer Imperativ lautete : „Salus ecclesiae suprema lex“.71 Mit dieser Adaption von Ciceros Diktum „Salus populi suprema lex esto“ relativierte Marshall explizit alle Schranken bestehender Gesetze und Traditionen , sofern sie dem erklärten Ziel , die Reformation der Kirche zu vollenden und den Kampf gegen die katholischen Aufständischen in Irland aufzunehmen , im Wege stünden.72 Seine Botschaft , das Heil der Kirche sei das höchste Gesetz , gepaart mit der heilsgeschichtlichen Notwendigkeit , England aus den Klauen der Hure Babylon zu erretten und vor Gottes Bannstrahl zu bewahren , richtete sich an die Mitglieder des Parlaments und legte ihnen die Verpflichtung auf , Gott zu Hilfe zu kommen. Die biblischen Beispiele lieferten ferner reiches Anschauungsmaterial , wie mit all denjenigen zu verfahren sei , die sich diesem Ziel widersetzten. Glenn Burgess sieht auch die Metaphorik dieser Rede nicht als Beweis für die mit ihr verbundene politische Wirkungsabsicht. Die kriegerischen Metaphern seien nicht gegen einen politischen Feind gerichtet , sondern gegen die spirituellen Mächte des Teufels , die jeder im Kampf um seine Seele bekämpfen müsse.73 Diese Deutung kann Burgess indes nur deshalb aufstellen , weil er Ort und Zeitpunkt dieser Predigt nicht weiter zur Kenntnis nimmt. An wen wandte sich Marshall denn mit seiner Warnung an das Parlament , das Schwert aufzuhalten ? Und wessen Schwert dürfte gemeint sein ? Marshall ging es mit seiner Predigt um einen Appell an die Abgeordneten in der damals wichtigsten und wohl auch strittigsten Frage , die zur Debatte stand : Sollte das Parlament den Notstand Englands proklamieren und daraus für sich das Recht ableiten ,

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Marshall 1642a , S. 22–24. Ebd. S. 11 f. , unter Bezug auf Psalm 137 , 8–9. Ebd. S. 18. Ebd. S. 46 : „many great things are yet to bee done ; much rubbish to be removed ; many obstructions to bee cleared , many enimies to be overthrown. Ireland is to be relieved , Religion to bee established [ …].“ 73 Burgess 1998 , S. 190–192.

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gegen die Gesetze des Landes eine eigene Armee gegen die aufständischen Iren aufzustellen , die zur Not auch gegen den König in Stellung gebracht werden konnte ? Am 31. Januar unterbreitete das Unterhaus mit der Militia Bill einen ersten Vorschlag in diese Richtung.74 Nur knapp zwei Wochen nach Marshalls Predigt , am 5. März , vollzog das Parlament diesen entscheidenden Schritt , der einen Bürgerkrieg zwischen dem königlichen Lager und den Mitstreitern des Parlaments unausweichlich machte. In den Predigten vor dem Unterhaus war dieser Bürgerkrieg – als Auseinandersetzung zwischen Jerusalem und Babylon – bereits lange zuvor Wirklichkeit geworden , wie bereits Wilson treffend kommentierte : „As far as the Pulpit in St. Margaret’s was concerned , civil war had already begun.“75

Schlussbetrachtung Wie stellt sich nun in der Zeitspanne vom irischen Aufstand im Oktober 1641 bis zum Ausbruch des englischen Bürgerkrieges im Sommer 1642 der Zusammenhang zwischen Gewalterfahrung und Prophetie dar ? Der irische Aufstand war eine erneute Bestätigung für spezifische Angstvorstellungen , wie sie dem englischen Protestantismus seit der Mitte des 16. Jh. inhärent waren : nämlich der Angst vor einer Verschwörung des Papstes , auswärtiger katholischer Mächte sowie der church papists , also derjenigen in der Stuartmonarchie , die das Ideal einer reinen , protestantischen Kirche ablehnten und im Verborgenen an der Rückkehr Englands zum Katholizismus arbeiteten. Bestätigungen für einen popish plot fanden protestantische Engländer in ihrer jüngeren Vergangenheit reichlich : man denke nur an die Exkommunikation Elisabeths I. , an die gegen die Königin gerichteten Mordanschläge und Verschwörungen , an den Invasionsversuch der spanischen Armada , an die logistische Aufstandshilfe in Irland von Seiten Spaniens , an den Gunpowder Plot etc. Der irische Aufstand war jedoch nicht einfach nur eine Fortsetzung der langen Kette katholischer Umsturzversuche , sondern zugleich eine für die englische Monarchie neuartige Herausforderung. Während nämlich alle vorangegangenen Verschwörungen in erster Linie gegen den König als obersten 74 Die Militia Bill findet sich im Commons Journal 1802 , S. 406. Die endgültige ablehnende Haltung des Königs kam am 28. Februar 1642 ; ebd. , S. 459 f. 75 Wilson 1969 , S. 64.

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Repräsentanten des protestantischen Englands gerichtet waren , so war dies beim irischen Aufstand von 1641 nach Wahrnehmung zahlreicher englischer Zeitgenossen nicht der Fall. Vielmehr bestand in Teilen der politischen Klasse , vor allem der Mitglieder des Unterhauses , im Herbst 1641 die Befürchtung , der König könne Teil der irischen Verschwörung sein und den Aufstand angezettelt haben , um sich dadurch mit Billigung des Parlamentes eine Armee beschaffen zu können. Es war wiederum die zeitgenössische Prophetie , die dafür sorgte , dass diese Angst vor Karl I. als Steigbügelhalter des Antichristen , als konfessionell unzuverlässigem Monarchen und damit als potentieller Bedrohung für das kollektive Heil der englischen Nation im Herbst 1641 in der politischen Elite nicht auf taube Ohren stieß , sondern einer Mehrheit plausibel erschien. Die Kritik an der Religionspolitik des Königs und seiner Bischöfe war nicht neu , sondern kehrte seit den 1570er Jahren schubweise wieder. Spätestens seit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges wurde in der Traktatliteratur der Zeit immer wieder die Kritik laut , dass die königliche Politik Jakobs I. und seit 1625 dann Karls I. das Heil und die Zukunft Englands aufs Spiel setze , da sie nicht entschieden genug gegen den Götzendienst in Europa wie im eigenen Land gerichtet war. Der irische Aufstand konfrontierte England mit der Tatsache , dass die an Protestanten verübten Greueltaten , die man bislang vorwiegend aus Meldungen von der Niederschlagung des Hugenottenaufstandes im französischen La Rochelle oder von den Kriegsschauplätzen des Dreißigjährigen Krieges im Alten Reich kannte , nun auch die Länder der Stuartkrone erreicht hatten. Zwar besaßen diejenigen , die im englischen Parlament über das weitere Vorgehen zu entscheiden hatten , keine unmittelbare Gewalterfahrung , sondern nur eine medial vermittelte. Die bei der Darstellung des irischen Aufstandes verwendeten Erzählungen , insbesondere die Gattung der Martyrologie , verknüpften den irischen Aufstand in der medialen Übermittlung mit bereits seit langem existierenden Ängsten einer diabolischen Verschwörung katholischer Mächte gegen England und sahen zumindest die Bischöfe , indirekt aber auch König Karl I. selbst als Teil dieser Verschwörung an. Das Ereignis des irischen Aufstandes bekräftigte bereits existierende Deutungsmuster , die wiederum dafür sorgten , dem Ereignis eine spezifische politische Bedeutung zu verleihen. Die politischen Folgen einer solchen Deutung des irischen Aufstandes , nämlich der Aufbau einer nur dem Parlament verpflichteten Armee und die faktische Aufkündigung des Gehorsams gegenüber dem König , führten England direkt in den Bürgerkrieg und standen am Beginn kriegerischer Auseinandersetzungen , die fast zehn Jahre andauern sollten. Das Ereignis des irischen

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Aufstandes für sich genommen hätte schwerlich den zeitweiligen Untergang der Monarchie in England zur Folge gehabt , wäre die Autorität des Königs nicht bereits seit längerer Zeit durch die lautstark geäußerte Kritik an einer Gottes Normen entgegenstehenden Religionspolitik zerrüttet worden. Diese Kritik wurde nach dem irischen Aufstand in Form der prophetischen Rede aktualisiert und zur Deutung der Gewaltereignisse in Irland herangezogen. Ihre Überzeugungskraft reichte aus , das englische Parlament mehrheitlich auf Kriegskurs gegen den König einzuschwören und den Krieg als Eifer für das Gesetz Gottes und als Kampf gegen Unglauben und Götzendienst wahrzunehmen.

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Gewalt , Furcht und retrospektive Prophetie Petrus Lotichius’ „Elegie von der Belagerung Magdeburgs“* Andreas Bähr

I Am 20. Mai 1631 wurde Magdeburg , die protestantische Bastion im Norden des Heiligen Römischen Reiches , von den Söldnern der kaiserlichen Feldmarschälle Tilly und Pappenheim gestürmt ; die Stadt ging in Flammen auf und etwa 20.000 Menschen fanden den Tod.1 Noch im selben Jahr erschien in Leipzig eine Flugschrift mit dem Titel „Elegia De obsidione Magdeburgensi , Das ist : Klage=Reymen /  Von der Belägerung vnd Eröberung der weitberühmbten vnd vhralten Stadt Magdeburgk“. Der Text präsentiert sich als Übersetzung eines lateinischsprachigen Lamentos des lutherischen Humanisten Petrus Lotichius Secundus , den dieser bereits 1551 verfasst hatte , als die Truppen Karls V. und seiner Verbündeten die Elbmetropole vergeblich bedrängten. In Form einer Traumvision beklagt er das Leiden der umkämpften Stadt und schließt mit der Bitte , Gott möge es doch gnädig beenden.2 * Der vorliegende Aufsatz ist entstanden im Rahmen der DFG-Forschergruppe „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“ an der Freien Universität Berlin. 1 Das außergewöhnlich gewaltsame Geschehen hat nicht allein die Zeitgenossen nachhaltig beschäftigt , sondern auch die Geschichtswissenschaft. Zu den publizistisch erzeugten Erinnerungszusammenhängen , die die Zerstörung der Stadt zum „historischen Ereignis“ machten , vgl. Medick 22001 ; zu religiösen Deutungen der verübten Gewalt s. Burschel 2004 , S. 354–357 , vgl. darüber hinaus Kaiser 1997 , 21998 und 2004 , und Knauer 21998 ; für mediengeschichtliche Aspekte s. Emich 2007 /  08 , 2009 und Tschopp 2005 , für Geschlechtergeschichtliches Rublack 1995 , und für eine Einordnung in die historischen Darstellungen des Traueraffekts Lepper 2008 , Kap. 5.B.3. 2 Lotichius 1631a. Die überlieferten Exemplare der Flugschrift sind im Wortlaut stellenweise nicht identisch , zum Teil fehlen Angaben zu Verlagsort und Verleger. Im Folgenden wird nach der Signatur AB 67 5 /  c , 12 (4) der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt zitiert. Eine der deutschen Fassungen von 1631

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Schon der Untertitel dieser deutschen Fassung signalisiert , dass mit ihr nicht lediglich eine Übersetzung in eine andere Sprache vorliegt , sondern auch in einen anderen historischen Kontext ;3 und mit dieser Übertragung erhielten die Verse eine neue Funktion , konkret : Der Untertitel verlässt den Boden des Originals und weist die „Elegie“ nunmehr als eine „Poetische Propheceyung“ aus.4 Der Text fand seine Verleger , weil die Dichtung des Lotichius jetzt lesbar wurde als etwas , als das sie sich nie ausgegeben hatte : als eine achtzig Jahre zurückliegende Ankündigung der fast gänzlichen Vernichtung Magdeburgs. Die Übersetzung des Lamentos und ihre Verbreitung fungierten so als einer der maßgeblichen Bausteine in der Genese eines nachhaltigen Erinnerungszusammenhangs zwischen den beiden Belagerungen in der Folge des Schmalkaldischen und während des Dreißigjährigen Krieges. Sie machten die Zerstörung der Stadt zum „historischen Ereignis“ – im zeitgenössischen , und das heißt : im heilsgeschichtlichen Sinne des Begriffs.5 Die Elegie ist ein aufschlussreiches Beispiel für das , was sich als retrospektive Prophetie bezeichnen ließe. Frühneuzeitliche Prophetien kündigten die Zukunft an , um entweder vor ihr zu warnen oder aber dazu aufzufordern , das Verkündete mit herbeizuführen – in chiliastischen Vorstellungen das Reich Gottes auf Erden. Nicht selten ergriffen sie das Wort in oder nach „Erfahrungen“ der Gewalt , wenn sie diese als eine göttliche verstanden und auf die ihr immanente Drohung aufmerksam zu machen suchten : auf die künftige Gewalt des Herrn , das heißt auf das letzte Gericht und den Untergang dieser

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ist abgedruckt bei Heger 1978 , S. 479–485. Die von Gregor Ritzsch in Leipzig verlegte , in Alexandrinern verfasste deutsche Nachdichtung ist gelegentlich fälschlich Martin Opitz zugeschrieben worden ; s. Lepper 2008 , S. 192 f. , Kühlmann 1999 , S. 102. Weitere Übertragungen des lateinischen Textes bieten Lotichius 1631b–e. Sämtliche überlieferten Drucke sind aufgeführt bei Lahne 1931 , Bibliographisches Register II : Die Flugschriften , Nr. 30 , 71–79 , 145 , 147–150 ; s. außerdem S. 183 f. Eine moderne deutsche Übersetzung des lateinischen Originals , das in Lotichius’ zweitem Elegienbuch erschienen ist (II ,4) , sowie dessen Edition bieten Kühlmann /  Seidel /  Wiegand 1997 , S. 458–465 und 1217–1222. Zur Kriegsthematik des ersten Elegienbuches vgl. Kühlmann 1992 und Wiegand 1993 , zu Lotichius’ Person und Werk außerdem Zon 1983 sowie Coppel 1993 , darin zur Magdeburg-Elegie : S. 530 f. , 534 , 540. Zur Antikenrezeption in der „Elegia de obsidione“: Baier 2001. Insofern kann von einer „kulturellen Übersetzung“ gesprochen werden ; vgl. dazu Bachmann-Medick 42010 , Kap. 5. So auch Lotichius 1631c–e. Schilling 1999 , S. 153 ; Tschopp 2005 , S. 101 f. , auch 90 f.

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Welt.6 Diese Prophetien suchten die Furcht vor dem Ende zu schüren und damit zugleich die Hoffnung zu säen , es durch Umkehr und conversio noch abwenden zu können : die Hoffnung , nach Gottes letztem Urteil auf der richtigen Seite zu stehen.7 Wer die Zukunft vorhersagte , mahnte damit stets auch zum Handeln. Welches Interesse mochte dann der Hinweis erregen , dass ein bereits eingetretenes Ereignis in der Vergangenheit vorhergesagt worden war ? Warum wurde ein achtzig Jahre alter Text übersetzt und verlegt in einem Moment , in dem sich das in ihm vermeintlich verkündete Geschehen gar nicht mehr abwenden ließ ? Prophetie , so viel wird hier klar , las die schrecklichen Zeichen des Künftigen auch dann , wenn diese Zukunft bereits Geschichte geworden war. Dies ist vornehmlich für Kontexte festzustellen , in denen die politische Prophetie in Misskredit geraten war. Nicht zuletzt angesichts der vielfach gewaltsamen Folgen des Anspruchs auf göttliches Zukunftswissen , oder theologisch gesprochen : angesichts seiner Sündhaftigkeit, wuchs im „martialischen Saeculum“ die Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer sicheren Exegese der Zeichen. Gewissheit über ihre Bedeutung , daran bestand immer weniger Zweifel , bot allein der Ausgang der Dinge : das Eintreten des prophezeiten Ereignisses. Erst die Aufklärer jedoch unterzogen eine derartige Epistemologie einer Fundamentalkritik.8 Noch im 17. Jahrhundert dagegen wurde nicht allein ex eventu geklärt , ob eine Weissagung in Erfüllung gegangen war , sondern mitunter auch , ob es sich bei einer Aussage überhaupt um eine Weissagung gehandelt hatte. Retrospektion erscheint als die epistemologische Grundlage des Prophetischen nach der Diskreditierung prospektiver , auf die Umwälzung des Sozialen zielender Vatizinien. Nicht allein Lutheraner wie Lotichius , sondern gerade auch jene , die sich 1631 seiner erinnerten , lebten , wie sie vermeinten , am Ende der Zeit , wie die 6

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„Erfahrung“ meint im Folgenden nicht ein inneres Empfinden oder subjektives Erleben , sondern wird im Sinne des zeitgenössischen Begriffs der experientia verwandt. Zur historischen Entwicklung des Erfahrungsbegriffs vgl. Jay 2005 , zur Verwendung in Geschichtswissenschaft und historischem Denken Kap. 6 sowie Münch 2001. Damit dominierte in der Erwartung der Endzeit die Hoffnung über die Furcht. Dies hat Peter Sloterdijk berechtigterweise veranlasst , in der Apokalyptik „eine Form von Optimismus“ zu sehen : „weil sie von der Annahme ausgeht , es würden am Ende die Richtigen eliminiert und die Guten blieben übrig – sie selbst.“ Sloterdijk 2009 , S. 10. Vgl. auch Barnes 1988 , S. 4. S. dazu unten Anm. 36.

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Johannes-Offenbarung es verhieß. So verdrängten sie zwar die biblische Prophetie aus der nachchristlichen Geschichte , doch intensivierten sie noch das Bewusstsein von der heilsgeschichtlichen „Lesbarkeit der Welt“9. Das Buch Daniel verlor allmählich an politischer Handlungsrelevanz , doch das Tun und Lassen der Menschen blieb Beweis für das Walten der Vorsehung Gottes. Divination zielte hier nicht mehr auf die Veränderung des Weltlaufs , sondern primär auf dessen eschatologische Auslegung.10 In diesem Horizont wurde retrospektive Prophetie möglich : Im Nachhinein , nach einer einschlägigen „Erfahrung“, konnten Dinge zu Zeichen werden und Aussagen zu Vatizinien , die bei ihrem Erscheinen nicht als solche erkannt und benannt worden waren. Doch noch einmal : mit welchem Gewinn ? Kurz gesagt : Stellten sich Ereignisse als die Erfüllung vergangener Prophezeiungen heraus , so damit stets auch als Vorgriff auf jenes furchterregende Schicksal , das all jene ereilen würde , die keine Bereitschaft zeigten zur Umkehr. Lotichius’ Elegie und ihre deutsche Übersetzung sprachen vom Kampf um Magdeburg , doch sie kündigten keine innerweltliche Zukunft an : Sie mahnten zur Buße – zum Schutz vor einem Ende mit apokalyptischem Schrecken.11 9

Zur Metapherngeschichte der „Lesbarkeit der Welt“ s. Blumenberg 21983 , hier Kap. 3. 10 Instruktiv zu den epistemologischen Grundlagen des reformatorischen Zeit- , Geschichts- und Prophetieverständnisses ist Sandl 2007. Luther , wie Sandl zeigt , verabsolutierte das hermetische Erkenntnisverfahren der Renaissance , indem er die signifikativen Beziehungen zwischen Himmel und Erde in eine Korrespondenz von Welt und Heiliger Schrift transformierte. Den Referenzpunkt von Zeichen und Ereignissen , das Wesen und Handeln Gottes , holte er in die Geschichte der Menschen hinein , und so brachte er Welt und Bibel exegetisch zur Deckung : „Der biblisch geoffenbarte Wille Gottes determinierte die Zukunft als Horizont seiner Entschlüsselung und Interpretation“ (S. 397). S. auch Barnes 1988 , insbes. S. 7 f. Zu den Einflüssen antiken Denkens auf die lutherische Prophetie vgl. Warburg 1920 , zum geschichtstheologischen „Präteritismus“ im Protestantismus Seifert 1990 , zur Intensivierung von Endzeiterwartung in der ersten Hälfte des Dreißigjährigen Krieges Kaufmann 1998 , S. 46–73, und Krusenstjern 1999. Zur protestantischen Apokalyptik des 16. und frühen 17. Jahrhunderts sind außerdem Leppin 1999 , Kaufmann 2007 und Schmidt-Biggemann 2007 , Teil 2 , zu nennen. Für eine modernisierungstheoretische Interpretation apokalyptischen Denkens vgl. Goertz 2004 , Kap. 1 , und 2007 , S. 97–118 (für das Reformationsjahrhundert) , sowie Williamson 2008 (für die Reformation und die Revolutionen in England und Nordamerika). 11 Vor diesem Hintergrund , wie eine Flugschrift vom Herbst 1631 zeigt (Anon.

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Und das heißt : Prophetie speiste sich im 17. Jahrhundert nicht allein aus Gewalt , sondern vor allem auch aus der Furcht vor ihr ; und sie ist nicht zu verstehen ohne die religiösen Implikationen beider. Ob das Furchterregende , das sie verkündete , eintrat oder nicht , richtete sich , so schien es , nach der Gottesfurcht derer , die die Prophezeiung vernahmen : danach , ob sie die Zeichen als solche verstanden. Dies freilich vermochten sie nur , wenn sie die Gnade schon hatten , auf deren Bedingung sie die Zeichen verpflichteten. In der Adaption von Lotichius’ Elegie zeigen sich die epistemologische Logik des Prophetischen und die Paradoxien , in die sie trieb , in besonderer Weise. Und so handelt das Folgende weniger von Propheten als primär von all jenen Dingen und Ereignissen , die sich als zukunftsweisende Zeichen auffassen ließen , sowie vom Erkenntnisakt derer , die sie interpretierten.12 In diesem Sinne handelt es von Divination , von der Gewalt , der sie sich verdankte und vor der sie warnte , und von der Furcht , die sie erregen und die sie nehmen sollte.

II Eine Besonderheit und eine Bedingung der Vorhersage , wie sie in Lotichius’ Elegie ex post hineingelesen wurde , besteht darin , dass sie sich auf ein ganz konkretes Ereignis bezog – im Gegensatz zu den zahlreichen unspezifischen Prophezeiungen , die im Dreißigjährigen Krieg zu Gehör gebracht oder in schriftlicher Form veröffentlicht worden sind.13 Der Text erzählt eine 1631b) , konnte die Zerstörung der Stadt dann ihrerseits zum prophetischen Zeichen werden : für den baldigen Untergang von Reich und Papstkirche – noch vor dem Ende der Welt. S. dazu Lahne 1931 , S. 157–159. 12 Das Verhältnis von Gewalt und Prophetie diskutiere ich an dieser Stelle somit nicht als ein kausales ; meine Frage soll hier nicht sein , ob die eine die andere zeitigte und in welcher Weise. Gleiches gilt für die übergeordnete Beziehung der Gewalt zur Religion. Für die Debatte , ob und inwiefern Religion einerseits Gewalt motivierte und andererseits deren Erleiden bewältigte , vgl. v. a. die einschlägigen Beiträge in : Greyerz /  Siebenhüner 2006 , Asche /  Schindling 22002 , Brendle /  Schindling 2006 und 2009 sowie Holzem 2009 ; darüber hinaus Kaufmann 1998. Zu lutherischen Laienpropheten im 16. und 17. Jahrhundert vgl. Sabean 1990 , Kap. 2 , Beyer 1994 und Dürr 2005 , insbes. S. 4 f. und 27–32. 13 Dieser Umstand exkludierte Lotichius’ Elegie aus dem kontinuierlichen Traditionsstrom prophetisch-prognostischen Schrifttums , wie er seit dem Mittelalter immer neu aktualisiert werden konnte. Dass sie dennoch bis 1631 nicht gänzlich

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ausführliche Geschichte – anders als die wahrgenommenen Prodigien im unmittelbaren Vorfeld der Eroberung Magdeburgs.14 Er erzählt sie in Form einer Traum- und einer Wachvision. In der ersten sieht der Träumer die Elbestadt , „grawsam vmbringet ||  Mit einem Krieges Heer /  so durstig auff sie dringet“.15 Auf Magdeburgs Mauer steht die pseudoetymologisch abgeleitete Allegorie ihres Namens : die Jungfrau , wie sie ihr leidvolles Schicksal beobachtet. Sie beklagt die Gefährdung ihrer politisch-konfessionellen Standhaftigkeit und schließt sie mit ihrer geschlechtlichen kurz. An Stelle ihrer Vermählung mit Christus , dem Heiland , drohen nunmehr Vergewaltigung und der Raub der weiblichen Ehre durch Mars , den Gott des Krieges : „Was soll ich nun mehr thun“, geht der Jungfrau Lamento , „wer wird mir Rettung senden ? An welchen Ort der Welt soll ich mein Augen wenden ? Von wem soll ich begehrn /  Errettung /  Hülff vnd Rath ? Da nun all Hoffnung aus /  Da alles müd vnd matt ? Kein hochzeitliche Frewd wird mehr von jungen Leuten /   In der berühmten Stadt gehalten /  wie vor zeiten. Das Werck der keuschen Lieb erfodert Fried vnd Ruh /   Wo Mars der Wütterich regiert gehts vbel zu. Jetzt seyn verwüstet gantz die zuvor schöne Awen /   Das Feld verlassen gar /  kan niemand wieder bawen. Der grawsam Feindt wil nicht /  daß nur der Bawersmann Sein Feld reiß vmb /  besee /  ja einig Hand leg an. Zu einem frischen Krantz kan ich nicht mehr bekommen Die Blümlein Purpurfarb sind mir all abgenommen /   Auff aller grünen Heid / Auff allem grünen Feld Wechst mir kein Blume mehr /  ja auch nicht in der Welt. In vmbligender Aw hab ich zweymahl gesehen /   Wie in der Niederlag den meinen ist geschehen. Ich hab gestanden aus zum andern mahl zuvorn /   Viel Schaden vnd Vnfall von Martis Wütt vnd Zorn.

in Vergessenheit geraten war , lässt sich unter anderem daraus erklären , dass sie der Magdeburger Lehrer Johannes Blocius 1621 für den Schulunterricht ediert hatte : Schilling 1999 , S. 153 f. (mit weiterer Literatur). 14 S. unten Anm. 26. 15 Lotichius 1631a , Bl. A 1v.

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Ach weh ! waß für ein End nimmt diese Stadt vnd Mawren /   Ein Grewel hab ich dran /  gedencks mit Ach vnd Trawren / Wenn sie durch feindlich Hand einmahl eröbert wird Vnd vbern Hauffen fällt all jhre Macht vnd Zierd. Wer wird der bleichen Magd vor Jammer / Angst vnd Schrecken Zu öffnen jhre Seyt /  sein Arm vnd Schwerdt außstrecken ? Wer wird der Mörder seyn /  So denn versucht sein Heyl /   Vnd dem jhr Jungfrawschafft wird vor ein Raub zutheil ? Alls /  waß mein Augen hierinnen können schawen /   Wird werden all zu Staub gleich andrer ebner Awen. Des breyten Elben Fluß allbeid Vfer vnd Rand Wird /  leider ! werden ein erbärmlichs ledig Land. Denn /  leider ! kommen wird der Tag voll Leids vnd Trawren /   Do ich nicht mehr /  wie vor /  werd retten meine Mawren. Vnd wird nicht mehr als denn von mir noch vbrig seyn /   Als nur die ledig Stell vnd Schatt des Nahmens mein. Vnd wird der Bawersmann mit seinem Pflug vnd Pferden In dieser Mawren Stadt vmbreissen bloß die Erden. Vnd so du etwan fragst /  was da gewesen bey /   Antwort Er /  das allda ein Stadt gestanden sey.“16

Sich keiner Schuld gegen den Kaiser bewusst , sieht die Magdeburgische Jungfrau ihren „Glauben“ und ihre „Trew“ mit Undank gelohnt. Die Gewalt , die sie erleidet , so ihre Klage , stammt von „des Nechsten Hand“ und scheint ihr grausamer , als die des „Türckisch[en] Hunds“ jemals hätte sein können. Und so findet ihre Ansprache ein resignatives Ende : „Es hat nunmehr einmahl vielleicht lang gnug gestanden || Mein geehrtes Regiment bey euch in ewern Landen !“17 Der Erzähler erwacht aus seiner Traumvision , doch ungeachtet dessen findet seine Schau ihre Fortsetzung. Als er noch darüber nachdenkt , welche Bedeutung die nächtliche Erscheinung gehabt haben mag , „bestürtzet“, „betrübet“ und besorgt , schließt sich eine Wachvision an , in der sich Vögel des Nachts in luftiger Höhe bekämpfen. Da ist ein Adler , der „die Lufft schlägt vnd zerbricht ||  Mit seinen Flügeln /  die zum Raub seyn abgericht.“ Er ergreift 16 Lotichius 1631a , Bl. A 2v – A 3r. Zur Allegorisierung Magdeburgs als vergewaltigte Jungfrau vgl. v. a. Rublack 1995 , in Bezug auf Lotichius : Tschopp 2005 , S. 90 f. , 101 f. 17 Lotichius 1631a , Bl. A 3r /  v.

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einen Schwan , der „weisser [ist] denn Schnee“ und der „seinen krummen Klawn“ nicht entkommt. Die anderen Vögel ringsum , ohne Vertrauen auf ihre eigenen Kräfte und voller Furcht vor dem König der Lüfte , betrachten schweigend die Szene und beschränken sich ihrerseits auf „Jammer“ und Klage. Doch unversehens greift ein „wachend Ha[h]n“ ins Kampfgeschehen ein , der sich anschickt , „in der Lufft zu finden ||  Den starcken Adeler /  jhn da zu vberwinden“. Der Hahn , so will es die Natur , ruft die Morgenröte aus , und so erhebt sich die Sonne über dem Streit der fliegenden Schar. Sie bringt jedoch nicht allein die Wärme und das Licht des Tages , sondern entfacht am Himmel ein „Fewr welchs vns ein Zeichen gibt /|| Daß selben Tages werd die Lufft fast seyn betrübt.“ Der Seher erschrickt , denn er ahnt Unheilvolles. Die anderen Vögel allerdings tun es nicht ; denn „als sie wieder sehn /  daß die Sonn leuchtet sehr /   Werden sie hoch erfrewt /  in dem jhn[e]n wieder scheinet Der güldne Friedens Stral /  darnach sie sich gesehnet. Auch der schneeweisse Schwan kömpt wiederumb daher Nicht anders als wenn er von Gott beruffen we[h]r /   Singt lieblich sein Gesang / Als er sich wieder fande An dem bekandten Ort /  vnd einem sichern Rande.“

Was nach einem friedvollen Ende klingt , kann den erschrockenen Erzähler jedoch nicht beruhigen ; und so schließt er , nach dem Ende der Vision , mit einem Gebet : „Alsbald mit heller Stimm ich schrey /  bath Gott behend /   Daß /  was ich da gesehn /  nehm alls ein gutes End. Vnd waß vnglückliches vns drewet solch Gesichte Woll Er mit seiner Macht gnädigst machen zu nichte“.18

Was hat all das zu bedeuten ? Anders als in den nächtlichen Traumbildern wird die Botschaft der Wachvision in verschlüsselter Form übermittelt. Die historischen ebenso wie die historiographischen Interpretationen der hier eingesetzten Symbole orientieren sich an den geschichtlichen Kontexten , in denen die lateinische Elegie und ihre deutsche Übersetzung standen. In Bezug auf die Traumbilder zu Beginn ist keine aufwendige Decodierungsarbeit erforderlich. In ihnen beklagt die Magdeburgische Jungfrau die Last der 18 Sämtliche vorangehende Zitate sind entnommen aus Lotichius 1631a , Bl. A 3v – A 4v.

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Okkupation und befürchtet , dass rettende Hilfe nicht rechtzeitig eintreffen wird. 1551 ist damit die Belagerung durch die Truppen Moritz’ von Sachsen angesprochen , der im Auftrag Kaiser Karls V. die Reichsacht zu vollstrecken hatte , weil sich Magdeburg weigerte , die Religionsordnung des Augsburger Interims zu akzeptieren ; 1631 sind es die Soldaten Tillys und Pappenheims , weil sich die Mehrheit der städtischen Entscheidungsträger nicht dazu entschließen konnte , auf Magdeburgs politische Eigenständigkeit innerhalb des Reiches zu verzichten. Wie 1551 , so auch 1631 : Magdeburg suchte standzuhalten , als „Unser Herrgotts Kanzlei“, als die sich die Stadt seit der Mitte des Reformationsjahrhunderts selbstbewusst verstand , als Bastion des protestantischen Glaubens im Norden.19 Im imaginären Vogelkampf findet diese Konstellation ihren Niederschlag in allegorischer Form. Der kaiserliche Adler , daran bestand kein exegetischer Zweifel , ergreift Luther , den weißen Schwan , und die übrigen Vögel , das sind die protestantischen Stände , schauen hilf- und tatenlos zu. Mit dem Hahn erscheint dann ein Retter am Horizont , der selbst den Adler zu bezwingen verspricht. Er bringt Frieden , so scheint es zunächst , doch dieser Friede ist am Ende nicht sicher. Die hoffnungsvolle Aussicht wird von der Befürchtung überlagert , dass das Böse den Sieg davontragen und die Stadt in Flammen aufgehen werde. Umgekehrt bedeutet dies jedoch auch , dass der Friede durchaus als eine Möglichkeit vorgestellt wird : Die Zerstörung der Stadt , mit anderen Worten , wird befürchtet , sie ist aber – nicht anders als der Friede – keineswegs gewiss. Die Zukunft ist offen und wird der göttlichen Gnade anheimgestellt. Erst 1631 dann wird die bei Lotichius formulierte zukunftsoffene Befürchtung zu einer konkreten prophetischen Ankündigung. Aus der Elegie wird damit einerseits etwas gemacht , was sie nicht ist ; dieser Akt knüpft jedoch andererseits an eine im Text präsentierte Möglichkeit an. Bei Adler , Schwan und den übrigen Vögeln war da keine symbolische Umbesetzung erforderlich. Nach wie vor stand der Kaiser in Auseinandersetzung mit dem lutherischen Protestantismus und profitierte von der Schwäche der Stände. Der Friedensgesang des Schwans konnte zum Todesgesang werden20 und die Befürchtung des Sehers behielt Recht gegenüber der freudigen Erwartung der Vögel : Die Sonne des Tages verströmte keine Wärme , sondern setzte in Brand , was ihre Strahlen berührten. 19 Grundlegend zu diesem Selbstverständnis der Stadt : Kaufmann 2009 ; zur publizistischen Auseinandersetzung über das Augsburger Interim : Moritz 2009. 20 Schilling 1999 , S. 152 f. – nicht ohne eine gewisse interpretatorische Gewaltanwendung.

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Allein der Hahn war nunmehr umzudeuten. 1631 konnte das nur einer sein : König Gustav Adolf von Schweden.21 Der Retter des Protestantismus war , mit der Aura des Heilands , bereits im Sommer 1630 an der Ostseeküste gelandet , traf im Magdeburgischen dann aber doch nicht mehr rechtzeitig ein , um den Untergang des lutherischen Bollwerks zu verhindern. Ungeachtet dessen wurde er nach der Zerstörung der Stadt für den weiteren Verlauf des Dreißigjährigen Krieges zum Heilsbringer aufgebaut , als – prophezeiter – „Löwe aus Mitternacht“.22 Doch wen repräsentierte der Hahn achtzig Jahre zuvor ? Glaubt man der Forschung , ist es der coq gaulois : Heinrich II. , der König von Frankreich. Da Moritz von Sachsen seine Unternehmung zu keinem erfolgreichen Abschluss zu führen vermochte und zudem gegenüber dem Kaiser eigene ständische Interessen verfolgte , handelte er parallel zur Belagerung der Stadt mit dem französischen König und weiteren protestantischen Reichsfürsten eine geheime Koalition gegen Karl V. aus , die es ihm im November 1551 ermöglichte , die Reichsacht gegen Magdeburg zu vollstrecken , ohne deren Rechte und Privilegien einzuschränken. In diesem Sinne ließe sich Heinrich II. als Retter der Elbestadt verstehen.23 Diese historische Rückführung arbeitet jedoch mit dem unterschwelligen Verdacht auf Manipulation : mit der Annahme , Lotichius habe in den Text , der bereits während der Belagerung entstanden war , sein späteres Wissen um den guten Ausgang der Dinge nachträglich eingeschrieben. Sie lässt dabei außer Acht , dass der Hahn auch als eine Allegorie Christi aufgefasst werden konnte , des Wächters über alle Gläubigen , und als Symbol göttlicher Gewalt.24 Im Gegensatz zur historisch-politischen erlaubt diese Lesart die Übertragung auf Gustav Adolf und , was noch wichtiger ist , sie harmoniert mit dem elegischen Charakter des Textes und mit seiner zukunftsoffenen Unbestimmtheit.25 21 Explizit etwa , achtundsiebzig Jahre später , Paullini 1709 , S. 143. 22 Tschopp 1991 , S. 229–247 ; Zschoch 1994 ; Kaufmann 1998 , S. 56–65 ; Schilling 1999 , S. 153 f. ; Schmidt-Biggemann 2007 , S. 183 f. 23 Schilling 1999 , S. 152 f. ; Kühlmann 1999 , S. 98 , 101. 24 Lurker 51991 ; Güntert 32000 , Sp. 1334–1336 ; Henkel /  Schöne 1967 , Sp. 382. 25 Warum hätte Lotichius seine Kenntnis von der französischen Unterstützung nachträglich eintragen sollen , ohne dabei die Grundaussage des Textes zu verändern , die ja von dieser Hilfe noch nichts weiß ? Wer die Verse in dieser Weise liest , macht sie seinerseits (ein Stückweit) zu einer Prophezeiung – diesmal zu einer heilsverheißenden – und nimmt dabei in Kauf , dass sich die im Text vermeintlich verkündete Rettung mit dessen elegischer Unbestimmtheit beißt. Im Gegensatz zur Adaption von 1631 setzt diese Interpretation einen modernen Zeit-

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Das heißt : Der Text sagt weder den guten Ausgang 1551 voraus noch den schlechten achtzig Jahre später. Erst 1631 wurde zur Prophezeiung , was Lotichius als Befürchtung formuliert und an die Bitte und die Hoffnung gekoppelt hatte , dass das Drohende noch abgewendet werden kann. Wenn die Ungewissheit , die das humanistische Lamento birgt , nach der Zerstörung Magdeburgs in Gewissheit überführt wurde , so wurde nicht manipuliert , sondern prophetisch-divinatorisch gedacht. Der Text spricht von Furcht und von Hoffnung , und im Nachhinein entschied sich , ob die eine oder die andere begründet gewesen war.

III Die Lotichius-Elegie war nicht das einzige Zukunftszeichen , das sich fand , als die Grausamkeiten , die es angekündigt hatte , zur „Erfahrung“ geworden waren. Nach dem Brand der Stadt erinnerte man sich zahlreicher Prodigien im unmittelbaren Vorfeld : an Sturmwinde und herabfallende Kirchturmspitzen , an wundersame Schwangerschaften und geharnischte Reiter an blutrotem Himmel. Auch der verhängnisvolle Zwist zwischen den Ratsparteien wurde zu einem Vorzeichen , das nicht „säkular“-politischen , sondern heilsgeschichtlich-eschatologischen Gesetzen gehorchte.26 und Geschichtsbegriff voraus und kann die nunmehr unterstellte retrospektive Zuschreibung einer Bedeutung und textuellen Funktion nur noch als einen illegitimen Eingriff des Lotichius beklagen. Die im Kern zirkuläre Argumentation ist dem Umstand geschuldet , dass eine exakte Bestimmung der Abfassungszeit des Textes nicht möglich ist : Die Vermutung , dass der Text im Rückblick noch einmal bearbeitet worden ist , geht davon aus , dass der Hahn am Himmel den französischen König symbolisiert – und umgekehrt. – Bereits im 18. Jahrhundert wurde der Hahn wiederholt auf Frankreich bezogen , jedoch stets im Rahmen einer Infragestellung des prophetischen Gehalts der Elegie : Heumann 1726 /  27 , S. 473 ; Le Petit 1791 , S. 273–275. Le Petit versucht die symbolische Zuschreibung (implizit) auch für das Jahr 1631 , verschweigt die Anpassungsprobleme jedoch nicht. Näheres zu Le Petit und Heumann unten in Abschnitt IV. 26 S. die Chronik des Eislebener Bäckermeisters Steffan Neuwirdt , zit. nach Medick 2 2001 , S. 392 f. Die Flugschrift Anon. 1631a , Bl. C 1r – C 1v , berichtet von einem wundersamen Fötus , der Pappenheims Eindringen in die Stadt anzukündigen schien : von einer Schwangerschaft , die die Mutter nicht überlebte , weil das Ungeborene – wie sich nach Öffnung ihres Leibes herausstellte – einem Dreijährigen glich und dem vollständig ausgerüsteten „Blutgierigen Pappenheim“. S.

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Über derartige Prodigien hinaus steht die Lotichius-Elegie in einem weiteren Kontext divinatorischen Denkens. Der Verfasser liest – mit dem Kampf der Vögel – zwar ebenfalls Zeichen am Himmel , diese werden jedoch als Teil einer exklusiven Wirklichkeit vorgestellt : Er allein kann sie sehen. Die Klage der Magdeburgischen Jungfrau , zudem , erscheint ihm nicht in einer Wach- , sondern in einer Traumvision. Die geschauten Zeichen sind keine Ereignisse der Natur oder der menschlichen Welt , sondern Imaginationen des Sehers. Dies reiht die Lotichius-Elegie ein in die Geschichte divinatorischen , die Zukunft verkündenden Träumens. Die Struktur der retrospektiven Interpretation prospektiver Zeichen und prophetischer Aussagen wird in der Traumexegese besonders deutlich , und daher sind ihre Prinzipien etwas näher zu erläutern. Träume als Medium prophetischer Aussagen über innerweltliche Entwicklungen hatten in der Frühen Neuzeit Tradition , sie standen jedoch immer auch in der Kritik , insbesondere unter Lutheranern , nach den Auftritten Thomas Müntzers und den Auseinandersetzungen mit den Täufern. Dies gilt nicht allein für Traumbotschaften von politischer und sozialer Relevanz , sondern auch für jene , die den Träumenden Auskunft gaben über ihr je eigenes , persönliches Leben. Auch für sie ist festzuhalten : Die Behauptung ihrer Möglichkeit wurde stets von ihrer Infragestellung flankiert , nur zielte diese nicht auf den „öffentlichen“ Schaden , der aus der Verbreitung von Traumbotschaften entstehen konnte , sondern auf die Nutzlosigkeit des Nachdenkens über sie oder – theologisch gesprochen – auf die Sündhaftigkeit des anmaßenden Versuchs , den Willen und die Vorsehung Gottes zu entschlüsseln. Und so wussten auch jene , denen die „Erfahrung“ den Beweis erbrachte für die Interpretierbarkeit von Träumen , dass die letzte Gewissheit über deren Bedeutung erst das Ereignis bringen konnte , das sie verkündet hatten : allein  die „Erfahrung“.27 Ein enger historischer Kurzschluss zwischen ferner Merian 1646 , S. 371 f. Zu weiteren Prodigien des Dreißigjährigen Krieges , insbes. zum Kometen von 1618 , vgl. Krusenstjern 1999 ; für den zeitgenössischen Rekurs auf die „Erfahrung“ als Beweis für die Bedeutungen der Zeichen s. die ebd. zitierten Quellenauszüge : S. 68 f. , 74 f. , 78 , auch 60 f. Für Erfurt vgl. Berg 2010 , Kap. 4 , und zu Prodigien und Wundern im England des 17. Jahrhunderts Burns 2002 , Walsham 1999 und Friedman 1993. 27 Für die lutherische Tradition , die die Möglichkeit prophetisch-divinatorischen Träumens im Wesentlichen auf die Heilige Schrift zu beschränken suchte , sei hier lediglich auf die für das 17. Jahrhundert maßgebliche Schrift des Theologen Conrad Dieterich verwiesen : Dieterich 1625 , insbes. S. 44 , 52 , 105 ff. Vgl. außerdem Zedler 1745a , Sp. 183–208 , und Zedler 1745b , Sp. 210. Zu den innerrefor-

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Traumerzählung und autobiographischem Schreiben war die Folge. Dafür nur zwei Beispiele. 1. Der calvinistische Kannengießer Augustin Güntzer notiert am Anfang seiner um 1657 verfassten Autobiographie einen emblematischen Traum , den er als Kind im Alter von etwa zehn Jahren gehabt habe. In ihm sieht er sich vom Teufel zum Kampf herausgefordert , trägt jedoch mit der Hilfe Gottes und seiner Engel den Sieg davon. Im Weiteren dann berichtet seine Lebensbeschreibung , dass und inwiefern dieser Traum in Erfüllung gegangen ist : dass Güntzers Leben sich als geistliche Ritterschaft entwickelt hat , als ein beständiger Kampf mit den Mächten des Bösen , die ihm zusetzten in einer konfessionell feindlichen Welt wie auch in seinem eigenen Fleisch , ein Kampf , in dem der von Gott Erwählte jedoch nicht unterlag : der durch göttliche Gnade ein glückliches Ende fand. Die Autobiographie entschlüsselt rückblickend eine nächtliche Erscheinung , die angekündigt hatte , welche Leiden das Leben des Verfassers bereithielt. Sie setzt an ihren Anfang einen Traum , den sie erklärt , weil er sie erklärt : der sie allererst erzählbar macht ebenso wie sie ihn. Wenige Texte führen wie dieser die narratologische Einheit von Traum- und eigener Lebenserzählung vor Augen.28 2. Balthasar Kleinschroth , Weltpriester und Präfekt der Sängerknabenschule des Zisterzienserklosters Heiligenkreuz im Wienerwald , beschreibt in seinem – nachträglich verfassten – Tagebuch , wie er gemeinsam mit den ihm anvertrauten Chorjungen vor den „Türken“ floh , als diese Wien 1683 belagerten. Anton Liedtmayr , einer der Sängerknaben , erkrankte lebensgefährlich an den Folgen der Flucht und verstarb , wie Kleinschroth berichtet , aufgrund falscher medizinischer Behandlung. Kleinschroth nun machte sich den Vorwurf , die tödliche Therapie bis zuletzt unterstützt zu haben , in irrtümlichem Vertrauen auf die Kompetenz des Arztes ; damit gab er sich eine Mitschuld nicht allein am Tod des Jungen , sondern vor allem auch an dem Umstand , dass dieser plötzlich und damit ohne geistlichen Beistand gestorben war , und das heißt : dass die Seele des Sängerknaben dasselbe tödliche Schicksal zu ereilen drohte wie den jungen Körper. In dieser Situation , dem Vernehmen nach , erinnerte sich Kleinschroth eines Traums , den er vor Ausbruch von Antons Krankheit matorischen Auseinandersetzungen über den Traum s. Weiß 2008 , außerdem Goertz 2007 , S. 164–187 ; zu politischen , publizistisch verbreiteten Traumprophetien im Dreißigjährigen Krieg vgl. Schmidt 2008 und zur frühneuzeitlichen Geschichte des Traums im Allgemeinen Gantet 2010 (zu Lotichius S. 315 f.). 28 Ausführlich dazu : Bähr 2007. Vgl. Leutert 2001 , S. 255–261.

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geträumt hatte. In ihm wird er zum Tode verurteilt und bereits aufs Schafott geführt , doch das Urteil wird noch nicht vollstreckt. Nach Antons Tod erkennt Kleinschroth , wofür das Urteil gesprochen worden war ; er erkennt die Gefahr , tut mit Fürbitten , was er noch tun kann für das Seelenheil des Jungen , um am Ende – vermittelt über weitere göttlich inspirierte Träume – die Gewissheit zu erlangen , dass die Seelen gerettet sind : die Seele Anton Liedtmayrs und damit auch seine eigene.29 Beide Erzählungen eint , dass der Traum nur deswegen notiert wird (und werden kann) , weil er sich bewahrheitet und im autobiographischen Rückblick als ein divinatorischer erwiesen hat : als eine Form der Prophezeiung. In beiden Fällen erwacht der Erzähler aus einer furchterregenden nächtlichen Erscheinung , stellt erleichtert fest , dass es „nur ein Traum“ gewesen ist , und bittet Gott um die Gnade , dass nicht in Erfüllung gehen möge , was er Schreckliches vor Augen stellt : dass dieser Traum , der jetzt keine Wirklichkeit ist , auch künftig keine werden möge. Diese Bitte impliziert bereits das Wissen um die Möglichkeit einer göttlichen Botschaft , es ist jedoch lediglich die Ahnung einer Ankündigung , und so wird sie erst im Rückblick zur Gewissheit. Der autobiographische Text berichtet davon , dass sich der Traum als ein Zukunftszeichen erwiesen hat – im Falle Güntzers und Kleinschroths jedoch nicht allein für das , was zu befürchten stand , sondern vor allem für die Hoffnung , die das , was Furcht erregte , stets noch beließ. Und das heißt : Im autobiographischen Text kann der divinatorische Traum erzählt werden , weil die (Lebens-) Geschichte , die er verheißt , ein gutes Ende genommen hat. Allein das ist es , was Güntzers und Kleinschroths Erzählungen von den Wach- und Traumvisionen der Lotichius-Elegie in Bezug auf die hier diskutierte Problematik unterscheidet. Auch bei Lotichius folgt dem furchterfüllten Erwachen die Bitte , Gott möge das Drohende abwenden , um in Erfüllung gehen zu lassen , was das Geschaute an Hoffnungsvollem birgt. Dass diese Bilder 1631 zur Prophetie wurden , verdankte sich dann jedoch nicht dem guten , sondern dem bösen Ausgang der Dinge. Im Rückblick erzählen diese Visionen nicht vom Überleben , sondern allein vom Sterben in der Gewalt.30 29 Kleinschroth 1686 , Bl. 304v–314r. Die Traumerzählungen sind in Hermann Watzls Edition des Tagebuchs , die etwa zwei Drittel des Textes umfasst (Kleinschroth 21983) , nicht enthalten. Sie liegen als von Watzl angefertigte Transkription im Klosterarchiv Heiligenkreuz vor. Mein Dank gilt Stiftsarchivar P. Dr. Alberich Strommer , der mir das Typoskript zur Verfügung gestellt hat. 30 Narratologisch ermöglicht durch die Personifikation der Stadt.

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Gemeinsame Voraussetzung der drei Erzählungen ist , dass die retrospektive Traumprophetie im Kern keine Ankündigung von etwas Unausweichlichem formuliert , sondern eine Warnung : Sie stellt vor , was passieren wird , wenn die mahnende Stimme , die sie erhebt , ungehört verhallt. Die Geschichte hat ein gutes Ende genommen , unterstellen die Autobiographen , weil sie die Zeichen verstanden und berücksichtigt haben. Die Lotichius-Elegie wird 1631 neu verlegt , um zu beklagen , dass die Magdeburger dies nicht getan haben. Die Grundaussage ist in beiden Fällen dieselbe. Was hier jeweils verkündet wird , ist eine Gefahr , in der noch eine Entscheidung getroffen werden kann und muss. Entscheidungsrelevant war eine derartige Ankündigung jedoch nur dann , wenn sie mit hinreichender Gewissheit darüber aufklärte , worin die Gefahr genau bestand und wie auf sie zu reagieren war. Wie war dies jedoch möglich , wenn diese Gewissheit erst ex post erlangt werden konnte ? In autobiographischen Erzählungen geben divinatorische Träume in aller Regel kein handlungsrelevantes Wissen an die Hand , das die Autobiographen nicht auch aus der angekündigten Gefahrensituation selbst erhielten ; für die bevorstehende Entscheidung lieferten sie somit keinen epistemologischen Mehrwert. Sie bestätigten lediglich im Rückblick die Art der von ihnen prophezeiten Gefährdung sowie die erforderlichen Konsequenzen. Im Moment der eingetretenen Gefahr erkennt der Schreiber die Bedeutung des Traums , weil er die Lage , in der er sich befindet , bereits erkannt hat. In diesem Sinne bildeten divinatorische Träume lediglich eine Entwicklung ab , wie sie kommen sollte , und trugen nicht selbst zu ihr bei. Angesichts dessen lag ihre Funktion in erster Linie im retrospektiven Beleg für das Walten einer göttlichen Providenz.31 Unter dieser Voraussetzung konnte die Warnung vor der Gefahr 31 Vgl. hier nur Andreae 1799 , S. 21 f. , und Plebanus 1908 , S. 269 , 271 (für die Zeit des Dreißigjährigen Krieges) , sowie Francke 1861 , S. 77–79. Eine gewisse Ausnahme stellt die 1575 /  76 verfasste eigene Lebensbeschreibung des italienischen Gelehrten und Arztes Girolamo Cardano dar. Während der Behandlung eines lebensgefährlich erkrankten Kindes erinnerte sich Cardano , wie er berichtet , intuitiv eines furchterregenden Traums der vergangenen Nacht. Erst diese Erscheinung machte ihm die brisante Lage bewusst , in der er selbst sich gerade befand (die Gefährdung seiner ärztlichen Ehre) , und gab ihm die Möglichkeit , die Bedrohung zu bannen (Cardano 1969 , S. 117–119 ; vgl. auch S. 160–162 , 202 f. ; für Einzelheiten s. Bähr 2007 , S. 7–11). Jedoch : Auch wenn hier nicht primär die Gefahr die Bedeutung des Traums verrät , sondern der erinnerte Traum die gegebene Gefahr , und unabhängig davon , ob sich diese Akzentverschiebung den Einflüssen des Katholizismus oder des Renaissance-Humanismus verdan-

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allein in der Aufforderung zu Buße und Umkehr bestehen , zum Vertrauen auf den Schöpfer. Wer das eigene Leben als Beleg für eine gütige Vorsehung beschrieb , stellte damit die eigene Gottesfurcht unter Beweis. Nur in diesem Sinne kündete die autobiographische Traumerzählung von der Beherzigung einer geträumten Warnung. Und das heißt : Dass vollständige Deutungsgewissheit allein rückblickend zu erlangen war , hob die Zeichenexegese nur deswegen nicht aus den Angeln , weil hier nicht allein Leib und Leben auf dem Spiel stand , sondern vor allem das Heil der Seele.

