Prophetie und Autorschaft: Charisma, Heilsversprechen und Gefährdung 9783050065243, 9783050059211

The essays in this volume explore paradigms of divinely inspired and legitimated writers in their situationally determin

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German Pages 437 [440] Year 2014

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einführung
Verpflichtet zur Prophetie Eine Interpretation von Amos 3,3–8
Verkündigung und Erbauung Koranische Erzählungen über vorislamische Propheten
nova verba prophetae. Evaluation und Reproduktion der prophetischen Rede der Bibel im Mittelalter. Eine Skizze
Fälschung – Fiktion – Prophetie. Die Areopagitica Hilduins von St. Denis
Ein brennendes Feuer in meiner Brust. Prophetische Autorschaft und polemische Autorisierungsstrategien Guillaumes de Saint–Amour im Pariser Bettelordensstreit (1256)
Verheißung als Erfüllung. Zur Transformation prophetischer Autorschaft um 1300
Prophetische Autorschaft. Walthers von der Vogelweide. Ich sach mit mînen ougen (L 9,16)
Stimmen aus dem Jenseits. Prophetie und Autorschaft im Zuge fortschreitender. aemulatio
Das Scheitern prophetischer Rede. Machiavellis Analyse der Rhetorik Girolamo Savonarolas
Sprache der Liebe – Sprache der Prophetie. Pierre de Ronsards Liebesgedichte an Cassandra
Der Schamane und das Orakel von Delphi. Prophetie und Prophetiemodelle im frühneuzeitlichen Skandinavien
Der Prophet als Poet. Bildliche Darstellungen Mohammeds in westeuropäischen Koranübersetzungen und Prophetenviten als Reflexionsmedien der Kunst
Gewissheiten. Über Wahrheitsansprüche in faktualer, fiktionaler und prophetischer Rede
Priester und Prophet. Literarische Autorschaft in der Moderne. Am Beispiel Stefan Georges
Medien des Propheten. Marshall McLuhan und Thomas Mann
Jona, Bloch, Melville. Uwe Johnsons prophetischer Sound
Apokalypse und Autorschaft. Prophetische Rede bei Günter Grass und im deutschsprachigen literarischen Feld der 1980er-Jahre
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Personenregister
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Prophetie und Autorschaft: Charisma, Heilsversprechen und Gefährdung
 9783050065243, 9783050059211

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Prophetie und Autorschaft

Christel Meier, Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.)

Prophetie und Autorschaft Charisma, Heilsversprechen und Gefährdung

ISBN 978-3-05-005921-1 eISBN 978-3-05-006524-3 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Akademie Verlag GmbH, Berlin Ein Unternehmen von De Gruyter Umschlagentwurf: hauser lacour, unter Verwendung der Abbildung Hildegard von Bingen, Liber divinorum operum: die Prophetin Hildegard mit Helfer und Zeugin; Lucca, Biblioteca Statale, Ms. 1942, fol. 1v. Satz und Lithographie: Rhema – Tim Doherty, Münster Druck und Bindung: Hubert & Co GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

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Christel Meier und Martina Wagner-Egelhaaf Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Eberhard Bons Verpflichtet zur Prophetie Eine Interpretation von Amos 3,3–8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hinrich Biesterfeldt Verkündigung und Erbauung Koranische Erzählungen über vorislamische Propheten . . . . . . . . . . . .

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Christel Meier nova verba prophetae Evaluation und Reproduktion der prophetischen Rede der Bibel im Mittelalter Eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nikolaus Staubach Fälschung – Fiktion – Prophetie Die Areopagitica Hilduins von St. Denis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105

Sita Steckel Ein brennendes Feuer in meiner Brust Prophetische Autorschaft und polemische Autorisierungsstrategien Guillaumes de Saint-Amour im Pariser Bettelordensstreit (1256) . . . . . . . .

129

Susanne Köbele Verheißung als Erfüllung Zur Transformation prophetischer Autorschaft um 1300 . . . . . . . . . . . .

169

Vorwort

Inhaltsverzeichnis

6

Bruno Quast Prophetische Autorschaft Walthers von der Vogelweide Ich sach mit mînen ougen (L 9,16) . . . . . . . .

197

Silvia Schmitz Stimmen aus dem Jenseits Prophetie und Autorschaft im Zuge fortschreitender aemulatio

. . . . . . . .

207

Pia Claudia Doering Das Scheitern prophetischer Rede Machiavellis Analyse der Rhetorik Girolamo Savonarolas . . . . . . . . . . .

227

Karin Westerwelle Sprache der Liebe – Sprache der Prophetie Pierre de Ronsards Liebesgedichte an Cassandra . . . . . . . . . . . . . . .

245

Bernd Roling Der Schamane und das Orakel von Delphi Prophetie und Prophetiemodelle im frühneuzeitlichen Skandinavien . . . . . .

277

Alberto Saviello Der Prophet als Poet Bildliche Darstellungen Mohammeds in westeuropäischen Koranübersetzungen und Prophetenviten als Reflexionsmedien der Kunst . . . . . . . . . . . . .

305

Matías Martínez Gewissheiten Über Wahrheitsansprüche in faktualer, fiktionaler und prophetischer Rede

. . .

325

Wolfgang Braungart Priester und Prophet Literarische Autorschaft in der Moderne. Am Beispiel Stefan Georges . . . . .

335

Martina Wagner-Egelhaaf Medien des Propheten Marshall McLuhan und Thomas Mann

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

355

Matthias Schaffrick Jona, Bloch, Melville Uwe Johnsons prophetischer Sound . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

379

Christian Sieg Apokalypse und Autorschaft Prophetische Rede bei Günter Grass und im deutschsprachigen literarischen Feld der 1980er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Vorwort

Die vorliegende Sammlung von Beiträgen zum Thema ‚Prophetie und Autorschaft‘ ist aus einer interdisziplinären Tagung hervorgegangen, die von der Arbeitsgruppe ‚Autorschaft‘ des an der Universität Münster eingerichteten Exzellenzclusters ‚Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne‘ im Mai 2011 veranstaltet und in Kooperation mit dem Franz Hitze-Haus (Katholische Akademie, Münster) durchgeführt wurde. In der ausgedehnten Autorschaftsdebatte der letzten Jahrzehnte ist ein Autortyp kaum angemessen beachtet worden, der von der Antike bis in die Gegenwart eine prominente und komplexe Figur war: der Prophet. Aus der Paradoxie seiner Doppelrolle, d. h. der von einer höheren Instanz zur Rede bevollmächtigten und zugleich nur als Vermittler der Botschaft fungierenden Autorperson erwuchsen sowohl Autoritätsanspruch als auch Legitimierungsverpflichtung (die dem Publikum gegenüber plausibilisiert werden mussten). Prophetische Autorschaft hat in vielen Varianten die europäischen Literaturen und Kulturen geprägt und vor allem in Krisen- und Umbruchzeiten mit kritischer Wirklichkeitsanalyse, Zukunftsdeutung und Heilsversprechen im öffentlichen Raum Aufmerksamkeit erlangt. Die Aufsatzsammlung, die diachron und interkulturell angelegt ist, ergänzt mit diesem Ansatz den Vorgängerband über ‚Autorschaft. Ikonen – Stile – Institutionen‘ (2011), in dem Urheberschaft in Literatur, bildender Kunst und Musik als Paradigma kultureller Interaktion im gesellschaftlichen Kräftefeld von Religion und Politik behandelt wurde. Allen, die durch ihre Vorträge, durch Moderationen sowie durch Hinweise und Kritik zum Erfolg des Kolloquiums beigetragen haben, gilt unser herzlicher Dank, insbesondere den Referentinnen und Referenten, die ihre Beiträge für diese Publikation zur Verfügung gestellt haben. Gedankt sei auch Gabriele Osthues vom Franz Hitze-Haus und Katharina Stange für die Hilfe bei der Durchführung der Tagung sowie Petra Korte und Marco Seibel für die redaktionelle Betreuung des Bandes. Das Register haben Petra Korte, Konstantin Ameis, Fridtjof Bigalke, Marco Seibel und Wolf Wellmann erstellt.

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Vorwort

Dem Akademie Verlag sei Dank gesagt für die Aufnahme des Bandes in sein Verlagsprogramm, dem de Gruyter Verlag für die abschließende Betreuung des Projekts. Den Satz erstellte mit bewährter Professionalität Timothy Doherty vom Rhema-Verlag. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Exzellenzcluster danken wir für die finanzielle Unterstützung, die die Tagung und den Druck ermöglicht hat. Münster, im Dezember 2013

Christel Meier und Martina Wagner-Egelhaaf

Christel Meier und Martina Wagner-Egelhaaf

Einführung

I. Die Begriffe ‚Prophetie‘ und ‚Autorschaft‘ bilden eine Junktur, die weniger selbstverständlich ist, als gemeinhin angenommen – auch wenn sich durch prophetische Schriften und durch Literarisierungen prophetischer Rede in der langen europäischen Geschichte ihre Kongruenz ergeben hat. Sie stehen vielmehr zunächst in einem ambivalenten Verhältnis zueinander; denn frühe prophetische Verkündigung vollzieht sich wesentlich in der Mündlichkeit. Erst bestimmte Tradenten(gruppen) oder Autorenkollektive sammeln die prophetischen Botschaften oder schaffen sie, bearbeiten, ergänzen und aktualisieren sie, auch in wiederholten Redaktionsprozessen, 1 belassen ihnen dabei jedoch häufig die Formen der mündlichen Rede, um ihnen Authentizität zu geben. Gleichwohl bedarf die prophetische Überlieferung der individuellen Person, des autorisierten Sprechers, der Autorität, durch die der ‚eigentliche Autor‘, Gott oder die Gottheit, spricht. 2 So gibt es auch in der frühen, zum Beispiel der jüdischen Prophetie, Namen der Propheten, ‚historische‘ Situationen ihres Auftretens und bestimmte Reaktionen von Rezipienten auf die Botschaft. Diese Individuen – ob empirische Personen oder nicht – werden, zumindest in 1 Karel van der Toorn, Scribal Culture and the Making of the Hebrew Bible, Cambridge, MA 2007;

Thomas Römer/Jean-Daniel Macchi/Christoph Nihan (Hgg.), Introduction à l’Ancien Testament, Genf 2009, bes. 313–556 (Teil II); Armin Lange, Vom prophetischen Wort zur prophetischen Tradition (Forschungen zum Alten Testament 34), Tübingen 2002; Ulrich Berges, „Kollektive Autorschaft im Alten Testament“, in Christel Meier/Martina Wagner-Egelhaaf (Hgg.), Autorschaft. Ikonen – Stile – Institutionen, Berlin 2011, 29–39, mit weiterer Literatur; Wassilios Klein/Klaus Koch/Chana Safrai/ Gerhard Dautzenberg/Konrad Stock, „Propheten/Prophetie I–V“, in Theologische Realenzyklopädie 27 (1997), 473–513, hier 480ff. 2 Ernst Axel Knauf, „Audiatur et altera pars. Zur Logik der Pentateuch-Redaktion“, in Bibel und Kirche 53 (1998), 118–126, hier 121; Ulrich Berges, „Kollektive Autorschaft“, 32–37.

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Christel Meier und Martina Wagner-Egelhaaf

der Überlieferung, zu Diskurs- oder Traditionsbegründern beziehungsweise ‚Verfassern‘, Autoren der prophetischen Bücher. Die enorm ausgedehnte und vielfältige prophetische Literatur des orientalisch-europäischen Raums dokumentiert das konstante Bedürfnis, prophetische Überlieferungen zu verschriftlichen und zu tradieren oder, bei der Zunahme des Schriftgebrauchs, sie unmittelbar in geschriebenen Texten zu verbreiten. In diachronischer Sicht hat Prophetie in einem interkulturell betrachteten Europa sowohl ein charakteristisches Profil ausgebildet, wie sie auch eine große Varianz der Formen aufgrund verschiedener Prophetiekonzepte und ihrer Mischungen in Prozessen des Austauschs und der Adaptation aufweist. Die Ausprägungen prophetischer Literatur in den drei monotheistischen Religionen sowie der pagan-antiken Kultur sind einerseits je selbst schon komplexe Phänomene, mit ihrer Entwicklung über Jahrhunderte, sie stellen andererseits – wie das christliche und islamische Prophetieverständnis – Rezeptionsstufen der vorgängigen jüdischen und antiken Prophetietraditionen dar, wenngleich mit je eigenen Modifikationen. In den Epochen der europäischen Geschichte werden alle diese Ansätze immer wieder aktualisiert und kombiniert in jeweils neuen kulturhistorischen Kontexten. Die jüdische Prophetie 3 – Gegenstand eines komplexen eigenen unabgeschlossenen Forschungsgebietes verschiedener Disziplinen (Religionsgeschichte, Judaistik, Alttestamentliche Theologie) – teilt sich in eine frühe vorliterarische Phase der Mündlichkeit und die Schriftprophetie. Diese tritt in drei Epochen politischer Krisen hervor und entsteht zuerst aus kollektiver Autorschaft, vor allem in professionellen Schreibergilden, die ihre Autoritäten als prophetische Autoren inszenierten: 4 vorexilisch seit dem 8. Jahrhundert vor Chr., unter dem babylonischen Exil und nachexilisch während der persischen Oberherrschaft ab dem 6. Jahrhundert. In diesen Phasen wird die je entsprechende inhaltliche Akzentuierung der Propheten-Botschaft geformt: von den Straf- und Drohreden bis zur Ankündigung der totalen Katastrophe für Israel, das heißt eines Umschlags der ursprünglichen Heilsgeschichte in eine Unheilsgeschichte, schließlich, in der Revision dieses Szenarios, der Eröffnung einer Zukunftsperspektive, die aus göttlicher Initiative Heilszusage für ein erneuertes Israel bedeutet. 5 Eine solche radikalkritische Prophetie war ein Spezifikum der frühen jüdischen Prophetie. Zwei Prophetentypen kannte Israel: den charismatischen Gottesmann, der einzeln, institutionell nicht gebunden auftritt, und den einem Heiligtum zugehörigen Kultpropheten; Prophetentum war also ekstatisch oder durch das Amt sanktioniert. Ihre Botschaften umfassten im wesentlichen Kult-, Sozial- und Herrscherkritik, außenpolitische Ratschläge, Mahn- und Verheißungsreden. 6

3 Vgl. den kurzen informativen Überblick bei Klaus Koch, „Propheten/Prophetie II“, 477–499, mit

Literatur. Zur jüdischen Prophetie in ihrem Bezug zur altorientalischen Prophetie demnächst auch Manfred Weippert, Götterwort in Menschenmund. Studien zur Prophetie in Assyrien, Israel und Juda (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments 252), Göttingen 2014. 4 Ulrich Berges, „Kollektive Autorschaft“. 5 Klaus Koch, „Propheten/Prophetie II“, 487–493. 6 Ebd. 487–489.

Einführung

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Der Kanon der Schriftpropheten, die prophetischen Bücher, die im Corpus des ganzen (christlichen) Alten Testaments später für das christliche, mittelalterliche wie neuzeitliche Prophetieverständnis maßgeblich wurden, waren um 200 vor Chr. neben dem Pentateuch zu einem Teil der autoritativen heiligen Schriften des Judentums geworden. Nur in apokalyptisch-prophetischen Tendenzen war die jüdische Prophetie zunächst weiter lebendig, 7 bis durch Philon von Alexandrien unter platonischem Einfluss der von göttlicher Weisheit Erfüllte als Prophet galt 8 – in einer Ausweitung des Begriffs, die im Juden- wie im Christentum Folgen haben sollte. Die Rabbinen verstanden sich als Nachfolger der Propheten oder aufgrund ihrer Lehrkompetenz und Weisheit selbst als die neuen Propheten. 9 Diese Deutung des Begriffs wurde im jüdischen Mittelalter mit der Gleichsetzung von Gelehrtentum und Prophetie bekräftigt bis hin zu Maimonides, der die Prophetie als höchste Philosophie und den Gipfel menschlicher Geistestätigkeit begriff. 10 Die pagane Antike hat andere Aspekte und Formen für das Verständnis von Prophetie ausgebildet. 11 Auch hier ist der Prophet zwar Vermittler zwischen Göttern und Menschen oder er überträgt die zuerst noch unverständliche Botschaft in menschliche Sprachformen. Angesiedelt an den Göttertempeln und Orakelstätten, bemühen die Propheten sich, auf Fragen der Ratsuchenden Antworten von ihren Gottheiten zu empfangen und sie an jene zu vermitteln: so in Delphi, Dodona, Didyma und zahlreichen weiteren Orakelstätten. Zu unterscheiden sind für die Ausübung prophetischer Praxis bei Griechen und Römern induktiv-instrumentelle Mantik (genus artificiosum) und intuitive Mantik (naturale), wie schon Cicero in De divinatione vorschlägt. 12 Während die erste aus vorliegenden Dingen durch ‚erfahrungsgestützte‘ Interpretation Schlüsse zieht (Vogelschau, Leberschau usf.), geht die zweite aus göttlichen Offenbarungen im Medium von Vision, Audition oder Traum hervor; 13 sie interessiert hier vor allem. Alten Traditionen wie den Orakelstätten ist auch die eigene Gruppe der Sibyllen verbunden, gottinspirierter Seherinnen nicht bekannter Zahl, die durch Ortsnamenzusatz als Individuen gekennzeichnet 7 8 9 10

Ebd. 493. Ebd. 495. Chana Safrai, „Propheten/Prophetie III“, 499–503, hier 502. Ebd. 502 f.; vgl. Mose ben Maimon (Moses Maimonides), Führer der Unschlüssigen, übers. und komm. v. Adolf Weiß, eingeleitet von Johann Maier (Philosophische Bibliothek 184), Hamburg 2 1995, 220 ff., zur Prophetie Lib. II c. 32ff.); Harry Austryn Wolfson, „Halevi and Maimonides on prophecy“, in ders., Studies in the History of Philosophy and Religion, hg. v. Isadore Twersky/G. H. Williams, 2 Bde., Cambridge, MA 1973, Bd. 2, 60–119; Howard Kreisel, Prophecy. The History of an Idea in Medieval Jewish Philosophy, Dordrecht 2001; vgl. Bernd Roling, in diesem Band, Anm. 15 mit weiterer Literatur. 11 Marie C. van der Kolf, „Prophetes“, in Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, 45. Halbband, Stuttgart 21957, 797–814; Matthias Köckert/Jan N. Bremmer, „Prophet. I. Einleitung. IV. Griechenland und Rom“, in Der neue Pauly, Bd. 10, Stuttgart/Weimar 2001, 419f., 421f. 12 Dominique Briquel, „Divination VI/VII“, in Der neue Pauly, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 1997/99, 710–718. 13 Marcus Tullius Cicero, De divinatione, I 11f.; II 26f.; vgl. auch Wolfram Hogrebe (Hg.), Mantik. Profile prognostischen Wissens in Wissenschaft und Kultur, Würzburg 2005.

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werden. Sie leben in Jungfräulichkeit, agieren nicht im Orakelbetrieb, prophezeien in der Regel ungefragt im eigenen Namen und verkünden ihre Sprüche in Hexametern. 14 Die Sibyllinischen Bücher, prophetische Aufzeichnungen aus der Frühzeit, die in der römischen Republik wichtiges Instrument staatlicher Orakelpraxis waren – sie verbrannten 83 vor Chr. auf dem Kapitol –, existierten danach nur in fragmentarischer Form. Pseudepigraphische, nicht genuine Sibyllensprüche und das Corpus der Oracula Sibyllina, die wohl von jüdischen und christlichen Autoren der Spätantike zusammengestellt wurden, 15 fanden Eingang ins Mittelalter und verbreiteten sich seit dem 11. Jahrhundert im lateinischen Westen bemerkenswert. 16 Ein dritter für die prophetische Textproduktion Europas vor allem wichtiger Typus paganen Prophetentums ist der von göttlich inspirierter Autorschaft des vates; er ist seit der frühgriechischen Dichtung in Musenanrufen belegt. 17 Der von Enthusiasmus erfüllte Dichter, Künder von vaticinationes, ‚Weissagungen‘, war Schöpfer gesellschaftlich relevanter Literatur. 18 Von Platon wurde er zum Teil kritisch – und in Abwertung gegenüber dem rationalen Philosophen – beschrieben. In den platonisch-neuplatonischen Traditionen entwickelte diese Konzeption der dichterischen Ekstase aber eine enorme Nachwirkung. Insbesondere die vorbehaltlos-positive Beschreibung der gottgesandten Manía im Phaidros verbindet die von den Musen verliehene Dichtkunst mit heilsamer Prophetie und sogar mit philosophischer Erkenntnis, da diese eine Art Enthusiasmus im Aufschwung der Seele zum Göttlichen sei. 19 Diese Art der Begabung hat sowohl in der Antike die poetologische Diskussion stark beeinflusst, zum Beispiel in der Schrift Vom Erhabenen und dem in ihr propagierten dichterischen Pathos oder bei den Dichtern selbst, 20 wie sie in Mittelalter und Neuzeit die Konzeption von Dichterinspiration und -autorität geprägt hat als Gegenbild zu einer erlernbaren selbstverantworteten literarischen Technik. In der Gestalt Vergils und der Sibyllen hat das Mittelalter die Koinzidenz von Dichter- und Pro-

14 Christine Walde, „Sibylle“, in Der neue Pauly, Bd. 11, Stuttgart/Weimar 2001, 499–501. 15 Markus Sehlmeyer, „Sibyllini libri, Sibyllina oracula“, in Der neue Pauly, Bd. 11, 501f. 16 Gian L. Potestà, „Sibyllinische Bücher“, in Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, Stuttgart/Weimar 1994/5,

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1832 f.; Peter Dronke, „Medieval Sibyls: Their Character and Their ‚Auctoritas‘“, in Studi Medievali, 3a Ser. 36 (1995), 581–615, mit weiterführender Literatur. Andreas Bendlin, „Vates“, in Der neue Pauly, Bd. 12, Stuttgart/Weimar 2002, 1150f. Ebd. – Vgl. John Kevin Newman, The Concept of Vates in Augustan Poetry (Collection Latomus 89), Brüssel 1967. Manfred Fuhrmann, Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973, zu Platons Enthusiasmus-Lehre 72ff. – Für die pagane Antike erscheint eine die Problematik von Prophetie und Autorbildern mit ihren verschiedenen Ausprägungen vergleichend aufarbeitende Analyse als ein gewichtiges Forschungsdesiderat. Zu einem Überblick über die verschiedenen Funktionen religiöser Amtsträger und den entsprechenden Vorstellungen bei griechischen und römischen Autoren vgl. Michael Flower, The seer in ancient Greece, Berkeley: University of California Press 2008 (freundlicher Hinweis von Alexander Arweiler). Ebd. 140 f. zur Ekstase in Vom Erhabenen.

Einführung

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phetentum mit philosophischer Weisheit auch in Bildern gefeiert und zum Beispiel Vergil wie die Sibylle unter die alttestamentlichen Propheten eingereiht. 21 Eine auf jüdischer, christlicher und eigener arabischer Tradition gründende Prophetiekonzeption entwickelt der Koran. 22 Er enthält Prophetenerzählungen aus dem Alten und Neuen Testament sowie der vorislamischen arabischen Überlieferung. Mohammed stellt sich damit in eine prophetische Sukzession von inspirierten, von Gott auserwählten Verkündern von Noah, Abraham und Moses bis Jesus (in einem Prophetenstammbaum). 23 Als ‚von Gott Geliebter‘ erfüllt und beschließt er die Reihe und Zahl der Propheten. 24 Die eigene Berufung des Propheten wird als Empfang der himmlischen Botschaft von dem Gottesboten Gabriel oder den Engeln beschrieben. 25 Die Botschaft wird als ‚Offenbarung‘, als ‚Eingebung‘, als ‚Herabsendung‘, auch als Sure und Buch oder als Zeichen und Licht erfahren, wird schließlich als ‚Inlibration‘ einer präexistenten himmlischen Schrift in menschliche Sprache und Buch begriffen. 26 Nach dem Koran hat diese prophetische Botschaft nichts mit den Mitteilungen von ‚Wahrsagern‘ und Dichtern gemein. 27 Gleichwohl nutzt der Koran dichterische Sprache und Stilform (Reimprosa) sowie eine geschliffene Rhetorik, die wiederum als Beweis für seine göttliche Herkunft gewertet wurde. 28 In der Entzweiung und Zersplitterung der ursprünglich geeinten Menschheit, der die Prophetie entgegenwirken soll, sieht der Koran Grund und Ziel der Entsendung der Propheten. 29 Mit den Geschichten vom Ungehorsam der Völker, in die Juden und Christen eingeschlossen sind, sucht der Koran der eigenen Verkündigung (oder zumindest dem Monotheismus) absolute Autorität zu sichern. 30

21 Antonie Wlosok, „Rollen Vergils im Mittelalter“, in Frühmittelalterliche Studien 42 (2008), 253–269,

Abb. 41–58, hier 259f., 262, Abb. 44–47, 51–54 zu den Sibyllen im Bild. 22 Zur Prophetie im Koran vgl. Hartmut Bobzin (übers.), Der Koran. Aus dem Arabischen neu über-

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tragen von Hartmut Bobzin unter Mitarbeit von Katharina Bobzin, München 2010, Anhang Stellenverzeichnis s. v. Prophet, auch s.v. Mose (und weiteren Propheten), s.v. Mohammed (bes. Gesandter Gottes, Prophet, Siegel der Propheten, Verkünder, Warner); zu den verschiedenen Aspekten von Prophetentum im Koran Uri Rubin, „Prophets and Prophethood“, in Andrew Rippin (Hg.), The Blackwell Companion to the Qur¯an, Malden, MA 2006, 234–247. Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin 2010, 407–413 kritisch zur Prophetenbiographik (Sure 96 als ‚Propheteninitiation‘); 494–497 Prophetengeschichten, Prophetensukzession. Dazu Hans-Hinrich Biesterfeldt, in diesem Band. Uri Rubin, „Prophets“, 236f.; Q 2; 16; 19. Angelika Neuwirth, Der Koran, 120–181 ‚Koran und Schrift‘. Q 26; dazu Angelika Neuwirth, Der Koran, 716–722 ‚Die Dichter im Koran‘, und bes. Thomas Bauer, „The Relevance of Early Arabic Poetry for Qur¯anic Studies Including Observations on Kull and on Q 22: 27, 26: 225, and 52: 21“, in Angelika Neuwirth/Nicolai Sinai/Michael Marx, The Qur¯an in Context. Historical and Literary Investigations into the Qur¯anic Milieu, Leiden 2010, 699–732. Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 1999, bes. 315ff.; ferner Angelika Neuwirth, Der Koran, 672–722 ‚Koran und Poesie‘, 723–768 ‚Der rhetorische Koran‘. Q 2: 213; vgl. auch Hans-Hinrich Biesterfeldt, in diesem Band bei Anm. 1. Dazu Uri Rubin, „Prophets“, 245f.

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Christel Meier und Martina Wagner-Egelhaaf

In der christlichen Prophetie eröffnet das Neue Testament sowohl die Ausweitung des Prophetentums wie seine Begrenzung; 31 beide Möglichkeiten wurden im Mittelalter wahrgenommen und in verschiedenen Traditionslinien weiterentwickelt. Die neutestamentlichen Prophetievorstellungen schließen sich mit der Johannes-Apokalypse an die Prophetenbücher der jüdischen Tradition an und erweitern einerseits den Prophetiebegriff zu einer in den Gemeinden verbreiteten Gnadengabe (Charisma) unter anderen, die die Funktionen der Lehre sowie der Erbauung, Ermahnung und Tröstung übernehmen kann (1. Cor. 14,1ff.). 32 Andererseits wird Johannes der Täufer zum letzten Propheten vor Jesus erklärt, der selbst prophetische Züge hat und als Vollender der Prophetie verstanden wird. 33 Beide Akzentuierungen des Prophetischen begründeten für das Mittelalter Deutungsrichtungen von großer Reichweite und Effektivität und ließen die Epoche zu einer Hochzeit prophetischer Literatur werden. Isidor von Sevilla vertrat in den maßgeblichen Erläuterungen der Prophetie in den Etymologiae (VII 8; VIII 8) die heilsgeschichtliche Stufung der Zeiten und das Konkordanzprinzip von jüdischer Prophetie und ihrer Erfüllung durch den letzten Propheten Jesus. Damit erhielt die (Heils-)Geschichte die typologische Struktur von prophetischer Verheißung und faktischer Erfüllung. 34 Dieses Prinzip war enorm produktiv sowohl in der Bibelexegese und in Geschichtsentwürfen wie auch in Werken der bildenden Kunst (z. B. typologischen Bildmustern der sogenannten Armenbibeln, Programmen der Monumentalkunst, der Architektur und Plastik, wie der Apostel auf den Schultern der Propheten, typologischen Raumordnungen) und in der Dichtung (z. B. im Ordo prophetarum im Kontext des Geistlichen Spiels) oder in Wurzel-Jesse-Darstellungen verschiedener Medien. Eine gleichfalls sehr große Produktivität entfalteten die Schriftexegeten der Spätantike und des Mittelalters – vor allem im Gefolge von Cassiodor, Gregor dem Großen und Pseudo-Dionys – anhand der exegetischen Auseinandersetzung mit den Propheten(büchern) des Alten Testaments, ja mit der gesamten Bibel als prophetischem Text. 35 Sie legten den Grund dafür, dass bis ins Spätmittelalter Auslegung der Schrift und Prophetie als gleichermaßen göttlich inspiriert begriffen wurden und Schriftexegese – für Jahrhunderte die höchste Wissenschaft – daher als prophetische Verkündigung galt. Diese Verbindung war umso leichter erfolgt, als Prophetie seit der Patristik nicht allein auf Zukünftiges gerichtet war, sondern als eine Erkenntnis verstanden wurde, die sich auf alle drei Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, bezog und in jedem Fall Verborgenes erfasste

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Gerhard Dautzenberg, „Propheten/Prophetie. IV. Neues Testament und Alte Kirche“, 503–511. Ebd. 506. Ebd. 504 f. Zusammenfassend zur Typologie Rudolf Suntrup, „Typologie. A. Definitorisch-etymologische Aspekte. B. Fächer und Anwendungsbereiche. I. Rhetorik, Literatur, Theologie und Exegese“, in Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 9, Tübingen 2009, Sp. 841–846. 35 Dazu Christel Meier, in diesem Band. Zu Gregor auch Gian L. Potestà, „Propheten, Prophetie“, in Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, Stuttgart/Weimar 1994/5, 252–254, hier 252.

Einführung

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und deutete. 36 Die Rezeption und Kommentierung der pseudo-dionysischen Schriften im lateinischen Westen entwickelte zudem eine philosophisch-theoretische Konzeption des Prophetentums, die göttliche Illuminationen, Theophanien, und ihre Deutung mit (inspirierter) Theologie gleichsetzte und so auch den propheta theologus als den kompetenten Schriftexegeten einer prinzipiell unabgeschlossenen göttlichen Offenbarung und daher als Repräsentanten eines fortgesetzten Prophetentums verstand. 37 Mit dieser Konzeption war eine Legitimationsgrundlage für die neuen Propheten des 12. Jahrhunderts und des späteren Mittelalters gelegt. Es beginnt nach Anregungen durch Rupert von Deutz, Hugo von St. Victor und Bernhard von Clairvaux mit Hildegard von Bingen und Joachim von Fiore eine neue Phase mittelalterlicher Prophetie. 38 Während beide Autoren sich als visionärinspirierte Schriftexegeten verstanden, wurden sie in der Rezeption vor allem zu Endzeitenpropheten. Der Joachitismus wuchs sich zu einer großen prophetischen Bewegung aus, die, mehr religiös oder mehr politisch geprägt, das spätere Mittelalter durchdrang; 39 in ihr erhielten auch die Sibyllen-Vatizinien neues Gewicht. 40 Die umfangreichen Endzeiten-Prophetien dieser Jahrhunderte setzen – über die Joachimsche Vorstellung von einer Geist-Zeit und ihrer neuen Spiritualität hinausgehend – vor allem die politischen Erwartungen eines Friedensreiches und eines Endzeit-Kaisers sowohl seitens des französischen Königtums wie vom römischen Kaiserreich her in Umlauf. 41 Eine intensive theoretische Diskussion der Prophetie leistete die Scholastik des 13. Jahrhunderts – unter Einbezie-

36 Christel Meier, in diesem Band. 37 Ebd. 38 Ebd.; ferner Gian L. Potestà/R. Rusconi (Hgg.), Lo statuto della profezia nel Medioevo, in Christia-

nesimo nella storia 17/2 (1996), mit Beiträgen vom Früh- bis ins Spätmittelalter; Gian L. Potestà, „Prophetie als Wissenschaft. Das Charisma der Seher der Endzeiten“, in Pavlína Rychterová/Stefan Seit/Raphaela Veit (Hgg.), Das Charisma. Funktionen und symbolische Repräsentation (Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften 2), Berlin 2008, 275–286; Alexander Patschovsky, „Prophetie und Politik bei Joachim von Fiore“, in Martin Kaufhold (Hg.), Politische Reflexion in der Welt des späten Mittelalters. Festschrift Jürgen Miethke, Leiden [u.a.] 2004, 27–42. 39 Kathryn Kerby-Fulton, „Hildegard of Bingen and Anti-Mendicant Propaganda“, in Traditio 43 (1987), 386–399; Gian L. Potestà (Hg.), Il profetismo gioachimita tra Quattrocento e Cinquecento. Atti del III Congresso Internazionale di Studi Gioachimiti S. Giovanni in Fiore, 17–21 settembre 1989, Genova 1991, mit 29 Beiträgen; Marco Bartoli, „Les textes prophétiques et la prophétie en Occident (XIIe–XVIe siècles)“, in Florensia 5 (1991), 127–136, ein kritischer Tagungsbericht; Matthias Kaup, „Prophetie als Propagandamedium. Zu Funktion und Methode der Produktion und Exegese prophetischer Texte am Beispiel der Joachiten“, in Karel Hruza (Hg.), Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit (11.–16. Jahrhundert) (Denkschriften der phil.-hist. Klasse ÖADW 307, Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 6), Wien 2002, 81–88. 40 Dazu oben Anm. 16; ferner Christian Jostmann, Sibilla Erithea Babilonica. Papsttum und Prophetie im 13. Jahrhundert (Schriften der MGH 34), Hannover 2006. 41 André Vauchez, „Le prophétisme chrétien, de l’Antiquité tardive à la fin du Moyen Âge“, in ders. (Hg.), Prophètes et prophétisme, Paris 2012, 61–125, hier 106ff., 115ff. (mit Hinweis auf Forschungsdesiderate in diesem Feld); vgl. auch Nigel Morgan (Hg.), Prophecy, Apocalypse and the Day of Doom. Proceedings of the 2000 Harlaxton Symposion, Donington 2004.

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hung auch arabischer und jüdischer philosophischer Entwürfe (Avicenna, Maimonides). 42 Dem Propheten wurde – so Albert der Große (mit Maimonides) – die Infusion eines spiritus aus dem göttlichen Bereich zuteil, der Begriffe und Bilder vermittelte, die in der Imagination aufgenommen wurden. 43 An den Rändern des europäischen Raums entsteht neben der christlichen oder der ins Christliche durch Auslegung transformierten Prophetie (etwa der Sibyllen) heidnische Prophetie: im Westen ist der kymrische Sänger und Prophet Merlin bis in die Neuzeit ebenso präsent 44 wie der Schamanismus in Skandinavien und Finnland, besonders bei den Samen. 45 Pagane Prophetie als Problem wurde dadurch bewältigt, dass sie wie die antike Mantik in den Dämonen- und Teufelsbereich gerückt oder dass sie gleichsam getauft wurde. In der Renaissance und dem Reformationszeitalter sind die vorgestellten Modelle von Prophetie weiterhin präsent, und sie gehen neue Verbindungen ein, in denen die prophetischen Konzepte der paganen Antike ein besonderes Gewicht erhalten. Petrarca zum Beispiel sammelt die Divinationstypen der Antike; 46 die Inspirationslehre des Neuplatonismus wird breit adaptiert. 47 Doch bleiben auch die apokalyptischen Visionsprophetien zum Auftreten des Antichrist lebendig, ja verstärken sich noch im Konfessionskampf. Hinzu kommt ein nicht geringer Einfluss der Mantik in Form der Astrologie als pro-

42 Jean-Pierre Torrell (OP), Théorie de la prophétie et philosophie de la connaissance aux environs

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de 1230, Louvain 1977; ders., Recherches sur la théorie de la prophétie au moyen âge: XIIe–XIVe siècles: études et textes, Freiburg i.Ue. 1992; Marianne Schlosser, Lucerna in caliginoso loco. Aspekte des Prophetie-Begriffs in der scholastischen Theologie, Paderborn [u.a.] 2000. Zum Inspirationsvorgang Albertus Magnus, „Parva naturalia“, in ders., Opera Omnia, hg. v. Auguste Borgnet, Paris 1890, Bd. 9/10, 180b–190b (Lib. III, c. 3–9); Bernd Roling, in diesem Band, Anm. 14; Weiteres bei Marianne Schlosser, Lucerna in caliginoso loco, 83ff.; vgl. oben Anm. 10. Jan Ziolkowski, „The Nature of Prophecy in Geoffrey of Monmouth’s Vita Merlini“, in James L. Kugel (Hg.), Poetry and Prophecy. The Beginnings of a Literary Tradition, Ithaca/London 1990, 151–162; Catherine Daniel, Les Prophéties de Merlin et la culture politique (XIIe–XVIe siècle), Turnhout 2006; Bernd Roling, „Vergegenwärtigungen und Transformationen eines Mythos. Die Historisierung Merlins und Taliesins zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit“, in Frühmittelalterliche Studien 46 (2012), 437–483; zur Fortsetzung in die Neuzeit H. Dobin, Merlin’s Disciples: Prophecy, Poetry and Power in Renaissance England, Stanford 1990. Grundlage ist die Historia Norvegiae, 11. Jh.; dazu Bernd Roling, in diesem Band. Francesco Petrarca, Rerum memorabilium libri, Lib. IV ‚De providentia et coniecturis‘ (De oraculis, De sibillis, De vaticiniis furentum, De presagiis morientium, De sompniis, De aruspicum et augurum disciplina, De ominibus et portentis, De caldeis mathematicis et magis); dazu Paolo Cherchi, „The Unforgettable ‚Books of Things to be Remembered‘“, in Victoria Kirkham/Armando Maggi (Hgg.), Petrarch. A Critical Guide to the Complete Works, Chicago/London 2009, 151–162. Christoph J. Steppich, ‚Numine afflatur‘. Die Inspiration des Dichters im Denken der Renaissance, Wiesbaden 2002; Prophètes et prophéties au XVIe siècle. Actes du colloque, Université Paris-Sorbonne, Paris 1997; zu einem komplexen Beispiel der literarischen Prophetie in der Renaissance Karin Westerwelle, in diesem Band. Zu Problemen mit der Prophetie-Tradition Lawrence F. Rhu, „After the Middle Ages: Prophetic Authority and Human Fallibility in Renaissance Epic“, in James L. Kugler (Hg.), Poetry and Prophecy, 163–184.

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phetischen Mediums. 48 Literarische, philosophische, theologische und politische Prophetievorstellungen differenzieren und vermischen sich. Die vorreformatorischen und reformatorischen Bewegungen werden zum Teil von neuen Propheten, wie Hus, Savonarola, Thomas Müntzer oder Hendrik Niclas, dem Führer der Familisten, begründet. 49 Wie in anderen Krisenzeiten blüht also im 16. Jahrhundert die Prophetie. Dies gilt wohl auch noch für das 17. Jahrhundert, das mit den Zerstörungen des Dreißigjährigen Kriegs die Sehnsucht der Menschen nach Heil und Erlösung auf alle denkbaren Zeichen und Versprechen einer besseren Zukunft lenkte. Die Figur der Wahrsagerin von Soest in Grimmelshausens zugleich realistischem und allegorischem Roman Der abenteuerliche Simplicissimus von 1669 etwa 50, aber auch die Prophezeiungen der Figur Herzbruder im selben Roman 51 führen deutlich vor Augen, wie sehr die Erfahrung einer unsicheren Gegenwart ihr Widerlager im Modus der Vorausschau sucht und findet. Desgleichen findet der prophetische Modus Eingang in das barocke Trauerspiel, wo er gleichfalls den literalen Sinn des Dargestellten allegorisch über sich hinausführt und damit den oft genug widersprüchlichen Deutungsraum der Texte eröffnet. Einer generellen Zeichen-Skepsis, wie sie beispielsweise der „Reyen der Hoffejunckern“ in Gryphius’ Leo Arminius (1650) zum Ausdruck bringt, 52 wird freilich immer wieder beschwörend die christliche Heilsgewissheit gegenübergestellt, zum Beispiel wenn der Reyen der Priester und Jungfrawn auf die alte Prophecey verweist, die durch diß Kind erfüllet 53 wird.

48 Dazu unten Anm. 49. 49 Jean-Robert Armogathe, „Le prophétisme chrétien de l’inquiétude à la Révolution (XVe–XVIIIe

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siècle)“, in André Vauchez (Hg.), Prophètes et prophétisme, 127–202, zur politischen Prophetie in der Frühen Neuzeit: zu Savonarola 131ff., zu Propheten und Prophetieformen in den Reformationsprozessen 144 ff., zu diversen Lektüren der Apokalypse 152ff., zur Astrologie 164ff.; Gian Carlo Garfagnini, „Savonarola e la profezia: tra mito e storia“, in Studi Medievali, Ser. III 29 (1988), 173–201; dazu Pia Claudia Doering, in diesem Band; Pavlína Rycheterová, „Jan Hus: der Führer, Märtyrer und Prophet. Das Charisma im Prozess der Kommunikation“, in dies./Stefan Seit/Raphaela Veit (Hgg.), Das Charisma, 423–447; Alexander Patschovsky/František Šmahel (Hgg.), Eschatologie und Hussitismus, Prag 1996; Andreas Pietsch, „Hoeret myne Kinderen. Autorisierungsstrategien von prophetischen Autoren in der Radikalen Reformation“, in Christel Meier/Martina Wagner-Egelhaaf (Hgg.), Autorschaft, 213–230. Vgl. auch Peter Burschel/Christoph Marx (Hgg.), Gewalterfahrung und Prophetie (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie E.V. 13), Wien/Köln/ Weimar 2013. Vgl. dazu Dieter Breuer, „Die Wahrsagerin von Soest – Zur Funktion der Weissagungen in Grimmelshausens Simplicissimus“, in Peter Heßelmann (Hg.), Grimmelshausen und Simplicissimus in Westfalen, Bern 2006, 189–198. Vgl. Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, Der abentheurliche Simplicissimus Teutsch, in: Werke I, 1, hg. von Dieter Breuer, Frankfurt a.M., 1989, 408 (und passim). „Wir / die alles vns zu wissen /// Von der ersten zeit / beflissen: // Können gleichwohl nicht ergründen: // Was wir täglich vor vns finden. // Die der Himmel warn’t durch zeichen: // Können kaum / ja nicht / entweichen“ (Andreas Gryphius, Leo Armenius. Trauerspiel, hg. von Peter Rusterholz, Stuttgart 1992, 72). Ebd. 89.

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Erwartungsgemäß haben Propheten im aufgeklärten 18. Jahrhundert einen schwereren Stand. In seiner Schrift Träume eines Geistersehers erläutert durch Träume der Metaphysik (1766) setzt sich Immanuel Kant auf satirische Weise mit dem Verhältnis von Rationalismus und Spiritismus auseinander, indem er die Erkenntnisgrenzen beider offenlegt. Harsch ins Gericht geht er mit dem schwedischen Theosophen Emanuel Swedenborg (1688–1772), der seine Visionen zur Grundlage einer umfassenden Weltdeutung machte. 54 Bekanntlich schließt Kants Schrift mit den lakonischen Worten: Es war auch die menschliche Vernunft nicht gnugsam dazu beflügelt, daß sie so hohe Wolken teilen sollte, die uns die Geheimnisse der andern Welt aus den Augen ziehen, und denen Wißbegierigen, die sich nach derselben so angelegentlich erkundigen, kann man den einfältigen aber sehr natürlichen Bescheid geben: daß es wohl am ratsamsten sei, wenn sie sich zu gedulden beliebten, bis sie werden dahin kommen. Da aber unser Schicksal in der künftigen Welt vermutlich sehr darauf ankommen mag, wie wir unsern Posten in der gegenwärtigen verwaltet haben, so schließe ich mit demjenigen, was Voltaire seinen ehrlichen Candide, nach so viel unnützen Schulstreitigkeiten, zum Beschlusse sagen läßt: Laßt uns unser Glück besorgen, in den Garten gehen, und arbeiten. 55

Allerdings mochten sich auch im Zeitalter der Vernunft nicht alle Wissbegierigen zur Gartenarbeit schicken lassen. In dem Maße, in dem der vorkritische Kant auch auf die Abgründe der metaphysischen Spekulation hinwies, ließ sich der Hiat zwischen Schulphilosophie und Theosophie nicht ohne weiteres mit der Differenz von Verstand und Gefühl verrechnen. Theosophisches Wissen, wie es sich aus der Frühen Neuzeit, etwa von Paracelsus herschrieb, versprach ein Weltwissen und Einsichten in einen universalen Zusammenhang, die für naturkundlich Interessierte ein ernstzunehmendes Motiv des Studiums darstellten. 56 Die Suche nach visionären Zugängen zum verborgenen Wissen rückt das prophetische Paradigma, das bereits in der Antike einen erfahrungsgestützten Zugang kennt, zumindest partiell auch in die Nähe pränaturwissenschaftlicher Auseinandersetzung. Sind es in Theosophie und Alchimie die Elemente der Natur, die zur göttlichen Weisheit führen, profiliert Johann Georg Hamann, der „Magus in Norden“, das Medium der Sprache, das gegen die Vernunftidolatrie der Aufklärung die christliche Heilsgewissheit in die Präsenz zu holen trachtet. Hamann bedient sich einer verrätselten, bilderreichen, interpunktionsgesättigten, Redeabbruch und Begeisterung verschmelzenden prophetischen Rhetorik, wie der Anfang seiner Aesthetica in nuce (1760) anschaulich vor Augen führt: Nicht Leyer! – noch Pinsel! – eine Wurfschaufel für meine Muse, die Tenne heiliger Litteratur zu fegen! – – Heil dem Erzengel über die Reliquien der Sprache Kanaans! – auf schönen Eselinnen

54 Zu Swedenborg vgl. auch den Beitrag von Bernd Roling in diesem Band. 55 Immanuel Kant, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, in ders., Werke,

hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 2: Vorkritische Schriften bis 1768. Zweiter Teil, Darmstadt 1983, [918]–989, hier 989. 56 Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass sich auch Isaac Newton, der als Begründer der modernen Naturwissenschaften gilt, zeitlebens mit der Kunst der Alchemie beschäftigte. Vgl. Betty J. T. Dobbs, The Janus faces of genius. The role of alchemy in Newton’s thought, Cambridge 1991.

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siegt er im Wettlauf; – aber der weise Idiot Griechenlands borgt Euthyphrons stolze Hengste zum philologischen Wortwechsel. Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts; wie der Gartenbau, älter als der Acker: Malerey, – als Schrift: Gesang, – als Deklamation: Gleichnisse, – als Schlüsse: Tausch, – als Handel. Ein tieferer Schlaf war die Ruhe unserer Urahnen; und ihre Bewegung, ein taumelnder Tanz. Sieben Tage im Stillschweigen des Nachsinns oder Erstaunens saßen sie; – – und thaten ihren Mund auf – zu geflügelten Sprüchen. Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit. Der erste Ausbruch der Schöpfung, und der erste Eindruck ihres Geschichtschreibers; – – die erste Erscheinung und der erste Genuß der Natur vereinigen sich in dem Worte: Es werde Licht! hiemit fängt sich die Empfindung von der Gegenwart der Dinge an. 57

Es ist offenkundig, wie hier göttlicher und menschlich dichterischer Schöpfungsakt ineinander geblendet werden. Zu behaupten aber, dass der prophetische Gestus hier ‚nur‘ literarisch geworden sei, greift in jedem Fall zu kurz. Das dichterische Wort ist Ausdruck und Ausfluss der göttlichen Schöpferkraft und birgt in seiner Dunkelheit eine transzendente Wahrheit. So wie James MacPhersons Ossian-Fälschung (1762 f.) eine urzeitliche Dichter-Seher-Figur installierte, so sehr setzt etwa auch in Deutschland Friedrich Gottlieb Klopstock, der Dichter des Messias, auf poetisches Sehertum. In seinem Drama Hermanns Schlacht von 1768 lässt er Barden und Druiden aufmarschieren, die den Weitund Überblick haben, die Vergangenheit des Volks mit seiner Gegenwart und Zukunft verbinden und für die kämpfenden Germanen gewissermaßen Verbindungsmedien in die Transzendenz darstellen. Nicht zufällig ist es auch Klopstock, der im 18. Jahrhundert das Bild vom Dichter als inspiriertem Schöpfer und die Poesie als ‚heilige‘ 58 propagierte. „Klopstock verstand sein Dichtertum als religiöse Berufung“, schreibt Jochen Schmidt in seiner Geschichte des Genie-Gedankens. „Der Dichter des ‚Messias‘ sieht sich als Priester. Mit diesem Selbstverständnis verbindet sich bei ihm ein prophetisches Selbstbewußtsein.“ 59 Suchte Klopstock vor allem die lyrische Rede zur prophetischen zu stilisieren, so rückt eben sie auch das empfindende Ich als enthusiastisches Medium in den Mittelpunkt, das in der Sturm-und-Drang-Epoche sein Pathos nicht zuletzt auch gegen sich selbst richtete. In welchem Maß die Sturm-und-Drang-Dichtung den radikalen Pietismus beerbte, hat Ulf-Michael Schneider herausgearbeitet. 60 Dass mit dem 57 Johann Georg Hamann, Aesthetica in nuce, in ders., Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in

nuce, mit einem Kommentar hg. von Sven-Aage Jørgensen, Stuttgart 1983, [77]–147, hier 81f. 58 Vgl. dazu Klopstocks Aufsatz „Von der heiligen Poesie“ (1755), der als Vorrede zum ersten Band

des Messias erschien, in: Friedrich Gottlieb Klopstock, Ausgewählte Werke, hg. von Karl August Schleiden, Nachwort von Friedrich Georg Jünger, München 1962, 997–1009. 59 Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, 2 Bde., Darmstadt 1985, Bd. 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus, 63. Zu Klopstocks Konzept der ‚heiligen Poesie‘ vgl. ausführlich Bernadette Malinowski, „Das Heilige sei mein Wort“. Paradigmen prophetischer Dichtung von Klopstock bis Whitman, Würzburg 2002, 47–115. 60 Ulf-Michael Schneider, Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995.

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Ende des Jahrhunderts angemaßte Prophetie zunehmend in den Ruch psychologischer Abweichung gerät, zeigt sich eindrücklich in Karl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, das in den Jahren 1783 bis 1793 erschien. So berichtet Band zwei des Magazins von „[e]ine[r] fürchterliche[n] Art von Ahndungsvermögen, aus einem Briefe von Herrn Liphardt aus Stettin“ 61 und gibt „Beobachtungen über Ahndungsvermögen, von Herrn Zimmermann, Königl. Cammer Calculator zu Breslau“ 62 zur Kenntnis. Während die Erfahrungsseelenkunde versucht, derlei „Ahndungsvermögen“ physiologisch zu erklären und damit zu rationalisieren 63, gewinnen in der Romantik Grenzphänomene wie Ahnungen und Träume eine vermehrt philosophisch-ästhetische Bedeutung. Den Dichter-Philosophen der Romantik geht es darum, die Grenzen der bürgerlichen Philisterwelt sowie des rationalistischen Schuldenkens kritisch im Hinblick auf die sie begründenden Werte und Begriffe zu hinterfragen. Dass der wahre Künstler den „himmlischen Genius in seinem Inneren“ 64 hat, schildern Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck nachdrücklich in den 1796 erschienenen Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. Novalis’ Romanfragment Heinrich von Ofterdingen (1802), das bezeichnenderweise im Hochmittelalter spielt, lässt gleich zu Beginn seinen Protagonisten „in eine andere Welt hinüber[]schlummer[n]“ 65, die – und das ist wahrhaftige romantische Programmatik – einen Anspruch auf das reale Leben macht. Die Erfahrung der anderen Welt, in der, ganz im Sinne des prophetischen Paradigmas, die consecutio temporum aufgehoben ist, 66 macht den Protagonisten gleichsam zum Seher: Ich glaubte, ich wäre wahnsinnig, wenn ich nicht so klar und hell sähe und dächte, mir ist seitdem alles viel bekannter. Ich hörte einst von alten Zeiten reden; wie da die Tiere und Bäume und Felsen mit den Menschen gesprochen hätten. Mir ist grade so, als wollten sie allaugenblicklich anfangen, und als könnte ich es ihnen ansehen, was sie mir sagen wollten. Es muß noch viel Worte geben, die ich nicht weiß: wüßte ich mehr, so könnte ich viel besser alles begreifen. 67

Die Sprache und das Subjekt sind die entscheidenden Instanzen, über die auf dem Wege der „intellectualen Anschauung“ 68 aus der „offenbarenden Dichtung“ die „sich offenba61

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GNWJI SAUTON oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde herausgegeben von Karl Philipp Moritz, II. Bd., Erstes bis Drittes Stück, 1874, Nachdruck Nördlingen 1986, 114f. Ebd. 175 f.. Weitere Fälle von ‚Ahndungsvermögen‘, ‚Unglücksweissagung‘ und ‚Divination‘ finden sich in Bd. III (1785), 40–59, in Bd. IV (1786), 83–85, 155–159, Bd. VI (1788), 70–75, Bd. IX (1792), 57–70. Vgl. beispielsweise GNWJI SAUTON Bd. III, 58. Wilhelm Heinrich Wackenroder, Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, in: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Silvio Vietta und Richard Littlejohns, Bd. 1: Werke, hg. von Silvio Vietta, Heidelberg 1991, 51–145, 63. Novalis, Heinrich von Ofterdingen. Ein Roman, Textrevision und Nachwort von Wolfgang Frühwald, Stuttgart 1980, 9. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Eichendorffs Roman Ahnung und Gegenwart (1810–1812). Novalis, Heinrich von Ofterdingen, 9f. Friedrich Hölderlin, „Urteil und Sein“ (1795), zit. nach Bernadette Malinowski, „Das Heilige sei mein Wort“, 122.

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rende Dichtung“ 69 wird und das entsteht, was seither mit dem schillernden Begriff der ‚Kunstreligion‘ gefasst wird. 70 Jene transzendentalen Sprach- und Seelenbewegungen, die in der Romantik den „Dichter“ gleichermaßen zum Subjekt und Objekt machen und versuchen, ihn in einem ironischen Schwebezustand zu halten, verfestigen sich im Zuge der politischen und sozialen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts zu gesellschaftlichen Positionen bzw. Institutionen. Pierre Bourdieu rekurriert in seiner kritischen Analyse des literarischen Felds in Frankreich durchgehend auf eine Position prophetischer Autorschaft. In der ersten Phase der Entstehung des literarischen Felds ist es Baudelaire, der „die freie Konkurrenz der Propheten-Schöpfer“ 71 gezielt in seiner eigenen Person propagierte. Auch Émile Zola gelang es, so Bourdieu, „das negativ besetzte, ‚vulgäre‘ ‚Kommerzielle‘ in ‚Volkstümliches‘“ zu konvertieren und es „mit dem ganzen positiven Prestige des politisch Progressiven“ aufzuladen, um auf diese Weise „die Rolle des gesellschaftlichen Propheten“ einzunehmen. 72 Bourdieu kann sich dabei auf Max Webers Vorstellung einer „exemplarischen Prophetie“ beziehen, 73 allerdings nicht ohne seinen Ansatz kritisch von dem Webers abzugrenzen: „Max Weber kommt das Verdienst zu, am Sonderfall der Religion die Rolle der Spezialisten und ihrer Eigeninteressen ans Licht gebracht zu haben; allerdings bleibt er der marxistischen Logik der Suche nach Funktionen verhaftet, die, selbst wenn sie sehr präzis formuliert werden, nicht viel über die eigentliche Struktur der religiösen Botschaft aussagen. Vor allem aber bemerkt er nicht, daß die Welten der Spezialisten als relativ autonome Mikrokosmen funktionieren, als strukturierte (und damit einer strukturellen Analyse, wiewohl anderer Art, zugängliche) Räume objektiver Beziehungen zwischen den Positionen – der des Propheten und des Priesters oder der des arrivierten Künstlers und der des Avantgardisten beispielsweise. Diese Relationen aber sind der eigentliche Ausgangspunkt für die Positionierungen der unterschiedlichen Produzenten, für die sie trennende Konkurrenz, für die sie verknüpfenden Allianzen, für die Werke, die sie produzieren oder verteidigen.“ 74

In dem Maß, in dem Künstler und Intellektuelle als Propheten einen kalkulierten wie kalkulierbaren sozialen (und ökonomischen) Status beanspruchen, überbietet Friedrich Nietzsche mit seiner grundsätzlichen Infragestellung aller Normen und Werte das Prophe69 So Bernadette Malinowski, „Das Heilige sei mein Wort“, 122 in Bezug auf Hölderlin. 70 Vgl. Bernd Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2006; Albert Meier/Alessandro

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Costazza/Gérard Laudin (Hgg.), Kunstreligion, Bd. 1: Der Ursprung des Konzepts um 1800, Berlin/ New York 2011; Bd. 2: Die Radikalisierung des Konzepts nach 1850, Berlin/Boston 2012 (ein 3. Bd. ist vorgesehen). Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, übers. v. Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt a.M. 2001, 107. Zu Baudelaire vgl. Karin Westerwelle, „Charles Baudelaire. Masken und Figuren des Autors“, in Christel Meier/ Martina Wagner-Egelhaaf (Hgg.), Autorschaft. Ikonen – Stile – Institutionen, 253–297. Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst, 191. Ebd. 220; vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriss der Sozialökonomik, III. Abteilung, Tübingen 1922, 255. Zu Webers Prophetieverständnis vgl. auch Bernhard Lang, „Prophet, Priester, Virtuose“, in Hans G. Kippenberg/Martin Riesebrodt (Hgg.), Max Webers „Religionssystematik“, Tübingen 2001, 166–191, insbes. 172–174 und Martin Riesebrodt, „Ethische und exemplarische Prophetie“, in ebd. 193–208. Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst, 326; zu Max Weber vgl. auch 329.

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tie-Paradigma ein weiteres Mal. Gründeten die Dichter-Propheten des 19. Jahrhunderts ihre Autorität, nochmals mit Bourdieu gesprochen, auf das Konzept der ‚reinen Kunst‘, radikalisiert Nietzsche den prophetischen Gestus, indem er die Eliten des 19. Jahrhunderts ins Nichts blicken lässt und sich gewissermaßen zum nihilistischen Unheilspropheten stilisert. Während Max Weber ganz im Einklang mit der religionsgeschichtlichen Schule seiner Zeit unter einem ‚Propheten‘ „einen rein persönlichen Charismaträger“ verstand, „der kraft seiner Mission eine religiöse Lehre oder einen göttlichen Befehl verkündet“ 75, steht Nietzsches Zarathustra für eine Figuration des Übermenschen, der Inspiration und Charisma nurmehr auf sich selbst gründet. Religiöse Autonomie und Einheitlichkeit des Weltbezugs, die, vor allem im Blick auf die später von Karl Jaspers so genannte ‚Achsenzeit‘ des 8. bis 6. Jahrhunderts v. Chr., das religionsgeschichtliche Prophetenbild der Zeit bestimmten, 76 kennzeichnen auch die Profile zahlreicher selbsternannter Propheten unterschiedlicher Couleur um 1900. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die als beengend empfundenen Formen des institutionalisierten und auch politisch verdächtig gewordenen Christentums hinter sich lassen und gegen die Verlust- und Krisenerfahrungen der Moderne spirituelle Erneuerung im synkretistischen Rückgriff auf vermeintlich gesamtmenschheitliche Religionsformen suchten. Einmal mehr bestätigt sich der von Max Weber postulierte Zusammenhang von Erlösungsreligion und Prophetie, ging es den neuen Propheten der Zeit um und nach 1900 doch darum, die Menschheit von den Deformationserscheinungen der Moderne wie Rationalisierung, Industrialisierung, Naturverlust zu ‚erlösen‘. 77 Robert Musil hat in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften diversen Spielarten des zeitgenössischen Prophetentums ein kritisch-ironisches Denkmal gesetzt, etwa in dem Porträt des völkisch-national gesinnten Hans Sepp oder aber im Bild des Propheten Meingast, der im 14. Kapitel des zweiten Buchs bemerkenswerterweise in Autorpose und bezogen auf die Wahrnehmungsperspektive seiner Jüngerin, der Nietzsche-Verehrerin Clarisse, dargestellt wird: Clarisse war überzeugt, daß die Arbeit, die [Meingast] [. . .] bei ihnen sofort begonnen hatte, mit einer Verwandlung zusammenhinge. Die Erinnerung an einen indischen Gott, der vor jeder Läuterung irgendwo einkehrt, vermengte sich in ihr mit der Erinnerung, daß Tiere eine bestimmte Stelle wählen, um sich einzupuppen [. . .] das logische Ergebnis von alledem war, daß sie im glühenden Schein der sinkenden Sonne unter dem Fenster stand, während sich der Prophet in die dahinterliegende Schattenhöhle zurückgezogen hatte. [. . .] Und wirklich fühlte sich Meingast mit großem Vergnügen in dieser Umgebung arbeiten, deren kriegerische Einfachheit ihm schmeichelte. Er begriff darin seinen Willen, der die Worte auf dem Papier formte. Stand noch dazu Clarisse wie vorhin unter seinem Fenster oder oben auf dem Treppenabsatz, oder saß sie auch nur in ihrem Zimmer – „von dem Mantel eines unsichtbaren Nordlichts eingehüllt“ wie sie ihm gestanden hatte –, so erhöhte diese ehrgeizige, von ihm gelähmte Schülerin seine Freude. Die Feder trieb dann die Einfälle vor sich her und die großen, dunkeln Augen über der scharfen, bebenden Nase begannen zu glühen. Es sollte einer der bedeutendsten Abschnitte seines 75 Max Weber, Wissenschaft und Gesellschaft, 250. 76 Vgl. Martin Riesebrodt, „Ethische und exemplarische Prophetie“, 198f. 77 Vgl. Ulrich Linse, Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre, Berlin 1983.

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neuen Buchs werden, den er unter diesen Umständen zu beenden gedachte, und man sollte dieses Werk nicht ein Buch nennen dürfen, sondern einen Rüstungsbefehl für den Geist neuer Männer! 78

Der Inhalt von Meingasts Botschaft bleibt im Roman unbestimmt, aber auf ihn kommt es offensichtlich auch gar nicht an. Wichtiger ist die Haltung, die Imago des Propheten, die mit einer Autorschaftspose verschmilzt. Und tatsächlich nehmen auch Literaten um 1900 vermehrt die Prophetenrolle ein bzw. sie werden mit dem Bild des Propheten identifiziert, weil ihnen die Fähigkeit zugesprochen wird bzw. sie sich diese Gabe selbst attestieren, hinter die durch Transzendenzverlust, wissenschaftlichen Fortschritt, Massenkultur der Großstadt verursachten Zerfallserscheinungen der Zeit zu blicken und gleichsam seismographisch eine andere Zukunft zu erahnen. 79 Wie Meingast in Musils Roman erhalten auch Dichterfiguren eine Führerfunktion, versprechen geistige Führung, die aus dem Chaos der modernen Wirklichkeitserfahrung erhebt und doch auf dieses bezogen bleibt. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an Rilkes Prophetengedichte, von denen die Forschung herausgestellt hat, dass sie sind, wovon sie sprechen, das heißt nicht nur Prophetie thematisieren, sondern zu sein beanspruchen, indem sie die prophetische Aussage im dichterischen Wort in die Präsenz holen. 80 Ist die Sprache das primäre Medium des Propheten, der selbst zum Medium der göttlichen Botschaft wird 81, so machten sich die modernen Propheten, wie etwa Cornelia Blasberg in Bezug auf Stefan George gezeigt hat, den Medienfortschritt zunutze, indem sie ihr Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit gezielt zu kontrollieren suchten. 82 Indessen glaubt auch die vermeintlich säkulare Moderne auf Zukunftswissen nicht verzichten zu können. Im Gegenteil: Mehr denn je scheint die Zukunft zum Referenzpunkt der Gegenwart zu werden. Wirtschafts-, Klima- und Demographieforschung sind nur wenige Beispiele, die differenzierte Theorien, Instrumente und Techniken der Prognostik auf den Plan gerufen haben. Wie Daniel Weidner und Stefan Willer in einem Sammelband zum Verhältnis von Prophetie und Prognostik dargelegt haben, gibt es frappierende

78 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Gesammelte Werke in neun Bänden hg. v. Adolf Frisé,

Reinbek b. Hamburg 1978, Bd. I–V, III, 782. 79 Vgl. Gabriela Wacker, Poetik des Prophetischen. Zum visionären Kunstverständnis in der klassischen

Moderne (Studien zur deutschen Literatur 201), Berlin 2013, 1–4. 80 Vgl. ebd. 332 (Wacker zitiert in diesem Zusammenhang Michael Kahl, Lebensphilosophie und Ästhe-

tik. Zu Rilkes Werk 1902–1910, Freiburg i.Br. 1999, 212). 81 So heißt es in Rilkes „Ein Prophet“: „[. . .] Und in seinem Innern richten / sich schon wieder Worte

auf, // nicht die seinen (denn was wären seine / und wie schonend wären sie vertan) / andre, harte Eisenstücke, Steine, / die er schmelzen muß wie ein Vulkan, / um sie in dem Ausbruch seines Mundes / auszuwerfen, [. . .]“ (Rainer Maria Rilke, „Ein Prophet“, in Werke, Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, hg. v. Manfred Engel u.a., Bd. 1: Gedichte 1895–1910, Frankfurt a.M., Leipzig 1996, 521). 82 Vgl. Cornelia Blasberg, „Charisma in der Moderne. Stefan Georges Medienpolitik“, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74 (2000), 111–145; zu George vgl. auch Thomas Karlauf, Stephan George. Die Entdeckung des Charisma. Biographie, München 2007.

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Gemeinsamkeiten zwischen beiden Paradigmen, aber auch natürlich Unterschiede. 83 Wie etwa der Prophet ‚im Namen von‘ spricht, so greifen auch Prognosen „auf die Autorität von Instanzen zurück, die für sich behaupten, über die Zukunft verfügen zu können.“ 84 Und beiden gemeinsam ist das Moment der ‚prophetischen Ironie‘, das auf einer Paradoxie aufruht: Führt die wirkungsvolle Prophetie dazu, dass die Menschen ihr Leben ändern, tritt das vorausgesagte Zukunftsszenario nicht ein; wenn es allerdings eintritt wie vorausgesagt, dann war die prophetische Warnung wirkungslos. 85 Freilich ist das eine strukturelle Grundfigur, die mit vielfältigen historischen und kontextuellen Differenzierungen beziehungsweise Relativierungen einhergeht. Jedoch kann argumentiert werden, dass „die Glücksverheißungen des vermeintlich schlechthin säkularen Denkmodells ‚Fortschritt‘ deutlich als Erbschaften sakraler Heilsversprechen erkennbar“ 86 sind. Die komplexe Prophetiegeschichte der Neuzeit wie die der Moderne harrt noch einer gründlicheren Erschließung. Verschiedene Ansätze epochen- und kulturenübergreifender Erforschung der Prophetie sind in den letzten Jahren in Politik-, Geschichts- und Literaturwissenschaft versucht worden. So führt der von Matthias Riedl und Tilo Schabert herausgegebene, im wesentlichen politologisch-anthropologisch orientierte Band Propheten und Prophezeiungen (2005) von der griechischen Antike und dem Judentum über das Mittelalter bis zu Pascal und fügt Studien über Afro-Brasilien und Japan zum Vergleich an. 87 Französische Historiker und Religionswissenschaftler stellen Prophetie als europäisches Phänomen in Studien von den jüdisch-biblischen Anfängen, über das Mittelalter bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts mit besonderer Beachtung der politischen Implikationen von Prophetie dar und ergänzen sie durch Beiträge über Afrika sowie Nordund Südamerika: Prophètes et prophétisme (2012). 88 Für Prophetie als genuin literarisches Phänomen fehlen noch übergreifende Untersuchungen zur Neuzeit und Moderne, während der Sammelband Poetry and Prophecy (hg. v. James L. Kugel, 1990) einige Stationen von der Antike bis zur Renaissance im Überblick vermitteln will, 89 wie ein stärker auf England konzentrierter paralleler Band Prophet Margins. The Medieval Vatic Impulse and Social Stability von 2004 prophetische Dichtungen des Mittelalters nach ihrer Relation zu den jeweiligen politischen Situationen befragt. 90 Gabriela Wackers Studie Poetik 83 Vgl. Daniel Weidner/Stefan Willer, „Fürsprechen und Vorwissen. Zum Zusammenhang von Prophe-

84 85 86 87 88 89 90

tie und Prognostik“, in dies. (Hgg.), Prophetie und Prognostik. Verfügungen über Zukunft in Wissenschaften, Religionen und Künsten, München 2013, 9–19. Ebd. 9. Vgl. ebd. 10. Ebd. 12. Matthias Riedl/Tilo Schabert (Hgg.), Propheten und Prophezeiungen. Prophets and Prophecies (Eranos 12), Würzburg 2005. André Vauchez (Hg.), Prophètes et prophétisme, Paris 2012. James L. Kugel (Hg.), Poetry and Prophecy. The Beginnings of a Literary Tradition, Ithaca/London 1990, bes. „An Overview“, 1–25. Edward L. Risden/Karen R. Moranski/Stephen Yandell (Hgg.), Prophet Margins. The Medieval Vatic Impulse and Social Stability (Studies in the Humanities. Literature – Politics – Society 67), New York [u. a.] 2004.

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des Prophetischen von 2013 widmet sich sehr umfassend literarischen Anverwandlungen der Prophetie in der klassischen Moderne. 91 Unter den verschiedenen Formen von Autorschaft hat prophetisches Schreiben einen Sonderstatus. Abgesehen von allen historischen Differenzierungen ist es, wo immer es auftritt, ein grundsätzlich spannungsreiches komplexes Konstrukt autorisierter Rede: 1. im Sprecher selbst, 2. in seiner Botschaft, 3. in seiner Stellung zur oder in der Gesellschaft sowie 4. in der Longue-durée seiner Wirkungsgeschichte, in der Widersprüche, Paradoxien manifest werden, in deren (erstrebter) Bewältigung jeweils die Problematik und Effektivität des Modells prophetischer Rede liegen. 1. Der Prophet spricht nicht aus eigener Kompetenz und Autorität, sondern beruft sich in einer Haltung der Demut auf einen göttlichen Auftraggeber, dem er gleichsam als Sprachrohr dient, dessen Verkündigungsbefehl er – auch gegen den eigenen Willen – folgen muss. 92 Aus dieser Konstellation der doppelten Sprecherrolle, einer zugleich reduzierten und potenzierten Autorschaft, resultiert die Autorität des Propheten. 93 Die Vorstellung von der Inspiration oder Geisteingießung überbrückt den Hiat von eigentlicher Urheberschaft und Auftragserfüllung. Die Zeugenschaft des Menschen wird zur Deutungshoheit gesteigert durch die autorisierende wunderbare Begabung; Gehorsam und passive Annahme der charismatischen Existenz werden in aktives Handeln, Befehlen, Fordern, Drohen und Verheißen verwandelt. 94 Die Auszeichnung seiner charismatischen Existenz trennt den Propheten von den Institutionen religiöser Ordnungen oder herrscherlicher Macht (es sei denn, es gibt ‚prophetische Institutionen‘, Kultpropheten oder Orakelstätten). 95 Mit seinen Botschaften muss er bei den Rezipienten Vertrauen evozieren; bei ihm selbst liegt die Aufgabe der Plausibilisierung seines Auftrages, die Gewinnung von Glaubwürdigkeit und Akzeptanz, die zum Beispiel durch Berufungsgeschichten, in bestimmten Überlieferungen auch durch den Nachweis ethischer Vollkommenheit oder durch Wunder unterstützt wird. Die Annahme der Botschaft kann jedoch – wie im Fall von Strafandrohungen – verweigert werden und ihn bis zu Verfolgung und Tod gefährden. Zur Autorfigur des Propheten gehört wesentlich die Auskunft über die Art der Autorisierung, oft auch über den Erwählungsvorgang durch den Auftraggeber. Die Propheten der jüdischen, christlichen und muslimischen Textüberlieferungen beschreiben ihre 91 Gabriela Wacker, Poetik des Prophetischen. 92 Dies belegt der Großteil der Untersuchungen in diesem Band. 93 Dazu Susanne Köbele, in diesem Band, mit Anm. 5 zu Urheberschaft und Zeugenschaft; dort auch in

Kap. I ‚Konfliktszenarien‘ eine ganz grundsätzliche Diskussion der Paradoxien und Spannungen prophetischen Sprechens und Schreibens. Für den weiteren Horizont ‚autorisierte Rede – Text‘ vgl. z.B. Michele Luminati [u.a.] (Hgg.), Texte und Autoritäten. Autorität der Texte (Text und Normativität 3), Basel 2012. 94 Dazu im Sinn von Jer. 23,29 Harold Fisch, „Literatur und Antiliteratur“, in Hans-Peter Schmidt/ Daniel Weidner (Hgg.), Bibel als Literatur (Trajekte), München 2008, 173–186, hier 174: „Es ist Sprechhandlung im eminentesten Sinn des Wortes, Handlung mit apokalyptischer Kraft, die aber zugleich darauf angewiesen ist, mit der schwachen Stimme des Propheten vorgetragen zu werden.“ 95 Dazu oben bei Anm. 6 und 11.

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Autorisierungen immer wieder in Berufungsberichten. Sie schildern die von der Person besitzergreifende Macht der Gottheit als Stimme, Licht, Vision vom Himmel, Wahrtraum, Erscheinen himmlischer Boten. Auch gegen ihren Willen und Widerstand unterliegen die zu Verkündern Bestimmten dem Zwang zur Ausführung des Redeauftrags – Nichterfüllung zieht Strafe nach sich. Die Aufnahme der Botschaft im Propheten kann allgemeiner als Empfang eines göttlichen spiritus im Inneren, im Herzen 96 oder konkret bildlich zum Beispiel als Aufessen, das heißt Inkorporieren, der vom Himmel gereichten Schriftrolle wie bei Ezechiel erfolgen. 97 Die Art der Berufung des Propheten kann mit dem Charakter und Inhalt seiner Prophetie korrelieren; zum Beispiel ermächtigt eine pfingstliche Feuer-Inspiration zum Verständnis der Heiligen Schrift in der Nachfolge der Apostel bei Hildegard von Bingen. 98 2. Prophetische Botschaften können in zahlreichen verschiedenen literarischen Formen vermittelt werden, da prophetische Literatur nicht auf bestimmte Gattungen festzulegen ist, die Möglichkeiten der Instrumentalisierung historisch jeweils verfügbarer literarischer Formen zu vielfältig, die Intentionen zu weit gespannt und divergent sind. Gleichwohl lassen sich dominante Diskursformen und Redestrategien benennen, die mit den Grundbedingungen prophetischer Aussage korrelieren, wie Vision, Traumbericht, Droh- und Strafrede, Zukunftsverheißung, Predigt, Lied, Brief, exegetische Texte. Zu den Bedingungen gehört der Gegensatz oder das Nebeneinander offen-direkten und verhüllten, diskursiven oder integumentalen Sprechens, die auch kombiniert auftreten, zum Beispiel als Visionsbericht mit Auslegung. Gerade das dunkle Integumentum kann zum Beweis der Echtheit der Prophetie angeführt werden, etwa wenn die Glossa ordinaria im Mittelalter ausführt: ‚Hört auf die prophetische Rede, denn sie ist von Gott. Das kann dadurch bewiesen werden, dass die Prophetie nicht in solchen Worten und solcher Redeweise geschrieben ist, wie die Menschen sie in ihrer Rede gebrauchen und wie weltliche Schriften komponiert und interpretiert sind.‘ 99 Erklärung hierfür ist die Inspiration durch den Heiligen Geist. Auch die Echtheit, das heißt die göttliche Provenienz des Koran wird mit der Vollkommenheit seiner prophetischen Sprache begründet. 100 Die Dunkelheit prophetischer Rede, die mit bildlicher Sprache, mit einem Stil der Uneigentlichkeit und den entsprechenden mit Notwendigkeit (necessitas) gebrauchten rhetorischen Formen wie Parabel, 96 Z. B. oben bei Anm. 43 zu Albertus Magnus; vgl. auch Uri Rubin, „Prophets and prophethood“, 237. 97 Ez. 2,8–3,3: [. . .] aperi os tuum et comede quaecumque ego do tibi. Et vidi: et ecce manus missa ad

me, in qua erat involutus liber, et expandit illum coram me, qui erat scriptus intus et foris, et scriptae erant in eo lamentationes et carmen et vae. Et dixit ad me: Fili hominis, quodcumque inveneris, comede; comede volumen istud, et vadens loquere ad filios Israel. Et aperui os meum, et cibavit me volumine illo; et dixit ad me: Fili hominis, venter tuus comedet et viscera tua complebuntur volumine isto quod ego do tibi. Et comedi illud, et factum est in ore meo sicut mel dulce. 98 So Hildegard in der Protestificatio ihres Scivias; dazu Christel Meier, in diesem Band, bei Anm. 88. 99 Vgl. den lateinischen Text bei Christel Meier, in diesem Band, Anm. 84 (zitiert ist die Einleitung von Gebenos von Eberbach Pentachronon, einer Kompilation von Hildegard-Prophetien). 100 Navid Kermani, Gott ist schön, 316 im Kap. ‚Der Prophet unter den Dichtern‘.

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Gleichnis, Metapher, Allegorie arbeitet, bezeugt die Aporie, der der menschliche Verkünder bei der Überführung göttlicher Botschaft in die immer unzureichende menschliche Sprache ausgesetzt ist. Propheten bedienen sich einerseits einfacher rudimentärer Formen mündlicher Rede, eines sermo humilis – sozusagen eines demütigen menschlichen Stammelns angesichts der Schwierigkeit, göttliche Offenbarung in die defizitäre Sprache des Menschen zu überführen –, zur Beglaubigung der Unmittelbarkeit göttlicher Mitteilung; andererseits greifen sie zu elaborierten Textstrategien, in oft ausgedehnten Texten oder Büchern von Visions- oder Traumberichten. Aus der Dunkelheit der prophetischen Rede und ihrer besonderen Ausdrucksmittel wie ihrer Kompetenz in der Wirklichkeitsdeutung resultiert ihre Nähe zu poetischer Autorschaft, die im Dichter-vates der Antike, aber auch in David, Mohammed und anderen Dichter-Propheten sich konkretisiert; sie ermöglichte die vielfältige Fortsetzung des prophetischen Autorschaftsmodells in ästhetisch-dichterischen (Kon-)Texten. Die Inhalte prophetischen Redens und Schreibens sind vielfältige wie ihre Sprach-, Diskurs- und Gattungsformen; doch sind Hauptthemen und -tendenzen ebenso wie häufige sprachliche Gestaltungen benennbar. Inhaltliche Kernbereiche sind Gerichtsansagen für Verfehlungen, Strafandrohungen, wenn keine Umkehr erfolgt, aber auch Heilsversprechen, Einsichten in den göttlichen Heilsplan, Welt- und Geschichtsdeutungen, Lebensbelehrung, kritische Analyse von Gesellschaft, Kult und Institutionen, Kritik an den Mächtigen oder am Volk, entsprechend der Deutungskompetenz des Propheten über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, kurz, über Verborgenes, nicht für alle auf der Hand Liegendes. 101 Prophetischem Zugriff öffnen sich also insbesondere die im Dunkeln liegenden entfernten Zeiten der Vergangenheit und Zukunft: Weltentstehung, Eintritt und Begründungen von Devianzen in einer zuerst vollkommenen Welt (durch Tod und das Böse) sowie Möglichkeiten der Restitution von Welt und Mensch und schließlich Weltende mit Katastrophe und/oder Erneuerung in einen zukünftigen Idealzustand. In den pseudo-clementinischen ‚Recognitiones‘ (4. Jh. n. Chr.) besteht Petrus auf der Zuständigkeit der Propheten für das Wissen über den Anfang der Welt gegenüber den nur Vermutungen anstellenden Philosophen: ‚[. . .] das Vergangene aber und Zukünftige und das Unsichtbare zu wissen [kommt] nur dem prophetischen Vorauswissen [praescientia] zu.‘ 102 Eine besondere Verbindung von Literatur und Prophetie sind die seit der Antike bekannte Wiederherstellung oder Erfindung von verlorenen Texten der Tradition: Aus göttlicher Offenbarung werden wiederentdeckte alte Bücher oder durch Inspiration wiederhergestellte verlorene Schriften, wie der Prophet Esdras durch Geisteingießung – ein exemplarischer Fall – die verlorenen Bücher des Alten Testaments restituieren konnte (4. Esdr. 14,21 ff.), neu wirksam. Es ist ein prophetisches Begründungsnarrativ für heilsrelevante 101 Nach Cassiodor, Gregor u.a. Christel Meier, in diesem Band. 102 Dazu Christel Meier, „Respice principium. Die Bedeutung des Anfangs im prophetischen Werk

Hildegards von Bingen“, in Frühmittelalterliche Studien 47 (2013), im Druck; Susanne Köbele, in diesem Band, Anm. 17.

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Texte, das – Fälschung oder Fiktion – in ernsthaften und später auch spielerischen und satirischen Formen bis weit in die Neuzeit hinein Verwendung fand. 103 3. Aus den generellen inhaltlichen Aspekten der Prophetenbotschaften ergeben sich Folgerungen für die Funktionen des Propheten im öffentlichen Raum, in verschiedenen Öffentlichkeiten, denen die Botschaft kommuniziert wird. Prophetie unterscheidet sich darin zum Beispiel von der in manchem verwandten Mystik, die zuerst die individuelle Gotteserfahrung und -erkenntnis für den Mystiker selbst sucht. Die Mitteilung ist hier in der Regel ein sekundärer Akt. Die Art der Öffentlichkeit prophetischer Mitteilung ist jeweils sozial-kontextgebunden in den unterschiedlichen historischen Epochen und Situationen. Der Prophet spricht zu seinem Volk, zur Stadt, zur Gemeinde, zum Herrscher, im Heiligtum seines Gottes, zu den Auskunft Erbittenden oder zu einer Lesersozietät; er erhält den Befehl oder die Erlaubnis zur Verbreitung seiner Prophetie in Schriftform, oder er entschließt sich zu einer Selbstermächtigung mit der Publikation eines prophetischen Buchs. Seine Mitteilung vollzieht sich im religiösen oder politischen Raum, oft in beiden zugleich. Mit seiner Vergangenheits- und Gegenwartsanalyse, die eine spezifische Zukunftsperspektive involvieren kann, bezieht er als Berater und Warner, affirmativ-verheißend oder subversiv-mahnend Position und nimmt damit Einfluss auf die religiöse oder politische Zukunftsgestaltung. Die Empfänger der Botschaft reagieren entweder auf eine als Skandalon erfahrene Prophetie mit Unglauben, Ablehnung, ja Verfolgung des Propheten oder mit Respekt und Verehrung, da sie in ihm ein göttliches Charisma oder eine tiefere Einsicht (an)erkennen. Dieses Kommunikationsmodell kann ausgedehnt werden auf politische Propaganda, in der ‚echte‘ Prophetie von nur adaptierten Formen prophetischer Rede nicht mehr recht zu unterscheiden ist. 4. Autorität und Dunkelheit prophetischer Schriften sind die Gründe, weshalb sie oft weit über ihre Entstehungssituation hinaus Wirkung entfalteten, dadurch dass sie mit immer neuen Bedeutungszuweisungen ‚erschlossen‘ wurden. Das trifft nicht nur für die jüdische Tora und das christliche Alte und Neue Testament sowie den Koran in hohem Maß zu – die in ihrer Sinnfülle als unendlich auslegbar beschrieben wurden und so eine infinite Deutungsanstrengung erforderten –, sondern es wurde auch für neue Prophetien beansprucht wie die spätantiken Sibyllen-Oracula, verschiedene Dichterprophetien oder prophetische Exegeten des Mittelalters von Gregor dem Großen bis zu Hildegard von Bingen, Joachim von Fiore und zu den Propheten der frühneuzeitlichen Jahrhunderte. Nicht nur die prophetische Literatur, sondern auch die prophetische Autorschaft erfährt dabei eine Ausweitung auf verwandte Verfasserfigurationen wie Exegeten, Interpreten, Dichter, Wissenschaftler, Philosophen (Weise), für die gleichfalls höhere Eingebung bei der Werkabfassung in Anspruch genommen wird.

103 Dazu Nikolaus Staubach, in diesem Band; ferner in der ‚Autobiographie‘ des Ps.-Ovidius, De vetula,

hg. v. Paul Klopsch, Leiden 1967.

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II. Der Band versammelt Beiträge, die die literarische Prophetie-Tradition, so weit möglich, diachron und interkulturell behandeln, indem sie einerseits weiträumig Bezüge dokumentieren oder herstellen zwischen den jüdischen, antiken, islamischen und christlichen Prophetiekonzeptionen, andererseits exemplarisch am jeweiligen historischen Ort die spezifischen Ausprägungen prophetischer Autorschaft beschreiben entsprechend den verschiedenen Bedingungen und Rezeptionskontexten. Dabei werden spezifische Formen literarischer Prophetie in Traditionskontinua und wiederkehrenden Mustern ebenso erkennbar wie Sonderfälle, Modifikationen, Innovationen, Transgressionen, Brüche und Überbietungen, in denen besonders expressiv und klar Möglichkeiten der prophetischen Rede zur Geltung kommen. Frühere übergreifende Publikationen zur Prophetie waren dagegen stärker den ‚Normalformen‘ der prophetischen Tradition gewidmet, denen gegenüber hier ein weiterer Prophetiebegriff zugrunde zu legen war. Die Folge der Beiträge ist annähernd chronologisch: Nach drei Studien zu prophetischen Gründungsbereichen in der jüdischen, islamischen und christlichen Kultur kommen verschiedene Ansätze prophetischer Autorschaft in Mittelalter und Früher Neuzeit zum Zug, ehe die fünf Beiträge zur Moderne sowohl die Persistenz als auch die Polyvalenz des Prophetischen dokumentieren. Ausgehend von aktuellen Debatten über Plagiat und Autorschaft beleuchtet Eberhard Bons die spezifische Autorfunktion der Propheten im Alten Testament. Den antiken und den biblischen Propheten ist gemeinsam, dass sie kein ‚Urheberrecht‘ an ihrer Botschaft beanspruchen können, doch für die Menschen die einzigen Instanzen darstellen, in denen die göttliche Botschaft Gestalt annimmt. Dabei sind die Prophetenbücher des Alten Testaments nicht allein verschriftete Botschaft, vielmehr geben sie auch Einblick in die Vorstellung, die einzelne Propheten von ihrer Rolle und ihrer Sendung hatten. Am Beispiel von Amos 3,3–8 nimmt der Beitrag eine genaue rhetorische Analyse vor, die eine Überlagerung zweier Sinnebenen vor Augen führt: Das Motiv des durch Gott gewirkten Unheils verbindet sich mit der mitthematisierten Beziehung zwischen Gott und dem Propheten. Tatsächlich erschließt sich der Text erst dann, wenn er nicht nur vorwärts, sondern in einem nächsten Schritt auch rückwärts gelesen wird. In jedem Fall tritt der Prophet hinter der verkündeten Botschaft zurück. Unter Heranziehung weiterer Textstellen aus dem Amos-Buch wird die problematische Grundsituation des biblischen Propheten offenkundig, die darin besteht, dass er einen göttlichen Auftrag erfüllen muss, dem er sich nicht entziehen kann, und Verkünder eines Worts ist, für dessen Glaubwürdigkeit er keine Beweismittel hat. Hinrich Biesterfeldt erkundet in seinem Beitrag die Darstellung und die Rolle der vorislamischen Propheten im Koran. Propheten werden von Gott eingesetzt, so heißt es im Koran, um die verloren gegangene Einheit der Menschen zu restituieren. Berichtet wird von den jüdischen und christlichen Propheten zumeist im Medium des Gesprächs zwischen Gott und Mohammed. Dabei erscheinen die vorislamischen Propheten als Vorbilder für Mohammed. Die Prophetenfigur Jona hat die Koranexegeten in besonderer

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Weise herausgefordert. Am Beispiel der verschiedenen, unzusammenhängenden koranischen Berichte über den Propheten Jona wird deutlich, dass es verfehlt wäre, durch Synthetisierung zu einem historischen ‚Kern‘ der Botschaft gelangen zu wollen; vielmehr muss die Diachronie der Offenbarungen in ihrer Polyvalenz wahrgenommen werden. Während im biblischen Jonabuch der Prophet selbst im Zentrum steht, geht es in den Jona-Stellen des Koran eher um die Hörer/innen der göttlichen Mahnung zur Umkehr und zum Glauben, nämlich zum einen um die Bewohner von Ninive, zum andern um Mohammeds Hörer/innen. Die besondere Aufmerksamkeit des Beitrags gilt den Qiṣaṣ al-anbiy¯a, den ‚Erzählungen über die Propheten‘, einer literarischen Gattung, die sich parallel zur islamischen Koranexegese entwickelt und diese narrativ zu plausibilisieren sucht. Sie porträtieren die Propheten als mahnendes Exempel und versuchen, die Leser mit ihren Geschichten zu erbauen. Dabei besteht die narrative Technik in der Konkretisierung, der Lokalisierung, der Rationalisierung und der Dramatisierung. Die Jona-Figur wird aber auch psychologisiert, familialisiert und ‚verbürgerlicht‘, um den Erwartungen der Erbauung und Unterhaltung entgegenzukommen. Einen Überblick über einige Stationen der konzeptionellen Entwicklung mittelalterlichen Prophetie-Verständnisses, wie sie spätantike und mittelalterliche Schriftexegeten für die prophetischen Bücher der Bibel dokumentieren, skizziert der Beitrag von Christel Meier. In theoretischen Reflexionen zum prophetischen Schreiben im Alten Testament erörtern Cassiodor am Psalter und Gregor der Große am Buch Ezechiel Kriterien prophetischer Rede, die sich bei Gregor in der Auslegung zu einer impliziten Poetik der Prophetie verdichten. Wichtigste Merkmale sind der universale Zeitbezug der Prophetie (auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft), die doppelte Autorschaft, Dunkelheit und Inkonzinnitäten, die ihre Deutungsbedürftigkeit bedingen, und manches mehr. In der pseudo-dionysischen Tradition erfahren Prophetie und Theologie dann eine Gleichsetzung und zugleich eine prinzipielle Unabgeschlossenheit, nach der dem propheta theologus obliegt, die in symbola verhüllten göttlichen Offenbarungen den Menschen zu vermitteln, um ihnen die Rückkehr zum Intelligiblen zu weisen. Wenn Hildegard von Bingen als neue Prophetin – wie die Analyse zeigt – zur Autorisierung ihrer eigenen Prophetenrolle auf diese exegetisch-theologischen Traditionen zurückgreift, entwickelt sie sie für sich in einem radikaleren Ansatz weiter, indem sie als Person ganz zurücktritt hinter dem göttlichen Inspirator, so dass ihr als Frau des 12. Jahrhunderts die Möglichkeit zu öffentlicher Lehre mit dem Ziel der Erneuerung der Schriftauslegung sowie der Kirchen- und Zeitkritik eröffnet wird. In einem Ausblick kommt die spätmittelalterliche Prophetieskepsis in Johannes Gersons Anleitung zur ‚Prüfung der Geister‘ zum Zug. Eine wenig beachtete Sonderform der seit der Antike in der europäischen Literatur reich und vielfältig vertretenen religiösen und profanen Pseudepigraphie behandelt der Beitrag von Nikolaus Staubach. Fiktive Autorzuschreibungen und Quellenangaben, wunderbare Entdeckungs- und Überlieferungsgeschichten sind oft nur schwer in dem breiten Feld zwischen literarischem Spiel und auf unlauteren Vorteil berechneter Fälschung zu verorten. Die Areopagitica des Abtes Hilduin von St. Denis, eine mit erfundenen Dokumenten angereicherte Vita seines Klosterpatrons Dionysius lassen allerdings

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keinen Zweifel über die Intention des Autors: Durch eine Identifikation mit dem angeblichen Verfasser des pseudo-dionysischen Schriftencorpus soll die Gestalt des ersten Pariser Bischofs Dionysius nobilitiert und damit auch Hilduin als Hüter von Grab und Nachlass des Heiligen aufgewertet werden. Originell ist allerdings die Strategie, mit der Hilduin die Authentizität seiner fiktiven Quellen zu beglaubigen versucht: Neben philologischen Echtheitsargumenten ist es die Berufung auf prophetisch inspiriertes Finderglück, das ihm die Wiedergewinnung verlorener Überlieferung erlaubt hat. Zugrunde liegt ein Prophetiekonzept, das mit der Möglichkeit der Erschließung verborgenen Wissens nicht nur der Zukunft, sondern auch der Gegenwart und Vergangenheit rechnet. Der Prophet Esdras, der die verlorenen Bücher des Gesetzes durch göttliche Inspiration zu rekonstruieren vermochte, wird daher nicht zufällig von Hilduin als Vorbild angeführt. In unmittelbarer Nachfolge Hilduins hat Hinkmar von Reims seine Remigius-Vita verfasst, die sich ganz ähnlich auf fiktive Quellenfunde und das Esdras-Exemplum beruft. Schließlich hat Hinkmar in dem wegen seiner Quellenfiktionen berüchtigten Benediktinerabt Trithemius noch einen späten Gefolgsmann gefunden, der die Forschung durch den scheinbar unerklärlichen Widerspruch von solider Gelehrsamkeit und gewissenloser Fälschung lange vor ein Rätsel stellte. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive beleuchtet Sita Steckel den Auftritt Guillaumes de Saint-Amour im Kontext des Pariser Bettelordensstreits 1256 und die von ihm in seinem Kampf als Weltgeistlichem gegen die noch jungen Orden der Franziskaner und der Dominikaner konstruierte Rolle als eines prophetischen Autors. Seine Adaptation prophetischer Autorität wird als komplexe Autorisierungsstrategie interpretiert, die, so die These des Beitrags, Guillaume die Einnahme einer religiös legitimierten Sprecherrolle im politischen Raum erlaubte. Es wird gezeigt, wie Guillaume theologische Exegese als Entsprechung zu alttestamentlicher Prophetie konzipiert und dabei vielfältige rhetorische Mittel bis hin zur Parodie und Inversion zum Einsatz bringt. Herausgearbeitet werden vor dem Hintergrund unterschiedlicher Teilöffentlichkeiten des Streits die kalkulierten kontextabhängigen Strategien der Autorisierung und ihre impliziten Bedeutungsebenen und Mehrfachkodierungen. Guillaume de Saint-Amour wandte sich gegen die joachitische Geschichtstheologie und die mit ihr einhergehende Verlagerung der Deutungshoheit über die Heiligen Schriften von den universitären Theologen zu ‚neuen‘ Offenbarungen und ‚spirituellen Menschen‘. Er selbst maßte sich vor dem Hintergrund der von ihm postulierten Endzeit die Rolle des die Wahrheit verkündenden Propheten und Warners vor ‚falscher‘ Prophetie an und scheute sich nicht, biblische Vorbilder wie Daniel und Jeremias in den Dienst seiner politisch motivierten prophetischen Selbstkonstruktion zu stellen. Susanne Köbele beschreibt das Phänomen prophetischer Autorschaft als von vielfältigen Spannungen durchzogen: der Spannung von Demut und Exklusivität, von Heiligkeit und Devianz, von Offenbarungsevidenz und Auslegungsbedürftigkeit sowie von Verheißung und Erfüllung. Gleichermaßen kennzeichnend für die prophetische Rede ist das Ineinanderumschlagen von Zeugenschaft und Urheberschaft. Der Beitrag führt vor, wie sich der sermo propheticus fortwährend selbst reproduziert und die prophetische Ver-

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kündigung nie an ihr Ende kommen kann. Konstitutiv für das sich zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ereignende prophetische Sprechen ist die Zeitform der ‚vergangenen Zukunft‘. Am Beispiel zweier markanter Beispiele um 1300, der mystischen Predigten Meister Eckharts und Frauenlobs Marienleich, wird in textnahen Analysen gezeigt, wie transgressive Sprach- und Autorschaftsdynamiken im Versuch der Vermittlung von Immanenz und Transzendenz das Modell prophetischer Autorschaft an seine Grenzen treiben. Dabei wird eine Vielzahl differenzierter textueller Verfahrensweisen aufgezeigt, bei Meister Eckhard etwa die Aneignung einer Jesus-propheta-auctoritas, die paradoxe Immediatisierung der Gottesbeziehung, gleitende Sprecherwechsel, die Generierung von Äquivalenzketten und die Entgrenzung zeitlicher Relationen, bei Frauenlob, der Maria zugleich als Objekt der prophetischen Rede imaginiert und als propheta selbst zu Wort kommen lässt, der rasche Wechsel thematischer, bildlicher und klanglicher Responsionen, ebenfalls die Entdifferenzierung der Zeiten, mittels Reimen, Echoklängen und Alliterationen ins Werk gesetzte Differenzierungs- und Identifizierungsbeziehungen zwischen Maria und Gott. An Walthers von der Vogelweide Reichston, insbesondere den Teilen Kirchenklage und Weltklage, führt der Beitrag von Bruno Quast die „Politisierung eines geistlichen Modells ‚existentieller‘ Autorschaft“, der Ausbildung einer Prophetenrolle für einen Laien-Dichter vor, der mit einer solchen Selbstautorisierung ermahnend Bezug nimmt auf die politische Krise im Reich von 1198: auf das Doppelkönigtum des welfischen und des staufischen Kronprätendenten, Ottos des IV. und Philipps von Schwaben, sowie auf die dadurch verursachten gravierenden reichspolitischen Auflösungserscheinungen in dieser Situation. In prophetischer Selbstermächtigung tritt der Laien-Autor (Ich sach mit mînen ougen) mit neuem Autonomieanspruch den kirchlichen und politischen Autoritäten entgegen; er ruft mit Propheten-Gestus zur Umkehr auf, legitimiert seine Kritik und die conversio-Mahnung allerdings durch eine religiöse Autorität, das papstkritische Gebet eines Klausners um Gottes helfende Intervention. Dem Verhältnis von Prophetie und Autorschaft widmet sich Silvia Schmitz aus einer narratologischen Perspektive, indem sie zeigt, wie Vergils Aeneis im Hinblick auf das Motiv der Katabasis eine produktive Umschrift von Homers Odyssee darstellt und Dantes Göttliche Komödie wiederum eine signifikante Umstellung der prophetischen Konstellation in der Aeneis vornimmt. Die Tatsache, dass Odysseus trotz der von Teiresias in der Unterwelt empfangenen Prophezeiung hinsichtlich des Gebarens der Freier auf Ithaka seine Heimkehr vergisst, erklärt sie damit, dass Odysseus aus einer quasi-auktorialen Perspektive von der Prophezeiung erzählt und ihr damit sowohl innerepische als auch außerepische Bedeutung zukommt, insofern der Wissenshorizont des Protagonisten von nun an mit dem der Rezipienten des Epos ineins fällt. Aeneas’ ‚episches Vergessen‘ hingegen verweist die augusteische Leserschaft darauf, dass die Weissagung für sie bestimmt ist. Der Erzähler erhält so die Rolle eines Visionärs und Vergil die des (poeta) vates. Bei Dante wird die Jenseitswanderung zur Handlungsstruktur selbst. Das zum Propheten stilisierte Erzähler-Ich Dantes bezieht seine Legitimation von Gott, wenn es seine groß angelegte Prophetie einer Erneuerung von Kirche und Reich ausbreitet. Prophetie

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und Autorschaft werden so aufeinander bezogen, dass der prophetische Zukunftsentwurf der Göttlichen Komödie und der fiktionale Selbstentwurf des Autors einander wechselseitig erhellen. Im Mittelpunkt der Studie von Pia Claudia Doering steht Machiavellis kritische Analyse von Savonarolas Propheten-Rhetorik, die er als scheinhaft und zum politischen Scheitern verurteilt erweist. Dabei werden Handeln und Rhetorik des Bußpredigers von Machiavelli in ein enges Verhältnis zu der politischen Situation in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts gesetzt, die von einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß von Propheten-Auftritten geprägt ist. Mit dem Fall Savonarolas beginnt die politische Karriere Machiavellis. Prophetie ist für Machiavelli eine spezifische Redeweise, die säkulare Autorität begründet. Machiavelli kritisiert die ausufernde Rhetorik des Frater, dem es nicht gelinge, politische Zielsetzungen und private Interessen zu verschleiern. Zwar erkennt Machiavelli die Wirksamkeit der von Savonarola gezeichneten Schreckensbilder an, aber es geht ihm darum, ihre Durchschaubarkeit aufzudecken. Daher legt er den Finger auch auf die fehlende Kohärenz von Savonarolas Vorhersagen, die seine Überzeugungskraft schwäche. Gegenüber dem ‚Modell Savonarola‘, dessen Scheitern er vorführt, preist Machiavelli die prophetische Kraft der Dichter, die die Fähigkeit besitzen, zwischen den Zeiten zu vermitteln. Dank ihrer Dichtergabe und ihrer Verbindung zum Göttlichen vermögen sie aus der Vergangenheit die nationale Zukunft vorherzusagen. Karin Westerwelle stellt den französischen Dichter Pierre de Ronsard (1524–1585) vor und zeigt, wie er prophetische Rede und Liebesrede kunstvoll miteinander verschränkt. Deutlich wird Ronsards Eingebundenheit in antike Traditionen. Indessen erscheinen die prophetischen Elemente seiner Dichtung in neuen Kontextualisierungen und in rhetorischen Inszenierungen, die transzendente Bezüge außer Kraft setzen und politische translatio-Konzepte in Frage stellen. In textnahen Analysen wird vorgeführt, wie sich die communicatio mit dem Göttlichen und der Anblick der Geliebten metaphorisch mit der Prophetie überschneiden. Dabei muss man sich vor Augen halten, mit welch riskantem Wert die Prophetie-Inszenierung im historischen Konfliktfeld der Reformation behaftet war. Ronsard unterläuft die Bestimmung des Prophetischen mit neuen Elementen der Imagination. Er adressiert Cassandra als Geliebte und Prophetin und funktionalisiert die negative Prophetie Cassandras, die nur Schlechtes prophezeit und der nicht geglaubt wird, im Hinblick auf die eigene Autorschaft. So vergleicht er etwa die kreative Situation und die Ich-Ekstase mit dem prophetischen Vorstellungsbild. Vergeblichkeitsfiguren bestimmen nicht nur Cassandras Prophetinnentum, sondern gleichermaßen das Tun des Dichters. Und wie Cassandra ein negatives Kommunikationsmodell sowie ein negatives Muster der Erfüllung repräsentiert, setzt sich auch das lyrische Sprechen Ronsards von einer teleologisch verfassten prophetischen Zeitlichkeit ab. Der Beitrag von Bernd Roling befasst sich mit den gelehrten Debatten über außerchristliches Prophetentum, Magie und Schamanismus in der frühen Neuzeit bis in die ersten Dekaden des 18. Jahrhunderts hinein, als Emanuel Swedenborg seinen visionären Makrokosmos entwarf. Er zeichnet nach, wie christliche Schriftsteller jahrhundertelang versuchten, sich einen Reim auf die paganen Offenbarungsphänomene zu machen, waren

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‚echte‘ Entrückungserfahrungen doch ein Privileg des Christentums. Bei den Visionen der Heiden konnte nur der Teufel seine Finger im Spiel haben. Trotz namhafter Kritiker hielt man lange Zeit am Glauben an die Wirkungsmacht von Dämonen und gefallenen Engeln fest. Dies gilt auch für das schwedische Imperium, wo man besonders die lappischen Schamanen im Visier hatte, die sich in Werwölfe verwandeln und durch das Verlassen ihres Körpers mit der Welt der Geister Kontakt aufnehmen konnten. Die ethnographische Erschließung der samischen Religion ging mit einer systematischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Magie im allgemeinen und dem Schamanismus im Besonderen einher. Vor allem das schamanische Trommeln war Anlass der Spekulation. Satanische Paktschlüsse und diabolische Beeinflussung des Vorstellungsvermögens waren probate Argumente, um die Phänomene im Interesse einer nationalen Einigungspolitik im Hinblick auf ein schwedisch-lutherisches Imperium erklären zu können. Mit bildlichen Darstellungen des Propheten Mohammed bei christlichen Autoren, etwa in Koranübersetzungen und Prophetenviten, befasst sich der Beitrag von Alberto Saviello. Aus der Sicht vieler christlicher Autoren, für die Mohammed als der Verfasser des Koran galt, war Mohammed ein ‚falscher Prophet‘. Oft wurde er auch als Gegenspieler Christi, ja sogar als der Antichrist gesehen, in jedem Fall aber als ein Scharlatan, Betrüger und Illusionist. Seine Verstellungs- und Täuschungsstrategie wird in den entsprechenden Porträts mit zur Darstellung gebracht, die Kunst selbst als Medium des Spiels und der Illusion aufgefasst. Als Verstellungskünstler rückt Mohammed in die Nähe der Künstler und Dichter. Im 18. und 19. Jahrhundert setzte eine positive Rezeption Mohammeds ein, die nicht zuletzt durch die Anerkennung der poetischen Qualitäten des Koran bedingt war. Mohammeds Wertschätzung im 19. Jahrhundert ist im Zusammenhang zu sehen mit einer Aufwertung der subjektiven ästhetischen Erfahrung und dem Moment künstlerischer Schöpfung im Verhältnis zur Religion, denen Schleiermachers Begriff der ‚Kunstreligion‘ vorgearbeitet hatte. Mohammed wird so in den Darstellungen und Deutungen des christlichen Europa zu einer Figur, an der das Verhältnis von Kunst und Religion in besonderer Anschaulichkeit reflektiert wird. Matías Martínez untersucht die prophetische Rede erzähltheoretisch im Spannungsfeld von faktualer und fiktionaler Rede. Ob ein Text als faktualer oder fiktionaler verstanden wird, hängt nicht von textinternen Eigenschaften ab, sondern von einem komplexen Bündel von Relevanzfaktoren. Zwar ist bei fiktionalen Texten auf der realen Kommunikationsebene der referentielle Geltungsanspruch aufgehoben, nicht aber auf der imaginären. Vielmehr zeigt sich Fiktionalität darin, dass der Leser die Behauptungen des Erzählers für zweifellos wahr hält, obwohl dieser sein Wissen nicht rechtfertigt. Von faktualen Äußerungen realer Erzähler unterscheiden sich fiktionale Texte darin, dass sie nicht einfach nur wahr, sondern notwendig wahr sind. Fiktionale und faktuale Behauptungen stellen konkrete Sachverhalte dar, sie sind in diesem Sinne ‚mimetisch‘. Dennoch, so argumentiert der Beitrag, gibt es Texte, die weder fiktional noch faktual sind. Mit Wittgenstein sind sie als ‚gewiss‘ zu bezeichnen; sie sind nicht begründungsbedürftig. Wie die fiktionale Rede ist die prophetische Rede notwendig wahr; jedoch stellt sie einen Fall faktualer Rede dar, der sich gerade dadurch auszeichnet, dass er in einer durch ein gegebenes Sprachspiel

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konstituierten Gemeinschaft nicht im Sinne von Wittgenstein als ‚gewiss‘, sondern als rechtfertigungsbedürftig erachtet wird. Am Beispiel des Dichter-Propheten Stefan George entwickelt Wolfgang Braungart das Konzept der Kunstreligion und zeichnet es in seinen historischen, bis auf Karl Philipp Moritz’ Autonomieästhetik zurückgehenden Filiationen nach. Leben und Werk des für sich eine ‚starke‘ Autorschaft beanspruchenden George werden als Inszenierung begriffen. Zentral für Georges sakramentales Verständnis der Dichtkunst ist die Verwandlung des profanen Worts in die heilige Sprache der Kunst. Georges Ethik der Askese weist darauf hin, dass allein das Amt des Dichters, seine Aufgabe, zählt. Der Artikel, der zahlreiche Gedichte von George heranzieht, macht darauf aufmerksam, dass zum Prophetischen ganz bestimmte Sprechhaltungen gehören, wie etwa Beschimpfung, Warnung, Zürnen, Drohen, Verwerfung, Schmähung, eine Sprache der Feierlichkeit und, durchaus im Unterschied zur prophetischen Tradition, die Entscheidung für das genus sublime. Die Rolle des Propheten verbindet sich bei George indessen auch mit anderen Rollenmustern, denen des Melancholikers, des Sich-Opfernden, des Leidenden, des Erlösers und Erziehers. Nicht zuletzt bietet sich dem modernen Dichter die imago einer Postfiguration Jesu Christi an. Da prophetische Rede in der Regel auf das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft bezogen ist, wird der Dichter-Prophet George auch zum Kulturkritiker und radikalen Mahner. Die Schroffheit seiner poetischen Kulturkritik wird in der Studie mit dem ihr zugrundeliegenden emphatischen Kunstbegriff erklärt, der aber, ganz im Unterschied zur idealistischen Ästhetik, keinen emphatischen Subjektbegriff kennt. Ausgehend von der in Wissenschaft und Medien ubiquitären Bezeichnung des Medientheoretikers Marshall McLuhan als ‚Prophet‘, der die Medienrealität der Gegenwart vorausgesehen habe, geht der Beitrag von Martina Wagner-Egelhaaf einer Grammatik des Prophetischen in der Moderne nach. McLuhans Prophetenstatus ist eng verbunden mit der Sache, die er vorhergesehen hat, der völligen Immersion des Menschen in seiner medialen Umwelt. Sie begründet ein quasi-religiöses Medienapriori, das eine Erlösung von der durch Rationalität geprägten Schriftkultur verspricht. In Thomas Manns früher Erzählung Beim Propheten nimmt diese Grammatik des Prophetischen literarische Gestalt an. Wie bei McLuhan ist auch bei Mann der rhetorische Gestus des Propheten durch ein groteskes Nebeneinander des Heterogenen gekennzeichnet. Dabei ist der Prophet in Manns Erzählung selbst eine Figuration des Mediums, das in der Abwesenheit anwesend und in der Anwesenheit abwesend ist. Er ist aber auch eine Autor-Figur, über die sich die Autorschaft des bürgerlichen Schriftstellers reflektiert. Ob der Prophet tatsächlich in der Lage ist, die Zukunft vorherzusagen, erweist sich immer erst im Rückblick. McLuhan hat dies in das Bild des Blicks in den Rückspiegel gefasst, in dem man, nach vorne schauend, von der Vergangenheit überholt wird. Dieses Prinzip der metaleptischen Zeitverschränkung kommt im Verhältnis von Thomas Manns Roman Dr. Faustus, in dem der Prophet Daniel als Dichterfigur im prophetischen Kontext wiederkehrt, und der Erzählung Beim Propheten zum Tragen, insofern als der spätere Roman in die frühere Erzählung ein historisches Wissen einträgt, das den bürgerlichen Schriftsteller retrospektiv zum Propheten macht. Die Figur des Propheten Daniel stellt daher nicht nur einen Propheten dar, son-

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dern wird im Rahmen der Werkbiographie des Autors Thomas Mann zum exponierten Reflexionsmedium bürgerlicher Autorschaft. Uwe Johnsons Erzählung Jonas zum Beispiel von 1957 steht im Fokus des Beitrags von Matthias Schaffrick. Die Analyse geht der Frage nach, warum sich Johnson, dessen Name eine auffallende Lautähnlichkeit mit Jonas hat, Ende der 50er-Jahre mit dem alttestamentlichen Propheten auseinandersetzt. Die Erzählung eröffnet einen weiten Interpretationsspielraum, um den Autor und den Propheten miteinander ins Verhältnis setzen zu können. Allerdings begreift Johnson den Autor keinesfalls als Propheten. Hat die Forschung Johnsons Erzählung bereits als poetologischen Selbstverständigungstext interpretiert, legt Matthias Schaffrick weitere intertextuelle Bedeutungsdimensionen des Texts frei, indem er sich dem biblischen Buch Jona, das in der Prophetieforschung als das am meisten literarisierte gilt, näherhin widmet und zeigt, welche Rolle dem Moment der Erzählung in der Jona-Geschichte zukommt. Da das Prophetische bei Jona in der Erzählung liegt, stellt das biblische Buch für Johnson eine Reflexionsfolie für die eigene Erzählpoetik dar. Mit Ernst Blochs Prophetiekonzept und den Jona-Bezügen in Melvilles Moby Dick kann die These bekräftigt werden, dass auch Johnson das Prophetische als Erzählmodus fasst. Die ‚Wahrheit‘ liegt in Johnsons Jonas zum Beispiel, aber auch in seinen späteren Texten, nicht in dem, was gesagt wird, sondern in den Möglichkeiten des Erzählens selbst, das sich proleptisch in die Zukunft zu richten vermag, Freiheit und Vorbestimmung des Menschen als Motivierungen der Erzählhandlung begreift und sowohl mythisch-final als auch kausal vorgehen kann. Christian Sieg widmet sich in seinem Beitrag Günter Grass und dem Autorschaftsmodell der Prophetie in der Literatur der 1980er-Jahre, in denen zahlreiche Autorinnen und Autoren eine Weltuntergangsrhetorik wählten und die Apokalypse zum oft gestalteten künstlerischen Thema wurde. Der Beitrag zeigt den Zusammenhang dieser künstlerisch-literarischen Tendenz mit dem politischen Diskurs der Zeit auf, insbesondere mit den Anliegen der Friedensbewegung, für die das atomare Wettrüsten, die Zerstörung der Umwelt, die Überbevölkerung der Erde zu Motiven des politischen Protests wurden. Indem sich auch Grass zum Apokalyptiker stilisierte, scheinen sich Widersprüche zum bisher verfolgten aufklärerischen Paradigma und den vormaligen politischen Einsprüchen des Autors aufzutun. Im Roman Die Rättin von 1986 rollt Grass all jene gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart auf, die dazu angetan sind, den aufklärerischen Glauben an die Vernunft in Frage stellen. Das apokalyptische Szenario der Rättin erscheint als überzeugender als die der Aufklärung verpflichteten Positionen des Erzählers. Bemerkenswert ist die Art und Weise, in der Grass die im Rahmen der Fiktion vertretenen Positionen der Rättin in Paratexten zum Roman den fiktionalen Kontext überschreiten lässt und sich selbst als prophetisches Medium inszeniert, das auf die Stimme des von ihm geschaffenen Werks hört. Das literarische Werk selbst erscheint so als Frühwarnsystem. Folgt der Roman Die Rättin einem auf die Zukunft gerichteten Gestus gegenüber den früheren, mit Fragen der Vergangenheitsverarbeitung beschäftigen Texten des Autors, werden in der auktorialen Selbststilisierung solche Brüche übergangen, um den Eindruck einer ungebrochenen Kontinuität des schriftstellerischen Engagements hervorzurufen.

Eberhard Bons

Verpflichtet zur Prophetie Eine Interpretation von Amos 3,3–8

1. Einführende Überlegungen: Ein griechischer Terminus für ein Phänomen der Religion Israels Als die unter den beiden Leitbegriffen stehende Tagung „Autorschaft und Prophetie“ konzipiert wurde, konnte wahrscheinlich kaum jemand ahnen, wie aktuell das Thema ‚Autorschaft‘ in den ersten Monaten des Jahres 2011 werden sollte. 1 Ist die Person, die sich als auctor, das heißt als Urheber eines Werkes ausgibt oder gemeinhin als solcher gilt, 2 wirklich dessen Verfasserin oder Verfasser? Und wenn sie das Werk tatsächlich verfasst hat, ist sie dann auch die Urheberin und Erfinderin 3 aller Gedanken, die sie nicht als von einer anderen Person stammend gekennzeichnet hat? Wo liegt also die Unterscheidung von Eigenem und Fremdem, von Selbsterdachtem und Übernommenem? Und wo wird ein Copyright beansprucht, wiewohl es anderen zusteht? Vielleicht ist die Unterscheidung zwischen eigenen und fremden Gedanken in den Wissenschaften wenigstens theoretisch möglich, in der Praxis aber oft problematisch. Noch schwieriger wird die Unterscheidung dann, wenn man mit dem Phänomen der Prophetie zu tun hat, das – so die Arbeitsdefinition im Programm dieser Tagung – als Dichtung eine besondere Nähe zum Göttlichen hat. Propheten beanspruchen einen göttlichen Ursprung der von ihnen verkündeten Botschaft. Was hat man sich aber unter dem Phänomen der Prophetie vorzustellen? Bevor in diesem Artikel das Thema der Beziehung zwischen Pro1 Am 1. März 2011 trat der Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland, Karl Theodor zu

Guttenberg von seinem Amt zurück. Gegen ihn wurde der Vorwurf erhoben, in seiner Doktorarbeit plagiiert zu haben. 2 Zur Definition vgl. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 31990, § 204A. 3 Vgl. zur Wortkombination auctores et inventores Cicero, De oratore, III, 148.

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phet und Gottheit behandelt wird, und zwar am Beispiel eines alttestamentlichen Textes, Amos 3,3–8, sind einige grundsätzliche Bemerkungen zum Begriff der Prophetie notwendig.

a. Der Prophet als Vermittler eines Orakels Der Begriff ‚Prophet‘ stammt wahrscheinlich aus dem griechischen Orakel. 4 Ein prophḗt¯es oder eine – so die feminine Form – prophḗtis, wörtlich ‚Sprecher/Sprecherin für jemanden‘, war eine Person, die zum Personal der antiken Institution ‚Orakel‘ gehörte. Wie der griechische Geschichtsschreiber Herodot im achten Buch seiner Historien berichtet (VIII, 36–37), besaß das Orakel von Delphi in Griechenland einen solchen Propheten. Der Dramatiker Euripides lässt in seinem Drama Ion (413–415) sogar zwei Kategorien von Propheten auftreten: die einen, die die Fragesteller in Empfang nahmen und ins Orakelheiligtum geleiteten, und die anderen, die in der Nähe des berühmten Dreifußes bei der Pythia weilten. Ihre Aufgabe bestand darin, das für Gemeinsterbliche unverständliche Orakel, das die Pythia äußerte, in eine verständliche Botschaft umzuwandeln und sie den Fragestellern zu übermitteln. 5 Der Philosoph Platon beschreibt diesen Prozess in seinem Werk Timaios (72b) noch genauer. Es sei unzutreffend, so argumentiert er, die Propheten als Seher (mánteis) zu bezeichnen. Vielmehr seien die Propheten die Deuter (hypokritaí), die das auf rätselhafte Weise (di’ ainigmṓn) Ausgedrückte und Gesehene in eine gleichsam kommunzierbare Botschaft übersetzen. Mit anderen Worten: Dem am Orakel tätigen Propheten kommt eine Vermittlerrolle zu: Er vernimmt die göttliche Botschaft, die aber nicht ‚menschengemäß‘ vorgetragen wird, und überträgt sie in eine Sprache, die für Menschen verständlich ist. Dabei bleibt die Frage offen, wie er dabei vorgeht und welcher ‚hermeneutischen‘ Mittel er sich bedient, um die Äußerungen der Pythia zu verstehen und sprachlich wiederzugeben. Noch schwieriger ist die Frage zu beantworten, wer denn als Autor der prophetischen Botschaft zu gelten habe. Ist die Gottheit ihr Urheber? Dies mag in einem gewissen Sinne zutreffen. Zwar ist nicht zu bestreiten, dass die Gottheit ihren Anteil am Zustandekommen des Orakels hat – aber dennoch bleibt ihre ‚Aussage‘ den Menschen unerreichbar und verborgen, wenn sie nicht von menschlichen Instanzen – Pythia und Prophet – vermittelt wird. Freilich ‚erfinden‘ diese beiden nicht die Botschaft, die sie weitergeben, sondern ihre Aufgabe besteht im Wesentlichen darin, ‚Sprachrohr‘ für die göttliche Botschaft zu sein und diese den Menschen zugänglich zu machen. Wenn Pythia und Prophet auch keine Art ‚Urheberrecht‘ an ihrer Botschaft beanspruchen können, so sind sie für die Menschen die einzigen Instanzen, in denen die göttliche Botschaft Gestalt annimmt. 4 Zum Phänomen der Prophetie in der griechischen Kultur vgl. Jan Nicolaas Bremmer, Art. „Prophet“,

in Der Neue Pauly, Band X, Stuttgart/Weimar 2001, 421f. 5 Eine anschauliche Beschreibung der Vorgänge, die mit der Befragung des Orakels verbunden waren,

findet sich bei Marion Giebel, Das Orakel von Delphi. Geschichte und Texte. Griechisch/deutsch (RUB 18122), Stuttgart 2001, 15–25.