IV Die prophetische Elegie von 1631 nun beklagt , dass die Warnung ungehört geblieben sei. Seht , was denen widerfährt , so ihre Botschaft , die die Vorzeichen missachten. Gleichzeitig besagt ihre Neuveröffentlichung , dass erst im Nachhinein unzweifelhaft war , auf welches konkrete Ereignis die Bilder hingewiesen hatten ; somit hätte die Mahnung kaum befolgt werden können. Es gibt , so scheint es , nur eine Möglichkeit , diese Spannung zu lösen. Derart schreckliche Bilder kündeten von göttlicher Strafgewalt , auch wenn undeutlich blieb , worin genau sie bestand und was genau sie sanktionierte ; und so werden als einzig mögliche Reaktion auch hier Buße und Umkehr vorgestellt – für die Vergangenheit ebenso wie für die Gegenwart. Die „historische“ Betrachtung , die Transformation der Elegie in die Prophetie , machte aus der poetischen Klage über ungerechtes Leiden den Hinweis auf seine Gerechtigkeit. Die Stadt ist zerstört , so der paränetische Aufruf , denn ihr habt euch abgewandt von Gott ; bekehrt euch , damit sich Gleiches nicht wiederholt und ihr am Ende der Zeit , von dem die Zerstörung spricht , auf der richtigen Seite stehen werdet.32 Buße , mithin , ist die Handlungsmöglichkeit , die die retrospektive Prophetie eröffnet – eine Buße , die aus der Gnade kam , die mit ihr erwirkt werden sollte. ken mag : Auch dieser Traum schien dem Autor von Gott gesandt , von seinem gütigen „Schutzgeist“, und wurde erzählt (neben zahlreichen anderen) , um den Beweis für die Vorsehung zu erbringen. – Zu Providenz-Konzepten in England vgl. auch Walsham 2001 sowie Greyerz 1990 , darin zu Träumen : S. 131–136. 32 Dies  freilich  konnte die Gewalt der katholischen Eroberer , die sich in der Flugschriftenpublizistik selbst als Exekutionsorgan göttlicher Gerechtigkeit verstanden , nicht legitimieren : Gott , so sahen es die Protestanten , sanktionierte ihre Sünde mit Sünde.

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Damit erhielten Furcht und Schrecken in ihr einen zentralen Stellenwert. Wurden sie innerhalb des Traumbildes sowie im Augenblick des Erwachens erregt , konnten sie als exegetische Begleitaffekte aufgefasst werden , die den Schluss erlaubten auf die Göttlichkeit der nächtlichen Zeichen. Die Furcht nach dem Erwachen dagegen war der Ungewissheit des Kommenden geschuldet : dem Umstand , dass das , was sie imaginierte , gegenwärtig noch nicht eingetreten war und zudem nicht mit unausweichlicher Notwendigkeit bevorstand. Abwenden ließ sich das Drohende dann allein durch die rechte Furcht vor dem Herrn : nicht durch eigenmächtiges Vorgehen , sondern durch die Bitte um göttlichen Beistand , und das heißt auch : durch die Erkenntnis der Gefahr und ihrer heilsgeschichtlichen Bedeutung. Die Theologen wussten (und nicht nur sie) : Das Befürchtete erlitt , wer nicht die Sünde fürchtete , die von Gott entfernte , sondern den eigenen Schaden : wer die Sanktion fürchtete , die Gott für die Sünde verhängte. Das Befürchtete erlitt , wer in den Vorzeichen nicht die eigene Strafwürdigkeit erkannte , sondern ein Mittel , um der Strafe zu entgehen. Vor diesem Hintergrund stellen die Autobiographen im Bericht von ihrer furchterfüllten Lektüre der Zeichen die eigene Gottesfurcht unter Beweis ; sie wurden am Ende nicht gestraft , so suggerieren sie , weil sie um ihre Strafwürdigkeit wussten.33 Die Lotichius-Elegie dagegen beklagt das Fehlen rechter Furcht und stellt die Zerstörung der Stadt als dessen Konsequenz vor. So wurde sie rückwirkend zur gottesfürchtigen Prophezeiung des Untergangs all derer , die keine Furcht kannten vor Gott und nicht wissen wollten von der drohenden Gefahr. Erst nach einer „Erfahrung“ der Gewalt , in der autobiographischen Erinnerung ebenso wie in der „historischen“, in der innertextuellen Retrospektive ebenso wie in einer inter-textuellen , sei es nach einem guten Ausgang der Dinge oder nach einem schlechten , konnten vergangene Bilder zu divinatorischen Zeichen werden : zu Anlässen von Furcht und zur Möglichkeitsbedingung ihrer Überwindung.34 Prophetie und Divination entfalteten erst in der Retro33 Für Einzelheiten zu diesen Zusammenhängen s. Bähr 2007 , 2008a und b sowie 2012. Vgl. auch den Überlebensbericht des Kanzleisekretärs Johann Daniel Friese , der als Kind dem Brand Magdeburgs entkommen war : Friese 1703. 34 Der Begriff „historisch“ setzt damit an dieser Stelle die Vorstellung von einer providentiellen Geschlossenheit der Geschichte voraus. Diese historische Erinnerung ist an jenes Konzept der memoria gekoppelt , das nicht allein die Rückschau in die Vergangenheit meint , sondern auch die Mahnung , aus ihr zu lernen , um ihre Wiederholung zu verhindern – im Wissen um die heilsgeschichtliche und eschatologische Unabänderlichkeit des Künftigen. – Der Begriff der „historischen

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spektive ihre ganze prospektive Kraft. Wie die Rezeption der Lotichius-Elegie zeigt , betraf dies nicht allein ihre Interpretation , sondern auch ihre Genese. Und das heißt : Wer die Zeichen zu deuten unternahm , suchte eine Orientierungsgewissheit , die nur erreichte , wer sie schon hatte. Umgekehrt formuliert : Wer die Zeichen las , schuf – oder bestätigte – Ungewissheit im Versuch , sie zu beseitigen. Wissen über die Zukunft und ihr Ende , so die Botschaft der Berichte , erlangte allein , wer auf eine Vorsehung vertraute , in der das Künftige mit dem Vergangenen immer schon zusammengeschlossen war , wer an einen Gott glaubte , der Gewissheit allein denen versprach , die wussten , dass sie aufgefordert waren , nach Gewissheit zu suchen , ohne sie je finden zu können , an einen deus absconditus , der sichtbar war und unsichtbar zugleich und der in den Zeichen , die er gab , nur seine Verborgenheit offenbarte. Die Lektüre der Zukunftszeichen erscheint als der Versuch , den Lauf der Dinge zu beeinflussen durch das Wissen um ihre Unbeeinflussbarkeit. Dies ist der Gedanke von göttlicher Gnade und Providenz , wie er im Protestantismus in besonderer Weise paradoxiert worden ist. Aus ihm resultierte die Praxis einer retrospektiven Prophetie in der „Erfahrung“ von und im Prospekt auf eine göttlich verstandene Gewalt , die die Sünder strafte und die Frommen prüfte : die die Furcht zu überwinden verhieß , die sie erregte , und die in die Furcht versetzte , die sie auszutreiben vorgab. Am seherischen Gehalt der Lotichius-Elegie kam noch bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts kaum ein Zweifel auf.35 Erst unter dem Einfluss aufklärerischen Denkens , erst als sich der Raum der göttlichen Vorsehung zu öffnen begann , wurde aus der (vermeintlichen) Prophezeiung ein „nett geschriebene[s]“ „Gedichte“, das keiner divinatorischen Furcht mehr entsprang , sondern einer ganz „natürlichen“. Kritiker wie Johann Georg Wilhelm Le Petit pathologisierten die Traumvision des Autors (wenn sie sie nicht ebenfalls für eine poeErfahrung“, wie er hier zum Tragen kommt , ist assoziiert mit einer spezifisch frühneuzeitlichen Empirie , die zur Authentifizierung von Wissen auf exemplarische „Historien“ rekurriert. Vgl. dazu Seifert 1976 und Pomata /  Siraisi 2005. 35 Neben Merian 1646 , S. 371 , s. v. a. Borgo 1641 , S. 157 , Muhlius /  Kortholt 1696 , S. 89–91 , § 65 f. , Kortholt /  Krüsike 1703 und Paullini 1709 , S. 140–147 , die letzten drei mit Verweis auf Morhof 1688 , 1. Buch , Kap. 19 , S. 226 : „Illud singulare in hoc viro & propemodum divinum est , ac plus quam Poeticum ἐνθouσιασµόν arguit , quod in Elegia 4. libr. 2. ad Joachimum Camerarium scriptâ tristissima obsidionis & expugnationis Magdeburgensis fata integro seculo prædixerit. Res omnino notatu digna , ac elegia illa pulcherrima est. Hæc ille aurea carmina , quod mireris , inter armorum strepitus ipse miles scribebat.“ S. ferner Mosheim 1718 , S. 216 f.

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tische Erfindung hielten) als „Resultat einer durch gleichzeitige Ereignisse zu traurigen Ahndungen aufgeschreckten hypochondrischen Laune“ und stuften ihre Erfüllung auf einen bloßen „Zufall“ herab. Einlassungen wie diese zeigen jedoch auch : Noch Ende des 18. Jahrhunderts – die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges waren lange vergangen , aber keineswegs vergessen – beschäftigte die „Elegia de obsidione Magdeburgensi“ die Gelehrten : als „eine der berühmtesten Prophezeyungen der neuern Zeiten“.36 Das kann nicht verwundern , schien sie doch von jener „Würgeszene“ zu künden , „für welche“, wie Friedrich Schiller notierte , „die Geschichte keine Sprache und die Dichtkunst keinen Pinsel hat“. Die Unaussprechlichkeit der Gewalt konnte den protestantischen Geschichtsphilosophen nicht hindern , von „Magdeburgs Untergang“ zu erzählen – weil sich in seinen Händen die Bewahrheitung einer unheilvollen Prophezeiung , das historische exemplum , zu einer teleologisch grundierten Heilsverheißung gewandelt hatte , der Vorgriff auf das Ende der Welt zum An36 Le Petit 1792 , zit. S. 274 f. , der in diesem Zusammenhang eine eigene ProsaÜbersetzung der Elegie vorlegt. Die Positionen der früheren Kritiker , zu deren einflussreichsten Pierre Bayle (1697 /  51740) gehörte , resümiert Zedler 1745a , Sp. 194 f. : „Unter den lateinischen Gedichten des Petrus Lotichius findet sich eine nett geschriebene Elegie , welche von der Zerstöhrung der Stadt Magdeburg handelt. Die Sache stellet er darinnen also vor , als wäre sie ihm im Traume geoffenbaret worden. Dieses hat Gelegenheit gegeben , es für einen Göttlichen und Prophetischen Traum zu halten. Denn Lotichius ist 1560 gestorben , Magdeburg aber erst 1631 zerstöhret worden. Allein die Gelehrten und unter diesen Peter Bayle in seinem Dictionair III Th. p. 164 u. f. bemercken , daß des Lotichius Elegie nur ein poetisches Gedichte sey , und ihm niemahls etwas davon im Traume vorgekommen , mit welcher Meynung aber Paullini in seinen Philosophischen Lust=Stunden I Th. p. 140 u. ff. nicht zufrieden ist. Die Gelegenheit darzu gab ihm [Lotichius] die Belagerung Magdeburgs , die zu seiner Zeit unter Kayser Carl den Fünften vorgenommen ward. Weil sich Lotichius einbildete , die Stadt würde damahls zerstöhret werden , so hielt er ihr zum Voraus die Parentation. Unterdessen betrog er sich sehr , sintemahl Magdeburg damahls nicht einmahl konnte eingenommen , noch weniger zerstöhret werden. An die Zerstöhrung , welche 1631 geschahe , hat er wohl nicht einmahl gedacht , darum kan er sie auch nicht vorher verkündiget haben. Es geschahe von ohngefähr , daß seine Prophezeyung , die er unter seinen poetischen Arbeiten , weil er sie einmahl verfertiget , auffbehalten , und zu zerreissen nicht vor nöthig befunden hatte , wiewohl [sie] gantz anders , als er meynete , eintraf.“ S. ferner Zedler 1738 , Sp. 559. Auch Bierling 1711 , S. 43 , und Heumann 1726 /  27 , S. 459–474 (mit weiterer Literatur S. 461–463) , schließen sich Bayle an. Letzterer betont zudem die Geburt der „Elegia de obsidione“ aus Lotichius’ Furcht vor einer Eroberung der Stadt 1551 (S. 471).

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fang einer neuen Geschichte : weil sich , so wollte der zurückblickende Dichter es sehen , „aus Magdeburgs Asche“ „die deutsche Freiheit erhob“.37

Literatur  Andreae , J. V. 1799 : Selbstbiographie. Aus dem Manuscripte übersezt und mit Anmerkungen und Beilagen begleitet v. [D. Ch.] Seybold (Selbstbiographien berühmter Männer , gesammelt v. [D. Ch.] Seybold , Bd. 2) , Winterthur. Anon. 1631a : Copey eines Schreibens Auß Magdeburgk /  darinnen kürtzliche doch gewisse /  vnd vnpartheiische Relation zubefinden /  Was vom 1. Martij , biß auff den 18. Maij , dieses 1631. Jahres /  Vnnd also zuvor /  In : vnd etliche Tage hernach /  bey selbiger Alten /  löblichen Jungfraw vnd Stadt /  Blutigen vnd Erbärmlichen /  fewriegen Schendung oder verterbung /  Von deroselbigen Tyrannischen Liebhaber geschehen ist [ …] , Eisleben. Anon. 1631b : Die jämmerliche Prophetin Fraw Sybilla Magdeburg /  Das ist : Historische Außführung /  Was die erbärmliche Verderbung der Stadt Magdeburg vnd jhrer Einwohner in künfftigen bald nacheinander mit sich bringen werd , o. O. Asche , M. /  Schindling , A. (Hg.) 22002 : Das Strafgericht Gottes. Kriegserfahrungen und Religion im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges , Münster. Bachmann-Medick , D. 42010 : Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften , Reinbek b. Hamburg. Bähr , A. 2007 : Furcht , divinatorischer Traum und autobiographisches Schreiben in der Frühen Neuzeit , in : Zeitschrift für Historische Forschung 34 / 1 , S. 1–32. Bähr , A. 2008a : „Unaussprechliche Furcht“ und Theodizee. Geschichtsbewusstsein im Dreißigjährigen Krieg , in : WerkstattGeschichte Nr. 49 , S. 9–31. Bähr , A. 2008b : Gottes Wort , Gottes Macht und Gottes Furcht. Gewaltdrohung und Sprache im 17. Jahrhundert , in : Blutige Worte. Internationales und interdisziplinäres Kolloquium zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in Mittelalter und Früher Neuzeit , hg. von J. Eming /  C. Jarzebowski , Göttingen , S. 213–232. Bähr , A. 2012 : Spaces of Dreaming. Self-Constitution in Early Modern Dream Nar37 Schiller 1790–1802 , S. 520 und 525. Für Schillers Konzeption von Geschichte und Geschichtsphilosophie s. Schiller 1789. Noch immer grundlegend zum Wandel der Geschichts- und Zeitauffassungen in der Aufklärung ist Koselleck 42000 , außerdem Hölscher 1999. Zur Semantik der Unaussprechlichkeit in autobiographischen Texten aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges s. Bähr 2008a.

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Kleinschroth , B. 21983 : Flucht und Zuflucht. Das Tagebuch des Priesters Balthasar Kleinschroth aus dem Türkenjahr 1683 , hg. von P. H. Watzl S. O. Cist. , Graz /  Köln. Knauer , M. 21998 : „ … Das Mägdlein ist nicht todt , sondern es schläfft“. Die Eroberung Magdeburgs als heilsgeschichtliches Ereignis , in : Puhle 21998 , S. 71–79. Kortholt , S. /  J. Ch. Krüsike 1703 : Disqvisitio Utrum Petrus Lotichius Secundus Obsidionem Urbis Magdeburgensis Prædixerit , Kiel. Koselleck , R. 4.2000 : Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten , Frankfurt a. M. Kru­sen­stjern , B. v. 1999 : Prodigienglaube und Dreißigjähriger Krieg , in : Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts , hg. von H. Lehmann / A. Ch. Trepp , Göttingen , S. 53–78. Kühlmann , W. 1992 : Selbstverständigung im Leiden. Zur Bewältigung von Krankheitserfahrungen im versgebundenen Schrifttum der Frühen Neuzeit (P. Lotichius Secundus , Nathan Chytraeus , Andreas Gryphius) , in : Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte , hg. von U. Benzenhöfer /  W. Kühlmann , Tübingen. Kühlmann , W. 1999 : Magdeburg in der zeitgenössischen Verspublizistik , in : Prolegomena zur Kultur- und Literaturgeschichte des Magdeburger Raumes , hg. von G. Schandera /  M. Schilling , Magdeburg , S. 79–106. Kühlmann , W. /  Seidel , R. /  Wiegand , H. (Hg.) 1997 : Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch und deutsch (Bibliothek der frühen Neuzeit , Abt. 1 , Bd. 5) , Frankfurt a. M. Lahne , W. 1931 : Magdeburgs Zerstörung in der zeitgenössischen Publizistik , Magdeburg. Le Petit , J. G. W. 1791 : Die Zerstörung Magdeburgs. Elegie von Peter Lotichius an Joachim Camerar. Ein Beytrag zu den Prophezeyungen neuerer Zeiten , in : Deutsche Monatsschrift 2 /  2 , S. 265–275. Lepper , M. 2008 : Lamento. Zur Affektdarstellung in der Frühen Neuzeit , Frankfurt a. M. Leppin , V. 1999 : Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548–1618 , Gütersloh. Leutert , S. 2001 : „All dies , was mir mein Genius vorgezeichnet hatte“. Zur Psychologisierung des Traumes in Selbstzeugnissen des 18. Jahrhunderts , in : Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500–1850) , hg. von K. v. Greyerz /  H. Medick /  P. Veit , Köln /  Weimar /  Wien , S. 251–273. Lotichius , P. 1631a : Elegia De obsidione Magdeburgensi , Das ist : Klage=Reymen /  Von

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der Belägerung vnd Eröberung der weitberühmbten vnd vhralten Stadt Magdeburgk /  Von dem vornehmen Poeten Petro Lotichio , II. Solitariensi , der Universitet Heydelberg Professore. An den Herrn Joachimum Camerarium Pabenbergensem , vor etlich 70. [sic] Jahren in Lateinischer Sprach beschrieben vnd jtzo verdeutschet , Leipzig. Lotichius , P. 1631b : Petri Lotichii Secundi , deß weitberühmbten Poeten /  so Anno 1529. geboren /  vnd Anno 1560. gestorben /  sehnliche Lamentation , über der Magdeburgischen Belägerung / Anno 1549. In KlagReimen versetzet von G. D. Hofmann , o. O. Lotichius , P. 1631c : Petri Lotichii Secundi Poëtæ Celeberrimi Somnium Vaticinum , de Obsidione Vrbis Magdeburgensis ex libro secundo Elegiarum qvarta desumtum Anno 1561. Heidelbergæ excusso. Herrn Petri Lotichii deß vornehmen gelehrten Poeten Traum /  Von der Belägerung der Stadt Magdeburg in seinen andern Buch der Elegien an der vierdten. Dem Inhalt nach ins Teutsche versetzt /  vnnd Reimweise in Truck verfertiget , Erfurt. Lotichius , P. 1631d : Nuhnmehr leider erfüllete Propheceiung /  Von der harten Belagerung vnd erbärmlichen Vntergang der Löblichen /  weitberümbten Stadt MAgdeburgk /  Welche der Vornehme Poet Petrus Lotichius Secundus schon vor Ein vnd Achtzig Jahren theils in einem Nächtlichen Traume /  theils in einem Gesichte gesehen /  solche damals seinem guten Freunde dem Weitberümbten Ioachimo Camerario in etzlichen Lateinischen Versen zu erkennen gegeben /  vnd hernach in seine Poemata fol. 42. öffentlich drucken lassen. Anjetzo aber durch einen mitleidenten guthertzigen Patrioten wolmeinendt verdeutscht vnd zum Druck gegeben , o. O. Lotichius , P. 1631e : Petri Lotichii Secundi , Poetæ Clariss. et Medic. Profess. in Academia Heidelberg. Elegia , An den Hochgelehrten vnd Vortrefflichen Joachimum Camerarium , Pabenbergensem , In werender Belägerung der Statt Magdenburg / Anno 1552. geschriben : In welcher die endliche schröckliche Zerstörung so weitberhümbter [sic] Statt gleichsam vor etlich 80. Jahrn Propheceyt worden : Jetzo trewlich in Teutsche vnd Frantzösische Reimen versetzet , o. O. Lurker , M. 51991 : Art. „Hahn“, in : Wörterbuch der Symbolik. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachwissenschaftler hg. von M. Lurker , Stuttgart , S. 272 f. Medick , H. 22001 : Historisches Ereignis und zeitgenössische Erfahrung. Die Eroberung und Zerstörung Magdeburgs 1631 , in : Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe , hg. von H. Medick /  B. v. Krusenstjern , Göttingen , S. 377–407. Merian , M. 1646 : Theatri Evropæi , Das ist : Historischer Chronick /  Oder Warhaffter Beschreibung aller fürnehmen vnd denckwürdigen Geschichten /  so sich hin

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vnd wider in der Welt /  meistentheils aber in Europa /  von Anno Christi 1629. biß auff das Jahr 1633. zugetragen : Insonderheit /  was auff das im Reich publicierte Keyserliche /  die Restitution der Geistlichen von den Protestierenden eingezogenen Güter /  betreffende Edict /  so wol in Kriegs= als Politischen vnd andern Sachen /  zwischen den Catholischen /  eines : So dann den Evangelischen /  mit Assistentz deß Königs in Schweden / Andern Theils /  erfolget : Der Ander Theil : Zusammen getragen durch Joan. Philippum Abelinum : Jetzo revidiert /  guten Theils verbessert vnd vermehret /  [ …] Durch Matthæum Merianum , Frankfurt a. M. Morhof , D. G. 1688 : Polyhistor sive de notitia auctorum et rerum commentarii. Quibus præterea varia ad omnes disciplinas consilia et subsidia proponuntur , Lübeck. Moritz , A. 2010 : Interim und Apokalypse. Die religiösen Vereinheitlichungsversuche Karls V. im Spiegel der magdeburgischen Publizistik , 1548–1551 /  52 , Tübingen. Mosheim , J. L. v. 1718 : De die Christi ab Abrahamo visa [ …] , in : Th. Hasae­ us /  Lampe , F. A. (Hg.) : Bibliotheca Historico-Philologico-Theologica , Classis secunda , Fasciculus primus , Bremen , S. 209–261. Muhlius , H. /  S. Kortholt 1696 : Disquisitio De Enthusiasmo Poëtico , Kiel. Münch , P. 2001 : Einleitung , in : „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte , hg. von dems. , München , S. 11–27. Paullini , Ch. F. 1709 : Philosophische Lust=Stunden /  Oder / Allerhand schöne / Anmutige /  rare /  so nützlich= als erbauliche /  Politische /  Physicalische /  Historische / u. d. Geist= und Weltliche Curiositäten /  Männiglich zur beliebigen Ergetzung wohlmeinend mitgetheilet , Frankfurt /  Leipzig. Peuckert , W.-E. 21967 : Die große Wende , Bd. 1 : Das apokalyptische Saeculum und Luther , Darmstadt. Plebanus , J. 1908 : Aufzeichnungen des Pfarrers Plebanus von Miehlen aus den Jahren 1636 /  37. Im Auszug mitgeteilt v. Ferdinand Heymach , in : Nassauische Annalen 38 , S. 255–285. Pomata , G. /  Siraisi , S. (Hg.) 2005 : Empiricism and Erudition in Early Modern Europe , Cambridge , Mass. /  London. Puhle , M. (Hg.) 21998 : „ … gantz verheeret !“ Magdeburg und der Dreißigjährige Krieg. Beiträge zur Stadtgeschichte und Katalog zur Ausstellung des Kulturhistorischen Museums Magdeburg im Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen , Halle (Saale). Rublack , U. 1995 : Metze und Magd. Frauen , Krieg und die Bildfunktion des Weiblichen in deutschen Städten der Frühen Neuzeit , in : Historische Anthropologie 3 , S. 412–432.

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Messias der Vergeltung Gewaltvorstellungen im jüdischen Messianismus und ihre christliche Wahrnehmung1 Rebekka Voß

„[Die Juden] bitten hefftiglich , das Gott wolt sein heiliges Volck und lieben Kinder von unser gewalt und gefengnis erlösen [ …]. Er solle uns Heiden durch jren Messia alle tod schlahen und vertilgen [ …].“ So beschrieb der Reformator Martin Luther 1543 in seiner antijüdischen Schmähschrift Von den Juden und ihren Lügen die Essenz des jüdischen Messianismus.2 Allein die politische Natur der jüdischen Hoffnung auf den Messias als einen weltlichen König aus dem Geschlecht des biblischen Monarchen David , der die Juden in aller Welt aus dem Exil in das Land ihrer Väter zurückführen , dort erneut ein unabhängiges jüdisches Königreich Israel errichten und den Tempel wieder aufbauen würde , machte diese für Christen verdächtig.3 Schließlich tolerierte das vormoderne Weltbild der Kirche die Juden mehr schlecht als recht als „Zeugen der christlichen Wahrheit“, die sie , vertrieben aus dem Heiligen Land und unter die Völker verbannt , durch ihr jämmerliches Dasein am Existenzlimit beweisen sollten. Jüdische Herren waren in dem augustinischen Konzept von der jüdischen Zeugenschaft nicht vorgesehen.4 Vor allem aber machte die Identifizierung des jüdischen Messias mit dem Antichrist , dem letzten Widersacher Christi bei seiner endzeitlichen Rückkehr auf die Erde , die jüdische Erlösungserwartung zur Projektionsfläche für die schlimmsten christlichen Alpträume.5 Bereits in der Antike identifizierten christliche Theologen den Antichrist , der am Ende der Zeiten Verderben über die Christenheit bringen wird , mit 1 2 3

4 5

Der Aufsatz ist eine für diesen Sammelband bearbeitete und erweiterte Version des ersten Kapitels meines Buches Voß 2011. Luther 1920 , S. 417–552 , hier 519 f. Vgl. auch Eidelberg 2000. Zu Ursprung und Entwicklung der jüdischen messianischen Idee s. Charlesworth 1992 ; Neusner ; Green ; Frerichs 1997 ; Oegema 1994. S. außerdem die klassischen Studien von Klausner 1955 ; Mowinckel 1956 ; Zobel 1938. Stow 1992 , S. 17–20. Vgl. Carlebach 2000 , S. 337.

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dem jüdischen Messias. Sie sahen im Antichrist die Person , die die Juden als ihren Messias erwarteten. Schließlich personifizierte der jüdische Messias für sie das Leugnen der Messianität Jesu ; er war im zeitgenössischen Sprachgebrauch der „Widerchrist“ schlechthin.6 Die Angst , dass die Juden den Antichrist als ihren lang ersehnten Messias annehmen und seine ersten und treuesten Anhänger , Diener und Helfershelfer sein würden , floss seit dem späteren 15. Jahrhundert in den Diskurs über den jüdischen Betrüger und seine Täuschung der Christen ein. Das Motiv des jüdischen Betrügers spielte zu jener Zeit eine zunehmend prominente Rolle in der christlichen Wahrnehmung von Juden und Judentum , was sich auch in der Eschatologie niederschlug : In Bezug auf die jüdische messianische Hoffnung wurden im 16. Jahrhundert aus den von ihrer falschen Messiashoffnung betrogenen Juden selbst Betrüger. Nicht nur der Pseudomessias / Antichrist galt als Meister der apokalyptischen Verstellung ; diese Charaktereigenschaft wurde auf das ganze jüdische Volk übertragen. Die Verirrung der Juden bezüglich der Identität des Messias wurde nicht mehr als unschuldig , einzig zu ihrem eigenen Schaden gedeutet. Im Gegenteil galt der jüdische Messianismus als solcher nun als eine hinterhältige Verschwörung gegen die Christen , da die Juden scheinbar keinen geringeren als den gefürchteten Antichrist als Erlöser erwarteten.7 Während die Juden sich nach außen als loyale Untertanen gaben , nährten sie in Wirklichkeit einen unerbittlichen Groll gegen Christen und Christentum. „Sie hassen die Cristen vill mer dan andre völcker wie wol sie sich fruntlich gegen vns Cristen erzaigen so ist es doch nit aus hertzen Ursach.“ Denn , so begründet der Konvertit Johannes Pfefferkorn die Haltung seiner ehemaligen Glaubensgenossen , „das wir cristen an Jesum cristum gelauben vnd den halten für den waren messiam /  das ist größlich /  wider sy.“8 In den Vorstellungen vom jüdischen Messianismus waren die Schreckensphantasien von der jüdischen Rache besonders tief verankert. Als Sinnbild für den vermeintlichen jüdischen Blutdurst führt der Frankfurter Orientalist Johann Jakob Schudt bezeichnen6

Zur Assoziation des Antichrist mit den Juden Gow 1996 ; Cohen 2010. Ein knapper Überblick auch bei Trachtenberg 1943 , S. 32–43. Aus der umfangreichen Literatur zum Antichrist einführend immer noch Bousset 1895. Zu den Ursprüngen der Antichristtradition außerdem Jenks 1991. Einen Überblick über die spätere Entwicklung bieten Rauh 1979 ; McGinn 2000. 7 Carlebach 2000 , S. 333 ff. Zur Zunahme des Antijudaismus allgemein in der Folklore des 15. Jahrhunderts Rubin 1999 ; Ocker 2004 , S. 133–139 ; Bell 2001 , S. 99–113. 8 Pfefferkorn 1509 , fol. 2v–3r (eigene Paginierung).

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derweise den Prototyp des falschen Messias , den von messianischem Bewusstsein geleiteten Anführer des jüdischen Aufstands gegen Rom 132–135 n. Chr. , Bar Kokhba , an , zu dessen Zeiten die Juden die Christen brutal verfolgt hätten. Als warnendes Beispiel erwähnt Schudt außerdem die andere jüdische Erhebung gegen die Römer (115–117) , die ebenfalls messianische Untertöne gehabt hatte : „die Juden haben damahls zur Zeit Trajani [ …] viel 1000. vom Volck ermordet /  dero Fleisch gefressen /  ihre Häute getragen /  und mit ihren noch blutenden Därmen sich umgürtet“.9 Ängste und Aggressionen , die ursprünglich auf den Antichrist und seine gefürchtete Schreckensherrschaft bezogen waren , wurden auf den jüdischen (Pseudo-) Messias und kollektiv auf seine jüdischen Anhänger übertragen , wie das Spil von dem Herzogen von Burgund von Hans Folz , einem der berühmtesten deutschen Dichter des ausgehenden Mittelalters , deutlich macht. Eine Seherin enthüllt darin dem Sohn Kaiser Maximilians , Philipp von Burgund , eine jüdische Verschwörung : Die Rabbiner rufen überall im Lande die Ankunft ihres Messias aus , der im Begriff ist , alle Königreiche sowie weltliche und geistliche Fürstentümer einzunehmen. Als der Messias die Bühne betritt , richten sich seine jüdischen Begleiter auch prompt respektlos an das christliche Publikum : Weicht auß , tret umbe und ruckt von stat ! Ir habt lang genug innen gehabt Gewalt , herschaft und regiment , Das nu alles wurd sein end.10

Jetzt seien die Juden an der Reihe , auf dem Thron zu sitzen. Folz setzt die jüdischen Machtgelüste mit dem Verlangen nach Vernichtung der Christenheit gleich. So erklärt der Messias , dessen wahre Identität die Sibylle schnell als die des Antichrist aufdeckt , seinen zeitgenössischen Namen „Endchrist“ damit , „das ist schlecht davon der sin , das ich ein ent der Cristen bin.“11 Als eigentliches Motiv für sein Auftreten und als den Grund , warum die Juden sehnsüchtig auf ihn warten , gibt er den Wunsch nach blutiger Vergeltung für Jahrhunderte der Unterdrückung und Erniedrigung unter dem

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Schudt 1714–1718 , Teil 2 , Buch 6 , Kap. 17 , S. 298. Über den Autor s. Deutsch 2006. 10 Von Keller 1853 , S. 171. 11 Ebd. , S. 173.

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Zepter der Christen an.12 Für Luther lag in der befürchteten eschatologischen Rache der Juden der Unterschied zum christlichen Erlösungsverständnis. Während die Christen in Jesus , ihrem gewaltlosen Messias , die Vergebung der Sünden und das ewige Leben gefunden hätten , würden die Juden Gott bitten , dass er sie aus der christlichen Gefangenschaft erlöse , „damit sie aller Welt Land , güter und Herrschafft kriegten. [ …] Wündschen uns , das Schwert und Kriege , angst und alles unglück uber uns verfluchten Gojim kome.“13 Obgleich Missverständnisse und polemische Interpretationen die christliche Sichtweise prägten , war die Angst vor der Rache des jüdischen Messias nicht nur ein Produkt christlicher Wahnvorstellungen. Wie Israel Yuval in seinen Studien zum Mittelalter gezeigt hat , nährte die leidvolle Erfahrung der Verfolgung in der Tat insbesondere unter den aschkenasischen Juden in Mitteleuropa den Wunsch , das unschuldig vergossene jüdische Blut zu rächen , so dass ihre messianische Erwartung die physische Vernichtung der Unterdrücker mit einschloss. „Dieses Ende besteht in der völligen Vernichtung sämtlicher Völker samt ihren himmlischen Fürsten und Göttern [ …]. Der Heilige , gelobt sei er , wird alle übrigen Völker vertilgen , nur Israel [wird bestehen bleiben].“ So schildert im 13. Jahrhundert Sefer nizzachon (Buch des Sieges) , eine Sammlung polemischer Argumente zur Selbstbehauptung gegen das Christentum , das Anbrechen der messianischen Zeit.14 Die Vorstellung vom Untergang der Christen basiert auf den biblischen Prophezeiungen über den Fall Edoms – nach jüdischer Tradition eine unerlässliche

12 Ebd. , S. 179 f. Vgl. Gengenbach 1977 , S. 78–81 ; Pfefferkorn 1508 , fol. 3v–4r. 13 Luther 1920 , S. 520. 14 Berger 1979 , Nr. 242. Zum aschkenasischen Konzept der Erlösung durch Vergeltung Yuval 2007 , Kap. III. 1. Die Arbeiten von Israel Yuval sowie Elliott Horowitz u. a. markieren eine Wende in der Historiographie jüdisch-christlicher Beziehungen seit Mitte der 1990er Jahre , die u. a. die Abkehr von der passiven Opferrolle der Juden vollzieht ; Yuval 2007 , bes. Kap. III–V ; ders. 1993 ; Horowitz 2006 , bes. Kap. 6 und 8 ; ders. , 1998. Insbesondere Yuvals Deutung des Aufkommens der Ritualmordbeschuldigung vor dem Hintergrund der Ideologie jüdischen Martyriums , die sich in den Kreuzzugsverfolgungen von 1096 manifestiert habe , löste international einen Sturm der Entrüstung aus , der häufig über die Sache hinausging , da seine Thesen ein brisantes Politikum berührten (vgl. unten S. 395 mit Anm. 55). Die hebräische Zeitschrift Zion widmete der innerisraelischen Auseinandersetzung 1994 ein Doppelheft , zwei wichtige Reaktionen aus den USA stammen von Chazan 1997 , S. 75 ff. , und Berger 1997 , S. 16–22 ; gemäßigter aus Deutschland Heil 2002. S. zusammenfassend zu der Kontroverse Walz 1999 ; Raz-Krakotzkin 2000.

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Bedingung der Erlösung. In der Erzählung über das Brüderpaar Jakob /  Israel und Esau /  Edom verkündet Gott der Mutter Rebekka vor der Geburt der Zwillinge : „Zwei Völker sind in deinem Leibe , und zwei Stämme aus deinem Schoße werden sich scheiden ; und ein Stamm wird mächtiger als der andre , und der ältere wird dienen dem jüngeren“ (Genesis 25 ,23). Der ältere Bruder ist Esau , der jüngere Jakob , der sich von seinem Vater Isaak das Erstgeburtsrecht erschleicht und damit zum Stammvater des Volkes Israel wird. Die Bibel überträgt die daraus resultierende Feindschaft zwischen den beiden Brüdern auf die Konkurrenzsituation zwischen zwei Völkern , den Israeliten und den Edomitern , und löst sie im Sinne von Genesis 25 mit der Unterwerfung der Edomiter durch König David auf. Als der jüdische Staat jedoch im ersten nachchristlichen Jahrhundert mit der Eroberung Jerusalems endgültig seine Souveränität an Rom verlor und der Tempel zerstört wurde , bekam die Typologie eine neue Besetzung : Edom wurde zum Synonym für Rom und sein Untergang auf die messianische Zukunft verschoben. Am Ende der Zeiten , mit der Ankunft des Messias , würde Gott die Versündigung Edoms an seinem Volk rächen. Mit der Christianisierung des Römischen Reiches bekam die Gleichsetzung dann eine doppelte Bedeutung , zu der politischen Lesart kam noch eine religiöse hinzu : Edom konnte sowohl die politische Entität des Imperium Romanum als auch die christliche Kirche meinen.15 Dementsprechend wurde das letzte der vier Weltreiche , das nach dem biblischen Buch Daniel dem messianischen Zeitalter vorausgeht und ihm schließlich weichen wird , entweder als das Christentum oder als Rom im engeren herrschaftlichen Sinn gedeutet.16 Da das Weltreich Rom nach der mittelalterlichen Translationslehre im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation seine Fortführung fand , lebten und 15 Zu der frühen Typologie s. Yuval 2007 , Kap. I. 2. Zur Gleichsetzung von Esau /  Edom mit Rom ebd. , Kap. I. 3 ; Cohen 1991. S. auch Stemberger 1979 ; Hadas-Lebel 1984 ; Zeitlin 1969 /  70. In den Schriften jüdischer Gelehrter von Spanien und der Provence bis nach Nordfrankreich und Deutschland , u. a. in Raschis berühmtem Bibelkommentar , verschmolz seit dem Hochmittelalter Esau /  Edom in seiner Identifikation mit der christlichen Welt häufig außerdem mit seinem Enkel Amalek , der geschlagen (1 Sam 15 ,3) und dessen Andenken nach Deut 25 ,19 ausgelöscht werden soll ; Horowitz 2006 , Kap. 5 , bes. S. 125–129. S. auch ders. 1999. 16 Die Vier-Monarchien-Lehre geht auf Daniels Visionen der Statue (Dan 2 ,31–45) und der vier Tiere (Dan 7 ,1–27) zurück. Dazu Flusser 1972. Zur geläufigen jüdisch-christlichen Deutung des letzten Weltreiches als des römischen s. Adamek 1938 ; Swain 1940 ; Zeeden 1997. Zu einer Geschichtsperiodisierung nach den vier Weltreichen in der hebräischen Historiographie des 16. Jahrhunderts Degani 1980.

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litten die Juden in Deutschland unmittelbar unter der politischen Herrschaft Edoms und „alle der juden hoffnunge vnd betten ist dahin gerichtt /  das der Christen Scepter hinweck genommen /  vnd zu nichten werden sol.“17 Der messianische Untergang Edoms wurde im Alten Reich also mit dem Ende des römisch-deutschen Kaisertums gleichgesetzt.18 So scheinen die deutschen Juden im 16. Jahrhundert erwartet zu haben , dass der Messias nach Deutschland kommen werde , weil dort der Sitz des Kaisers war. Gemeinsam mit dem Herold Elias , seinem kriegerischen Vorläufer Messias b. Josef und dem Hohepriester der Endzeit würde er die letzte Bastion der Macht Edoms vernichten , wie die Vision des biblischen Propheten Sacharja über die vier Schmiede und die vier Hörner vorhersagt : „Diese kommen sie zu verscheuchen , abzuschlagen die Hörner der Völker , welche das Horn erhoben gegen das Land Jehudah , es zu zerstreuen.“ Die vier Hörner symbolisierten nach einer überlieferten Auslegung den Sitz des Kaisertums , der über die Jahrhunderte verlagert worden war : von Rom nach Konstantinopel , dann unter Karl dem Großen nach Frankreich und schließlich ins römisch-deutsche Reich.19 Nach einer parallelen Tradition glaubten die Wormser Juden in Übertragung der talmudischen Legende vom Messias , der vor den Toren Roms sitzt , dass er in der alten Kaiserstadt Worms geboren werden würde.20 Am Purimfest , das an die Errettung des jüdischen Volkes aus drohender Gefahr in der persischen Diaspora erinnert , war es (laut einer christlichen Quelle) in der Stadt am Rhein Brauch , Geschirr zu zerschla17 Margaritha 1530 , fol. G2r. Die Schrift erschien 1530 gleich zweimal in Augsburg ; ich benutze die Erstausgabe von März 1530 (VD 16 M972). Zur Translationslehre Thomas 1999. 18 Das sefardische Endzeitszenario betont hingegen eher die endzeitliche Hinwendung der Völker zum Gott Israels. S. zur „Bekehrungserlösung“ im Unterschied zur „Racheerlösung“ Yuval 2007 , Kap. III. 2. Beide Ereignisse der letzten Tage sind jedoch Aspekte der traditionellen Apokalyptik , die im eschatologischen Gedankengut beider Kultusgemeinschaften – mit unterschiedlicher Gewichtung – vertreten sind. Dazu Grossman 1994. Vgl. auch Horowitz 2006 , S. 127– 129 , für weitere Beispiele. 19 Dies ist überliefert bei Isaak Abravanel 1960 , zu Sach 2 ,4. Zur Identifizierung der vier Schmiede mit den vier messianischen Personen in der rabbinischen Literatur s. die Stellenangaben bei Strack /  Billerbeck 1956 , S. 464 f. Speziell zur Figur des ersten Messias b. Josef , der im Krieg fallen wird , bevor der zweite , wirkliche Messias b. David kommt , Berger 1985 , S. 143–148 ; Fishbane 1998. 20 Vgl. Schudt 1714–1718 , Teil 1 , Buch 5 , Kap. 11 , S. 411. Vgl. auch Abravanel 1999 , S. 55 , „dass der König Messias in den christlichen Ländern , die im Westen der Religion Roms zuneigen , geboren werden wird“. Die Stelle im Talmud ist bSan 98a.

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gen und dabei die Parallele zum Berater des persischen Königs , Haman , zu ziehen , der das jüdische Volk in seinem Reich ausrotten wollte : „Wie Haman /  ist zerbrochen , und uff geriben worden , also muse auch das Römisch /  Reich uhr plötzlich zertreten werden , zu grund und boden gehen“.21 In manchen Gemeinden verband man den aschkenasischen Brauch , bei der Verlobungszeremonie Teller oder Krüge zu zerbrechen , ebenfalls mit der Hoffnung , „das ir Gott die Christen also sol zerschmettern und gantz zu nicht machen“.22 Die Idee von der messianischen Rache schlug sich in vielfältiger Weise im aschkenasischen Ritus und Brauchtum nieder. So enthält das Achtzehnbittengebet , ein Kernstück des jüdischen Gottesdienstes , in der Auslegung Pfefferkorns die Bitte um „rach vber die gantz gemain der cristlichen kirchen vnd in sunderhait das das Römisch reich verwust zerbrochen vnd verstört werd“.23 Die sogenannte Ketzerbitte lautet in der kanonischen Version weniger tendenziös und vollständig : Den Verleumdern sei keine Hoffnung , und alle Ruchlosen mögen im Augenblick untergehen , alle mögen sie rasch ausgerottet werden , und die Trotzigen schnell entwurzle , zerschmettre , wirf nieder und demütige sie schnell in unseren Tagen. Gelobt seist du , Ewiger , der du die Feinde zerbrichst und die Trotzigen demütigst !24 21 Stadtarchiv , Worms , Abt. 1 B , Nr. 2021 /  21 , fol. 1r–2v , hier fol. 2r (Schreiben der Zünfte an den Kurfürsten von der Pfalz [Abschrift] , Worms , April 1615). Für weitere Purimbräuche , die Gewalt gegen Christen symbolisieren , Horowitz 2006 , Kap. 9. S. außerdem ders. 1994 und 1994a. 22 Staffelsteiner o. J. , fol. A2v. Vgl. hingegen die traditionelle Erklärung zum Ursprung dieses Brauchs , der seit dem 16. Jahrhundert belegt ist , bei Antonius Margaritha : Scherben bringen Glück und weisen auf ein zukünftiges Leben im Überfluss ; Margaritha 1530 , fol. H2r. Gleich den Christen , die am Polterabend vor der Hochzeit Töpferwaren zerschlugen , glaubte man nämlich , damit das Brautpaar vor den bösen Geistern zu schützen. Zu den unterschiedlichen Motiven und Begründungen dieses Brauchs vgl. Lauterbach 1970 , S. 363–366. S. auch Sperber 1998 , S. 58–61 ; ders. 2008 , S. 151–158. Die Hinweise auf Worms und Staffelsteiner verdanke ich Ursula Reuter respektive Yaacov Deutsch. 23 Pfefferkorn 1509 , fol. 2r (eigene Paginierung). Vgl. zur Ketzerbitte als antichristlichem Fluch Yuval 2007 , Kap. III. 3. Für weitere Verfluchungsrituale in der Wochen- und Festtagsliturgie s. ebd. , Kap. III. 3–4. Zu antichristlichen Beschimpfungen neuerdings Deutsch 2010. S. außerdem Abulafia 1998 ; Horowitz 2006 , S. 157 f. 24 Zur textuellen Entwicklung und der Frage , gegen wen die Bitte in ihren unterschiedlichen Entwicklungsstadien gerichtet war , s. u. a. Schäfer 1978.

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Während sicher nicht jeder Betende den Christen gegenüber böse Absichten hegte , beweisen Quellen wie Pfefferkorn jedoch , dass die Liturgie für eine polemische Interpretation offen war und von einigen Juden durchaus entsprechend antichristlich verstanden wurde. Chaim b. Bezalel von Friedberg , der ältere Bruder des Juda Löw , des großen Maharal von Prag , mag im 16. Jahrhundert Ähnliches gegen die Christen im Sinn gehabt haben , wenn er jede Verwendung von Amen am Ende eines Gebets als Ausdruck der tiefen Hoffnung erklärt , „bald deine prächtige Macht [ …] zu schauen , dass die Greuel von der Erde schwinden“.25 In jedem Fall erlaubte das Verschieben der Rache an Edom auf eine ferne , unbestimmte Zukunft den Juden unter seiner Herrschaft bis dahin einen lebensfähigen modus vivendi im alltäglichen Umgang mit den Christen. Die praktische , gegenwärtig unmittelbare Bedeutung des Ideals der Vergeltung wurde somit im jüdisch-christlichen Beziehungsalltag des Geschäfts- und Privatlebens weitgehend neutralisiert bzw. vorübergehend außer Kraft gesetzt , zumal die jüdische Minderheit sich ihrer tatsächlichen Ohnmacht , Edom ohne die Hilfe des Messias vernichten zu können , sehr wohl bewusst war.26 Was blieb , war bis zur Ankunft des göttlichen Rächers der Ausdruck einer grundsätzlichen , eschatologischen Feindschaft gegenüber Edom in formalisierter und ritualisierter Form , die nicht notwendigerweise aktive Gewalt im hier und heute auslösen musste.27 In besonderer Weise wurde das Pessachfest , das mit dem Gedenken an den Exodus aus Ägypten gleichzeitig auf die zukünftige Erlösung verweist , mit der Bitte um apokalyptische Vergeltung verbunden. Die Haggada , die am Sederabend im Familienkreis gelesen wird , verwünscht nach der Angabe des Konvertiten Antonius Margaritha die Christen und fleht Gott ausdrücklich 25 Chaim b. Bezalel 1956 /  57 , Teil 3 , s.v. barukh. Die Auslegung erklärt sich aus einem Wortspiel mit dem hebräischen Wort Amen. Die zitierte apokalyptische Passage stammt aus der Einleitung zum zweiten Teil des Alenu-Gebets , mit dem jeder jüdische Gottesdienst schließt. Zum Alenu le-schabbeach (An uns ist es , zu preisen) als antichristliche Polemik Yuval 2007 , bes. S. 200–208 ; Wieder 1975 ; Elbaum 1972 /  73 ; Ta-Shma 1992 /  93. 26 Horowitz 2006 , S. 133 f. Vgl. dagegen zum Umgang mit der Vernichtung Amaleks bei Maimonides , der unter muslimischer Herrschaft lebte und wirkte , ebd. , S. 129–133. 27 Zur methodischen Unterscheidung von Hass bzw. Feindschaft als Emotion und Vergeltung als Aktion Smail 2001 , bes. S. 90–93 , 108. S. zum rechtlichen , religiösen und kulturellen Konzept der Vergeltung auch ders. ; Gibson 2009 ; Throop /  Hyams 2010.