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b. Der von Gott in die Pflicht genommene Prophet im Alten Testament Wie auch immer man sich die Tätigkeit der Propheten am griechischen Orakel vorzustellen hat – die Substantive prophḗt¯es und prophḗtis dienen im Griechischen auch noch dazu, ein ähnliches Phänomen vorderorientalischer Herkunft zu übersetzen. Spätestens ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. traten nämlich die Religionen und Kulturen des Vorderen Orients in den Gesichtskreis griechischer Denker, Politiker, Militärs und Kaufleute. Eine besondere Vermittlerrolle spielte dabei die von Alexander dem Großen an der Mündung des Nils gegründete und nach seinem Namen bezeichnete Stadt Alexandria, die bedeutende Forschungs- und Bildungseinrichtungen besaß. 6 Die Bevölkerung Alexandrias war gemischt und umfasste neben einer griechischen sowie einer ägyptischen auch eine größere jüdische Volksgruppe, die sich zunehmend der lingua franca, der hellenistischen griechischen Sprache, bediente. 7 Dies galt nicht nur für die alltägliche Kommunikation. Vielmehr wurden ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. in Alexandrien die wichtigsten überlieferten Schriften der jüdischen Gemeinschaft nach und nach ins Griechische übersetzt und verbreitet. 8 Diese später als ‚Sepuaginta‘ bezeichnete Sammlung von heiligen Schriften sollte die „Bibel“ der griechischsprachigen Juden sowie später der Christen im östlichen Mittelmeerraum werden. In diesen Schriften dienen nun die Substantive prophḗt¯es und prophḗtis dazu, das Phänomen der ‚Prophetie‘ im alten Israel zu bezeichnen. Mit aller Wahrscheinlichkeit wurde diese Terminologie gewählt, weil man Gemeinsamkeiten zwischen beiden Kulturen und eben beiden Arten von ‚Prophetie‘ zu erkennen glaubte. 9 Die Terminologie schien sich wohl am besten dazu zu eignen, das Bekannte im Unbekannten der Institutionen des Alten Israel zum Ausdruck zu bringen. Die wichtigste Gemeinsamkeit bestand sicherlich darin, dass der Prophet im alten Israel offenbar nicht in eigenem Namen auftrat, sondern als Vermittler und Deuter einer göttlichen Botschaft. Allerdings stand er dem griechischen mántis, dem ‚Seher‘, näher als dem griechischen prophḗt¯es. 10 Außerdem kennzeichnete ihn eine besondere Beziehung zu seinem göttlichen Auftraggeber, die anscheinend der griechischen Prophetie fremd war. Aus verschiedenen Texten geht nämlich hervor, dass der Prophet sich von Gott in die Pflicht genommen sieht. Darum kann er sich keinewegs seiner Aufgabe entziehen, eine Botschaft zu verkünden, die die

6 Vgl. Günther Hölbl, Geschichte des Ptolemäerreiches. Politik, Ideologie und religiöse Kultur von

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Alexander dem Großen bis zur römischen Eroberung, Darmstadt 1994, 64–66; Heinz-Günther Nesselrath, „Das Museion von Alexandria“, in Biblische Notizen 147 (2010), 67–82. Genaueres hierzu bei Jürgen K. Zangenberg, „Fragile Vielfalt. Beobachtungen zur Sozialgeschichte Alexandriens in hellenistisch-römischer Zeit“, in Biblische Notizen 147 (2010), 107–126, bes. 114. Grundinformationen hierzu bei Michael Tilly, Einführung in die Septuaginta, Darmstadt 2005, Kap. II. Vgl. Cécile Dogniez/Marguerite Harl, La Bible d’Alexandrie. Le Deutéronome: Traduction du texte grec de la Septante, Introduction et Notes, Paris 1992, 50. Vgl. Folker Siegert, Zwischen Hebräischer Bibel und Altem Testament. Eine Einführung in die Septuaginta, Münster 2001, 234 und 276.

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Adressaten nicht unbedingt beruhigt, sondern provoziert, ja schockiert, und er muss mit seiner Person für diese Botschaft einstehen. Die im christlichen Kontext als ‚Altes Testament‘ bezeichnete Sammlung der heiligen Schriften Israels kennt eine Vielzahl von Personen, die mit prophetischer Autorität auftreten. Die ihnen zugeschriebenen Texte sind jedoch nicht ausschließlich als die verschrifteten Formen der einzelnen göttlichen Botschaften zu verstehen. Das Alte Testament überliefert auch einige prophetische Texte, die Auskunft über das Selbstverständnis der Propheten geben. Diese Aussagen bieten also einen gewissen Einblick in die Vorstellung, die einzelne Propheten von ihrer Rolle und ihrer Sendung hatten. Bekannt sind etwa die sogenannten Konfessionen des Propheten Jeremia, in denen dieser mit seiner Prophetenrolle hadert und beklagt, dass seine Botschaft ihm nur Ablehnung und Spott einbringt (vgl. Jeremia 20,7–18). Gewiss sind derartige Informationen bruchstückhaft; denn wir wissen kaum etwas über die biographischen Hintergründe und manchmal noch weniger über die Zeitumstände. Dazu kommt, dass manche Aussagen offenbar mit keinem Wort Bezug auf ihr soziokulturelles Umfeld nehmen, ja erstaunlich kontextlos sind. Das musste ihrer Wirkung über die Jahrhunderte hinweg aber keinen Abbruch tun. Im Rahmen dieses Artikels soll ein prophetischer Text vorgestellt werden, Amos 3,3–8, der genau die angesprochene Thematik behandelt: die Pflicht des Propheten, die empfangene göttliche Botschaft zu verkünden. Der Text Amos 3,3–8 wird dem ältesten Propheten zugeschrieben, nach dem im Alten Testament ein prophetisches Buch benannt ist, und zwar dem Propheten Amos. Das Amosbuch findet sich in den meisten Bibelausgaben an dritter Stelle in der Sammlung der sogenannten Zwölf kleinen Propheten. Sofern die Aussagen des Buches Amos zeitgeschichtlich interpretiert werden, ordnet man sie – so lange Zeit die opinio communis – ins 8. Jahrhundert v. Chr. ein, und zwar ins sogenannte Nordreich Israel oder Samaria. 11 Damit wird der nördliche der beiden Teilstaaten bezeichnet, in die das davidische Königreich nach dem Tode von Davids Sohn und Nachfolger Salomo zerfallen war. Das Amosbuch umfasst insgesamt neun Kapitel, die sich im Wesentlichen in vier Abschnitte aufteilen: Unheilsworte gegen die Nachbarvölker sowie gegen Israel und Juda (Amos 1,2–2,16), Unheilsworte gegen das Nordreich Israel (Amos 3,1–6,14), Visionenzyklus (Amos 7,1–9,6), Heilsworte (Amos 9,7–15). Der Text Amos 3,3–8 steht gleichsam als Introduktion am Anfang des zweiten Buchteils. 12 Im Folgenden soll der Abschnitt zuerst unabhängig vom Kontext des Amosbuches interpretiert werden. In einem zweiten Interpretationsschritt werden andere Aussagen des Buches herangezogen, mit denen Amos 3,3–8 in Beziehung steht. Zuletzt gilt es, aus all diesen Texten einige Schlussfolgerungen für das Prophetenbild des Amosbuches zu ziehen.

11 Vgl. etwa Shalom M. Paul, Amos. A Commentary on the Book of Amos, Minneapolis 1991, 6. 12 Vgl. zur Funktion von Amos 3,3–8 im Aufbau des Amosbuches Georg Steins, Gericht und Vergebung.

Re-Visionen zum Amosbuch, Stuttgart 2010, 91.

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2. Eine Lektüre von Amos 3,3–8 Die folgende Arbeitsübersetzung versucht möglichst viele sprachliche Elemente des hebräischen Ausgangstextes im Deutschen nachzubilden. Dabei wird versucht, gleichartige hebräische Wörter konkordant wiederzugeben, jedoch um den Preis eines eleganten deutschen Sprachstils. 3 4a 4b 5a 5b 6a

‚Gehen etwa zwei [Menschen] miteinander, ohne dass sie sich abgesprochen haben? Brüllt etwa ein Löwe im Walde, wenn für ihn keine Beute da ist? Schreit etwa ein junger Löwe aus seiner Höhle, ohne dass er etwas gefangen hat? Stürzt etwa ein Vogel in die Klappfalle auf der Erde, wenn für ihn kein Köder da ist? Springt etwa eine Falle vom Erdboden auf, gefangen hat sie aber nichts? Ob man wohl die Posaune in einer Stadt bläst, aber das Volk wird nicht aufschrecken? 6b Ob wohl ein Unglück in der Stadt geschieht, aber der Herr hat es nicht getan ? 7 Denn Gott der Herr wird nichts tun , außer er hat (schon zuvor) seine Entscheidung seinen Dienern, den Propheten, geoffenbart. 8a Der Löwe hat gebrüllt – wer sollte sich nicht fürchten? 8b Gott der Herr hat gesprochen – wer sollte nicht prophetisch reden?‘ Der Text ist in hebräischer Sprache ohne besondere Textvarianten überliefert und weist kaum elementare Verständnisprobleme auf. Lediglich Vers 5 bedarf einer Erklärung. Was die dort angesprochenen Sachverhalte angeht, ist wohl folgender Vorgang gemeint: Der Vogel stürzt sich auf einen Köder, der Teil einer flach auf der Erde angebrachten Klappfalle ist. Sobald er den Köder berührt, springen die beiden Hälften der Falle auf und schließen den Vogel ein, der nun wehrlos seinem Jäger ausgeliefert ist. 13 Nun aber zur eigentlichen Auslegung des Textes: Zunächst ist festzustellen, dass der Abschnitt eine große stilistische Gestaltungskraft erkennen lässt. Lange Zeit wurde angenommen, dass der Text in der heute überlieferten Form vom Propheten mündlich vorgetragen worden war. 14 Denkbar ist aber auch, dass der Text zwar auf mündliche Verkündigung zurückgeht, seine heutige Gestalt aber erst das Ergebnis eines Redaktionsprozesses darstellt. 15 Amos oder seine Schüler hätten auf diese Weise den Text einem Publikum zugänglich gemacht, das die Aussagen des Propheten las und studierte. Aus welchen Kreisen sich diese Leserschaft zusammengesetzt hat, ist uns heute mangels literarischer Quellen unbekannt. Wenn im folgenden von ‚Adressaten‘ die Rede ist, sind

13 Vgl. hierzu Eberhard Bons, „Seltene Wörter in der Septuaginta des Amosbuches: ixeutḗs, scházomai,

therinós, perípteros“, in Wolfgang Kraus/Martin Karrer (Hgg.), Die Septuaginta – Texte, Theologien, Einflüsse (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 252), Tübingen 2010, 404–415, hier 406. 14 So etwa Hans Walther Wolff, Dodekapropheton 2: Joel und Amos, Neukirchen-Vluyn 31985, 222. 15 Für diese Hypothese plädiert zum Beispiel Jörg Jeremias, Der Prophet Amos, Göttingen 1995, 34.

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darum – mit heutiger Terminologie – die vom Propheten oder seinen Schülern intendierten Leser gemeint. Beginnen wir mit einer Reihe von elementaren Beobachtungen, die sich allmählich zu einem größeren Ganzen zusammenfügen: 1. Der Text setzt mit einer Serie von Fragen ein, insgesamt sieben, wovon die ersten fünf mit einer typischen hebräischen Fragepartikel eingeleitet sind, die mit dem französischen „est-ce que“ vergleichbar ist. Die beiden folgenden Fragen in V. 6 sind mit einer anderen hebräischen Fragepartikel eingeleitet, womit eine gewisse Zäsur markiert ist. 2. Die vier Fragesätze der Verse 4–5 weisen große inhaltliche und (im Deutschen nicht immer nachvollziehbare) formale Ähnlichkeiten auf. 16 Formal ist auffällig, dass die Fragen durch ein gleichartiges Vokabular sowie durch gleichartige syntaktische Konstruktionen miteinander eng verknüpft sind, die in der deutschen Übersetzung des Textes (s. o.) graphisch gekennzeichnet sind. Auf inhaltlicher Ebene haben die beiden Verse miteinander gemeinsam, dass sie von einem Vorgang aus dem Bereich der Tierwelt beziehungsweise der Jagd handeln: Löwe beziehungsweise Junglöwe brüllen, wenn sie eine Beute gefangen haben (Vers 4). Und in Vers 5 wird ein Vogel, der sich auf einen Köder stürzt, von der bereitliegenden Klappfalle eingeschlossen. Sie springt nur dann auf, wenn sie etwas gefangen hat. Diese Sachverhalte sind alle so selbstverständlich und alltäglich – zumindest für die zeitgenössischen Adressaten des Textes –, dass sie nicht in Frage gestellt werden können. Die Antwort dieser rhetorischen Fragen kann also nur ‚nein‘ lauten. Bemerkt sei noch, dass Vers 4 keine Beteiligung des Menschen impliziert. Vers 5 dagegen setzt voraus, dass es Menschen sind, die Köder und Fallen anbringen. Damit leiten die Fragen von Vers 5 über zu Vers 6a, der ebenfalls die Handlungen und Gefühle von Menschen zum Thema hat. 3. Kommen wir zu den Fragen und Aussagen der Verse 6 und 8. Dort finden sich ebenfalls vier Sätze, die wiederum auffällig parallel konstruiert sind: Dem Erschrecken in Vers 6a entspricht das Sich-Fürchten in Vers 8a. In Vers 6b ist vom Handeln Gottes die Rede, in Vers 8b von seinem Reden. Dennoch unterscheidet sich Vers 8 in auffälliger Weise von den vorhergehenden Fragen: Wie in Vers 6a tritt die Folge des Geschehens an das Ende der Frage. In den Versen 4–5 dagegen stand diese am Anfang der Frage, während der mit einer Negativpartikel formulierte zweite Teil jeweils von der Ursache sprach. 17 Außerdem verlangen die beiden Fragen von Vers 8 nicht die Antwort ‚nein‘, sondern ‚niemand‘, und das neu eingeführte Fragepronomen (‚wer?‘) findet sich jeweils erst in der zweiten Satzhälfte. 4. Was den Inhalt angeht, findet Vers 8a in gewisser Weise wieder zum Anfang zurück, besonders zu Vers 4, insofern als er das Motiv vom brüllenden Löwen aufgreift. Wie vor16 Vgl. auch Siegfried Mittmann, „Gestalt und Gehalt einer prophetischen Selbstrechtfertigung

(Am 3,3–8)“, in Theologische Quartalschrift 151 (1971), 134–145, hier 139. 17 Vgl. hierzu auch Hans Walther Wolff, Dodekapropheton 2, 221.

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hin konnten die implizierten (oder auch die wirklichen) Adressaten des Textes vermuten, der Prophet wünsche eine zustimmende Antwort auf eine belanglose, die Angesprochenen zu nichts verpflichtende Frage: Der Löwe brüllt – hat er wieder Beute gefangen? Mit dem Wort ‚fürchten‘ weist der Text aber in eine andere Richtung. Vers 8b bestätigt dies: Man kann sich geradezu ausrechnen, dass die Parallelisierung von brüllendem Löwen und Gott keine Belanglosigkeit bedeutet. Auch wenn Gott nur ‚spricht‘, also nicht ‚brüllt‘ (vgl. aber Amos 1,2), ist dies offenbar keine harmlose Aussage oder ein die Adressaten in Sicherheit wiegender Zuspruch. Die Parallelisierung von ‚brüllen‘ und ‚sprechen‘ legt vielmehr nahe, dass das Sprechen nichts anderes bedeutet als die Ankündigung des Unheils. Das prophetische Reden als Folge von Gottes Reden kann darum ebensowenig Heilsansage sein, sondern ist Unheilsansage. Wie etwa das Hinabstürzen des Vogels ein Phänomen ist, das die Adressaten leicht auf das Aufstellen einer Klappfalle zurückführen können, so sollen sie jetzt folgern, daß der Prophet Sprachrohr des wie ein Löwe brüllenden, unheilbringenden Gottes ist. 18 So wie sie aus den vorhin zitierten Sachverhalten der zuschlagenden Falle und des beutemachenden Löwen schließen können, dass sie ein Unglück bedeuten, so sollen sie das Phänomen des prophetischen Redens als Unglücksansage deuten. 19 5. Welche rhetorische Funktion haben also die Fragen, die der Schlussfrage vorausgehen? Wenn es dem Propheten nicht auf das Anzweifeln der skizzierten Sachverhalte ankommt, muss er mit diesen offenbar rhetorischen Fragen eine andere Absicht verfolgen. Wiewohl die Fragen für die Adressaten zunächst harmlos und unverbindlich klingen, scheinen sie, rückblickend betrachtet, jene mit Hilfe bestimmter anscheinend bewusst gewählter Stichworte und Motive auf das Unglücksthema vorzubereiten, das in den Versen 6b und 8 durchscheint. Nach Vers 4 gehören das Brüllen des Löwen und seine erfolgreiche Jagd zusammen. Steht nun Gott für den Löwen, bedeutet das, dass der Fang erfolgt, auf der Sachebene also das Unheil schon eingetreten ist oder wenigstens nahe bevorsteht. Trifft diese Interpretation zu, dann enthält Vers 5 mehr als eine Binsenweisheit: Die Unerbittlichkeit, mit der der Vogel von der zuspringenden Klappfalle eingeschlossen wird, wird zur Metapher für das unerbittlich einsetzende Unheil. Vers 6 bietet gleich zwei Stufen der Steigerung: Nachdem bisher von der Jagd des Löwen beziehungsweise des Menschen die Rede war, ist das Thema von Vers 6a die Warnung, die die Menschen in Schrecken versetzt: Bläst jemand die Posaune zum Alarm, ohne dass sich jemand fürchtet? Der Text wechselt also das Thema, ohne seinen Adressaten einen Hinweis zu geben, wie sie diesen Übergang begreifen sollen, verunsichert sie also bezüglich seiner Argumentationsziele. Aber auch der Inhalt der Warnung bleibt offen. Spielt der textinterne 18 Vgl. zu diesem Gedankengang Bernard Renaud, „Genèse et Théologie d’Amos 3,3–8“, in Mélan-

ges bibliques et orientaux en l’honneur de M. Henri Cazelles, Kevelaer/Neukirchen-Vluyn 1981, 353–372, hier 367. 19 Vgl. Adrian Schenker, „Steht der Prophet unter dem Zwang zu weissagen, oder steht Israel vor der Evidenz der Weisung Gottes in der Weissagung des Propheten? Zur Interpretation von Amos 3,3–8“, in Biblische Zeitschrift 30 (1986), 250–256, hier 255f.

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Autor vielleicht auf die Rolle des Propheten an, die darin besteht, vor dem Unheil zu warnen? Will er seine Adressaten auffordern, seine Botschaft mit derselben Selbstverständlichkeit ernstzunehmen, wie sie den vorhergehenden Fragen zustimmen können? 20 Zu Vers 6a wird keine Parallele mehr geliefert, vielmehr drängt der Text zum vorläufigen Höhepunkt in Vers 6b: Das Unglück, das in der Stadt geschieht, so wird den Adressaten suggeriert, hat letztlich Gott zum Urheber. Ohne sie explizit anzureden und ihren Glauben zu thematisieren, bringt der Text unvermittelt den Gedanken des von Gott bewirkten Unheils ins Spiel. Dass dies für seine Adressaten eine ganz andere Bedeutung hat als irgendeine alltägliche Erfahrungstatsache, liegt auf der Hand. Auf welches Unglück der Text sich aber bezieht, sagt er nicht. Doch liegt der Gedanke nahe, dass es bevorsteht, da ein Vergangenes genauer bezeichnet werden könnte. Gleichzeitig wird den Adressaten vermittelt, dass das Unglück von Gott bewirkt wird. Insofern beantwortet sich für letztere die Frage nach dem Sinn der scheinbar harmlosen Vorfragen: Genauso sicher, wie man in den vorher erwähnten Sachverhalten von der Wirkung auf die Ursache schließen kann, so ist das noch eintretende Unglück von Gott veranlasst. 21 6. Blicken wir auf die diskutierten Fragen zurück, dann lässt sich zusammenfassend feststellen, dass der Text sich hier einer Metaphorik bedient, die das drohende Unheil verklausuliert, und zwar zunächst in scheinbar harmlosen rhetorischen Fragen. Er stimmt die Zuhörer damit ein auf das, was er in V. 8 andeutet: Das vernichtende Handeln Gottes, dessen Künder der Prophet ist und das die Hörer buchstäblich erschaudern lässt. Die Fragen in den Versen 4–5 erhalten aus dieser Perspektive die Bedeutung, dass Israel es ist, für das die Klappfalle zuschlägt. Wir sehen also, dass der Text sich erst dann einigermaßen erschließt, wenn er nicht nur vorwärts, sondern auch rückwärts gelesen wird. 7. Wie ist das Verhältnis des Propheten zu Gott zu beschreiben und woher hat dieser sein Wissen? Hierauf sucht V. 7 eine Antwort: Nichts tut Gott, ohne zuvor seinen Knechten, den Propheten, seine Entscheidungen anzuvertrauen. Der Vers hebt sich von seiner Umgebung nicht nur durch seine ausdrückliche Behandlung der im Kontext offengebliebenen Fragen ab, sondern auch durch seine prosaartige Formulierung, die wie ein Fremdkörper innerhalb der durch ihre formale Gestaltung als zusammengehörig (s. o.) gekennzeichneten Sätze wirkt. Mit Vers 7 wird ferner kein anderer Satz parallelisiert, und von einem Zusammentreffen von zwei Phänomenen im Sinne von Ursache und Wirkung wie in den Versen 4–6 und 8 ist hier auch nichts erkennbar. Man hat vermutet, dass die Gottesvorstellung von Vers 7 von der in Vers 8 verschieden ist: Während dort der Prophet gleichsam wehrlos unter dem Anspruch Gottes steht, wird er nach Vers 7 in dessen Planen einbezogen. Möglicherweise spielt auch Vers 3, der bisher noch nicht behandelt wurde, auf 20 Vgl. zu dieser Argumentation Walther Eichrodt, „Die Vollmacht des Amos. Zu einer schwierigen

Stelle im Amosbuch“, in Herbert Donner [u.a.] (Hgg.), Beiträge zur alttestamentlichen Theologie. Festschrift für Walther Zimmerli zum 70. Geburtstag, Göttingen 1977, 124–131, hier 128f. 21 So Yehoschua Gitay, „A Study of Amos’s Art of Speech: A Rhetorical Analysis of Amos 3:1–15“, in Catholic Biblical Quarterly 42 (1980), 293–309, hier 298.

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die Rolle des Propheten an. In diesem Falle würde dieser an den Anfang des Abschnitts gestellte Satz auf die ‚Absprache‘ zwischen Gott und den Propheten hinweisen. 22 Die Frage ist aber, welches Gewicht man diesen angeblichen inhaltlichen Unterschieden beimisst. Vielleicht wird ja die Rolle des Propheten in dem Sinne verstanden, dass der Prophet der letzte Warner und Mahner ist, der beim Volk gleichsam die Alarmglocken schrillen lassen soll. Als solcher ist er in die Entscheidungen Gottes eingeweiht. Dies geht aus einem in Vers 7 gebrauchten mehrdeutigen hebräischen Substantiv hervor, sôd, das man mit ‚Entscheidung‘, aber auch mit ‚Rat‘ übersetzen kann. Möglicherweise ist hier eine Anspielung auf die Idee des himmlischen Thronrats (vgl. Jeremia 23,18–22) zu erkennen, an dem der Prophet gleichsam persönlich teilnimmt. Und aus diesem Grund weiß er von den Entscheidungen zu berichten, die Gott ihm enthüllt. 23 Insgesamt überlagern sich also in Amos 3,3–8 im Wesentlichen zwei verschiedene Sinnebenen: das Motiv des durch Gott gewirkten Unheils (Vers 6) und das der Beziehung zwischen Gott und dem Propheten (Verse 7–8).

3. Amos 3,3–8 im Kontext des Amosbuches Die Interpretation von Amos 3,3–8 gewinnt noch eine größere Tiefenschärfe, wenn man wenigstens vier weitere über das ganze Buch verteilte kurze Texte heranzieht, die alle vier auf ihre spezifische Weise auf die Rolle des Propheten eingehen. Im Rahmen dieses kurzen Artikels sollen nur die wichtigsten inhaltlichen Aspekte der betreffenden Passagen zur Sprache kommen.

a. Amos 2,4: Die Rivalität zwischen wahren und falschen Propheten Amos 2,4 formuliert wie folgt: ‚[. . .] weil sie das Gesetz des HERRN verworfen und seine Ordnungen nicht gehalten haben, und ihre Lügen sie verführten, denen ihre Väter nachgelaufen sind.‘ Die Angesprochenen sind die Einwohner Judas. Ihnen gegenüber bringt der Prophet zum Ausdruck, dass sie das Gesetz Gottes und seine Ordnungen empfangen haben. Aber sie haben sich von ‚Lügen‘ verführen lassen, ja schon ihre Väter (= ihre Vorfahren) waren ihnen hierin ein Vorbild. Das Wort ‚Lüge‘ ist im Hebräischen mehrfach eine Metonymie für falsche Propheten, also für solche Personen, die sich als

22 Vgl. Siegfried Mittmann, „Gestalt und Gehalt“, 136; Bernard Renaud, „Genèse et théologie“, 354f.,

357 f. Auch die neuesten wissenschaftlichen Kommentare des Amosbuches suchen noch die Hypothese zu begründen, dass wenigstens Vers 7 ein späterer erklärender Einschub sei, so Horacio SimianYofre, Amos. Nuova versione, introduzione e commento, Milano 2002, 68. 23 Zu dieser Auslegung vgl. Heinz-Dieter Neef, Gottes himmlischer Thronrat. Hintergrund und Bedeutung von sôd JHWH im Alten Testament, Stuttgart 1994, 43.

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wahre Propheten ausgeben, es aber nicht sind. 24 Damit wird schon zu Anfang des Buches ein Konflikt angesprochen, der mit der Prophetie unlöslich verbunden ist: Ein Prophet besitzt letztlich kein Beweismittel, wodurch er seine göttliche Sendung legitimiert. Und umgekehrt hat sein Publikum nie eine letzte Sicherheit darüber, ob die Botschaft eines Propheten zuverlässig ist oder ob er sich eine Rolle anmaßt.

b. Amos 2,11–12: Der mangelnde Gehorsam gegenüber den Propheten In diesem Abschnitt lässt der Prophet Gott selbst zu Wort kommen. Dieser zählt die Taten und Leistungen auf, mit denen er Israel in der Vergangenheit begleitet hat. Dort findet sich folgendes Zitat: ‚Und ich habe von euren Söhnen einige als Propheten auftreten lassen und einige von euren jungen Männern als Nasiräer. Ja, war es nicht so, ihr Söhne Israel? spricht der Herr. Aber ihr habt den Nasiräern Wein zu trinken gegeben, und den Propheten habt ihr befohlen: Ihr sollt nicht prophetisch reden!‘ Mit den Nasiräern sind Personen gemeint, die sich zum Alkoholverzicht (Numeri 6,3 f) verpflichtet hatten (vgl. Richter 13,5.7; 16,17). Der Prophet lässt die Frage mit einer Aufforderung zur Zustimmung enden: ‚Ist es nicht so, ihr Söhne Israels?‘ Die Zustimmung verlangt aber sogleich auch ein Eingeständnis: Die Nasiräer wurden zum Weingenuß überredet oder verführt und die Propheten zum Schweigen gebracht. „Satte Zeiten vermochten jene lebendigen Zeugen nicht zu ertragen, die durch ihr Verhalten an das bescheidene Leben in der Wüste erinnerten und zur völligen Hingabe an Jahwe gemahnten.“ 25 Und wie erging es den Propheten als Vermittler göttlicher Botschaften? Sie wurden offenbar mundtot gemacht. Anders als in Amos 2,4, wo den Einwohnern Judas vorgeworfen wird, sie hätten sich durch falsche Propheten beeinflussen lassen, ist in Amos 2,11–12 von den wahren Propheten die Rede. Ihre Mission scheitert aber, da ihnen kein Gehör geschenkt wird.

c. Amos 7,10–17: Der Konflikt mit dem Priester Amasja Dies ist einer der bekanntesten Texte des Buches Amos. 26 Er berichtet von einem Konflikt, der sich wohl im Bereich des Tempels zugetragen hat. Dabei muss man betonen, dass Tempel im Altertum in der Regel von Königen, Städten und dergleichen getragen 24 Diese Hypothese habe ich in einem früheren Artikel zu begründen versucht: Eberhard Bons, „Das

Denotat von kzbyhm ‚ihre Lügen‘ im Judaspruch Am 2,4–5“, in Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 108 (1996), 201–213. 25 Hans Walter Wolff, Dodekapropheton 2, 207. 26 Der Text wirft vielfältige biographische und (literar)historische Fragen auf, die hier nicht behandelt werden können. Zur allgemeinen Orientierung vgl. Jörg Jeremias, Der Prophet Amos, 106–108. Nach Ludwig Schmidt, „Die Amazja-Erzählung (Am 7,10–17) und der historische Amos“, in Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 119 (2007), 221–235, ist der Text „eine wichtige indirekte Quelle für den historischen Amos“ (234).

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wurden. Der Kult, der dort stattfand, war gewissermaßen Staatskult, das heißt vom Staat gefördert, und zwar mit dem Zweck, dass die Gottheit dem Staatsgebilde und dem Volk ihre Gunst erweisen sollte. Wegen seiner Botschaft erlebt Amos hier einen buchstäblichen ‚Platzverweis‘. Der Priester Amasja fordert ihn auf, das Land zu verlassen und in sein Heimatland zurückzukehren, möglicherweise ins Südreich Juda. Die Antwort des Amos ist bemerkenswert (Amos 7,14–15): ‚Da antwortete Amos und sagte zu Amasja: Ich bin kein Prophet und bin kein Prophetensohn, sondern ein Viehhirte und ein Maulbeerfeigenzüchter. Aber der Herr holte mich hinter dem Kleinvieh weg, und der Herr sprach zu mir: Geh, weissage meinem Volk Israel!‘ Amos weist also den Titel ‚Prophet‘ von sich, ebenso will er nichts mit einer Prophetenschule oder Prophetenvereinigung zu tun haben, möglicherweise also einer Art Prophetenzunft, die in staatlichen Diensten stand. Stattdessen hebt er hervor, dass er sein Auskommen aus seiner landwirtschaftlichen Tätigkeit beziehe und dass Gott ihn hinter seinem Vieh hervorgeholt habe, damit er prophetisch wirken solle. Somit unterstreicht Amos einerseits das Element der persönlichen Berufung, die unvermittelt in die eigene Existenz eingreift; andererseits betont er die dringende Notwendigkeit des prophetischen Wortes, das einmal mehr vom Verbot bedroht ist. „In der rückblickenden Perspektive des Textes heißt das: Das Gottesvolk wäre schon lange untergegangen, wenn es keine Propheten gehabt hätte.“ 27

d. Am 8,11–12: Das Ausbleiben der Gottesworte Im Zusammenhang einer Vision, die das Ende Israels ankündigt, finden sich folgende Aussagen: Siehe, Tage werden kommen, spricht Gott der Herr, da sende ich Hunger ins Land, nicht einen Hunger nach Brot und nicht einen Durst nach Wasser, sondern danach, die Worte des Herrn zu hören. Und sie werden wanken von Meer zu Meer und vom Norden bis zum Osten. Sie werden umherschweifen, um das Wort des Herrn zu suchen, aber werden es nicht finden.

Dieser Text bedarf keiner eingehenden Interpretation: In einer Vision kündigt der Prophet das Ausbleiben der Gottesworte an. Der Kreis schließt sich hier. Da die Propheten in der Vergangenheit nicht gehört worden sind, wie aus den vorhin zitierten Stellen hervorging, versagt Gott seinem Volk Israel jetzt jegliche weitere prophetische Offenbarung.

e. Amos 3,3–8 im Kontext des Amosbuches Die verschiedenen Aussagen des Amosbuches zur Rolle des Propheten sind keineswegs homogen – genausowenig wie das Buch selbst. Liest man sie aber im Zusammenhang, so hebt es sich einerseits von Vergangenheitsaussagen ab, andererseits von Zukunftsaussagen: In der Vergangenheit wurde das prophetische Wort nicht gehört, wodurch Israel sich

27 So Jörg Jeremias, Der Prophet Amos, 111.

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von Gott entfernt hat. In der Gegenwart, wie das Amosbuch sie konzipiert, ist es für Israel geradezu lebensnotwendig, das prophetische Wort zu hören und ihm Folge zu leisten. Da das prophetische Wort jedoch nach wie vor auf Unverständnis und Ablehnung stößt, wird Israel eines Tages ohne die prophetische Botschaft auskommen müssen – und gleichsam orientierungslos sein. Dass die Texte Amos 3,3–8 und 7,14–15 einander erhellen, liegt auf der Hand: Der Prophet wird von Gott in die Pflicht genommen, eine Botschaft zu verkünden. Was in Amos 3,3–8 in allgemeinen Worten ausgesagt wird, bezieht der Prophet in Amos 7,14–15 auf sich selbst. So wie der Prophet in Amos 3,8 dem göttlichen Wort nicht ausweichen kann und prophetisch reden muss, so geht der Prophet Amos in Amos 7,10–15 nicht dem Skandal aus dem Weg, dem Priester den Untergang und dem Volk das Exil vorauszusagen. Das Amosbuch enthält keine Nachricht darüber, wie der Konflikt mit dem Priester Amasja ausging. 28 Ob der Prophet für seine Treue zum Gotteswort Nachteile erleiden musste, wird nicht berichtet. Das Amosbuch selbst ist anscheinend zu wenig an den biographischen und historischen Fakten interessiert. Vielmehr scheint der Prophet selbst hinter der Botschaft des Buches zurückzutreten. Erst spätere legendarische Quellen wissen davon zu berichten, dass Amos für sein offenes Wort mit dem Leben bezahlen musste und vom Sohn Amasjas erschlagen wurde. 29 Und dennoch tritt im Amosbuch, das uns in die Zeit vor der Zerstörung Samarias (722v. Chr.) führt, ein Grundkonflikt zutage, der in anderen politischen Konstellationen mehrfach wieder aufbricht: Der Prophet ist Erfüller eines Auftrages, dem er sich nicht entziehen kann, und Verkünder eines Wortes, dessen Glaubwürdigkeit und Authentizität er letztlich nicht beweisen kann.

4. Schlussbemerkungen: Der Prophet als Autor In welchem Maße die Propheten selbst zur schriftlichen Fixierung ihrer Botschaften beigetragen haben und auf welche Weise aus mündlichen Prophetenworten schriftlich überlieferte Prophetenbücher entstanden sind, entzieht sich unserer Kenntnis. Diese Prozesse sind nur um den Preis vieler Hypothesen zu rekonstruieren, wiewohl sicher ist, dass auch im alten Israel schon sehr früh Texte, die eine größere Öffentlichkeit betrafen, schriftlich fixiert und überliefert wurden. 30 Diese komplexe Frage kann hier aber nicht vertieft werden. Wichtiger scheint an dieser Stelle eine andere Überlegung zu sein, die an den Anfang dieses Artikels zurückführt: Wenn der Prophet auctor seiner Botschaft sein soll, dann besitzt er eine geliehene auctoritas, denn er versteht sich als Beauftragter Gottes, der

28 Dies betont auch Jörg Jeremias, Das Buch Amos, 106. 29 Prophetarum vitae fabulosae 7,1; vgl. James Hamilton Charlesworth (Hg.), The Old Testament

Pseudepigrapha, Vol. 2, New York 1985, 391. 30 Vgl. u. a. Ina Willi-Plein, „Gesprochenes und geschriebenes Wort“, in Zeitschrift des Deutschen

Palästina-Vereins 117 (2001), 64–75, hier 67.

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ihn buchstäblich in Beschlag nimmt. Sofern er nicht ‚in eigener Sache‘ Stellung nimmt und seine Rolle legitimiert oder reflektiert, ist er Sachwalter eines fremden Wortes. Im Unterschied zum Plagiator unterwirft er dieses fremde Wort nicht sich selbst, sondern er unterwirft sich ihm mit seiner ganzen Person. Dass ein Autor eigene oder fremde Positionen wiedergeben und sie als solche kennzeichen kann, bedarf keiner Frage. Der Konflikt bricht aber dann auf, wenn der Prophet selbst als inventor, ‚Erfinder‘, der von ihm verkündeten Botschaft angesehen wird und wenn er vergeblich auf ihren göttlichen Ursprung verweist.

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Verkündigung und Erbauung Koranische Erzählungen über vorislamische Propheten

1. Prophetie im Koran Propheten, so erklärt der Koran, sind die Antwort Gottes darauf, dass die Menschheit ihre ursprüngliche Einheit verloren hat. Die Propheten steuern der Uneinigkeit unter den Menschen mit Verheißung und Ermahnung, und Gott gibt ihnen zu ihrer Mission jeweils eine Schrift „mit der Wahrheit“ an die Hand, die im Konflikt entscheidet. Der entsprechende Koranvers (Sure 2:213) ist am Anfang merkwürdig elliptisch gehalten: ‚Die Menschen waren eine Gemeinschaft, da sandte Gott die Propheten als Verkünder von froher Botschaft und als Warner.‘ Doch der Kontext macht deutlich, dass es die fortwährende Zersplitterung der Menschheit ist, welche Gottes jeweilige Kurskorrektur durch Entsendung eines Propheten notwendig macht – so lesen wir es bei den klassischen Koran-Exegeten wie auch in den meisten modernen Koran-Übersetzungen. 1 Muḥammad gilt als ‚Siegel‘ einer langen Reihe von Propheten, er selbst sieht sich in gleicher Mission wie sie, nämlich den Menschen, die immer wieder auf Irrwege geraten, den Glauben an den einen Gott und sein Gesetz zu verkünden. Die Namen der Vorgänger Muḥammads, die der Koran nennt, sind zum größeren Teil auch aus dem Alten und Neuen Testament bekannt, wenn auch nicht durchweg als Propheten; dazu gehören etwa (nach Sure 6:83–86) Noah, Abraham, Josef, Hiob, Mose, Aaron, David, Salomo, Jona, Johannes der Täufer und Jesus. Propheten gehören zu den ‚Auserwählten‘ Gottes, und ‚Wer Gott und dem Gesandten [nämlich Muḥammad, hier benannt mit einem Parallelbegriff zu ‚Prophet‘] gehorcht, wird [der-

1 Zum Beispiel Der Koran. Übersetzung von Rudi Paret, Stuttgart 112010, 32: „Die Menschen waren

(ursprünglich) eine einzige Gemeinschaft. Dann (nachdem sie uneins geworden waren) ließ Gott die Propheten als Verkünder froher Botschaft und als Warner auftreten. Und er sandte mit ihnen (jeweils) die Schrift mit der Wahrheit herab, um (dadurch) zwischen den Menschen über das, worüber sie uneins waren, zu entscheiden.“

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einst] zusammen mit den Propheten, den Wahrhaftigen, den Märtyrern und den Rechtschaffenen sein, denen Gott Gnade erwiesen hat. Welch gute Gefährten!‘ (Sure 4:69) Das Wissen, welches Propheten besitzen, verdanken sie den Offenbarungen Gottes; nur selten – etwa in der Mystik, in der Philosophie – können wir beobachten, dass sufische oder metaphysische Erkenntnis dem privilegierten Wissen der Propheten angenähert oder gleichgesetzt wird. Äußeres Zeichen für den besonderen Status des Propheten – wie auch gelegentlich des Mystikers – sind seine Zeichen und Wunder. 2

2. Prophetenerzählungen im Koran Ein großer Teil des Korans besteht aus Erzählungen über das Wirken früherer Propheten. Diese Erzählungen sind Teil des Diskurses zwischen Gott und Muḥammad: Gott beauftragt seinen Propheten, den er an die Araber entsandt hat, seinen Zuhörern die Erzählungen über seine Vorläufer vorzutragen, als Erinnerung an bekannte Erfahrungen früherer Völker, als Legitimierung für seinen jetzigen Auftrag und als Ermutigung für seine Herausforderung als Prophet. 3 Die Einbettung jüdischer und christlicher Traditionen in den Koran – vor allem wohl nach haggadischen Quellen und christlichen Legenden – hat schon früh das Interesse muslimischer Theologen geweckt, 4 und die europäische Islam-

2 Zum Verhältnis von Prophet und ‚Gesandtem‘, zur Legitimation des Propheten durch Offenbarung,

Schrift und Wunderzeichen und zu den koranischen und außerkoranischen Quellen vgl. Uri Rubin, „Prophets and prophethood“, in Jane Dammen McAuliffe (Hg.), Encyclopaedia of the Qur¯an, Bd. 4, Leiden/Boston 2004, 289–307; Tauf¯ıq Fahd, „Nubuwwa“, in Hamilton Alexander Rosskeen Gibb [u. a.] (Hgg.), The Encyclopaedia of Islam. New edition, Bd. 8, Leiden 1995, 93–97. Die Kategorien von Wunderzeichen islamischer ‚Heiliger‘ erörtert Richard Gramlich, Die Wunder der Freunde Gottes. Theologien und Erscheinungsformen des islamischen Heiligenwunders (Freiburger Islamstudien 11), Wiesbaden 1987. Für die frühislamische Entwicklung des Begriffs ‚Siegel der Propheten‘ von ‚Bestätigung‘ zu ‚Abschluss‘ vgl. Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam, Bd. 1, Berlin/New York 1991, 29 f. 3 Über Formen und Funktionen der erzählenden Teile des Korans vgl. Claude Gilliot, „Narratives“, in Encyclopaedia of the Qur¯an, Bd. 3, Leiden/Boston 2003, 516–528; den Begriff der ‚Prophetensukzession‘ und „die Erfahrungen der Vergangenheit“ als „Modell für das Verständnis der eigenen Gegenwart“ im Koran erörtert Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin 2010, 230–234. 4 Ignaz Goldziher, Muhammedanische Studien, Bd. 2, Halle 1889, 137 nennt einige Zeugnisse aus dem zweiten islamischen Jahrhundert, die die Anführung dieser Isr¯a¯ıliyy¯at genannten Erzählungen außerhalb des Korans kritisieren; vgl. auch Georges Vajda, „Isr¯a¯ıliyy¯at“, in Encyclopaedia of Islam, Bd. 3, Leiden 1971, 211f.; Roberto Tottoli, „Origin and use of the term isr¯a¯ıliyy¯at in Muslim literature“, in Arabica 46 (1999), 193–210. Eine bekannte Tradition, die dagegen empfiehlt: „Überliefert von den Söhnen Israels – nichts spricht dagegen“ untersucht Meir J. Kister, „Ḥaddith¯u an ban¯ı isr¯a¯ıla wa-l¯a ḥaraja. A study of an early tradition“, in Israel Oriental Studies 2 (1972), 215–239.

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wissenschaft hat sich mit diesem Aspekt seit dem 19. Jahrhundert beschäftigt. 5 Es sind im übrigen die narrativen Teile des Korans, welche neuzeitliche muslimische Koranexegeten dazu herausgefordert haben, deren Funktion für das Verständnis des Korans zu untersuchen: Im Jahre 1947 reichte der Ägypter Muḥammad Aḥmad Halafall¯ah (geboren vor 1916) an der Kairoer Fu¯ad-Universität eine Dissertation mit dem˘ Titel ‚Die Erzählkunst im edlen Koran‘ ein, die sich mit dem Problem des Stellenwerts der im Koran enthaltenen vorislamischen Erzählungen auseinandersetzt. Angesichts der historischen Kenntnisse über die vorislamische Zeit, die mittlerweile wissenschaftliches Gemeingut geworden waren, war der Anspruch der Historizität dieser Erzählungen nicht mehr zu halten. Halafall¯ahs Lösung liegt in der Einführung einer Unterscheidung zwischen ‚wört˘ ‚eigentlich von Gott beabsichtigter‘ Bedeutung des Textes; Gott hat in ‚künstlicher‘ und lerischer Freiheit‘ die Erzählungen so verfasst, dass sie die von ihm erwünschten religiösen Überzeugungen wie Furcht vor der Verdammnis oder gläubige Geduld hervorrufen. Dafür hat Gott seine Erzählungen an der Vorstellungswelt der unmittelbaren Empfänger von Muḥammads Botschaft orientiert, und Aufgabe heutiger Exegeten ist es, in Kenntnis der Umstände dieser Rezeption die Botschaft des Korans zu verstehen. Ähnliche Ansätze der Koranexegese hat es auch im klassischen Islam gegeben, aber sie sind auf breite Ablehnung gestoßen – ebenso wie Halafall¯ahs Dissertation keine Gnade vor der zuständigen Prüfungskommission fand. 6 ˘

3. Qiṣaṣ al-anbiy¯a Die koranischen Erzählungen über die vorislamischen Propheten waren natürlich zentraler Gegenstand der klassischen Korankommentare; daneben haben alle islamischen Verfasser klassischer Universalgeschichten für die Darstellung der vorislamischen Zeit jene koranischen Nachrichten herangezogen. 7 Auch der Ḥad¯ı, eine kanonische Kollek5 Beginnend mit Abraham Geiger, Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? Leipzig

1833, 21902; vgl. ferner Gustav Weil, Biblische Legenden der Muselmänner, aus arabischen Quellen zusammengetragen und mit jüdischen Sagen verglichen, Frankfurt a.M. 1845; Heinrich Speyer, Die biblischen Erzählungen im Qoran, Gräfenhainichen 1931; David Sidersky, Les origines des légendes musulmanes dans le Coran et dans les vies des prophètes, Paris 1933. Über die christliche Tradition der Prophetengeschichten handelt David Satran, Biblical prophets in Byzantine Palestine. Reassessing the Lives of the Prophets (Studia in Veteris Testamenti Pseudepigrapha 11), Leiden/New York/ Köln 1995. 6 Über frühere exegetische Ansätze dieser Art und die causa Halafall¯ah unterrichtet Rotraud Wielandt, Offenbarung und Geschichte im Denken moderner Muslime˘ (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Veröffentlichungen der Orientalischen Kommission 25), Wiesbaden 1971, 134–152. 7 Der bedeutendste Autor, welcher Koranexegese und Universalgeschichte in Personalunion behandelt, ist Muḥammad ibn Ǧar¯ır aṭ-Ṭabar¯ı (gest. 923) mit seinem Kommentarwerk Ǧ¯ami al-bay¯an f¯ı tafs¯ır al-Qur¯an, edd. A. S. Al¯ı/Muṣṭaf¯a as-Saqq¯a, 30 Bände, Kairo 1954–57, und seinem Geschichtswerk Tar¯ıh ar-rusul wa-l-mul¯uk, edd. Michael Jan de Goeje [u.a.], Series I–III, Leiden 1879–1901, engli˘

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tion von Aussprüchen und Handlungsweisen, die in einer Kette vertrauenswürdiger Überlieferer auf den Propheten Muḥammad zurückgeführt werden, supplementär zum Koran exemplarischen Wert besitzen und eine Quelle der Rechtsfindung darstellen, bezieht sich vielfältig auf die Erzählungen des Korans über die Propheten. 8 Neben Korankommentar, Weltgeschichte und Ḥad¯ı ist eine weitere literarische Gattung, die – diesmal monographisch – die Überlieferungen von den vorislamischen Propheten sammelt, die der Qiṣaṣ al-anbiy¯a, der ‚Erzählungen über die Propheten‘. Sie steht im Zentrum dieses Essays. Sie hat sich parallel zur islamischen Koranexegese entwickelt. Die ‚Erzählungen über die Propheten‘ gehen auf Fragen und Antworten der Koranexegese ein, sie versuchen, die oft disparaten, sogar widersprüchlichen Passagen im Koran, die sich auf die alten Propheten beziehen, in einen plausiblen und narrativen Zusammenhang zu bringen, und sie schmücken ihren Stoff mit Details aus, die teils arabisch-islamischen Quellen, teils jüdischen oder christlichen Traditionen entstammen, welche von dem entsprechenden Erzählgut des Korans verschieden sind. 9 Gleichzeitig mit dem literarischen Genre der qiṣaṣ al-anbiy¯a – vielleicht diesem bereits voraufgehend – kann man mit der Entstehung eines Berufsstandes des Erzählers frommer und unterhaltender Geschichten rechnen, die in den Moscheen und auf den großen Plätzen der Städte auftraten. Die professionelle Bandbreite dieser quṣṣ¯aṣ (sg. q¯aṣṣ) hat offenbar von durch die religiösen Autoritäten wohlgelittenen Predigern bis zu Scharlatanen gereicht. Ein Handbuch aus dem Bagdad des 12. Jahrhunderts über die ‚Erzähler und Mahner‘ enthält ein ausführliches Kapitel, das die Überlieferung dubioser Nachrichten, exaltiertes Vortragsverhalten und Anstiftung zu sittenwidrigen Reaktionen der Hörer tadelt. 10 Umgekehrt bezeugen Zensurmaßnahmen sche Übersetzung von Franz Rosenthal [u.a.] unter dem Titel The History of al-Ṭabar¯ı [. . .], 39 Bände und Index, Albany NY 1989–1998. Zu Letzterem vgl. Franz Rosenthal, „The influence of the Biblical tradition on Muslim historiography“, in Bernard Lewis/Peter Malcolm Holt (Hgg.), Historians of the Middle East, London/New York/Toronto 1962, 35–45. 8 Themen und Überlieferer des Ḥad¯ı sammelt Gautier H. A. Juynboll, Encyclopedia of Canonical Ḥad¯ıth, Leiden/Boston 2007. 9 Mark Lidzbarski, De propheticis, quae dicuntur, legendis Arabicis, Leipzig 1893; Tilman Nagel, Die Qiṣaṣ al-anbiy¯a. Ein Beitrag zur arabischen Literaturgeschichte (Diss. phil. Bonn), Bonn 1967; Tilman Nagel, „Ḳiṣaṣ al-Anbiy¯a“, The Encyclopaedia of Islam, Bd. 5, Leiden 1986, 180f.; Ján Pauliny, „Einige Bemerkungen zu den Werken ‚Qiṣaṣ al-anbiy¯a‘“, in Graecolatina et Orientalia 1 (1969), 111–123 (englische Übersetzung unter dem Titel „Some remarks on the Qiṣaṣ al-anbiy¯a works in Arabic literature“, in Andrew Rippin (Hg.), The Qur’an: Formative interpretation (The Formation of the Classical Islamic Worlds 25), Aldershot [u.a.] 1999, 313–326); Roberto Tottoli, Biblical prophets in the Qur¯an and Muslim literature, Richmond 2002 (Übersetzung von I profeti biblici nella tradizione islamica, Brescia 1999); Roberto Tottoli, „New sources and recent editions of Qiṣaṣ al-anbiy¯a works and literature“, in Raif Georges Khoury [u.a.] (Hgg.), Legendaria medievalia, en honor de Concepción Castillo Castillo, Córdoba 2011, 525–539. Einschlägige Editionen und Studien sind auch gesammelt unter http://www.hurqalya.pwp.blueyonder.co.uk (26. März 2013). 10 Ibn al-Jawz¯ı’s Kit¯ab al-Quṣṣ¯aṣ wal-mudhakkir¯ın, including a critical edition, annotated translation and introduction by Merlin Swartz (Recherches publiées sous la direction de l’Institut de Lettres Orientales de Beyrouth. Série I: Pensée arabe et musulmane 47), Beirut 1971; Charles Pellat, „Ḳ¯aṣṣ“, in The Encyclopaedia of Islam, Bd. 4, Leiden 1978, 733–35; Ignaz Goldziher, Muhammedanische Stu-

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wie diese die große Popularität, welche die quṣṣ¯aṣ besaßen, und mit ihnen die Popularität der Sammlungen von Erzählungen, die den Fundus für ihre Tätigkeit darstellten. 11

4. Die Jona-Geschichte im Koran Die Geschichte der Berufung des Jona zum Propheten gehört zu den zahlreichen ‚Erinnerungen‘, die den Propheten Muḥammad in seiner Berufung bestärken sollen. 12 Der Koran enthält zwar eine Sure mit dem Namen Jona-Sure (10, s¯urat Y¯unus), aber die Geschichte wird weder hier noch an anderen Stellen zusammenhängend erzählt, sondern es wird auf sie aus jeweils verschiedenen Perspektiven beziehungsweise mit verschiedenen Intentionen angespielt. Die folgende Analyse dieser Passagen hat die Aufgabe, die Funktion der Prophetengeschichten im Koran zu illustrieren, an eine den Zuhörern, seien sie Juden, Christen oder unmittelbare Landsleute Muḥammads, bekannte religiöse Tradition anzuknüpfen, sie fortzuführen und abzuschließen. Jona wird im Koran sechsmal erwähnt: Sure 4:163 nennt ihn, ausgehend von Abraham, zusammen mit anderen, als Empfänger einer göttlichen Botschaft. 6:85–86, zeichnet ihn aus, wiederum im Kreise einer großen Schar von Vorläufern und Nachfolgern, als ‚rechtgeleitet‘: ‚Wir haben sie erwählt und auf einen geraden Weg geführt‘ (87). 10:98 (die Jona-Sure) berichtet, dass nur das ‚Volk des Jona‘ von göttlicher Strafe verschont wurde, weil es reuig und gläubig war. 21:87–88, abermals als Glied einer Kette von Propheten, die Geduld und Gehorsam zeigten und von Gott Hilfe erfuhren, erscheint Jona, der sich zuerst Gottes Auftrag entzieht, dann seine Reue im Bauch des Fisches bekennt und darauf von Gott errettet wird. 37:139–148 bietet eine – allerdings gewissermaßen stichwortartige – Fassung der dien, Band 2, 161–70: „[. . .] ein anderer [Erzähler] wusste genau den Namen des Wolfes zu nennen, der den Josef gefressen, und als man ihm bedeutete, dass doch Josef gar nicht vom Wolfe gefressen wurde, wand er sich mit der Antwort aus der Verlegenheit: Nun, so wird denn jener Wolf so geheissen haben, der den Josef nicht gefressen hat“ (167 mit Anm. 2). Über den sozialen und politischen Kontext der quṣṣ¯aṣ handelt Jonathan P. Berkey, Popular preaching and religious authority in the medieval Islamic Near East, Seattle/London 2001. 11 Es sind neben den arabischen Fassungen der Qiṣaṣ al-anbiy¯a auch persische und türkische Bearbeitungen und Übersetzungen bekannt; vgl. Charles Ambros Storey, Persian literature. A bio-bibliographical survey. Band 1, Teil 1, London 1970, 158–72; Rachel Milstein/Karin Rührdanz/Barbara Schmitz, Stories of the prophets: Illustrated manuscripts of Qiṣaṣ al-Anbiy¯a, Costa Mesa CA 1998; Barbara Kellner-Heinkele, „Prophets, kings, and beasts. Some glimpses of the Qiṣaṣ al-anbiy¯a in Arabic and Middle Turkish versions“, in Matthias Kappler [u.a.] (Hgg.), Trans-Turkic Studies. Festschrift in honour of Marcel Erdal, Istanbul 2010, 329–51. 12 Bernát Heller/Andrew Rippin, „Y¯unus“, in The Encyclopaedia of Islam, Bd. 11, Leiden 2002, 347–349; Heribert Busse, „Jonah“, The Encyclopaedia of the Qur¯an, Bd. 3, 52–55; Peter Bachmann, „Das Skandalon des Propheten Y¯unus und eine neue arabische Jona-Geschichte: Y¯unus f¯ı baṭn al-ḥ¯ut, ˙ ar Mikk¯aw¯ı“, in J. M. Barral (Hg.), Orientalia Hispanica sive studia F[elix] M[aria] von Abd al-Gaff¯ Pareja octogenario dicata, Band 1, Leiden 1974, 54–76; Concepción Castillo Castillo, „Jonás en la leyenda musulmana“, in Al-Qanṭara 4 (1983), 89–100.

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biblischen Jona-Geschichte: Flucht vor Gottes Auftrag auf das Schiff, Sturz ins Meer aufgrund von Losentscheid, Aufenthalt im Bauch des Wals, Reue und Errettung, Aufenthalt am kahlen Ufer, geschützt durch einen Kürbisbaum, Entsendung zu ‚Hunderttausend oder mehr‘, die die Botschaft Jonas annehmen und für ihre Lebenszeit vom Strafgericht verschont bleiben. Sure 68:48–50 schließlich ermahnt Muḥammad, nicht dem Beispiel des Jona zu folgen, der sich Gottes Auftrag widersetzte und nach Bestrafung und Bittgebet Gottes Gnade erfuhr. All diese Passagen setzen klarerweise die Kenntnis der JonaGeschichte voraus. Ihr gemeinsamer Zweck ist es, Muḥammad und seine Zuhörer daran zu erinnern, dass die Geschichten über seine Vorgänger zwar verschieden sein mögen, ihr Muster und ihre Botschaft aber gleich sind, nämlich die Hörer der Botschaft, die Gott seinem Propheten Muḥammad zur Verkündigung aufgibt, zur Umkehr und zum Glauben aufzurufen. Bekanntlich hat nach muslimischer Überlieferung Gott seine Offenbarungen, deren Summe den Koran konstituiert, über einen längeren Zeitraum zu verschiedenen Anlässen an den Propheten Muḥammad gesandt. Die Suren selber sind traditionellerweise nach Muḥammads beiden hauptsächlichen Wirkungsstätten ‚mekkanisch‘ (bis zu seiner Hiǧra, seiner Auswanderung nach Medina im Jahre 622) und ‚medinensisch‘ (bis zu seinem Tod im Jahre 632) gekennzeichnet, und die Analyse der asb¯ab an-nuz¯ul, der ‚Anlässe des Herabstiegs‘, gehört zu den zentralen Disziplinen der Koranwissenschaft. Um das gegenseitige Verhältnis der vier hauptsächlichen Abschnitte, in denen der Koran auf die Jona-Geschichte anspielt, zu verstehen, ist es instruktiv, sich deren mutmaßliche zeitliche Reihenfolge klarzumachen und nach der spezifischen Intention eines jeden Abschnitts zu fragen. Nach orientalistischer 13 wie traditionell-islamischer Auffassung gehört der ausführlichste Abschnitt (37:139–148), der über Jonas Wirken berichtet, der sogenannten zweiten mekkanischen Periode an und steht in der Chronologie der auf Jona bezogenen Offenbarungen an erster Stelle. 14 Die Sure 37, S¯urat aṣ-Ṣ¯aff¯at, ‚Die Aufgereihten‘, zerfällt in drei große Teile: Einleitung (Gottes Einheit, Unzugänglichkeit des Himmels) und Eschatologisches (Verse 1–74), Prophetenlegenden (Noah, Abraham, Moses und Aaron, Elias, Lot, Jona, Verse 75–148) sowie Polemik gegen Ungläubige und Rechtfertigung der Gesandten (Verse 149–182). Verse 139–148, die sich der Jonageschichte widmen, lauten: 13 Theodor Nöldeke, Geschichte des Qor¯ans, bearbeitet von Friedrich Schwally. Drei Teile in einem

Band, 5. Nachdruck der 2. Auflage Leipzig 1909–38, Band 1, Hildesheim 2005, 123; Angelika Neuwirth, Studien zur Komposition der mekkanischen Suren (Studien zur Sprache, Geschichte und Kultur des islamischen Orients. Neue Folge 10), Berlin/New York 1981, 280f. Zur Lehre der ‚Anlässe des Herabstiegs‘ vgl. Hans-Thomas Tillschneider, Typen historisch-exegetischer Überlieferung. Formen, Funktionen und Genese des asb¯ab an-nuz¯ul-Materials (Mitteilungen zur Sozial- und Kulturgeschichte der islamischen Welt 30), Würzburg 2011. 14 Die folgende Analyse stützt sich auf Stefan Schreiner, „Muhammads Rezeption der biblischen JonaErzählung“, in Judaica 34 (1978), 149–172; Nachdruck in Stefan Schreiner, Die jüdische Bibel in islamischer Auslegung, hg. von Friedmann Eißler und Matthias Morgenstern (Texts and Studies in Medieval and Early Modern Judaism 27), Tübingen 2012, 173–195.

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‚(139) Auch Jona gehörte wahrlich zu den Gesandten. (140) Damals als er auf das vollbeladene Schiff floh, (141) Da loste er und gehörte zu den Verlierern. (142) Und der Fisch verschlang ihn, der zu tadeln war. (143) Hätte er nicht zu den Preisenden gehört, (144) Dann wäre er in seinem Bauch geblieben bis zum Tage, da sie auferstehen. (145) Da warfen wir ihn auf das kahle Land, und er war elend, (146) Und wir ließen einen Kürbisbaum über ihm wachsen. (147) Und wir entsandten ihn zu Hunderttausend oder mehr. (148) Da glaubten sie, und wir gaben ihnen Lebensgenuss für eine bestimmte Zeit.‘

Die oben genannten Stationen, welche Jona durchläuft, lassen sich im biblischen Jonabuch leicht nachweisen, wenn auch die Darstellung gegenüber diesem summarisch und gewissermaßen punktuell wirkt. Über Jonas Flucht lesen wir gleich zu Beginn (Jona 1,3), der Grund dafür wird in 4,2 nachgeliefert, während der koranische Bericht über das Motiv schweigt. 15 Auch die näheren Umstände des Losverfahrens werden hier nicht weiter ausgeführt. 16 Dafür wird die Bestrafung Jonas ausdrücklich mit seinem ‚tadelnswerten‘ Verhalten begründet (142). Der Psalm Jonas im Bauche des Wals (2,2–10) wird in einem einzigen Vers (143) zusammengefasst; die Korrelierung von Walbauch und Unterwelt ist sowohl im Jonabuch als auch im Bericht des Korans (144) angelegt. 17 Die Errettung Jonas (145), der schattenspendende Kürbisbaum (146), Jonas Entsendung an die Niniviter (147) und deren Bekehrung zum Glauben und – jedenfalls zeitweise – Schonung (148) sind gleichfalls feste Stationen in der Erzählung des Jonabuches. Allerdings unterscheidet sich die Reihenfolge der Ereignisse im Jonabuch von der des koranischen Berichts an einer entscheidenden Stelle: Ersteres schildert Jonas Wirken in Ninive im 3. Kapitel und seinen Aufenthalt im Schatten des Kürbisbaums (nebst anschließender Auseinandersetzung mit Gott) im 4. Kapitel; die Koranverse 145b–146 (Jonas Krankheit nach seiner Errettung, der Kürbisbaum) gehen seiner Warnpredigt in Ninive (147 f.) dagegen voraus. Diese Umkehrung der Reihenfolge der Ereignisse ist, so die überzeugende Analyse Schreiners, 18 Ausdruck verschiedener Fokussierungen im Jonabuch und im Koran: Für den biblischen Bericht ist Jona die Zentralgestalt, „anhand seines Ergehens und seines Verhaltens sollen dem Leser Einsichten vermittelt werden [. . .]. Daher mündet die Geschichte in eine Darstellung von Jonas Schicksal aus und gipfelt in der an ihn gerich15 Zum Verbum abaqa als terminus technicus für ‚Entlaufen eines Sklaven bzw. Dieners‘ vgl. Stefan

Schreiner, „Muhammads Rezeption“, 152 mit Anm. 20; Peter Bachmann, „Das Skandalon“, 55. 16 Über Parallelen mit dem Gedanken des „Losentscheids als eine[r] Art Gottesurteil“ im Talmud und

in der Koranexegese vgl. Stefan Schreiner, „Muhammads Rezeption“, 153. 17 Auch hier lassen sich Interpretamente aus der rabbinischen Literatur wie in Korankommentaren

anführen: Stefan Schreiner, „Muhammads Rezeption“, 153. – Ein Reflex auf die Gleichsetzung von Walbauch und Unterwelt findet sich in der Examinierung der Sklavin Tawaddud vor dem Kalifen H¯ar¯un ar-Raš¯ıd in Tausendundeiner Nacht: „Nun nenne mir ein Grab, das mit seinem Bewohner umherzog.“ „Der Walfisch des Jûnus ibn Mattai, als er ihn verschlungen hatte.“; vgl. Die Erzählungen aus den tausendundein Nächten. Vollständige deutsche Ausgabe in sechs Bänden [. . .], übertragen von Enno Littmann, Band 3, Wiesbaden 1953, 684f. Über die Tawaddud-Geschichte unterrichtet Ulrich Marzolph [u.a.] (Hgg.), The Arabian Nights Encyclopedia, Band 1, Santa Barbara, CA [u.a.] 2004, 408–410. 18 Stefan Schreiner, „Muhammads Rezeption“, 156.

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teten Frage 4,10–11.“ 19 Die koranische Erzählung zielt dagegen auf die Bewohner von Ninive ab, sie stehen im Fokus, und in der den Prophetenerzählungen eigentümlichen Transitivität soll Muḥammads Hörern verdeutlicht werden, dass denen, „die glauben“, das Strafgericht, jedenfalls im Diesseits, erspart bleibt. Die nächste Passage, Sure 21:87f., lautet wie folgt: ‚(87) Und der mit dem Fisch. Damals als er zornig weglief, da meinte er, dass wir keine Macht über ihn hätten. Da rief er in den Finsternissen: Es gibt keinen Gott außer dir. Gepriesen seist du! Siehe, ich war einer von den Frevlern. (88) Da erhörten wir ihn und erretteten ihn vom Kummer. So erretten wir die Gläubigen.‘

Die Sure ‚Die Propheten‘ lässt sich in drei Abschnitte gliedern, einen einleitenden (Vers 1–47), der die Nähe des Gerichts schildert und gegen Polytheisten und Engelsverehrer polemisiert, einen abschließenden (97–112), der ebenfalls Gerichtsdrohung, Verheißung und Zuspruch für Gottesfürchtige zum Thema hat, und einen Mittelteil, welcher über Bestrafung und Errettung einer Reihe von Propheten handelt: Mose und Aaron, Abraham, Noah, David und Salomo, Hiob und andere mehr, darunter Jona, Zacharias, Maria und ihr Sohn. 20 Die beiden Verse lesen sich wie Reminiszenzen an die eben vorgestellte Passage; sie setzen gewissermaßen deren Kenntnis voraus. Anders aber als eben sind es nicht die Adressaten des Propheten, die im Fokus stehen, sondern ist es der Prophet selbst. Sein Bekenntnis und seine Bitte führen zu seiner Rettung durch Gott. 21 Wiederum eine andere Perspektive prägt die dritte Jona-Passage 10:96–98. Sie lautet in meiner Übersetzung: ‚(96) Siehe, diejenigen, an denen sich das Wort deines Herrn bewahrheitet hat, glauben nicht, (97) Selbst wenn alle Zeichen zu ihnen kämen, bis sie die schmerzhafte Strafe gewahren. (98) Warum gab es denn keine Stadt, die glaubte und der ihr Glaube dann nützte, außer dem Volk des Jona? Als sie glaubten, hoben wir von ihnen die Strafe der Schande im Leben des Diesseits auf und gaben ihnen Lebensgenuss für eine bestimmte Zeit.‘

19 ‚Da sprach der Herr: Dich jammert des Rizinus, um den du doch keine Mühe gehabt und den du nicht

großgezogen hast, der in einer Nacht geworden und in einer Nacht verdorben ist. Und mich sollte der Stadt Ninive nicht jammern, in der über 120 000 Menschen sind, die zwischen rechts und links noch nicht unterscheiden können, dazu die Menge Vieh?‘ – Wir werden sehen, dass dies Frage-Motiv von den Autoren der Qiṣaṣ al-anbiy¯a mit Gusto variiert wird. 20 Vgl. Angelika Neuwirth, Studien, 271, sowie Index der behandelten Suren, 429, Nr. 21. 21 Stefan Schreiner, „Muhammads Rezeption“, 157–59 führt für den dreifachen Sinn der Finsternisse (im Bauch des Fisches, im Unglauben, in der Hölle) wiederum Parallelen aus der rabbinischen Literatur an; vgl. auch Heinrich Speyer, Die biblischen Erzählungen, 407f.; Josef Horovitz, Koranische Untersuchungen, Berlin/Leipzig 1926, 154f. Peter Bachmann, „Das Skandalon“, 58–62 diskutiert im Rekurs auf die islamische Koranexegese das „Skandalon“ der Widersetzlichkeit Jonas gegenüber Gott (und damit seiner Disqualifikation als „sündloser“ Prophet [arabisch iṣma]) sowie die Bemühungen der Exegeten, die Verbform lan naqdira „wir hätten keine Macht“ bzw. „wir würden unsere Macht nicht ausüben“, zu interpretieren. Vgl. auch die Harmonisierungsversuche in aṭ-Ṭabar¯ıs History, Band 4 (The ancient kingdoms, tr. Moshe Perlmann) 162f.

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Die spätmekkanische Jona-Sure 22 enthält nach ausführlichen Offenbarungsbestätigungen, polemischen Passagen gegen die Ungläubigen und Zuspruch an den Propheten (Verse 1– 70) drei Prophetenerzählungen (Noah, Mose und der Pharao, das Geschick des Volkes Israel) und in einem abschließenden Abschnitt Lehren aus der Geschichte, in denen an ‚das Volk des Jona‘ und seine privilegierte Rolle in der Geschichte der von einem Propheten gewarnten Städte erinnert wird; der Abschnitt endet mit allgemeinen Aufrufen zum Glaubensbekenntnis und zur Geduld. Die Jona-Passage knüpft offensichtlich an 37:139–48 an, die Formulierung am Ende von Vers 98 ist identisch mit 37:148. Ein zentraler Begriff dieser Passage ist das ‚Zeichen‘, arabisch a¯ ya. Mit diesem Begriff bezeichnet der Koran an vielen (an die 400) Stellen solche evidenten Phänomene, die die Menschen zum Glauben führen müssen, und denen sie sich doch verschließen – physische Zeichen, Ereignisse, die das Wirken eines Gesandten begleiten, Sprechakte eines Gesandten, Koranverse. 23 Im Kontext unserer Passage können wir feststellen, dass ‚alle Zeichen‘ sich sicherlich auf Naturphänomene beziehen können, dann aber vor allem auf Verlautbarungen, die von einem Gesandten rezitiert sind: Muḥammad verweist auf Jona, um an dessen Schicksal sein eigenes zu bestätigen. Umkehr (Vers 98b) bewirkt Gottes Gnade, umgekehrt bewirkt das rezitierte Wort Gottes noch nichts. Wie es scheint, ist diese JonaPassage auf die Zuhörer Muḥammads fokussiert, der „sich selbst durch dieses ‚Zeichen‘ in seiner (offenbaren) aktuellen Erfolglosigkeit getröstet und zugleich gemahnt sieht, in seiner Verkündigung nicht nachzulassen.“ 24 Die vierte und letzte hier vorzustellende Jona-Passage findet sich in Sure 68:48–50. Sie lautet: ‚(48) Also warte geduldig auf das Urteil deines Herrn! Und sei nicht wie der mit dem Fisch, damals als er rief, von Kummer gewürgt. (49) Hätte ihn nicht Gnade von seinem Herrn erreicht, wäre er in der Tat als ein Getadelter auf ein kahles Ufer geworfen worden. (50) Aber sein Herr erwählte ihn und machte ihn zu einem der Rechtschaffenen.‘

Sure 68, deren Kern im Allgemeinen in die Frühzeit der mekkanischen Periode datiert wird, 25 besteht aus einem Zuspruch an den Propheten und der Schmähung seiner Widersacher (1–16), einem Strafgleichnis an die Adresse der Ungläubigen (17–34) und einer Sequenz von polemischen Fragen an diese, der Voraussage ihres Scheiterns, einer Rede an den Gesandten über die Leugner und einem Aufruf zur Geduld, in dessen Kontext der Vergleich mit Jona steht (35–52). Hier steht Muḥammad im Mittelpunkt; an ihn richtet sich der Imperativ in Vers 48a. Am Verhalten Jonas, an welches erinnert wird, soll Muḥammad zugleich Warnung (48b) und Zuspruch (50) erkennen. Wie in der vorangegangenen Jona22 Zur Chronologie vgl. Theodor Nöldeke, Geschichte des Qor¯ans, 158, zur Gliederung Angelika Neu-

wirth, Studien, 294f. 23 Letzteres ist die zweite lexikalische Bedeutung von a¯ ya. Die vier Kategorien von ‚Zeichen‘ finden

sich in William Montgomery Watt, Bell’s Introduction to the Qur¯an, completely revised and enlarged (Islamic Surveys 8), Edinburgh 1970, 122. Vgl. auch Binyamin Abrahamov, „Signs“, in The Encyclopaedia of the Qur¯an, Bd. 5, Leiden/Boston 2006, 2–11. 24 Stefan Schreiner, „Muhammads Rezeption“, 163. 25 Theodor Nöldeke, Geschichte des Qor¯ans, 96 mit Anm. 6; Angelika Neuwirth, Studien, 211.

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Passage behält sich Gott die Erweisung seiner Gnade als eine freie Willensentscheidung vor. Die Analyse der vier Jona-Passagen hat erwiesen, dass sie alle von spezifischen Intentionen geprägt sind und dass in auffälliger Symmetrie verschiedene Hörer angesprochen sind, und zwar in der Reihenfolge des Auftretens die Bewohner von Ninive, Jona, Muḥammads Hörer und der Prophet selbst. Es wäre verfehlt, die Differenzen zwischen diesen Passagen gegeneinander aufzurechnen in dem Versuch, gewissermaßen ein synchronisches Gesamtbild des Korans zu entwerfen. Vielmehr zeigt sich, wie produktiv es für das Verständnis der islamischen Offenbarung ist, wenn wir das Konzept der ‚Ursachen des Herabstiegs‘ ernstnehmen und uns auf ein diachronisches, polyphones Verständnis des Korans einlassen.

5. "alab¯ıs ‚Erzählungen von den Propheten‘ Eines der frühesten Werke, das die koranischen und außerkoranischen Nachrichten über die vorislamischen Propheten sammelt und in die Form von Erzählungen bringt, ist das Buch über ‚Die bräutlich geschmückten Sitzungen: Erzählungen von den Propheten‘ des im ostiranischen Nischapur tätigen Korankommentators Ab¯u Isḥ¯aq Aḥmad ibn Muḥammad a-"alab¯ı, gest. 1035. 26 Sie markiert den Beginn des eigenständigen literarischen Genres der qiṣaṣ al-anbiy¯a; historiographische Ansprüche und Zitate aus dem Koran und dem Ḥad¯ı stehen nur am Rande. Die Sammlung beginnt mit einem ausführlichen Bericht über die Schöpfung der Welt, ihm folgen die umfangreichen Erzählungen über Adam, Abraham, Joseph und seine Brüder, Moses und Aaron, David, Salomon und Jesus. Kürzere Berichte gelten weiteren im Koran erwähnten Propheten wie Noah, Hiob, Šuayb, H¯ud, Ṣ¯aliḥ; auch die Alexandergeschichte und die Legenden um die Figur des Hiḍr 27 ˘ werden behandelt. Zu Beginn des letzten Kapitels über die Propheten und Gottesmänner 26 Qiṣaṣ al-anbiy¯a al-musamm¯a Ar¯ais al-maǧ¯alis, tal¯ıf [. . .] Aḥmad ibn Muḥammad ibn Ibr¯ah¯ım

an-N¯ıs¯ab¯ur¯ı al-mar¯uf bi--"alab¯ı, [. . .] ṣaḥḥaḥah¯u [. . .] Abdallaṭ¯ıf Ḥasan Abdarraḥm¯an, Beirut 1971, 32009. Englische Übersetzung: William Brinner, Ar¯ais al-maj¯alis f¯ı Qiṣaṣ al-anbiy¯a or „Lives of the Prophets“ [. . .] (Studies in Arabic Literature 24), Leiden/Boston/Köln 2002. Deutsche Übersetzung: Heribert Busse, Islamische Erzählungen von Propheten und Gottesmännern [. . .] (Diskurse der Arabistik 9), Wiesbaden 2006. – Für Vorgänger des Werks von "alab¯ı vgl. Raif Georges Khoury, Wahb b. Munabbih [. . .]. 2 Teile (Codices Arabici Antiqui 1), Wiesbaden 1972; Raif Georges Khoury, Les légendes prophétiques dans l’Islam. Depuis le Ier jusqu’au IIIe siècle de l’Hégire [. . .] (Codices Arabici Antiqui 3), Wiesbaden 1978. 27 Über Hiḍr handelt Patrick Franke, Begegnung mit Khidr. Quellenstudien zum Imaginären im traditionellen˘Islam (Beiruter Texte und Studien 79), Beirut 2000; zur Behandlung des Hiḍr-Stoffes in den ˘ qiṣaṣ al-anbiy¯a vgl. S. 40f. Es ist diese Figur, die im ersten Vers des einleitenden Gedichts Hegire des Goetheschen West-Östlichen Divans erscheint: [. . .] Unter Lieben, Trinken, Singen/Soll dich Chisers Quell verjüngen. Johann Wolfgang Goethe, West-Östlicher Divan. Neue, völlig revidierte Ausgabe, hg. von Hendrik Birus, Teilband 1, 12f., Kommentar in Teilband 2, 886f.

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zwischen Jesus und Muḥammad 28 wird die Geschichte des Jona erzählt, die ich im Folgenden stichwortartig referiere. Hier und da verweise ich auf Gemeinsamkeiten mit und Differenzen zu einer weiteren Sammlung von Propheten-Erzählungen, die etwa gleichzeitig mit "alab¯ıs Werk in Spanien entstanden ist: Ibn Muṭarrif aṭ-Ṭaraf¯ıs (gest. 1062) Qiṣaṣ al-anbiy¯a. 29 Ṭaraf¯ı verzichtet auf den Schöpfungsbericht und beginnt mit der ausführlichen Geschichte von Adam; dieser folgen die Geschichten von Idr¯ıs (Henoch), Noah, Abraham und Lot, darauf die der altarabischen Propheten Ṣ¯aliḥ, Šuayb und H¯ud. Recht ausführlich ist die folgende Jona-Geschichte; 30 anders als bei "alab¯ı werden vor dem vorletzten Jesus-Kapitel noch ‚alttestamentliche‘ Propheten wie David, Salomon, Hiob, Josef und Mose eingeschaltet. Wie bei "alab¯ı nehmen Ṭaraf¯ıs einzelne Kapitel ihren Ausgang von Koranversen, denen sich ausgewählte Kommentare anschließen, aus denen wiederum eine Handlung komponiert wird. Beiden Autoren ist gemeinsam das Interesse, die Propheten als ‚mahnendes Beispiel‘ zu porträtieren und mit ihren Geschichten den Leser zu erbauen. 31 "alab¯ı beginnt mit einer genealogischen Bemerkung: Es heißt, Matt¯a (Amitthai) sei der Name der Mutter von Jona, nicht des Vaters. Das würde ihn Jesus, ‚dem Sohn der Maria‘, an die Seite rücken. 32 Zitat des Ḥad¯ıs: ‚Niemand darf sagen: ‚Ich bin besser als Jona, der Sohn der Amitthai.‘‘ 33 Zitat der Koranverse 21:87 f. (Jonas Gebet aus der Finsternis) – Jona wird von Gott an das Volk von Ninive, das Götzenbilder verehrt, entsandt mit dem Auftrag, den einen Gott zu verkündigen. Jonas Rechtschaffenheit, seine Ungeselligkeit und sein Hang zu überstürztem Handeln, Gottes Ermahnung zu Geduld und Entschlossenheit. – Erörterung verschiedener Nachrichten über Jonas Widerspenstigkeit. – Referat verschiedener Nachrichten über Jonas erfolglose Mission und sein Hadern mit Gottes Entscheidung, die Bestrafung des Volkes von Ninive auszusetzen. Eine Überlieferung besagt, Jona habe gefürchtet, als Lügner von den Niniviten getötet zu werden. Chronologie der Ereignisse in Ninive, Prophezeiungen und Zeichen der Bestrafung, Umstände 28 Die weiteren Abschnitte behandeln die Legende von den Siebenschläfern, die sich schließlich zum

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Islam bekennen, den Märtyrer Georg, den Glaubenskämpfer Simson, die ‚Leute des Grabens‘ (Koran 85:4–7) und die ‚Leute des Elefanten‘ (Sure 105), deren Auftreten das Jahr markiert, in dem nach islamischer Tradition der Prophet Muḥammad geboren wird. Roberto Tottoli (Hg.), The Stories of the Prophets by Ibn Muṭarrif al-Ṭaraf¯ı (Islamkundliche Untersuchungen 253), Berlin 2003. Ebd. 63–70. Tilman Nagel, Die Qiṣaṣ al-anbiy¯a, 106, schätzt den Anteil der mahnenden und erbaulichen Passagen bei "alab¯ı allerdings noch deutlich höher ein als bei Ṭaraf¯ı. „Mahnendes Beispiel“ ist ein Echo auf den Koranvers 12:111 „Im Bericht über sie [die Gesandten] liegt wahrlich ein mahnendes Beispiel für die, die Verstand haben.“ Roberto Tottoli (Hg.), The Stories, 56 mit weiteren Belegen für diese Genealogie. Dazu Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft, Band 4, Berlin/New York 1997, 591 mit Anm. 3 und 4: „Wir können an einem Ḥad¯ı beobachten, wie man [. . .] den Gedanken lancierte, es nicht zu einem ranking [zwischen Muḥammad und seinen Vorgängern, H. B.] kommen zu lassen: Selbst Jonas, derjenige unter den Propheten also, der am wenigsten Glanz ausstrahlte, sollte nicht unter ihm stehen.“ Vgl. auch Gautier H. A. Juynboll, Encyclopedia of Canonical Ḥad¯ıth, 516.

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der Reue der Bewohner anhand des Koranverses 10:98 (Gottes Rücknahme des Strafgerichts) 34 – Jona im Bauch des Fisches: Auslegung des Verbums ‚vermögen‘ (qadara) in Vers 21:87 (‚Damals als er zornig weglief, da meinte er, dass wir keine Macht über ihn hätten‘). Nähere Umstände des Losverfahrens an Bord des Schiffs und der Verständigung Jonas mit der Außenwelt. Gottes Handeln ist ein Akt der Fürsorge, nicht der Bestrafung. Diskussion der Frage, ob das Gebet Jonas nur ihn betrifft oder auch für die Gemeinschaft der Muslime von Nutzen ist. Autoritative Antwort eines Gefährten des Propheten: Das Gebet ist verallgemeinerbar, denn es heißt im Koran (21:88): ‚Da erhörten wir ihn und erretteten ihn vom Kummer. So erretten wir die Gläubigen.‘ 35 – Rückkehr Jonas nach Ninive: Gott befiehlt dem Fisch nach Fürsprache der Engel, Jona an Land zu werfen. Verschiedene Angaben über die Anzahl der Tage im Bauch des Fisches. Kürbisbaum und Bergziege, die für Schatten und Milch sorgen. Jona trifft einen Schafhirten und trägt ihm auf, dem Volk von Ninive Kunde von ihm zu geben. Der junge Mann kehrt mit einem Begleiter zu Jona zurück, für den ‚dieser Ort, dieses Schaf und dieser Baum Zeugnis ablegen‘; der ursprünglich misstrauische König von Ninive überlässt dem jungen Mann seinen Thron; nach dessen vierzigjähriger Regentschaft kehrt Jona als Herrscher und Prophet nach Ninive zurück. Jonas Tränen über mutwillig zerschlagene Töpferware und Gottes Ermahnung, lieber des Verlusts von hunderttausend ‚und mehr‘ Seelen der Niniviten zu gedenken. Jonas Ankunft in Ninive in einer Silberkutsche und dann, auf Intervention Gabriels, zu Fuß, vierzig Tage Aufenthalt in der Stadt, anschließend Jonas Wanderschaft in Begleitung des Königs, während derer der junge Mann die Stadt regiert; Tod der beiden Wanderer. Wir sehen, dass "alab¯ıs Jona-Kapitel sich zwischen quasi statischer Erörterung, die sich aus Koranstellen und dem einen oder anderen Ḥad¯ı entwickelt, und ausführlichen narrativen Passagen bewegt. Ein Beispiel für erstere Darstellung ist ein angeblicher Ḥad¯ı des Propheten (der wiederum das Wort ‚zornig‘ in Sure 21:87 aufnimmt): ‚Der Gesandte Gottes hat gesagt: Jona, der Sohn Amitthais, war hastig und unbeständig. Als er die Lasten des Prophetenamtes tragen sollte, brach er unter ihnen zusammen wie ein junges Kamel unter einer schweren Last, deshalb ging er zornig weg. Die Gelehrten sind unterschiedlicher Meinung darüber, wie Jonas Zorn beschaffen und warum und zu welcher Zeit er zornig war. [Es folgen drei verschiedene Versionen, deren letzte lautet:] Šahr ibn Ḥaušab überliefert von Ibn Abb¯as: Gabriel kam zu Jona und sagte zu ihm: „Geh zu den Bewohnern von Niniveh und warne sie, daß Strafe über sie kommt, wenn sie nicht umkehren.“ Jona sagte: „Ich brauche ein Reittier.“ Er sagte: „Die Sache ist zu dringend dazu.“ Da war Jona zornig, ging ans Meer und bestieg ein Schiff, und es passierte die bekannte Geschichte.‘ 36

34 Vgl. recht ähnlich Ṭaraf¯ıs Schilderung in Roberto Tottoli (Hg.), The Stories, 64–66. 35 Heribert Busse, Islamische Erzählungen, 520 übersetzt irreführend: ‚So erretteten wir die Gläubi-

gen.‘ Vgl. Roberto Tottoli (Hg.), The Stories, 67; hieran schließen sich nach zusammenhängenden Erzählungen kürzere Abschnitte an, die sich einzelnen koranischen Passagen widmen. 36 Heribert Busse, Islamische Erzählungen, 516.

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Eine Variante dieser ‚statischen‘ Darstellungsform besteht in einer Umkehrung der Reihenfolge von Koranstelle/Ḥad¯ı und kurzer narrativer Passage – diese soll jene gewissermaßen kontextualisieren und mit Leben erfüllen. Ein Beispiel: ‚Als Jona ans Meer kam, waren da Leute, die auf einem Schiff fuhren. Sie ließen ihn ohne Bezahlung mitfahren. Als er aber auf das Schiff stieg, blieb es stehen und konnte nicht weiterfahren, während die Schiffe rechts und links vorbeifuhren. Da sagten die Seeleute: „Auf dem Schiff ist ein Sklave, der seinem Herrn entflohen ist.“ Es ist eine Regel, daß ein Schiff stehen bleibt, wenn sich auf ihm ein entflohener Sklave befindet. Da losten sie, und das Los fiel auf Jona. Er sagte: „Ich bin der entflohene Sklave.“ Da sagten sie: „Du wirst ins Wasser geworfen.“ Sie losten ein zweites und drittes Mal, und das Los fiel wieder auf Jona. Da stürzte er sich ins Wasser. Das ist Gottes Wort: „Da loste er und war (einer) von den Verlierern.“‘ 37

Die vorangehende Erzählung läuft auf den Koranvers zu, und dieser beglaubigt gleichsam rückwirkend die Erzählung. Wir erkennen schon an dieser Stelle wesentliche Elemente narrativer Technik: Die Schiffsszene wird konkretisiert (in späteren Erzählungen wird sie auch geographisch lokalisiert werden – wie übrigens bereits im biblischen Jonabuch), das Losverfahren wird – entsprechend einer eigentümlichen „Regel“ – rationalisiert und durch Dreimaligkeit und Jonas Bekenntnis und ‚Selbstjustiz‘ dramatisiert. Die andere Darstellungsform – ausführliche narrative Passagen – betreffen Jonas Aufenthalt im Bauch des Fisches, seine Rekonvaleszenz im Schatten des Kürbisbaums und seine Predigt in Ninive. Auffällig ist, wie aus meiner Zusammenfassung schon hervorgeht, die Chronologie der Ereignisse, welche sich zum Teil an die von Sure 37:139–148 hält (Auftrag zur Mission – Schiff – Fisch – Kürbispflanze – Ninive), andererseits die erfolglose Mission Jonas vorzieht, reich ausschmückt und den Elementen ‚Fisch‘ und ‚Kürbispflanze‘ eine ausführliche Rückkehr nach Ninive anfügt, die Jona, je nach Version, ein gutes Ende als Prophet, Stadtfürst oder Asket auf Wanderschaft verschafft.

6. Kis¯a¯ıs ‚Erzählungen von den Propheten‘ Vielleicht die bekannteste Sammlung von Propheten-Erzählungen ist die von einem Muḥammad ibn Abdall¯ah al-Kis¯a¯ı, dessen Identität freilich bis heute ungeklärt ist und dessen Werk dem 12. Jahrhundert zugerechnet wird. 38 Wie "alab¯ıs Werk beginnt Kis¯a¯ıs Qiṣaṣ al-anbiy¯a mit einer ausführlichen Schilderung der Erschaffung der Welt, des Para-

37 Ebd. 519; Sure 37:141. 38 Isaac Eisenberg (Hg.), Vita prophetarum auctore Muḥammed ben Abdall¯ah al-Kis¯a¯ı [. . .], Leiden

1922; englische Übersetzung: Wheeler M. Thackston, Jr., The Tales of the Prophets of al-Kisai (Library of Classical Arabic Literature 2), Boston 1978. Vgl. auch Tilman Nagel, Die Qiṣaṣ al-anbiy¯a, 122–149; Ján Pauliny, „Kis¯a¯ıs Werk Qiṣaṣ al-anbiy¯a“, in Graecolatina et Orientalia 2 (1970), 191–282; Ján Pauliny, „Literarischer Charakter des Werkes Kis¯a¯ıs Qiṣaṣ al-anbiy¯a“, in Graecolatina et Orientalia 3 (1971), 107–125.

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dieses und der Hölle, der Geschichte von Adam 39 und Eva (Kapitel 1–36) und schildert dann das Wirken der Propheten, darunter Noah (39–44), Abraham (50 f.), Jakob und Josef (55–58), Hiob, Šuayb, Moses und Aaron (61–70), Hiḍr (67), David und Salomon ˘ Personal von Kis¯a¯ıs Samm(74–84), Jona (85) und schließlich Jesus (86). Wenn auch das lung mit dem von "alab¯ıs Sammlung weitgehend übereinstimmt, so sind doch die Erzählungen ganz anders konzipiert. Der narrative Zusammenhang der Jona-Geschichte erlaubt es, sie im Präteritum zu referieren: 40 Nach dem Bericht von Kab al-Aḥb¯ar 41 war Jonas Vater, Matt¯a (Matthäus), ein frommer alter Mann in Jerusalem und ein Glied in der Kette der Propheten. Seine Frau Ṣadaqa und er hatten keine Kinder. In seinem 70. Lebensjahr, am Vorabend des Aschura-Festes 42, zeugte er mit ihr ein Kind. Kurz nachdem es auf die Welt gekommen war und den Namen Jona erhalten hatte, starb Matt¯a. Zeichen Gottes – eine über Nacht sich immer wieder mit Nahrung füllende Holzschale und Schafs- anstelle der ausbleibenden Muttermilch – sicherten das Überleben von Mutter und Kind. Vom siebten bis zum 25. Lebensjahr verbrachte Jona in der Obhut von ‚Asketen und Gottesdienern‘. Dann befahl ihm in einem Traumgesicht sein Vater, sich nach Ramla in Palästina zu begeben und bei Zacharias, dem Sohn von Johannes (und Vater Johannes des Täufers), um die Hand von dessen Tochter An¯aq anzuhalten. Jona traf Zacharias auf dem Markt als erfolgreichen, jovialen Gewürzhändler an; da er von dessen Prophetenstatus wusste, fragte er ihn, wie sein weltliches Gehabe sich mit seiner Prophetenwürde vertrage. Zacharias berichtete Jona, auch er habe in einem Traum die Ankündigung von dessen Ankunft und Vermählung mit seiner Tochter erhalten; im übrigen gehöre er zu den Kaufleuten, die rechtschaffen seien, ihr Gebet verrichteten, ihre Armensteuer bezahlten und ihre Fröhlichkeit dazu einsetzten, ‚die Herzen der Armen und Unglücklichen zu gewinnen‘. Nachdem Jona und An¯aq nach Jerusalem zurückgekehrt waren, erging Gottes Befehl an Jona, als Prophet in Ninive zu wirken, das von "alab ibn Š¯arid beherrscht wurde, unter dessen Tyrannei vor allem die Kinder Israels zu leiden hatten. Nach anfänglichem Sträuben gehorchte Jona. Bei der Überquerung des Tigris verlor er seine Familie und sein Hab und Gut; Gott erklärte ihm dieses Geschick als eine Maßnahme, die seiner Mission dienlich sei. Vierzig Tage lang verkündete Jona dem Volk von Ninive: „Bekennt, dass es keine Gottheit außer dem einen Gott gibt und dass ich sein Diener und Gesandter bin.“ Das Volk erklärte ihn für verrückt, darauf zog Gott ihn zurück und brachte ein Strafgericht über die Ungläubigen, die ausriefen: „Oh Gott Jonas, vergib uns, wir bereuen!“ Gott erhörte diese Bitte, und Jona rechtete mit ihm: „Sie haben 39 Vgl. dazu Cornelia Schöck, Adam im Islam. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Sunna (Islamkund-

liche Untersuchungen 168), Berlin 1993. 40 Wheeler M. Thackston, Jr., The Tales, 321–326. 41 Kab al-Aḥb¯ar gilt als der älteste Überlieferer jüdischen Legendengutes; seine Anführung als Auto-

rität durch Kis¯a¯ı scheint aber ganz arbiträr; vgl. Tilman Nagel, Die Qiṣaṣ al-anbiy¯a, 60, 147. 42 Dieser Festtag, entlehnt dem jüdischen Fasten- und Sühnetag (3. Mose 16,29), gilt im sunnitischen

Islam als historisch bedeutsam (Landung der Arche Noahs, Josefs Errettung aus dem Brunnen, Ende ¯ ur¯a“, in Encyder Leiden Hiobs usw.) und religiös verheißungsvoll; vgl. Arent Jan Wensinck, „Ash¯ clopaedia of Islam, Bd. 1, Leiden 1960, 705; W. M. Thackston, Jr., The Tales, 350, Anm. 90.

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mich zum Lügner erklärt, und du hast ihnen verziehen!“ Er begab sich dann auf ein Schiff, das gerade in See stach und bald in einen Sturm geriet. In einer Kombination von kollektivem Misstrauen gegenüber dem Einzelgänger und doppeltem Losverfahren wurde Jona von den Passagieren als Übeltäter bestimmt, ein Wal erschien und rief: „Jona, ich bin aus Indien gekommen, dich zu finden“, und Jona sprang in den Rachen des Wals, der ihn zum Mittelmeer trug und dann zum Korallenschloss. Die Dauer des Aufenthalts Jonas im Bauche des Wals wird diskutiert; manche sagen vierzig Tage, ein anderer Gewährsmann sagt drei. Gott befahl schließlich, dass der Wal Jona ausspeit und am Tigrisufer aussetzt. Ein Kürbisbaum mit vier Ästen wuchs über ihm, zu dessen Füßen tat sich eine Quelle auf, der Engel Gabriel regenerierte seine entkräfteten Glieder, eine Gazelle gab ihm Milch. Nach Jonas Wiederherstellung und während seiner Rückreise nach Ninive zeigte Gott an nicht weniger als vier Exempeln (Verlust des Kürbisbaums und der Gazelle, Zerstörung von Obstbäumen, Zerbrechen von irdenen Gefäßen, Vernichtung von Saatgut), dass Jona materiellen Dingen anhängt, statt auf das geistliche Wohl seines ihm anvertrauten Volkes zu achten. Nachdem Gott ihm, immer noch auf dem Rückweg, auf wundersame Weise seine Frau, seine beiden Söhne und sein Vermögen zurückerstattet hatte, nahm Jona sein Prophetenamt in Ninive wieder auf, ‚indem er dessen Volk anhielt, das Gute zu tun und das Schlechte zu lassen‘, bis er starb. Gegenüber den Jona-Kapiteln des "alab¯ı und des Ṭaraf¯ı fallen etliche Unterschiede in Kis¯a¯ıs Jona-Geschichte ins Auge: Der wichtigste liegt in der vollständigen Umformung des Materials zu einer zusammenhängenden Erzählung mit Anfang und Ende. Ein weiteres Charakteristikum ist die Ausstattung der agierenden Personen mit einer nachvollziehbaren psychischen Motivik. Ein Beispiel: Jona fragt den Kaufmann Zacharias, wie sich dessen Jovialität mit seinem Heiligen- bzw. Prophetenstatus verträgt. Zacharias antwortet: ‚Jonah [. . .], know that merchants are liars, except the merchant who takes only what is due and gives in return what is due, performs his prayers and pays his alms. I am of that kind. As for my merriment, it is to attract the hearts of the poor and unfortunate.‘ 43

Dieser Appell an fromme, bürgerliche Rechtschaffenheit – dessen Ton vom Diskurs der koranischen Jona-Passagen weit entfernt ist, aber auch mit "alab¯ıs und Ṭaraf¯ıs an der Erklärung der koranischen Passagen interessierten Darstellung kontrastiert – passt gut zu dem offensichtlichen Interesse des Erzählers an Familiärem: Jonas Eltern kommen zur Sprache ebenso wie die Umstände seiner Heirat mit An¯aq und ihrer beiden Söhne, die er verliert und auf wunderbare Weise wiederfindet. Im Anschluss an die Merkmale der ‚Verbürgerlichung‘ und ‚Familiarisierung‘ der Jona-Geschichte in Kis¯a¯ıs Darstellung sind schließlich einige ihrer erzählerischen Eigenheiten zu nennen. Schon Lidzbarski hatte bemerkt, dass Kis¯a¯ıs Publikum anders gefesselt sein wollte als die Leser von Korankommentaren und Antiquitätensammler. Während noch "alab¯ı darauf bedacht sei, „fidem rerum quas narrat“ zu erhalten, wolle Kis¯a¯ı 43 Wheeler M. Thackston, Jr., The Tales, 322.

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schlicht unterhalten: „Kisaius autem id videtur egisse, ut fabulas scribens lectores delectaret. Itaque ejus non multum interfuit, unde materiam narrandi sumeret, saepeque sua sponte more narratorum Arabum fabulas affinxit.“ 44 Auch Nagel erklärt den ganz anderen Ton der Geschichten von Kis¯a¯ı mit dem Wechsel der Adressaten: „[. . .] [S]ie [die quṣṣ¯aṣ] wollten oder mußten, sei es aus eigennützigen oder aus uneigennützigen Motiven, das gewöhnliche Volk auf den Gassen ansprechen.“ 45 Narrative Merkmale, welche die Erzählungen Kis¯a¯ıs und seiner Nachfolger auszeichnen, finden sich auch in anderen Formen volkstümlicher Erzählungen, etwa den – vor allem mündlich überlieferten – arabischen Volksepen 46 und den Märchensammlungen. 47 Ihnen allen ist gemeinsam eine eigentümliche Kombination von Improvisation und „formulaic phrasing“ (David Pinault), die sich für Kis¯a¯ıs Qiṣaṣ in deren vielfältiger handschriftlicher Überlieferung darstellt: „Wenn wir einige Handschriften des Werkes Kis¯a¯ıs Qiṣaṣ al-anbiy¯a vergleichen, stellen wir fest, dass, was den Wortlaut anbelangt, die Beschreibungspassagen von Handschrift zu Handschrift oft unterschiedlich sind.“ 48 Weitere erzählerische Techniken sind Dramatisierung, Ausschmückung, „Verlebendigung“, „Personalisierung“, Authentifizierung durch Namen, Mobilisierung von mirabilia und Reihung paralleler Erzählelemente. Das kompositorische Mittel der Reihung kommt in Kis¯a¯ıs Jona-Erzählung in der Serie des Verlusts und der Wiederfindung von Frau, Sohn 1 und Sohn 2 oder in den vier Episoden zur Illustration der Moral „Weine nicht um Materielles, sondern um das verlorene Seelenheil der dir Anvertrauten!“ zur Geltung. Mirabilia (wo ja die ‚originale‘ Jona-Geschichte schon wunderbar genug ist) sind etwa das Motiv der Abstammung Jonas von alten Eltern (eine Erinnerung an Abraham, Sara und Isaak) und Jonas Entdeckung seines verlorenen Vermögens im Bauch eines gekauften Fisches (eine Travestie seiner eigenen Geschichte). Für Authentifizierung durch Namengebung vergleiche man den tyrannischen König von Ninive, desweiteren die zahlreichen Beispiele für phantasievolle Namen, die Nagel ver-

44 Mark Lidzbarski, De propheticis legendis 21, zitiert in Ján Pauliny, „Literarischer Charakter“, 108. 45 Tilman Nagel, Die Qiṣaṣ al-anbiy¯a, 123. 46 Vgl. etwa Karel Petráček, „Volkstümliche Literatur“, in Helmut Gätje (Hg.), Grundriß der Arabi-

schen Philologie. Bd. 2: Literaturwissenschaft, Wiesbaden 1987, 228–241; Giovanni Canova, „s¯ıra literature“, in Julie Scott Meisami/Paul Starkey (Hgg.), Encyclopedia of Arabic Literature, Bd. 2, London/New York 1998, 726f. 47 Vgl. dazu z. B. Mia I. Gerhardt, The art of story-telling. A literary study of the Thousand and One Nights, Leiden 1963. Vgl. auch allgemein David Pinault, „story-telling“, in Julie Scott Meisami/Paul Starkey (Hgg.), Encyclopedia of Arabic Literature, Bd. 2, 735–737. 48 Ján Pauliny, „Literarischer Charakter“, 119; ders., „Kis¯a¯ıs Werk“, 223: „Die ganze Textverschiedenheit, die uns in den Abschriften Kis¯a¯ıs überrascht, geschieht im Rahmen der Normen der populären Überlieferungsart. Wir wollen damit sagen, dass jede Erweiterung oder Abkürzung einer gewissen Erzählung nur im Rahmen eines bestimmten erzählerischen Usus geschah, im Rahmen, wo die einfache narrative Art der Überlieferung nicht gestört wurde.“ Dazu gehört, was Nagel „Schematisierung“ nennt, insbesondere Übertragung von Elementen der Muḥammad-Biographie auf die Biographien seiner Vorläufer; vgl. Tilman Nagel, Die Qiṣaṣ al-anbiy¯a, 124–126.

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sammelt, 49 sowie Goldzihers Beobachtungen. 50 Bei allen Elementen des Wunderbaren und des Spielerischen, die die Erzählungen über die Propheten aufweisen, sollen diese doch auch ‚Realität‘ evozieren – zumindest auf dem Wege der einverständigen ‚suspension of disbelief‘ auf Seiten der Hörer. 51

7. Schluss Jona gilt im Koran als einer der kleineren Propheten. Doch gerade sein ‚Zorn‘ und seine Widersetzlichkeit gegenüber Gott haben ihn, wie wir gesehen haben, zu einer Figur werden lassen, die die Koranexegeten herausgefordert hat. Eine psychologische Erklärung verweist auf Jonas Habitus der Ungeduld, eine andere, theologische, Deutung lässt ihn mit Gottes Entscheidung, den Bewohnern von Ninive zu vergeben, hadern. Die Analyse der vier wesentlichen Perikopen, die die Auseinandersetzung Jonas mit Gott zum Inhalt haben, hat ergeben, dass sie exemplarisch das Verhältnis von Prophet und Volk behandeln, und zwar einmal in der Konstellation Jona und Niniviter und zum andern in der Konstellation Muḥammad und seine Hörer. Ein weiteres Ergebnis dieser Analyse besteht darin, dass die Unterschiedlichkeit der Intentionen, die diesen Passagen jeweils zugrundeliegen, für das Verständnis der koranischen Offenbarung konstitutiv ist: Es wäre verfehlt, durch Abgleichung der bloßen Information zu einem historischen ‚Kern‘ der Botschaft gelangen zu wollen; vielmehr gilt es, die Diachronie der Offenbarungen wahrzunehmen und ihre Polyvalenz auszuhalten. Daran ändert die Tatsache nichts, dass „Events related in the Qur¯an itself, are, however, considered ‚true‘ and sufficient to represent the past.“ 52 Dies zeigt sich in der Benutzung koranischer Berichte über die Propheten durch die islamische Historiographie und die Ḥad¯ı-Sammlungen. Eine ganz andere Verwendung jener Berichte findet sich in den ‚Erzählungen über die vorislamischen Propheten‘. In einer ersten Stufe war ihr Anschluss an die klassische Koranexegese noch erkennbar; Ausgangspunkt beziehungsweise Fluchtpunkt sind koranische Passagen, aber der Erklärungsmodus ist nicht mehr analytisch, sondern narrativ. In einer zweiten Stufe hat sich das narrative Element dann gewissermaßen verselbständigt. Entscheidend war hierfür der Wechsel der Adressaten: Nicht der lesende Korangelehrte oder Theologe war angesprochen, sondern eine – zumeist städtische – Öffentlichkeit, die

49 Tilman Nagel, Die Qiṣaṣ al-anbiy¯a, 126. 50 Vgl. oben Anm. 10. 51 Die dafür verwendeten Techniken in den Qiṣaṣ korrespondieren mit den Merkmalen, die Monika

Fludernik, Erzähltheorie. Eine Einführung, Darmstadt 22008, 67, für den englischen Roman des 18. Jahrhunderts namhaft macht: „[Es] entsteht im Roman [. . .] zunehmend eine schillernde Welt, die die Lesererfahrung ihrer eigenen (realen) Lebenswirklichkeit auf weite Strecken repliziert.“ 52 Angelika Neuwirth, „Myths and Legends in the Qur¯an“, in Encyclopaedia of the Qur¯an, Bd. 3, Leiden/Boston 2003, 477–497, hier 477.

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an frommer Erbauung und phantasievoller Unterhaltung interessiert war und dankbar für die Domestizierung des Heiligen. 53

53 Über Wallfahrtsstätten, die dem „Heiligen“ Jona gelten, handeln Rudolf Kriss/Hubert Kriss-Heinrich,

Volksglaube im Bereich des Islam. Band 1: Wallfahrtswesen und Heiligenverehrung, Wiesbaden 1960, 252 f., 278–281.

Christel Meier

nova verba prophetae Evaluation und Reproduktion der prophetischen Rede der Bibel im Mittelalter. Eine Skizze

I. Einleitung Im Binnenprolog seines allegorischen Epos Anticlaudianus wechselt der Autor Alan von Lille die Autorrolle: [. . .] totumque poetam Deponens, usurpo michi noua uerba prophete [. . .] Carminis huius ero calamus, non scriba uel actor, Es resonans, reticens scriptoris carta, canentis Fistula, sculptoris scalprum [. . .]. 1 Aus dem Dichter mit der Leier Apolls wird der Prophet, der nicht mehr Schreiber oder Autor, sondern nur noch Werkzeug eines höheren Schreibers oder Autors ist. 2 Mit dem Wechsel der Materien vom Irdischen zum Himmlischen vollzieht Alan den Wechsel der Autorschaftskonzeption und – in gewissem Grad – der Sprache des Werks. 3 Unter den zahlreichen Autortypen, die die mittelalterliche Schriftüberlieferung kennt und beschreibt oder sogar in Miniaturen malt, ist der Prophet ein besonders prominenter, aber auch komplizierter Fall. Autoren werden je nach ihren spezifischen Kompetenzen etwa als Dichter, Gelehrter, Ausleger, Exzerptor, Übersetzer, Lehrer, Sänger, Prediger

1 Alan von Lille, Anticlaudianus, hg. v. Robert Bossuat (Textes Philosophiques du Moyen Age 1), Paris

1955, 131, V 268–275. 2 Ebd. V 276–278 folgen entsprechende Bilder aus dem geistlichen Bereich: Spina rosam gestans,

calamus noua mella propinans, / Nox aliunde nitens, lucteum uas, nectare manans. 3 So ist z. B. das folgende Gebet, ebd. 131f., V 278–305, in neuplatonisch-christlicher Diktion formu-

liert.

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Christel Meier

und so auch Prophet bezeichnet. 4 Auctor/actor sind sie nicht gleichermaßen, wie Alans Unterscheidung zeigt; es bedarf in diesem Fall einer eigenständigen Autorität des Schreibens. Diese wird dem Propheten, der als Werkzeug oder Medium eines höheren Auftraggebers und Inspirators verstanden wird, abgesprochen. Doch zugleich wird seiner Rede eine starke Autorität zugemessen. 5 Der Prophet wird im Mittelalter durchaus nicht immer auf dieselbe Weise charakterisiert. Einige für das mittelalterliche Prophetentum und seine konzeptionelle Ausprägung kennzeichnende und wirkmächtige Figurationen sind im Folgenden vorzustellen. Folgt man der Prämisse, dass der Prophet eine besondere, das heißt himmlische oder jedenfalls nicht generell zugängliche, sondern der Einsicht in Verborgenes geschuldete Botschaft von einem Inspirator und Auftraggeber erhält, um sie an eine Rezipientengruppe weiter zu vermitteln, wird zugleich seine starke Bindung an den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext, an eine bestimmte Situativität seiner Autorschaft deutlich. Er erfüllt im Auftrag eine Rolle im sozialen Raum, der religiös, aber auch politisch besetzt sein kann. Für die Vorstellungen von Prophetie sind bis ins Hochmittelalter die Bibel und ihre patristische Auslegung maßgeblich. Das heißt, dass Prophetie als literarisches Genus nach den Büchern der vier großen und zwölf kleinen Propheten des Alten Testaments, dem Psalter oder nach der Johannes-Apokalypse des Neuen Testaments beurteilt wurde. Andersartige Prophetien wie die Revelationes des Pseudo-Methodius, der lateinisch im Westen seit dem 8. Jahrhundert bekannt war, oder die Sibyllinischen Bücher stellen nur begrenzt wirkende Seitenzweige prophetischer Literatur dar. Weitere Erläuterungen zum Phänomen Prophetie liefert ebenfalls die Bibel, sowohl für Personen (zu Moses, Nathan, Elias u. a. bis hin zu Johannes dem Täufer) wie auch für die Funktionen der Prophetie; vor

4 Bei der Fülle der Autorschaftsliteratur, die in der Diskussion um den Tod des Autors und seine Wie-

derkehr entstand, mag es hier ausreichen, auf den kurzen Überblick in der Einleitung (mit zahlreichen Forschungsarbeiten) des Bandes Christel Meier/Martina Wagner-Egelhaaf (Hgg.), Autorschaft. Ikonen – Stile – Institutionen, Berlin 2011, 9–27 hinzuweisen; selbst in den diversen Autorbildern werden die verschiedenen Typen und Funktionen deutlich (ebd. 14f.); ferner ebd. 29–39 Ulrich Berges, „Kollektive Autorschaft im Alten Testament“, und 213–230 Andreas Pietsch, „Hoeret myne Kinderen. Autorisierungsstrategien von prophetischen Autoren in der Radikalen Reformation“. 5 Zum jüdischen und christlich-mittelalterlichen Prophetentum im Überblick: Frank-Lothar Hossfeld/ Josef Ernst [u. a.], „Propheten, Prophetie“, in Lexikon für Theologie und Kirche 8, Freiburg [u.a.] 3 1999, 627–636; Wassilios Klein/Klaus Koch/Chana Safrai/Gerhard Dautzenberg/Konrad Stock/Folker Albrecht/Ingo Baldermann, „Propheten, Prophetie“, in Theologische Realenzyklopädie 27, Berlin/New York 1997, 473–517; Gian Luca Potestà/Matthias Laarmann, „Propheten, Prophetie“, in Lexikon des Mittelalters 7, Stuttgart/Weimar 1999, 252–256; Odil Hannes Steck, Die Prophetenbücher und ihr theologisches Zeugnis. Wege der Nachfrage und Fährten zur Antwort, Tübingen 1996; Christopher Forbes, Prophecy and Inspired Speech in Early Christianity and in its Hellenistic Environment, Tübingen 1995; David Edward Aune, Prophecy in Early Christianity and the Ancient Mediterranean World, Grand Rapids, MI, 1983; Joseph Verheyden/Korinna Zamfir/Tobias Nicklas (Hgg.), Prophets and Prophecy in Jewish and Early Christian Literature, Tübingen 2010. Vgl. auch unten Anm. 111.

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allem in den Briefen des Neuen Testaments finden sich zahlreiche Aussagen über Prophetie und Propheten, die in der Mehrzahl einen weiten Prophetiebegriff zugrunde legen und Prophetie als jederzeitliche Erscheinung, also nicht nur der Alten Zeit zugehörig begreifen. So richtet sich die Beschäftigung mit Prophetie am Übergang von der Spätantike (Cassiodor, Gregor der Große) bis zur Karolingerzeit (Pseudo-Dionys) an der Bibelexegese aus, erstellt Merkmalprofile über die prophetische Rede, gibt ihr eine Position in einer Konzeption philosophisch-theologischer Hermeneutik und legt damit die Basis für die prominenten Neuansätze des Hochmittelalters. Da der Autortyp ‚Prophet‘ in den Jahrhunderten des Mittelalters durchaus verschiedene Facetten hat und die Akzeptanz wie die geforderte Legitimation dieser Rolle ebenso wie die literarischen Formen seiner Selbstpräsentation und seiner Mitteilungen jeweils kontextadäquat modifiziert werden, sollen hier der Prozess der Bearbeitung und Evaluation der biblischen Prophetenbücher sowie ihre je zeitspezifischen Rekonstruktionen in einigen wesentlichen Stationen beschrieben werden.

II. Die literaturkritische Analyse alttestamentlicher Prophetenbücher 1. Cassiodors Psalmenkommentar Eine knappe, aber reichhaltige Charakterisierung des Prophetentums gibt Cassiodor in der Einleitung seines berühmten Psalmenkommentars, der im Mittelalter langanhaltende Autorität war und enorme Verbreitung fand. 6 David, der ‚Autor‘ des Psalters ist für ihn Prophet par excellence; denn David habe seine Psalmen durch himmlische Anhauchung (caelesti aspiratione) verfasst, was durch eine alttestamentliche und eine neutestamentliche Autorität untermauert wird (1. Reg. 16,13 und Matth. 22, 45), die beide vom Spiritus Domini als Inspirator Davids sprechen, 7 mit der Schlussfolgerung: ‚Also erkennen wir ganz klar, dass die Psalmen durch den Heiligen Geist als Prophetie hervorgebracht worden waren‘ (psalmos fuisse prophetatos). 8 Entsprechend definiert Cassiodor die Prophetie: Prophetia est aspiratio diuina quae euentus rerum aut per facta aut per dicta quorundam immobili ueritate pronuntiat. 9 (‚Die Prophetie ist eine göttliche Anhauchung, die den Ausgang der Dinge entweder durch Geschehnisse oder durch Worte gewisser Menschen mit unverrückbarer Wahrheit verkündet.‘) 6 Magnus Aurelius Cassiodorus, Expositio Psalmorum I–LXX, hg. v. Marcus Adriaen (Corpus Chris-

tianorum. Series Latina 97), Turnhout 1958, 7–9, Cap. I De prophetia. 7 Ebd. 7 (1. Reg. 16,13: Et directus est Spiritus Domini in Dauid a die illa; Matth. 22,45: Si Dauid in

Spiritu uocat eum Dominum, quomodo dicitis quod filius eius est). 8 Ebd.: Quo dicto recognoscimus euidenter per Spiritum sanctum psalmos fuisse prophetatos. 9 Ebd.

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Nach dieser definitorischen Feststellung mit der Öffnung von Prophetie auf Geschehen und Worte sowie deren Anspruch unverrückbarer Wahrheit folgen noch fünf weitere Punkte der Bestimmung von Prophetie, die hier kurz zu referieren und zu erörtern sind. Doch zuvor hebt Cassiodor in direktem Anschluss an die Definition ein Merkmal der Prophetie hervor, das in alttestamentlicher Prophetie nicht hervortritt und allen Formen einer Straf-Prophetie widerspricht, dafür aber in mittelalterlichem Prophetieverständnis Nachfolge findet. Mit Origenes wird Prophetie bestimmt als eine ‚süße Rede himmlischer Lehre, die die Waben und den süßen Honig göttlicher Reden zusammenbringt‘, und zur Bekräftigung wird David selbst mit dem 118. Psalm zitiert: ‚Wie süß sind meinem Gaumen deine Reden, über Honig und Waben meinem Mund.‘ 10 Ein zweiter Punkt beschreibt die vielen verschiedenen Weisen (multis modis), in denen die Gaben jener Gnade gewährt werden – eine kleine Auswahl der Erscheinungsweisen mit biblischen Beispielen zielt auf erstens menschliche Handlungen, wie Noes Arche(bau), Abrahams Opfer, den Durchzug durchs Rote Meer, also in der typologischen Exegese des Alten Testaments ganz geläufige Geschichten. Ferner werden verhandelt – das Geburtsverhältnis (natiuitates) der Zwillinge Esau und Jakob als Hinweis auf die futurarum rerum sacramenta; – die Engelerscheinungen bei Abraham, Loth, Zacharias und Maria, – die Visionen, etwa des Isaias, Ezechiel als der alttestamentlichen Hauptvisionäre und der übrigen heiligen Männer, – die Träume, etwa Salomons oder Daniels, – Wolke und Stimme vom Himmel, wie sie Moses leiteten. 11 Über diesen Formen der Prophetie steht jedoch – so das Fazit – die Geistinspiration, wie sie für David in Anspruch genommen wird. Im dritten Punkt wird die zeitliche Dimension der Prophetie festgelegt. Sie ist keineswegs nur Zukunftsvoraussage, sondern betrifft alle drei Zeiten; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden in ihr ganz selbstverständlich verhandelt, eine Bestimmung, die offenbar schon in Cassiodors Zeit gegen Missverständnisse gerichtet war: Sciendum 10 Ebd.: De qua [prophetia] bene quidam dixit: ‚Prophetia est suauis dictio caelestis doctrinae fauos

et dulcia diuini eloquii mella componens.‘ Unde ipse Dauid in centesimo octauo decimo psalmo dicturus est: ‚Quam dulcia faucibus meis eloquia tua, super mel et fauum ori meo.‘ Vgl. Origenes/ Rufinus, Homiliae in Iudices, hg. v. Wilhelm Adolf Baehrens (Griechische christliche Schriftsteller 30), Leipzig 1921, 464–522, hier 493 (5,2): ‚Debbora‘ apis interpretatur sive loquela. Sed iam et in superioribus diximus quod Debbora in prophetiae forma accipienda sit, quae est apis. Certum namque est quod omnis prophetia suaves coelestis doctrinae favos et dulcia divini eloquii mella componat. Unde et David canebat dicens: ‚quam dulcia faucibus meis eloquia tua, super mel et favum ori meo.‘ Et iterum alibi dicit ‚iudicia Dei pretiosa esse super aurum et lapidem pretiosum nimis et dulciora super mel et favum.‘ 11 Cassiodorus, Expositio Psalmorum, 7: per operationes, per natiuitates, per angelos, per uisiones, per somnia, per nubem et uocem de caelo. In der Nachfolge Cassiodors unterscheidet Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive originum libri XX, hg. v. Wallace Martin Lindsay, Oxford 1911 [u.ö.], VII 8, 33–36, sieben Arten der Prophetie.

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est sane quod omnis prophetia aut de praeterito aut de praesenti aut de futuro tempore loquatur aut agat aliquid. 12 Diese nachdrückliche Feststellung erreicht über Gregor den Großen (s. unten) als wichtige Begriffs- und Anwendungsprämisse das Mittelalter und wird ernst genommen sowie praktisch angewandt. 13 Der wichtigste Unterschied zu traditionelleren Vorstellungen von der Prophetie liegt – viertens – in der Ausweitung der Prophetie über die Zeitenmitte der Inkarnation des Gottessohnes hinaus auf ihre Jederzeitlichkeit, das heißt auf ihre ununterbrochene Präsenz vom Alten Bund durch die Neue Zeit bis zum Weltende, sowie, damit verbunden, in der Konzentration auf den prophetischen Text und auf die Fähigkeit des Verstehens und der Auslegung göttlicher Schriften: Quibus data est facultas bene intellegendi uel interpretandi scripturas diuinas, a munere prophetiae non uidentur excepti, was untermauert wird mit dem Paulus-Zitat: ‚Der Geist der Propheten ist den Propheten unterworfen.‘ 14 Die Funktionen des Propheten werden mit 1. Cor. 14,32 benannt als Erbauung (aedificatio), Ermahnung (exhortatio), Tröstung (consolatio), ihre öffentliche Wirkung ist, kurz gesagt: Qui prophetat ecclesiam aedificat. 15 Die spezifische Texthaftigkeit prophetischer Rede wird – fünftens – eigens hervorgehoben: Est autem prophetia magnificum nimis et ueriloquum dicendi genus, non humana uoluntate compositum, sed diuina inspiratione profusum. 16 (‚Die Prophetie aber ist eine außerordentlich hochstehende und wahrhaftige Redeweise, die nicht durch den Willen des Menschen formuliert, sondern durch göttliche Inspiration hervorgebracht wird.‘) Sechstens, wird für die prophetische Inspiration – gleichsam im Vorgriff auf die Existenzform des Mystikers – ein Wechsel von Präsenz und Absenz des göttlichen Geistes beim Propheten, ein Erfülltsein und ein Verlassensein in einer eigenen Passage erläutert, mit der Berufung auf Hieronymus und verschiedene Schriftzitate. Die gnadenhafte und

12 Cassiodorus, Expositio Psalmorum, 7; dazu s. die Zeugnisse vor Cassiodor, insbesondere in den

Ps.-Clementinen: bei Nikolaus Staubach in diesem Band. 13 Die genaue Anwendung demonstriert z.B. das prophetisch-visionäre Werk Hildegards von Bingen;

dazu s. unten. 14 Cassiodorus, Expositio Psalmorum, 9; 1. Cor. 14,32: Spiritus prophetarum prophetis subiectus est. 15 1. Cor. 14,3 f. 16 Cassiodorus, Expositio Psalmorum, 8f. Anhand des hohen Sitzes der Prophetin Debora (die die

Prophetie bedeutet) erklärt Origenes das Hochstehende der prophetischen Rede: Origenes/Rufinus, „Homiliae in Iudices“, 493 (zu Iud. 4,5): Sed et illud consideremus, ubi ‚residere‘ dicitur prophetia et ubi locus eius esse describitur [. . .]. ‚Sub palma‘ sedem habet prophetia, quia ‚iustus‘ inquit David ‚sicut palma florebit‘, per hoc, quod suis institutionibus eruditum prophetia perducit ‚ad palmam supernae vocationis Dei, in Christo Iesu Domino nostro‘ [. . .]. Videte, in quibus locis ‚residere‘ dicitur ‚prophetia‘, inter excelsa et domum Dei. Nihil enim humile, nihil deiectum, nihil vile erga prophetiae sedem repperiri potest [. . .]. Non enim nos docet [prophetia], ‚quae super terram sunt, quaerere, sed quae in coelis sunt et in excelsis, ubi Christus est in dextra Dei sedens‘; illuc nos prophetia hortatur adscendere, illuc discipulos suos molitur imponere. – Zu den Worten der Propheten als den schönen Perlen, die aus dem Tau des Himmels entstehen, Origenes und weitere Exegeten: Friedrich Ohly, Die Perle des Wortes. Zur Geschichte eines Bildes für Dichtung, Frankfurt a.M./ Leipzig 2001, 61–63.

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als Süße wahrgenommene Präsenz der Geisterfülltheit ist deshalb nicht von Dauer, sondern wird von Zeiten der Absenz unterbrochen, weil der Mensch und so auch der Prophet durch die Schwachheit der Körperlichkeit und durch Sünde affiziert ist. 17 Deshalb – das ist nach Cassiodor sorgfältig zu beachten – redet der Prophet bald als eigene menschliche Person, bald als göttliche Instanz, als inspiriertes Sprachrohr Gottes: . . . aliqua quidem Dominus locutus est et non prophetae, et aliqua prophetae et non Dominus. Wendungen aus den Paulus-Briefen, wie ‚Das schreibe ich vor, nicht der Herr‘ (1. Cor. 7,10) oder ‚Was ich sage, sage ich nicht von Gott‘ (2. Cor. 11,17), bekräftigen das; allein bei Jesus – so der Taufbericht (Joh. 1,33) – blieb Gottes Geist konstant, da er ohne Sünde war. 18

2. Gregors des Großen Ezechiel-Homilien: eine implizite Poetik der Prophetie Seine 21 vollständigen Predigten zu einem der vier großen alttestamentlichen Propheten, Ezechiel, gab Gregor der Große 601, acht Jahre, nachdem er sie in der Lateranbasilika gehalten hatte, unter Benutzung der Aufzeichnungen seiner Notare in zwei Büchern heraus; diese enthalten die Kommentierung von Ez. 1–4,3 (Buch I) und Ez. 40 (Buch II). Eine durchgehende Erklärung war Gregor, wie er selbst sagt, wegen der kirchlich und politisch schwierigen Situation zu dieser Zeit nicht möglich. 19 Diese in vielen Handschriften überlieferten Homilien 20 sind aus zwei Gründen für das Prophetieverständnis des Mittelalters von fundamentaler Bedeutung: Zum einen stellt Gregor in der ersten Predigt der eigentlichen Interpretation des Bibeltexts einen theoretischen Teil über ‚Prophetie‘ voran; nach diesen expliziten Erläuterungen bildet zum andern die folgende Exegese eine Art impliziter Poetik prophetischer Rede, die zur Analyse prophetischer Schriften und neuer imitierender Anwendung gleichermaßen geeignet war. Mit ihren theoretischen Reflexionen über die Prophetie greift die Homilie I zwar auf Cassiodors Überlegungen zurück, führt sie aber in anderen Richtungen fort. So wird aus Cassiodors kurzem Satz über die drei Zeiten der Prophetie der Hauptpunkt der Erörterung Gregors, wie er eingangs schon ankündigt: ‚Zuerst muss ich die Zeiten [tempora]

17 Cassiodorus, Expositio Psalmorum, 8: Animaduertendum est quoque Spiritum sanctum sic fuisse

prophetis sanctissimis attributum, ut tamen ad tempus pro infirmitate carnis et contrarietate peccati ab ipsis offensus abscederet et iterum placatus sub opportunitate temporis adueniret. 18 Ebd. 8. 19 Gregorius Magnus, Homiliae in Hiezechielem prophetam, hg. v. Marcus Adriaen (Corpus Christianorum. Series Latina 142), Turnhout 1971, V (Praefatio des Editors); ebd. 3, im Widmungsbrief an den Bischof Marinianus: Homilias, quae in beatum Hiezechielem prophetam, ita ut coram populo loquebar, exceptae sunt, multis curis irruentibus in abolitione reliqueram. Sed post annos octo, petentibus fratribus, notariorum schedas requirere studui, easque fauente Domino transcurrens, in quantum ab angustiis tribulationum licuit, emendaui. 20 Ebd. IX–XXI zu den Handschriften (die Liste ist nicht vollständig).

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und Weisen [modi] der Prophetie offenlegen, damit, wenn ein Zugang zu ihr gezeigt wird, ihre Leistung [uirtus] besser verstanden wird.‘ 21 Drei bekannte biblische Beispiele belegen die Reichweite der Prophetie in die drei Zeiten hinein: Für die Prophetie der Vergangenheit steht Gen. 1,1: ‚Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde‘; die Zukunftsprophetie illustriert die ‚Voraussage‘ von Jesu Geburt Is. 7,14: ‚Sieh, die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären‘, und die Gegenwartsprophetie wird an 1. Cor. 14,24 f. erläutert, wo prophezeien meint, die Herzensgeheimnisse (occulta cordis) aufzudecken. 22 Nur anscheinend – so Gregor – widerspricht dem die Etymologie von ‚Pro-phetie‘, denn nicht die Vorhersage des Zukünftigen, sondern das Vorzeigen (prodere) des Verborgenen sei ihre Aufgabe: [. . .] animaduertendum est quod recte prophetia dicitur, non quia praedicit uentura, sed quia prodit occulta. 23 Nach dieser grundsätzlichen Festlegung des Kompetenzbereichs von Prophetie, die Gregor nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich und in anderer Beziehung fassen will, entwickelt er den Gedanken der Konkordanz der prophetischen Zeiten im engeren Sinn. Insbesondere die Konzinnität von Zukünftigem und Vergangenem wird mit biblischen Beispielen erläutert, während Prophetie der Gegenwart ihren Wahrheitsbeweis in der Aufdeckung des Verborgenen selbst enthalte. 24 Wenn Gregor danach zu den modi und qualitates der Prophetie übergeht, bleibt die Zeitenbetrachtung über einen großen Abschnitt insofern dominant, als er alle Möglichkeiten des Zeitenbezugs der Prophetie [modi] durchspielt und biblisch belegt, und zwar in mehreren differenten Punkten jeweiliger Beschränkung prophetischer Einsicht: Aliquando enim spiritus prophetiae ex praesenti tangit animum prophetantis et ex futuro nequaquam tangit, aliquando ex futuro tangit et ex praesenti non tangit. Aliquando uero ex praesenti et ex futuro tangit, aliquando autem ex praeterito et ex praesenti, atque ex futuro pariter animus tangitur prophetantis. Aliquando tangit ex praeterito prophetiae spiritus nec tangit ex futuro, aliquando autem tangit ex futuro, aliquando autem tangit ex futuro nec tangit ex praeterito. Aliquando uero in futuro ex parte tangit et ex parte non tangit. 25

Das Entsprechende führt Gregor für die räumliche Beziehung der Prophetie aus, das heißt für räumlich Nahes und Fernes, 26 ehe er mit Cassiodor feststellt, dass der Geist der Prophetie den Propheten nicht konstant zur Verfügung ist, sondern sie erfüllt und auch zeitweise wieder verlässt, damit die Gabe der Prophetie ihnen als Gnadengabe bewusst

21 Ebd. 5: [. . .] prius debeo tempora et modos aperire prophetiae, ut dum accessus eius ostenditur,

uirtus melius cognoscatur. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Ebd. 6 f., beginnend: Sciendum quoque est quia prophetiae tempora inuicem sibi concinunt ad pro-

bationem, ut aliquando ex futuris praeterita, aliquando uero ex praeteritis probentur futura etc. 25 Ebd. 7; fortgesetzt werden diese prophetischen Zeiten-Verbindungen ebd. 7–11. 26 Ebd. 11: Sciendum quoque est quod prophetae quidam e proximo tanguntur atque e longinquo minime

tanguntur, alii uero e longinquo et non tanguntur e proximo etc.

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bleibt. 27 Wenn sie das selbst nicht deutlich wahrnehmen, kommt es eventuell zu falschen Prophetien, aus menschlicher Begrenztheit. Doch echte Propheten merken das in erneuter Inspiration und korrigieren sich, während falsche Propheten in ihrem Irrtum verharren. 28 Ein letzter Abschnitt der ersten Predigt bedenkt die Funktion der Prophetie und beschreibt sie als Tröstung und Erbarmen in Zeiten göttlichen Zorns und notwendiger Strafen, als göttliches Angebot zur Rettung durch eigene Auserwählte. 29 Mit einer schon aus der antiken Literatur bekannten Segel-Metapher leitet er zur praktischen Exegese der folgenden Predigten über: Bisher habe es sich um eine Schiffsübung im Hafen gehandelt, nun aber seien die Segel zur Fahrt auf das unermessliche Meer der Geheimnisse der Prophetie zu setzen. 30 Bereits der erste Satz der zweiten Predigt signalisiert für den Leser, dass Gregor anhand des konkreten Ezechiel-Textes auch auf eine generellere Analyse prophetischer Literarizität zielt: ‚Gewöhnliches Verfahren [usus] prophetischer Rede ist es, dass sie zuerst Person, Zeit und Ort beschreibt, und erst danach die Geheimnisse der Prophetie mitzuteilen beginnt, um zum verlässlicheren Erweis der Wahrheit zuvor die Wurzel der Geschichte festzulegen und dann die Früchte des Geistes durch Zeichen und Allegorien hervorzutreiben.‘ 31 Eine ganz entsprechende Aussage eröffnet auch das zweite Buch der Homilien. 32 In der nun folgenden weithin allegorischen Erklärung des Ezechiel-Textes, die hier nicht nachgezeichnet werden kann, findet sich eine Reihe von bedeutsamen allgemeineren Hinweisen Gregors, wie prophetische Rede oder Schrift aussieht, mit welchen Mitteln sie arbeitet. Dafür seien hier einige Beispiele genannt, insbesondere solche, die auf hochmittelalterliche neue prophetische Schriften nachweislich prägend gewirkt haben. Neben den Angaben über Zeit und Ort der Entstehung der Prophetie sowie dem Namen des Propheten, Informationen, die als Beglaubigungen zu verstehen sind, gibt es zur prophetischen Autorschaft weitere charakteristische Merkmale. In der prophetischen Rede 27 Ebd. 12: Aliquando uero prophetiae spiritus prophetis deest, nec semper eorum mentibus praesto

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est, quatenus cum hunc non habent, se hunc agnoscant ex dono habere cum habent; es folgen die biblischen Beispiele ebd. 12–14. Ebd. 13 f., hier 14: Qua de re inter prophetas ueros ac falsos ista distantia est, quia prophetae ueri si quid aliquando per suum spiritum dicunt, hoc ab auditorum mentibus per Sanctum Spiritum eruditi citius corrigunt. Prophetae autem falsi et falsa denuntiant, et alieni a Sancto Spiritu in sua falsitate perdurant. Ebd. 14 f. Ebd. 15 f.: Haec in sola praefatione colloquentes, nauigii nostri quasi intra portum exercitium fecimus, ut ad indaganda prophetiae mysteria, uelut in immensitatem pelagi, post uela pandamus; es folgt die Berufung auf die Gewissheit der eigenen Inspiration des Exegeten für diese Aufgabe. Ebd. 17: Usus propheticae locutionis est ut prius personam, tempus locumque describat, et postmodum dicere mysteria prophetiae incipiat, quatenus ad ueritatem solidius ostendendam, ante historiae radicem figat, et post fructus spiritus per signa et allegorias proferat. Ebd. 207: Dicturus mystica, narrationem historicam praemittit, ut figat ex tempore, quod credatur in reuelatione. Notandum uero quod in exordio libri huius quo anno prophetare coeperit indicauit, in fine uero inseruit, quo extremam uisionem uidit, ita ut cognosci ualeat in quot annis prophetiae suae librum dixerit.

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– so Gregor – sprechen zwei Autoren, die auch als ‚ich‘ und ‚er‘, als der Prophet selbst und sein Inspirator (über ihm), erscheinen können: ‚Was bedeutet es also, dass die prophetische Rede so wechselt, dass bald der Prophet über sich spricht, bald aber über ihn gleichsam ein anderer zu sprechen scheint? Man muss jedoch wissen, dass diejenigen, die mit prophetischem Geist erfüllt werden, dadurch dass sie manchmal offen über sich sprechen und manchmal so die Worte wie von anderen über sich wählen, anzeigen, dass nicht der Prophet, sondern der Heilige Geist durch den Propheten spricht. Soweit die Rede nämlich über sie selbst geführt wird, sprechen sie selbst über sich und, soweit sie in der Inspiration durch den Heiligen Geist sprechen, spricht eben dieser Heilige Geist durch sie über sie [. . .]. In der prophetischen Rede ist also einer da, der die Führung hat, und ein anderer, der gehorcht, nämlich wenn der Prophet über sich selbst spricht, hat er die Rolle des Gehorchenden inne, wenn aber durch den Propheten der Heilige Geist über den Propheten spricht, wird die Erhabenheit dessen gezeigt, der die Führung hat.‘ 33 Mit einigen biblischen Beispielen wird diese grundsätzliche Doppelautorschaft der prophetischen Rede illustriert. Über die Person des Propheten stellen weitere Aussagen Ansprüche an sein Alter und an seine Demutshaltung. Ezechiel gibt sein Alter von dreißig Jahren an als Beginn des Visionsempfangs; Gregor deutet dies als ‚vollkommenes Alter‘ (aetas perfecta), das auch für die Lehre zu fordern sei; denn das schwache Alter (aetas infirma) tauge für diese Aufgabe nicht 34 – ebenso wenig nach Hieronymus für das Priesteramt – 35: Propheta igitur, ut ostendatur cuius auctoritatis sit in praedicatione, aetatis solidae esse describitur [. . .]. 36 Der spirituelle Bezug dieses Alters verweist auf Jesu Taufe und Predigtbeginn im selben Alter. 37 Der geforderten Festigkeit des Alters steht das notwendige Bewusstsein des

33 Ebd. 21 f.: Quid ergo est hoc quod sic uariatur sermo propheticus, ut modo propheta de se loqua-

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tur, modo autem de ipso quasi alius loqui uideatur? Sed sciendum est quia hi qui prophetiae spiritu replentur, per hoc quod aperte nonnumquam loquuntur de se, et nonnumquam sic de se uerba tamquam de aliis proferunt, indicant quia non propheta, sed Spiritus sanctus loquitur per prophetam. Pro eo enim quod per ipsos sermo fit, ipsi loquuntur de se, et pro eo quod aspirante sancto Spiritu loquuntur, idem Spiritus sanctus per ipsos loquitur de ipsis [. . .]. Quia igitur in locutione prophetica alter est qui praesidet, alter qui obsequitur, cum de se ipso propheta loquitur persona obsequentis est, cum uero per prophetam Spiritus sanctus loquitur de propheta, sublimitas praesidentis ostenditur. Eine ähnliche doppelte Autorschaft thematisiert auch Beate Kellner, „Wort Gottes – Stimme des Menschen. Textstatus und Profile von Autorschaft in Otfrids von Weißenburg ‚Evangelienbuch‘“, in Dies./Peter Strohschneider/Franziska Wenzel (Hgg.), Geltung von Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter (Philologische Studien und Quellen 190), Berlin 2005, 139–162. Ebd. 18 f. Hieronymus, Commentariorum in Hiezechielem libri XIV, hg. v. Franciscus Glorie (Corpus Christianorum. Series Latina 75), Turnhout 1964, 5; weitere Belege (z.B. bei Beda Venerabilis, Rupert von Deutz) bei Heinz Meyer/Rudolf Suntrup, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen (Münstersche Mittelalter-Schriften 56), München 1987, 692f., 698, 700 zu dieser Deutung der 30. Gregorius, Homiliae, 19; Gregor erklärt hier auch die Ausnahmen Daniel und Jeremias. Ebd. 19.

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Propheten von der eigenen Schwäche gegenüber. Dass Gott Ezechiel vor jeder Begnadigung durch Visionen mit ‚Menschensohn‘ (fili hominis) anredet, bedeutet den Appell zur Bewusstheit der Schwäche, die vor Hochmut (superbia) schützt: Quid est enim prophetae ad spiritalia subleuato semper ‚fili hominis‘ dicere, nisi eum infirmitatis propriae memorem facere? Ut conscius conditionis infirmae eleuari in cogitatione non debeat de magnitudine contemplationis suae. 38 Etliche große Männer des Alten Testaments, besonders Propheten, – so führt Gregor den Beweisgang fort – bekannten vor Gott ihre Schwäche, zum Beispiel sagte Abraham, er sei Staub und Asche (Gen. 18,27), Moses verwies auf seine schwerfällige Zunge (Ex. 4,10), Jesajas auf seine unreinen Lippen (Is. 6,5), 39 Daniel wurde durch seinen Visionsempfang krank: 40 quia hi qui in uirtutibus fortes sunt, cum altiora Dei conspiciunt, in sua sibimet aestimatione infirmi atque imbecilles fiunt. 41 Das Schwäche- und Unfähigkeitsbekenntnis ist demnach wesentlicher Bestandteil echter Prophetie. Aufgrund solcher Abhängigkeit des Propheten von seinem Inspirator betont Gregor zu Ez. 3,17 die strikte Bindung seiner Botschaft an den Inspirationsinhalt: ‚Sieh, wiederum wird der Prophet ermahnt, dass er sich nicht herausnimmt zu sagen, was er nicht gehört hat, sondern zuerst das Ohr des Herzens der Stimme des Schöpfers zu öffnen und danach den Mund seines Körpers für die Ohren des Volkes zu öffnen.‘ 42 Auffällig sind für Gregor in der Formulierung prophetischer Botschaft das die Rede eröffnende et und das in Visionsbeschreibungen ständig verwandte quasi. Die Konjunktion et am Buchbeginn, die eigentlich eine Verbindung zu Vorhergehendem herstellt, zeigt beim Propheten die Zusammenschau von Äußerem und Innerem an, in der der Prophet das Äußere, seine Rede, an das Innere, sein größeres Inspirationsvolumen mit et anschließt. 43 An anderer Stelle bedenkt Gregor, wie schwierig für den Propheten der Umgang mit der Fülle der inspirierten Inhalte und Bilder ist, wenn er sie aus seinem Inneren in prophetische Rede fassen will: der Mund des Menschen ist zu eng, die Sprache ist defizitär: Quia angustum est spiritui omne os hominis, id est foramen carnis, ad explendam illam immen38 Ebd. 196 zu Ez. 4,1 u. öfter. 39 Ebd. 110 f.: Abraham (cum sim puluis et cinis), Moses (non sum eloquens [. . .], impeditioris et tar-

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dioris linguae sum), Jesajas (uir pollutus labiis ego sum), Jeremias (ecce nescio loqui, quia puer ego sum). Ebd. 111: Sic Daniel sublimem uisionem uidens, per plurimos dies elanguit et aegrotauit [. . .]. Ebd.; vgl. ebd. 86 zu Ez. 3,23: Visa Domini gloria in faciem suam propheta cadit, quia quamuis homo ad intelligenda sublimia eleuatur, ex contemplatione maiestatis Dei infirmitatem suae conditionis intellegit, et quasi statum non habet, qui se ante Dei oculos esse cinerem et puluerem uidet. Ebd. 172 f.: Ecce iterum monetur propheta ne praesumat loqui quod non audierit, sed prius aurem cordis aperiat uoci Creatoris, et postmodum os sui corporis aperiat auribus plebis. [. . .] Qui enim recte praedicat, prius, sicut dictum est, aurem cordis locutioni intimae inclinat, ut postmodum os corporis in propositione admonitionis aperiat; dazu Ps. 48,5. Ebd. 17: Qui igitur nihil dixerat cur dicit: ‚Et factum est‘, cum non sit sermo cui hoc quod incipit subiungat? [. . .] Unde fit ut in mente prophetarum ita coniuncta sint exterioribus interiora, quatenus simul utraque uideant, simulque in eis fiat et intus uerbum quod audiunt, et foras quod dicunt [. . .]. Subiungit enim hoc quod exterius loqui inchoat, ac si et illud foris sit quod intus uidet.

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sitatem quae conspicitur, proferendo lingua uariatur. 44 Dieses Bild wird später Rupert von Deutz wieder aufnehmen, um seinen Wechsel von Liedern in antiken Metren zu breit strömender Prosa-Exegese zu beschreiben. 45 Ein Indikator prophetischer Rede ist auch das die schlichte Realität einschränkende oder überschreitende quasi. Zum Beispiel ist das von Ezechiel geschaute Gebäude auf dem hohen Berg (Ez. 40,2) mit einem solchen quasi versehen, was Gregor erläutert: ‚Es ist zu bemerken, dass es nicht heißt: Auf diesem war ein Gebäude, sondern gleichsam ein Gebäude (quasi aedificium), damit natürlich angezeigt werde, dass nicht über ein Bauwerk einer körperlichen, sondern einer geistigen Stadt alles [Folgende] gesagt werde.‘ 46 Entsprechend eingeschränkt wird auch die Wahrnehmung des Propheten beurteilt, wenn er nicht eine uisio gloriae Domini in dem Lichtkreis (Ez. 1,28–2,1) sieht, sondern eine uisio similitudinis gloriae Domini; denn – sagt Gregor – er sieht ja nicht in seinem Inneren die Sache selbst, sondern nur den Abglanz, etwas ihr Ähnliches. 47 Die Auswirkungen solcher Begrenzungen, denen der Prophet unterliegt, prägen die prophetische Rede insgesamt. Auf zwei ihrer Hauptmerkmale macht Gregor wiederholt aufmerksam: zum einen auf ihre Inkonzinnitäten, ihre Widersprüchlichkeiten, scheinbare Abschweifungen, Hystera protera, zum anderen auf ihre Dunkelheit und Vieldeutigkeit. Das gewöhnliche Verfahren der Prophetie sei, bald dies, bald jenes zu betrachten und die Worte plötzlich in eine andere Richtung zu lenken; mit prophetischer Sprache Vertraute kennten das zur Genüge. 48 Das gilt auch für die zeitliche Ordnung: der Prophet durchbricht sie, da in ihm die Gleichzeitigkeit des Geschauten ist, die er aber mit der sprachlichen Formulierung in ein Vorher und Nachher oder umgekehrt teilt, so dass sie

44 Ebd. 104. Zuvor heißt es zu Ez. 1,24: [. . .] quia sanctus Spiritus in corde prophetarum, quod simul

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ostendit intus, non simul eicit per linguam foras. Aqua quippe scientiae qua prophetantis animus repletur, in contemplatione uehementer exuberat. Vgl. auch Hrabanus Maurus, In Ezechielem (Migne, Patrologia Latina 110), 539 B/D, zu Ez. 2,1. Rupertus Tuituensis, De gloria et honore Filii hominis super Mattheum, hg. v. Hrabanus Haacke (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 29), Turnhout 1978, 381; dazu Christel Meier, „Ruperts von Deutz literarische Sendung. Der Durchbruch eines neuen Autorbewußtseins im 12. Jahrhundert“, in Wolfgang Haubrichs/Eckart Conrad Lutz/Gisela Vollmann-Profe (Hgg.), Wolfram-Studien XVI: Aspekte des 12. Jahrhunderts, Berlin 2000, 29–52, hier 37f. Gregorius, Homiliae, 210f.: Notandum quod non dicitur: Super quem erat aedificium, sed ‚quasi aedificium‘, ut uidelicet ostenderetur quod non de corporalis, sed de spiritalis ciuitatis aedificio cuncta dicerentur. Qui enim non se aedificium, sed quasi aedificium uidisse perhibet, cor audientium ad spiritalem fabricam mittit; dazu wird zitiert Ps. 121,3: Jerusalem als geistiges Gebäude, das als internae pacis uisio ex sanctorum civium congregatione construitur, Hierusalem caelestis (ebd.). Ebd. 120: Sed quidquid de illa [gloria] est quod in mente resplendet, similitudo, et non ipsa est; dazu 1. Cor. 13,12. Ebd. 83: Sicut nostis, fratres carissimi, consuetudo prophetiae est nunc ista, nunc illa aspicere, et ab aliis in aliud subito uerba deriuare [. . .] – dazu wird zitiert Ps. 7,12–16 –. Quod unum me exempli causa dixisse sufficiat, quia quisquis in prophetis usum lectionis habet, quam crebro ista faciant non ignorat; das wird angewandt auf die Erklärung von Ez. 1,18.

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Abb.1: Lambeth-Bibel: Ezechiel verschlingt die ihm aus Gottes Hand gereichte Schriftrolle; London, Lambeth Palace Library, Ms. 3, fol. 258 v.

in ‚geteilten Reden‘, das heißt zersplittert und eventuell auch in verkehrter Reihenfolge ausgesprochen werden. 49 Die Dunkelheit der prophetischen Rede bringt Gregor immer wieder zur Sprache, und zwar in verschiedenen Wendungen und Bildern: als profunditas, siluarum opacitas, mysteriorum nodi. 50 ‚Dunkel ist das Wissen in den Propheten‘, legt Gregor Ps. 17,12 aus. 51 Diese Dunkelheit, die intensive Bemühungen um das Verstehen vom Rezipienten ver49 Ebd. 73: Quamuis sit adhuc aliud quod in hac descriptione [Ez. 1,15: die Tiere und das Rad] conside-

rari debeat, quia prophetiae spiritus sic intra semetipsum antiora et posteriora simul colligit, ut haec simul prophetae lingua proferre non possit. Sed ampla quae uidet de dispersis sermonibus emanat, et nunc ultima post prima, nunc uero prima post ultima loquitur; auf diese Weise greift der Prophet voraus in die Zukunft, um dann weit in die Vergangenheit zurückzulenken: [. . .] ut patenter indicet simul se uidisse quod carnis lingua non sufficeret simul dicere. 50 Z. B. ebd. 57 (profunditas eloquiorum Dei); 123 (magnae obscuritates, mysteriorum nodi); 145 (res obscuriores, multa obscura atque perplexa). 51 Ebd. 67: ‚Tenebrosa, aqua in nubibus aeris‘, quia obscura est scientia in prophetis.

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langt, erscheint als besonders nützlich, da die Anstrengungen in höherem Maß zur Erfahrung der Süße des Gehalts führen als in leichter zugänglichen Texten. Prophetenbücher der Bibel unterscheiden sich zwar nicht grundsätzlich in ihrer allegorischen Verschlüsselung von anderen Teilen der Heiligen Schrift, sie zeigen ihre Dunkelheit jedoch in einem höheren Grad. 52 Passend wird dem Propheten Ezechiel eine eingerollte Schriftrolle, die außen und innen beschrieben ist (Ez. 2,9), gereicht; sie wird vor ihm entrollt, und er muss sie verschlingen (Abb. 1). Das heißt – wie Gregor auslegt –, die göttliche Botschaft (der Heiligen Schrift) wird dem Propheten im literalen Sinn (außen) und in spiritueller Bedeutung (innen) erschlossen; er ist der wahre Hermeneut göttlicher Worte. 53 Damit weitet er jedoch den Prophetenbegriff aus auf die Prediger als die Ausleger der Schrift 54 und nimmt damit sowohl einen Gedanken Cassiodors als auch der pseudo-dionysischen Schriften auf, in die er nachweislich Einblick hatte. 55

III. Die theologisch-philosophische Auswertung der biblischen Prophetie: Pseudo-Dionys, Eriugena, Hugo von St. Victor In den pseudo-dionysischen Schriften und ihrer durch das ganze Mittelalter reichenden Rezeption erschließt sich ein anderes Verfahren des Umgangs mit der Prophetie als das der Exegeten Cassiodor und Gregor. War es dort die literar-kritische Analyse, die die Merkmale prophetischer Schriften erhob, so ist hier eine theologisch-philosophische Auswertung der biblischen Prophetie intendiert. Der unbekannte Autor der vier Werke und zehn Briefe aus dem späten 5. Jahrhundert gibt sich als der Paulus-Schüler Dionysius Areopagites aus, sucht den Anschluss an die Apostelzeit, obwohl die neuplatonische Prägung seiner griechischen Schriften den späteren Neuplatonismus (Syrian, Proklos) vor-

52 Ebd.: Habet [obscuritas eloquiorum Dei] quoque adhuc maius aliud, quia Scripturae sacrae intelle-

gentia [. . .] in quibusdam locis obscurioribus tanto maiore dulcedine inuenta reficit, quanto maiore labore fatigat animum quaesita. 53 Ebd. 149 f. 54 Ebd. 138 f.: Sicut per prophetam praedicatorum ordo, sic per librum quem accepit Scripturae sacrae paginae designantur. Liber autem inuolutus est Scripturae sacrae eloquium obscurum, quod profunditate sententiarum inuoluitur, ut non facile sensu omnium penetretur. Sed coram propheta liber expanditur, quia coram praedicatoribus sacri eloquii obscuritas aperitur [. . .]. Liber enim sacri eloquii intus scriptus est per allegoriam, foris per historiam. Ebd. 88 zur Deutungsvielfalt nach den Schriftsinnen für ein und dieselbe Bibelstelle; ebd. 195 zur mystischen Bedeutung der Prophetenrede – auch bei einem zugleich vorhandenen historischen Sinn; so können auch Zeiten und Orte über den situationsbezogenen literalen Sinn hinaus spirituelle Bedeutungen erlangen (z.B. ebd. 185: Winter; Berg und Ebene). 55 Zu Gregors Kenntnis der pseudo-dionysischen Schriften vgl. das Zitat: Gregorius Magnus, „Homiliae XL in Evangelia“, in ders., Opera (Migne, Patrologia Latina 76), Paris 1857, 1075–1314, hier 1254 (Dionysius Areopagita, antiquus videlicet et venerabilis Pater – zu den Engelchören).

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aussetzt. 56 In seinen beiden Hauptwerken über die himmlische und die kirchliche Hierarchie entwirft er aus der Bibel heraus Modelle für die Ordnung der geistigen Welt (Engel) und ihrer Spiegelung in der irdischen Ecclesia (kirchliche Ordines). 57 Sein Gebrauch der Bibel führt ihn wie noch stärker seine lateinischen Kommentatoren Johannes Scotus Eriugena im 9. und Hugo von St. Victor im 12. Jahrhundert, die hier vor allem herangezogen werden, zur Entwicklung eines spezifischen Verständnisses von Prophetie. 58 Die ganze Bibel wird als göttliche Rede und damit als prophetisches Buch verstanden. Dieses ist Zeugnis einer himmlischen Pädagogik, die dem gefallenen Menschen die Rückkehr zu seinem Ursprung ermöglichen soll. Hermeneut und Vermittler dieses Buchs an die Menschen ist der Prophet, der auch als inspirierter Theologe oder theosophus 59 verstanden und bezeichnet ist. Sowohl mit der Ausweitung der prophetischen Bücher auf die gesamte Bibel wie auch der Propheten auf die Interpreten der Heiligen Schrift generell ist für das Prophetieverständnis des Mittelalters ein entscheidender Schritt getan. Mindestens seit dem 12. Jahrhundert hat dieses Konzept Folgen für Neuansätze in den Autorschaftskonzepten gehabt. Die ganz wesentlich funktionale Beschreibung des Prophetentums in der pseudo-dionysischen Tradition geht aus von dem Prozess der göttlichen Emanation aus der rein geistigen Sphäre bis zum Menschen und in die materielle Welt, der sich in Stufen vollzieht. Indem sich das Intelligible, das dem Menschen nicht unmittelbar zugänglich ist, verhüllt in Formen von körperlicher Gestalt, Zeichen oder Symbolen des Intelligiblen, werden diese als Theophanien, als zu entschlüsselnde göttliche Offenbarung für den Menschen verstehbar. Diese zu empfangen und zu deuten ist Aufgabe der Propheten, in deren Geist sie in der Inspiration erscheinen und sich abbilden. Es sind prophetische Visionen (uisiones propheticae), die in Bildern – in fictae sanctae imaginationes – ein Medium der Kontemplation präsentieren, durch das dem Menschen die Rückkehr zu seinem Ursprung, der Aufstieg zum Intelligiblen, letztlich zu seiner Vergöttlichung (deificatio) ermöglicht

56 Vgl. Act. 17,34; Werkausgabe bei Migne, Patrologia Graeca 3; Denys l’Aréopagite, La Hiérarchie

Céleste, hg. v. René Roques/Gunther Heil/Maurice de Gandillac (Sources Chrétiennes 58), Paris 2 1970; zu Autor und Werk ebd. V–XIX. Ein Überblick bei Helmut Meinhardt/Alexander Patschovsky/ Günther Binding/Adolf Martin Ritter, „Dionysius, hl.“, in Lexikon des Mittelalters 3, Stuttgart/Weimar 1999, 1076–1087, mit Lit. 57 Die Rezeption des griechisch verfassten Werks beginnt im lateinischen Westen mit der Überbringung der Schriften aus Konstantinopel an Ludwig den Frommen und dessen Auftrag an Hilduin, den Abt von St. Denis, zur Übersetzung der Werke und dem Schreiben einer Vita s. Dionysii; dazu Nikolaus Staubach in diesem Band. 58 Johannes Scotus Eriugena, Expositiones in Ierarchiam coelestem, hg. v. Jeanne Barbet (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 31), Turnhout 1975; Hugo von St. Victor, „Commentariorum in Hierarchiam coelestem S. Dionysii Areopagitae libri X“, in Opera exegetica (Migne, Patrologia Latina 175), 923–1154. 59 Zur Gleichsetzung von Theologe und Prophet z.B. Johannes Scotus, Expos. in Ierarchiam coelestem, 24 f. (theologos, hoc est diuinos prophetas; theologos, prophetas uidelicet).

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wird: 60 [. . .] deificat enim nostram naturam [sc. sancta Trinitas], reducendo eam per sensibilia symbola in altitudinem angelice nature, et deificans eam in his qui ultra omnia in ipsum Deum transeunt. 61 Im Vergleich mit der erzieherischen Funktion der epischen Dichtung beschreibt Eriugena die pädagogische Valenz der Bibel, die zu diesem Ziel führt: ‚Wie die Dichtkunst durch erfundene Geschichten und allegorische Gleichnisse eine moralische oder naturkundliche Lehre formuliert zur Erziehung des Menschengeistes – dies ist nämlich die eigentliche Aufgabe der epischen Dichter, die die Taten und Haltungen der Helden in figürlicher Rede loben –, so formt auch die Theologie wie eine Art Dichtkunst die Heilige Schrift durch fiktive Bildvorstellungen zur Beratung unseres Geistes und zu seiner Rückführung aus den körperlichen äußeren Sinnen, wie aus einer unvollkommenen Kindheit, zur vollkommenen Erkenntnis der intelligiblen Dinge, gleichsam in eine gewisse Altersreife des inneren Menschen. Denn der menschliche Geist ist nicht wegen der göttlichen Schrift geschaffen, deren er keineswegs bedürfte, wenn er nicht sündigte, sondern die Heilige Schrift ist wegen des menschlichen Geistes in verschiedenen Symbolen und Lehren verfasst, damit unsere vernünftige Natur, die durch den Sündenfall aus der Kontemplation der Wahrheit abgestürzt ist, durch ihre Einführung wieder zur früheren Höhe reiner Kontemplation zurückgeführt werde.‘ 62

Es ist also die eigentliche Aufgabe des Propheten beziehungsweise des propheta theologus, die göttlichen Botschaften und Reden aus dem höheren intelligiblen Bereich in

60 Ebd. 19 über den stufenweisen Aufstieg des Menschen in den Bildern (in figuris ac formis nostre

infirmitati congruentibus) der heiligen Schriften zum Intelligiblen (donec perueniamus equaliter cum angelis in simplicissimam purissimamque incommutabilis ueritatis speculationem); ebd. 22 zu den unähnlichen Symbolen (vgl. unten bei Anm. 64): Hec enim sunt dissimilia symbola in propheticis uisionibus, in eorum prophetarum spiritu administratione angelica plasmata, ad nostram eruditionem et introductionem ad purissimas celestium essentiarum in semetipsis, remota omni phantastica plasmatione, cognitiones. Que prophetica figmenta si quis incaute cogitauerit, ita ut in eis finem cogitationis sue constituat, et non ultra ea ascendat in contemplationem rerum intelligibilium quarum illa imagines sunt, non solum ipsius animus non purgatur et exercitatur, uerum etiam turpissime polluitur et stultissime opprimitur. Von dieser Aussage ist offenbar auch Alan von Lille beeinflusst, wenn er im Prosa-Prolog des Anticlaudianus davor warnt, im Sinnlichen zu verharren, und auffordert zum intuitus supercelestium formarum: Alan, Anticlaudianus, 56. 61 Johannes Scotus, Expos. in Ierarchiam coelestem, 18. 62 Ebd. 24: Quemadmodum ars poetica, per fictas fabulas allegoricasque similitudines, moralem doctrinam seu physicam componunt ad humanorum animorum exercitationem – hoc enim proprium est heroicorum poetarum, qui uirorum fortium facta et mores figurate laudant –, ita theologia, uelut quedam poetria, sanctam scripturam fictis imaginationibus ad consultum nostri animi et reductionem a corporalibus sensibus exterioribus, ueluti ex quadam imperfecta pueritia, in rerum intelligibilium perfectam cognitionem, tamquam in quandam interioris hominis grandeuitatem conformat. Non enim animus humanus propter diuinam scripturam factus est, cuius nullo modo indigeret si non peccaret, sed propter animum humanum sancta scriptura in diuersis symbolis atque doctrinis contexta, ut per ipsius introductionem rationabilis nostra natura, que preuaricando ex contemplatione ueritatis lapsa est, iterum in pristinam pure contemplationis reduceretur altitudinem.

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symbolischer Form zu empfangen und den übrigen Menschen in der richtigen Weise zu vermitteln zu deren Conversio und Rückkehr: 63 per figmenta in non figmentum. 64 Ein Kernstück der pseudo-dionysischen Theologie und ihrer Rezeption bei Eriugena und Hugo von St. Victor ist die Theorie von den ähnlichen und unähnlichen Symbolen, die für das Verständnis der Bibel und die spätere Neuschaffung prophetischer Schriften grundlegend ist. Ihre richtige Wahrnehmung und hermeneutische Erschließung ist das genuine Amt der Propheten. Sie vermögen Missverständnissen zu begegnen, da sie Art und Wert der Symbole zu unterscheiden wissen; denn eine Besonderheit der pseudo-dionysischen Tradition hat sich in der Differenzierung von ähnlichen und unähnlichen Symbolen ausgeprägt: Da die Bilder des Intelligiblen weniger wahr und zutreffend sind, wenn sie Ähnlichkeit aufweisen, als wenn sie unähnlich sind, sind die unähnlichen Symbole (dissimilia symbola) wahrer als die ähnlichen (similia symbola) und verleiten weniger zum Irrtum oder zum Verharren in den körperlichen Bildern, die zu überwinden sind; denn ein Stehenbleiben bei den Bildern reinigt den Geist nicht, sondern verdunkelt und beschmutzt ihn, drückt ihn nieder. 65 Aus der Bibel führt Pseudo-Dionys wie Eriugena etliche Beispiele an für solche unähnlichen Bilder, wie materielle Feuerräder über dem Himmel oder Throne aus irdischen Materien, verschiedenfarbige Pferde oder bewaffnete Kämpfer in Rüstungen, auch Tiere und Monstren usf. 66 – sie alle sind unähnliche Symbole für reine Geistwesen in den himmlischen Hierarchien. Wie überhaupt in der negativen Theologie dieser Traditionslinie Negationen in Aussagen über Gott einen höheren Wahrheitsgehalt haben als positive Aussagen (affirmationes), wie diese ihn immer nur übertragen (translative) bezeichnen können, haben auch die unähnlichen Bilder den Vorzug der wahren direkten Erkenntnis-Aporie. Auf das symbolische Verfahren der göttlichen Offenbarung, der theophaniae in den Propheten geht Hugo von St. Victor in seinem Kommentar zur Hierarchia coelestis noch genauer ein. Er unterscheidet zwei Arten: die bildliche und die bildlose prophetische Vision als symbolica demonstratio und anagogica (pura et nuda) revelatio. 67 Die Bilder aus der Sinnenwelt, Figurationen, die als Zeichen für Übersinnliches fungieren, zeigen eine Art Montagetechnik, die von der Bedeutung her organisiert wird. Die Definition von Symbol lautet daher: Symbolum est collatio formarum visibilium ad invisibilium demon-

63 64 65 66 67

Ebd. 24 f. Ebd. 21. Ebd. 22 (Zitat oben in Anm. 60). Ebd. 23. Hugo von St. Victor, „In Hierarchiam coelestem“, 941CD: Notat [Dionysius] hic duplicem modum revelationis divinae, quae theologorum et prophetarum mentibus infusa est per visiones et demonstrationes, quas Graeci theophanias appellant, id est divinas apparitiones. Quoniam aliquando per signa sensibilibus similia invisibilia demonstrata sunt, aliquando per solam anagogen, id est mentis ascensum, in superna pure contemplata. Ex his vero duobus generibus visionum duo quoque descriptionum genera in sacro eloquio sunt formata. Unum, quo formis et figuris et similitudinibus rerum occultarum veritas adumbratur. Alterum, quo nude et pure sicut est absque integumento exprimitur.

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strationem. 68 Damit sind auch bei Gregor aufgeführte Merkmale der prophetischen Sprache, wie die Inkonzinnität, die Verkehrung der Zeiten-Folge, die besondere Dunkelheit theoretisch-philosophisch angesprochen. Die pseudo-dionysische Tradition bringt damit in das mittelalterliche Prophetieverständnis mehrere Aspekte ein: die Ausweitung (biblischer) Prophetie auf die gesamten biblischen Schriften, das weite Verständnis des Schriftinterpreten als eines Propheten und damit die zeitliche Entgrenzung der prophetischen Kompetenz auf alle Epochen (wie schon in den Paulus-Briefen), ein theologisch-philosophisches Modell der Prophetie, eine Analyse der spezifischen Symbolsprache der Prophetie.

IV. Innovative Reproduktion biblischer Prophetie: alte und neue Aspekte bei Hildegard von Bingen Auf dem Fundament der beschriebenen Prophetenkonzepte entsteht im 12. Jahrhundert ein neuer origineller Prophetentyp. Während die Männer – wie Rupert von Deutz – sich als Exegeten und visionäre Theologen noch weniger problematisch in die Tradition eingliedern konnten, 69 radikalisiert sich die Konzeption und ihre praktische Umsetzung bei der Frauenprophetin Hildegard von Bingen. Ihre Strategie der Konstitution von Autorschaft soll daher beispielhaft betrachtet werden, zumal sie die erste Prophetin des Hochmittelalters ist und seit dem 13. Jahrhundert dichte Nachfolge findet. 70 Hildegard hat offenbar für den Entwurf ihres eigenen Prophetentyps, der notwendig war, weil sie als Frau nur diese Autorrolle für ihre Botschaften annehmen konnte, die Schriften der bisher behandelten Autoren sorgfältig studiert, sie gleichsam als eine Poetik der prophetischen Rede benutzt und darüber hinaus eigene Aspekte dem älteren Muster zugefügt, die ihren speziellen Fall zusätzlich legitimierten. Die drei großen Visionsschriften beginnen jeweils mit Beglaubigungen, wie sie bei Ezechiel und anderen alttestamentlichen Propheten die Bücher eröffnen 71 und von

68 Ebd. 941BC. 69 Dazu Christel Meier, „Ruperts von Deutz Befreiung von den Vätern. Schrifthermeneutik zwischen

Autoritäten und intellektueller Kreativität“, in Recherches de Théologie et Philosophie médiévales 73 (2006), 257–289, hier 262–283; dies., „Autorschaft im 12. Jahrhundert“, in Peter von Moos (Hg.), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Köln [u. a.] 2004, 207–266, 259–262 [u.ö.], mit weiterer Lit. 70 Dazu z. B. Claudia Spanily, Autorschaft und Geschlechterrolle. Möglichkeiten weiblichen Literatentums im Mittelalter (Tradition – Reform – Innovation 5), Frankfurt a.M. 2002. 71 Hildegardis, Scivias, hg. v. Adelgundis Führkötter/Angela Carlevaris (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 43/43 A), Turnhout 1978, 3–6; dies., Liber vite meritorum, hg. v. Angela Carlevaris (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 90), Turnhout 1995, 8f.; dies., Liber divinorum operum, hg. v. Albert Derolez/Peter Dronke (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 92), Turnhout 1996, 45 und 463f.

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Abb. 2: Hildegard von Bingen, Scivias: Autorbild; Wiesbaden, Hessische Landesbibliothek, Ms. 1, fol. 1 r (verschollen im zweiten Weltkrieg).

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Gregor als verlässliches Fundament der folgenden oft schwierigen prophetischen Botschaft herausgestellt worden waren. Auch die von Gregor besprochene Konstellation der doppelten Autorschaft, in der der Mensch Hildegard und die göttliche Stimme im Wechsel in Ich-Form reden – die letztere nach Gregor als der Inspirator durch die Prophetin –, nutzt Hildegard kunstvoll in den Rahmenteilen ihrer Werke. Die himmlische Stimme (uox de caelo) spricht sie aus einem gewaltigen Lichtglanz in der Du-Form an oder macht Aussagen über sie in der dritten Person. Das menschliche Hildegard-Ich notiert die Jahresangaben, beschreibt den Inspirationsbeginn nach Art eines Pfingsterlebnisses (Abb. 2), ihre Disposition für Visionen seit früher Jugend und ihre volle Wachheit im Visionsempfang (ohne Ekstase oder Traum), 72 schließlich ihre Krankheit als Strafe für anfängliches Widerstreben bei der Erfüllung des göttlichen Schreibbefehls. 73 Ihr Alter am Beginn der großen Visionswerke bezeichnet sie – gleichfalls im Einklang mit Gregors Erklärung – als Alter vollkommener Stärke (aetas perfectae fortitudinis). 74 Wie nach Gregor der Inspirator vor Beginn der großen Visionen den Propheten mit der Anrede Fili hominis an seine Schwachheit und Sündhaftigkeit erinnert, um Hochmut zu verhindern, wird noch deutlicher die Prophetin Hildegard von der himmlischen Stimme angesprochen: ‚O du gebrechlicher Mensch und‘ – mit steigernder hebräischer Genetivkonstruktion – ‚du Asche der Asche und Verwesung der Verwesung‘, 75 ehe der Befehl zum Empfang der Visionen und ihrer Niederschrift folgt. 76 Als Staub und Asche hatte nach Gregor sich auch Abraham in der Demütigung vor Gott bezeichnet, während die Unfähigkeit zu Reden und Schreiben Hildegard von der himmlischen Stimme in Ein-

72 Dazu dass Hildegard wiederholt betont, sie empfange ihre Visionen nicht in Traum oder Ekstase,

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sondern bei vollem Wachsein, mag sie durch Hieronymus angeregt sein, der im Prolog zum JesajasKommentar für den wahren Propheten solche Formen der Ekstase ablehnt: Mit Anspielung auf die Sekte des Montanus und seiner zwei Begleiterinnen (2. Jh.), die eine ‚neue Prophetie‘ verkündeten, sagt Hieronymus, Commentariorum in Esaiam libri XVIII, hg. v. Marcus Adriaen (Corpus Christianorum. Series Latina 73/73 A), Turnhout 1963, 2f.: Neque uero, ut Montanus cum insanis feminis somniat, prophetae in ecstasi sunt locuti, ut nescirent quid loquerentur et cum alios erudirent, ipsi ignorarent quid dicerent [. . .]. Si enim sapientes erant prophetae, quod negare non possumus [z.B. Moses, Daniel, David], quomodo sapientes prophetae instar brutorum animantium quid dicerent ignorabant? – Es folgen Verweise auf 1. Cor. 14,32 und 29, Zach. 1,9, Gal. 4,6 und Ps. 84,9. So wechselt das Ich achtmal in der Protestificatio, der Einleitung des Scivias (Hildegardis, Scivias, 3–6). Zum Beispiel gibt Hildegard ihr Alter von 42 Jahren und sieben Monaten sowie das Jahr 1141 (mit dem regierenden Papst, Kaiser, Bischof ihrer Diözese Mainz und Abt ihres Klosters) als Beginn des Visionswerks an. Zur Ankündigung des göttlichen Befehls der Niederschrift von Scivias sagt Hildegard (ebd. 4): Sed puellari meta transacta, cum ad praefatam aetatem perfectae fortitudinis peruenissem, audiui uocem de caelo dicentem: ‚Ego lux uiuens [. . .]‘. Hildegardis, Scivias, 3: O homo fragilis, et cinis cineris, et putredo putredinis, dic et scribe quae uides et audis. Fünfmal ergeht an die Seherin in der Berufungseinleitung des Scivias (3–6) der göttliche Befehl zu reden (dicere) und zu schreiben (scribere); der Redebefehl wird am Ende sogar in der Intensivform ‚rufe‘ (clama) wiederholt.

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klang mit Moses und Jeremias attestiert wird. 77 Körperliche Schwäche und Krankheit als Voraussetzung für die geistige Stärke im Visionsempfang zeigte – so Gregor – Daniel; 78 das himmlische Ich in Hildegards Scivias-Einleitung wie noch häufiger im Gesamtwerk erläutert diese Schwäche für die Seherin ausführlich. 79 Mit der Stimme ihres menschlichen Ich bestätigt sie selbst ihre schwächliche Konstitution und lässt später – typisch für die neu aktualisierte medizinische Elementenlehre des 12. Jahrhunderts – den Inspirator im Spätwerk naturkundlich präzisierend hinzufügen, ihre körperliche Schwäche und Anfälligkeit resultiere aus dem großen Luftanteil in der Komplexion der Elemente ihres Körpers, dadurch sei sie gleichsam dem Wetter ausgesetzt, aber gerade deshalb auch in besonderem Maß befähigt, die Geistinspiration zu empfangen: alioquin inspiratio Spiritus Sancti in ea habitare non ualeret. 80 Als ein weiterer in der prophetischen Literatur neu akzentuierter Schwächebeweis wird von beiden Autorstimmen das Frausein angeführt, insbesondere von der himmlischen Stimme aber die Stärke durch die belehrende Inspiration dagegen gesetzt, die den wiederholten Verkündigungs- und Schreibbefehl rechtfertigt: Unde, o pusilla animo, quae interius es docta de mystico spiramine, quamuis conculcata sis per uirilem formam propter praeuaricationem Euae, tamen dic igneum opus quod tibi demonstratur certissima ostensione. 81 Von den charakteristischen Merkmalen prophetischer Schriften, die Gregor am Ezechiel-Buch heraushebt, finden sich in Hildegards Werk die meisten wieder. So gebraucht sie die Konjunktion et in den Eingängen ihrer Visionsschriften, deren einzelner Bücher und vieler Unterkapitel extensiv. Nicht nur das Erstwerk Scivias beginnt mit et, auch der fast anderthalb Jahrzehnte später geschriebene Liber vite meritorum und die letzte große Schrift Liber divinorum operum fangen so an. Was das Signal der Uneigentlichkeit quasi angeht, so verwendet Hildegard quasi, uelut und weitere Äquivalente ebenso reichlich, um die Differenz zur normalen sinnlich wahrnehmbaren Realität anzuzeigen. Doch sie gibt auch den deutlichen Hinweis in der Einleitung zum Scivias, dass prophetische Schriften einer anderen als der normalen, in den Schulen vermittelten Poetik folgen. Das Inspirator-Ich verknüpft diese Aussage mit der Feststellung, dass sie (als Frau) ohnehin keine schulische Gelehrtheit besitze, keine menschliche Ars scribendi mit ihren Teilen der Inventio, Dispositio, Elocutio gelernt habe: 77 Zu Abraham vgl. Gen 18,27; zu Moses und Jeremias vgl. Exod. 4,10, Ier. 1,6; dazu Gregor, Homiliae,

110 f. 78 Zu Daniel vgl. Dan. 8,27; Gregor, Homiliae, 111; dazu oben Anm. 40. 79 So sagt das göttliche Ich (ego lux uiuens) in der Berufung, die zu besonderer Auszeichnung führen

soll (ebd. 4 f.): [. . .] sed in terram straui illum [sc. hominem sc. Hildegardem], quod se non erigeret in ulla elatione mentis suae [. . .]. Ipse enim in medullis et in uenis carnis suae doluit, constrictum animum et sensum habens atque multam passionem corporis sustinens, ita quod in eo diuersa securitas non latuit, sed in omnibus causis suis se culpabilem aestimauit etc. 80 Hildegardis, Liber divinorum operum, 462. 81 Hildegardis, Scivias, 112; vgl. zuvor 110: Et ego homo non calens in forma fortium leonum nec docta exspiratione illorum, sed manens in mollitie fragilis costae imbuta mystico spiramine, uidi [. . .]; es folgt die Visionsbeschreibung von Scivias II 1.

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‚Weil du aber zu furchtsam bist zum Reden, zu einfältig zur Auslegung und zu ungelehrt dieses aufzuschreiben, sage und schreibe es nicht nach der Redeweise der Menschen (os), nicht nach der Erkenntnis menschlicher Erfindung (adinuentio), noch nach dem Willen menschlicher Komposition (compositio), sondern gemäß der Beschaffenheit, wie du es im Himmlischen oben in den Wundern Gottes siehst und hörst, indem du es in der Darstellung so vorbringst, wie auch ein Hörer (Schüler) die Worte seines Lehrers aufnimmt und sie im Tonfall von dessen Rede nach seinem Willen, Vorsprechen und seiner Anordnung vorträgt. So also sage auch du, o Mensch, das, was du siehst und hörst, und schreibe es nicht nach deinem Gefallen noch nach dem eines anderen Menschen, sondern nach dem Willen dessen, der alles weiß, sieht und ordnet (disponens) in der Verborgenheit seiner Geheimnisse.‘ 82

Mit dieser poetologischen Positionierung gegen die schulmäßige Schreibkunst, die eine große Bewusstheit davon dokumentiert, was eine prophetische Schrift fordert – ohne dass dies sehr theoretisch ausgedrückt wäre –, schließt sich Hildegard wörtlich und inhaltlich an Cassiodors Feststellung zum prophetischen genus dicendi an, in der dieser betont, Prophetie sei nicht nach menschlichen Kompositionswillen formuliert (non humana uoluntate compositum), sondern durch göttliche Inspiration hervorgebracht, mit Berufung auf 2. Petr. 1,21: Non enim uoluntate humana allata est aliquando prophetia, sed spiritu sancto inspirati locuti sunt sancti Dei homines. 83 Die Glossa ordinaria führt das – näher an Hildegard – aus: ‚Hört auf die prophetische Rede, denn sie ist von Gott. Das kann dadurch bewiesen werden, dass die Prophetie nicht in solchen Worten und solcher Redeweise geschrieben ist, wie die Menschen sie in ihrer Rede gebrauchen und wie weltliche Schriften komponiert und interpretiert sind. Und wahrhaftig ist die Rede der Propheten nicht nach ihrem oder der Hörer Willen, sondern nach dem Willen des Heiligen Geistes formuliert, der in ihnen sprach.‘ 84 In ihrem Meister-Schüler-Vergleich setzt Hildegard zudem eine Aussage Gregors zu Ez. 3,17 plastisch um, nach der der Prophet nur das sagen darf, was er gehört hat: Ecce iterum monetur propheta ne praesumat loqui

82 Ebd. 3: Sed quia timida es ad loquendum et simplex ad exponendum et indocta ad scribendum ea,

dic et scribe illa non secundum os hominis nec secundum intellectum humane adinuentionis nec secundum uoluntatem humane compositionis, sed secundum id quod ea in caelestibus desuper in mirabilibus Dei uides et audis, ea sic edisserendo proferens, quemadmodum et auditor uerba praeceptoris sui percipiens, ea secundum tenorem locutionis illius, ipso uolente, ostendente et praecipiente propalat. Sic ergo et tu, o homo, dic ea quae uides et audis; et scribe ea non secundum te nec secundum alium hominem, sed secundum uoluntatem scientis, uidentis et disponentis omnia in secretis mysteriorum suorum. 83 Cassiodor, Expositio psalmorum, 9; vgl. oben bei Anm. 16. 84 Biblia Latina cum Glossa ordinaria, Strassburg (Adolph Rusch) 1480/81 (Facs. Turnhout 1992), Bd. 4, zu 2. Petr. 1,20: Attendite prophetico sermoni, nam a deo est; quod potest probari per hoc quod prophetia non est talibus verbis et tali modo locutionis scripta, quali vtuntur homines in locutione sua et quali seculares scripture sunt composite, et interpretate; et vere non est locutio prophetarum secundum suam vel audientium voluntatem, sed secundum voluntatem spiritussancti, qui loquebatur in illis. Dies zitiert Gebeno von Eberbach zu Hildegards Schriften, an deren ungewöhnlichem Stil sich viele stießen, zum Beweis ihrer Prophetengabe; dazu Christel Meier, „Nostris temporibus necessaria“, 312.

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quod non audierit, sed prius aurem cordis aperiat uoci Creatoris [. . .]. 85 Auch in einem Brief an Erzbischof Arnold von Köln, der sie in den fünfziger Jahren um den Scivias-Text gebeten hatte, bekräftigt Hildegard für dieses Werk wie für ihr Schreiben generell, dass es nichts von menschlicher Begabung (humanum ingenium) oder nach ihrem eigenen Willen (propria uoluntas) Geschriebenes enthalte, sondern in Wortlaut und Komposition aus der Inspiration des unvergänglichen Lichts stamme – so wie der gerade verfasste Antwortbrief auch: ‚[. . .] indem auch gerade dies, was ich dir jetzt schreibe, weder durch meine Begabung noch durch irgendein menschliches Gutdünken, sondern durch eine Weisung von oben verfasst ist.‘ 86 Ein Selbstzeugnis der Vita beschreibt die doppelte Autorschaft so: ‚Die Weisheit lehrt im Licht der Liebe und befiehlt mir zu sagen, wie ich für diese Vision geschaffen wurde. Und ich sage diese Worte nicht von mir aus, sondern die wahre Weisheit sagt jenes von mir und spricht so zu mir: Höre, o Mensch, diese Worte und sage sie nicht nach deiner, sondern nach meiner Art, und belehrt durch mich, rede auf diese Weise über dich [. . .].‘ 87 Diese doppelte Autorschaft in Hildegards prophetischem Werk ist damit radikaler als bei den alten Propheten und ihrer Exegese der menschlichen Verfügung vonseiten der Prophetin entzogen: Beide Autorstimmen sind Stimmen des Inspirators: eine verleiht die Grundfähigkeit des Redens und Schreibens wie auch Geschautes zu beschreiben, die andere höhere vertritt die göttliche Instanz, die Urteile über die Prophetin spricht, ihr Befehle erteilt und vor allem die Visionen auslegt und Lehren hinzufügt; sie ist – mit Gregor – die führende. Aus dieser Konstellation, die dem Menschen Hildegard keinerlei eigene Fähigkeit oder Initiative belässt, sind zwei Schlüsse zu ziehen: Zum einen wird der Schwächebeweis für die Figur der Prophetin damit intensiviert; zum anderen gibt es in den Aussagen dieser Prophetin keinen Irrtum (wie die Exegeten ihn gelegentlich bei den alten Propheten feststellten), denn sie sind alle in Gänze göttliche Rede. Dahinter steht die Überzeugung, dass alles, was der Mensch produktiv schaffen kann, ihm als Gabe von Gott zukommt. Im Hinblick auf die Prophetie verwundert es daher nicht, dass das 85 Gregor, Homiliae, 172; Biblia Latina cum Glossa ordinaria, zu 2. Petr. 1,21: Sicut in potestate pro-

phetarum non erat semper habere spiritum, semper futura predicere, ita non erat potestatis eorum vt quecumque vellent docerent, sed ea sola docebant, que a spiritu didicerant. hec ideo dicuntur, nequis ad libitum suum scripturas exponat. 86 Hildegardis, Epistolarium, hg. v. Lieven Van Acker (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 91), Turnhout 1991, 32: Nunc autem, o pastor populi tui, ego paupercula, sicut petisti, scripta ueracium uisionum istarum tibi misi, nihil humani ingenii et proprie uoluntatis mee continentia, sed que indeficiens lumen compositione sua et eisdem uerbis manifestare uoluit, quomodo sibi placuit, cum nec hoc ipsum quod tibi nunc scribo, ingenio meo nec ullo humano arbitrio, sed superna ostensione compositum sit. 87 Vita sanctae Hildegardis, hg. v. Monika Klaes (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 126), Turnhout 1993, 22: Sapientia quoque in lumine karitatis docet et iubet me dicere, quomodo in hanc uisionem constitura sum. Et ego uerba hec non dico de me, sed uera sapientia dicit ista de me et sic loquitur ad me: ‚Audi, o homo, uerba hec et dic ea non secundum te, sed secundum me et docta per me hoc modo dic de te‘ [. . .]. Es folgt die Kindheitsgeschichte mit der Visionsbegabung von Geburt an.

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Spätwerk wie die Johannes-Apokalypse 22,18f. die Warnung ausspricht, dem Text etwas hinzuzufügen oder wegzunehmen. 88 Der Anspruch dieser Autorschaft ist also denkbar hoch, setzt die Prophetin mit den Verfassern der Bibel beziehungsweise. dem InspiratorVerfasser der Heiligen Schrift gleich, sieht ihr Werk direkt aus und von dem göttlichen Wort selbst herausgegeben. Dieser Anspruch korrespondiert mit der im Werk vertretenen grundlegenden Funktion dieser Prophetie: der Kirchenkritik und Erneuerung der Schriftoffenbarung, die die göttliche Stimme in der Antichrist-Vision des Scivias formuliert: ‚[. . .] die gewaltigen Bücher, von bewährten Lehrern mit viel Fleiß ausgelegt, sind durch schlimme Trägheit und Überdruss in Verfall geraten, und das Lebensbrot der göttlichen Schrift ist schon schal geworden; deshalb spreche ich nun über die Schriften durch einen Menschen, der nicht spricht noch durch einen irdischen Lehrmeister unterrichtet ist, vielmehr spreche ich, der ich bin, durch ihn viele neue mystische Geheimnisse, die bisher noch in den Büchern verborgen waren.‘ 89 Der Faktur biblischer Prophetentexte und ihrer Auslegung sind daher die großen Visionstexte angeglichen. Es sind Folgen von dunklen Visionsbeschreibungen, die dann jeweils von der himmlischen Stimme Wort für Wort allegorisch ausgelegt werden, ehe freiere paränetische Kapitel angefügt werden. 90 Die Visionen schöpfen aus dem biblischen Bildervorrat und seiner Exegese, sind aber durchgehend in neuen Bildkompositionen – entsprechend Hugos collatio symbolorum – 91 organisiert und dokumentieren daher mit ihrem innovativen Zugriff auf die prophetische Tradition eine neue Stufe der Prophetie im Hochmittelalter. Es geht also um eine zeitgemäße Rekonstruktion der biblischen Prophetie. Aus der pseudo-dionysischen Tradition nimmt Hildegard verschiedene grundlegende Vorstellungen in ihre Konzeption von Prophetie auf: Prophetie als göttliche Inspiration zum Verständnis der Heiligen Schrift ist ein jederzeitliches Phänomen in der Geschichte; in ihrer Erschließung des göttlichen Wortes verdeutlicht sie zugleich deren pädagogische Funktion, die die Rückkehr zum Ursprung und den Aufstieg anmahnt und ermöglicht. Von 88 Hildegardis, Liber divinorum operum, 462f.; ähnlich auch am Ende der vorhergehenden Werke dies.,

Scivias, 636; Liber vite meritorum, 292. 89 Hildegardis, Scivias, 586: Sed nunc catholica fides in populis uacillat et euangelium in eisdem homi-

nibus claudicat, fortissima etiam uolumina quae probatissimi doctores multo studio enucleauerant in turpi taedio diffluunt et cibus uitae diuinarum Scripturarum iam tepefactus est: unde nunc loquor per non loquentem hominem de Scripturis, nec edoctum de terreno magistro, sed ego qui sum dico per eum noua secreta et multa mystica quae hactenus in uoluminibus latuerunt [. . .]. 90 Zur Machart von Hildegards Visionsbildern und Allegorien: Christel Meier, „Zwei Modelle von Allegorie im 12. Jahrhundert: Das allegorische Verfahren Hildegards von Bingen und Alans von Lille“, in Walter Haug (Hg.), Formen und Funktionen der Allegorie (Germanistische Symposien-Berichtsbände 3), Stuttgart 1979, 70–89; zu einem Beispiel von Visionsaufbau und Erneuerung der Überlieferung dies., „Calcare caput draconis. Prophetische Bildkonfigurationen in Visionstext und Illustrationen: Zur Vision Scivias II 7“, in Edeltraud Forster [u.a.] (Hgg.), Hildegard von Bingen. Prophetin durch die Zeiten, Freiburg [u.a.] 1997, 359–405. 91 Dazu vgl. oben bei Anm. 67f.

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Abb. 3: Hildegard von Bingen, Liber divinorum operum III 4: Gottes Allmacht; Lucca, Biblioteca Statale, Ms. 1942, fol. 135 r.

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der Konfiguration ihrer Symbolkomplexe (collatio symbolorum) über die Unterscheidung von ähnlichen und unähnlichen Symbolen – Hildegard hat auch solche widernatürlichen Figurationen in ihren Visionen verwandt (Abb. 3) – 92 bis zu ihrer starken Lichtmetaphysik und den werksstrukturierenden Trinitätskonstellationen erweist sich bei ihr die Adaptation dieser prophetischen Traditionslinie (was ich an anderer Stelle ausführlicher erläutert habe). 93 Hildegards große Visionswerke, die jeweils vom Weltbeginn bis zum Ende der Geschichte reichen, decken die Zeiten der Prophetie, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Cassiodor und Gregor dem Propheten als Erkenntnisbereich unterstellen, vollkommen ab, indem sie die Deutungshoheit über die gesamte Heilsgeschichte, Schöpfung, Sündenfall, Erlösung und Endgericht, beanspruchen. Das Briefcorpus ergänzt diese Perspektive vor allem durch die Introspektion in die Herzensgeheimnisse (occulta cordis) der Briefpartner, die an die Seherin ihre Fragen stellen – Gregor hatte die Aufdeckung des Verborgenen als die eigentliche Fähigkeit des Propheten bezeichnet. 94 Doch die Prophetin Hildegard wie auch ihre Visionen zielen auf eine ganz spezifische Funktion in der Erschließung der Zeiten: auf eine besondere Position in der Heilsgeschichte, und das heißt, Gegenwartsanalyse im Kräftefeld von Kirche und Politik ihres Jahrhunderts. Sie versteht sich als Prophetin am Beginn der Endzeit, die sie mit einer Phase der Schwäche und des kirchlichen Abstiegs eingeleitet sieht, ein tempus muliebre, in dem gerade sie als Frau und inspirierte Prophetin Mahnerin zur Umkehr sein soll. 95 Prophetie begreift also auch Hildegard nicht allein als Phänomen der Alten Zeit; sie ist vielmehr in der gesamten Heilsgeschichte präsent, denn sie ist das Mittel der Rückerinnerung des Menschen an seine paradiesische Herkunft, das dem Menschengeschlecht gna92 Dazu z.B. Hildegardis, Liber divinorum operum, 388–394, und Christel Meier, „Per visibilia ad invi-

sibilia? Mittelalterliche Visionsikonographie zwischen analoger, negativer und ‚analytischer‘ Ästhetik“, in Andreas Bihrer/Elisabeth Stein (Hgg.), ‚Nova de veteribus‘. Mittel- und neulateinische Studien für Paul Gerhard Schmidt, München/Leipzig 2004, 476–503. 93 Christel Meier, „Eriugena im Nonnenkloster? Überlegungen zum Verhältnis von Prophetentum und Werkgestalt in den figmenta prophetica Hildegards von Bingen“, in Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), 466–497, Abb. 74–83; dies., „Scientia Divinorum Operum. Zu Hildegards von Bingen visionär-künstlerischer Rezeption Eriugenas“, in Werner Beierwaltes (Hg.), Eriugena Redivivus. Zur Wirkungsgeschichte seines Denkens im Mittelalter und im Übergang zur Neuzeit, Heidelberg 1987, 89–141. 94 Wie über die Zeiten verfügt Hildegard auch über die Orte – entsprechend Gregors Aussagen –, wenn sie Wibert von Gembloux beschreibt, wie ihr inspirierter Geist sich hoch über der Erde erhebt und verschiedene Völker sowie weit entfernte Gegenden erreicht: Hildegardis, Epistolarium, Nr. 103 R, 261 (inter diuersos populos se dilatat, quamuis in longinquis regionibus et locis a me remoti sint); zu Gregor s. oben bei Anm. 26. 95 Die Wende von den Blütezeiten der Kirche zu den Endzeiten wird nach Hildegard durch das Auftreten eines tyrannischen Herrschers eingeleitet, mit dem die eigene ‚weibische Zeit‘ beginnt: Hildegardis, „Vita s. Disibodi“, in dies., Epistolae, hg. v. Johannes Baptista Pitra (Analecta sacra 8), Monte Cassino 1882 (Nachdruck: Farnborough 1966), 355: [. . .] usque ad tempus cujusdam tyranni [. . .], qui consilium antiqui serpentis osculari coepit. Et tunc muliebre tempus fere primo casui simile venit, ita ut justitia secundum infirmitatem mulieris debilitata est.

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denhaft von Gott gewährt wird zu seiner Umkehr (reditio): ‚Die Prophetie begann im ersten Werk Gottes, nämlich in Adam; diese leuchtete so von Generation zu Generation durch die verschiedenen Zeitalter der Menschen wie ein Licht im Dunkel. Sie wird nicht verstummen bis zum Ende der Welt, und sie bringt Stimmen vielfältiger Bedeutungen hervor, solange ihr durch die Inspiration des Heiligen Geistes verschiedene Geheimnisse eingegossen werden.‘ 96 Von seiner Erschaffung her hatte der Mensch eigentlich die prophetische Erkenntnis als natürliche Gabe, denn Adam war durch die göttliche Urinspiration zum Lichtmenschen und Visionär geworden, bis er diese Gabe verlor: ‚Das Wissen in Adam war gleichsam Prophetie‘ 97 – ‚Adam [. . .] entschlief in dem Wissen, das er vor der Sünde hatte, so wie ein aus dem Schlaf Erwachender über das, was er im Schlaf gesehen hatte, nichts oder nur Unsicheres weiß, als er, durch die Suggestion des Teufels getäuscht, sich dem Willen des Schöpfers widersetzte und so wegen seiner Sünde in das Dunkel innerer Ignoranz eingehüllt wurde. Gott aber, der die Seelen der Erwählten mit dem Licht der Wahrheit zur früheren Glückseligkeit errettet, hat in seinem Ratschluss bestimmt, dann und wann die Herzen etlicher Menschen durch die Eingießung prophetischen Geistes zu erneuern; durch diese innere Geist-Erleuchtung füllten sie gewisse Lücken in jenem Wissen, das Adam vor der Bestrafung seiner Sünde besessen hatte.‘ 98

Die lange Reihe der Propheten durch die Weltgeschichte (Abb. 4) erfüllt nach Gottes Willen durch ihre Visionen die pädagogisch-anagogische Funktion der Rückerinnerung – so auch Hildegard –: ‚Gott zeigte seinen Heiligen und Propheten in jeder Weltzeit verschiedene wunderbare Dinge, damit die Seele des Menschen sich nicht völlig von der Sehnsucht nach dem Himmlischen entfremdete, sondern durch den Glauben in einigen Mahnungen sich an das ewige Leben zurückerinnerte.‘ 99 Dadurch werden die Propheten als die Vermittler der göttlichen Erinnerungsbotschaft ‚gleichsam in ein fremdes (und neues) Leben‘ gehoben, das dem adamitischen Ursprungszustand ähnelt; 100 diese zeit-

96 Hildegardis, Liber divinorum operum, 355: [. . .] prophecia in primo opere Dei, uidelicet in Adam,

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incepit. Que ita a generatione in generationem per diuersas etates hominum ut lumen per tenebras lucebat, nec a sono suo usque ad terminum mundi cessabit uoces multimodarum significationum proferendo, cum inspiratione Spiritus Sancti diuersis misteriis imbuitur. Ebd. 371: Scientia quoque in Adam uelut prophecia fuit. Hildegardis, Epistolarium, 63: Adam [. . .] in scientia qua ante peccatum preditus erat, ita obdormiuit, sicut homo a somno euigilans de his, que in somnis uiderat, inscius et incertus redditur, quando suggestione diaboli deceptus et uoluntati Creatoris sui repugnans, tenebris interioris ignorantie ex merito iniquitatis sue inuolutus est. Deus uero, qui animas electorum luce ueritatis perfundens ad pristinam beatitudinem reseruat, ex suo hoc adinuenit consilio, ut quandoque corda quamplurium infusione prophetici Spiritus innouaret, cuius interiore illuminatione aliqua de scientia illa recuperarent, quam Adam ante preuaricationis sue uindictam habuerat. Hildegardis, Liber vite meritorum, 290: Deus namque diuersa miracula sanctis et prophetis suis in omni etate mundi ostendit, ne anima hominis a celestibus desideriis omnino peregrinaretur, sed ut per fidem in aliquibus monitis eterne uite reminisceretur. Zur Einhauchung von Gottes Geist in den Lehm Hildegardis, Liber vite meritorum, 87: [. . .] animam que non finietur, Spiritus sanctus infusione sua in prophetis ita illuminauit, quod ipsi quasi in aliena uita alienaliter miracula Dei protulerunt.

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Abb. 4: Hildegard von Bingen, Liber divinorum operum III 2: prophetische Verkündigung durch die Heilsgeschichte (Prophetengruppe mit Tuba); Lucca, Biblioteca Statale, Ms. 1942, fol. 121 v.

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weise eintretende Verwandlung nimmt Hildegard auch für ihr eigenes Prophetentum in Anspruch. 101 Von besonderer Wirksamkeit in dieser Erinnerungsaufgabe ist – wie Hildegard in origineller Zuspitzung ausführt – die Musik. Da der Mensch im Paradies mit einer Stimme zum Lob Gottes ausgestattet war wie die Engelchöre, diese aber mit dem Sündenfall verlor, 102 sucht der Prophet, der weiß, dass die Seele des Menschen eine musikalische (symphonialis) ist, über die Musik die Rückerinnerung anzustoßen, 103 zum Beispiel David mit dem Psalter: ‚[. . .] also verfassten die heiligen Propheten, von dem gleichen Geist, den sie empfangen hatten, belehrt, nicht nur Psalmen und Lieder, die zur Entzündung der Andacht der Hörer gesungen werden sollten, sondern erfanden auch verschiedene Musikinstrumente [. . .].‘ 104 Dieses Mittel der erinnernden Rückkehr sucht der Teufel, der seine Wirksamkeit kennt, auf alle Weise den Menschen zu nehmen. 105 Dass die Prophetin Hildegard auch als Dichterin eines Corpus geistlicher Lieder hervorgetreten ist (die mit Neumen überliefert sind), 106 findet in dieser Konzeption der engen Verbindung

101 So insbesondere in ihrem Selbstzeugnis über den Empfang der Visionen zum Liber divinorum ope-

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rum (mit dem sie sich an Joh. 1 anschließt): Vita sanctae Hildegardis 43 (scientia mea in alium modum conuersa est, quasi me nescirem); m. E. geht es hier nicht um Ekstase (vgl. oben Anm. 72); anders Barbara Newman, „Seherin – Prophetin – Mystikerin. Hildegard von Bingen in der hagiographischen Tradition“, in Edeltraud Forster [u.a.] (Hgg.), Hildegard von Bingen, 126–152, hier 135. Gotteslob wie auch der Gebrauch der von den Propheten erfundenen Instrumente ist Pflicht des Menschen für seine Rettung; dazu Hildegardis, Epistolarium, 63: [. . .] recolimus qualiter homo uocem uiuentis Spiritus requisiuit, quam Adam per inobedientiam perdidit, qui ante transgressionem, adhuc innocens, non minimam societatem cum angelicarum laudum uocibus habebat, quas ipsi ex spiritali natura sua possident, qui a Spiritu qui Deus est spiritus uocantur. Ebd. 65: Et quoniam interdum in auditu alicuius cantionis homo sepe suspirat et gemit, naturam celestis harmonie recolens, propheta, subtiliter profundam spiritus naturam considerans, et sciens quia symphonialis est anima, hortatur in psalmo ut confiteamur Domino in cithara etc. Ebd. 63: [. . .] idem sancti prophete eodem spiritu quem acceperant edocti, non solum psalmos et cantica, que ad accendendam audientium deuotionem cantarentur, sed et instrumenta musice artis diuersa [. . .] composuerunt, ut [. . .] audientes [. . .] per exteriora admoniti et exercitati, de interioribus erudirentur. Ebd. 64: Cum autem deceptor eius, diabolus, audisset quod homo ex inspiratione Dei cantare cepisset, et per hoc ad recolendam suauitatem canticorum celestis patrie mutaretur [. . .], ita exterritus est, ut non minimum inde torqueretur, et multifariis nequitie sue commentis semper deinceps excogitare et exquirere satagit, ut non solum de corde hominis per malas suggestiones [. . .], sed etiam de ore Ecclesie [. . .] per dissensiones et scandala uel iniustas depressiones confessionem et pulchritudinem atque dulcedinem diuine laudis et spiritualium hymnorum perturbare uel auferre non desistit. Die jüngste Textausgabe der z. T. sprachlich sehr kühnen Verse: Hildegardis Bingensis, „Symphonia armonie celestium revelationum“, hg. v. Barbara Newman unter Mitarbeit von Stephan d’Evelyn/ Joshua Byron Smith, in dies., Opera minora (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 226), Turnhout 2007, 335–477.

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von Prophetie und Musik, die allerdings auch schon alttestamentliche Wurzeln hat, eine plausible Erklärung. 107 Prophetie hat sich bei Hildegard von Bingen damit als ein sehr komplexes, unter verschiedenen Perspektiven diskutiertes Phänomen dargestellt, das von den prophetischen Traditionen angeregt ist, doch auch deutlich eigene Akzente aufweist. 108 Eine Darstellung von Hildegards Prophetentum wäre unvollständig ohne einen Ausblick auf die Rezeptionsgeschichte; denn seit dem 13. Jahrhundert wirkt ihr Werk mit einer schmalen Auswahl von Visionstexten über die Endzeiten, die apokalyptische Zukunft in breiter Handschriftenüberlieferung nach. Der Zisterzienser Gebeno von Eberbach hat um 1220 diese Texte unter dem Titel Speculum futurorum temporum sive Pentachronon zusammengestellt aus den apokalyptischen Teilen des Scivias und des Liber divinorum operum sowie ihren Briefen an den Klerus von Köln, von Trier, an Werner von Kirchheim, zwei Papstbriefen, ferner der Explanatio Regulae S. Benedicti und der Vita S. Ruperti. Diese Sammlung, die danach zum Teil durch Pseudo-Hildegardiana angereichert wurde, entfaltete in den Endzeitspekulationen und prophetischen Richtungen des Spätmittelalters große Wirkung und wurde in verschiedenen kirchlichen und politischen Kontexten als Argumentationsmittel eingesetzt. Bekannte Theologen des Spätmittelalters wie Caesarius von Heisterbach, Heinrich von Langen und Pierre d’Ailly haben sich auf sie gestützt. 109 Dass sie Hildegards Konzeption und deren praktische Umsetzung von Prophetie nur in einem schmalen Sektor repräsentiert, bedarf nach dem zuvor Gesagten keiner weiteren Erörterung.

107 Dazu Ulrich Berges, „Kollektive Autorschaft im Alten Testament“, in Christel Meier/Martina Wag-

ner-Egelhaaf (Hgg.), Autorschaft. Ikonen – Stile – Institutionen, Berlin 2011, 29–39, hier 38f. zu David als Psalmendichter im Psalter, im Buch Sirach und in der Psalmenrolle in Qumran. 108 Zur Ergänzung der hier verhandelten Prophetie-Zeugnisse aus Hildegards Werk s. auch Christel Meier, „Ildegarde di Bingen. Profezia ed esistenza letteraria“, in Cristianesimo nella storia 17 (1996), 271–303; s. auch Udo Kühne, „Die Konstruktion prophetischen Sprechens. Hildegards Sicht der eigenen Rolle als Autorin“, in Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 46 (1999), 67–78: erhellend zum Aemulatio-Modell in der prophetischen Literatur-Tradition. 109 Christel Meier, „Nostris Temporibus Necessaria. Wege und Stationen der mittelalterlichen Hildegardrezeption“, in Ulrich Ernst/Bernhard Sowinski (Hgg.), Architectura Poetica. Festschrift für Johannes Rathofer zum 65. Geburtstag (Kölner germanistische Studien 30), Köln [u.a.] 1990, 307–338; Elisabeth Stein, „Das pentachronon Gebenos von Eberbach. Das Fortleben der Visionstexte Hildegards von Bingen bis ins 15. Jahrhundert“, in Rainer Berndt (Hg.), Im Angesicht Gottes suche der Mensch sich selbst. Hildegard von Bingen (1098–1179) (Erudiri Sapientia 2), Berlin 2001, 577–591; Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen. Studien zu ihrer Überlieferung und Rezeption im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Erudiri Sapientia 4), Berlin 2003, 17–27 und s. Reg. s.v. ‚Gebeno von Eberbach‘; Kathryn Kerby-Fulton, „Hildegard of Bingen and Antimendicant Propaganda“, in Traditio 43 (1987), 386–399; dies., „Prophecy and Suspicion: Closet Radicalism, Reformist Politics, and the Vogue of Hildegardiana in Ricardian England“, in Speculum 75 (2000), 318–341. Zur Bezeichnung Hildegards als Sibylle in diesen Traditionen Peter Dronke, „Sibylla – Hildegardis. Hildegard und die Rolle der Sibylle“, in Edeltraud Forster [u.a.], Hildegard von Bingen, 109–118.

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V. Die ‚Prüfung der Geister‘: Wahre und falsche Propheten nach Johannes Gerson In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts – nach den Zukunftsdeutungen Joachims von Fiore, der für sich den Prophetenstatus ablehnt, ihn aber zugleich erfüllt – 110 wächst das Bedürfnis nach Klärung dessen, was Prophetie sei und wie sie sich von verwandten Phänomenen unterscheide. Es entsteht eine Reihe theoretischer Traktate und Abhandlungen scholastischer Autoren zu Prophetie-Begriff und -Theorie, die aspektreiche Analysen präsentieren: von Wilhelm von Auxerre bis Thomas von Aquin. 111 In der Folge entwickelt sich in den religiösen Gemeinschaften des späteren Mittelalters – zum Beispiel während des Mendikantenstreits – 112 zum Teil in engem Kontakt mit der Politik (insbesondere zwischen dem Reich und Frankreich) eine ausgedehnte prophetische Literatur. Sie provoziert und stimuliert nicht nur Konflikte, sondern lässt auch große Skepsis an der Wahrheit von Prophetien aufkommen. 113 Als einer der Skeptiker, die aus der vorhergehenden Diskussion schöpfen und auf die Praxis zielen, hat sich Johannes Gerson 1415 in seinem kurzen

110 Zur Ambivalenz von Joachims Prophetentum Gian Luca Potestà, „Intelligentia scripturarum und

Kritik des Prophetismus bei Joachim von Fiore“, in Robert E. Lerner (Hg.), Neue Richtungen in der hoch- und spätmittelalterlichen Bibelexegese (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 32), München 1996, 95–119, bes. 117–119. 111 Dazu die gründliche Darstellung von Marianne Schlosser, Lucerna in caliginoso loco. Aspekte des Prophetie-Begriffes in der scholastischen Theologie (Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes N.F. 43), Paderborn [u.a.] 2000; s. auch Texte und Analysen bei Jean-Pierre Torrell, Théorie de la prophétie et philosophie de la connaissance aux environs de 1230. La contribution d’Hugues de Saint-Cher (Ms. Douai 434, Question 481) (Spicilegium sacrum Lovaniense 40), Leuven 1977; Ders., Recherches sur la théorie de la prophétie au moyen âge. XIIe–XIVe siècles. Études et textes, Freiburg i.Ue. 1992. 112 Dazu s. Sita Steckel, „Ein brennendes Feuer in meiner Brust. Prophetische Autorschaft und polemische Autorisierungsstrategien Guillaumes de Saint-Amour im Pariser Bettelordensstreit (1256)“, in diesem Band. 113 Marjorie Reeves, The Influence of Prophecy in the Later Middle Ages. A Study in Joachimism, Oxford 1969; Leonie von Wilckens, „Die Prophetien über die Päpste in deutschen Handschriften. Zu Illustrationen aus der Pariser Handschrift Lat. 10834 und aus anderen Manuskripten der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts“, in Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 28 (1975), 171–180, Abb. 180–205; Robert E. Lerner, The Powers of Prophecy: The Cedar of Libanon vision from the Mongol onslaught to the dawn of the Enlightenment, Berkeley [u.a.] 1983; Gian Luca Potestà (Hg.), Il profetismo gioachimita tra Quattrocento e Cinquecento, Genua 1991; darin z.B. zum prophetischen Buch über die großen drohenden Verfolgungen der Kirche von Telesphorus von Cosenza der Beitrag von Colette Beaune (ebd. 195–211); Weissagungen über die Päpste. Vat. Ross. 374. Eine Einführung von Robert E. Lerner/Ropert Moynihan, Zürich 1985; Christian Jostmann, Sibilla Erithea Babilonica. Papsttum und Prophetie im 13. Jahrhundert (MGH Schriften 54), Hannover 2006.

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Traktat De probatione spirituum profiliert. 114 Er drückt darin nicht nur seine Sorge über die Gefahren durch ‚falsche Propheten‘ und die Furcht vor Irritationen, ja Skandalen in der Kirche aus, sondern sucht auch Kriterien aufzustellen, wie durch behutsame Prüfung Täuschungen zu erkennen und beherrschen wären; denn falsche Prophetien zu approbieren sei genauso gefährlich wie echte nicht anzuerkennen. 115 Und dies stelle aktuell für das Konstanzer Konzil – auf dem Gerson die Position des Konziliarismus vertritt – eine anspruchsvolle, delikate Aufgabe dar: zum Beispiel im Hinblick auf die erneute Verhandlung des Falls der längst berühmten und von Papst Bonifaz IX. kanonisierten Mystikerin Birgitta von Schweden. 116 Gerson fragt zuerst, welche Personen mit der ‚Prüfung der Geister‘ erfolgreich betraut werden können; danach entwickelt er Kriterien für eine solche Prüfung. Von den Prüfern sind – so Gerson – bestimmte Kompetenzen und Erfahrungen zu fordern. Diese Voraussetzungen hätten aufgrund einer bestimmten Gabe (donum) die Heiligen Martin und Antonius erfüllt. 117 Kompetenzen sind in dreifacher Weise zu beschreiben als modus doctrinalis, experimentalis und officialis: Erster Kompetenzbeweis ist eine gute generelle Ausbildung und eine vertiefte Schriftgelehrtheit: per modum artis et doctrinae generalis, sicut per eruditionem sacrarum Scripturarum, diligenti pioque studio conquisitam. 118 Zweites Erfordernis kann die innere Inspiration von Gott sein, die allen Zweifel aufhebt: Alius invenitur modus per inspirationem intimam seu internum saporem, sive per experimentalem dulcedinem quamdam, sive per illustrationem a montibus aeternis, effugantem tenebras omnis dubietatis. 119 Konkrete Beispiele hierfür – so Gerson – sind Gregor der Große in seinem Dialogus, Augustin in der Vision zusammen mit seiner Mutter Confessiones X und Hugo von St. Victor in seiner mystischen Schrift De arrha animae. 120 Die dritte Kompetenz resultiert aus einem Amt in der kirchlichen Hierarchie und der diesem zugestandenen, mit ihm verbundenen geistigen Gabe (donum spirituale). 121

114 Jean Gerson (Johannes Carlerius de Gerson), „De probatione spirituum“, in ders., Œuvres Com-

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plètes, Bd. IX: L’Œuvre Doctrinale, hg. v. Palémon Glorieux, Paris 1973, Nr. 448, 177–185. Der Titel der Schrift ist formuliert nach 1. Joh. 4,1: Charissimi, nolite omni spiritui credere, sed probate spiritus si ex Deo sint. Ebd. 179: Est autem utrobique, vel in approbatione vel in reprobatione, periculum. Approbare enim falsas et illusorias aut frivolas visiones pro veris et solidis revelationibus, quid indignius, quid alienius ab hoc sacro Concilio? Reprobare vero nunc eas quae multifarie multisque modis quaquaversum per diversas nationes probatae dicuntur, non parva est inde scandalorum in christiana religione et devotione populorum formidatio. Ebd.: [. . .] examinatione doctrinarum [. . .], praesertim unius quae Brigitta nominatur, assueta visionibus quas nedum ab angelis, sed a Christo et Maria et Agnete et caeteris sanctis, familiaritate jugi, sicut sponsus ad sponsam loquitur, se asserit divinitus suscepisse. Ebd. 178. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.: [. . .] tertius officialis, scilicet ex officio hierarchico atque spirituali dono concessus.

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Gleichwohl bleibt die Beurteilung schwierig, betont Gerson, da zum Beispiel Visionen im Wachzustand – in denen der Visionär seinen Zustand kontrollieren kann – solchen im Traum oft sehr ähnlich sind. Außerdem sei ein Prophet oder Visionär – so schon Gregor der Große (und Cassiodor) – nicht immer im Zustand der Inspiriertheit, sondern aufgrund seiner menschlichen Schwachheit zeitweise im begrenzten Erkenntnisstand des gewöhnlichen Menschen. 122 Doch gibt es für Gerson durchaus einen idealen Prüfer: Er soll sowohl gut ausgebildet und Bibel-Gelehrter sein als auch erfahren in eigenen mystischen Erlebnissen; die Geister prüfen könne niemand vollkommen ohne das letztere: [. . .] nemo perfecte potest per solam sacrae Scripturae eruditionem, qui non etiam expertus sit in seipso variam affectionum spiritualium pugnam, tamquam ascenderit nunc in coelos, nunc descenderit in abyssos et viderit mirabilia Dei in profundo. Nam qui navigant mare hoc mysticum diversarum affectionum, quasi collidentium se fluctuum, enarrant mirabilia ejus. 123 Mit dem Bild vom Aufstieg zum Ziel und dem Abstieg in den Abgrund, das schon bei Cassiodor mit Nähe und Entfernung des göttlich inspirierenden Geistes angeklungen war, sowie mit der Metapher von den zusammenschlagenden Wasserfluten für die konträr wirkenden Affekte ist die zwischen Erfüllung und Aporie schwankende Erfahrung des Mystikers vorweggenommen. 124 Wie bei einem guten Mediziner Theorie und Praxis zusammen gefordert seien, solle in einem solchen Prüfer theologische Gelehrsamkeit sich mit praktischer Kontemplationserfahrung verbinden: ut idem sit in Scripturis sacris eruditus, qui simul in contemplationis exercitatione probatus est. 125 Kriterien oder einen methodischen Vorschlag zur Prüfung findet Gerson in dem rhetorischen Schema der Suchfragen: ‚Du erkunde, wer, was, warum, wem, wie, woher.‘ 126 Anhand dieser Fragen, die er zwar nicht für erschöpfend, aber für nützlich hält, erläutert Gerson, wie auf die Person des Visionärs oder Propheten, auf den genauen Inhalt der Visionen, auf die Begründung der Mitteilung an andere zu achten ist, für welchen Personen- und Wirkungskreis sie konzipiert sind, wie die Lebensweise der Visionäre beschaffen ist und mit welcher Sicherheit von ihnen die Quelle ihrer Inspiration behauptet wird. 127 Zu jedem Punkt formuliert Gerson deutliche Kautelen, Punkte naheliegender Gefährdungen: Bei den Personen sind vor allem die Jungen und die Frauen zu prüfen; 128 122 123 124 125 126

Ebd. 179. Ebd. Ebd.; vgl. Cassiodor oben bei Anm. 17. Ebd. 180. Ebd. zu den Anzeichen wahrer oder falscher Prophetie: Sed quoniam infinita est quidem hujusmodi signorum confusio, coarctemus ad pauciora et dicamus sub hoc metro: Tu quis, quid, quare, cui, qualiter, unde require. 127 Ebd. 180–182. 128 Ebd. 180: Quaeritur ergo si persona sit novitia in zelo Dei, quia novitius fervor cito fallitur si regente caruerit; praesertim in adolescentibus et foeminis, quarum est ardor nimius, avidus, varius, effrenis, ideoque suspectus. Barbara Newman, „What Did it Mean to Say ‚I Saw‘? The Clash between Theory and Practice in Medieval Visionary Culture“, in Speculum 80 (2005), 3–43, 37–43 zu Birgitta von

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bei den Inhalten der Prophetie und Visionen muss insbesondere eine Häufung und Wiederholung von bereits in der Bibel Geoffenbartem für bedenklich gehalten werden; denn Gott – so Job 33,14 – wiederhole sich nicht: Onerosum quippe esset, ne dicamus vanum, visiones super visiones in immensum multiplicatas debere recipere tamquam ab ore Dei prolatas, ac proinde certissima fide credendas. 129 Bei der Prüfung des Grundes der Mitteilung sei um der notwendigen Demut und Nüchternheit willen nicht Zustimmung (applaudere), sondern heftiger Widerstand (obsistere, increpare, spernere) dem Visionär gegenüber angebracht. Negativbeispiele bekräftigen diese Vorsicht, auch wenn die Gefahr, die Gnade der göttlichen Inspiration zu ersticken (spiritum extinguere, gratiam suffocare), mit reflektiert wird. 130 Die Mitteilung der Botschaft an andere Personen soll mit größter Zurückhaltung erfolgen, zur Erbauung, aus Notwendigkeit, nicht um Wahrnehmung bemüht, möglichst mit Akzeptanz einer unabhängigen Beurteilung. 131 Die Beschaffenheit schließlich wird geprüft am Lebenswandel des Visionärs und den Umständen des Offenbarungsempfangs (im Verborgenen – öffentlich, in der vita activa oder contemplativa). 132 Besonders die Frauen, die in ständiger Unterhaltung mit den himmlischen Instanzen zu stehen behaupten wie mit ihren Beichtvätern, sind genauer unter die Lupe zu nehmen. 133 Auch die behauptete Sicherheit, die Quelle der Inspiration erkannt zu haben, sollte eher skeptisch machen. 134 Mit seinen Überlegungen zur ‚Prüfung der Geister‘ vertritt Gerson die typische spätmittelalterliche Position einer deutlichen Prophetie-Skepsis nach und in einer Zeit der vielfältigen prophetischen Literatur, die nicht nur spirituelle Erbauung bietet, sondern auch handfeste kirchen- und weltpolitische Ziele verfolgt.

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Schweden und Gersons Stellungnahme in diesem Traktat wie in dem von 1423 De examinatione doctrinarum. Zu Gersons Beurteilung der spirituellen Frauen: Deborah A. Fraioli, „Gerson judging women of spirit: from female mystics to Joan of Arc“, in Ann W. Astell (Hg.), Joan of Arc and spirituality, New York, NY [u.a.] 2003, 147–165; Dyan Elliott, Proving Women: Female spirituality and inquisitional culture in the later middle ages, Princeton/Oxford 2004, bes. 264–296; Wendy Love Anderson, „Gerson’s stance on women“, in Brian Patrick McGuire (Hg.), A Companion to Jean Gerson (Brill’s Companions to the Christian Tradition 3), Leiden/Boston 2006, 293–315; Yelena Mazour-Matusevich, „La position de Jean Gerson (1363–1429) envers les femmes“, in Le Moyen Age 112 (2006), 337–353. – Zur allgemeinen Problematik von Autorschaft bei Gerson Daniel Hobbins, Authorship and Publicity Before Print. Jean Gerson and the Transformation of Late Medieval Learning, Philadelphia, PA 2009, bes. 51ff., 72ff. Ebd. 181. Ebd. 181 f. Ebd. 183: Ceterum finis attendendus est, quare fit communicatio talium visionum alteri personae, utrum ad ostensionem vel ad necessitatem etc. Ebd. 183 f. Ebd. 184: Hoc praecipue considerare necesse est, si sit mulier, qualiter cum suis confessoribus conversatur et instructoribus, si collocutionibus intendit continuis, sub obtentu nunc crebrae confessionis, nunc prolixae narrationis visionum suarum, nunc alterius cujuslibet confabulationis. Ebd.; für diese Aussage wird Bernhard von Clairvaux als Zeuge angeführt.

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Abbildungsnachweise: Abb. 1 J. J. G. Alexander, Initialen aus großen Handschriften, München 1978, 74, Abb. 18; Abb. 2 Hildegard Schönfeld/Wolfgang Podehl (Hgg.), Hildegard von Bingen, Scivias. Die Miniaturen vom Rupertsberg, Bingen 1979, 17, fol. 1 r; Abb. 3 und 4 Anna Rosa Calderoni Masetti/Gigetta Dalli Regoli, Sanctae Hildegardis Revelationes. Manoscritto 1942 [Lucca Biblioteca Statale], Lucca 1973, 41, fol. 121 v und 45, fol. 135 r.

Nikolaus Staubach

Fälschung – Fiktion – Prophetie Die Areopagitica Hilduins von St. Denis

Praeterita et futura et invisibilia scire solius propheticae praescientiae est. (Ps.-Clementinen, Rec. 10,51,2 1)

Seine Berufung zum Professor primarius der Philosophie an der kurmainzischen Universität Erfurt rechtfertigte der 36jährige Christoph Martin Wieland mit einer Darlegung seiner persönlichen Lebensweisheit in einer Reihe idyllisch-pikanter Plauderszenen, die er als den verlorenen Nachlaß des Diogenes von Sinope deklarierte. 2 Im ‚Vorbericht des Herausgebers‘ werden Fundumstände und Überlieferungsgeschichte des Textes mitgeteilt: Das in einer Klosterbibliothek jahrhundertelang unbeachtet gebliebene lateinische Manuskript aus dem Mittelalter, dem eine arabische Übersetzung des griechischen Originals zugrunde lag, musste den unwissenden und bildungsfeindlichen Mönchen von seinem Entdecker mit List abgehandelt und in eine dem zeitgenössischen Leser zumutbare literarische Form gebracht werden. Mit dieser ironisch-fiktiven Präsentation seiner Trouvaille führte Wieland nicht nur einen wirkungsvollen Hieb gegen die klerikalen Feinde der Aufklärung, sondern intendierte zugleich eine durchaus ernsthafte Rehabilitierung des Kynikers Diogenes, dessen Bild, wie er meinte, durch die antike Überlieferung allzu karikaturhaft verzerrt worden sei. 3 1 Die Pseudoklementinen II: Rekognitionen, in Rufins Übersetzung, hg. v. Bernhard Rehm/Franz

Paschke, Berlin 1965, 358. 2 So der Titel in: Christoph Martin Wieland, Sämmtliche Werke, Bd. 13, Leipzig 1795, und in allen spä-

teren Ausgaben; die anonym erschienene Erstausgabe trägt den Titel: Swkràthc mainÏmenoc oder die Dialogen des Diogenes von Sinope. Aus einer alten Handschrift, Leipzig 1770 (danach hier zitiert). Vgl. Thomas C. Starnes, Christoph Martin Wieland. Leben und Werk, Bd. 1, Sigmaringen 1987, 338 ff.; Friedrich Sengle, Wieland, Stuttgart 1949, 223ff. 3 Vgl. Christoph Martin Wieland, Dialogen 20ff., wo die antiken Diogenes-Testimonien – Diogenes Laertius, Athenaeus, Epictet u.a. – diskutiert werden.

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Quellen- und Überlieferungsfiktionen, mit denen ein Autor sich in durchsichtiger Weise von der Verantwortung für satirische oder frivole Texte zu entlasten bemüht und auf die Herausgeberrolle zurückzieht, sind dazu geeignet, ihren komischen und kritischen Reiz noch zu steigern, und gehören zu den für das 18. Jahrhundert typischen literarischen Spielformen der Leseradressierung. So kann Wieland sich für die vorgebliche Textdepravation, die seine Quelle durch ihre Übersetzungs- und Bearbeitungsstufen erlitten habe, 4 auf die nicht minder wechselvollen Buchschicksale berufen, von denen der jüngere Crébillon berichtet. 5 Das Verfahren der parodistisch umfunktionierten Pseudepigraphie setzt jedoch eine viel längere, bis in die Antike zurückreichende Tradition literarischer Paratexte voraus, die Herkunft und Identität profaner oder religiöser Schriften durch fiktive Autorzuschreibungen und Quellenangaben oder wunderbare Ursprungs- und Entdeckungsgeschichten beglaubigen sollen. 6 Auf dem weiten Feld dieser Spuria lassen sich die Grenzen zwischen Fiktion und Fälschung, literarischem Gestus und Täuschungsabsicht, übernatürlicher Erfahrung und religiösem Betrug kaum sicher ausmachen. So sind die Zeiten vorbei, da man das Mittelalter als Fälschungsepoche par excellence mit einem moralischen Verdikt belegte und die Macht der Papstkirche auf erfundene Privilegien, Lug und Trug gegründet sah. 7 Man bemüht sich nun um das spezifische Wahrheitsverständnis der mit4 Von dem lateinischen Übersetzer heißt es ebd. 33f.: Die Wahrheit zu sagen, seiner Schreibart nach

muß er ein armer Stümper gewesen seyn; ohngeachtet er, als ein Magister noster auf einer neuangehenden Universität, (wie Salamanca damals war) in der Vorrede die Backen ziemlich aufzublasen scheint. Offenbar spielt Wieland damit auch auf die eigene Berufung nach Erfurt an, von der sich seine freisinnig-aufgeklärten Gönner einen Impuls zur Universitätsreform versprochen hatten – eine Hoffnung, die dann allerdings am Widerstand der reaktionären Kräfte zunichte wurde. 5 Christoph Martin Wieland, Dialogen 32: Ich besorge, sie [diese Dialogen] haben beynahe das nehmliche Schicksal gehabt, welches die Geschichte des Schaumlöffels, nach der Erzählung seines französischen Herausgebers, betroffen haben soll. Vgl. Crébillon, Tanzaï et Néadarné, Préface, in: Œuvres complètes de Monsieur de Crébillon, Fils, Bd. 2, Maastricht 1779, i–viii (Erstausgabe 1734 unter dem Titel: L’Écumoire. Histoire japonaise). 6 Vgl. Friedrich Wilhelm, „Über fabulistische Quellenangaben“, in Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 33 (1908), 286–339; Wolfgang Speyer, „Religiöse Pseudepigraphie und literarische Fälschung im Altertum“, in Jahrbuch für Antike und Christentum 8/9 (1965/1966), 88–125; ders., „Angebliche Übersetzungen des heidnischen und christlichen Altertums“, in Jahrbuch für Antike und Christentum 11/12 (1968/1969), 26–41; ders., Bücherfunde in der Glaubenswerbung der Antike (Hypomnemata 24), Göttingen 1970; ders., Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum. Ein Versuch ihrer Deutung (Handbuch der Altertumswissenschaft I 2), München 1971. 7 Klaus Zechiel-Eckes, „Altes Recht und falsche Päpste: Überlegungen zu Rezeption und ‚kreativer‘ Transformation spätantiker Literalität im frühen Mittelalter“, in Dietrich Boschung/Susanne Wittekind (Hgg.), Persistenz und Rezeption. Weiterverwendung, Wiederverwendung und Neuinterpretation antiker Werke im Mittelalter, Wiesbaden 2008, 85–103, 89: „[. . .] die verbale Kraftmeierei kennt keine Grenzen, wenn es darum geht, den sogenannten pseudoisidorischen Fälschungskomplex zu charakterisieren. Der Verfasser dieser Zeilen verspürt keinerlei Bedürfnis, in den moralisierenden Tenor solcher Äußerungen einzustimmen. Die Durchsetzung politischer Ziele hat mit Ethos und Moral oft wenig zu tun.“ Die Neubewertung des Phänomens signalisiert auch der Titel des Sammel-

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telalterlichen ‚Fälscher‘ und nimmt es ohne Entrüstung hin, dass sie bei ihrem Tun durch höhere Interessen legitimiert scheinbar jedes Unrechtsbewusstsein vermissen lassen. 8 Denn von jenen mittelalterlichen Textsorten, die ihrem erklärten Anspruch auf historische Faktizität vielfach oder durchweg nicht gerecht werden, dient die hagiographische Viten- und Mirakelliteratur der Erbauung ihrer Leser und Hörer und der Erhöhung Gottes und der Heiligen, während die Rechtsquellen den vermeintlich wohlerworbenen Besitzstand von Kirche und Klerus sichern sollen. 9 Gleichwohl ist die Freiheit, mit der Mönche und kirchliche Amtsträger des Mittelalters bei der Verfertigung ihrer Texte Tatsachen und Authentizitätsfragen behandeln, erklärungsbedürftig. Einerseits steht ihr Verhalten in krassem Widerspruch zur Autorität Augustins, der das Gebot der Wahrhaftigkeit so kompromisslos radikalisiert hat, dass jegliche Täuschung – auch zum Schutz vor ungerechter Verfolgung oder zur Verteidigung des wahren Glaubens – als sündhaft zu verurteilen war. 10 Andererseits verraten die Autoren bandes: Wilfried Hartmann/Gerhard Schmitz (Hgg.), Fortschritt durch Fälschungen? (MGH Studien und Texte 31), Hannover 2002. 8 Vgl. etwa Hubert Silvestre, „Le problème des faux au moyen âge“, in Le Moyen Âge 66 (1960), 351–370; Horst Fuhrmann, „Die Fälschungen im Mittelalter. Überlegungen zum mittelalterlichen Wahrheitsbegriff“, in Historische Zeitschrift 197 (1963), 529–607; ders., „‚Mundus vult decipi‘. Über den Wunsch des Menschen, betrogen zu werden“, in Historische Zeitschrift 241 (1985), 529–541 sowie die Beiträge des Sammelwerks: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica München 1986, 6 Bde. (MGH Schriften 33,1–6), Hannover 1988–1990. 9 Zum Problem der Fiktionalität in mittelalterlicher Historiographie und Hagiographie vgl. etwa: Klaus Schreiner, „Zum Wahrheitsverständnis im Heiligen- und Reliquienwesen des Mittelalters“, in Saeculum 17 (1966), 131–169; ders., „Discrimen veri ac falsi. Ansätze und Formen der Kritik in der Heiligen- und Reliquienverehrung des Mittelalters“, in Archiv für Kulturgeschichte 48 (1966), 1–53; Benoît Lacroix, L’historien au moyen âge, Montréal/Paris 1971, 133ff.; Bernard Guenée, Histoire et culture historique dans l’Occident médiéval, Paris 1980, 129ff.; Georg Scheibelreiter, „Die Verfälschung der Wirklichkeit. Hagiographie und Historizität“, in Fälschungen im Mittelalter, Bd. 5, 283–319; Fritz Peter Knapp, Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik, 2 Bde., Heidelberg 1997 und 2005; ders./Manuela Niesner (Hgg.), Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter (Schriften zur Literaturwissenschaft 19), Berlin 2002; Otto Gerhard Oexle, „Im Archiv der Fiktionen“, in Rechtshistorisches Journal 18 (1999), 511–525; Jean-Claude Schmitt, La conversion d’Hermann le Juif. Autobiographie, histoire et fiction, Paris 2003, bes. 25–61: ‚Fiction et vérité‘; Johannes Laudage (Hg.), Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung, Köln [u.a.] 2003; Hans-Werner Goetz, „Textualität, Fiktionalität, Konzeptionalität. Geschichtswissenschaftliche Anmerkungen zur Vorstellungswelt mittelalterlicher Geschichtsschreiber und zur Konstruktion ihrer Texte“, in Mittellateinisches Jahrbuch 41 (2006), 1–21. 10 Vgl. etwa Roger D. Ray, „Christian conscience and pagan rhetoric: Augustine’s treatises on lying“, in Studia Patristica 22 (1989), 321–325; Alfons Fürst, „Patristische Diskussionen über die Lüge“, in Rochus Leonhardt/Martin Rösel (Hgg.), Dürfen wir lügen? Beiträge zu einem aktuellen Thema, Neukirchen-Vluyn 2002, 68–90; ders., „Lüge (Täuschung)“, in Reallexikon für Antike und Christentum Bd. 23, 2009, 620–645; ders., „Mendacium“, in Augustinus-Lexikon Bd. 3, Fasc. 7/8, 2010, 1261–1266; Hans-Werner Goetz, „Konzept, Bewertung und Funktion der Lüge in Theologie, Recht und Geschichtsschreibung des frühen und hohen Mittelalters“, in Ulrich Ernst (Hg.), Homo men-

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fingierter Schriften und Dokumente durch elaborierte Wahrheitsbezeugungen und Echtheitsindizien sowohl ein ausgeprägtes Bewusstsein von der Relevanz der Fälschungsproblematik wie auch ihre entschiedene Täuschungsabsicht. Inwiefern sie dennoch guten Gewissens gehandelt haben, ist ein psychologisches Rätsel, das sich dem historischen Zugriff zu entziehen scheint. Allerdings gibt es durchaus Hinweise auf ein Autorisierungsmodell, das den kreativen Umgang mit der Überlieferung, die ‚Erfindung von Tradition‘ zu rechtfertigen geeignet ist. Es handelt sich um einen Sonderfall göttlicher Offenbarung, die durch Inspiration oder visionär-ekstatisches Erleben neue Erkenntnis vermittelt. Während der Prophet sich auf die Unmittelbarkeit seiner Eingebung berufen kann, bringt der von Gott geleitete Sucher verborgenen oder vergessenen Wissens seine Entdeckungen im Medium alter und entlegener Bücher und Urkunden ans Licht: Da er von der Wahrheit dieser Texte überzeugt ist, erfüllt ihre Präsentation nicht den Tatbestand von Lüge, Fälschung und Betrug. Durch ihre Einkleidung in den Beglaubigungsapparat echter oder pseudepigraphischer Schriften fällt es jedoch schwer, solche Beispiele der Rekonstruktion verlorener Überlieferung als eine Form der Prophetie wahrzunehmen. Dennoch lassen sich eindeutige Textsignale ausmachen, die das Selbstverständnis des ‚Fälschers‘ als Propheten dokumentieren. Im Winter des Jahres 828/29 musste Einhard den Aufenthalt bei seinen geliebten Heiligen Marcellinus und Petrus, deren Gebeine er aus Rom hatte rauben und nach Mulinheim/Seligenstadt transferieren lassen, für einige Zeit unterbrechen, weil er zur Reichsversammlung an den Aachener Hof Ludwigs des Frommen zitiert worden war. 11 Die Trennung fiel ihm schwer, doch hatte er dafür gesorgt, auch während seiner Abwesenheit über das Wundergeschehen an der Kultstätte unterrichtet zu werden. Und in der Tat trug sich dort Bemerkenswertes zu. Einer der Hüter des Heiligtums, ein blinder Aquitanier mit Namen Albricus, berichtete davon, dass sich ihm in einer Traumvision der Erzengel Gabriel als Vertreter der beiden Märtyrer vorgestellt habe, um ihm eine lange Botschaft zu verkünden, die Ermahnungen für den Kaiser zum Inhalt hatte: Er sollte sie aufzeichnen und an Einhard schicken lassen, damit der sie dem Adressaten übergebe. Einhard erhielt den so entstandenen libellus, redigierte ihn und fertigte eine Reinschrift an, die er Lud-

dax. Lüge als kulturelles Phänomen im Mittelalter (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 9), Berlin 2004, 54–72. 11 Einhard, „Translatio et miracula sanctorum Marcellini et Petri“, in MGH Scriptores 15,1, Hannover 1887, 238–264, lib. III,12, 252. – Vgl. Josef Fleckenstein, „Einhard, seine Gründung und sein Vermächtnis in Seligenstadt“, in Karl Hauck (Hg.), Das Einhardkreuz. Vorträge und Studien der Münsteraner Diskussion zum arcus Einhardi, Göttingen 1974, 96–121; Hans Reinhard Seeliger, „Einhards römische Reliquien. Zur Übertragung der heiligen Marzellinus und Petrus ins Frankenreich“, in Römische Quartalschrift 83 (1988), 58–75; Martin Heinzelmann, „Einhards ‚Translatio Marcellini et Petri‘: Eine hagiographische Reformschrift von 830“, in Hermann Schefers (Hg.), Einhard. Studien zu Leben und Werk, Darmstadt 1997, 269–298; Marie-Hélène Jullien/Françoise Perelman (Hgg.), Clavis des auteurs latins du moyen âge, Bd. 1, Turnhout 1994, 345f.