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an , Katastrophen über ihre „hauptstet“28 und „jr oberst regiment vnd regierer“ zu schicken.29 Im Mittelalter fand im aschkenasischen Kulturbereich der Fluch Schefoch (Schütte aus deinen Grimm über die Völker)30 Aufnahme in die Haggada. Dessen Rezitation wird von einer symbolträchtigen Handlung begleitet : Unmittelbar bevor der Fluch ausgesprochen wird , öffnet man die Tür , um Elias , den traditionellen Vorboten des Messias , einzulassen. Es ist überliefert , dass in Gemeinden in Deutschland ein Familienmitglied die Rolle des Propheten übernahm und durch die geöffnete Tür hineinkam. Anschließend wurde in der Hoffnung , dass die ersehnte Rache an den Nichtjuden nun bald vollzogen werde , das vierte und letzte Glas Wein getrunken , das Glas der Erlösung.31 Ein weiterer aschkenasischer Pessachbrauch wird von Jakob Kitzingen aus Litauen Ende des 16. Jahrhunderts in seinem Buch zum Sederabend beschrieben und als Präfiguration der umgekehrten Machtverhältnisse in messianischer Zeit gedeutet : Derjenige , der den Seder leitete , war in einen Kittel , das weiße Totengewand , gekleidet , wie es die Art der Herrschaft und Freiheit ist. Denn so haben unsere Lehrer , seligen Angedenkens , in der Großen Versammlung den Vers ‚zu jeder Zeit seien deine Kleider weiß‘ ausgelegt : R. Jochanan b. Sakkai sagte , wenn ‚mit weißen Kleidern‘ geschrieben steht , meint das die weißen Kleider , die die Völker der Welt haben usw. Daraus ist abzuleiten , dass die weißen Kleider die Art der Herrschaft sind , wie sie die Völker der Welt tragen.32

Möglicherweise erinnerte das weiße Sterbegewand außerdem an den Tod der zahllosen jüdischen Märtyrer unter christlicher Herrschaft und sollte Gottes Zorn erregen , um ihn so zu seiner apokalyptischen Rache zu drängen.33 Die 28 29 30 31

Margaritha 1530 , fol. D2v Ebd. , fol. D3r. Ps 79 ,6. Yuval 2007 , Kap. III. 5. Vgl. Gutmann 1974 ; ders. 1994 ; Rosenthal 1994 , S. 36. S. außerdem Yuval 2007 , S. 111 , zum Brauch , für jede der zehn Plagen , die Gott über Ägypten schickte , Wein auf den Boden zu tropfen , und ebd. , Kap. V.2 , zur Verbrennung des Gesäuerten als symbolische Vernichtung Edoms. 32 Kitzingen 1597 , fol. 15v (zitiert bei Tamar 1987 , S. 932) mit Zitat aus Pred 9 ,8. Kitzingen stützt sich auf das Traktat Schabbat im Babylonischen Talmud ; bShab 153a. 33 Eine Parallele findet sich in Apk 6 ,9 ff. , wo die messianische Vergeltung ebenfalls

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Beschreibung des Endgerichts durch Pfefferkorn stützt eine solche Interpretation : Nach der Auferstehung der Toten werden sich Juden und Nichtjuden am Tag des Herrn versammeln , damit Elias ( !) über sie richte.34 Die Juden werden sodann ins Paradies der kommenden Welt eingehen , da sie die Gesetze des Gottes Israels befolgt haben. An ihnen haftet kein Makel , symbolisiert durch die weißen Kleider , die sie tragen. Die Nichtjuden hingegen , die die Religionsgesetze übertreten , die Beschneidung nicht praktiziert , Bilderverbot und Speisevorschriften nicht gehalten haben , sind dazu verdammt , in der Hölle ewige Qualen zu erleiden. Außerdem klebt jüdisches Blut an ihren Händen , denn „auch habt yr das auß erwelte volck gottes die Juden schwerlich gequellet vnd gepeynigt. vnd dartzu so seit yr nit mit weissen claydern beclaydet.“35 In illuminierten Haggada-Handschriften aus dem deutschen Raum des 15. Jahrhunderts ist der Text des Schefoch durch Darstellungen des Messias der Vergeltung illustriert. Mitunter ist er als Kriegsmann dargestellt oder Gottes Zorn ergießt sich ganz plastisch aus einem Gefäß in Form von Feuer oder Blut über eine Gruppe von Christen.36 In verschiedenen Illustrationen reitet der Messias auf einem Esel , der der tierische Held einer populären jüdischen Volkslegende zum eschatologischen Racheszenario ist , die Margaritha wiedermit einem weißen Gewand verbunden wird , welches Gott den Märtyrern für die Zeit bis zum Tag des Gerichts gibt. Dazu Yuval 2007 , S. 107. Vgl. ebd. , Kap. IV. 1–3 , zum Gedenken an die Märtyrer der rheinischen Kreuzzugspogrome von 1096 als einer Form des messianischen Aktivismus. Yuval zeigt , wie das Blut der Märtyrer als Beweis der christlichen Schuld die Funktion erhielt , den Messias der Vergeltung herbeizubringen. 34 Während Elias traditionell der Vorbote der Erlösung ist , übernimmt er hier als zweiter Messias (so explizit bei Pfefferkorn 1509a , fol. 15v (eigene Paginierung)) die Rolle als Richter im Jüngsten Gericht , die eigentlich Messias b. David zugedacht ist. Dieser fungiert hier umgekehrt als der erste Messias ; die Gestalt des Messias b. Josef fehlt ganz ; ebd. , fol. 14r. Pfefferkorn leitet diese ungewöhnliche Vorstellung von Mal 3 ,23 ab. Jene zentrale Stelle zur eschatologischen Rückkehr des Propheten wird in den Apokryphen und in der rabbinischen Literatur in der Regel auf Elias’ vorbereitende (innerjüdische) Funktion bei der Restitution Israels bezogen ; vgl. Klausner 1955 , S. 451–455 ; Mowinckel 1956 , S. 278 , 299 ; Moore 1927 , S. 358 f. Vgl. hingegen Midrasch Tanchuma , Tan mischpatim 18 (106b) , wo dieser Vers mit der Bestrafung der Könige der Völker durch Elias am Tag des Herrn in Verbindung gebracht wird. Dem Propheten wird weiterhin eine spezielle Funktion bei der Auferstehung der Toten zugedacht ; Klausner 1955 , S. 456. 35 Pfefferkorn 1509a , fol. 15v–16r (eigene Paginierung). 36 Vgl. Gutmann 1974 , S. 35 f. ; ders. 1994 , S. 24.

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gibt : Angelehnt an das typologische Modell des biblischen Auszugs aus Ägypten bringt der Messias die Juden auf dem Rücken seines Reittieres trockenen Fußes durch das Meer ins gelobte Land , während die Christen auf dem Schwanz des Esels sitzen. Inmitten der reißenden Fluten senkt der Esel nun seinen Schwanz ins Wasser , so dass die Christen herunterfallen und ertrinken – so wie einst die ägyptischen Verfolger der Israeliten im Roten Meer.37 Die polemischen Ethnographien von Juden und Judentum , die Konvertiten wie Victor von Carben , Johannes Pfefferkorn und Antonius Margaritha , später auch Alt-Christen , seit dem 16. Jahrhundert in Deutschland verfassten und die eine realistische Beschreibung des Lebens , Brauchtums und der Religion der zeitgenössischen Juden beanspruchten , legen nahe , dass es den Christen im Deutschland der Frühneuzeit durchaus geläufig war , dass die Juden in der messianischen Vernichtung der Christen die Kehrseite ihrer eigenen Erlösung sahen.38 Der Juden Einritt mit jhrem Messia bezeugt die christliche Kenntnis und Verzerrung des jüdischen Messianismus. Die kolorierte Radierung , die nach der Vorlage eines Kupferstichs aus Dietrich Schwabs Jüdischer Deckmantel (Mainz 1666) angefertigt wurde ,39 stellt an der Spitze der Prozession einen Juden dar , der mit dem Becher der Erlösung in den Händen auf 37 Margaritha 1541 , fol. 2v. Auf diese Legende spielt offensichtlich auch Victor von Carben 1508 , S. 21 f. (eigene Paginierung) , an. Eine bildliche Umsetzung der Legende findet sich z. B. in der Washington Haggada ; vgl. Yuval 2007 , S. 134 f. Zu Moses als Prototyp des Messias s. Berger 1985 , S. 142 f. ; Teeple 1957. 38 Statt der Beschäftigung mit einschlägigen , vorrangig biblischen Texten und der abstrakten Diskussion und Widerlegung jüdischer Glaubensdoktrin rückte die neue Literaturgattung die Kritik an der gegenwärtigen Praxis der Juden in den Vordergrund. Zu diesem Genre maßgeblich Diemling 1999 ; dies. 2006 ; Deutsch 2001 ; ders. 2004 ; ders. 2004a (auf Englisch 2012 bei Oxford University Press) ; ders. 2006a. Speziell zu Pfefferkorn außerdem Kirn 1989 , Kap. 4.1–4.2 ; Martin 1994 ; zu Margaritha Walton 2005. Seit dem 17. Jahrhundert verfassten christliche Hebraisten entsprechende Studien , zuerst Johannes Buxtorf (Synagoga Ivdaica , Basel 1603) ; zu seinem Werk Burnett 1996 , Kap. 3 ; ders. 1994 , bes. S. 280–284. Vgl. hingegen den Antijudaismus deutscher Theologen des 15. Jahrhunderts , der sich mehrheitlich nicht mit dem tatsächlichen jüdischen Gegenüber auseinandersetzte , sondern sich auf eine routinemäßige Bibelauslegung beschränkte und auf literarischen Stereotypen basierte ; Ocker 2006. 39 Der Titel ist einer spiegelverkehrten Replik entnommen , die mit Der Juden Einritt mit jhrem Messia überschrieben ist und nachträglich in die in der UB Frankfurt erhaltene Schwab-Ausgabe , Mainz 1619 (Jud. 1296) an der Stelle , die die jüdische Eselslegende referiert , eingelegt wurde.

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der sogenannten Judensau reitet.40 Es folgen Elias , der das Widderhorn bläst , um die Ankunft des Erlösers zu verkünden , der Messias und hinter ihm sein Esel mit den Juden sicher auf seinem Rücken. Auf seinem Schwanz sitzen die dem Untergang geweihten Christen. Stellvertretend für die gefürchteten Verbrechen , die die Juden in der messianischen Zeit an den Christen verüben werden , ist links oben auf dem Felsen die Leiche des Knaben Simon von Trient abgebildet , der 1475 angeblich einem jüdischen Ritualmord zum Opfer gefallen war.41 Der jüdische Messianismus stellte aufgrund seiner politischen Dimension nicht nur ein theologisches Problem für die christliche Gesellschaft dar. Er konnte nicht lapidar als Torheit verspottet werden , sondern wurde als echte Gefahr , als ein handfester Angriff auf die gottgewollte Ordnung empfunden. Die revolutionäre Tendenz der Apokalyptik , sei sie jüdisch oder christlich , war den Zeitgenossen hinlänglich bewusst. Jeder Versuch , ein messianisches Zeitalter aktiv herbeizuführen , gefährdete unausweichlich die bestehende Gesellschaftsordnung und barg das Potential sozialer Unruhen.42 Im ausgehenden 15. Jahrhundert hatte Hans Böhm , ein Schäfer und Spielmann aus Niklashausen im fränkischen Taubertal bei Würzburg , den bevorstehenden Anbruch eines Tausendjährigen Reiches allgemeiner Gleichheit verkündet. Der sogenannte Pfeifer von Niklashausen predigte angesichts der bevorstehenden Wiederkehr Jesu gegen Klerus und Obrigkeit. Er verdammte ihre Hab- und Verschwendungssucht und forderte seine Zuhörer auf , die Zahlung von Steuern und Pacht zu verweigern. Für kurze Zeit begeisterte er mehrere zehntausend Menschen , die aus ganz Süd- und Mitteldeutschland , von den Alpen bis zum Rhein und selbst aus Thüringen , in das fränkische Dorf pilgerten , um seine umstürzlerische Lehre zu hören.43 Auch der Prediger Thomas Müntzer , im Bauernkrieg eine der zentralen Führungsfiguren , der zutreffend als „Theologe 40 S. zum Motiv der Judensau , welches insbesondere in Deutschland verbreitet war , Shachar 1974 ; Fabre-Vassas 1999. Zur Judensau als satirische Darstellung des messianischen Esels Yuval 2007 , S. 135 f. 41 Zum Trienter Ritualmordprozess Treue 1996 ; Hsia 1992. 42 Dies ist auch zutreffend , wenn man die Endzeiterwartung nicht einzig als von sozialer Unzufriedenheit genährt und daraus erwachsende Bewegungen nicht nur als Klassenkampf der elenden Massen versteht , so wie Cohn 1998 es sehr vereinfacht zur Grundlage seiner Untersuchung macht. Es ist eher allgemeiner vom „Zusammenhang von religiöser Motivierung und politisch-sozialer Aktion“ zu sprechen ; van Dülmen 1987 , S. 8. 43 Zuletzt Wunderli 1992.

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der Revolution“ bezeichnet worden ist , war von millenaristischen Erwartungen geleitet.44 Die berühmteste Episode der Geschichte des politischen Chiliasmus ist jedoch sicherlich das Münsteraner Täuferreich von 1534 /  35.45 Im Fall des jüdischen Messianismus kam die Komponente der Rache hinzu. Wie sollte man die Juden als „Mitbürger des Römischen Reichs“ achten und nicht für seine Feinde halten , wenn sie beten , „das jnen got wölt sendenn Messiam welcher soll mit grosser macht vnd gewalt kommen /  eyn vberwinder der Cristenheyt“ ?46 Schon im Hochmittelalter galten die Juden gerade aufgrund ihrer messianischen Erwartungen als Christenfeinde.47 Im 16. Jahrhundert lieferten dann die ethnographischen Veröffentlichungen von Konvertiten detaillierte – wenn auch gefärbte – Enthüllungen über die endzeitliche Rache der Juden aus erster Hand , die sehr wirkmächtig für die öffentliche Meinungsbildung waren.48 Sie hoben hervor , dass sich der Hass ihrer ehemaligen Glaubensgenossen auf die Christen im eschatologischen Konzept der Vernichtung des römischdeutschen Kaisertums und der Christenheit konzentrierte. 1530 legte Antonius Margaritha mit Der gantz Jüdisch glaub die erste systematische Darstellung des Judentums und des jüdischen Lebens vor , wobei es sein erklärtes Ziel war , den christlichen Obrigkeiten mit der Entlarvung des wahren Wesens der jüdischen Untertanen eine Grundlage für eine strengere Judenpolitik zu geben. Er riet dazu , den Juden soziale und wirtschaftliche Beschränkungen aufzuerlegen.49 Gerade aufgrund der erwiesenen Nähe zu realen Auffassungen und Praktiken innerhalb des aschkenasischen Judentums , die die Juden in Deutschland nach Kräften versuchten , vor den Christen zu verbergen ,50 waren solche Schrif44 45 46 47

Bloch 1959. Zu Müntzer s. Elliger 1975 ; Schwarz 1977 ; Seebaß 1991 ; Goertz 1989. Klötzer 1992 ; van Dülmen 1974 ; Cohn 1998 , Kap. 12. Pfefferkorn 1511 , fol. 4r (eigene Paginierung). Allgemein Chazan 1989 ; ders. 1997 ; Cohen 1982 ; ders. 1999 ; Dahan 1990. S. auch Lasker 1996. 48 Diese Schriften , die fast ausschließlich auf Deutsch verfasst und im deutschen Sprachraum überaus populär waren , prägten die christliche Wahrnehmung der Juden in der Frühneuzeit grundlegend ; Deutsch 2006a , S. 346 f. ; ders. 2004a , S. 323 f. Im Allgemeinen sind die Informationen der Konvertiten verlässlich und finden Bestätigung in den hebräischen Quellen der Zeit. Vgl. methodisch z. B. Carlebach 2003 , S. 15 , 17 ; Deutsch 2006a , S. 339 ; Diemling 2006 , S. 327. 49 Ebd. Vgl. z. B. auch die Intention Pfefferkorns 1509 , fol. 9v (eigene Paginierung). Friedrich 1988 , S. 46 , Anm. 146 , hat die Ethnographien treffend als „Warnschriften“ vor den Gefahren , die Juden und Judentum darstellten , charakterisiert. 50 Die Juden in Deutschland waren sich der außergewöhnlich feindseligen Haltung

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ten für die jüdische Gemeinschaft bedrohlich. Katholiken wie Protestanten schrieben besonders den Worten des gelehrten Rabbinersohns Margaritha große Autorität zu. Er inspirierte maßgeblich Luthers antijüdische Agitation , deren Härte die Forderungen des Konvertiten jedoch übertraf. Zwar war Luther sich früh der jüdischen „Blasphemien“ bewusst gewesen , wie er schon 1514 zum Ausdruck bringt , aber dies hatte zunächst keinen entscheidenden Einfluss auf seine Haltung den Juden gegenüber , wie sie vor allem in seiner ersten judenfreundlichen Schrift Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei (Wittenberg 1523) festgehalten ist. Margarithas Buch und wohl auch die Charakterisierung des Juden als halsstarrig und feindselig in Sebastian Münsters Schrift Messias Christianorvm et Iudaeorum (Basel 1539) trugen jedoch zu einer Kehrtwende des Reformators bei. Die zeitgenössische Expertenliteratur aus der Feder des gebildeten Konvertiten und des anerkannten Basler Hebraisten bestätigte das , was er bislang nur indirekt aus der Bibel und der Kirchengeschichte abgeleitet hatte , und stellte es auf eine breitere , „wissenschaftliche“ Basis. Dieses nun unumstößliche Wissen über die jüdische Verachtung von Christen und Christentum ließ Luther die Frage des Umgangs mit den Juden zum Schutz der christlichen Gesellschaft neu bewerten.51 Margarithas Anschuldigungen erregten auch die Aufmerksamkeit des Kaisers , der ihn vorlud , darüber 1530 auf dem Augsburger Reichstag mit dem bekannten Sachwalter und Vertreter jüdischer Interessen Josel von Rosheim , dem zur damaligen Zeit einflussreichsten Juden im Reich , zu disputieren. Einer der Anklagepunkte war dabei die Verfluchung der Nichtjuden. Obgleich Margaritha in der Debatte unterlag und der Stadt verwiesen wurde , zeigt die Resonanz , die seine Vorwürfe auf höchster politischer Ebene fanden , dass die christliche Wahrnehmung der jüdischen Racheapokalyptik überaus gefährliche Folgen haben konnte. Hochverrat war ein schwerwiegendes Verbrechen , allein der Vorwurf konnte die ohnehin schon prekäre Existenz der jüdischen Gemeinden im Reich ernsthaft gefährden.52 Tatsächlich hatte die christliche Furcht vor der jüdischen Messiaserwartung , die häufig Existenzängste allgemeiner Art katalysierte , praktische Konder christlichen Umwelt durchaus bewusst und bemühten sich daher allgemein um vorsichtige Zurückhaltung bei öffentlichen Äußerungen ihrer Messiashoffnung. So zuerst Carlebach 1998 ; dies. 2001 , S. 238 ff. ; dies. 2001a , S. 25–29. S. jetzt außerdem Voß 2010 , bes. S. 206–216 ; dies. 2011 , S. 45–51. 51 Kaufmann 2006 , S. 92–96 ; Diemling 2006 , S. 328 f. ; von der Osten-Sacken 2002. 52 Zu der Disputation zuletzt maßgeblich Carlebach 2001b , S. 50 f. S. auch Diemling 2006 , S. 328–331 ; Stern 1959 , S. 99 ff.

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sequenzen. Sie legitimierte harsche Maßnahmen , um Leib und Leben der Christen zu schützen.53 So verfasste der Nürnberger Dichter Folz seine Spiele , insbesondere den Herzogen von Burgund , bewusst als Unterstützung der langjährigen Kampagne der Stadt , die Juden zu vertreiben , was ihr 1499 schließlich auch gelang.54 Luther nahm in sein erwähntes antijüdisches Traktat Von den Juden und ihren Lügen im Zusammenhang mit der Erwartung , dass der jüdische Messias die Heiden töten werde , gar die Greuelmärchen von jüdischen Brunnenvergiftungen und Ritualmorden auf : Täglich zu Hause und am Samstag in der Synagoge verfluchten die „dürstige blut Hunde und Mörder“ die verhassten Christen. Da Gott ihren Racheschrei jedoch noch nicht erhört habe und sie nicht länger tatenlos auf die Ankunft des Erlösers warten wollten , hätten sie ihr Trinkwasser vergiftet , ihre Kinder gestohlen und mit Ahlen totgestochen oder mit Flachskämmen zerfleischt , „damit sie an der Christen blut jr mütlin heimlich kületen.“ Zu Recht seien die beschuldigten Juden dafür unbarmherzig bestraft worden.55 In der Tat kam während der großen Pest von 1348 /  49 und den damit zusammenhängenden Pogromen gegen jüdische Gemeinden das Gerücht auf , die sogenannten „roten Juden“, die blutrünstige jüdische Armee des Antichrist , hätten ihren Brüdern in Europa das Gift für die Brunnenvergiftung zukommen lassen.56 Entsprechend groß war die Furcht 53 Vgl. auch Carlebach 2001a , S. 21 f. 54 Vgl. Gow 1996 , S. 280. S. zum sozialen Kontext der Nürnberger Spiele im Vorfeld der Judenvertreibung auch Habel 2000 ; Ragotzky 2002 ; Schiel 2002 , S. 164. Zur Vertreibung der Nürnberger Juden Toch 1984 ; Wenninger 1981 , S. 135–154. 55 Luther 1920 , S. 520. Yuval 2007 , Kap. IV , vermutet mit guten Gründen , dass der Eindruck , den das Konzept der Racheerlösung auf die christliche Umwelt machte , tatsächlich die Entstehung der Ritualmordbeschuldigung im 12. Jahrhundert beeinflusste. Yuval versteht das jüdische Gedenken an die Märtyrer der rheinischen Kreuzzugspogrome von 1096 , die Selbstmord begingen , um der Konversion zu entgehen , als eine Form des messianischen Aktivismus ; das Blut der Märtyrer erhielt als Beweis der christlichen Schuld die Funktion , den Messias der Vergeltung herbeizubringen. In diesem Verhalten der Juden , insbesondere der Tötung ihrer eigenen Kinder , fand man in der christlichen Welt nach Yuval schließlich eine reale Basis für die etwa eine Generation später aufkommende Ritualmordlüge , die die Juden beschuldigt , christliche Kinder zu töten , da sie für ihr Pessachfest angeblich ihr Blut benötigten. Der Mythos vom Ritualmord erscheint also als ein christliches Zerrbild der Ereignisse von 1096 und dem Wissen um die jüdisch-eschatologische Lehre der Vergeltung , die eng mit Pessach verbunden war. 56 Gow 1995 , S. 225 ff. Dies ist die Standardstudie zur christlichen Vorstellung von

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der Christen in Zeiten aktueller messianischer Erregung unter den Juden. Eine bayerische Chronik berichtet für 1337 , dass die Juden in Deutschland die Auseinandersetzung zwischen Kaiser Ludwig IV. und dem Papst als Anzeichen für den Zusammenbruch des Reiches und das Ende des Christentums interpretierten. Da sie ihren Messias nun bald erwarteten , hätten sie einen Bund gegen die Christen geschlossen , „unterstanden sich dieselben mit Gift auszureuten , stahlen unser Sakrament des Leibes und Blutes Christi , warfen es in die Backöfen , schmiedeten es auf den Ambossen und trieben viel anderes Gespött damit.“57 Die Ereignisse um das Jahr 1240 weisen nach Yuval ebenfalls auf eine enge Beziehung zwischen jüdischer messianischer Hoffnung und christlicher Angst hin. Für jenes Jahr , das im jüdischen Kalender das Ende des fünften Mil­ lenniums markiert , erwarteten viele Juden den Anbruch der Erlösung. Ihre Hoffnungen wurden durch den Vormarsch der Mongolen bestärkt , denn diese Völker schienen die zehn verlorenen Stämme Israels zu sein , die auf dem Weg waren , ihre Brüder in Europa aus der Hand Edoms zu erretten. Die jüdische Messiaserwartung versetzte die Christen in Deutschland in Angst und Schrecken , identifizierten sie doch die mongolischen Nomaden ihrerseits mit den roten Juden , den Agenten der apokalyptischen Vernichtung. Die christlichen Ängste trugen offenbar zu einer antijüdischen Pogromstimmung bei. 1235 kam es an mehreren Orten , unter anderem im hessischen Fulda , zu Blutbeschuldigungen , infolge derer Kaiser Friedrich II. sich gezwungen sah , die Juden mit dem Privileg von 1236 , welches sie erstmals als Kammerknechte bezeichnet , vor der Feindschaft der Bevölkerung in Schutz zu nehmen. Außerdem mag das Pogrom in der Frankfurter Judengasse , das im Frühjahr 1240 hundertachtzig Juden das Leben kostete , mit der Niederlage der christlichen Heere gegen die Mongolen bei Liegnitz in Verbindung gestanden haben.58 Die charakteristische Synchronität jüdischer Hoffnung und christlicher Angst , die Yuval für das Mittelalter nachweist , lässt sich auch im 16. Jahrhundert beobachten , wie zwei Fälle aus den Jahren um 1530 zeigen. Es handelt sich den roten Juden , die sich im ausgehenden 13. Jahrhundert im deutschen Sprachraum entwickelte. In der christlichen Apokalyptik nahm das imaginäre Volk der roten Juden eine Hauptrolle im endzeitlichen Szenario ein : Es würde am Ende der Zeiten gemeinsam mit dem Antichrist die Gläubigen heimsuchen. Zur jüdischen Vorstellung von den roten Juden , die sich in Auseinandersetzung mit dem christlichen Begriff entwickelte , jetzt Voß 2011 , Kap. III. 1. 57 Aventinus 1926 , S. 175. 58 Dazu Yuval 2007 , Kap. VI. S. auch Burnett /  Gautier Dalché 1991.

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um die christlichen Reaktionen auf die jüdischen Kontakte des Augsburger Täuferführers Augustin Bader und seiner chiliastischen Sekte sowie um den Auftritt der beiden jüdischen messianischen Aktivisten David Re’uveni und Salomo Molcho in Regensburg. In beiden Fällen waren Maßnahmen gegen die Juden aus Angst vor der Rache des jüdischen Messias zu befürchten. So drohten den jüdischen Gemeinden in Schwaben infolge der Enthüllungen des Prozesses , der im Jahr 1530 gegen Bader und seine Getreuen geführt wurde , Verfolgungen.59 Als die vorderösterreichische Landesregierung im Januar 1530 die Gruppe um Bader in dem kleinen Weiler Lautern bei Ulm verhaftete , überzeugten die erstaunlich freimütigen Aussagen der Verhafteten in dem anschließenden Prozess die habsburgischen Landesherren schnell , dass sie eine großangelegte Verschwörung aufgedeckt hatten.60 Bader und seine Gefolgsleute sahen im Gerichtssaal offensichtlich ein Forum , die an Ostern jenes Jahres erwartete messianische „verenderung“ der Öffentlichkeit zu verkünden , und postulierten ganz offen Baders Berufung zum messianischen Königtum. Damit musste der Stuttgarter Regierung die politische Dimension des Falls schlagartig deutlich sein. Zudem hatte man bei Bader Krone , Zepter , Schwert und Dolch gefunden , unmissverständlich die Insignien eines zukünftigen Königs. Die kleine Gruppe aus Lautern wollte offenbar Erzherzog Ferdinand I. von Österreich stürzen und stattdessen ihrem Anführer Bader die Krone aufsetzen. Alarmiert reagierten die Obrigkeiten auch auf die scheinbare Beteiligung von Türken und Juden an der geplanten Erhebung. Die Juden wurden sogar als treibende Kraft hinter den aufständischen Täufern vermutet , die in der Tat jüdische Kontakte gepflegt hatten , die sowohl für die Formulierung ihrer messianischen Lehre als auch für die konkrete Umsetzung ihrer Pläne entscheidend gewesen waren.61 Durch die Aussagen der Beklagten , die den Eindruck erweckten , dass „allem anseen nach die gröst prakticken dieser erschrockenlichen handlungen 59 Zu Leben und Wirken Augustin Baders jetzt erstmals umfassend Anselm Schubert 2008 , der mit seiner Studie eine wichtige Lücke in der Täuferforschung schließt. Schubert kontextualisiert die Biographie Baders überdies im geistesgeschichtlichen Spannungsfeld von süddeutschem Täufertum und jüdischer messianischer Tradition. Einen Überblick über Baders Wirken bietet auch Packull 1977 , S. 130–138. Die Angaben zur Bader-Episode im Folgenden nach Schubert. 60 Die Prozessakten sind ediert bei Bossert 1912 / 13 und 1914. Ebenfalls abgedruckt bei ders. 1930 , S. 921–988 ; ein Teilabdruck der Urgichten in Laube 1992 , Bd. 2 , S. 984–996. 61 Ausführlich zur Bedeutung der Bader-Episode für den jüdischen Messianismus jetzt Voß 2011 , Kap. III. 3.

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von den Juden ausgeen vnd angericht sein möchten“,62 wurden altbekannte allgemeine Verdächtigungen zu einer konkreten , von Zeugen gestützten Anklage : die Juden als Feinde der Christenheit (gerade im Licht ihres subversiven Messianismus) , die Juden als Verbündete der Türken , geheime Absprachen zwischen Juden und Täufern.63 Nachdem die vorderösterreichische Regierung in Stuttgart König Ferdinand I. , der sich in Prag aufhielt , über die angeblichen jüdischen Hintermänner der Verschwörung informiert und zu hartem Durchgreifen geraten hatte ,64 ordnete die königliche Kanzlei in ihrem Antwortschreiben an , Bader insbesondere zu seinen jüdischen Kontakten durch „gutliche vnd peinliche handlung“ zu verhören , „damit die selbige Juden zu gefengnus pracht vnd die warhait irs furnemens aigentlichen erlernet werden mug“. Sie befahl , die Juden von Günzburg , Leipheim und Pfuhl zu verhaften , damit sie ihre Absichten geständen und „damit dan solh pose handlung andern zu ainem exempel ernstlich gestraft vnd darin nyemands verschont werde“.65 Auch der Schwäbische Bund , der Zusammenschluss der schwäbischen Reichsstädte und Territorialherren , reagierte auf die angeblichen Umtriebe der Juden. Die vermeintliche Kollaboration mit den Türken war auch hier der Aspekt des Falles , der auf dem Bundestag im Februar /  März 1530 in Augsburg für Unruhe sorgte. Der Augsburger Stadtschreiber und Humanist Konrad Peutinger fand in den Urgichten die Vorwürfe des Paktierens mit den Ungläubigen , der feindlichen Spionage und der finanziellen Unterstützung bestätigt , die im Jahr zuvor , als die Türken vor Wien standen , erhoben worden waren.66 Durch ein Gutachten Peutingers an den Stadtrat von Nördlingen ist auch der Plan überliefert , die Juden aus den Städten des Schwäbischen Bundes zu vertreiben oder zumindest die Siedlungsbedingungen zu verschärfen.67 Dieses Projekt , das die Bundesversammlung offenbar diskutierte , wurde jedoch nicht in den Bundesabschied aufgenommen. Auch enthält die Denkschrift gegen die Juden , die der Schwäbische Bund auf dem Reichstag vorlegte , den Vorwurf der jüdisch-türkischen Verbrüderung nicht , obwohl sie auf dem Gutachten Peutingers basiert.68

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Bossert 1914 , S. 52. Vgl. allgemein Fraenkel-Goldschmidt 2006 , S. 102 f. mit Anm. 120. Bossert 1914 , S. 52. Ebd. , S. 104. Zitiert bei Müller 1898 /  99 , S. 82 f. Ebd. , S. 83. Der Inhalt wird referiert ebd. , S. 83 ff.

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Es gibt keinen Hinweis , dass der Schwäbische Bund oder die königliche Kanzlei infolge der Episode Bader entsprechende Maßnahmen gegen ihre Juden ergriffen. Das bestätigt eine anonyme hebräische Chronik aus Prag : In allen Ländern wurde eine neue Anschuldigung gegen die Juden erhoben , eine , die sich nicht in der Thora findet , nämlich , dass sie den König [Ferdinand] für den König der Ismaeliten ausspionieren würden. Infolge dessen wurde der Plan gemacht , den Juden ihre Rechte zu nehmen , so dass sie einem Blutbad und der Vernichtung schutzlos ausgeliefert gewesen wären. Alle Landesherren beabsichtigten mit dem Einverständnis des Königs eine Vertreibung aus ihren ganzen Ländern durchzuführen. Aber Gott machte ihr böses Vorhaben zunichte.69

Dass die Bader-Episode letztlich so erstaunlich folgenlos für die Juden blieb , scheint maßgeblich dem Wirken Josels von Rosheim zu verdanken gewesen sein , dem es gelang , Kaiser Karl und seinen Bruder Ferdinand von der Haltlosigkeit der Beschuldigungen zu überzeugen.70 Zwei Jahre später scheint der Eindruck des Bader-Prozesses , der die öffentliche Wahrnehmung der beginnenden 1530er Jahre reichsweit stark prägte , immer noch nachgewirkt und die Argumente für eine Verhaftung David Re’uvenis und Salomo Molchos in Regensburg gestärkt zu haben.71 Zwar war die jüdische Gesandtschaft mit dem durchaus verlockenden Angebot nach 69 David 1984 , S. 9 , Nr. 34 ; englische Übersetzung unter demselben Titel 1993. Die Datierung der Ereignisse auf 1529 bezieht sich darauf , dass der Bader-Prozess , wie Peutinger bestätigt , die Vorwürfe scheinbar bewies , die in jenem Jahr erhoben worden waren. Zwar ist die jüdische Geschichte Oberschwabens für das Jahrzehnt von 1525 bis 1535 insgesamt schlecht dokumentiert , doch sind weder Verhaftungen belegt noch deutet etwas auf einen Kontinuitätsbruch in der Siedlungsgeschichte. Vgl. entsprechend Lang 2008 , S. 60. 70 Vgl. Josels Chronikeintrag für 1530 ; Fraenkel-Goldschmidt 2006 , S. 321 , Nr. 14. S. auch ebd. , S. 174 f. ; Stern 1959 , S. 80 ff. ; Schubert 2008 , S. 192 f. 71 Die Gründe für das Scheitern der beiden messianischen Aktivisten sind von Chava Fraenkel-Goldschmidt grundsätzlich geklärt worden ; Fraenkel-Goldschmidt 2006 , S. 192–197. Danach Lenowitz 1998 , S. 107. S. auch Aescoly 1993 , S. 172–183 (hebr. Seitenzählung) , und zur Konkretisierung einiger Zusammenhänge Voß 2011 , S. 174–181. Die wichtigste Studie zu Re’uveni und Molcho ist immer noch die kommentierte Quellensammlung von Aescoly 1993. Darauf basierend ders. 1987 , S. 273–301 , 357–436. Einen Überblick bieten auch Eliav-Feldon 1999 , S. 209–218 ; Lenowitz 1998 , S. 103–123 ; Silver 1927 , S. 145–150.

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Europa gekommen , den christlichen Kampf gegen die Türkengefahr mit jüdischen Truppen zu unterstützen , und hatte daher sogar noch am Tag zuvor eine Audienz bei Kaiser Karl V. erhalten. Aber wie konnte man den beiden Juden , die sich als Heerführer ausgaben , jetzt glauben , dass sie ihre jüdischen Armeen gegen die Osmanen , die ja nachweislich ihre Bundesgenossen waren , in die Schlacht führen wollten ? Man hatte im Reich sicherlich kaum vergessen , wie die vermeintlich jüdisch-türkische Allianz gegen die habsburgische Obrigkeit zwei Jahre zuvor aufgedeckt worden war. Allein die Nennung von Türken und Juden in demselben Zusammenhang musste nach dem BaderProzess unangenehme Assoziationen erwecken. Die Anschuldigung , die Juden seien mit dem Türken im Bunde , konnte 1532 kaum von einem mehr als zweifelhaften Angebot der jüdischen militärischen Unterstützung entkräftet werden.72 Die christlichen Wahrnehmungsmuster bestimmten auch die Handlungsoptionen des Josel von Rosheim , der 1532 anlässlich des Reichstags in Regensburg weilte.73 Mit dem Wissen um die potentiell fatalen Folgen der negativen christlichen Einstellung zur jüdischen Messiashoffnung , die die Episode Bader aktuell bewusst gemacht hatte , distanzierte er sich ausdrücklich von Molcho und verließ eilig die Stadt , als jener dort eintraf , „damit der Kaiser nicht sage , meine Hand sei bei diesem Unternehmen im Spiel“.74 Josel befürchtete zu Recht , dass die systematische Bewaffnung von Juden den Obrigkeiten verdächtig erscheinen musste und dies fürchterliche Folgen für die ohnehin schwierige Situation der jüdischen Gemeinden im Reich haben könnte. Schließlich hatte er sich erst kurz zuvor gegen drohende Repressalien infolge des Bader-Prozesses verwenden müssen. Josel wusste also unmittelbar um die möglichen Folgen von akuter jüdischer Messiashoffnung und messianischen Bewegungen angesichts ihrer Wahrnehmung in der christlichen Umwelt. Deshalb ordnete Josel seine eigene Erwartung der baldigen Erlösung seiner Sorge um das Wohlergehen der deutschen Judenheit unter und ließ sich in seinem 72 Dass die jüdisch-türkische Verbrüderung der Grund für die Verhaftung Re’uvenis und Molchos war , nehmen schon Feilchenfeld 1898 , S. 52 , 116 , und Stern 1959 , S. 111 , mit Verweis auf 1530 an. Danach Fraenkel-Goldschmidt in Josel von Rosheim 1970 , S. 67 (hebr. Seitenzählung). Die Anklage der jüdischen Türkenfreundschaft wurde auch in den folgenden Jahren immer wieder erhoben ; vgl. dies. 2006 , S. 173. 73 Schon Stern 1959 , S. 111 , hat allgemein den Vorwurf der jüdisch-türkischen Verbrüderung hinter Josels Standpunkt vermutet. 74 Fraenkel-Goldschmidt 1996 , S. 296 , Nr. 17.

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politischen Handeln von dem pragmatischen Bemühen um die Gefahrenabwehr leiten.75 Mitunter scheint man in der Führungsschicht der jüdischen Gemeinschaft in Zeiten messianischer Erregung Ausbrüche körperlicher Gewalt von Juden gegen Christen gefürchtet zu haben. Dies war zumindest die Sorge , die ein anonymer Kritiker hegte , der sich „von Norden her“ (im transalpinen Raum ?) mit scharfen Worten gegen den Propheten Ascher Lemlein wandte ,76 der um 1500 auf der Halbinsel Istrien an der nordöstlichen Adriaküste , wo die venezianischen Besitzungen und die Habsburger Lande aneinander stießen , die baldige Ankunft des Messias verkündete.77 Denn in der enthusiastischen Reaktion der Massen auf Lemleins Bußaufruf , der unter den Juden in ganz Mitteleuropa eine Umkehrbewegung ungekannten Ausmaßes auslöste , wurde die Macht deutlich , die der Prophet über seine Anhänger hatte. Darin lag ein beträchtliches Gefahrenpotential : Wenn Lemlein denselben Menschen , die nun zwei und drei Tage wöchentlich für die Erlösung fasteten , befehlen würde , „geht und kämpft den Kampf XY im Namen von XY !“, so würden die Einfältigen unter ihnen ihm blind gehorchen.78 Dies war keineswegs nur eine Metapher für Lemleins enormen Einfluss. Dahinter stand die konkrete Sorge um die soziale Sprengkraft , die sein Wirken barg. Vermutlich fürchteten Gemeindevorsteher und Rabbiner , die der messianischen Buße ambivalent gegenüber standen , nicht nur revolutionäre Tendenzen innerhalb der

75 Zu Josels bislang unbekannter Seite als apokalyptischer Denker jetzt Voß 2011 , Kap. III. 4. 76 Die scharfe Kritik an Lemlein ist indirekt durch die glühende Verteidigungsschrift überliefert , mit der ein Schüler Lemleins , Josef b. Ascher , darauf reagierte. Der lange unbeachtete Text ist in einer Sammelhandschrift erhalten , die um 1501 /  03 in Portogruaro im östlichen Venetien verfasst wurde ; Biblioteca de San Lorenzo , El Escorial , G-III–11 (= Institute of Microfilmed Hebrew Manuscripts , Jüdische Nationalbibliothek , Jerusalem , F 8837). Auf fol. 128r–129v (Fehlpaginierung , richtig 138r–139v) findet sich nur die erste Hälfte des Textes , während eine vollständige Kopie von anderer Hand auf fol. 131r–134v (richtig 141r–144v) eingefügt ist. Ich benutze letztere Version , hier fol. 131r (richtig 141r). 77 Erstmals umfassend zu der messianischen Bewegung Lemleins Voß 2011 , Kap. II. Grundsätzlich immer noch Aescoly 1987 , S. 271 f. , 329–334 ; Lenowitz 1998 , S. 99 f. ; Silver 1927 , S. 143 ff. Neuere Studien stammen von Campanini 2008 , und Benmelech 2006 , S. 47–57 , der ebenfalls die Handschrift aus Portogruaro auswertet. 78 Biblioteca de San Lorenzo , El Escorial , G-III–11 , fol. 131v (richtig 141v).

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jüdischen Gesellschaft und sahen damit die herrschende Ordnung bedroht.79 Das Bild des Kampfes und soldatischen Gehorsams , das der Kritiker des Propheten heraufbeschwört , verweist auf die sicherlich vorhandene und durchaus realistische Furcht , die messianische Hoffnung könne Gewalttätigkeiten gegen Christen provozieren. Die Rache an den christlichen Unterdrückern stellte schließlich einen wichtigen Teil der aschkenasischen Erlösungshoffnung dar. Außerdem hatte Lemlein als Wahrzeichen des Messias den Einsturz der christlichen Kirchen vorhergesagt , was leicht als ihre Zerstörung interpretiert werden konnte.80 Obwohl keine tätlichen Übergriffe belegt sind , barg die apokalyptische Massenbewegung zur Jahrhundertwende in jedem Fall die Gefahr , dass die Christen sie als Bedrohung interpretierten und sich dagegen zur Wehr setzten.81 Die einflussreichen Stereotype über den jüdischen Messias der Vergeltung verfestigten sich und entwickelten eine mächtige Eigendynamik in der christlichen Polemik. Sie wurden zur Metapher der jüdischen Niedertracht schlechthin und machten auf die Bedrohung aufmerksam , die die Juden für die christliche Gesellschaft darstellten.82 Eschatologische Ängste , die eigentlich dem Antichrist-Messias galten , wurden auf die zeitgenössischen Juden oder , 79 Ebd. , fol. 131v–132v (richtig 141v–142v). Vgl. auch die Chronik des Josef Sambari 1994 , S. 266 f. 80 Pfefferkorn 1508 ; abgedruckt bei Kirn 1989 , S. 219. Dieses Motiv ist im apokalyptischen Kontext nicht ungewöhnlich , vgl. z. B. Scholem 1992 , S. 289 f. Möglicherweise meinte Lemlein auch den baulichen Verfall der Gotteshäuser als eine Folge ihrer Verwaisung , wenn die Christen den wahren Messias erkennen und sich von Jesus abwenden würden. Vgl. dieselbe Formulierung , die Pfefferkorn an anderer Stelle benutzt : „Weyter werden sie [die Christen] saghen. wyr wellen mit euch geen vnnd vns auch eweren Messias vnterwurffyg machen. vnd man wyrt dan nit mer myt den glocken laeuten. noch meß halten nach Christlicher gewonhait vnd ordenung. Auch sollen alßdann alle kyrchen nyder vallen“; Pfefferkorn 1509a , fol. 14r (eigene Paginierung). 81 Inwieweit Christen sich von der jüdischen Buße bedroht fühlten , lässt sich mangels aussagekräftiger Quellen nicht sagen. In den überlieferten Texten der christlichen Beobachter steht eine ganz andere Auswirkung der von Lemlein ausgelösten Bußbewegung im Mittelpunkt der Betrachtung : Fast alle in Deutschland zirkulierenden Polemiken von Christen und Konvertiten , die über Ascher Lemlein berichten , verbinden die gescheiterte messianische Bewegung mit der Konversion zum christlichen Glauben. S. Carlebach 1998 , S. 7 f. ; dies. 2001 , S. 242 f. ; mit zusätzlichen Quellen Voß 2011 , S. 74–81. 82 Vgl. Carlebach 2000 , S. 335.

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in besonderen politischen Situationen , auf einzelne ihrer Vertreter übertragen. So setzt eine Flugschrift , die über die vermeintlichen Umstände des Todes von Michel von Derenburg im Jahre 1549 aufklärt , den verhassten jüdischen „Wucherer“ und Hoffaktor des Markgrafen von Brandenburg mit der Gestalt des ultimativ schlechten Juden , dem jüdischen Messias , gleich.83 Wie der jüdische Messias am Ende der Zeiten als Antichrist für kurze Zeit die von den Juden lang ersehnte Weltherrschaft erlangen wird , gelingt es dem Hofjuden Michel , seine christlichen Klienten zu beherrschen , indem er sie in seine finanzielle Abhängigkeit bringt. Letzten Endes jedoch setzt sich Gottes gerechtes Gericht durch. Michel stürzt eine Treppe hinab und bricht sich den Hals. Er scheitert , wie nach der christlichen Auffassung auch der jüdische Messias der Vergeltung scheitern wird. So kann das Böse nur kurzfristig über das Gute triumphieren und das obligatorische Happy End rückt das christliche Weltbild im metaphorischen wie im endzeitlichen Kontext wieder ins rechte Lot.

83 Von Michel Juden tode. Johannes Liechtenbergers prophecey. Meissen wirt heydentzen /  so wirt die Marck Judentzen /  vnd Golt fur Gott anbeten , [Magdeburg] 1549 , ist abgedruckt bei Aufgebauer 1984 , S. 394–399. Ausführlich zur Interpretation der apokalyptischen Motivik Voß 2011 , S. 43 ff.

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Victor von Carben. [1508] : Hier inne wirt gelesen wie Her Victor von Carben. Welicher eyn Rabi der Juden gewest ist zu Cristlichem glawbn komen. Weiter vindet man dar Jn. eyn Costliche disputatz eynes gelerten Cristen. vnd eyns gelerten Juden. dar inne alle Jrthumb der Juden durch yr aygen schrifft aufgelost werden , [Köln].

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Gewaltbewältigung in einem „Zeitalter der Gewalt“ Mittelalterliche Prophetie als Sprache politischen Krisenmanagements Felicitas Schmieder

Gewalterfahrungen sind in unseren gesellschaftlichen Diskursen allgegenwärtig , wenngleich unsere Gesellschaft generell stolz darauf ist , Gewalt diskreditiert und weitestgehend kanalisiert zu haben. Ganz anders gilt die Gesellschaft des lateineuropäischen „finsteren“ Mittelalters als besonders reich an sozial akzeptierter ungeordneter Gewalt. Zugleich aber ist sie besonders intensiv von Religion durchdrungen. Christliche Prophetie und Gewalt sind also zwei Phänomene , nach deren Beziehung im Mittelalter zu suchen sich lohnen sollte. Und in der Tat haben Prophetie und Gewalt (vornehmlich physische oder die Angst davor , legitim oder nicht , als willkürlich oder exzessiv empfunden oder nicht) im Mittelalter sehr viel miteinander zu tun. Zwei Einschränkungen vorab : Im Folgenden soll nicht die Gewalterfahrung und deren Bewältigung mit Hilfe von Prophetie bei Individuen interessieren (nicht zuletzt geben die Quellen dazu wohl zu wenig her). Sondern wir blicken auf große soziale Gruppen und deren Anführer als Akteure ebenso wie als Opfer von Gewalt. Zweitens soll hier aus der vielfältigen und breit gefächerten prophetisch-visionären Literatur die eschatologische Prophetie interessieren , das heißt diejenige , die sich mit dem bevorstehenden Ende der Welt , mit dem Jüngsten Gericht und mit der Bestrafung oder Belohnung menschlichen Handelns auseinandersetzt. Schließlich kann angesichts dichter Beispielüberlieferung und zugleich des Bedürfnisses , auf engem Raum über sprechende Einzelbeispiele hinauszugehen , nicht mehr als ein Überblick gegeben werden. Ich gehe dabei davon aus , dass erstens mittelalterliche Prophetie eine politische Sprache sein kann , derer sich zu Zwecken der Werbung (oft sogar Propaganda) bedient wird und die damit einem legitimatorisch-deutenden , man könnte auch sagen bewältigenden Diskurs angehört , und dass dabei die Benutzung eschatologischer Sprache einem Höchstmaß an notwendiger oder gewollter Emphase dient – dass sie deshalb in besonderen Krisenzeiten eingesetzt wird , aber zugleich nur wirken kann , weil sie im „alltäglichen“ Wissen religiös eingeübt ist. Auch wenn man sich vor dem gedanklichen Zirkel hüten sollte , scheint es so zu sein , dass eschatologische Erklärungen angeboten

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werden , wenn Gewalt als extensiv empfunden wird. Ich gehe zweitens davon aus , dass auf diesem Wege besonders Gewalt gegen oder seitens mittelalterlicher Herren und Völker oder Reiche (und auch anderer Korporationen , die gemeinschaftlich politisch handeln) diskreditiert bzw. gerechtfertigt werden kann. Bevor diese Annahmen im Rahmen der mittelalterlichen politischen Prophetie nachvollzogen werden , wird es notwendig sein , einerseits kurz die Frage der Allgegenwart von Gewalt im Mittelalter zu reflektieren (um zu verdeutlichen , in welchem Kontext die Anwendung vor allem physischer Gewalt als Option Teil mittelalterlicher sozialer und politischer Diskurse – und hier besonders des prophetischen – sein musste) und andererseits die Rolle von Gewalt in der christlichen Eschatologie generell zu beleuchten.

1. Prophetie als politische Sprache Das europäische Mittelalter war (und wollte sein) zutiefst christlich , und christliche Vorstellungen dominierten dementsprechend die gesamte Weltsicht , das Wertesystem der Gesellschaft sowie die Handlungsmuster der Menschen bis hin zur hohen Politik von Päpsten , Kaisern und Königen (dabei sei betont , dass „christlich“ nicht als zeitloser , sondern als von jeder Zeit eigens gefüllter Begriff zu verstehen ist). Der grundsätzliche Handlungsrahmen war dadurch gegeben , dass nach christlicher Überzeugung Gott die Welt geschaffen hat und sie eines Tages – am letzten , dem Jüngsten Tag – wieder vernichten wird. Für die Zwischenzeit zwischen Schöpfung und Jüngstem Tag , also die historische Periode , in der die Welt und die sterblichen Menschen existieren , bestimmt Gottes Plan die Weltgeschichte. Dieser Plan ist zwar für die Menschen nicht sichtbar , aber Gott hat Spuren gelegt , damit die Menschen den Plan in Teilen erkennen und ihm entsprechend handeln können. Die Christen haben ihre gottgegebenen und notwendigen Aufgaben in der Welt , sind aber auch mit freiem Willen ausgestattet , sich gut oder schlecht , richtig oder falsch zu verhalten1 – als Lohn stehen am Ende Erlösung oder ewige Verdammnis. Am letzten , dem Jüngsten Tag wird die Welt in Chaos und Zerstörung versinken und die Gerechten werden am „Tag des Zorns“ (lateinisch dies irae , Apok 6 , 17) in die ewige Seligkeit eingehen. Aus diesem Szenario geht sehr klar hervor , dass keineswegs – wie sehr oft fälschlich angenommen wird – mittelalterliches Denken und Handeln jen1

Eine Aufarbeitung der Lehre vom Freien Willen und möglichen Konsequenzen in der sozialen Praxis bei Fried 1985.

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seitsbezogen gewesen sind. Zwar bezog man intentional und nicht zuletzt legitimatorisch seine Handlungen auf eine heilsgeschichtlich vorbestimmte jenseitige Ewigkeit , doch die Handlungen selbst waren auf die Zeitspanne zwischen dem Heute und dem Ende aller Zeiten gerichtet : Mittelalterliche Menschen blickten nicht auf das Jenseits , sondern auf die Zeit , die ihnen bis dahin noch blieb. Und auch eschatologische prophetische Botschaften sind dementsprechend in den innerweltlichen Bereich und auf eine weitgehend selbst bestimmbare Zukunft gewandt , deren Zeit allerdings bemessen ist. Damit ist auch klar , weshalb es die Menschen im Mittelalter so wichtig nahmen , die von Gott gelegten Spuren seines Planes aufzufinden und richtig zu lesen. Der Tag und die Stunde des Weltendes sind demnach zwar ungewiss (so die sog. Synoptische oder Kleine Apokalypse Mt 24 , 36 , Mk 13 , 32) , doch kann man , so die Überzeugung , grundsätzlich herausfinden , in welchem Zustand sich die Menschheitsgeschichte gerade befindet , und daraus Konsequenzen ziehen. Gottes Spuren sind in erster Linie in der Bibel zu finden : vor allem im Alten Testament in den Prophezeiungen , die auf Jesus Christus und sein Leben , Sterben und Wiederkehren vorverweisen , im Neuen Testament mit Christi eigenen Vorhersagen zu den Eschata (den „letzten Dingen“) , mit deren Deutung vor allem durch Paulus , und last but not least mit der Offenbarung (griechisch „Apokalypse“) Gottes über die Endzeit. Die Schriften sind nicht wörtlich zu lesen , sondern moralisch und allegorisch zu verstehen und zu deuten , damit man die eigene Zeit , die eigene Gesellschaft und die eigenen politischen Verhältnisse darin wiedererkennen kann – um also herauszufinden , an welchem Zeit-Punkt man steht (nicht allein die im strengen Sinne prophetischen , sondern grundsätzlich alle biblischen Bücher und Episoden können so zum Verstehen der eigenen Gegenwart fruchtbar gemacht werden , eine biblische Hermeneutik , die sich vor allem im lateinischen Spätmittelalter verbreitet).2 Die Lehre von den letzten Dingen , die Eschatologie , verlangt höchste Kunst der Textauslegung. Die beste Interpretation ist die von Gott inspirierte , und so ist der Weg nicht weit zum Auftreten von neuen Propheten , die durch Gottes Eingebung zusätzlich Szenarien aus dem unmittelbaren Vorfeld der Endzeit sehen können , die an die biblischen Bilder anknüpfen 2

Grundlage ist die spätantike Lehre vom Vierfachen Schriftsinn der Bibel ; in ihrer Bedeutung für das christliche Mittelalter vgl. vor allem Ohly 1977. Ein großer Deuter der Bibel insgesamt für Vergangenheit , Gegenwart und Zukunft ist Joachim von Fiore , vgl. unten. S. aber auch zum engeren Thema der Gewaltbewältigung z. B. Rüther 2011.

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und helfen , die Gegenwart besser zu verstehen. Das wurde in der Geschichte umso wichtiger , je mehr Zeit seit der Kreuzigung Christi ins Land ging , je öfter deutlich wurde , dass man noch nicht richtig verstanden hatte , weil Erwartungen vom nahen Ende sich wiederholt nicht erfüllten. Die mittelalterlichen Menschen maßen eschatologischem Schrifttum auf unterschiedlichen Ebenen große , existentielle Bedeutung zu :3 Das jeweils eigene Leben stand unter dem allgegenwärtigen Imperativ des moralisch guten Handelns , denn das Ende stand bevor und konnte nahe sein. Um vorbereitet zu sein , wollte man wissen , wie nahe – und Aufrufe , das Leben besser zu gestalten und Buße zu tun , fielen unter diesem Vorzeichen auf fruchtbaren Boden. Eine ständige Vergewisserung christlicher Wertvorstellungen tat not und wurde von der Prophetie geleistet. Dies gilt grundsätzlich für alle Ebenen der Gesellschaft , vom Bettler bis zum Fürsten. Doch nach dem wohlbekannten biblischen Spruch , dass eher ein Kamel durchs Nadelöhr geht , als dass ein Reicher in den Himmel kommt (Mk 10 , 25) , waren die Großen dieser Welt besonderer Verbesserungsnotwendigkeit ausgesetzt. Und diese Großen mussten nicht nur ihr eigenes Leben an den Wertvorstellungen messen , sondern waren zugleich diejenigen , die den Gang der Weltgeschichte beeinflussen konnten. Ihr politisches Handeln stand in unmittelbarem Konnex zum rechten christlichen Handeln im Hinblick auf die Endzeit. Und so sind prophetische Schriften gerade an sie gerichtet worden , prangern sie immer wieder die aktuellen Verhältnisse der Welt an , um diese Herren zu beeinflussen und zum Handeln zu bewegen – bis hin zu konkreten politischen Handlungsanweisungen , die sich in den Prophetien finden lassen und die durchaus Aufrufe zur Gewaltanwendung gegen falschgläubige Minderheiten , mächtige äußere und politisch falsch handelnde innere Gegner sein konnten. Dabei konnte es nicht ausbleiben , dass Prophetien in Auftrag gegeben wurden , um bestimmte politische Ziele zu unterstützen und zu propagieren. Die Nutzung von Auftragsarbeiten widerspricht nicht dem Glauben an die Wahrheit der Aussagen.4 Weil Prophetie möglich war , gab es Menschen , die diese Gabe Gottes besaßen – die aber nicht ungestraft damit spielen 3

4

Zum Einfluss , ja der „Macht der Prophetie“ vgl. Lerner 1983 ; dazu die Altmeisterin Marjorie Reeves (Reeves 1969) ; und unter der Fragestellung des Einsatzes der Sammelband Verbeke /  Verhelst /  Welkenhuysen 1988 (ohne dass hier die Sinnhaftigkeit der Unterscheidung Benutzung und Missbrauch näher diskutiert werden kann). Schmieder 2008a.

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konnten. Wenn ein wahrer Prophet (denn dass es falsche Propheten geben konnte , sah man und berücksichtigte man kritisch) eine bestimmte Richtung zu unterstützen bereit war , dann deshalb , weil Gott ihn deren Wahrheit hatte sehen lassen. Wegen dieses göttlichen Impetus lesen sich diese Prophetien meist nicht als einfache , für uns ohne Weiteres als solche erkennbare politische Programme , sondern die Texte kommen höchst allegorisch und geheimnisvoll daher , sind ihrerseits interpretationsbedürftig (denn die echte , von Gott inspirierte Prophezeiung spricht nicht in einfachen menschlichen Sätzen , sondern ist Spiegel der unendlich viel komplexeren Wahrheit Gottes). Sie richtig zu deuten , verlangt wiederum höchste Kunst der Exegese und zudem eben göttliche Begnadung und kann dennoch nicht zu absolut sicheren Ergebnissen führen , weil der Mensch irrt. Doch wird hier eine Spannung erzeugt , die überzeugenden Deutern vor allem in Krisenzeiten hohen Einfluss auf soziale Bewegungen ebenso wie auf höchste politische Kreise verschaffte. Eine eigene Sprache ist so entstanden , ein Code nicht nur moralischer und allgemein-gesellschaftlicher , sondern zutiefst politischer Kommunikation , in dem sich die Zeitgenossen Kritik und Zustimmung , Warnungen und Ermahnungen signalisieren konnten , in dem die existentiellen Werthaltungen der Zeit ausgedrückt wurden. Prophetische Sprache ist somit politische Sprache , prophetische Predigt ist Sprache von Propaganda. Das ist sie allerdings nur deshalb , weil ihr Verständnis so allgemein und sie selbst so allgegenwärtig und allseits akzeptiert ist , dass sie sowohl revolutionären Veränderungen ihre Stimme leihen wie das System stabilisieren kann. Bei all diesen Wirkungsmöglichkeiten der Eschatologie ist es wichtig , sie nicht zu reduzieren auf ein Werkzeug oder ein Mittel politischer Propaganda oder eine Sprache der Revolution. Doch konnte sie im Mittelalter all das sein , konnte sie in Krisenzeiten als Bewältigungsstrategie von Gefahr , Angst , Gewalterwartungen oder -erfahrungen dienen , weil sie auch in normalen Zeiten präsent war : Wäre sie das nicht gewesen , hätte niemand diese Sprache in den außerordentlichen Zeiten , die oft mehrere Generationen auseinanderlagen , verstanden. Das Vokabular der Sprache musste bekannt sein und beständig in der Gesellschaft eingeübt werden (allerdings geschah das in unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und auf unterschiedlichen Bildungsebenen in unterschiedlichem Maße und in unterschiedlicher sprachlicher Komplexität). Und der Vokabeln , der eschatologischen Ideen , Bilder , Figuren , Erwartungen und Befürchtungen , derer man sich bedienen konnte , gab es genug – Sprachbilder ebenso wie konkrete Abbildungen , die wir noch heute in den Altarräumen der mittelalterlichen Kirchen und vor allem an den Tym-

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pana der Kirchenportale bewundern , von denen sich vor allem letztere an eine ganz allgemeine christliche Öffentlichkeit wandten , weil sie von jedem Christen beim regelmäßigen Kirchgang , bei Gerichts„sitzungen“ vor dem Kirchenportal und oft sogar bei jedem Marktgang gesehen werden konnten und in der Liturgie und in Predigten immer wieder zur Sprache kamen. Der entscheidende Punkt an diesem prophetischen Vokabular ist die auf den ersten Blick banale Tatsache , dass es sich mit der Zukunft beschäftigt : In der Zukunft kann sich all das erfüllen , was in der Gegenwart nicht gelingt , kann alles ausgeglichen werden , was in der Gegenwart ungerecht erscheint , kann alles gerächt werden , was man in der Gegenwart zu erdulden hat. Prophezeiungen können , müssen aber dementsprechend auch aktuelle Fragen aufgreifen , und während jede andere Propaganda Lösungen nur versprechen kann , kann die Prophetie – weil sie sich mit der Zukunft beschäftigt – Probleme lösen. Wenn das prophetische Ideengut dann noch in den bestimmten , jenseits der individuellen Hoffnungen und Ängste verorteten religiösen Rahmen gegossen ist und damit eine überindividuelle Verlässlichkeit gewinnt , dann kann es zu einer massiv in die Gegenwart zurückwirkenden Quelle von Selbstbewusstsein und zumindest von Leidensfähigkeit werden – ja , das Leiden , die Ungerechtigkeit von Seiten einer Mehrheitsgesellschaft , die Verfolgung können geradezu zum Ausweis von Auserwähltsein werden und kollektive Identität stiften : Ein Phänomen , das wir aus den drei großen monotheistischen Weltreligionen vor allem für religiöse Randgruppen bis heute kennen. Doch nicht allein am Rande der Gesellschaft – sei dieser nun religiös oder sozial definiert – kann vorhandenes prophetisches Gedankengut aufgegriffen und entsprechend ausgebaut werden. Jegliche aktuelle Krisensituation kann auch von jeglicher weiteren Gesellschaft prophetisch bewältigt werden – vor allem , wenn diese Gewalt ausgesetzt ist oder selbst (gegen Randgruppen oder im Krieg) ausübt.

2. Das Mittelalter als ‚Zeitalter der Gewalt‘? Es wurden nun schon zahlreiche Ansatzmöglichkeiten für Gewalt deutlich. Doch ein Problem des Begriffes „Gewalt“, das bislang ganz ausgeblendet wurde , ist seine Zeitgebundenheit. Gewalt muss im Folgenden deshalb für das Mittelalter  wenngleich nicht definiert , so doch handhabbar gemacht und problemorientiert von modernen selbstverständlichen Assoziationen abgehoben werden. Denn Gewalt ist kein absoluter Begriff  und schon gar keiner , der historisch eindeutig wäre und deshalb ohne weiteres kultur- und epochenüber-

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greifend benutzt werden könnte , auch wenn das in der Mediävistik nach wie vor regelmäßig geschieht :5 Man sucht nach Vokabeln wie violentia , vis oder auch gewalt , ohne im Einzelnen zu reflektieren , was ein mittelalterlicher Autor damit gemeint und ein Leser oder Hörer assoziiert hat , oder man sucht nach Akten der Gewalt , die wir als solche bezeichnen würden , ohne zu überprüfen , ob das im Mittelalter auch so gewesen wäre. Ich kann an dieser Stelle die systematische Aufarbeitung dieser Defizite nicht leisten , und ich möchte auch , bei aller Anachronismusgefahr , Gewalt in einer modernen Weise verstehen. Da ich mit den prophetischen Texten allerdings in erster Linie auf exzessive physische Gewalt , die Verwüstung , Verstümmelung und Tod zur Folge hat , sowie auf die vermutliche Angst davor blicke , die bewältigt werden mussten , sollten die Überschneidungen zwischen modernen und mittelalterlichen Vorstellungen noch am größten sein. Hinzu kommt für die Gewaltforschung hierzulande ein spezifisches Problem der deutschen Sprache , in die vor allem lateinische Worte übersetzt werden (ein Problem , das zum Beispiel das Englische oder Französische nicht teilt). Gewalt kann im Deutschen legale Gewalt heißen und hat dann einen positiven , wenngleich immer noch strengen Klang (wie in Staatsgewalt) , lateinisch am ehesten potestas. Dasselbe Wort kann aber auch illegale oder die engen Grenzen , die wir ihrer Legalität setzen , überschreitende Gewalt bedeuten (lateinisch am ehesten violentia oder vis , mit oft sehr unterschiedlichen Bedeutungsnuancen) und ist dann fast immer als mit körperlichem oder seelischem Schmerzempfinden einhergehend gedacht , mit Angst vor mehr oder Schlimmerem und einem Gefühl von Hilflosigkeit , vereint mit dem Wunsch nach Abhilfe , zumindest aber mit Zwang zu etwas , das man nicht will. Gewalt kann in dauerhafter körperlicher Schädigung enden (wenn nicht mit dem Tod) , Gewalt ist in jedem Fall ein Gegensatz von Freiheit , von freier Entfaltung der Persönlichkeit auch über das Maß hinaus , das wir zur Erhaltung des gesellschaftlichen Friedens der Freiheit der anderen zu opfern bereit sind. Wenn wir mit diesen Vorstellungen im Kopf vom Mittelalter als ‚Zeitalter der Gewalt‘ reden ,6 dann meinen wir die Allgegenwart von Gewalt aus 5

Wirklich überzeugende Auseinandersetzungen mit dem modernen Wahrnehmungsproblem und der entsprechenden Definition mittelalterlicher Gewalt gibt es eher selten – und wenn , dann nur in Ansätzen. Die einschlägigen Werke sind in jüngster Zeit wie auch für andere Epochen durchaus mehr geworden : Kagay /  Villalon 1998 ; Kaiser 2002 ; Kaeuper 2002 ; Braun /  Herberichs 2005. 6 Ich sehe bewusst davon ab , hier den Definitionsversuch des Mittelalters (seit

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verschiedensten Quellen und pflegen den Verdacht , dass sogar die legal Herrschenden nicht schützten , sondern willkürlich Gewalt ausübten (willkürlich in dem Sinne , dass jeder versucht , seinen Willen , ja seine Launen durchzusetzen) :7 Gewalt hätte demnach im Mittelalter jeden betroffen , und jeder , ob hochstehend , ganz unten oder an den Rändern der Gesellschaft verortet , hätte im Grunde beständig in der Furcht leben müssen , Gewalttätigkeiten ausgesetzt zu sein , und wäre schon allein deshalb ständig bereit gewesen , seinerseits Gewalt auszuüben. Der Mediävist wird dieses Bild zunächst dahingehend zurechtrücken müssen , dass unser Eindruck von der Uneinschätzbarkeit potentieller Gewalt aus unseren ganz anderen Verhältnissen entspringt : Der Staat beansprucht heute ein Gewaltmonopol , das wir ihm auch zugestehen , weil er uns damit schützt vor eben jener willkürlich-beliebigen Gewalt , die wir im Mittelalter wahrzunehmen glauben. Dementsprechend ist staatliche Gewalt legal und alle andere Gewalt grundsätzlich illegal. Selbst dem Staat gestehen wir heutzutage nicht mehr das Recht über Leben und Tod zu , wenn man von (Verteidigungs-) Kriegen absieht. Die Tatsache , dass es so etwas wie ein Gewaltmonopol im Mittelalter nicht gab und zudem keine Institution , die es hätte beanspruchen können , weil sie in der Lage gewesen wäre , ihrer daraus resultierenden Schutzverpflichtung nachzukommen , bestimmt unseren Eindruck von dieser Epoche : Selbst wenn wir uns sagen , dass die Menschen damals sehr viel besser jegliche potentielle Gewalt einschätzen konnten , haben wir beim Blick auf das Mittelalter das sicherlich in dieser Form nicht zeitgemäße Gefühl diffuser , allgegenwärtiger , überraschend und praktisch ständig auf uns zukommender Gewalt. Andererseits ist der Eindruck , dass Gewalt als Option und als Realität sehr viel verbreiteter war als heute , sicher auch nicht völlig falsch. In einer Gesellschaft , in der bestimmte Formen der Gewaltausübung hohe soziale Reputa-

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dem 11. Jahrhundert) als persecuting society zu verfolgen , vgl. Moore 1987 ; auch Nirenberg 1996. Über die mehr oder weniger populären Vorstellungen , die sich mit dem „finsteren Mittelalter“ verbinden , gibt es inzwischen erinnerungskulturelle Forschungen , vgl. nur Groebner 2011 und grundsätzlich Oexle 2009. Nur eine innerwissenschaftliche Debatte über die Frage , wie sich unser Blick auf die „Herrengewalt“ entwickelte , findet sich um Otto Brunners Klassiker zu „Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter“ (Brunner 1939) ; vgl. Algazi 1996 und stellvertretend die Rezension von Sigrid Schmitt (Schmitt 2000).

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tion genossen , in der Adelige auf ihrem Fehderecht bestanden , zudem sehr lange und sehr weitgehend auch Gerichtsurteile von den siegreichen Parteien selbst exekutiert werden mussten (weil eben die staatliche Exekutive nicht existierte) , war allein schon legale Gewalt – ausgeübt wie auch erlitten – tatsächlich stärker ins Leben der Menschen involviert , als wir das für unser Leben gewöhnt sind. Zudem scheint die Gewalt auch größere Brutalität angenommen zu haben : Ein Gerichtsurteil wurde ggf. mit einer Fehde exekutiert , bei der man (nicht immer , aber oft genug) mit Waffen aufeinander einschlug , eine Tötung wurde durch reziproke Tötung des Täters geahndet (auch wenn mittelalterliche Bußkataloge schon sehr früh versuchten , hier Ersatzleistungen durchzusetzen) , und verstümmelnde Körperstrafen sind noch seitens der ersten spätmittelalterlichen Exekutivorgane (vor allem in den Städten) vollkommen üblich – vermutlich , weil man angesichts vieler Gewaltakteure seitens der legalen Gewalt und auch seitens des Gerechtigkeitsgefühls auf Abschreckung und auf das biblische „Auge um Auge , Zahn um Zahn“ setzte (2. Mose 21 , 23–25). Wenn wir aber konstatieren müssen , dass die Definitionen von legaler Gewalt und die Umstände von Gewaltausübung im Mittelalter grundsätzlich andere waren als heute , dann ist die oben gestellte Frage , was die Menschen als Gewalt empfunden haben und wo die Grenze dazu erreicht war , dass die Erwartung und das Erleiden von Gewalt ihnen unerträglich wurde , Gewalt also als exzessiv und traumatisierend betrachtet wurde , fast unbeantwortbar. Keinesfalls dürfen wir jedenfalls davon ausgehen , dass man „legale“ Gewalt ohne Weiteres akzeptierte , „illegale“ Gewalt aber unausstehlich fand , oder dass sich gar jede Form und Stufe von Gewaltempfindung mit denselben Reaktionen und sogar Gefühlen wie bei uns verband (man könnte zu der psychologischen Frage kommen , ob man Gewalt weniger stark empfindet , wenn man sie regelmäßiger erleidet oder zumindest beobachtet – ob also Menschen unter solchen Umständen weniger empfindlich sind und dementsprechend Dinge , die wir als Gewalt bestimmen würden , gar nicht in diese Kategorie einordnen würden). Man kann aber suchen , wann in unseren Quellen deutlich wird , dass sich die mittelalterlichen Menschen gewalttätigem Zwang ausgesetzt sahen , den sie erdulden mussten , gegen den sie auf Abhilfe hofften oder gegen den sie sich durch Gegengewalt zur Wehr setzten , man kann generell nach Gewaltbefürchtung und Gewaltbewältigung auch im Sinne eines emotionalpsychischen Verkraftens fragen. Wie also gingen im Mittelalter nicht Individuen , sondern soziale Einheiten mit der erwarteterweise auf sie zukommenden Gewalt um , wie ordneten sie sie nicht im alltäglichen Leben , sondern

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auf der politischen Ebene ein , im Umgang von Herrschenden miteinander , im Aufeinanderstoßen von Völkern aufeinander , wie erklärten sich größere Gruppen , dass die Welt plötzlich aus den Fugen geriet , wenn unerwartet von Menschenhand (oder auch als Naturgewalt) über sie Gewalt hereinbrach?

3. Gewalt in der eschatologischen Prophetie8 Wenn wir uns dazu nun auf die prophetische Ebene begeben , so ist vorab die Rolle von Gewalt im eschatologischen Schrifttum allgemein zu klären. Und hier muss man sich klar machen , dass am brutalsten in unserem und vermutlich auch dem mittelalterlichen Sinne einer vorgeht , dessen Gewalt„monopol“ oder eher dessen allgemeines und einzigartiges Recht , Gewalt auszuüben , niemand bestritt : Gott. Er hat die Sünden der Welt als so schwerwiegend eingeschätzt , dass er seinen eigenen Sohn auf eine Weise hat zu Tode kommen lassen , die uns grausam vorkommt und die (das war ganz sicher auch den Menschen im Mittelalter klar) höchst schmerzhaft war. Nur exzessiver Schmerz und Blutvergießen kann von Sünden reinwaschen , und so schickt Gott Hunger , Krankheit und Tod , um Sünder zu mahnen und zu bestrafen , er lässt Heuschrecken oder Stürme die Ernte vernichten , er schickt Seuchen , die die Menschen in Scharen dahinraffen , er schickt fremde Völker , um das Christenvolk auch schon lange vor dem endgültigen Ende gewaltsam auf den rechten Pfad zurückzuführen – und er wird all das in vielfach gesteigerter Form zum Ende der Welt wieder tun , denn er weiß von vornherein , dass selbst all diese Gewalttätigkeiten nicht helfen werden und er die Welt am Ende in Steinhagel und Feuerstürmen wird untergehen lassen und die wenigen Gerechten in die ewige Seligkeit aufnehmen müssen. Man kann vermuten , dass alles Vorstellbare an finaler Gewalt und Qualen , denen die Menschen wehrlos ausgeliefert sind , in Gottes Ankündigungen für dieses Ende vorkommt. Die bereits erwähnten Bilder des Jüngsten Gerichts an Kirchenwänden , -portalen , -fenstern oder auf Buchseiten schwelgen oft geradezu in der Darstellung körperlicher Schmerzzufügung und -empfindung. 8

Im Folgenden werden eine ganze Reihe von Traditionen angesprochen werden , die mittelalterlich ebenso wie in der Forschung zum Teil erhebliche Ausbreitung gefunden haben. Der Anmerkungsapparat versteht sich nicht als Literaturbericht , sondern versucht , die zentralen einschlägigen Titel ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit , manchmal sogar Repräsentativität zusammenzustellen.

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Der Urtext dafür ist die „Apokalypse“ Johannis , die „Offenbarung“, die Gott durch seinen Engel dem Apostel Johannes auf der Insel Patmos hat zukommen lassen , damit er sie an die frühen christlichen Gemeinden weitergebe. Es geht darin um unabwendbare zukünftige Ereignisse , wenn der rächende Gott mit dem scharfen , zweischneidigen Schwert kommt , um Gericht zu halten , das die Völker der Welt heulen lässt. Auf diese Ereignisse konnten sich die angesprochenen Christen dahingehend einstellen , dass sie in der verbleibenden Zeit ihr Leben noch änderten : Denn der eigentliche Zweck der Offenbarung ist diese Wendung an die treuen Gemeinden , denen explizite Besserungen auferlegt werden , denen sie nachkommen müssen , wenn sie nicht bestraft werden wollen , für deren Umsetzung aber als Belohnung das ewige Paradies , die Krone des Lebens versprochen wird. Auch hier also das Augenmerk auf die verbleibende Zeit. Zudem ist das Ende der Welt nicht zwingend etwas , das man befürchten muss , sondern es kann auch erhofft werden , vor allem von Gruppen , die für sich selbst davon Erlösung erwarten können. Ganz offensichtlich kannte Gott seine Pappenheimer : Strafandrohung oder Belohnung allein würde nichts helfen , und dieser Geist der doppelten Zukunftsaussicht steht auch hinter jeglichem Apokalypse-Tympanon und jeglicher eschatologischen Prophetie. Die Belohnung gibt es auch für Standhaftigkeit angesichts von Anfeindungen , Ungerechtigkeiten , Gewalttätigkeiten , die das Volk Gottes erleiden muss und für die die Rache Gottes in vielfacher Verschärfung versprochen wird : In letzter Konsequenz ist die Apokalypse die Ankündigung der Rache für Christi brutale Tötung , aber auch für alles , was Menschen um Christi willen erleiden müssen. Die Gerechten rufen danach , dass Gott ihr vergossenes Blut endlich rächen solle (Apok 6 , 10) , im Angesicht Gottes werden die stehen , die aus großer Trübsal kommen (Apok 7 , 14) , und andere Stellen mehr ließen sich anführen. Immer wieder geht es um ausgleichende Gerechtigkeit und damit auch um ein tröstendes Versprechen an die Menschen , dass Gott keine Ungerechtigkeit ungerächt lassen wird , dass keine unrechte Gewalt übersehen werden wird bei der großen Abrechnung. Und wieder geht es auch in der Apokalypse nicht allein um das Ende , sondern auch um die Zeit (lange) davor , in der Gewalt erduldet werden muss. Zudem ist eigentlich erneut die alttestamentliche Warnung eingeschärft , dass Gott die Rache für sich reserviert habe (nach 5. Mose 32 , 35) , doch bedarf das je länger , desto mehr eben der Geduld von Heiligen , nicht von normalen Menschen. Und auch wenn es Prophezeiungen gibt , die Geduld anmahnen ,9 9

Ein Beispiel , bei dem Joachim von Fiore († 1202) in konkretem politischem Kon-

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ist deshalb im prophetisch-eschatologischen Szenario durchaus auch Gegenwehr vorgesehen. In der Forschung wurde vorgeschlagen , bei den Propheten zwischen Reformern und Revolutionären zu unterscheiden , die der existierenden Welt im Falle der Besserung eine Chance gäben bzw. sie möglichst rasch verändert sehen wollten und entsprechende Handlungsoptionen der betroffenen Menschen propagierten10 – zwei Extreme , zwischen denen es wie immer Übergangsformen gab , die aber durch den vorgegebenen zukünftig-apokalyptischen Rahmen tatsächlich extrem durchgedacht werden konnten. In der „Apokalypse“ selbst ist die Rache Sache Gottes , nicht der Menschen , doch schon da kommen von Gott gesandte schreckliche Völker , Gog und Magog , über die Menschheit , und seit dem Alten Testament gibt es genügend Fälle , in denen Menschen Werkzeug Gottes sein konnten , um Sünder zu bestrafen. Da liegt der Gedanke nahe , dass Gott nicht nur Heiden als Werkzeug benutzt , sondern dass er auch Christen mit Aufgaben im finalen Zusammenhang betrauen kann : Immer noch Werkzeuge , die sich aber bewusst für die gute Sache einsetzen lassen. Solche Figuren sind Ursache für die nach-biblischen prophetisch-eschatologischen Überlegungen , solche guten Helden der Endzeit ziehen das Rachewerk in die Welt und geben dem menschlichen Bedürfnis , selber zurückzuschlagen , Identifikationsfiguren an die Hand. Derartige neue Prophetien entstehen meist in Zeiten , die als existentiell krisenhaft empfunden werden und sind mehr oder weniger direkt an die biblischen Vorläufer angebunden , um diese noch brauchbarer für die Gegenwartsdeutung zu machen. Denn mit den Helden der Endzeit , Einzelne wie Gruppen , sind Rollen geschaffen , in die ein Herrscher oder ein Volk schlüpfen konnte , in denen er bzw. es sich selbst propagandistisch aufbauen konnte zum verlängerten Arm Gottes – oder aber umgekehrt den Gegner zu einem bösen Gegenpart jenes guten Helden stilisieren konnte. Besonders erfolgreich in der Etablierung einer guten Identifikationsfigur war die in vielen Ausdifferenzierungen seit dem frühen Mittelalter entwickelte Legende vom Endkaiser.11 Ihren Ausgang nimmt sie bei der extrem verbreiteten und wirkmächtigen Offenbarung des sogenannten Pseudo-Methodius.12 Sie text von der Anwendung von Gewalt abrät und zur Geduld mahnt : Schmieder 2006a. 10 Cohn 1961 ; Daniel 2002. 11 Möhring 2000 ; für das Spätmittelalter angesichts zahlloser unedierter (teilweise wohl auch noch unbekannter) Texte ergänzungsbedürftig. 12 Ps.-Methodius 1898. Zum Wandern von Ost nach West s. Alexander 1971.

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entstand wohl im vom aufkommenden Islam bedrängten Syrien im 7. Jahrhundert und reicherte die biblische Vorstellung vom Auftreten eines Anti-Christ , der schlussendlich von Christus besiegt wird , folgendermaßen an : Die Söhne Ismaels werden über das christliche Reich hereinbrechen und viel Unheil anrichten. Dann erhebt sich ein letzter und mächtiger König (der Griechen /  Römer) und besiegt die Eindringlinge , zieht nach Jerusalem und legt seine Krone und seinen Schild auf Golgatha nieder. Anschließend öffnen sich die Pforten des Nordens und die fürchterlichen Völker Gog und Magog (Apok 20) , die Helfer Antichrists , erscheinen. Antichrist tritt im Tempel von Jerusalem auf und verführt die Menschen , selbst die Auserwählten – und nun erscheint Christus ein zweites Mal auf der Erde und Antichrist wird zerschmettert. Die Prophezeiung des Pseudo-Methodius entstand aus sehr konkretem Anlass. Gog und Magog waren immer wieder vor allem mit plötzlich , wie aus dem Nichts , auftauchenden Steppenvölkern identifiziert worden ,13 im Vorderen Orient vor allem mit jenen , die von nördlich des Kaukasus hereinzubrechen drohten.14 Und sie brachten das Ende , während der PseudoMethodius Hoffnung auf Besserung in der Zeit nach dem Einfall erwecken wollte. Seine deshalb neu eingeführten Ismaeliten sind die neue Macht , die im 7. Jahrhundert im Vorderen Orient christliche Herrschaft vernichtete , die Muslime – sein letzter König /  Kaiser der Griechen und Römer personifiziert die Hoffnung zumindest der „orthodoxen“ christlichen Kreise der Region auf Entsatz aus Byzanz. Während die Rolle der Ismaeliten während des gesamten Mittelalters angesichts bleibender Bedrohungsgefühle grundsätzlich mit den Muslimen besetzt blieb , hatte Pseudo-Methodius , der im 8. Jahrhundert ins Lateinische übersetzt wurde , mit dem letzten König der Griechen und Römer eine Figur ins endzeitliche Szenario eingeführt , der eine beispiellose Karriere bestimmt war , weil sie entkontextualisiert und in anderen Zeiten und Weltgegenden fruchtbar interpretiert werden konnte. Nicht zuletzt lassen sich ein solcher Held oder auch heldenhafte , nicht selten erduldende Völker sowie deren Gegner vermehrfachen , wenn die Geschichte voranschreitet und vor allem die Geschichte der prophetischen Deutungen eine immer längere Kette von in der Rückschau doch noch nicht zum Ende führenden Ereignissen und Personen aufgereiht hat. Christus als der letztendliche Sieger im Endzeitszenario ist problematisch als realweltliche Identifikationsfigur (obgleich auch das an den östlichen Rändern des lateinischen Westens im 13 Brandes 2012 ; vgl. auch Wieser vorauss. 2013. 14 Schmidt 2008.

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15. Jahrhundert möglich wurde) ,15 Kaiser hingegen – auch gute und schlechte im Wechsel – können als dynastische Genealogie auftreten ,16 und mehrere Antichriste sind bereits in der Bibel angelegt. Alle endzeitlichen Anführer , ob gut oder böse , üben exzessive Gewalt aus und tragen letztlich bei zur Vernichtung der Welt. Denn es wird eine Geschichte von gewaltsam ausgetragenen , in sich zusammenhängenden und auf das prophezeite apokalyptische Ziel hinauslaufenden Gegnerschaften geschrieben , die nicht allein den Eindruck , dass es gerade in jüngerer Zeit immer schlimmer geworden ist und dass die Verdichtung der endzeitlichen tribulationes , der auf das nahe Ende deutenden Bedrängnisse , eingesetzt habe , wiederzugeben scheint und diesen Eindruck ihrerseits aufbauen und antreiben kann , sondern die auch eine Geschichte zahlloser und immer häufigerer Schlachten auf dem Weg zur großen Endzeitschlacht (H)armagedon (Apok 16 , 16) ist. In dieser Geschichte von übermächtigen Gegnern lassen sich Niederlagen rechtfertigen und sogar als Siege darstellen , lässt sich die eigene Gewaltanwendung legitimieren. Um dieses Legitimationsszenario aufbauen zu können , muss die Jetztzeit in ein enges Verhältnis zur Endzeit gesetzt werden , und das geschieht am einfachsten , indem man Figuren der Endzeit in der Jetztzeit wiedererkennt. Schon allein weil Zeit für Gott eine andere Dimension hat als für die Menschen , gibt es keine klaren Abstände zwischen dem Auftreten der einen oder anderen Figur der Endzeit und kann sogar Antichrist erkannt werden. Dies muss , kann aber nicht bedeuten , dass das Ende unmittelbar vor der Tür steht. Und so sind derartige Interpretationen in der Geschichte des lateinischen Hoch- und Spätmittelalters immer wieder vorgenommen worden und haben immer wieder krisenhafte Situationen zumindest erklären , oft mit Lösungsvorschlägen diskutieren können.

4. Eschatologische Prophezeiungen des lateinischen Mittelalters und das Thema Gewalt Wenn es lebensbedrohliche Krisen zu bewältigen gibt , ist das ein Anreiz für Prophetie , dies gilt auch für die lateineuropäische Prophetiegeschich15 Vgl. unten bei Anm. 39. 16 So die im 11. Jahrhundert belebte , scheinbar aus der Antike überlieferte Sibylla Tiburtina (Holdenried 2006) , oder die Konstruktionen des Johannes von Rupescissa im 14. , der eine Dynastie je des Endkaisers und des Antichrist kennt (Schmieder 2008b).

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te – wie man an ihrem Ablauf beobachten kann , der im Folgenden äußerst knapp gezeichnet werden soll unter dem Aspekt der beispielhaften Vorstellung unterschiedlicher Arten politischer externer und interner Gewalt und ihrer prophetischen Bewältigung. Während man sich im frühmittelalterlichen (nach-„völkerwanderungszeitlichen“) lateinischen Westen jahrhundertelang mit gelehrten Deutungen biblischer Prophetien und mit der in diesem Zusammenhang wichtigen Zeitberechnung beschäftigte – immerhin mit dem Ergebnis , dass Karl der Große am ersten Tag des 7. und letzten Jahrtausends nach der Berechnung des Kirchenvaters Hieronymus zum Kaiser gekrönt wurde17 – , entstanden neue Prophetien im wesentlich stärker unter gewalttätigen Umwälzungen leidenden syrischen und griechischen Osten (in christlichen ebenso wie in jüdischen und dann auch muslimischen Kontexten) und wurden nur hie und da im Westen rezipiert. Das änderte sich allmählich im 10. bis 12. Jahrhundert.18 Am Ende dieser Phase erlebte die originär lateinische Prophetie (die Rezeptionen aus dem Osten nicht völlig ersetzte) ihre entscheidende Intensivierung durch die Visionen und Interpretationen des (wohl bezeichnenderweise aus dem noch stark griechisch geprägten Kalabrien stammenden) Joachim von Fiore († 1202).19 Joachim war einer der wenigen Propheten , die den Frieden und damit die Abwesenheit von Gewalt beschworen und für die der Endkaiser vor allem ein Friedenskaiser war. Joachim sah das Kommen eines tausendjährigen Friedensreiches , zu dessen Beförderung er als neue endzeitliche Kraft einen ordo angelicus , einen Engelsorden , einführte.20 Zugleich aber sollte das Anbrechen dieses Reiches durch einen die Übel der Welt vernichtenden ersten Antichrist herbeigeführt werden21 , der so weit in die Zeit vor dem Letzten Tag hineingeholt und für aktuell-politische Identifizierung angeboten wurde. So löste Joachim eine Reihe von bis zumindest weit in die Frühe Neuzeit hinein nicht mehr abreißenden Konjunkturen von prophetischen Gegenwartsbewältigungen aus , die zum Teil in seiner unmittelbaren Tradition standen , aber auch 17 Brandes 1997. 18 Die wissenschaftliche Diskussion , ob es um 1000 eine gesteigerte Endzeiterwartung gab und welche Formen sie annahm , ist nach wie vor im Gange und hat teilweise polemische Züge angenommen. Vgl. dazu Fried 1989. Besonders Sylvain Gouguenheim trug stark außer- bis unwissenschaftliche Züge in die Diskussion : dagegen wieder Fried 2002. 19 Potestà 2004. 20 Lerner 1976 ; für die Einordnung in andere Friedensideen Töpfer 1964. 21 Lerner 1985.

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anderen Pfaden folgten. Solche joachitischen und anderen Prophezeiungen des Spätmittelalters – seien sie neue Visionen oder stets erneute Interpretationen existierender Texte und Vorstellungen – beschäftigten sich angesichts von immer verheerenderen und immer weiter um sich greifenden Kriegen , von göttlicher Gewalt in Form von Hunger , Krankheit und Überschwemmungen und schließlich den ungläubigen , die Christenheit offenbar existentiell bedrohenden Türken (von krisenhaften , die Welt in den Augen der Zeitgenossen immer mehr in Unordnung bringenden Ereignissen also) mit diesen Gewalterfahrungen und waren sehr viel intensiver als Joachim bereit , auch die Gegengewalt positiv zu thematisieren. Schon Ende des 13. Jahrhunderts brachte der kaisertreue Kölner Kanoniker Alexander von Roes den Eindruck , dass sich die tribulationes vermehrten , dass gewalttätiges Unheil von allen Seiten auf Europa einschlage , auf den Punkt : Von Süden dringen wieder die Muslime (auf die Iberische Halbinsel) vor , im Osten sind die Griechen von der rechten Kirche abgefallen und die mongolischen Horden brechen immer wieder aus der Steppe ein , und sogar die Nordsee hat sich erhoben und ist mit vernichtender Sturmflut über das Land hergefallen.22 Während die Muslime als eschatologische Feinde schon in einer langen Tradition standen und die immer mehr als falsche Christen angefeindeten und als bedrohlich wahrgenommenen Griechen spätestens mit Joachim hinzugetreten waren23 , hatten die Mongolen (zeitgenössisch „Tartaren“) erst um die Mitte des 13. Jahrhunderts für apokalyptische Aufregung gesorgt. Als Volk , das anscheinend unbekannt und völlig unerwartet und zugleich höchst grausam und offenbar unbesiegbar über die Welt hereingebrochen war , waren sie erklärungsbedürftig und konnten eine ganze Zeitlang zum Prototyp eschatologischer , extensiver Gewalttätigkeit werden. Man probierte von Anfang an die unterschiedlichsten Rollen für sie aus : Ganz zu Beginn , als sie noch Heiden , Muslime und falsche Christen angriffen , erzählte man sich , dass sie unter ihrem Anführer , einem König David , der bedrängten wahren Christenheit zu Hilfe eilten – als 1241 die lateinischen Christen dann selber in für sie unvorstellbarer Weise Opfer der Mongolen wurden , ging man vom flagellum 22 Alexander ist kein Joachit , doch kann man kaum die Eschatologie des lateinischen Spätmittelalters vom Wissen um die Vorhersagen des Joachim trennen. Schmieder 2005. 23 Falschgläubige Christen prangerte schon die biblische Apokalypse mehrfach als bedrohlich für eine Errettung der Gemeinden an , so Apok. 2 und 3. Zu den Griechen speziell Schmieder 2006a.

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Dei , der Geißel Gottes , über Völker der Hölle (des „Tartaros“) oder Ismaeliten bis zu ihrer Identifikation mit den letzten Endzeitvölkern Gog und Magog.24 Auch wenn stets mehrere Interpretationen ventiliert wurden und die mongolischen Reichsbildungen spätestens nach hundert Jahren untergegangen oder unbedeutend geworden waren , blieben die Mongolen selbst lange ein Volk mit eschatologischen Valenzen. So konnte noch in der Mitte des 14. Jahrhunderts der franziskanische Prophet Johannes von Rupescissa /  Jean de Rocquetaillade († um 1365) ebenso die Geburt Antichrists bei ihnen sehen wie einen ihrer Khane als Endkaiser identifizieren. Und ihr einst gewaltsames Auftauchen diente ihm dazu , den (späten) Ort der eigenen Epoche im Verlauf der biblisch-apokalyptischen Ereignisse zu bestimmen (denn immer wieder griff man neben neuen Prophezeiungen eben auch zu diesem probaten Mittel , eine Zeit als krisenhaft darzustellen). An dieser Stelle soll einmal eine solche prophetische Interpretation beispielhaft zu Wort kommen , weil sie sehr typisch für den Ton und die Methode der Zeit ist : „ ‚Und der sechste Engel posaunte ; und ich hörte eine Stimme aus den vier Ecken des goldenen Altars vor Gott , die sprach zu dem sechsten Engel , der die Posaune hatte : Löse die vier Engel , die gebunden sind an dem großen Fluss Euphrat.‘ [Apok 9 , 13–19] – Die Stimme an den Ecken des goldenen Altars vor den Augen Gottes ist die päpstliche Autorität (auctoritas) , und sie sagt zu dem sechsten Engel mit der Posaune (das ist der Fürst , der Führer des nächsten Kreuzzuges sein wird) : Löse die vier Engel , die gebunden sind an dem großen Fluss Euphrat , das sind die vier Reiche der Tartaren , denn ihre vier Kaiser werden schlechte Engel genannt und sie sind wörtlich an den großen Fluss Euphrat gebunden , denn er fließt durch ihre Gebiete …“. Verhalten , Lebens- und Kriegsweise der Mongolen , als unzählbares und grausames Reitervolk , das im Osten vier Reiche , unter anderem im Gebiet des heutigen Irak , aufgebaut hatte , machten sie zu geeigneten Kandidaten für die vier Engel am Euphrat , die laut Apokalypse nach ihrer Befreiung ein Drittel der Menschheit brutal hinmorden werden mit einer Armee von vieltausendmal tausend Reiterkriegern , und damit zu Anzeigern für den weiten Fortschritt , den Gottes Endzeitszenario bereits genommen hatte.25 Für die variable eschatologische Einsatzfähigkeit der Mongolen war ihre (faszinierende) Fremdheit ebenso wichtig wie ihre durchsetzungsfähige Ge24 Ein Überblick bei Schmieder 1994 , bes. Kapitel IV. 2b. 25 Johannes de Rupescissa , Commentum in Oraculum beati Cyrilli (1345 /  49) , Paris , Bibliothèque Nationale MS lat. 2599 fol. 81v /  82r , vgl. Schmieder 2006b.

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waltbereitschaft , für die dieses Volk (fast) immer stand. Durch ihre Präsenz hatten sie im 14. Jahrhundert aber sogar umgekehrt die Kraft , Gog und Magog zu verändern. Diesen konnte ein franziskanischer Chronist angesichts von Missionserfolgen seiner Brüder in Zentral- und Ostasien sogar ursprüngliche , „natürliche Milde“ (mansuetudo naturalis) bescheinigen , dem unerbittlichen Vernichtervolk der Endzeit also Sanftmut von Natur aus , weil er sie mit den Mongolen identifizierte , deren Wandlung von vernichtenden Steppenhorden zu guten Christen er konstatierte : Eine Entwicklung , die kaum eine Abschwächung von Endzeitglauben zeigt , aber dafür um so mehr die Intensität , mit der die Endzeitszenarien als Teil der eigenen realen Welt gesehen wurden.26 Gogs und Magogs Präsenz in der Welt des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit war allerdings kaum mit der Mongolenidentifikation erschöpft. Die Völker , die nach der im gesamten Orient und dann auch in Europa über Religionsgrenzen hinweg verbreiteten Überzeugung als von Alexander dem Großen hinter „Eisernen Pforten“ in den „Kaspischen Bergen“ eingeschlossen gewusst wurden , wurden zusätzlich seit dem 12. Jahrhundert in der lateinischen Alexander-Literatur mit den biblischen zehn verlorenen Stämmen der Juden (2. Könige 15 , 29 ; 1. Chron. 5 ,26) in eins gesetzt27 , ein Motiv , das weitere Ausformungen erfuhr mit der im Spätmittelalter immer verbreiteteren , stärker wachsenden sowie stets auch prophetisch aufgegriffenen Judenfeindschaft.28 Mittelalterliche Judenverfolgungen wurden nicht selten durch prophetische Einlassungen ausgelöst oder gerechtfertigt – allerdings geschah die Legitimation stärker auf anderen Ebenen , da die Juden eschatologisch in gewissem Maße geschützt waren : Gerade sie galten seit dem Apostel Paulus 26 Schmieder vorauss. 2013. 27 In der weitverbreiteten und wirkmächtigen Historia Scholastica des Petrus Comestor fließen diese Traditionen zusammen : PL 198 , hier 1498A-B. Die Entwicklung der Alexanderlegende oder des Alexanderromans nachzuzeichnen , kann hier nicht geleistet werden : Antike und mittelalterliche Traditionen , und diese aus den unterschiedlichsten vor allem orientalisch-christlichen und muslimischen Quellen fließen nahezu unentwirrbar zusammen und differenzieren sich in zahlreichen europäischen Volkssprachen weiter aus. Die klassische , bis heute vielfältig ergänzte Studie für das lateinische Mittelalter stammt von Andrew Runni Anderson (Anderson 1932). 28 Ausführlich verfolgte Andrew Gow die Entwicklung hin zu den oft apokalyptischen „Roten Juden“ des deutschen Spätmittelalters (Gow 1995) ; dazu auch Voß 2010. – Zur prophetischen Position der Juden generell Lerner 2001 ; im Kontext des christlichen Judenbildes Cohen 1996 ; Limor 1996.

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als jene , die im Rahmen der vor der Endzeit zu vollendenden Bekehrung aller Welt als allerletzte Täuflinge gelistet waren (Röm. 11 , 25–32). Aber zum einen haben umgekehrt die Juden offenbar immer wieder (christliche) Gewalt gegen sich eschatologisch verarbeitet.29 Zum anderen gibt es offenbar wenigstens einen komplexen Fall , in dem die Christen von den Juden erwarteten , dass diese Gewalt von dritter Seite gegen die verhassten Christen eschatologisch in positivem Sinne für sich selbst deuten und entsprechend handeln würden. Um die Zeit des „Mongolensturms“ (1241) berichteten christliche Chronisten , offenbar im Wissen , dass um 1240 das fünfte Jahrtausend jüdischer Zeitrechnung zu Ende ging, die Juden hätten in ­eschatologischer Aufregung den Mongolen (die christliche Heere schlugen und darüber hinaus von einem König David angeführt sein sollten) entgegengefiebert , ja sogar Waffenlieferungen für sie ausgesandt. In den keineswegs raren jüdischen Quellen der Zeit scheint allerdings nichts dergleichen zu spüren zu sein , und die Argumentationslinie gleicht auch sonst eher einer christlichen denn einer jüdischen.30 Das Wissen um die eschatologische Gelegenheit löste offenbar kriegerische Gewalterwartung von Seiten des politisch an sich hilflosen jüdischen Volkes bei den beobachtenden Christen aus , denn diese Handlungsoption angesichts krisenhafter Ereignisse um eine Zeitenwende herum nahmen sie für sich selbst in Anspruch. Dieses hier in wenigen Worten zusammengefasste , komplizierte Beispiel zeigt also , wie selbstverständlich eschatologische Bewältigungen von Gewalt den fraglichen Autoren waren , die sie von ihrer eigenen kulturellen Gruppe auf die Juden spiegelten. Dass zu Beginn der 1240er Jahre stattfindende Pogrome so als legitime eschatologische Gegenwehr dastehen konnten , sei nur am Rande erwähnt. In derselben eschatologisch bewegten Zeit wurden ältere Überlegungen zur endzeitlichen Rolle der Kaiser angesichts der Intensivierung der ideologischen Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Papst auf höchster Ebene fruchtbar , wiederum befeuert von Joachims Ideen zur prophetischen Gegenwartsdeutung und zudem ganz besonders von seiner Justierung des Endzeitszenarios , mit dem er Antichrist in die Welt geholt hatte. Die Spannungen zwischen den Universalmächten kulminierten in der Zeit des Staufers Friedrich II. († 1250) in einer regelrechten Propagandaschlacht , die auf dem Höhepunkt der Ausei29 Nur als Beispiele van Bekkum 2008 ; Greisiger 2010 ; für die Zeit des 15. und 16. Jahrhunderts Benmelech vorauss. 2013. 30 Mit Diskussion früherer Erklärungsansätze Oberweis 2010 ; nicht zuletzt zu Israel Yuval 1998.

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nandersetzung auch auf prophetischer Ebene ausgetragen wurde.31 Kaiser und Päpste strebten unvereinbar danach , die Spitze der Welt einzunehmen , beide Seiten hatten gute Argumente und konnten aus dem Geist dieser Argumente und ihrer zu verteidigenden Stellung keine Kompromisse eingehen. Der Kampf mit Worten steigerte sich immer mehr , bis die Propagandamaschinen beider Seiten schließlich ihre Herren gegenseitig als Antichrist anprangerten. Direkt gegeneinander in den Krieg gezogen sind die beiden Protagonisten nie , doch litten auf beiden Seiten Gruppen oder Einzelpersonen in Stellvertretung unmittelbare Gewalt , die durch den eschatologischen Diskurs legitimiert war : Gegen wen kämpfte es sich wohl legitimer als gegen den Antichrist ? Da Antichrist niemanden schonte und brutal gegen die Welt vorging , war es mehr als gerechtfertigt , dasselbe (möglichst schon antizipierend) zu tun. Nicht zuletzt wurden zahllose italienische Städte zerrissen von Parteikämpfen , um nur ein besonders gewalttätiges Beispiel zu nennen. Letztendlich rieben sich die Universalmächte aneinander so auf , dass andere Kräfte zumindest gleichmächtig neben ihnen aufsteigen konnten. Unabhängig vom realpolitischen Machtverfall beider Seiten lebten sie in ihren eschatologischen Rollen an der Spitze der Welt fort , mehr mit gewaltigen Worten als mit gewalttätigen Handlungen , und nicht zuletzt das aufsteigende Frankreich konnte ihnen zur Seite treten. Bereits parallel zu diesen hochherrschaftlichen Wirkungen hatte sich spätestens um 1200 die Eschatologie samt ihrer Gewalt thematisierenden Valenz in weitere Bevölkerungskreise verbreitet. Im 12. Jahrhundert sind erste Schauspiele zu Antichrist oder Endkaiser und anderen eschatologischen Motiven entstanden.32 Wohl seit dem frühen 13. Jahrhundert etablierte sich zur steten Memorierung des apokalyptischen „Tags des Zorns“ des Herrn (Apok 6 , 17) das bis vor kurzem noch regelmäßig als Sequenz jeder Totenmesse genutzte Requiem Dies irae , das vor allem an die gewaltige Rache der Endzeit erinnert , allerdings keineswegs die erste derartige Dichtung war.33 Beides steht – neben den bereits mehrfach angesprochenen gotischen Gerichts-Portalen , die vor allem seit dieser Epoche entstanden – für ein Eindringen der Endzeitmemoria

31 Zentral Schaller 1972. 32 Spiele vgl. Kursawa 1976 ; Kahl 1991 ; für die spätere Zeit Ridder /  Barton 2010. 33 Die Zuschreibung des Dies irae an Thomas von Celano (um 1190 – um 1260) ist umstritten , doch die Zeit und der Ausgangsbereich Italien scheinen bei aller Aufnahme älterer Traditionen deutlich : Heyse 1999. Der Zusammenhang mit der „Geburt des Fegefeuers“ (Jacques LeGoff) und damit einer Chance zwischen ewigem Licht oder ewiger Finsternis scheint evident.

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zumindest ins Festtagsleben der Bevölkerung. In dieser Zeit und in diesen Kreisen gab es hinreichend Gruppen , die ein rasches Ende mit ihrem eigenen Triumph – seltener wiederum mit Emphase auf erstrebte Friedlichkeit – herbeiwünschten : Grund dafür war eine generelle Unzufriedenheit in einer sich für damalige Verhältnisse rasant wandelnden Welt. In dieser veränderten die entstehenden oder wachsenden Städte und die aufkommende Geldwirtschaft die soziale Landschaft massiv. Die Unzufriedenheit spiegelte sich in den gleichzeitigen Ketzerbewegungen wider und sie war auch der Nährboden , aus dem die lange Zeit eng der Häresie benachbarte , aber von der Kirche eingefangene Bettelbewegung des Heiligen Franziskus von Assisi wuchs. Gewalt dominierte nicht nur die Niederschlagung von Ketzerei , der stets auf beiden Seiten eschatologische Züge anhafteten , die wiederum der doppelten Funktion der Legitimation und (beim Unterlegenen) der Bewältigung dienten, sondern auch eschatologisch bestimmte Bewegungen wie den unglückseligen Kinderkreuzzug.34 Gewalt gemischt mit eschatologischen Ängsten und Hoffnungen flammte auch in anderen sozialen Bewegungen des weiteren 13. Jahrhunderts (und länger) immer wieder auf , als vor allem die Franziskaner das Erbe des Joachim von Fiore trugen – meist von dessen Friedenssehnsucht beflügelt (in der Überzeugung , selbst jener erwartete ordo angelicus zu sein) , doch wortgewalttätig in der Gesellschaftskritik und durch ihr hohes Sozialprestige von den kritisierten Kreisen als durchaus gefährlich eingeschätzt. Man hat in der Literatur von „pouvoirs informelles“35 gesprochen , die den sozialen und auch ganz entschieden den politischen Kampf aufnahmen. Aus solchen Kontexten , und zwar in Kritik am weltlichen Herrschaftsanspruch der Päpste , aber doch auf deren Seite , wurde nun , wenn wir zurück auf die Führungseliten der Gesellschaft blicken , gegen Ende des 13. Jahrhunderts die endzeitliche Figur eines Engelpapstes entwickelt , die noch am ehesten auf eine Hoffnung auf kommenden Frieden abhob und die bezeichnenderweise in einer Zeit erschien , in der die große Zeit des Papst- wie des Kaisertums realpolitisch vorüber war. Franziskanische oder franziskanernahe , aber auch sonstige kaisernahe eschatologisch gestimmte Kreise gerieten um 1300 und in der Folgezeit mehr und mehr in Gegensatz zum Papsttum – was für viele Protagonisten mit Verfolgung , Inquisitionsgericht , Gefangenschaft und (ganz selten) dem Scheiterhaufen einherging. (Umberto Ecos Roman „Il nome della rosa“ hat die Stimmung der Zeit gut nachempfunden.) Doch Papstkritik be34 Vgl. Dickson 1995. 35 Vauchez 1986.