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wig überreichte: Et ille quidem suscepit atque perlegit, sed de his, quae per hunc libellum facere iussus vel admonitus fuerat, perpauca adimplere curavit. 12 Leider hat Einhard nichts Näheres über die vom Kaiser so nachlässig befolgte Engelbotschaft mitgeteilt. Einen gewissen Ersatz bietet allerdings das wenig später entstandene Gegenstück zu diesem libellus, das Einhard ausführlich zitiert. Es handelt sich um das Protokoll der Aussage eines Teufels, der bei einem Exorzismus durch die Macht der Heiligen zu dem Geständnis genötigt wird, mit seinen Genossen über Jahre hin das Frankenreich geschädigt und verwüstet zu haben. Auf die Frage nach dem Grund für diese Befugnis antwortet er: propter malitiam populi huius et multimodas iniquitates eorum, qui super eum constituti sunt. Sodann folgt eine lange Aufzählung der Verfehlungen, Sünden und Laster im Volk und bei den Großen des Reichs – eine Moralpredigt aus dem Munde des Teufels, wie sie Gabriel nicht besser hätte halten können. 13 Einhards anschaulich-naiver Bericht zeigt, wie seine Hausheiligen Engel und Teufel in Bewegung setzen, um das Reich zu retten, ‚in das sie auf Geheiß Gottes gekommen sind‘. 14 Bücher, libelli, sind dabei die Medien der übernatürlichen Offenbarung. Weil der Kaiser ihre Botschaft missachtete, wurde seine Herrschaft durch Krisen und Rebellionen erschüttert. 15 Noch ein Menschenalter nach seinem Tode war man davon überzeugt, dass er auch im Jenseits für dieses Versäumnis zu büßen habe. 16 Während der alte Einhard als gelegentlicher Gast auf der politischen Bühne die zunehmenden Spannungen im Machtgefüge des Reiches nur mit sorgenvoller Zurückhaltung beobachten konnte, stand Ludwigs Erzkapellan Hilduin im Zentrum des Geschehens. 17 Auch als Reliquiensammler war der mächtige Abt von St. Denis und anderer Klöster Einhard weit überlegen. Besaß er doch sogar die Unverfrorenheit, einen Teil der Marcellinus-Gebeine während ihres Transports für sich abzweigen zu lassen – ein furtum, das er bei einer Aachener Begegnung mit Einhard widerwillig eingestehen und schließlich zurückerstatten musste. 18 Allerdings geriet Hilduins Stellung gerade durch seine politische Umtriebigkeit ins Wanken: Da er sich anders als Einhard an der ‚Palastrebellion‘ von 12 13 14 15

Einhard, „Translatio“, lib. III,13, 252f. Ebd. lib. III,14, 253f. Ebd. lib. III,13, 252. Im Sommer 837 erinnerte Einhard den Kaiser anlässlich der Erscheinung eines als Unheilszeichen gedeuteten Kometen an die missachteten Ermahnungen des Erzengels Gabriel; Einhard, „Epistolae“, hg. v. Karl Hampe, in MGH Epistolae 5, Berlin 1899, 105–149, ep. 40, 130: Quid enim interest, utrum homine vel angelo vel stella nuntiante inminens ira generi predicetur humano? 16 Annales Fuldenses, hg. v. Friedrich Kurze (MGH SS rer. Germ. in us. schol.), Hannover 1891, ad a. 874, 82: Quamvis memoratus imperator [Hludowicus] multa laudabilia et Deo placita fecisset, plurima tamen legi Dei contraria in regno suo fieri permisit. Si enim [. . .] monita Gabrielis archangeli, quae Einhartus [. . .] ei obtulit legenda et facienda, observare curasset, forsitan talia non pateretur. 17 Ferdinand Lot, „De quelques personnages du IXe siècle qui ont porté le nom de Hilduin“, in ders., Recueil des travaux historiques, Bd. 2, Genf 1970, 461–503 (Erstpublikation 1903); Philippe Depreux, Prosopographie de l’entourage de Louis le Pieux (781–840), Sigmaringen 1997, 250–256; Marie-Hélène Jullien (Hg.), Clavis des auteurs latins du moyen âge, Bd. 3, Turnhout 2010, 482–546. 18 Einhard, „Translatio“, lib. II,1–3, 245f.

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830 aktiv beteiligte, fiel er nach deren Scheitern vorübergehend in Ungnade und verlor seine Ämter, erhielt jedoch die Abtei St. Denis bald wieder zurück. Bei der zweiten Erhebung gegen Ludwig 833/34 verhielt er sich vorsichtiger und konnte für den abgesetzten Kaiser, der nach St. Denis in seine Obhut verbracht worden war, die förmliche Restitution inszenieren, sobald sich ein Umschwung der Machtverhältnisse abzeichnete. 19 Mehr noch als diese Tat selbst beeindruckte den Kaiser wohl die Deutung des Geschehens, die Hilduin damit verband. Denn der Abt erklärte ihm die unerwartete Schicksalswendung als einen Gunsterweis des heiligen Dionysius und stellte sie in die lange Reihe seiner Wohltaten für die Völker und Herrscher Galliens. Damit wurde auch Hilduins eigene Bedeutung ins rechte Licht gerückt – hatte sich doch der Märtyrer, dessen Grab er hütete, weit größere Verdienste um das Reich erworben als etwa die Heiligen Einhards. Mit dem Ausdruck tiefster Dankbarkeit gegen seinen himmlischen patronus übertrug der Kaiser daher Hilduin die Aufgabe, sämtliche Informationen über das Leben und die Taten des heiligen Dionysius zu sammeln und zu einer geschlossenen Darstellung zu verarbeiten, die mit einem entsprechenden Dokumentenband ergänzt werden sollte. Die detaillierte Nennung der einschlägigen Quellen verrät, dass kein anderer als Hilduin selbst der Initiator dieses Projekts gewesen ist und wohl auch das Auftragsschreiben des Kaisers verfasst hat. 20 Darin heißt es: ‚Darum wollen wir dir, ehrwürdiger Hüter und Pfleger unseres Gönners und Beschützers [Dionysius], folgendes ans Herz legen: Du sollst alles, was über ihn aus der Geschichtsschreibung der Griechen übersetzt vorliegt und was von seinen eigenen in der Muttersprache verfassten Büchern, die auf unser Geheiß und durch deinen Eifer und die Mühe der Übersetzer in unsere Sprache übertragen wurden, sich für dieses Unternehmen eignet, sowie auch das, was du in lateinischen Handschriften dazu schon entdeckt hast, zusammen mit dem Büchlein seiner Passio, schließlich auch die uralten Stücke des Urkundenbuchs, die du im Archiv der Pariser Kirche, seines Bischofssitzes, gefunden und unserem interessierten Auge vorgelegt hast – du sollst das alles unter Berücksichtigung der Tatsachen, Umstände und Zeiten zu einem Corpus zusammenstellen und daraus einen einheitlichen Text gestalten. [. . .] Wenn das geschehen ist, dann nimm noch dazu die Vision, die Papst Stephan in der Kirche des heiligen Dionysius einst erlebt und beschrieben hat, und den zugehörigen Ereignisbericht sowie die Hymnen auf den heiligen Bischof und Märtyrer, die sich in deinem Besitz befinden, und das [für sein Fest bestimmte] nächtliche Chorgebet. Du sollst aber alles über ihn gefundene Quellenmaterial separat und vollständig in einem eigenen Band sammeln, deutlich und korrekt abschreiben lassen und uns möglichst bald zuschicken oder persönlich übergeben. Denn damit haben wir, wie ich glaube, allerorts ein großes und beglückendes Unterpfand der ersehnten Anwesenheit dieses unseres

19 Max Buchner, Das Vizepapsttum des Abtes Hilduin von St. Denis (ders., Quellenfälschungen aus dem

Gebiete der Geschichte, Heft 2), Paderborn 1928, 106, weist Hilduin in dieser Situation „die Rolle eines Königs- bzw. Kaisermachers“ zu, was wohl übertrieben ist. Die rasche Wiedereinsetzung durch einige anwesende Bischöfe ist jedoch sicher nicht ohne seine Mitwirkung erfolgt. Vgl. Bernhard Simson, Jahrbücher des Fränkischen Reichs unter Ludwig dem Frommen, Bd. 2, Leipzig 1876, 90ff.; Konrad Bund, Thronsturz und Herrscherabsetzung im Frühmittelalter, Bonn 1979, 423ff. 20 „Epistolae variorum“, hg. v. Ernst Dümmler, in MGH Epistolae 5, Berlin 1899, 299–360, ep. 19, 326 f.

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Herrn und Trösters bei uns, wenn wir uns mit ihm, also den über ihn oder von ihm vorliegenden Äußerungen, in Gebet, Gespräch oder Lektüre unterhalten.‘ 21

Das in diesem Auftragschreiben skizzierte hagiographische Projekt beruht auf der wie selbstverständlich vorausgesetzten Überzeugung, dass der erste Pariser Bischof mit jenem in der Apostelgeschichte als Paulusjünger genannten Areopagiten Dionysius identisch sei, unter dessen Namen seit dem 6. Jahrhundert ein umfangreiches mystisches Schriftencorpus verbreitet und rezipiert worden ist. 22 Hilduin war zwar nicht der Urheber, wohl aber ein engagierter und wirkungsvoller Vertreter dieser ‚areopagitischen These‘. 23 Ihre Vorgeschichte und Entstehung ist ein trotz intensiver Forschungen nach wie vor in vielen Details umstrittener Prozess, weil wichtige Zeugnisse sich nicht sicher datieren lassen. In vereinfachter Form kann man die fränkische Dionysius-Tradition und die Aufnahme des Pseudo-Dionysius im lateinischen Westen als zwei getrennte Entwicklungslinien darstellen, deren Konvergenz in Hilduins Areopagitica zum Abschluss kommt. Ein erster Fixpunkt der Überlieferung vom Pariser Bischof Dionysius ist die Nachricht Gregors von Tours, dass jener während der Verfolgungszeit unter Decius zusammen mit sechs Gefährten zur Missionierung Galliens ausgesandt worden sei. Für einen der sieben, Bischof Saturninus von Toulouse, ist diese Datierung durch seine Vita gesichert, auf die Gregor sich mit einem wörtlichen Zitat beruft. Dagegen bleiben Dionysius und die übrigen Begleiter in dieser Quelle unerwähnt. 24 Gregors Aussage, die auch wegen der symbolischen Siebenzahl der Missionsbischöfe als konstruiert verdächtigt worden ist, 25 21 Ebd. 327. 22 Vgl. etwa David Luscombe, „Denys the Pseudo-Areopagite in the middle ages from Hilduin

to Lorenzo Valla“, in Fälschungen im Mittelalter, Bd. 1, 133–152; Édouard Jeauneau, „Denys l’Aréopagite promoteur du néoplatonisme en Occident“, in Linos G. Benakis (Hg.), Néoplatonisme et philosophie médiévale. Actes du colloque international de Corfou 1995 (Rencontres de philosophie médiévale 6), Turnhout 1997, 1–23; Ysabel de Andia (Hg.), Denys l’Aréopagite et sa postérité en Orient et en Occident. Actes du colloque international, Paris 1994 (Collection des Études augustiniennes: Antiquité 151), Paris 1997; Tzotcho Boiadjiev [u.a.] (Hgg.), Die Dionysius-Rezeption im Mittelalter. Internationales Kolloquium in Sofia 1999 (Rencontres de philosophie médiévale 9), Turnhout 2000. 23 P. G. Théry, „Contribution à l’histoire de l’aréopagitisme au IXe siècle“, in Le Moyen Âge 25 (1923), 111–153; ders., Études dionysiennes, I: Hilduin, traducteur de Denys (Études de philosophie médiévale 16), Paris 1932; Max Buchner, Die Areopagitika des Abtes Hilduin von St. Denis und ihr kirchenpolitischer Hintergrund (ders., Quellenfälschungen aus dem Gebiete der Geschichte, Heft 3), Paderborn 1939; Édouard Jeauneau, „L’abbaye de Saint-Denis introductrice de Denys en Occident“, in Ysabel de Andia (Hg.), Denys l’Aréopagite et sa postérité, 361–378. 24 Gregor von Tours, Libri historiarum, hg. v. Bruno Krusch/Wilhelm Levison (MGH SS rer. Merov. 1,1), Hannover 1951, lib. I,30, 22f. Vgl. „Passio sancti Saturnini episcopi Tolosani et martyris“, in Acta Martyrum, hg. v. Thierry Ruinart, Regensburg 1859, 177–180, 178, sowie Élie Griffe, „La date du martyre de saint Saturnin de Toulouse“, in Bulletin de littérature ecclésiastique 51 (1950), 129–135 (mit einer Korrektur des bei Ruinart fehlerhaften Textes der Zeitbestimmung). 25 Godefroid Kurth, „Les traditions du VIe siècle sur l’apostolicité de saint Denis de Paris“, in ders., Études franques, Bd. 2, Paris/Brüssel 1919, 297–317, 301f.; Léon Levillain, „Saint Trophime et la mission des Sept en Gaule“, in Revue d’histoire de l’Église de France 13 (1927), 145–189, 164ff.

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widerspricht dem Zeugnis der ältesten, nach ihrem Incipit Gloriosae zitierten DionysiusPassio (BHL 2171): Hier wird Dionysius vom Petrus-Nachfolger Clemens in den Westen geschickt, wo er im Verbund mit den beiden Klerikern Rusticus und Eleutherius als Haupt einer Dreiergruppe wirkt, die ihr Bekenntnis zur Trinität durch ein dreifaches Martyrium besiegelt. 26 Dass die Passio Gloriosae nicht, wie man oft behauptet hat, 27 gegenüber Gregor die Priorität besitzt, sondern ihn korrigieren will, um mit ihrer Frühdatierung die Apostolizität der Pariser Kirche zu beweisen, wird durch eine auffällige Digression in ihrem umfangreichen Einleitungsteil nahegelegt. Der anonyme Autor fasst hier in wenigen Sätzen die Frühgeschichte der christlichen Mission zusammen und preist die Leistung der Apostel und ihrer Schüler, die als Bischöfe bei der Verbreitung des Evangeliums zu Märtyrern und Bekennern wurden. Aus der Schar dieser Glaubensboten führt er namentlich zwei der auch von Gregor genannten gallischen Bischofsheiligen an, Saturninus von Toulouse und Paulus von Narbonne. Die Auswahl dieses Beispielpaars erscheint insofern plausibel, als der eine ein Märtyrer und der andere ein Confessor war. Was jedoch überrascht, ist die Mitteilung charakteristischer Details aus den Viten der beiden, 28 ohne dass ein Zusammenhang mit dem Protagonisten der Passio, Dionysius, hergestellt wird. Während die Bischofsliste Gregors sich durch den Synchronismus der Entsendung zwanglos in sein Erzählkontinuum einfügt, hat der Anonymus die Kurzbiographien des Saturninus 26 „Passio sanctorum martyrum Dionisii, Rustici et Eleutherii“ [= Gloriosae], in Venantius Fortunatus,

Opera pedestria, hg. v. Bruno Krusch (MGH Auctores antiquissimi 4,2), Berlin 1885, 101–105. Eine vom ersten Herausgeber der Passio François Bosquet benutzte, jetzt verlorene Handschrift hatte statt der Nennung des Entsenders Clemens die wohl ursprünglichere, aber bei Krusch nicht verzeichnete Lesart a successoribus apostolorum. Vgl. Cornelius Bye, „De SS. Dionysio ep., Rustico presbyt. et Eleutherio diacono martyribus commentarius praevius“, in Acta Sanctorum, Oct. t. IV, Paris/Rom 1866, 865–925, 871. 27 Als terminus ante quem wird jetzt allgemein die auf ca. 520 datierte Vita Genovefae betrachtet; s. jedoch dazu unten Anm. 35. Vgl. Léon Levillain, „Études sur l’abbaye de Saint-Denis à l’époque mérovingienne, I: Les sources narratives“, in Bibliothèque de l’École des Chartes 82 (1921), 5–116, hier 6–28; Henri Moretus Plantin, „Les passions de saint Denys“, in Mélanges offerts au R. P. Ferdinand Cavallera, Toulouse 1948, 215–230; Raymond J. Loenertz, „La légende parisienne de S. Denys l’Aréopagite. Sa genèse et son premier témoin“, in Analecta Bollandiana 69 (1951), 217–237; Martin Heinzelmann, „L’hagiographie mérovingienne: panorama des documents potentiels“, in Monique Goullet u. a. [Hgg.], L’hagiographie mérovingienne à travers ses réécritures (Beihefte der Francia 71), Ostfildern 2010, 27–82, 44. Dass die Passio in die Zeit Gregors von Tours gehört, wird dagegen plausibel gemacht von Élie Griffe, „Les origines chrétiennes de la Gaule et les légendes clémentines“, in Bulletin de littérature ecclésiastique 56 (1955), 3–22. 28 Neben der Passio sancti Saturnini wird auch die Vita Pauls von Narbonne benutzt und wörtlich zitiert; Acta Sanctorum, Mart. t. III, Paris/Rom 1865, 371f. Vgl. Élie Griffe, „Les origines chrétiennes“, 19. – Zu Paulus und Saturninus s. auch Anke Krüger, Südfranzösische Lokalheilige zwischen Kirche, Dynastie und Stadt vom 5. bis zum 16. Jahrhundert (Beiträge zur Hagiographie 2), Stuttgart 2002, 237–241, 273–284, sowie Anne-Véronique Gilles-Raynal, „Le dossier hagiographique de saint Saturnin de Toulouse“, in Monique Goullet/Martin Heinzelmann (Hgg.), Miracles, vies et réécritures dans l’Occident médiéval (Beihefte der Francia 65), Ostfildern 2006, 341–405.

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und Paulus gewissermaßen als Hors d’œuvre antizipiert, bevor er zu seinem eigentlichen Thema, den Taten des Dionysius übergeht: ad peculiaris patroni gesta. Durch die dispositionelle Fuge zwischen Einleitung und Hauptteil wird also die von Gregor bezeugte historische Zusammengehörigkeit der Heiligen Saturninus, Paulus und Dionysius suspendiert und auf eine bloß exemplarische Vergleichbarkeit reduziert. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Bei der Frühdatierung der Dionysius-Mission hätte sich eine Zeitgenossenschaft der drei nur gegen das ausdrückliche Zeugnis der Saturninus-Vita behaupten lassen. 29 Die Christianisierung Galliens auf einen Missionsauftrag des Apostelschülers Clemens zurückzuführen ist ein Motiv, das die Passio Gloriosae mit mehreren hagiographischen Zeugnissen des 6. Jahrhunderts teilt. 30 Für die Entwicklung der Dionysius-Tradition wurde es ebenso wirksam wie das hier erstmals fassbare Auftreten der beiden Gehilfen des Bischofs, Rusticus und Eleutherius. 31 In seinen der Exordialtopik der Gattung verpflichteten Ausführungen zur Größe und Schwierigkeit der übernommenen Aufgabe (suscepti officii) reflektiert der Autor auch die Quellenproblematik und rechtfertigt das Verfahren der inventio und amplificatio materiae mit dem Fehlen schriftlicher Aufzeichnungen. Der aus den Nöten der Verfolgungszeit zu erklärende Mangel lasse sich jedoch durch mündliche Überlieferung und den Beistand Gottes und der Heiligen selbst kompensieren, von deren Taten und Leiden man gar nicht zu viel glauben könne: Quae longo temporis fuerant obumbrata silentio, ipsius divinitatis auxilio suscepta sunt reseranda. Et ut habet testimonium veritatis, plus fidelium sunt relatione comperta quam probentur ad nos lectione transmissa. [. . .] Credendum enim de his est et abstersa dubietatis nube totis viribus confitendum, eos qui pro confessione Domini ac Dei nostri digni fuerant subire martyrium, etiam ampliora tolerare valuisse, quam videtur succedentibus aetatibus relatio per populos transmissa recolere. [. . .] ipsorum iuvamine martyrum quantum de se scire tribuunt explicemus. [. . .] In talibus enim causis maius convenit fideles credere quam possit relatio humana monstrare. 32 29 Der Verzicht auf einen expliziten Synchronismus der drei Heiligen in der Passio Gloriosae war aller-

dings nicht so markant, dass man sie nicht doch als Zeitgenossen betrachten konnte. So referiert Gregor von Tours in seinem hagiographischen Alterswerk die dem eigenen früheren Bericht widersprechende Behauptung, dass Saturninus von den Apostelschülern nach Gallien entsandt worden sei, Gregor von Tours, „Liber in gloria martyrum“, in ders., Miracula et opera minora, hg. v. Bruno Krusch (MGH SS rer. Merov. 1,2), Hannover 1885, 34–111, c. 47, 70: Saturninus vero martyr, ut fertur, ab apostolorum discipulis ordinatus, in urbe Tolosacium est directus. Qui inpulsu paganorum bovis petulci religatus vestigiis per grados Capitulii praecipitatus praesentem finivit vitam, capitis conpage dispersa. Dass Gregor sich hier auf den Anonymus bezieht, zeigt die Wendung, mit der er die Todesart des Saturninus beschreibt: capitis conpage dispersa. Es handelt sich offenbar um die etwas ungeschickte Verkürzung einer entsprechenden Formulierung aus der Dionysius-Passio: sancti capitis soluta conpage cerebrum frequentis inlisionis dispersit iniuria. 30 Vgl. Godefroid Kurth, „Les traditions du VIe siècle“; Élie Griffe, „Les origines chrétiennes“. 31 Vgl. Léon Levillain, „Études sur l’abbaye de Saint-Denis“, 14ff. Die erste datierte Nennung der drei Märtyrer liegt vor in der Urkunde Chlodwigs II. für St. Denis vom 22. Juni 654; Die Urkunden der Merowinger, hg. v. Theo Kölzer, 1. Teil (MGH DD Merov. 1), Hannover 2001, D 85, 216–220, hier 218. 32 „Passio sanctorum martyrum“, hg. v. Bruno Krusch, c. 3–7 und c. 14, 102f.

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Die Lizenz zur Erweiterung und kreativen Fortschreibung hagiographischer Tradition ist im Falle des Dionysius wie auch sonst weidlich genutzt worden. So wird in einem Kapitel der Vita Genovefae erstmals explizit behauptet, dass er durch Clemens in Rom zum Bischof geweiht worden sei. 33 Der Autor oder Glossator, auf den der wohl sekundäre Einschub zurückgeht, 34 beruft sich dabei auf mündliche Überlieferung und eine Passio des Heiligen – gemeint ist offenbar Gloriosae 35 – und nimmt dessen römische Ordination überdies zum Anlass für einen Exkurs über die Nachfolgeregelung Petri, wie er sie aus Rufins Bearbeitung der Pseudo-Clementinen kannte. 36 Dass die Petrus-Sukzession, der Gegenstand dieses gelehrten Notats, zum Eingangsthema der zweiten Dionysius-Passio geworden ist, gehört zu den Überraschungen der labyrinthischen Rezeptionsgeschichte dieses Heiligen. Die von den Bollandisten als Acta fabulosa deklassierte Passio Post beatam et gloriosam (BHL 2178), deren Entstehungszeit ebenso ungeklärt ist wie ihre Herkunft, 37 führt die markantesten Elemente der späteren Dionysius-Legende ein: die Identifikation mit dem Areopagiten, die Lokalisierung des Martyriums auf dem Montmartre und das Wunder der Kephalophorie. Damit bildet sie die entscheidende Vorstufe zu Hilduins Areopagitica. 38 Weniger beachtet wurde bisher ihre ausgeprägte Romorienterung, die sich von den ‚légendes clémentines‘ der gallofränkischen Hagiographie deutlich abhebt. Dies zeigt vor allem die umständlich-schematische Exposition, die in einem zweigleisigen historischen Anlauf die Szenerie der Handlung vorbereitet und mit wiederholter Bezugnahme auf die Regierungsjahre Kaiser Neros zeitlich einordnet.

33 „Vita Genovefae virginis Parisiensis“, in Passiones vitaeque sanctorum aevi Merovingici, hg. v.

Bruno Krusch (MGH SS rer. Merov. 3), Hannover 1896, 204–238, c. 17, 221f. 34 Da der Exkurs in der ältesten Rezension der Vita Genovefae (A) vorhanden ist, während er in der

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Rezension B fehlt, scheint er zum ursprünglichen Textbestand zu gehören; vgl. Martin Heinzelmann/ Joseph-Claude Poulin, Les Vies anciennes de sainte Geneviève de Paris, Paris/Genf 1986, 125, doch ist dieser Schluss keineswegs zwingend, wie Élie Griffe, „Les origines chrétiennes“, 11f., gezeigt hat. Wenn der Exkurs interpoliert ist, verliert diese Quellenberufung ihren Wert als terminus ante quem der Dionysius-Passio; s. oben Anm. 27. Martin Heinzelmann/Joseph-Claude Poulin, Les Vies anciennes, 134–137. „Acta fabulosa S. Dionysio Areopagitae afficta“ [= Post beatam et gloriosam], in Acta Sanctorum, Oct. t. IV, Paris/Rom 1866, 792–794. Vgl. Cornelius Bye, „De S. Dionysio Areopagita [. . .] commentarius praevius“, ebd. 696–792, 700ff.; Raymond J. Loenertz, „La légende parisienne“, 221–237 (mit einer problematischen Datierung auf die Zeit um 826); Alexander Patschovsky, „Der heilige Dionysius, die Universität Paris und der französische Staat“, in Innsbrucker historische Studien 1 (1978), 9–31, hier 29 ff. (mit einer überzeugenderen Datierung in die zweite Hälfte des 8. Jahrhunderts). Die chronologische Abfolge ergibt sich auch daraus, dass Post beatam et gloriosam die älteste Passio ausgiebig benutzt hat und andererseits zusammen mit dieser Hilduin als Quelle diente; vgl. Henri Moretus Plantin, „Les passions de saint Denys“, 222–230. Léon Levillain, „Études sur l’abbaye de Saint-Denis“, 51–58, hat das Abhängigkeitsverhältnis der drei Texte trotz scharfsinniger Überlegungen nicht zu klären vermocht.

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Den ersten Teil dieser Einleitung (c. 1–2) bilden ein Cento aus den Sermones Leos d. Gr. und Reminiszenzen an die Epistola Clementis der Pseudo-Clementinen. 39 Der geschichtliche Rückblick beginnt mit der Himmelfahrt Christi und der Herabkunft des Heiligen Geistes, hier verstanden als Übertragung der apostolischen Binde- und Lösegewalt. 40 Der Primat Petri kommt darin zum Ausdruck, dass er bei der Aufteilung der Missionsgebiete die schwerste Aufgabe, Rom, übernimmt: ipse ad arcem Romani divinitus imperii destinatur, ut qui primus erat in ordine potestatis, primus esset in certamine passionis. 41 Vor seinem Martyrium setzt er den heiligen Clemens zu seinem Erben ein und überträgt seine potestas an ihn und dessen Nachfolger. 42 Dann schwenkt der Blick hinüber zu Paulus: Nach Christi Himmelfahrt durch die Gnade des Heiligen Geistes bekehrt, wird er zum Völkerapostel und begegnet in Athen dem noch im heidnischen Irrtum verstrickten Dionysius, den er auf den Weg des Heils führt und tauft. Als auch der Neophyt sich zur Ausbreitung des Evangeliums berufen fühlt, reist er nach Rom, wo er den heiligen Clemens als Inhaber der apostolischen Gewalt antrifft und ehrenvolle Aufnahme findet (c. 3). Damit sind die Präliminarien abgeschlossen, und der Petrusnachfolger übernimmt die weitere Ausbildung seines Gastes (c. 4). Er unterweist ihn in der kirchlichen Rechtsordnung (apostolicis sanctionibus) und bereitet ihn auf eine größere missionarische Aufgabe vor. Die Gelegenheit dazu ergibt sich, als der spanische Bischof Philippus stirbt. Dionysius erhält jetzt durch Clemens nicht nur die Bischofsweihe, sondern wird auch mit der von Petrus übertragenen Gewalt ausgestattet und zum Apostel des Westens ernannt: Tum beatus Clemens sanctum Dionisium episcopum ordinavit et potestatem, quam a beato Petro acceperat, ei tradidit dicens: ‚Vade in partibus Occidentis praedicare evangelium 39 Benutzt sind Leos Himmelfahrts- und Pfingstpredigten Nr. 73–76 sowie der Sermo zum Peter- und

Paulsfest Nr. 82, wie Henri Moretus Plantin, „Les passions de saint Denys“, 219f., nachgewiesen hat. Außerdem ist der für die päpstliche Primatsidee zentrale Sermo 4 zu nennen (s. die nächste Anm.). 40 „Acta fabulosa“, c. 1, 792: Apostolorum pectoribus Spiritus est Sanctus illapsus, ut ligandi solvendique acciperent potestatem atque sic per ipsos in cunctos Ecclesiae principes decreti hujus constitutio commeavit. Vgl. Leo d. Gr., Tractatus, hg. v. Antonius Chavasse (CC SL 138), Turnhout 1973, tract. 4,3, S. 19: Transivit quidem etiam in alios apostolos ius istius potestatis et ad omnes ecclesiae principes decreti huius constitutio commeavit, sed non frustra uni commendatur, quod omnibus intimetur. 41 „Acta fabulosa“, c. 1, 792; vgl. Leo d. Gr., Tractatus 82,3. 42 Der juristische Aspekt der Erbsukzession wird hier noch weit deutlicher formuliert als in den Quellen; „Acta fabulosa“, c. 2, 792: Priusquam beatus Petrus per triumphum martyrii evolasset ad caelos, beato Clementi hanc potestatem tradidit dicens: Sicut a Domino meo Jesu Christo ligandi solvendique mihi est indulta potestas, ita tibi hanc potestatem tuisque successoribus aeterno confero dono, ut quaeque ligaveritis in terris, ligata sint et in caelis, et quaecumque solveritis in terris, soluta valeant esse et in astris. Hac potestate ditatum successorem Ecclesiae perfectum antistitem et dignum reliquit heredem. Vgl. Die Pseudoklementinen, 376; Liber Pontificalis, hg. v. Louis Duchesne, Bd. 1, Paris 21955, 118; Walter Ullmann, „The significance of the Epistola Clementis in the PseudoClementines“, in Journal of Theological Studies 11 (1960), 295–317; Karl Ubl, „Der Mehrwert der päpstlichen Schlüsselgewalt und die Tradition des heiligen Clemens“, in Andreas Pečar/Kai Trampedach (Hgg.), Die Bibel als politisches Argument (Historische Zeitschrift, Beiheft 43), München 2007, 189–217.

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regni caelestis, et ligandi solvendique tibi sit concessa potestas.‘ 43 Zusammen mit drei Begleitern reist er zu Schiff nach Arles. 44 Die Gallien-Mission des Dionysius erhält in dieser Passio eine Vorgeschichte, deren Konstruktion in zweifacher Hinsicht bemerkenswert ist. Einerseits werden der römische Primatsgedanke und das Motiv der Erbsukzession des Petrus-Nachfolgers Clemens prominent herausgestellt und mit der Autorität Leos des Großen und der Pseudo-Clementinen untermauert. Der Exklusivität der potestas Petri widerspricht jedoch ihre Weitergabe an Dionysius – sie bedeutet eine eklatante Steigerung der gewöhnlichen Clemens-Legenden, die nicht nur die apostolische Tradition der gallischen Kirchen bezeugen soll, sondern für Dionysius einen papstgleichen Primatsrang beansprucht. Wie bei der pfingstlichen Verteilung der Missionsgebiete dem Apostelfürsten Petrus mit Rom die erste und schwerste Aufgabe zufiel, so wählt Dionysius für sich Paris, beatissimi principis Apostolorum informatus exemplo, während er seine Begleiter nach Spanien, Aquitanien und Beauvais entsendet. 45 Der zweite auffällige Befund ist die Einfügung des Apostels Paulus, der ein Pendant zu Petrus bildet, aber im Vergleich mit dem Inhaber der Schlüsselgewalt blass und konturlos bleibt. Sein Auftreten dient lediglich dazu, die Verbindung zwischen dem in der Apostelgeschichte erwähnten Areopagiten und dem Pariser Märtyrerbischof herzustellen. Dabei setzt sich das symmetrische, aber hierarchisch gestufte Arrangement der beiden Apostelfürsten im Verhältnis ihrer Jünger fort. Denn Dionysius ist hier weder Bischof von Athen noch Autor mystisch-theologischer Schriften, sondern wird erst in der Obhut des römischen Papstes Clemens für seine apostolische Laufbahn qualifiziert. Die Passio Post beatam et gloriosam hat also die ‚areopagitische These‘ zwar vorbereitet, aber noch keineswegs ausgeführt. Man könnte sogar vermuten, dass der Paulus-Areopagita-Abschnitt

43 „Acta fabulosa“, c. 4, 792. 44 Der Anlass für die Entsendung ist wohl ebenso fiktiv wie die Person des spanischen Bischofs Philip-

pus und seines Nachfolgers Marcellus, der als einer der drei Gefährten genannt wird – neben Saturninus und Lucianus. Rätselhaft erscheint auch, warum im Figurenensemble um Dionysius jetzt der Bischof Lucianus von Beauvais auftaucht, aus dessen Vita (BHL 5010) der anonyme Autor nicht nur einzelne Wendungen, sondern auch das Wundermotiv der Kephalophorie entlehnt hat: Acta Sanctorum, Jan. t. I, Paris/Rom o. J., 466–468; dazu Henri Moretus Plantin, „Les passions de saint Denys“, 219–221 und 223; ders., Les passions de saint Lucien et leurs dérivés céphalophoriques (Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de Namur 15), Namur/Löwen/Paris 1953, 20–28; Raymond J. Loenertz, „La légende parisienne“, 223f. 45 „Acta fabulosa“, c. 5, 793: Dionisius Sancti Spiritus calore succensus et Apostolica praeditus potestate quique a beato Clemente divini verbi semina gentibus susceperat eroganda, non ferocitatem incredulae reputans gentis nec trucibus populis cunctatur insistere praedicator, sed beatissimi principis Apostolorum informatus exemplo, qui Romanis fuerat poenis atrocibus datus, ubi apud Gallias amplius gentilitatis fervere cognovit errorem, illuc divina protectione munitus fortis se et verus praedicator immersit.

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hier nachträglich inseriert worden ist – so wirken zumindest die umständlich-redundanten Dispositionhinweise an den Nahtstellen des Textes. 46 Die Kunde vom Urheber des Corpus Areopagiticum lässt sich im lateinischen Westen vor dem 9. Jahrhundert nur anhand punktueller Zeugnisse nachweisen, die mit dem Gallienmissionar Dionysius nicht in Zusammenhang stehen. Gregor der Große beruft sich auf die Engellehre des Pseudo-Areopagita und apostrophiert ihn als antiquus et venerabilis pater. 47 Unklar ist, ob sein Werk tatsächlich in dem Konvolut griechischer Schriften enthalten war, die Paul I. an Pippin gesandt hat. 48 Später wird er in der Diskussion um die Bilderverehrung mit zwei aus dem Kontext gelösten Sätzen wiederholt als Autorität angeführt, so von Hadrian I., der ihn sanctus Dyonisius Areopagita qui et episcopus Athiniensis nennt. 49 Auch die auf der Pariser Bildersynode von 825 versammelten fränkischen Bischöfe übernehmen die einschlägigen Zitate in ihr Dossier. 50 Ihr Zeugnis ist jedoch von besonderem Interesse, weil sie definitiv zwischen dem Athener Bischof und dem Pariser Märtyrer Dionysius unterscheiden. Während der griechische Gelehrte zu den Bilderfreunden gezählt wird, repräsentiert der Apostel Galliens für sie eine eigenständige und unabhängige Tradition der Orthodoxie, eine linea veritatis, die durch Hilarius, Martinus und andere Heilige bis in die Gegenwart fortgesetzt worden sei. 51 Eine Integration der griechischen Theologie und der ‚Wahrheitslinie‘ der gallischen Märtyrer und Bekenner wurde erst möglich, als das Schriftencorpus des Areopagiten mit der byzantinischen Gesandtschaft von 827 ins Frankenreich gelangt war und durch Hil46 Ebd. 792, Ende von c. 2: His ita de ordine temporum et Apostolicis potestatibus breviter recensi-

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tis, ad beatissimi viri Dionisii certamina narraturus accedam. Beginn von c. 3: Ut superius jam de ordine temporum pauca digessimus [. . .]. Ende von c. 3: [Dionisius] ut superius dictum est, beatum Clementem apostolica inveniens praeditum potestate ab eo est continuo digno cum honore susceptus. Gregor d. Gr., Homiliae in Evangelia, hg. v. Raymond Etaix (CC SL 141), Turnhout 1999, lib. II, hom. 34,12, 312. „Codex Carolinus“, hg. v. Wilhelm Gundlach, in MGH Epistolae 3, Berlin 1892, 469–657, ep. 24 (758/63), 529: Direximus itaque excellentissime praecellentiae vestrae et libros, quantos reperire potuimus: id est [. . .] Dionisii Ariopagitis geometricam, orthografiam, grammaticam, omnes Greco eloquio scriptas. Ob die Entstehung der Acta fabulosa [= Post beatam et gloriosam] in den Zusammenhang dieses Kontakts gehört, wie man vermutet hat, ist gleichfalls umstritten; vgl. Henri Moretus Plantin, „Les passions de saint Denys“, 226–228; Raymond J. Loenertz, „La légende parisienne“, 235 f.; ders., „Un prétendu sanctuaire romain de Saint Denis de Paris“, in Analecta Bollandia 66 (1948), 118–133; Alexander Patschovsky, „Der heilige Dionysius“, 29ff. MGH Epistolae 5, Berlin 1899, 32f.; vgl. MGH Concilia 2,1, Hannover/Leipzig 1906, 91. Vgl. Andrew Louth, „Denys the Areopagite and the Iconoclast Controversy“, in Ysabel de Andia (Hg.), Denys l’Aréopagite et sa postérité, 329–339. MGH Concilia 2,2, Hannover/Leipzig 1908, 512. Ebd. 525: [. . .] dummodo linea veritatis, quae ab antiquis patribus nostris usque ad nos inflexibiliter ducta est, beato Dyonisio scilicet, qui a sancto Clemente, beati Petri apostoli in apostolatu primo eius successore, extitit in Gallias cum duodenario numero primus praedicator directus et post aliquod tempus una cum sociis suis huc illucque praedicationis gratia per idem regnum dispersis martyrio coronatus est. Zur apostolischen Zwölfzahl der Gefährten s. Martin Heinzelmann, „L’hagiographie mérovingienne“, 44 Anm. 76.

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duins Übersetzungsleistung in seinem Gehalt erfasst werden konnte. 52 Die bislang nur aufgrund der Namensgleichheit wie beiläufig postulierte Identifikation des östlichen und des westlichen Dionysius ließ sich nun durch ein differenziertes Autorprofil konkretisieren. Man versteht die Faszination des Abtes von St. Denis angesichts der Möglichkeit, den ehrwürdigen griechischen Kirchenvater als Klosterpatron zu vereinnahmen. Als Hilduin die Schriften des Areopagiten in Empfang nehmen durfte, war das für ihn wie ein Himmelsgeschenk, das die körperliche Präsenz des Heiligen in seiner Abtei durch sein geistiges Vermächtnis komplettierte. Daher stilisierte er die feierliche Übergabe des griechischen Codex als eine Reliquientranslation: Am Vorabend des Dionysiusfestes war die wertvolle Gabe überbracht worden, und noch in derselben Nacht ereignete sich als Zeichen der göttlichen Gnade auf die Fürsprache des verdienstvollen Märtyrers eine ganze Serie von Heilungswundern – neunzehn an der Zahl – zugunsten der Kranken und Behinderten des Ortes und der Umgebung. 53 Das mirakulöse Geschehen setzte die lange Tradition jener Gnadenerweise fort, die mit dem Kult der Gebeine des Heiligen in Verbindung standen. So konnte der Abt unter Berufung auf Visionsberichte, an deren Entstehen er wohl nicht unbeteiligt war, Ludwig den Frommen daran erinnern, dass einst König Dagobert die Rettung seiner Seele und Papst Stephan II. die Genesung seines Leibes dem heiligen Dionysius zu verdanken hatten. 54 Trotz der glücklichen Neuerwerbung war es nicht leicht, die knappen Informationen der Apostelgeschichte und die Dionysius-Tradition der gallofränkischen Hagiographie 52 P. Gabriel Théry, Études dionysiennes, I, 4–9; ders., Études dionysiennes, II: Hilduin, traducteur de

Denys. Édition de sa traduction (Études de philosophie médiévale 19), Paris 1937; Jean Irigoin, „Les manuscrits grecs de Denys l’Aréopagite en Occident, les empereurs byzantins et l’abbaye royale de Saint-Denis en France“, in Ysabel de Andia (Hg.), Denys l’Aréopagite et sa postérité, 19–29. 53 Vgl. das an Ludwig d. Fr. gerichtete Begleitschreiben zu Hilduins Areopagitica, „Epistolae variorum“, hg. v. Ernst Dümmler, in MGH Epistolae 5, ep. 20, 327–335, hier 330. 54 „Epistolae variorum“, in MGH Epistolae 5, ep. 19, 326. Vgl. „Gesta Dagoberti“, hg. v. Bruno Krusch, in MGH SS rer. Merov. 2, Hannover 1888, 396–425, c. 42–44, 419–422. Stephans Bericht von der in einer Vision erfahrenen Wunderheilung (Revelatio) sowie die entsprechende Darstellung der historischen Umstände (Gesta), MGH SS 15,1, 2f., gelten als Erzeugnisse Hilduins, die den Rang des heiligen Dionysius und die Romverbundenheit des Klosters St. Denis demonstrieren sollten. Weitergehende Spekulationen Buchners, nach denen Hilduin ein ‚Vizepapsttum‘ angestrebt hätte, sind von der Forschung durchweg zurückgewiesen worden; Max Buchner, Das Vizepapsttum des Abtes Hilduin; ders., Die Areopagitika des Abtes Hilduin von St. Denis, 8ff., 37ff. und 144ff.; vgl. Léon Levillain, in Le Moyen Âge 39 (1929), 85–95; Wilhelm Levison, „Zu Hildvin von St. Denis“, in ders., Aus rheinischer und fränkischer Frühzeit, Düsseldorf 1948, 517–529 (Erstpublikation 1929); Raymond J. Loenertz, „Un prétendu sanctuaire romain“; Marie-Hélène Jullien (Hg.), Clavis des auteurs latins du moyen âge, Bd. 3, 503–507. – Plausibler sind Buchners Hinweise auf Wendungen und Motive, die die Gesta mit dem Constitutum Constantini verbinden; Max Buchner, Die Clausula de unctione Pippini, eine Fälschung aus dem Jahre 880 (ders., Quellenfälschungen aus dem Gebiete der Geschichte, Heft 1), Paderborn 1926, 44–50. Bei der neuerdings erwogenen Zuschreibung des Constitutum Constantini an Hilduin sind sie allerdings unberücksichtigt geblieben; s. Johannes Fried, Donation of Constantine and Constitutum Constantini. The misinterpretation of a fiction and its original meaning (Millenium Studien 3), Berlin/New York 2007, 106–112.

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zur Vita eines griechischen Kirchenlehrers zu erweitern. Denn das Corpus Areopagiticum bietet nur wenige Hinweise auf die Person seines fiktiven Autors. Vor allem musste Hilduin der Westmission des Heiligen einen östlichen Karriere-Abschnitt von gleichem Gewicht voranstellen. Das Ergebnis seines virtuosen Bemühens liegt vor in der Passio Post beatam et salutiferam (BHL 2175). 55 Nach einer Einleitung über die Geschichte und Topographie der Stadt Athen schildert Hilduin Herkunft, Familienverhältnisse und Bekehrung des Areopagiten, sowie seine Weihe zum Bischof von Athen als Abschluss einer dreijährigen Lehrzeit in der Begleitung des heiligen Paulus (cap. 2–8). Es folgt ein umfangreiches Autorportrait, in dem die Schriften des Dionysius nach der angeblichen Chronologie ihrer Entstehung vorgestellt und resümiert werden (cap. 9–16). Die Romreise des Areopagiten ist zugleich die Gelenkstelle der Vita (cap. 17). Hilduin motiviert sie mit dem Wunsch des Heiligen, den eingekerkerten Aposteln Petrus und Paulus auf dem Weg ins Martyrium zu folgen. Den denkwürdigen Transfer von Ost nach West kommentiert er mit den Worten: ‚Der Zögling der glücklichen Achaia, der gelehrte Erbauer der Kirche begab sich in das erhabene Rom, ohne Griechenland zu verlassen, dem er durch seine Weisheit und das Andenken seiner Wunder erhalten bleibt.‘ 56 Im zweiten Teil hat Hilduin sich dann ausgiebig der beiden älteren Passiones des Heiligen bedient – die wörtlichen Entlehnungen aus diesen Quellen ziehen sich wie ein dichtes Netz über seinen Text (cap. 18–36). So überträgt auch hier der römische Bischof Clemens die kraft des Erbrechts (sanctae haereditatis iure) von Petrus empfangene Schlüsselgewalt an Dionysius, der damit zum papstgleichen Apostel Galliens wird. 57 Das Gerüst an Fakten und Stichworten, das er seinen Vorgängern verdankt, füllt Hilduin jedoch mit zahlreichen neuen Episoden, Personen und Handlungsdetails auf. Damit wird das Gewohnheitsrecht des Hagiographen auf eine amplificatio materiae aufs äußerste strapaziert. Zweifellos war Hilduin darauf gefasst, dass die Neuheit der ‚areopagitischen These‘ Skepsis, Widerstand und Ablehnung provozieren würde. Daher gab er seiner DionysiusVita nicht nur auftragsgemäß einige beweiskräftige Dokumente wie die Visio Stephani bei, sondern stellte ihr auch noch das Schreiben des Kaisers und seinen eigenen Antwortbrief 58 sowie eine an alle Christen gerichtete Erklärung 59 voran. Damit sollte das ganze Konvolut, seine Areopagitica, größtmögliche Verbreitung und Akzeptanz finden. In den beiden Widmungsbriefen an den Kaiser und an alle Leser setzte er sich mit den Argu55 Hilduin, „Passio sanctissimi Dionysii“ [= Post beatam et salutiferam], in Migne PL 106, 23–50. Vgl.

Marie-Hélène Jullien (Hg.), Clavis des auteurs latins du moyen âge, Bd. 3, 498–503. 56 Hilduin, „Passio sanctissimi Dionysii“, in Migne PL 106, 38: Sicque Achivae alumnus fortunae et

doctus architectus Ecclesiae se Romanae amplitudini contulit et Graeciam, cui doctrinae ac miraculorum memoria manet, nequaquam deseruit. 57 Ebd. Sp. 39. 58 „Epistolae variorum“, in MGH Epistolae 5, ep. 19 und 20, 325–335; vgl. Marie-Hélène Jullien (Hg.), Clavis des auteurs latins du moyen âge, Bd. 3, 494–496. 59 „Epistolae variorum“, in MGH Epistolae 5, ep. 21, 335–337; vgl. Marie-Hélène Jullien (Hg.), Clavis des auteurs latins du moyen âge, Bd. 3, 496f.

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menten der Kritiker auseinander und erläuterte sein Selbstverständnis als Autor sowie die Bedeutung und Problematik seines literarischen Projekts. Hilduins Aufgabe unterschied sich grundsätzlich nicht von der aller anderen Hagiographen seiner Zeit: Die Taten und Leiden der Heiligen, ihre Lehren und Wunder bekanntzumachen und zu preisen und ihren Kult zu fördern war eine heilsrelevante Pflicht – sie sicherte der Kirche Fürsprecher und Vorbilder, patroni und exempla, und erwies Gott, der in seinen Märtyrern und Bekennern wirkt, die gebührende Ehre. 60 Erschwert wurde sie vielfach durch den Mangel an Informationen oder Überlieferungsverlust, wenn die Mitlebenden es versäumt hatten, ihr Wissen aufzuzeichnen, mündliche Tradition in Vergessenheit geriet oder selbst schriftliche Zeugnisse der Ungunst der Zeiten zum Opfer gefallen waren. Für die Areopagitica konnte Hilduin zudem besondere Schwierigkeiten geltend machen: Hat er doch gewissermaßen die Teile einer gespaltenen Biographie zusammengefügt, deren Quellen durch die Ost-West-Distanz zuvor jeweils nur partiell verfügbar gewesen seien. 61 Anstelle der von seinen Vorgängern praktizierten kontinuierlichen Stofferweiterung bot er daher dem überraschten Publikum eine ganze Kollektion weitgehend neuer Texte und Fakten, die zumeist von ihm selbst oder in seiner Umgebung fabriziert und fingiert worden waren. Durch eine Doppelstrategie der Beglaubigung hat Hilduin den Erklärungsnotstand, in den er mit seiner ‚areopagitischen These‘ geriet, zu bewältigen versucht. Einerseits verteidigt er die Authentizität der von ihm beigebrachten Zeugnisse und die Stichhaltigkeit ihrer Aussagen mit einem beachtlichen Aufwand an quellenkritischer und historischer Argumentation. Diesen wissenschaftlichen Diskurs begleitet jedoch andererseits eine scheinbar gegenläufige Argumentationslinie, die das Auffinden von verborgenem Wissen und die Wiederherstellung verlorener Überlieferung als eine übernatürliche, durch göttliche Inspiration ermöglichte Erkenntnisleistung suggeriert. Während die historische Beweisführung dominant zutage liegt, ist die Berufung auf eine prophetische Rekonstruktion der Vergangenheit aus einzelnen programmatischen Hinweisen und Zitaten zu entnehmen, ohne dass sie explizit ausgesprochen wird. Ein Beispiel historisch versierter Argumentation ist Hilduins Versuch, die hagiographische Dionysius-Überlieferung durch eine Altersbestimmung inhaltlich analoger liturgischer Texte abzusichern, uralter Messformulare, die noch aus der Zeit vor der Durchsetzung des römischen Ritus in Gallien stammten und das Wissen der Augenzeugen des 60 MGH Epistolae 5, 328 Z. 25ff.: [. . .] quatenus martyrum exempla sectando [. . .] ad palmam, qua illi

munerati sunt, et ipse pertingat. Ebd. 335f.: [. . .] quatenus devotis exinde erga Dei et excellentissimi martyris sui cultum devotio cumulata succresceret et debitae servituti nostrae [. . .] eiusdem amici Dei [. . .] interventio gloriosa divinam misericordiam impetraret. Ut enim ante nos dictum est [sc. Caes. Arel. Sermo 223,1, CC SL 104, 882], gesta bene viventium elementa sunt vitam volentium et exempla martyrum exortationes sunt martyriorum. Vgl. etwa Einhard, „Translatio“, Praefatio 239: Qui vitas et facta iustorum ac secundum divina mandata conversantium hominum litteris ac memoriae mandaverunt, non aliud mihi efficere voluisse videntur, nisi ut ad emendandos pravos mores et conlaudandam Dei omnipotentiam per eiusmodi exempla quorumcumque animos incitarent. 61 MGH Epistolae 5, 328 Z. 33ff.; 332 Z. 12ff.; 333 Z. 2ff.; 335 Z. 29ff.

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Martyriums bewahrten. 62 Besonderen Scharfsinn aber verwendet Hilduin darauf, die seiner These widersprechenden Zeugnisse zu entkräften. Bedas Behauptung, dass Dionysius Bischof von Korinth gewesen sei, kann er mit den einschlägigen Belegen aus der Kirchengeschichte des Eusebius als haltlos erweisen. 63 Und dass Gregor von Tours die Dionysius-Mission in die Zeit des Decius setzte, sei einer der zahlreichen Irrtümer dieses achtbaren, aber allzu nachlässigen Geschichtsschreibers. 64 Mit einem textkritischen Argument begegnet Hilduin schließlich dem Einwand, dass nach der Dionysius-Passio – gemeint ist wohl Post beatam et gloriosam – nicht Paulus, sondern Clemens den Heiligen zum Bischof geweiht hätte: Wer das behaupte, habe offenbar eine verderbte Handschrift benutzt, von denen es zahlreiche gebe, wie er aus eigener Erfahrung wisse: Fieri enim potest [. . .] quod textum passionis istius sancti Dei ex autenticis scriptum non habeant et ideo in hoc errent, quia et nos plures codicellos exinde vidimus, qui in quibusdam sensu videbantur concordare, sed littera admodum dissonare. 65 Pikanterweise spricht Hilduin hier zwar in gutem Glauben, hat jedoch, wie Raymond Loenertz zeigen konnte, selbst den Text des mit einem Auslassungsfehler behafteten Überlieferungszweigs benutzt. 66 Neben den Grundsätzen historisch-philologischer Kritik macht Hilduin die Gewissheit göttlicher Autorisierung und übernatürlicher Hilfe geltend, um den mit aufdringlicher Redundanz vorgetragenen Wahrheitsanspruch der Areopagitica zu beglaubigen. 67 62 MGH Epistolae 5, 330. Vgl. Marie-Hélène Jullien (Hg.), Clavis des auteurs latins du moyen âge,

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Bd. 3, 510–513; Elizabeth A. R. Brown, „Gloriosae, Hilduin, and the early liturgical celebration of St. Denis“, in Stephanie Hayes-Healy (Hg.), Medieval paradigms. Essays in honor of Jeremy Duquesnay Adams, Bd. 2, New York 2005, 39–82. MGH Epistolae 5, 331f. Vgl. Beda, Expositio actuum Apostolorum, hg. v. Max L. W. Laistner (CC SL 121), Turnhout 1983, c. 17: Dionisius Ariopagita: Hic est Dionisius qui post episcopus ordinatus Corinthiorum gloriose ecclesiam rexit multaque ad utilitatem ecclesiae pertinentia quae actenus manent ingenii sui uolumina reliquit, cognomen a loco cui praeerat accipiens. Dagegen zitiert Hilduin zurecht Eusebius, Historia ecclesiastica III 4 und IV 23 (nach Rufins Übersetzung). – Übrigens erscheint es angesichts dieser Diskussion recht merkwürdig, wenn Abälard als eine Episode seiner Leidensgeschichte erzählt, dass er bei seinem Aufenthalt in St. Denis durch Zufall (fortuitu) auf jenes Beda-Zeugnis gestoßen sei und sich damit arglos scherzend (quasi iocando) den Zorn der Mönche zugezogen habe; Historia Calamitatum, hg. v. Jacques Monfrin, Paris 1967, 89f. Nicht weniger befremdlich ist sein allzu beflissener Versuch, durch eine umständliche Widerlegung Bedas, die, ohne Hilduin zu nennen, dessen Argumente benutzt, das Wohlwollen des Abtes Adam zurückzugewinnen; Peter Abelards Letters IX–XIV, hg. v. Edmé Renno Smits, Groningen 1983, ep. 11, 249–255. Vgl. Édouard Jeauneau, „Pierre Abélard à Saint Denis“, in Jean Jolivet (Hg.), Abélard en son temps. Actes du colloque international organisé à l’occasion du 9e centenaire de la naissance de Pierre Abélard, Paris 1981, 161–173. MGH Epistolae 5, 331 und 333. Ebd. 332 f. Raymond J. Loenertz, „La légende parisienne“, 226–231. Vgl. etwa MGH Epistolae 5, 334: [. . .] haec quae fideliter vestrae dominationi dirigimus, veraciter ex veracibus hystoriographis et hystoriarum paginis colligere procuravimus, quoniam veritas, pro qua pretiosum sanguinem hic servus et amicus Domini fuderat, nostro mendatio adstipulari non indiget,

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Mit dem ersten Vers aus dem Jubelgesang der glücklichen Mutter Samuels (1. Reg. 2,1) eröffnet er seinen Antwortbrief an Ludwig den Frommen und fährt fort im Stil eines Propheten, der, von Gott zur Rede genötigt, nicht schweigen kann, auch wenn ihm jemand den Mund verböte. Der Auftrag, das Lob des Märtyrers Dionysius zu verkünden, wird damit als göttliche Berufung verstanden, die der Kaiser nur wie ein Vermittler überbringt: Exultavit cor meum in Domino et exaltatum est cornu meum in Deo meo. Dilatatum est os meum et gaudebunt labia mea, ut adnuntiem praeconia domini mei gloriosissimi martyris Dionisii, ab eximio imperatore domino meo iussus, quae reticere non poteram, etiamsi a quoquam fuissem forte prohibitus. 68 Gott ist der Urheber von allem geistlichen Bemühen, er initiiert das ihm wohlgefällige Werk und hilft bei seiner Vollendung. So war es die Erleuchtung des Heiligen Geistes, die Ludwig zu seinem Auftrag motiviert hat, und göttliche Inspiration wird auch seine Ausführung begleiten. 69 Wenn Hilduin in diesem Kontext das Dankgebet Annas aufruft, in dem das Magnificat präfiguriert ist, wird sein Unternehmen – mentis meae conceptum – implizit jener Empfängnis des Gotteswortes angenähert, die Maria zur prophetissa gemacht hat. 70 Es entspricht dem Stil strenger historisch-philologischer Wissenschaftlichkeit, wie Hilduin ihn zur Überzeugung der Zweifler für angemessen hält, dass er seine prophetische Autorschaft nicht etwa aus visionärer Erfahrung ableitet, sondern als Auffindung entlegener und in Vergessenheit geratener Bücher verschlüsselt. So beruft er sich für gewisse Details der Dionysius-Vita auf die fingierte Schrift eines zuvor unbekannten Visbius, die nach langer Zeit auf wunderbare Weise wiederentdeckt worden sei: conscriptio Visbii, quae in tomo satissuperque abdito Parisius divino est nutu inventa. 71 Hinzu kommen angeblich erstmals aus griechischem Besitz zugänglich gewordene Dokumente wie der für die Beschreibung Athens und die Jugendgeschichte des Areopagiten ausgewertete Aristarch-Brief 72 oder ein Martyrologium, in dem der Heilige als Bischof von Athen bezeugt sei. 73 Schließlich müssen selbst die bekannten Dichter Venantius Fortunatus und Eugen von Toledo dazu herhalten, das Alter zweifelhafter Dionysius-Hymnen zu beglaubigen. 74 Das Verfahren ist umso suggestiver, als Hilduin bei der Aufzählung und Diskus-

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quae suo sibi testimonio sufficit quaeque testes veracissimos quos repleverit, testificantes veracia efficit. Ebd. 328. Ebd. Vgl. dazu Christel Meier, „Eriugena im Nonnenkloster? Überlegungen zum Verhältnis von Prophetentum und Werkgestalt in den figmenta prophetica Hildegards von Bingen“, in Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), 466–497, hier 475f. Anm. 43. MGH Epistolae 5, 330. Text bei Cornelius Bye, „De S. Dionysio Areopagita“, 706. Vgl. Max Buchner, Die Areopagitika des Abtes Hilduin von St. Denis, 65–70. MGH Epistolae 5, 329. Text bei Cornelius Bye, „De S. Dionysio Areopagita“, 704f. Vgl. Max Buchner, Die Areopagitika des Abtes Hilduin von St. Denis, 87–103. MGH Epistolae 5, 332. Ebd. 331: Nec mirari quis poterit, cur ymnum sancti Eugenii Toletani de beato Dionysio habeamus et vicinorum sapientium scriptis, exceptis paucis, videamur carere, cum et haec quae habemus, ut

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sion seiner Quellen Texte verschiedenster Gattungen, Echtes, Fragwürdiges und Erfundenes in einem Atemzug nennt. Dennoch bedurfte es der Erklärung, warum Gott die vormals spärliche Überlieferung nun plötzlich so überreich vermehrt habe. Hilduin nimmt einen entsprechenden Einwand vorweg, indem er sakrales Schrifttum als Träger der göttlichen Offenbarung begreift, die sich in einem diskontinuierlichen Prozess des Enthüllens und Verbergens durch die Heilsgeschichte entfaltet. Als Beispiel nennt er die Wiederentdeckung eines verschollenen Gesetzbuchs im Zuge der von König Josias veranlassten Tempelrestaurierung (4. Reg. 22,8–20): Nos non nostra nec nova cudimus, sed antiquorum antiqua dicta de abditis admodum tomis eruimus et veritatis sinceritate servata paginis manifestioribus indimus. Ceterum neminem sani capitis haec minus acceptare putamus, quia anteriori tempore reperta non fuerant, cum liquido noscat quod is, qui creavit omnia simul [Eccli. 18,1], noluit revelari cuncta vel cunctis in semel multaque manifesta iterum esse tempore occultata. Ad mentem enim debet redire, quod in litteris divinitus inspiratis legatur de legis libro diu latenti et denuo sub admiratione invento. 75

Durch das Motiv der göttlich inspirierten Bücherfunde ließ sich zwar das Sammeln und Redigieren, nicht aber die Neuschöpfung von Quellen plausibel machen. Es gab aber einen biblischen Typus für die Total-Rekonstruktion verlorener Überlieferung aus prophetischem Geist, und auch ihn führt Hilduin zur Rechtfertigung seines Unternehmens an. Im apokryphen vierten Esdras-Buch schildert der Prophet, wie er durch eine Geisteingießung in die Lage versetzt wurde, die Bücher der Schrift, die verbrannt waren, aus dem Gedächtnis in einem vierzigtägigen Diktat durch fünf Schreiber von neuem aufzeichnen zu lassen: Lex tua incensa est, propter quod nemo scit quae a te facta sunt. [. . .] Si enim inveni in te gratiam, immitte in me spiritum sanctum, et scribam omne quod factum est in saeculo ab initio, quae erant in lege tua scripta. [. . .] Et aperui os meum, et ecce calix plenus porrigebatur mihi [. . .]. Et accepi et bibi, et in eo cum bibissem, cor meum cruciabatur intellectu, et in pectus meum increscebat sapientia. Nam spiritus meus conservabatur memoria, et apertum est os meum et non est clausum amplius. 76

exorata priorum nostrorum venia dicamus, abdita et neglegenter relicta repererimus [. . .]. Venantius Fortunatus wird insbesondere zur Widerlegung seines Zeitgenossen Gregor von Tours angeführt; ebd. 333: cum ei [sc. Gregorio] contemporalis existens vir prudens et scolasticissimus Fortunatus [. . .] ymnum rithmic˛e compositionis pulcherrimum de isto gloriosissimo martyre composuerit, in quo commemorat eum a beato Clemente huc destinatum [. . .]. Der Hymnus des Ps.-Eugenius in MGH Auctores antiquissimi 14, hg. v. Friedrich Vollmer, Berlin 1905, 282; der Hymnus des Ps.-Venantius in MGH Auctores antiquissimi 4,1, hg. v. Friedrich Leo, Berlin 1881, 383f. Unklar ist, ob die Texte von Hilduin oder aus seinem Umkreis stammen oder schon älter sind; vgl. Max Buchner, Die Areopagitika des Abtes Hilduin von St. Denis, 53f. und 61–65; Marie-Hélène Jullien (Hg.), Clavis des auteurs latins du moyen âge, Bd. 3, 507–510. 75 MGH Epistolae 5, 336. Vgl. Wolfgang Speyer, Bücherfunde in der Glaubenswerbung der Antike, 128. 76 4. Esdr. 14,21–41.

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In der patristischen Tradition ist Esdras, qui memoria sua scripturas reddidit, 77 zu einer stehenden Figur geworden. So schreibt Isidor von Sevilla: Bibliothecam Veteris Testamenti Esdras scriba post incensam Legem a Chaldaeis [. . .] divino afflatus Spiritu reparavit. 78 Das von Pseudo-Esdras so wirkungsvoll eingesetzte Motiv der Öffnung des Mundes begegnet als geläufiges Symbol für prophetische Rede bereits in Hilduins Zitat aus dem Samuel-Buch: Dilatatum est os meum. Doch beruft sich der Abt auch explizit auf Esdras als Modell für den vom Kaiser empfangenen Auftrag und sieht sich sogar bei seiner Ausführung buchstäblich in der Rolle des Propheten, der im raschen Dauerdiktat aus der inspirierten memoria die heiligen Schriften wiederhergestellt hat: Ezras sanctae scripturae reparator magnum remunerationis donum exinde apud Deum promeruit et laudabile sibi nomen apud homines adquisivit. [. . .] Idcirco [. . .] quicquid ori suggerit memoria citae recordationis, favente Domino, velociter scribentium committemus notariorum articulis. [. . .] Nam divinae erit inspirationis et exsecutionis id quod desideramus fideli animo propalare, verum atque probabile demonstrare. 79

Das Konzept der inspirierten Restitution heilsrelevanter, aber verlorener Überlieferung wird nur verständlich, wenn man sich bewusst macht, dass Prophetie nicht etwa auf die Vorhersage künftiger Ereignisse beschränkt ist, sondern die drei Zeitdimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen umfasst. Den wohl knappsten Beleg für diese Vorstellung bietet eine Episode der Pseudo-Clementinen, in der Petrus die Anmaßung der heidnischen Philosophen kritisiert, Aussagen über den Ursprung und das Ende der Welt oder unsichtbare und unbegreifliche Wahrheiten zu machen – solches Wissen sei allein dem Propheten zugänglich: [. . .] praesentia quidem et visibilia nosse hominis est rationabilis, praeterita vero et futura et invisibilia scire solius propheticae praescientiae est. 80 Der Psalmenkommentar Cassiodors 81 und die Ezechiel-Homilien Gregors des Großen 82 haben dann in einer für das gesamte Mittelalter kanonischen Form definiert, dass die der natürlichen Erkenntnis entzogenen Dinge aus Vergangenheit, Gegenwart und

77 Ambrosius, „Epistulae extra collectionem traditae“, ep. 14, c. 30, in ders., Opera 10, hg. v. Michaela

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Zelzer (CSEL 82,3), Wien 1982, 251. Auf denselben Ambrosius-Brief verweist Hilduin wegen einer Nachricht über Dionysius Areopagita (ep. 14, c. 22): MGH Epistolae 5, 329 Z. 33f. Isidor, Etymologiae 6,3,2, hg. v. Wallace M. Lindsay, Bd. 1, Oxford 1911 (unpaginiert). MGH Epistolae 5, 328f. Wie oben Anm. 1. Cassiodor, Expositio Psalmorum, Praefatio c. 1, hg. v. Marc Adriaen (CC SL 97), Turnhout 1958, 7: Sciendum est sane quod omnis prophetia aut de praeterito aut de praesenti aut de futuro tempore loquatur aut agat aliquid. Gregor d. Gr., Homiliae in Hiezechihelem 1,1, hg. v. Marc Adriaen (CC SL 142), Turnhout 1971, 5: Prophetiae tempora tria sunt, scilicet praeteritum, praesens et futurum. [. . .] Quo autem pacto prophetiae dicatur spiritus [sc. 1. Cor. 14,24f.], qui nihil futurum indicat, sed praesens narrat? Qua in re animadvertendum est, quod recte prophetia dicitur non quia praedicit ventura, sed quia prodit occulta.

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Zukunft den Inhalt der Prophetie ausmachen. Noch im 18. Jahrhundert gehörte dies zum Bildungswissen, wie der Artikel ‚prophète, prophétie‘ in Diderots Encyclopédie zeigt. 83 Das Besondere an Hilduins Projekt der Erforschung hagiographischer Geschichte ist allerdings die irritierende Verbindung von natürlicher Vernunfterkenntnis und prophetischer Autorschaft. Zwar gehört die gleichzeitige Berufung auf göttliche Hilfe und empirische Stoff-Recherche zum traditionellen Beglaubigungsapparat der Heiligenviten und anderer religiöser Schriften, die zugunsten der Erbauung des Lesers die Unterscheidung von historischer und fiktionaler Wahrheit vernachlässigen. 84 Doch ist der elaborierte Wissenschaftsdiskurs, mit dem Hilduin die Authentizität seiner erfundenen Quellen und Fakten verteidigt, in der Legendentradition ohne Vorbild. Wohl aber hat Hilduin einen unmittelbaren kongenialen Nachfolger gefunden. Es war Hilduins Schüler Hinkmar, der sich das Konzept der inspirierten Restitution hagiographischer Überlieferung zu eigen machte, um seine spektakulären Neuigkeiten aus dem Leben des heiligen Remigius – darunter auch das Wunder der ‚Sainte Ampoule‘ – zu rechtfertigen. 85 In der Praefatio seines Werks erzählt der Reimser Erzbischof die abenteuerliche Geschichte vom Untergang der ältesten Remigius-Vita und rekapituliert seine Bemühungen um notdürftigen Ersatz in mündlicher oder schriftlicher Form. Den unbefriedigenden Informationsstand seiner Gegenwart kann er sich nur als Ergebnis eines durch die Nachlässigkeit früherer Generationen und widrige Zeitumstände eingetretenen Überlieferungsschwunds erklären. 86 Wie gravierend dieses Problem ist, verdeutlicht er durch eine ganze Reihe von Verlustfällen aus dem Bestand der heiligen Schriften des Alten Bundes. So nennt die Bibel die Titel zahlreicher Bücher, die sich nicht erhalten haben. Nach den Ausfällen aufgrund der Versäumnisse einzelner sei es schließlich bei der Zerstörung Jerusalems durch die Chaldäer zum Totalverlust der jüdischen Schriftüberlieferung gekommen. Nur ihre partielle Wiederherstellung durch den göttlich inspirierten Priester und Propheten Esdras habe die heilsgeschichtliche Kontinuität der Offenbarungsliteratur gesichert. 87 83 Hier benutzte Ausgabe: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers,

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36 Bde., Lausanne/Bern 1780/81, Bd. 27, 563–567, 564: Secondement, le mot de prophétie se prend pour une connoissance surnaturelle des choses cachées, quoique présentes ou passées. Verfasser des Artikels ist Diderot; vgl. Œuvres complètes de Diderot, Bd. 16, Paris 1876, 427–434. S. oben bei Anm. 32. Vgl. zum folgenden: Nikolaus Staubach, „Regia sceptra sacrans. Erzbischof Hinkmar von Reims, der heilige Remigius und die ‚Sainte Ampoule‘“, in Frühmittelalterliche Studien 40 (2006), 79–101. Hinkmar von Reims, „Vita Remigii episcopi Remensis“, hg. v. Bruno Krusch, in MGH SS rer. Merov. 3, Hannover 1896, 239–349, Praefatio 250–254. Ebd. 252 f.: Hoc [. . .] et de aliis accidit, quod antiquo tempore de autenticis scripturis evenisse sanctus Iohannes Crisostomus [. . .] memorat dicens: ‚Multa enim ex propheticis periere monimentis, quod de historia Paralipomenon probare possibile est.‘ Desides enim cum essent Iudei, nec desides modo, sed et impii, alia quidem perdiderunt neglegenter, alia vero tum incenderunt, tum conciderunt profane. [. . .] Sed et plura de scripturis in his quae habemus memorata legimus, quae non habemus: sicut est liber Iustorum, qui commemoratur in libris Regum, et sicut est liber bellorum Domini, cuius in libro Numerorum mentio est; neque carmina Salomonis neque disputationes eius sapien-

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Erst im Kontext dieser biblischen Exempla wird verständlich, warum Hinkmar die wechselvollen Schicksale des alten Remigius-Codex ausgemalt hat. Der Verlust heilsgeschichtlich relevanter Überlieferung muss nach Möglichkeit restituiert werden, damit das Wirken Gottes für die Nachwelt nicht fruchtlos bleibt. Daher kann Hinkmar darangehen, aus den ihm noch verfügbaren Bruchstücken der Remigius-Tradition mit Gottes Hilfe wie der inspirierte Prophet die Fülle der Wundertaten, die der Herr an seinem Heiligen gewirkt hat, wiederherzustellen: Nunc autem, opitulante Domino qui in se confidenti et opera sua, qui mirabilis et gloriosus est in sanctis suis, volenti loqui promittit: ‚Aperi‘, inquiens, ‚os tuum, et ego adimplebo illud‘, [. . .] aggrediar que diu distuli, a progenitoribus et ortu eius [sc. Remigii] incipiens, et sic tam ea quae in historiis a maioribus editis de illo inveni, quam et illa que in diversis scedulis dispersa repperi, verum et illa in serie digerens quae vulgata relatione percepi. [. . .] Verum et non ab re agere a quoquam videri puto, si ea que [. . .] in scedulis vetustate prope deletis inventa sunt reparo et de abditis ad lucem reduco et ea que veterum certa relatione cognovi litteris commendare procuro, cum sicuti premisi sancti Esdrae pontificis studio sacras Scripturas desidia et profanitate impiorum Iudaeorum abolitas noscamus fuisse restauratas. 88

Hinkmars Reflexionen über die materielle Gefährdung und prophetisch inspirierte Rettung heilsrelevanter Tradition sind rund sechs Jahrhunderte nach seinem Tod von einem Autor rezipiert worden, der als berüchtigter Fälscher in die Gelehrtengeschichte eingehen sollte: Johannes Trithemius. Mit seinen historiographischen Fiktionen, die er auf die erfundenen Gewährsmänner Hunibald und Meginfrid stützte, hat sich der Benediktinerabt bekanntlich als Geschichtsschreiber dauerhaft diskreditiert. Wie es dazu kam, dass der durch umfassende Belesenheit, humanistische Interessen und Engagement für die Klosterreform ausgezeichnete Ordensmann auf einen solchen Abweg geriet, blieb jedoch lange rätselhaft. Anhand seiner Selbstzeugnisse und historischen Leitfiguren konnte schließlich als Motivationshintergrund ein universales Wissenskonzept rekonstruiert werden, das auch im Hinblick auf die verborgenen Dinge der Natur und der Geschichte mit der Möglichkeit gnadenhaft-visionärer Erkenntnis rechnet. 89 Dass in diesem Konzept der Prophet Esdras als Exempel für die göttlich inspirierte Wiederherstellung verlorener Schriftüberlieferung eine zentrale Stellung einnimmt, geht sicher auf die Anregung Hinkmars zurück. Denn der Geschichtsschreiber Hunibald, dem tissimas [. . .] et multa huius volumina, quae Scriptura quidem fuisse probat, sed hodie constat non esse. Vastata namque a Chaldeis Iudea, ut in patrum litteris legimus, etiam bibliotheca antiquitus congregata [. . .] hostili est igne consumpta, ex qua pauci, qui nunc in sancta Scriptura continentur libri, postmodum Esdrae pontificis et prophetae sunt industria restaurati. 88 Ebd. 253 f. – Zu Aperi os tuum, et ego adimplebo illud ist als biblische Quelle neben dem von Krusch notierten Psalmvers 80,11 (Dilata os tuum, et implebo illud) Ez. 2,8 anzuführen: Aperi os tuum, et comede quaecumque ego do tibi. Der Verschlingung der göttlichen Buchrolle als Symbol für die Initiation des Propheten entspricht bei Esdras die Leerung eines Geist-Kelches: Et aperui os meum, et ecce calix plenus porrigebatur mihi (wie oben bei Anm. 76). 89 Nikolaus Staubach, „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die historiographischen Fiktionen des Johannes Trithemius im Lichte seines wissenschaftlichen Selbstverständnisses“, in: Fälschungen im Mittelalter, Bd. 1, 263–316.

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Trithemius seine Kenntnis der fränkischen Frühzeit zu verdanken vorgibt, ist ein Zeitgenosse Chlodwigs und wie dieser durch Remigius getauft worden. 90 Auch zu Herkunft und Überlieferung seiner Quelle macht der Abt ähnlich widersprüchlich wie Hinkmar bald vage und bald präzise Angaben: Zwar soll Hunibalds Werk in uno volumine erhalten sein, doch will er es teils in Form von Exzerpten, teils in seinem Gedächtnis besitzen: e quibus ego quedam in schedis, nonnulla vero in memoria teneo locata. 91 Der memoriaBegriff ist hier wohl Chiffre für den kreativen Ersatz der verlorenen Schrift und für die Aufhebung der überlieferungsfeindlichen oblivio. Zugleich spielt er auf das Selbstzeugnis des Pseudo-Esdras an, der nach der Geisteingießung aus seiner prophetisch inspirierten memoria die heiligen Schriften diktierte. Daher kann Trithemius von ihm sagen, er habe die Erinnerung anstelle des biblischen Archetyps benutzt: memoria usus pro archetypo. 92 In einer Gesellschaft, die über göttliche Offenbarung als schriftlich fixierten und tradierten Besitz verfügt, können Buchverluste und Bücherfunde Symbole religiöser Krise und Erneuerung sein, und die Wiederherstellung von vergessener Überlieferung wird zur Aufgabe des inspirierten Autors und Propheten. Da auch das Zeugnis der Märtyrer und Bekenner, ihre Taten, Leiden und Wunder Mitteilungen göttlicher Macht sind, müssen sie gleichfalls aufgezeichnet und für die Nachwelt bewahrt werden. Schwindet ihr Andenken, so ist nicht nur die Verehrung der Heiligen gefährdet, sondern auch das Lob Gottes beeinträchtigt, der durch sie gewirkt hat. Wer die hagiographische Tradition in Glanz und Würde erneuert, erfüllt daher kein bloß historisch-antiquarisches Geschäft, sondern eine prophetische Sendung, eine Pflicht, die vor allem den Hütern der heiligen Gebeine obliegt. Ihre Kultpropaganda dient dem Wohl aller Gläubigen und darf daher nicht durch Skepsis und Kritik infrage gestellt werden. Für Hilduin und Hinkmar gilt dies in besonderem Maße – war doch die religiöse Identität des ganzen Volkes betroffen von der Wiederentdeckung der unerhörten Tatsachen, dass der Apostel Galliens Dionysius in seinen Schriften die himmlischen Geheimnisse enthüllt und der Reimser Bischof Remigius durch die Salbung Chlodwigs mit dem Himmelsöl die fränkische Monarchie geheiligt habe. Allerdings 90 Johannes Trithemius, „Compendium sive breviarium primi voluminis chronicorum sive annalium“,

in Marquard Freher (Hg.), Johannis Trithemii primae partis opera historica, Frankfurt 1601, 2: Scio multos de origine Francorum et varie et diversa scripsisse [. . .]. Quorum diversas opiniones neminem posse vel discernere vel concordare credimus, quem Hunibaldi compilatio non illustrat. Is etenim solidus Francorum historiographus claruit in humanis Clodovei regis, quem sanctus Remigius praesul Romanorum baptizavit, temporibus, anno dominicae nativitatis quingentesimo. 91 Joseph Chmel, Die Handschriften der k. k. Hofbibliothek in Wien, 1, Wien 1840, 318f. 92 Johannes Trithemius, „De septem secundeis [. . .] libellus sive chronologia mystica“, in Marquard Freher (Hg.), Johannis Trithemii opera historica Bl. 11–12 (unpag.): Esdras propheta libros Mosi combustos a Chaldaeis, qui et Babylonii fuerunt dicti, memoria usus pro archetypo reparavit. Vgl. Staubach, „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, 298ff. – Um den Gerüchten über die Quellen seines Geheimwissens zu begegnen, hat Trithemius sich in einem Brief an den Genter Karmeliter Arnold de Bost (Bostius) ausdrücklich darauf berufen, er sei ‚nicht Magier, sondern Prophet‘; s. Paulus Volk, „Abt Johannes Trithemius“, in Rheinische Vierteljahrsblätter 27 (1962) 37–49, hier 44: [. . .] si forte aliquando ad te rumor pervenerit me scire impossibilia, non me magum ilico existimes, sed prophetam.

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liegt es auf der Hand, dass sowohl Hilduin wie auch Hinkmar mit ihren hagiographischen Fiktionen nicht nur erbauliche und gemeinnützige Absichten verfolgten: Wenn sie sich für den Ruhm ihrer Heiligen engagierten, wurde auch ihre eigene Stellung gehoben und befestigt. Dabei konnten sie sicher sein, dass ihr frommer Betrug die Dankbarkeit ihrer Patrone nicht schmälern würde.

Sita Steckel

Ein brennendes Feuer in meiner Brust Prophetische Autorschaft und polemische Autorisierungsstrategien Guillaumes de Saint-Amour im Pariser Bettelordensstreit (1256)*

Ist dieß schon Tollheit, hat es doch Methode. (William Shakespeare, Hamlet, II.2)

1. Vom Professor zum Propheten. Zur schwierigen Einordnung der Prophetie im Bettelordensstreit der 1250er Jahre Im Frühling und Sommer des Jahres 1256 erlebte die Stadt Paris, kommunikativer Resonanzraum der jungen Universität, des Klerus, der Bürger und des französischen Hofs, einen heftigen Skandal um einen ungewöhnlichen Propheten. In Schriften und in Predigten und Ansprachen verbreitete der aus Burgund stammende Guillaume de Saint-Amour (geb. c. 1200, † 1272), vollausgebildeter Theologe der Universität und bis ins Frühjahr auch Inhaber eines theologischen Lehrstuhls, Warnungen vor der kommenden Endzeit und ihren Gefahren. Von den abwägenden, theoretisch-argumentativen Überlegungen zur Geschichtstheologie, die von anderen Theologen der Hochscholastik vorgetragen wurden, ist bei ihm freilich wenig zu spüren. In seiner in mehreren Redaktionen verbreiteten Schrift De periculis novissimorum temporum, ‚Über die Gefahren der Jüngsten Zeiten‘, warnte er im Gegenteil schrill vor wachsender Gefahr. Der Kirche drohe, wie er nachdrücklich versicherte, in den letzten Tagen Unheil durch bestimmte Heuchler. Diese äußerlich frommen Akteure seien in Wirklichkeit von teuflischer Energie beseelte Vorbo-

* Die Verfasserin bedankt sich herzlich bei Christel Meier-Staubach und Martina Wagner-Egelhaaf für

die Aufnahme des Beitrags in den Band. Für Hinweise und Vorabeinsichten in neue Quellenfunde sei Andrew G. Traver (Hammond, Louisiana) und für eine kritische Lektüre Andreas Pietsch (Münster) gedankt.

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ten des Antichrist. Sie schlichen sich in die Häuser ein, hätten schon vielfach die Gunst der Fürsten und Prälaten gewonnen und seien dabei, die Kirche zu unterwandern. 1 Als ernstzunehmende Prophetie oder gar als Geschichtstheologie sind diese Äußerungen bislang allerdings kaum eingestuft worden: Sie hatten einen zu deutlichen politischen Hintergrund. Schon seit 1252 herrschte Streit unter den Professoren der theologischen Korporation der Universität Paris. Der ausufernde und laute Streit, eine gravis et clamosa querela, war Teil eines größeren Konfliktzusammenhangs, des sogenannten Bettelordensstreits. Er wurde seit der Mitte des 13. Jahrhunderts zwischen den neuen Bettelorden, besonders den Dominikanern und Franziskanern, sowie einer Reihe von Gegnern an der Universität, im Klerus und im alten Mönchtum ausgetragen, deren Status und Selbstverständnis durch das Auftreten der neuen Orden gestört wurde. An der Universität wurde von 1252–1257 um die Anzahl der Lehrstühle und die Eingliederung der Dominikaner und Franziskaner in die Korporation der Magister gestritten, da sie die universitäre Autonomie stark in Frage stellte. 2 Bald geriet in Paris die religiöse Lebensform der Mendikanten selbst in die Diskussion, in erster Linie die Bettelarmut, die von den Orden als besonders weitgehende Verwirklichung der Apostelnachfolge angesehen wurde und sozusagen das gemeinsame Markenzeichen der auf Predigt, Seelsorge und Häretikermission ausgerichteten Dominikaner sowie der ursprüglich als Bußbewegung entstandenen, aber ebenfalls tief in die Seelsorge und Häretikerinquisition involvierten Franziskaner war. 3 1 Zu Guillaume de Saint-Amour vgl. neben der klassischen Monographie von Michel-Marie Dufeil,

Guillaume de Saint-Amour et la polémique universitaire parisienne, 1250–1259, Paris 1972, mit Verweisen auf die ältere Literatur grundlegend The Opuscula of William of Saint-Amour: The Minor Works of 1255–1256, hg. v. Andrew G. Traver (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie im Mittelalter NF 63), Münster 2003; William of Saint-Amour, De periculis novissimorum temporum. Edition, Translation, and Introduction by Guy Geltner (Dallas Medieval Texts and Translations 8), Louvain/Paris 2007; Michel-Marie Dufeil, „Guilielmus de Sancto Amore, Opera Omnia (1252–1270)“, in Albert Zimmermann/Gudrun Vuillemin-Diem (Hgg.), Die Auseinandersetzungen an der Pariser Universität im 13. Jahrhundert (Miscellanea Mediaevalia 10), Berlin/New York 1976, 213–219. 2 Vgl. neben Dufeil, Guillaume, besonders Andrew G. Traver, „Rewriting History? The Parisian Secular Masters’ Apologia of 1254“, in History of Universities 15 (1997–9), 9–45; Jacques Verger, „Coacta ac periculosa societas. La difficile intégration des réguliers à l’Université de Paris au XIIIe siècle“, in Claude Carozzi/Daniel Le Blévec/Huguette Taviani-Carozzi (Hgg.), Vivre en société au Moyen Âge. Occident chrétien VIe–XVe siècle (Collection le temps de l’histoire), Marseille 2008, 261–279; Peter R. McKeon, „The Status of the University of Paris as Parens scientiarum: An Episode in the Development of Its Autonomy“, in Speculum 39/4 (1964), 651–675; Constant J. Mews, „Communautés de savoirs. Écoles et collèges à Paris au XIIIe siècle“, in Revue de Synthèse 129.4 (2008), 485–507. 3 Vgl. mit weiteren Verweisen Andrew G. Traver, „The Forging Of An Intellectual Defense Of Mendicancy In The Medieval University“, in Donald S. Prudlo (Hg.), The Origin, Development, and Refinement of Medieval Religious Mendicancies (Brill’s Companions to the Christian Tradition 24), Leiden 2011, 157–196; ders., „William of Saint-Amour’s Two Disputed Questions De quantitate eleemosynae and De valido mendicante“, in Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen âge 62 (1995), 295–342.

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Mit den schrillen Warnungen Guillaumes de Saint-Amour von 1256 erlebte dieser Streit einen Höhepunkt, auf dem nicht mehr nur schriftlich, innerhalb der Universität oder des Universitätsviertels, sondern auch in Predigten, Reden und Liedern in und um Paris ein heftiger Kampf zwischen Magistern und Scholaren auf Seiten der Orden und auf Seiten des Klerus ausgetragen wurde. Die latente Konkurrenz zwischen Orden und Klerus zog aber auch weitere Kreise und führte in verschiedenen Gegenden Europas zu teils gewaltsamen Episoden des Streits um Rechte, Privilegien und Gelder in der lokalen Seelsorge, die noch bis etwa 1300 (Bulle Super cathedram) und darüberhinaus ausgefochten wurden. 4 Die langwährende Debatte führte insgesamt zur Verdichtung einer langfristig wirksamen Tradition der anti-mendikantischen Polemik. 5 Die Angriffe Guillaumes de Saint-Amour auf ‚scheinheilige Jünger des Antichrist‘ waren, wie viele Zeitgenossen gewusst haben dürften, also eine Strategie, die eigentlich auf die Bettelorden der Dominikaner und Franziskaner zielte. Doch gerade das Wissen um diesen Kontext hat in der bisherigen Forschung zumeist für Verwirrung gesorgt und eine ausführlichere Behandlung des Auftretens Guillaumes als Prophet verhindert: Er stand zwischen der spezialisierten Forschung zum Bettelordensstreit sowie den Forschungsfeldern der Universitätsgeschichte, der Erforschung von Prophetie und Geschichtstheologie 6 sowie von Wissenschaftskonzepten und gelehrter Autorität im 13. Jahrhundert. 7 4 Vgl. dazu neuerdings die Arbeit von Guy Geltner, The Making of Medieval Antifraternalism. Polemic,

Violence, Deviance, and Remembrance, Oxford 2012. Die ältere Forschung hat besonders die ekklesiologischen Anschauungen der Kontrahenten untersucht, vgl. den klassischen Aufsatz von Yves Congar (OP), „Aspects ecclésiologiques de la querelle entre mendiants et séculiers dans la seconde moitié du XIIIe siècle et le debut du XVIe“, in Archives d’histoire doctrinale et littéraire du Moyen Age 28 (1961), 35–151, sowie Joseph Ratzinger, „Der Einfluß des Bettelordensstreits auf die Lehre vom päpstlichen Universalprimat, unter besonderer Berücksichtigung des Hl. Bonaventura“, in Theologie in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Michael Schmaus, München 1957, 697–724. 5 Vor allem aufgrund der äußerst breiten Rezeption der Schriften des Pariser Bettelordensstreits in Auseinandersetzungen zwischen Weltklerus und Orden im England der Mitte des 14. Jahrhunderts ist die englischsprachige Forschung und die englische Literaturwissenschaft seit langem intensiv an der Thematik interessiert und hat die Vermittlung von den Pariser ‚Ursprüngen‘ in die mittelalterliche französische und englische volkssprachige Tradition sowie in die Reformation in weiten Teilen intensiv erforscht. Vgl. besonders Penn R. Szittya, „The Antifraternal Tradition in Middle English“, in Speculum 52 (1977), 287–313; ders., The Antifraternal Tradition in Medieval Literature, Princeton 1986; Guy Geltner, „Faux Semblants. Antifraternalism Reconsidered in Jean de Meun and Chaucer“, in Studies in Philology 101.4 (2004), 357–380; ders., „William of St Amour’s De periculis novissimorum temporum: A false start to medieval antifraternalism“, in Michael F. Cusato (OFM)/Guy Geltner (Hgg.), Defenders and Critics of Franciscan Life. Essays in Honor of John V. Fleming (The Medieval Franciscans 6), Leiden/Boston 2009, 105–118. 6 Mehr als nur eine Randbemerkung lässt Robert E. Lerner, „The Refreshment of the Saints. The Time after Antichrist as a Station for Earthly Progress in Medieval Thought“, in Traditio 32 (1976), 97–144, Guillaume zuteil werden, ansonsten wird er in Arbeiten zur Geschichtstheologie und Apokalyptik oft nur sehr kursorisch behandelt, da er keine systematische Geschichtstheologie anbietet. 7 So wird Guillaume nur einmal erwähnt von Elsa Marmursztejn, L’autorité des maîtres. Scholastique, normes et societé au XIIIe siècle, Paris 2007, 62; ebenso punktuell bei Ian P. Wei, Intellectual Culture in Medieval Paris. Theologians and the University, c. 1100–1330, Cambridge 2012.

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Universitäts- und theologiegeschichtliche Arbeiten waren eher an sauberen philosophisch-theologischen Diskussionen interessiert und sahen Guillaumes polemische Interventionen als Querulantentum. Bereits zeitgenössische Gegner wie der junge Thomas von Aquin hatten sich zu Guillaumes Lebzeiten mit weit hochgezogenen Augenbrauen von ihm distanziert und seine Argumente als lächerlich abgestempelt. 8 Noch in der Forschung des 20. Jahrhunderts wirkte das in Standpunkten nach, die Guillaume allenfalls als tragikomisch oder, in den Worten seines Biographen Dufeil, gar als „héroï-comique“ vorführten. 9 Ohnehin wurde die Konfliktpartei des Weltklerus in der Forschung gern etwas stiefmütterlich behandelt, da die Orden bis heute gemeinhin als straffere und buchstäblich ‚modernere‘ Form des religiösen Lebens gelten und deren ‚Vorkämpfer‘, vor allem der Franziskaner Bonaventura (†1274) und der Dominikaner Thomas von Aquin († 1274), als Heilige verehrt werden. 10 Aber auch die jüngere Forschung, die sich ausdrücklich Guillaume de Saint-Amour zuwandte, konnte das scandalum eines politisch motivierten Gelegenheitspropheten nicht ohne weiteres einordnen: Sie entkleidete seine allzu radikale Warnung vor endzeitlichen Heuchlern und Pseudo-Predigern großenteils ihrer apokalyptischen Dringlichkeit und sah sie als nebensächliche Fassade seines politischen Anliegens. 8 Vgl. besonders Thomas von Aquin (OP), Contra impugnantes Dei cultum et religionem, in Thomas

Aquinas, Opera Omnia, Bd. 3, hg. v. Roberto Busa, Stuttgart/Bad Cannstatt 1980, 528–558, aber auch die Schriften des Thomas von York (OFM); zu ihnen vgl. Andrew G. Traver, „Thomas of York’s Role in the Conflict Between Mendicants and Seculars at Paris“, in Franciscan Studies 57 (1999), 1–24. 9 Vgl. Michel-Marie Dufeil, „Trois ‚sens d’histoire‘ affrontés vers 1250–1260“, in 1274 – Année charnière. Mutations et Continuités. Colloque du CNRS, Lyon – Paris, 30 september–5 octobre 1274, Paris 1975, 825. 10 Nicht zuletzt scheinen die vielen ordensgebundenen Erforscher des Bettelordensstreits von den großen, jeweils heiliggesprochenen Mendikantentheologen Bonaventura und Thomas angezogen, die auch als Identifikationsfiguren für moderne wissenschaftliche Bemühungen der Orden gelten müssen. Während ordensgebundenen Forschern keineswegs aufgrund bloßer Ordenszugehörigkeit eine geringere Wissenschaftlichkeit zugeschrieben werden soll, zeigen sie doch meist ein starkes Interesse und einige Sympathie für die Belange der Orden und widmen ihnen oft den größten Raum. Vgl. etwa (jeweils mit einigen relevanten Titeln) Sophronius Clasen (OFM), Der heilige Bonaventura und das Mendikantentum. Ein Beitrag zur Ideengeschichte des Pariser Mendikantenstreits (1252–72) (Franziskanische Forschungen 7), Werl 1940; ders., „Die Kampfpredigten des Wilhelm v. St. Amour gegen die Mendikantenorden“, in Ignatius Maria Freudenreich (Hg.), Kirchengeschichtliche Studien. P. Michael Bihl OFM als Ehrengabe dargeboten, Kolmar 1941, 80–95; Yves Congar (OP), „Aspects ecclesiologiques“; ders., „Saint Thomas Aquinas and the Infallibility of the Papal Magisterium (Summa Theol., II – II, q. 1, a. 10)“, in The Thomist 38 (1974), 81–105; Ulrich Horst (OP), Wege in die Nachfolge Christi. Zur Theologie des Ordensstandes nach Thomas von Aquin (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens NF 12), Berlin 2006; ders., Bischöfe und Ordensleute. Cura principalis animarum und via perfectionis in der Ekklesiologie des hl. Thomas von Aquin, Berlin 1999. Ein weiterer Hauptautor zur Kontroverse, Michel-Marie Dufeil, war zwar kein Ordensmann, hegte aber offensichtlich stärkste Sympathien für die Orden und sah sie als ‚Fortschritt‘, vgl. neben Michel-Marie Dufeil, Guillaume (wie Anm. 1), ders., „Signification historique de la querelle des mendiants: Ils sont le progrès au XIIIe siècle“, in Albert Zimmermann/Gudrun Vuillemin-Diem (Hgg.), Die Auseinandersetzungen an der Pariser Universität im 13. Jahrhundert; 95–105; ders., „Guilielmus de Sancto Amore, Opera Omnia“; ders., „Trois sens d’histoire“, 815–848.

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Penn Szittya handelte in seiner großen Monographie zur antimendikantischen Tradition etwa Guillaumes Äußerungen zur Prophetie sehr kurz ab, indem er sie als uneigentliche Äußerung darstellte. 11 Guillaumes apokalyptische Argumentation wurde zudem mehrfach als eine mehr oder weniger perfide Karikatur der Endzeitszenarien gesehen, die von einigen franziskanischen Gegenspielern gepflegt wurden, als eine Parodie oder satirische „sustained irony“, wie Brian Tierney formulierte. 12 Andererseits wurde jedoch betont, dass Guillaume de Saint-Amour wie die meisten Zeitgenossen, darunter sein franziskanischer Gegner Bonaventura († 1274), durchaus auch selbst überzeugt gewesen sein dürfte, im letzten Zeitalter der Kirche zu leben. 13 Wie Szittya argumentierte, kann man Guillaume zudem zwar einiger ‚Unaufrichtigkeit‘ beschuldigen – doch seine Instrumentalisierung der Bibel als Mittel der Gegenwartsdeutung sei keine Fassade, sondern wichtiges und unter größten Schwierigkeiten verfolgtes Anliegen des Theologen. 14 Guillaume schrieb nicht zuletzt über das Jahr 1256 hinaus und erweiterte seine Argumente in der Schrift De Antichristo (vermutlich gemeinsam mit Nicholas 11 Vgl. Penn Szittya, Antifraternal tradition, 32: „William’s claim to prophecy is based solely on his

capacity as exegete, Scripturarum interpres. If, to warn the church against destruction, he claims to be a visionary, it is only as a Videns, one who sees through scripture.“ 12 Vgl. für eine Zusammenfassung der verschiedenen Meinungen Guy Geltner, in De periculis, Introduction, 14–15; James Doyne Dawson, „William of Saint-Amour and the Apostolic Tradition“, in Mediaeval Studies 40 (1978), 223–38, bes. 234–5. Unter den verschiedenen modernen Kommentatoren hält Peter R. McKeon, „The Status of the University of Paris“, 670, Guillaumes Warnung für ironisch. Robert E. Lerner, „Refreshment“, 125, empfindet sie als ‚parody‘ und Inversion – Guillaume „inverted Gerardino’s predictions by portraying the friars not as heralds of a wonderful new age but as hypocritical forerunners of Antichrist.“ Brian Tierney, The Origins of Papal Infallibility, 1150–1350. A study on the concepts of Infallibility, Sovereignty and Tradition, Leiden [u.a.] 21998, 63, hält Guillaumes Schrift für eine „elaborate parody of the Joachite expectations of the more extreme friars“ und fügt an (64) „It is not at all clear how seriously William took his own apocalyptic speculations. Perhaps he was merely indulging to the full a highly developed talent for sustained irony. Certainly the real ground of his opposition to the mendicant orders was not the indiscreet prophesying of one relatively unimportant Franciscan.“ Eine Art Selbstpersuasion nimmt Edmond Faral an, „Les Responsiones“, 375: „Guillaume croyait-il à la vérité de sa thèse? . . . On finit toujours par croire ce qu’on a dit et redit. Mais il est bien possible qu’il ait cédé d’abord aux tentations de l’ingéniosité plutôt qu’aux ordres de la conviction.“ 13 Vgl. beispielhaft Guy Geltner, De periculis, Introduction, 14; Michel-Marie Dufeil, Guillaume, 144, Anm. 205. 14 Vgl. Penn Szittya, Antifraternal tradition, 19–20: „There is certainly some disingenuousness in William’s protests that his writings depend on the Bible alone. His Biblical texts are not innocently chosen: many have some implicit application to contemporary events, which William is at pains to make clear but not explicit. The method must owe something to prudence. It is more circumspect to denounce the Pharisees of the Gospels than to attack the living friends of the pope and the king. But William’s Biblical exegesis cannot be dismissed out of hand as mere rhetoric or parody as some have argued. [. . .] The sheer mass of the exegetical enterprise argues for its genuineness. Furthermore, all William’s works are focused on Biblical rather than political themes and organized primarily according to Scriptural considerations, especially by the association of words in one Biblical text with those in another.“

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von Lisieux, nach 1260) 15 und der massiven Argumentsammlung der Collectiones catholicae et canonicae scripturae (um 1260–65). Bleiben die genauen Implikationen seines prophetischen Auftretens also bis heute umstritten, führen sie damit fast exemplarisch in die Schwierigkeiten der Interpretation von Prophetie und prophetischer Autorschaft im Spätmittelalter hinein, die fast immer vor einem politischen Kontext stattfindet. Allerdings lassen sich gerade dann Ansatzpunkte finden, wenn man nach Autorschaft und Autorität fragt: Der Auftritt Guillaumes als Prophet war offenbar dazu gedacht, über das universitäre Publikum hinauszugreifen. Wie ein Blick auf die Ausbreitung des Streits zeigt, bediente er Kommunikationsformen, die einer breiteren Öffentlichkeit zuzurechnen sind. Die seltsame Wendung eines Universitätstheologen zur Prophetie erlaubt uns also letztlich Einblicke in die dynamische Konstitution einer kirchlichen Öffentlichkeit, in der es Sprecherrollen unterschiedlicher und umstrittener Legitimität und Autorität gab. 16 Die Frage nach der Authentizität der religiösen Geltungsansprüche Guillaumes von Saint-Amour und nach der Seriosität seiner Prophetie und Geschichtstheologie kann man in eine Frage nach kontextabhängigen Autorisierungsstrategien und zugrundeliegenden Konzepten prophetischer Autorschaft und gelehrter Autorität auflösen. 17 Als Kontext dieser Autorisierungsstrategien müssen strategisch-propagandistische, rechtliche und religi15 Vgl. Andrew G. Traver, „The Liber de Antichristo and the Failure of Joachite Expectations“, in Flo-

rensia 14 (2001), 87–98, sowie weitere in Vorbereitung befindliche Publikationen Andrew G. Travers. 16 Die Dimension der Öffentlichkeit des Streits erscheint unzureichend erforscht, und eine Studie

der Verfasserin zu diesem Aspekt ist in Vorbereitung. Vgl. zur Konstitution von Öffentlichkeit in den Pariser Konflikten demnächst Sita Steckel, „Professoren in Weltuntergangsstimmung. Religiöse Debatte und städtische Öffentlichkeit im Pariser Bettelordensstreit, 1252–1257“, in: Pluralität, Konkurrenz, Konflikt. Religiöse Spannungen im städtischen Raum der Vormoderne, hg. v. Susanne Ehrich/ Jörg Oberste (Forum Mittelalter-Studien 8), Regensburg 2013, 51–79 (im Druck). Zu relevanten Konzepten von Öffentlichkeit vgl. allg. den Überblick bei Nikolas Jaspert, „Politische Öffentlichkeit im Spätmittelalter: Zusammenfassung“, in Politische Öffentlichkeit im Spätmittelalter, hg. v. Martin Kintzinger/Bernd Schneidmüller (Vorträge und Forschungen 75), Ostfildern 2011, 433–450; zur städtischen Öffentlichkeit auch Carol Symes, A common stage: Theater and public life in medieval Arras, Ithaca, NY 2007. Weiterhin wäre besonders die volkssprachliche Überlieferung zu berücksichtigen, vgl. hier nur die Verweise in Rutebeuf et les frères mendiants. Poèmes satiriques, hg. u. übers. v. Jean Dufournet (Traductions des classiques francais du Moyen Age, 46), Paris 1996; Oeuvres complètes de Rutebeuf, hg. v. Edmond Faral und Julia Bastin, 2 Bde., Paris 1959–69. 17 Die Frage nach prophetischer Autorschaft wird hier aus Gründen der Quellenbeschaffenheit vor allem in die Frage nach Autorisierungsstrategien aufgelöst. Vgl. zu den zugrundeliegenden theoretischen und methodischen Zugriffen die Überlegungen bei Christel Meier und Martina WagnerEgelhaaf, „Einleitung“, in dies. (Hgg), Autorschaft. Ikonen – Stile – Institutionen, Berlin 2011, 9–27; Christel Meier, „Autorschaft im 12. Jahrhundert. Persönliche Identität und Rollenkonstrukt“, in Peter von Moos (Hg.), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft (Norm und Struktur 23), Köln/Weimar/Wien 2004, 207–266; dies., „Von der ‚Privatoffenbarung‘ zur öffentlichen Lehrbefugnis: Legitimationsstufen des Prophetentums bei Rupert von Deutz, Hildegard von Bingen und Elisabeth von Schönau“, in Gert Melville/Peter von Moos (Hgg.), Das Öffentliche und Private in der Vormoderne (Norm und Struktur 10), Köln/Weimar/Wien 1998, 97–123; als Anregung zudem Andreas Pietsch, „Hoeret myne Kinderen. Autorisierungsstrategien von

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öse Dimensionen der Pariser Debatten einbezogen werden: Guillaumes Griff zu apokalyptischen Argumentationen dürfte zunächst ein Mittel der Dramatisierung des Konflikts und der Mobilisierung von Öffentlichkeit gewesen sein. Der Konflikthintergrund legt weiterhin nahe, dass seine Argumentationen in ihrer ganzen scheinbaren Unangemessenheit als Polemik zu lesen sein müssen – also weniger als systematische Darstellung eschatologischer Horizonte denn vielmehr als stark kontextabhängige, bewusst verkürzende Auseinandersetzung mit der Position eines Gegners, die man nur mit Vorkenntnissen über das Geschehen erschließen kann. 18 Zudem kann angenommen werden, dass Guillaume sich von Autoritätskonzepten seiner Gegner abgrenzte oder diese zu unterlaufen suchte. Unter diesen Umständen dürfen wir von vornherein keine geschlossene, theoretisch modellierte Konzeption prophetischer Autorschaft erwarten. Insgesamt kämpfte Guillaume de SaintAmour mit seinem Prophetiekonzept, wie gleich weiter diskutiert werden soll, an mehreren Fronten und betrieb dabei verschiedene Abgrenzungen oder ‚Grenzarbeiten‘. 19 Im Folgenden müssen daher verschiedene kontextabhängige Strategien der Autorisierung nacheinander verfolgt werden, ohne sie von vornherein komplett als Ironie abzutun oder als unmittelbaren Ausdruck der tiefsten religiösen Überzeugung Guillaumes zu werten. Zudem sind die rechtlichen Rahmenbedingungen des Konflikts einzubeziehen, der sich von einem Rechts- und Interessenkonflikt zu einem religiös aufgeladenen Wahrheitskonflikt verschob. Der schrille Ton der prophetischen Warnungen Guillaumes von SaintAmour trat aber nicht plötzlich auf. Der Streit weitete sich im Gegenteil erst nach einem langwierigen juristischen Schlagabtausch an Universität und Papsthof zu einer grundsätzlichen Diskussion über die religiöse Legitimität der Orden aus, nachdem in den Jahren 1252–1254 noch wesentlich universitäre Statuten und kanonisches Recht Argumente geliefert hatten. Nach ersten Niederlagen des Weltklerus wurde jedoch bald – in einem

prophetischen Autoren in der Radikalen Reformation“, in Christel Meier/Martina Wagner-Egelhaaf (Hgg.), Autorschaft, Berlin 2011, 213–230. 18 Über diesen Definitionsversuch für ‚Polemik‘ soll für die Zwecke dieses Aufsatzes nicht hinausgegangen werden. Eine für die Konfliktpraxis der hoch- und spätmittelalterlichen Kirche griffige bessere Definition wäre erst zu formulieren, wozu bislang nur wenige Ansatzpunkte vorliegen. Vgl. etwa Hermann Stauffer, Art. Polemik, in Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, Tübingen 2003, 1403–1415; Ilona Opelt, Die Polemik in der christlichen lateinischen Literatur von Tertullian bis Augustinus, Heidelberg 1980; Theo L. Hettema/Arie van der Kooij (Hgg.), Religious Polemics in Context. Papers Presented to the Second International Conference of the Leiden Institute for the Study of Religions (Lisor) Held at Leiden, 27–28 April, 2000 (Studies on Theology and Religion, 11), Arsen 2004 (mit Bibliographie); Kai Bremer/Carlos Spoerhase (Hgg.), Gelehrte Polemik. Intellektuelle Konfliktverschärfungen um 1700, Frankfurt a.M. 2011. 19 Zur Operationalisierung eines Konzepts der Grenzarbeiten in Auseinandersetzung mit Thomas F. Gieryn und Pierre Bourdieu vgl. Astrid Reuter, „Grenzarbeiten am religiösen Feld – Religionsrechtskonflikte und -kontroversen im Verfassungsstaat“, in Jamal Malik/Jürgen Manemann (Hgg.), Religionsproduktivität in Europa. Markierungen im religiösen Feld (Vorlesungen des Interdisziplinären Forums Religion der Universität Erlangen 6), Münster 2009, 101–116; als Anregung auch Thomas F. Gieryn, „Boundary-work and the demarcation of science from non-science. Strains and interests in professional ideologies of scientists“, in American Sociological Review 48/6 (1983), 781–795.

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Konflikt unter Theologen wenig überraschend – mithilfe theologischer Disputation nachgekartet, etwa Quaestionen Guillaumes und Bonaventuras zur Armut. 20 Dazu tat sich ab 1254 eine zweite, viel stärker religiös aufgeladene Front des Konflikts auf, die das Element der Endzeiterwartung einbrachte: Ein junger Franziskaner namens Gerardino de Borgo San Donnino († c. 1276) veröffentlichte in diesem Jahr eine radikale Zuspitzung der Geschichtstheologie Abt Joachims von Fiore (* c. 1135–†1202), die Guillaume de Saint-Amour und seine Partei in höchsten Alarm versetzte. Joachim von Fiore hatte für das letzte Zeitalter der Kirche eine Spiritualisierung heraufdämmern sehen, in der der alte Klerus durch neue viri spirituales unterstützt würde – oder, wie Gerardino zu radikalisieren schien, in der der Klerus demnächst, wohl im Jahr 1260, durch die neuen Orden komplett ersetzt würde. Guillaume de Saint-Amour kritisierte diese Vorstellungen hart und hängte an den Visionen einer glorreichen endzeitlichen Rolle der neuen Orden 1254 eine regelrechte Hetzkampagne gegen die Franziskaner an Universität und Papsthof auf. Sie resultierte in der kurzfristigen Beschneidung der Privilegien der Orden im November 1254 durch Papst Innozenz IV. sowie in der 1255 erfolgten Verurteilung Gerardinos als Häretiker. Der schon im Dezember 1254 zwischenzeitlich neugewählte Papst Alexander IV. nahm allerdings erstere Regelung seines Vorgängers zurück. Wohl gerade weil er um den politischen Hintergrund der theologischen Argumentation gegen die Orden wusste, stellte er die Privilegien der Orden wieder her und versuchte, weitere Debatten darum abzuschneiden. 21 Vor diesem Hintergrund gewinnt die Wendung Guillaumes de Saint-Amour zu Warnungen vor der drohenden Endzeit einigen Sinn als Autorisierungsstrategie. Die Einkleidung seiner Bettelordenskritik als Theologie ist zunächst offensichtlich als ‚Codierung‘ etwa im Sinne Leo Strauss’ zu verstehen. 22 Sie erlaubte ihm, über seine beengten rechtlichen und politischen Handlungsspielräume hinauszugreifen und seine Angriffe auf die Bettelorden in unverfänglicherer Weise fortzusetzen. Dass Guillaume es ganz bewusst vermied, die Bettelorden anzusprechen, ist sogar aus seinen eigenen Aussagen belegt, da er sich später damit zu verteidigen suchte. 23

20 Vgl. Andrew G. Traver, in William of St. Amour, The Opuscula, 7–30; Andrew G. Traver, „William

of St. Amour’s Two Disputed Questions“. 21 Nachdem 1252/3 zunächst die Theologen der Bettelorden mit der Wiederaufnahme in die Universi-

tät einen Etappensieg errungen hatten, erreichte im Winter 1254 der Weltklerus unter Führung des burgundischen Magisters Guillaume de Saint-Amour eine starke Beschränkung der Privilegien der Orden durch Papst Innozenz IV. Schon am 14. April 1255 regelte aber der neue Papst Alexander IV. (Pontifikat 1254–†1261) in der Bulle Quasi lignum vitae den Streit erneut und für die nächsten Dekaden maßgeblich zugunsten der Bettelorden. Dagegen wurde wiederum an der Pariser Universität für mehr als ein Jahr protestiert. Vgl. für die Einzelheiten Michel-Marie Dufeil, Guillaume, sowie Jacques Verger, „Coacta ac periculosa societas“. 22 Dass die Argumentation Guillaumes de Saint-Amour in gewisser Weise ‚codiert‘ war und einen esoterischen Subtext hatte, ist schon längst Gemeinplatz der Forschung; der Begriff wird hier in nur loser Anlehnung an Leo Strauss, Persecution and the Art of Writing, New York 1952, ND 1980, verwendet. 23 Vgl. Edmond Faral, „Responsiones“, 358.

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Nachdem er bereits erfolglos rechtlich und theologisch gegen die Bettelorden argumentiert hatte, ging er tatsächlich dazu über, in allgemeiner aber nachdrücklicher Weise vor ‚Pseudo-Predigern‘ und heuchlerischen ‚Vorboten des Antichrist‘ zu warnen, womit er immer noch deutlich die Bettelorden meinte, vor allem die Dominikaner als Predigerorden, die im Konflikt die größere Rolle spielten. 24 Nur ein Jahr, nachdem er die apokalyptischen Theoriebildungen Gerardinos de Borgo San Donnino vor Gericht gebracht hatte, stellte Guillaume sich schließlich auch selbst als Propheten endzeitlicher Gefahren vor. Im Vorwort seiner ominös betitelten Schrift De periculis novissimorum temporum brachte er die Autorität der Pariser Theologieprofessoren mit Konzepten der Prophetie in Zusammenhang und schrieb, dass sie nunmehr die Aufgabe von ‚Sehern‘ und ‚Propheten‘ zu übernehmen hätten. In den letzten Monaten der Kontroverse, als der Streit längst weit über das Universitätsviertel und über die akademische, in lateinischer Sprache geführte Debatte hinausgriff, predigte Guillaume sein apokalyptisches Szenario sogar in Paris wie in benachbarten Orten. In der wohl am 1. Mai 1256 gehaltenen Predigt über Qui amat periculum, peribit in illo (Ecclesiastes 35,1) breitete er dabei seine apokalyptische Argumentation öffentlich aus. Dabei setzte er seine eigene, zunehmend schwierige Lage in einem ‚paranoiden Vergleich‘ 25 mit der des verfolgten und verlachten Propheten Jeremias gleich. Noch im Herbst 1256 sollte man ihn tatsächlich aus Paris verweisen; da er vom französischen König exiliert und vom Papst dann 1257 der Häresie verurteilt wurde, kehrte er nie zurück, sondern verschwand buchstäblich in der Verbannung. Obwohl Guillaume de Saint-Amour nie direkt behauptete, Prophet zu sein, adaptierte er also offenbar Konzepte prophetischer Autorität, um innerhalb des politischen Raumes eine legitime Sprecherrolle für sich zu postulieren. Gleichzeitig inszenierte er freilich nicht nur eine prophetische, sondern auch eine spezifisch gelehrte, theologische Autorität – er betonte seine exegetische Kompetenz und brachte sie gegen die Prophetien Joachims von Fiore in Stellung. Seine Wendung vom Professor zum Propheten war somit Instrument politischer Propaganda, wie das für die Gattung im Mittelalter vielfach bekannt ist. 26 Sie hing aber auch mit seiner Stellung als Theologe zusammen. Guillaume schloss 24 Hauptsächlich behandelt werden hier Guillaumes Traktat De periculis novissimorum temporum sowie

seine Predigt über Qui amat periculum, peribit in illo, in The Minor Works, hg. v. Andrew G. Traver, 155–178, ferner knapp seine Responsiones (in Edmond Faral, „Les ‚Responsiones‘ de Guillaume de Saint-Amour“, in Archives d’histoire doctrinale et littéraire du Moyen Age 25–26 [1950–1951], 337–394) und seine unter Pseudonym herausgegebenen Collectiones catholicae in Guilielmus de Sancto Amore Opera Omnia quae reperiri potuerunt, hg. v. ‚Alitophilus‘, Konstanz (wohl richtiger: Paris) 1632, Sp. 111–490. Zu den Werken vgl. insgesamt neben den bei Andrew G. Traver und Guy Geltner geleisteten Kontextualisierungen auch Michel-Marie Dufeil, „Guilielmus de Sancto Amore, Opera Omnia“. 25 Penn Szittya, Antifraternal tradition, 31, spricht von einem „paranoid comparison“. 26 Vgl. Bernard McGinn, Visions of the End. Apocalyptic Traditions in the Middle Ages, New York 1979, 31 oder z.B. Matthias Kaup, „Prophetie als Propagandamedium. Zu Funktion und Methode der Produktion und Exegese prophetischer Texte am Beispiel der Joachiten“, in Karel Hruza (Hg.), Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit (11.–16. Jahrhundert) (Denkschriften der phil.-hist. Klasse der ÖADW 307, Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 6), Wien 2002, 81–88.

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offenbar an mittelalterliche Traditionen an, in denen die theologische Exegese als Entsprechung zur alttestamentlichen Prophetie gesehen wurde, vor allem auf den Spuren Gregors des Großen (†604) und Cassiodors († 580). 27 Die prophetische Rede Guillaumes de Saint-Amour verortet sich daher auch innerhalb einer komplexen zeitgenössischen Debatte um den Status der Prophetie. 28 Somit bewegte sich Guillaume de Saint-Amour entlang einer Grenze, an der sich auf den Spuren der älteren Diskussion im 12. Jahrhundert der prophetische Abt Joachim von Fiore und die Visionärin Hildegard von Bingen abgearbeitet hatten. 29 Ab der Mitte des 13. Jahrhunderts sollte die Abgrenzung von Prophetie und Exegese dann weiterentwickelt werden, unter anderem durch Guillaumes Gegenspieler Thomas von Aquin. Doch Guillaumes Positionierungen sind dabei bislang kaum einbezogen worden. 30 Wenn im Folgenden eine zumindest skizzenhafte Auseinandersetzung mit dem komplexen Thema versucht wird, soll dies in einer Fokussierung auf unterschiedliche Kontexte und situative Entwürfe prophetischer Autorität geschehen. Guillaume nimmt generell nur in kurzen Bemerkungen zum umfangreichen theoretischen Diskurs der Zeit zu Prophetie und Apokalyptik Stellung. Der streitbare Weltkleriker positionierte sich in den Wirren des Pariser Konflikts großenteils sozusagen praktisch, in verschiedenen schriftlichen und mündlichen performances, in denen er Argumente, Metaphern und bestimmte Formen des Sprachduktus zur Konstruktion seiner spezifischen Autorität nutzte. Um seine Schriften von 1256 als kontextbezogene Polemik einzuordnen, ist daher zunächst nach Bezügen zum Konflikthintergrund und darauf zugespitzten Autorisierungsstrategien zu 27 Vgl. zur umstrittenen Grenze von Prophetie und Exegese bes. Christel Meier, „nova verba prophe-

tae. Evaluation und Reproduktion der prophetischen Rede der Bibel im Mittelalter. Eine Skizze“ (in diesem Band, S. 83ff.). 28 Vgl. zur Geschichte der mittelalterlichen Prophetie im Folgenden allgemein Bernard McGinn, Visions of the End; André Vauchez (Hg.), Prophètes et prophétisme, Paris 2012; Marianne Schlosser, Lucerna in caliginoso loco. Aspekte des Prophetie-Begriffes in der scholastischen Theologie, Paderborn [u.a.] 2000; Jean-Pierre Torrell (OP), Théorie de la prophétie et philosophie de la connaissance aux environs de 1230. La Contribution d’Hugues de Saint-Cher (Ms. Douai 434, Question 481) (Etudes et documents 40), Louvain 1977; ders., Recherches sur la théorie de la prophétie au moyen âge: XIIe–XIVe siècles; études et textes, Freiburg i.Ue. 1992. Vgl. mit weiteren Perspektiven ferner auch Marco Bartoli, „Les textes prophétiques et la prophétie en Occident (XIIe–XVIe siècles)“, in Florensia 5 (1991), 127–136; Edward L. Risden/Karen R. Moranski/Stephen Yandell (Hgg.), Prophet Margins. The medieval vatic impulse and social stability, New York 2004; Christian Jostmann, Sibilla Erithea Babilonica. Papsttum und Prophetie im 13. Jahrhundert (Schriften der MGH 54), Hannover 2006. 29 Vgl. bes. Gian Luca Potestà, „Intelligentia scripturarum und Kritik des Prophetismus bei Joachim von Fiore“, in Robert E. Lerner/Elisabeth Müller-Luckner (Hgg.), Neue Richtungen in der hoch- und spätmittelalterlichen Bibelexegese (Schriften des Historischen Kollegs 32), München 1996, 95–119; ders., „Prophetie als Wissenschaft. Das Charisma der Seher der Endzeiten“, in Pavlina Rychterova/ Stephan Seit/Raphaela Veit (Hgg.), Das Charisma. Funktionen und symbolische Repräsentation (Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften 2), Berlin 2008, 275–286. Die universitäre Prophetietheorie des frühen 13. Jahrhunderts reagierte stark auf Joachim von Fiore. 30 Vgl. für die Nachwirkungen der Pariser Kontroverse auf die Theorie der Prophetie jedoch Marianne Schlosser, Lucerna in caliginoso loco, 206–227, 289–311.

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fragen. Weiterhin sollen unterschiedliche implizite Bedeutungsebenen oder Mehrfachcodierungen herausgearbeitet werden. Denn die durch die Kontroverse mobilisierte Öffentlichkeit dürfte durchaus verschiedene Kommunikationsgemeinschaften enthalten: Das Publikum der polemischen Äußerungen Guillaumes muss aus unterschiedlichen Gruppen in und um Paris bestanden haben, die jeweils auch unterschiedliches mögliches Kontextwissen hatten. Für Beteiligte des Konflikts, die wussten, wen er mit der Warnung vor ‚Vorboten des Antichrist‘ meinte, dürfte Guillaumes Polemik nicht dieselben Inhalte transportiert haben wie für Unbeteiligte und für Personen, die nur wenig über die Auseinandersetzungen um die neuen Orden gehört hatten. Diesen verschiedenen Bedeutungsebenen soll im Folgenden für das unmittelbare Geschehen des Jahres 1256 nachgegangen werden, besonders in Auseinandersetzung mit Guillaumes Schrift De periculis novissimorum temporum sowie anhand einer seiner drei erhaltenen Predigten, nämlich Qui amat periculum, peribit in illo aus dem Frühjahr 1256, schließlich ganz punktuell anhand von Passagen seiner Collectiones catholicae. 31 Damit kann auch weiteren Forschungen vorgearbeitet werden, die seine praktischen Strategien dann genauer untersuchen und innerhalb des breiteren theoretischen Prophetiediskurses der Hochscholastik verorten können.