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deutete nicht mehr zwingend Kaisernähe – französische Franziskaner griffen protonationale Gegensätze auf und betrachteten das Kaisertum in deutschen Händen als die eigentliche Saat Antichrists , dem das verderbte Papsttum in die Hände spielte. Der oben bereits als später Deuter der Mongolen eingeführte Franziskaner Johannes von Rupescissa mischte produktiv eigene Visionen und eigene Deutungen von Prophetien unterschiedlichster Provenienz (joachimitischer , aber auch ganz anderer Herkunft) in einer lebenslangen Suche nach den rechten eschatologischen Antworten auf die Fragen der Zeit , meist als Gefangener der Päpste oder des eigenen Ordens und damit unter Kontrolle recherchierend. Johannes nahm die Partei des im 14. Jahrhundert in mehreren Zweigen große Teile Europas beherrschenden französischen Königshauses Anjou als Dynastie des tatsächlichen Endkaisers.36 „Karl“ als Name des erwarteten französischen „letzten Herrschers“ trat im 15. Jahrhundert in Konkurrenz zu einem „dritten Friedrich“ aus deutscher , nun wieder kaisertreuer Feder und konnte immer wieder konkrete Konflikte , vor allem aber den schlechten Zustand von Reich und Kirche in dieser Zeit legitimieren. Das eigentliche eschatologische Schlachtfeld lag jedoch immer mehr unterhalb dieser höchsten Ebene , deren Protagonisten zwar aufgrund ihrer politischen und militärischen Macht nicht ignorierbar waren , aber nur als Werkzeuge im Elend der Welt , nicht als die eigentliche Zielgruppe göttlichen Handelns gesehen wurden. Die Kirchenspaltung des „großen abendländischen Schismas“ oder die als drängend empfundene Notwendigkeit einer Reform des Reiches an Haupt und Gliedern fanden ihre Propheten , deren Hauptaugenmerk selten auf den Päpsten oder den Kaisern lag.37 An Johannes von Rupescissa lässt sich beispielhaft beobachten , wie der eschatologisch-kritische Blick auf die Großen der Welt mit sozialen Unruhen und immer wieder mit politischem und nicht zuletzt religiösem Reformertum (oft in die Häresie abgedrängt) einherging : Seine Schriften übten nachweislich starke Wirkung auf die kirchenreformerischen Kreise um Jan Hus und dann den böhmischen Hussitismus aus.38 Je extremer die Forderungen , je blutiger die Auseinander-

36 Schmieder 2008b. 37 Dazu z. B. Blumenfeld-Kosinski 2006 oder Patschovsky 1982 ; aber auch weitverbreitete und vielfach bearbeitete Texte wie die sog. „Reformatio Sigismundi“ (Koller 1964) oder der „Oberrheinische Revolutionär“ (Franke 1967). 38 Hier ist besonders wichtig Lerner 1996 (im selben Band S. 83–98 Alexander Patschovsky zu „Antichrist“ beim englischen Vorläufer John Wyclif ) ; auch ders. 1972 ; und Cermanova vorauss. 2013.

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setzungen , je zerstörerischer die Ketzerkriegszüge , desto bemerkenswerter die eschatologischen Hoffnungen wie die auf einen realen , lebenden Fürsten als neuer Christus in der Welt : Aus hussitischem Kontext stammt eine Prophetie , die den um 1400 frisch getauften litauischen Großfürsten Vytautas , polnisch Witold , zum „Menschensohn“ erklärt.39 Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wird „die“ Reformation Martin Luthers im Ansatz auch eine von eschatologischer Papstkritik getragene Kirchenreform sein , die von sozialkritischen Kreisen im gleichen Geiste aufgegriffen wurde. Dies geschah nach einem 15. Jahrhundert , in dem Prophetie immer breiter von den neuen laikalen städtischen Eliten nun nicht mehr allein Italiens und Südfrankreichs gefördert und zur Positionierung der eigenen , mächtigen , aber in der Gesamtgesellschaft nach wie vor relativ niedrigen Stellung sub specie aeternitatis in der Welt eingesetzt wurde.40 Wenn der Überblick über die Vergemeinschaftung von Prophetie und Gewalt , über eschatologische Gewaltbewältigungen politischer Gruppen hier endet , dann keineswegs , weil sich in der so genannten Frühen Neuzeit die Dinge auf der bislang betrachteten Ebene grundsätzlich geändert hätten. Der Ausblick auf Luther deutete schon an , dass das produktive Verhältnis von Politik und Religion die ohnehin nur künstlich geschaffene Epochengrenze weitgehend unbeschadet überstand. Der Themen gab es weiterhin genug , seien sie nun eher im unmittelbaren Umfeld konfessioneller Streitigkeiten und Kriege angesiedelt oder eher auf den ebenfalls bereits angesprochenen Ebenen von nationalen Gegensätzen im Inneren Europas oder der von außen kommenden Türkengefahr und anderem mehr.41 Nicht anders als vorher ging es in solchen endzeitlichen Bewältigungstexten normalerweise nicht um Träume von einer friedlichen Welt endlich ohne Gewalt , sondern von einer , in der nun die anderen leiden , vornehmlich diejenigen , die bislang die Täter waren. Wie in der biblischen Offenbarung das Erlösungsversprechen mit extensiver Gewaltandrohung und zugleich Gewaltversprechung einherging , die „höchstrichterliche“ Bewältigung von Gewalt also in noch größerer Gewalt bestand , so ist eine solche Eskalation auch in späteren Texten immer wieder zu lesen und wird die Misere der Gegenwart in eine Zukunft transponiert , die alles 39 Mickunaite 2006 , bes. N. 279. 40 Kneupper 2011 , und besonders pointiert zu laikalen Propheten dies. vorauss. 2013. 41 Beispiele finden sich wiederum in den in den Anm. 13 , 14 und 28 angesprochenen Sammelbänden , doch ist das nur eine nicht repräsentative Auswahl aus der individuellen Perspektive der Autorin.

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andere als gewaltfrei gedacht ist. Möglicherweise darf man aus der intensiven Beschäftigung mit der apokalyptischen rä­chenden Gewalt auf ein hohes Maß an gesellschaftlichem Bedürfnis und damit unbewältigter Gewalt in der Gesellschaft in der jeweiligen Gegenwart schließen , doch lässt sich so eine Vermutung kaum methodisch sauber nachvollziehen.

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Apokalyptische Vorstellungen und politische Szenarien /  Peoples of the Apocalypse. Eschatological Beliefs and Political Scenarios. 3. internationale EndzeitenTagung , 23.–25. Oktober 2011 , hg. von R. Voss /  W. Brandes /  F. Schmieder , Berlin (im Druck). Yuval , J. 1998 : Jewish Messianic Expectations Towards 1240 and Christian Reactions , in : Toward the Millennium. Messianic Expectations from the Bible to Waco , hg. von P. Schäfer /  M. Cohen , Leiden , S. 105–121.

Vom „Schrecken Gottes“ zur Bluttaufe Gewalt und Visionen auf dem Ersten Kreuzzug nach dem Zeugnis des Raimund d’Aguilers Kristin Skottki

I. Der Erste Kreuzzug und die Chronik Raimunds d’Aguilers Für die Frage nach Gewalterfahrungen im Mittelalter sind die Kreuzzüge zweifelsohne ein lohnendes Forschungsfeld. Kaum ein anderes Ereignis symbolisiert so prominent mittelalterliche Gewaltgeschichte gegen Andersgläubige.1 So wird ein Leser , der sich der mittelalterlichen Geschichtsschreibung über die Kreuzzüge zuwendet , wohl vor allem ausführliche Berichte von Kämpfen und Schlachten und ein gehöriges Maß an religiöser Polemik gegen die „Glaubensfeinde“ erwarten. Davon hat die Kreuzzugschronistik auch sehr viel zu bieten , doch erschöpft sie sich darin keineswegs. Vielmehr ist jede einzelne Chronik , ja teilweise sogar jede einzelne Handschrift einer Chronik ein Versuch , den Kreuzzug zu deuten. Da man die Chroniken lange Zeit vor allem als Quellen zur Rekonstruktion der Ereignisgeschichte benutzte ,2 wurde in der Kreuzzugsforschung häufig vernachlässigt , sie auch als Texte , die nach narrativen Mustern gestaltet sind , zu verstehen. Liest man sie jedoch nicht nur als Spiegel der historischen Wirklichkeit , sondern auch als textgewordene Wirklichkeitsdeutungen , so zeigt sich die ganze Bandbreite der Interpretationsmöglichkeiten , die es auch heute noch den Kreuzzugsforschern so schwer macht , endgültige und allumfassende Definitionen dieses Phänomens zu liefern. Ein narratives Muster , das sehr viele Darstellungen , insbesondere des Ersten Kreuzzugs (1096–1099 n. Chr.) , prägt , ist die Pilgerfahrt.3 Das bedeutet , 1 2 3

Vgl. zur mittelalterlichen Gewaltgeschichte etwa Iogna-Prat 2002. Wie beispielsweise in der bis heute beliebten und bekannten Darstellung Steven Runcimans , Runciman 2008 (Original von 1950–1954 in drei Bänden). Nicht nur die Historiographie schildert den Kreuzzug häufig als Pilgerfahrt , auch die Kreuzfahrer selbst sahen sich in der Tradition der Jerusalempilger , was u. a.

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dass nicht nur die Kreuzfahrer wie kämpfende Pilger erscheinen , sondern dass die Erzählung vom Kreuzzug selbst wie eine Pilgerfahrt gestaltet ist. Die meisten Kreuzzugschroniken sind nämlich keine reinen Erfolgsgeschichten , in denen Gott an der Seite seines Volkes kämpft. Vielmehr mussten die Kreuzfahrer erst noch beweisen , dass sie wirklich Gottes auserwähltes Volk sind , ihre Sache richtig und dem göttlichen Willen entsprechend sei. So wird der Kreuzzug in einigen Chroniken nicht nur als ein gefährliches , sondern auch als ein ständig gefährdetes Unternehmen beschrieben , bei dem es gilt , die göttliche Gnade und Hilfe immer wieder neu durch richtiges Verhalten und den rechten Glauben zu verdienen. Um die Terminologie der rites de passage-Forschung aufzugreifen ,4 könnte man davon sprechen , dass die Kreuzfahrer sich in einem Status ständiger Liminalität befanden , was sich allein schon aus dem Umstand ergab , dass sie dem mittelalterlichen Sprachgebrauch folgend als Pilger (peregrini) zugleich Reisende und Fremde waren , also außerhalb der festen , sozialen Hierarchie der civitas standen. Dieser randständige Status der Pilger führe , den Thesen Victor Turners folgend , zu einer neuen , temporären Vergemeinschaftung , der communitas – Pilger bilden demnach für die Zeit der gemeinsamen Reise eine eigene Gemeinschaft.5 In den mittelalterlichen Kreuzzugschroniken erscheint diese Gemeinschaft der „Pilger Christi“ jedoch der permanenten Unsicherheit und Gefährdung ausgesetzt , sowohl durch äußere Feinde als auch durch innere Auseinandersetzungen , und dadurch stets der größten Gefahr nahe : durch Sünden und Fehlverhalten die göttliche Gnade zu verlieren. Dieser zweite Aspekt ist besonders eindrücklich in der Chronik Raimunds d’Aguilers6 geschildert , die als Hauptquelle für die folgende Untersuchung dienen soll. Ernst-Dieter Hehl dazu bewegte , Kreuzzüge als bewaffnete Pilgerfahrten zu definieren , siehe Hehl 1994. Vgl. dagegen die Definition von Jean Flori , Flori 2004 , der sich damit insbesondere gegen den Versuch von Colin Morris wandte , die Chronik des Anonymus (Gesta Francorum) als Pilgerbericht zu verstehen , siehe Morris 1993. 4 Vgl. dazu die Klassiker Van Gennep 2005 (Original von 1909) ; Turner 2005 (Original von 1969). 5 Vgl. dazu Turner 1974. Jüngere Forscher haben sich mit Turners Theorie durchaus kritisch auseinandergesetzt , vgl. etwa Coleman 2002 ; Wheeler 1999 ; Pace 1989. 6 Bei Zitaten im Folgenden als RA abgekürzt. Hier benutzte Edition : Raimund d’Aguilers 1854.

Gewalt und Visionen auf dem Ersten Kreuzzug

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Über die genauen Abfassungsumstände dieser Chronik gibt es , wie für die meisten anderen Kreuzzugschroniken , kaum gesicherte Informationen , sondern nur textimmanente Anhaltspunkte.7 Dabei besteht jedoch die Gefahr , die autoritative Stimme im Text zu biographisieren und als Aussagen über den Autor zu werten , was problematisch erscheint , da auch bei historiographischen Texten damit gerechnet werden muss , dass Erzähler im Text und Autor des Textes keineswegs identisch sind. So ist etwa der Verweis auf den Chronisten als Handelnden oder Augenzeugen im Text , literaturwissenschaftlich gesehen , erst einmal als Versuch zu werten , dem Geschriebenen Autorität und Authentizität durch das Beglaubigungsmittel des Augenzeugnisses zu verschaffen. Ob tatsächlich der Verfasser dieser Chronik mit der im Text beschriebenen Person identisch ist , kann kaum festgestellt werden , da über einen gewissen Raimund d’Aguilers keine anderen Quellen Auskunft geben. Folgt man den Angaben in der Chronik , so wird in einem dem Haupttext vorangestellten Widmungsbrief diese Chronik als Werk zweier Autoren vorgestellt : Pontius de Baladuno (Pons von Balauzun) und Raimundus , Kanoniker aus Le Puy-en-Velay (in der Provence).8 Bei der Beschreibung der Entdeckung der Heiligen Lanze in Antiochia , die weiter unten behandelt wird , werden beide Verfasser als an der Auffindung der Lanze Beteiligte beschrieben – auch hier wird Pons nicht näher charakterisiert , dafür aber Raimund , der als Kaplan des Grafen (Raymond de Saint-Gilles)9 bezeichnet wird und als derjenige , der dies geschrieben habe.10 Ein letztes Mal begegnet Pons im 15. Kapitel dieser Chronik , im Jahre 1099 bei dem fehlgeschlagenen Versuch , die Stadt ’Arqa (im heutigen Libanon) einzunehmen , wobei Pons ums Leben gekommen sei. Das veranlasste anscheinend den nun allein übrig gebliebenen Verfasser Raimund zu einer Art Apologie seiner Darstellung.11 7

Für eine klassische Biographie des Autors vgl. Hill /  Hill 1968 , S. 6–8 ; Hill /  Hill 1969 , S. 9–20. 8 RA Prolog : „Episcopo Vivariensi domino meo , et omnibus orthodoxis , Pontius de Baladuno , et Raimundus canonicus Podiensis salutem et laboris nostri participationem.“ 9 Für eine bessere Übersichtlichkeit habe ich den Namen des Chronisten eingedeutscht – Raimund – und belasse den Namen des Grafen in seiner französischen Schreibweise – Raymond. 10 RA XI : „Fuit autem in illis duodecim viris , episcopus Aurasicensis , et Raimundus comitis capellanus , qui haec scripsit , et ipse comes , et Pontius de Baladuno , et Faraldus de Thoart.“ 11 RA XV : „Interfectus est ibi dominus Pontius de Baladuno , cum lapide de petraria ;

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Dort heißt es , der Chronist habe ursprünglich auf Bitten des Herrn Pontius de Balauduno (also des Co-Autors Pons) die Arbeit an diesem Werk begonnen , das für alle Rechtgläubigen , besonders jenseits der Alpen , und für den Bischof von Viviers verfasst worden sei. Als mögliches autobiographisches Detail wird erwähnt , dass der Chronist auf dem Weg Gottes , also offenbar während des Kreuzzugs , in das Priesteramt aufgestiegen sei. Glaubt man dieser Angabe , könnte es bedeuten , dass Raimund zuvor nur Diakon gewesen ist und auf dem Kreuzzug , vermutlich in Antiochia , die Priesterweihe empfing. Möglicherweise ist er erst nach seiner Priesterweihe Kaplan Raymonds de SaintGilles geworden , da er sonst dieses verdienstvolle Amt sicher bereits im Prolog erwähnt hätte. Der Text legt also die Zusammenarbeit eines weltlichen Ritters und eines geistlichen Kanonikers nahe , wobei der Kanoniker den Großteil des Werkes nach dem Ableben des weltlichen Auftraggebers zu Ende geschrieben habe. Welche Anteile Pons und Raimund tatsächlich an der Entstehung des Textes hatten , lässt sich jedoch schwerlich ermitteln.12 Inhaltlich ist an dieser Chronik ihre sehr deutlich provenzalische Ausrichtung bemerkenswert. Wie erwähnt , werden als Adressatenkreis neben dem Bischof von Viviers die „jenseits der Alpen Lebenden“ angesprochen und der Berichtshorizont ist auf die Gruppe um den Grafen Raymond und den Bischof von Le Puy , also auf das provenzalische Kreuzfahrerkontingent , beschränkt. Raymond de Saint-Gilles (auch Raymond IV. von Toulouse)13 befehligte nicht nur das zahlenmäßig größte Kontingent auf dem Ersten Kreuzzug , er war auch ein erfahrener Ritter und der reichste Adelige unter den Kreuzzugsführern. Bischof Adhémar von Le Puy (auch Adhémar de Monteil)14 war cujus ago precibus ad omnes orthodoxos , et maxime ad Transalpinos , et ad te , reverende praesul Vivariensis , cui hoc opus scribere curavi. Nunc autem quod reliquum est , Deo inspirante , qui haec omnia fecit , eadem hilaritate , qua incoepi , perficere curabo. [ …] Etenim , licet ut alia plurima ignorem , hoc unum scio , quia cum promotus ad sacerdotium in itinere Dei sim , magis debeo Deo obedire testificando veritatem quam in texendo mendacia , alicujus muneris captare dispendia. Sed ������������������������ quia , secundum Apostolum , charitas nunquam excidit , eadem charitate hoc opus agere volo , auxilietur mihi Deus.“ 12 Andere Kreuzzugsforscher haben ebenfalls nur feststellen können , dass sich über Pons’ Anteil an der Chronik nichts weiter sagen lässt , siehe etwa : France 1998 , S. 45. Und : Hill /  Hill 1969 , S. 10. 13 Vgl. etwa Hill /  Hill 1962. 14 Über Adhémars Bedeutung für den Ersten Kreuzzug entbrannte in den 1950er Jahren eine Forschungsdiskussion : Hill /  Hill 1955 ; Brundage 1959 ; Mayer 1960.

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als Legat des Papstes die spirituelle Führung des Kreuzzugs aufgetragen. Der Chronist Raimund hätte demnach als Kanoniker von Le Puy und als Kaplan des Grafen in engem Kontakt mit beiden Männern gestanden und damit indirekt zur Führungsspitze des provenzalischen Kreuzfahrerkontingents gehört. Der klassischen Quellenhierarchie folgend , müsste diese Chronik also einen sehr unmittelbaren und informierten Blick auf die historische Realität erlauben – darauf wird am Ende zurückzukommen sein. Bemerkenswert ist ebenso die bereits im Widmungsbrief deutlich werdende ambivalente Beurteilung des Kreuzzugs. Der Kreuzzug wird als „großes Werk“ (magnalia) bezeichnet , das Gott an den Teilnehmern des Ersten Kreuzzugs vollbracht habe.15 Dann wird jedoch bemerkt , dass Gott die Kreuzfahrer als Strafe für deren Sünden auf der Reise sehr geplagt habe , und dennoch wird im selben Satz die überaus euphorische Beurteilung des Kreuzzugs vorweggenommen , wie sie in der Schilderung der Eroberung Jerusalems noch einmal begegnet (Kap. XX). Denn , so heißt es hier , Gott habe sich im Kreuzzug als Sieger über das Heidentum erwiesen , das Heilige Land sei demnach also aus den Händen der „Ungläubigen“ befreit worden und die Mission somit erfolgreich gewesen.16 Die besondere Darstellungsform dieser Chronik wird somit schon im Prolog ersichtlich , denn der Kreuzzug wird hier als ein Weg und eine Entwicklung und damit in gewisser Weise als ein Übergangsritus dargestellt. Für das Thema „Gewalterfahrung und Prophetie“ ist diese Chronik deshalb so interessant , weil in Momenten der Krise immer wieder Visionäre auftreten , die im Auftrag von Heiligen oder gar Jesus Christus Handlungsanweisungen an die Kreuzfahrer weitergeben. Die insgesamt 17 längeren Visionsberichte füllen über die Hälfte der Erzählung und sind in dieser Chronik die eigentlichen Mittel zur Lenkung des Kreuzzugs.17 Besonders in der Darstellung der Eroberung Jerusalems wird dann ersichtlich , dass diese Visionen nicht Reaktionen auf Gewalterfahrungen sind , sondern dass sie dazu dienen , Gewalt gegen einen auswärtigen Feind zu kanalisieren. Da Raimunds Chronik zu den zeitnah verfassten Augenzeugenberichten zählt , wird sie in nahezu allen modernen Kreuzzugsdarstellungen zitiert. Auch 15 RA Prolog : „Necessarium duximus vobis , et Transalpinis omnibus manifestare magnalia quae Deus nobiscum , solito pietatis suae more , fecit et assidue facere non desinit.“ 16 RA Prolog : „Exercitus enim Dei , etsi pro peccatis flagellum Domini sui sustinuit , pro ejusdem misericordia victor super omnem paganitatem exstitit.“ 17 Vgl. dazu Morris 1984.

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liegen einige Spezialuntersuchungen zu dieser Chronik vor , in denen es vor allem um die Authentizität dieser Chronik und die Bedeutung der Hl. Lanze für die Darstellung geht.18 Bisher wurde jedoch noch keine Untersuchung vorgelegt , die mithilfe von close reading versucht , die narrative Gestaltung als Pilgerfahrt bzw. Übergangsritus zu erschließen , was hier nun versucht werden soll.

II. Antiochia und die Auffindung der Heiligen Lanze In vielen Chroniken des Ersten Kreuzzugs nimmt nicht etwa die Eroberung Jerusalems den größten Teil der Erzählung ein , wie man eigentlich erwarten würde , sondern die Eroberung der Stadt Antiochia am Orontes (in der heutigen Türkei) im Jahre 1098. Denn nachdem einem Großteil des Kreuzfahrerheeres die Überfahrt über den Bosporus und der Durchmarsch durch Kleinasien geglückt war , wurde Antiochia zur ersten großen Bewährungsprobe für die Kreuzfahrer , da die Belagerung der Stadt nicht nur über sechs Monate dauerte (von Oktober 1097 bis Anfang Juni 1098) , sondern weil kurz nach der Einnahme der Stadt durch die Kreuzfahrer ein Heer unter der Führung des Atabegs von Mossul , Kerbogha , eintraf und ab dem 5. Juni 1098 die Kreuzfahrer in der Stadt einschloss und belagerte.19 Diese Situation muss in vielerlei Hinsicht unerträglich gewesen sein , da aufgrund der zweifachen Belagerung in der Stadt kaum noch Vorräte vorhanden waren und auch das sehnlich erwartete Heer des byzantinischen Kaisers Alexius Comnenus20 nicht eintraf. Noch während die Kreuzfahrer die Stadt belagerten , desertierten viele von ihnen , darunter auch Stephan von Blois ,21 der dem byzantinischen Kaiser mitteilte , dass die Kreuzfahrer verloren seien , weshalb dieser auf einen Marsch nach Antiochia verzichtete. Zweifellos kann diese Situation als Krise beschrieben werden , von der man vermuten könnte , dass sie die Kreuzfahrer an der Richtigkeit und der göttli-

18 Dabei könnten insbesondere die Urteile zur Person des Chronisten und die Glaubhaftigkeit seiner Darstellung kaum unterschiedlicher sein. Kritisch bis polemisch sind etwa : Klein 1892 ; Schuster 2004. Ausgewogen bis verteidigend : Auffarth 1989 ; Russo 2006. 19 Vgl. zur Krise in Antiochia : France 1970 ; France 2001. 20 Vgl. etwa Shepard 1997. 21 Vgl. etwa Brundage 1960.

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chen Lenkung des Kreuzzugs zweifeln ließ. Jedoch wurde hier , wie auch in der Historiographie späterer Kreuzzüge , nicht das Unternehmen selbst in Frage gestellt , sondern das Unglück durch die Sündhaftigkeit der Kreuzfahrer zu erklären versucht. Entsprechend findet sich in Raimunds Chronik der Kommentar , dass Gott seine zügellosen Kinder in Antiochia gezüchtigt habe , ihnen jedoch dann in ihrer Verzweiflung Trost spendete ,22 und zwar indem er sie die Heilige Lanze23 finden ließ. Mit dem 10. Kapitel beginnen in der Chronik Raimunds die Berichte von Visionen verschiedener Männer , insbesondere des Petrus Bartholomäus.24 Petrus Bartholomäus wird zu Beginn dieses Kapitels als pauper und rusticus , also als Armer und Bauer von provenzalischer Herkunft vorgestellt , den Gott auserwählt habe , um dem Grafen Raymond und dem Bischof Adhémar eine Botschaft zu übermitteln.25 Nachdem der Apostel Andreas und verschiedene heilige Begleiter dem Petrus Bartholomäus insgesamt fünf Mal erschienen seien , habe dieser sich schließlich getraut – wie es ihm von den Heiligen aufgetragen worden war – , sich an die provenzalischen Führer des Kreuzzugs zu wenden , damit diese die Heilige Lanze auffinden könnten. Schon im ersten Visionsbericht wird das Konfliktpotential offensichtlich , dass aus dem Offenbarungsanspruch der Visionen dieses einfachen Mannes hervorging. Denn unter anderem habe der Apostel Andreas den Petrus damit beauftragt , ein Treffen mit Bischof Adhémar , Graf Raymond und dem Adeligen Peter Raymond von Hautpoul zu arrangieren , bei dem man Bischof Adhémar fragen solle , warum er es vernachlässige , den Kreuzfahrern zu predigen , sie zu ermahnen und sie mit dem Kreuz zu segnen.26 Auch wenn diese Worte , dem Bericht zufolge , aus dem Mund des Apostels kamen , muss es doch wie ein ungeheurer Affront gewirkt haben , dass ein Heiliger Kritik am päpstlichen Le22 RA IX : „Itaque , ut diximus , dum nostri conturbarentur , et in desperationem ruerent , divina eis clementia adfuit ; et quae lascivientes filios correxerat , nimium tristes tali modo consolatus est.“ 23 Vgl. dazu nur Runciman 1950 ; Asbridge 2007 ; Kjørmo 2009. 24 Vgl. besonders Rogers 1992. 25 RA X : „Igitur cum capta esset civitas Antiochiae , usus sua potentia et benignitate Dominus , pauperem quemdam rusticum elegit , Provincialem genere , per quem omnes nos confortavit , et comiti et Podiensi episcopo haec verba mandavit.“ 26 RA X : „Ego sum Andreas apostolus. Congrega episcopum Podiensem , et comitem Sancti Aegidii , et Petrum Raimundum de Altopullo , et haec dices ad illos : Cur negligit episcopus praedicare , et commonere , et cum cruce quam praefert signare populum ? etenim multum prodesset illis.“

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gaten durch den Mund eines „armen Bauern“ formulierte. Entsprechend weist Petrus Bartholomäus in seinem Bericht von den fünf Erscheinungen immer wieder darauf hin , dass er sich angesichts seiner paupertas , also aufgrund seines geringen sozialen Status und seiner Armut , nicht gewagt habe , sich sogleich an den Grafen und den Bischof zu wenden , denn er habe auch befürchtet , man könne denken , er habe sich dies alles ausgedacht , um eine Mahlzeit zu erheischen.27 Auch den Apostel Andreas selbst habe Petrus gebeten , doch einen würdigeren Überbringer der Nachricht auszuwählen ,28 woraufhin dieser ausführlich darlegte , dass Gott sie – also alle Kreuzfahrer – aufgrund ihrer Verdienste und ihres rechten Verhaltens aus allen Generationen vor und nach ihnen auserwählt habe.29 So wird Petrus zwar nicht direkt legitimiert , aber der Apostel ebnet auf diesem Weg die sozialen Unterschiede zwischen den verschiedenen Kreuzfahrern ein und lässt sie als eine Gruppe erscheinen , die Gott zu seinem Instrument gemacht habe. Für die Interpretation des Kreuzzugs in dieser Chronik ist das entscheidend : Die communitas der Kreuzfahrer ist gottgewollt und deren Einheit und Eintracht gilt es zu bewahren , da sie Garanten des Sieges sind. In gewisser Weise werden hier jedoch zugleich die weltlichen und insbesondere die kirchlichen Hierarchien in Frage gestellt , da die Intervention der Heiligen nicht durch die Vermittlung des klerikalen Oberhaupts des Kreuzzugs zustande kam. Dies ist wiederum ein wichtiger Hinweis auf den Status der Liminalität der Kreuzfahrer auf ihrer Reise nach Jerusalem , da die geistliche Autorität des Petrus Bartholomäus scheinbar im Widerspruch zu seinem sozialen Status steht und ihn in Konflikt mit der geistlichen Autorität des päpstlichen Legaten bringt – die „normale“ Ordnung erscheint dadurch gestört. 27 RA X : „Rursus , paupertatis meae debilitatem recogitans , timere coepi , si ad vos venirem , famelicum me esse , et pro victu talia referre me proclamaretis.“ 28 RA X : „Domine , nonne precatus sum vos , ut alium eis mitteretis ? Etenim metuens paupertati meae , accedere ad illos dubitavi.“ Und auch bei einer späteren Erscheinung bittet er Andreas , doch einen weiseren Mann als ihn zu schicken : „Nonne ego precatus sum te , domine , ut alium pro me mitteres , qui et sapientior esset et quem vellent audire ?“ 29 RA X : „Nescisne cur Deus huc vos adduxit , et quantum vos diligat , et quomodo vos praecipue elegit. Pro contemptu sui et suorum vindicta , vos huc venire fecit. Diligit vos adeo ut sancti , jam in requie positi , divinae dispositionis gratiam praenoscentes , in carne esse , et concertare vobiscum vellent. Elegit vos Deus , ex omnibus gentibus , sicut triticeae spicae de avenaria colliguntur. Etenim meritis et gratia praeceditis omnes , qui ante et post vos venient , sicut aurum pretio praecedit argentum.“

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Wenig überraschend wirkt daher der Kommentar des Chronisten , dass Bischof Adhémar den Worten des Petrus keinen Glauben geschenkt habe. Graf Raymond dagegen habe dem Petrus geglaubt und ihn in die Obhut seines Kaplans , also keines Geringeren als unseres Chronisten Raimund , übergeben.30 Dass Graf Raymond den Visionen Glauben schenkte , erklärt sich schnell , denn schon in der ersten Vision hatte der Hl. Andreas gesagt , dass die Lanze Raymond übergeben werden müsse , denn Gott habe sie von Raymonds Geburt an für ihn aufbewahrt.31 Aus dieser ersten Szene spricht nicht nur ein Konflikt zwischen verschiedenen Offenbarungsansprüchen und Hierarchien , Steven Runciman hat auch zu zeigen versucht , dass sich Adhémars Zweifel aus seinem Wissen um eine bereits bekannte heilige Lanze speiste.32 Denn zur Zeit der Kreuzzüge konnte man in Konstantinopel die vermeintlich „echte“ heilige Lanze , also die Longinuslanze ,33 bewundern , die schon 614 aus dem Heiligen Land in die Kaiserstadt gekommen war. Eben hier , so Runciman , hatte wahrscheinlich auch Adhémar diese als authentisch geltende Lanze gesehen. Es ist vermutlich kein Zufall , dass sämtliche Chroniken des Ersten Kreuzzugs , die über den Lanzenfund in Antiochia berichten , die Lanze in Konstantinopel mit keinem Wort erwähnen. Spekulationen darüber , wie die Kreuzfahrer mit diesem offensichtlichen Widerspruch leben konnten , erscheinen hier jedoch müßig.34 Bevor es in der Chronik mit der Auffindung der Lanze weitergeht , wird noch von einer anderen Vision berichtet. Dem Priester Stephan aus Valence sei Christus selbst erschienen und habe unter anderem die Anweisung gegeben , die Kreuzfahrer müssten für fünf Tage jegliches Sündigen unterlassen und so werde ihnen die göttliche Gnade wieder zuteil.35 Christus habe sich 30 RA X : „Episcopus autem nihil esse praeter verba putavit : Comes vero illico credidit , et illum qui hoc dixerat capellano suo Raimundo , custodiendum tradidit.“ 31 RA X : „Veni , et ostendam tibi Patris nostri Jesu Christi lanceam , quam comiti donabis , etenim eam Deus concessit illi , ex quo genitus est.“ 32 Runciman 1950 , S. 199 f. 33 Vgl. Joh 19 :34. Zur Longinus-Legende vgl. Peebles 1911. 34 Runciman zeigte , wie man später die verschiedenen heiligen Lanzen (etwa auch den Speer in den Reichskleinodien des Heiligen Römischen Reiches) umdeutete , um ihnen allen Authentizität zusprechen zu können. Die heilige Lanze von Antiochia wurde übrigens erst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Papst Benedikt XIV. als unecht zurückgewiesen. Vgl. Runciman 1950 , S. 207 mit Quellenangaben. 35 RA XI : „Si feceritis , quae ego praecipio vobis , usque ad quinque dies , vestri miserebor.“

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bei Stephan auch darüber erkundigt , wer der Herr ihres Heeres sei , worauf Stephan geantwortet habe , dass es keinen einzelnen Anführer gäbe , man jedoch Bischof Adhémar am meisten vertraue.36 Deshalb erhielt Stephan den Auftrag , diese Anweisung an Adhémar weiterzugeben , so dass in diesem Fall die kirchlichen Hierarchien berücksichtigt wurden. John France hat den unterschiedlichen Visionen von Petrus und Stephan einen eigenen Artikel gewidmet , da sie ein deutlicher Beleg für die verschiedenen Konzeptionen vom Umgang mit Visionen und prophetischen Geistesbegabungen im Mittelalter seien : Die „heilige Armut“ des Petrus und die disziplinierte , die Autoritäten respektierende Haltung Stephans sind dabei nahezu diametral entgegengesetzt und dienen doch der Offenbarung des göttlichen Willens.37 Was John France dabei übersehen hat , ist der Zusammenhang zwischen den Visionen Petrus’ und Stephans. Denn tatsächlich halten sich die Kreuzfahrer an das fünftägige Fasten und am Ende dieser liturgischen Vorbereitungen hätten sich zwölf Männer aufgemacht und die Lanze am 14. Juni 1098 in der Petersbasilika ausgegraben – unter ihnen Petrus Bartholomäus , unser Chronist , Graf Raymond und Pons von Balauzun (Kap. XI). Nur durch die Kombination von Stephans und Petrus’ Visionen und durch die Befolgung der Anweisungen aus den Visionen beider Männer wird der Lanzenfund ermöglicht. Zu einer völligen Umkehrung der Verhältnisse kommt es also keineswegs , sondern ein Rest der „normalen“ Ordnung bleibt erhalten.38 Doch in dieser Chronik wird vor allem die geistliche Autorität des Visionärs Petrus Bartholomäus durch den Fund bestärkt , weshalb es vorerst so erscheint , als obsiege das „antistrukturelle Moment“ in Form des „heiligen Armen“. Raimunds Chronik bietet an dieser Stelle jedoch auch Anlass zu Spekulationen über einen möglichen Betrug , da der Chronist bemerkt , dass man zuvor alle anderen Christen aus der Kirche ausgeschlossen habe , und die Lanze habe man erst entdecken können , als Petrus allein in die tiefe Grube gesprungen sei , um sie hervorzuholen.39 Auch der als Beglaubigungsmittel eingesetzte Ver36 RA XI : „Et quis est Dominus in exercitu ? Et respondit presbyter : Domine , non fuit ibi unus solus Dominus unquam , sed magis episcopo credunt. Et dixit Dominus : Haec dices episcopo : Populus iste male agendo me elongavit a se , et ideo dicas eis : Haec dicit Dominus , Convertimini ad me et ego revertar ad vos.“ 37 France 2006. 38 Dies haben m. E. außer France auch andere Forscher übersehen , die sehr stark die Rolle der „Armen“ und des Petrus Bartholomäus betonen , wie etwa Rogers 1992. 39 RA XI : „Die autem alia , praeparatis necessariis , cum homine illo , qui de lancea

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weis auf die direkte Beteiligung unseres Chronisten am Geschehen40 lässt aus heutiger Sicht Zweifel daran aufkommen , welche Rolle hier die geteilten Interessen des Chronisten , des Grafen und des Visionärs gespielt haben könnten. Den Vorwurf des Priesterbetrugs gegenüber dem Chronisten Raimund hatte schon Clemens Klein 1892 in seiner Studie zu dieser Chronik sehr deutlich gemacht , und noch 2004 hat Beate Schuster in einem überaus polemischen Artikel Raimund als Betrüger dargestellt , der die Geistbegabung des Petrus Bartholomäus für seine Zwecke missbraucht habe und auch die Leser seiner Chronik nur habe verhöhnen und hinters Licht führen wollen.41 Diese negative Beurteilung des Chronisten ist in zeitgenössischen Quellen nicht zu finden , jedoch sehr wohl Zweifel an Petrus Bartholomäus und der Authentizität der Heiligen Lanze. Außer Bischof Adhémar waren es vor allem Personen aus dem normannischen Kontingent , die ihren Verdacht des Betrugs öffentlich formulierten. Die süditalienischen und sizilianischen Normannen waren den Provenzalen nicht wohl gesonnen , da ihr Anführer Bohemund von

dixerat , ejectis de ecclesia Beati Petri omnibus aliis , fodere coepimus.“ Und : „Videns autem juvenis qui de lancea dixerat , nos defatigari , discinctus , et discalceatis pedibus in camisia in foveam descendit ; atque obtestatus est nos ut Deum deprecaremur , quatenus nobis lanceam suam redderet , in confortationem et victoriam suae plebis.“ 40 RA XI : „Et ego qui haec scripsi , cum solus mucro , adhuc appareret super terram , osculatus sum eum.“ 41 Klein 1892 , S. 95 : „[E]in schleichender Schurke , ein gewissenloser Betrüger , und Religion und Glauben , für die er zu wirken vorgab , existierten für ihn nicht.“ Schuster 2004 , S. 104 : „Fundament für die dabei zum Ausdruck kommende Verachtung der Kreuzfahrer und der Leser ist ein Überlegenheitsgefühl , das auf den liturgischen und seelsorgerischen Funktionen des Priesteramtes beruht. Raimund leitet aus ihnen eine Mittlerstellung zu Gott ab , die die Kleriker auf eine Stufe mit Heiligen und Engeln stellt. Da er damit seine Manipulation der Gläubigen rechtfertigt , wird diese Vorstellung für einen Leser , der nicht seiner eigenen Irreführung zustimmen will , unannehmbar. Hinzu kommt , daß Raimunds Verhalten im innerkirchlichen Konkurrenzkampf jede moralische Begründung dieser Überlegenheit unmöglich macht. Raimund verleumdet seine Gegner , ‚vergißt’ , wenn es um seine eigene Karriere geht , dieselben kirchenrechtlichen Bestimmungen und moralischen Erwägungen , die er zur Verurteilung anderer heranzieht , stuft sie als Ungläubige und Häretiker ein und schreckt allem Anschein nach nicht einmal vor einem Mord zurück. Gegenüber einem so friedfertigen Laien wie Petrus Bartholomäus erscheint dieser Kleriker daher fast als Inkarnation des Bösen.“

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Tarent42 mit Graf Raymond um die militärische Führungsrolle auf dem Ersten Kreuzzug konkurrierte , was im Laufe dieser Geschichte noch eine Rolle spielen wird.43 Zum anderen waren es die Normannen aus Nordfrankreich , die vor allem um die geistliche Führung des Kreuzzugs mit den Provenzalen konkurrierten. Der einflussreichste Geistliche in ihrem Kontingent war Arnulf von Chocques ,44 Kaplan des normannischen Grafen Robert II. und später lateinischer Patriarch von Jerusalem. Auch der stärkste historiographische Beleg für die Ablehnung des Petrus und der Heiligen Lanze stammt aus der Normandie – es sind die Gesta Tancredi des Radulf von Caen ,45 wobei zu bemerken ist , dass Radulf ein Schüler Arnulfs von Chocques war und somit vermutlich auch dessen Sicht vertrat. Entsprechend ausführlich gibt auch Radulf die Visionen des Petrus wieder , allerdings behauptet er , Petrus habe eine rostige , alte arabische Speerspitze vergraben , die er zufällig gefunden hatte , da er wusste , würde man eine neue , lateinische Speerspitze finden , würde sein Betrug alsbald entdeckt.46 Radulf konnte hier auf die entsprechende , in der Tat etwas merkwürdige Bemerkung bei Raimund über Petrus’ Sprung in die Grube zurückgreifen.47 Nach Radulf sei jedoch viel einfaches Volk in der Kirche gewesen , das Petrus glaubte und mit ihm feierte. Aber auch Graf Raymond und seine Anhänger hätten Petrus geglaubt und Radulf macht deutlich , dass dies alles zu Gunsten der Provenzalen geschah und Raymonds Stellung im Kreuzfahrerheer sich durch diesen Fund deutlich verbesserte.48 Weiterhin lässt Radulf in einer längeren Rede den

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Vgl. etwa Flori 2007. Vgl. dazu vor allem France 1970. Vgl. etwa Foreville 1955. Vgl. die Einleitung in Bachrach /  Bachrach 2005 , S. 1–15. Dazu auch Boehm 1955. Als Edition wird hier benutzt : Radulf von Caen 1854. Bei Zitaten im Folgenden als RC abgekürzt. 46 RC C : „Habebat autem ipse clam apud se cuspidis Arabicae ferrum , de cujus inventione fortuita , materiam fallendi sibi assumpserat : Scabram quippe intuitus , exaesam , annosam , usui nostro forma et quantitate dissimilem , auspicatus est illico hinc fidem novis figmentis adhaesuram.“ 47 Vgl. Anm. 39. 48 RC CI : „Haec Raimundus et qui ei favebant concinnabat : sed et aliarum partium rudis simplicitas oblationibus deserviebat ; ante victoriam quidem instanter , post eam vero multo instantius , quasi trophaei gloria praelatae in bellum lanceae juxta Provincialium clamorem foret adscribenda. Igitur Raimundi ampliabatur fiscus , extollebatur animus , insolescebat exercitus.“

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normannischen Fürsten Bohemund mit geradezu historischer Quellenkritik über diesen Fund urteilen (Kap. CII). Nicht nur wird der Fund der Lanze als völlig unglaubwürdig entlarvt , auch kritisiert Bohemund , dass die Provenzalen den darauf folgenden Sieg über Kerbogha einem Stück Eisen zuschrieben , wobei es doch die göttliche Lenkung und der göttliche Wille gewesen sei en, die die Kreuzfahrer den Sieg erringen ließen.49 Der „gierige Graf und sein tölpelhaftes Volk“ sind die eigentlichen „Schurken“ nach der Darstellung Radulfs. Auch für diese Einschätzung kann die Chronik Raimunds als Negativkontrastfolie dienen , denn dort heißt es , dass in der Nacht nach der Auffindung der Lanze der Hl. Andreas wiederum dem Petrus erschienen sei. Der Heilige habe darauf hingewiesen , dass die Lanze nur für Graf Raymond bestimmt sei und Raymond von Gott zum Anführer des Kreuzzugs auserkoren wurde , wenn dieser nur fest an seiner Liebe zu Gott festhalte.50 Die Lanze wird damit nochmals deutlich als Insignie des Führungsanspruchs Raymonds und der Provenzalen in dieser Chronik gekennzeichnet. Diese Szene ist auch hinsichtlich der Figur des Visionärs Petrus beachtenswert , denn dieses Mal wird der Heilige sogar von Christus selbst begleitet und im Namen des Herrn teilt der Hl. Andreas dem Visionär deutliche liturgische Vorschriften mit , an die sich die Kreuzfahrer in den folgenden Tagen zu halten hätten , damit der Herr ihnen gnädig sei (Kap. XI). Dass Petrus so genaue Angaben zur Liturgie machen konnte , erweckte offenbar Zweifel , so dass der Chronist beschreibt , wie er selbst und der Bischof von Orange Petrus später nach seinem Bildungsstand befragt hätten.51 Petrus habe geantwortet , dass er keine klerikale Ausbildung erhalten habe („scire litterae“) , er also die genannten (lateinischen !) Texte gar nicht kenne , jedoch bemerkt der Chronist , dass der Visionär dies wohl ge49 RC CII : „Nam quid tantae illi contumeliae rependam , quod nostram quae de sursum est descendens a patre luminum victoriam , ferro suo Provinciales deputant ? Deputent ipsi suam comes cupidus , et vulgus stolidum : nos autem in nomine Domini Dei nostri Jesu Christi vicimus et vincemus.“ 50 RA XI : „Ecce Deus donavit comiti quod nulli alii unquam donare voluit , et constituit eum vexilliferum istius exercitus si quidem perseveraverit in amore ejus.“ 51 RA XI : „Cum autem ad haec episcopus Aurasicensis , et ego quaereremus si sciret litteras , respondit : Nescio : Existimans , si diceret scio , non crederemus ei. Et erat aliquantulum sciens , sed in ipsa hora ita ignoravit ut nec litteras cognosceret ; neque aliquid eorum quae litteris didicerat memor esset , exceptis , Pater noster ; et , Credo in Deum , et , Magnificat ; et , Gloria in excelsis Deo ; et , Benedictus Dominus Deus Israel. Caetera enim ita perdiderat , ac si nunquam ea audisset : et licet cum maximo labore , pauca postea recuperare potuit.“

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antwortet habe , weil er wusste , man würde ihm nicht glauben , behauptete er das Gegenteil. Eine eingehendere Befragung hätte ergeben , dass Petrus einige wenige grundlegende liturgische Stücke kannte , jedoch zumindest in jenem Moment der Vision sich an nichts , was er gelernt hatte , erinnern konnte. Dieser kleine Exkurs wirkt ein wenig verwirrend , weil er nahelegt , dass Petrus Bartholomäus eben doch nicht ein einfacher Bauer war , sondern möglicherweise sogar ein ausgebildeter Priester. Für die Authentizität seiner Vision war jedoch seine Unkenntnis ein wichtiger Beleg , da sie zu garantieren schien , dass Petrus sie sich nicht selbst ausgedacht , sondern sie lediglich mit reinem , unvoreingenommenem Geiste empfangen habe.52 In der Auseinandersetzung um die Heilige Lanze bemerkt man einerseits die „gentile Fremdheit“ im Kreuzfahrerheer , wie Thomas Haas es genannt hat ,53 denn die Hl. Lanze habe zwar den Mut der Kreuzfahrer insgesamt gestärkt , doch trägt sie zugleich zur Entzweiung bei , da die Normannen an ihrer Authentizität zweifeln , besonders weil die Lanze so deutlich an den Führungsanspruch der Provenzalen geknüpft ist. Andererseits wird hier schon das soziale und hierarchische Gefälle im Kreuzfahrerheer sichtbar , das auch in unterschiedlichen Frömmigkeitsformen zum Ausdruck kommen konnte. Denn das Vertrauen in einen geistbegabten „Armen“ war sicherlich nichts spezifisch Provenzalisches , aber die Geschichte der religiösen Gemeinschaften in Südfrankreich im Hochmittelalter weist darauf hin , dass die Affinität zu volksnahen religiösen Praktiken in diesem Gebiet besonders hoch war.54 Für die klerikale Elite , sei es auf dem Kreuzzug oder in Frankreich , stellte der alternative Offenbarungsanspruch „einfacher Leute“ zweifellos eine große Herausforderung dar. So gibt es gleich mehrere Gründe , warum der Kampf um die Authentizität der Heiligen Lanze zu einer Bewährungsprobe für den gesamten Kreuzzug werden konnte.

III. „vulgus“ versus „principes“ und der „Schrecken Gottes“ Trotz des Lanzenfundes war die Situation in Antiochia keineswegs einfacher geworden – immer noch wurde die Stadt belagert , es herrschten Hunger und 52 Dies erinnert an das Phänomen der Xenoglossie , dessen Bedeutung als göttliches Charisma in Apg 2 : 3–18 dargestellt wird. 53 Haas 2008. 54 France 2006 , S. 18 f. Vgl. dazu auch Schuster 2002.

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Verzweiflung und viele Kreuzfahrer flohen (Kap. XI). Bevor es also zur erfolgreichen Attacke gegen Kerbogha am 28. Juni kam , wird in der Chronik Raimunds nochmals von einer Vision des Petrus Bartholomäus berichtet. Auch dieses Mal habe der Hl. Andreas sehr deutliche Angaben dazu gemacht , wie die Kreuzfahrer sich liturgisch auf den Kampf vorbereiten sollten , und er habe den Kreuzfahrern versichert , dass sie erfolgreich sein würden , denn nun sei die Zeit gekommen , in der sich die biblische Prophezeiung erfülle , dass die heidnischen Königreiche fallen werden.55 Bemerkenswert ist dabei , dass diese Vision das einfache Volk der Kreuzfahrer (vulgus) und nicht etwa die Führungsspitze (principes) zum Kampf ermutigt habe.56 Zuvor wurde nämlich berichtet , dass Stephan von Blois geflohen sei , dem man in der Belagerungssituation eigentlich die militärische Führung übertragen hatte , außerdem sei Graf Raymond krank gewesen und so habe Bohemund von Tarent für 15 Tage die Führung übertragen bekommen. Doch anstatt nur die Belagerer vom Eindringen in die Stadt abzuhalten , wie es offenbar Bohemunds Plan war , drängte die Masse der Kreuzfahrer die Führungsspitze nach dieser Vision dazu , aktiv anzugreifen. In dieser Szene wird schon sichtbar , welcher Konflikt von nun an bis zur Eroberung der Stadt ’Arqa bestimmend werden sollte , nämlich jener zwischen der Mehrheit des Heeres und den Anführern des Kreuzzugs. Doch im Kampf gegen Kerbogha wirkten alle zusammen und der Chronist bemerkt , ihr Zug sei wie eine Prozession gewesen , die von weißgekleideten und barfüßigen Priestern begleitet wurde , und die Heilige Lanze , die Raimund – unser Chronist – selbst in die Schlacht getragen habe , hätte die Kreuzfahrer vor den Angriffen ihrer Feinde geschützt.57 Durch göttliche Intervention sei es den Feinden so erschienen , als seien die Kreuzfahrer in der Überzahl , und auch ein süßer Schauer habe die Kreuzfahrer erfrischt und die 55 RA XI : „Sed scitote profecto quia advenerunt dies illi , quos promisit Dominus beatae semper virgini Mariae , et apostolis suis , quod elevaret regnum Christianorum , dejecto et conculcato paganorum regno.“ 56 RA XI : „Vulgus etiam , quod diebus praeteritis inopia atque formidine consumptum esse videbatur , principibus modo conviciabatur , de belli dilatione.“ 57 RA XII : „Egressis itaque ordinibus , stabant sacerdotes nudis pedibus et induti sacerdotalibus vestimentis supra muros civitatis , Deum invocantes ut populum suum defenderet , atque testamentum quod sanguine suo sancivit , in hoc bello per victoriam Francorum , testificaretur. [ …] Inter haec , licet majores hostium ordines , nobis qui in turma episcopi eramus incumberent , tamen per praesidium Dominicae lanceae , quae ibi erat , nullum ibi vulneraverunt , sed neque sagittam nobis intorserunt. Vidi ego haec quae loquor , et Dominicam lanceam ibi ferebam.“

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Feinde verängstigt , so dass es kaum zu einer richtigen Schlacht kam , sondern die „Türken“ geflohen seien und man reiche Beute machen konnte (Kap. XII). Doch sogleich zerbricht die Einheit der Kreuzfahrer wieder und der Chronist schildert eine geradezu anarchische Situation in Antiochia , da sich die Kreuzzugsführer darüber stritten , wem nun welcher Teil der Stadt unterstünde , und auch die einfachen Kreuzfahrer hätten sich über die Aufteilung der Beute zerstritten. So verblieb man vorerst in Antiochia und noch in diesen Tagen sei Bischof Adhémar verstorben. Auch dieses Ereignis wird wieder zum Anlass einer Vision , denn nach dessen Bestattung sei der Bischof zusammen mit dem Hl. Andreas dem Visionär Petrus Bartholomäus erschienen. Ausführlich berichtet Adhémar , dass er in der Hölle gewesen sei und für seine vielen Sünden im Höllenfeuer gebrannt habe – nur einige gute Taten und die Intervention der für ihn Betenden hätten dafür gesorgt , dass Gott ihn wieder aus der Hölle befreite. Indirekt gibt der Bischof hier zu , dass sein Zweifel an der Echtheit der Heiligen Lanze eine seiner schwersten Sünden war , denn auch die drei Denare , die er als Opfer für die Lanze gegeben habe , zählt er unter die Dinge , die zu seinem „Freikauf“ geführt hätten.58 Mit dieser Erscheinung wird das Fehlverhalten des Bischofs und damit , um in der Terminologie Turners zu bleiben , das Versagen der Struktur öffentlich gemacht und gleichzeitig die Antistruktur bestärkt , da Petrus Bartholomäus nun als die eigentliche geistliche Autorität auf dem Kreuzzug erscheint. Und so überrascht es nicht , dass dieses Mal der Hl. Andreas dem Visionär ganz klar politische Anweisungen mitteilt (Kap. XIII). So solle Petrus sich an Graf Raymond wenden , denn Gott habe ihm die Stadt übergeben und es sei nun an ihm und den anderen Kreuzzugsführern , einen geeigneten Statthalter für Antiochia zu finden. Besonders wichtig sei , dass man sich in Frieden und in der Liebe Gottes darüber berate, und besonders solle ein Zwist zwischen Raymond und Bohemund vermieden werden. Auch solle jeder , dem es möglich sei , die Armen nach Kräften unterstützen.59 Doch weder wurde eine 58 RA XIII : „Etenim peccavi graviter postquam Domini lancea reperta est. [ …] Tamen nihil de omnibus , quae de patria mea detuli , adeo mihi profuit sicut haec candela , quam amici mei hic pro me obtulerunt ; et illi tres denarii , quos ego lanceae obtuli. Haec etenim me refecerunt , cum usque ad mortem esuriens de inferno progrederer.“ 59 Danach (Kap. XIII) folgt ein Einschub , der jedoch in manchen Handschriften erst bei der Erzählung von Petrus’ Ende in Kap. XVIII erscheint. Demnach habe Petrus kurz vor seinem Tod Graf Raymond Anweisungen zur Aufbewahrung der Hl. Lanze gegeben. In Arles , in der Nähe der Kirche Saint-Trophime , sollte eine

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solche Versammlung abgehalten noch kümmerte man sich um die Bedürftigen – so das Urteil des Chronisten.60 So zweifelte in dieser Situation offenbar niemand die geistliche Autorität des Petrus an , an die durch ihn vermittelten Anweisungen aber hielten sich die Kreuzzugsführer nicht. Im Weiteren wird berichtet , wie das Heer Raymonds in das Umland Antiochias aufbrach , um durch Plünderungen die Versorgung der ärmeren Kreuzfahrer zu ermöglichen. Und auch hier kommt es wieder zu einer Vision (Kap. XIII). Bemerkenswert ist dabei , dass Petrus Bartholomäus dieses Mal nicht alleine ist , sondern der Bischof von Apt , ein Kaplan namens Simon und unser Chronist anwesend sind , als der Hl. Andreas ein weiteres Mal erscheint. Ausführlich wird beschrieben , dass Simon vieles von der Konversation zwischen dem Heiligen und Petrus gehört habe , sich jedoch später nicht mehr daran erinnern konnte ; der Bischof sei sich nicht sicher gewesen , ob er nur im Traum mit dem Heiligen gesprochen habe , und unser Chronist schließlich hätte nur das Gefühl von hellem Licht und göttlicher Präsenz gehabt. Dies alles dient wiederum dazu , die Authentizität der Vision zu stützen , da nur Petrus sie in vollem Umfang erhielt und wiedergeben konnte – die anderen dienten jedoch durch ihre Teiloffenbarungen als wertvolle Zeugen , ohne dass sie zur Manipulation der Vision befähigt gewesen wären. Der Hl. Andreas habe demnach Petrus zurechtgewiesen , da der Visionär die Relikte des Heiligen unachtsam behandelt habe – hier wird erstmals deutlich , warum ausgerechnet dieser Heilige ständig dem Petrus erscheint , denn offenbar fand man nicht nur die Heilige Lanze in der Petersbasilika in Antiochia , sondern auch die Gebeine des Hl. Andreas.61 In erster Linie gilt die Vision jedoch wieder Graf Raymond , den der Heilige deutlich für seine vielen Sünden kritisiert und dazu auffordert , zuerst für seine Sünden Abbitte zu leisten , bevor er irgendetwas Neues unternehme ; auch solle Graf Raymond seine Berater zurechtweisen , denn sie hätten ihn absichtlich schlecht beraeigene Kirche für die Lanze erbaut werden , doch dazu kam es nicht , weil Graf Raymond sie entweder dem byzantinischen Kaiser Alexius schenkte oder weil sie auf Raymonds Feldzug 1101 in Anatolien verloren ging. Dazu Runciman 1950 , S. 205 f. 60 RA XIII : „Atque sic per hujusmodi discordias et seditiones , res pauperum annullatae sunt. De consilio autem quod apud Sanctum Andream accipere principes debuerunt , nihil fuit.“ 61 RA XIII : „Et comminatus est mihi multum beatus Andreas , eo quod reliquias corporis ipsius apud Antiochiam repertas in ecclesia ipsius , in quodam loco indigno dimiserant.“

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ten – gemeint ist vermutlich die Verzögerung des Marsches nach Jerusalem. Ein Hinweis auf die Macht , die sich für Petrus durch diese exklusiven Offenbarungen ergab , findet sich am Ende dieses Abschnitts , wo es heißt , dass der Hl. Andreas dem Petrus noch viel mehr mitteilte , worüber dieser jedoch vorerst nicht sprechen wollte.62 Doch anscheinend werden die Anweisungen des Heiligen wiederum ignoriert , denn nachdem Raymonds Truppen Al-Bara (im heutigen Syrien) erobert hatten, trafen die meisten Kreuzzugsheere wieder in Antiochia zusammen. Dort sollte über den Weitermarsch nach Jerusalem beraten werden , doch stattdessen gerieten die Kreuzzugsführer zum wiederholten Male in Streit darüber , wem Antiochia zu übergeben sei. Von diesen Streitigkeiten berichten auch alle anderen Chroniken , doch für die Darstellung Raimunds ist diese discordia von besonderer Bedeutung , kennzeichnet sie doch genau den Zustand , vor dem der Hl. Andreas insbesondere gewarnt hatte. Und tatsächlich vertieft dieser Streit einmal mehr die Kluft zwischen principes und vulgus , denn in einer fiktiven Rede lässt der Chronist die einfachen Kreuzfahrer zu Wort kommen , die erst versteckt und dann öffentlich den unverzüglichen Weitermarsch nach Jerusalem gefordert hätten (Kap. XIII). Sie hätten sich demnach sogar selbst einen tapferen Ritter erwählen wollen , der sie nach Jerusalem führen sollte , da die eigentlichen Kreuzzugsführer offenbar mehr mit Antiochia als mit dem eigentlichen Ziel des Kreuzzugs beschäftigt waren. Nach dem Zeugnis dieser Chronik hätte das „Volk“ sogar hier schon damit gedroht , die Mauern Antiochias zu schleifen , um die Anführer zur Aufgabe der Stadt zu bewegen63 – zu einem solchen Verzweiflungsakt sollte es dann aber erst in Maarat an-Numan kommen. Schon hier lässt die Chronik Raimunds es so erscheinen , als sei es keine freie Entscheidung der Kreuzzugsführer gewesen , die Weiterreise in Angriff zu nehmen , sondern dass sie mehr oder weniger durch den Unmut der einfachen Kreuzfahrer dazu gezwungen wurden. Um sich also mit Proviant für die Reise nach Jerusalem zu versorgen , griffen das provenzalische und flandrische Kontingent die Stadt Maarat an-Numan (im heutigen Syrien) an , doch die Eroberung gelang nicht auf Anhieb und wieder brach eine Hungersnot im Heer aus (Kap. XIV). Wie immer in solchen 62 RA XIII : „Haec et alia mihi locutus est sanctus Andreas , de quibus nunc non est locus dicendi , et sublati sunt , ipse et socii ejus.“ 63 RA XIV : „Quod si haec tanta lis diutius , propter Antiochiam , datur , diruamus muros ejus , et pax quae ante captam civitatem principes tenuit , destructa civitate eosdem tenebit.“

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Krisensituationen wurde Petrus Bartholomäus eine erneute Vision zuteil. Dieses Mal erkannte er jedoch die Heiligen nicht auf Anhieb , da sie in schäbiger Kleidung wie abgerissene Bettler erschienen.64 Nachdem der Hl. Andreas und sein Begleiter , der Hl. Petrus , sich dem Visionär zu erkennen gaben , habe der Hl. Andreas Petrus Bartholomäus einmal mehr zurechtgewiesen , denn die Hungersnot und der allgemein schlechte Zustand der Kreuzfahrer sei deren eigene Schuld , da sie sich nicht für die Hilfe Gottes in Antiochia bedankt hätten und immerfort sündigten. Auch könne die Eroberung der Stadt nicht gelingen , da sie allein auf ihre eigenen Fähigkeiten und nicht auf Gottes Hilfe gebaut hätten. Nachdem diese Vision Raymond und den anderen Führern mitgeteilt wurde , bereitete man die Erstürmung der Stadt liturgisch vor , und so gelang sie schließlich auch. Doch kaum hatten die Kreuzfahrer die Stadt eingenommen , kam es wieder zu Streitigkeiten , denn in der Zwischenzeit waren Bohemund und sein normannisches Kontingent eingetroffen und beanspruchten einen Großteil der Beute und die Gewalt über die Stadt für sich. In dieser Situation wurde eine Versammlung abgehalten , in der wiederum das „Volk“ der Kreuzfahrer Raymond angefleht habe , endlich nach Jerusalem weiterzumarschieren , doch Raymond konnte sich darauf nicht ohne weiteres einlassen , mussten doch auch die anderen Kreuzzugsführer zustimmen , ohne die das provenzalische Kontingent den Weg nach Jerusalem nicht hätte beschreiten können.65 Raymond machte sich daher zu einer Versammlung nach Antiochia auf , doch schon bald wurde für die in Maarat an-Numan Zurückgebliebenen klar , dass diese Beratungen eher zu einer Verzögerung denn zum Aufbruch beitrugen. Obwohl also Graf Raymond durch die Hl. Lanze als Anführer der Kreuzfahrer durch Gott ausgezeichnet wurde , erwies er sich nach der Darstellung dieser Chronik als unfähiger Führer , da er die Weiterreise verzögerte und sowohl die Anweisungen des Hl. Andreas als auch die Bitten des Kreuzfahrervolkes ignorierte. In Maarat nahm daraufhin das „Volk“ (populus) sein Schicksal selbst in die Hand und begann heimlich , die Mauern der Stadt zu schleifen (vgl. Kap.

64 RA XIV : „Tunc ille subito , videns eos deformi veste et sordidissima indutos , scriniis ubi reliquiae manebant assistere , pauperes esse aliquos credidit , qui aliquid de tentorio vellent subripere.“ 65 Sie hätten Raymond sogar vorgeschlagen , er solle ihnen die Heilige Lanze übergeben ; sie würden ohne Anführer , aber mit göttlicher Leitung allein nach Jerusalem ziehen , RA XIV : „Alioquin , traderet lanceam populo , et iret populus in Jerusalem , ipso Domino duce.“

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XIV). Dann , so heißt es weiter , sei der Hunger im Heer so groß geworden , dass das Volk anfing , die schon stinkenden Leichen der Sarazenen , die sie zwei oder drei Wochen zuvor in die Sümpfe geworfen hatten , mit größter Begierde aufzuessen.66 Das habe nicht nur viele vom eigenen Volk , sondern auch viele Fremde erschreckt. In einer fiktiven Rede wird dann wiedergegeben , was Türken und Sarazenen dazu gesagt hätten : „Die Kreuzfahrer sind ein so verstocktes und grausames Volk , das durch nichts zum Aufgeben bewegt werden kann. Fast ein Jahr haben sie Antiochia belagert , weder Hunger noch Schwert noch andere Gefahren haben sie zurückweichen lassen , und nun schrecken sie nicht einmal mehr vor dem Verzehr von Menschenleichen zurück.“67

Nach diesem „Zitat“ schaltet sich die autoritative Stimme des Erzählers ein und kommentiert , solche und andere schlimme Geschichten hätten sich die Heiden untereinander erzählt. Sein eigenes Fazit bestätigt aber das Urteil der Muslime : „Gott hatte unser ganzes Volk zu einem Gegenstand des Schreckens gemacht , und wir wussten nichts davon.“68 Somit erscheint der Kannibalismus als absoluter Tiefpunkt , an dem die Kreuzfahrer beinahe ihre Menschlichkeit verlieren und zu einem „Schrecken Gottes“ geworden sind.69 Denn im Grunde hatte sich die anarchische Situation nur von Antiochia nach Maarat verlagert – nach Adhémars Tod gab es kein von allen akzeptiertes geistliches Oberhaupt und die untereinander zerstrittenen principes waren ebenfalls nicht 66 RA XIV : „Interea tanta fames in exercitu fuit , ut multa corpora Sarracenorum jam foetentium , quae in paludibus civitatis ejusdem per duas hebdomadas et amplius jacuerant , populus avidissime comederet. Terrebant ista multos tam nostrae gentis homines quam extraneos. Revertebantur ob ea nostri quam plures , desperantes de itinere , sine succursu de gente Francorum. Sarraceni vero et Turci econtra dicebant  […]“ 67 RA XIV : „Et quis poterit sustinere hanc gentem , quae tam obstinata atque crudelis est ut per annum non potuerit revocari ab obsidione Antiochiae , fame vel gladio , vel aliquibus periculis , et nunc carnibus humanis vescitur ? Haec et alia crudelissima sibi , in nobis dicebant esse pagani.“ 68 RA XIV : „Etenim dederat Deus timorem nostrum cunctis gentibus ; sed nos nesciebamus.“ 69 Eine ausführliche Analyse des Kreuzfahrerkannibalismus in Maarat findet sich etwa in Rubenstein 2008. Vgl. auch Janet 2004. Und für eine postkoloniale Lesart des Kreuzfahrerkannibalismus Heng 1998.

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willens und nicht in der Lage , den Zug auf Jerusalem fortzusetzen. Der göttliche Beistand schien verloren. Zwar wird auch in den meisten anderen Chroniken vom Kreuzfahrerkannibalismus berichtet , doch wird diese Tat meist nur als mehr oder weniger natürliche Reaktion auf die Hungersnot geschildert und die Kannibalen werden zumeist als „Arme“ (pauperes) sozial von den „richtigen“ Kreuzfahrern abgegrenzt , was teilweise so weit führte , dass aus diesen Kannibalen in der Kreuzzugsepik ein eigenes Bettlervolk , die Tafurs ,70 gemacht wurde. In Raimunds Chronik dagegen erscheint der Kannibalismus als ein aggressiver Akt der Selbstermächtigung des „Volkes“, also aller Kreuzfahrer unterhalb der Führungsebene , die Gottes Anweisung zum Weitermarsch folgen wollen , jedoch von den Fürsten daran gehindert werden , so dass sie nicht nur die Mauern der Stadt schleifen , um dort einen längeren Aufenthalt unmöglich zu machen , sondern ihre verzweifelte Lage auch durch das Essen der verrotteten Leichen zu symbolisieren scheinen. Die Ethnologin Peggy Reeves Sanday hat den ritualisierten Kannibalismus unter anderem als einen Akt zur Herstellung von sozialer Ordnung beschrieben.71 Im Rahmen der Chronik Raimunds könnte dieser „staged cannibalism“, wie Jay Rubenstein ihn genannt hat ,72 die Funktion erfüllen , dass die „Armen“ den Fürsten die göttlich angeordnete Notwendigkeit zum Aufbruch vor Augen führten , da bei einem längeren Verbleib in Maarat die göttliche Gnade verspielt würde und der Kreuzzug nicht mehr zu einem Akt der Buße und der Neuschöpfung werden könne. Während also im Zuge der Auffindung der Heiligen Lanze den Visionären , insbesondere Petrus Bartholomäus , die ihnen zustehende Autorität anerkannt wurde , versuchte das Kreuzfahrervolk , in diesem unmenschlichen Akt des Kannibalismus ebenfalls die ihnen zustehende Autorität einzufordern , da sie in diesem Moment als die wahren Träger der Kreuzzugsidee und damit als die dem göttlichen Willen Folgenden erscheinen. Sie versinnbildlichen damit zugleich die Antistruktur , die nun selbst die Funktion der Struktur übernimmt und somit überhaupt ein Fortbestehen der Kreuzfahrergemeinschaft ermöglicht. Denn tatsächlich habe , der Darstellung dieser Chronik folgend , dieser Vorfall die Kreuzzugsführer dazu bewegt , den Weg nach Jerusalem wieder aufzunehmen. Und so erscheint es in Raimunds 70 Vgl. dazu etwa Kleber 2009 ; Sumberg 1959. 71 Sanday 1986 , S. 214. 72 Rubenstein 2008 , S. 540. Obwohl er dies nicht für die Chronik Raimunds annimmt.

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Chronik für eine Weile , als ob alles gut vorangegangen und Gott allen Kreuzfahrern gnädig gewesen sei , auch weil man unnötige Verzögerungen vermied (Kap. XIV bis XVI). In der Stadt ’Arqa entscheidet sich jedoch dann das Schicksal des Visionärs Petrus Bartholomäus , was insgesamt zu einem Wendepunkt in dieser Chronik wird.

IV. Das Ende eines Visionärs und Sieg der Hierarchie Dramaturgisch leitet der Chronist diese entscheidende Szene mit einem sehr langen Visionsbericht des Petrus ein , indem nun erstmals Jesus Christus selbst mit dem Visionär spricht (Kap. XVII). Beglaubigt wird diese Vision dadurch , dass Christus sich als Gekreuzigter zeigt , der Hl. Petrus und der Hl. Andreas erscheinen dieses Mal nur als Begleiter. Christus gibt dem Visionär ausführliche Anweisungen für einen Test , dem zufolge man das ganze Kreuzfahrerheer in Schlachtenformation antreten lassen solle ; in der fünften Kolonne fänden sich die Verräter , die augenblicklich zu töten seien ;73 auch solle Petrus das Heer auffordern , Richter zu bestimmen , um Rechtsstreitigkeiten beizulegen. Es ist kaum verwunderlich , dass Petrus daran zweifelte , dass man ihm diese Vision glauben würde ,74 und auch der Chronist berichtet davon , dass dieses Mal sehr deutliche Zweifel an Petrus und sogar an der Echtheit der Hl. Lanze geäußert wurden.75 Bemerkenswert ist , dass es keinen direkten und öffentlichen Widerspruch gab , solange Petrus’ Visionen durch Heilige wie Andreas gewirkt wurden , auch wenn schon durch diese früheren Visionen nicht nur liturgische , sondern auch politische und militärische Anweisungen mitgeteilt wurden , wie sie einem einfachen Laien kaum zustanden. Dass nun aber der Herr selbst sich einem „Bauern“ (homo rusticus) offenbart und dabei Fürsten und Bischöfe übergangen habe , war allem Anschein nach ein zu großer Affront. Die Symbolfigur des Antistrukturellen hatte hier offensichtlich ihre 73 Zwar wird in der Literatur immer wieder behauptet , der Begriff „Fünfte Kolonne“ sei zuerst im Spanischen Bürgerkrieg von General Mola benutzt worden , doch Raimunds Chronik legt nahe , dass dieser Begriff bereits mittelalterlichen Ursprungs ist. Vgl. nur : o. A. 1991. 74 RA XVII : „ Et dixi ad eum : Domine Deus , si hoc dixeno , non credent mihi.“ 75 RA XVII : „Cum autem haec fratribusostendissemus , coeperunt quidam dicere , quod nunquam crederent quod hujuscemodi homini loqueretur Deus , et dimitteret episcopos et principes , et ostenderet se homini rustico ; unde etiam de lancea Domini dubitabant.“

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Kompetenz überschritten , sodass die Repräsentanten der Struktur sich ihr hier erstmals direkt und öffentlich entgegenstellten. Auch die drastische Maßnahme , einen Teil des Heeres aufgrund seines Zweifels zu töten , dürfte den Kreuzzugsführern als überaus problematisch erschienen sein , so dass spätestens bei dieser Vision eine Überprüfung notwendig wurde , ob hier tatsächlich noch die Mächte des Guten am Werk waren. Denn Visionen und übernatürliche Ereignisse galten auch im Mittelalter als prinzipiell unsichere Ereignisse , die von guten , aber auch von bösen Mächten gewirkt sein oder sich als Erfindungen von Menschen herausstellen konnten.76 Im Regelfall diente die Autorität der Zeugen dieser Ereignisse als Maßstab , um deren Glaubhaftigkeit zu überprüfen. Die Autorität des Petrus wurde aber zu diesem Zeitpunkt offenbar bereits von einer Mehrheit in Zweifel gezogen. Entsprechend habe man nicht nur jene zusammengerufen , die an die Offenbarungen des Petrus glaubten , sondern auch Arnulf von Choques , der als geistiges Oberhaupt der Zweifler galt , da er ein gelehrter Mann gewesen sei und viele ihm glaubten.77 Arnulf habe sich auf Bischof Adhémar berufen , der ebenfalls an der Echtheit der Lanze gezweifelt habe. Daraufhin seien verschiedene Zeugen aufgetreten , die alle Visionen erhielten , die die Echtheit der Lanze und ihre Bedeutung für den Kreuzzug bestätigten – unter ihnen auch Stephan von Valence und der Bischof von Apt , die schon früher in dieser Chronik als Visionäre aufgetreten waren , sowie unser Chronist selbst , der schließlich unmittelbar an der Auffindung der Lanze beteiligt gewesen war. Erstmals begegnet hier auch der Priester Peter Desiderius ,78 dem – wie schon Petrus Bartholomäus – Bischof Adhémar nach seiner Höllenfahrt erschienen sei , und ihm habe Adhémar mitgeteilt , dass der Zweifel an der Echtheit der Lanze zu seiner Bestrafung geführt habe. Wie der Chronist bemerkt , erhielt Peter noch viele andere Visionen , auf die später noch zurückzukommen sei79 – tatsächlich nimmt Peter Desiderius nach 76 Vgl. etwa Newman 2005. 77 RA XVII : „Quapropter convocavimus fratres illos quibus de lancea aliquando revelatum fuerat , et post haec Arnolfum capellanum comitis Northmanniae , qui caput omnium incredulorum erat , et quia litteratus erat , credebant ei multum , et quaesivimus ab eo , quare ipse dubitaret.“ Zu Arnulf vgl. S. 456. 78 Für eine bessere Übersichtlichkeit habe ich den Namen dieses Visionärs eingedeutscht – Peter – und den Namen des P. Bartholomäus in seiner lateinischen Fassung – Petrus – belassen. 79 RA XVII : „Haec et multa alia ex parte Dei , praedixit sacerdos iste quae postea nobis evenerunt ; sed haec suo loco dici poterunt.“

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den Ereignissen in ’Arqa den Platz des Petrus Bartholomäus als „Hauptvisionär“ in dieser Chronik ein. Nach dem Auftritt all dieser Zeugen , deren Autorität sich auch dadurch zeigt , dass sie allesamt der kirchlichen Hierarchie angehören , habe Arnulf sich bekehrt und seinen Glauben an die Echtheit der Lanze öffentlich bekannt. Doch Petrus Bartholomäus habe dies nicht gereicht , so dass er geradezu um ein Gottesurteil gebettelt habe , durch das endgültig geklärt werden sollte , ob die Lanze echt oder ein Betrug sei (Kap. XVIII). Natürlich ging es dabei nicht nur um die Lanze , sondern auch um Petrus , die Authentizität seiner Visionen und letztlich um seinen geistlichen Führungsanspruch. Denn die autoritativen Zeugen hatten nur die Echtheit der Lanze und deren Anerkennung durch Bischof Adhémar bezeugt. Welcher Geist die Visionen des Petrus gewirkt hatte , war dadurch noch nicht geklärt. Ausführlich wird also von einem Gottesurteil berichtet , bei dem der Visionär , wenn er wirklich der Bote des Herrn gewesen sein sollte , den Gang durch ein hoch loderndes Feuer unbeschadet hätte überstehen müssen. Doch die Darstellung in der Chronik Raimunds ist hier recht verworren und gibt berechtigten Anlass zum Zweifel. So habe Petrus zwar die Feuerprobe überstanden , doch das Volk habe sich angesichts dieses wundersamen Ereignisses nicht nur auf die glühenden Holzscheite gestürzt , um sie als wundertätige Reliquien an sich zu reißen , auch über Petrus hätten sie sich hergemacht , um ihn zu berühren. Dabei sei er schwer verletzt worden und nur das Eingreifen eines Ritters habe Petrus vor dem sicheren Tod gerettet. Kurz darauf heißt es jedoch , dass Petrus sich auch im Feuer Verletzungen zuzog , da er inmitten der Flammen Christus begegnet sei – dieser habe Petrus gesagt , dass er zwar nicht in die Hölle käme , aber aufgrund seiner anfänglichen Zweifel und seines Zögerns die Feuerprobe nicht unverletzt überstehen dürfe. Abgeschlossen wird der Bericht von einer Konversation zwischen Petrus und dem Chronisten , in der Petrus Raimund zurechtweist und ihm mitteilt , dass er über seine Sünden Bescheid wisse ; auch wirft Petrus Raimund vor , dass er ihn zur Feuerprobe gedrängt habe , so dass Petrus mit seinem Leib und Leben habe etwas beweisen müssen , woran Raimund selbst gezweifelt habe.80 Dennoch würden die Heiligen dem 80 RA XVIII : „Post haec Petrus convocavit ad se capellanum comitis , nomine Raimundum , et dixit ei : Quare voluisti ut ego ob testimonium Dominicae lanceae , et caeterorum quae ex parte Dei dixeram , per incendium transirem ? Scio satis quia hoc et hoc cogitastis. Et dixit ei quae ipse cogitaverat. Cumque ille se taliter cogitasse negaret , respondit Petrus Bartholomaeus : Mihi quidem negare non potes , quia certum hoc

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Chronisten vergeben , wenn er nur ernsthaft seine Sünden bereue. Damit endet die Szene auf recht verwirrende Weise. Erst später wird berichtet , dass Petrus schließlich an seinen Verletzungen starb und vor seinem Ableben nochmals gegenüber Graf Raymond und den anderen Anwesenden betont habe , dass er zwar nun für seine Sünden sterbe , seine Visionen jedoch echt und richtig gewesen seien.81 Für alle Zweifler , auch manch anderen Chronisten , war jedoch mit Petrus’ Tod ein für alle Mal bewiesen , dass die Lanze unecht und Petrus ein Lügner war.82 Und auch unser Chronist musste wohl diese Niederlage eingestehen , weshalb das Ende des Visionärs hier so verworren erzählt wird. Folgt man der Interpretation von John France , dass Petrus Bartholomäus und Stephan von Valence für zwei unterschiedliche Modelle vom Umgang mit geistlicher Autorität stehen , so siegt im letzten Teil dieser Chronik die disziplinierte , klerikale Position über die „heilige Armut“83 , oder im Turnerschen Sinne die Struktur über die Antistruktur. France hat jedoch diesen entscheidenden Teil übersehen , denn nach der Feuerprobe in ’Arqa kommt es zu einer höchst bemerkenswerten Uminterpretation der vorangegangenen Ereignisse.84 Nicht nur ist der „disziplinierte“ Priester Stephan von Valence Empfänger der ersten Vision nach dem Tod des Petrus Bartholomäus , der Überbringer der Botschaft ist der verstorbene Bischof Adhémar , der aber keine Botschaft von Christus überbringt , sondern von der Gottesmutter Maria.85 Das eigent-

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habeo : Etenim illa nocte fuit hic beatissima virgo Maria , et episcopus Podiensis , per quos ego quae tu negas didici. Miror satis cum de verbis Domini et apostolorum ejus non dubitaveris , quare experimentum cum periculo meo , de solis his habere volueris.“ RA XVIII : „Finis vitae meae appropinquavit , et scio satis quia de omnibus , quae male feci et dixi , vel etiam cogitavi , ante Deum judicabor ; in cujus conspectu , hodie testificor ipsum , coram vobis , me nihil composuisse ex his omnibus quae ex parte Dei , et apostolorum ipsius vobis nuntiavi , et adhuc vobis dicam.“ In manchen Handschriften folgt hier die Anweisung an Graf Raymond , die Lanze in die Provence zu bringen , siehe Anm. 59. Vgl. etwa Fulcher von Chartres I , 18 : „Quo transacto , illum hominem quasi reum in cute flammis crematum viderunt , et in interiori parte corporis laesum mori intellexerunt. Quod rei exitus monstravit , cum die duodecimo ipso angore obiit.“ Edition : Hagenmeyer 1913. Vgl. France 2006. Randall Rogers hat diesen Sieg der Hierarchie herausgestellt , ohne jedoch im Einzelnen die Argumentation in der Chronik aufzuzeigen : Rogers 1992. Zu Maria stand Bischof Adhémar in besonderer Beziehung , da seine Diözese schon seit dem frühen Mittelalter aufgrund einer Marienerscheinung im 5. Jahrhundert als besonderes Zentrum der Marienfrömmigkeit galt , so dass Adhémar

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lich Bemerkenswerte an dieser Vision ist , dass nun auch die Hl. Lanze in ein neues Licht gerückt wird.86 Adhémar habe demnach auf die Bedeutung des Kreuzes hingewiesen – nicht nur im Allgemeinen , sondern auch im Speziellen auf das Kreuz , welches zu seinen Lebzeiten seinem Kontingent vorangetragen worden sei. Die Gottesmutter wünsche , dass von nun an das Kreuz des Bischofs in allen Schlachten vorangetragen werden solle. Adhémar habe auch daran erinnert , dass das Kreuz zur Auffindung der Lanze geführt habe. Dies mag überraschen , standen doch im Mittelpunkt dieser Chronik bislang die Visionen des Petrus Bartholomäus und seine Autorität , die sich aus dem Lanzenfund ergab. Nun wird aber dieser Fund nicht an die Visionen des Petrus , sondern an die Vision Stephans zurückgebunden , dem Jesus Christus als Gekreuzigter erschienen war und der die Anweisung zum fünftägigen Fasten gegeben hatte , an deren Ende die Lanze ausgegraben wurde (Kap XI). Hinsichtlich der konfligierenden Offenbarungsansprüche Petrus’ und Stephans ist dabei ein Rückblick auf die letzte große Vision Petrus’ vor der Feuerprobe in ’Arqa erhellend , denn ihr ging eine kurze Bemerkung voraus , wonach Petrus sich gewundert habe , warum der Herr ihm nie am Kreuz erschienen sei , so wie dem Priester (Stephan) während der Belagerung von Antiochia.87 Im Nachhinein erscheint es also , als habe Petrus damit eine Vision provoziert , die ihm eigentlich nicht zustand , denn dass sich diesem „Bauern“ Jesus Christus als Gekreuzigter offenbart habe , führte schließlich zum offenen Zweifel an ihm und der Hl. Lanze. Dass dem Priester Stephan Jesus Christus und auch Mutter Maria erschienen waren , wie im elften Kapitel berichtet , daran hatte niemand gezweifelt. Hier zeigt sich also , dass der Sieg der Hierarchie bzw. der Struktur von Anfang an narrativ vorbereitet war.

auch unter dem Banner der Hl. Maria zum Kreuzzug aufbrach. Zur Marianik in Le Puy-en-Velay vgl. etwa Barnay 2001. 86 RA XVIII : „Quare neglexisti semel vel secundo quod tibi dixi de cruce , dominae et matris nostrae semper virginis Mariae ? De cruce dico , quam ego praeferri faciebam , ut apportaretur in exercitum. Et quod signum melius cruce ? An non est satis illa crux pro nobis lapidata ? An non illa crux bene vos conduxit , usque ad lanceam Domini ? Et nunc ait domina et beatissima semper virgo Maria , quod nisi illam crucem habeatis , non potestis habere consilium.“ 87 RA XVII : „[ …] cum ego Petrus jacerem in capella comitis Sancti Aegidii ad obsidionem Archados , cogitare mecum coepi , de sacerdote illo cui Dominus cum cruce apparuit , cum a Turcis obsessi in Antiochia teneremur , atque cum multum mirarer quod nunquam cum cruce mihi apparuerat [ …].“

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So werden in dieser Chronik zwar keine offenen Zweifel an Petrus Bartholomäus und der Hl. Lanze geäußert , doch nach Petrus’ Tod wird ein ordentlicher Priester zum entscheidenden Visionär und das Kreuz des päpstlichen Legaten zur maßgeblichen Reliquie. Die durch die „heilige Armut“ bedingte Autorität muss somit dem Anspruch der klerikalen Hierarchie weichen. Für den Führungsanspruch Graf Raymonds und der Provenzalen ergibt sich , dieser Darstellung folgend , dennoch vorerst kein größerer Autoritätsverlust , sollte Stephan Graf Raymond doch seinen eigenen Ring als Zeichen des Beistands Mariens übergeben. Der Ring sollte von nun an Raymond an seine Sündhaftigkeit erinnern und ihn zugleich der göttlichen Gnade vergewissern.88 Auch die Lanze wird nicht völlig entwertet , nur in ihrer Bedeutung zurückgedrängt , denn Maria habe die Anweisung gegeben , die Hl. Lanze solle von nun an nur noch selten gezeigt werden und dürfe dann auch nur von einem weißgewandeten Priester getragen werden – als apotropäische Reliquie in Schlachten sollte sie offenbar gar nicht mehr eingesetzt werden. Zudem sei ihr das Kreuz vorzuziehen , und so erscheint in der Vision Stephans auch eine Prozession , in der Adhémar das Kreuz voranträgt und die Lanze erst dahinter von einem Heiligen in Priesterkleidung getragen wird.89 Damit werden die Feuerprobe und die Niederlage des Visionärs Petrus Bartholomäus zu einem entscheidenden Wendepunkt , da von nun an wieder der päpstliche Legat , obwohl nicht mehr unter den Lebenden weilend , zum geistlichen Oberhaupt des Kreuzzugs wird. Trotz allem setzt sich jedoch der Konflikt zwischen vulgus und principes weiter fort. Besonders Graf Raymond erweist sich einmal mehr als entscheidungsschwach und abwartend. Dagegen habe sich der Enthusiasmus des Volkes von der Hl. Lanze auf das Kreuz Adhémars übertragen , das erst noch aus Latakia geholt werden musste , wo man die Besitztümer des Bischof zurückgelassen hatte.90 Das Kreuz habe das Kreuzfahrerheer in seinem Willen zum 88 RA XVIII : „Virgo mater sanctissima , mittit tibi hunc annulum , et quoties defeceris in aliquibus rebus , recordare illius dominae quae tibi mittit hunc annulum , et appellabis eam , et Dominus auxiliabitur tibi.“ 89 RA XVIII : „ Praecepit mater nostra , ut deinceps lancea non monstretur nisi a sacerdote induto sacris vestibus ; et crux ei praeferatur , sic. Et tenuit episcopus crucem in hastile positam , et quidam indutus sacerdotalibus vestibus sequebatur eum , habens lanceam inter manus. Et episcopus incoepit responsorium hoc : Gaude , Maria virgo , cunctas haereses sola interemisti.“ 90 RA XVIII : „Misit itaque comes Guillelmum Ugonem de Muntilio fratrem Podiensis episcopi Laodiciam , ubi crux dimissa fuerat , cum capella ipsius episcopi.“

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Weitermarsch bestärkt , doch Graf Raymond habe sich unter Tränen und Fluchen dagegen gewehrt , da er unbedingt zuvor Tripolis (im heutigen Libanon) angreifen wollte. Auf wessen Seite Gott in dieser Situation stand , wird durch den Kommentar des Chronisten deutlich – Gott habe sich dem Willen des Volkes zugeneigt.91 Und so führt dieser erneute Zwist einmal mehr zu einer Vision – dieses Mal trifft es den schon genannten Peter Desiderius , der wie Stephan Priester war , und es erscheint nun auch wieder der Hl. Andreas. Andreas habe Graf Raymond strengstens ermahnt , sich nun endlich nicht mehr vom Weg ablenken zu lassen , denn erst mit der Eroberung Jerusalems würde ihm wieder die göttliche Gnade zuteil.92 Doch Raymond , so der Chronist , habe diese neuerliche Ermahnung nicht ernst genommen. Stattdessen wird an dieser Stelle ein Rückblick eingebaut , in der wieder unser Chronist als Handelnder auftritt. Er berichtet von einer Vision , die Peter Desiderius bereits in Antiochia gehabt habe und die zur Auffindung verschiedener Reliquien führte. Da man auch die Knochen eines unbekannten Heiligen fand , habe der Chronist die Anweisung gegeben , sie zurückzulassen , woraufhin sich der Hl. Georg (um dessen Gebeine es sich handelte) in einer Vision Peter offenbart habe und anwies , man solle auch seine Gebeine mit nach Jerusalem nehmen , denn er sei der wahre Bannerträger dieses Heeres.93 So wird der Hl. Georg als Schlachtenhelfer eingeführt , aber eben nicht für die weltlichen Kreuzzugsführer , sondern für die einfachen Kämpfer ,94 die für einen zügigen Marsch nach Jerusalem sorgten. Auch wenn der Hl. Georg im weiteren Verlauf nicht mehr erwähnt wird , so wird doch deutlich , dass er von nun an die Rolle Graf Raymonds übernimmt , der sich als unfähiger militärischer Anführer des Kreuzzugs erwiesen hatte. Die mangelnde Fähigkeit und Bereitschaft der lebenden Kreuzzugsführer habe demnach eine direkte Intervention der Heiligen (zu denen Adhémar auch gezählt werden kann) notwendig gemacht , die das „Volk“ als Vollstrecker des göttlichen Willens anleiten sollten. 91 RA XVIII : „Conturbabatur itaque comes usque ad lacrymas , et usque ad sui et suorum odium ; neque tamen ob hoc voluntatem suae plebis Deus imminuebat.“ 92 RA XVIII : „Noli molestus esse tibimet , neque aliis , quia nisi prius capta fuerit Jerusalem , nullum succursum habebitis.“ 93 RA XVIII : „Et tunc ait sacerdos : Domine , dicitur de sancto Georgio , quod sit vexillifer hujus exercitus. Et ille : Bene dixisti. Ego sum ille. Accipe igitur reliquias meas , atque seorsum cum aliis pones.“ 94 RA XVIII : „Ac simul ut B. Georgius pro nobis Deo supplicaret , et per terram incolatus sui nos fideliter educeret.“

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Der letzte Teil des Weges wird dann nur noch sehr flüchtig beschrieben (RA XIX) , vor der Erstürmung Jerusalems jedoch sei es wieder zu einer Krise gekommen. Der Chronist beschreibt , dass alle nur noch darauf bedacht waren , in die Stadt zu gelangen und reiche Beute zu machen – keiner gedachte mehr der Mahnungen des Petrus Bartholomäus , man solle sich der Stadt barfuß in einer Prozession nähern.95 Da die Kreuzfahrer Gott nicht den nötigen Respekt zollten , habe er ihnen auch nicht geholfen , so dass die Sarazenen durch das Verstopfen von Zisternen das Umland Jerusalems trockenlegen konnten , weshalb die Kreuzfahrer unter entsetzlichem Durst litten. In diesem Zuge beschreibt der Chronist eine Szene , die sich am Teich Siloah zugetragen habe , bei der sich die Kreuzfahrer auf unmenschliche Art und Weise beinahe gegenseitig zerfleischten , um an das rare Wasser zu gelangen.96 Nicht umsonst erinnert dies in gewisser Weise an den Kannibalismus in Maarat – Gott straft sein ungehöriges Volk mit Hunger und Durst , die es zu verzweifelten und unmenschlichen Taten treiben ;97 nur fehlt hier der Aspekt der Selbstermächtigung völlig , was nochmals den Eindruck bestärkt , dass hier nun auch das „Volk“ das Wohlwollen Gottes verloren hatte. Viele Kreuzfahrer seien in dieser Situation so verzweifelt gewesen , dass sie sich im Jordan taufen ließen und schon die Heimreise antreten wollten.98 95 RA XX : „Verbum autem quod praeceperat nobis Petrus Bartholomaeus , ut non nisi discalciati , ad Jerusalem per duas leugas appropinquare nus , et obliti sumus , et vile habuimus , dum unusquisque volebat alium praevenire , ex ambitione occupandi castella , et villas.“ 96 RA XX : „Cum vero , ut dictum est , nobis in tertia die aqua decurreret , cum tanto impetu et oppressione aqua hauriebatur , ut mutuo se homines in eam projicerent , et jumenta atque pecora multa deperirent. Itaque repleto fonte et collisione et cadaveribus animalium , ad exitum ipsius aquae , quae per quamdam rupis incisuram egrediebatur , fortiores se usque ad mortem opprimebant ; debiles autem nihilominus illam aquam immundissimam sibi tollebant. Jacebant autem multi infirmi secus fontem , ex ariditate linguae non valentes emittere vocem , sed tantum ore aperto , manus praetendebant illis quos videbant aquam habere. Per campos vero stabant equi , muli , boves , et plurima pecora non valentia mutare gressum , sed ubi ex ariditate sitis confecta atque siccata fuerant , ubi diu steterant , corruebant ; unde in castris nostris fetor gravissimus erat.“ 97 Vgl. etwa den Kommentar in RA XX : „Sicque neque Deum inter verbera agnoscebamus , neque ipse ingratis propitiabatur.“ 98 RA XX : „Sed haec omnia adhuc juste contigisse cognovimus , cum et sermonibus , qui a Deo mandabantur nobis , fidem abnegaremus , et desperantes de Dei misericordia , ad campestria Jordani descendebant , et colligebant ibi palmas , et baptizabantur in

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Wenig überraschend berichtet der Chronist anschließend , dass viele Boten das Wort des Herrn verkündeten , doch niemand erhörte sie , weil sie nur „unsere Brüder“ gewesen seien.99 Offenbar konnten also diese Visionäre nicht die nötige Autorität für sich beanspruchen. Auch wenn dies hier nicht explizit ausgeführt wird , ist vorstellbar , dass es sich dabei um Vertreter der „heiligen Armut“ gehandelt haben könnte , wie einst bei Petrus Bartholomäus. Doch deren Zeiten waren nun endgültig vorbei , und so gibt es letztlich wieder eine Vision des Priesters Peter Desiderius , der den Kreuzfahrern Anweisungen des päpstlichen Legaten Adhémar mitteilt und dafür auch Gehör findet. In dieser letzten Vision werden die Kreuzfahrer aufgefordert , das Sündigen zu unterlassen , sich einander zu vergeben , eine Prozession um die Stadt zu veranstalten und – was nun für das Ende der Geschichte entscheidend ist – gemeinsam in einem Gewaltakt die Stadt einzunehmen. Denn , so heißt es weiter , Gott werde seinem Volk die Tore der Stadt aufstoßen , damit diejenigen , die Jerusalem jetzt zu Unrecht besäßen , für die Verunreinigung der Heiligen Stätten bestraft würden.100 So wird die Eroberung der Stadt ausführlich liturgisch vorbereitet und der Chronist kommentiert , dass dieser Akt der spirituellen Reinigung Gott wieder mit seinem Volk versöhnte und ihnen von nun an alles gelang.101 Die Chronik legt von hier an großen Wert darauf , die communitas der Kreuzfahrer zu betonen , die gemeinsam Belagerungsmaschinen und Werkzeuge zur Eroberung vorbereiteten. Auch der Dissens zwischen vulgus und principes scheint beigelegt , da unmittelbar vor Einnahme der Stadt die Anführer das ganze Heer dazu auffordern , auch weiterhin zu beten und zu fasten , woran sich scheinbar alle hielten. Unmittelbar vor der Eroberung Jerusalems kommen also die Kreuzzugsführer erstmals wieder ihrer Aufgabe nach , nicht nur militärisch , sondern auch spirituell das Volk der Kreuzfahrer anzuführen und sich dabei selbst an die Anweisungen des päpstlichen Legaten zu halten. flumine , et ob hoc maxime ut transferrent se Joppen , visa Jerusalem et dimissa obsidione , atque sic quomodocunque possent reverterentur.“ 99 RA XX : „Etenim tam benignus erga nos erat Dominus ut legatos suos ad nos mitteret , sed quia fratres erant , non credebant eis.“ 100 RA XX : „Ille nos ad honorem et gloriam nominis sui , et civitatem nobis aperiat et facere judicium de inimicis suis et nostris , omnibus nobis concedat , qui locum passionis suae et sepulturae ejus indigne obtinentes contaminant , et qui nos a tanto beneficio humilitatis divinae , et redemptionis nostrae excludere contendunt.“ Zur Thematik der religiösen Verunreinigung vgl. Cole 1993 ; Har-Peled 2009. 101 RA XX : „Placatur itaque Dei misericordia , quoniam omnia quae prius nobis adversa fuerant , nunc commode nobis proveniebant.“

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V. Die Bluttaufe als Akt der Neuschöpfung Ausführlich beschreibt der Chronist anschließend die Eroberung der Stadt , die in einer Szene mündet , die immer wieder in der Kreuzzugsliteratur zitiert wird , da die in ihr geschilderte Brutalität und die gleichzeitige religiöse Verzückung der Kreuzfahrer auf heutige Leser besonders drastisch und befremdlich wirken. Sie ist aber für diese Chronik exzeptionell , da zuvor den Kämpfen zwischen Kreuzfahrern und Muslimen nie besonders viel Raum gegeben wurde und ausführliche Schilderungen von Gewalt sich zumeist auf die Spannungen innerhalb des Kreuzfahrerheers bezogen , wie im Falle des Kannibalismus in Maarat und der Selbstzerfleischung am Teich Siloah. Hier nun wird die Gewalt deutlich nach außen kanalisiert , und so schildert der Chronist : „Während die Unseren die Mauern und Türme der Stadt bezwangen , konnte man Außergewöhnliches beobachten : Einige [Kreuzfahrer] schlugen jenen [den Verteidigern der Stadt] die Köpfe ab , was leichter war , andere wurden von Pfeilen getötet , andere wurden zum Sprung von der Mauer getrieben , wieder andere wurden lange gefoltert und in heißen Flammen verbrannt. Die Straßen und Gassen der Stadt waren mit Köpfen , Füßen und Händen übersät. Mensch und Pferd mussten über die offen herumliegenden Leichen steigen. Doch dies sind nur Kleinigkeiten , die ich bisher berichtet habe. Denn nun gehen wir zum Tempel Salomons , wo sie [die „Sarazenen“] bei ihren religiösen Zeremonien und Feierlichkeiten zu singen pflegten. Aber was ist hier geschehen ? Selbst wenn wir Wahres berichten , übersteigt es die Glaubhaftigkeit. Denn der Boden des gesamten Tempels und seines Eingangsbereiches war mit Blut überströmt , so dass einem beim Durchreiten das Blut bis an die Knöchel und den Pferden bis an die Zügel reichte. Ohne Zweifel war dies die gerechte Strafe , dass nun dieser Ort in ihrem Blut getränkt war , an dem sie Gott gegenüber für so lange Zeit ihrer Blasphemie gefrönt hatten. Während nun die ganze Stadt mit Leichen und Blut übersät war , flohen einige zum Davidsturm und begaben sich zum Schutz unter die rechte Hand Raymonds und übergaben ihm ihre Kasse. Nach der Einnahme der Stadt war es wie eine Belohnung der Frömmigkeit den Pilgern am Heiligen Grab zuzusehen , die applaudierten , ausgelassen umhersprangen und dem Herrn ‚ein neues Lied sangen’. Und sie erhoben ihre Herzen zum siegreichen und triumphierenden Gott und brachten ihm ein Loblied dar , wie man es gar nicht beschreiben kann. Neuer Tag , neue Fröhlichkeit und Heiterkeit , neue ewigwährende Freude ! Nach Vollendung

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aller Arbeit und Andacht strömten neue Worte und neue Gesänge durch alle Welt. Ich sage , dieser Tag wird in allen künftigen Jahrhunderten gefeiert werden , als unsere Schmerzen und Leiden in Jubel und Heiterkeit verwandelt wurden. Weiter sage ich , an diesem Tag wurde die ganze Christenheit bestärkt , das Heidentum ausgelöscht und unser Glaube wieder aufgerichtet. ‚Dies ist der Tag , den der Herr gemacht hat’ , wir wollen jubeln und uns an ihm freuen , an dem er sein Volk erleuchtet und gesegnet hat. An jenem Tag wurde Adhémar , Bischof von Le Puy , von vielen in der Stadt gesehen. Ebenso bezeugten viele , er habe als Erster die Mauer bestiegen und seine Gefährten und das Volk aufgefordert , ihm zu folgen. An diesem Tage sind (zuvor) die Apostel aus Jerusalem vertrieben und in alle Welt verstreut worden. An eben diesem Tage haben (nun) die Söhne der Apostel die Stadt Gottes und ihrer Väter sowie das ganze Heimatland zurückgewonnen. Dieser Tag , die Iden des Juli , wird zu Lob und Ehre des Namens Christi gefeiert werden , der seiner Kirche , auf ihre Gebete hin , die Stadt und das Land gab , welches er ihren Vätern versprochen hatte , und nun den Söhnen mit Glaube und Segen zurückgab. An jenem Tage sangen wir das Offizium der Auferstehung , da jener , der durch seine Gnade vom Tode auferwecken kann , auch uns durch seine Güte wieder auferstehen ließ. Und nun genug davon.“102 102 RA XX : „Sed mirum quod modo dicam : Cumque jam civitas pene correpta esset a Francigenis , adhuc tamen resistebant Sarraceni his qui erant de parte comitis , ac si nunquam capiendi essent. Sed cum jam nostri moenibus potirentur civitatis , et turribus , tunc erat videre mirabilia. Alii namque illorum , quod levius erat , obtruncabantur capitibus , alii autem sagittati , de turribus saltare cogebantur ; alii vero diutissime torti , et ignibus adusti flammeriebantur. Videbantur per vicos et plateas civitatis aggeres capitum , et manuum atque pedum. Per cadavera vero publice , hominum et equitum discursus erat. Sed parva et pauca ista quae diximus. Sed ad templum Salomonis veniamus , ubi suos ritus atque solemnitates cantare solebant. Sed quid ibi factum est ? Si verum dicimus , fidem excedimus. Sed tantum hoc dixisse sufficiat quod in templo et in porticu Salomonis , equitabatur in sanguine usque ad genua , et usque ad frenos equorum justo miroque Dei judicio , ut locus idem eorum sanguinem exciperet , quorum blasphemias in Deum tam longo tempore pertulerat. Repleta itaque cadaveribus et sanguine civitate , confugerunt aliquanti ad turrem David , et poposcerunt a comite Raimundo securitatis dextram , et reddiderunt ei arcem. Capta autem urbe operae pretium erat videre devotionem peregrinorum ad sepulcrum Domini , quomodo plaudebant , exsultantes et cantantes canticum novum Domino. Etenim mens eorum Deo victori et triumphanti vota laudum offerebat , quae explicare non poterant. Nova dies , novum gaudium et exsultatio , nova et perpetua laetitia ; laboris et devotionis consummatio , nova verba , nova cantica , ab universis exigebat. Haec , inquam , dies celebris in omni saeculo venturo , omnes dolores atque labores nostros gaudium et exsultationem fecit ;

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Viel stärker als in den meisten anderen Chroniken tritt die theologische Deutung der Eroberung in den Vordergrund. Das Blut der „Heiden“ habe dabei nicht nur die Orte gereinigt , die sie zuvor selbst durch ihre unchristlichen Gebräuche entweiht hätten ; nach dieser Darstellung wurden durch das Blutvergießen der Feinde Christi auch die Kreuzfahrer wieder mit Gott versöhnt und erlebten dadurch eine Art „Bluttaufe“. Obwohl hier die Vernichtung der Muslime den Erzählrahmen bildet , geht es letztlich doch wieder vor allem um die Kreuzfahrer , die in der Eroberung Jerusalems und in der Erfüllung des Kreuzzugs- beziehungsweise Pilgergelübdes ihre Auferstehung erleben. Dies lässt sich wiederum nur im Kontext der vorangegangenen Erzählungen verstehen , in denen der Chronist sein Kreuzzugsheer als „Schrecken Gottes“ beschrieb , das dem Tod näher als dem Leben gewesen sei. Aus unterschiedlichsten Perspektiven wurde immer wieder vorgeführt , wie der Dissens zwischen vulgus und principes , die Streitigkeiten unter den Kreuzzugsführern , das unsoziale Verhalten der Kreuzfahrer und das Nichtbeachten der Anweisungen der erscheinenden Heiligen die Kreuzfahrer beinahe scheitern ließen. Umso überschwänglicher fällt nun nach der geglückten Einnahme der Stadt die Dankesliturgie aus. Nicht nur typologisch , sondern ganz real erscheint die Parallele (Blut)Taufe – Neuschöpfung. Nochmals wird hier auch der Sieg der Hierarchie versinnbildlicht , da Adhémar tatsächlich als Anführer des Heeres in dieser alles entscheidenden Szene erscheint. Auch die sehr übertrieben erscheinende Bemerkung , dass mit der Eroberung Jerusalems alles Heidentum ausgelöscht worden sei , kann nur in diesem Zusammenhang richtig verstanden werden. Da sich mit der erfolgreichen Eroberung der Stadt die Kreuzfahrer als das wahre Gottesvolk erwiesen hatten , musste damit auch die Verheißung erfüllt sein , dass die heidnischen Königreiche fallen werden.103 Eins wird dies haec , inquam , totius Christianitatis confirmatio , et paganitatis exinanitio , et fidei nostrae renovatio. Haec dies quam fecit Dominus , exsultemus et laetemur in ea , quia in hac illuxit et benedixit Dominus populo suo. In hac die dominus Ademarus , Podiensis episcopus , a multis in civitate visus est. Et etiam multi de eo testantur quod ipse primus murum ascendens , ad ascendendum socios atque populum invitabat. In hac autem die ejecti apostoli ab Hierosolymis , per universum mundum dispersi sunt. In hac eadem die , apostolorum filii , Deo et patribus urbem et patriam vindicaverunt. Haec dies celebratur Idus Julii , ad laudem et gloriam nominis Christi , qui dedit precibus Ecclesiae suae urbem et patriam quam juravit patribus , et reddidit in fide et benedictione filiis. In hac die officium de resurrectione cantavimus , quia in hac , ille qui sua virtute a mortuis surrexit , per gratiam suam nos resuscitavit. Et de his hactenus dictum sit.“ 103 Vgl. Anm. 55.