2. Konter-Eschatologie: Endzeitszenarien bei Guillaume de Saint-Amour und Gerardino de Borgo San Donnino Wogegen richtete sich die Polemik Guillaumes de Saint-Amour, und auf was bezog sie sich? Die Frage nach dem Kontext seiner apokalyptischen Argumente führt geradewegs in die Vielfalt geschichtstheologischer Positionen um die Mitte des 13. Jahrhunderts – eine Vielfalt, die sich für Dufeil 1972 noch als fast undurchdringliches Dickicht darstellte. Wie er formulierte, ‚weinten die Sibyllen und Propheten von allen Seiten‘, so dass der genaue Hintergrund der Argumente Guillaumes de Saint-Amour kaum angegeben werden könne. 32 Tatsächlich kursierten Prophezeihungen über ein unmittelbar bevorstehendes neues Zeitalter, über die Gefahren der letzten Zeiten, über die apokalyptischen 31 Die vorliegende Studie entstand als Vorarbeit im Rahmen einer Studie der Verfasserin zum Bet-

telordensstreit in Frankreich und muss als erster und notwendigerweise zuspitzender Versuch des Umgangs mit einer äußerst reichhaltigen Thematik verstanden werden. Eine Vielzahl von möglichen Bezügen der Abläufe bleibt daher unerwähnt oder wird nur angerissen. Insbesondere wird weder die breitere geschichtstheologische Debatte der Mitte des 13. Jahrhunderts noch die genaue Vorgeschichte und weitere Entwicklung der apokalyptisch-prophetischen Position Guillaumes de SaintAmour jenseits des Jahres 1256 vertieft diskutiert. Seine Collectiones catholicae werden nur kurz erwähnt, sein Werk De Antichristo bleibt ausgespart. 32 Michel-Marie Dufeil, Guillaume, 121: „Sibylles et prophètes pleuvent de tous côtés [. . .] la fin du monde est sous toutes les plumes.“ Ebd. 119–122 eine eher resignierte Aufzählung verschiedener apokalyptischer Strömungen, die Guillaume beeinflusst haben könnten. Ähnlich Penn Szittya, Antifraternal tradition, 24.

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Völker Gog und Magog (die Mongolen? oder doch die Muslime im Heiligen Land?), über den Antichrist (Kaiser Friedrich II., bestia de mari, oder der Sultan – oder sogar ein teuflischer Papst?) und seine möglichen irdischen Helfer und Vorboten. Schon seit dem 12. Jahrhundert zierten die Posaunenengel und Tiere (bestiae) der Offenbarung des Johannes die Fresken diverser Kirchen. Es waren neue gelehrte Theorien über das Kommen des Antichrist und des Weltendes gebildet worden, die im 13. Jahrhundert weiterentwickelt und auch zunehmend in volkssprachige Textgattungen übertragen wurden. Dank einer stark verbesserten Forschungslage können wir heute den Hintergrund der Ereignisse von 1256 besser einschätzen. 33 Naheliegend ist, dass Guillaumes seit Frühjahr 1256 vorgetragene Warnungen zur Endzeit tatsächlich eine direkte Reaktion auf die Apokalyptik des Franziskaners Gerardino de Borgo San Donnino und seiner joachitischen Theorie gewesen sein dürften, dass er also sozusagen ‚Eschatologie mit Eschatologie bekämpfte‘. 34 Nicht nur bezog sich Guillaume wiederholt und in äußerster Entrüstung auf Gerardino und seine Ausgabe einiger Werke Joachims, den sogenannten Introductorius in Evangelium aeternum. 35 Guillaumes düsterer Tonfall – es drohten der Kirche in den letzten Tagen schwere Gefahren – antwortete darüber hinaus offensichtlich ganz bewusst einem letztlich optimistischen, von intensiven spirituellen Hoffnungen gelenkten Blick Gerardinos und anderer joachitischer Theologen, den sich die Bettelorden zu eigen gemacht hatten. Die Gegenüberstellung einer gewissermaßen optimistischen und pessimistischen Eschatologie erscheint bei genauerem Hinsehen als eines der wesentlichsten Anliegen Guillaumes. Eher denn als Parodie erscheint dies freilich als Adaptation. 36 Die von starken Zukunftshoffnungen durchdrungene Deutung der Heilsgeschichte durch Abt Joachim von Fiore ist als signifikanter Umbruch der Geschichtstheologie

33 Vgl. zur Erforschung der apokalyptischen Literatur des 13. Jahrhunderts neben der oben genann-

ten Literatur auch Horst Dieter Rauh, Das Bild des Antichrist im Mittelalter. Von Tyconius zum dt. Symbolismus, Münster 21979; Ludwig Ott, Eschatologie in der Scholastik (Handbuch der Dogmengeschichte, IV, 7), Freiburg 1990; André Vauchez (Hg.), Les textes prophétiques et la prophétie en Occident (XIIe–XIVe siècle), Rom 1990; Richard K. Emmerson/Bernard McGinn (Hgg.), The Apocalypse in the Middle Ages, New York 1992; Fin du monde et signes des temps. Visionnaires et prophètes en France méridionale (fin XIIIe–début Vxe siècle) (Cahiers de Fanjeaux 27), Toulouse 1995; Nigel Morgan (Hg.), Prophecy, Apocalypse and the Day of Doom. Proceedings of the 2000 Harlaxton Symposium, Donington 2004; Peter Damian-Grint, „Apocalyptic poetry in Old French“, in Reading Medieval Studies 26 (2000), 49–76; Wolfram Brandes/Felicitas Schmieder (Hgg.), Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Weltreligionen (Millennium-Studien 16), Berlin/New York 2008; Mariano Delgado/Volker Leppin (Hgg.), Der Antichrist. Historische und systematische Zugänge (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 14), Fribourg 2011. 34 So etwa schon Kathryn Kerby-Fulton, „Hildegard of Bingen and Anti-Mendicant Propaganda“, in Traditio 43 (1987), 386–399, hier 394; im Tenor ähnlich Penn Szittya, Antifraternal tradition, 28–29. 35 Vgl. etwa die Zusammenfassung von Andrew G. Traver, in The Minor Works, hg. von Andrew G. Traver, 45–46; Guillaumes Argumente knapp zusammengefasst in De periculis, hg. von Guy Geltner, c. 8, 77–81. 36 Die Überlegung zu De periculis novissimorum temporum als Parodie oder Inversion joachitischer Geschichtstheologie etwa bei Robert E. Lerner, „Refreshment“, 125.

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gut bekannt. 37 Gemäß alttestamentlich-prophetischen wie neutestamentlichen Warnungen erwartete man zum Ende des sechsten Zeitalters Prüfungen und Leiden (tribulationes) und das Kommen des sogenannten Antichrist, bevor schließlich die Wiederkunft Christi, eine Ruhezeit und das Weltgericht bevorstanden. Joachim von Fiore überlagerte aber diese sechs- bzw. siebengliedrige Einteilung mit vielfachen weiteren Mustern, vor allem mit einer Dreiteilung des Heilsplanes. Er postulierte drei überlappende Zeitalter (status), ein Zeitalter des Vaters, eines des Sohnes und – für ihn nahe bevorstehend beziehungsweise schon das vorhergehende Alter überlagernd – des Heiligen Geistes. Dieses dritte Zeitalter sollte nicht nur eine Erneuerung der Kirche bringen, in der eine neue, stärker auf Kontemplation ausgerichtete Ordnung der Kirche entstehen und zwei Gruppen neuer viri sprituales – eine Gruppe von Predigern, eine von Kontemplativen – eine wichtige Rolle spielen sollten. Joachim sah darüber hinaus ein neuartiges Wirken des Heiligen Geistes in der Welt. Er ging daher davon aus, dass neue Erkenntnismöglichkeiten und ein besseres Verständnis der Heiligen Schriften eröffnet würden – nicht zuletzt den Religiosen, die in diesem Zeitalter in den Vordergrund träten. Joachims Geschichtskonzeption steigerte damit ältere, etwa bei Gregor dem Großen vorgeprägte Vorstellungen fortschreitender Offenbarung und eröffnete, wie Robert Lerner hervorgehoben hat, den Durchbruch ganz neuartiger Konzepte des Wissensfortschritts. Den Bibelvers pertransibunt plurimi, et multiplex erit scientia (Daniel 12,4), aufgrund dessen etwa noch Otto von Freising († 1158) die Konjunktur der Wissenschaft in seiner Zeit als alarmierendes Zeichen einer ‚vergreisenden‘ Welt gesehen hatte, interpretierte Joachim von Fiore als positive Zukunftsvoraussage. 38 Abt Joachim verortete den Wissensfortschritt freilich nicht etwa in den Schulen und Universitäten, sondern in der dem Heiligen Geist stärker zugewandten Welt der Klöster beziehungsweise der Religiosen. Seine Ankündigung eines neuen Charisma war gerade gegen zeitgenössische Tendenzen der Verwissenschaftlichung gerichtet, was ihm eine posthume Häresieverurteilung einbrachte. 39 Joachim geriet jedoch auch schon zu Lebzeiten unter Erklärungsdruck. Er entwickelte daraufhin Ansätze einer Unterscheidung 37 Vgl. zu Joachim knapp Gian Luca Potestà, „Intelligentia scripturarum“; Bernard McGinn, Visions

of the End, 126–141; ausführlich Marjorie Reeves, Joachim of Fiore and the Prophetic Future. A medieval study in historical thinking, Stroud 1999; dies., The Influence of Prophecy in the Later Middle Ages. A Study in Joachimism, Oxford 1969, ND Notre Dame, IN 1993, 1–133; Herbert Grundmann, Studien über Joachim von Fiore (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 32), Leipzig 1927. Dass gerade Joachim von Fiore selbst durchaus teils pessimistische Erwartungen für die Endzeit hegte, kann hier nicht diskutiert werden, vgl. nur Robert Lerner, „Refreshment“, 119. 38 Robert E. Lerner, „Pertransibunt plurimi. Reading Daniel To Transgress Authority“, in Joseph Canning/Edward J. King/Martial Staub (Hgg.), Knowledge, Discipline and Power in the Middle Ages, Leiden 2011, 7–28 mit Verweisen auf die weitere Literatur. 39 Vgl. Bernard McGinn, „The Abbot and the Doctors. Scholastic Reactions to the Radical Eschatology of Joachim of Fiore“, in Church History 40/1 (1971), 30–47; Zur Verurteilung Joachims vgl. Constant J. Mews/Clare Monagle, „Peter Lombard, Joachim of Fiore and the fourth Lateran Council“, in Medioevo. Rivista di storia della filosofia medievale (2010), 81–122.

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verschiedener Formen von Prophetie und Exegese: Wiewohl er sich nicht als Prophet im Sinne der alttestamentlichen Prophetie verstand – die Zeit der Propheten war seiner Meinung nach abgeschlossen –, glaubte er doch, aufgrund einer von Gott gesandten, besonderen Gabe des intellectus spiritualis den authentischen Sinn der Heiligen Schrift erschließen zu können. 40 Diese Unterscheidung zwischen Prophetie und besonderem Verständnis des verborgenen Schriftsinns, die auch von den Zeitgenossen aufgenommen wurde, wird hier noch wiederbegegnen. 41 Joachim wurde allerdings dennoch bald selbst als Empfänger eines donum prophetiae verstanden. Seine Geschichtstheologie, die in seinen Werken großenteils abstrakt geblieben war, wurde insbesondere in einigen Kreisen innerhalb des Franziskanerordens mit großem Enthusiasmus aufgenommen und mit eigenen Anliegen verbunden. 42 Nach verschiedenen anderen Adaptationen trat in den Jahren kurz nach 1250 schließlich der erwähnte junge Franziskaner Gerardino de Borgo San Donnino († um 1276) mit einer Zuspitzung hervor. 43 Er sah die Franziskaner nicht nur als einen Orden mit endzeitlicher Rolle und Relevanz – das nahm etwa auch sein Ordensgeneral Johannes von Parma († 1289) parallel zu dominikanischen Führungsfiguren an –, 44 sondern ging von einer Ablösung des Klerus durch sie aus, wobei er das auch andernorts errechnete Jahr 1260 ins Spiel brachte. Er verschärfte zudem Joachims Theorie einer veränderten Erkenntnis im dritten status und machte offenbar mit der Verschiebung von der littera zum spiritus so weit Ernst, dass das Evangelium nun von einem Evangelium aeternum abgelöst werden sollte, das aus nichts anderem bestehe als den Schriften Joachims selbst. Gerardino publizierte daher 1254 drei Schriften Joachims mit einem Introductorius. Da er – wenig über40 Vgl. Gian Luca Potestà, „Intelligentia scripturarum“; ders., „Prophetie als Wissenschaft“, 275–282;

Teile der relevanten Texte in Übersetzung bei Bernard McGinn, Visions of the End, 130. 41 Es ist interessant, dass man Joachim auch in der Mitte des 13. Jahrhunderts teils als Propheten, teils

aber pointiert nur als Empfänger eines donum intellectus erinnerte. Vgl. Marjorie Reeves, „Influence of Prophecy“, 41–42 (im Bezug auf Wilhelm von Auvergne). 42 Vgl. Marianne Schlosser, Lucerna in caliginoso loco, 237–251; für die joachitischen Strömungen innerhalb der Franziskaner vgl. insgesamt auch David Burr, The Spiritual Franciscans. From Protest to Persecution in the Century after St Francis, Philadelphia 2003. 43 Vgl. zu ihm knapp Michel-Marie Dufeil, „Trois sens d’histoire“, 815–819; weiterhin Heinrich Denifle, „Das Evangelium aeternum und die Commission zu Anagni“, in Archiv für Literatur- und Kirchengeschichte 1 (1885), 99–142; Ernst Benz, „Joachim. Studien. II. Die Exzerptsätze der Pariser Professoren aus dem ‚Evangelium aeternum‘“, in Zeitschrift für Kirchengeschichte 51 (1932), 415–455; Bernhard Töpfer, „Eine Handschrift des Evangelium aeternum des Gerardino von Borgo San Donnino“, in Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 8 (1960), 156–163. 44 Vgl. etwa die gemeinsame Enzyklika des franziskanischen Generalministers Johannes von Parma und des dominikanischen Generalmagisters Humbert de Romans (†1277) an die beiden Orden von 1255, Litterae Encyclicae Magistrorum Generalium Ordinis Praedicatorum, hg. v. Benedictus Maria Reichert, Rom 1900, Nr. 8, 25: Salvator seculi [. . .] multimoda remedia per varios ministros generacionibus singulis adhibens incessanter, novissimus diebus istis in fine seculorum duos nostros ordines in ministerium salutis, prout indubitanter creditur, suscitavit [. . .]. Hii sunt ille due stelle lucide, que secundum Sibillinum vaticinium habentes species quatuor animalium in diebus novissimis nomen agni vociferant in directione humilitatis et voluntaria paupertate.

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raschend – sofort zwischen die Fronten des schwelenden Konflikts von Klerus und Orden an der Universität geriet, führte das prompt zu einer Häresieverurteilung und lebenslanger Kerkerhaft in einem Ordensgefängnis. Schon wenn man angesichts des universitären Kontexts Fragen der Autoritätskonstruktion mitbedenkt, verwundert die starke Reaktion Guillaumes de Saint-Amour und anderer, späterer Kommentatoren gegen Gerardinos Introductorius nicht. 45 Implizit verlagerte Gerardinos Zuspitzung der joachitischen Tradition die Deutungshoheit über die Heiligen Schriften von den universitären Theologen, die sich wesentlich als Bewahrer und Ausleger des Bibeltextes verstanden, zu Kennern ‚neuer‘ Offenbarungen oder sogar zu ‚spirituellen Menschen‘ (viri spirituales), die selbst neue Offenbarungen empfangen konnten. Nachrichten über das Auftreten Gerardinos machen zudem deutlich, dass er sich auch persönlich auf der Basis der Prophetien Joachims als um die Zukunft wissender Eingeweihter vorstellte. Wie der franziskanische Chronist Salimbene von Parma berichtet, prätendierte er etwa, das Scheitern des sechsten Kreuzzugs vorauszusagen. 46 Insgesamt spricht aus Gerardinos Variante prophetisch-apokalyptischer Argumentation damit nicht nur der gattungstypische Geltungsanspruch auf der Basis eines esoterischen Wissens, wie er mit einigem Elitismus in abgeschiedenen süditalienischen Klöstern oder französischen Ordenszirkeln gepflegt wurde. Es zeigt sich auch gehöriger Anspruch auf Deutungshoheit aufgrund eines neuen und besseren Wissens, das Joachims pointierte Distanzierung von den Schulen wieder aufleben ließ – allerdings mitten in Paris, sozusagen in der Höhle des Löwen. Angesichts des bereits stark eskalierten Konflikts zwischen neuen Orden und Theologen des Weltklerus luden Gerardinos Thesen geradezu zur Polemik ein. Guillaume de Saint-Amour war vermutlich der Anführer der Pariser Professoren, die schon bald Auszüge aus Gerardinos Werken an den Papsthof sandten und so seine Verurteilung wegen Häresie einleiteten. 47 Unterzieht man zudem Guillaumes Traktat De periculis novissimorum temporum von 1256 einer genauen, auf Fragen der Autorschaft und der Gewichtung von Autoritäten fokussierten Lektüre, so scheint Gerardinos Verschiebung des Evangeliums zu einem neuen, nur Eingeweihten zugänglichen geistlichen Sinn Guillaume als Theologen außerordentlich stark erbost zu haben. Tatsächlich kann man Guillaumes De periculis novissimorum temporum als pointierten Widerspruch gegen die joachitische Geschichtstheologie lesen. Dieser Widerspruch wird allerdings von einer situationsbezogenen Argumentation stark überlagert und aus politischen Gründen nicht direkt auf den Gegner bezogen. Wenn man nur die Eingangspassage des Prologs von De periculis sowie die dort im ersten und achten Kapitel geäußerten eschatologischen Überlegungen einbezieht, fallen jedoch mehrere fundamentale Punkte auf, die Guillaume vermutlich in den Auseinandersetzungen seit 1254 wiederholt geäußert hatte. Sie wer45 Vgl. Marjorie Reeves, Influence of Prophecy, 59–75, für negative Reaktionen. 46 Die Chronik des Salimbene de Parma. Nach der Ausgabe der Monumenta Germaniae historica bear-

beitet von Alfred Doren (Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit 93–94), Leizpig 1914, 2 Bde., hier Bd. 1, 219–221. 47 Vgl. Michel-Marie Dufeil, Guillaume, 124–127.

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den in De periculis etwas schwach betont, da sie der Hauptintention der Eingangspassage untergeordnet werden – der Autorisierung seines eigenen Schreibens. Obwohl diese Argumente somit fast beiläufig geäußert werden, dürften sie Guillaumes vorhergehende Auseinandersetzung mit Gerardino de Borgo San Donnino und Joachim von Fiore wiedergeben. Grundlegend wäre zu konstatieren, dass Guillaume de Saint-Amour, der sich in der Mitte des 13. Jahrhunderts zahllosen neuen Propheten, Sibyllen und Endzeitszenarien gegenübersah, um 1255/56 strenggenommen kein eigenes neues eschatologisches Konzept vertrat. 48 Guillaume dozierte nicht über Weltalter und drei- oder siebenzahlige Verlaufsmuster. Im Gegenteil reduzieren seine knappen Aussagen in De periculis novissimorum temporum die wilden Thesenbildungen der Zeit auf ein bloßes Skelett eschatologischer Grundgedanken. Er äußerte schlicht die opinio communis seiner Gegenwart und besonders vieler Theologen unter ihnen: Man musste wohl davon ausgehen, dass die Welt am Ende des letzten Zeitalters angekommen war, das nahe bevorstand. Genaueres, so präzisierte Guillaume später, konnte man aber nicht wissen und musste das auch gar nicht. Da feststand, dass das Ende kam, war nicht sein Zeitpunkt von Interesse, sondern die Umstände und die Frage, was dann zu tun sei: ‚Es ist nicht unsere Aufgabe, zu wissen, nach wieviel Jahren die zukünftigen Gefahren kommen, da sie ja sicher kommen. Unsere Aufgabe ist, zu wissen, wie sie beschaffen sind.‘ 49 Wie Guillaume sozusagen als Stimme eines gesunden Theologenverstands in Anschlag brachte, ging es nicht darum, die Gefahren genauer zu datieren, sondern sie einzuschätzen und ihnen beherzt entgegenzutreten. Alle Voraussagen für die letzten Zeiten, so Guillaume in einem zweiten, durchaus schon ausdrücklich und mit Betonung formulierten Punkt, wiesen aber darauf hin, dass in ihnen Gefahren drohten – und dass weder, wie man den polemischen Subtext lesen könnte, die neuen Offenbarungen zu erwarten waren noch das neue spirituelle Paradies, das die Franziskaner erhofften. Wo Gerardino und seine Freunde auf den Propheten Joachim von Fiore verweisen konnten, fuhr Guillaume für diese Grundthese noch im Prolog des De periculis novissimorum temporum die für ihn zentrale Autorität auf und stellte ihn ebenfalls pointiert als Propheten vor – den Apostel Paulus selbst: ‚Wir erinnern an [. . .] die Prophetie des Apostels, denn aus dem Geist sprechend, sagt der Apostel voraus, was die Gefahren der letzten Zeiten sind, deren Vorläufer auch schon in seinen Tagen drohten. [. . .] das aber sollst Du wissen: In den letzten Tagen werden schwere Zeiten anbrechen.‘ 50

48 Für seine späteren Überlegungen in der Schrift De Antichristo vgl. Andrew G. Traver, „Liber de

Antichristo“; Robert E. Lerner, „Refreshment“, 124–129. 49 So ausdrücklich Guillaumes zehn Jahre nach dem Konflikt entstandenen Collectiones, in Opera

Omnia, Prolog, 121: Nec opus est scire, post quantum temporis futura sint pericula, quae certum est futura esse; sed quomodo futura sint opus est scire. Ähnlich implizit auch in De periculis und den Predigten. 50 De periculis, hg. v. Guy Geltner, 40: [. . .] ad cunctorum memoriam illa duximus revocanda [. . .] iuxta illam apostoli prophetiam, ubi idem apostolus predicit in spiritu que sunt pericula novissimorum temporum, quorum similia licet iam diebus suis instabant. Sed nunc plura videntur instare. Dicit dominus, II Thi. III, hoc autem scito, quod in novissimis diebus instabunt tempora periculosa.

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Die letzten Zeiten waren also gefährlich, in novissimis diebus instabunt tempora periculosa. Guillaume fügte auffälligerweise nochmals eine ausdrückliche Erläuterung hinzu, dass der Apostel Paulus in diesem Punkt laut der Glosse – also der Glossa ordinaria, der breit anerkannten Autorität der Zeit, die Guillaume bei jeder sich bietenden Gelegenheit zitierte – 51 über die Zukunft gesprochen habe und das Ganze somit als Prophezeihung zu verstehen sei. 52 Guillaume positionierte also einen anerkannten, über alle Zweifel erhabenen Propheten, den Apostel Paulus selbst, gegen den mit diesem Widerspruch stark in Zweifel gezogenen ‚neuen Propheten‘ Joachim. Im Angesicht einer apokalyptischen Erkenntnishoffnung, die das Evangelium im Sinne eines gottgegebenen, aber schwer beweisbaren wachsenden intellectus spiritualis auslegen wollte, pochte der Theologe Guillaume sozusagen mit bleischwerem Finger auf den Wortlaut der Bibel, die littera, und den Wortlaut der sie unmissverständlich auslegenden, allgemein anerkannten Glossa. Diese Auseinandersetzung mit der Autoritätskonstruktion seiner Gegner erscheint jedoch kaum als Parodie, sondern als pointierte Abgrenzung Guillaumes, als ‚Grenzarbeit‘, in der theologisch-wissenschaftliche gegen prophetische Autorität in Anschlag gebracht wurde. Tatsächlich grenzte Guillaume sich auch insofern von den franziskanischen Modellen ab, als er es sorgfältig vermied, seinen eigenen Voraussagen irgendwelche prophetische Sicherheit zuzusprechen. Er argumentierte als guter Theologe lediglich, dass es nach diversen biblischen Warnungen und einem schon 1255 Jahre währenden sechsten Zeitalter als durchaus wahrscheinlich (verisimile) gelten musste, dass das Ende nah sei. 53 Ein dritter, eigentlich recht komplexer Punkt wurde von Guillaume dann ebenfalls sehr deutlich und mit massiver Autoritätenbefestigung noch im Prolog des De periculis novissimorum temporum eingeführt und im ersten und achten Kapitel breiter entfaltet: Es war zwar nicht ganz klar, wann genau der Antichrist und das Ende des sechsten Zeitalters kommen würde, aber die Gefahr drohte doch ganz unmittelbar und direkt. Tatsächlich war der Zeitpunkt des Endes sowieso zweitrangig, da die Gefahren der letzten Zeiten laut der Glosse eben nicht nur in der unmittelbaren Lebenszeit des Antichrist, sondern

51 Guillaumes häufige, ja ständige Verweise auf die Glossa können tatsächlich nicht nur als Methode,

sondern schon als Marotte verstanden werden, vgl. unten. Vgl. zur Glosse Lesley Smith, The Glossa Ordinaria. The Making of a Medieval Bible Commentary (Commentaria 3), Leiden [u.a.] 2009; dies., „What was the Bible in the Twelfth and Thirteenth Centuries?“, in Robert E. Lerner/Elisabeth MüllerLuckner (Hgg.), Neue Richtungen in der hoch- und spätmittelalterlichen Bibelexegese, 1–15. 52 De periculis, hg. v. Guy Geltner, 40: prophetia est sancti Pauli apostoli, qui fuit prescius futurorum. 53 Ebd. c. 8, 77: quod non longe remota sunt illa pericula novissimorum temporum, et quod eorum inquisitio et repulsio non sit magis differenda, ex eo patet, quia, sicut dicit apostolus, I Cor. X, nos sumus in quos fines seculorum devenerunt, Glossa: ‚quia in ultima etate seculi sumus.‘ Post vero sextam etatem, que est pugnantium, cum qua currit VII etas, que est quiescentium, non est ventura etas alia nisi octava, que est resurgentium. Ergo nos sumus in ultima etate huius mundi, et ista etas iam plus duravit quam ille que currunt per millenarium annorum, quia ista iam duravit per mille ducentos LV annos. Verisimile est ergo quod nos sumus prope finem mundi. Ergo propinquiores sumus periculis novissimorum temporum que futura sunt ante tempus Antichristi [. . .].

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auch schon davor drohten. Wie Guillaume annahm, gab es mehrere historische Zeiten der Gefahr für die Kirche und zum Ende der Zeit eine Art allmählicher Steigerung: ‚aus dem Geist sprechend, sagt der Apostel voraus, was die Gefahren der letzten Zeiten sind, deren Vorläufer auch schon in seinen Tagen drohten. Doch jetzt scheinen mehr Gefahren zu drohen. Der Herr sagt ja voraus, im zweiten Brief an Thimoteus 3, das aber sollst Du wissen: In den letzten Tagen werden schwere Zeiten anbrechen. Und darüber sagt die Glosse etwas weiter unten [. . .] ‚einige ihrer Vorboten sind schon jetzt anwesend, doch am Ende werden mehr von ihnen kommen‘.‘ 54 [. . .] ‚Doch man soll nicht glauben, dass die Gefahren nur in den allerletzten Zeiten, sozusagen in der Zeit des Antichrist, bevorstehen. Wie die Glosse sagt [. . .] gab es auch in der Urkirche solche, durch die dieselben Gefahren drohten. Doch in der Zeit der letzten Kirche werden sie in größerer Zahl kommen.‘ 55

Der Antichrist mochte also noch nicht auf der Welt sein, doch Gefahren und Verfolgungen der Kirche, die in jedem Falle den endzeitlichen tribulationes zuzurechnen waren oder ihnen gleichkamen, drohten trotzdem. Wie deutlich wird, ging es Guillaume also gerade nicht um eine Bestimmung der Zeit des Antichrist. Er unterstrich vielmehr, dass unmittelbar drohende Gefahren gewissermaßen dessen Vorboten (praenuntii) und schon von daher ernstzunehmen waren. Hauptstoßrichtung seines Arguments war nicht die Präzisierung irgendwelcher historischer oder prognostischer Überlegungen, sondern allein die Warnung vor Gefahren. Diese Warnung – nicht nur vor dem Antichrist selbst, sondern vor Gefahren der Gegenwart, die man mit ihm in Verbindung bringen konnte – führt nunmehr auch zu Guillaumes eigentlichem unmittelbaren Schreibinteresse im Prolog des De periculis hin. Er trug es so dringlich vor, dass die bislang diskutierten grundlegenden Argumente etwas gehetzt und gekürzt vorgestellt wurden: Wo Gefahren drohten, galt es zu warnen. Da die Schriftkundigen diejenigen waren, die um die biblischen Warnungen wussten, war es nun an ihnen, die Kirche zu mahnen und das Wort zu ergreifen: ‚wo nun diese Gefahren näher und näher rücken, ist klar, dass die Christen umso stärker ermahnt werden müssen, sie zu meiden. Dies ganz besonders, da der Apostel befiehlt, dies zu predigen, ob sie das nun wollen oder nicht. Nachdem er nämlich über die Zukunft voraussagt [. . .], fügt er noch hinzu

54 Ebd., Prolog, 40: [. . .] apostolus predicit in spiritu que sunt pericula novissimorum temporum,

quorum similia licet iam diebus suis instabant. Sed nunc plura videntur instare. Dicit dominus, II Thi. III, hoc autem scito, quod in novissimus diebus instabunt tempora periculosa; et infra, super illo verbo [. . .] dicit Glossa, ‚Iam horum prenuntii quidam sunt, sed in fine plures venturi sunt.‘ 55 Vgl. auch die folgenden Überlegungen ebd, c. 1, 44: Ne autem crederetur quod in extremis temporibus tantum, videlicet, tempore Antichristi, inminerent illa pericula, dicit Glossa [. . .] quod etiam in primitiva ecclesia quidam fuerunt tales per quales instabant pericula illa; sed appropinquante finali ecclesia, in maiori multitudine venient. Et hoc dicit sic, ‚iam horum quidam prenuntii sunt sed in fine plures futuri sunt.‘ Nec dicas ‚in fine‘, id est, tempore Antichristi tantum, quia tunc dicitur tempus Antichristi, quando persecutio similis inminet persecutioni Antichristi, I Io. II: scimus, quod novissima hora est; Glossa: ‚id est, similis novissime quia similis persecutioni future.‘ Et ibidem: nunc autem multi facti sunt Antichristi; Glossa: ‚cum quanto impetu et terrore audistis venturum Antichristum, cum tanta violentia et isti venient.‘ [. . .] Sic ergo patet quod prope finalem ecclesiam et etiam ante multa pericula imminebunt ecclesie universe.

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und sagt: ich beschwöre dich bei Gott und bei Christus Jesus, dem kommenden Richter der Lebenden und der Toten, bei seinem Erscheinen und bei seinem Reich: Verkünde das Wort, tritt dafür ein, ob man es hören will oder nicht; weise zurecht, tadle, ermahne!‘ 56

Guillaume stellte also klar, dass im Angesicht von Gefahren unbedingt zu handeln und mit Worten gegen sie vorzugehen war. Wie im Folgenden weiter zu erläutern sein wird, ist diese Form der Autorisierung theologischer und exegetischer Rede eine wesentliche Funktion seiner als ‚Konter-Eschatologie‘ aufgezäumten Argumentation.

3. Wachmänner auf den Türmen: Guillaumes Mobilisierung der Theologen und Prälaten Tatsächlich mag die Wendung der Argumentation Guillaumes, von den Gefahren der Endzeit zu einer Legitimation seiner Sprecher- und Autorrolle, in einem Prolog wenig überraschend sein. Die hohe Bedeutung dieser Legitimation erschließt sich aber in aller Deutlichkeit, wenn man die zunehmend problematische Situation in Paris als unmittelbaren Kontext hinzunimmt. Im Februar 1256 hatte es eine Synode gegeben, auf der die Partei des Weltklerus unter den Theologen die Prälaten vergeblich bestürmt hatte, in ihrem Sinne tätig zu werden. Diese hatten aber (Guillaume zufolge) mit dem Argument abgewiegelt, man müsse sich erst einmal einen Überblick über die theologische Lage verschaffen. 57 Im Verlauf des Frühjahrs verlagerten die Gegner der Bettelorden daher den Konflikt immer deutlicher vom Feld politischer und rechtlicher Konfliktführung auf das Feld der religiösen bzw. theologischen Argumentation. Wie auffällt, hatten die Theologen des Weltklerus auf diesem Feld keine ‚bremsenden‘ Vorgesetzten zu fürchten, sondern konnten durch eine spezifisch theologische Autoritätskonstruktion die Deutung der Situation und der angemessenen Reaktionen selbst festlegen. Mit der Anklage gegen Gerardino de Borgo San Donnino 1254 war dieser Ebenenwechsel der Konfliktführung auch bereits erfolgreich gewesen, und der Papst verurteilte den Introductorius Gerardinos de Borgo San Donnino im Oktober 1255. Alexander IV. war jedoch stark bemüht, die weitere Debatte darum abzuschneiden und so den guten Ruf der Franziskaner – die Gerardinos Ansichten großenteils nicht teilten – zu schützen. 58 56 Ebd., Prolog, 40: constat quod, nunc magis ac magis illis periculis appropinquantibus, multo fortius

monendi sunt christiani de illis vitandis. Precipue cum ex tunc, sive volentibus sive nolentibus, ea preceperit apostolus predicari. Postquam enim predicat pericula predicavit futura et vitanda, II Thi. III, consequenter in quarto capitulo subiunxit, dicens, testificor coram deo Iesu Christo, qui iudicaturus est vivos et mortuos, et per adventum eius, et regnum eius; insta opportune, inportune, argue obsecra! 57 Vgl. zur Einordnung des Prologs von De periculis so schon Michel-Marie Dufeil, Guillaume, 212. 58 Vgl. Jürgen Miethke, „Papst, Ortsbischof und Universität in den Pariser Theologenprozessen des 13. Jahrhunderts“, in Albert Zimmermann/Elisabeth Vuillemin-Diem (Hgg.), Die Auseinandersetzungen an der Pariser Universität im 13. Jahrhundert, 52–93, hier 73–4, und die Bullen in CUP I

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Schon seit der offiziellen päpstlichen Entscheidung des Konfliktes durch die Bulle Quasi lignum vitae vom April 1255 galt der Konflikt an der Universität zudem trotz der heftigen Proteste offiziell als geschlichtet. 59 Als Guillaume de Saint-Amour weiterhin agitierte, sah er sich ersten Anklagen ausgesetzt. Sie veranlassten ihn vermutlich im Frühjahr 1256 dazu, als Magister formell zurückzutreten, als ihm sowieso bereits die Suspendierung drohte und rechtliche Maßnahmen gegen ihn liefen. 60 Er war also im Frühjahr 1256 kein magister actu regens der Theologenkorporation mehr. Er brauchte im Gegenteil eine Legitimation seines Eingreifens, die es ihm ermöglichte, mit einem plausiblen Grund seine bereits mehrjährige Agitation gegen die Fratres jenseits seines offiziellen Amtes wieder aufzunehmen. Es musste eine Begründung sein, die ihm auch als ehemaligem Lehrstuhlinhaber erlaubte, über die Universität hinauszugreifen und mobilisierend und mahnend an die Öffentlichkeit der französischen Kirche zu gehen. Er brauchte schließlich eine Position, die direkt auf den politischen Konflikt bezogen werden konnte, ohne auf die für ihn bereits ausgeschöpften politischen und rechtlichen Mittel zurückzugreifen. Guillaume de Saint-Amour postulierte daher drohende endzeitliche Gefahr – und konnte durch diese ‚Zeitpolitik‘ sein Eingreifen aus einer Art religiösem Ausnahmezustand heraus rechtfertigen. 61 Als Theologe, der sich für die Auslegung der biblischen Prophezeihungen besonders zuständig sah, konterte Guillaume den Geltungsanspruch der joachitischen neuen ‚Propheten‘ dabei durch eine interessante Gegenbehauptung: Er postulierte angesichts der drohenden Gefahr nicht etwa einen Bedeutungsverlust der älteren Exegese. Während Gerardino auf den Spuren Joachims eine neue Rolle der Religiosen sah, argumentierte Guillaume in umgekehrter Richtung für eine gesteigerte Bedeutung der Theologen. Nach einigen zeitgenössischen Theorien hatten die Ausleger und Theologen selbst an prophetischer Berufung teil: Kennzeichen von ‚Propheten‘ war im frühen 13. Jahrhundert nicht nur, dass sie aufgrund eines in spezifischer Weise von Gott eingegebenen Wissens Kommendes (futura contingentia) voraussehen konnten, wie das später etwa Thomas von Aquin definierte. Prophetie konnte vielmehr auch die Gegenwart betreffen, und die Ausleger der Schriften hatten insbesondere an prophetischer Autorität teil, um angesichts von

(Chartularium Universitatis Parisiensis, hg. v. Heinrich Denifle/Emile Chatelain, 4 Bde., Bd. 1, Paris 1889), No. 257, 298 (23. Okt. 1255), No. 258, 298 (4. November 1255), No. 277, 315. 59 Vgl. für den Kontext Jacques Verger, „Coacta ac periculosa societas“. 60 Nach Michel-Marie Dufeil, Guillaume, 200, lehrte Guillaume schon im Frühjahr 1256 nicht mehr, sondern gab den Lehrstuhl formell frei; spätestens im Juni war er auch suspendiert. 61 Die Parallele zwischen prophetisch-apokalyptischer Argumentation als selbstermächtigender Deklaration eines neuen Zeitabschnitts und der von Carl Schmitt und anderen postulierten Definition politischer Souveränität als Hoheit über den Ausnahemzustand drängt sich auf; vgl. für Anregungen bes. Giorgio Agamben, Ausnahmezustand, Frankfurt a.M. 2004 und Kathleen Davis, Periodization and Sovereignty: How Ideas of Feudalism and Secularization Govern the Politics of Time, Philadelphia 2008.

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Gefahr für die Kirche zu mahnen und zu warnen (prophetia comminationis). 62 So hatten es auf den Spuren Gregors des Großen insbesondere die ‚Propheten‘ aus dem alten Mönchtum, Abt Joachim von Fiore und Äbtissin Hildegard von Bingen gesehen. 63 Nun positionierte sich auch Guillaume de Saint-Amour in seiner Konter-Eschatologie zu Gerardino de Borgo San Donnino sehr nuanciert in einer dramatisierenden Gegenwartsdeutung, in seinem Prolog wie auch im achten, die Eschatologie behandelnden Kapitel von De periculis. In den Einleitungsworten des Prologs, also am unmittelbaren Beginn des gesamten Werks, reklamierte er mit erheblichem Pathos eine gesteigerte Rolle der Theologen, die er nun als ‚Seher‘ sehr nahe an das Prophetentum heranrückte: ‚Sieh: Die Sehenden werden draußen laut rufen, und die Engel des Friedens bitterlich weinen, Jesaja 33[,7]. So wie in den Heiligen Schriften die Propheten ‚Sehende‘ genannt werden (denn wer heute Prophet genannt wird, hieß früher ‚Seher‘, [1 Samuel, 9,9]), so können die Schriftgelehrten und Ausleger mit Recht ‚Sehende‘ genannt werden. Sie werden ja in denselben Schriften auch selbst ‚Propheten‘ genannt. Bei Epheser 4[,11] und er gab den einen das Apostelamt, andere setzte er als Propheten ein, sagt nämlich die Glosse: ‚das heißt, als Ausleger der Schriften‘. Und wenn diese nun durch die Schriften sehen, dass der Kirche Gefahren drohen, so müssen sie draußen laut rufen, das heißt, es anderen bekanntmachen [. . .]. Und vor allem müssen sie es denen bekannt machen, die Widerstand leisten können; denjenigen, denen die Herrschaft über die Kirche anvertraut ist. Denn diese haben vor allen anderen Kenntnis der Schriften und sollen das auch, doch hindern sie oft ihre vielen Geschäfte daran, der Lektüre nachzugehen.‘ 64

Guillaume de Saint-Amour rief also unter Aufnahme diverser Elemente der zeitgenössischen Theorie der kirchlichen Ämter und spezifisch der Prophetie Amtseigenschaften und Zuständigkeiten vor Augen. Um eine Teilhabe der Theologen und Schriftausleger am donum prophetiae zu reklamieren, konnte er etwa auf Hugo von St. Cher OP († 1263) und Guillaume d’Auxerre (†1231) zurückfallen, die in der Auseinandersetzung mit Joachim von Fiore die Befugnisse von Propheten und Theologen, Lehrern und Hirten gegeneinander abgegrenzt hatten. 65

62 Vgl. (bes. zum Konzept der prophetia comminationis) Hugo von St. Cher, in Jean-Pierre Torrell,

Théorie de la prophétie, 32–48. 63 Vgl. zu Joachim bes. Gian Luca Potestà, „Intelligentia scripturarum“, zu Gregor dem Großen und

Hildegard von Bingen Christel Meier, „nova verba prophetae“ (in diesem Band, S. 76ff., 87ff.). 64 De periculis, hg. von Guy Geltner, Prolog, 38: Ecce clamabunt videntes foris, angeli pacis amare

flebunt, Ysa. XXXIII. Sicut prophete in sacris scripturis appellantur ‚videntes‘ (qui enim propheta hodie dicitur, vocabatur olim videns, I Reg. IX), sic vacantes scripturis et exponentes eas ‚videntes‘ merito dici possunt, cum et ipsi in eisdem literis ‚prophete‘ dicantur, Eph. III: alios posuit apostolos, alios prophetas, Glossa: ‚id est, scripturarum explanatores.‘ Cum igitur per scripturas vident ecclesie pericula inminere, debent clamare foris, id et, aliis indicare; [. . .] Et maxime debent indicare illis, qui possunt resistere; illis, videlicet, quibus ecclesie gubernacula sunt commissa. Qui etsi pre aliis habeant et habere debeant notitiam scripturarum, minus tamen earum inspectioni vacare possunt negotiorum frequentia inpediti. 65 Vgl. mit Diskussion der wichtigsten Positionen der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts zu diesen beiden Abgrenzungen Marianne Schlosser, Lucerna in caliginoso loco, 195–226.

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Guillaume de Saint-Amour verwischte allerdings klare theoretische Grenzen: Einerseits argumentierte er insgesamt als Theologe, dass neue Prophetien mit Vorsicht zu behandeln seien. Andererseits glich er mit seiner alarmistischen Auslegung biblischer Prophetenworte und seiner Konstruktion symbolischer Parallelen von videntes in Vergangenheit und Gegenwart seine Theologie der Prophetie an: Die Befugnis der Theologen sollte, wie er fand, gerade jetzt verstärkt als prophetisches Amt der Warnung und der Verdeutlichung gegenwärtiger und kommender Gefahren wahrgenommen werden. In weiteren Kapiteln seiner Schrift setzte er diese Überlagerung von theoretischer und praktischer Behandlung der Prophetie fort, etwa in einem zwischen Prophetie und Exegese stehenden Umgang mit dem Bibeltext. Nach den Ausführungen des eschatologischen Kapitels über das Ende des letzten Zeitalters, das wahrscheinlich kurz bevorstehe, fügte Guillaume etwa eine weitere autorisierende Beweisführung hinzu. Wie er ankündigte, würde er neben den biblischen Prophetien noch acht weitere ‚Zeichen‘ (signa) beibringen, aus denen das Nahen der endzeitlichen Gefahren zweifelsfrei hervorgehe. Er bediente sich also eines eindeutig prophetischen Gestus, der in der zeitgenössischen Theorie der Prophetie als sicherste Bestätigung des Prophetenstatus bekannt war – man erkannte den wahren Propheten daran, dass seine Voraussagen durch Zeichen bestätigt wurden. 66 Wie zu erwarten war, konstruierte Guillaume dann die Pariser Auseinandersetzungen zu Zeichen einer heilsgeschichtlich relevanten Stationen um, bediente sich also einer Technik des vaticinium ex eventu oder sozusagen einer exegesis ex eventu. Ein erstes Zeichen sei, so Guillaume, dass bereits seit 55 Jahren – gemeint war wohl die Zeit um 1200 mit dem Tod Joachims von Fiore – daran gearbeitet werde, das Evangelium durch ein anderes, sogenanntes Evangelium aeternum zu ersetzen und so gewissermaßen aufzuheben. Das zweite Zeichen sei, dass diese Lehre vom Evangelium aeternum nun schon nach Paris gekommen sei und dort öffentlich verkündet und diskutiert würde. 67 Das dritte Zeichen sei, dass das Evangelium aeternum offensichtlich als Schrift an der Wand (‚Mene, Tekel, Upharsin‘, Daniel 5) zu verstehen sei, die den Untergang Babylons ankündige, nämlich der Kirche der Gegenwart. Es kommt also wiederum ein biblischer Prophet ins Spiel, diesmal allerdings nicht Paulus, sondern der alttestamentliche Daniel. Die Bedeutung der von Zauberhand geschriebenen Worte, die der Prophet Daniel für den chaldäischen Herrscher Belsazar ausgelegt hatte, so Guillaume de Saint-Amour, passe auf den Skandal um Gerardino de Borgo San Donnino: Mene war von Daniel interpre66 Vgl. bes. ebd. S. 275–310. 67 De periculis, hg. von Guy Geltner, c. 8, 76–78: Preter has predictas autoritates, ostendemus per VIII

signa quod iam predicta pericula instant. Primum est quod iam sunt LV anni, quod aliqui laborabant ad mutandum evangelium Christi in aliud evangelium, quod dicunt fore perfectius, et melius, et dignius; quod appellant Evangelium sancti spiritus sive Evangelium eternum, quo adveniente evacuabitur, ut dictum est, evangelium Christi [. . .] Secundum signum est quod illa doctrina que predicabitur tempore Antichristi, videlicet, Evangelium eternum predictum, Parisius, ubi viget studium sacre scripture, posituri sunt iam publice ad examinandum anno domini mille CCLIII. [. . .] Es folgt eine Diskussion der Rolle der Bischöfe, die mit der Verurteilung des Evangelium aeternum befasst waren.

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tiert worden als ‚gezählt sind die Tage deiner Herrschaft und beschlossen‘, denn die Zeit des Evangeliums Christi würde von den Verfechtern des Evangelium aeternum auf das Jahr 1260 festgelegt. Tekel stünde hier wie dort für ‚gewogen wurdest du auf der Waage und für zu leicht befunden‘, denn es werde aktuell das Evangelium Christi für weniger vollkommen und würdig befunden als das Evangelium aeternum. Upharsin (lat. phares) schließlich wurde von Daniel interpretiert als ‚geteilt wird dein Reich‘, und auch der Kirche würde ihr Reich genommen und an die Anhänger des Evanglium aeternum verteilt. 68 Der Kirche als Babylon drohe also der Untergang – wenn nicht, so Guillaume, die Prälaten dagegen einschritten. Er setzte sich in dieser Quasi-Prophezeihung also unvermutet selbst in die Rolle des Propheten Daniel, die französischen Prälaten, an die sein Werk sich richtete, an die Stelle Belsazars, des vom Tod bedrohten Herrschers. Diese kleine Vignette, die nur einen Absatz des umfangreichen De periculis novissimorum temporum ausmacht, zeigt auf, wie Guillaume den an sich recht handfesten, materiellen Interessenkonflikt an der Pariser Universität durch biblische Deutung zu einem Wahrheitskonflikt am Ende der Zeiten zu überhöhen suchte. Auf der einen Seite stünden gefährliche Pseudopropheten, die das Evangelium ändern und so die Herrschaft über die Kirche an sich reißen wollten. Auf der andere Seite stünden die Prälaten, die diese endzeitlichen Gefahren nun abwehren und das Evangelium Christi verteidigen mussten – und zwar, wenn es nach Guillaume ging, von Deutern wie ihm angeleitet. Es war Aufgabe der Theologen – und Guillaume schrieb im Namen der Pariser ‚Professoren‘, der Christianae fides professores – licet indigni – Parisius studentes 69, den Prälaten die Argumente an die Hand zu geben und sie zum Einschreiten gegen die Bedrohung zu bewegen. Alle Beteiligten wurden dabei in emotionalisierender Weise in Parallele zu biblischen Gestalten

68 Ebd.: Tertium signum est quod sicut in Babilone reproba, postquam visa est manus scribens, mane,

thecgel, phares, cita secuta est subversio eius, Dan. V., sic in Babilone dilecta domini, id est, Ysa. XXXI, scilicet, in ecclesia, cum iam visa sit dicta scriptura, constat quod prope sint pericula eius. Sed ista tria verba iam visa sunt scripta in ecclesia, scripta enim sunt in illo maledicto libro quod appellant Evangelium eternum [. . .] Primum verbum est mane, id est numeravit deus regnum tuum et conclusit, ut exponitur Dan. V. Ibi enim numeratur regnum ecclesie secundum evangelium Christi, et concluditur in mille CCLX annis ab incarnatione domini. Item invenitur thecgel, quod est appensum est in statera et inventum est minus habens, et (cetera), ut exponitur Dan. V. Nam ibi comparatur evangelium Christi ad Evangelium eternum et invenitur minus perfectionis habens et dignitatis quam Evangelium eternum [. . .] Item, in scriptura illa, scilicet, in Evangelio eterno, invenitur phares, id est, divisum est regnum tuum a te, ut exponitur Dan. V. Nam ibi invenitur quod regnum ecclesie dividetur post tempus predictum ab illis qui tenent evangelium Christi, et dabitur tenentibus Evangelium eternum. [. . .] Unde nichil restat aliud principibus ecclesie, qui sedent in mensa sacre scripture, nisi ut surgant de mensa ad obviandum subversoribus ecclesie [. . .]. 69 Ebd., Prolog, 40: Nos igitur christianae fidei professores – licet indigni – Parisius studentes, qui ex assumpto gignasio sanctas scripturas, quamvis exiliter secundum tenuitatem ingenii, tamen frequentius intuemur, attendentes in illis literis pericula novissimorum temporum [. . .]. Zum Gebrauch des Begriffs ‚Professor‘ im 13. Jahrhundert vgl. Olga Weijers, „L’appellation des professeurs au XIIIe siécle“, in Sine invidia communico. Opstellen angeboden an Prof. Dr. Johannes Antonius de Groot, Nijmegen 1988, 303–320.

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gesetzt: Die Professoren sollten an die Stelle des Propheten Daniel treten, und Guillaume reklamierte für sie damit wiederum implizit prophetischen Rang. Von den Bischöfen als Adressaten seines Traktats forderte Guillaume in ähnlicher Weise, als speculatores und Wachmänner der Kirche auf die Türme und Höhen zu steigen und die Aufgabe von Warnenden zu übernehmen. In seiner Aufforderung an die Prälaten, das Schwert des Gotteswortes in die Hand zu nehmen, zog Guillaume im Eifer übrigens sogar selbst den Bibelund Glossentext zusammen. 70 Angesichts der drohenden Gefahr forderte Guillaume also sozusagen gleichermaßen von sich und den Theologen wie von den Prälaten, ihrer Apostelnachfolge und ihren geistlichen Gaben besser gerecht zu werden. Ganz nebenbei besetzte er aber wiederum Positionen, die sich sehr ähnlich bei Joachim von Fiore fanden: Nicht nur adaptierte oder parodierte er mit seinen Parallelisierungen zwischen Bibel und Gegenwart in gewisser Weise das Mittel des typologischen Verweises, das bei Joachim äußerst prominent war. Joachim hatte sich selbst ebenfalls zwischen Exegese und Prophetie verortet, indem er sich als ‚Wachmann auf den Türmen‘ sah, der andere vor Gefahren warnte, so dass sie sich in Sicherheit bringen konnten. 71 Guillaume de Saint-Amour reklamierte dagegen einerseits prophetengleiches Charisma für die Theologen und wollte andererseits, dass die Prälaten als Wachmänner neuen zweifelhaften Propheten Einhalt geboten. Es zeigt sich bei ihm letztlich eine zweigleisige Strategie: Während er Konzepte einer ‚guten‘, biblisch begründeten Prophetie für seine eigene Autorisierung adaptierte, kritisierte er gleichzeitig laufend aus einer theologischen Position heraus die ‚falsche‘ Prophetie der Gegner.

4. Neue Heilige und alte Autoritäten: Nutzung apokalyptischer und prophetischer Versatzstücke und ihre Adressatenkreise Die Polemik Guillaumes de Saint-Amour enthält somit nicht nur an der Oberfläche, sondern auch in ihrem Subtext einen spezifischen Umgang mit Konzepten prophetischer Autorschaft. Doch sollte auch die äußere ‚Verpackung‘ einer beunruhigten Warnung vor

70 So in der Fortsetzung der oben bei Anm. 56 zitierten Argumentation über Daniel in De periculis,

c. 8., 80, wo Guillaume die Leiter der Kirche auffordert, das geistliche Schwert des Apostels zu ergreifen: principes surgite et arripite gladium [Jesaja 21,5 – dort jedoch arripite clypeum, d. Verf.] Glossa: ‚sumite armaturam apostoli et gladium spiritus sancti, quod est verbum dei in quo possitis ignea dyaboli tela extinguere.‘ Nichil etiam restat speculatoribus ecclesie, id est, prelatis, nisi ascendere spiculilas, ut quodcumque viderint annuncient, iuxta preceptum domini paulo post dicentis, Ysai. XXI, vade, pone speculatorem, ut quodcumque viderit, annunciet, quasi dicit, excita prelatos ad speculandum. 71 Vgl. Gian Luca Potestà, „Intelligentia spiritualis“, 106–107 mit Anm. 37.

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den Gefahren der Endzeit nicht vernachlässigt werden. Die Polemik Guillaumes de SaintAmour ist schon gattungsgeschichtlich äußerst interessant, da sie Elemente moralisierender Ermahnung, anagogischer und historischer Exegese sowie polemisierender Invektive verbindet. Es gelingt ihm zudem vielfach, bekannte Elemente aufzunehmen und in veränderter Form neu einzubringen – was man als Parodie, Inversion oder neutraler als Adaptation bezeichnen kann. Bei aller Innovativität versuchte Guillaume jedoch offenbar, einen Eindruck der Konservativität und Traditionsgebundenheit hervorzurufen. In der Forschung ist etwa schon oft bemerkt worden, dass seine Ekklesiologie prinzipiell rückwärtsgewandt war und oftmals Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart als argumentatives Mittel nutzte. 72 In für das 12. und 13. Jahrhundert typischer Manier befürwortete Guillaume etwa ganz offensichtlich die Orientierung an der apostolischen Urkirche, von deren vestigia die Bettelorden seiner Ansicht nach abzukommen drohten. 73 Sogar Guillaumes ungewöhnliche Verweise auf prophetische und apokalyptische Traditionen erscheinen bei genauer Betrachtung jedoch sowohl inhaltlich wie sprachlich als pointierte Gesten des Suchens und Rückversicherns an der Schrifttradition, was offenbar seine außergewöhnlichen Warnungen weiter legitimieren sollte. Gerade seine Selbstinszenierung als exegetisch-theologische Autorität konnte Guillaume dabei auch auf die Ebene des Sprachduktus tragen, etwa in überaus häufigen Bibel- und Glossenzitaten, die ihn als bibelfesten und kenntnisreichen Theologen auswiesen. 74 Doch kann sich diese Form der sprachlichen Selbstdarstellung als Experte kaum an ein gelehrtes Publikum gerichtet haben. Wissenschaftlich vorgebildete Leser und Zuhörer dürften etwa Guillaumes Gebrauch der Glossa ordinaria, der in seinem Übermaß beinahe zum Missbrauch geriet, eher stirnrunzelnd zur Kenntnis genommen haben. Wichtige politische Argumente, die auf solch ein gelehrtes Publikum zielten, formulierte Guillaume dafür teils schwach betont oder in einem Subtext. Sein Oszillieren zwischen prophetisch-polemischem, biblizistisch-konservativem und offen argumentativem Gestus dürfte sich also den anderen beteiligten Teilöffentlichkeiten verdanken, die wir in Umrissen als Adressaten erschließen können: Guillaumes Schriften richteten sich explizit an die Prälaten Frankreichs, implizit an die Universitätsangehörigen. Seine Predigten, die in Schriftform (sozusagen als Kurztraktate) offenbar ebenfalls zur Verbreitung seiner Thesen beitrugen, 75 dürften in mündlicher Form darüber hinaus

72 Vgl. z. B. Penn Szittya, Antifraternal tradition, 32–61; Michel-Marie Dufeil, „Trois sens d’histoire“,

819–825. 73 Vgl. James Dawson, „William of Saint-Amour and the Apostolic Tradition“; Sita Steckel, „Predi-

gen über die Prediger. Religiöse Identität und Rhetorik im Kontext des Bettelordensstreits an der Universität Paris 1252–1257“, in Georg Strack/Julia Knödler (Hgg.), Rhetorik in Mittelalter und Renaissance. Konzepte – Praxis – Diversität (Münchener Beiträge zur Geschichtswissenschaft 6), München 2011, 231–253. 74 Vgl. dazu knappe Hinweise bei Sita Steckel, „Predigen über die Prediger“. 75 Dies ergibt sich einerseits aus der Verbreitung der Predigten, besonders der Predigt Qui amat periculum, mit den Schriften (vgl. die Bemerkungen in The Minor Works, hg. von Andrew G. Traver,

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noch gebildete Kleriker und Religiosen in Paris und Umland und interessierte Bürger erreicht haben. Es ist recht deutlich, dass seit der Frühphase des Konflikts immer wieder die Bürgerschaft von Paris und Umgebung Adressat von Beschwerden und Rechtfertigungen geworden war, obwohl die Quellen kaum mehr als die unbestimmte Beschreibung ‚großer Menschenmengen‘ (magna multitudo) als Zuhörerschaft hergeben. 76 Dass der Pariser Streit, nicht zuletzt aufgrund tatsächlicher Konflikte um die lokale Seelsorge, innerhalb der lateinischen Christenheit auch breitere Kreise zog, ist ebenfalls anzunehmen und punktuell dokumentiert, etwa durch chronikalische und andere Nachrichten wie die des Benediktiners Matthäus Paris aus England. 77 Wenn man zunächst antizipiert, welche Botschaft Guillaume einem weniger gelehrten oder zumindest über das Konfliktgeschehen nicht im Detail unterrichteten Publikum vermittelte, kann kein Zweifel bestehen, dass er eine prophetische Autorrolle für sich beanspruchte. Tatsächlich kombinierte er Elemente vorhandener apokalyptischer und prophetischer Diskurse in geschickter, ja geradezu perfider Weise, denn er griff vor allem auf endzeitliche Warnungen zurück, die bereits eine längere Vorgeschichte hatten und diversen Zuhörern vertraut gewesen sein dürften. Der Apostel Paulus, so Guillaume de Saint-Amour, hatte vor den schweren Zeiten gewarnt, die in den letzten Tagen anbrechen würden. Er hatte spezifisch fomuliert, dass in den letzten Tagen Gefahr von ‚Heuchlern‘ drohe: ‚Der Geist sagt ausdrücklich: In späteren Zeiten werden manche vom Glauben abfallen; sie werden sich betrügerischen Geistern und den Lehren von Dämonen zuwenden, getäuscht von heuchlerischen Lügnern, deren Gewissen gebrandmarkt ist‘ (1 Tim 4,1–3). 78

Auf diese Gruppe von ‚Heuchlern‘ konnte man nach einer spezifischen exegetischen Tradition des 11. und 12. Jahrhunderts auch weitere Bibelstellen beziehen – nämlich War-

und De periculis, hg. v. Guy Geltner, 18–22). Andererseits ist es aus Guillaumes 1256–7 verfassten Responsiones rückzuschließen, vgl. z.B. Edmond Faral, „Les Responsiones“, 345. 76 Vgl. etwa die Erwähnung der magna multitudo anlässlich einer öffentlichen Rechtfertigung Guillaumes de Saint-Amour im Sommer 1256 an der Kirche Saints-Innocents auf der rechten Seine-Seite, also mehr oder weniger direkt neben dem großen Markt (heute Les Halles), Edmond Faral, „Les Responsiones“, 354. Die Verlesung konfliktrelevanter Bullen vor allen Pfarrkirchen von Paris etwa in der sogenannten Apologia des Weltklerus von 1254, in CUP I, Nr. 230, 256. 77 Vgl. Matthew Paris’s English History, hg. v. John Allen Giles, Bd. 3, London 1854, 130, 205–206. Vgl. auch die Diskussion verschiedener Konfliktepisoden bei Guy Geltner, „Brethren behaving badly. A deviant approach to medieval antifraternalism“, in Speculum 85/1 (2010), 47–64; ders., „Mendicants as victims: scale, scope and the idiom of violence“, in Journal of Medieval History 36 (2010), 126–141. 78 Biblia Vulgata, 1 Tim 4,1–4, mit den folgenden Bemerkungen: Spiritus autem manifeste dicit, quia in novissimis temporibus discedent quidam a fide, attendentes spiritibus erroris, et doctrinis dæmoniorum, in hypocrisi loquentium mendacium, et cauteriatam habentium suam conscientiam, prohibentium nubere, abstinere a cibis, quod Deus creavit ad percipiendum cum gratiarum actione fidelibus, et iis qui cognoverunt veritatem. Quia omnis creatura Dei bona est, et nihil rejiciendum quod cum gratiarum actione percipitur.

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nungen vor ‚Pseudo-Propheten‘, die in der Endzeit auftreten würden 79 und ‚Pseudo-Predigern‘, die sich in die Häuser einschlichen (penetrantes domos). 80 Guillaume de SaintAmour ließ es sich weder in der Schrift De periculis novissimorum temporum noch in seinen Predigten Qui amat periculum und Si quis diligit me nehmen, die entsprechenden Bibelstellen nacheinander aufzuführen, um so die gute Begründung seiner Warnungen zu dokumentieren. Als Kontext dieser Überlegungen gilt es aber nicht nur die Tradition der Geschichtstheologie, sondern auch die der religiösen Polemik einzubeziehen, aus der Guillaume wiederum ein bekanntes Motiv adaptierte oder parodierte: Die Vorstellung einer spezifischen, endzeitlichen Gruppe von Pseudo-Propheten und Pseudo-Predigern beziehungsweise einer Gruppierung von ‚scheinheiligen Heuchlern‘ und Vorboten des Antichrist lag nicht nur generell in der Luft, wie oft behauptet worden ist, sondern wurde für eine konkrete Gruppe benutzt – Häretiker, besonders die sogenannten ‚Katharer‘. 81 Guillaume hatte sie (wie er später auch angab) unter anderem in den Schriften des berühmten, viel gelesenen Zisterzienserabtes Bernhard von Clairvaux († 1153) finden können. Zu einem regelrechten Feindbild verdichtet wurde die Vorstellung ‚heuchlerischer Pseudo-Apostel‘ vermutlich zuerst in der Auseinandersetzung mit den cathari genannten Gruppen im Rheinland, also religiösen Virtuosen und ‚Übererfüllern‘, die einen besonders heiligen Lebenswandel anstrebten, wegen ihrer Widersetzlichkeit gegenüber der Kirche aber häretisiert wurden. Nicht nur Bernhard von Clairvaux, sondern auch die als Prophetin bekannte Hildegard von Bingen hatte angesichts dieser Gruppierungen unter Hinweis auf die zitierten Warnungen des Paulus vor äußerlich fromm wirkenden Heuchlern gewarnt, 79 Vgl. v. a. Mt 24,3–5: Sedente autem eo super montem Oliveti, accesserunt ad eum discipuli secreto,

dicentes: Dic nobis, quando hæc erunt? et quod signum adventus tui, et consummationis sæculi? Et respondens Jesus, dixit eis: Videte ne quis vos seducat: multi enim venient in nomine meo, dicentes: Ego sum Christus et multos seducent. [. . .] [10–12] Et tunc scandalizabuntur multi, et invicem tradent, et odio habebunt invicem. Et multi pseudoprophetæ surgent, et seducent multos. Et quoniam abundavit iniquitas, refrigescet caritas multorum [. . .]. [23–24] Tunc si quis vobis dixerit: Ecce hic est Christus, aut illic: nolite credere. Surgent enim pseudochristi, et pseudoprophetæ: et dabunt signa magna, et prodigia, ita ut in errorem inducantur (si fieri potest) etiam electi. 80 Vgl. bes. 2 Tim 3,1–5: [H]oc autem scito quod in novissimis diebus instabunt tempora periculosa. Et erunt homines se ipsos amantes cupidi elati superbi blasphemi parentibus inoboedientes ingrati scelesti, sine affectione sine pace criminatores incontinentes inmites sine benignitate, proditores protervi tumidi voluptatium amatores magis quam Dei, habentes speciem quidem pietatis virtutem autem eius abnegantes. Et hos devita, ex his enim sunt qui penetrant domos et captivas ducunt mulierculas oneratas peccatis, quae ducuntur variis desideriis; semper discentes et numquam ad scientiam veritatis pervenientes. 81 Vgl. zu den Hintergründen mit weiteren Verweisen Sita Steckel, „Falsche Heilige. Feindbilder des ‚Ketzers‘ in religiösen Debatten der lateinischen Kirche des Hoch- und Spätmittelalters“, in Alfons Fürst/Harutyun Harutyunyan/Eva-Maria Schrage/Verena Voigt, Von Ketzern und Terroristen. Interdisziplinäre Studien zur Konstruktion und Rezeption von Feindbildern, Münster 2012, 17–44; Kathryn Kerby-Fulton, „Hildegard“. Ich hoffe, diese Hintergründe, die in der Forschung selten gewürdigt worden sind (vgl. beispielsweise Penn Szittya, Antifraternal tradition, 19 u. 24), demnächst weiter aufzuklären.

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deren Scheinheiligkeit böse Absichten verdecke: Sie seien Jünger des Teufels und endzeitliche Vorboten des Antichrist. 82 In Köln brachte die sorgfältige Lektüre der Schriften Hildegards tatsächlich sogar eine frühe Episode des Bettelordensstreits hervor: 83 Wie Caesarius von Heisterbach († nach 1240) berichtet, wurden sowohl die ersten Dominikaner wie die ersten Franziskaner, die sich in Köln zu etablieren versuchten, jeweils vom lokalen Klerus bekämpft und dabei als Vertreter der hildegardianischen teuflischen Gruppe scheinheiliger Pseudo-Apostel bezeichnet. Neben den Schriften Bernhards von Clairvaux und Hildegards transportierten auch kanonisch-rechtliche Texte aus dem Kontext der kirchlichen Häretikerverfolgung des 12. Jahrhunderts die Vorstellung nur äußerlich heiligmäßiger, in Wirklichkeit aber bösartiger, ja teuflischer Akteure. Guillaume, der vor seiner Zeit als Theologe in Paris zunächst kanonisches Recht studiert hatte, fand entsprechendes Material daher auch in Texten wie der Dekretale Cum ex iniuncto Innozenz’ III. 84 Er zitierte zudem nicht nur Hildegard von Bingen. Einer seiner Anhänger verfasste anscheinend auch noch eine gefälschte Hildegardprophezeihung (Insurgunt gentes), die deren Warnungen noch aggressiver auf die Bettelorden bezog und deren baldigen Untergang ankündigte – und die absurderweise eines der meisttradierten Stücke unter dem Namen Hildegards werden sollte. 85 Für Zeitgenossen mit ungenügendem Wissen um die Hintergründe des Konflikts der 1250er Jahre werden Guillaumes Warnungen aufgrund solcher Grundlagen einige Plausibilität gehabt haben: Seit einhundert Jahren wurde von Kircheninstanzen davor gewarnt, dass in den ‚jüngsten Tagen‘ Pseudo-Prediger und scheinheilige Vorboten des Antichrist auftreten würden. In den letzten Tagen, so der Tenor der älteren Texte zu Häretikern, und so auch die zugespitzte Botschaft Guillaumes über die ‚Pseudo-Prediger‘ seiner Zeit, galten somit andere Regeln als zuvor: Bislang war ein heiligmäßiges Leben ein sicheres Zeichen für einen tugendhaften Lebenswandel gewesen – tatsächlich beruhten sogar die meisten Theorien zur Erkenntnis und zur Pädagogik des hohen Mittelalters darauf, dass ein tugendhafter Lebenswandel mit der Erkenntnis christlicher Lehre eng verknüpft war. 86 Im Angesicht endzeitlicher Bedrohungen aber galt das nicht mehr. Dann waren 82 Vgl. zu Hildegards Rolle schon Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen des Mittelalters, Darm-

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stadt 21961, 25, 156; im Detail Kathryn Kerby-Fulton, „Hildegard“; dies./Magda Hayton/Kenna Olsen, „Pseudo-Hildegardian Prophecy and Antimendicant Propaganda in Late Medieval England. An Edition of the Most Popular Insular Text of ‚Insurgunt Gentes‘“, in Nigel Morgan (Hg.), Prophecy, Apocalypse and the Day of Doom. Proceedings of the 2000 Harlaxton Symposium, Donington 2004, 160–194. Vgl. knapp Kathryn Kerby-Fulton, „Hildegard“, 386–389. Vgl. Wendy Love Anderson, The Discernment of Spirits. Assessing Visions and Visionaries in the Late Middle Ages (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 63), Tübingen 2011, 52–55. Vgl. Kathryn Kerby-Fulton [u.a.], „Pseudo-Hildegardian Propaganda“. Vgl. Ch. Stephen Jaeger, The Envy of Angels. Cathedral Schools and Social Ideals in Medieval Europe, 950–1200, Philadelphia 1994, bes. 239–325; Sita Steckel, Kulturen des Lehrens im Früh- und Hochmittelalter. Autorität, Wissenskonzepte und Netzwerke von Gelehrten (Norm und Struktur 39), Köln/Weimar/Wien 2011, 1177–1180 u. 1190–1196.

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angeli Satanae zu erwarten, die sich als Lichtengel ausgaben. 87 Während die Experten nun zu warnen hatten, galt es für die Laien, kurz gesagt, genauer hinzusehen: Tugendhaftes, ja heiligmäßiges Leben konnte nun kein Argument mehr sein, Äußeres nicht mehr als Abbild des Inneren aufgefasst werden. Heuchler, die mit dem Teufel im Bunde waren, musste man sehr viel genauer beurteilen, um ihnen auf die Schliche zu kommen. Die nahende Endzeit, so wird deutlich, autorisierte Guillaume also nicht nur zum polemischen Eingriff in die Debatte. Sein Verweis auf die Gefahren der letzten Zeiten sollte vielmehr auch eine Umkehrung oder Sistierung gängiger Wahrnehmungsmuster bewirken. Das dürfte außerordentlich nützlich gewesen sein, um Gegner wie die Dominikaner zu bekämpfen – hochgelehrte, der Seelsorge und Häretikermission zugewandte Ordensleute, die zudem ein diszipliniertes Leben in äußerster apostolischer Armut führten. Sie waren mit üblichen Argumenten kaum anzugreifen und erfreuten sich bei der Bevölkerung eines regen Zulaufs. Der Vorwurf der Heuchelei erlaubte jedoch, ihre lange Liste religiöser Tugenden mit einem Schlag in einen Negativkatalog bloß vorgetäuschter Heiligkeit umzuwandeln, unter der angeblich böse Absichten lagen. Diese Technik des Unterlaufens sichtbarer Religiosität sollte auch im weiteren Spätmittelalter und in der Reformation populär bleiben und über Europa hinauswirken. 88 Beim Publikum der 1250er Jahre dürfte Guillaumes unheilsschwangere Warnung vor scheinheiligen Vorboten des Antichrist nicht unbedingt zur sofortigen Diskreditierung der Bettelorden geführt haben – sie waren ja tatsächlich noch nicht einmal namentlich angesprochen. Man dürfte allerdings Guillaumes Ansichten zumeist zusammen mit dem Gerücht gehört haben, dass es eigentlich um die Dominikaner und Franziskaner ging. Und Guillaume hatte weitere Argumente und Autorisierungsstrategien anzubieten, die wiederum auf gut etablierte Traditionen zurückgriffen. Ein regelrechter Kunstgriff bestand in seiner Verwendung des eng mit apokalyptischen und prophetischen Traditionen verknüpften Motivs des Zeichens (signum), das die Autorität des Propheten beglaubigte. Einerseits postulierte er, wie schon gesehen, dass in den Pariser Vorkommnissen um Gerardinos Evangelium aeternum bereits ‚Zeichen‘ gegeben seien, dass die Prophezeihungen des Paulus über scheinheilige Heuchler der Endzeit aktuell einträfen. Andererseits fügte er seinen Warnungen über diese Gefahren in De periculis novissimorum temporum und der Predigt Qui amat periculum jeweils einen zweiten Teil an, der ausschließlich aus einem Katalog von bis zu fünfzig signa bestand. Bei diesen Zeichen handelte es sich jedoch nicht um die typischen kosmologischen Zeichen des Weltuntergangs wie Blutregen oder Erdbeben oder um politische Ereignisvoraussagen, die in 87 So etwa Innozenz’ III. Cum ex iniuncto, in Corpus Iuris Canonici II: Decretalium collectiones, hg. v.

Emil Friedberg, Graz 1959, Decretales Gregorii IX., Lib. V., Tit. VII., c. 12, 785. 88 Vgl. zur Weiterentwicklung der Polemiken Guillaumes und ihrer Strategien Penn Szittya, The

Antifraternal Tradition; Geoffrey Dipple, Antifraternalism and Anticlericalism in the German Reformation. Johann Eberlin von Günzburg and the Campaign against the Friars (St Andrews Studies in Reformation History), Aldershot 1996. Eine gemeinsame Studie der Verfasserin mit Antje Flüchter (Heidelberg) zur Rezeption dieser Traditionen in der Beschreibung außereuropäischer Religionen in der Frühen Neuzeit ist in Vorbereitung.

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verschiedenen gelehrten und volkssprachlichen Texten des 12. und 13. Jahrhunderts kursierten. Sie dürften der Form nach allerdings als Quelle gedient haben. 89 Guillaume gab nämlich Qualifizierungen der ‚heuchlerischen Pseudo-Apostel‘, die sich zwar nicht im Inhalt, aber doch in der Zuschreibungsstrategie wiederum an der Technik der vaticinia ex eventu orientierten. In diesem Mechanismus nahmen bekanntlich politische Prophezeihungen und ‚Sibyllen‘ des 13. Jahrhunderts gern kürzlich vergangene Ereignisse als erste Zeichen in eine längere Liste von Prognosen auf, um angesichts von deren schon erfolgtem Eintreffen auch den restlichen Voraussagen Glaubwürdigkeit zuzuschreiben. In ähnlicher Weise listete Guillaume de Saint-Amour nun als signa Eigenschaften und Tatbestände auf, die bereits dokumentiert waren, und anhand derer er seine Warnung vor Gefahren wahrscheinlicher machen wollte. Darunter waren verschiedene nur oberflächlich anonymisierte Verweise auf bereits vergangene und in Paris und Umgebung bekannte Vorfälle um die Bettelorden. Echte Apostel, so Guillaume in De periculis novissimorum temporum, seien etwa geduldig und ließen sich verbessern, falsche Apostel jedoch nähmen jede Kritik übel. Echte Apostel seien bescheiden und stellten sich nicht selbst in Vergleichen mit anderen als überlegen dar, sondern überzeugten im Gegenteil nur durch ihre Handlungsweise. Echte Apostel seien darüber erhaben, sich ständig und von überall her Empfehlungsschreiben zu besorgen. 90 Echte Apostel brächten auch nicht gezielt die Fürsten gegen all jene auf, die sie nicht gleich freundlich aufnähmen. 91 Solche Unterscheidungen und ‚Zeichen‘ zielten ganz offensichtlich darauf, den guten Ruf der Heiligkeit der Orden zu unterminieren, indem man auf ihre rege Beteiligung an den Auseinandersetzungen der 1250er Jahre hinwies. In weiteren ‚Zeichen der Zeit‘ spielte Guillaume dann auf Themen an, die bereits in lokalen Konflikten um die Seelsorge zwischen Weltklerus und Orden strittig geworden waren und von deren Brisanz gerade die französischen Prälaten und Pfarrpriester gute Kenntnis gehabt haben dürften. Echte Apostel, so Guillaume in einem Hinweis auf einen der wichtigsten Konfliktgründe in den Diözesen, bemühten sich nicht spezifisch darum, von Lebenden oder Sterbenden Vermächtnisse und Güterschenkungen zu erlangen. 92 Echte Apostel strebten auch nicht danach, denjenigen zu predigen, die bereits eigene Apostel und Prediger hatten, denn das war ruhmsüchtig (und kanonischrechtlich problematisch). 93 Das erste und wesentlichste Zeichen, mit dem Guillaume die Bettelorden als falsche Heilige und letztlich sogar als Häretiker zu brandmarken suchte – der Vorwurf, dass sie ohne Erlaubnis der lokalen Bischöfe predigten und sich daher 89 90 91 92 93

Vgl. dazu William W. Heist, The Fifteen Signs of Doomsday, East Lansing, MI 1952. De periculis, hg. v. Guy Geltner, 112–114. Ebd. 124. Ebd. 12. Ebd. 128. Das Verbot der Predigt und Seelsorge bei einer plebs aliena wurde zu einem der zentralen rechtlichen Argumente des Konflikts und blieb bis in die 1280er Jahre akut, vgl. z.B. Ludwig Hödl (Hg.), Heinricus Gandavensis, Tractatus super factum prelatorum et fratrum (Quodlibet XII, Quaestio 31) (Heinrici de Gandavo Opera Omnia 17), Leuven 1989, xxxiv–lxix.

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‚in die Häuser einschlichen‘ (penetrantes domos) –, war rechtlich wie theologisch dann zwar außerordentlich stark umstritten. Eine Entscheidung bedeutete letztlich eine Selbstpositionierung auf Seiten des Papstes als oberstem Inhaber einer delegierbaren plenitudo potestatis oder auf Seiten der Diözesanbischöfe als Inhaber göttlich gewollter lokaler Aufsicht über die Seelsorge. 94 Neben dem Vorwurf des ‚Eindringens in die Häuser‘ war auffälligerweise aber auch der bibelgestützte Vorwurf der Predigt ohne Erlaubnis – quomodo predicabunt, nisi mittantur? 95 – in einer langen polemischen Geschichte seit Dekaden mit der Warnung vor Ketzern wie den Waldensern verknüpft. 96 Als Resultat der Mehrfachcodierung solcher Argumente Guillaumes dürften diese bei verschiedenerlei Publikum verschiedenerlei Resultate bewirkt haben: Ohne weiteres Vorwissen dürften Leser und Hörer seiner Meinungen (nicht zuletzt auch seiner Predigten und der Elemente, die nach Hörensagen weitergegeben wurden) seine Botschaft durchaus als prophetische Warnung vor einer neuen Ketzersekte verstanden haben, was zumindest gesteigertes Misstrauen gegenüber neuen Orden bewirkt haben könnte. Ungenaue Kenntnis des Streits könnte dann durchaus dazu geführt haben, dass die von Guillaume beschriebenen signa sowohl als Beschreibungen einer Sekte wie als Anzeichen einer drohenden Zeit der Bedrängnis gelesen wurden. Leser und Hörer mit Vorwissen über den Streit oder mit einer generellen Bereitschaft, über die Verdienste einzelner religiöser Lebensformen zu reflektieren – eine durchaus breite und während des Konflikts sicherlich wachsende Bevölkerungsgruppe – nahmen dagegen mutmaßlich etwas anderes mit: Wiewohl sich die Partei des Weltklerus in Paris in ihrer Kampagne gegen die Orden auch selbst nicht als demütig und mild erwies, konnte Guillaume mit seiner pointierten Aufzählung von Missständen doch herausstellen, dass die Akteure der Bettelorden mit genauso harten Bandagen kämpften. Letztlich bedeckte sich keine der Parteien durch die Pariser Schlammschlacht mit Ruhm. Beide Ordensparteien des Konflikts waren nicht zimperlich darin, sich selbst als moralisch und theologisch überlegen und gleichzeitig als Opfer perfider Verfolgung darzustellen, oder (ähnlich wie Guillaume de Saint-Amour freilich auch) ihr Eingreifen in die Seelsorge mit der angeblichen moralischen Verkommenheit des Gegners zu rechtfertigen. Die Bettelordensbrüder siedelten sich tatsächlich oft in Konflikt mit der lokalen Kirchenaufsicht an, wozu sie päpstliche oder bischöfliche Erlaubnisschreiben aus der Tasche zogen. 97 Die involvierten Gruppen der Dominikaner wie der Franziskaner suchten den Streit zudem teils in religiöse Wahrnehmungszusammenhänge zu stellen, die sie selbst als zu Unrecht verfolgte

94 Vgl. die Argumente im Einzelnen schon bei Yves Congar, „Aspects ecclesiologiques“. 95 Vgl. zu diesem Argument De periculis, hg. von Guy Geltner, 50–58, und Guillaumes Predigt Qui

amat periculum, in The Minor Works, hg. v. Andrew G. Traver, c. 14–16, 160–162, sowie die Vorwürfe und Rechtfertigungen in den Responsiones, hg. v. Faral, 348–349. 96 Vgl. so zu Guillaume de Saint-Amour schon Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen, 63–64. 97 Vgl. für ähnlich erbitterte Vorwürfe die Aussagen des englischen Benediktiners Matthew Paris, vgl. Williel R. Thomson, „The Image of the Mendicants in the Chronicles of Matthew Paris“, in Archivium Franciscanum Historicum 70 (1977), 3–34, bes. 26, 28.

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‚Heilige‘ dastehen ließen. 98 Im Rahmen des Streits an der Universität hatten sie genauso parteiisch im eigenen Interesse gehandelt wie die Partei des Weltklerus. Ganz jenseits angeblicher ‚Beweiskraft‘ in einem apokalyptischen Szenario stellten Guillaumes signa genau das heraus – sie wiesen die Bettelorden als wenig ‚apostolisch‘ aus. Insofern wirkten die signa für seine Anklagen auf verschiedenen Ebenen beglaubigend. 99 Auch wenn man nicht den Schluss zog, dass seine Argumente die Bettelorden als häretische Vorboten des Antichrist entlarvten, zogen sie zumindest den Nimbus besonderer Heiligkeit und den Ruf einer ‚authentischeren‘ Apostelnachfolge in Zweifel, der die Bettelorden seit ihrer Gründung umgab. Guillaumes Polemik lenkte die Aufmerksamkeit darauf, dass die Ordensbrüder eben auch nur Menschen waren.

5. Die Worte des Herrn sind ein brennendes Feuer. Guillaumes Adaptation prophetischer Autorität in Qui amat periculum und den Collectiones catholicae Als Polemik gelesen offenbaren die apokalyptischen Warnungen Guillaumes de SaintAmour insgesamt einiges an symbolischer und theologischer Aufladung und enthalten gewissermaßen einen mehrfachen Schriftsinn. Dies kann abschließend helfen, den dramatischen Auftritt Guillaumes zu dechiffrieren, in dem er im Frühsommer 1256 sogar so weit ging, sich als eine Art Verkörperung des Propheten Jeremias darzustellen. In seiner wohl am 1. Mai 1256 gehaltenen Predigt über Ecclesiastes 35,1 (Qui amat periculum, peribit in illo) zeigte er sich tatsächlich noch einen Schritt radikaler als in seiner Schrift De periculis. Die Situation der öffentlichen performance der Predigt dürfte dabei zur Selbstinszenierung Guillaumes beigetragen haben. Da seine Predigten offenbar auch als eine Art Kurztraktate schriftlich zirkulierten, konnten sie aber diskutiert und von Lesern und Hörern mit Vorwissen weiter dechiffriert werden. 100 98 Vgl. etwa den Gebrauch von sancti bei Thomas von Aquin, Contra impugnantes, oder den oben

Anm. 34 zitierten Brief der Ordensmeister in vollem Wortlaut. 99 Für eine andere Einschätzung der signa Guillaumes als bloß ‚herbeizitierte‘ Vorwürfe ohne viel

Bezug auf die Realität vgl. Penn Szittya, Antifraternal tradition, 37–38 und 53. Da er sich vornehmlich auf die späten, stark durchsystematisierten Collectiones catholicae Guillaumes stützt, führt er Guillaumes signa vielfach auf bloße Übernahmen biblischer Muster ohne Basis in der Realität zurück. Die frühere Schrift De periculis und die Predigten von 1256 zeigen aber die signa in weniger systematischer Form, wobei sie deutlich häufiger mit Kritikpunkten an den Mendikanten übereinstimmen dürften, als Szittya annimmt. Tatsächlich möchte Szittya innerhalb seiner Argumentation Guillaumes Biblizismus und seine Systematik herausarbeiten und minimiert deswegen seine Kontextabhängigkeit. 100 Zu Predigten Guillaumes vgl. neben Michel-Marie Dufeil, Guillaume, ausführlicher Andrew G. Traver, The Minor Works, 53–74; Jonathan Robinson, „Qui praedicat periculum in illo peribit: William of St-Amour’s Anti-Mendicant Sermons“, in Joseph Goering/Francesco Guardiani/Giulio Silano

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Anstelle seine Autorität als Prediger aus einem üblichen Prothema abzuleiten, konstruierte Guillaume seine Einleitung von der Bibelstelle Jeremias 20,8. Der gesamte Abschnitt lautet: ‚Die Worte des Herrn sind ein wie ein brennendes Feuer in meiner Brust. Dieses [. . .] Wort steht bei Jeremias, der viel Gegnerschaft und viele Leiden ertragen musste um der Worte des Herrn willen. Er hielt sie zwar aus, brach aber dennoch in die Worte aus – ‚Die Worte des Herrn sind ein brennendes Feuer in meiner Brust‘, und weiter ‚viel Schmach und Schrecken habe ich hören müssen. Doch der Herr steht mir bei wie ein gewaltiger Held‘. Dies sind die Worte des Propheten, und diese Worte kann ich auch für mich sprechen! Ich weiß, dass der Kirche bestimmte Gefahren drohen, die auf jeden Fall eintreffen werden. Deswegen kann ich nicht schweigen! Ich muss sie offenlegen, gemäß dem, was ich aus den Schriften herauslese. Und da es nicht allen gefällt, von solcherart Gefahren zu hören, verlachen sie mich, der ich davon spreche, und verleumden mich. Doch ich habe die Wahrheit auf meiner Seite! Wenn man mich also verlacht, ist dies nur zu meinem Nutzen, und ich werde nicht aufhören, die Wahrheit zu sagen, die der ganzen Kirche nützlich ist. Und damit ich das umso glühender und eifriger tun kann, bitten wir zu Anfang etc.‘ 101

Wenn man zunächst fragt, welchen Anspruch diese Worte gegenüber einem Publikum ohne besonderes Vorwissen vertreten, so verortete sich Guillaume nun noch einen Schritt näher an einem genuin prophetischen Charisma. Zwar bezog er sich weiterhin auf seine Position als Theologe, leitete sein Wissen etwa aus der Schriftkenntnis her. Seine theologisch-exegetische Autoritätskonstruktion ist aber nun stärker von Suggestionen eines unmittelbaren göttlichen Auftrags überlagert. Dies zeigt sich schon in seiner Nutzung des Mediums der Predigt und des einleitenden Prothema: Die Predigt war traditionelle Aufgabe der Universitätstheologen und erfolgte im sermo modernus des 13. Jahrhunderts und zumal in Universitätspredigten typischerweise durch starken Bezug auf Bibelstellen und deren Standardauslegung. Man konnte das Medium aber auch in Richtung eines betonten Charisma ausfüllen, denn der Prediger war nach aller zeitgenössischen Theorie Träger einer besonderen Inspiration, um die er zu

(Hgg.), Weapons of Mass Instruction: Secular and Religious Institutions Teaching the World. Proceedings of a St. Michaels College Symposium (25–26 November 2005), New York 2008, 51–63. 101 Qui amat periculum, in The Minor Works, hg. von Andrew G. Traver, 155: Qui amat periculum, peribit in illo. Factus est sermo Domini in corde meo quasi ignis exaestuans. Verbum secundo propositum scribitur in Ieremia, qui propter verbum Domini quod annuntiabat, multa opprobria et tribulationes habuit, et ipse omnia sustinuit, et tandem prorupit in haec verba dicens: ‚Factus est sermo Domini‘ etc. Et subdit: ‚Audivi multorum contumelias et terrores. Dominus autem mecum est, tamquam bellator fortis.‘ Haec verba sunt ipsius Prophetae et haec verba pro me possum dicere. Ego scio ecclesiae quaedam pericula imminere, et non potest esse quin eveniant: unde non possum tacere, sed oportet ut ea manifestem secundum quod possum elicere ex scripturis. Sed quia non placet omnibus audire huiusmodi pericula, ideo quidam audientes me de his loqui derident et detrahunt mihi; sed ego habeo veritatem mecum. Unde si me derident, hoc est ad utilitatem meam; et ideo non dimittam dicere veritatem, quae est utilis toti ecclesiae. Et ut hoc possim ardentius et diligentius facere, in principio rogemus etc.

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Anfang auch gemeinsam mit der Gemeinde zu beten hatte. 102 Wie das Ende des zitierten Abschnitts zeigt (ut hoc possim ardentius et diligentius facere, in principio rogemus etc.) band auch Guillaume sein Publikum sogleich performativ in seine Konstruktion einer Predigerrolle ein. Diese war nun aber eine prophetische Rolle. Aus dem gemeinsamen Gebet um Inspiration wurde bei ihm eine Bitte um Kraft für die Äußerung der Wahrheit gegen Widerstände und Gefahren. Aus der ritualisierten Predigtsituation heraus suchte er also gewissermaßen sein Publikum gleich zu Anfang auf eine Parteinahme zugunsten ‚seiner‘ Wahrheit zu verpflichten. Er behauptete zudem nun mit gesteigerter Emphase ein Wissen um die Zukunft, in der der Kirche Gefahren drohten. Er parallelisierte seine Position direkt mit der des verfolgten und verlachten Propheten Jeremias. Mit Jeremias reklamierte er, dass die Worte des Herrn ein brennendes Feuer in seiner Brust seien, dass er also um eine göttliche Wahrheit wisse und diese äußern müsse, auch bei Schaden für sich selbst. Mit Jeremias stellte er sich zudem als Verfolgten dar, der aus Liebe zu Gott Leiden auf sich nahm, und so – wie Guillaume durch einen Bezug auf den Nutzen (ad utilitatem meam) direkt andeutete – besondere individuelle Tugend erwarb. Guillaume rückte seine Position also nicht nur in die Nähe des Prophetentums, sondern stellte sich fast schon als Märtyrer oder zumindest als Leidenden für die Sache Christi dar. Wie man ihm später vorwarf, soll er sogar öffentlich verkündet haben, dass man ihn vermutlich bald töten werde und dass dies seine Hörer dann umso mehr zum Festhalten an der Wahrheit bewegen solle. Er selbst bestritt freilich, das je so gesagt zu haben. 103 Guillaume konstruierte in dieser Predigt also deutlicher eine als ‚charismatisch‘ zu bezeichnende Autorität. Er stellte sich als Person vor, die aus einem verdiensthaften Willen zur Wahrheit gegen erhebliche Widerstände sprach und wegen dieser religiösen Leistung weiteres eigene Verdienst erwarb. In der Schrift De periculis hatte er sich dagegen betont als Sprachrohr der Theologen und als bloßen Ausleger präsentiert, der seine Autorität aus einer jenseits seiner Person liegenden Quelle bezog, nämlich der Kenntnis der Heiligen Schrift. Guillaumes Stilisierung einer religiösen Opferrolle dürfte wiederum auf verschiedenen Ebenen lesbar sein, da sie tatsächlich einige Verankerung in der Realität hatte. Guillaume betonte seine Verfolgung nicht zu Unrecht – er setzte sich durch das Beharren auf seiner Sicht der Dinge ja tatsächlich sehenden Auges politischen Saktionen aus. Wie besonders Guy Geltner hervorhebt, war es nicht zuletzt Guillaumes öffentliche Kritik am Papst und vor allem am französischem König, die zu seiner harten Bestrafung führten. 104 Dieses

102 Vgl. Beverly Maine Kienzle, „Medieval sermons and their performance: theory and record“, in

Carolyn Muessig (Hg.), Preacher, Sermon and Audience in the Middle Ages, Leiden/Boston 2002, 89–124; zu den Universitätspredigten der Zeit vgl. bes. Jacqueline Hamesse, „La prédication universitaire“, in Centro italiano di studi sull’alto medioevo (Hg.), La predicazione dei Frati dalla metà del 200 alla fine del 300. Atti del XXII Convegno Internazionale Assisi 1994, Spoleto 1995, 49–79. 103 Vgl. Edmond Faral, „Les Responsiones“, 352–353. 104 Vgl. De periculis, hg. v. Guy Geltner, Introduction, 9–13.

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Engagement und das freiwillige Opfer seiner Karriere auf dem Altar der Kontroverse könnte zumindest Zeitgenossen ohne Vorwissen als Zeichen seiner genuinen Berufung erschienen sein. Seine Botschaft eines Leidens für die richtige Sache dürfte aber auch und vor allem an das Publikum mit Vorwissen über die Kontroverse adressiert gewesen sein. Gegenüber den Kennern der Pariser Auseinandersetzungen positionierte sich Guillaume de SaintAmour durch die Wahl des dramatischen Jeremiastextes insofern als prophetischer Sprecher, als er eine höhere Wahrheit zu vertreten bekräftigte. Seine Betonung der erlittenen Verfolgung und Verspottung appellierte nicht nur an die Emotionen der Zuhörer und Leser (was dann übrigens vom Dichter Rutebeuf nach Kräften in Volkssprache fortgesetzt wurde 105). Der Hintergrund des zeitgenössischen Verständnisses von Opfer sowie von Prophetie als teils leidvoller, belastender Erfahrung dürfte den Konfliktparteien und dem unmittelbaren Umfeld auch signalisiert haben, wie ernst es Guillaume mit seinem Standpunkt war. Der Unterschied zwischen der Stellung eines Propheten und der eines bloßen Anwalts einer Streitsache war ja, dass der Prophet für eine höhere, göttliche Wahrheit stritt, die lediglich für Außenstehende nicht einsehbar war. Vor dem Hintergrund des Konflikts gelesen dürfte Guillaumes charismatische Aufladung und Authentifizierung seines Anliegens jedoch gar nicht unbedingt auf die geschichtstheologischen Elemente zu beziehen sein. Es ging nicht darum, ob die Endzeit unmittelbar bevorstand. Er dürfte viel eher gemeint haben, dass die Sache des Weltklerus vor Gott eine höhere Berechtigung hatte und daher zu verfechten war. Diese Technik des Hineintretens in die Rolle eines zu Unrecht Verfolgten sollte von den Parteigängern des Weltklerus in Paris später weitergeführt werden, allerdings ohne den Ballast der geschichtstheologischen Verbrämung. In den 1280er Jahren war es die Figur des leidenden Gerechten Hiob, mit deren Hilfe sich die Sprecher des Weltklerus in emotionalisierender Weise vor dem Papst präsentierten. 106 In der Situation Guillaumes de Saint-Amour war dagegen der Prophet Jeremias eine außerordentlich passende Identifikationsfigur. 107 Jeremias musste wegen seiner Warnungen und Ermahnungen an das Gottesvolk einiges an Gegnerschaft hinnehmen. Er tat dies klagend, aber im sicheren Wissen um seine Berufung durch Gott, die zu Anfang des biblischen Jeremiabuches ausführlich geschildert wird. Durch Anlehnung an diese Figur 105 Vgl. Rutebeufs ‚Dit de Guillaume de Saint-Amour‘ in Œuvres complètes, hg. v. Faral und Bastin,

Bd. 1, 242–249. 106 Vgl. die auffälligen Parallelen zwischen Guillaumes Jeremias-Einleitung und einer Ansprache des

Petrus von Ruthenac vor dem Papst 1286 in der Handschrift Paris, BNF Latin 3120, f. 55va: In amaritudine est sermo meus a manu plage mee aggrauata est super gemitum meum. Uerbum in exordio mee proposicionis assumptum beati. s. Job. dolentis sue plage. [. . .] Vox est hodie sancte pater proprie multum membrorum et deuotorum nostrorum prelatorum. 107 Vgl. zu Jeremias Siegfried Hermann, Art. Jeremia, Jeremiabuch, in TRE 16 (1987), 568–586, bes. 580–581; darüber hinaus herangezogen wurde Korinna Zamfir, „Jeremian Motifs in the Synoptics’ Understanding of Jesus“, in Joseph Verheyden/Korinna Zamfir/Tobias Nicklas (Hgg.), Prophets and Prophecy in Jewish and Early Christian Literature (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 286), Tübingen 2010, 139–176.

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konnte Guillaume darauf hinweisen, dass er tatsächlich bereits einiges auf sich genommen hatte und sich mittlerweile sehr weit jenseits des für ihn Opportunen bewegte. Für Adressaten mit theologischen Kenntnissen hat der Bezug auf die spezifische Gestalt des Jeremias darüber hinaus sogar noch einen weiteren, äußerst passenden Subtext. 108 Jeremias ist unter den alttestamentlichen Propheten nicht nur ein Warner angesichts unmittelbarer Gefahr. Er hat als Prophet auch sehr deutlich und intensiv mit Gegnern zu kämpfen. Seine Tempelrede bringt die Glaubensgemeinschaft gegen ihn auf, doch er stellt sich auch gegen Könige. Gottes Berufung lässt ihn zudem auch gegen falsche Propheten antreten, die das Volk Israel nach Jeremias’ Warnungen jeweils wieder in falscher Sicherheit wiegen. Nicht zuletzt deswegen wird die Authentizität seiner Prophetie innerhalb des Jeremiabuchs mehrfach diskutiert. Einige Passagen der wütenden Worte des Herrn gegen die falschen Propheten im 23. Kapitel des Jeremiabuchs, die Pariser Theologen und ihren Studenten gut bekannt gewesen sein dürften, ergäben als implizite Hintergrundzitate für den aufgehitzten Streit einen hervorragenden weiteren Subtext. Man liest in Jeremias 23,16–18: ‚Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen. Sie betören euch nur; sie verkünden Visionen, die aus dem eigenen Herzen stammen, nicht aus dem Mund des Herrn. Immerzu sagen sie denen, die das Wort des Herrn verachten: „Das Heil ist euch sicher!“; und jedem, der dem Trieb seines Herzens folgt, versprechen sie: „Kein Unheil kommt über euch“. Doch wer hat an der Ratsversammlung des Herrn teilgenommen, hat ihn gesehen und sein Wort gehört? Wer hat sein Wort vernommen und kann es verkünden?‘ 109

Solche Überlegungen ließen sich einerseits ganz direkt auf die franziskanischen Joachimiten und ihre visionäre Geschichtstheologie rückbeziehen – die ‚falschen Propheten‘ träumten und hatten Visionen, die jedoch aus ihrem eigenen Herzen stammen. Sie brachten den Zuhörern eine falsche Sicherheit, ja versprachen ihnen Heil – das könnte man entweder als Verweis auf die optimistische Geschichtssicht der Franziskaner oder sogar als Seitenhieb auf die zu nachsichtige Beicht- und Bußpraxis der Bettelordensbrüder verstehen. Dagegen steht die Autorität des wahren Propheten, der tatsächlich um den Willen Gottes weiß, sein ‚Wort gehört‘ hat und es ‚verkünden‘ kann – diese Betonung einer Ausrichtung am Gotteswort führt wiederum zu Guillaumes eigenen, die Theologie und Exegese betonenden Autorisierungsstrategien zurück. Wie bereits gesehen, hielt er durchgängig an einer Strategie der besonderen theologisch-exegetischen Autorisierung seiner Warnungen fest. In seiner Predigt Qui amat periculum gewann er zwar seine unmittelbare Autorisierung aus einer quasi-prophetischen Stellung. Doch er vertrat seine exegetischtheologische Autorität dafür umso intensiver auf der Ebene der sprachlichen Ausgestal-

108 Vgl. bes. Korinna Zamfir, „Jeremian Motifs“, 140–150. 109 Vgl. Jeremias 23,16–18: nolite audire verba prophetarum qui prophetant vobis et decipiunt vos.

visionem cordis sui loquuntur non de ore Domini. dicunt his qui blasphemant me locutus est Dominus ‚pax erit vobis‘ et omni qui ambulat in pravitate cordis sui dixerunt ‚non veniet super vos malum‘. quis enim adfuit in consilio Domini et vidit et audivit sermonem eius quis consideravit verbum illius et audivit.

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tung, führte etwa die Bibel (und in ihr spezifisch Herren- und Apostelworte) betont häufig im Munde. Schon in den Anfangspassagen von Qui amat periculum heißt es etwa direkt hintereinander ostendo per has auctoritates, scilicet per Apostolum et ipsum Christum – dicit Dominus in evangelio – ostendo per Apostolum – Et Apostolus dicit. 110 Tatsächlich führt freilich die Lektüre des Jeremias-Prothemas und seiner möglichen Bezüge genauso wie die Lektüre weiterer Passagen von De periculis novissimorum temporum schnell in ein tiefes Dickicht weiterer möglicher Verweise, Kontextbezüge und Subtexte. In diesem Bedeutungsgeflecht der Bibel- und Glossenstellen lässt sich trefflich spekulieren – und die Zeitgenossen hätten sich in ihm sicherlich geschickter zu bewegen verstanden als die modernen Leser. Doch sind keine historisch genauen Zuschreibungen mehr möglich. Die bloße Überlegung, dass es das Kerngeschäft der Theologen der Zeit war, den Wortlaut der Bibel genau zu lesen, und mit weiteren Auslegungen oder auch mit Gegenwartsereignissen in Verbindung zu bringen, kann aber den Kontext für eine letzte belegte Aussage Guillaumes de Saint-Amour bilden. Bislang war aufgefallen, dass sich Guillaume stets auf der Grenze zwischen Exegese und Prophetie bewegte, verschiedene Autorisierungsstrategien kombinierte, und lediglich die Emphase teils hierhin, teils dorthin legte. Ähnlich hatte es, wie Gian Luca Potestà herausgearbeitet hat, auch schon Joachim von Fiore gehalten. 111 Auch Joachim holte jedoch zu Ende seines Lebens die Frage der Zeitgenossen nach seiner Legitimation ein, und er scheint daraufhin mit der Entwicklung einer Autorisierungserzählung geantwortet zu haben, wie dies für das 12. Jahrhundert ganz typisch ist. Joachim vertrat zunächst, dass er zwar kein Prophet sei, und tat so Demutsgeboten Genüge (und hielt tatsächlich die Zeit der Propheten alten Stils für historisch überholt). Er habe aber, so Joachim, eine besondere intelligentia scripturarum von Gott erhalten, die ihm das Verständnis des eigentlichen Schriftsinns erlaube. Als nachgefragt wurde, verortete er diese göttliche Berufung durch Datierung und Lokalisierung von zwei Erleuchtungserlebnissen genauer, und schilderte eine plötzliche, schlagartige Einsicht in das Verständnis der Schriften. Damit passte er sich letztlich einem vorhandenen Schema der ‚existenziellen Autorisierung‘ (Christel Meier) an, wie sie für Visionäre und Visionärinnen typisch war, ohne dabei den Bezug auf die Bibel aufzugeben. 112 Seine Versuche einer Konstruktion besonderer eschatologischer Autorität endeten also in einem interessanten, wenn auch vage bleibenden Konzept des besonderen Schriftverständnisses. Ganz ähnliches Lavieren sehen wir letztlich auch bei Guillaume de Saint-Amour. Er nahm nach seiner Verbannung aus Paris in den 1260er Jahren nochmals zu seiner Autorität Stellung, als er seine Collectiones catholicae fertiggestellt hatte, eine aufgepolsterte Überarbeitung des Traktats De periculis, die er in noch größerem Übermaß mit bibli-

110 Qui amat periculum, in The Minor Works, hg. v. Andrew G. Traver, c. 7–11, 157–158. 111 Vgl. Gian Luca Potestà, „Prophetie als Wissenschaft“, 279–280 mit Verweisen. 112 Zum Konzept der ‚existenziellen Autorisierung‘ vgl. Christel Meier, „Autorschaft im zwölften Jahr-

hundert“.

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schen und exegetischen Autoritätenzitaten und Invektiven gegen gefährliche Scheinheilige befrachtete. Im Prolog der Schrift wiederholte er die Argumente, die er im Prolog von De periculis novissimorum temporum vorgetragen hatte, mit einer leichten Variation. Der Bezug auf die Theologen als ‚Seher‘ (videntes) wurde nach hinten geschoben, doch die Begründung einer Sprecherrolle wurde nach wie vor aus der besonderen Befähigung der Theologen für die Bibellektüre und die Notwendigkeit der Warnung bei besonderen Gefahren hergeleitet. Nach wie vor stellte sich der nunmehr als Häretiker verurteilte Guillaume dabei der kirchlichen Zensur anheim. 113 Auffallenderweise begann er nun jedoch genau wie Joachim nochmals an der Grenze von Prophetie und Exegese zu experimentieren. Guillaume de Saint-Amour behauptete zunächst, dass es ganz falsch sei, auf neue Prophetien durch Visionäre zu hoffen, und reklamierte stattdessen, dass man sich an die Schrift halten müsse – unter Verweis auf die Stelle Gregors des Großen, die auch Joachim von Fiore und andere benutzt hatten, um das Charisma der Exegeten an das der historischen Propheten anzugleichen. 114 Guillaume wiederholte also gewissermaßen Joachims Demutsgestus und wollte sich weiterhin nicht als Propheten, sondern als bloßen Schriftausleger verstehen. Er entwickelte dann jedoch (auf den Spuren Joachims? in einer weiteren Abgrenzung von ihm?) eine eigene Theorie des Erkenntnisfortschritts, die ihn wiederum als theologisch qualifizierten Warner legitimierte. Wie Guillaume unter Verweis auf Daniel 12,4 argumentierte (‚Du, Daniel, halte diese Worte geheim und versiegle das Buch bis zur Zeit des Endes‘.), gab es Stellen der Bibel, die ‚verschlossen‘ waren und auf bestimmte Ereignisse der Zukunft anspielten. Sie waren erst in ihrem Bezug zu verstehen, wenn die entsprechenden Ereignisse eingetreten waren, wie beispielsweise der Satz ‚Siehe, die Jungfrau empfängt‘ beim alttestamentlichen Jesaja 7,14, der erst durch die Inkarnation in seiner Bedeutung vollständig lesbar wurde. 115 Ähn-

113 Vgl. Collectiones catholicae, in Opera Omnia, 111–127 (Prolog mit Korrekturangebot zu Ende) u.

484 (weiteres Korrekturangebot). 114 Vgl. dazu auch Christel Meier, „nova verba prophetae“ (in diesem Band, S. 82ff.). Die Stelle Col-

lationes catholicae, 120: Non igitur expectare debet quis, habens cogitationes de futuris periculis, causa vtilitatis publicae exponendis, vel publicandis, quod exinde nouas recipit Prophetias, vel nouas Angelorum reuelationes; cum in Sacra Scriptura olim diuinitus edita plene comprehendantur, & per eam fastis velant conuinci, vel cognosci. Nam sicut dicit Gregorius, lib. 23. Moral. super illud Job 33. Semel loquitur Deus, & secundo id ipsum non repetit. Greg. 115 Am Rande sei bemerkt, dass dieses Beispiel (‚Ecce virgo concipiet‘) in der Prophetietheorie der Zeit mehrfach behandelt wird. Collectiones catholicae 117: Consequenter vero aliquando, & alicubi, dicta pericula, vel omnino cessauerunt, vel sub pietatis specie latuerunt. Ideoque Scripturae illa pericula designantes, quasi clausae erant, eo quod earum signata, vel minime, vel minus lucide apparebant. Quemadmodum videmus alibi, quod Scriptura illa Isa. 7 Ecce virgo concipiet [. . . es folgen weitere Beispiele] Incarnationem [. . .] prophetice designantes, vsque ad tempus impletioni earum prefinitum, fere omnibus clause fuerunt, iuxta illud Danielis 12. Vade Daniel, quia clausi, signatique sunt sermones, usque ad tempus praefinitum. Glos. ‚Id est, usque ad consummationem, siue impletionem‘.

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lich sei es nun in seiner Gegenwart, so Guillaume, und zwar zunächst bei den besonders Schriftkundigen 116: ‚In derselben Art und Weise sagen wir nun, dass die Schriftstellen, die die erwähnten Gefahren bezeichnen, und die, wie gesagt wurde, einst für einige verschlossen wurden, nun geöffnet zu werden scheinen. Sie erscheinen in einigen Stellen, die nach göttlichem Willen in den Schriften vorbezeichnet waren, und die sich in unseren Zeiten gewissermaßen offen manifestieren – wie unten, mit Hilfe Gottes, weiter gezeigt werden soll.‘ 117

Obwohl er kein Prophet sein wollte und obwohl er Joachim von Fiore in den Collectiones pointiert als Häretiker bezeichnete, 118 konstruierte Guillaume de Saint-Amour letztlich eine Version charismatischer gelehrter Autorität, die derjenigen Joachims täuschend ähnlich ist. Sie entspricht exakt der Funktionalität, die man aus moderner Perspektive dem Prophetentum zuspricht, nämlich der Verkündung eines nur für Eingeweihte zugänglichen göttlichen Willens. Genau wie Joachim postulierte Guillaume zudem eine besondere intelligentia scripturarum, eine unter den suchenden Augen des Exegeten plötzlich auf der Buchseite sichtbare Manifestation des göttlichen Heilsplans. Anders als Joachim machte Guillaume de Saint-Amour zwar davor halt, seine Autorisierung durch Berufungserlebnisse abzustützen – er postulierte an keiner Stelle ein besonderes, individuell erfahrenes Berufungs-, Begnadungs- oder Eingebungserlebnis. Dafür sakralisierte er die theologisch-exegetische Bibellektüre und den Umgang mit der gelehrten Erläuterung in Form der Glossa bis aufs Äußerste, und schrieb so der sich quasi wundersam selbst offenbarenden Schrift eine radikalisierte Autorität zu. Damit präfiguriert er in interessanter Weise die Produktivität wie die Problematiken der ‚proto-fundamentalistischen‘ Schriftlektüren der Reformationszeit. 119 Ob man Guillaume de Saint-Amour nach all seinen komplexen und offenbar stark situationsabhängigen Autoritätskonstruktionen schlussendlich als Vertreter einer genuinen prophetischen Autorrolle einstufen darf, bleibt daher offen. Die apokalyptische Dringlichkeit, die seine Autoritätskonstruktion postulierte, bezieht sich offenbar nicht auf seinen eigenen Status, sondern vielmehr auf die Sache, die er vertrat. Sein Status bleibt dagegen ambivalent. Im Fall Joachims von Fiore war es letztlich die Nachwelt, die ihn dezidiert als Propheten etablierte. Im Fall Guillaumes war das nicht möglich – seine Häresieverurteilung und Entfernung aus Paris verhinderte eine positive Memoria, auch wenn die Universität offenbar sein Eintreten für die korporative Autonomie der Nachwelt untergründig tradierte. Episoden fortgesetzten Streits zwischen Bettelorden und Weltkle116 Vgl. ingesamt Guillaumes Argumentation ebd. 118, 120–121, in der er die Schriftkundigen von der

breiten Masse abhebt. 117 Ebd. 118: Per eundem modum dicimus, quod Scripturae memorata pericula designantes, quae, vt

dictum est, aliquando, & aliquibus clausae fuerunt, nunc aperiri videntur per quorundam scripta in Scripturis diuinitus praesignata, quae nostris temporibus quasi manifestari videntur, vt infra, opitulante Domino, plenius ostendetur. 118 Ebd. 113. 119 Vgl. dazu nur James Simpson, Burning to Read. English Fundamentalism and its Reformation Opponents, Cambridge, MA 2007.

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rus im 15. und 16. Jahrhundert bereiteten Guillaumes Andenken neu auf und feierten ihn nunmehr als Helden. 120 Seine Argumente hatten sich allerdings schon längst selbständig gemacht. Ähnlich wie die echten und falschen Hildegardprophezeihungen wurden sie aufgrund ihrer hochgradigen Eignung als Propaganda gegen geistliche Gegner in den verschiedensten Streitigkeiten des Spätmittelalters und der Reformation wieder und wieder verwendet. 121 Guillaumes eigene Werke verharren dagegen wie er selbst bis heute im Grenzland zwischen Prophetie und Exegese. Seine Selbstverortung stellt für die an geradlinige scholastische Argumentation gewöhnte Prophetieforschung nicht zuletzt in methodischer Hinsicht eine interessante Herausforderung dar. Für weitere Forschungen ergibt sich die Arbeitsaufgabe, die eher praktischen Strategien der Selbstinszenierung Guillaumes weiter zu verfolgen und zu kontextualisieren – besonders seinen fast schon zur Karikatur gesteigerten Gebrauch von Bibelworten, von denen seine Schrift und Rede geradezu troff. Ähnliche Strategien des Sprachgebrauchs ließen sich auch bei anderen Autoren der Zeit auffinden, nicht zuletzt bei Franziskanern. Vor diesem Hintergrund gewinnt jedoch auch die betont philosophische, von wissenschaftlichen Fachtermini geprägte Sprache einiger anderer Theologen neue Kontur, in vorderster Linie die des Dominikaners Thomas von Aquin, die durchaus einen bewussten Kontrast zu Sprachpraktiken und Autorschaftskonzepten Guillaumes pflegen mögen. An die Stelle der geradlinigen Erklärungen der älteren Geistesgeschichte wird man zur Beschreibung solcher Transfer- und Abgrenzungsprozesse flexiblere Konzepte wie den Denkrahmen fortgesetzter ‚Grenzarbeiten‘ setzen müssen. 122 In den hier im kleinräumigen Detail beobachteten kontext- und mediengebundenen Abgrenzungsprozessen wären dabei für die moderne Forschung sogar größere strukturelle Prozesse zu verfolgen: Mit seinen unruhigen Neuverhandlungen der Grenze zwischen Prophetie und Exegese arbeitete Guillaume de Saint-Amour letztlich auch die Grenzen des religiösen und wissenschaftlichen Felds neu auf. Im Gegensatz zu vielen monastischen und ordensgebundenen Propheten und Prophetinnen, Visionären und Visionärinnen tat er dies von der Seite der universitären Wissenschaft aus. Dies mag ungewöhnlichen Umständen geschuldet sein, macht ihn für Grenzbetrachtungen zwischen Literatur-, Religions- und Wissensgeschichte aber umso interessanter.

120 Vgl. neben der Literatur oben in Anm. 4 bes. Nancy McLoughlin, „Gerson as a preacher in the

conflict between Mendicants and Secular Priests“, in Brian P. McGuire (Hg.), A companion to Jean Gerson (Brill’s Companions to the Christian Tradition 3), Leiden 2006, 249–293; Andrew G. Traver, „Secular and Mendicant Masters of the Faculty of Theology at the University of Paris, 1505–23“, in The Sixteenth Century Journal 26 (1995), 137–155. 121 Vgl. bes. Penn Szittya, Antifraternal tradition. 122 Vgl. wie oben bes. Astrid Reuter, „Grenzarbeiten am religiösen Feld“.

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Verheißung als Erfüllung Zur Transformation prophetischer Autorschaft um 1300

I. Konfliktszenarien Zur Konstruktion prophetischer Autorschaft gehört eine paradoxe Spannung von Demut und gewusster Exklusivität. Der Prophet, zur Aufdeckung von Verborgenem und Künftigem berufen, versteht sich als bloßes Gefäß, als Sprachrohr, Medium, Werkzeug Gottes, doch gleichzeitig mit dieser dienenden Vermittlungsfunktion beansprucht er aktive Deutungsmacht und exklusive Autorschaft. Nicht anti-institutionell, aber im Kern institutionsfremd, verkörpert er geradezu prototypisch die Paradoxie eines notwendig institutionstranszendenten Kerns von Institution. 1 Denn das, was ihn einerseits auszeichnet und religiös qualifiziert (Erwählung, Inspiration, Charisma), ist nach der anderen Seite der Institution zugleich das, was ihn ausschließt. So wie allgemein die Exklusivität von Heiligkeit auf Exklusion beruht, schließt auch der Sonderfall prophetischer Erwählung Absonderung ein, Ausgrenzung, Abweichung. Der Prophet ist ein Warner und Mahner, kein freier Dissident, aber einsamer Rufer in der Wüste (Jes 40,3), verkannt im eigenen Land (Mk 6,4). Aus dieser inneren Spannung von Offenbarungsevidenz und Auslegungsbedürftigkeit, von Heiligkeit und Devianz resultiert das „sittlich-religiöse Pathos“ des Propheten, 2 der als Empfänger einer Gottesbotschaft im überlegenen Verkündigungs1 Peter von Moos, „Krise und Kritik der Institutionalität. Die mittelalterliche Kirche als ‚Anstalt‘ und

‚Himmelreich auf Erden‘“, in Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln [u.a.] 2001, 293–340, hier 336. Vgl. außerdem: Franz J. Felten/Annette Kehnel/Stefan Weinfurter (Hgg.), Institution und Charisma. Fs. Gert Melville, Köln/Weimar/Wien 2009, 571–588. 2 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken, Darmstadt 91994, 287 (11925). Zuletzt hat Markus Höfner dafür plädiert, Cassirers symboltheoretische Innovationen gegen seine idealistischen (neukantianischen) Prämissen stark zu machen: Sinn, Symbol, Religion (Religion in Philosophy and Theology 36), Tübingen 2008. Cassirer beschließt den

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Gestus von ‚Ich aber sage Euch‘ die geltende politisch-symbolische Ordnung umkehrt und dabei zwei zentrale Aspekte von Autorschaft: Zeugenschaft und Urheberschaft, stufenlos ineinander umschlagen lässt; stufenlos zumindest in der Außenwahrnehmung der Adressaten. 3 Vor diesem Hintergrund einer höchst ambivalenten Konzeption von Autorschaft liegt es auf der Hand, dass der Prophet in seiner Doppelrolle als Subjekt und Medium göttlicher Selbstauslegung seinerseits deutungsbedürftige, dunkle Rede produziert, die, indem sie Kontingenz geist-inspiriert bannen will, neue Kontingenz heraufbeschwört, mit dem Effekt, dass der sermo propheticus sich geradezu zwingend fortwährend selbst reproduziert. 4 Und weil in der christlichen Tradition Prophetie als Verkündigung (praenuntiatio) oder Verheißung (promissio) nicht auf den Zukunftsaspekt beschränkt ist, sondern sich retrospektiv und prospektiv auf alle Zeitstufen ausdehnen kann, die Reduktion von Sinndefiziten also das Vergangene und Gegenwärtige mit einschließt, sind die theologischen, poetologischen, handlungspraktischen, herrschafts- und gesellschaftspolitischen Implikationen prophetischer Autorschaftskonzepte, allen historisch-kulturellen Unterschieden zum Trotz, so gravierend. 5 Eben diese umfassende, göttlich garantierte Deutungsmacht des Propheten ist zugleich seine Schwäche. Gerade die widersprüchliche Voraussetzung einer gleichzeitig reduzierten und potenzierten Autorschaft macht den Propheten als Vermittler gottunmittelbarer Wahrheit so unanfechtbar wie verdächtig. Eine ungeschützte Stelle im prominenten Son-

zweiten Teil von Das mythische Denken mit Überlegungen zu Prophetie und Mystik, die, so der Ausgangspunkt seiner Argumentation, jeweils auf den „reinen Sinn“ der Religion zielen. Prophetie und Mystik gelten Cassirer nicht als Grenzfall, sondern – offen fortschrittsteleologisch – als Zielvorstellung des religiösen Gesamtprozesses symbolischer Repräsentation, wenn auch, aufgrund einer zugestandenen Unhintergehbarkeit von Repräsentation, als uneinholbare Zielvorstellung (298f.). 3 Vgl. die Richtigstellung in Apc 19,10: Nicht mich betet an, testimonium enim Iesu est spiritus prophetiae. 4 Prophetische Verkündigung ist nie selbstevident, sondern zieht Exegese nach sich, die ihrerseits Prophetie sein kann, also auslegungsbedürftig ist, usf. Auf diese Weise ergeben sich regelrecht Prophetieketten infolge von (je neu ausgelegten) neutestamentlichen Auslegungen alttestamentlicher Propheten. Zu dieser nicht nur theologie- und spiritualitätsgeschichtlich, sondern auch literarisch außerordentlich produktiven Dynamik vgl. den historischen Überblick über verschiedene Akzentuierungen des Autortyps Prophetie seit der christlichen Spätantike von Christel Meier, in diesem Band. 5 Reduziert ist der Autor-Aspekt ‚Urheberschaft‘, potenziert der Aspekt ‚Zeugenschaft‘, beide Male mit dem Argument göttlicher Inspiration. Zu den jüdisch-christlichen Prophetie-Vorstellungen vgl. Klaus Koch, „Propheten/Prophetie II. In Israel und seiner Umwelt“, in Theologische Realenzyklopädie 27 (1997), 477–499; Gerhard Dautzenberg, „Propheten/Prophetie IV. Neues Testament und Alte Kirche“, in ebd. 503–511. Zur biblisch geprägten Rolle des Propheten als Zeuge (testis) und mediator inter Deum et populum, legitimiert durch Sendung (a Deo missus) und wahre Lehre (veritas doctrinae), Marianne Schlosser, Lucerna in caliginoso loco. Aspekte des Prophetie-Begriffes in der scholastischen Theologie (Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes N.F. 43), Paderborn [u.a.] 2000, hier 301 f.; zum 12.–14. Jahrhundert auch Jean-Pierre Torrell, Recherches sur la théorie de la prophétie au Moyen Age. XII e–XIV e siècles. Études et textes (Dokimion 13), Fribourg 1992; zu den ordenspolitischen Spannungen des Prophetiekonzepts im Spätmittelalter auch der Beitrag von Sita Steckel, in diesem Band.

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derstatus prophetischer Autorschaft ist dabei weniger, dass der Wahrheitsgehalt prophetischer Voraussagen sich als Erfüllung weltimmanent erst in der Zeitform der ‚vergangenen Zukunft‘ entscheiden kann oder, noch unsicherer, Prophezeiungen sich ohnehin nicht in jedem Fall (man denke an die Jona-Prophetie) über das Kriterium der Erfüllung als wahr erweisen. 6 Der blinde Fleck in der jüdisch-christlichen Vorstellung von Prophetie liegt vielmehr darin, dass ‚Sinn‘ im Akt prophetischer Offenbarungs-Auslegung auf sehr verschiedenen Ebenen (re-)produziert wird, im breiten Spektrum ontologischer, heilsgeschichtlicher, exegetisch-hermeneutischer Sinnbezüge, die für das verbum inspiratum des Propheten nicht weniger eng ineinandergreifen als die Autorschaftsanteile des auctor divinus und auctor humanus, weswegen, wie eingangs angedeutet, prophetische Verkündigung nie zu Ende kommen, ihr Wahrheitsanspruch in der ‚Welt‘ nie vollständig beglaubigt werden kann. So bezieht sich die Erzeugung (in religiöser Binnenperspektive: die Bezeugung) von metaphysischem Sinn (‚Wahrheit‘) durch die Propheten zum einen auf die Ereignisse der Heilsgeschichte (res, facta), zum andern auf deren heilsgeschichtliche Bedeutung (figura), drittens auf die Auslegung von heiliger Rede bzw. Schrift (verba, dicta), also auf textuellen, auch intertextuell vervielfältigten Sinn, konkret: auf heidnische oder biblische Prophetien und deren patristische oder nachpatristische Auslegung. 7 Die grundsätzliche Unabschließbarkeit religiöser Symbolisierungsprozesse wird im Fall der christlichen Prophetie mit ihrer ambivalenten Funktion der Vermittlung von Unmittelbarkeit also insofern spezifisch, als gerade hier, im Geltungsbereich einer Buch- und Offenbarungsreligion, der absolute Wahrheitsanspruch (der Unmittelbarkeits- und Totalitätsanspruch ‚reinen‘ Sinns) und der relative Wahrheitsanspruch (gestufte Sinnansprüche unhintergehbarer, unabschließbarer Auslegung) strukturnotwendig nicht zur Deckung kommen können. Umso emphatischer, geradezu aemulativ im Modus einer ausdrücklichen imitatio prophetarum, wird seit Cassiodor die ‚unverrückbare Wahrheit‘ prophetischer Erkenntnis beschworen, 8 begleitet von unablässigen Bemühungen, ‚wahre‘ von ‚falschen‘ Prophe6 Marianne Schlosser, Lucerna in caliginoso loco, 161–172. 7 Mit Bezug auf Cassiodor Christel Meier, „nova verba prophetae“ (in diesem Band). Für die frühe

Neuzeit Ralph Häfner, Götter im Exil. Frühneuzeitliches Dichtungsverständnis im Spannungsfeld christlicher Apologetik und philologischer Kritik (ca. 1590–1736) (= Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext, Bd. 80), Tübingen 2003, v. a. 249–421 (zur kritischen Rezeption der christlichen Allegorese heidnischer Prophetien noch im späten 17. Jahrhundert) und 423–575 (‚Poesie und Prophetie: Von ersten und letzten Dingen‘). Außerdem: Ulf-Michael Schneider, Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten im 18. Jahrhundert, Göttingen 1995; Daniel Weidner, „Parodie und Prophetie. ‚Literarische Säkularisierung‘ in Heines biblischer Schreibweise 1844“, in Zeitschrift für Germanistik NF 1 (2008), 546–557, mit weiterführenden Überlegungen zur spezifisch literarischen Transformation prophetischer Konzepte und deren Implikationen. 8 Dazu Christel Meier-Staubach, „Ruperts von Deutz literarische Sendung. Der Durchbruch eines neuen Autorbewußtseins im 12. Jahrhundert“, in Wolfgang Haubrichs [u.a.] (Hgg.), Wolfram-Studien XVI: Aspekte des 12. Jahrhunderts. Freisinger Kolloquium 1998, Berlin 2000, 29–52; Udo Kühne, „Die Konstruktion prophetischen Sprechens. Hildegards Sicht der eigenen Rolle als Auto-

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zeiungen über komplizierte Differenzierungsmaßnahmen voneinander abzuheben, wie schon der erste Korintherbrief Prophetie, die die Gemeinde erbauen will, von bloßer „Zungenrede“ unterscheidet, die nur sich selbst erbauen will. 9 Mindestens so groß ist der Druck, den heiklen Übergang von charismatischer Mündlichkeit (‚Ich aber sage euch‘) in institutionelle Schriftlichkeit (‚Was geschrieben steht‘) nach beiden Richtungen zu kontrollieren. 10 König David, figura Christi und Inbegriff des Propheten, singt Lieder; erst recht kommt Jesus von Nazareth als Prophet der Zeitenmitte weitgehend ohne Schrift aus, im evidenten Kontrast zur Umgebung der Pharisäer und Schriftgelehrten. Der Übergang aus der Mündlichkeit prophetischer Offenbarung in Schrift birgt schon deswegen kein geringes Risiko, weil, ungeachtet des göttlichen Schreibauftrags und Anspruchs inspirierter Autorschaft, im anderen Medium der Schrift der Wahrheitsgehalt der Prophetie jederzeit verloren gehen oder zumindest unverständlich werden kann. Die Spannung von Rede und Schrift scheint im Fall der Prophetie schon deswegen unhintergehbar, weil ‚reines‘ Charisma sich zu verflüchtigen droht, umgekehrt institutionelle Heilsverwaltung ohne Charisma leer bleibt. 11 Die Aporien unendlicher Zeugenschaft lassen sich daher sys-

rin“, in Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 46 (1999), 67–78, bes. 75f. So wird Hildegard in der „Vita sanctae Hildegardis“ als nostra prophetissa in der Rolle der alttestamentlichen Prophetin Debora inszeniert (vgl. 76). Eine ähnlich sekundäre Re-Institutionalisierung von Charisma versucht der Redaktor in der lateinischen Vorrede zum „Fließenden Licht der Gottheit“, wenn er die Beginen-Autorin Mechthild von Magdeburg als visionsbegabte virgo sancta vorsorglich und ausdrücklich zur Prophetin erklärt (Hic est prophecia de preterito, presenti et futuro): vgl. Mechthild von Magdeburg, Das Fließende Licht der Gottheit, hg. von Gisela Vollmann-Profe (Bibl. des Mittelalters 19), Frankfurt a.M. 2003, 12,2f.; umgekehrt sind in Kap. III,20 fünf Propheten als „Erleuchter“ des Buches angeführt. – Auch Legendenheilige werden bevorzugt zu Propheten gemacht. So hat schon um 511 Eugipp den heiligen Severin konsequent als vir propheticus (25,5) großflächig, ja geradezu textkonstitutiv auf allen Ebenen ausgestaltet (Eugippius, Vita Sancti Severini. Das Leben des heiligen Severin. Lateinisch/Deutsch, übersetzt und hg. von Theodor Nüsslein, Stuttgart 2004). Bereits zu Beginn seiner Vita eingeführt als Heiliger mit prophetischer Begabung (coepit tota mentis humilitate praedicere 1,2), besiegt Severin die Feinde durch seine Kunst prophetischer Rede (5,2–4), wird vom Rugierkönig Flaccitheus „wie ein himmlisches Orakel“ um Rat gefragt (tamquam caeleste . . . oraculum 5,1), sagt den jugendlichen Odoaker als künftigen Herrscher voraus (7), bewährt sich durch seine prophetische Gabe (prophetiae gratia praedito 9,1) beim Loskauf von Gefangenen, errettet als Mann Gottes „wie gewohnt weissagend“ (solita vir dei revelatione 24,1) eine ganze Stadt vor der Gefangennahme, wird angesichts seines Wunderwirkens mit alttestamentlichen Propheten verglichen (28,5), bis seine Weissagungen sich schließlich auch nach seinem Tod gattungsgemäß zur Bestätigung seiner sanctitas alle erfüllen (44,5). 9 Vgl. 1 Cor 14,3f.: nam qui prophetat hominibus loquitur aedificationem et exhortationem et consolationes, qui loquitur lingua semet ipsum aedificat. 10 Vgl. Mt 5,20 f. Dazu im Überblick Marianne Schlosser, Lucerna in calignoso loco, 253–310 (‚Discretio spirituum – Wahre und falsche Prophetie‘). 11 Dazu auch Peter Strohschneider, „Religiöses Charisma und institutionelle Ordnungen in der UrsulaLegende“, in Franz J. Felten/Annette Kehnel/Stefan Weinfurter (Hgg.), Institution und Charisma, 571–588.

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temimmanent kaum überzeugend bewältigen, allenfalls überspringen. 12 Kurz, der Konflikt zwischen Evidenz und Auslegung, ‚reinem‘ Offenbarungssinn und relativem Auslegungssinn kommt nicht zur Ruhe. Dieselbe Institution, die sich aus prophetischem Charisma speist, muss dieses je neu negieren oder distanzieren. Selbst die im Spätmittelalter geradezu obsessive ‚Unterscheidung der Geister‘ (discretio spirituum) vermag die verwirrende Vielfalt von ‚Sinn‘-Ebenen prophetischer Autorschaft nicht restlos aufzuheben, und so bleibt, gerade weil die Kommunikation zwischen Gott und den Menschen nicht über ‚Schläuche‘ funktioniert, wie die Gefäß- und Sprachrohr-Metapher der christlichen Inspirationstheorien suggerieren könnte, sondern über ‚Zeichen‘, gerade im Umgang mit Prophetie stets die Frage offen: Gilt die – für die res oder verba auszulegende? – prophezeite Wahrheit nach dem Buchstaben und/oder nach dem Geist, und wenn figurativ, mit welcher Bedeutung (mehreren, äquivalenten? gestuften?) und wenn präfigurativ, für welche Zeitstufe? Hinzukommt: Ist der Prophet, der frühere Propheten auslegt, diesen nicht nur ebenbürtig, sondern aufgrund seiner in der Heilsgeschichte bereits fortgeschrittenen Position immer schon überlegen? So defizient er als Objekt göttlichen Heilshandelns (instrumentum deficiens) sich dabei selbst verstehen mag? Das sind heikle Fragen. Und ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Die Glaubwürdigkeit des Propheten ist rasch ruiniert durch die Verführbarkeit allzu prophetiebedürftiger Hörer, die sich mit falschen Hoffnungen, verdrehten Prophetenworten, erfundenen Visionen bereitwillig trösten lassen. Das Gelingen des Sprechakts Prophetie bedarf also nicht zuletzt der Glaubensbereitschaft der Gläubigen, der richtigen, nicht kleingläubigen, nicht leichtgläubigen Glaubensbereitschaft ‚im prophetischen Geist‘. „Wenn sie mir aber nicht glauben?“, fragt Mose den sich offenbarenden Gott (Ex 4,1). Zudem soll der Glauben in Handeln umschlagen: „Siehe, du bist ihnen wie einer, der von Liebe singt, eine schöne Stimme hat und das Saitenspiel versteht; sie hören deine Worte, aber sie handeln nicht danach. Trifft es aber ein – siehe, es trifft ein –, da werden sie erkennen, daß ein Prophet in ihrer Mitte war.“ (Ezechiel 33,32 f.). Und eine letzte kaum kontrollierbare Spannung bleibt noch übrig: Der Prophet genießt umso mehr Ansehen, je weniger man ihn versteht. Doch die Dunkelheit seiner Rede, die als Indiz einer Diskrepanz zwischen göttlicher Botschaft und menschlichem Verstehen

12 Christliche Prophetie versteht sich zwar als unverrückbar wahres Offenbarungswissen, als ausle-

gungsbedürftiges Wissen unterliegt sie jedoch zugleich der Täuschungsanfälligkeit, also dem Komparativ einer mehr oder weniger wahren Wahrheit. Vgl. Meister Eckhart, „Die rede der underscheidunge“, Nr. 15: „Von zweierleie sicherheit des êwigen lebens“, in Meister Eckhart, Werke II: Traktate. Lateinische Werke, Texte und Übersetzungen von Ernst Benz [u.a.], hg. und kommentiert von Niklaus Largier (Bibliothek des Mittelalters 21), Frankfurt a.M. 1993, 376,26–380,9: Es gebe zweierlei Wissen vom ewigen Leben. Erstens das durch Gott oder einen Engel oder eine besondere Erleuchtung geoffenbarte Wissen (das sei jeweils exklusiv und selten), zweitens, sicherer, weil untrüglich und außerdem für alle „Vollkommenen“ zugänglich, ein Wissen aus einer Art habitueller Vertrautheit (von minne und von heimlicheit 378,5) mit Gott: Disiu sicherheit ist verre mêrer, ganzer und wârer dan diu êrste und enmac niht getriegen. Aber daz sagen möhte getriegen und wære lîhte ein unreht lieht (378,20–22). (Largier gibt den mittelhochdeutschen Text nach: Meister Eckhart, Die Deutschen und lateinischen Werke, Stuttgart 1936ff. Die deutschen Werke).

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gerade die Dignität des Gesagten bezeugen will, kann jederzeit umschlagen ins Gegenteil des Verdachts bloß eigenmächtiger, raffinierter oder naiver Sinnverdunkelung. Für die Autorrolle des christlichen Propheten ergibt sich damit auf mehreren Ebenen eine charakteristische Ambivalenz. Im hochgradig ‚wahrheitshaltigen‘ Genus der Prophetie (ueriloquum dicendi genus 13) muss der Anspruch des Verfügens über absolute, singuläre Sinnfülle je neue Sinndefizite produzieren, neue Auslegungen, neue Dunkelheit. Umso leichter wird die Dunkelheit heiliger Sinnfülle verwechselbar mit der Dunkelheit eines bloß obskuren Sinndefizits. Diese Dynamik kommt auch dort nicht zur Ruhe, wo der Widerspruch, zumindest in der theologischen Binnenperspektive, aufgefangen wird über prominente Vermittlungsmodelle wie über das Konzept der inspiratio divina, der Vorstellung einer Doppelautorschaft von Mensch und Gott im Modus der ‚Geistanhauchung‘ (aspiratio) und visionären Entrückung, über die Inszenierung eines göttlichen Schreibauftrags oder auch über die programmatische Pluralisierung und Prozessualisierung von Offenbarungssinn auf eine Art Fernziel der Evidenz hin (interpretatio ad evidentiam). So wie die Erzähler christlicher Ursprungsgeschichten an der Paradoxie leiden, dass sie das Gewordensein des kategorial Neuen wieder unsichtbar machen müssen im Blick auf den absoluten Ursprung einer creatio ex nihilo, müssen umgekehrt prophetische Zukunftsdeutungen verdecken, dass sie über etwas sprechen, wovon sie eigentlich nichts wissen können: Geheimes, Künftiges, Endzeit im Doppelsinn von Vollendung und Ende der Zeit. Umso dringlicher müssen die Propheten sich legitimieren. Sie tun das nach zwei Seiten, indem sie einerseits eine Dauerreflexion auf invariablen (Cassiodor: „unverrückbar“) wahren Sinn institutionalisieren, anderseits charismatisch, je neu und momenthaft Sinn vergegenwärtigen 14 und mit ihrer Person dafür einstehen. Prophetieskepsis richtet sich daher nie, auch nicht im Mendikantenstreit des 13. Jahrhunderts, nur auf den Status von Autorschaft oder den Wahrheitsgehalt der Lehre (doctrina), sondern immer auch und vor allem auf das Ethos, die Lebensführung und innere Haltung (mores) des Propheten selbst. Vor dem Hintergrund von dessen ungesicherter Zwischenstellung zwischen Charisma und Institution wird nicht nur die Affinität von prophetischem (visionärem, kerygmatischem) und poetischem Sprechen nachvollziehbar – besonders prominent im Poeta vates-Konzept oder in der Sängerrolle des Propheten David –, sondern darüber hin13 Magnus Aurelius Cassiodorus, Expositio Psalmorum I–LXX, hg. von Marcus Adriaen (Corpus Chris-

tianorum. Series Latina 97), Turnhout 1958, 8f. 14 Thomas von Aquin koppelt auch terminologisch die Verkündigungsfunktion der Predigt (praedicatio

als erbauliche und exhortative instructio qua Schriftauslegung) eng an prophetische Rede (exponere et exhortari, quod est prophetare, Summa theologica III, q. 67 a.1, ad 1); vgl. dazu Burkhard Hasebrink, Formen inzitativer Rede bei Meister Eckhart. Untersuchungen zur literarischen Konzeption der deutschen Predigt, Tübingen 1992 (Texte und Textgeschichte 32), 3–8. Zur topischen Forderung nach dem Einklang von Leben (vita) und Lehre (verba) in der mittelalterlichen Predigttheorie vgl. Rüdiger Schnell, „Von der Rede zur Schrift: Konstituierung von Autorität in Predigt und Predigtüberlieferung“, in James F. Poag/Claire Baldwin (Hgg.), The Construction of Textual Authority in German Literature of the Medieval and Early Modern Periods, Chapel Hill/London 2001, 91–134 (concordia actionum cum verbo, 94).

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aus auch die Spaltung des prophetischen Sprechakts in argumentativ distinkte, instruktive Rede einerseits, in eine „dunkle“, „süße“ Rede anderseits, die sich selbst unverständlich oder schwerverständlich macht. 15 Sinnzuschreibung und Sinnentzug ergeben so auf allen Ebenen prophetischer (Selbst-)Inszenierung ein fließendes Kontinuum. Von diesem Konfliktmodell prophetischer Autorschaft gehe ich aus. Der heikle Zwischenstatus zwischen Charisma und Institution bringt Propheten aller Kulturen und Epochen schneller, als ihnen lieb sein kann, in den Verdacht von Selbstcharismatisierung, von unberufener, ungebetener, unautorisierter Pseudoprophetie. Dieses immanente Risiko unterscheidet religiöse Prophetie von profaner Prognostik (die auf andere Weise scheitern kann). Jedenfalls scheint es in den Grenzen des religiösen Systems als Risiko nicht vollständig auflösbar, weder durch den Entschluss zu vorbehaltloser Glaubensbereitschaft auf Seiten der Adressaten (vielleicht lassen sie sich ja doch täuschen?), noch durch institutionelle Disziplinierung prophetischer Autorschaft (wie sollte Autoritätsanmaßung aus Hochmut oder Geltungsdrang von außen identifizierbar sein?), schon gar nicht durch Vorsichtsmaßnahmen auf Seiten der Propheten selbst, die sich – glaubwürdig? oder höchst durchsichtig? – quer durch die Epochen und Kulturen größte Mühe geben, ihren Wissens- und Wahrheitsvorsprung als vorläufig und bloß transitorisch, ihre Deutungsaktivität als demütige Zeugenschaft, ihre prophetische Begabung als gnadenhafte Wundergabe zu autorisieren. 16 Zur Selbstdarstellung des Propheten gehört es, sich möglichst sorgfältig auf der Grenze zwischen göttlicher und menschlicher Autorschaft zu positionieren und das eigene prophetische Sprechen als diskursive Rede unter der paradoxen Bedingung der Nichtdiskursivierbarkeit des Erkannten auszuweisen. 17 Nach jedem Systemzusammenbruch muss daher nur konsequent die Grenze zwischen ‚wahrer‘ und ‚falscher‘ Kunst prophetischer Rede neu gezogen werden. Die „Enteignung der Wahrsager“ 18 mag mit der kaiserlichen Wissensmonopolisierung der römischen Spätantike in der Epoche von Diokletian bis Theodosius zu Ende sein, doch für die christ15 Christel Meier, „nova verba prophetae“ (in diesem Band), zu Origenes’ Bestimmung von Prophetie

als suauis dictio caelestis doctrinae. 16 Rainer Warning hat diese Spannung vor kurzem rekonstruiert und interpretatorisch fruchtbar

gemacht: „Berufungserzählung und Erzählerberufung. Hartmanns ‚Gregorius‘ und Thomas Manns ‚Der Erwählte‘ “, in Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 85 (2011), 283–334; dazu, in anderer Perspektive, Susanne Köbele, „Die Illusion der ‚einfachen Form‘. Über das ästhetische und religiöse Risiko der Legende“, in Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 134 (2012), 365–404. 17 So betrifft die Kennzeichnung von Rede als ‚prophetisch‘ nicht zufällig diskursiv unaufgelöste Problemstellen (z. B. „Wunder“), sinn-unterdeterminierte Situationen wie die Vorstellung des absoluten Anfangs (Schöpfung) und die Genese des Bösen (Paradiesverlust) oder sinn-überdeterminierte Situationen wie die Erlösung (Inkarnation) und Vollendung am Ende der Zeit (Apokalypse). 18 Marie Theres Fögen, Die Enteignung der Wahrsager. Studien zum kaiserlichen Wissensmonopol in der Spätantike (stw 1316), Frankfurt a.M. 1997: „Es ist Sache des einen Gottes und des einen Kaisers, die Menschheit von der Vielfalt der Interpretationen zu befreien, die die letzten Heiden und ersten Häretiker – die haruspices, die Astrologen, die Magier, die Deuter und Philosophen – unermüdlich produzierten“ (320).

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lichen Propheten – im ‚alten‘ Sprachspiel als „gleichsam himmlisches Orakel“ umbesetzt (quasi caeleste oraculum [Anm. 8]) – hält systemintern der Legitimierungsdruck schon deswegen an, weil die Konkurrenz der Deuter und ‚Deuter der Deuter‘ sich unter christlichem Vorzeichen so unübersichtlich vervielfältigt wie die der Deutungsalternativen selbst. 19 Die spätmittelalterliche Visions- und Prophetieskepsis, 20 gleich ob sie sich gegen die Ubiquität spezifisch weiblicher prophetischer Aktivität oder einflussreiche joachimitisch 21 geprägte prophetische Konzepte richtet, ist ein Symptom für diese offene Konkurrenz um religiöse Legitimität. Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten tritt immer deutlicher heraus: Christliche Prophetie bezieht sich höchst vieldeutig auf eine paradoxe Gegenwart bereits vergangener Heilszukunft. Die besondere Komplexität des christlichen Entwurfs von Prophetie scheint darin zu liegen, dass im christlichen Zeituniversum Vergangenheits- und Zukunftsreferenz spezifisch ineinandergreifen, worauf bereits Gregor mit seinem ausdrücklichen Entwurf einer Konkordanz der drei prophetischen Zeiten reagiert. 22 Als Prophet der Zeitenmitte auf der Schwelle von Verheißung und Erfüllung gilt Jesus von Nazareth. Über seine Davidssohnschaft wird er zum Verheißungsträger, der einer19 So gibt etwa Gregors Auslegung des Propheten Ezechiel Hildegard von Bingen Gelegenheit, Gre-

gors Prophetenbuch-Auslegung als eigene prophetisch-visionäre Bibelauslegung zu re-inszenieren (vgl. den Beitrag Meier in diesem Band), was wiederum die Revelationsliteratur des 13. Jahrhunderts mit eigenen Entwürfen visionärer Autorschaft aufnehmen und transformieren wird, auf die – so ließe sich die Kette fortsetzen – ihrerseits die Dominikanermystik des 13. und 14. Jahrhunderts reagiert. So provoziert das Dilemma unmöglicher Zeugenschaft eine potentiell unendliche Kette prophetischer Wieder-Erzählung und Wieder-Auslegung (Bonaventura hat dafür einen Begriff: dilatatio speculationis, die Seraph-Vision des heiligen Franziskus in seine eigene Geschichte verwandelnd. Dazu Susanne Köbele, „Bonaventura: Itinerarium mentis in Deum (1259)“, in Cornelia Herberichs/Christian Kiening, Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte (MedienwandelMedienwechsel-Medienwissen 3), Zürich 2008, 157–178. 20 Dazu zuletzt Bernard McGinn, „Trumpets of the Mysteries of God: Prophetesses in Late Medieval Christianity“, in Matthias Riedl/Tilo Schabert (Hgg.), Propheten und Prophezeiungen. Prophets and Prophecies (Eranos 12), Würzburg 2005, 125–141. Vgl. auch Werner Williams, „Diese ding sint dennoch nit ware zeichen der heilikeit. Zur Bewertung mystischer Erfahrungen im 15. Jahrhundert“, in Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 80 (1990), 61–71. 21 Alexander Patschovsky, „Prophetie und Politik bei Joachim von Fiore“, in Martin Kaufhold (Hg.), Politische Reflexion in der Welt des späten Mittelalters. Fs. Jürgen Miethke, Leiden [u.a.] 2004, 27–42. 22 Im typologisch-teleologischen Modell der christlichen Heilsgeschichte, die den per Prophetie vorweggenommenen Erlöser auf die Erde holt, anderseits endzeitvisionär sein Kommen auslagert, ist auf einer ganz grundsätzlichen Ebene Zukunftsdeutung immer auch Deutung von Heilsvergangenheit und Heilsgegenwart. Zum spezifischen Prophetie-Modell Gregors vgl. den Beitrag von Christel Meier, „nova verba prophetae“ (in diesem Band), S. 76ff. Zu einer im anderen Kontext der Weltchronistik angesiedelten contemporalitas regnorum vgl. Anna-Dorothee von den Brinken, „Contemporalitas regnorum. Beobachtungen zum Versuch des Sigebert von Gembloux, die Chronik des Hieronymus fortzusetzen“, in Dieter Berg/Hans-Werner Goetz (Hgg.), Historiographia mediaevalis. Studien zur Geschichtsschreibung und Quellenkunde des Mittelalters. Fs. Franz-Josef Schmale, Darmstadt 1988, 199–211.

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seits als Erfüller des Alten Bundes spricht (Joh 15,25), anderseits als Verkündiger des noch ausstehenden Neuen. Anders gesagt: Nur Jesus ist als vir propheticus zugleich seine eigene Erfüllung. Biblische Urszene für diese Schwellenprophetie Jesu zwischen Verheißung und Erfüllung ist Lk 24,44ff. Der Auferstandene erscheint den Aposteln und gibt ihnen letzte Weisungen, zunächst im Rückgriff auf ein Selbstzitat: Dies seien seine Worte, die er zu ihnen bereits gesprochen habe, dass nämlich alles erfüllt werden müsse, was bei den Propheten über ihn geschrieben steht (Lk 24,44). Diese Passage prägt die Spannung von Rede und Schrift, quer dazu auch die Spannung von Offenbarung (bzw. Erscheinung) und Auslegung. Denn nach den Eingangsworten öffnet der Auferstandene den Aposteln den Sinn (sensum) für das „Verstehen des Geschriebenen“ und spricht weiter, mit erneutem Verweis auf die Schrift: So stehe es geschrieben, dass Christus leiden und auferstehen werde (24,45 ff.). Bereits in der Binnenperspektive der erzählten Geschichte ergibt sich hier also jener doppelt codierte prophetietypische Zeitmodus zukünftiger Vergangenheit bzw. vergangener Zukunft. Bevor Jesus dann aber als Schrift-Erfüller in den Himmel gehoben wird, sendet er noch ausdrücklich die „Verheißung des Vaters“ (promissum Patris Lk 24,49) auf die Apostel als Zeugen (testes) herab. Diesen Sonderfall einer auf allen Zeit- und Zeichenebenen überdeterminierten Jesuspropheta-auctoritas übernimmt um 1300 Meister Eckhart, der sich in seinen deutschen Predigten nicht damit begnügt, auf Schritt und Tritt biblische Prophetien auszulegen, sondern zusätzlich den ‚Ich aber sage Euch‘-Gestus so weit wie möglich imitiert, die Jesus-typische Gleichnisrede und Rhetorik des Präfigurativen jedoch zurückstellt. Statt die zu verkündigende Wahrheit in Literal- und Spiritualsinn, in ein heilszeitliches Früher und Später auseinanderzulegen, beschwören Eckharts Predigten jenseits dieser Gegensätze eine umfassende Differenzlosigkeit (einunge) und emphatische Kontemporalität (nû, alzemâle). Diese, wie ich meine, über prophetisches Jesus-Charisma inszenierte paradoxe Dynamik muss in den Ohren der Institution notwendig anstößig klingen. Längst hat sich ja der eifersüchtige Kampf um Wissens- und Deutungsmonopole im christlichen Spätmittelalter zugespitzt zur Alternative von Orthodoxie und Häresie. So liegt es auf der Hand, dass dort, wo Glaubwürdigkeit zur Frage auf Leben und Tod wird, die Autorisierungsstrategien 23 für die Autoren entscheidend an Bedeutung gewinnen müssen. Für 23 Vgl. dazu die Einleitung im Band Christel Meier/Martina Wagner-Egelhaaf (Hgg.), Autorschaft. Iko-

nen – Stile – Institutionen, Berlin 2011, 9–27; ebd. außerdem den Beitrag von Andreas Pietsch, „Hoeret myne Kinderen. Autorisierungsstrategien von prophetischen Autoren in der Radikalen Reformation“, 213–230. Zum mittelalterlichen Autorschaftsverständnis vgl. Jan-Dirk Müller, „Auctor – actor – author. Einige Anmerkungen zum Verständnis vom Autor in lateinischen Schriften des frühen und hohen Mittelalters“, in Felix Philipp Ingold/Werner Wunderlich (Hgg.), Der Autor im Dialog. Beiträge zu Autorität und Autorschaft, St. Gallen 1995, 17–31; Elizabeth Andersen [u.a.] (Hgg.), Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, Tübingen 1998; Michel Zimmermann, Auctor et auctoritas. Invention et conformisme dans l’écriture médiévale (Mémoires et documents de l’École des Chartes 59), Paris 2001; Freimut Löser, „Augustinus sprichet. Wann, wie oft und wie genau wird Augustinus im deutschen Werk Eckharts zitiert?“, in Rudolf Kilian Weigand/ Regina D. Schiewer (Hgg.), Meister Eckhart und Augustinus, Stuttgart 2011, 87–136.

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Eckhart ergibt sich damit die paradoxe Lage, dass er sich als Prediger mit demselben ‚Ich aber sage euch‘-Gestus legitimiert, mit dem er sich zugleich um Kopf und Kragen redet. Man wird um 1300 nur wenige Autoren finden, die prophetische Emphase ähnlich zuspitzen wie Eckhart. Frauenlob, mit der Autorschaftsinszenierung in seinen Leichs, gehört dazu. Meine Skizze ist der Versuch, die beiden verschieden gelagerten Fälle von einem bestimmten Punkt aus so zu vergleichen, dass prophetische Autorschaft als textbestimmender Grenzfall sichtbar wird. Sowohl Eckhart wie Frauenlob führen auf je eigene Weise Sprach- und Bildtraditionen an die Grenze ihrer Repräsentationsfunktion, beide transformieren den traditionellen Typus prophetischer Autorschaft durch auffällige religiöse und literarische Modelle heilsgeschichtlicher Synchronisierung. Beide entdifferenzieren aus einer bis dahin unbekannten Steigerung der Perspektive der ersten Person nicht nur das Verhältnis von Verheißung und Erfüllung, sondern auch das Verhältnis von Gott und Mensch: Eckhart als Prediger, Frauenlob als Marienlyriker. Nachfolgend skizziere ich anhand von Textausschnitten diese neue Refunktionalisierung prophetischer Rede um 1300: die Überbietung prophetischer Autorschaft in der Mystik (II), die Überbietung der Dichterseher-Rolle in der Marienlyrik (III). Wie weit der Vergleich trägt, muss sich zeigen. Beide Fälle treffen sich darin, dass mit ihnen das Abweichungspotential von Prophetie – der Spielraum sowohl theologischer wie ästhetischer Devianz – besonders spannungsreich zutage tritt. Literarische und theologische Transgression gehen offenbar Hand in Hand. Zwar hat die Literatur in ihrer „ontologischen Indifferenz“ 24 einen größeren Abweichungsspielraum als diskursive Texte und deswegen im Mittelalter ein umso größeres Legitimationsdefizit, zumal volkssprachliche Literatur, aber es sind ja keineswegs die formvollendeten Verhältnisse poetischer Texte immer schon zwingend die häretische Alternative, als gäbe es eine Art Mechanismus konterdiskursiver Abweichung von der Orthodoxie im Medium literarischer Texte. Ich möchte das Problem dabei nicht auf die vieldiskutierte Frage reduzieren, inwieweit mystische „Erfahrung“ eine Quelle prophetischer Rede sei, auch soll nicht der spezielle Typus prophetisch legitimierter Kirchenkritik für einzelne Autoren anvisiert werden. 25 Stattdessen lenke ich den Blick auf 24 „Als funktionsentlastete Sphäre [. . .] haben die Künste fiktionale Darstellungsformen entwickelt, die

ihnen deshalb einen freien Umgang mit Stoffen von zweifelhaftem Wahrheitswert erlauben, weil sie ihre ontologische Indifferenz, so scheint es, sozial folgenlos und damit unschädlich machen.“ Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a.M. 22012, 18. Differenzierend in historischer Perspektive Jan-Dirk Müller, „Literarische und andere Spiele. Zum Fiktionalitätsproblem in vormoderner Literatur“, in ders., Mediävistische Kulturwissenschaft. Ausgewählte Studien, Berlin/New York 2010, 83–108, hier 108: „Fiktionalität im Mittelalter schließt den affirmativen Bezug auf geltende Ordnungen nicht aus: sie setzt im Rahmen solcher Ordnungen an.“ 25 Mariano Delgado/Gotthard Fuchs (Hgg.), Die Kirchenkritik der Mystiker. Prophetie aus Gotteserfahrung, Bd. I: Mittelalter, Fribourg 2004; Marianne Heimbach, „Der ungelehrte Mund“ als Autorität. Mystische Erfahrung als Quelle kirchlich-prophetischer Rede im Werk Mechthilds von Magdeburg (Mystik in Geschichte und Gegenwart I,6) Stuttgart/Bad Cannstatt 1989, v.a. zu Mechthilds buoch als Erfüllung einer prophetischen Sendung (170ff. und 178ff.). Für Walther zuletzt der Beitrag von Bruno Quast, in diesem Band. In dieses Umfeld gehörte auch Walter von Châtillon, der vor allem mit

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die eingangs entwickelte grundsätzliche Ambivalenz der Konstitutionsbedingungen prophetischer Autorschaft, eine Ambivalenz, in der sich religiöse und literarische Perspektive überschneiden, im schmalen Interaktionsfeld volkssprachlich-lateinischer Diskurse. Meine Frage lautet: Wie wirkt sich die Bedingung einer radikalen Gegenwartsperspektive im je verschiedenen Medium diskursiver und nicht-diskursiver Rede auf den Umgang mit locutio prophetica aus?

II. ‚Ich aber sage euch‘. Verheißung und Heilsgegenwart bei Eckhart Wenn die oben skizzierte Spannung zwischen Verheißung und Erfüllung, Evidenz und Auslegung, gesprochenem Wort und Schrift für die prophetische Praxis zutrifft, wenn sie Auswirkungen auf die Rhetorik prophetischer Sprechakte hat und darüber hinaus auch die Sprecherrolle des Propheten bestimmt und deren paradoxe Dynamik ‚exkludierender Inklusion‘, dann markiert die Mystik hier ohne Frage eine Extremposition, genauer: den spiritualitätsgeschichtlichen und poetologischen Sonderfall des Sonderfalls Prophetie. Denn die Mystik verschiebt das Koordinatensystem zwischen Mensch und Gott so weit, dass die religiöse Leitdifferenz von Transzendenz und Immanenz beinah unsichtbar wird. Dabei ist von entscheidender Wichtigkeit, dass es bei diesem Vorgang mystischer Entdifferenzierung der Zeit- und Zeichenbedingungen nicht um die Leugnung der Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz geht, sondern um die Durchbrechung dieser Grenze. Die Mystiker überschreiten also den traditionellen Typus prophetischer Rede, indem sie deren Vermittlungsleistung unter die selbstwidersprüchliche Voraussetzung zeitenthobener Gott-Unmittelbarkeit stellen, wodurch sich die grundsätzliche Ambivalenz prophetischer Autorschaft – die Vermittlung gottunmittelbarer Wahrheit – noch einmal zuspitzt. Eckharts deutsche Predigten reformulieren in diesem Sinn Glaubensverkündigung konsequent präsentisch. Diese Perspektive einer „mystischen Eschatologie“ 26 ist nur denkbar auf der Basis erstens einer spezifischen Engführung der traditionellen Konzepte von auctor divinus und auctor humanus, zweitens einer Engführung von Auslegung und ‚reiner‘ Evidenz, die die traditionellen Modelle gestufter Wahrheitspartizipation überschreitet, ohne sie ganz preiszugeben. Unter dieser doppelt paradoxen Voraussetzung einer Entzeitlichung von Verheißung und Entdifferenzierung von Auslegung stellt sich die Heilsverkündigungsfunktion der Predigt (praedicare, prophetare, praenuntiare) seinem Gedicht Versa est in luctum (vgl. CB 123) die Rhetorik der prophetischen Autor-auctoritas seiner Zeit nachdrücklich zu prägen scheint (für diesen Hinweis danke ich Frank Bezner, Berkeley). 26 Vgl. Alois M. Haas, „Mystische Eschatologie. Ein Durchblick“, in Jan A. Aertsen/Martin Pickavé (Hgg.), Ende und Vollendung. Eschatologische Perspektiven im Mittelalter, Berlin/New York 2002, 95–114.

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selbst in Frage. Burkhard Hasebrink hat diese Dynamik – die Eckhartspezifische Umformung der traditionellen Predigtfunktionen instructio und aedificatio – mit ihren Auswirkungen auf eine spezifische „Literarizät“ der Texte perspektivenreich analysiert. 27 Ich nehme seine Ergebnisse auf und verbinde sie mit Beobachtungen zur Prediger-Rolle, die bei Eckhart, wie ich meine, spezifisch wird, indem er sie so nah an die Jesus-prophetaRolle heranführt, dass sie sich aus der Sicht der Institution angreifbar macht. Die von mir anvisierte Synchronisierung von Heilsgeschichte im Gestus der JesusRede zeigt sich in zwei Predigten Eckharts, Q 69 und Q 70, 28 die beide dieselbe Prophetie auslegen (Joh 16,16), mit der Jesus den Jüngern unmittelbar vor der Gefangennahme den Abschied (seinen Tod) ankündigt als Geschehen, das „erfüllt“ werden muss (ut impleatur, Joh 15,25), mit der er aber zugleich den Messias ankündigt (sed ego veritatem dico vobis expedit vobis ut ego vadam, Joh 16,7). Dieses Leitzitat beider Predigten lautet: ‚Eine kleine Weile, und ihr werdet mich nicht mehr sehen. Und wieder eine kleine Weile, und ihr werdet mich sehen (Modicum et iam non videbitis me et iterum modicum et videbitis me, Joh 16,16).‘ Beide Predigten sind wohl kurz nach Eckharts erstem Pariser Magisterium entstanden; beide prägt eine „Perspektive radikaler Zeitlosigkeit“ 29. So wundert es nicht, dass Eckhart die biblische Zukunftsdeutung (videbitis) als Gegenwart umdeutet und auch den in der Predigt thematischen Akt des Sehens selbst (die Gottesschau) in eine differenzlose, bildlose Gotteserkenntnis âne mittel überführt. Pr. Q 69 legt, anders als Pr. Q 70, nur den ersten Satz des oben zitierten Leitzitats aus und exponiert das auszulegende Jesuswort wie folgt: Ich hân ein wort gesprochen in der latîne, daz schrîbet sant Johannes in dem êwangeliô, daz man liset von dem suntage. Diz wort sprach unser herre ze sînen jüngern: ‚ein kleine oder ein wênic, und alzehant ensehet ir mich niht.‘ (42,3–6)

Bereits dieser Beginn der Predigt ist bemerkenswert hinsichtlich seiner auktorialen, medialen und hermeneutischen Inszenierung. Nicht weniger als vier Sprechersubjekte lösen sich auf engstem Raum ab. Eckhart beginnt in Ich-Rede mit einem Selbstzitat, das die Spannung von ‚Ich aber sage Euch‘ und ‚Was geschrieben steht‘ in mehrfacher Brechung entfaltet: Er zitiert 1. sich selbst, und zwar als Sprecher des lateinischen Zitats, das 2. ein Schrift-Wort sei (Johannes schreibe es im Evangelium), das 3. „an diesem Sonntag“, also ‚jetzt‘, wieder verlesen werde. Der nächste Satz erzeugt 4. eine noch weiterreichende geschichtliche Tiefe und geht vom Prediger (Ich) über den Evangelisten Johannes und den Lektor in der Messe (man liset) zurück zum Urheber und auctor propheta Jesus: ‚Dieses Wort sprach unser Herr zu seinen Jüngern‘ – erst dann erfolgt die mittelhochdeutsche Übersetzung des Leitzitats, die den Zeitmodus des lateinischen Satzes (videbitis), wie das im Mittelhochdeutschen, das kein synthetisch gebildetes Futur kennt, ebenso ist, offen lässt für eine präsentische oder futurische Lesart (ir sehet). 27 Vgl. oben Anm. 14. 28 Meister Eckhart, Werke II, Texte u. Übers. von Ernst Benz, hg. und komm. von Niklaus Largier, 42–

55 (= Q 69) und 56–63 (= Q 70). 29 Ebd., Kommentar 670.

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Im Weiteren schließt sich eine Auslegung in mehreren Anläufen an, konzentriert auf das Thema der Gotteserkenntnis als unmittelbare „Schau“, wie das Leitzitat es nahelegt. Auch hier, im Fortgang der Predigt, artikuliert sich je neu in überbietender Wiederholung das ‚Ich‘ des Predigers, um sich sofort zurückzunehmen hinter auctoritates, die wiederum das Aufrufen von Gegenautoritäten ermöglichen, was den Anschein erzeugt, als würde ‚die Wahrheit selbst‘ zur Sprache kommen. Auf diese Sprecher-Inszenierung achte ich im Folgenden mehr als auf die inhaltliche Ausführung der Leitthesen der Predigt. Der Schlüsselbegriff ‚Gott sehen‘ (videbitis) wird von Eckhart eingangs als Wissen des ewigen Lebens entfaltet, zunächst gestützt von einem weiteren Johannes-Zitat (17,3), mit dessen Hilfe das Gottsehen als Sehen âne mittel (42,18) bestimmt wird, als unmittelbare Schau unter der Voraussetzung des „Überspringens“ alles Kreatürlichen: Diu sêle, diu got vinden sol, diu muoz überhupfen und überspringen alle crêatûren (44,9 ff.). Dieselbe Entdifferenzierung als Voraussetzung für Einung (rehtiu einunge 46,3) wird dann über ein Konditional im Irrealis formuliert, das den Realitäts- und Zeitstatus der Aussage in der Schwebe lässt und durch ein doppeltes alzemâle die Ewigkeitsperspektive markiert: Waere diu sêle alzemâle entbloezet und entdecket von allem mittel, sô waere ir got entbloezet und entdecket und gaebe sich ir alzemâle. (44,30ff.)

Es folgt eine längere, komplizierte bildspekulative Passage (46,11–30), die Gott, das ewige Wort, als ‚Bild ohne Bild‘ (bilde âne bilde 46,26) fasst und die Bildlosigkeit Gottes auf die Gotteserkenntnis der Seele ausdehnt, die Gott ihrerseits nur bildlos – ohne Vermittelndes – erkenne, und das heißt: über den Prozess einer vernunftgesteuerten Abstraktion vom Hier und Jetzt (daz si abescheidet von hie und von nû 48,2 f.). Dieser Abstraktionsprozess, auf den Eckharts Deutung der Jesusprophetie hinausläuft, wird gestützt durch eine weitere Johannes-Prophetie (1 Joh 3,1: „Wir werden Kinder Gottes geheißen werden“, vgl. 48,17 f.), die Eckhart durch einen gezielten Konstruktionswechsel – die Integration des Zitats in ein erweitertes Konditional – wieder präsentisch reformuliert: ‚Sollen wir denn nun aber Gottes Kinder sein, so müssen wir ihm gleich sein‘ (Suln wir denne gotes kint sîn, sô müezen wir im glîch sîn, 48,18f.). Im Zuge dieser Argumentation bringt Eckhart zwei weitere auctoritates zur Geltung und überbietet 1 Cor 13,12: „Wir werden Gott erkennen, so wie wir von ihm erkannt sind“ mit einem erneuten Johannes-Zitat (1 Joh 3,2: „Wir werden Gott erkennen, wie er ist“). Der letzte Argumentationsabschnitt der Predigt kehrt dann zur These der bildlosen Gotteserkenntnis zurück (52,4–55,5) und veranschlagt die Einsicht, dass Bild und Bild unterschiedslos eins seien, als Quintessenz der gesamten Auslegungsprozedur: in dem hât ir die predige alzemâle: bilde und bilde ist sogar ein und mit einander, daz man kein underscheit dâ verstân enmac (52,5 ff.). Der Sprechgestus steigert sich im Schlussabschnitt erneut: Ich spriche mê (52,11): Gott selber vermag da keinen Unterschied mehr zu erkennen, Ich wil ein wort sprechen (52,19): Die Vernunft als oberste Seelenkraft durchbricht alle Winkel der Gottheit und nimmt den Sohn im Grund als Durchbruch in den göttlichen Grund. Jâ bî guoter wârheit (52,25): sie bricht ein in den göttlichen Grund, Mêr (52,31): die Vernunft scheidet alles ab und dringt

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in die Wurzel ein, aus der der Sohn ausquillt und der heilige Geist ausblüht. Mit dieser Reihe im Präsens formulierter Aussagen schließt die Argumentation der Predigt. Kurt Ruh hat für den Zusammenhang anderer Eckhartpredigten auf die rekurrenten „Sprach- und Denkfiguren“ progressiver Steigerung hingewiesen und diesen Sprechgestus als „fast herausfordernden Persönlichkeitsstil“ Eckharts gedeutet. 30 Ich interpretiere die auffällige Dynamisierung der Sprecherrolle bei Eckhart als Überbietung der Jesusauctoritas. Ein Indiz dafür ist, dass auch der biblische Text im Umkreis des Leitzitats durchsetzt ist mit emphatischen Ankündigungen wie amen amen dico vobis (Joh 16,20 und 23) oder sed ego veritatem dico vobis (Joh 16,7). In Eckharts Predigt entfalten solche Jesus-analogen ‚Ich aber sage Euch‘-Steigerungen für die Relation von Aussage und Äußerung (Eckhart spricht über das abescheiden im Modus der Abstraktion) eine eigene performative Wirkung. Auf diese Weise wird überspielt, dass die Umdeutung der künftigen Schau (videbitis) in zeitlose Gegenwart eine Differenzierung unterläuft, die die gängige Visions- und Prophetie-Auffassung bestimmt: die Differenz von Bild und Bedeutung. 31 Wenn Prophetie traditionell als Auslegung von Geheimem und Künftigem gilt, die in der Vermittlung nur als begrenzte Einsicht in via ex parte weitergegeben werden kann, 32 unterläuft Eckhart im Gestus von Jesus-Prophetie dieses Prophetie-konstitutive Muster gestufter Partizipation. Hinzu kommt, was hier nicht im Detail entfaltet werden kann, eine Logos-metaphysische Grundierung dieser Thesen: „Das ‚Ewige Wort‘ ist gleichzeitig Mittel der Erkenntnis und Bild des Erkannten, mit dem das Erkennende im Erkennen eins ist“ 33. Diese Gleich-

30 Kurt Ruh, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 21989, S. 163. Ruh hat dieses

Gestaltungsprinzip auf Eckharts berühmte Armutspredigt bezogen (Q 52), auf deren Leitthese, solange der Mensch der Wahrheit nicht gleich sei, könne er sie nicht verstehen, denn es sei eine unverhüllte Wahrheit, die unmittelbar aus dem Herzen Gottes komme (164). 31 Die Wahrheit der geschauten Prophetie liege, so die orthodoxe Position, in dem, was sie bedeutet, nicht im geschauten Bild selbst (dies im Anschluss an Augustinus, der eine visio triplex hierarchisch differenziert: niedrige Stufen einer noch bildverhafteten Schau seien die visio corporalis und visio imaginaria, erst die visio intellectualis erkenne „sich selbst“, nicht das Bild, sondern dessen significatio spiritualis, eine Debatte, die von Thomas von Aquin, etwa in seiner Predigt „Attendite a falsis prophetis“, und im volkssprachlichen 13. Jahrhundert v.a. von David von Augsburg aufgenommen wird.) Dazu im Überblick Schlosser, Lucerna in calignoso loco, 269, mit Bezug auf Thomas von Aquin auch 308–310. 32 Marianne Schlosser, Lucerna in caliginoso loco, 311. Vgl. außerdem ebd. 37–126 (Kap. 2: ‚Propheta videns procul‘) 33 Niklaus Largier, Kommentar, in Meister Eckhart, Werke II, 667. Auch Predigt Q 1 (Meister Eckhart, Werke II [Anm. 12], 10–23, hier 20,27ff.) zitiert im letzten Teil eine alttestamentliche Prophetie (Ps 35,10: „Herr, in deinem Licht wird man das Licht erkennen“) und legt sie aus, aber jenseits einer Spaltung in proprie und translate, da auch Jesus immer das spreche, was er ‚ist‘ (18,22ff.: Waz sprichet hêr Jesus? Er sprichet, daz er ist. Waz ist er denne? Er ist ein wort des Vaters.), und zwar auf einmal, ganz, ohne jeden Unterschied. So wird auch diese als figura futurorum formulierte PsalmenProphetie im Mund des mit dem ‚Wort‘ Jesus vereinten Propheten Eckhart zum Ewigkeitstempus Präsens: ‚Da wird Gott mit Gott erkannt in der Seele [. . .] in einfaltiger Einheit ohne jegliche Unter-

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setzung hat Eckhart an anderer Stelle seiner Marienpredigt Q 22 34 in einem pointierten Vergleich konkretisiert, indem er sie auf die Predigtsituation selbst bezieht: Das Aussprechen (das „Gebären“) des göttlichen ewigen Wortes, in dem „wir ein einziger Sohn sein sollen, den der Vater ewig geboren hat“, sei ze glîcher wîs das wort, daz ich nû spriche (gemeint: jetzt, in der Predigt), daz entspringet in mir (254,26–30), das gleichfalls als ausgesprochenes zugleich in mir verbleibe. Auch diese berühmte Predigt Eckharts, die im Ausgang vom Gruß des Engels Lk 1,28 Ave gratia plena über das Eckhartsche Kernthema der je neuen Gottesgeburt in der Seele handelt, schlägt den Bogen von der Schöpfung (als creatio continua) über die Inkarnation (als incarnatio continua) bis zum Ende der Zeit in einer Perspektive radikaler Kontemporalität, im selben Überbietungsgestus von ‚Ich aber sage euch‘-Steigerungen, die nur scheinbar äquivalente Zitatketten je neu in Beziehung setzen, tatsächlich aber in Einheits- und Ewigkeitsaussagen münden (Ich spriche 254,14; Dô sprach unser herre 254,17; Ein meister sprach 260,11; dô sprach ich 260,14; und stât an einer andern stat geschriben 264,4; ich sprach noch mê 264,16, usf.). Eckharts Predigt Q 70 weist zur oben vorgestellten Predigt Q 69 zahlreiche Parallelen auf. Ich gehe hier nur auf Abweichungen ein, wo sie für unseren Zusammenhang von Interesse sind. Das Leitzitat der Predigt wird eingangs nur über zwei (nicht, wie in Pr. 69, vier) Sprechersubjekte eingeführt, doch wird dann die Jesusprophetie Joh 16,16 als kleine biblische Szene kontextualisiert, entfaltet über eine narrative Einbettung im Dialog mit den Jüngern. Die Differenz ‚sagen/schreiben‘ prägt auch hier die Präsentation des Leitzitats, zusätzlich wird die Spaltung von Offenbarung und Auslegung (‚Wir verstehen nicht, was er sagt‘), auch die Spaltung von Autorschaft und Zeugenschaft (‚Dies schreibt Sankt Johannes, der dabei war‘) hier ausdrücklich artikuliert: Unser herr sprach ze sînen jüngern: ‚ein kleine und ein wênic und ein lützel, und ir ensehet mich niht; aber ein kleine, und ir sult mich sehen.‘ Die jünger sprâchen: ‚wir enwizzen niht, waz er saget.‘ Diz schrîbet sant Johannes, der dâ bî was. Dô unser herre ir herze sach, dô sprach er: ‚ein kleine, und ir sult mich sehen, und iuwer herze sol sich vröuen; diu vröude ensol iu niemermê benomen werden.‘ (56,3–9)

Das Lexem videbitis wird auch in dieser Predigt (nach vier Hinsichten) als Gotteserkenntnis im Modus der Unmittelbarkeit ausgelegt. 35 Diese Bildlosigkeit der Seele wird von schiedenheit.‘ (Dâ wirt got mit gote bekant in der sêle [. . .] nach einvaltiger einicheit âne einigen underscheit 20,29–34). 34 Vermutlich gehalten im Zisterzienserinnenkloster St. Mariengarten, vgl. Niklaus Largier, Meister Eckhart, Werke I, Kommentar 935. Die Perspektive der Predigt ist auch hier eine der Gleichzeitigkeit (alzemâle), vorgestellt als überzeitliches Sein: Die Sohnesgeburt erscheint ebenso wie der Schöpfungsprozess als Augenblick zeitloser Einheit; auch die absolute Unbestimmtheit und Empfänglichkeit der Seele bestimmt eine solche Gleichzeitigkeitsperspektive. Dazu Kurt Ruh, Meister Eckhart, S. 137–155. 35 Unter der Bedingung der Ablösung von der Zeit (als Selbstvernichtung) können Gott und Seele sich ohne Vermittelndes (âne allez mittel 60,7), bildlos (mit einem kleinen bildelîne âne bilde 59,34–60,1) einen. Sol ich got bekennen âne mittel und âne bilde und âne glîchnisse, sô muoz got vil nâhe ich werden und ich vil nâhe got, also gâr ein, daz ich mit im würke und niht alsô mit im würke, daz ich

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Eckhart im Folgenden variiert und gesteigert, wobei in dieser Predigt, wie in kaum einer zweiten Eckharts, die einzelnen auctoritates (die besten meister sprechent) in raschem Tempo sich ablösen. So stehen sich gleich zu Beginn in schroffer Entgegensetzung zwei „Meister“-Thesen gegenüber (mit denen Eckhart einen Disput über den Primat von Erkenntnis oder Liebe aus dem Pariser Lehrbetrieb aufnimmt, der im nervösen Reizklima der Inquisition Franziskaner und Dominikaner gegeneinander aufbrachte 36): Ein grôzer pfaffe kam niuwelîche ze Parîs, der was da wider und ruofte und donte gar sêre. Dô sprach ein ander meister wol bezzer dan alle, die von Parîs bezzer hielten [. . .]. (‚Ein großer Pfaffe kam neulich nach Paris, der war dagegen und schrie und tat gar aufgeregt. Da sprach ein anderer Meister besser wohl als alle, die von Paris die bessere Lehre vertraten [. . .]‘, 56,11–15)

Eckhart zitiert doppelstöckig nach dem Muster: ‚Ich habe gelegentlich gesagt, dass Augustinus gesagt hat‘ (56,24f.). Er zitiert als Serie (Johannes, Paulus, Moses „haben gesagt“, vgl. 58,1 und 3: Sant Johannes sprichet offenlîche; 60,32 f.: Sant Paulus sprichet, 62,3: Moyses sprichet). Im letzten Teil der Predigt führt Eckhart zwei Prophetien, die sich auf künftige, unmittelbare Gotteserkenntnis beziehen, an: Joh 3,2 („Wir werden Gott recht erkennen, wie Gott sich selbst erkennt“) und 1 Cor 13,12 („Wir werden Gott erkennen, wie wir erkannt sind.“) Warum? Um sie überbieten zu können mit einer emphatischen ‚Ich aber sage‘-Steigerung, die in einer subtilen argumentativen Differenzierung besteht: ‚Ich aber sage, „wir werden ihn erkennen recht so, wie er sich selbst erkennt“, in dem Abbild, das einzig Bild Gottes und der Gottheit ist, der Gottheit indessen nur, insoweit sie der Vater ist.‘ 37 Das Tempus Futur der Schriftzitate ist dabei noch nicht preisgegeben. Doch abgeschlossen wird die Passage mit einem Satzgefüge, das denselben Gedanken präsentisch reformuliert, dadurch dass eine reduplikative „insofern“-Konstruktion Gleichzeitigkeit herstellt: Soweit nämlich wir diesem Bild gleichen und er das in uns erkennt, ‚soweit erkennen [Tempus Präsens!] wir ihn, wie er sich selbst erkennt‘: als verre bekennen wir in, als er sich selben bekennet (62,19 f.). Über die Entdifferenzierung von Bild und Bedeutung und über progressiv steigernde Jesus-Emphase, wie wir sie schon aus Pr. 69 kennen, ist die eschatologische Perspektive videbitis des Leitzitats entzeitlicht. Es liegt auf der Hand, wer den Standpunkt heilsgeschichtlicher Totalität herstellt: der Prediger. Umso mehr muss er die forcierte Perspektive der ersten Person (ich spriche) immer wieder zurücknehmen (‚der Herr sagt‘; ‚die Meister sagen‘). Eben diese paradoxe Immediatisierung der Gottesbeziehung und gleitenden Sprecherwechsel (Jesusrede, Evangelist, Meister, Lektor in der Messe, Ich) weisen auf die eingangs von mir skizzierte Konfliktkonstellation prophetischer Sprechakte. Offenbarung und Auslegung, Rede und Schrift,

würke und er nâch schürge, mêr: ich würke dâ mite, daz mîn ist. ‚Soll ich Gott unmittelbar und ohne ‚Bild‘ und ohne Gleichnis erkennen, so muss Gott geradezu ich werden und ich geradezu er, so völlig eins, dass ich mit ihm wirke, und zwar nicht so mit ihm wirke, dass ich wirke und er nachschiebe: ich wirke 〈dabei〉 vielmehr ganz mit dem Meinigen‘ (60,11–15). 36 Niklaus Largier, Kommentar, in Meister Eckhart, Werke II, 676f. 37 Nû spriche ich: ‚wir suln in bekennen rehte, als er sich selben bekennet‘ in dem widerbilde, daz aleine bilde ist gotes und der gotheit, niht der gotheit dan als vil, als si der vater ist (62,12–15).

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Verheißung und Erfüllung: die drei Relationen sind hier auf allen Ebenen hermeneutisch, medial und heilsgeschichtlich entgrenzt. Ich versuche ein Zwischenresümee für meinen zweiten Teil. Eckhart entwickelt in der Übernahme der locutio prophetica Jesu eine eigene locutio emphatica, 38 eine Predigtweise, die das zugleich reduzierte und potenzierte Modell prophetischer Autorschaft nach beiden Seiten von Selbstvernichtung und Gotteinung steigert, mit dem Ziel einer Selbstauslegung der Wahrheit jenseits von Vermittlungsmodellen, wodurch der Text seine eigene performative Wirkung entfaltet. Eckhart spricht, nicht zuletzt als Konsequenz seiner Metaphysik der Sohnschaft, 39 als Subjekt und Objekt prophetischer Auslegung, aber so, dass er über diese Alternative hinausgreifen will, nicht gegen sie. Auf diese Begründungsfigur einer Überschreitung einfacher Negationen kommt es an. Eckhart investiert alle rhetorische, terminologische und spirituelle Anstrengung darin, diesen (scheinbaren) Zusammenfall zwei- und dreistelliger Argumente wieder zu enttautologisieren. Seine Transformation prophetischer Autorschaft betrifft also nicht nur die Komplexität historischer Zeichenprozesse und religiöser Praxis, sondern darüber hinaus Techniken intertextueller Verflechtung, die gängige Zitationsmuster durchbrechen und in ihrer grundsätzlichen Beschaffenheit (weniger in Bezug auf die zitierten Referenzen) noch der Erforschung harren. In der aktuellen Sprechsituation der Predigt wird die Zeit zwischen vergangener Prophezeiung und künftiger Erfüllung des Verkündeten übersprungen. Zugleich ist auf der Ebene der Proposition die futurische Aussage des Leitzitats (videbitis) konsequent in eine präsentische überführt. Die Legitimation für diesen Zeitsprung liegt einerseits in der Voraussetzung einer gottunmittelbaren Sprecherposition, anderseits in Eckharts spezifischer Verschränkung von Verbum-Theologie und Predigttheorie. Überspielt werden all diese Ebenenwechsel durch eine geradezu obsessive Verschiebung der Sprecherrollen: Jesus sagt, Johannes schreibt, ich sage, wir hören heute, sie sagen, ich aber sage, usf. Die gleitenden Sprecherwechsel generieren Äquivalenzketten, die mit minimalen Verschiebungen Differenzierungen zwischen Zeichen- und Zeitstufen festhalten, aber fast bis zur Unsichtbarkeit schwächen. Eckhart spitzt es so zu: Gott ist ein ‚Gott der Gegenwärtigkeit‘. 40 Die Kölner Zensoren zweifeln an der rhetorischen Unschuld dieses Begriffs, aber Eckharts Argument ist ganz einfach: Weil es im Verhältnis zum Unbedingten nur eine einzige Zeit

38 Vgl. Susanne Köbele, „Emphasis, überswanc, underscheit. Zur literarischen Produktivität spätmittel-

alterlicher Irrtumslisten (Eckhart und Seuse)“, in Peter Strohschneider (Hg.), Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, Berlin/New York 2009, 969–1002. 39 Vgl. Susanne Köbele, „Metapher und Metaphysik. Spielräume der Argumentation bei Meister Eckhart und Sebastian Franck“, in Johanna Haberer/Berndt Hamm (Hgg.), Medialität, Unmittelbarkeit, Präsenz. Die Nähe des Heils im Verständnis der Reformation (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 70), Tübingen 2012, 285–305, in Auseinandersetzung mit der Position von Kurt Flasch. 40 Meister Eckhart, Werke II, „Die rede der underscheidunge“, 334–433, hier 372,23: Got ist ein got der gegenwerticheit.

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gibt, die Gegenwart, bleibt nur eine emphatische Kontemporalität, die nicht ‚bloß‘ eine figurale sein will und schon gar nicht präfigural. Ein anderer Extremfall zeit- und zeichentranszendenter Heilsvergegenwärtigung ist unter anderen Gattungsbedingungen Frauenlobs Marienleich. Auch Frauenlob lässt die Gottesmutter im Text jeweils zugleich als Objekt von Prophetie (als Präfiguration) und als Propheta (regina prophetarum) selbst zu Wort kommen. Das ist in beiden Fällen nur vorstellbar mit einem Konzept von Offenbarung als göttlicher Selbstauslegung. Thema des Marienleichs ist der zeitlose Moment der Inkarnation.

III. Ich sach, ich binz. Zu Frauenlobs Marienleich 41 Frauenlobs Marienleich lässt sich als umfassende Heilsprophetie auffassen, mit visionärer Rahmung (Ei, ich sach in dem trone I,1), die nach den ersten acht Versikeln gewissermaßen vergessen wird zugunsten einer Kette spektakulärer Selbstauslegungen der Maria (Ich bin ez IX,1). Innerhalb dieser Ich-Aussagen der regina prophetarum Maria (die nie beim Namen genannt wird) mischen sich alttestamentliche und neutestamentliche Prophezeiungen. Narrative Sequenzen aus dem Hohenlied und der Offenbarung des Johannes stehen dabei neben nur kurz anzitierten allegorischen Marienprädikationen, doch Maria rekapituliert gar nicht nur sich selbst als Objekt von Prophetie (als virgo praefigurata 42), sondern spricht zugleich als Subjekt prophetischer Rede. Freilich tut sie das aus dem Mund des Dichtervisionärs, so dass insgesamt heilsgeschichtliche Sukzession und figurale Simultaneität, syntagmatische und paradigmatische Bezüge textübergreifend verwirrend eng ineinander greifen. Es gibt weder ein narratives, noch ein figuratives Kontinuum, aber einen raschen Wechsel thematischer, bildlicher und klanglicher Responsionen. Im Zentrum der insgesamt zwanzig Versikel, deren formale, auch musikalische 43 Komplexität und rhetorische Überdetermination kontinuierlich zunimmt, steht ein sowohl 41 Ich zitiere nach: Heinrich Frauenlob, I [= Marienleich], in Deutsche Lyrik des späten Mittelalters, hg.,

übersetzt und kommentiert von Burghart Wachinger (Bibliothek des Mittelalters 22), Frankfurt a.M. 2006, 364–395. Wachinger gibt den Text nach der Göttinger Ausgabe (= GA) von Karl Stackmann und Karl Bertau. 42 Die lateinische Übersetzung des Textes (leider Fragment) reimt virgo pura:sub figura (II,3:10), in Frauenlob (Heinrich von Meissen), Leichs, Sangsprüche, Lieder. Auf Grund der Vorarbeiten von Helmuth Thomas hg. von Karl Stackmann/Karl Bertau (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philol.-hist. Kl., 3. Folge, Nr. 119 und 120), 2 Teile, Göttingen 1981, hier Teil 1, 284–290, hier 284. Geistliche Vorbilder für die Ich-Rede Marias stellt Karl Stackmann zusammen: Magd und Königin. Deutsche Mariendichtung des Mittelalters [Bursfelder Universitätsreden 7], Göttingen 1988. Von anderen Autoren, so weit Frauenlobs ‚Marienleich‘ in die volkssprachliche religiöse Dichtung auch ausstrahlt, wird die präsentische Ich-Rede der Maria kaum übernommen. Sie tritt auseinander in eine Ich-Rede, die präterital ist, als nachzeitige Erzählung, und in eine zwar präsentische, aber in der zweiten Person formulierte hymnische ‚Du bists‘-Invocatio. 43 Zur Melodie-Überlieferung vgl. GA, hier 2. Teil, 581–590, mit weiterer Literatur.

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theologisch wie literarisch überwältigend produktives „Kulturmuster“ 44: die Inkarnation. Was Eckhart in seinen Predigten als Metaphysik der Sohnschaft umgesetzt und in Form zeitloser incarnatio continua auf die Gottesgeburt in der Seele übertragen hatte, ist bei Frauenlob als Hohelied-inspirierte, visionär, auch kosmisch und heilszeitlich entgrenzte Liebesgeschichte zwischen Gott und Maria lyrisch vergegenwärtigt. Über ein Netz synchroner Tropen und assonierender Klänge sind die prophetischen Zeiten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entdifferenziert, in einer Art visionärer Simultanperspektive, die man als dichterische Selbstautorisierung verstehen kann. Unter diesem Aspekt versuche ich einen Durchgang durch den Text, was nicht mehr als eine Skizze sein kann und im größeren Rahmen nachzuweisen wäre. Gleich zu Beginn erscheint Maria dem Dichtervisionär 45 in der Rolle des schwangeren apokalyptischen Weibes; berichtet wird im Präteritum: Ei, ich sach in dem trone ein vrouwen, die was swanger. die trug ein wunderkrone vor miner ougen anger. Sie wolte wesen enbunden, sust gie die allerbeste, zwelf steine ich zu den stunden kos in der krone veste. (I,1–8)

Im nächsten Versikel wird die vom Dichterseher geschaute Maria ihrerseits zur Visionärin. Der Blick des Visionärs fällt jedoch nicht auf sie, sondern auf das, was sie sieht (auf ihre Wahrnehmung). Er berichtet: Maria sah den, mit dem ihr Leib beladen war, vor sich sitzen zwischen sieben Leuchtern – und sach in / doch besundert / in eines lammes wise / uf Sion, dem berge gehiuren (II,8–11). Der Dichterseher sieht also Maria, wie sie ihr Kind, mit dem sie noch schwanger ist, bereits vor sich sitzen sieht zwischen sieben Leuchtern als Weltenherrscher, zugleich auch als Opferlamm auf dem lieblichen Berg Zion (vgl. Apc 14,1), also in Raum und Zeit dissoziiert. Das ist eine im Rahmen der Visionsästhetik der Zeit geradezu topische Reduplikation, eine selbstbezügliche Verdoppelung des Geschauten mit eigener imaginärer Raum-Zeit-Logik, allerdings nicht begleitet von

44 Andreas Kablitz, „Inkarnation. Überlegungen zur Konstitution eines Kulturmusters (Novum Testa-

mentum – Dante: Vita nova, Commedia)“, in Gerhard Neumann/Rainer Warning (Hgg.), Transgressionen. Literatur als Ethnographie, Freiburg 2003, 39–79. Die Geschichte der Jungfrauengeburt muss sich selbstwidersprüchlich dadurch beglaubigen, dass kein Mensch je den Ort einnehmen könnte, von dem aus er Zeugnis abzulegen behauptet, ähnlich wie der biblische Schöpfungsbericht vom Ort unmöglicher Zeugenschaft aus erzählt. Die mittelalterlichen Autoren sind erfinderisch in der Bewältigung dieser religiösen Urparadoxie, doch im Kern sind sich alle Antworten ähnlich in der Inszenierung einer Selbstausbreitung der Wahrheit (im Modus der Inspiration, Offenbarung, Vision, Prophetie). 45 Die Dichterrolle des inspirierten Laiendichters in der Volkssprache ist seit Wolfram etabliert. Vgl. grundlegend Burghart Wachinger, „Frauenlobs Cantica canticorum“, in ders./Walter Haug (Hgg.), Literatur, Artes und Philosophie (Fortuna vitrea 7), Tübingen 1992, 23–43.

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der üblichen Zerlegung in Bild und Bedeutung des Geschauten. Implizit ist freilich mit dem noch ungeborenen Kind als Lamm und Weltenherrscher bereits die gesamte Heilsgeschichte präsent. Dann fällt der Blick des Visionärs wieder auf Maria. Jetzt berichtet er: Sie trug die Blüte wie ein Blütenkelch als Mutter des Lamms und der Taube; schließlich kommt noch, reimgestützt, die Traube ins Spiel (ja, die holde / trug den blumen sam ein tolde. / vrouwe, ob ir muter würdet / des lammes und der tuben, iur truben / ir liezet iuch sweren?) 46 – eine Speise, die ihr, Maria, zur Frucht verhelfen werde. Blütenkelch-Blüte-Traube-Frucht: Das Bildfeld Wachsen/Natur suggeriert einen zeitlichen Verlauf, der keiner ist: Wenn es kurz darauf im dritten Versikel von Maria heißt: die blünden winrebe diner frucht verströmen vollen Duft (III,7), ist erneut heilsgeschichtliche Sukzession überlagert von einer Simultaneität, die erzeugt wird von einer sperrigen, in sich anachronistischen Metaphorik (wie wäre eine „blühende Weinrebe der Frucht“ zu denken?) in einem einzigen Halbvers. Diese Metaphorik legt sich nicht genitivallegorisch aus (nach dem Muster: Blüte der Gnade, oder: Frucht der Erlösung), sondern koppelt bildwidersprüchliche Details der Literal-Ebene. So kann die vom Dichtervisionär geschaute, endzeitlich gekrönte, schwangere Maria dann auch ohne Weiteres wieder nur Braut und Geliebte sein, gar nicht nur in den Hohelied-Garten hineinprojiziert, sondern über Signalreime wie vrouwe:ouwe:touwe:schouwe (III,1–3) und Schlüsselbegriffe wie din friedel (III,8) überraschend auch ins Minnelied 47: [. . .] kein virren sol irren dich, wan er wil erkosen sich mit dir in den rosen. des soltu, tochter, muter, meit, mit liebem liebe im losen. (III,11–14)

Der Punkt des Umschlags der Rede des Dichtervisionärs in die Ich-Rede der Maria ist erreicht in VIII,1f.: Ei, welch ein lebendez minne wort: / meit, alles hordes überhort! Nach diesem Ausruf zitiert der Dichtervisionär Salomon, mit der Prophetie: ‚Dein Nabel sei ein goldener Kelch‘ (Künic Salomon[,. . .], der gicht, din nabel ein guldin kelch / si, VIII,14 ff.), ein Zitat, das zwar Hohelied-inspiriert scheint, jedoch als Zitat unbestimmt und auch in seinem exegetischen Gehalt unscharf bleibt. Dann gibt der Seherdichter das Wort an Maria ab, indem er sie direkt anspricht mit der Aufforderung, selber zu reden. Was sie sagen soll, gibt er auch an, und wenn er auf diese Weise seine (Autor-)Stimme substituiert durch Marias Ich-Rede, so gibt Maria ihrerseits mit ihrer ersten Selbstnen46 II,14–22. Diese Passage überblendet apokalyptische und Hohelied-Details, Verkündigung und Pas-

sion, ‚Mitte der Zeit‘ und Endzeit; dazu der Kommentar von Wachinger, in Deutsche Lyrik des späten Mittelalters, 828, der die konstitutiven Elemente der Szene so festhält: „der Geliebte (Gott) als Traube, die Vereinigung mit ihm als Essen der Traube und die daraus entstehende Frucht (Christus)“. Vgl. außerdem: Christian Kiening, „Mitte der Zeit. Geschichten und Paradoxien der Passion Christi“, in Christian Kiening/Aleksandra Prica/Benno Wirz (Hgg.), Wiederkehr und Verheißung. Dynamiken der Medialität in der Zeitlichkeit, Zürich 2010, 121–137. 47 Vgl. Susanne Köbele, „Umbesetzungen. Zur Liebessprache in Liedern Frauenlobs“, in Christoph Huber/Burghart Wachinger/Hans-Joachim Ziegeler (Hgg.), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur, Tübingen 2000, 213–235.

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nung das Wort ab an die imaginären Rezipienten: „Nennt mich eine Verheißung!“ (du schöne ob allen vrouwen, sprich: / „der schönen liebe ein muter ich, / der heilicheit ein hoffenunge nennet mich.“ VIII,24ff.) Alle folgenden Versikel IX–XX führen nun diese vom Dichtervisionär angestoßene Ich-Rede der Maria fort, indem sich präsentische Ich binz-Prädikationen mit heilsgeschichtlicher Narration im Präteritum verschränken. Ich kehre noch einmal zurück zur oben zitierten Exklamation ‚Du lebendes Minnewort!‘, die für das Folgende mit dem Sprecherwechsel auch die Perspektive verschiebt. Mit ihr wird benannt (und diskursiviert: das lebende Minnewort ‚Maria‘ könnte ebenso gut gemeint sein wie die mit dem fleischgewordenen Wort schwangere Maria), was im Text auch klanglich-performativ durchschlägt. Denn das „lebende“ Minnewort kommt von jetzt an verstärkt zum Klingen, was allein schon die forcierte Reimartistik zeigt, am auffälligsten die in Binnenreime übergehenden Dreifachreime (VIII,1–5): Ei, welch ein lebendez minne wort: meit, alles hordes überhort! wan din gestalt, din schöne durchschönet alle tröne. ir gelf, ir lut ist: ‚cröna, künig, cröne. [. . .]‘,

die sich im folgenden Versikel IX zu sechsfachem Endreim steigern: Den slangen beiz min harm, ich wisel. min süzer touwig morgenrisel durchbrach des herten fluches kisel. min wünschelrute sunder zwisel streich abe der swarzen helle misel. do wart gerötet sunder prisel der palme, dem min grüezen quam. (IX,14–20) 48

Hier reimen nun also, mit unüberhörbarer Lust am raren, exklusiven Reim, wisel:risel: kisel:zwisel:misel:prisel. Diese Klang- und Bildüberdetermination bereitet Effekte heilsgeschichtlicher Synchronisierung vor, auf die wir achten sollten. Im Fortgang wird nämlich diese improvisierte Kette alttestamentlicher Marienpräfigurationen, die vor allem über die Reimexzentrik unsere Aufmerksamkeit bindet, als heilsgeschichtlich synchrone Minnehandlung auserzählt: Maria schläft mit dem, den sie erst noch gebären wird, einen Vers später ist sie schon schwanger, dann vom alten vriedel geküsst 49, der durch ihren Liebesblick jung wird (der jungalte bereits in VII,5):

48 Mit dem Übersetzungsvorschlag von Burghart Wachinger, in Deutsche Lyrik des späten Mittelalters,

373 f., (vgl. dazu auch den Stellenkommentar): „Mein Hermelin biß die Schlange, ich war das Mutterwiesel. Mein süß rieselnder Morgentau zerbrach den harten Kieselstein des Fluchs. Meine Wünschelrute, ungespalten, wischte hinweg den Aussatz der schwarzen Hölle. Da wurde ohne Färbeholz die Palme gerötet, der mein Gruß gegolten hat.“ 49 Im noch Hohelied-näheren lateinischen Marienleich-Fragment wird aus dem friedel: dilectus meus, Frauenlob (Heinrich von Meissen), Leichs, Sangsprüche, Lieder, hg. von Karl Stackmann/Karl Bertau, Anm. 42, 289 [11,11]).

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ich slief bi drin, des wart ich fruchtig, voller güte süze in süze mir do sneit. min alter vriedel kuste mich, daz si geseit. ich sach in an, do wart er junc, des fröute sich die massenie da ze himel alle. (XI,8–14)

In Versikel XII wird dieselbe heilsgeschichtliche Synchronisierung erneut erzählt: Nach einer Kette äquivalenter Ich-Aussagen (Ich bin’s, ein Brunnen, V. 1, ein Spiegel V. 3, Mitschöpferin V. 5, ich rosengarte V. 8, ich leitestern V. 11) häufen sich ab V. 13 Binnenreime, die eine kompakte, spontan nicht leicht verständliche Syntax erzeugen: mut gut, frut tut (‚mein Sinn macht gut und wohlgefällig‘). Die nächste Ich-Aussage zitiert traditionelle Tierallegorese: Ich bins die stimme, mit der der alte Löwe seine Kinder angebrüllt hat, doch die Verse halten sich nicht mit Deutung auf, sondern reimen gleich weiter: die ‚Glut‘ des Phönix auf das ‚Blut‘ des Pelikan. Es ergibt sich damit eine vertikale Reimachse ab V. 13 tut:lut:flut:glut:blut:behut, und eine horizontale (die Binnenreime in: mut gut, frut tut). In der Passage ab V. 20 wird das bereits in den Eingangsversikeln vorbereitete, zunehmend erotisierte Natur/Wachsen-Bildfeld wieder aufgenommen: Ich bin eine Wiese mit schwangeren Blumen, ein Acker mit Weizen (V. 25), und erneut wird heilsgeschichtliche Sukzession in eine einzigen Halbvers zusammengezogen (V. 27: ich drasch, ich mul, ich buch; es geht um das Dreschen, Mahlen, Backen des süßen Brotes [des Heils]), aber gerade nicht ausgefaltet über den Akt expliziter Auslegung, nicht auserzählt über ein Vorher und Nachher, vielmehr evoziert über imaginative und klanginduzierte Verfahren: ich drasch, ich mul, ich buch linde und nicht harte, wan ich mit olei ez bestreich; des bleib sin biz so süzlich weich. ich binz der tron, dem nie entweich die gotheit, sit got in mich sleich. min schar gar clar var: ich got, sie got, er got, daz ich vor nieman spar. ich vatermuter, er min mutervater zwar, wan daz ist war. (XII,27–35)

Diese paradoxe Form einer Entzeitlichung (nicht Enthistorisierung, aber Synchronisierung) der Heilsgeschichte wird in den letzten Versen des Versikels noch einmal ausdrücklich, wenn Marias traditionelle Rolle als Miterlöserin maximal gesteigert wird, dadurch dass sie als alleiniges Subjekt der Erlösungshandlung eingesetzt wird: ich wart, ich leit, ich brach den tot, ich warb, als ich do solde (XII,36). Effekt dieser im Marienleich durchgängigen Zeit- und Zeichenentdifferenzierung ist nicht nur ein instabiler, übergängiger „Schauraum“ 50, wie Marion Oswald ihn in einer 50 Marion Oswald, „Vor miner augen anger (1,4): Schauräume und Kippfiguren in Frauenlobs Mari-

enleich. Eine Skizze“, in Kathryn Starkey/Horst Wenzel, Imagination und Deixis. Studien zur Wahr-

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subtilen Analyse herausgearbeitet hat, auch nicht nur ein verdichteter „Zeitenraum“, wie Friedrich Ohly ihn im anderen Zusammenhang eindrücklich beschrieben hat 51, sondern auch, wie ich sagen würde, ein Klangraum, der beides, die verdichtete Zeichen- und Heilszeitwelt, entscheidend generiert und stützt. In welchem Ausmaß die klangliche Verselbständigung des Textes dessen diskursive Entfaltung dominieren (oder auch unterminieren) kann, zeigen auf je verschiedene Weise Versikel XVII und XIX. Bevor ich auf sie abschließend noch näher eingehe, möchte ich den Blick auf Versikel XIII lenken, weil er für mein Thema der Transformation prophetischer Autorschaft wichtig ist: Hier beschreibt Maria sich als ‚Anfang von allem‘ (der aller bin ich ein beginne XIII,15). Sie rechtfertigt diese universale Aussage zum einen mit dem Verweis auf ihre Inspiriertheit (die wisheit hat mir minen munt entslozzen XIII,18), zum andern zitiert sie die Patriarchen als ‚Zeugen‘ für ihre exklusive heilsgeschichtliche Position (Die patriarchen sahen min figuren, / sie sprechen von mir [. . .] XIII,21 f.), schließlich wird die schon in Versikel XII artikulierte kühne Identifizierung Marias mit Gott/Christus erneut aufgenommen und legitimiert mit dem Hinweis auf die alttestamentlichen Propheten. Ich paraphrasiere die Passage: Was auch immer die Propheten verkünden mögen, sie haben ihre Sprüche auf mich (gemeint: allein auf mich) geheftet. Ich bringe meinen Freunden nichts als Himmel, durch mich öffnen sich alle Siegel, und wenn er, mein Schöpfer und alter Geliebter, sie noch so festhalten mag 52: swaz die propheten alle kunden – ir wort, ir rede si uf mich bunden – ich bir, niur himel minen friunden. gein mir so lan die ingesigel alle ir rigel, swie vaste er sie behalte, min schepfer und min vriedel der vil alte [. . .]. (XIII,33–38)

Hier ist eine auf den ersten Blick überraschende Konkurrenz prophetischer Bezugnahmen formuliert: Die Propheten, so Marias emphatische Verallgemeinerung, haben sämtliche Präfigurationen auf mich bezogen. Und – mit Bezug auf Apc. 5,1 f.? – nur ich, Maria, bin würdig, die sieben Siegel des Buches aufzubrechen, nicht das Lamm: wie fest auch immer er, mein Schöpfer und Geliebter, die Riegel hält. Diese spektakuläre doppelte Umbesetzung gehört in die allgemeine Tendenz des Frauenlobschen Marienleichs, Maria sehr nah an die Position Gottes heranzurücken, bis hin zur Identität (vgl. XVI,4: er ist min wesen nehmung im Mittelalter, Stuttgart 2007, 127–140. Jeder kann in diesen durch den Dichtervisionär aufgespannten „Schauraum“ eintreten, aufgrund der offenen Referenz des Indexwortes ‚Ich‘. 51 Friedrich Ohly, „Die Kathedrale als Zeitenraum. Zum Dom von Siena“ (11972), in ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, 171–273. 52 Vgl. zu Details der Übersetzung den Kommentar von Burghart Wachinger in Frauenlob (Heinrich von Meissen), Leichs, Sangsprüche, Lieder, 850f. Zu „Frauenlobs Maria als übergreifendes, Minne und Welt umfassendes Prinzip“ in Auseinandersetzung mit den grundlegenden Überlegungen von Christoph Huber zuletzt: Ralf-Henning Steinmetz, Liebe als universales Prinzip bei Frauenlob. Ein volkssprachlicher Weltentwurf in der europäischen Dichtung um 1300 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 106), Tübingen 1994, 58–65.

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und ich daz sin), auch wenn der Ausdruck min schepfer die Differenz von creator und creatura ja durchaus markiert 53 – in jedem Fall bleibt der verblüffende Exklusivitätsanspruch dieser Prophetie ein Sonderfall. Ich kenne in der Marienliteratur der Zeit nichts Vergleichbares. Auch im folgenden Versikel XVII,1–6 ist Marias heilsgeschichtliche Funktion sehr eng mit dem Schöpfergott verbunden. Es geht um die Paradoxie eines absoluten Anfangs, in dem das weltschöpferische Prinzip der Welt zugleich immanent sein soll, um die Paradoxie einer Schöpfung, deren zeitloser, als creatio continua vorgestellter Verlauf bestimmt ist von einer ununterbrochenen Verbindung und erneuten Trennung der Elemente – das gelingt nur unter den Vorzeichen einer Gleichewigkeit und differenzierten Zusammengehörigkeit: Ei, waz sich mischet und unmischet und waz sich uz der mische drischet: ob daz mischen nicht verlischet, wie der ursprinc sich da vrischet, und swaz ungemischet blibet, wie daz mischen von im tribet!

Schlagreime, Echoklänge, Alliterationen unterstützen die Verwirrung der Bezüge einer Differenz- und Identitätsbeziehung zwischen Maria und Gott im Schöpfungsprozess. Sie lassen ein nichtlineares Beziehungsgeflecht entstehen und erzeugen zusammen mit dem topischen Fundus von Bildern eine hohe Oberflächenkohäsion, von Semantik entlastet, aber nicht asemantisch. 54 So werden Strophe für Strophe argumentative Paradoxien durchgespielt, die sich unvermeidlich auf die Ästhetik des Textes auswirken. Maria erläutert sich in den oben zitierten Versen gleichsam klangberauscht selbst als anfangloser Anfang, im letzten Vers des Versikels dann ausdrücklich auch als gleichewige, zeittranszendente Mitakteurin: die durchblümet was und ist und immer muz ane ende sin (XVII,15). 53 Vgl. ebd. 851. Da es in dieser Prophetie Marias offenbar mehr um den Erlösungsaspekt geht als um

die Aufdeckung der Geheimnisse am Jüngsten Tag, könnte die Stelle zusätzlich auf die entriegelten Pforten der Hölle anspielen. Die Differenz zwischen Maria und Gott hält, aufs Ganze des Marienleichs gesehen, auch die Mutter-Sohn-Relation fest (XVI,5: er kint und ich muter), während die Liebesbeziehung zwischen Gott und Maria beide immer wieder auf Augenhöhe bringt. Und: ‚es ist immerhin ein Gott, den ich gebar‘, trumpft Maria auf (in XVI,13). Dazu auch Ralf-Henning Steinmetz, 61 ff. 54 In Versikel XVIII wird nicht zufällig (Gleich-)Klang als harmonia coelestis sowohl performativ umgesetzt wie auch thematisch: Wie die döne löne schöne / schenken uz der armonien, / die sich modeln, dries drien, / wie die steige, velle schrien, / mac man hören / in niun kören [. . .] 1–6). In den Engelschören komme diese Musik (die nicht auseinandertritt in Sinn und Klang) unzerstörbar zum Klingen, dort, wo der süße Geliebte auf sie warte (7ff.). Wie die Himmelsmusik in der menschlichen Seele (anima symphonialis) resoniere, als Erinnerung an die mit dem Sündenfall verlorene Lobstimme des Menschen, dazu vgl. Hildegardis Bingensis, Symphonia armonie celestium revelationum, hg. von Barbara Newman unter Mitarbeit von Stephan d’Evelyn/Joshua Byron Smith, in dies., Opera minora (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 226), Turnhout 2007, 335–477.

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Diese ‚Durchblümung‘ 55 als Muster einer in sich differenzierten Einheit wird in Versikel XIX,18–33 wieder aufgenommen. Hier zieht eine Passage die Aufmerksamkeit auf sich durch eine wiederholungsrhetorisch vorangetriebene, nicht durch exegetische Hinweise gestaute Metaphernvervielfältigung. Maria kündigt im ersten Vers die Erzählung einer Liebesgeschichte an (Nu lat iuch lüsten also hübsches meres: unter einem Apfelbaum sei sie süß geweckt worden vom Sohn des alten Gärtners). In sechs Versen kehrt dann zehn Mal der Ausdruck blumen wieder, als Leitbegriff der Liebesgeschichte Marias mit dem ‚jungalten‘ Geliebten, die das Inkarnationswunder konsequent zur Liebeseinheit umdeutet: Nu streuwet mir die blumen in min klosen, bestecket mich mit liljen und mit rosen! er blume von mir blume wolde entspriezen, und daz was in der zit, daz sich die blumen schouwen liezen. die stat hiez Blume, da der blume uz mir blume warf sich in der blumen zit, und mit dem blumen han ich mich geblümet wit (18–23).

Die exzessive, ganz der Faszination des Sprachklangs hingegebene ‚Blume‘-Wiederholungsfigur erzeugt großflächig eine heilsgeschichtliche Synchronie, und wieder ist über den Reim (hier: glenzen:lenzen) der Weg von der Heilsgeschichte (der Lichtmetaphysik) zum Natureingang des Minnelieds nur kurz: er schin, ich glast, wir liuchten und erglenzen, merzen, meien, lenzen. swaz der sumer speher varbe erzücket, dar in so hat min vriedel sich gesmücket (24ff.).

Wieder ergibt sich, das zeigt diese Stelle sehr deutlich, in einem Sprechakt zwischen konstativ und direktiv eine der Zeitbedingung entzogene Liebeshandlung, deren Mitte das ‚Ich‘ ist, in dem die Redeweisen und Blickrichtungen, die Zeit- und Zeichenschichten zusammenfallen, in komprimierter Szenenregie. Wenn Maria sich im letzten Versikel (XX,10 f.) christusähnlich auf der Grenze zwischen Gott und Mensch ansiedeln kann (zwischen menscheit unde gote / sten ich rechte mitten uf der marke), kann sie von eben dieser Grenzposition aus vergangene, aber auf Künftiges gerichtete Prophetien als Gegenwart erzählen und explizite Allegorese hintanstellen. Dass diese auf ihre unendliche Überschreitbarkeit angelegte Transformation prophetischer Autorschaft einerseits eine Differenzierung, anderseits aber auch eine nicht geringe Verwirrung der Bezüge auslöst, liegt auf der Hand. Weder liegt in Frauenlobs Marienleich eine einlinige Chronologie vor noch eine offene Sequenzierung loser Einzelszenen, vielmehr überlagern sich über die Eng55 Zu Maria als Blüte am Stammbaum der Davidsgenealogie Jesu vgl. Klaus Schreiner, Maria. Jung-

frau, Mutter, Herrscherin, München 1994, 306. Der Messias musste ein Sproß Davids sein, allerdings geist- und gottgezeugt, nicht „im Schoß“ gezeugt, weswegen man sich seit Ambrosius und Hieronymus um den Nachweis bemüht, dass auch Maria von David abstammte (vgl. 305 und 308). Vgl. auch Rachel Fulton, From Judgment to Passion: Devotion to Christ and the Virgin Mary, 800–1200, New York 2002.

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führung von visionärer Dichterrede und visionär-prophetischer Marienrede im Modus der Selbstauslegung umfassend alle Zeitsemantiken und Zeitfigurationen, was an anderer Stelle auch im Vergleich mit dem lateinischen Übersetzungsfragment breiter auszuführen wäre. Welche Rolle spielen (Heils-)Gegenwärtigkeit herstellende Zeitkonzepte wie Typologie? Kommen ‚synchrone Typologien‘ zum Zuge, in denen heilsgeschichtliches Nacheinander und figurale Simultaneität zusammenfallen? Der Prophet durchbricht die Gleichzeitigkeit des Geschauten beziehungsweise Gehörten, indem er – nachträglich und für Dritte – Wort und Sinn wieder auseinanderlegt, mit je verschiedener raum-zeitlicher Kohärenz. Diese Funktion ist bei Frauenlob verändert. „Die Propheten haben geweissagt, aber sie sind nicht geweissagt worden. Die Heiligen, die darauf folgten, waren geweissagt, aber sie weissagten nicht; Jesus Christus war geweissagt und weissagend.“ 56 Frauenlobs Maria ist christusnahe Proposition von Prophetie und selber Subjekt prophetischer Rede, mit dem Effekt transgressiver Redeweise und einer maximalen Selbstautorisierung des Sprechens. Ich versuche ein Fazit: Zu den texttypischen Transgressionen prophetischer Autorschaftskonzepte gehört neben dem Umschlagen der Sprecherrollen (der Prophet als Subjekt und Medium göttlicher Selbstauslegung), der Sprechakte (revelatio und instructio), der Aussageebenen (proprie, translate) und Stildispositionen (Sinnfülle, Sinndefizit) auch und vor allem die Vermittlung verschiedener Zeitperspektiven: der Perspektive heilsgeschichtlicher Linearität und figuraler Simultaneität. Ich habe diese generelle, von Fall zu Fall mehr oder weniger gut überspielte Konfliktkonstellation prophetischer Autorschaft ausschnitthaft an zwei verschiedenen Textparadigmen um 1300 beobachtet, Eckharts Predigten und Frauenlobs Marienleich. Beide Autoren verbindet, bei aller Verschiedenheit der Gattungen und Diskurse, eine Tendenz zur Aufhebung von Zeit- und Verweisstrukturen. Wenn der Sprechakt Prophetie von einer Doppelspannung geprägt ist: der Spannung von Evidenz und Auslegung (Präfiguration) und der Spannung von Verheißung und Erfüllung (Präfiguration), dann führt sowohl Eckharts predigtrhetorische ‚Ich aber sage Euch‘-Überbietung wie Frauenlobs marienlobpoetische Kombination visionärer (‚Ich sah‘) und selbstprädikativer Aussagen (‚Ich bins‘) den traditionellen Typus prophetischer Autorschaft an eine äußerste Grenze. Jenseits einer pauschalen instructio-Funktion schlagen hier Äußerung (Sprechakt) und Aussage (Proposition), Verheißung und Erfüllung jeweils ineinander um. Das zeigt sich bei Frauenlob darin, dass sein visionär-sängerprophetisch überdeterminiertes Spiel mit Autorrollen ab Versikel 9 übergeht in eine vom Sänger-Ich verkündete Selbstauslegung der Gottesmutter, in der Maria sowohl als Objekt wie Subjekt prophetischer Rede spricht: als ‚Typus‘ (als Präfiguration der Propheten: praedicata virgo 57) wie 56 Blaise Pascal, Über die Religion und über einige andere Gegenstände. Aus dem Französischen über-

tragen und mit einem Nachwort herausgegeben von Ewald Wasmuth, Frankfurt a.M. 1987, XI. Fragment 693–736 ‚Die Prophezeiungen‘, hier Nr. 739, S. 357. 57 Anselm Salzer, Die Sinnbilder und Beiworte Mariens in der deutschen Literatur und lateinischen Hymnenpoesie des Mittelalters. Mit Berücksichtigung der patristischen Literatur. Eine literar-histo-

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als ‚Antitypus‘ (als gleichewige Mitakteurin des Heilsgeschehens). So erscheint Frauenlobs „durch und durch geblümte“ Maria, die heilsgeschichtliche Sukzession übergreifend, sowohl als kontemporäre Blüte am Stammbaum der Davidgenealogie Jesu wie als fruchttragende Gottesmutter und blühende Geliebte. Trotz der anderen Gattungs- und Diskursvoraussetzungen in dieser Hinsicht vergleichbar ist Eckharts emphatischer Predigtgestus, der die ‚Ich aber sage euch‘-Jesusrede auf inhaltlicher Ebene als ‚Sohnsein‘ wiederkehren lässt, auf eine kategoriale Überbietung zielend, in unendlicher Progression und permanenter Überblendung von Verheißung und Erfüllung. Auch hier wird die Vermittlungsrolle aus einer emphatischen Sprecherposition der Gottunmittelbarkeit heraus paradox überschritten, und nicht immer wird eindeutig sichtbar, wo das Jesus-Charisma sed ego dico sich mit dem akademisch-scholastischen distinguo-Gestus (‚sed contra‘) überschneidet. Eben diese Überschneidung scheint mir ein wichtiger Befund, über den noch weiter nachzudenken wäre, wie es sich umgekehrt auch lohnen würde, systematisch und werkübergreifend diejenigen Passagen zusammenzustellen, in denen Eckhart inkriminierte Aussagen über den Anschluß an Prophetenrede – nach dem Muster: als Dâvît sprichet – legitimiert, insbesondere im ‚Buch der göttlichen Tröstung‘. 58 Historisch spezifisch würde diese spannungsvolle Transformation prophetischer Autorschaft bei Frauenlob nicht nur im Blick auf die Relation von Text und überlieferter Musik, sondern – für beide Autoren – vor allem auch durch Einbeziehung der Differenz des je verschiedenen Mediums Volkssprache und Latein, mit ihren unterschiedlichen Hintergrundsemantiken und Allusionshorizonten. Sowohl Frauenlob wie Eckhart sind Autoren, die volkssprachliche und lateinische Diskurse kompromisslos mischen, statt mit einem offenen Kompetenz- und Dignitätsgefälle die Sprache der Meister in die Sprache der Laien zu übersetzen. Eckhart experimentiert mit seiner emphatischen Immediatisierung der Gottesbeziehung und Assimilierung der Jesus-propheta-Rolle in seinen volkssprachigen Werken, soweit wir sehen können, anders als in seinem lateinischen Werk, trotz seiner programmatischen Auflösung der Milieugrenzen, und auch im Fall Frauenlob scheint die lateinische Übertragung des Marienleichs andere Wege zu gehen als der volkssprachliche Text. Diese Frage konnte ich hier nur anstoßen. Auch Frauenlob experimentiert vergleichbar innovativ mit einer spezifischen Form von Zeichenrede, mit ähnlichen Effekten eines paradoxen Zusammenfalls von Verheißung und Verhüllung. Bei aller Differenz der Diskurse: Frauenlobs marienlyrische Transformation prophetischer Autorschaft hat mehr mit Eckhart zu tun als mit den Spielarten der autoritativen Seher-Rolle bei Walther von der Vogelweide oder Walter von Châtillon. Ziel meiner Überlegungen war vorzuführen, wie in den untersuchten Fällen das prophetische Autorschaftsmodell durch Modelle einer paradoxen Entzeitlichung der Heilsgeschichte an eine Grenze kommt: einmal durch Assimilierung der Prediger- und Verkündigungsrolle an die Rhetorik der Jesus-auctoritas, das andere Mal durch den literarischen Kunstgriff, Marias rische Studie, Darmstadt 1967, S. 564, mit reichen Belegen zu Maria als weissagende regina prophetarum, aber auch zu Maria als praefiguratio prophetarum. 58 Dazu demnächst die Arbeit von Claudio Notz, Zürich.

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Rolle als Objekt von Prophetie (als virgo praedicata) und ihre Rolle als Subjekt von Prophetie (als regina prophetarum) im Modus spektakulärer Selbstauslegung zusammenfallen zu lassen. In der Literaturgeschichte von Max Wehrli endet der Überblick über die spätmittelalterliche Lyrik mit dem so ratlosen wie vorsichtigen lapidaren Satz: „Frauenlob ist ein genauer Zeitgenosse des Meisters Eckhart“. 59 Riskiert man eine Zusammenschau der beiden Autoren, wird man nicht umhinkommen zu sagen: Indem der Typus prophetischer Autorschaft durch eine emphatisch gesteigerte Ich-Evidenz geradezu überdeterminiert wird als zeittranszendente göttliche Selbstauslegung, treiben sowohl Eckhart wie Frauenlob die heikle Frage nach der Vermittlung von Immanenz und Transzendenz an eine Grenze. Nicht auf der Ebene eines unspezifischen Mystik-Einflusses, wohl aber auf der Ebene transgressiver Dynamiken der Sprach- und Autorschaftskonzepte wird beides, der Sonderfall des Sonderfalls Mystik, Eckhart, und der poetologisch singuläre Marienleich Frauenlobs, überraschend vergleichbar.

59 Max Wehrli, Geschichte der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jahr-

hunderts (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart I), Stuttgart 1984 (11980), 454.

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Prophetische Autorschaft Walthers von der Vogelweide Ich sach mit mînen ougen (L 9,16)

Im 12. Jahrhundert entsteht im Kontext bibelhermeneutischen Schrifttums ein Autorbewusstsein, das von überkommenen Traditionen des Schreibens, von einer Fixierung auf auctoritates 1 absieht und auf eigene Kreativität setzt. Rupert von Deutz, der wohl produktivste Autor des 12. Jahrhunderts, hat im autobiographisch gefärbten zwölften Buch seines Matthäuskommentars 2 von diesem Durchbruch Zeugnis abgelegt. 3 Es sind mystische Visionen, die ihn bekräftigen, auf die Bibel gestützt die alten bibelhermeneutischen Autoritäten zu überbieten. Prägnanten Ausdruck findet diese Haltung in einer Rupert gewährten visionären Schau, in der ihm die Trinität begegnet:

1 Vgl. zum mittelalterlichen Autorschaftsverständnis Alastair J. Minnis, Medieval Theory of Author-

ship. Scholastic Literary Attitudes in the later Middle Ages, London 1984; Jan-Dirk Müller, „Auctor – actor – author. Einige Anmerkungen zum Verständnis vom Autor in lateinischen Schriften des frühen und hohen Mittelalters“, in Felix Philipp Ingold/Werner Wunderlich (Hgg.), Der Autor im Dialog. Beiträge zu Autorität und Autorschaft, St. Gallen 1995, 17–31; Elizabeth Andersen [u.a.] (Hgg.), Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, Tübingen 1998; Michel Zimmermann, Auctor et auctoritas. Invention et conformisme dans l’écriture médiévale (Mémoires et documents de l’École des Chartes 59), Paris 2001. 2 Rupert von Deutz, De gloria et honore filii hominis super Mattheum, hg. von Hrabanus Haacke (Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis 29), Turnhout 1979, 363–396. Ich folge hier der Übersetzung von Walter Berschin, Os meum aperui. Die Autobiographie Ruperts von Deutz, Köln 1985. 3 Vgl. Christel Meier, „Ruperts von Deutz literarische Sendung. Der Durchbruch eines neuen Autorbewußtseins im 12. Jahrhundert“, in Wolfgang Haubrichs [u.a.] (Hgg.), Wolfram-Studien XVI: Aspekte des 12. Jahrhunderts. Freisinger Kolloquium 1998, Berlin 2000, 29–52, die die Gestaltung der Visionenfolge als „Konstruktion“ (S. 43) beschreibt; Christel Meier, „Ruperts von Deutz Befreiung von den Vätern. Schrifthermeneutik zwischen Autoritäten und intellektueller Kreativität“, in Recherches de Théologie et Philosophie médiévales / Forschungen zur Theologie und Philosophie des Mittelalters 73,1 (2006), 257–289.

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Dann umstanden mich, der ich nun klein war, die drei gleich hoch Gestalteten eine Weile, und ein sehr großes Buch wurde aufgeschlagen, auf das sie mich stellten und in die Höhe hoben. Als dies geschehen war, stärkte mich der, der mich am Anfang geküßt hatte, mit würdigen und freundlichen Worten: ‚Fürchte dich nicht‘, und indem er auf einige goldgeschmiedete Reliquiare der Heiligen auf dem Altar, die wir Schreine nennen, zeigte: ‚Du wirst noch besser sein als diese‘. 4

Rupert deutet diese Vision konsequent als direkte göttliche Autorisierung des eigenen, die bibelhermeneutischen Autoritäten überbietenden Schreibens. Die Öffnung des Buches und was jene Gestalt sagte, als sie die goldenen Erinnerungszeichen oder Reliquiare der Heiligen zeigte, brauche ich Deiner Liebe [gemeint ist Ruperts Förderer Kuno von Raitenbuch] nicht auszudeuten – Dir, dessen Urteil über mich viele häufig gehört und befolgt haben, daß Gott in Wahrheit sein Buch, die heilige Schrift, mir geöffnet habe, und ich über viele Sätze der heiligen Väter hinaus, deren würdiges Andenken in der Kirche mit Recht berühmt ist und glänzt wie Gold, einiges besser gesagt habe. 5

Bei Rupert ist der Status der mystischen Erfahrungen ambivalent, denn so sehr diese authentifizierenden Charakter haben, so deutlich bleibt Ruperts Schreiben an den formalen Akt der Priesterweihe gebunden, mit dem die Lehrbefähigung verbunden ist. 6 Die innere Wende zum Priestertum wird durch mystische Erfahrungen vorbereitet. Auf produktionsästhetischer Seite wird die lebensgeschichtliche conversio Ruperts von einer stilistischen Wende begleitet, er gibt die gebundene Verssprache auf und ‚entdeckt‘ die Prosa als geeignetes Mittel, die heiligen Schriften zu kommentieren. 7 Mystische Ermächtigung, Amtsautorisierung und ‚Stilwechsel‘ bilden bei Rupert einen – auf den ersten Blick schwer zu durchschauenden – unauflösbaren Zusammenhang. Rupert von Deutz 4 Walter Berschin, Os meum aperui, 22: Tunc ipsae tres personae grandi et pari statura aequales me

pusillum circumsteterunt et aperto pergrandi libro me super positum eidem libro in sublime sustulerunt. Quo facto is qui me in initio fuerat osculatus confortans dignanter et familiariter haec locutus est: Noli timere, et designans super sanctum altare quaedam sanctorum phylacteria auro fabrefacta, quae uulgo dicimus feretra. Adhuc enim, ait, eris melior quam ista sunt (Rupert von Deutz, De gloria et honore filii hominis super Mattheum, 372, 360–367). 5 Walter Berschin, Os meum aperui, 23: De apertione libri et de ratione quam persona illa dixit aureas ostendens sanctorum memorias siue phylacteria non opus et, ut interpretationem faciam tuae caritati, cuius de me iudicium saepe audierunt et secuti sunt multi, quod uere Deus librum suum, id est Scripturam sanctam mihi aperuit, et multis sanctorum Patrum sententiis, quorum in sancta ecclesia digne celebris est memoria et uelut aurum rutilat, aliquanta meliora dixerim (Rupert von Deutz, De gloria et honore filii hominis super Mattheum, 372,378–373,384). – Rupert befindet sich in der zweiten von insgesamt sieben Berufungsvisionen noch in einem defizitären Zustand. Die Erhebungsvision endet mit dem Bewusstsein des eigenen Nacktseins. Erst in den folgenden Visionen kommt es zu einem geistigen Zeugungs- und Befruchtungsakt, aus dem die Werke Ruperts hervorgehen. Vgl. hierzu Christel Meier, „Ruperts von Deutz literarische Sendung“, hier bes. 34–39. Eine systematisierende Aufbereitung der Visionenfolge findet sich auch in Bernard McGinn, Die Mystik im Abendland. Bd. 2: Entfaltung, Freiburg/Basel/Wien 1996 (Sonderausgabe 2010), 500–509. 6 Vgl. John H. van Engen, Rupert of Deutz (Publications of the UCLA Center for Medieval and Renaissance Studies 18), Berkeley/Los Angeles/London 1983, 48–55. 7 Christel Meier, „Autorstile im Hochmittelalter?“, in dies./Martina Wagner-Egelhaaf (Hgg.), Autorschaft. Ikonen – Stile – Institutionen, Berlin 2011, 69–91, hier 81–83.

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kann als Prototyp für die Genese einer Autorschaftsvorstellung im 12. Jahrhundert Geltung beanspruchen, die sich zwar von der Tradierung der auctoritates löst und auf das eigene ingenium setzt, für die jedoch zugleich ein Schreiben ohne autorisierende institutionelle Verankerung – hier in Gestalt der Priesterweihe – nicht denkbar ist. Der Fall Walther von der Vogelweide, um den es gehen soll, ist anders gelagert, man hat es bei der Kirchenklage aus dem sogenannten Reichston mit Sangspruchdichtung zu tun, die kirchen- wie reichspolitisch interveniert, zudem handelt es sich um Dichtung in der Volkssprache. Eine bestimmte paradoxale Konfiguration indes, die vielleicht symptomatisch ist für ein sich neu artikulierendes Autorbewusstsein, verbindet Walther von der Vogelweide mit Rupert von Deutz: die Überwindung von Autoritäten unter Rückgriff auf Autoritäten beziehungsweise Autoritätsrollen. Wie sich Rupert – als Repräsentant geistlich-bibelhermeneutischen Schreibens – durch Eigenes von den auctoritates absetzt, so scheint sich hinter der Geste eines Autorität vermittelnden prophetischen Sehens, die das Ich in der Kirchenklage Walthers von der Vogelweide einnimmt – Ich sach mit mînen ougen 8 (L 9,16) –, ein Autor-Ich bemerkbar zu machen, das darauf insistiert, mit eigenen Augen, mit mînen ougen, die Misere der reichs- und kirchenpolitischen Zustände zu gewärtigen und das Gesehene ins dichterische Wort zu bannen. mit mînen ougen: Das könnte ein nicht gewährtes, vielmehr auf Autonomie ausgerichtetes Sehen meinen, das sich zwingend in politische Rede umsetzt. Prophetenrolle und Autonomieanspruch, die solcherart eine Symbiose eingehen, dass sie untrennbar einander durchdringen, bedürfen bei Walther indes der weiteren Flankierung.

1. Bei der Kirchenklage handelt es sich um die bekannte dritte Strophe aus dem Reichston Walthers (sie steht in B und C an zweiter Stelle), einer ‚liedhaften Einheit‘ aus drei Strophen, die sukzessive zwischen 1198 und 1201 entstanden sein wird. 9 Die Kirchenklage ist wohl um 1201 verfasst worden. Im Reichston, sehr allgemein formuliert, geht es um die verheerenden reichspolitischen Auswirkungen des Thronstreits im Jahr 1198. Der Welfe

8 Zitate aus dem Reichston im Folgenden nach Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprü-

che. 14, völlig neubearbeitete Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner, hg. von Christoph Cormeau, Berlin/New York 1996, Buch I, 2 Reichston (L 9,16). Die Zählung nach Lachmann wird beibehalten. 9 Die liedhafte Einheit dieser Strophen wird in der Forschung nicht zuletzt aufgrund der Überlieferungsvarianz kontrovers diskutiert. Vgl. dazu Horst Brunner/Gerhard Hahn/Ulrich Müller/Franz Viktor Spechtler, Walther von der Vogelweide. Epoche-Werk-Wirkung, 2., überarbeitete und ergänzte Aufl., München 2009, 145–150, bes. 149f. – Die folgenden Überlegungen halten an der Vorstellung einer thematisch gebundenen lockeren ‚liedhaften Einheit‘ fest. Umstellungen von Strophen, wie sie in B und C gegenüber A dokumentiert sind, stehen aufgrund einer relativen Selbstständigkeit der Einzelstrophen dem nicht entgegen.

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Otto IV. wird am 12. Juli 1198 in Aachen durch den Erzbischof von Köln gekrönt, am rechten Ort, durch die rechte Hand, aber ohne die echten Throninsignien. Diese besitzt der Staufer Philipp bei seiner Krönung am 8. September 1198, die jedoch nicht am rechten Ort und nicht durch die rechte Hand vollzogen wird. Der Reichston im Allgemeinen und die Kirchenklage im Besonderen verraten etwas über Legitimierungsstrategien, die dem volkssprachlichen dichterischen Wort gelten, das kirchenpolitisch Einfluss zu nehmen sucht. Walther als ein in der Volkssprache dichtender Autor, Laie dazu, das ist für die Frage der Legitimierung des Sprechens nicht unerheblich, kann offenbar nicht ohne autoritative Absicherung das Wort ergreifen. Text: 〈Ich sach mit mînen ougen man und wîp tougen, dâ ich gehôrte und gesach, swaz iemen tet, swaz iemen sprach.〉 10 ich hôrte in Rôme liegen, zwêne künige triegen. dâ von huop sich der meiste strît, der ê was oder iemer sît. der begonde [ ] zweien die pfaffen unde leien. daz was ein nôt vor aller nôt, lîp und sêle lac dâ tôt. die pfaffen striten sêre, doch wart der leien mêre. diu swert diu leiten 〈sî〉 dernider und griffen zuo der stôle wider. si bienen, die si wolten, und niht, den si solten. dô stôrte man diu goteshûs. ich hôrte verre in einer clûs vil michel ungebære. dâ weinte ein clôsenære, er clagete gote sîniu leit: ‚owê, der bâbest ist ze junc, hilf, hêrre, dîner cristenheit!‘ (L 9,16–39)

Das Ich der Kirchenklage sieht und hört die Geheimnisse der Menschen. 11 Was immer auch getan, gesprochen und gedacht wird, bleibt ihm – sehend und hörend – nicht ver10 Die ersten vier Verse fehlen in A. Erklärungsversuche der Forschung werden knapp und kritisch dis-

kutiert bei Manfred Günter Scholz, Walther von der Vogelweide, 2., korrigierte und bibliogr. ergänzte Aufl., Stuttgart/Weimar 2005, 51. 11 Ich folge der Sache nach hier den abwägenden Erläuterungen der zeitgeschichtlichen Hintergründe bei Manfred Günter Scholz, Walther von der Vogelweide, 49–51. Vgl. auch Gerhard Hahn, Walther von der Vogelweide. Eine Einführung, München/Zürich 1986, 116f.; Horst Brunner [u.a.], Walther von der Vogelweide, 148f.; Thomas Bein, Walther von der Vogelweide, Stuttgart 1997, 223; Otfrid Ehrismann, Einführung in das Werk Walthers von der Vogelweide, Darmstadt 2008, 50–52, hier 52.

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borgen. Die Kurie in Rom betrügt zwei gewählte Könige, gemeint sind wohl das Kind Kaiser Heinrichs VI., Friedrich, und der Bruder Heinrichs VI., der Staufer Philipp von Schwaben, der nach dem Tod Heinrichs bis zur Mündigkeit von dessen dreijährigem Sohn Friedrich Reichsregent sein soll. Rom stellt sich indes auf die Seite der Welfen, hinter Otto IV. Das Entzweien von welfischer und staufischer Partei – pfaffen unde leien (L 9,25) – löst den größten denkbaren Streit aus. Die Welfen-Partei gerät bei den kriegerischen Auseinandersetzungen im Thronstreit zugunsten der ‚Laien‘, der Staufer-Partei, ins Hintertreffen. Der daraufhin bemühte Bann richtet sich gegen die Parteigänger der Staufer und nicht gegen den, der, so die Strophe, gebannt werden müsste, Otto IV. Am 3. Juli 1201 wird in Köln der Bannspruch über Philipp und seine Anhänger durch den Kardinal-Legaten Guido von Praeneste, also einen mit päpstlicher Vollmacht ausgestatteten Kardinal, öffentlich verkündet. Die Verheerungen in Folge des Streits sind immens. Es kommt zu Zerstörungen der Gotteshäuser, als Folge des Interdikts dürfen keine Gottesdienste mehr abgehalten werden, christliche Begräbnisse sind für die Gebannten untersagt, ein Unheilszustand sondergleichen. Die Strophe schließt mit der Wehklage eines Klausners, einem Weheruf, wie er seit Amos gattungstypisch für Prophetenbücher ist. Die Klage zielt auf den jungen Papst Innozenz III. Er befindet sich in seinen Dreißigern, gilt damit als zu unerfahren und führt mit seinen Entscheidungen in eine apokalyptisches Ausmaß annehmende Katastrophe. Hilfe verspricht hier allein die göttliche Intervention.