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dadurch besonders deutlich : Der Auftritt der Visionäre und die durch sie vermittelten Handlungsanweisungen der Heiligen zielten nicht auf eine friedliche Lösung ab. Der Wille Gottes , so will es diese wie viele andere Chroniken , ist die völlige Auslöschung des Heidentums – es darf keine Verhandlungen geben und Gefangene werden ebenfalls nicht gemacht. Alles , was die Kreuzfahrer von der Befreiung Jerusalems aus der Hand der Ungläubigen ablenkt , wird als Frevel beschrieben und göttlich sanktioniert. Für militärisch-taktische und politisch-diplomatische Überlegungen gibt es in dieser Welt keinen Platz. Wie in vielen anderen Chroniken erscheint auch hier der Kreuzzug als eine Kanalisierung und Externalisierung von Gewalt und Problemen innerhalb der lateinisch-christlichen Gesellschaft des Abendlandes gegen einen auswärtigen , andersgläubigen Feind. Für die Frage nach „Gewalterfahrungen und Prophetie“ ist aber bezeichnend , dass der Gewalt gegen die Feinde ansonsten in dieser Chronik erstaunlich wenig Platz eingeräumt wird – dafür umso drastischer und dramatischer hier bei der Eroberung Jerusalems. Dienten die Visionen der verschiedenen „Männer Gottes“ auf dem Weg von Antiochia bis nach Jerusalem immer dazu , die Einheit und den Kampfesmut der Kreuzfahrer zu stärken , werden die sich anschließenden Kämpfe kaum ausführlich geschildert. Bis zur Eroberung Jerusalems spielt auch die religiöse Alterität der Muslime insgesamt kaum eine Rolle , ganz im Gegenteil – wie in keiner anderen frühen Chronik des Ersten Kreuzzugs werden sogar Details über die verschiedenen muslimischen Gruppen mitgeteilt , die weitestgehend frei von Polemik sind und ein erhebliches Maß an Wissen über die Geschichte des Nahen Ostens repräsentieren.104 Bis zum 12. Kapitel dieser Chronik werden sogar pejorative Begriffe wie „Heiden“ oder „Ungläubige“ als Bezeichnung für die Muslime völlig vermieden. Von viel größerer Bedeutung für den Hauptteil dieser Chronik ist die „Fremdheit im eigenen Heer“, insbesondere in den immer wieder aufbrechenden Kämpfen um Macht und Führungsanspruch , die zugleich Kämpfe darum sind , wer wahrer Träger der Kreuzzugsidee und damit Vollstrecker des göttlichen Willens ist. Als increduli („Ungläubige“) werden daher im Kontext der Visions104 So z. B. , als der Chronist den Unterschied zwischen den schiitischen Fatimiden und den sunnitischen Seldschuken benennt : die „Babylonier“ (ägyptische Fatimiden) würden Ali verehren , der ein Nachfahre „Mahumets“ sei. RA XVI : „Si veniret contra nos in praelium , et colerent Alim , quem ipse colit , qui est de genere Mahumeth , et acciperent monetam ejus , et remitterent tributa quaedam , et multa alia , quae ego non satis novi , facerent ei.“

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berichte stets nur die Kreuzfahrer benannt , die an der Sache zweifeln oder durch ihre Unentschiedenheit und Zwistigkeiten den Marsch auf Jerusalem verzögern.105 Erst als es gelingt , die gemeinsame Identität und Integrität des Kreuzfahrerheeres zu bekräftigen und wieder vollständig herzustellen , wird auch der Gewalt gegen die Andersgläubigen eine heilsgeschichtliche Bedeutung zugewiesen , weshalb die Reinigung der Heiligen Stätten mit dem Blut der „Heiden“ von diesem Chronisten als Auferstehung der Kreuzfahrer gefeiert wird. Erzählerisch hat die Geschichte ihr Ende und ihre Vollendung mit der Einnahme Jerusalems gefunden , weshalb es auch nicht verwundert , dass der letzte Teil dieser Chronik (Kap. XXI) so unfertig und angestückt erscheint. Für unsere Analyse ist aus diesem letzten Teil noch interessant , was über Graf Raymond berichtet wird. Nachdem er sich schon zuvor mehrmals als ungeeigneter Träger der Kreuzzugsidee erwiesen hatte , ist sicherlich von Bedeutung , dass in der eben zitierten Szene Raymond den Davidsturm eingenommen hatte , dadurch also nicht am Blutbad im Felsendom und am Dankesgebet an der Grabeskirche beteiligt war ; stattdessen habe er sogar gegen Bezahlung einige Bewohner Jerusalems unter seinen Schutz gestellt. Dadurch erscheint es , als habe er gar nicht wirklich Anteil an der „Bluttaufe“ gehabt. Wenig überraschend gerät Raymond daher später auch wieder in Streitigkeiten mit den anderen Kreuzzugsführern – nicht nur , dass er die Wahl zum König von Jerusalem ablehnte , auch geriet er mit Gottfried von Bouillon (der sich dann zwar nicht zum König , aber immerhin zum advocatus sancti sepulchri wählen ließ) in Streit über die Herrschaft über den strategisch wichtigen Davidsturm. Erstaunlich ist hier , dass der Chronist berichtet , dass Raymonds eigenes Heer nicht nur gegen seine Wahl zum König gewesen sei , sondern insgeheim Gottfried viel mehr zugeneigt war als seinem eigenen Herrn.106 Angesichts des Verrats und Misstrauens von allen Seiten – der Bischof von Al-Bara hatte auch noch Gottfried den Davidsturm zugesprochen – habe sich Raymond dann für die Heimreise vorbereitet. Zuvor jedoch sei er noch an den Jordan hinabgezogen , um sich dort taufen zu lassen – ein Akt , der als normaler Bestandteil der Erfüllung des Pilgergelübdes betrachtet werden kann. Doch der Chronist kommentiert , dass man die Taufzeremonie für Raymond nach 105 RA XIV : „Sic cadent omnes qui in incredulitate vel transgressione mandatorum Dei sunt.“ 106 RA XX : „Non solum autem provinciales in hoc domino suo comiti adversabantur , verum etiam multa de eo turpia composuerunt , ne eligeretur in regem.“

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den Anweisungen­des Petrus Bartholomäus vollzogen habe , „aber warum der Mann Gottes diese Anweisungen gegeben hatte , wissen wir nicht“.107 Am Ende dieser Chronik könnte die Entfremdung zwischen Graf Raymond und seiner Entourage , zu der freilich auch unser Chronist und damit immerhin der Kaplan des Grafen zählte , kaum größer sein. Vergessen und lange vorbei scheinen die Zeiten , als Raymond mit Hilfe des Petrus Bartholomäus und der Hl. Lanze als einzig legitimer Kreuzzugsführer angesehen wurde. Der Darstellung dieser Chronik folgend , hatte er sich offenbar nicht bewährt und Gottes Beistand verspielt , so dass am Ende selbst die Rechtmäßigkeit seiner Taufe im Jordan in Zweifel gezogen wird. Zwar wird noch berichtet , dass Raymond sich an den Vorbereitungen zur Schlacht von Askalon beteiligt habe , er spielt jedoch nach dieser Taufszene keine Rolle mehr. Beinahe beiläufig wird dann noch erwähnt , dass Arnulf von Choques , trotz offensichtlicher Mängel in Hinblick auf Eignung , Legitimität und Rechtschaffenheit , zum Patriarchen von Jerusalem gewählt wurde (Kap. XXI). Offenbar um diese Mängel durch einen Reliquienfund auszugleichen , habe sich Arnulf daran gemacht , das Hl. Kreuz , welches als Reliquie von den Pilgern in Jerusalem vor der türkischen Eroberung verehrt worden sei , zu suchen. Und obwohl die einheimischen Christen gar nicht gewusst hätten , wo es sich befand , habe Arnulf ihnen ein Bekenntnis abgepresst , dass sie nun den Franken , die sich als Gottes Volk erwiesen hätten , diese Reliquie nicht länger vorenthalten würden. Die Reliquie wird schließlich auch gefunden und der Chronist preist ihre Bedeutung – die Darstellung der Auffindung durch Arnulf erscheint jedoch wie eine späte Rache an Arnulf für seine Zweifel an Petrus Bartholomäus und der Hl. Lanze. Wie erwähnt endet die Chronik mit dem Bericht von den Vorbereitungen zur Schlacht von Askalon gegen die Fatimiden. Heilige und Visionen spielen hier keine Rolle mehr , aber immerhin wird gleich zwei Mal berichtet , wie Gott das Kreuzfahrerheer im Angesicht seiner Feinde viel größer erscheinen ließ , als es tatsächlich war , so dass die Franken bei kleineren Scharmützeln gute Beute machen konnten. Auch hier erscheint das Kreuzfahrerheer geeint und bereitet alle Angriffe gründlich liturgisch vor. Die Erfolgsgeschichte scheint sich also fortzusetzen , auch wenn von der Schlacht selbst nicht mehr berichtet wird. Dafür wird in den letzten Sätzen ein Konvertit namens Bohemund vorgestellt , den man als Unterhändler ins fatimidische Heerlager geschickt habe. Für mit107 RA XX : „Dehinc indutum tantum camisia , et braccis novis , sicut nobis praeceptum fuerat in eo de baptismate , peregimus ; sed quare taliter homo Dei praeceperit adhuc ignoramus.“

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telalterliche Chroniken ist es durchaus nicht ungewöhnlich , dass sie völlig unvermittelt abbrechen. Meist wird das in der Forschungsliteratur mit einem frühzeitigen Tod des Chronisten begründet , vermutlich handelt es sich aber um eine gewollte Offenheit , da dieses Phänomen so regelmäßig auftritt und eine Fortschreibung der Geschichtsdarstellung ermöglichte.108

VI. Der Kreuzzug als Weg von der „discordia“ zur „concordia“ Wie eingangs erwähnt , wurde in der Forschungsliteratur immer wieder darauf hingewiesen , dass der Kampf um die Authentizität der Hl. Lanze Kernstück dieser Chronik sei. Das ist zwar durchaus richtig , doch wird dabei allzu leicht übersehen , dass nach der Feuerprobe in ’Arqa nicht nur die Autorität des Petrus Bartholomäus und die Bedeutung der Hl. Lanze in der durch Bischof Adhémar und den Priester Stephan vermittelten Offenbarung Mariens geschmälert werden , auch der Führungsanspruch Graf Raymonds , der durch die Hl. Lanze legitimiert schien , wird am Ende mehr als deutlich und sogar von seinem eigenen Heer in Frage gestellt. Das ist zum einen ein bemerkenswerter Befund , wird doch der mittelalterlichen Historiographie gerne eine gewisse Naivität und mangelnde Kritikfähigkeit vorgeworfen , da besonders die Hauptfigur einer solchen Erzählung zumeist panegyrisch zum Helden verklärt werde. Diese Chronik ist dafür ein deutlicher Gegenbeweis , denn nicht nur wird Graf Raymond immer wieder als kränklich und schwach dargestellt , er erscheint sogar auf dem letzten Stück der Reise als Hindernis für die Vollendung des Kreuzzugs , da er nicht nur mit den anderen Kreuzzugsführern und seinem eigenen Heer entzweit ist , sondern auch die göttliche Gnade durch sein Fehlverhalten verspielt hat. Zum anderen ist diese Wendung in der Erzählung erstaunlich , weil sich die Chronik im Ganzen betrachtet nicht einmal dazu eignet , die Authentizität und Bedeutung der Hl. Lanze zu untermauern , geschweige denn den Führungsanspruch des Grafen von Saint-Gilles und der Provenzalen insgesamt , etwa auch in Hinblick auf künftige Kreuzzüge. Am Ende ist schließlich der verstorbene Bischof Adhémar und damit der päpstliche Legat der eigentliche 108 Tatsächlich sind zwei Handschriften der Chronik erhalten , in denen jeweils noch ein alternatives Ende angefügt ist : Ms. Regius 5531A in der Bibliothèque Nationale de France in Paris aus dem 13. Jh. und Ms. 103H in der Bibl. de l’Arsenal in Paris ebenfalls aus dem 13. Jh.

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Held der Erzählung. Wenn diese Chronik überhaupt zur Kreuzzugspropaganda dienen sollte , dann wohl eher , um den päpstlichen Führungsanspruch für künftige Kreuzzüge zu bestätigen. Wollte man an dieser Stelle die Darstellung biographisieren , so könnte man behaupten , dass sich am Ende zeigt , dass die Bindung zwischen Raimund , dem Kanoniker aus Le Puy , und seinem geistlichen Herrn (Adhémar) stärker war als die Bindung zwischen Raimund dem Kaplan und seinem weltlichen Herrn (Raymond). In der Forschungsliteratur wird immer wieder darauf hingewiesen , welche Bedeutung den „Armen“ (pauperes) in dieser Chronik zukomme. Ich habe diesen Begriff aber absichtlich vermieden und bin stattdessen der Nomenklatur dieser Chronik gefolgt , die stets vom Volk (vulgus resp. populus) spricht. Diese Differenzierung erschien mir notwendig , weil es eine Besonderheit der Chronik ist , bei der Kannibalismus-Szene in Maarat die Kannibalen eben nicht sozial von den „eigentlichen“ Kreuzfahrern zu trennen – hier verzehrt nicht nur irgendwelcher Pöbel die Sarazenenleichen , sondern dies tut das „Volk“, es ist also hier ein Akt aller , die nicht zu dem kleinen Kreis der Entscheidungsträger gehörten. Auch denke ich , sollte man insgesamt die Rolle „der Armen“ bzw. des Volkes in dieser Chronik nicht überbewerten , denn sie erscheinen genauso anfällig für die Sünde wie die Kreuzzugsführer , und schließlich sind sie es nicht allein , die am Ende den großen Sieg herbeiführen , sondern nur in der Gemeinschaft mit den principes kann ihnen dies gelingen. Das führt sogleich zurück zu der Frage nach dem Verhältnis von historischer Realität und Deutung durch den Text. Besonders die Darstellung der Eroberung Jerusalems sollte davor warnen , allzu unkritisch die Kreuzzugschroniken als Spiegel der historischen Realität zu verstehen. Wie problematisch diese Gleichsetzung sein kann , zeigt etwa die Geschichtsdarstellung von Steven Runciman , der Raimunds Bericht folgendermaßen paraphrasierte : „Als Raimund von Aguilers sich später an jenem Morgen zum Tempelviertel begab , mußte er sich seinen Weg durch Leichen und Blutströme suchen , die ihm bis zu den Knien reichten.“109 Zwar bestätigen auch andere Berichte , dass es am 15. Juli 1099 zu einem regelrechten Massaker in Jerusalem kam , doch hat vor allem die jüngere Kreuzzugsforschung immer wieder betont , dass die Darstellung in den Chroniken sich an biblischen Vorbildern orientiere und tatsächlich keineswegs alle Bewohner Jerusalems niedergemetzelt wurden.110 Gerade wenn man sich die hier analysierten narrativen Muster der Chronik 109 Runciman 2008. , S. 274. 110 Vgl. Elm 2001 ; Herbers 2001 ; Seitz /  Schulze 2007.

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Raimunds d’Aguilers vor Augen führt , wird klar , dass hier nicht einfach beschrieben wird , was der Chronist an diesem Tag selbst gesehen und erlebt hat – in dieser Szene behauptet der Erzähler auch nicht einmal , selbst durch die Stadt gegangen zu sein , sondern vielmehr scheint er seinen Lesern aus der Vogelperspektive eine Gesamtschau der Ereignisse dieses Tages liefern zu wollen. Die Beschreibung des Blutbades muss also nicht unbedingt bis ins Detail unserer Vorstellung von historischer Realität entsprechen , denn für diese Chronik gilt wie für die mittelalterliche Historiographie insgesamt , dass die Erhellung der wahren Bedeutung und somit die richtige Interpretation einen viel höheren Stellenwert als die getreuliche Abbildung hatte. Daher sei hier noch einmal zusammengefasst , wie die Chronik den Kreuzzug als eine Pilgerfahrt resp. als einen Übergangsritus inszeniert. Die der Chronik eigene Interpretationsleistung und erzählerische Dynamik setzt mit der Krise in Antiochia ein. Wie gesehen , scheint ein wesentlicher Schwachpunkt der Kreuzfahrer die mangelnde einheitliche Führung gewesen zu sein , denn tatsächlich wurden die einzelnen Kontingente von jeweils einem Anführer befehligt , jedoch gab es keinen Oberbefehlshaber auf dem Ersten Kreuzzug. Auch der päpstliche Legat sei seiner Aufgabe als spirituellem Oberhaupt im belagerten Antiochia nicht nachgekommen. Dieser ungünstigen Situation habe Gott selbst Abhilfe schaffen wollen , denn vermittelt durch die Visionen des Petrus Bartholomäus wird Graf Raymond de Saint-Gilles zum göttlich legitimierten militärischen Anführer des Kreuzzugs bestimmt , jedoch mit der Einschränkung , dass diese göttliche Bevorzugung Raymonds durch richtiges Verhalten immer wieder neu erlangt werden müsse und alles Handeln in Eintracht mit den anderen Kreuzzugsführern geschehen solle. Um in der Terminologie Victor Turners zu bleiben , versagte in Antiochia die Struktur , repräsentiert nicht nur durch die unfähige militärische Führung , sondern auch durch Bischof Adhémar , weshalb als antistrukturelles Moment Petrus Bartholomäus auftritt. Dennoch wird durch die Vision des Stephan von Valence Bischof Adhémar potentiell weiterhin als spiritueller Anführer des Kreuzzugs bestätigt , doch verliert er diese Vorrangstellung sogleich wieder durch seinen Zweifel an der Authentizität der Hl. Lanze. Der Weg zur Versöhnung mit der Struktur wird aber dadurch offengehalten , dass sowohl die Vision des Petrus als auch die des Priesters Stephan zur Auffindung der Lanze führen. Petrus Bartholomäus selbst stärkt anfänglich die Struktur , indem durch die Lanze Graf Raymonds militärischer Führungsanspruch legitimiert wird. Doch als dieser sich nicht bewährt , da er immer wieder den Weitermarsch nach Jerusalem verzögert und ständig in Konflikt mit den anderen

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Kreuzzugsführern gerät , obsiegt vorläufig auch insgesamt die Antistruktur in Form des Kreuzfahrer-Volkes , das zum eigentlichen Handlungsträger wird. Daher erscheint zwischen Antiochia und ’Arqa das „Volk“ der Kreuzfahrer als wahrer Träger des Kreuzzugs , das die Führer ständig zum Weitermarsch drängt. Hier scheint es tatsächlich so , als sei Petrus Bartholomäus der spirituelle Anführer des „wahren“ Kreuzzugs des „Volkes“ – ja selbst der Hl. Andreas und der Hl. Petrus erscheinen als abgerissene Bettler. In ’Arqa ändert sich jedoch alles , denn als Petrus Bartholomäus als Symbolfigur des Antistrukturellen im Gottesurteil unterliegt , siegt wiederum die Struktur in Bischof Adhémar , der durch das Zeugnis der Kleriker wieder in seiner Autorität bestätigt wird. Die Lanze wird in die Struktur eingebunden und unschädlich gemacht , da sie nur noch als zweitrangig hinter dem Kreuz des Bischofs erscheint. Damit übernimmt Bischof Adhémar , obwohl bereits verstorben , die spirituelle Leitung des Kreuzzugs ; als militärischer Führer des Volkes wird noch kurz der Hl. Georg eingeführt. Trotz der Krise am Teich Siloah gelingt es durch die Vermittlung Adhémars , das Kreuzfahrerheer soweit zu versöhnen und zu vereinigen , dass die Einnahme Jerusalems zu einer Bluttaufe und Neuschöpfung der Kreuzfahrer wird. Graf Raymond jedoch hat am Ende alles verspielt und hat an dieser Auferstehung keinen Anteil. Das eigentliche Ziel der göttlichen Interventionen ist dabei immer die communitas der Kreuzfahrer , wobei Gott immer wieder neue Figuren auswählt , die diese Gemeinschaft anführen sollen , denn nur die Eintracht (concordia) ermöglicht es den Kreuzfahrern , den Willen Gottes auszuführen und den Kreuzzug erfolgreich zu Ende zu bringen. Besonders deutlich lässt sich in der Chronik Raimunds d’Aguilers erkennen , dass der Kreuzzug als ein Übergangsritus verstanden werden kann , da der Weg nach Jerusalem die Pilger bzw. Kreuzfahrer durch das tiefste Tal der Entfremdung von Gott und bis hin zur Unmenschlichkeit des Kannibalismus und der Selbstzerfleischung führte. Das Ende der Reise habe dann nicht nur die Integrität der Stadt Jerusalem wiederhergestellt , da sie sich nun wieder unter christlicher Herrschaft befunden habe , auch die Integrität der Kreuzfahrer erscheint in Jerusalem wiederhergestellt – sie sind zu ganz neuen Menschen geworden und mit Gott versöhnt. Mehr als deutlich wird der Kreuzzug in dieser Chronik zu einer Bewährungsprobe. Die Kreuzfahrer müssen durch ihr Handeln beweisen , dass sie sich zu Recht als Gottes Volk verstehen. Da sie jedoch scheinbar aus eigenem Antrieb nicht dazu fähig sind , sendet Gott ihnen immer wieder Boten , an deren Anweisungen sie ihr Handeln ausrichten sollten. Diese Art der narrativen

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Gestaltung erlaubt zugleich einen Einblick in die theologische Deutung der Geschichte in der mittelalterlichen Historiographie. Denn auch wenn dieser Aspekt in der Kreuzzugschronik Raimunds d’Aguilers besonders deutlich hervortritt , gilt doch für die meisten mittelalterlichen Geschichtsdarstellungen , dass sie mehr als nur die Erzählung von Taten und Ereignissen sein wollen. Raimunds Chronik ist deshalb auch zugleich ein Lehrstück über das Verhältnis von Gott zu den Menschen. Denn trotz seiner Sündhaftigkeit überlässt Gott sein Volk nie seinem Schicksal , sondern sendet in Momenten der größten Not immer wieder Boten , die ihm helfen sollen , die göttliche Gnade wiederzuerlangen. Und so bestätigt diese Chronik , wie schon eingangs erwähnt , dass Sieg und Niederlage in der mittelalterlichen Historiographie immer nur aus dem rechten bzw. falschen Handeln der Menschen im Angesicht Gottes zu verstehen sind. Da Raimunds Chronik so auffällig theologisch bestimmt ist , sowohl in der narrativen Gestaltung als auch in der Interpretation des Kreuzzugsgeschehens , hat Christoph Auffarth diese Chronik gar nicht mehr als historia betrachten wollen.111 Viele Forscher sind aber einem anderen Weg gefolgt und haben versucht , diese besondere Darstellung aus der Psyche des Chronisten zu erklären. Denn in der Tat macht es einem diese Chronik schwer , nicht in die Biographisierungsfalle zu geraten , da der vermeintliche Autor dieses Textes in ihm selbst immer wieder als handelnde Person auftritt. Dieser Umstand führte nicht nur zu Darstellungen wie der von Runciman , sondern veranlasste auch andere Forscher , von Clemens Klein über John H. und Laurita L. Hill bis zu Beate Schuster ,112 die Darstellung dieser Chronik zu psychologisieren und dabei zumeist sehr unerfreuliche Psychogramme eines Betrügers oder einfältigen Schwärmers zu erstellen. Besonders Hill und Hill haben in den Anmerkungen ihrer Übersetzung und in der Edition dieser Chronik immer wieder darauf hingewiesen , dass Raimund kein Verständnis für die politischen und militärischen Sachzwänge der Kreuzzugsführer gehabt habe.113 Das mag 111 Auffarth 1989 , S. 47 : „So ist dieses ‚Buch des Raymond‘ auch nicht als eine historia zu verstehen. Die Form der Beschreibung ist ganz und gar nicht literarisch im Sinne der Historiographie der Reichsgeschichte , sondern neben mehr annalistischen Aufzeichnungen stehen vor allem exempla , also theologische Aussagen über das richtige Verhalten , die durch lebende Vorbilder (gerne einfache Leute) narrativ dargelegt werden , stehen die z. T. wie Verhörprotokolle angelegten Berichte über die Visionen , stehen liturgische Stücke.“ 112 Zu Klein und Schuster vgl. Anm. 41. 113 Zu den Arbeiten von Hill und Hill vgl. Anm. 7.

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vielleicht auch sein , doch wenn man solche Biographisierungen vermeidet , versteht man viel besser , warum die Chronik die Dinge so beschreibt , wie sie sie beschreibt. Denn es sei schließlich Gottes Wille gewesen , dass die Kreuzfahrer direkt und ohne Verzögerungen nach Jerusalem marschierten , wie die Heiligen und Christus selbst in all den Visionen deutlich zu verstehen gaben. Um also Gott nicht zu erzürnen , mussten alle weltlichen Überlegungen hintanstehen , denn auch das macht die Chronik immer wieder deutlich – nicht das kluge militärisch-politische Handeln der Kreuzzugsführer führt zum Erfolg , sondern allein das Wohlwollen und die Hilfe Gottes. Auch wenn also der Verfasser dieser Chronik und der darin handelnde Kaplan Raimund identisch sein sollten , kann man von dieser Chronik keine größere Authentizität und Wahrhaftigkeit als von anderen Chroniken erwarten , nur weil ihr Verfasser ein Augenzeuge gewesen sein mag. Auch sollte die manchmal verwirrende und für heutige Leser befremdlich wirkende Darstellung nicht dazu führen , die Chronik als das Machwerk eines Verrückten zu diskreditieren. Die Chronik stellt die Ereignisse ihrer eigenen Logik folgend dar , so wie es auch die anderen Chroniken taten , hier wird nur der göttlichen Intervention weit mehr Raum gegeben als in den meisten anderen Geschichtsdarstellungen. Mittelalterliche Historiographie ermöglichte es eben auch , den Kreuzzug als eine Entwicklung vom „Schrecken Gottes“ zur „Bluttaufe“ zu interpretieren und darzustellen. Wie ich hoffentlich zeigen konnte , wird man durch Psychologisierungen diesem sehr komplexen und dramaturgisch spannend gestalteten Deutungsversuch des Ersten Kreuzzugs kaum gerecht. Nimmt man diese Chronik jedoch als Deutungsversuch ernst , so gewährt sie einen außergewöhnlichen Einblick in die diskursiven Aushandlungsprozesse um Sinn und Bedeutung des Kreuzzugs in der Historiographie zu Beginn des 12. Jahrhunderts.

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Öffentlicher Abendvortrag am 21. September 2010

Die Herrschaftsformen der Königin der Blattschneiderameisen und die Demutshaltung der Wölfe August Nitschke

Plautus schrieb in seiner Komödie Asinaria : „Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen“. Thomas Hobbes nahm in seinem Buch „Vom Bürger“ in einer Widmung diesen Satz auf : „Der Mensch dem Menschen ein Wolf“. Hinter diesen Sätzen steht die Vorstellung : Menschen und Wölfe seien ihrer „Natur“ nach gewalttätig. Ich möchte zeigen , dass bei Tieren und bei Menschen oft die Formen ihrer Gesellschaft darüber entscheiden , ob sie gewalttätig sind und wie gewalttätig sie handeln. Die beiden Biologen Bert Hölldobler und Edward O. Wilson schildern voller Respekt die Blattschneiderameisen : „Die menschliche Landwirtschaft hat vor etwa 10 000 Jahren ihren Ursprung. Diese neu entstehende Landwirtschaft katapultierte unsere Spezies vom Jäger-Sammler-Dasein in ein technologisches und in ein bald städtisches Dasein … Ungefähr 50 bis 60 Millionen Jahre vor dieser bedeutsamen Veränderung hatten bereits einige soziale Insekten diesen evolutionären Übergang vom Jäger-Sammler-Dasein zur Landwirtschaft vollzogen.“ Für die Blattschneiderameisen – die Atta – „eröffnete die evolutionäre Erfindung des Schneidens und Erntens von lebendem Pflanzenmaterial“ die Möglichkeit , die eigene Arbeit auf wachsende Pilze zu konzentrieren. Diese wurden am Ende von den Ameisen gefressen.1 Diese Pilze konnten nicht groß werden ohne die Ameisen und die Ameisen konnten nicht groß werden ohne die Pilze. Sie bildeten zusammen eine Symbiose. Die Menschen haben ähnliche Arbeitsweisen viel , viel später kennengelernt.2 Für diese „Landwirtschaft“ schufen die Blattschneiderameisen eine differenzierte arbeitsteilige Gesellschaft , die wir gleich kennenlernen werden. Vorweg sei nur gesagt : Die Königin einer Kolonie der Blattschneiderameisen „führte“ nicht und schon gar nicht mit „Gewalt“, um diese Arbeitsvorgänge zu regeln. Auch die Arbeiterinnen wiesen nicht mit Zwang einer anderen Arbeiterin deren Tätigkeit zu. Was war das für eine Gesellschaftsform , die so aufgebaut werden konnte , und wie liefen die Arbeitsvorgänge in ihr ab ? 1 2

Hölldobler /  Wilson 2010 , S. 468 f. Ebd. , S. 468.

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Der Biologe Nikolaas Tinbergen nannte solche Insektenstaaten „differenzierte“ Gesellschaftsordnungen : Für die Angehörigen einer so geordneten Gesellschaft waren die Arbeiten , die sie ausführten , „Rollen“, die durch ihren Körperbau bestimmt waren. Nur wenn der Körperbau eines Tieres sich änderte , konnte ein Tier in dieser Gesellschaft eine andere Arbeit übernehmen.3 Solche Metamorphosen des Körpers konnten mit einem bestimmten Lebensalter eintreten ,4 oder : wenn bei den Putzlipperfischen das einzige männliche Tier gestorben war und ein bis dahin weibliches Tier es ersetzte ,5 oder : wenn , wie wir noch sehen werden , die Königin der Blattschneiderameisen nach ihrem Hochzeitsflug eine neue Aufgabe übernahm. Die anderen Gesellschaften , in denen sich die Tiere , wie etwa die Wölfe , nur aufgrund ihrer Stärke unterschieden , hatten – in der Sprache Tinbergens – eine „integrierte“ oder „homogene“ Gesellschaftsordnung. In dieser Ordnung hatten die einzelnen Tiere die Möglichkeit , ihre Position innerhalb der Gesellschaft – aufgrund ihrer Stärke oder Geschicklichkeit – zu verbessern.6 Wir werden die Blattschneiderameisen als Repräsentanten einer differenzierten und die Wölfe als Repräsentanten einer integrierten Gesellschaftsform miteinander vergleichen. Um nun die Methode unseres weiteren Vorgehens verständlich zu machen , muss ich kurz auf die Disziplin der Historischen Verhaltensforschung eingehen. Als im Jahre 1970 an der Universität Stuttgart eine Abteilung für Historische Verhaltensforschung gegründet wurde , sollten die Beziehungen zwischen gesellschaftlichem Verhalten und Gesellschaftsordnungen untersucht werden.7 Die Abteilung arbeitete in einem wirtschaftswissenschaftlichen Institut , so dass die Ergebnisse der Verhaltenshistoriker gleich und immer wieder in praxisorientierte , außereuropäische , wirtschaftliche Projekte einbezogen wurden.8 3 Tinbergen 1955 , S. 101 ff. ; Portmann 1953 , S. 75 , 86 f. ; Eibl-Eibesfeldt 2004 , S. 360 ff. 4 Eibl-Eibesfeldt 2004 , S. 566 ff. 5 ������������������������������������������������������������������������������ Ebd. , S. 597 ; bei den Anemonenfischen findet bei einer Gattung ein umgekehrter Geschlechtswechsel statt , ebd. ; vgl. Robertson 1973 , S. 538 ff. ; Nitschke 1974 , S. 84. 6 Eibl-Eibesfeldt 2004 , S. 596 ff. 7 Nitschke 1974 , S. 74 ff. ; ders. 1981 ; in diesem Buch wurden noch ähnliche Forschungsrichtungen , wie die Mentalitätsgeschichte , unter dem Oberbegriff der Verhaltensforschung mit aufgenommen ; später konzentrierten sich die Untersuchungen auf die „von Aktionen abhängigen Verhaltensweisen“: S. 75–218. – Auch wurde die Familienforschung einbezogen : Nitschke 1985 ; Gestrich 1999. 8 Zu den außereuropäischen Gesellschaftsformen und Verhaltensweisen s. Nitsch-

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So befassten sich Stuttgarter Verhaltenshistoriker mit Gymnastik , Sport ,9 militärischen Exerzitien ,10 mit dem Ablauf der menschlichen Bewegungsweisen in verschiedenen Epochen und Kulturen und zogen aus deren Wandlungen Schlüsse auf europäische und außereuropäische Wahrnehmungsweisen. Es folgten mit denselben Fragestellungen Untersuchungen über den Tanz.11 Auch ihre Analysen von Bildwerken ermöglichten es ihnen , ähnlich zu fragen.12 Es schlossen sich Arbeiten über Ablaufstrukturen bei literarischen Werken an.13 Diese führten zu Versuchen , die Erklärungsmodelle der Naturwissenschaftler unter diesem neuen Aspekt miteinander zu vergleichen.14 Bei all diesen Arbeiten fiel auf , dass die in einer Gesellschaft dominierenden Verhaltensweisen oft auf die Veränderungen eingingen , die die Menschen in der unmittelbar vor ihnen liegenden Zukunft erwarteten. Diese Ausrichtungen der Menschen auf die Zukunft wurde von anderen Historikern bald der „Erwartungshorizont“ der Menschen einer Gesellschaft genannt. Dabei wurde klar : Ein Wandel der Zukunft ließ auch die Vergangenheit – und damit überhaupt die Zeit – anders als bisher sehen. Eine Analyse des beginnenden Industriezeitalters brachte übrigens bei Reinhart Koselleck , der nach dem Wandel der Zeitvorstellungen fragte , und bei den Verhaltenshistorikern ähnliche Resultate.15 Aufgrund dieser Forschungen werden wir versuchen , aus den Arbeitsweisen der Tiere Schlüsse auf die Zukunft , die sie erwarteten , zu ziehen. Die Königin der Blattschneiderameisen baute nach dem Hochzeitsflug ihre Flügelmuskulatur ab , bekam so für die neue Tätigkeit eine neue Gestalt. Dann

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ke 1991 : Die gesellschaftlichen Verhaltensweisen werden nach ihrem Zusammenhang mit einer der drei Erscheinungsformen der Energie unterschieden : S. 31 ff. , 45 ff. , 83 ff. , 105 ff. ; ders. 1994 : Die Verhaltensformen werden aufgrund eines biologischen Aspektes unterschieden : je nachdem , ob sie dazu beitragen , wie die DNA in den verschiedenen Phasen des Zellzyklus entweder neue Körper aufzubauen oder Prozesse zu beschleunigen oder Räume zu erweitern. (Der Text wird im Folgenden erläutern , warum Beobachtungen dazu zwingen , Verhaltensformen nach diesen Gesichtspunkten gegeneinander abzusetzen.) Eichberg 1978 , S. 202 ff. Kleinschmidt 1989. Saftien 1994 ; Erdmann-Rajski /  Palucca 2000. Nitschke 1975. Nitschke 1976 ; Burkhardt 1975 , S. 49 ff. ; Eichberg 1981 , S. 124 ff. Nitschke 1967 , S. 9 ff. ; Stürner 1975 , S. 185 ff. , 218 ff. ; Struve 1978 , S. 293 ff. , 301 ff. , 310 ff. Koselleck 1989 ; Burkhardt 1975 , S. 52 ff. , 67 ff. , 83 ff.

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grub sie eine Höhle für sich und legte in diese ein Myzel – ein Fadengeflecht von Pilzwurzeln aus der Familie der Lepiotaceae.16 Sie hatte dieses Myzel vor dem Hochzeitsflug in einen Hohlraum unter ihre Speiseröhre gepackt und mit auf den Flug genommen , jetzt spuckte sie es aus. Die Königin blieb in den folgenden Tagen bei den Fäden dieses Geflechts allein und fütterte die Fäden des Myzels „durch Düngen … mit Kotflüssigkeit“. Nach wenigen Tagen wuchsen daraus die ersten kleinen Pilze. Das Myzel war das Lebewesen , dem die Arbeit der Königin galt. In dieser „Arbeit“ beschleunigte sie die Bewegungen und Veränderungen des Myzels. Während dieser Arbeit nun – bei der Beschleunigung der Prozesse im Myzel – ernährte sich die Königin selber von ihren „Körperfettreserven“ durch „Abbau der Flugmuskulatur“ und fraß etwa „90 % der von ihr gelegten Eier“. (Mit diesem Eierlegen hatte sie gleichzeitig begonnen.) Hingegen ließ sie wohl die „noch sehr empfindliche junge Pilzkultur“ unberührt.17 So „opfert“ sich die Königin für das Myzel – für die Beschleunigung von dessen Wachstum – regelrecht auf. Wir können gleich ergänzen : Schon während ihrer ersten Arbeit ist die Königin aufgrund ihrer Körperform dazu gezwungen , da sie ihre Kotabsonderungen nicht „fortlaufend“ dem Myzel der Pilze zuführen kann , den Arbeitsablauf immer wieder in kurzen Abständen zu unterbrechen. So wird die Zeit von der Königin in Abschnitte gegliedert. Nun beschleunigen die Handlungen der Königin die Bewegungen des Myzels und überhaupt die Vorgänge in dessen Körper. Da das Myzel dabei wächst – und dessen Körper sich erweitert – , liegen alle Veränderungen des Myzels in den Zeitabschnitten. „Zeit“ ist auf diese Weise etwas , das sich aus Veränderungsabschnitten zusammensetzt. So lassen die Aktionen eines fremden Wesens – nämlich die Aktionen der Königin – die „Zeit“ erkennbar werden. Sehen wir jetzt auf die Zeit der Arbeiterinnen. Die Arbeiterinnen in der Umgebung der Königin übernahmen die Arbeitsweise der Königin. Die Biologen bezeichnen diese Formen der Arbeitsübernahme als Stigmergie (das Wort meint : „Zur Arbeit antreiben“). „Bei stigmertischer Arbeit ist es die bereits abgeschlossene Leistung (eines Tieres , etwa der Königin) und nicht etwa die direkte Kommunikation mit Nestgefährten , welche die Insekten zu weiterer Arbeit veranlasst“:18 Hatte ein Tier seine Arbeit beendet , folgten dem dabei ausgeübten Arbeitsvorgang erst ein anderes Tier und dann mehr und mehr 16 Hölldobler /  Wilson 2010 , S. 470. 17 Hölldobler /  Wilson 2010 , S. 478 f. 18 Ebd. , S. 550 f. ; Camazine 2003 , S. 23 ff.

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andere Tiere , die so das Gleiche in gleicher Weise – eben nach dem Prinzip der Stigmergie – taten. Damit war auch für die Arbeiterinnen die Zeit etwas , das sich aus – am Körper erfahrbaren – Veränderungsabschnitten zusammensetzt. Das sah konkret so aus : 1. Große Ameisen zerschnitten Blätter bestimmter Bäume und warfen Blattstücke herunter. 2. Die nächsten Ameisen trugen diese Blattstücke auf einen gerichteten Weg. 3. Kleinere Ameisen brachten sie bis zur Erdkammer. (Für diese Handlungen wurde eine Fließbandarbeit eingeführt.) 4. Dort zerschnitten wieder andere Ameisen die Blätter in Stücke von 1 mm Breite. 5. Noch kleinere formten diese zu Kügelchen und fügten Kottröpfchen hinzu. 6. Sie brachten das Substrat in die Pilzkammern , in denen wieder andere Ameisen die Blätter weiter zerstückelten , mit anderen Stoffen vermischten und gären ließen. Auch verteilten sie in den Pilzkammern Antibiotika und Wachstumshormone. 7. Wieder andere holten aus den Pilzen feine Pilzfäden heraus und pflanzten diese in das durchgekaute Pflanzensubstrat. (So wurden die Pilze ernährt.) 8. Die kleinsten , die Pygmäen , betasteten die Fäden und entfernten fremde Pilze.19 Ein so arbeitendes Tier nimmt nicht wahr , wem das , was es tut , dient , und welche Funktion das , was es tut , hat. Es erwartet höchstens , wenn es die Arbeit schon einmal getan hat , in der Zukunft auf ein Tier zu treffen , dem es seine Arbeit übergibt , woraufhin sich dieses andere Tier in Bewegung setzt , um die getane Arbeit fortzuführen. Bei diesen Arbeiterinnen treffen wir somit erneut auf das Arbeitsziel und die Zeit der Königin. Jede Arbeiterin bewegt sich , bis sie ein anderes Tier in Bewegung setzen kann oder – noch konkreter – bis sie die Bewegung einer anderen Arbeiterin beschleunigt. Die Zeit setzt sich so bei den Blattschneiderameisen aus kurzen Abschnitten zusammen. In jedem dieser Abschnitte beschleunigt ein in Bewegung befindliches Tier (ist es am Ende seines Abschnittes angelangt) das Tier , das sich in einem anderen Abschnitt befindet. Die Zeit gleicht so einer Kette , die sich aus einzelnen Gliedern zusammensetzt , wobei am Ende jedes Gliedes dieses auf das nächste Glied – beschleunigend – einwirkt (oder : gleicht so einem Stafettenstab , der weitergegeben wird). Alle diese Beschleunigungen dienen dabei derjenigen Beschleunigung , derentwegen die Königin diese Arbeit begonnen hat : der Beschleunigung der Wachstumsvorgänge im Myzel und in den Pilzen. Das nun doch etwas überraschende Ergebnis ist somit : Die Zeit , die wir die „Gliederkettenzeit“ nennen können , begann , als ein Lebewesen sich selbst 19 Hölldobler /  Wilson 2010 , S. 488 ff. , 499 , 511.

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partiell zerstörte , um Prozesse , die auf fremde Lebewesen zerstörend wirkten , zu beseitigen und um gleichzeitig Prozesse , die in diesen fremden Lebewesen Ordnungen aufbauten , zu beschleunigen. Damit wird nun auch verständlich , dass innerhalb dieser Gesellschaft , in der sich für jeden einzelnen Angehörigen der Gesellschaft eine Zukunft eröffnete , wenn er die Bewegungen und Veränderungen eines fremden Wesens beschleunigte , der Erwerb von Macht und der Besitz von Gewalt keinen Sinn hatten. Erstaunlich ist dabei vielleicht nur , dass die Vorläufer der Blattschneiderameisen , die zwar keine Pilze züchteten , aber auch bereits Pilze fraßen , „Dominanzinteraktionen“ und Kämpfe kannten : um den „obersten Rang“.20 In der „Evolution“ war so eine neu entstehende Art weniger als die früheren Arten darauf bedacht , sich durchzusetzen. (Überhaupt sollte bald geklärt werden , ob wir nicht auf einen Irrweg gerieten , als wir begannen , Darwin und dessen Anhängern zu folgen.21) Noch eine Bemerkung , um das Bild zu vervollständigen : Von den Blattschneiderameisen wurden Nachbarkolonien nur angegriffen , wenn diese zuvor die Pilzgärten der Blattschneiderameisen entfernt hatten. Dann konnten deren Pilzgärten gestohlen werden. Doch das war eine Notwehrreaktion.22 Meist ging es dann so zu , dass „die älteren Arbeiterinnen die Eindringlinge attackierten und ihre eigenen Territorien verteidigten“. Freilich gab es auch bei den Blattschneiderameisen eine Soldatenkaste , die aus „extrem großen Ameisen“ mit scharfen Kiefern bestand.23 In diesen Kriegen ging es allerdings nicht um die Macht der „Soldaten“, sondern darum , eine Symbiose zu erhalten. Beim Ausbau dieser Symbiose „Pilze – Ameisen“ halfen zusätzlich die Arbeiterinnen , die auf Arbeitskontrollen spezialisiert waren : Sie meldeten Störungen und sprangen , bis diese beseitigt wurden , selber ein , um Lücken im Arbeitsprozess zu schließen.24 Innerhalb dieser Symbiose von Pilzen und Blattschneiderameisen kam es auch zu einer regelrechten „Kundenbefragung“: So überprüften die Pilze die von den Ameisen gelieferten Nahrungsmittel – die Blätter – und äußerten Korrekturwünsche. Wir wissen nicht , wie den Blattschneiderameisen diese Wünsche mitgeteilt wurden.25 Die Biologen wissen 20 Ebd. , S. 109 f. , 393 ff. , 407 , 417 , 421. 21 Zu Beobachtungen , die sich schwer mit Darwins Erklärungsmodell verbinden lassen , s. Müller 2000 , S. 23 ff. , 103 ff. , 170 ff. – Zu einer neuen Form des Beobachtens s. Weber 2008 , S. 156 ff. 22 Hölldobler /  Wilson 2010 , S. 471. 23 Ebd. , S. 491. 24 Ebd. , S. 499. 25 Ebd. , S. 511.

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nur , dass die „schneidenden“ Ameisen – manchmal bereits nach wenigen Stunden – die nicht mehr geschätzten Blätter unbeachtet ließen und stattdessen die jetzt gewünschten Blätter schnitten. So zeigt sich an vielen Stellen dieser Blattschneiderameisenkolonie , dass die Tätigkeiten der Ameisen auf eine Zukunft gerichtet waren , die diejenigen Prozesse bei anderen förderte , die deren Bewegungen beschleunigten und deren Ordnungen vergrößerten. Als Hölldobler und Wilson die „bedeutsamen Veränderungen“ vor „50 bis 60 Millionen Jahren “, den „evolutionären Übergang“ bei „einigen sozialen Insekten … vom Jäger-Sammler-Dasein zur Landwirtschaft“ erwähnten , wiesen sie auf Parallelen in der Geschichte der Menschen hin.26 Hölldobler und Wilson sind offensichtlich der Meinung , dass bei Tieren ein „evolutionärer Übergang“ und dass bei den Menschen die Veränderung einer „Wirtschaftsweise“ den Wandel herbeiführte. Doch wir müssen bei den Tieren nicht mit so diffusen Begriffen arbeiten. Es lässt sich ja zeigen : Die Königin der Blattschneiderameisen reagierte auf Lebewesen in ihrer Umgebung , bei deren Prozessen Mängel auftraten. Sie verzichtete derentwegen auf eigene Chancen und beseitigte durch dieses „Opfer“ deren Mängel – etwa durch eine Beschleunigung der bei diesen „Geschädigten“ verlangsamten Prozesse. Da die Arbeiterinnen der Königin nach dem Prinzip der Stigmergie die Arbeitsweise der Königin übernahmen , entstand in dieser Ameisenkolonie eine Gesellschaft , die das Wachstum eines fremden Lebewesens förderte. Was die von Hölldobler und Wilson hervorgehobenen Gesellschaften der Menschen angeht , so lassen sich , seitdem einzelne Gruppen von Menschen Landwirtschaft betrieben , wirklich Ähnlichkeiten beider Gesellschaftsformen beobachten. So wurden etwa in China Bewässerungssysteme angelegt und erhalten , durch die die Menschen für das Wachsen des Reises sorgten und der Reis die Menschen so ernährte , dass sie wachsen konnten.27 Dass die Chinesen oft – etwa bei ihren Kampfsportarten – denjenigen , der ihnen gegenübertrat , förderten und so auf den Widersacher eingingen und dessen Bewegungen stärkten , um sie am Ende für sich auszunutzen ,28 prägte überhaupt die chinesische Gesellschaft.29 Andere Ähnlichkeiten , an die Hölldobler und Wilson nicht dachten , fallen in den Gesellschaften der Indios in Mittelamerika auf. Für die Azteken etwa war es selbstverständlich , dass Menschen – auch 26 27 28 29

Ebd. , S. 468 f. Mitterauer 2001 , S. 245 ff. ; ders. 2003 , S. 18 ff. Pfeiffer 1981 , S. 121 ; Foerster 1981 , S. 155 f. Reinhard 1956 , S. 14 , 26 , 54 ff. , 59 , 140 ; Nitschke 1991 , S. 54 ff.