2. Das Ich des Textes steht unmissverständlich auf der Seite der Staufer, es wendet sich gegen die Welfen-Politik des Papstes. Papst-Kritik in der Volkssprache ist um 1200 ein Novum. 12 Daher stellt sich die Frage, wie die Legitimität der Kritik untermauert werden kann. In diesem Zusammenhang spielt bei Walther bekanntermaßen die Ich-Inszenierung eine wichtige Rolle. Es ist ohne Zweifel ein prophetisches Ich, das in der Kirchenklage spricht. Fragt man nach der Herkunft der Seher-Geste, nach Traditionen, auf die sich Walther beziehen könnte, stößt man unweigerlich auf den johanneischen Seher der neutestamentlichen Offenbarung, der als mögliches Vor-Bild herangezogen werden mag, 13 dort werden wie in der Kirchenklage Geheimnisse (Off 1,19 f.) enthüllt. 14 Bei Walther sind es freilich keine göttlichen Geheimnisse, die entdeckt werden, sondern Herzensge12 Zur Kirchenkritik in der lateinischen Lyrik vgl. Helga Schüppert, Kirchenkritik in der lateinischen

Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts, München 1972. 13 Es geht mir hier nicht, wie man den Ausführungen entnehmen kann, um den rezeptionsphilologi-

schen Nachweis einer verifizierbaren Quelle, aus der Walther geschöpft haben könnte. Walther greift offenbar auf eine breite biblische Tradition prophetischen Sehens zurück. 14 Ein Konnex von Prophetie und Vermittlung von Offenbarungswissen wird in der neutestamentlichen Tradition auf breiter textueller Basis im 1. Korintherbrief des Paulus hergestellt. – Zur Ausbildung jüdisch-christlicher Prophetievorstellungen vgl. Klaus Koch, „Propheten/Prophetie II. In Israel und

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heimnisse der Menschen. Das Ich des Textes ist auf den gegenwärtigen Zustand der Welt gerichtet. Hier kann ihm kein Unheil verborgen bleiben. Inwieweit hier die Definition prophetischen Sehens nachwirkt, die Cassiodor in der Einleitung seines Psalmenkommentars, der Expositio psalmorum, entwickelt hat, bleibt zu fragen. Prophetische Aussagen, göttlich inspiriert, richten sich demnach auch auf die Gegenwart und sind mit einem unverrückbaren Wahrheitsanspruch verbunden. Gregor der Große, der die Definition Cassiodors weiterentwickelt, erläutert in seinen häufig überlieferten Ezechiel-Homilien Gegenwartsprophetie am Beispiel von 1 Cor 14,24 f. Prophezeien meint im Brief des Paulus die Aufdeckung von Herzensgeheimnissen. Nicht das Vorhersagen des Zukünftigen, so Gregor der Große, sondern das Zeigen des Verborgenen sei die Aufgabe der Prophetie. 15 Prophetische Visionen und Auditionen gehen im biblischen Kontext regelmäßig mit Beauftragungen oder Berufungen einher, um die Uneigenmächtigkeit des Agierens, seine transzendente Legitimation, sicherzustellen. Propheten treten in aller Regel in Krisensituationen auf 16 und stellen „das Monopol auf die Instrumente des Heils in Frage“ 17. Prophetie bedeutet häufig, nicht nur aus Sicht religiös-politischer Amtsträger, „Umkehrung [. . .] der [politisch-]symbolischen Ordnung“ 18. Religionssoziologisch gesprochen stehen Priester und Propheten im religiösen Feld kulturübergreifend in einer Konkurrenz um religiöse Legitimität. Propheten sind im Unterschied zu Priestern, mit Pierre Bourdieu gesprochen, „Träger eines nicht garantierten, an ihre Person gebundenen religiösen Kapitals“ 19. Bourdieu bezeichnet den Propheten an einer Stelle als „auctor, dessen auctoritas ständig zu erringen oder wiederzuerringen ist“ 20. Der Priester verfügt dagegen über eine Anstaltsgnade oder Amtsautorität, „die ihn der Bürde enthebt, seine Autorität ständig erringen und bekräftigen zu müssen“ 21. Das nicht garantierte religiöse Kapital des Propheten bedarf der Autorisierung, um in der Außenperspektive das Eigene vom Gewährten unterscheiden zu können. So gerät das johanneische Ich der Offenbarung in Verzückung und hört hinter sich eine starke Stimme wie von einer Posaune, die zu ihm spricht: „Was du siehst, das schreibe in ein Buch und sende es den sieben Gemeinden“ 22 (Off 1,11). Der Schreibauftrag an den Seher oder die Berufung des Propheten in den alttestament-

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seiner Umwelt“, in Theologische Realenzyklopädie 27 (1997), 477–499; Gerhard Dautzenberg, „Propheten/Prophetie IV. Neues Testament und Alte Kirche“, in ebd., 503–511. Vgl. hierzu Christel Meier, „nova verba prophetae“ (in diesem Band). – Ich danke Christel Meier für weiterführende Hinweise. Pierre Bourdieu, Religion. Schriften zur Kultursoziologie 5, hg. von Franz Schultheis und Stephan Egger, Konstanz 2009, 84. Die Überlegungen Bourdieus orientieren sich unverkennbar an Theoremen der Religionssoziologie Max Webers. Ebd., 63. Ebd., 79. Ebd., 63. Ebd., 19. Ebd., 20. Apc 1,11: quod vides scribe in libro et mitte septem ecclesiis (Biblia Sacra iuxta Vulgatam versionem, hg. von Robert Weber, bearb. von Roger Gryson. 5., verb. Aufl. Stuttgart 2007).

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lichen Büchern bekunden die dem Seher- und Prophetentum zugrundeliegende göttliche Initiative. Prophetisches Sehen ist heteronom ermächtigtes Sehen. Das prophetische Ich in Walthers Kirchenklage ist – wenn auch weitgehend implizit – tatsächlich im Sinne eines Umkehraufrufs tätig, explizit ist dies im zweiten Spruch des Reichstons der Fall, der sogenannten Weltklage, die die reichspolitischen Zustände in Folge des Doppelkönigtums inkriminiert: Das Ich dieser Strophe kontrastiert die sich bekriegenden Völker des Tierreichs mit den desolaten Zuständen im Reich. Die Tiervölker würden gute Regierungen schaffen, Könige und Rechtsordnungen einsetzen und klare Standesunterschiede kennen. Dagegen wird die fehlende Ordnung der politischen Zustände und der damit einhergehende Ansehensverlust beschwörend angemahnt: daz wilt und daz gewürme, die strîtent starke stürme, same tuont die vogel under in, wan daz si habent einen sin: si dûhten sich zenihte, si enschüefen starc gerihte. si kiesent künege unde reht, si setzent hêrren unde kneht. owê dir, tiusche zunge, wie stêt dîn ordenunge, daz nû diu mugge ir künec hât, und daz dîn êre alsô zergât! (L 8,36–9,11)

Die Anrede an ‚die Deutschen‘ – tiusche zunge (L 9,8) – mündet in einen Bekehrungsaufruf: bekêra dich, bekêre (L 9,12). Diesem Aufruf zur Umkehr in der Weltklage entspricht in der Kirchenklage die Anrufung Gottes durch den Klausner. Wer oder was ermächtigt das sehende Ich in der Kirchenklage? Um diese Frage zu beantworten, lohnt es sich, bei der zweiten Strophe des Reichstons, der Weltklage, zu verweilen. Was ändert sich in der dritten gegenüber dieser zweiten Strophe? Auch in der zweiten Strophe ist vom Hören und Sehen die Rede, auch dort hat man es mit einem „Totalitätsanspruch“ 23 des sehenden Ich zu tun. Ich hôrte ein wazzer diezen / unde sach die vische vliezen, / ich sach, swaz in der welte was (L 8,28–30). Neu in der dritten Strophe des Reichstons gegenüber der zweiten Strophe mit Blick auf die Inszenierung der Instanz des sehenden Ich ist der Zusatz mit mînen ougen sowie die Sekundierung des prophetischen Sehens und Hörens durch eine zweite autoritative Instanz, den Klausner, der die chaotischen politischen Zustände mit dem jugendlichen Alter des Papstes in Verbindung bringt. Es scheint nun nicht unwahrscheinlich, dass beide Zusätze sich auf einander beziehen. Der Klausner, 24 dem im Mittelalter in der Hierarchie der religiösen Spezialisten einer der 23 Manfred Günther Scholz, Walther von der Vogelweide, 49. 24 Zur Figur des Klausners bei Walther vgl. Konrad Burdach, „Der gute Klausner Walthers von der

Vogelweide als Typus unpolitischer christlicher Frömmigkeit“, in Zeitschrift für deutsche Philologie 60 (1935), 313–330; Robert Luff, „Mîn alter klôsenaere, von dem ich dô sanc. Zur Neukonzeption

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obersten Plätze eingeräumt wird, stützt mit seinem die Kompetenz des Papstes problematisierenden Votum die Aussagen des sehenden Ich, eines Ich, das ohne mitgelieferte Legitimierung oder Ermächtigung spricht, sich indes, so die Vermutung, auf ein die ‚Autonomie‘ des Sehers akzentuierendes Sehen beruft: mit mînen ougen. In der johanneischen Offenbarung kehrt die Formulierung ‚ich sah‘ regelmäßig wieder, 25 an keiner Stelle aber findet sich ein Sehen ‚mit meinen Augen‘, eben weil es sich hier um ein – theologisch gesprochen – gnadenhaft gewährtes Sehen handelt. Auch Rupert von Deutz widerfährt zu Beginn seiner visionären Begnadung unter explizitem Rekurs auf den alttestamentlichen Seher Ezechiel (Ez 1,1) eine Öffnung der Augen. „Die Augen wurden mir geöffnet und ich sah den Sohn Gottes [. . .]. Ich sah nicht mit leiblichem Gesicht, vielmehr verdunkelten sich plötzlich die leiblichen Augen, damit ich ihn sehe, und bessere taten sich auf, das heißt die inneren Augen [. . .]“. 26 Das Öffnen der inneren Augen erweist sich hier als konstitutiv für die Berufung des Sehers. In der Kirchenklage dagegen könnte sich eine prekäre Selbstermächtigung des prophetischen Sehers abzeichnen, die durch die Einlassung des Autorität verbürgenden Klausners, der das vom Ich Gesehene bestätigt, abgesichert werden muss. 27 Hier ließe sich der Einwand erheben, dass es sich bei der Intervention des Klausners um eine von außen herangetragene, sekundäre autoritative Absicherung des offenbar prinzipiell im Unterschied zum Amtsinhaber auf Autorisierung angewiesenen Propheten handeln könnte. Prophetische Rede scheint im Kontext des Reichstons indes unproblematisch. So tritt in der Weltklage ein sehendes und hörendes prophetisches Ich auf, ohne dass eine (zusätzliche) Autorisierung dieses Prophetentums eingeführt werden müsste. Der Zusatz in der Kirchenklage – mit mînen ougen – bleibt jedenfalls, in welche Richtung man auch immer argumentieren mag, merkwürdig unbestimmt. Mit der konventionellen, autoritativ besetzten persona 28 des Propheten – Ich sach – könnte sich in Walthers Kirchenklage

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des Klausners bei Walther von der Vogelweide“, in Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 128 (1999), 17–41; Guntram Haag, „Der Klausner in der Sangspruchdichtung Walthers von der Vogelweide: Sprechhandeln zwischen geistlichem Rollenspiel und politischem Spruchdiskurs“, in Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 126 (2002), 169–176. Vgl. etwa die Passagen über die Huldigung vor dem Thron Gottes, Apc. 4,1: post haec vidi et ecce ostium apertum in caelo [. . .] – oder die Schau des Neuen Jerusalem, Apc 21,1: et vidi caelum novum et terram novam. . . . quia aperti sunt mihi oculi et uidi Filium Dei. [. . .] Non corporali uisu uidi, sed ut uiderem, repente euanuerunt corporis oculi et aperti sunt meliores, id est interiores oculi [. . .] (Rupert von Deutz, De gloria et honore filii hominis super Mattheum, 369,242–245). Die vermutlich flapsig gehaltene Bemerkung von Eric Marzo-Wilhelm, Walther von der Vogelweide. Zwischen Poesie und Propaganda. Untersuchungen zur Autoritätsproblematik und zu Legitimationsstrategien eines mittelalterlichen Sangspruchdichters (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprachund Literaturwissenschaft. Reihe B/Untersuchungen 70), Frankfurt a.M. [u.a.] 1998, 163: „Doppelt genäht hält besser“, verkennt die Autorschaftsproblematik der Kirchenklage. Vgl. hierzu Manfred Kern, „Auctor in persona. Poetische Bemächtigung, Topik und die Spur des Ich bei Walther von der Vogelweide“, in Helmut Birkhan (Hg.), Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Walther-Symposion

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ein aufkeimendes Autorschaftsverständnis eigenen Rechts – mit mînen ougen – zu einem hybriden Ich verbinden, 29 das sich ohne weitere sekundäre Autorisierung in Gestalt des Klausners nicht zu artikulieren vermag.

3. Bei Rupert von Deutz verbindet sich wie bei namhaften anderen geistlichen Autoren des 12. Jahrhunderts – unter ihnen Abaelard, Guibert de Nogent, Aelred von Rievaulx, Elisabeth von Schönau und Hildegard von Bingen, um nur diese zu nennen – eine ‚angenommene Rolle‘ mit ‚Personalem‘. Autorschaft wird dabei, insofern sie einer (inszenierten?) existentiellen Krise entspringt, in ‚autobiografisch‘ gefärbten Äußerungen als Produkt einer (bisweilen visionär grundierten) conversio gefasst. Im Rahmen dieser conversio gehen Autorität sichernde Referenzmodelle und ‚Eigenes‘ eine hochkomplexe Beziehung ein. 30 Zu den Referenzmodellen zählt etwa der traditionsprägende Prügeltraum des Hieronymus, 31 der beim Kirchenvater eine Abwendung von der imitatio veterum bewirkt, oder die conversio-Schilderung des Augustinus im achten Buch seiner Confessiones. Sowohl das conversio-Modell insgesamt als auch die Wende im Prozess der conversio treten in der hier ins Auge gefassten geistlichen Literatur des 12. Jahrhunderts in Varianten auf. 32 Man kann den Dreiklang aus adaptierten Autoritätsrollen, ‚Eigenem‘ und conversio geradezu als Muster ‚existentieller Autorschaft‘ 33 im 12. Jahrhundert ansetzen, vielleicht lässt sich in diesem Sinne sogar von einem Autorschaftsdispositiv sprechen, das für eine bestimmte Art der dichterischen Rede in Anschlag zu bringen wäre. ‚Eigenes‘ wäre hier so zu fassen, dass einerseits Lebensgeschichtliches – im dreiphasigen conversio-Narrativ

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der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich) (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil-hist. Kl., Sitzungsberichte, Bd. 721), Wien 2005, 193–217. Gerhard Hahn, Walther von der Vogelweide, 117, warnt, man solle die bei Walther gehäuft auftretende Ich-Form „nicht zu schnell“ als Ausdruck eines hohen Selbstbewusstseins werten. – Die breitere Kontextualisierung dieser Ich-Form, die dieser Beitrag unternimmt, versteht sich als Vorschlag, die Frage nach den Autoritätsrollen in Walthers Sangspruchdichtung aus ihrer Isolierung aufzubrechen und durch eine Kontextanreicherung anders zu perspektivieren. Mehr als einen solchen Vorschlag anzubieten, kann und will dieser Beitrag nicht leisten. Vgl. hierzu Christel Meier, „Autorschaft im 12. Jahrhundert. Persönliche Identität und Rollenkonstrukt“, in Peter von Moos (Hg.), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Köln/Weimar/Wien 2004, 207–266, mit weiterführender Literatur zu hochmittelalterlichen Autorschaftskonzepten. Vgl. hierzu Georg Misch, Geschichte der Autobiographie. Bd. III 1, 2. Hälfte, Frankfurt a.M. 1955, 425–428. Christel Meier, „Autorschaft im 12. Jahrhundert“, 264. Zum Begriff ebd., 266.

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sind dies ‚Lebensdaten‘ aus der Zeit vor der kritischen Wende –, andererseits auctoritates Überbietendes in die neue Autorschaftsvorstellung einfließen. Bei Walther, dessen Adaptation der autoritativen Seher-Rolle den kraftvollen Auftakt der Kirchenklage bildet, könnte sich ‚Eigenes‘, ein Anspruch auf autonome Rede, abbreviaturhaft im Zusatz: mit mînen ougen verbergen, der sich der gleichfalls lakonisch gefassten sprachlichen Seher-Geste ich sach anschließt. Das Sprechen bei Walther, Walthers Autorschaft als Sangspruchdichter, legitimiert sich nicht zuletzt aus der vorherrschenden reichspolitischen Krisensituation. Sind es bei den geistlichen Autoren des 12. Jahrhunderts häufig innere (spirituelle) Krisen, die das neue Konzept von Autorschaft generieren, ist es bei Walther die politische Krise, die einer dichterischen Intervention bedarf. Das conversio-Modell, das bei den geistlichen Autoren zu beobachten ist, trägt bei Walther eine ins gesellschaftliche Außen gewendete politische Signatur. Walthers Kirchenklage ist ein Plädoyer dafür, das Ruder herumzureißen. Die Mahnung zur conversio ist kollektiv gefasst. Bei Walther lässt sich das Befinden des Einzelnen nicht von den gesellschaftlichen Gegebenheiten trennen. Ein kollektiver Umkehrakzent, der nicht zuletzt die ‚liedhafte Einheit‘ des Reichstons konstituiert, wird konsequent in allen drei Strophen gesetzt. Die Reichsklage des Reichstons knüpft die Frage nach dem guten und gelungenen individuellen Leben, das göttliche und weltliche Sphäre umfasst, an die politischen Gegebenheiten. Erst wenn Frieden und Recht wiederhergestellt seien, bestehe die Möglichkeit, êre und varnde guot (L 8,14) sowie gotes hulde (L 8,16) konfliktfrei zusammenzuführen. Weltklage und Kirchenklage problematisieren auf je eigene Weise die reichspolitischen Auflösungserscheinungen. In der Weltklage wird eine Änderung der Verhältnisse an Philipp gebunden, der aufgefordert wird, die Krone aufzusetzen – Philippe, setze den weisen ûf (L 9,15) –, die Kirchenklage nimmt den zu jungen Papst ins Visier, Rettung und Wende verspricht hier allein die erflehte göttliche Intervention: hilf, hêrre, dîner cristenheit (L 9,39). Autoritätsrolle, Eigenes und conversio-Mahnung sind bei Walther wie bei den ins Feld geführten geistlichen Autoren aufs Engste miteinander verbunden. Man hat es bei der IchInszenierung in der Kirchenklage, will man dem folgen, mit der Politisierung eines geistlichen Modells ‚existentieller‘ Autorschaft zu tun. Ein freilich noch unsicherer und deshalb absicherungsbedürftiger literarischer Autonomieanspruch würde sich hier bemerkbar machen, das Aufscheinen einer dichterischen Selbstbehauptung in Gestalt prophetischer Rede. Es bleibt die Frage, inwiefern unter der Voraussetzung einer ‚liedhaften Einheit‘ des Reichstons die Akzentuierung des Eigenen in der Kirchenklage in Gestalt des eigenen Sehens auch die Autoritätsrollen der anderen Strophen – Ich saz (L 8,4), Ich hôrte (L 8,28) – in ein neues Licht zu rücken vermag.

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Stimmen aus dem Jenseits Prophetie und Autorschaft im Zuge fortschreitender aemulatio

Vorgeführt wird mit diesem Beitrag eine Kette, deren Glieder durch den Dichter der Odyssee sowie durch Vergil und Dante gebildet werden – dies in leisem Anklang an die Deutung, die die Goldene Kette Homers 1 im Neuplatonismus erfahren hat, wenn sie Nachfolge und Kontinuität für die platonische Schultradition an der Akademie in Athen reklamieren sollte. So wie im 5. Jahrhundert n. Chr. den Gelehrten der Akademie die Reproduktion und Weiterentwicklung der vorgängigen philosophischen Lehren im Bild der catena aurea Homeri als erstrebenswert erschienen, 2 so spielen für Vergil und auch noch für Dante imitatio und aemulatio eine gewichtige Rolle, wenn sie sich wie Vergil mit Homer und wie Dante mit Vergil auseinandersetzen. Doch stellt die Orientierung an den Vorbildern kein Hindernis bei der Hervorbringung von Neuem dar. Vielmehr lässt sich beobachten, dass Neues gerade dadurch entstehen kann, dass poetische Verfahren des Vorgängers wiederholt und weiter ausgeführt werden. Das wetteifernde Fortschreiben der literarischen Tradition offenbart überdies, dass Neues auf gleiche Weise generiert werden kann – in den hier gewählten Fällen, indem vormals im Kleinen Geleistetes generalisiert und für ein größeres Konzept fruchtbar gemacht wird. Dies sei anhand der Nekyia des Odysseus, der Katabasis des Aeneas und in einem abschließenden Blick auf den Jenseits-

1 Vgl. Homer, Ilias, übertr. v. Hans Rupé, mit Urtext, Anhang u. Registern (Sammlung Tusculum),

München/Zürich 81983, 7.18–27. Zur Auslegungsgeschichte der catena aurea Homeri vgl. u.a. Arthur O. Lovejoy, Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, übers. v. Dieter Turck, Frankfurt a.M. 1985 sowie Friedrich Ohly, „Zur Goldenen Kette Homers“, in Gerhard Buhr/Friedrich A. Kittler/Horst Turk (Hgg.), Das Subjekt der Dichtung, Fs. für Gerhard Kaiser, Würzburg 1990, 411–486. 2 Vgl. Pierre Lévêque, Aurea Catena Homeri. Une étude sur l’allégorie grecque (Annales littéraires de l’Université de Besançon 27), Paris 1959, 41–44.

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reisenden ‚Dante‘ zu zeigen versucht. Es wird um die jeweilige Funktion der Prophetien aus dem Jenseits gehen und darum, wer spricht. 3 Bekanntlich gehört zu des Odysseus Erzählungen am Hof der Phäaken der Bericht über seine Fahrt zur Unterwelt. Zweck der Reise und mit der Nekyia verfolgtes dichterisches Anliegen ist die Weissagung des Teiresias. Odysseus berichtet, Kirke habe ihm erklärt, ehe er heimfahren könne, müsse er sich mit seinen Gefährten zum Haus des Hades begeben, damit er dort von der Seele des Teiresias erfahre, auf welche Weise er nach Hause gelange, gemeint sind wohl das Itinerar und die Dauer der Fahrt. 4 Freilich eröffnet ihm Teiresias, wie aus des Odysseus Bericht erhellt, solch Konkretes nicht. Im Gegenteil bleibt die Prophezeiung recht vage. So gibt Teiresias über den zu nehmenden Seeweg nichts preis und spricht nur von der einen Station des Nostos, Thrinakia, und außerdem hypothetisch. 5 Falls er und seine Gefährten die Rinder (und Schafe) des Helios auf Thrinakia unversehrt ließen, fänden sie zu guter Letzt heim, falls nicht, würden Gefährten und Schiff vernichtet, und er selbst gelange erst spät und ohne seine Gefährten nach Ithaka. Dort finde er Unheil vor, die sein Gut verprassenden Freier, die er vernichten werde, wobei Teiresias offenlässt, ob durch List oder im offenen Kampf. Der Seher wendet sich darauf dem Ende des Odysseus zu und wird dabei präziser. Der Held solle, nachdem er die Freier getötet habe, mit einem Ruder über Land zu Leuten ziehen, die vom Meer nichts wüssten und kein Salz zu sich nähmen, und als Zeichen, dass er am richtigen Ort sei, werde ihm ein Wanderer begegnen, der das Ruder für eine Worflerschaufel halte. Dann solle er das Ruder in die Erde stoßen, Poseidon Opfer darbringen, nach Hause zurückkehren und dort allen Göttern heilige Hekatomben opfern. Weit vom Meer entfernt, also geschützt vor dessen Gefahren, werde er schließlich in stattlichem Alter, umringt von seinem glücklichen Volk, einen sanften Tod erleiden. 6 Die Funktion dieser Prophezeiung ist wohl zuallererst eine innerepische: Odysseus muss erfahren, was der Hörer/Leser aus der Telemachie längst weiß: Er muss von den Freiern erfahren. 7 Umso erstaunlicher erscheint es, dass ihn des Teiresias Zukunftsvi3 Mit der Frage „wer spricht?“ ist der Beitrag narratologisch ausgerichtet. Dabei wird weitgehend auf

die Terminologie der neueren Erzähltheorie verzichtet. 4 Vgl. Homer, Odyssee, griechisch u. deutsch, Übertragung v. Anton Weiher, mit Urtext, Anhang u.

Registern, Einführung v. Alfred Heubeck, München 61980, 10.489–540. Zur Problematik der Stelle 10.539 f. vgl. u.a. Wilhelm Büchner, „Probleme der Homerischen Nekyia“, in Hermes 72 (1937), 104–122, hier 119 mit Anm. 5. 5 Vgl. Irene J. F. de Jong, A Narratological Commentary on the Odyssey, Cambridge 2001, 277. 6 Vgl. Od., 11.100–137. 7 Kirke zufolge geht es, wie oben erwähnt, um den Heimweg. Dem entspricht allenfalls des Teiresias Warnung vor den Rindern des Helios, der hohe Bedeutung zukommt, weil sie eine Wahl impliziert und im Nachhinein das Fehlverhalten der Gefährten des Odysseus erhellt. Vgl. Irene J. F. de Jong, Narratological Commentary, 277. Von großer Bedeutung ist auch die Weissagung der Zukunft des Helden nach der Vernichtung der Freier. Hier erscheint das Leben des Odysseus als von den anderen Leben der Helden, denen Odysseus im Hades begegnet, abgehoben. Dadurch erhält die Prophetie „die religiöse Perspektive, die dem Seherwort eigen ist“, Uvo Hölscher, Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman, München 1988, 310. Dennoch muss der Hörer/Leser aus der Weissagung des

Stimmen aus dem Jenseits

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sion nicht erschreckt – prima facie vielleicht deshalb nicht, weil er auch hört, dass er die Freier töten wird. Eigenartig ist dann allerdings, dass er anschließend die Seele seiner Mutter Antikleia danach befragt, ob Penelope ihm bisher treu geblieben oder ob seine Königswürde an einen anderen übergegangen sei. 8 Eigenartig ist auch, dass er ausgerechnet diesen Part der Prophetie während seiner Erzählungen zu vergessen scheint, denn er kann sich ja vorstellen, bei den Phäaken noch ein Jahr zu verweilen. 9 Das Seherwort von der Bedrohung auf Ithaka scheint auf den Helden wenig Eindruck zu machen, 10 ganz im Unterschied zu des Teiresias Wort über die Rinder des Helios, dessen er sich wieder gewahr wird, als er und seine Gefährten sich Thrinakia nähern, 11 und auch im Unterschied zur Prophezeiung über seine Versöhnung mit Poseidon und seinen milden Tod, von denen er Penelope erzählt. 12 Erst als Athene ihm nach seiner Ankunft auf Ithaka von den Freiern berichtet, reagiert er bestürzt. 13 Als Beweggrund, (möglichst rasch) heimzukehren, erscheint die von Teiresias geweissagte Gefahr auf Ithaka somit allein dem Rezipienten, der – seine Identifikation mit dem Helden vorausgesetzt – spätestens ab der Erzählung am Hof des Alkinoos darauf aus sein muss, dass Odysseus endlich nach Hause gelangt, 14 zumal seit der Nekyia fast acht Jahre vergangen sind. 15 Dass Odysseus vor den Phäaken der geweissagten Bedrohung durch die Freier keine Beachtung schenkt, liegt wohl auch daran, dass sie der epischen Realität angehört und zur Märchenwelt Scherias nicht passt, der die Apologoi des Odysseus weitgehend verpflich-

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Teiresias vor allem die akute Gefahr erkennen, die auf Ithaka droht, zumal er darauf schon seit dem Beginn des Epos vorbereitet ist. Insofern liegt auf diesem Part der Prophetie für den Rezipienten der Hauptakzent. Vgl. Irene J. F. de Jong, Narratological Commentary, 280. Vgl. Od., 11.355–361. Es sei daran erinnert, dass das Vergessen der Heimfahrt auch Gegenstand der Erzählungen vom Aufenthalt bei den Lotophagen und bei Kirke ist. Odysseus bleibt jedes Mal vom Konsum der Drogen, die die Heimkehr bzw. das Vaterland vergessen machen, verschont, erliegt aber Kirkes Versuchungen und versäumt sich bei ihr – wie später Aeneas bei Dido – trotzdem. Wenn er die Heimfahrt vergisst, so also immer aus eigenem ‚Verschulden‘. Vgl. ebd. 9.94–98 u. 10.235f. Vgl. auch Michèle Simondon, La mémoire et l’oubli dans la pensée grecque jusqu’à la fin du Ve siècle avant J.-C. Psychologie archaïque, mythes et doctrines (Collection d’études mythologiques), Paris 1982, 136 ff. Vgl. Uvo Hölscher, Odyssee, 87 f. Vgl. Od., 12.264–267. Odysseus beruft sich nicht nur auf Teiresias, wenn er seine Männer warnt, sondern mehr noch auf Kirke, die die Prophezeiung in nahezu wörtlicher Übereinstimmung mit Teiresias wiederholt hat. Vgl. ebd. 12.127–141. Dabei vereindeutigt er das Wort des Teiresias bzw. der Kirke, indem er sagt, Kirke habe geraten, Thrinakia zu meiden, denn dort erwarte sie Unheil. Dies ist wohl dem Nachdruck geschuldet, den Odysseus seiner Warnung verleihen möchte. Vgl. ebd. 12.271–276. Vgl. ebd. 23.267–284. Vgl. ebd. 13.375–391. Vgl. allgemein Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (stw 955), Frankfurt a.M. 1982, 244–292. Vgl. auch Thomas Schmitz, „Ist die Odyssee ‚spannend‘? Anmerkungen zur Erzähltechnik des homerischen Epos“, in Philologus 138 (1994), 3–23, insbes. 8f. Vgl. Uvo Hölscher, Odyssee, 87 u. 108.

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tet sind. 16 Odysseus will die Sympathie der Phäaken gewinnen, gleicht seine Erzählungen ihrem Erfahrungs- und Erwartungshorizont an und ‚erfindet‘ sich zugleich als Held, dessen Ruhm (klËoc) bis in den Himmel reiche, wie er den Phäaken am Beginn seiner Erzählungen erklärt. 17 Dieser Ruhm manifestiert sich nicht zuletzt darin, dass die Seele des berühmten blinden Sehers ihm (in dunklen Worten) geweissagt hat. 18 Das heißt, bei den Phäaken kommt es auf den Umstand der Prophezeiung an, nicht auf deren Inhalte, was dadurch bekräftigt wird, dass Odysseus seine Reaktion auf die Seherworte eher lapidar in einen Hinweis auf den Willen der Götter kleidet und dass er die Reaktion Kirkes auf seinen Bericht über das Geschehen ebenso lapidar ausfallen lässt, wenn er berichtet, sie habe die Erlebnisse im Hades als vollendet kommentiert. 19 Somit verdankt sich die Missachtung der Gefahr auf Ithaka, wie sie die Erzählung des Odysseus offenbart, auch der Absicht des Protagonisten, seine Gastgeber von seiner Außergewöhnlichkeit zu überzeugen. Das Märchenhafte, das dem Stoff der Apologoi zu eigen ist, könnte zu dem Schluss verleiten, dieser Stoff sei deshalb in Ich-Erzählungen dargeboten, damit er vom Hörer/ Leser gleich den Lügengeschichten des Odysseus als pure Fiktion entlarvt werden könne. Dem kann entgegengehalten werden, dass der Ich-Erzähler Odysseus sich kaum vom allwissenden Erzähler der Odyssee unterscheidet, 20 vermag er doch sogar von einer Unterredung zwischen Helios und Zeus zu berichten – mit der Einschränkung freilich, Kalypso habe ihn darüber in Kenntnis gesetzt, 21 sodass die „Logik der Ich-Form“ 22 bewahrt bleibt. Die Ich-Erzählung des Odysseus bleibt als Ich-Erzählung erkennbar, doch führt sie nicht oder nur in geringem Maße zu einer „Verengung der Perspektive“ 23, demgemäß auch nicht zu einer Distanzierung des Erzählers von einem fiktionalen Stoff, zu dem auch die Nekyia zu rechnen wäre. 24 Dagegen spricht, dass des Odysseus Innensicht oftmals mit der Erzählerstimme in Einklang gebracht ist. Dies zeigt insbesondere die Warnung des 16 Vgl. ebd. 109. Vgl. auch Werner Suerbaum, „Die Ich-Erzählungen des Odysseus. Überlegungen zur

epischen Technik der Odyssee“, in Poetica 2 (1968), 150–177, hier 169. 17 Vgl. Od., 9.19 f. Vgl. auch Irene J. F. de Jong, „The Homeric Narrator and his own kleos“, in Mnemo-

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syne 59 (2006), 188–207, hier 197 sowie Frederick Ahl/Hanna M. Roisman, The ‚Odyssey‘ re-formed, Ithaca, NY/London 1996, 94f. Vgl. Frederick Ahl/Hanna M. Roisman, Odyssey, 125. Vgl. auch Emilia Di Rocco, Io Tiresia. Metamorfosi di un profeta, Rom 2007, 89. Vgl. Od., 11.139 u. 12.37. Vgl. Werner Suerbaum, „Ich-Erzählungen“, 157–161. Vgl. auch Bernd Effe, „Entstehung und Funktion ‚personaler‘ Erzählweisen in der Erzählliteratur der Antike“, in Poetica 7 (1975), 135–157, hier 143 f.; Thomas Baier, „Die Wandlung des epischen Erzählers. Apologe bei Homer, Vergil und Ovid“, in Hermes 127 (1999), 437–454, hier 440f. sowie einschränkend Irene J. F. de Jong, „The Subjective Style in Odysseus’ Wanderings“, in Classical Quarterly 42 (1992), 1–11. Vgl. Od., 12.376–390. Thomas Baier, „Wandlung“, 441. Werner Suerbaum, „Ich-Erzählungen“, 154. Vgl. ebd. 175. Vgl. auch Uvo Hölscher, Odyssee, 119ff. sowie Gherardo Ugolini, Untersuchungen zur Figur des Sehers Teiresias, Tübingen 1995, 91.

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Teiresias vor potentiellem Frevel an den Rindern des Helios, den des Odysseus Gefährten schließlich begehen – beides Ereignisse, von denen Odysseus selbst berichtet; beglaubigt wird sein Bericht vom Erzähler, der gleich am Eingang des Epos den Hörer/Leser auf das fatale Geschehen aufmerksam macht. 25 Das heißt nicht, dass der Dichter der Odyssee die Kunst der (Figuren-)Perspektive nicht beherrscht habe. 26 Weist auf diese Technik schon die deutliche Identifizierung der Ich-Erzählung des Odysseus als Erzählung in der Erzählung, 27 so gelangt sie in weiteren Ich-Erzählungen der Odyssee zum Einsatz, etwa wenn die Erzählungen Helenas und des Menelaos sich widersprechende Sichtweisen augenfällig machen. 28 Gesteigert wird die Erzähltechnik der eingebetteten Erzählung, wenn der Dichter der Odyssee in die Erzählungen des Odysseus von seinen Begegnungen im Hades die Erzählung der Seele Agamemnons von seiner Ermordung fügt, 29 und sie erreicht eine weitere Steigerung durch das Raffinement, dass der Dichter eine Erzählung des Odysseus in die Erzählungen des Odysseus integriert, da Odysseus während seiner Erzählungen am Hof der Phäaken eine Erzählung von den Taten des Neoptolemos wiedergibt, die Achilleus, den toten Vater, im Hades froh gestimmt habe. 30 Dieses hoch entwickelte Prinzip der Verschachtelung, das die Nachwelt zu imitatio und Überbietung geradezu herausgefordert hat, 31 zwingt den Hörer/Leser zu erkennen, dass mit der Ich-Erzählung des Odysseus das Erzählen selbst zum Gegenstand der Odyssee avanciert. Es ist dann nur konsequent, wenn der Dichter gerade Odysseus als Erzähler profiliert: Dies zeigen der Eingang und das Ende der Apologoi, wenn Odysseus formelhaft an Alkinoos die Frage richtet, womit er seine Geschichten beginnen und womit er sie beenden solle, und wenn er der Chronologie der Ereignisse gemäß am Ende Kalypso zwar

25 Vgl. Od., 1.6–9 u. 12.261–425. Vgl. dazu und zu weiteren Beglaubigungen des von Odysseus Erzähl-

ten auch Irene J. F. de Jong, Narratological Commentary, 7 u. 221f. 26 Anders Erich Auerbach, „Die Narbe des Odysseus“, in ders., Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in

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der abendländischen Literatur, Bern/München 71982, 5–27. Zur Kritik an Auerbach vgl. Adolf Köhnken, „Die Narbe des Odysseus. Ein Beitrag zur homerisch-epischen Erzähltechnik“, in Antike und Abendland 22 (1976), 101–114. Vgl. auch ders., „Perspektivisches Erzählen im homerischen Epos: Die Wiedererkennung Odysseus – Argos“, in Hermes 131 (2003), 385–396. Vgl. Adolf Köhnken, „Narbe“, 113 mit Anm. 46. Vgl. Od., 4.235–264 u. 4.266–289. Vgl. auch Werner Suerbaum, „Ich-Erzählungen“, 171f. mit Anm. 45. Vgl. Od., 11.405–434. Zu den Erzählungen innerhalb der Apologoi vgl. Werner Suerbaum, „IchErzählungen“, 171f. mit Anm. 45. Vgl. Od., 11.505–537. Hier sind zuallererst Heliodors Aithiopika zu nennen, aber auch Vergil, der schon in die Erzählung des Aeneas am Hof Didos die Erzählung Sinons und die Erzählung des eigens dazu erfundenen Achaemenides eingebaut hat. Vgl. Vergilius Maro, Publius, Aeneis, lateinisch/deutsch, in Zusammenarbeit mit Maria Götte hg. u. übers. v. Johannes Götte (Tusculum-Bücherei), München 21965, 2.108–194 u. 3.613–654. Zur Figur des Achaemenides vgl. Richard Heinze, Vergils epische Technik, unveränd. reprograph. Nachdr. der 3. Aufl. Leipzig/Berlin 1915, Stuttgart 61976, 112 mit Anm. 3. Zur Orientierung Heliodors an der Odyssee vgl. Werner Suerbaum, „Ich-Erzählungen“, 154.

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nochmals erwähnt, aber mit Verweis auf seine bereits erfolgte Erzählung von Kalypso es ablehnt, die Erzählung ein zweites Mal darzubieten. 32 Noch deutlicher wird die Stilisierung des Protagonisten als Erzähler durch die Faszination der Phäaken von seinem Bericht: Nachdem Odysseus seine Erzählungen unterbrochen und ebenso nachdem er sie abgeschlossen hat, verharren sie – gebannt von der beim Erzählen entstandenen Zauberstimmung – in Schweigen, 33 und auch Odysseus selbst scheint von dieser Stimmung ergriffen, wie sonst könnte er im Moment des Innehaltens die ihn drängende Heimkehr vergessen und der Vorstellung Raum geben, die Gastfreundschaft des Alkinoos noch länger genießen zu wollen. 34 Wenn Alkinoos dann Odysseus auffordert weiterzuerzählen, schmeichelt er ihm mit den Worten, Odysseus habe wie ein Rhapsode seine Geschichte vorgetragen, 35 und vor allem habe er nicht Fabulöses, sondern Wahres berichtet. Angesichts des märchenhaften Status des Sprechers wird dem Kommentar des Alkinoos damit eine ironische Komponente verliehen, 36 doch überführt auch dies die Apologoi und insbesondere die Erzählung von der Nekyia noch nicht bloßer Fiktion. Der Kommentar kennzeichnet die Phäaken, nicht Odysseus, der die Autorität des Erzählers oder gar die Autorität der am Beginn des Epos angerufenen Muse 37 auf seiner Seite hat, da die Figurenperspektive mit der Perspektive dieser Instanzen enggeführt wird. 38 Mithin kann für die Frage nach Prophetie und Autorschaft festgehalten werden, dass Odysseus aus einer quasi-auktorialen 39 Perspektive von einer Prophetie berichtet, der mit dem geweissagten Gebaren der Freier eine sowohl innerepische als auch außerepische Bedeutung zukommt, insofern der Wissenshorizont des Protagonisten ab da mit dem der Rezipienten des Epos in eins fällt. Dass Odysseus auf die referierte Weissagung des Teiresias nicht reagiert, nicht, wie zu erwarten, nun umso mehr auf Heimkehr dringt, bleibt trotz der vorgeführten Erklärungsversuche eine crux interpretum, die beim Hörer/Leser Spannung bewirkt. 40 Hinzu kommt, dass des Teiresias Prophetie über das Ende des Helden, von der Odysseus selbst berichtet und die er später bei Penelope als weitere Mühsal 32 33 34 35

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Vgl. Od., 9.14 u. 12.450–453. Vgl. auch ebd. 7.241–266. Vgl. ebd. 11.333f. u. 13.1f. Vgl. Uvo Hölscher, Odyssee, 105f. Vom Rhapsoden, wie ihn insbesondere Demodokos repräsentiert, unterscheidet sich Odysseus freilich vor allem dadurch, dass er Selbsterlebtes wiedergibt. Vgl. Frederick Ahl/Hanna M. Roisman, Odyssey, 93. Vgl. ebd. Frederick Ahl/Hanna M. Roisman gehen etwas exzentrisch immer wieder von einer Muse aus, die alles Geschehen wiedergebe. Dies dürfte der theory of deconstruction geschuldet sein, der sie sich verbunden fühlen. Vgl. ebd. 12–16 u. 26. Vgl. dagegen Irene J. F. de Jong, „Homeric Narrator“. Vgl. Werner Suerbaum, „Ich-Erzählungen“, 168. Vgl. auch Irene J. F. de Jong, „Homeric Narrator“. Ich übernehme den Ausdruck der Untersuchung von Möllendorffs, der ihn auf Anchises anwendet. Vgl. Peter von Möllendorff, „Aeneas und Odysseus. Die ‚Tore des Schlafs‘ in Aen. 6,893–99“, in J. P. Schwindt (Hg.), Zwischen Tradition und Innovation. Poetische Verfahren im Spannungsfeld Klassischer und Neuerer Literatur und Literaturwissenschaft, München/Leipzig 2000, 43–66, hier 60. Zur Spannung, die die Odyssee birgt, vgl. allgemein Thomas Schmitz, „Ist die Odyssee ‚spannend‘?“.

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interpretiert, 41 über das Epos hinausweist. 42 Sie kann nicht mehr vom Erzähler beglaubigt werden; es bleibt der Imaginationskraft des Hörers/Lesers überlassen, sie als wahrhaftig anzuerkennen oder nicht. Auf diesen Kunstgriff wird noch einmal zurückzukommen sein. Was Vergil Homer und dem Dichter der Odyssee im Großen und Kleinen, von Tektonischem bis zur großen Zahl einzelner zitierter Verse verdankt, ist seit der Spätantike Gegenstand gelehrten Interesses. 43 Mit Blick auf Prophetie und Autorschaft seien lediglich einige Parallelen des sechsten Buches der Aeneis mit dem elften Gesang der Odyssee sowie dabei deutlich werdende Umakzentuierungen aufgezeigt. Ziel des sechsten Buches der Aeneis wie des elften Gesangs der Odyssee ist die Prophezeiung, die dem Helden in der Unterwelt gewährt wird, und gleich Odysseus wird Aeneas kurz vorher zum Gang in das Totenreich aufgefordert, allerdings nicht von einer Gestalt wie der Kirkes, sondern von der (Traum?-)Erscheinung des toten Anchises selbst, der seine spätere Weissagung bereits hier in Ansätzen vorwegnimmt. 44 Dies verleiht der folgenden Katabasis ein größeres Gewicht, geht es doch schon bei der Vorbereitung des sechsten Buches nicht mehr darum, Einzelnes wie eine Wegstrecke zu erfahren, auf das dann nicht mehr Bezug genommen wird, sondern um den Kern der Prophetie, das (zukünftige) Geschlecht des Aeneas. 45 Vergil erreicht diese Hinführung zum Wesentlichen, indem er den Schatten des Anchises, der bei der eigentlichen Prophetie die Stelle des Teiresias einnimmt, hier an die Stelle Kirkes setzt. 46 Mehrfache Vertretungen die-

41 Vgl. Od., 23.248–253. 42 Vgl. u. a. John Peradotto, Man in the Middle Voice. Name and Narration in the Odyssey (Martin

Classical Lectures, N.F. 1), Princeton, NJ 1990, Kap. 3: Polytlas: The Ends of the Odyssey, 59–93. 43 Als spätantike Gelehrte, die ihre Studien unter anderem dem Homer-Vergil-Vergleich gewidmet

haben, seien Macrobius und Servius genannt: Macrobius, Saturnalia, hg. von Jacob Willis, Nachdr. der Ausg. 1970 Stuttgart/Leipzig 1994, sowie Servius, Servii Grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii, hg. von Georg Thilo/Hermann Hagen, 3 Bde., unveränd. photomechan. Nachdr. der Ausg. Leipzig 1881, 1884 u. 1887, Hildesheim 1961. Als bedeutendste Gelehrte, die in unserer Zeit dieses Forschungsinteresse verfolgt haben, müssen Norden und Knauer gelten. Vgl. Eduard Norden, P. Vergilius Maro Aeneis Buch VI, Darmstadt 51970 [11903]. Vgl. auch Georg Nicolaus Knauer, Die Aeneis und Homer. Studien zur poetischen Technik Vergils mit Listen der Homerzitate in der Aeneis (Hypomnemata 7), Göttingen 21979 [11964]. Zur neueren Forschung vgl. u.a. Thomas Berres, „Vergil und Homer. Ein Beitrag zur Entmythologisierung des Verhältnisses“, in Gymnasium 100 (1993), 342–369, mit besonderer Kritik an Knauer. Vgl. auch Gregor Vogt-Spira, „Ars oder ingenium? Homer und Vergil als literarische Paradigmata“, in Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N.F. 35 (1994), 9–31 sowie ders., Artikel „Homer-Vergil-Vergleich“, in Der Neue Pauli, Bd. 14, Sp. 516–523. Über den Einfluss Homers hinausweisend vgl. Tilman Schmit-Neuerburg, Vergils Aeneis und die antike Homerexegese. Untersuchungen zum Einfluß ethischer und kritischer Homerrezeption auf imitatio und aemulatio Vergils (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 56), Berlin/New York 1999. 44 Vgl. Aen., 5,721–739. 45 Anchises formuliert: Tum genus omne tuum et, quae dentur moenia, disces, Aen., 5,737. Vgl. Eduard Norden, Aeneis Buch VI, 347. 46 Vgl. Georg Nicolaus Knauer, Die Aeneis und Homer, 140f.

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ser Art gehören zu Vergils Bearbeitungstechniken. 47 Dementsprechend übernimmt dann auch die cumäische Sibylle eine Aufgabe Kirkes, die Odysseus Verhaltensanweisungen mit auf den Weg zum Hades gibt. 48 Insbesondere rät Kirke, an einer bestimmten Stelle am Eingang des Hades Schafe zu opfern, deren Blut die Seelen der Toten als eine Art Verbindung mit den Lebenden trinken müssen, damit sie Odysseus ihr Wissen vermitteln können. 49 Das (eher mythische) Detail außer Acht lassend, behält Vergil lediglich allgemein die Opferung der Schafe bei, wenn er die Antwort der Sibylle auf die Bitte des Aeneas gestaltet, ihm den Weg zum Vater zu weisen. 50 Zudem gibt sie ihm auf, den goldenen Zweig zu pflücken, ohne den niemandem der Abstieg in den Hades gestattet sei. 51 Vergil ersetzt das eine Motiv durch ein anderes (eher märchenhaftes) und stellt auf diese Weise den Unterschied zur Nekyia heraus, denn Aeneas muss nicht mehr wie Odysseus eine Totenbeschwörung, sondern eine Katabasis, einen descensus vollziehen und die jenseitige Welt durchwandern. 52 Zur Figur der Sibylle zurückkommend, sei auch erwähnt, dass sie eine Art Leerstelle ausfüllt. Fragt nämlich Odysseus Kirke, wer ihn auf der Fahrt zum Hades führen werde, und gelangt er dann allenfalls mithilfe der Anleitung Kirkes, aber doch ohne Führer dorthin, so führt die Sibylle Aeneas nicht nur zur Unterwelt, sie führt ihn auch durch die Unterwelt, bis sie Anchises im Elysium erreichen. 53 Zudem übernimmt sie zum Teil die Rolle des Teiresias. Seherin wie dieser Seher prophezeit sie Aeneas, gleich Teiresias in dunkler Rede, das Ende der Irrfahrten, sieht die zukünftigen Kriege in Latium voraus, deutet sie als Kampf um die Gemahlin, verweist auf den Zorn Junos und prophezeit am Ende Rettung. 54 Die Anklänge an die Prophezeiung des Teiresias springen ins Auge: Die Heimkehr nach Ithaka, die dortigen Kämpfe mit den Freiern und der Zorn Poseidons werden dem Kenner der Odyssee ins Gedächtnis gerufen. 55 Der letzte Teil der Prophetie des Teiresias indes wird in die Prophetie des Anchises verlagert, sodass die Sibylle ab der Begegnung mit Anchises „ihre Rolle ausgespielt hat“ 56. Während der Dichter der Odyssee die Weissagung des Teiresias mit dem nicht mehr erzählten Ende des Protagonisten verklingen lässt, weitet Vergil dieses Verweisungsver47 Ein Beispiel für mehrfache Vertretungen ist auch die Figur des Helden, in die der Aineias der Ilias,

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der Odysseus der Odyssee, aber auch der Achilleus der Ilias eingeht, der seinerseits mit Turnus parallelisiert wird. Vgl. Georg Nicolaus Knauer, Die Aeneis und Homer, 354 mit weiteren Beispielen. Vgl. auch Aen., 6,89 sowie Thomas Berres, „Vergil und Homer“, 360–363. Vgl. Georg Nicolaus Knauer, Die Aeneis und Homer, 140f. Vgl. Od., 11.146–149. Dies gilt gleichermaßen für Teiresias, der sich von den übrigen Toten unter anderem dadurch unterscheidet, dass ihm Persephoneia auch im Tod Verstand und Bewusstsein verliehen hat. Vgl. ebd. 10.493ff. u. 11.95f. Vgl. auch Emilia Di Rocco, Io Tiresia, 16, 81f. u. 86f. Vgl. Aen., 6,153. Vgl. ebd. 6,137–148. Vgl. ebd. 6,255–636. Zum goldenen Zweig vgl. Eduard Norden, Aeneis Buch VI, 163–175, insbes. 164. Zum Unterschied von Nekyia und Katabasis vgl. ebd. 356. Vgl. Od., 10.501 u. 505–512 sowie Aen., 6,637ff. Vgl. auch Eduard Norden, Aeneis Buch VI, 154. Vgl. Aen., 6,83–100. Vgl. zu den Parallelen Georg Nicolaus Knauer, Die Aeneis und Homer, 130f. u. 142f. Eduard Norden, Aeneis Buch VI, 44.

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fahren mit der sogenannten Heldenschau aus. Des Anchises große Zukunftsvision der Nachkommen des Aeneas soll den Sohn zu ruhmreichen Taten anspornen, 57 zumal Anchises seine Rede mit einer „Dublette“ 58 der Prophetie der Sibylle beschließt und ihm künftige Kriege vorhersagt. Dass Aeneas von der Sibylle über zu erwartende Kriege aufgeklärt werde, hatte ihm bereits, wie er in Karthago selbst erzählt, der Seher Helenus geweissagt und auch, dass sie ihn unterrichten werde, welche Anstrengung (labor) er meiden und welche er bewältigen müsse. 59 Das Letztere erfolgt dann freilich nicht durch die Sibylle, vielmehr ist es Anchises, der ihn – die Worte des Helenus wiederholend – über zu meidenden und zu bestehenden labor aufklärt. 60 Damit gewinnt diese Prophezeiung und mit ihr die gesamte Katabasis potentiell eine innerepische Dimension, wie sie die Nekyia besitzt, was dadurch verstärkt wird, dass Aeneas sich – wie aus dem Umstand der Ich-Erzählung an Didos Hof erhellt – der hilfreichen Warnung vor Gefahren bewusst sein muss. Doch wie für Odysseus die Prophetie des Teiresias bleibt für Vergils Helden die des Anchises ohne Konsequenzen. Fordert die Folgenlosigkeit der Prophetie für das innerepische Geschehen schon in der Odyssee den Rezipienten heraus, so auch in der Aeneis. Doch erzeugt sie nicht Spannung, denn Vergil gestattet es weder Anchises noch dem Erzähler, die kommenden Gefahren zu benennen. Dadurch bleiben sie dem Leser verborgen. Nicht verborgen bleibt dem Leser dagegen, um das Wort Reinhart Herzogs aufzugreifen, des Aeneas „episches Vergessen“ 61, das sich ja nicht nur auf die Weissagung des Vaters erstreckt, sondern auf etliche andere Enthüllungen, etwa die Hektors und Creusas, 62 und selbst dann noch erkennbar ist, wenn er sich einmal erinnert, weil er dabei irrt. Dies zeigt die Szene, in der Askanius beim Mahl nach der Ankunft in Latium über die zunächst als Unterlage dienenden, dann aber aus nicht gestilltem Hunger gegessenen Fladen bemerkt, nun äßen die Trojaner sogar die

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Vgl. Aen., 6,888–892. Vgl. auch Eduard Norden, Aeneis Buch VI, 313. Eduard Norden, Aeneis Buch VI, 346. Vgl. Aen., 3,454–460. Vgl. ebd. 6,892. Reinhart Herzog, „Aeneas’ episches Vergessen. Zur Poetik der memoria“, in Anselm Haverkamp/ Renate Lachmann (Hgg.), Memoria. Vergessen und Erinnern, München 1993, 81–115, insbes. 107. 62 Aeneas berichtet in Karthago, wie ihm in jener Nacht, als die Griechen in Troja eingedrungen seien, der tote Hektor im Traum erschienen sei mit der Weisung zu fliehen und die Penaten an sich zu nehmen, um nach Irrfahrten auf See endlich eine bedeutende Stadt zu erbauen. Vgl. Aen., 2,270 u. 289–295. Ferner erzählt er, der Schatten Creusas habe ihm verkündet, er werde nach Hesperia (also Italien) gelangen, wo ihm üppiger Besitz, ein Reich und eine Königstochter zur Gemahlin bestimmt seien. Vgl. ebd. 2,775–784. Beide Prophezeiungen bleiben ohne Wirkung für das Handeln des Aeneas bzw. der Aeneaden. Aeneas stürzt sich nach der Erscheinung Hektors in den Kampf, und Aeneas und die Seinen kennen nicht das Ziel ihrer Reise und fahren statt nach Westen nach Thrakien im Norden. Vgl. ebd. 2,314–317, 3,5ff. u. 3,13–19. Vgl. u.a. auch Elisabeth Henry, The Vigour of Prophecy. A Study of Virgil’s Aeneid. Carbondale, IL 1989, 130 sowie Werner Suerbaum, Vergils ‚Aeneis‘. Epos zwischen Geschichte und Gegenwart (RUB 17618), Stuttgart 2007, 114. Zum Traum des Aeneas vgl. Christine Walde, Die Traumdarstellungen in der griechisch-römischen Dichtung, Leipzig 2001, 267–275.

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Tische auf. Aeneas erinnert sich sogleich – nunc repeto, heißt es 63 –, dass ihm das Essen der Tische als Zeichen der Ankunft am richtigen Ort geweissagt worden ist, und preist das bis dahin unerkannte Land als Heimat und Vaterland. Doch war es nicht Anchises, wie Aeneas meint, der ihm das Tischprodigium angekündigt hat, es war, wie der Leser aus des Aeneas Erzählung am Hof Didos weiß, die Harpyie Kelaeno, die es ihm im Zorn vorhergesagt hat, und auch Helenus hat es erwähnt. 64 Wenn Aeneas sich hier einer Weissagung wieder bewusst wird, so trägt dies unter anderem jene innerepische Funktion, zu erkennen, dass er in Italien ist. Dennoch bleibt auch hier die mangelnde Erinnerung des Helden präsent. Ohne im Einzelnen zu diskutieren, warum Aeneas und auch andere Repräsentanten des epischen Personals zahlreiche Verweise auf Zukünftiges vergessen, 65 sei nochmals hervorgehoben, dass der Leser auf dieses Vergessen aufmerksam gemacht wird, wozu die Vielzahl der (vergessenen) Verweise nicht unerheblich beiträgt, und dass die Verweise oftmals von einer Zukunft handeln, die Aeneas nicht, aber sehr wohl die Mitwelt Vergils verstehen kann. 66 Dies ist (von der Schildbeschreibung abgesehen) am eklatantesten bei der ‚Heldenschau‘ der Fall. Nur der mit der römischen Geschichte, der mit der Geschichte der gens Iulia Vertraute kann die Prophetie des Anchises nachvollziehen. 67 Dem entspricht, dass Aeneas ähnlich Odysseus auf die Seherworte des Teiresias auf die Enthüllungen seines Vaters kaum reagiert. 68 Mithin muss der augusteische Leser erkennen, dass er es ist, für den die Weissagung bestimmt ist, was das feierliche tu [. . .] Romane, memento 69 nur noch betont. Auch deshalb erzeugt des Aeneas Vergessen keine Spannung. Es dient dazu,

63 Aen., 7,123. 64 Vgl. Aen. 3,245–257, 3,394 u. 7,107–147, insbes. 7,122–127. 65 So ‚vergisst‘ zum Beispiel Anchises Kassandras Prophezeiung, Hesperia sei den Trojanern bestimmt,

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bzw. nimmt er sie nicht ernst. Vgl. ebd. 3,182–187. Zu den Deutungsangeboten der Forschung vgl. u. a. Philip Holt, „Who Understands Vergil’s Prophecies?“, in The Classical Journal 77 (1982), 303–314; Elisabeth Henry, The Vigour of Prophecy, 130–147 sowie Reinhart Herzog, „Aeneas’ episches Vergessen“. Vgl. Philip Holt, „Who Understands Vergil’s Prophecies?“ Anders zum Beispiel Georg Nicolaus Knauer, Die Aeneis und Homer, 353 und Grebe, die der ‚Heldenschau‘ eine „handlungsimmanente Funktion“ zuschreibt: „Erst hier lernt er [Aeneas, Verf.] den Glanz der römischen Geschichte und seine eigene Bedeutung für Rom in vollem Umfang kennen“, Sabine Grebe, Die vergilische Heldenschau. Tradition und Fortwirken (Studien zur klassischen Philologie 47), Frankfurt a.M. [u.a.] 1989, 61. Grebe kann nicht zugestimmt werden. Dass Aeneas von der Zukunftsvision des Anchises nichts begreift, zeigt wohl am deutlichsten seine Ignoranz angesichts der Schilddarstellungen, die die ‚Heldenschau‘ teilweise wieder aufgreifen. Vgl. Aen., 8,626–731, insbes. 8,628 f. Vgl. auch Reinhart Herzog, „Aeneas’ episches Vergessen“, 91, Anm. 61. Aeneas kommentiert lediglich die erneute Verkörperung der Seelen und fragt nach Marcellus, dem Neffen des Augustus. Anders als die des Odysseus drückt des Aeneas Reaktion auf das Geoffenbarte eher ein Erstaunen aus, wobei sich die Unterschiede, versteht sich, auch aus der verschiedenen Perspektive des Ich-Erzählers Odysseus und des Erzählers der Aeneis erklären. Vgl. Aen., 6,719ff. u. 6,860–866. Aen. 6,851. Vgl. Werner Suerbaum, Vergils ‚Aeneis‘, 23.

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den Leser einzubeziehen, und zwar im Sinne einer „Einformung des augusteischen Lesers [. . .] in den Helden“ 70. In ungleich größerem Maß als die Prophetie des Teiresias, die mit dem vorausgesagten Ende des Odysseus schließt, öffnet die ‚Heldenschau‘ den Blick auf Geschehnisse, die über das im Epos Erzählte hinausführen. Die von Anchises geweissagte Zukunft ist nur bedingt die des epischen Helden, sie ist die Zukunft eines Weltreiches, die auch in der Prophezeiung Jupiters, in den Darstellungen auf dem für Aeneas von Vulkan angefertigten Schild und im Gespräch zwischen Jupiter und Juno in der letzten olympischen Szene aufscheint. 71 Obwohl sie nicht mehr Teil der Handlung ist, wird sie anders als in der Odyssee vom Erzähler beglaubigt, und dies nicht nur weil Vergil im Unterschied zum Dichter der Odyssee die Unterweltfahrt des Aeneas bis auf die Erzählung der Sibylle vom Tartarus 72 als Er-Erzählung darbietet, sondern insbesondere weil die ‚Stimme‘ des Anchises mit der des Erzählers parallelisiert wird. Kann Anchises daher wie Odysseus „als quasi-auktoriale Instanz angesehen werden“ 73, so kann vice versa der Erzähler mit der Rede des Anchises vernommen werden. Dies wird dadurch verstärkt, dass Vergil den Erzähler als Gewährsmann der Prophezeiung besonders exponiert, denn er lässt ihn im Binnenproömium zur Orkuswanderung eigens die Götter (und weitere Mächte) der Unterwelt um das Recht bitten, geheimes Wissen zu offenbaren. 74 So wertet Vergil den Erzähler als inspirierten Visionär auf, 75 was dann bei der Anrufung Eratos zu Beginn des siebten Buches eine besondere Steigerung erfährt, wenn er für den Erzähler eine „exalted, ennobled“ 76 vatesVorstellung beansprucht: tu vatem tu, diva, mone. 77 Hat der Dichter der Odyssee die Beglaubigung des von Teiresias verkündeten Endes des Helden dem Hörer/Leser anheimgestellt, verfeinert und überbietet Vergil den Kunstgriff. Nicht nur gestaltet er die Zukunftsvision des Anchises als Zukunftsvision des zum propheta erhobenen Erzählers, sodass sie schon auf diese Weise als wahrhaftig ausgewiesen ist, er veranlasst auch den Leser, die Prophetie als (historisch) wahr anzuerkennen. 70 Reinhart Herzog, „Aeneas’ episches Vergessen“, 86. 71 Vgl. Aen., 1,227–296, 8,626–728 u. 12,791–840. Vgl. auch Werner Suerbaum, Vergils Aeneis,

299–306. 72 Vgl. Aen., 6,562–627. Vgl. auch Eduard Norden, Aeneis Buch VI, 359 sowie Georg Nicolaus Knauer,

Die Aeneis und Homer, 118f. 73 Peter von Möllendorff, „Aeneas und Odysseus“, 60, mit Bezug auf die Eingangsverse Aen., 1,2ff.

und den ähnlich lautenden Versen Aen., 6,692f., mit denen Anchises den Sohn im Elysium begrüßt. 74 Vgl. Aen., 6,264–267. 75 Mit Blick auf die gesamte Katabasis erweist das Proömium den Erzähler gar „als Hierophant, als Ver-

mittler von religiösen Offenbarungen oder theologischer Weisheit“, Antonie Wlosok, „Et poetica figmentum et philosophiae veritatem. Bemerkungen zum 6. Aeneisbuch, insbesondere zur Funktion der Rede des Anchises (724ff.)“, in dies., Res humanae – res divinae. Kleine Schriften, hg. v. Eberhard Heck/Ernst A. Schmidt (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften Reihe 2, N.F. Bd. 84), Heidelberg 1990, 384–391, hier 388. Zuerst in Listy Filologické 106 (1983), 13–19. 76 James J. O’Hara, Death and the Optimistic Prophecy in Vergil’s ‚Aeneid‘, Princeton, NJ 1990, 180. Zu den auch negativen zeitgenössischen Konnotationen des Ausdrucks vates vgl. ebd. 176–181. 77 Aen., 7,41. Vgl. auch ebd. 9,446–449.

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Der augusteische Leser muss – als ihr eigentlicher Adressat – die Weissagung als „vergangene Zukunft“ 78 erkennen, ist die ‚Heldenschau‘ doch wie die übrigen Verweise auf römische Geschichte ein vaticinium ex eventu. 79 Damit aber ist Vergils Überbietung des Kunstgriffs noch nicht abgeschlossen: Da die bis in die augusteische Gegenwart führende Weissagung nur im Horizont dieser Gegenwart verstanden werden kann, muss sie – so die dem Rezipienten nahegelegte Deduktion – auch aus augusteischer Sicht erfolgt sein. So wird hinter dem als propheta stilisierten Erzähler der Autor der Aeneis sichtbar. Vergil selbst beansprucht damit die Rolle eines (positiv gewerteten) poeta vates. 80 Vergils imitatio Homeri ist gemäß dem augusteischen Verständnis der imitatio auctorum zugleich aemulatio, die novitas erstrebt. 81 Das Neue, das Vergil entwirft, besteht in einer Prophetie, die den Autor als ihren Schöpfer erweist. Vergil gelangt dazu, indem er zunächst die innerepisch ins Leere laufende Weissagung des Teiresias zu einer Weissagung formt, die handlungsimmanent ebenfalls folgenlos bleibt. Er wiederholt damit also das dichterische Verfahren des Vorbildes. Außerdem wiederholt er den Ausblick der Prophetie auf eine Zukunft, die nicht mehr erzählt wird. Schließlich wiederholt er die Engführung der Figurenrede mit der des Erzählers. Dabei gelingt es ihm, Kleines in Großes überzuführen. Die Spannung, die das Vergessen des Odysseus beim Rezipienten erzeugt, wird in der Prophezeiung der Sibylle und den Worten des Helenus beziehungsweise des Anchises über zukünftigen labor nur noch zitiert, um den Blick auf das zu lenken, was mit der ‚Heldenschau‘ des Anchises das Erzählte übersteigt. 82 Dies ist dann 78 Reinhart Herzog, „Aeneas’ episches Vergessen“, 83. 79 Vgl. Richard Heinze, Vergils epische Technik, 394 ff.; James J. O’Hara, Death and the Optimistic

Prophecy, 128 f. sowie Werner Suerbaum, Vergils Aeneis, 315f. 80 Vgl. Andrew Laird, „The Poetics and Afterlife of Virgil’s Descent to the Underworld: Servius, Dante,

Fulgentius and the Culex“, in Proceedings of the Virgil Society 24 (2001), 49–80, hier 77. Dass Vergil sich dem aufmerksamen und kundigen Leser als Autor der Aeneis durch zahlreiche Selbstzitate zu erkennen gibt, berührt nicht unser den Prophezeiungen gewidmetes narratologisches Frageinteresse. Zu den Selbstzitaten vgl. Rüdiger Niehl, Vergils Vergil. Selbstzitat und Selbstdeutung in der Aeneis: ein Kommentar und Interpretationen (Studien zur klassischen Philologie 134), Frankfurt a.M. [u.a.] 2002. 81 Zum augusteischen Verständnis der imitatio auctorum vgl. den Teilartikel zur imitatio von Nicola Kaminski, in Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, Sp. 235–285, hier Sp. 240ff. Vgl. auch den Artikel Barbara Bauers zur aemulatio, in Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1, Sp. 141–188, hier Sp. 141–150. Vgl. allgemein Arno Reiff, Interpretatio, imitatio, aemulatio. Begriff und Vorstellung literarischer Abhängigkeit bei den Römern, Diss. Köln 1959; Alexandru N. Cizek, Imitatio et tractatio. Die literarisch-rhetorischen Grundlagen der Nachahmung in Antike und Mittelalter (Rhetorik-Forschungen 7), Tübingen 1994, 46f.; Joseph Farrell, Vergil’s Georgics and the Traditions of Ancient Epic. The Art of Allusion in Literary History, New York/Oxford 1991, 3–25; Alexander H. Arweiler, „Römische Literaturen und die Grenzen der Philologie“, in Simone Winko/Fotis Jannidis/Gerhard Lauer (Hgg.), Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen (Revisionen 2), Berlin/New York 2009, 545–583, insbes. 551–558 sowie die oben in Anm. 43 angegebene Forschung zum Homer-Vergil-Vergleich. 82 Spannung wird dann freilich wieder zu Beginn des siebten Buches erzeugt, wenn der Erzähler in der Rolle des propheta schreckliche Kriege zu verkünden verspricht. Vgl. Aen., 7,37–44.

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nicht mehr die Zukunft des Helden, es ist die Zukunft eines ganzen Geschlechtes. Auch wird die Beglaubigung des Ausblicks nicht mehr dem Urteil des Rezipienten überlassen, sie wird ihm als Kenner der in Erinnerung gerufenen geschichtlichen Ereignisse vielmehr auferlegt. Das in der Odyssee so profilierte Erzählen ahmt Vergil zwar vornehmlich im zweiten und dritten Buch der Aeneis nach, gleichwohl überbietet er es bei der Gestaltung der Katabasis, dadurch dass er den quasi-auktorialen Erzähler Odysseus nicht nur in der Figur des Anchises spiegelt, sondern ihn überdies durch den auktorialen Erzähler ersetzt, durch einen Erzähler, der schon am Beginn der Jenseitshandlung als propheta gestaltet ist und der dank des Gegenwartsbezugs des Geweissagten an ihrem Ende mit Vergil als poeta vates in eins fällt. Dass sich dichterische Neuschöpfungen beim Wettstreit mit einem Vorgänger der Wiederholung poetischer Verfahren verdanken, also gleiche oder zumindest ähnliche Prinzipien bei der Hervorbringung von Neuem mehrfach wirksam werden können, sei schließlich am Beispiel Dantes demonstriert. Dante kann die beschriebene imitatio Homeri Vergils nicht zu einer dieser vergleichbaren imitatio Virgilii angeregt haben, einfach deshalb nicht, weil er – wie viele seiner Zeitgenossen des Griechischen wohl nicht mächtig – die Odyssee so wenig wie die Ilias gekannt haben wird. Die Odyssia des Livius Andronicus war im Mittelalter nicht mehr zugänglich, die Übersetzungen Leonzio Pilatos ins Lateinische erfolgten erst um 1360, 83 und von den sechs Homerzitaten in seinen Werken entnimmt Dante fünf den Schriften des Aristoteles und eines der Ars Poetica des Horaz. 84 Den Stoff der Ilias kann er der Ilias Latina und/oder den pseudo-autobiographischen Trojaerzählungen des sogenannten Dares Phrygius und des Dictis Cretensis sowie dem vor allem auf dem Dares Latinus fußenden Roman de Troie Benoîts de Sainte-Maure beziehungsweise dessen Übertragung ins Lateinische durch Guido de Columnis entnommen haben, den der Odyssee hat er sich vielleicht über die Periochae Homeri Iliadis et Odyssiae oder über die Hyginus zugeschriebenen Fabulae aus dem 2. Jh. n. Chr. angeeignet, die im Mittelalter weit verbreitet waren. Von solchen möglichen Quellen abgesehen, gründet Dantes Homerkenntnis natürlich auf der Aeneis sowie den Metamorphoses und den Heroides Ovids. 85 Freilich dürfte ein primär stofflich ausgerichtetes Wissen das bei Vergils imitatio wirksam werdende poetische Verfahren kaum erhellt haben. Aber auch die spätantiken Vergilkommentare, die Dante möglicherweise konsultiert hat, bleiben mit Ausnahme des Homer-Vergil-Vergleiches des Macrobius verhältnismäßig unergie-

83 Vgl. den Teilartikel Elisabeth Heyses zu Homer, in Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, 2002, Sp. 109f.

Vgl. auch Wolfgang Kullmann, „Einige Bemerkungen zum Homerbild des Mittelalters“, in Michael Borgolte/Herrad Spilling (Hgg.), Litterae medii aevi, Fs. für Johanne Autenrieth, Sigmaringen 1988, 1–55. 84 Vgl. Georg Finsler, Homer in der Neuzeit. Von Dante bis Goethe. Italien – Frankreich – England – Deutschland, reprograph. Nachdr. der Ausg. Leipzig 1912, Hildesheim/New York 1973, 15. 85 Vgl. Wolfgang Kullmann, „Einige Bemerkungen“, 2. Vgl. auch Joachim Leeker, „Zwischen Moral und Politik: Dantes Troja-Bild“, in Deutsches Dante-Jahrbuch 66 (1991), 43–79, insbes. 44–51 u. 62.

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big, wenn man sie nach Aussagen zu dem hier vorgestellten Verfahren Vergils befragt. 86 Das Gleiche trifft auf die mittellateinischen Poetiken 87 und noch die Schriften des im 15. Gesang des Inferno gepriesenen Brunetto Latini zu, der als Dantes Lehrer gilt. 88 Wenn die hier vorgestellten Beobachtungen zur Commedia nicht interpretatorischer Infiltration geschuldet sind, führt Dantes Wettstreit mit Vergil 89 des ungeachtet nicht zuletzt dazu, dass er das, was Vergil mit dem sechsten Buch der Aeneis und vor allem mit der Prophetie des Anchises leistet, auf die Commedia insgesamt überträgt. Da das sechste Buch der Aeneis mit der Prophetie des Anchises den Blick auf Vergil als Autor der Weissagung freigibt, kann es zugleich als literarisches Konstrukt erkannt werden. 90 Dante hat sich dies zunutze gemacht und gleich mit der selva oscura 91 in den ersten Versen der Commedia die Literarizität des folgenden Jenseitsberichtes bekundet, ruft die Verirrung im Wald doch bekanntlich neben Allegorischem die mittelalterlichen Rittergeschichten ab. 92 Vergil als Führer durch Inferno und Purgatorio zeugt neben den

86 Auf den möglichen Einfluss des Macrobius auf Dantes poetisches Verfahren wird noch eingegangen

werden. 87 Zu denken wäre allenfalls an die Steigerungsfunktion der amplificatio (dilatatio). Vgl. dazu Silvia

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Schmitz, Die Poetik der Adaptation. Literarische inventio im ‚Eneas‘ Heinrichs von Veldeke (Hermaea 113), Tübingen 2007, 262–271 mit weiterführender Literatur. Vgl. Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, italienisch u. deutsch, übers.u. komm. v. Hermann Gmelin, 6 Bde. (dtv 2107), München 1988, Inf., XV,22–124. Vgl. auch Walter Goetz, „Dante und Brunetto Latini“, in ders., Dante. Gesammelte Aufsätze (Münchner Romanistische Arbeiten 13), München 1958, 14–32 sowie Helene Wieruszowski, „Brunetto Latini als Lehrer Dantes und der Florentiner“, in dies., Politics and Culture in Medieval Spain and Italy (Storia e Letteratura 121), Rom 1971, 515–561. Dass Brunetto Latini tatsächlich Dantes Lehrer war, ist zwar wahrscheinlich, aber durch historische Quellen nicht belegt. Vgl. Frank-Rutger Hausmann, „Fast alles, was wir von Dante wissen, wissen wir von Dante: Plädoyer für einen kritischen Umgang mit Dantes Biographie“, in Clausdirk Pollner/Helmut Rohlfing/Frank-Rutger Hausmann (Hgg.), Bright is the Ring of Words, Fs. für Horst Weinstock (Abhandlungen zur Sprache und Literatur 85), Bonn 1996, 109–125, hier 117. Zur Bedeutung des Wettstreits für Dante und die nachfolgenden italienischen Autoren vgl. Barbara Bauer, „Aemulatio“, Sp. 166. Vgl. auch Hermann Gmelin, „Das Prinzip der Imitatio in den romanischen Literaturen der Renaissance (1. Teil)“, in Romanische Forschungen 46 (1932), 85–360, hier 86–97 sowie Ernst Robert Curtius, „Zur Danteforschung“, in Romanische Forschungen 56 (1942), 1–22, hier 20. Dass die Sibylle und Aeneas den Orkus durch das elfenbeinerne Tor der falschen Träume verlassen, ist vielleicht ein Hinweis auf die Fiktionalität der Katabasis, was dem Anspruch, mit dem Erzählten eine höhere Wahrheit zu vermitteln, nicht entgegenlaufen muss. Vgl. Aen., 6,893–898. Vgl. auch Gordon Williams, Technique and Ideas in the Aeneid, New Haven/London 1983, 46–58 u. 210 sowie Thomas Berres, „Vergil und Homer“, 364f. Zur Diskussion der Stelle vgl. den Überblick bei Peter von Möllendorff, „Aeneas und Odysseus“. Inf., I,2. Vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München 91978, 366. Vgl. auch den Kommentar Gmelins, in Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Bd. 4, 26ff. Zur allegorischen Anlage der selva oscura vgl. insbes. Andreas Kablitz, „Poetik der Erlösung. Dantes Commedia als Verwandlung und Neubegründung mittelalterlicher Allegorese“, in Glenn W. Most (Hg.) Commentaries – Kommentare (Aporemata 4), Göttingen 1999, 353–379.

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zahlreichen Verweisen auf vorgängige Dichtung nicht minder von der Literarizität der Commedia. An die Stelle der Prophetin tritt der tote Dichter der Aeneis, 93 und an die Stelle des Helden tritt ein weiterer Dichter: das Erzähler-Ich ‚Dante‘. Mehr als der auktoriale Erzähler der Katabasis und erst recht mehr als der Ich-Erzähler Aeneas, dessen „Sicht [. . .] sich oft von der eines allwissenden Erzählers nicht unterscheidet“ 94, ist dieses Erzähler-Ich mit Autorität ausgestattet. Von Homer, Horaz, Ovid, Lukan und Vergil in ihren Kreis aufgenommen, 95 wird es zum ‚klassischen‘ Dichter erhoben, und mehrfach wird es mit dem (antiken) Nachruhmgedanken ausgezeichnet. 96 Darüber hinaus wird es ja wie der Erzähler Vergils als Visionär stilisiert, etwa wenn Dantes Urahn Cacciaguida im Rekurs auf die Apokalypse des Johannes 97 das Erzähler-Ich auffordert, alles Geschaute offenbar zu machen: Tutta tua vision fa manifesta 98, und es ist – anders als die Zukunftsdeuter im vierten Graben des achten Höllenkreises, die dem Prinzip des ‚Contrappasso‘ gemäß mit nach hinten gewendetem Gesicht rückwärtsgehen müssen, weil sie zu weit nach vorwärts sehen wollten 99 – von Gott inspiriert 100 und ein Visionär mit „Anspruch

93 Zu Vergil in der Commedia vgl. u.a. Christopher Kleinhenz, „Virgil in Dante’s ‚Divine Comedy‘“,

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in Paul Franssen/Ton Hoenselaars (Hgg.), The Author as Character. Representing Historical Writers in Western Literature, Cranbury, NJ 1999, 52–67, insbes. 55. Bernd Effe, „Entstehung und Funktion ‚personaler‘ Erzählweisen“, 144. Vgl. Inf., IV,100 ff. Vgl. u. a. ebd. XV,85ff.; Par., XVII,130–142 u. XXV,7ff. Hinzu tritt die lobpreisende Anerkennung, die Bonagiunta da Lucca dem Dichter-Ich Dante für seinen dolce stil nuovo entgegenbringt. Vgl. Purg., XXIV,34–63, insbes. XXIV,57. Scribe ergo quae vidisti [. . .]. Apc. I,19. Biblia sacra. Iuxta Vulgatam versionem. [. . .] recensuit et brevi apparatu instruxit Robertus Weber OSB, 2 Bde., Bd. 2: Proverbia – Apocalypsis. Appendix. 3., verb. Aufl., Stuttgart 1983. Par., XVII,128. Ausdrücklicher als Cacciaguida fordert Beatrice das Erzähler-Ich auf, Geschautes niederzuschreiben: [. . .] e quel che vedi, / Ritornato di là, fa che tu scrive. Purg., XXXII,104f. Vgl. auch ebd. XXXIII,55.Vgl. allgemein u.a. Ernst Benz, „Vision und Ekstase bei Dante“, in Deutsches Dante-Jahrbuch 46 (1970), 60–80. So Dantes Vergil über Amphiaraos. Vgl. Inf., XX,38. Zur Thebais des Statius als Dantes Quelle für die Figur des Amphiaraos vgl. Ilona Opelt, „Die Reihe der büßenden Zukunftsdeuter in Inferno XX“, in Deutsches Dante-Jahrbuch 61 (1986), 51–67, hier 53–56. Im Unterschied zu den ‚antiken‘ Sehern und den ‚modernen‘ Wahrsagern bezieht das zum Propheten stilisierte Erzähler-Ich Dantes seine Legitimation von Gott. Vgl. Florian Mehltretter, „Gott als Dichter der irdischen Welt. Beatrice und die Allegorie in Dantes Purgatorio (29–33)“, in Deutsches Dante-Jahrbuch 79/80 (2005), 103–160. Dass Dante sein Erzähler-Ich gar als „Erlöser des Diesseits“ und „Heilsbringer“ profiliere, behauptet Andreas Kablitz, „Dantes poetisches Selbstverständnis (Convivio – Commedia)“, in Winfried Wehle (Hg.), Über die Schwierigkeiten, (s)ich zu sagen. Horizonte literarischer Subjektkonstitution (Analecta Romanica 63), Frankfurt a.M. 2001, 17–57, hier 18 u. 57. Vgl. dagegen Gerhard Regn, „Double Authorship: Prophetic and Poetic Inspiration in Dante’s Paradise“, in Modern Language Notes 122 (2007), 167–185. Regn betont die Stilisierung des Erzähler-Ichs als „secular author“, durch die der „prophetically inspired discourse“ in Konkurrenz mit der Vorstellung einer dichterischen Inspiration eigenen Rechts zu treten beginne, ebd. 168 u. 183.

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auf eine analoge historische Mission“ 101, wie sie dem Gründervater Aeneas und dem Völkerapostel Paulus zukamen, was die Bescheidenheitstopik des Io non Enëa, io non Paolo sono 102 noch unterstreicht. Indem Dante die Aeneis und insbesondere deren sechstes Buch als Modell seiner Commedia wählt, 103 führt er das damit Vorgefundene einer größeren allgemeinen Geltung zu und überhöht es auf diese Weise. Es gibt die Jenseitswanderung nicht mehr als Scharnier zwischen zwei großen Handlungssträngen, 104 sie bildet nun die Handlung des Werkes selbst. Damit wandelt sich auf der innerliterarischen Ebene ihre Funktion. Dem Protagonisten wird nicht mehr eine Warnung zuteil, die er dann vergisst, seine Jenseitsreise dient der Läuterung: wie Beatrices Anklagen gegen Ende des Purgatorio verdeutlichen, der Läuterung des Liebenden, der bereits in der Vita Nuova zur Kunstfigur erhoben wurde, 105 und im Anklang an die omnipräsente Visionsliteratur dient sie der Läuterung des Jenseitsreisenden überhaupt. 106 Da Dante eine übergeordnete Handlung aufgegeben hat, entfällt das Vergessen des Helden, und der Leser 107 bedarf seiner auch nicht, denn allein schon

101 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur, 363. 102 Inf., II,32. 103 Es versteht sich, dass weitere Vorbilder der Commedia, insbesondere Lukans Pharsalia, nicht aus-

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geschlossen werden. Vgl. den Kommentar Hermann Gmelins, in Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Bd. 4, 90. Vgl. auch Winthrop Wetherbee, „Poeta che mi guidi: Dante, Lucan, and Virgil“, in Dante. The Critical Complex, edited with introductions by Richard Lansing, 8 Bde., hier Bd. 2: Dante and the Classical Antiquity: The Epic Tradition, New York/London 2002, 303–320. Zuerst in Robert von Hallberg (Hg.), Canons, Chicago/London 1984, 131–148. So dürfte sie Dante gemäß der Kommentartradition verstanden haben. Vgl. Servius, Aen., 7,1. Zur Problematik der Zweiteilung der Aeneis aus heutiger Sicht vgl. u.a. Werner Suerbaum, Vergils ‚Aeneis‘, 143–149. Vgl. Purg., XXXf. Vgl. auch Frank-Rutger Hausmann, „Fast alles, was wir von Dante wissen“, 119 f. sowie Florian Mehltretter, „Gott als Dichter“, 143–152. Vgl. den Kommentar Hermann Gmelins, in Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Bd. 5, 480. Vgl. u. a. auch Thomas Brückner, „‚Führen‘ und ‚geführt werden‘ in Vergils Aeneis und Dantes Commedia“, in Deutsches Dante-Jahrbuch 72 (1997), 115–137, insbes. 135. Zum Einfluss der Visionsliteratur auf Dante vgl. u.a. August Rüegg, Die Jenseitsvorstellungen vor Dante und die übrigen literarischen Voraussetzungen der ‚Divina Commedia‘. Ein quellenkritischer Kommentar, 2 Bde., Einsiedeln/Köln 1945, insbes. Bd. 1; Cesare Segre, „L’Itinerarium animae nel Duecento e Dante“, in Letture Classensi 13 (1984), 9–32 sowie Alison Morgan, Dante and the Medieval Other World (Cambridge Studies in Medieval Literature 8), Cambridge 1990. Wie in der Vita Nuova und im Convivio differenziert Dante auch in der Commedia zwischen unterschiedlich gebildeten Lesern. Inwieweit dies freilich auf faktische Publikumserwartungen Dantes schließen lässt oder eher auf ein Spiel mit fiktiven Lesertypen, muss offenbleiben. Wenn hier und im Folgenden vom Leser der Commedia die Rede ist, ist nicht anders als beim Leser der Aeneis oder der Odyssee an einen (empirischen, nicht ‚impliziten‘) Leser gedacht, der – wie auch immer vorgebildet – die Komplexität der Werke zu erkennen bestrebt ist. Zu Dantes eventuellen Publikumserwartungen vgl. Otfried Lieberknecht, Allegorese und Philologie. Überlegungen zum Problem des mehrfachen Schriftsinns in Dantes ‚Commedia‘ (Text und Kontext. Romanische Literaturen und allgemeine Literaturwissenschaft 14), Stuttgart 1999, 17–21.

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die überbordende Intertextualität des Gedichtes fordert ihn immer wieder zu einer aktiven Teilhabe am geschilderten Geschehen auf. 108 Wie Vergil mit des Anchises ‚Heldenschau‘ seinem Werk eine außerliterarische Dimension einschreibt, so verleiht Dante, wenn er sein Jenseits mit all den Toten der italienischen Zeitgeschichte bevölkert, 109 der Commedia ebenfalls eine historische Relevanz. Weil damit jedoch nicht ein Preis der Vergangenheit einhergeht, mit dem Vergil vielleicht der römischen Gegenwart und Zukunft ein mahnendes Beispiel vor Augen stellen wollte, 110 erweist sich Dantes Verfahren als ungleich komplexer als das Vergils. Für die im poema sacro 111 groß angelegte Prophetie einer Erneuerung von Kirche und Reich 112 kann der Leser nicht als Zeuge aufgerufen werden, denn sie gilt ja nicht einer ‚vergangenen Zukunft‘. Für ihre (historische) Wahrheit steht daher zuallererst das Erzähler-Ich ein, und zwar ein höchst problematisches Erzähler-Ich. Dadurch, dass seine Konturen zwischen Faktizität und Fiktionalität changieren, erlangt es einen Status, der seine Autorität ebenso steigert, wie er sie untergräbt. Während Vergil seinen Leser indirekt dazu veranlasst, ihn als Urheber der Weissagungen ex eventu anzuerkennen, mutet Dante dem Leser der Commedia mehr zu. Er soll die dichterische Prophetie einer zukünftigen Weltordnung, in der Recht und Friede sicher sind, als authentischen Ausdruck der politischen Hoffnungen ihres Bildners erkennen. Am deutlichsten wird dies wohl bei der Schau des für den alto Arrigo 113, für Heinrich VII., bestimmten Sitzes in der Himmelsrose im dreißigsten Gesang des Paradiso. Sie gibt einem Dante, der in den sogenannten Staatsbriefen, vor allem in der epistula an Heinrich VII. selbst – deren Echtheit vorausgesetzt 114 –, den

108 Verweise auf vorgängige Texte prägen die Commedia in ungleich höherem Maße als die Aeneis,

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und sie rufen nicht wie dort primär Mythos und Geschichte ab, sondern insbesondere auch fiktionale Literatur. Das berühmteste Beispiel dafür ist die Reminiszenz an den (Prosa-)Lancelot, dessen Lektüre Paolo dazu verführt, Francesca zu küssen. Vgl. Inf., V,127–138. Vgl. auch Thomas Klinkert, „Zum Status von Intertextualität im Mittelalter: Tristan, Lancelot, Francesca da Rimini“, in Deutsches Dante-Jahrbuch 81 (2006), 27–69, insbes. 59–62. Zur Intertextualität der Commedia allgemein vgl. u. a. Christopher Kleinhenz, „Perspectives on Intertextuality in Dante’s Divina Commedia“, in Romance Quarterly 54 (2007), 183–194. Dante dürfte dazu von Vergils ‚Heldenschau‘ und von der Visionsliteratur inspiriert worden sein. Vgl. zu den Anklängen an die ‚Heldenschau‘ insbes. Inf., IV,115–144 u. Purg., VII,88–136. Zur Tradition der Visionsliteratur vgl. Dieter Kremers, „Dichtung und Wahrheit in der Göttlichen Komödie. Bemerkungen zur Erzählform des Gedichts“, in Deutsches Dante-Jahrbuch 57 (1982), 41–55, insbes. 44 f. Vgl. Eduard Norden, Aeneis Buch VI, 315. Vgl. auch Eckard Lefèvre, „Vergil: Propheta retroversus“, in Gymnasium 90 (1983), 17–40, insbes. 28f. Par., XXV,1. Vgl. u. a. August Buck, „Dante als politischer Dichter“, in Deutsches Dante-Jahrbuch 51/52 (1976/ 77), 13–31 sowie Brigitte Winklehner, „Originalität und geschichtliche Gebundenheit im politischen Denken Dantes“, in Deutsches Dante-Jahrbuch 64 (1989), 111–134. Par., XXX,137. Vgl. Reto R. Bezzolas/Kurt Ringgers Teilartikel „Dante Alighieri“, B.I, in Lexikon des Mittelalters, Bd. 3 (1999), Sp. 546f., hier Sp. 547.

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Kaiser als Retter Italiens hypostasiert, 115 (nachträglich) Recht, auch wenn sich die in Heinrich gesetzten Erwartungen nicht erfüllt haben. 116 Wird der Leser auf solche Weise ermächtigt, im Erzähler-Ich die historische Person Dante Alighieri als den eigentlichen Visionär auszumachen, wird er nichtsdestoweniger begreifen müssen, dass Dante sich in der Commedia nicht anders als in der Vita Nuova selbst erfindet. 117 Im Verlauf der Lektüre soll der Leser ein Bild von Dante gewinnen, das insbesondere aufgrund der zahlreichen Bezüge der Commedia auf Florenz historisch anmutet und dennoch (wie die frühe Liebe zu Beatrice) nicht oder (wie die Erwartungshaltung gegenüber Heinrich VII.) nur sporadisch historisch verifizierbar ist. Wird sich der Leser bewusst, dass in den literarischen Jenseitswanderer ‚Dante‘ nur scheinbar Autobiographisches eingeht, gerät der für authentisch gehaltene Visionär Dante ins Zwielicht, und die die Commedia beherrschende Prophetie eines gerechten ordo wird wieder in den Bereich dichterischer Einbildungskraft verwiesen. Dante kann aus den Saturnalia wissen, dass Vergil die imitatio Homeri unter anderem ins Werk setzt, indem er die Rolle von Figuren aus der Odyssee durch andere Figuren vertreten lässt, denn dass Vergil Figuren und Szenen als Spiegelbild (speculum) von Figuren und Szenen der Odyssee herausbildet, hat schon Macrobius gesehen. 118 Falls er dieses Verfahren also bewusst wiederholt, potenziert er es – und dies nicht nur, weil wie die Sibylle von Anchises Vergil von Beatrice und Beatrice vom Heiligen Bernhard als Führer abgelöst wird, erheblicher ist, dass er dem Dichter selbst die Position des Führers zuweist und die Position des Aeneas mit einem Dichter-Ich besetzt. Damit knüpft er an die Literarizität des sechsten Buches der Aeneis an und setzt Literarizität in seinem eigenen Werk exorbitant in Geltung. Er dürfte dabei im Sinn gehabt haben, dass die spätantiken und mit115 Vgl. Ermenegildo Pistelli (Hg.), „Epistole V–VII“, in Le opere di Dante. Testo critico della Società

Dantesca Italiana, a cura di Michele Barbi [u.a.], Florenz 21960, 389–397. Vgl. auch Brigitte Winklehner, „Originalität und geschichtliche Gebundenheit“, 129–132. 116 Vgl. August Buck, „Dante als politischer Dichter“, 26. 117 Frank-Rutger Hausmann konstatiert einen „Sonderfall der ‚Autofiktion‘“, „Fast alles, was wir von Dante wissen“, 115. Vgl. ebd. 121f. Der Begriff scheint mir zu disparat, um das in Frage stehende Phänomen adäquat erfassen zu können. Zur Terminologie vgl. Frank Zipfel, „Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarizität?“, in Simone Winko/Fotis Jannidis/Gerhard Lauer (Hgg.), Grenzen der Literatur, 285–314, mit nicht befriedigendem Bezug auf die Commedia. Vgl. ebd. 302. Verschiedene jüngere, an neuerer Theorie orientierte Versuche, für Dante ein in die Moderne weisendes Konzept von Autorschaft zu erweisen, bleiben ebenfalls unbefriedigend. Vgl. etwa Burt Kimmelman, The Poetics of Authorship in the Later Middle Ages. The Emergence of the Modern Literary Persona (Studies in the Humanities. Literature – Politics – Society 21), New York [u. a.] 1996. Vgl. auch Albert Russell Ascoli, Dante and the Making of a Modern Author, New York 2008. Hier scheint mir aufgrund einer allzu großen Fixierung auf Terminologie (auctor, auctoritas etc.) das angestrebte Ziel immer wieder aus den Augen zu geraten. Vgl. aber Gerhard Regn, „Double Authorship“. 118 Vgl. Sat., 5.2,13f. Dantes Kenntnis der Saturnalia bezeugt nicht zuletzt die Attribuierung der Commedia als poema sacro, Par., XXV,1, in Anlehnung an Sat., 1.24,13. Dante überträgt hier das Lob der Aeneis als sacrum poema auf das eigene Werk. Vgl. den Hinweis auf die Macrobius-Stelle bei Albert Russell Ascoli, Dante and the Making of a Modern Author, 401.

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telalterlichen Kommentatoren immer schon die Literarizität oder für diesen Fall genauer: die Fiktionalität des sechsten Buches bemüht haben, um die Orkusfahrt des Aeneas allegorisch auslegen zu können, 119 und hat, wie bekanntlich das berühmte Schreiben an Cangrande bezeugt – auch hier die Echtheit vorausgesetzt 120 –, seine Commedia bewusst auf Polysemie, auf einen allegorischen Zweitsinn angelegt 121 und dazu einen sensus litteralis fingiert. Am prägnantesten bringt dies das vielzitierte Diktum Charles Singletons zum Ausdruck: „The fiction of the Divine Comedy is that it is not fiction.“ 122 Doch hat Dante Fiktives nicht nur als „Instrument der Wahrheit“ 123 zum Einsatz gebracht, sondern mit Fiktivem auch zu spielen vermocht. Konnte er erkennen, dass Vergil in der Rolle des propheta vates für die in der Aeneis zentrale Prophetie Urheberschaft beansprucht, so übernimmt er den dazu von Vergil eingesetzten Kunstgriff, den Leser quasi historisch zu involvieren. Dies führt ihn dazu, nun sein Erzähler-Ich als Visionär zu stilisieren und den Leser zu zwingen, in diesem Erzähler-Ich einen Propheten Dante wahrzunehmen, dessen autobiographische Züge weitgehend auf Fiktion beruhen. Das vermeintlich Nichtfiktionale entpuppt sich dann als Fiktion. In dieser Komplexitätssteigerung liegt das unerhört Neue, das aus dem hier nachgezeichneten Wettstreit Dantes mit Vergil resultiert. In all seiner Welthaltigkeit erweist sich der Jenseitswanderer ‚Dante‘ und mit ihm der Urheber seiner Vision als Produkt dichterischer Einbildungskraft. Dass Vergil im Wettstreit mit dem Dichter der Odyssee dessen poetisches Verfahren für einen weit umfassenderen Entwurf wirksam gemacht hat, kann Dante nicht gewusst haben, trotzdem hat er es ihm gleich getan und bei der Wiederholung Prophetie und Autorschaft in nahezu moderner Weise so eng aufeinander bezogen, dass die große Pro119 Zu Dantes Kenntnis dieser Kommentartradition vgl. u.a. Eberhard Müller-Bochat, „Der allegori-

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sche Äneas und die Auslegung des Danteschen Jenseits im 14. Jahrhundert“, in Deutsches DanteJahrbuch 44/45 (1967), 59–81, insbes. 75f. Zur Echtheitsfrage vgl. u.a. Robert Hollander, Studies in Dante, Ravenna 1980, 55, Anm. 36 sowie Otfried Lieberknecht, Allegorese und Philologie, 4f. mit Anm. 5. Vgl. Dante Alighieri, Das Schreiben an Cangrande della Scala, übers., eingel. u. komm. v. Thomas Ricklin. Mit einer Vorrede von Ruedi Imbach, lateinisch-deutsch (Philosophische Bibliothek 463), Hamburg 1993, § 20, 8/9 sowie die Einleitung Ricklins ebd. XLIX–LVIII. Vgl. auch Dante Alighieri, Convivio, II, 1,2–15 in ders., Tutte le opere, hg. v. Fredi Chiapelli, Mailand 71969, 513. Zum Schreiben an Cangrande vgl. u.a. Manfred Lentzen, „Zur Konzeption der Allegorie in Dantes Convivio und im Brief an Cangrande della Scala“, in Richard Baum/Willi Hirdt (Hgg.), Dante Alighieri 1985. In memoriam Hermann Gmelin (Romanica et Comparatistica. Sprach-und literaturwissenschaftliche Studien 4), Tübingen 1985, 169–190, insbes. 180–188. Charles S. Singleton, Dante Studies 1: Commedia. Elements of Structure, Cambridge, MA 1954, 62 mit Bezug auf eine Konstruktion von Faktizität des geschilderten Geschehens als Basis einer höheren Wahrheit der Commedia. Vgl. auch ders., „The Irreducible Dove“, in Comparative Literature 9 (1957), 129–135. Zur Diskussion des Diktums vgl. u.a. Robert Hollander, „Dante TheologusPoeta“, in Dante Studies 118 (2000), 261–302, insbes. 273–278. Zuerst in Dante Studies 94 (1976), 91–136. Vgl. auch die Differenzierungen bei Kablitz, „Poetik der Erlösung“. Andreas Kablitz, „Dichtung und Wahrheit – Zur Legitimität der Fiktion in der Poetologie des Cinquecento“, in Klaus W. Hempfer (Hg.), Ritterepik der Renaissance. Akten des deutsch-italienischen Kolloquiums Berlin 30.3. – 2.4.1987, Stuttgart 1989, 77–122, hier 85.

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Silvia Schmitz

phetie der Göttlichen Komödie wie auch der große Autor Dante sich wechselseitig erhellen, und dies im Licht eines ‚Möglichkeitssinnes‘ 124, der das Privileg der Dichtung ist.

124 Vgl. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Roman, erstes und zweites Buch, hg. v. Adolf

Frisé, neu durchges.u. verb. Ausg. 1978 (rororo 1980), Reinbek bei Hamburg 1987, Kap. 4, 16ff.

Pia Claudia Doering

Das Scheitern prophetischer Rede Machiavellis Analyse der Rhetorik Girolamo Savonarolas

Machiavelli beobachtet, reflektiert und funktionalisiert das ‚Phänomen Savonarola‘ in seinen Schriften bereits zu Lebzeiten des Dominikanermönchs, sodann während seiner 1498 mit dem Tod Savonarolas einsetzenden politischen Laufbahn und schließlich nach der Rückkehr der Medici und der damit verbundenen Entlassung aus allen politischen Ämtern im Jahre 1512. Im sechsten Kapitel des Principe typisiert er den Bußprediger als unbewaffneten Propheten; an die Stelle fehlender Waffengewalt tritt jene Wortgewalt, die Florenz eine Weile in ihren Bann zieht. 1 Machiavelli erkennt in der Prophetie einen Modus von Sprache, der es erlaubt, göttliche Autorität in Anspruch zu nehmen, wenn die menschliche nicht ausreicht. Politische Unruhe, die Bedrohung durch ausländische Mächte sowie der moralische Verfall in Klerus und Stadtgesellschaft lassen Machiavelli und seine Zeitgenossen die eigene Gegenwart als eine Zeit der Krise und des Niedergangs erfahren. Sie erwarten dramatische politische und religiöse Veränderungen, die von apokalyptischen Vorstellungen bis hin zum Anbruch des Goldenen Zeitalters und einer damit einhergehenden Erneuerung des Christentums im annus mirabilis 1484 2 reichen. In den letzten zwei Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts prägt das Auftreten von Propheten das öffentliche Leben von 1 Vgl. die Unterscheidung zwischen profeti armati und profeti disarmati und die Einordnung Savo-

narolas in Niccolò Machiavelli, Il Principe, eingeleitet und annotiert von Federico Chabod, hg. von Luigi Firpo, Turin 1974, 28–29. Im Folgenden unter der Abkürzung Principe mit Seitenangabe im Text zitiert. 2 Die astrologische Konstellation von Jupiter (Macht) und Saturn (Weisheit) im ‚Wunderjahr‘ 1484 weckt beispielsweise im Kreis um Marsilio Ficino die Hoffnung auf eine Erneuerung des Christentums. Dazu James Hankins, Plato in the Italian Renaissance, Leiden [u.a.] 1990, 2 Bde., Bd. 1, 303: „We know in fact that the astrologer Paul of Middleburg, Ficino’s friend and correspondent, had calculated on the basis of Albumasar that the year 1484 was a Great Year, a conjunction of Saturn and Jupiter which heralded mighty changes for the Christian religion. On the basis of the same conjunction Ficino’s fellow-Platonist Cristoforo Landino had predicted the return of Dante’s Veltro in 1484

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Pia Claudia Doering

Florenz so stark wie niemals zuvor. Es bietet sich ein heterogenes Bild verschiedenster Formen von Prophezeiungen, die sich millenaristischer, joachimitischer, astrologischer und volkstümlich-religiöser Ideen bedienen. 3 In säkularisierter Form hat die prophetische Rede einen festen Ort in der politischen Theorie Machiavellis: Immer dann, wenn ein Herrscher sich eines Staates bemächtigt und eine neue Ordnung mit neuen Gesetzen und Institutionen errichten will, dient sie der Inszenierung von Autorität. Im Kapitel „Della religione de’ romani“ (I,11) der Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, in dem Machiavelli die Religion zu einer politischen Konstruktion mit Ordnung stiftender Funktion erklärt, führt er das Beispiel des Numa Pompilius an, dem als Nachfolger des Romulus die Aufgabe zufiel, das noch ungebändigte römische Volk (un popolo ferocissimo 4) zu bürgerlichem Gehorsam (nelle obbedienze civili, ebd.) zu erziehen: [Numa] simulò di avere domestichezza con una ninfa, la quale lo consigliava di quello ch’egli avesse a consigliare al popolo; e tutto nasceva perché voleva mettere ordini nuovi ed inusitati in quella città, e dubitava che la sua autorità non bastasse. (Discorsi 68) ‚Numa gab vor, vertrauten Umgang mit einer Nymphe zu haben, die ihm riet, was er dem Volk anzuraten hätte; und all dies geschah, weil er in jener Stadt neue, noch unbekannte Strukturen schaffen wollte, und weil er bezweifelte, dass seine Autorität dazu ausreiche.‘

Das besondere Verdienst des Numa Pompilius liegt darin, erkannt zu haben, dass die Menschen eher bereit sind, sich göttlichen als menschlichen Gesetzen zu unterwerfen. Er inszeniert daher eine Kommunikationssituation mit der in Rom verehrten Nymphe Egeria. Die Schwäche weltlicher Autorität kann der Staatsgründer oder Gesetzgeber durch die scheinhafte Konstruktion einer Verbindung zum Numinosen ausgleichen. Die Funktionalisierung von Prophetie zur Begründung politischer Macht hat zur Folge, dass der hergestellte Schein, soll er die gewünschte Wirkung entfalten, unhintergehbar sein muss. So ist es konsequent, dass Machiavelli im selben Kapitel der Discorsi im Hinblick auf Savonarola herausstellt, ihm sei es gelungen, das Volk von Florenz, das offensichtlich weder unwissend noch ungebildet sei, davon zu überzeugen, dass er mit Gott spreche; ob dies wahr sei, wolle er, Machiavelli, nicht entscheiden. 5 Die Scheinhaftigkeit propheti-

to reform the Christian religion. And the Hermetic prophet Mercurio da Careggio had also chosen the year 1484 to appear on the streets of Florence urging repentance before the coming millennium.“ 3 Zu Vielzahl und Heterogenität von Prophezeiungen in Florenz zwischen 1484 und 1517 vgl. Cesare Vasoli, „Profezie e profeti nella vita religiosa e politica fiorentina“, in Magia, astrologia e religione nel rinascimento. Convegno polacco-italiano, Varsavia 25–27 settembre 1972, Breslau [u.a.] 1974, 16–29. 4 Niccolò Machiavelli, Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, hg. von Corrado Vivanti, Turin 1983, 66. Im Folgenden wird diese Ausgabe unter der Abkürzung Discorsi und der Angabe der Seite im Text zitiert. Die deutschen Übersetzungen folgen mit einigen Änderungen der Übertragung von Rudolf Zorn in Niccolò Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Poltik und Staatsführung, Stuttgart 2 1977. 5 Al popolo di Firenze non pare essere né ignorante né rozzo: nondimeno da frate Girolamo Savonarola fu persuaso che parlava con Dio. Io non voglio giudicare s’egli era vero o no [. . .]. (Discorsi 69–70).

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scher Rede darf nicht erkennbar sein; wird sie auf verborgene Motive durchsichtig, droht die Entlarvung als falscher Prophet. Obwohl Machiavelli eine gewisse Bewunderung für den Aufstieg Savonarolas hegt, nennt er ihn in seinen politischen Schriften stets als Exempel zweiter Ordnung, dessen Stärken, vor allem jedoch dessen Fehler dem Fürsten eine Lehre sein sollen. Bleibt Savonarola in den Discorsi hinter der Vorbildhaftigkeit des Numa zurück, ist er im sechsten Kapitel des Principe „De principatibus novis qui armis propriis et virtute acquiruntur“ ein weniger nachahmenswertes Beispiel als Moses, der neben Cyrus, Romulus und Theseus als das herausragende Modell eines Staatsgründers, Gesetzgebers und Propheten präsentiert wird. Den Grund für das Scheitern Savonarolas sieht Machiavelli nicht in dessen politischen und religiösen Reformvorhaben begründet, 6 sondern in einer Rhetorik und Selbstinszenierung, die durchschaubar wird, schließlich nicht mehr zu überzeugen vermag und den Prediger dem Vorwurf falscher Prophetie aussetzt. Im Zentrum der folgenden Analyse steht ein Brief Machiavellis, in dem er eine Serie von Predigten Savonarolas, deren Zeuge er war, kritisch reflektiert. Expliziter als in späteren Typisierungen des Frater stellt Machiavelli in seinem Briefportrait den Bezug zwischen der aktuellen politischen Situation in Florenz und den Prophezeiungen Savonarolas her. Er zeigt, wie der politische Wandel prophetische Rhetorik brüchig und unwirksam werden lässt.

1. Die Verkleidungen des Propheten Die Beobachtungen, die Machiavelli in seinem Schreiben vom 9. März 1498 festhält, sind an Ricciardo Becchi, einen florentinischen Diplomaten im Vatikan, gerichtet. Becchi fällt die delikate Aufgabe zu, zwischen der Stadtregierung von Florenz und Alexander VI. darüber zu vermitteln, wie mit dem papstfeindlichen Savonarola umzugehen sei. Eine Besonderheit des Portraits, das Machiavelli von Savonarola entwirft, liegt darin, dass er Handeln und Rhetorik des Bußpredigers mit der sich rasch wandelnden politischen Situation ins Verhältnis setzt. Unter dem Aspekt der Wechselwirkung von Politik und Prophetie strukturiert Machiavelli seine Wiedergabe der sehr umfangreichen Predigten. Er referiert sie teilweise wortgetreu, konzentriert sich dabei aber ausschließlich auf solche Passagen, die die politischen und persönlichen Motive des Predigers in religiöse Oratorik kleiden. Aufgrund dieser spezifischen Perspektive Machiavellis sei der Analyse des Briefes ein kurzer historischer Überblick über Aufstieg und Fall des Dominikaners vorangestellt. Der 1452 in Ferrara geborene Girolamo Savonarola wird 1476 Mitglied des Dominikanerordens und legt noch im selben Jahr sein Gelübde ab. 1482 wird er zum Lektor in 6 Dass es durchaus Gemeinsamkeiten in den politischen Vorstellungen Machiavellis und Savonarolas

gibt, zeigen John Humphreys Whitfield, „Savonarola and the purpose of The Prince“, in The Modern Language Review 44 (1949), 44–59, und Donald Weinstein, „Machiavelli and Savonarola“, in Myron P. Gilmore (Hg.), Studies on Machiavelli, Florenz 1972, 251–264.

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das Florentiner Kloster San Marco berufen, wo er die Heilige Schrift vorzulesen und in der Predigt auszulegen hat. Mit dem annus mirabilis 1484 setzt seine prophetische Berufung in Form privater Offenbarungen ein. Der Erfahrung des moralischen Verfalls von Kirche und Gesellschaft und der Verkümmerung des christlichen Glaubens setzt er die Erwartung eines von Gott heraufzuführenden Weltendes entgegen. Als seine Aufrufe zur sittlichen Umkehr ungehört bleiben, verlässt er Florenz 1487 vorübergehend, auf Wunsch von Giovanni Pico della Mirandola holt ihn Lorenzo de’ Medici jedoch im Frühjahr 1490 in die Stadt zurück. 7 Savonarola spielt von nun an eine wichtige Rolle im religiösen, politischen, künstlerischen und intellektuellen Leben von Florenz. 8 Neben Denkern wie Marsilio Ficino und Giovanni Pico della Mirandola stehen auch Maler wie der junge Michelangelo und Sandro Botticelli unter dem Einfluss des Dominikaners. 9 Gianfrancesco Pico della Mirandola, der Neffe Giovannis, wird ihn 1530 in seiner Vita Hieronymi Savonarolae rückblickend als intellectus perspicax und veritatis amator bezeichnen. 10 Als Prior von San Marco strebt Savonarola zunächst eine Reform des Klosterlebens an: Die Ordensregel sollte wieder in ihrer ursprünglichen Strenge befolgt und der Dominikanerorden so zum Werkzeug der christlichen Erneuerung Italiens werden. Mit dem Jahr 1494 tritt jedoch eine entscheidende Neuorientierung im Denken und Wirken Savonarolas ein: 11 Seine Predigten sind nicht mehr allein auf einen spirituellen Wandel und eine Erneuerung der Kirche gerichtet, vielmehr betont Savonarola, dass die religiöse mit einer politischen Reform einhergehen müsse. Savonarola hatte den Feldzug des französischen Königs Karl VIII. unter dem Bild des ‚neuen Cyrus‘ vorausgesehen, durch den Gott die ‚Hure Babylon‘, die sich der Stadt Rom bemächtigt habe, strafe, die Kirche erneuere und das mit Frankreich verbündete Florenz zu einem ‚Neuen Jerusalem‘ aufsteigen lasse. Die Prophetie Savonarolas erhebt von nun an Florenz zum Zentrum der Reform von Kirche

7 Zu den verwendeten biographischen Informationen vgl. Raimund Lachner, „Savonarola, Hierony-

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mus“, in: Traugott Bautz (Hg.), Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Herzberg 1998, Bd. VIII, Sp. 1461–1472. Vgl. Andreas Fuhr, Machiavelli und Savonarola. Politische Rationalität und politische Prophetie, Frankfurt a.M. [u.a.] 1985, 50. Vasari unterstreicht in den Vite den Einfluss Savonarolas auf Botticelli: „[Botticelli; P. C. D.] Mise in stampa ancora il Trionfo della Fede di fra’ Girolamo Savonarola da Ferrara, e fu molto partigiano a quella setta. Il che fu causa che, abbandonando il dipignere e non avendo entrate da vivere, precipitò in disordine grandissimo. Perché ostinato alla setta di questa parte, faccendo continuamente il piagnone e deviandosi da ’l lavoro, invecchiando e dimenticando, si condusse in molto mal essere.“ In Giorgio Vasari, Le vite de’ più eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani, da Cimabue insino a’ tempi nostri. Nell’edizione per i tipi di Lorenzo Tormentino, Firenze 1550, hg. von Luciano Bellosi und Aldo Rossi, Turin 1986, 2 Bde., Bd. 1, 477. Erat Hieronymo intellectus perspicax, erat solertia perrara iudiciumque quod in veritatem ipsam suapte natura ferretur. [. . .] Mirus erat veritatis amator. In Gianfrancesco Pico della Mirandola, Vita Hieronymi Savonarolae viri prophetae et martyris, hg. von Elisabetta Schisto, Florenz 1999, 112. Zum Jahr 1494 als dem entscheidenden „turning point in Savonarola’s life“ vgl. Donald Weinstein, Savonarola and Florence. Prophecy and patriotism in the Renaissance, Princeton 1970, insbesondere Kap. 2 und 3.

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und Welt und verheißt der Stadt unermesslichen spirituellen und materiellen Reichtum. 12 [. . .] e io annunzio questa buona nuova alla città, che Firenze sarà più gloriosa, più ricca, più potente che mai fusse 13, so seine oft wiederholte Heilsvoraussage. Indem er seine Prophetie auf Florenz ausrichtet, in seinen Visionen die Ängste und Hoffnungen der Florentiner zum Ausdruck bringt und zu einer Rückbesinnung auf christliche Normen und Werte aufruft, wird Savonarola in den Zeiten der Krise „zu einer Integrationsfigur, an der sich breite Schichten der Gesellschaft ausrichten konnten“. 14 Die französische Besetzung von Florenz führt zur Entmachtung und Vertreibung der Medici. Savonarola trägt, ohne ein offizielles Amt innezuhaben, zunehmend politische Verantwortung, er wird in die Delegation, die die Signoria zu Karl VIII. schickt, aufgenommen, nimmt an drei weiteren Missionen zum französischen König teil und prägt die neue republikanische Verfassung von Florenz entscheidend mit. Wie die aktuellere Forschung herausstellt, verfügt Savonarola dabei durchaus über politischen Realitätssinn. 15 Bereits Mitte der 1490er Jahre beginnt sich die Stimmung jedoch gegen den Dominikaner zu wenden: Politische Gegner innerhalb von Florenz, besonders aber Alexander VI. und die römische Kurie schwächen seinen Einfluss; in einem Breve vom 8. September 1495 bezichtigt der Papst den Mönch der Ketzerei und der falschen Prophetie. Am 12. Mai 1497 wird Savonarola, dessen Predigten – unterbrochen von Phasen des Predigtverbots – sich inzwischen scharf gegen die Sittenverderbnis in Rom richten, wegen Ketzerei und Ungehorsam exkommuniziert. Nachdem auch sein letztes Bemühen um ein Konzil, von dem er die Absetzung Alexanders VI. erhofft, scheitert, wird er am 8. April 1498 auf Erlass der Regierung der Stadt Florenz verhaftet. Die unter Folter abgelegten Geständnisse widerruft er zwar später, wird aber dennoch als Häretiker und Schismatiker verurteilt. Zusammen mit zwei ihm treu gebliebenen Ordensbrüdern wird er am 23. Mai 1498 gehängt und sein Leichnam sodann verbrannt. Mit dem Fall Savonarolas beginnt die politische Karriere Machiavellis: Die zuvor von Anhängern des Dominikaners besetzten Ämter in der Stadtverwaltung werden neu vergeben, und am 19. Juni 1498 wählt der Große Rat, die Florentiner Bürgervertretung, Machiavelli zum Segretario della Repubblica und zum Vorsteher der mit militärischen und außenpolitischen Angelegenheiten befassten Zweiten Kanzlei. 16 Der Brief Machiavellis an Becchi ist einen Monat vor der Verhaftung Savonarolas verfasst. Wie stark die Aufmerksamkeit der Kurie für den aufrührerischen Reformer ist, zeigt sich daran, dass Becchi bereits Kopien früherer Predigten vorliegen. Machiavelli tritt in 12 Zu der spezifischen Ausrichtung der Prophetie Savonarolas auf die Stadt Florenz vgl. das Kap. „Flo-

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rence the New Jerusalem“, in Donald Weinsteins Arbeit Savonarola and Florence, 138–158, sowie Andreas Fuhr, Machiavelli und Savonarola, 74–77. Girolamo Savonarola, Prediche sopra Aggeo con il Trattato circa il reggimento e governo della città di Firenze, hg. von Luigi Firpo, Rom 1965, 166. Andreas Fuhr, Machiavelli und Savonarola, 18. Zur Revidierung des Bildes Savonarolas als „‚uomo del Medioevo‘ ignaro del presente e della ‚realtà effetuale‘ “ vgl. Cesare Vasoli, „Profezie e profeti nella vita religiosa e politica fiorentina“, 22. Vgl. Wolfgang Kesting, Niccolò Machiavelli, München 21998, 15.

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seinem Schreiben als Augenzeuge (perché mi trovai presente 17) einer Serie von Predigten auf, die Savonarola zum Karneval 1498 hält. 18 Machiavelli gibt die Struktur der Predigten wieder, er zitiert einige der von Savonarola ausgewählten Bibelstellen sowie die Hauptargumente der Auslegung; ferner beschreibt er das Auftreten des Bußpredigers, um dem Adressaten ein vollständiges, über den Predigttext hinausgehendes Bild zu vermitteln. 19 Besonderes Augenmerk richtet Machiavelli auf die Anpassung von Predigt und Selbstinszenierung an die sich wandelnde politische Konstellation. Zwar befindet sich Savonarola seit seiner Exkommunikation in einer prekären Lage, jedoch sind ihm die wechselnden Signorien bis zum Beginn des Jahres 1498 gewogen, so dass er sich über das Predigtverbot hinwegsetzen kann. Im Februar verschärft sich die Lage: In der neu gewählten Signoria sind dem Frate sechs von neun Mitgliedern feindlich gesinnt, daher kann er nicht mit der Unterstützung der Stadtregierung rechnen, als der Papst in einem Breve vom 26. Februar seine Auslieferung nach Rom fordert. 20 Die unsichere politische Lage bildet den Hintergrund, vor dem Machiavelli Savonarola portraitiert: [Savonarola; P. C. D.] predichò la domenica del charnasciale, et dopo molte cose dette, invitò tucti e suoi a comunicarsi el dì di carnasciale in San Marco, et disse che voleva pregare Iddio che se le cose che gli haveva predette non venivano da·llui, ne mostrassi evidentissimo segno; et questo fece, chome dicono alcuni, per unire la parte sua et farla più forte a difenderlo, dubitando che la Signoria nuova già creata, ma non pubblicata, no·gli fussi adversa. Pubblicata dipoi el lunedì la Signoria, [. . .] giudicandosela lui più che e dua terzi inimica, et havendo mandato el papa un breve che lo chiedeva, sotto pena d’interdictione, et dubitando egli ch’ella non lo volessi ubbidire di facto, deliberò o per suo consiglo, o amunito da altri, lasciare el predicare in sancta Reparata, et andarsene in San Marco. [. . .] Ma havendo dipoi la Signoria scripto in suo favore al papa, et veggiendo non gli bisognava temere più degli adversarii suoi in Firenze, [. . .] ha mutato mantello. (Lettere 1010–11)

17 Brief vom 9. März 1498 an Ricciardo Becchi, in Niccolò Machiavelli, Tutte le opere, hg. von Mario

Martelli, Florenz 1971, 1010. Im Folgenden unter der Abkürzung Lettere mit Seitenangabe im Text zitiert; die Übersetzung orientiert sich mit einigen Änderungen und Modernisierungen an der Übertragung von Johann Ziegler und Franz Nicolaus Baur in Niccolò Machiavelli, Historische Fragmente, Komödien, Briefe, hg. von Hanns Floerke, München 1925, 325–329. 18 Machiavelli bezieht sich zunächst auf die Predigt vom Karnevalssonntag, dem 25. Februar 1498, in der Savonarola ein öffentliches Gottesurteil zur Bestätigung der Echtheit seiner Prophezeiungen ankündigt; im Zentrum seines Briefes stehen sodann die Predigten vom 2. und 3. März 1498. Alle drei Vorträge beruhen auf der Auslegung von Textstellen aus dem Buch Exodus, sie sind nachzulesen in Girolamo Savonarola, Prediche sopra l’Esodo, hg. von Pier Giorgio Ricci, Rom 1955 und 1956, 2 Bde., Bd. 1 (1955), Predica III, VI und VII. Damit der Leser bzw. die Leserin leichter einen Vergleich zwischen dem Originalwortlaut Savonarolas und Machiavellis Wiedergabe ziehen kann, werden für die Argumentation relevante Auszüge aus den Predigten an entsprechender Stelle in den Fußnoten zitiert. 19 Im einleitenden Satz des Briefes stellt Machiavelli den Vorzug seiner Beschreibung gegenüber den bereits in Rom vorliegenden Kopien der Predigttexte heraus: Per darvi intero adviso de le cose di qua circa al frate secondo el desiderio vostro, sappiate che dopo le due prediche facte, delle quali havete hauta già la copia, predichò la domenica del charnasciale [. . .]. (Lettere 1010). 20 Vgl. Pierre Antonetti, Savonarola. Ketzer oder Prophet? Eine Biographie, aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Mainberger-Ruh, Zürich 1992, 249–251.