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Götter – sich selbst opferten , um die langsamer werdenden Bewegungen der Gestirne wieder zu beschleunigen. Dadurch sollten diese Gestirne , etwa die Sonne , im nächsten „Zeitabschnitt“ – auch die Azteken teilten die Zeit in solche „Abschnitte“ ein – wieder fähig werden , den Menschen zu helfen.30 Was in Mittelamerika von den Indios gesagt und in deren Kunst dargestellt wurde , entspricht vielem , das wir aus der Arbeitsweise der Blattschneiderameisen erschlossen hatten. Und was hier geschah , erinnert unmittelbar an die „Opfer“ der Königin bei den Blattschneiderameisen.31 Das hat nun Folgen für unsere Frage nach „Gewalterfahrungen“: Nach dem , was wir über die Stellung der Blattschneiderameisen zur Gewalt erfuhren , werden wir in künftigen Arbeiten sorgfältiger untersuchen müssen , wie die Männer und Frauen der menschlichen Gesellschaften in China und in Mittelamerika zur Gewalt standen. Doch bleiben wir zunächst bei den Tieren. Ich komme zu den Wölfen. Kämpfe innerhalb einer Tiergesellschaft wurden bei den Säugetieren besonders oft untersucht – etwa bei den Wölfen : Wölfe ernähren sich dadurch , dass sie andere Tiere nach Kämpfen töten , Wölfe beherrschen bei diesen Kämpfen eine besonders abgestimmte Vorgehensweise gegenüber ihren Widersachern , Wölfe kämpfen gegen andere Wolfsrudel , Wölfe kämpfen um die erste Stelle im Rudel. Am Ende dieser Kämpfe um die Dominanz im Rudel haben die Wölfe innerhalb des Rudels zwei Hierarchien , eine zwischen den Männchen und eine zwischen den Weibchen. An der Spitze steht jeweils ein Alpha-Tier. Die Weibchen kämpfen oft härter um ihre Position. Die Siegerin darf Junge zur Welt bringen.32 Dass die Gewalt in der Gesellschaftsordnung der Wölfe eine andere Bedeutung als bei den Blattschneiderameisen hat , ist offensichtlich. Fragen wir , in welcher Zeit die Wölfe leben. Welche Bewegungen fallen am Anfang eines Wolfslebens auf ? Die jungen Tiere befinden sich nach ihrer Geburt – sie kommen blind zur Welt – drei Wochen allein mit ihrer Mutter in deren Höhle.33 Die Wölfin hatte für diese Wochen Nahrung in Vorratshöhlen gelagert. Sie lässt in dieser Zeit kein anderes Tier an die Jungen heran , auch deren Vater , ihren Mann , nicht.34 Dieser jagt in den Wochen für seine Frau und legt , was er findet , vor 30 31 32 33 34

Krickeberg 1936 , S. 184 , 187 , 223 ff. ; Riese 2011 , S. 38 ff. Nitschke 1991 , S. 45 ff. , 83 ff. Fox 1975 , S. 103 ,106 f. , 121 (Gruß) , 144 (Futter bei Verletzung). Ebd. S. 136. Ebd.

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deren Höhle nieder. Dringt ein anderes Tier oder ein Mensch gewaltsam in die Höhle ein , packt die Wölfin ihre Jungen und zieht sie aus der Höhle heraus. Sie trägt sie in eine leere Nachbarhöhle : Diese hatte sie vor der Geburt bereits als Ausweichhöhle geschaffen.35 Das Überraschende ist dabei : Die sonst durchaus kampffreudige Wölfin greift in dieser Situation den Eindringling nicht an. Wichtig ist ihr offensichtlich nur , dass sie mit ihren „Kindern“ in irgendeiner Höhle allein bleibt. Bald wird noch deutlicher , welche Folgen die Aktion der Wölfin hatte , die für den erwarteten „Nachwuchs“ und für dessen Ernährung eine Höhle grub : Zunächst versorgt die Wölfin ihre jungen Tiere mit ihrer Milch.36 Auf diese Weise errichtet sie im Höhlenraum einen Mutter-Kind-Sonderraum. Schon zu diesem Zeitpunkt scheinen die Welpen zu spüren , welche Bedeutung die Initiative der Mutter – in Auseinandersetzung mit den Geschwistern – hat. Doch dies ist bei allen Säugetieren so. Das Leben in der Höhle hat besondere Folgen : Die jungen Tiere geraten in einen Raum , der nach oben abgeschlossen ist. So erfahren sie früh , welche Kräfte in der Höhle wirken : Gase steigen – als „Felder“, wie wir sie nennen wollen – auf und bewegen sich oder bewegen andere Gase nach allen Richtungen. (In dieser Hinsicht bereits unterscheiden sich die Bewegungen der „Felder“ in der Höhle von den Bewegungen der Pilze der Blattschneiderameisen , die in den „Gärten“ nur in eine Richtung wachsen.) Gegen die Bewegungen dieser Gase kann allerdings die Mutterwölfin aktiv vorgehen und sie tut es in Reinigungsaktionen : Sie gelten dem Schmutz , der sich mit den Fäkalien der Jungtiere verbreitet. Die Wölfin leckt deswegen bis zur sechsten Woche der Welpen deren Bauch ab – später hilft ihr dabei manchmal der Vater – und entfernt so mit ihrer Zunge zwischen deren Beinen Urin und Kot.37 Nach diesen Aktionen der Wölfin verbreitet sich in der Höhle ein Duft der Reinheit. Diese zwei Dufträume – die zwei „Felder“ – verschieben ihre Positionen gegeneinander und beide dehnen sich nach allen Richtungen aus. Dieser „Prozess“ einer „Feldbildung“ unterscheidet sich deutlich von den Prozessen , die wir bei den Blattschneiderameisen kennenlernten. Bei den Blattschneiderameisen ging es um den Körperzustand einzelner Wesen – etwa der Pilze. Die Prozesse der Pilze konnten schneller oder langsamer ablaufen. Sie konnten so wachsen oder vertrocknen. Sie dehnten sich jedoch nicht wie die Gase 35 Zimen 2003 , S. 184. 36 Fox 1975 , S. 136. 37 Ebd.

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in der Luft aus. Die Welpen beobachten in der Höhle : Es gibt in der Luft ihnen „unliebe“ Vorgänge. Eine solche Erfahrung ist nur in einer Höhle so eindrücklich zu machen. Sie beobachten weiter : Die Mutter kann durch ihre Entscheidung , mehr Sauberkeit zu schaffen , gegen die ihnen unangenehmen Gase vorgehen und in der Luft einen Reinheitsraum entstehen lassen. Kommt der Vater später mit in die Höhle , erleben die Welpen eine weitere Bewegung , die sich auch gegen sie richtet. Der Vater , der sich in den nächsten Wochen mehr als die Mutter um die Jungen kümmert ,38 verlangt aber , dass diese zu ihm Distanz halten.39 Er setzt außerdem durch , dass die Welpen zu ihrer Mutter , wenn diese keine Milch mehr hat und die Welpen entwöhnen will , in Distanz bleiben : Er „knurrt“, „stößt die Welpen weg und hindert sie daran , der Mutter zu folgen“. So erfahren die jungen Tiere , dass es in diesem Höhlenraum Abstände zwischen den einzelnen Tieren gibt , die sie , die Welpen , auch wenn sie selber gerade trinken wollen , zu respektieren haben. Dabei hängt es von ihnen ab , wie lange sie brauchen , bis sie die Wünsche eines knurrenden Vaters erfüllen. Der Vater lässt so zu , dass sie sich im Höhlenraum selbst entscheiden. Die Mutter hat allerdings eine andere Art , ihre Kinder auf zu beachtende Distanzen hinzuweisen. Kaum sind die Jungen etwas größer , lässt sie diese zwischen den Stillzeiten allein und legt sich 200 Meter von der Höhle entfernt in den Busch , um auszuruhen.40 Am Ende begreifen es die Welpen und benehmen sich den Eltern gegenüber „respektvoll unterwürfig“.41 So erkennen die Welpen in der Höhle allmählich , dass es einen Distanzraum gibt. Später , wenn sie die Höhle verlassen haben , beachten sie ihn wie die älteren Wölfe. In der Höhle lernen die jungen Wölfe auch eine Möglichkeit kennen , mit Widersachern zurechtzukommen. Schon „während der ersten drei Monate“ beginnen die Welpen nämlich , „langsam eine Dominanzhierarchie einzurichten“.42 Dafür sind Kämpfe mit den Geschwistern nötig. Wenn sie einem Gegner hoffnungslos unterlegen sind , legen sie sich auf den Rücken , als ob sie sich – wie nach der Geburt – von ihrer Mutter ablecken lassen wollten. Dies ist aber nur eine mögliche Reaktion. Sie können auch die Halsschlagader freigeben oder andere Gesten wählen , durch die sie längst vergangene Situati38 39 40 41 42

Ebd. , S. 140 ff. Ebd. , S. 120 , 121 , 139. Ebd. , S. 144. Ebd. , S. 139. Ebd. , S. 141.

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onen wiederholen.43 So weisen sie dem angreifenden starken Bruder die Rolle der Mutter zu und zwingen dabei den Stärkeren , sich auf diese Weise gegenüber dem liegenden Tier wie eine Mutter zu verhalten. Der „Sieger“ nutzt dann die Gesten , die die Biologen eine „Demutshaltung“ nennen , nicht zu seinem Vorteil aus. Er akzeptiert die Unterwerfung.44 So trägt die Zeit in der Höhle auch dazu bei , Formen zu finden , durch die ein weiterer Sonderraum , der Dominanzraum , geschaffen wird. Er garantiert , dass die Tiere trotz aller Kämpfe im Rudel immer enger zusammenarbeiten. Den jungen Wölfen , die aus der Höhle ziehen , bietet der Dominanzraum zudem die Chance , sich dem Rudel anzuschließen. Jeder von ihnen kann ja nach Spielen und Kämpfen erkennen , in welche Position er sich innerhalb des Rudels – zwischen Alphatieren und Welpen – einzufügen hat. Auf diesen Platz kann jede Wölfin und auf diesen Platz kann jeder Wolf täglich durch die Art seiner Bewegung hinweisen , indem er vor einem anderen Wolf dicht an der Erde kriecht oder sich vor ihm aufrecht erhebt. Auch durch seine Mimik – angriffsfreudig , hilfsbereit , unterwürfig oder sich distanzierend – zeigt er , wohin er zwischen den anderen gehört. Da manche dieser Gesten auch Stimmungen der Fürsorge und Liebe ausdrücken , die nichts mit einem Dominanzraum zu tun haben , wandeln sie den Distanzraum manchmal in einen Beziehungsraum. Im Grunde ist auch dieser Beziehungsraum bereits kurz nach der Geburt in der Höhle aufgebaut worden. Der Mutter-Kind-Raum versetzt ja die gerade geborenen Tiere in einen Beziehungsraum. Da die Wölfin in den folgenden Wochen ihre Jungen mit immer anderen Beziehungsräumen vertraut macht , eröffnet sie den Welpen in der Höhle eine Zeit sich wandelnder Räume. Vergleichen wir jetzt : Wir haben über die Gesellschaftsformen der Tiere zwei Zeiten kennengelernt. In der Gesellschaft der Blattschneiderameisen zerfiel die Zeit in viele Abschnitte. Die Zeit war identisch mit der sich verändernden Arbeit der Wesen , die sich in einem dieser Abschnitte befanden – etwa mit der Arbeit einer Ameise , die gerade in einer begrenzten Zeit eine Arbeit ausführte. Wenn man diese Zeitabschnitte als Glieder sieht , war es eine Gliederzeit. Moderne Sozialwissenschaftler , die bei einzelnen von ihnen untersuchten Gesellschaften die Zeit , die Veränderungen bringt , ebenfalls in den einzelnen Zeitabschnitten fanden , sagten : „Die Zeit selbst war der Faktor ,

43 Ebd. , S. 78 ff. , 101 ff. 44 Zimen 2003 , S. 57.

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der über Ursache und Wirkung entschied.“45 In der Gesellschaft der Wölfe gerieten die Welpen in der Höhle auf verschiedenen Wegen in sich wandelnde (Sonder-)Räume. Innerhalb dieser traten gegenläufige Bewegungen oder gegenläufige Veränderungen auf. Die Welpen lernten innerhalb dieser verschiedenen Räume Bewegungen kennen , die in alle Richtungen führen konnten. Die Wölfin hatte ihre Welpen so bei deren Geburt in einen großen Raum gebracht – in den Raum der Höhle – und in Sonderräume innerhalb des großen Raums – etwa in den Mutter-Kind-Raum oder in den Beziehungsraum. Überall ließen sich Distanzen aufbauen und erweitern. Somit konnte es überall zu Veränderungen kommen. Für diese mussten nicht nur Zeitabschnitte , sondern eine fortlaufende Zeit da sein , die dem Raum mit seinen Veränderungsmöglichkeiten entsprach : eine Raumzeit. Was sich innerhalb des Raumes ereignete , musste sich auch innerhalb dieser Zeit ereignen. So kannten einzelne Tierarten die Gliederzeit , bei der sie handelnd mit einem Glied identisch sein konnten , hingegen andere Tierarten eine Raumzeit , innerhalb derer sie sich nach allen Seiten bewegen und verändern konnten. Die unterschiedlichen Zeiten der Blattschneiderameisen und der Wölfe bezeugen dabei zwei unterschiedliche Bindungen. Die Blattschneiderameisen unterstützen den Bewegungsvorgang eines Körpers , den eines Pilzes. Sie beschleunigen dessen Bewegungsrichtung. Sie sind so an einen Raum-für-eine-Richtung gebunden. Die Wölfe kennen Raumveränderungen innerhalb eines Raumes. Sie fördern die entgegengesetzten Bewegungen innerhalb eines Raumes. Sie sind so an einen Raum-für-viele-Richtungen gebunden. Nun zu der Frage : Welche menschlichen Gesellschaften kannten eine Raumzeit , innerhalb derer sie und alle in ihrer Umgebung sich nach allen Richtungen bewegen und verändern konnten , und welche waren so an einen Raum-für-viele-Richtungen gebunden ? In Europa lernten in der Antike die ersten Griechen mit dem Beginn des 6. vorchristlichen Jahrhunderts durch ihre neuen Raumbindungen Zeiten kennen , innerhalb deren sich Bewegungen nach allen Richtungen und Veränderungen ereigneten. Unsere Schwierigkeit ist , dass wir bei den Griechen der Antike allein von einem Teil der Bevölkerung , von der Oberschicht , Genaueres erfahren. Über die Bauern , die unter einem Gutsherren lebten , über die Handwerker , über die Sklaven wissen wir zu wenig. Doch zur Oberschicht gehörten neben den Politikern , Kaufleuten und Kriegern die Künstler und die Wissenschaftler. So müssen wir uns damit begnügen , auf Veränderungen der Oberschicht zu achten. Doch dies ist uns möglich. 45 Krickeberg 1936 , S. 263.

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In den griechischen Burgen und befestigten Städten des 8. vorchristlichen Jahrhunderts lebten – nach den Schilderungen Homers – die Männer überaus „ehrbezogen“. Diese Ehre wurde ihnen nach einem Sieg im Krieg oder bei sportlichen Kämpfen von anderen Griechen verbunden mit Geschenken zugesprochen – dem alten Nestor übrigens , der gar nicht mitgekämpft hatte , auch wegen seiner früheren Leistungen. Wurden ihnen , was Agamemnon und Achill widerfuhr , die Geschenke wieder genommen ,46 reagierten sie so zornig , dass ihr Zorn Hunderte von Griechen das Leben kostete. Auch Götter unterlagen nach Meinung von Sängern diesen Regeln. Als Gott Ares die Frau des Gottes Hephaistos verführte , die , als sie Hephaistos heiratete , dessen Ehre erhöht hatte , fragte Hephaistos nicht nach der Schuld der Beteiligten. Er wollte nur , dass irgendjemand – es musste nicht der Ehebrecher sein – durch Zahlungen die Ehre des geschädigten Ehemanns wieder herstellte. (Der völlig unschuldige Poseidon tat es.47) Die Künstler jener Jahrhunderte stellten auch Menschen so dar , dass jeder an einer Statue sofort sah , was diesem Mann zusätzlich „gegeben“ war – viele Muskeln auf dem Knie etwa ,48 große Augen auf der Backe.49 Das konnte der Künstler dann auf die von ihm geschaffene Gestalt auftragen. Ähnlich ging Homer mit „Teilen“ des menschlichen Körpers und der menschlichen „Seele“50 um. Auch die Lebenszeit eines Menschen war diesem – war etwa dem Achill – so vorweg „gegeben“ und mitgeteilt.51 In dieser Oberschicht der griechischen Gesellschaft tritt nun im 6. und im 5. vorchristlichen Jahrhundert in den verschiedenen Stadtstaaten ein radikaler Wandel ein. Auf den Vasenbildern jener Zeit sind die Menschen nicht mehr aus flächigen Gliedern gebildet , auf denen faltenlose Gewänder liegen. Deren Körper füllte jetzt einen Raum aus , in den die Augen eingefügt waren. Jeder menschliche Körper wird ein „organisch-einheitlicher Körper , bei dem alle

46 Homer , Ilias I 10 ff. (Agamemnon) ; I 130 ff. (das „Ehrengeschenk“ des Achill) ; I 150 ff. (Achills Beteiligung am Krieg gegen Troja nur, um des Agamemnon und um des Menelaos Ehre zu retten). 47 Homer , Odyssee VIII 306 ff. 48 Nitschke 1989 , S. 18 ff. ; 20 ff. 49 Nitschke 1975 , S. 64. 50 Snell 1946 , S. 19 ff. , 22 (in der Sprache Homers ist der Körper „nur aufgebaut durch die Addition einzelner Teile“) ; S. 15 ff. (zu den Worten für das Sehen des Auges). 51 Homer , Ilias I 504 ff.

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Teile aufeinander bezogen sind“.52 Diese Körper und ihre Gewänder sind dabei den Kräften unterworfen , die oberhalb der Erdoberfläche auf alle Körper einwirken. Die Körper benötigen somit Muskeln , um gegen die Schwerkraft den Rumpf , die Schultern , den Kopf in die Höhe zu heben. Diese Muskeln stellen die Maler in ihrer Funktion auf ihren Bildern dar und gestalten die Bildhauer in ihrer Funktion an den Plastiken.53 Dabei sind Darstellungen von Bewegungen und Veränderungen diesen Künstlern nur möglich , weil sie zusammen mit ihren Figuren einen Raum-für-viele-Richtungen mit vergegenwärtigen. Damit befinden wir uns jetzt in dem Raum der Wölfe. Diese handelten nicht in einer Gliederzeit , sondern innerhalb einer Raumzeit. Innerhalb der Raumzeit hatten die Wölfe durch ihre Initiativen Sonderräume eingerichtet. Wir werden sehen , welche von diesen Räumen wir bei den Athenern seit dem 6. vorchristlichen Jahrhundert finden. Mutter-Kind-Raum : In Athen wurde der Säugling bis zum zweiten Jahr gewickelt. Dabei wurden dessen Hände und Arme mit eingebunden. Dadurch sollten die Glieder gerade bleiben. Die spartanischen Ammen wickelten die Säuglinge nicht. Sie wollten ihre Entfaltung nicht hemmen. Doch auch in Athen wurde mit den Säuglingen Gymnastik betrieben. Um das Kind sorgten sich Ammen und Mütter. Bis zum dritten Jahr wurde das Kind von den Ammen getragen.54 Als Ammen wurden Frauen zwischen 25 und 35 Jahren genommen , die selber bereits Kinder zur Welt gebracht hatten. Sie wiegten das Kind , spielten mit Rasseln und Tieren aus Ton , sangen mit ihm , um es zur „Tapferkeit“ anzuregen. Väter erhielten Kosenamen , müssen also in diese Kinderwelt einbezogen gewesen sein. Das Schaukeln der Kinder war den Erwachsenen wichtig. Galen meinte deswegen , die Eltern sollten die Kinder zwischen drei und vier Jahren viel in einem Wagen fahren und seefahren und die Jungen mit sieben Jahren reiten lassen.55 Eine Amme konnte auch im späteren Leben einen engen Kontakt zu „ihrem“ Kind behalten.56 Doch in den ersten Jahren waren vor allem Mutter und Amme dem Kind zugewandt. Dieses befand sich in einem richtigen Mutter-Amme-Kind-Raum. Am Ende dieser Zeit nun gestalteten die Eltern in ihren Häusern ein zwar „fröhlich begangenes“, aber doch sehr eigentümliches Fest , „die Choen“. Dies 52 53 54 55 56

Snell 1946 , S. 20. Nitschke 1975 , S. 70 ff. , ders. 1989 , S. 24 ff. 36 , 40. Deißmann-Merten 1986 , S. 290 ff. Ebd. , S. 290 ff. Ebd. , S. 288 f. , 294.

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Fest fand am zweiten Tag des Antestherien statt , an dem „die Geister der Toten in die Stadt kamen“. Es wurde von der „Gesamtpolis gefeiert“. Vor diese „Öffentlichkeit“ traten „die dreijährigen Kinder , Mädchen wie Knaben , mit Blumenkränzen geschmückt … zum ersten Mal“. Die Blütenkränze „sollten die Kinder vor zukünftigem Unheil schützen“. Am nächsten Tag fand dann „für die Mädchen ein Schaukelritus“ statt. Dieser sollte „wahrscheinlich die Reinigung von Unheil – und die Gesundheit – für die Folgezeit beschwören“.57 Am Ende des Festes erhielten die Kinder Geschenke und kleine Weinkrüge , die Choen , die dem Fest den Namen gaben. Auf diesen Krügen waren „sehr lebendige Szenen aus dem gesamten Kinderleben“ dargestellt. Sie zeigten allerdings auch , dass Kinder an diesem Tag , an dem die Toten in die Stadt zurückkehrten , „apotropeische Amulettschnüre“ trugen.58 Die Gefahren , mit denen sich die Athener bei diesem Fest auseinandersetzten , gingen nicht von körperlich fassbaren Wesen aus. Die Athener fürchteten , dass sich ihnen Geister der Verstorbenen , luftige Gestalten , näherten. Die Erwachsenen meinten offensichtlich , sich und die Stadt vor diesen Geistern durch ihre eigene Initiative schützen zu können. Doch die entscheidenden Personen waren dabei für sie die Kinder. Diese mussten nicht nur gereinigt , sondern auch „festlich“ gekleidet die „Reinigung“ ermöglichen. So werden die mit Blütenkränzen geschmückten Mädchen und Jungen innerhalb des Mutter-Kind-Amme-Raums in einen Sonderraum , in den Reinheitsraum versetzt. (Die Entstehung dieses Reinheitsraums ist dem Entstehen des Reinheitsraums der Mutterwölfin , der auch einen Sonderraum im Mutter-Kind-Raum bildete , so ähnlich , dass mir etwas bange wurde , als ich dies bemerkte.) Welche Position konnte dieser Raum im Stadtstaat Athen haben ? In Athen war 683 nach Abschaffung des Königtums ein jährlich wechselnder Archon eingesetzt worden. 594 veränderte Solon als Archon die Sozialordnung , indem er nach der Größe des Vermögens drei Klassen einrichtete , die in unterschiedlichen militärischen Einheiten zu kämpfen hatten , deren Vertreter aber alle den Rat der Vierhundert wählten. Damit wurde Athen allmählich eine Einheit , in der Veränderungen im Staat von den politischen und juristischen Initiativen und von Entscheidungen der stimmberechtigten einzelnen Bürger ausgingen. Seit Solons Herrschaft in der Stadt wurden nun die Phratrien , in denen die Familien bisher ihre Kinder zusammengeführt hatten , für alle obligatorisch. Im ersten Lebensjahr musste ein Kind dort vorgestellt und in ein Register eingetragen werden. Im späten 5. Jahrhundert musste der Vater 57 Ebd. , S. 294 f. 58 Ebd.

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bei der Registrierung seines Kindes schwören , dass es aus einer rechtmäßigen Ehe mit einer Athenerin abstamme. Bei der Veränderung der Verfassung wurden somit von Solon die Kinder von den ersten Lebensjahren an in den „Staat“ mit einbezogen. Über die Phratrie kam ein Jugendlicher später dann auch in das Demenregister.59 In einer Inschrift , die die „einzelnen Stadien“ des Menschenlebens angibt , werden „neben Hochzeit , Geburt und Ephebie die Choen angeführt“, wodurch „die staatliche Bedeutung dieses Festes“ hervorgehoben wird , wie Deißmann-Merten betont.60 Da die Athener in diesem Fest versuchten , mit Hilfe der Kinder die Gefahren , die von den Toten drohten , abzuwenden , muss dieses Fest auch den beschenkten Kindern eine Bindung zu ihrer Stadt gebracht haben. So wurde durch die Initiative von Einzelnen im Mutter-Kind-Raum ein „Sonderraum“, der Reinigungsraum oder der Reinheitsraum , geschaffen. Dieser wurde im 5. Jahrhundert ein Sonderraum in dem sich neu formierenden „Staat“ Athen. Dominanzraum : Vom 3. bis 7. Jahr – vor der Schulzeit – wurden Kinder auf bildlichen Darstellungen spielend mit recht schnellen , graziösen Bewegungen dargestellt. Sie befinden sich auch in Wettkämpfen.61 Die Jungen nehmen an Festen teil. Bei diesen , etwa bei den Panathenäen , kämpfen sie mit erwachsenen Männern beim „Rennen“, „Fünfkampf“, „Ringen“, „Boxen“ und beim „Pankration“. Von diesen Sportarten sind einige Kampfsportarten mit Verletzten und Toten. In Athen interessierte allerdings allein , wer Sieger wurde. Die anderen , die nur als zweite oder dritte ein Ziel erreichten , wurden nicht beachtet. Nur der Sieger wurde in der Öffentlichkeit gefeiert. So zeigten die Wettkämpfe die selbstständigen Anstrengungen der Einzelnen und brachten eine Staffelung der Positionen im Raum , aber – im Unterschied zu den Kämpfen der Wölfe – keine Herrschaft über einen anderen. Mit 18 Jahren leisteten dann die jungen Männer einen Einzeldienst im Heer ab – an der „äußersten Grenze des attischen Territoriums“, in der „Wildnis“. Nach ihrer Rückkehr wurden sie in das Heer der Hopliten aufgenommen.62 Eine „Herrschaft über andere“ lernten die Jugendlichen in der Schule kennen. Seit Ende des 6. Jahrhunderts lassen sich Schulen in Athen nachweisen. Auf diese kamen die Jungen mit sieben Jahren. In Sparta begann – für Jungen und Mädchen gemeinsam – der staatlich geregelte und obligatorische Schul59 60 61 62

Ebd. , S. 286 , 308. Ebd. , S. 294. Ebd. , S. 296 ff. Ebd. , S. 307 ff.

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unterricht früher. Während in den Jahrhunderten zuvor bei den Adligen der Unterricht in den Familien „allein sportlich und musisch bestimmt war“, wurde in Athen den Schülern das Lesen , Schreiben , Rechnen und die Rezitation der Dichter , etwa Homers , beigebracht.63 Ein Pädagoge begleitete das Kind zur Schule und wurde für dasselbe eine moralische Autorität. Die Erziehung sollte die Kinder an „Herrschaft und Gehorsam“ gewöhnen. Archäologische Arbeiten bezeugen , dass die Kinder in der Schule vom Lehrer mit Sandale und Peitsche geprügelt wurden. Diese Strafen galten , wie den „Wolken“ des Aristophanes zu entnehmen ist , als etwas Selbstverständliches.64 Die gerade beschriebenen Umgangsformen in der Schule haben , streng genommen , nichts mit Kämpfen um Dominanz zu tun. In der Schule wurde vielmehr nur eine bestehende Herrschaftsstruktur von dem , der höher stand , ausgenutzt. Ähnliche „Sitten“ haben wir bei Wölfen beobachtet. Die Ziele waren bei solchen Handlungen allerdings verschieden : Wenn Wölfe durch Gewaltanwendung untergeordnete Tiere straften , wollten sie , dass diese sich in ein Rudel einordneten , das gemeinsam handelte , etwa gemeinsam kämpfte. Die Lehrer in der Schule hingegen wollten , dass faule Schüler etwas lernen sollten. Der Unterricht in der Schule – so die Lösung von Rechenaufgaben oder das Deklamieren eines Homertextes – führte dabei nicht zu einer gemeinsamen Handlung von Lehrern und Schülern. Die Prügel sollten den Schüler dazu anhalten , sich mehr als bisher mit dem Schulstoff zu beschäftigen , das heißt : etwas auszuführen , von dem ein Schüler nicht wusste , was es mit dem eigenen Handeln zu tun hatte. Was er lernte , war , an Zahlen oder an Gestalten gewisse Regelmäßigkeiten oder Ordnungen wahrzunehmen – noch allgemeiner formuliert : Er lernte ein zweckfreies Beobachten von Ordnungen. Gerade dies muss die Griechen jener Zeit fasziniert haben. Platon und Aristoteles schrieben ja ausführlich über dieses „Schauen“. Es entstand so eine pädagogische Beziehung , die sich auf eine abstrakte Ordnung bezog. Von dieser „wissenschaftlichen“ Aufgabe her rechtfertigten die Athener die „Macht“ der Pädagogen. Anders gesagt : Die Dominanzordnung , die in den Schulen aufgebaut worden war und die eine Gewaltanwendung gestattete oder sogar forderte , diente dazu , den Menschen ein zweckfreies Beobachten beizubringen. Eine ähnliche Erziehung zum zweckfreien Beobachten gab es in der – der athenischen Ordnung sonst durchaus ähnlichen – Dominanzordnung der Wölfe nicht. 63 Ebd. , S. 299 ff. 64 Ebd. , S. 301.

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Der Beziehungsraum : In der älteren Verfassung , die Homer uns schildert , in der die Menschen auf eine Vermehrung von „Ehrgeschenken“ bedacht waren , wusste jeder Einzelne , mit welchen Handlungen er einen anderen beleidigen oder für sich gewinnen konnte. In der Verfassung , die Solon in Athen mit den Bürgern zusammen schuf , sollten die freien Männer Athens in Diskussionen aufeinander eingehen. Sie mussten versuchen , dabei die Hoffnungen und die Ängste des anderen kennenzulernen. Dafür war erst einmal ein Kontakt zu den anderen herzustellen. Im Umgang miteinander musste der Einzelne sich dann darin üben , die Gesten und die Mienen der anderen Männer und Frauen zu deuten. Im Grunde mussten die Athener diese Fähigkeit gewonnen haben , ehe sie auf den Gedanken kommen konnten , eine Verfassung aufgrund von Diskussionen und Abstimmungen einzurichten. Seit wann haben wir Zeugnisse dafür , dass es diesen menschlichen Beziehungsraum innerhalb eines Dorfes oder innerhalb einer Stadt gab ? Sappho , die 591 aus Sizilien nach Lesbos zurückgekehrt war und dort junge Frauen in Dichtung , Musik und Tanz für die Feste zu Ehren der Götter vorbereitete , wandte sich eindrücklich gegen die Sitten ihrer eigenen adligen Familie in Mytilene , die „Reiter“, „Fußvolk“ und „Schiffe“ verherrlichten. Sie besang , wie neue liebevolle Beziehungen zwischen den Frauen aufkommen konnten. „Mehr geht mir zu Herzen ihr Gang voll Anmut und der Schmelz im strahlenerhellten Antlitz“. Diese Beziehungen wurden oft auf den „Festen“ zu Ehren der Götter dargestellt , denen – sehr festlich – übrigens die dreijährigen Kinder bereits auf den Choen huldigten. Die Zuneigung zwischen den Frauen selbst hatte für Sappho , was sie in ihren Liebesgedichten betont , einen fast religiösen Charakter.65 Überall in Griechenland wurden nun von Dichtern , Malern und Bildhauern Körpergesten und Mienenspiele beschworen , die zwischen den Personen die verschiedenartigsten Beziehungsräume schufen. Vieles ähnelt der Gestik und den Mienen miteinander verkehrender Wölfe. Bei den Griechen fallen allerdings besonders zwei abweichende Formen von Beziehungen heraus : Die Künstler stellten auch Personen dar , deren Bewegungen in einem Augenblick in zwei entgegengesetzte Richtungen führen. So zielt Artemis mit ihrem Pfeil auf Aktaios , den sie im nächsten Augenblick töten wird , während ihre Füße bereits von ihm wegschreiten.66 Die Künstler malten auch gern Menschen , die 65 Snell 1946 , S. 61 ff. , 67. 66 Nitschke 1989 , S. 23 , ähnlich 24 f. ; ders. 1991 , S. 111.

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gerade etwas , das für ihr Handeln belanglos sein muss , sehen , hören , kurz , die „wahrnehmen“: Während Orpheus , der auf dem Fels sitzt , singt , stehen rechts und links je zwei Männer , von denen jeder in einer anderen Weise – distanziert , neugierig – Orpheus’ Gesang zuhört , dessen Melodien einfach da sind , ohne zu irgendeiner Handlung anzuleiten.67 Der Raum-für-viele-Richtungen hat die Griechen offensichtlich angeregt , auseinanderführende , fast nicht ausführbare Bewegungen zu wagen. Dieser Raum hat sie auch dazu veranlasst , ohne Folgen für eine nützliche Handlung zu erwarten , zu „beobachten“. Diese „Beziehungen zur Umwelt“ herzustellen , wurde den Kindern , wie wir schon sahen , in den Schulen auch mit Prügeln beigebracht. So haben wir begründet , warum wir der Meinung sind : Die Gewalt , die die Menschen , wenn sie handeln , oft anwenden , lässt sich nicht aus der „Natur der Menschen“ (und auch nicht aus deren Ethik) ableiten. Die Einstellungen zur Gewalt entstehen bei Tieren und bei Menschen durch die Formen der Gesellschaftsordnungen , in denen sie leben. Diese Gesellschaftsordnungen werden von den Bindungen beeinflusst , die Tiere und Menschen in ihrer Gesellschaft eingegangen waren. Diese Bindungen eröffneten zudem den Menschen in jeder Gesellschaft eine genau beschreibbare Zeit , die sich von den Zeiten der anderen Gesellschaften unterschied. Was bringt uns ein Vergleich zwischen den von Tieren gebildeten und den von Menschen gebildeten Gesellschaftsformen ? 1. Wir fanden sowohl bei differenzierten Gesellschaftsordnungen (Blattschneiderameisen) als auch bei integrierten Gesellschaftsordnungen (Wölfe) einen Aufbau der Gesellschaften , der einigen Gesellschaften der Menschen sehr ähnlich war. Die Ähnlichkeit erlaubt uns , die menschlichen Gesellschaftsformen etwas „nüchterner“ und viel genauer zu beschreiben. 2. Wenn eine Ähnlichkeit zwischen einer Tiergesellschaft und einer menschlichen Gesellschaft zu beobachten ist , könnte diese Ähnlichkeit dadurch entstanden sein , dass die Tiere und die Menschen der so miteinander verbundenen Gesellschaften sich in einer gleichartigen Zeit befanden. So könnte sich manches , was von modernen Ethnologen und Historikern aus den angeblich von den Menschen ersonnenen „Vorstellungen“ abgeleitet wird – etwa bei den Azte67 Nitschke 1975 , S. 45.

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ken – , ganz zwanglos aus dem Ablauf derjenigen „Zeit“ erklären , die die Menschen aufgrund ihrer Bindungen täglich erfuhren. (Die Geschichte der Ideen und Ideologien würde auf diese Weise sicher entlastet.) Die Bedeutung der Zeit für das Handeln der Menschen in den unterschiedlichen Gesellschaften wurde überhaupt erst nach einem Vergleich unserer Gesellschaften mit den Tiergesellschaften voll erkennbar. 3. Die Tendenz , gegenüber den Angehörigen der eigenen Gesellschaft Gewalt anzuwenden , ist weder in der „Natur“ einzelner Tierarten noch in der „Natur des Menschen“ begründet. Sie hängt , wie wir am Anfang vermuteten , mit den Gesellschaftsformen zusammen. Unsere Beobachtungen könnten zu praktischen Vorschlägen führen , wie Gesellschaftsformen zu ändern sind , wenn irgendwo auf der Erde Menschen die Absicht haben , ihre bisherige Einstellung zur Gewalt aufzugeben. 4. Nun offene Fragen : Wie erklärt sich , dass Jahrtausende später bei den Menschen Gesellschaftsformen entstehen , die bei den Tieren zuvor bereits ähnlich aufgetreten waren ? Gibt es in der Geschichte der Lebewesen Wiederholungen ? (Müssen wir somit auf die Vorstellung verzichten , dass in der Geschichte durch „Entwicklungen“ – etwa durch ein „Erwachen der Persönlichkeit“ – oder durch die „Kreativität“ der Menschen immer wieder „Neues“ entsteht ?) „Wiederholen“ diese Wiederholungen vielleicht nur die Wiederholungen , die im Zellzyklus der Lebewesen bereits immer aufeinander folgen : Im Zellzyklus treten ja Phasen (G1 und G2) der DNA auf , in denen diejenige Zeit , die der DNA während dieser Phasen zur Verfügung steht , von ihr dazu genutzt wird , Prozesse (mit Hilfe der von ihr ausgelösten Enzymbildung) zu beschleunigen. Auf diese Phasen folgt jedoch eine völlig andere Phase : die Mitose. Während der Mitose nun wird die DNA in eine Zeit versetzt , in der es zu einer Zellteilung kommt (aufgrund der gegenläufigen Bewegungen der Mikrotubuli , die , von zwei Seiten her aufeinander zukommend , sich wechselseitig verdrängen) – und damit zu Raumveränderungen. Das heißt : Der Zellzyklus wiederholt gerade die Zeiten , die wir bei unserem Vergleich der tierischen und menschlichen Gemeinschaftsordnungen kennenlernten. Wie sind solche Wiederholungen – und wie ist in Griechenland der Übergang vom 8. zum 5. Jahrhundert und wie ist überhaupt der Wandel im Ablauf der Geschichte zu erklären ?

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5. Weitere Fragen : Warum wurde es bei der Darstellung der tierischen und der menschlichen Gemeinschaften nicht nötig , auf die Selbsterhaltung der Individuen und auf die Selbsterhaltung der Arten einzugehen ? Warum erklärte sich das Entstehen der Blattschneiderameisenkolonien aus dem Antrieb der Königin , diejenigen Prozesse zu beschleunigen , die bei anderen Arten von Lebewesen Ordnungen aufgebaut hatten , jetzt aber langsamer wurden ? Warum erklärte sich die Aktivität einer Wölfin aus deren Antrieb , im Raum der Höhle sich ausdehnende , für ihre Welpen unangenehme Gasfelder dadurch zu bekämpfen , dass sie dagegen sich ausbreitende Bewegungen von angenehmen Gasfeldern entstehen lässt ? Ist der zentrale Antrieb der Lebewesen , der die Art ihrer Aktivität formt , möglicherweise auf „andere“ gerichtet – so auf Prozesse von Lebewesen , die im Augenblick durch Mängel behindert werden (und die daher beschleunigt werden sollten) , und so auf Räume , in denen einige Raumzonen für „Kinder“ gefährlich sein könnten (so dass diese Raumzonen durch den Aufbau neuer Raumzonen verdrängt werden müssen) ? Sollten sich diese Vermutungen bestätigen , müsste das Erklärungsmodell von Darwin , in dem er sich auf Selbst- und Arterhaltung konzentriert hat , an zentralen Punkten korrigiert werden.

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Autorinnen und Autoren Andreas Bähr, Historiker, Freie Universität Berlin Peter Burschel, Historiker, Humboldt-Universität zu Berlin Michael Dickhardt, Ethnologe, Georg-August-Universität Göttingen Johannes Harnischfeger, Ethnologe, Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt a. M. Karénina Kollmar-Paulenz, Tibetologin/Mongolistin, Universität Bern Hans Martin Krämer, Japanologe, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Lutz Häfner, Historiker, Georg-August-Universität Göttingen Susanne Lachenicht, Historikerin, Universität Bayreuth Roman Loimeier, Afrikanist/Islamwissenschaftler, Georg-August-Universität Göttingen Gesa Mackenthun, Amerikanistin, Universität Rostock Christoph Marx, Historiker, Universität Duisburg-Essen August Nitschke, Historiker, Universität Stuttgart Andreas Pečar, Historiker, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Jürgen Reulecke, Historiker, Justus-Liebig-Universität Gießen Jakob Rösel, Politikwissenschaftler, Universität Rostock Felicitas Schmieder, Historikerin, Fernuniversität Hagen Kristin Skottki, Kirchenhistorikerin, Universität Rostock Rebekka Voss, Judaistin, Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt a. M.

Register Antichrist 12, 330–332, 336f., 347, 376, 381–383, 395, 402f., 406–410, 412, 427–429, 431, 434, 436, 439, 440–443 Apokalypse 10–12, 321, 378f., 417, 425f., 430f., 441 Atomwaffen 161 Auferstehung 236f., 243–245, 390, 476f., 479, 484 Aufstand s. auch Rebellion, Widerstand 14, 27, 47, 103f., 109–111, 210, 243, 269, 273, 285, 288f., 295, 299f., 306–308, 316–320, 322–324, 327–333, 336f., 339–343, 346–348, 383 Bábismus 160 Bekehrung 69, 71, 74, 80f., 96, 386, 433 Belagerung 54, 229, 336, 353f., 361f., 371, 450, 459, 470, 474 Besessenheit s. auch Wahn 21, 24, 40, 44–50, 53, 56, 126, 135 Blut 23, 81, 85, 95, 104, 110, 113f., 123, 131, 170, 183, 192, 194, 236, 241, 243, 290, 304, 308, 333f., 345, 382–384, 390, 395f., 399, 424f., 436, 475, 477, 479, 482–484, 486 – Blutopfer 81, 85, 113 Brahmanismus 92, 114 Buddhismus 13, 69f., 72f., 75, 86, 88–96, 98, 100f., 104, 106, 109, 113f., 116f., 151, 153, 155, 157, 260, 271f., 274, 277f. Buße 53, 197, 317, 356, 368, 401f., 418, 465 Charisma 13, 15–17, 25, 28, 30, 34, 38, 43, 51, 55f., 121, 124, 126, 175, 249, 265, 274f. Chiliasmus s. auch Millenarismus 393

Dämonismus 34, 49, 53, 73–75, 78, 102, 235 Deportation 114, 138, 320 Deutungsmacht 16 Endzeit s. auch Eschatologie 11–13, 186, 285, 300, 310, 330, 355f., 381, 386, 392f., 396, 403, 417f., 426–429, 431–434, 437 – Endkaiser 426, 428f., 431, 434, 436 – Endzeiterwartung 11, 356, 392, 429 Erlösung 11f., 17, 53, 56, 69, 74, 92f., 95, 107, 117, 155, 198, 300, 310, 381, 384–386, 388–391, 395f., 400–403, 416, 425, 437 Erwählung 12 Erweckung 13, 33f., 48, 102, 107, 149, 155f., 158, 162, 212, 218, 220, 236f. Eschatologie s. auch Endzeit 12, 136, 152, 382, 416f., 419, 430, 434 Exorzismus 74, 117, 242, 247 Feuer 111f., 133, 139, 319, 321, 390, 424, 434, 460, 468, 470f., 481 Folter 111, 271, 314, 475 Generationenkonflikt 11, 167–182 Gefangenschaft 130, 147, 149, 151, 154, 156, 158, 160f., 185, 189, 220, 222f., 237, 315, 333, 340, 384, 435f., 478 Genozid 223 Heil 11–13, 17, 85, 89, 105f., 121, 124, 129, 133f., 136–142, 157–159, 161, 186f., 198, 203, 216f., 246, 251f., 286f., 310, 330, 337–339, 345, 347, 354, 356, 362f., 366, 368f., 371, 417, 479 – Heilsbewegung 123, 127, 133

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Register

– Heilserwartung 12, 193, 198, 227, 286f., 310 – Heilszustand 128, 133f., 136f., 141 Heilen 21, 25, 30f., 35–37, 41–43, 46, 48f., 53–56, 59, 62, 64, 136, 151, 216, 231, 236, 241–243 – Heiler 21, 25, 30, 35, 41, 48, 53, 55, 59, 64, 216, 236 Hexerei 21, 24, 32, 40, 42, 49, 71, 78, 80, 85, 115–117, 231, 236f., 241–243, 322 Hinduismus 77, 85–87, 92, 106, 108, 113f., 160 Hungersnot 248, 462f., 465 Idolatrie 52, 316f. Imperialismus 14, 73, 262 Islam s. auch Muslime 44, 60, 70, 106, 160, 285, 288, 290, 293f., 296, 300, 303f., 309f., 417 Judentum 190, 344, 381–384, 386, 388–403, 432, 433 Judenverfolgung 432 Jugendbewegung 168, 174f., 177 Kaste 26, 71, 77–79, 80, 85–87, 89f., 102, 173, 498 Kolonialismus 73, 90–94, 96, 102, 109, 122, 124, 129f., 138, 141, 229, 235, 250, 262, 299, 300f., 306–308 Kontingenz 186, 248, 252, 254 Konversion 34, 85, 89, 239, 290, 300, 314f., 317, 321, 331, 395, 402 Koran 291, 285–312 Kreuzzug 21, 64, 384, 395, 431, 435, 445–486 Krieg 10, 12f., 16, 26, 28, 77, 79, 80–83, 86f., 113f., 122, 130, 132, 136, 141, 147–150, 152–154, 157f., 161, 163, 169, 172f., 179, 190, 219,

223–225, 229, 232–234, 237f., 240f., 243–245, 259–254, 268f., 285, 288, 296f., 309, 318f., 330, 346–348, 358, 384, 386, 420, 422, 430f., 434, 437, 498, 505 – Ausrottungskrieg, Vernichtungskrieg 209f., 216, 227 – Bauernkrieg 392 – Burenkrieg 229, 249–252 – Bürgerkrieg 91, 98, 106, 113, 195, 219, 285, 327f., 332, 336, 342, 346f., 466 – Dreißigjähriger Krieg 333, 347, 354, 356f., 362, 364f., 367, 371 – Erbfolgekrieg 323 – Grenzkrieg 232f., 234–238, 240, 248, 250 – Guerillakrieg 250, 318 – Kalter Krieg 163 – Kolonialkrieg 250 – Religionskrieg 13, 113, 313f., 336 – Schattenkrieg 110 – Weltkrieg 147, 152, 161, 163, 167–169, 173–175, 177f., 251 Landverlust, Landenteignung 129, 243, 248 Manichäismus 184, 189, 237 Männlichkeit 45, 167–176, 178f., 274 Martyrium 189f., 193, 199, 319, 321, 334, 336, 384, 389f., 395 – Martyrologie 336, 347 Massaker 209–213, 218–220, 222–227, 314, 320, 328, 333, 482 Messianismus 9, 18, 200, 213, 216, 243, 286, 381–387, 389–393, 395–402 – Messias 381–403 Migration 91, 189, 219, 238 Millenarismus 40, 59, 102, 127f., 134f., 138, 141, 285, 318, 320–322, 393

Register

Mission 21f., 25, 27, 32, 35f., 48, 50f., 56, 58, 60–64, 69, 71–73, 80, 85, 88f., 91–93, 95f., 102, 108, 115, 121f., 129–132, 134–136, 138, 141, 156, 159, 200, 214, 236, 238f., 245, 247, 308, 314, 319, 321f., 432, 449 Mongolen 259f., 262–270, 272–275, 277–280, 396, 430–433, 436 Muslime 31, 47, 91, 96f., 285–288, 292f., 295, 300, 303, 308, 388, 427, 429f., 432, 464, 475, 477f. Nachkriegsgesellschaft 10, 158, 162, 179 Nationalismus 70, 72–74, 86, 88, 94f., 97f., 100f., 109, 113, 121, 128, 154, 186, 190, 251–253 Opfer 18, 26, 30, 33, 41, 43, 53f., 62, 77, 81, 85, 108f., 113, 117, 136, 161, 172f., 176, 186–200, 216, 224f., 231, 244f., 247, 253, 333f., 336, 384, 392 – Blutopfer 81, 85, 113 – Selbstopfer 18, 173, 186–200, 247 Pilger 25, 100, 290, 294, 302, 308, 392, 445f., 450, 475, 477, 479f., 484 Pogrom 113, 390, 395f., 433 Predigt 10, 32, 38, 51f., 60, 91, 129, 159, 236, 253, 320, 328, 333, 338–346, 392, 419f., 451 Priester, Pastoren, Pfarrer 10f., 21, 24–26, 30–32, 37, 43, 47f., 52, 60, 64, 117, 153, 157–159, 162, 202, 231, 313, 315–318, 320, 322, 341, 343f., 365, 386, 392, 448, 453, 455, 458f., 467, 469–472, 474, 481, 483 Prodigium 358, 363f. Prognostik 15, 251, 357 Protestantismus 48, 89–93, 138, 313–324, 328–348, 353, 356, 361f., 368, 370f., 394 Providenz 367f., 370

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Prozession 81, 90, 101, 106, 110, 114, 313, 315, 391, 459, 471, 473f. Puritanismus 336, 339f. Rache 21, 27, 33, 40, 64, 183f., 191–193, 196, 237, 328, 382, 384–390, 393–395, 397, 402, 425f., 434, 438, 480 Rasse 95, 103, 224–226, 229 Rassismus 95, 176, 223f. Rebellion s. auch Aufstand, Widerstand 61, 251, 286, 288, 291, 295, 306–309, 333, 342 Reformation 334, 337–345, 356, 361, 381, 394, 437 Reinheit 27, 38f., 49, 53, 61, 71, 78, 80, 85, 172, 175, 192, 197, 224, 236f., 241, 245, 285, 337, 346, 458, 474, 501f. – Reinigung 22, 24, 27, 33, 40, 59, 89, 152, 237, 242, 474, 477, 479, 501, 507f. Reliquie 80f., 83–86, 88–90, 101, 103, 109, 114, 159, 216, 227, 468, 471f., 480 Reservat 210, 212, 214, 220, 222f., 225f. Revolution 104, 124, 130, 156, 178, 184–193, 196–203, 216, 233, 261, 265, 327, 329, 356, 392f., 401, 419, 426, 436 Ritual 31, 36, 38f., 41f., 48f., 51, 61, 86, 90, 121, 125, 128, 139f., 186, 213–215, 218f., 231, 237, 242, 274, 333, 384, 387f., 392, 395, 465 Schrein 21–27, 32f., 40–42, 47, 49, 52f., 55, 60f., 64, 116f., 150f., 153f. Seuche 245, 424 Shivaismus 87, 114 Sklaverei 16, 114, 171, 300f., 504 – Kultsklaverei 21, 26f., 31, 53 Sozialismus 98, 104, 175, 184–187, 190, 192f., 195, 198, 201f., 280

520

Register

Spiritualität 10, 21, 24f., 27, 30, 32f., 35–43, 45, 49f., 52–58, 61f., 96, 124–128, 131, 133, 139, 141, 149, 199, 202, 212, 214, 219f., 222, 225, 231, 297, 307, 322, 342, 345, 449, 474, 483f. Suizid s. auch Selbstopfer 115–117, 168, 171, 186–189, 196f., 200, 395 Täufertum 393, 397f. Terrorismus 186–198, 200–203 Trance 36, 44, 49f., 91, 217f. Traum 34, 41 126, 135, 139, 173, 212, 215, 218, 221–223, 259, 265, 353, 358–360, 364–381, 437, 461 Trauma 16, 31, 53f., 214, 216, 219, 223f., 227, 248, 250, 252–254, 321f., 423 Utopie 12, 134, 136, 184, 254 Verbrannte Erde 243, 250, 254 Vergeltung 52, 111, 129, 184, 192, 381, 383f., 388–390, 395, 402f. Vertreibung 106, 133, 136, 139, 218, 234f., 318, 329, 395, 398f. Vision 34, 40, 59, 107, 134–136, 159–161, 198, 212, 215–218, 222, 224f., 227, 244, 252, 263–265, 302, 305, 316–319, 321–323, 353, 358–360, 364, 366, 370, 385f., 415, 429f., 436, 445, 449, 451, 453–461, 463, 466–472, 474, 478, 480, 483, 485f. Vorsehung 226, 356, 364, 368, 370 Wahn s. auch Besessenheit 11, 21, 28, 32, 35–37, 41, 45, 48, 53–57, 384 Wahrsager 21, 25, 30, 37f., 41, 44, 53, 62, 82 Widerstand s. auch Aufstand, Rebellion 87, 121, 192, 195, 270f., 272, 275, 298, 304, 307, 315, 317, 323f., 343

Zauber 22–24. 32f., 37f., 40f., 48, 52, 132 Zukunft 11, 13, 15f., 21, 36, 38, 52, 55, 60, 71, 124, 138f., 152, 168, 174f., 177f., 185, 187, 190, 247–249, 251– 253, 261–265, 278, 280, 328, 338f., 341, 343, 347, 354–357, 361–364, 366, 370, 385, 387f., 397, 417, 420, 425f., 437, 495, 497–499 – Zukunftsgewissheit 15f., 251f. – Zukunftsmodelle 11