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‚Savonarola predigte am Karnevalssonntag, und nachdem er viele Dinge gesagt hatte, lud er alle seine Anhänger ein, am Karnevalstag in San Marco zu kommunizieren, und er sagte, er wolle Gott bitten, wenn die Dinge, die er geweissagt habe, nicht von Ihm kämen, ein sehr eindeutiges Zeichen zu geben; und das tat er, wie einige sagen, um seine Partei zu einen und sie zu seiner Verteidigung zu stärken, weil er fürchtete, dass die neu gebildete, aber noch nicht öffentlich bekanntgegebene Signoria ihm feindlich gegenüberstehe. Als am Montag die Signoria öffentlich verkündet wurde [. . .], beurteilte er sie als ihm zu mehr als zwei Dritteln feindlich gesinnt, und weil der Papst ein Breve geschickt hatte, das seine Auslieferung bei Strafe des Interdiktes forderte, und er befürchtete, dass sie ihm in der Tat gehorchen wolle, beschloss er, entweder aus eigenem Ratschluss oder von anderen ermahnt, das Predigen in Santa Reparata aufzugeben und nach San Marco zu gehen. [. . .] Aber als dann die Signoria zu seinen Gunsten an den Papst geschrieben hatte und als er sah, dass er von seinen Gegnern in Florenz nichts mehr zu befürchten brauchte [. . .], hat er den Mantel gewechselt.‘

Als Savonarola die Zusammensetzung der neuen Signoria noch nicht kennt, kündigt er an, öffentlich ein Gottesurteil auf sich herabzubeschwören, um die Echtheit seiner Prophezeiungen zu bestätigen. 21 Als bekannt wird, dass die Mehrheit der Stadtregierung gegen ihn steht, zieht er sich ins Kloster von San Marco zurück, statt wie vorher in Santa Reparata 22 zu predigen. Als die Signoria ihn wider Erwarten doch verteidigt, ändert er seine Redestrategie: Er muss nicht mehr die eigene Partei stärken und die feindlichen Lager innerhalb von Florenz schwächen; vielmehr kann sich seine ganze Wortgewalt jetzt gegen ein außenpolitisches Feindbild, Papst Alexander VI., richten. Machiavelli analysiert, wie Savonarola seinen Rückzug in der ersten Predigt in San Marco legitimiert: Während er in Santa Reparata lediglich in wenigen Worten behauptete, einen Skandal vermeiden und die Ehre Gottes bewahren zu wollen (disse in Sancta Reparata pure che per levare schandolo et per servare l’honore di Dio, voleva tirarsi indreto, Lettere 1010), nimmt er im Schutz des Klosters eine ausführliche Interpretation des Satzes prudentia est recta cognitio agibilium 23 aus der Summa Theologiae des Thomas von Aquin vor. Die prudentia 21 Fra Francesco di Puglia, ein Franziskaner von Santa Croce, nimmt Savonarola beim Wort und for-

dert jeden Anhänger des Dominikaners, der die Gültigkeit von dessen Exkommunikation bezweifele, heraus, sich mit ihm in einer Feuerprobe zu messen. Nachdem nach langen Verhandlungen zwei Vertreter des franziskanischen und des dominikanischen Lagers gefunden sind, die sich dem Gottesurteil unterwerfen, legt die Signoria die Feuerprobe auf den 7. April 1498 fest. Als der Tag gekommen und der Scheiterhaufen bereits errichtet ist, beginnen die Franziskaner und ihre Anhänger in der Signoria auf formaler Ebene zu taktieren, so dass es letztlich nicht zu einer Feuerprobe kommt. Die Gegner Savonarolas nutzen das Ausbleiben für ihre Zwecke, sie verwandeln die Enttäuschung der vergeblich wartenden Menge in Zorn gegen einen scheinbar falschen, von Gott verlassenen Propheten. In der folgenden Nacht kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen, die mit dem Sturm von San Marco und der Verhaftung Savonarolas sowie zweier seiner Anhänger enden. Detailliert zu den Ereignissen der Feuerprobe und des Sturms auf San Marco vgl. Pierre Antonetti, Savonarola. Ketzer oder Prophet?, 263–278. 22 Santa Reparata ist die frühere Kathedrale von Florenz, über der ab 1296 der Dom Santa Maria del Fiore erbaut wird. 23 Bei Machiavelli heißt es: [Savonarola, P. C. D.] monstrò per qual cagione egli s’era ritirato indreto, et disse: ‚prudentia est recta cognitio agibilium‘ (Lettere 1010). Der Satz ‚Die Klugheit ist der richtige Grund der Handlungen‘ findet sich bei Thomas von Aquin in der Summa Theologiae II, 2, q. 47, art. 2.

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wird in den Ausführungen Savonarolas zu einer gottgewollten observantia de’ tempi 24, wonach der Christ im Dienste Gottes sein Verhalten den Zeiten anpassen muss. Machiavelli beschreibt die Anpassungsstrategien des Mönchs, die dieser einer in seinem Sinne ausgelegten theologischen Maxime unterstellt, pointiert mit der Metaphorik des Kleiderwechsels (ha mutato mantello). Das Bild Savonarolas, der sich je nach Situation immer neue Gewänder anlegt, lässt auf eine Diskrepanz von Innerlichkeit und Äußerlichkeit schließen. Aber es ist nicht die permanent wechselnde äußerliche Verkleidung, auf die Machiavellis Kritik zielt; im Gegenteil: Im Principe wird er Savonarolas Handlungslegitimation der observantia de’ tempi aufnehmen und dem Fürsten empfehlen, seine Politik flexibel nach der politischen Notwendigkeit, secondo la necessità (Principe 75) 25, auszurichten: E però bisogna che elli [il principe; P. C. D.] abbi uno animo disposto a volgersi secondo ch’e’ venti della fortuna e le variazioni delle cose li comandano [. . .]. (ebd. 87). Voraussetzung für den Erfolg von Anpassungsstrategien ist aber die Fähigkeit zur simulatio politischer und religiöser Tugendhaftigkeit, die sich über die Sprache vollzieht und keinerlei Zugriff auf das wahre Innere erlaubt: Debbe, adunque avere uno principe gran cura che non li esca mai di bocca una cosa che non sia piena delle soprascritte cinque qualità [Milde, Treue, Menschlichkeit, Aufrichtigkeit und Frömmigkeit, P. C. D.], e paia, a vederlo e udirlo, tutto pietà, tutto fede, tutto integrità, tutto religione. (Ebd.) ‚Ein Fürst muss folglich große Sorgfalt darauf verwenden, dass nie ein Wort über seine Lippen kommt, das nicht von den oben genannten fünf Eigenschaften geprägt ist, und dass er, wenn man ihn sieht und hört, ganz von Milde, Treue, Aufrichtigkeit, Menschlichkeit und Frömmigkeit erfüllt scheint.‘ 26

Der Fürst – und ebenso der politisch ambitionierte Prophet – muss in der Lage sein, über die Sprache Schein ohne die leiseste Brüchigkeit zu produzieren. Bei der Bedingung perfekter simulatio setzt Machiavellis Kritik an der Rhetorik Savonarolas an. In der säkularisierten Form wird Prophetie zu einem sprachlichen Phänomen. Ihre Wirksamkeit hängt von der rhetorischen Begabung des Redners ab, der vor der Schwierigkeit steht, seine konkreten, an der politischen Wirklichkeit ausgerichteten Handlungsmotive hinter allgemeineren prophetischen Sprachmustern zu verbergen.

24 Machiavelli gibt diesen Teil der Predigt recht genau wieder, allerdings stammt die abstrakte Formu-

lierung der gebotenen observantia de’ tempi von ihm und nicht von Savonarola selbst. In dessen Predigt ist von der religiösen Verpflichtung des [governarsi] secondo e’ tempi die Rede: [è necessario] conoscere molto bene in che tempo si appartiene fare quella cosa che è in onore di Dio, e quando satisfà e quando no. [. . .] Sappi adunque che la prudenzia, la quale debbe usare ogni uomo cristiano, mi ha insegnato essere tempo ora fare così, e sono venuto qua partendomi di Santa Reparata, acciò non si facessi scandalo. In Girolamo Savonarola, Prediche sopra l’Esodo, Predica VI, 146–148. 25 Zur Kategorie der necessità, die in Machiavellis geschichtsphilosophischem Denken als Kausallogik der Ereignisse an die Stelle der providentia Dei tritt, vgl. Herfried Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt a.M. 2004, 246–250. 26 Die deutsche Übersetzung orientiert sich hier und im Folgenden mit einigen Änderungen an der Ausgabe Niccolò Machiavelli, Il Principe. Der Fürst, Italienisch/Deutsch, übersetzt und hg. von Philipp Rippel, Stuttgart 1986.

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2. ‚. . . und so färbt er seine Lügen ein‘ Ist die Rhetorik grundsätzlich ein wichtiges Instrument von Herrschaft, so gewinnt sie im Falle Savonarolas zusätzlich an Bedeutung: Als Mönch stehen ihm außer seinen Predigten keine anderen Waffen zur Verfügung. 27 Das Verhältnis von Waffen- und Sprachgewalt reflektiert Machiavelli im sechsten Kapitel des Principe in der Gegenüberstellung von bewaffneten und unbewaffneten Propheten: [Savonerola] ruinò ne’ sua ordini nuovi, come la moltitudine cominciò a non crederli; e lui non aveva modo a tenere fermi quelli che avevano creduto, né a far credere e’ discredenti. (Principe 29) ‚Savonarola fand bei der Durchsetzung seiner neuen Ordnung den Untergang, als die Menge begann, ihm nicht mehr zu glauben; und er hatte keine Mittel, um sich derjenigen zu versichern, die an ihn geglaubt hatten, und um die Zweifler zu veranlassen, an ihn zu glauben.‘

In dem Moment, in dem die prophetische Rhetorik nicht mehr zu überzeugen vermag, bedarf der Prophet der Waffen. Den entscheidenden ersten Schritt zum Scheitern Savonarolas sieht Machiavelli jedoch darin, dass der Mönch den Glauben der Menge verliert. Konkrete Kritikpunkte an der Oratorik des Frater stellt er in seinem Brief an Becchi heraus: Savonarolas Rhetorik ist zu ausufernd, zu wenig differenzierend und sie versteht es nicht, die wechselnden Zielsetzungen des Politikers und der Privatperson Savonarola vollständig zu verschleiern. Immer wieder unterstreicht Machiavelli, wie ausführlich und wenig konzentriert Savonarola spricht: dopo molte cose dette, intrato in varii dischorsi, come è suo costume, et parlatone diffusamente (Lettere 1010–1012). Indem Machiavelli seinen Briefstil darüber hinaus mehrfach als am Ideal der brevitas ausgerichtet charakterisiert, betont er durch den Kontrast die Redundanz der Predigten: delle quali cose perché mi trovai presente qualcuna brevemente ritratterò; Io vi discorro brevemente, perché la angustia epistolare non ricercha lunga narratione (ebd.). Wie sich Savonarolas Rede über die Stadt Florenz ergießt und sie einhüllt, beschreibt Machiavelli später ironisch im Decennale primo, einer Reimchronik, die die Jahre 1494 bis 1504 umfasst: i’ dico di quel gran Savonerola, el qual, afflato da virtù divina, vi tenne involti con la sua parola. 28 ‚ich spreche von jenem großen Savonarola, der, von göttlicher Tugend angehaucht, Euch mit seinen Worten lange eingehüllt hat.‘

27 Den besonderen Status des Mönchs, dem es im Vergleich mit politischen Herrschern an Macht und

Autorität fehlt, stellt Machiavelli im Kap. III,3, 473, der Discorsi heraus: [Savonarola; P. C. D.] non potette vincerla [la necessità; P. C. D.] per non avere autorità a poterlo fare (che fu il frate). 28 Niccolò Machiavelli, „Decennale primo“, in ders., Tutte le opere, hg. von Mario Martelli, Florenz 1971, 943. Im Folgenden unter der Abkürzung Decennale zitiert; Übersetzung P. C. D.

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Savonarola nimmt für sich in Anspruch, mit Gott zu sprechen. Die spezifische Nähe zum Göttlichen bestimmt seine Rhetorik, die Florenz eine Weile lang einhüllt und die Stadt für den Bußprediger beherrschbar macht. Allerdings ist seine Redeweise zu durchschaubar, um langfristig zu wirken. In seinem Brief an Becchi zeigt Machiavelli die wahren Motive hinter den wechselnden Inszenierungen und rhetorischen Strategien. Als der Bußprediger die Zusammensetzung der neugewählten Signoria noch nicht kennt, beschwört er ein Gottesurteil auf sich herab, um seine Partei zu einen und zu stärken (et questo fece [. . .] per unire la parte sua et farla più forte a difenderlo, Lettere 1011). Machiavelli legt das politische Motiv hinter der religiösen Handlung offen und betont, dass es sich bei diesem Befund nicht um seine persönliche Meinung, sondern um eine öffentlich diskutierte Ansicht handelt (chome dicono alcuni, ebd.). Dass Savonarolas Bitte, Gott möge ein Zeichen senden, wären seine Vorhersagen nicht göttlichen Ursprungs, von Teilen der Florentiner Bevölkerung für ein Täuschungsmanöver gehalten wird, belegt die zeitgenössische Chronik Piero Parentis, der das Angebot des Dominikaners als pasto alli sciocchi 29 (‚Speise für die Dummen‘) bezeichnet. Machiavelli beschreibt nicht nur Inhalt und Stil der Predigten, sondern auch die unmittelbare Wirkung der Auftritte auf die Hörerschaft. Er beobachtet, wie Savonarola Einfluss auf die Zusammensetzung seines Publikums nimmt: In San Marco, so hat es der Frater verfügt, sind ausschließlich Männer zugelassen, während die Frauen den Gottesdienst bei Fra Domenico, einem Anhänger Savonarolas, in San Lorenzo hören. 30 Mit dem Wechsel der religiösen Stätte verändert sich auch die rhetorische Strategie des Frater: Trovatosi adunche il nostro frate in casa sua, hora havere udito con quale audacia e’ cominciassi le sua prediche, et con quale egli le seguiti, non sarebbe di poca admiratione. (Lettere 1010) ‚Wer gehört hätte, mit welcher Kühnheit unser Bruder jetzt, wo er sich in seinem Haus befand, seine Predigt begann und mit welcher Kühnheit er sie fortsetzte, würde nicht wenig Bewunderung empfinden.‘

Ironisch beschreibt Machiavelli den wortgewaltigen Auftritt „unseres Bruders“, der in Santa Reparata nur wenige Worte über seinen Rückzug nach San Marco verloren hatte, auf heimischem Terrain (in casa sua) jedoch ein Schreckensszenario entwirft, hinter dem sich – wie Machiavelli erkennt – insbesondere die Furcht um das eigene Leben und in zweiter Linie die Sorge um seine Anhänger verbergen: perché dubitando egli forte di sé, et credendo che la nuova Signoria fussi al nuocergli inconsiderata, et deliberato che assai cittadini rimanessino sotto la sua ruina, cominciò con spaventi grandi con ragione a chi non le discorre efficacissime, mostrando essere optimi e sua seguaci, et gli adversari

29 Piero Parenti, Storia Fiorentina, hg. von Andrea Matucci, Florenz 2005, 2 Bde., Bd. 2, 144. 30 Dass Savonarola seine Rede geschlechterspezifisch ausrichtet, zeigt Pierre Antonetti, Savonarola.

Ketzer oder Prophet?, 255, in einer Darstellung der Predigten zwischen dem 4. und 18. März 1498: „Am 10. März – es ist Samstag, und die Frauen sind zur Predigt zugelassen – passt er [Savonarola; P. C. D.] seine Überlegungen dem weiblichen Publikum an und spricht von der Henne und ihren Küken und den ins Netz des Vogelfängers geratenen Vögeln.“

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sceleratissimi, tochando tutti que’ termini che fussino per indebolire la parte adversa et affortificare la sua (ebd.). ‚weil er sehr um sich selbst fürchtete und glaubte, die neue Signoria sei bereit, ihm zu schaden und entschlossen, viele Bürger in seinen Untergang zu verwickeln, begann er mit großen Schreckensbildern, mit Gründen, die für den, der sie nicht untersuchte, äußerst eindringlich waren, und er zeigte, dass seine Anhänger am tugendhaftesten, seine Feinde am frevelhaftesten seien, und er berührte alle Begriffe, die dazu dienen konnten, die gegnerische Seite zu schwächen und die eigene zu stärken.‘

Machiavelli konstatiert zwar die besondere Wirksamkeit der von Savonarola erzeugten Schreckensbilder, er weist aber zugleich auf ihre Durchschaubarkeit hin: Die Rede entfaltet die intendierte Wirkung nur bei demjenigen, der sie nicht in Frage stellt. Schärfer wird Machiavellis Kritik, wenn er sie nicht aus der Perspektive der Rezipienten, sondern des Produzenten formuliert. So lautet sein abschließendes starkes Urteil über Savonarola: et cosa, secondo el mio iudicio, viene secondando e tempi, et le sua bugie colorendo (ebd. 1011). Die Vorhersagen des Mönches werden als der Politik angepasste, rhetorisch verborgene Lügen demaskiert. Das Verb colorire, ‚einfärben‘, ‚übermalen‘, nimmt Machiavelli im Principe auf; es bezeichnet dort die Fähigkeit des Fürsten, seine Fuchsnatur, das heißt seine Verstellungskünste durch die simulatio von Tugenden zu verschleiern. 31 Eine vollständige dissimulatio seiner Lügen gelingt Savonarola jedoch nicht. Sie sind Machiavelli zufolge deshalb als solche erkennbar, weil sie ausschließlich mit den Farben Schwarz und Weiß übermalt werden. Machiavelli weist in Savonarolas Predigten eine klare Zweiteilung der Welt in Gut und Böse, Freund und Feind nach, die mit den Prinzipien der Inklusion und Exklusion arbeitet und deren dominierende Stilfigur die Antithese ist. 32 In den Decennali brandmarkt er die durch eine Rhetorik der Antithetik bewirkte Spaltung der Florentiner Gesellschaft als entscheidenden Schritt zu Savonarolas Untergang; die folgende Stelle schließt unmittelbar an die oben zitierte Kritik der Oratorik, die sich über die Stadt ergießt, an: ma perché molti temén la ruina veder de la lor patria a poco a poco sotto la sua profetica dottrina non si trovava riunirvi loco, se non cresceva o se non era spento el suo lume divin con maggior foco. (Decennale 943)

31 Die Textstelle findet sich im 18. Kap. des Principe, wo es unter Bezugnahme auf die Natur des Fuch-

ses, derer sich der Fürst bedienen soll, heißt: Ma è necessario questa natura saperla bene colorire, et essere gran simulatore e dissimulatore (Principe 88). 32 Carlo Celli analysiert Machiavellis Brief in Il carnevale di Machiavelli, Florenz 2009, 59–62, hier 60, im Kontext des Florentiner Karnevals. Er zeigt, dass Machiavelli der Antithese als Stilmittel Savonarolas große Bedeutung beimisst, und setzt die stilistische Beobachtung mit dem Karneval als einer zeitlich begrenzten Umkehr bestehender Ordnungen ins Verhältnis: „Essendo la lettera datata durante il carnevale, non c’è da meravigliarsi che nelle prediche del frate ci siano degli elementi di antitesi e capovolgimento tematico. Machiavelli mette una marcata enfasi sulla contraddizione per farne il filo conduttore della lettera.“

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‚aber weil viele fürchteten, ihre Heimatstadt nach und nach unter seiner prophetischen Lehre untergehen zu sehen, fand man kein anderes Mittel, Euch zu vereinen, als sein göttliches Licht weiter zu entfachen oder mit einem größeren Feuer auszulöschen.‘

Statt Frieden zu stiften, bewirkt die von Savonarola beanspruchte Verbindung zu Gott eine gesellschaftliche Spaltung, die ihrerseits die Furcht der Florentiner vor dem Untergang ihrer Stadt weckt. Die von Machiavelli pointiert eingesetzte Feuermetaphorik ist anspielungsreich: Sie bezieht sich zunächst auf den göttlichen Schein der religiösen Rhetorik des Predigers. Ferner evoziert sie jene ‚Verbrennungen der Eitelkeiten‘, die Savonarola zweimal während des Karnevals 1497 und 1498 inszeniert. Von ihm organisierte Kindergruppen fordern in Haus- und Straßensammlungen die Herausgabe von Luxusgegenständen, Kunstwerken, antiken und humanistischen Schriften, Musikinstrumenten und Spieltischen, die, zu einer Pyramide aufgeschichtet, auf einem Holzgerüst auf der Piazza della Signoria verbrannt werden. 33 Die ‚bruciamenti delle vanità‘ bedienen sich der zweifachen Aussagekraft des Feuers: Mit der Zerstörung der Luxusartikel wird einerseits die gegnerische Partei, die herrschende, an Kunst- und Prachtentfaltung interessierte Florentiner Oberschicht, symbolisch vernichtet; andererseits versetzen die Flammen die zuschauende Menge in Ekstase und mobilisieren Kräfte für die angestrebte politische und religiöse Erneuerung. Politische Fehler Savonarolas, darunter insbesondere die herbeigeführte gesellschaftliche Spaltung, führen jedoch dazu, dass weder seine Sprachgewalt noch die ‚bruciamenti‘ seine Position langfristig sichern können. Er selbst wird an die Stelle der vernichteten Gegenstände gesetzt und von einem größeren Feuer, der Politik der Signoria und des Papstes, mitsamt seinen politischen und moralischen Reformideen auf dem Scheiterhaufen ausgelöscht. Sprache und Selbstinszenierung des Propheten unterliegen dem Macht- und Gewaltpotenzial der institutionalisierten politischen und religiösen Kräfte. Die von Savonarola ausgewählten und von Machiavelli in seinem Brief an Becchi zitierten Textstellen aus dem Buch Exodus begünstigen Dualismus und Spaltung: Die Ägypter stehen für das Lager der Feinde – für die Gegner innerhalb von Florenz, besonders aber für die römische Kurie und den Papst, der im Pharao erkannt wird –, in den Israeliten sieht Savonarola seine Anhänger, und er selbst übernimmt die Rolle des Mose: 34 33 Zu den ‚bruciamenti‘ und insbesondere zu ihrer gesellschaftspolitischen Einordnung – Savonarola

stilisiert sich zum Wortführer des unteren und mittleren Bürgertums gegen die herrschende, reiche Oberschicht – vgl. Horst Bredekamp, „Renaissancekultur als ‚Hölle‘. Savonarolas Verbrennung der Eitelkeiten“, in Martin Warnke (Hg.), Bildersturm. Die Zerstörung eines Kunstwerkes, München 1972, 41–64. 34 Savonarola rechtfertigt in der Predigt vom 2. März sein Vorgehen, den Bibeltext allegorisch auf die Situation von Florenz zu beziehen: Volendo esporre questo capitolo dello Esodo allegoricamente alle vostre carità, anderemme così con la allegoria e lasceremo da canto gli altri sensi [. . .]. Vogliamo adunque toccare solo la allegoria e tirarla a nostro proposito, come io vi dissi ieri, che non era

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L’altra mattina poi exponendo pure lo Exodo et venendo a quella parte, dove dice che Moyses amazò uno Egiptio, dixe che lo Egiptio erono gli huomini captivi, et Moyses el predicatore che gli amazava, scoprendo e vitii loro; et dixe: O Egiptio, io ti vo’ dare una coltellata. (Lettere 1011) ‚Am anderen Morgen, als er dann erneut den Exodus erklärte und zu der Stelle kam, wo es heißt, Moses habe einen Ägypter erschlagen, sagte er, der Ägypter, das seien die schlechten Menschen und Moses sei der Prediger, der sie töte, indem er ihre Laster aufdecke, und er sagte: O Ägypter, ich will dir einen Messerstich versetzen.‘

In seiner Wiedergabe der Passage zeigt Machiavelli implizit die Vorgehensweise Savonarolas: Der Dominikaner legt zunächst die Textstelle aus, indem er einerseits die Bedeutung der Ägypter auf die schlechten Menschen generell ausweitet und andererseits in Moses den Prediger, also sich selbst, erkennt. Die mit O Egiptio einsetzende Apostrophe nimmt die Deutung auf und überträgt sie auf die Situation des Redners: Savonarola spricht aus der Position Moses’ und wendet sich unter der Anrufung des Ägypters an seine Feinde in Florenz und Rom. Mit der Figur des Moses bezieht sich Savonarola auf das Modell eines Künders, Staatsgründers und Gesetzgebers, das in Religion und Politik, in Kunst und Literatur der italienischen Renaissance und insbesondere in Florenz außergewöhnliche Bedeutung hat. 35 Michelangelos Moses am Grabmal für Julius II. (1513–1516), Botticellis „Bestrafung von Korah, Dathan und Abiron“ (1481–1482) in der Sixtinischen Kapelle oder Rosso Fiorentinos „Moses verteidigt die Töchter Jethros“ 36 (1523) – sie alle zeigen Moses als einen kraftvollen, heroischen Willensmenschen. Auch Savonarola nimmt auf einen zur Gewaltanwendung bereiten Moses Bezug, der in seinem Zorn einen Ägypter tötet (2. Mose 2,11–12). Allerdings wird die körperliche Gewalt sodann in eine rhetorisch-intellektuelle verwandelt: Moses habe getötet, indem er Laster aufdeckte. Diese Wendung ermöglicht es Savonarola erst, die Rolle des Moses anzunehmen und dem Ägypter, das heißt seinen Feinden in Florenz und Rom, Hiebe anzudrohen. Die Wendung ‚dare una coltellata‘, die er in der Predigt vom 3. März mehrfach einsetzt, 37 nimmt die Doppeldeutigkeit von körperlicher und sprachlicher Gewalt auf, meint sie doch inconveniente alcuno tirare a nostro proposito le scritture che parlano della Chiesa, perchè la Chiesa è uno corpo, e noi siamo membra e parte della Chiesa, e quello che si dice del tutto si può anche dire della parte, e noi, parte della Chiesa, abbiamo quella medesima forma che ha tutta la Chiesa. In Girolamo Savonarola, Prediche sopra l’Esodo, Bd. 1, 149. 35 Vgl. das Kapitel „Moses – ‚Fürst‘ und Kultfigur der Renaissance“ in Dirk Hoeges, Niccolò Machiavelli. Die Macht und der Schein, München 2000, 156–166. Hoeges weist hier (163) u.a. darauf hin, dass Moses bei den Feiern und Prozessionen zum Festtag des San Giovanni, des Stadtpatrons von Florenz, eine besondere Rolle einnimmt und als „unübersehbarer Teil des öffentlichen Schauspiels [. . .] dem allgemeinen Bewusstsein und der Imagination so geläufig wie der Vorstellungswelt einzelner [ist]“. 36 Zu einer möglichen Beeinflussung von Rosso Fiorentinos Moses-Figur durch Savonarola und Machiavelli vgl. Vivien Gaston, „The prophet armed. Machiavelli, Savonarola, and Rosso Fiorentino’s Moses defending the daughters of Jethro“, in Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 51 (1988), 220–225. 37 So ruft Savonarola beispielsweise aus: Ora piglia stamani questa cortellata tu, cattivo: come hai tu tanta faccia che tu cacci uno prete buono di chiesa [. . .]?, wenig später: Or togli, Egizio, questa

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wörtlich ‚einen Messerstich versetzen‘ und im übertragenen Sinne ‚einen Schlag versetzen‘. Den Mangel gegenüber dem Modell Moses, der darin liegt, dass Savonarola lediglich rhetorische Schläge austeilen kann, aber über keinerlei Waffengewalt verfügt, stellt Machiavelli mit dem Diktum des ‚unbewaffneten Propheten‘ im Principe sowie ausführlicher in den Discorsi (III,30) heraus: E chi legge la Bibbia sensatamente, vedrà Moisè essere stato forzato, a volere che le sue leggi e che i suoi ordini andassero innanzi, ad ammazzare infiniti uomini [. . .]. Questa necessità conosceva benissimo frate Girolamo Savonarola. [. . .] non potette vincerla, per non avere autorità a poterlo fare (che fu il frate), e per non essere inteso bene da coloro che lo seguitavano, che ne arebbero avuto autorità. (Discorsi 472–73) ‚Und wer die Bibel mit Verstand liest, wird sehen, dass Moses, um seinen Gesetzen und Einrichtungen Geltung zu verschaffen, gezwungen war, zahllose Männer zu töten [. . .]. Diese Notwendigkeit erkannte Fra Girolamo Savonarola sehr wohl. [. . .] Er konnte sie nicht bezwingen, weil er keine Macht zur Ausführung hatte (er war ja ein Mönch) und weil er von seinen Anhängern, die die Macht gehabt hätten, nicht richtig verstanden wurde.‘

In der Typisierung zu einer tatkräftigen, vor Gewalt nicht zurückschreckenden Herrscherfigur stilisiert Machiavelli Moses zum nachahmenswerten politischen Modell. Die Erkenntnis, dass Gewaltanwendung zur Durchsetzung politischer Ziele unumgänglich ist, schreibt Machiavelli auch Savonarola zu, und tatsächlich sprechen die Predigten des Dominikaners, die sich beispielsweise häufig am Wortfeld des Kriegswesens bedienen, dafür, dass der Prediger Gewalt nicht völlig ablehnt. Jedoch kann er aufgrund seines Status als Mönch der politischen necessità nicht gerecht werden. Seine Rede verhindert zudem, so die Analyse Machiavellis, dass seine Anhänger zu den Waffen greifen, indem sie suggeriert, rhetorische Schläge genügten zur Verteidigung der eigenen Position, oder indem sie realpolitische Zielsetzungen gänzlich verschleiert. Gelingt die dissimulatio (wenn auch mit negativen politischen Konsequenzen) hier insofern, als sie für die Gefolgsleute des Dominikaners nicht durchschaubar ist, zeigt Machiavelli im Brief an Becchi auch das gegenteilige Beispiel vom Scheitern rhetorischer Scheinproduktion: Dixe di poi [. . .] volendosi fare un ponte alla seguente predicha, che le discordie nostre ci potrebbono fare surgere un tiranno che ci ruinerebbe le case et guasterebbe la terra; et questo non era contro a quello ch’egli haveva già detto, che Firenze havea felicitare, et dominare ad Italia, perché poco tempo ci starebbe che sarebbe cacciato; et in su questo finì la sua predichatione. L’altra mattina [. . .] dipoi soggiunse, et qui lui voleva capitare, che volea dare all’Egiptio un’altra ferita et grande, et dixe che Dio gli haveva detto, ch’egli era uno in Firenze che cercava di farsi tyranno. (Lettere 1011) ‚Dann wollte er sich [. . .] eine Brücke zur nächsten Predigt bauen und sagte, dass unsere Zwietracht einen Tyrannen heraufbeschwören könne, der uns die Häuser zerstöre und die Erde verheere, und dies widerspreche nicht dem, was er früher gesagt habe, dass nämlich Florenz gedeihen und über Italien herrschen werde, denn er werde nur kurze Zeit bleiben, bis er vertrieben werde; und damit beendete er seine Predigt. Am nächsten Morgen [. . .] fuhr er fort, und darauf wollte er hinaus, er wolle dem Ägypter eine weitere große Wunde versetzen, und er sagte, Gott habe ihm gesagt, es sei einer in Florenz, der sich zum Tyrannen zu erheben suche.‘ cortellata und Ecco ancora un’altra cortellata. In Girolamo Savonarola, Prediche sopra l’Esodo, Predica VII, 201–202.

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Machiavelli erkennt in der Prophezeiung von der Machtergreifung eines Tyrannen in der Predigt vom 2. März zunächst die Strategie des Redners, einen Ausblick auf das Thema des folgenden Tages zu geben, Spannung zu erzeugen und die – aufgrund der Exkommunikation des Predigers stark dezimierte 38 – Hörerschaft zum Wiederkommen zu bewegen. Ferner soll die Furcht vor einer Tyrannis die eigene Partei stärken und die Gegner schwächen. Allerdings steht die Prophezeiung im Widerspruch zu den Heilsvoraussagen, die Savonarola früher für Florenz als künftige Herrin über Italien getroffen hat. Daher ist er gezwungen, das angekündigte Unheil durch die zeitliche Beschränkung, bis der Tyrann aus der Stadt vertrieben sei, zu minimalisieren. 39 Die fehlende Kohärenz der Vorhersagen, die Savonarola zur Rechtfertigung zwingt, schwächt die Überzeugungskraft seiner Aussagen. Am folgenden Morgen nimmt Savonarola die Exodus-Stelle auf, droht dem Ägypter als dem Feindeslager eine weitere, schwere Verwundung durch einen verbalen Messerstich an und gelangt, so Machiavelli, zum eigentlichen Ziel seiner Rede (et qui lui voleva capitare): Gott habe ihm gesagt, dass sich in Florenz jemand zum Tyrannen erheben wolle. Die Aussagen über das zukünftige Unheil der Stadt stärkt Savonarola durch Aussagen über sein eigenes Unglück in der Gegenwart: et che volere cacciare el frate, scomunicare el frate, perseguitare el frate, non voleva dire altro se non volere fare un tyranno (Lettere 1011). Machiavelli ahmt den hämmernden, durch Anaphern gekennzeichneten Stil Savonarolas nach. Durch die refrainartige Wiederholung von el frate, die sich so tatsächlich, wenn auch nicht an dieser Stelle, in vielen Predigten Savonarolas findet, 40 offenbart er die persönlichen Motive hinter der Prophezeiung.

38 Zur starken Abnahme der Zahl der Zuhörer, denen aufgrund der Teilnahme an den Predigten eines

Exkommunizierten ebenfalls der Bann droht, vgl. Pierre Antonetti, Savonarola. Ketzer oder Prophet, 242–243. 39 Wörtlich rechtfertigt Savonarola, Prediche sopra l’Esodo, Predica VI, 174–175, den Widerspruch zwischen seinen Prophezeiungen wie folgt: Ma nota, come ti dissi anche già altre volte, che el potria essere che aresti tiranno per qualche poco tempo, e non repugna questo a quello che t’ho detto fino a qui. Non dico però che egli abbia ad essere, ma se verrà sarà el più cattivo uomo del mondo e durerà poco. 40 Die Anapher tritt in der Predigt vom 3. März, auf die sich Machiavelli hier bezieht, in folgenden Formen auf: Sai tu quello che dice lo spirito questa mattina? Dice questo: che si tratta di fare uno tiranno nella tua città. [. . .] Sai tu che vuol dire interdetto, interdetto, interdetto? Vuol dire tiranno, tiranno, tiranno. Guai a te Firenze sel si fessi, guai a te, guai a te Firenze. Sai tu che vuol dire cacciare el frate? Vuol dire cacciare te, e te, e te [. . .]. In Girolamo Savonarola, Prediche sopra l’Esodo, Predica VII, 202. Die Wiederholung von frate findet sich beispielsweise im Predigttext des vorhergehenden Tages: Tu di’ che vogliono cacciare el frate. [. . .] Queste cose sono contro a voi, non contro al frate; e però se ’l viene interdetto, è contro a voi, non contro al frate (ebd., Predica VI, 175).

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3. Fazit Machiavelli sieht Savonarola als Exempel des Politikers, der einen Mangel an Waffengewalt durch prophetische Rede auszugleichen versucht. Prophetische Oratorik dient der Simulation einer außergewöhnlichen Verbindung zu Gott und der Dissimulation der weltlichen – politischen wie persönlichen – Handlungsmotive. Allerdings unterlaufen dem Redner Savonarola gravierende Fehler: 1) Simulation und Dissimulation gelingen, führen aber nicht zum gewollten Ziel: So verbirgt Savonarola seine politischen Motive beispielsweise hinter der Maske eines nur mit Worten kämpfenden Moses und täuscht damit seine Anhänger, die nicht zu den Waffen greifen, sondern den Worten des Predigers folgen. Ferner führt die Rhetorik der Oppositionsbildung, des Dualismus von Freund und Feind, so durchschaubar sie auch dem kritischen Blick sein mag, zu einer gesellschaftlichen Spaltung, die letztlich den Sturz Savonarolas herbeiführt. 2) Die rhetorische Produktion von Schein misslingt und Savonarola setzt sich dem Vorwurf falscher Prophetie aus: Die rasche Anpassung an die wechselnden politischen Konstellationen lässt die Prophezeiungen fragwürdig und die hinter ihnen verborgenen Zielsetzungen erkennbar werden. Der Versuch, widersprüchliche Vorhersagen mithilfe von Einschränkungen und Erklärungen zu rechtfertigen, entzieht ihnen zusätzlich Überzeugungskraft. Wird die durch Sprache erzeugte Maske des Propheten durchschaubar, verliert er seine von Gott hergeleitete Autorität, und seine politischen Fehler, die er nicht durch Waffengewalt auszugleichen vermag, werden ihm zum Verhängnis. Machiavellis Analyse der religiösen Rhetorik Savonarolas schafft eine Leerstelle: Das „Modell Savonarola“ ist gescheitert, es kann für den Einigungsprozess des zersplitterten Italien nicht in Anspruch genommen werden. In seinen politischen Werken füllt Machiavelli diese Leerstelle durch ein zweites Paradigma prophetischer Rede, das der Sprache der Dichter. Er erkennt das politische Potenzial literarischer Texte und setzt es an prominenter Stelle ein: Der Principe endet – für Machiavellis Stil ungewöhnlich pathetisch aufgeladen – mit einem Aufruf an die herrschenden Medici, Italien zu vereinen und von der Fremdherrschaft zu befreien; er schließt mit einem Zitat aus Petrarcas Canzone „Italia mia“ (Canzoniere CXXVIII): che [. . .] si verifichi quel detto del Petrarca: Virtù, contro a furore Prenderà l’arme; e fia el combatter corto: Ché l’antico valore Nelli italici cor non è ancor morto. (Principe 129–130) ‚auf dass [. . .] das Wort Petrarcas wahr werde: Tapferkeit wird gegen Wut die Waffen richten, der Kampf sich kurz bemessen: Ist doch der altererbte Mut Italiens Herzen nicht gänzlich unvergessen.‘

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In der Canzone „Italia mia“, die bis ins 19. Jahrhundert hinein modellbildend für die literarisch-symbolische Konstruktion eines geeinten Italiens sein wird, 41 ruft Petrarca Gott an, durch ihn, den Dichter, die Wahrheit zu verkünden: ivi fa che ’l Tuo vero, / qual io mi sia, per la mia lingua s’oda. 42 Konkret handelt es sich bei der Canzone um den Appell Petrarcas an die Signori d’Italia, auf den Einsatz ausländischer Söldnerheere zu verzichten. In Machiavellis Zitat ist der genaue Kontext jedoch nicht mehr erkennbar. In den Vordergrund tritt die Fähigkeit des Dichters, Einheit zu stiften, das nationale Geschick vorherzusagen und dabei zwischen den Zeiten zu vermitteln: Der Dichter trifft Aussagen über die Zukunft (Virtù [. . .] Prenderà l’arme), die durch die traditionelle Verbindung zwischen der Dichtergabe und dem Göttlichen an Autorität gewinnen. Zugleich kann er die Vergangenheit evozieren und gegen das Vergessen vergangener Stärke eine Translatio setzen: Die zukünftige politische Größe eines geeinten Italien lässt sich aus der kulturellen Größe der Vergangenheit ableiten. 43 Die Autorfigur Petrarca ist dabei von besonderer Wirkungsmacht: Als gekröntem Dichter berühren sich in ihm die Symbole göttlicher Inspiration und weltlich-politischer Auszeichnung, die seiner Rede eine doppelte Autorität verleihen. 44 Prophetie ist für Machiavelli immer eine spezifische, säkulare Form Autorität begründender Rede. Der prophetischen Sprache eines Savonarola, der sich gegen Verehrung

41 In ihrem Aufsatz „Italy as a victim: a historical appraisal of a literary theme“, in Italica 45 (2)

(1968), 216–240, zeigt Natalia Costa-Zalessow, dass Petrarcas Canzone die Tradition der symbolischen Repräsentation Italiens bis zu dessen Einigung im 19. Jahrhundert entscheidend prägt. 42 Francesco Petrarca, Canzoniere, hg. von Marco Santagata, Mailand 1996, 616. In ihrer Analyse „ ‚Italia mia‘ (Rvf 128). Petrarca suasor pacis“, in Romance Quarterly 54 (2007), 195–216, weist Sabrina Stroppa u.a. auf den prophetischen Ton der Canzone hin. 43 Dass sich die italienische Einigungsbewegung bis ins 19. Jahrhundert auf die kulturelle Blüte des Trecento und insbesondere auf Dante und Petrarca zurückbezieht und welche Auswirkungen dieser „Gelehrtenpatriotismus“ (Peter Ihring) für die italienische Literaturgeschichtsschreibung hat, zeigt der von Friedrich Wolfzettel und Peter Ihring hg. Band Literarische Tradition und nationale Identität. Literaturgeschichtsschreibung im italienischen Risorgimento, Tübingen 1991. 44 Der Lorbeer als Attribut Apolls verweist auf den göttlichen Ursprung der Dichtergabe, durch ihn wird die Verbindung zum Göttlichen, die auch den Propheten auszeichnet, sichtbar. Die Lorbeerkrönung ist darüber hinaus ein sorgfältig inszenierter politischer Akt, der an die Auszeichnung von Kaisern und siegreichen Feldherrn erinnert. Petrarca selbst unterstreicht in seiner Laureatio-Rede gleich mehrfach, dass der Lorbeerkranz in der antiken Tradition sowohl Kaisern als auch Dichtern verliehen worden sei. Zu den Traditionen und Inszenierungsmustern, die in der Dichterkrönung Petrarcas zusammenlaufen, vgl. Werner Suerbaum, „Poeta laureatus et triumphans. Die Dichterkrönung Petrarcas und sein Ennius-Bild“, in Poetica 5 (1972), 293–328. In Florenz kommt Petrarca darüber hinaus eine spezifisch lokale Bedeutung zu, feiert die Stadt ihn doch literarisch und ikonographisch als einen ihrer ‚uomini famosi‘; zur repräsentativen Vereinnahmung Petrarcas in Florenz vgl. Martina Hansmann, „Dante – Petrarca – Boccaccio. Die Dichter der Stadt Florenz als Gegenstand öffentlicher Selbstdarstellung“, in Justus Müller-Hofstede (Hg.), Florenz in der Frührenaissance. Kunst – Literatur – Epistolographie in der Sphäre des Humanismus. Gedenkschrift für Paul Oskar Kristeller, Rheinbach 2002, 109–130.

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und Imitatio antiker wie humanistischer Dichter wendet 45 und der bei der ‚Verbrennung der Eitelkeiten‘ im Karneval 1497 und 1498 auch Bücher von Petrarca ins Feuer werfen lässt, 46 hält Machiavelli dichterische Prophetie entgegen, die über eine konkrete politische Situation hinaus wirkt, Vergangenheit und Zukunft miteinander verbindet und statt zu gesellschaftlicher Spaltung zur Einigung Italiens aufruft.

45 So kritisiert Savonarola beispielsweise, dass die Prälaten in der Kirche nicht mehr das Evangelium

verkündeten, sondern sich stattdessen mit Dichtung und Rhetorik beschäftigten; vgl. Andreas Fuhr, Machiavelli und Savonarola, 51. 46 Zu Savonarolas Kunstauffassung und den ‚bruciamenti‘, denen neben Luxus- und Kunstgegenständen auch Bücher antiker und humanistischer Schriftsteller, darunter insbesondere Vergil, Petrarca und Boccaccio zum Opfer fallen, vgl. Horst Bredekamp, „Renaissancekultur als ‚Hölle‘. Savonarolas Verbrennung der Eitelkeiten“, 41–64. Dass Savonarolas Ablehnung der humanistischen Dichter u.a. aus der Abwertung von Vernunft und Wissen zugunsten des Glaubens resultiert, zeigt Jan-Hendryk de Boer, „Faith and knowledge in the Religion of the Renaissance: Nicholas of Cusa, Giovanni Pico della Mirandola, and Savonarola“, in American Catholic Philosophical Quarterly 83 (2009), 51–78, insbesondere 57–60.

Karin Westerwelle

Sprache der Liebe – Sprache der Prophetie Pierre de Ronsards Liebesgedichte an Cassandra

1. Einleitung 1.1 Über den Dichter Pierre de Ronsard Pierre de Ronsards umfangreiches lyrisches Werk entfaltet sich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts. Nachdem der junge Dichter 1550 vier Bücher Oden und 1552 erste Liebeslyrik publiziert hat, wird er mehr als drei Jahrzehnte kontinuierlich Verse schreiben und noch in seinen Todesstunden im Dezember 1585 diktieren. Sein Ruhm als „prince des poètes“ 1 wird im klassischen Zeitalter durch die Sprachreform Malherbes’ aus der normativöffentlichen Wertschätzung verdrängt. Seine Wiederentdeckung erfolgt erst im 19. Jahrhundert. Die Kunst des Sonetts im französischen Sprachraum gründet auf den virtuosen Formen Ronsards. An ihm schult Charles Baudelaire seine Dichtkunst. Ronsards Werdegang und Dichtung profitieren vom Aufschwung des Humanismus unter François Ier (1515–1547), dem sogenannten „père des lettres“. Ronsard ist Dichter am Hof der ValoisKönige in Paris, Fontainebleau und Blois. Er folgt unter Charles IX (1560–1574) als poète du roi dem Vorgänger im Amt, dem noch der alten Dichtungstradition verbundenen Mellin de Saint-Gelais (1491–1568), der Bibliothekar unter François Ier in der königlichen Residenz in Blois war. Ronsard widmet sich sowohl enkomiastischer Lyrik, wie zum Beispiel dem Lob des Herrschers in den Oden an Henri II (1547–1559) und Catherine de

1 In seinem Nachruf bezeichnet Claude Binet den Autor Ronsard als Edelmann aus dem Vendôme und

Dichterfürst: Discours de la vie de Pierre de Ronsard, gentilhomme vandomois, Prince des Poëtes François, avec une éclogue représentée en ses obseques, par Claude Binet, plus les vers composez par ledict Ronsard peu avant sa mort: ensemble son tombeau recueilli de plusieurs excellens personnages, Paris 1586. Frühe Belege für das Lob Ronsards als „prince des poètes“ gibt Marcel Raymond, L’Influence de Ronsard sur la poésie française, Paris 1927, 2 Bde., Bd. II, 31.

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Médicis, als auch der Liebeslyrik und dem Genre der galanten Gelegenheitslyrik, das heißt dem höfischen Sonett, das als Widmung an eine verehrte Dame in spielerischer Geselligkeitsform, der mascarade, zunächst in höfischen Kreisen kursiert. Während der Religionskriege steht er auf der Seite der Katholiken und verfasst (von 1562–1565) in Versform Reden (Discours) und Ermahnungen (Remonstrances), die die bürgerkriegsähnliche Situation Frankreichs beklagen und in denen er sich polemisch gegen Angriffe der Protestanten zur Wehr setzt. Für die Deutung des Dichters als Propheten bietet das umfangreiche Werk Pierre de Ronsards eine Fülle von Belegen. Die prophetische Rolle, mit der sich ein menschliches Sprechersubjekt dem christlichen oder paganen Göttlichen verbindet, verleiht dem Dichter eine besondere Dignität, seiner Rede eine gewisse Unanfechtbarkeit. In ihrer auf Gewalt und Plötzlichkeit abzielenden Bildlichkeit erzeugt die Sprache des Prophetischen ein Pathos, das seinerseits zur außergewöhnlichen Hervorhebung des Dichters beiträgt. Ronsard ist Autor einer gelehrten sowie stilistisch raffinierten Lyrik. Diese grenzt sich im literaturgeschichtlichen Feld gegenüber der Vorgängergeneration der Rhétoriqueurs ab, sie reflektiert philosophische Wahrnehmungs- und Erkenntnismodelle und vermittelt eine avancierte Position in der Frage, was das Schöne sei. Der junge Ronsard studiert bei Jean Dorat am Collège de Coqueret in Paris griechische und lateinische Literatur. Die antike, mittellateinische, italienische und französische Literatur ist ihm bestens vertraut. In seinen Oden an das französische Herrscherhaus, die prophetisch exaltierte Redemuster aufnehmen, rühmt sich der Sprecher, die antiken Autoren in das Französische übertragen zu haben. In der Epoche der sich ausbildenden französischen Nationalsprache und Literatur feiern Kommentatoren und Autoren den Pléiade-Dichter, der sich in der gesellschaftspolitischen Aufgabe auszeichnet, die französische Sprache zu bereichern. 2 Ronsards Lyrik konfrontiert den Leser mit einer Fülle von intertextuellen Anspielungen. In feinschattierten Differenzen gegenüber den griechischen und lateinischen sowie den italienischen und französischen Dichtern bildet er seine Poetik aus. Die prophetische Rede gestaltet sich in den jeweiligen Gattungen Hymne, Ode, Sonett, Elegie, Chanson und politischer Streitschrift unterschiedlich. Sie bezieht sich auf antike Modelle und ihre Bildlichkeit und bildet sich im höfischen Umfeld in neuer Funktion aus. Über kulturgeschichtliche und poetologische Kontexte, wie zum Beispiel den Neuplatonismus und die petrarkistische Lyrik, ordnet sie sich zugleich im gesellschaftspolitischen Kontext der Hofdichtung, der konfessionellen Konflikte und des wissenschaftlich-magischen Wissensfeldes ein.

2 Marc-Antoine Muret, der Kommentator der frühen Liebeslyrik Ronsards, preist die Bereicherung

der Sprache: pour avoir premier enrichy nostre langue des Grecques & Latines despouïlles; ‚der als erster unsere Sprache durch die griechischen und lateinischen Beutestücke bereichert hat‘, ders., Commentaire au premier livre des Amours de Ronsard (Ed. 1623), hg. von Jacques Chomarat, MarieMadeleine Fragonard und Gisèle Mathieu Castellani, Genf 1985, préface (o. S.). Ronsard verfolgt damit ein poetologisches Programm, das Joachim Du Bellay in seiner Deffense et illustration de la langue française von 1549 entwickelt hat.

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1.2 Prophetische Deutungsmuster im 16. Jahrhundert Eine systematische Behandlung des Themas Ronsard und die Prophetie, die hier nur in Ansätzen geleistet werden kann, hätte drei Gegenstandsbereiche zu untersuchen: 1) die umfangreiche literarische, philosophische und theologische Tradition, die sich mit dem „Wunder“ (miracle), der divinatio (divination), der Prophetie (prophétie) und Vorhersage (prognostication) beschäftigt. Namentlich sind hier unter anderem Cicero, Pietro Pomponazzi, Marsilio Ficino, Gerolamo Cardano, Rabelais, Pontus de Tyard und Montaigne zu nennen, 2) kulturgeschichtlich und politisch relevante Schriften, die sich zur Zeit der konfessionellen Streitigkeiten und Kriege mit Wunderzeichen, astrologischen Deutungen, Träumen und Vorhersagen beschäftigen, 3) die Deutung und Inanspruchnahme der Prophetie bei Ronsard, die sowohl gattungsbezogen als auch im gesellschaftspolitischen Feld darzustellen wäre. 3 Der Dichter Ronsard steht in der Tradition des antiken, nicht des christlichen Humanismus. In der Deutung und Bildlichkeit von Prophetie orientiert er sich wenig an biblischen Quellen; 4 prägend für seine Texte sind die antike Tradition und ihre Metaphorik. Biblische Propheten nennt Ronsard dagegen kaum, ihr zugleich geißelnder und mahnender Ton spielt – anders als bei zeitgenössischen oder nachfolgenden protestantischen Dichtern wie zum Beipsiel Agrippa d’Aubigné 5 – keine Rolle. Christlich inspirierte Dichtung hat Ronsard lediglich in einer Hymne vertreten. Sie heißt Hercule chrestien (‚Der christliche Herkules‘, II, 525–532). 6 In allen Werkausgaben ist dem Gedicht ein Widmungssonett von Nicolas Denysot vorangestellt, das den Konflikt zwischen christlicher Inspiration und profaner Bildlichkeit akzentuiert. In der Hymne unterstellt sich der Spre-

3 Neben der im weiteren Aufsatz angeführten Literatur sei auf folgende Forschungsarbeiten zum

Thema Prophetie im 16. Jahrhundert verwiesen: Henri Busson, Les Sources et le développement du rationalisme dans la littérature française de la Renaissance (1533–1601), Paris 1922, gibt vertiefte Einblicke in die Wissensstränge des 16. Jahrhunderts und wertvolle Hinweise auf Ronsards „prophétisme“ (v. a. 361ff.); Denis Crouzet, Les Guerriers de Dieu. La violence au temps des troubles de religion, vers 1525-vers 1610, Seyssel 1990, 2 Bde., Bd. I, v.a. Kap. III, S 163–232, diagnostiziert in seiner materialreichen Untersuchung für die Zeit der Religionskriege eine „conscience prophétique collective“ (Bd. I, 182); zur Prophetie-Rede und ihren Kontexten bei Ronsard vgl. Christine Pigné, De la Fantaisie chez Ronsard, Genf 2009, u.a. 148–149, 160–161, 393, 421, 445. 4 Ronsard unterscheidet sich wie Michel de Montaigne von einem Humanismus christlicher Prägung, wie er im Kreis der Marguerite de Navarre in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vorherrscht. Vgl. aber Jean Frappier, „L’inspiration biblique et théologique de Ronsard dans ‚L’Hymne de la Justice‘“, in Mélanges d’histoire littéraire de la Renaissance offerts à Henri Chamard, Paris 1951, 97–108. 5 Vgl. zur unterschiedlichen Tonlage des protestantischen Dichters Agrippa D’Aubigné, der im Umkreis von Henri IV lebte: Virginia Crosby, „Prophetic Discourse in Ronsard and D’Aubigné“, in The French Review 45/3 (1971), 91–100. 6 Ich zitiere im Folgenden im Lauftext nach der Ausgabe: Pierre de Ronsard, Œuvres complètes, hg. von Jean Céard, Daniel Ménager und Michel Simonin, Paris 1993, 2 Bde., mit der Angabe von Band- und Seitenzahl im Lauftext. Alle Übersetzungen meines Beitrages stammen, wenn nicht anders vermerkt, von mir (K. W.).

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cher in recht nüchternen Aussagen dem Einfluss des christlichen Gottes (Car c’est le Dieu qui m’a donné l’esprit; ‚denn der Gott hat mir den Geist verliehen‘), biblische Propheten des Alten Testaments und heidnische Orakel (die Sibylles devines II, 527, V. 71) treten als Verkünder von Christi Geburt auf (de leurs voix divines / prophetizant [. . .] le Fils de Dieu; ‚mit ihren göttlichen Stimmen prophezeien sie [. . .] Gottes Sohn‘). 7 Eine Anschauung davon, auf welche Weise im höfischen Raum pagane Welt und christliche Heilsgeschichte prophetisch vermittelt sind, gibt das Gemälde Die Sibylle von Tibur (Abb. 1) von Antoine Caron. Das Gemälde wird auf die Zeit zwischen 1575 und 1580 datiert und gehört seit 1938 zu den Sammlungen des Louvre. 8 Der königliche Hofmaler Caron, 1521 in Beauvais geboren, arbeitete in Fontainebleau an der Seite der italienischen Maler Francesco Primaticcio und Niccolò dell’Abbate. In Konkurrenz mit Letzterem richtete er die feierlichen Entrées officielles unter Charles IX aus; zusammen mit Germain Pilon und dem Gelehrten Jean Dorat gestaltete er Hoffeste und Dekorationen, wie zum Beispiel für den Empfang der polnischen Botschafter im Jahr 1573 und die Hochzeit des Duc de Joyeuse 1581. Das Pomp- und Kulissenhafte, das auf die Erzeugung eines schönen Scheins zielt, tritt auch auf dem Gemälde Die Sibylle von Tibur hervor. Von der künstlichen Artifizialität bleibt die prophetische Vision nicht unberührt. Im Vordergrund des Gemäldes sieht man die höfisch, leicht antikisierend blau gewandete Sibylle, seitlich neben ihr kniet zeremoniell rot gekleidet, ehrfürchtig und zugleich galant, Kaiser Augustus, der Züge von François Ier trägt. Mit erhobenem Arm und gestreckten Fingern weist die Sibylle auf eine Lichterscheinung am Himmel, in der im rechten oberen Bildfeld über der städtischen Architektur eine Art Himmelsrosette mit der Jungfrau und dem Kind zu sehen ist. Die goldleuchtende Aura der Jungfrau Maria wird von einem weiteren Kreisrund mit Engelsköpfen umrahmt. 9 Die im 15. und 16. Jahrhundert oft dargestellte Legende von Augustus und der Sibylle von Tibur geht auf die Legenda aurea des Jacobus a Voragine und die Mirabilia Urbis Romae zurück: Kaiser Augustus-Oktavian wird von seinen Senatoren gedrängt, Albunea, die Sibylle von Tivoli, zu befragen, ob jemand größer sei als er selbst. Daraufhin weist die Sibylle auf eine Himmelsvision – einen goldenen Kreis, in dem die Jungfrau und das Jesuskind erscheinen. Eine übernatürliche Stimme verheißt, dieses sei der Altar des Himmels. Kaiser Augustus stiftet der Frauenerscheinung die Ara Coeli.

7 Ronsard analogisiert einzelne Mythen der Herkules-Erzählung und christliche Parabeln. Er bezieht

sich, wie im Kommentar II, 1458, vermerkt, auf die Oracula sibyllina, hg. von S. Castellion, Basel 1545, 21555. 8 Vgl. die Erläuterungen zu Antoine Carons Gemälde von Sylvie Béguin im Ausstellungskatalog L’École de Fontainebleau, Paris 1972, 32–35. Weiterführende kunstgeschichtliche und politische Aspekte des Gemäldes vermittelt: Luisa Capodieci, „Légitimation prophétique de l’identité du roi: Auguste et la Sibylle de Tibur d’Antoine Caron“, in Thomas W. Gaethgens/Nicole Hochner (Hgg.), L’Image du roi de François Ier à Louis XIV, Paris 2006, 149–167. 9 Zu den Quellen und der Rezeption der Sibyllenerscheinung vgl. Luisa Capodieci, „Légitimation prophétique“, 149–151.

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Abb. 1: Antoine Caron, Die Sibylle von Tibur, Louvre, Paris

Carons Gemälde wirkt kulissenhaft. Die theaterhaften Aufbauten im Vordergrund bilden keine realen Monumente ab. Die Landschaft im Hintergrund zeigt mit Turnierspielen den Garten der Tuilerien. Längs der Seine ist die Stadtmauer zu sehen, die den Louvre mit den Tuilerien verbindet. Auf der anderen Seite der Seine erhebt sich vor antiken Dekorationsgebäuden im fernen Horizont die Tour de Nesle. Das treppenförmige Podest im Vordergrund ziert neben weiteren Figuren auf der linken Bildseite ein hoher altarartiger Aufbau mit gedrehten Säulen, die mit Weinlaub und Efeu inkrustiert sind. Zwischen den Säulen angebracht, verweisen Sonne, Adler und Medaillon, das die Inschrift Pietas Augusti trägt, auf königliche Insignien. Die Medailloninschrift nimmt eventuell auf die Devise Pietatis et Justitiae von Charles IX Bezug. An das erhöhte Podest im vorderen Bildraum schließt ein tieferliegender schachbrettartiger Boden an. Eine Balustrade hin zum Garten der Tuilerien schließt ihn ab. In deren mittlerer Öffnung erscheint, prominent hervortretend, die Regentin Catherine de Médicis. Die Balustrade säumen auf der tieferliegenden Seite des Tuileriengartens zahlreiche Zuschauer, die einem Reiterturnier beiwohnen. Die Augustus-Prophetie im Vordergrund scheint auf das französische Herrscherhaus und auf den imperialen Anspruch des Königs von Frankreich gemünzt, der unter Catherine de Médicis und ihrem verheißungsvollen Sohn Charles, als Namensnachfahre Karls

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des Großen, neu belebt wurde. Auf der Ebene der malerischen Bildkomposition ist allerdings das eklektizistische Arrangement verblüffend, das vergangene und zeitgenössische Elemente mit irreal-phantastischen Elementen mischt. Das Irreale wird in den Dekorationsbauten, aber auch in den exotischen Figuren sichtbar, wie zum Beispiel dem Mohren, der mit einem Affen im Bildervordergrund auf den Treppenstufen sitzt. Der Affe, traditionell eine Figur täuschender oder falscher Mimesis, klettert die Treppenstufen hinunter, er bewegt sich in gerader Falllinie unter der himmlischen Marienerscheinung. In der vertikalen Linie verbindet der Maler anschaulich und gespiegelt folglich zwei differente Formen des Unbekannten, das sich einmal in der Ferne des Himmels, einmal in der geographischen Ferne exotischer Welten zeigt. Das Gemälde veranschaulicht eine immense Spannweite in der Inszenierung des Prophetischen, das hier in den Kontext des Irreal-Artifziellen (der Bauten) und des kulturell Fremden gerät. Ist die Himmelsrosette ein Versatzstück wie die Kulissenbauten? Auch bei Ronsard, wie vor allem in der Analyse ausgewählter Sonette aus dem ersten Zyklus der Liebesdichtung, den Amours de Cassandre, zu zeigen ist, erscheinen prophetische Elemente innerhalb neuer Kontextualisierungen und in rhetorischen Inszenierungen, die die Gewissheit transzendenter Bezüge aufsprengen und politische translatio-Konzepte, das heißt die Rom-Idee und die imperiale Nachfolge Frankreichs, 10 in Frage stellen. Maler und Dichter zeigen rinascimentale Möglichkeiten der Deutung des Prophetischen auf. Ronsards Dichtung vermittelt dem Leser die Bildlichkeit prophetischer, auch körperlicher Exaltiertheit, die traditionell Apollon verleiht, und evoziert die besondere rhetorische Wirkungsmacht des Prophetischen. Die starke Rezeption des christlich überformten Neuplatonismus, für die Marsilio Ficino im Florenz des 15. Jahrhunderts durch seine übersetzende und kommentierende Tätigkeit der platonischen Schriften den Grundstein gelegt hat, 11 fördert in Frankreich seit Beginn des 16. Jahrhunderts Inspirationsmodelle, die eine communicatio des Menschlichen mit dem Göttlichen postulierten. Nach neuplatonischer Vorstellung erhebt sich der Dichter durch den furor poeticus und die mania zum Göttlichen, nur gottbegnadet kann er dichten. 12 Mit der Vorstellung eines Aufstiegs zur göttlichen idea, die der furor poeticus bewirkt, lässt sich die Prophetie gut verbinden. Ein rhetorisch-handwerkliches Verständnis von Dichtung als inventio steht dem Typus des Dichters als Künder überzeitlicher Wahrheiten entgegen. Ronsard greift auf den neu10 Vgl. zum translatio-Gedanken in der Dichtung des 16. Jahrhunderts Barbara Vinken, Du Bellay und

Petrarca. Das Rom der Renaissance, Tübingen 2001, vgl. auch zum Eröffnungssonett der Antiquitez de Rome Joachim Du Bellays: Karin Westerwelle, „Joachim Du Bellay. La nazione e il discorso poetico“, in InVerbis. Lingue Letterature Culture, 1/I (2011): Letteratura e Identità nazionale, 35–48. 11 Vgl. den Überblick über die Rezeption des Neuplatonismus (auch mit den Angaben der Übersetzungen) Perrine Galand-Hallyn/Terence Cave (Hg.), Poétiques de la Renaissance. Le modèle italien, le monde franco-bourguignon et leur héritage en France au XVIe siècle, Genève 2001, 120–124. 12 Vgl. zu den vier unterschiedlichen Paradigmen des Furors bei Ficino und zu ihrer Rezeption in der französischen Literatur die Erläuterungen von Perrine Galand-Hallyn, „Les ‚Fureurs plus basses‘ de la Pléiade“, in Prophètes et prophéties au XVIe siècle. Actes du colloque, Université Paris-Sorbonne, Paris 1997, 157–187.

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platonischen, also philosophisch geprägten Furor-Begriff in seinen Oden, Hymnen und Sonetten zurück. Aber er übernimmt die Annäherung des Dichters an die idea, die eine Reinigung vom Körperlichen impliziert, nicht bruchlos. So erweitert er zum Beispiel das Metaphernarsenal des Aufstiegs, indem er auch die Konzepte und Bildfiguren griechischer Dichter, zum Beispiel Pindar, Kallimachos und Theokrit, aufnimmt und diese mit dem neuplatonischen Furor-Begriff oder dem Prophetischen verbindet. Damit stehen Furor und Prophetie 13 bei Ronsard im Kontext antiker Bildung, sie sind keineswegs mit christlicher Transzendenz verbunden. Der reformierte Theologe und Dichter Théodore de Bèze hat Ronsards mondänen Paganismus kritisiert und die pagan-antikische Stilisierung des furor verworfen, weil dieser auf irdischen Ruhm ausgerichtet sei („ces fureurs à l’antique pour distiller la gloire de ce monde“; „diesen Furor nach antikem Modell, um den Ruhm dieser Welt zu destillieren“). 14 Phänomene wie Inspiration, Furor, Enthusiasmus und Wahnsinn ordnet Ronsard in seiner Dichtung göttlicher Einwirkung, aber ebenso ursächlich dem Anblick der Geliebten zu. Beide Wirkungsbereiche, die communicatio mit dem Göttlichen und der Anblick der Geliebten, überschneiden sich auch metaphorisch mit der Prophetie. Eine spezifische Metaphorik der verletzenden Anstachelung des Geistes (durch die „Stachel“, aiguillons) und der Zustand des imaginierenden, „phantastischen“ Geistes gehören sowohl zum Bereich des Göttlich-Prophetischen als auch zum profanen Liebesgott. 15 Anders als Calvin schließt Ronsard damit das Phantastische gerade nicht aus dem Zustand des Prophetischen aus und unterstreicht darin Illusion und Nicht-Sein als Elemente der poetischen Rede. Von der älteren Forschung ist Ronsard bruchlos in die neuplatonische Tradition eingeordnet worden, 16 die neuere Forschung hat den „self-constituting character“ des Furors, die gesellschaftspolitische Schlagkraft und den poetologischen Charakter dichterischer Furor-Bildlichkeit betont. 17

13 Jacques Peletier du Mans verbindet in seiner Poetik furor und prophétie mit dem Hinweis auf Platon,

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für den die Poesie durch diese beiden Elemente gekennzeichnet sei. Ders., L’Art poëtique, hg. von André Boulanger, Paris 1930, 72–73. Théodore de Bèze, Abraham sacrifiant, hg. von Marguerite Soulié, Murgon 1990, 6 (Préface). Ronsard evoziert über die Bilder des aiguillons (der Sporen oder Stachel) göttlich-prophetische Einflussnahme und Amor-Effekte; die metaphorische Verknüpfung der beiden Bereiche wäre systematisch zu untersuchen. Bedeutungsverwandte Wörter des Antreibens und Anspornes wie espoinçonner (cf. Espoinçonné d’une manie extresme, Sonett 205, I, 132) wären in das semantische Spektrum einzubeziehen. Vgl. André Festugière, La Philosophie de l’Amour de Marsile Ficin et son influence sur la littérature au XVIe siècle, Paris 1941; Paul Laumonier, Ronsard. Poète lyrique. Étude historique et littéraire, Genève 1972 (11909). Terence Cave, The Cornucopian Text. Problems of writing in the French Renaissance, Oxford 1979, 242. [Cornucopia. Figures de l’abondance au XVIe siècle. Traduit de l’anglais par Ginette Morel, Paris 1997]; Thomas Schmitz, Pindar in der französischen Renaissance. Studien zu seiner Rezeption in Philologie, Dichtungstheorie und Dichtung, Göttingen 1993.

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Die Prophetie-Thematik findet sich bei Ronsard nicht nur im ernsten, erhabenen, sondern auch im spielerisch-burlesken Kontext, der sich wiederum bis zur bacchantischen Trunkenheit, dem Gegenmodell der platonischen Inspiration, steigern kann. So heißt es in einem Gedicht Le Fourmy. À Remy Belleau (‚Die Ameise. An Remy Belleau‘) im entdeckerischen Umgang mit den kleinen Dingen der Welt: 113 Que diray plus? Vous [les fourmis, K. W.] avisez Les vents que vous profetisez 115 Plus d’un jour devant leur venue: La Nature vous est cognue, 117 Et toutes les saisons des cieux: Bref, vous estes de petits Dieux. (II, 859)

‚Was soll ich weiter sagen? Ihr [die Ameisen, K. W.] erkennt Die Winde, die ihr mehr als einen Tag Vor ihrer Ankunft prophezeit. Die Natur ist euch bekannt, Und alle Jahreszeiten des Himmels: Kurz, kleine Götter seid ihr.‘

Nach der Beschreibung der besonderen Wege der Ameisen und ihrer Transporttechniken überhöhen die zitierten Verse die Wetterfühligkeit der Insekten als ein „Prophezeien“. Die Einbettung der Ameisen in Natur und Kosmos wird in erhabener Weise gefeiert. Die Ameisen erscheinen als Mikrokosmos und „kleine Götter“. Daraus ergibt sich eine witzige Pointe, weil in den folgenden Schlussversen die Bitte an die Ameisen ergeht, sie mögen das „weiche Fleisch“ der Geliebten, die sich mit ihrem Liebhaber Belleau, einem zeitgenössischen Renaissance-Dichter, im Freien aufhalte, nicht pieken. Damit zerfällt die Welt in unterschiedliche Seinsbereiche, im Makrokosmos finden sich verschiedenartig strukturierte Welten. Das poetologische Thema der Wolken und des Formensehens in den Wolken steht am Gegenpol der göttlich-allegorischen Auslegung der Welt und dichterischer Prophetie. Es nimmt bei Ronsard einen großen Raum ein. Wolken sind hinfällige, flüchtige Gebilde, denen keine feste Form zukommt. Sie verdecken den Himmel. In Ronsards Folastrie VIII. Le Nuage ou l’yvrongne – einem Stück aus dem 1553 von der Sorbonne zensierten Band Livret de Folastries – phantasiert der betrunkene Thenot diverse Bildformen in die Wolken hinein. Das Bildsehen spielt auf mythologische Formen und das prophetische Sehen an, unterläuft aber jede Bestimmbarkeit: 30 32

Hà là là là là là là là Je voy deça, je voy dela, Je voy mille bestes cornues, Mille marmotz dedans les nues [. . .]. (II, 558)

‚Ha la la la la la la la Ich sehe dort, ich sehe da, Ich sehe tausend gehörnte Tiere, Tausend Buben in den Wolken [. . .].‘

Die in den Wolken zu sehenden Formen haben keine prophetische Funktion, sie verweisen – ähnlich wie in der Lyrik Petrarcas – nicht auf den göttlich strukturierten Kosmos, sondern auf die Phantasiefähigkeit des Sprechers selbst zurück. Im historischen Konfliktfeld der Reformation hat die Prophetie-Inszenierung einen riskanten Wert. Prophetische Rede nimmt Autorität in Anspruch, indem sie sich auf einen transzendenten Grund beruft. Ihr droht der Legitimationsverlust, sobald die Fakten gegen sie sprechen. Während der religionspolitischen Kriege setzt sich Ronsard mit der zeit-

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genössischen Praxis der prophetischen Rede auseinander. 18 So nennt er zum Beispiel in seinen politischen Streitgedichten den sagenumwobenen ‚Propheten‘ und Dichter Nostradamus, den Verfasser der Premières Centuries ou Prophéties (1555). 19 Die Verbreitung von Almanachen und ihre dunkle Sprache, die astrologische, historische und meteorologische Zeichen deutet, beurteilt Ronsard als schädlich, weil sie die Menschen in ihrem traditionellen Glauben verunsichere. 20 Michel de Montaigne erläutert in den Essais, dass die christliche Offenbarungswahrheit als Daseinsgrund selbst in Gefahr gerät, wenn katholische und protestantische Propheten sich in der Vorhersage von Sieg und Niederlage auf sie berufen. Treten die prophezeiten Siege nicht ein, erweist sich das prophetische Modell als untauglich. Damit ist zugleich das Christentum in den Strudel der Anfechtbarkeit gezogen. 21

18 Vgl. zum reformatorischen Prophetie-Modell bei Calvin die Ausführungen von Olivier Millet, „Élo-

quence des prophètes bibliques et prédication inspirée: la prophétie réformée au XVIe siècle“, in Prophètes et prophéties au XVIe siècle. Actes du colloque, Université Paris-Sorbonne, Paris 1997, 65–82. Das Interesse der Calvinisten an der Prophetie ist, so Millet, nicht auf das Bild oder die Vision, sondern die sprachliche Auslegung des göttlichen Wortes und seine Wirkung in der Predigt ausgerichtet; die ‚neuen Propheten‘ trifft bei Calvin der Verdacht des Schwärmertums (Car nous sçavons [. . .] il y a eu plusieurs esprits fantastiques qui se sont vantez d’estre prophetes). Der „phantastische Geist“ ist nach Calvin mit dem Prophetentum nicht vereinbar. Zit. nach Olivier Millet, 73. 19 Ronsard erörtert unterschiedliche Gründe für die besondere, prophetische Begabung Nostradamus’ im Discours à Guillaume Des-Autels (II, 1011–1016, hier 1015) und schlussfolgert: par les mots douteux de sa prophete vois, / Comme un oracle antique, il a dés mainte année / Predit la plus grand part de notre destinée. Vgl. die Ausgabe Nostradamus, Les Premières Centuries ou Prophéties (édition Macé Bonhomme de 1555), hg. mit einem Kommentar zur Epître à César und zu den ersten 353 Quartetten von Pierre Brind’Amour, Genf 1996. Vgl. zum historischen Kontext auch François Secret, „De quelques courants prophétiques et religieux sous le règne de Henri III“, in Revue de l’histoire des religions 172/1 (1967), 1–32, v.a. 26–29. 20 Ronsard schildert in seinen Prognostiques sur les miseres de nostre temps (II, 1039–1041) die Praxis des langage obscur der weitverbreiteten Almanache und die Figur des bärtigen, schmutzigen Propheten, der durch seine Reden verführe. Dessen Gestalt sei, so der Kommentar II, 1571, der Pariser Bevölkerung der Zeit gut bekannt gewesen. 21 Montaigne, der Fürsprecher der Skepsis, ist ein Feind jeder wahrheitsbeglaubigenden Inanspruchnahme des Prophetischen für die menschliche Rede. Er gibt als Beispiel für den Umgang mit falschen Propheten die Kannibalen an: Treffen die Prophezeiungen der Propheten nicht ein, würden sie von den Kannibalen umgebracht. Ihre Zahl sei deswegen, wie es ironisch heißt, gering. Michel de Montaigne, Les Essais, hg. v. Pierre Villey, Paris 21992, 3 Bde., I, 30, 214–215. Im langen Essay über Raimundus Sabundus unterstreicht Montaigne auch im kleinsten Detail die Differenz von historisch-rationaler Prognose und untauglicher prophetischer Vorhersage. Pierre Bunel, ein Freund seines Vaters, habe früh den historischen Gang der nouvelletez de Luther richtig durch Verstandesurteil vorhergesehen, prevoyant bien, par discours de raison (II, 12, 439). Überdies kritisiert Montaigne den prophetischen Stil: le parler obscur, ambigu et fantastique du jargon prophetique, der eine Auslegung in jede Richtung erlaube. Montaigne (I, 11, 66).

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Ronsard ist von protestantischen Vertretern wegen seiner mythologischen Bildlichkeit und des hohen Tons seiner Lyrik angegriffen worden. 22 Die mythologiefeindlichen Protestanten lesen gerade die Selbstsicherheit des sich glorios repräsentierenden Sprechers buchstäblich als Hybris – und nicht als auch gattungsbedingte Konvention. 23 Einem Dichter, der im höfischen Umfeld des Königs lebte, war es im 16. Jahrhundert durchaus erlaubt, für sich eine gewisse Erhöhung und Auszeichnung durch den furor poeticus oder die Prophetie zu reklamieren. Dagegen steht im 17. Jahrhundert die zunehmende politische und akademische Einflussnahme auf die Dichter und ihr Werk und ihre Unterwerfung unter das Zeremoniell des Hofes. 24 Prophetische Rede, die im 16. Jahrhundert in unterschiedlichen Diskursen in Anspruch genommen wird, legitimiert menschliche Rede und verleiht ihr Autorität. Ihr Ursprung liegt im Göttlichen und hat Anteil an metaphysischer Wahrheit. In der modernen Literatur steht die Prophetie am Gegenpol eines Sprechens aus subjektiver Phantasie. 25 Während die Prophetie dichterisches Sprechen in einem göttlich strukturierten Kosmos verankert, begründet die Genese der Rede in Schlaf, Traum, Melancholie, Phantasie und Imagination den partikularen, subjektiven Charakter der Dichterfigur. Bei Ronsard gewinnt das Vokabular der Phantasie und des Phantasmatischen an Bedeutung. Es weist darauf hin, dass Poesie das Subjektive und die Fiktion zur Darstellung bringt. 26 Dennoch sind prophetische Modelle und Beschreibungsmuster in der Sprache Ronsards nicht einfach ausgeschaltet. Die Faszination an alten und erhabenen Formen des dichterischen Sprechens steht dem entgegen. Es ist deshalb zu beobachten, dass Ronsard die prophetische Rede mit neuen Elementen kombiniert und verdoppelt. Er unterläuft die Bestimmungen des Prophetischen mit neuen Elementen der Imagination. In diesem Verfahren setzt er sich mit politischen und religiösen Deutungsmustern auseinander und verleiht der Liebesdichtung eine sprachliche Imposanz, die erhabene Wirkung erzeugt und über reflektorische Höhe verfügt.

22 In seiner Reaktion auf die protestantische Polemik gegen ihn und seine Dichtung setzt sich Ronsard

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erneut mit der Autoriät prophetischer Modelle auseinander. Vgl. die Response de Pierre de Ronsard aux injures et calomnies de je ne sçay quels predicantereaux et ministreaux de Genève, II, 1044–1070. Vgl. zu den Topoi der Oden- und Hymnentradition Thomas Schmitz, Pindar in der französischen Renaissance. Vgl. zur politischen Funktionalisierung von Werk und Autor im Zeitalter absolutistischer Herrschaft: Pia Claudia Doering, Jean Racine zwischen Kunst und Politik. Lesarten der Alexandertragödie, Heidelberg 2010. Charles Baudelaire hat sich wie der Karikaturist Honoré Daumier mit den prophetischen Selbststilisierungen in der Dichtung Victor Hugos kritisch auseinandergesetzt. Baudelaire vergleicht Hugo ironisch mit dem Propheten Ezechiel: Je vois dans la Bible un prophète à qui Dieu ordonne de manger un livre. J’ignore dans quel monde Victor Hugo a mangé préalablement le dictionnaire de la langue qu’il était appelé à parler. Charles Baudelaire, Œuvres complètes, hg. von Claude Pichois, Paris 1975 und 1976, 2 Bde., Bd. II, 133. Vgl. Karin Westerwelle, „Die Groteske in der Poetik Pierre de Ronsards“, in dies., Montaigne. Die Imagination und die Kunst des Essays, München/Paderborn 2002, 352–364.

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Im Folgenden soll zunächst die selbstreflexive, rhetorische Inszenierung von prophetischer Autorschaft bei Ronsard an einem häufig für die Prophetie herangezogenen Gedicht, der Hynne de l’automne (‚Hymne an den Herbst‘) aus dem Jahr 1563, kurz erläutert werden. Der innovative Umgang mit dem Modell der Prophetie wird im Hauptteil des Aufsatzes anhand der frühen Liebeslyrik Ronsards behandelt. Die geliebte Dame, die Ronsard im Premier Livre des Amours bedichtet, heißt Cassandra. Mit ihrem ‚schönen Namen‘ (I, 38, Sonett XXVII Bien mille fois) bezieht sich Ronsard zugleich auf die trojanische Prinzessin und Prophetin. Der mythischen Erzählung nach hat Apollon der schönen und keuschen Frau die Gabe der Prophetie für ihr Versprechen verliehen, ihn liebend zu erhören. Cassandra erfüllt ihr Liebesversprechen nicht und wird deswegen von Apollon bestraft: Cassandra kann nur das Schlechte voraussehen, überdies werden die Menschen ihren negativen Prophezeiungen keinen Glauben schenken. Ronsard integriert mit dem Namenskonzept der Geliebten Cassandra Formen des prophetischen Sprechens, die neben die Liebes- und furor-Bildlichkeit treten. Nunmehr ist die volkssprachliche Liebeslyrik, das Lob der Dame, mit der Sprache der Prophetie verbunden. Das Ungewöhnliche besteht darin, dass die Prophetie nicht etwa neue Formen in der sich in der Zeit erfüllenden Liebesrede begründen würde. Vielmehr verwendet und funktionalisiert die Sprache der Liebe die negative Prophetie, wie sie Cassandra verbildlicht. Die katastrophische Rede der Cassandra, die inhaltliche Negativität ihrer Vorhersagen und die Ungläubigkeit der Menschen bilden Bestimmungselemente, die den besonderen Status der Liebesdichtung hervorheben.

2. Autobiographische und prophetische Bestimmung zum Dichter? Der erste Teil der Hymne an den Herbst (in den Versen 1 bis 86) illustriert – vor dem Lob des Herbstes im zweiten Teil – die Bestimmung des Sprecher-Ich zum Dichter. 27 Die Hymne integriert autobiographische Elemente. In der Anrede richtet sich die Muse an Ronsard, sein Name fällt explizit (II, 559, V. 65). Das sich durch dichterische Berufung auszeichnende Ich trägt den Namen Ronsard. In außergewöhnlicher Selbstlegitimation bestimmt damit das lyrische Ich seinen eigenen lebensgeschichtlichen Ort und Rang unter den Dichtenden und prophetisch Begabten. Das lyrische Ich personalisiert und porträtiert sich, obwohl die Inanspruchnahme des Prophetischen, bei dem im Namen Gottes gesprochen wird, eine solche Selbstauszeichnung verbietet. Auch der Name des Lehrers Ronsards, Dorat, wird genannt (vgl. V. 78). Jean Dorat war der Leiter des in Paris neugegründeten Collège de Coqueret, an dem Ronsard so wie andere Renaissance-Dichter fünf 27 Die politische Funktion und den philosophischen Anspruch der Hymnen Ronsards erläutert Francis

Montgomery Higman, „Ronsard’s political and polemical poetry“, in Terence Cave (Hg.), Ronsard. The Poet, London 1973, 241–286, v.a. 241–245.

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Jahre studiert hat. Somit sind zwei entscheidende Elemente des Dichtertums, Inspiration und gelehrtes Können, einander gegenübergestellt. Eingeflochten in die lebensgeschichtliche Darstellung über die Berufung und Ausbildung zum Dichter sind weitere poetologische Ausführungen über das besondere Tun der Dichter: Sie dichten in Allegorien, ihr Geist (esprit) ist in besonderer Weise phantasiebegabt bzw. phantastisch. Mit dem Tage seiner Geburt untersteht der Sprecher der Herrschaft Apollons, des Musenführers. Apollon hat ihm die ‚Gabe der Poesie‘ eingehaucht (M’inspirant dedans l’ame un don de Poësie, V. 10) und ihn mit einem ‚Furor des Geistes‘ (une fureur d’esprit) ausgestattet. Aber nur wenn der ‚bewegte Geist‘ durch die ‚schmerzenden Stachel‘ (des poignans aiguillons) der Göttlichkeit angetrieben wird, empfängt und aktualisiert er die Gabe der Dichtung. In dieser gewaltsamen Berührung durch die Göttlichkeit wird der in seinem Geist angestachelte Mensch zum Propheten (II, 559, V. 13 Quand l’homme en est touché il devient un Prophète). Die prophetische Auszeichnung des Dichters ist aber keineswegs nur Erhebung zum Göttlichen. Vielmehr kommt dem Sprecher in seiner Differenz zu den anderen Menschen ein gewisses Außenseitertum zu, wenn er sich im Widerspruch zur vulgären Meinung und zu den Ansichten des Volkes äußert, auf materielle Güter keinen Wert legt und sich in asketischen Praktiken auf seinen Furor vorbereitet. Er steht dann in einer Reihe mit anderen Figuren, die prophetisch oder divinatorisch sprechen, aber verhöhnt werden: 65 67 65 67

Mais courage, Ronsard, les plus doctes Poëtes, Les Sibylles Devins Augures et Prophetes, Huez siflez moquez des peuples ont esté : Et toutefois, Ronsard, ils disoyent verité. ‚Aber Mut, Ronsard, die gelehrtesten Dichter, Die Sibyllen, Wahrsager, Auguren und Propheten, Verhöhnt, verpönt und verlacht durch Völker wurden sie: Und doch sprachen sie, Ronsard, die Wahrheit.‘ (II, 560, V. 65–68)

Der Prophet ist hier eine Instanz unter ähnlich Begabten: den weiblichen Propheten, das sind die Sibyllen, ferner den Wahrsagern und Auguren. Aber am Anfang der Aufzählung stehen die gelehrten Dichter, die sich traditionell durch Studium und Erwerb von Kenntnissen auszeichnen. Es folgen im Versumbruch der aufzählenden Kette die göttlich inspirierten Figuren. Damit kann der den Versen zweifach integrierte Autorname Ronsard nun der einen oder der anderen Gruppe oder aber beiden Gruppen zugeordnet werden. Hier liegt also eine in die Augen springende Unbestimmtheitsstelle vor, die das Gedicht im Folgenden konturiert. In der autobiographischen Skizze, die Ronsard in der Hymne von sich als Dichter gibt, führt er als weitere Etappe seines Lebens seine Lehrjahre an. Er bezeichnet sich als ‚Schüler von Dorat‘, der lange Zeit sein Lehrer gewesen sei und ihn die Poesie gelehrt habe: Dorat, qui long temps fut mon maistre, / M’apprist la Poësie (II, 561, V. 78–79). Die Dichtung erscheint damit als rhetorisch erlernbare Kunst. Sie ist eine ars, eine Technik. Sie besteht darin, wie dann ausgeführt wird, vortäuschend und versteckend zu spre-

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chen, indem die „Wahrheit der Dinge“ in einer allegorischen Hülle, also eingeschlagen im ‚Mantel der Fabel‘ (II, 561, V. 81), verdeckt wird. Der gelehrte Dichter bedient sich schöner Bilder, die, allegorisch deutbar, eine Wahrheit enthüllen. Der Sprecher charakterisiert sich abschließend als jemand, der, indem er die Herbsthymne dichtet, Gaben von seinen geistigen Gütern austeilt und eine Form des unsterblichen Geschenks stiftet. Damit schließt sich der Kreis der Einsetzung des Dichters als prophetisch Sprechenden und seines Tuns als Stiftung von Unsterblichkeit. Die Erzählung über die Geburt des Dichters und seine prophetische Begabung erscheint in der Kreisstruktur der Anlage als rhetorisch gestaltete Allegorie über die eigene Autorschaft. Am Anfang steht die allegorische Selbsteinsetzung des prophetischen Dichters durch den Sprecher, die rhetorisch als prophetische Form verhüllt ist. Ebenso wie sich Poesie und Literatur gegen den Vorwurf der Leichtfertigkeit und der Sittenlosigkeit verteidigen, indem sie einen unter der bildlichen Hülle verborgenen allegorischen Sinn behaupten, dient die Inanspruchnahme eines transzendenten Ursprungs der Rede der Legitimation der Dichtung und des Dichters. 28 Apollon-Bildlichkeit und Modell der Prophetie begründen ein poetologisches Feld und das Selbstverständnis des Dichters.

3. Ronsards Liebeslyrik an Cassandra. Negative Liebesprophetie 1550 tritt Ronsard zunächst mit vier Büchern Oden an die Öffentlichkeit. Kurze Zeit später folgt zusammen mit dem Fünften Buch der Oden der erste Band der Liebesgedichte: der Premier Livre des Amours von 1552. Vorbild für die an die Dame Cassandra gerichteten Sonette und Kanzonen ist in Anlage der Liebessituation und Metaphorik der Canzoniere Francesco Petrarcas (1304–1374), wenngleich eine Fülle von intertextuellen Verweisen und Anspielungen auf die antike Dichtung die petrarkistischen Muster in ein neues Licht stellen. 29 In der Renaissance wird Petrarcas Liebeslyrik an die Dame Laura – bereits vor 1550 mit den Dichtern Maurice Scève und Joachim Du Bellay – zum kanonischen Vorbild. 30 Ronsards Zyklus (mit 182 Sonetten und einer Chanson) ist der Frauenfigur Cassandra gewidmet. Sie ist die als Geliebte angesprochene Dame und die trojanische 28 Vgl. zur Legitimation der Dichtung: August Buck, Italienische Dichtungslehren vom Mittelalter bis

zum Ausgang der Renaissance, Tübingen 1952, 67–87. 29 Vgl. exemplarisch zur Überschreibung Petrarcas durch antike Autoren bei Ronsard: Terence Cave,

„La Contamination des intertextes: Le Sonnet ‚Or que Juppin‘“, in Andre Gendre (Hg.), Ronsard. Colloque de Neuchâtel, Genève 1987, 65–73. Ein Beispiel für unterschiedliche Stillagen von petrarkistischer Lyrik (Petrarca) und neuplatonischem Einfluss (Ficino) gibt Joachim Du Bellay in dem Sonett „Thiard, qui as changé en plus grave écriture / Ton doux style amoureux“, in: Joachim Du Bellay, Les Regrets, in: ders., Les Regrets et autres œuvres poétiques, hg. von Michael Andrew Screech, Genève 1966, 230. 30 Die Petrarca-Rezeption beleuchtet Jean Balsamo (Hg.), Les Poètes français de la Renaissance et Pétrarque, Genève 2004.

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Prophetin. 1553 erscheint eine erweiterte zweite Auflage des Premier Livre des Amours. Ein Kommentarband von Marc-Antoine Muret begleitet ihn. Er soll das Verständnis der komplexen Gedichte erleichtern. Muret gibt die einzelnen Gedichte kurz wieder, er erklärt Mythologie und dichterische Vorlagen Ronsards. 31 Die weitere Liebeslyrik Ronsards, die Continuation des Amours und die Nouvelle Continuation des Amours von 1555 und 1556, richtet sich – trotz des auf Kontinuität verweisenden Titels – an eine andere Figur der Geliebten mit dem Namen Marie. 1578 veröffentlichte Ronsard zwei weitere Bücher Liebeslyrik, den Premier livre des Sonnets pour Hélène und den Second livre des Sonnets pour Hélène. Das Namenskonzept der Geliebten Helena verweist auf die schönste aller Frauen und Auslöserin des Trojanischen Krieges. Mit den Namen der Frauenfiguren verbindet Ronsard unterschiedliche Stillagen und Dichtungskonzepte. Zu ‚Marie‘ gehören mit anakreontischen Elementen ausgeschmückte pastorale Szenen und eine niedrige Stillage, zu ‚Cassandra‘ und ‚Helena‘ in den Namen und Figuren der hohe Stil des Epos. Ronsard spiegelt in der Prophetin Cassandra seine neue Deutung der Liebe – und damit der Deutung von Sprache und Welt. Der Cassandra-Zyklus beinhaltet eine Reflexion über Liebe und Schönheit. Er erfasst das Irrationale, das Begehren und die Passio, reflektiert Erkenntnismodelle und unternimmt es damit grundsätzlich, die Situation des Menschen in Welt und Kosmos zu bestimmen. Der Premier Livre des Amours integriert eine Reihe von traditionellen Elementen des Frauenlobs und der petrarkistischen Liebeslyrik. Dabei prallen die in der Liebeslyrik kodifizierten Situationen spannungsreich auf die Figuration der antiken Prophetin Cassandra. Der amour courtois, die höfische Liebeswerbung, die suggeriert, sich an eine unerreichbar höherstehende, aber reale Frau zu richten, und die antike Referenz auf Cassandra lassen sich nur schwer vereinbaren. Denn wie sollten die besonderen Charakteristika und die Bildlichkeit der (mythischen) Cassandra-Figur auf eine aktuell geliebte Frauengestalt zutreffen? Wie könnte sich eine realhistorische Cassandra in der Liebesrede angesprochen fühlen? Pierre Bayle hat diese Unvereinbarkeit im Dictionnaire historique et critique herausstellt. Bayle berichtet, dass Ronsards ‚undurchdringliche Dunkelheit‘ (ses tenebres impenetrables) ohne erhellenden Kommentar den Zeitgenossen nur schwer verständlich gewesen sei. Man habe Ronsard vor allem den Vers: Je ne suis point, ma guerriere Cassandre / ‚In keiner Weise bin ich, meine kriegerische Cassandra‘ (Sonett IV, I, 26) vorgehalten: ‚Glauben Sie allen Ernstes, fragt man ihn, dass Ihre Cassandra, für die Sie dieses Sonett geschrieben hatten, eine vorteilhafte Meinung darüber gewinnt? Kann man sich vorstellen, dass sie diesen Bruder kennt, den Sie ihr geben? Glauben Sie, dass der ‚Doloper Soldat‘, der Myrmidone, der wahnsinnige Koroibos und der ‚griechische Peneleos‘ ihr in irgendeiner Hinsicht verständliche Namen sind; und dass es für ein Mädchen eine Kleinigkeit bedeutet, alle diese Geschichten über die Belagerung Trojas zu dechiffrieren?‘ 32

31 Marc-Antoine Muret, Commentaire au premier livre des Amours de Ronsard. 32 Pierre Bayle, „Ronsard“, in Dictionnaire historique et critique, 3e édition à laquelle on a ajouté la

vie de l’auteur et mis ses additions, Rotterdam/Genf 1715, 432–438, hier 436.

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Bayle stellt die Spannung heraus, die die Lektüre und Rezeption der Ronsardschen Lyrik erzeugen. Ein schönes, aber nicht weiter gebildetes Mädchen aus Blois, eine als Cassandre Salviati 33 identifizierte Frau, in die sich Ronsard verliebt hätte, vermag ebenso wenig wie der unwissende Leser die antiken Mythen über Troja aufzulösen. Die artifizielle, bildlich aufgeladene Liebesanrede widerspricht jeder unmittelbaren, banal-biographischen Verführungs- und Liebessituation. In den poetisch-mythischen Überformungen verwandelt sich die angesprochene Dame in eine andere, die mit der real-historischen, in die sich der Autor Ronsard verliebt haben mag, nicht identisch ist. Der Name der Dame ist Chiffre für ein Dichtungskonzept. Während Petrarca im Canzoniere die geliebte donna in gelehrter und schöner Form als Laura (in Ableitung von it. lauro, Lorbeer) anspricht und damit den Mythos von Apollon und der Nymphe Daphne (gr., Lorbeer) variiert, richtet Ronsard sich an Cassandra, die griechische Prophetin, die von Apollon für ihre wortbrüchige Liebesverweigerung bestraft wurde. Anders als in Petrarcas Canzoniere 34 wird der Name der Geliebten im Gedichtbuch direkt und von Beginn an explizit genannt. Die verfremdenden Formen in der Liebesanrede an Cassandra zeugen von einem Begriff des Poetischen. Sie bringen eine Subjektivität zum Ausdruck, die in der Terminologie des 16. Jahrhunderts als das Phantastische erfasst worden ist. Cassandra, die trojanische Prophetin, zeichnet ein besonderes Verhältnis zu Sprache und Zeit aus. Ihre Sprache weissagt negatives, katastrophales Geschehen. Sie deutet das trojanische Pferd als Kriegslist der Griechen. Die Trojaner schenken ihrer Rede aber keinerlei Bedeutung und Glauben. Ihre Prophetie erfüllt sich, anders als bei einem traditionellen Modell der Prophetie, obwohl die Trojaner ihr den Glauben verweigert haben. Zu dieser besonderen prophetischen Redeform setzt sich das Sprecher-Ich bei Ronsard ins Verhältnis. Als apostrophierte Geliebte verkörpert Cassandra eine negative Größe:

33 Vgl. Paul Laumonier, Ronsard. Poète Lyrique. Étude historique et littéraire, Genf 1972 (Reprint der

Ausgabe Paris 1932), 42–43. Er legt in biographistischer Reduktion die Begegnung Ronsards mit Cassandre Salviati am Hof in Blois auf den 21. April 1545 fest. 34 Die schöne Dame wird im Canzoniere als una donna più bella assai ch’il sole (119, V. 1), als mia donna (119, V. 16) oder Madonna (119, V. 39), aber nur wenige Male mit dem Eigennamen Laura (vgl. 239, V. 8; 332, V. 50) angesprochen. Mit ihr erscheint eine Figur, deren Herkunft traditionell im Göttlichen liegt oder ihm zugeordnet wird. Neben der Namensform Laura findet sich in den Rerum vulgarium fragmenta in Sonett 5 die über einzelne Silben rekonstruierbare Form Laureta; in Sonett 225, V. 10 zeigt die Vision eines Triumphwagens die sitzende Laurëa unter zwölf Frauen. In den Randnotizen von Petrarcas Vergilkodex erscheinen dagegen der lateinische Name „Laurea“, die Nennung der Begegnung mit ihr in der Kirche Sainte Claire in Avignon am 6. April 1327 und ihr Tod in derselben Stadt zur selben Stunde am 6. April 1348. In den Rerum vulgarium fragmenta nehmen die Sonette 211 mille trecento ventisette, a punto / sul l’ora prima, il dì sesto d’aprile und 336 ’n mille trecento quarantotto, / il dí sesto d’aprile, in l’ora prima die Daten von Begegnung und Tod, nicht aber den Namen Laura auf. Dass die kalendarische Zeitordnung des 6. April 1327 nicht mit dem liturgischen Kirchenjahr übereinstimmt, der Karfreitag der Liebesbegegnung im Jahr 1327 nicht auf den 6. April fiel, ist von der Forschung aufgewiesen worden. Francesco Petrarca, Canzoniere, hg. von Marco Santagata, Mailand 1996, hier jeweils mit der Angabe von Gedichtnummerierung und Verszahl.

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In der Liebe sagt sie dem Liebenden das Scheitern der Liebeswerbung voraus, wenngleich dieser ihr nicht glauben wird. Die negative Prognose in Liebesdingen hätte, würde die Dichterfigur ihr Glauben schenken, sein dichterisches Verstummen zur Folge. Der Sprecher unterstellt sich damit einem katastrophischen Konzept der Endlichkeit und des Scheiterns, erhebt aber gleichwohl seine Stimme zur Liebeswerbung. Mit dem CassandraZyklus werden die Prämissen der petrarkistischen und provenzalischen Liebeskonzepte dramatisch umgeformt: Begehren als Mangel, unerfüllt negative Zeitlichkeit erscheinen nunmehr an der Oberfläche der poetischen Sprache. Auch die traditionellen Liebesmodelle sind nicht auf Erfüllung angelegt, sondern sie perpetuieren das Begehren als unerfüllbares. Mit der Liebesfigur Cassandra gestaltet Ronsard die Formen und Inhalte dichterischer Liebe neu. Er entwirft einen Raum für das dichterische Sprechen, indem das Sprecher-Ich in ein spiegelbildliches Verhältnis zu Apollon-Cassandra tritt. Die Erfüllungsdimension der prophetischen Rede, das heißt die Zeitlichkeit der Liebesrede, tritt verschärft hervor. Cassandra bestimmt als Liebende das Schicksal, das In-der-Zeit-Sein des Sprechers. Als Prophetin, die das Schlechte verkündet, der zudem jeglicher Glauben verweigert wird, begrenzt sie den Liebesdiskurs auf ein hic et nunc. Mit Cassandra akzentuiert Ronsard eine neue Zeitlichkeit der poetischen Liebe. Die Zeitdimension ist auf die Passio und die Erkenntnis über die Passio im Moment des Sprechens beschränkt. Erfüllte Zeit ist insofern abgeschnitten, als Cassandra negative Ereignisse vorhersagt. Der Sprecher konzentriert sich deutlich auf das Jetzt-Moment der Passio, da er nicht bereit ist, dem Zukünftigen Glauben zu schenken. Durch diese besondere Einbettung der Sprache der Prophetie in die Sprache der Liebe verwandelt sich die prophetische Rede in ein gänzlich neues Konstrukt. Die Sprache der Liebe schreibt sich der religiösen oder politischteleologischen Funktion der Erfüllung, die das Modell der prophetischen Rede ist, in der historischen Zeit gerade nicht ein. Sie begrenzt das Prophetische auf ein fiktives Moment.

4. Die Prophetin Cassandra im Porträt Wie inszeniert Ronsard prophetisches Sprechen in der frühen Cassandra-Liebeslyrik? Der ersten Ausgabe seiner Gedichte von 1552 und 1553 hat Ronsard zwei Porträtstiche vorangestellt, die er den späteren Neuauflagen seines Werkes nicht mehr beigegeben hat. 35 35 Das Frontispiz ist von der Forschung gut erschlossen. Vgl. mit jeweils unterschiedlicher Perspek-

tive: Malcolm Quainton, „The liminary Texts of Ronsard’s Amours de Cassandre (1552): Poetics, Erotics, Semiotics“, in French Studies 53/3 (1999), 257–278; Marie-Madeleine Fragonard, „Ronsard en poète. Portrait d’auteur, produit du texte“, in Marie-Dominique Legrand (Hg.), Les Figures du poète Pierre de Ronsard, Paris 2000, 15–41; Wolf-Dietrich Löhr, „Petrarcas neue Kleider. Epos und Eros im Frontispiz zu Pierre de Ronsards Amours von 1552“, in Valeska von Rosen/Klaus Krüger/ Rudolf Preimesberger (Hgg.), Der stumme Diskurs der Bilder. Reflexionsformen des Ästhetischen in der Kunst der Frühen Neuzeit, München/Berlin 2003, 85–118; Bettina Full, „‚Une ébauche lente à venir‘. Bildwerdung des Eros und Formgebung der Lyrik bei Pierre de Ronsard und Charles Baude-

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Porträt, Medaillon-Umschrift und Begleittext vermitteln dem Leser keine Vorstellung einer antiken Prophetin. Das Frontispiz gibt vielmehr eine Struktur und Deutungslinie für die Liebeslyrik vor, die den Liebesblick als besonderes Passio-Moment für die poetische Produktivität herausstellt. Die inszenierten Elemente sprengen die Rollenzuweisung Cassandras als Prophetin auf, sie ordnen die Frauenfigur einer modernen, zeitgenössischen Gesellschaft zu. Geliebte und Liebender sind in den Medaillons im Halbprofil zu sehen (Abb. 2), sie erblicken sich wechselseitig. Die Porträt-Darstellung ist an zeitgenössischen Editionen des Canzoniere Petrarcas ausgerichtet, die auf dem Frontispiz ein charakteristisches Petrarca-Porträt mit dem fiktiven Porträt der Dame kombinieren. 36 Diese Veranschaulichungen konstruieren für die Liebesbegegnung und insbesondere für die fiktive Frauenfigur ein biographisches Element, das die abstrakte Liebesfiktion in eine konkret-historische Geschichte zurückverwandelt. 37 Schon auf Frontispizen der Petrarca-Ausgaben rahmen Medaillons die Liebenden, die Umschrift im Band erläutert die Porträt-Figuren, und die besondere Platzierung der sich wechselseitig erblickenden Liebenden verweist auf die erste plötzliche Begegnung, wie sie auch in der stilnovistischen und petrarkistischen Lyrik ausgebildet ist. 38 Ronsards Büste ist in der prunkvollen Kleidung herrschaftlich und in der Lorbeerbekränzung antikisierend stilisiert. Das Porträt hat sowohl in den Gesichtszügen als auch im Prachtgewand große Ähnlichkeit mit einer von Benvenuto Cellini gestochenden Medaille, die während des Aufenthalts des italienischen Bildhauers am Hof des Königs im Jahr 1537 entstanden ist und den König François Ier darstellt. 39 Cassandra ist nicht als Prophetin dargestellt. In der Tragödientradition über Aischylos hin zu Euripides ist die Priesterin Cassandra durch typische Kleidungsstücke oder Gegenstände charakterisiert. In Aischylos’ Agamemnon hat sie ‚den Stab hier und am Hals die Seherbinde‘, in Euripides’ Troades trägt sie die Schlüssel des Tempels bei sich und schmückende Girlanden um den Hals. 40 Auf dem Porträtstich erinnert Cassandra mit ihrem Gewand, das den nackten Busen hervorhebt, und der aufgeflochtenen Haarpracht an die Malerei der Schule von Fontainebleau. Die freizügige weibliche Nacktheit ist auch insofern verwirrend, als in

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laire“, in Maria Moog-Grünewald (Hg.), Eros. Zur Ästhetisierung eines (neu)platonischen Philosophems in Neuzeit und Moderne, Heidelberg 2006, 133–158. Vgl. Lina Bolzoni, Poesia e ritratto nel Rinascimento, testi a cura di Federica Pich, Bari 2008. Für Petrarca und den Canzoniere hat vor allen Dingen Trapp die konkretisierende, biographische und landschaftliche Veranschaulichung des Dichterlebens und der Geliebten erforscht: Joseph Burney Trapp, „Petrarchan Places. An Essay in the Iconography of Commemoration“, in Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 69 (2006), 1–50. Vgl. die kunsthistorischen Erläuterungen von Wolf-Dietrich Löhr, „Petrarcas neue Kleider“, 98–99. Vgl. die Abb. der Medaille in Robert Jean Knecht, Renaissance Warrior and Patron. The Reign of Francis I, Cambridge, MA 1994, 450. Aischylos, Agamemnon, in ders., Tragödien und Fragmente, hg. und übersetzt von Oskar Wiener, München; Zürich 41988, 83 (V. 1265); Euripides, Troades (The Loeb Classical Library), London/ Cambridge, MA 1947, 376 (V. 266f.).

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Abb. 2: Pierre de Ronsard, Le premier Livre des Amours (1552), in ders., Œuvres complètes IV. Les Amours (1552), hg. v. Paul Laumonier, Paris 1925, 2–3.

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der Liebeslyrik der weibliche Körper traditionell sublimiert ist. In seinem Angriff gegen die Schule der Pléiade, gegen ihren Immoralismus und Paganismus, hat Jean Macer in seiner Philippika Ronsard gegeißelt, ihn einen Pseudo-Pindar genannt, qui fait porter sa garse figurée par les quartiers de France; ‚der seine figürlich dargestellte Buhle in alle Viertel Frankreichs tragen lässt‘. 41 Die Porträt-Frontispize referieren auf die neue Porträtmalerei, die in der individualisierten Darstellung erst mit dem Ende des 15. Jahrhunderts aufkommt und in Frankreich im 16. Jahrhundert mit den Herrscherporträts eine Blüte erfährt. 42 Das Porträt spielt in den Gedichten des Zyklus als Anschauungsform der geliebten Dame eine besondere Rolle. Die Bildform ‚Porträt‘ tritt in den Gedichten mit dem Ideen-Begriff und ebenso mit der Vorstellung von Cassandra als Prophetin in eine Spannung: Wie ist das Porträt, das das Individuelle hervorhebt, mit dem Allgemeinen und Exemplarischen vermittelt, das im Konzept der idea und ebenso im Prophetischen gemeint ist? Während das Medium des Bildes auch für ein höfisches Publikum, von dem sich Ronsard in frühen Vorworten polemisch absetzt, 43 leicht rezipierbar ist, verlangen die Umschriften der Porträts, die die dichterische mania neu deuten, humanistische Literaturkenntnisse. Ebenso wenig wie Cassandra in ihrem erotisierten Äußeren nicht als Prophetinnenfigur erscheint, verweist das Spruchband ihres Medaillons auf prophetische Rede. Antworten die Spruchbänder einander? Auf der Umschrift des Ronsard-Bildnisses ist eine griechische Devise aus dem zweiten Eidyllion Theokrits zu erkennen. Sie betont die Plötzlichkeit der Erscheinung und ihr Wirkungsmoment: ‚Wie ich sah – da wurde ich rasend.‘ Die Formel über die Genese der Liebe als Passio und Liebeskrankheit erinnert auch an die achte Ekloge Vergils: ut vidi, ut perii, ut me malus abstulit error (‚Wie ich dich sah, wie verging ich! Wie schlug mich heilloser Irrwahn!‘). 44 Ronsard nimmt die Formel über das Wahnsinnsmoment in der Liebe in Sonett II – und in vielen folgenden – auf: Quand je la vey, quand mon ame esperdue / en devint folle“ (‚Als ich sie sah, als meine überwältigte Seele / darüber wahnsinnig wurde‘, I, 26). Sonett II greift damit die sprachlichen Elemente des Spruchbandes des Frontispizes auf. Das plötzliche Sehen ist an eine Form des Wahnsinns gebunden, der bei Theokrit nicht enthusiastisches oder prophetisches Reden im Sinne eines Aufstieges, sondern Liebesverblendung und -krankheit bezeichnet. Ronsard unterstreicht mit dem Porträtstich und der Referenz auf den grie41 Jean Macer, Philippique contre les poëtastres et rimailleurs Françoys de nostre temps, Paris 1557,

zit. in Marcel Raymond, L’Influence de Ronsard, 350–351. 42 Vgl. Thomas Gaethgens/Nicole Hochner (Hgg.), L’Image du roi de François I er à Louis XIV, Paris

2006, und Édouard Pommier, Théories du portrait. De la Renaissance aux Lumières, Paris 1998. 43 Vgl. das Vorwort der ersten vier Bücher der Oden von 1552, das die rimeurs (‚Reimschmiede‘) und

die courtizans (‚Höflinge‘) angreift, denen nur ‚ein kleines petrarkistisches Sonett‘ (I, 996) oder ein Liebesgedicht gefällt. 44 Theokrit, „Eidyllion II“, V. 82–86, in ders., Gedichte, Griechisch-Deutsch, hg. und übers. von Bernd Effe, Düsseldorf/Zürich 1999, 24–25; Vergil, „Ekloge VIII“, V. 41, in ders., Landleben. Catalepton. Bucolica. Georgica, Lateinisch-Deutsch, hg. von Johannes und Maria Götte, München/Zürich 51987, 66–67.

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chischen Text Elemente subjektiv-physischen Lebens. Der Dichter erscheint nicht in der Gestalt des Propheten. Der Medaillon-Text zum Cassandra-Porträt besteht in einem Ovid-Zitat aus dem zweiten Buch der Metamorphosen: carpitque, et carpitur una; ‚zernagt und zernagend in einem‘. Die Beschreibung charakterisiert die Allegorie der invidia, die sich selbstverzehrend auslöscht: carpitque et carpitur una / suppliciumque suum est; ‚zernagt und zernagend in einem, ist ihre Marter sich selbst‘. 45 In der Ovid’schen Erzählung hat es Aglauros gewagt, dem Götterboten Hermes für den Zutritt zum Hause ihrer Schwester Herse Gold abzuverlangen. Für ihre Vermessenheit wird sie von Athena bestraft. Die Göttin befiehlt der dämonischen Invidia Aglauros heimzusuchen. Aglauros wird daraufhin von Neid auf ihre Schwester Herse befallen, sie büßt ihre Vernunft ein und verwehrt dem Gott endgültig den Zutritt zum Haus. Auf der Schwelle sitzend, wird sie von Hermes versteinert. Ronsard nimmt die von Ovid geschilderte Aglauros-Episode am Ende des Gedichtbandes in Sonett 187 Meschante Aglaure, ame pleine d’envie (I, 122) auf. Die MedaillonUmschrift konfrontiert die schöne Cassandra-Figur ebenso wie den Dichter, der ihr gegenüber steht, mit dem Laster der Invidia. Anstatt Cassandra in einen übersinnlichen Bereich zu erheben, versetzt sie das Laster der Invidia in irdische Verhältnisse zurück. Im Laufe der Editionsgeschichte des Ronsard’schen Werks sind die beiden Medaillons mit weiteren Texten versehen worden. Der in griechischer Sprache von Antoine de Baïf verfasste Begleittext der Porträts in der Ausgabe von 1553 im Kommentarband von MarcAntoine de Muret spielt in emphatischer Weise auf die Cassandra-Apollon-Liebe an. Er vergleicht sie mit derjenigen des Dichters Ronsard für eine keltische Cassandra, die keine Priesterin des Phoebus Apollon mehr sei. Vielmehr habe sie gleichermaßen die mania Ronsards für die Liebe und für die Dichtkunst entfacht. 46 Bereits mit dem zweiten Sonett des Zyklus Nature ornant Cassandre qui devoit (‚Die Natur hat Cassandra geschmückt, die sollte‘) (I, 25–26) gewinnt der Leser eine Anschauung von den spannungsreichen Kombinationen, die die Cassandra-Figur kennzeichnen. Das Sonett evoziert im Muster des traditionellen Frauenlobs die große Schönheit der Dame. Die Natur hat über lange Zeit eine Vielzahl von ‚neuen Schönheiten‘ aufgespart und verleiht sie nun mit dem Guten, das Amor – wie ein Vogel – im Himmel ausgebrütet hat, der Dame. In unvergleichlicher Wirkung steigt die Dame vom Himmel auf die Erde herab und offenbart sich dem Blick des Liebenden. Das Abstiegsmodell, die Erscheinung himmlischer Schönheit auf irdischem Terrain, ist christlich kodiert und mit dem antiken Cassandra-Stoff wenig vereinbar. Ronsard hat diese Diskrepanz zunächst berücksichtigt, indem er in der ersten Fassung von ‚der Dame‘ spricht, erst später benennt er diese als

45 Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, hg. von Erich Rösch, München 1952, II, 781–782, 83. 46 Vgl. Malcolm Quainton, „The liminary Texts of Ronsard’s Amours de Cassandre“, 267–268, für den

ausführlichen Kommentar der beiden Bildunterschriften.

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‚Cassandra‘. 47 Der Augenblick des Sehens, der erfolgt, als die Dame gerade vom Himmel herabgestiegen ist, erzeugt Entrückung und Verletzung des Sprechers: 10 12 14 10 12 14

Du ciel à peine elle estoit descendue Quand je la vey, quand mon ame esperdue En devint folle, et d’un si poignant trait Amour coula ses beautez en mes veines, Qu’autres plaisir je ne sens que mes peines, Ny autre bien qu’adorer son pourtrait. (I, 25–26) ‚Vom Himmel, kaum dass sie herabgestiegen, Als ich sie erblickte, als meine verzückte Seele darüber Wahnsinnig wurde, und mit einem schneidenden Pfeil Versenkte Amor ihre Schönheiten in meine Venen, So dass ich anders Vergnügen nicht spüre als meine Qualen, Noch anderes Gut, als ihr Porträt zu verehren.‘

Der Anblick Cassandras, die vom Himmel herabsteigt und noch kaum mit dem Irdischen in Berührung gekommen ist, verzückt die Seele und erzeugt eine Art von Wahnsinn. Vers 10 variiert die Medaillon-Umschrift des Frontispiz’, die Theokrit entstammt. Amor selbst verursacht mit seinen Pfeilen (trait) eine einschneidende Verletzung. Die Metaphorik des poignant (stechend, schmerzend, einschneidend) gehört zur Sprache der Prophetie: Das Wort benennt die schneidend-schmerzende Einwirkung der Götter im Zustand der mania und die Verleihung prophetischer Gabe – wie in der Hymne an den Herbst beschrieben. In der Liebeslyrik steht poignant für die Wirkmacht des Liebesaffekts. Der Stachel Amors führt hier wie in vielen Sonetten des Zyklus zu einer Steigerung des phantasmatischen Moments. Das Prophetische ist an dieser Stelle nicht genannt. Amor vermittelt einen gewaltvollen Affekt, der, durch die Schönheit der Dame ausgelöst, sich der Physiologie des Sprechers, seinem Blut (mes veines), mitteilt. Mit den ‚Adern‘, in die die Schönheit einfließt, ist ein Raum innerer unsichtbarer Beschaffenheit veranschaulicht, der durch die medizinische Anatomie im 16. Jahrhundert an anschaulicher Ordnung gewinnt und die spiriti-Vorstellung zurückdrängt. Gegenüber diesem inneren Raum flüssiger Beschaffenheit, in dem alle Konturen sich auflösen, präsentiert sich der Sprecher in einer gestisch-symbolischen Handlung, die in einem Außenraum vorstellbar wird: Er bewundert ein Porträt. Das Porträt ist ein im Außenraum hergestelltes Bild, vor dem sich in einer adorativen Geste, also einer Verehrung, die traditionell den (christlichen) Kultbildern zukommt, der Sprecher anschaulich platziert. Die Verehrungsgeste, die sich auf ein (individuelles) Porträt ausrichtet, ist mit neuplatonisch-christlichen Schönheitsbegriffen nur schwer vereinbar. Das Partikulare und das 47 Erst in der zweiten Fassung des Sonetts hat Ronsard die allgemeine Benenunng la dame (Nature

ornant la dame qui devoyt; ‚Natur hat die Dame geschmückt, die sollte‘) durch die Namensnennung Cassandra ersetzt (Nature ornant Cassandre qui devoit). In der Pléiade-Ausgabe ist die Variante nicht aufgeführt, wohl aber in der Ausgabe Pierre de Ronsard, Œuvres complètes IV. Les Amours (1552), hg. von Paul Laumonier, Paris 1925, 6.

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Allgemeine stoßen hier aufeinander. Eine ähnliche Diskrepanz besteht darin, sich die antike Prophetin in einem Porträt vorzustellen. Bereits im zweiten Sonett des Zyklus wird die geliebte Dame im Eigennamen Cassandra direkt benannt; mit dem vierten Sonett Je ne suis point, ma guerriere Cassandre; ‚Ich bin nicht, meine kriegerische Cassandra‘ (I, S. 26) ordnet Ronsard die Frauenfigur in die Mythenstränge Trojas und der antiken Prophetin ein, so dass der Leser sie im Horizont antiker Bildlichkeit sieht und diese zugleich mit neuen (modernen) Mustern vermitteln muss. Es handelt sich um jenes schwer verständliche Sonett, das Bayle in seinem Dictionnaire tadelt. In dem Sonett sucht das lyrische Ich seine Rolle zu bestimmen, indem es antike Mythen paraphrasierend aufruft und diese zugleich in einer rhetorischen recusatio zurückweist. Das lyrische Ich gehört nicht zu den Myrmidonen und nicht zu den Dolopern, diese ziehen – wie der Leser ergänzen kann – unter Achill und dem König Phönix auf der Seite der Griechen gegen Troja in den Krieg. Das lyrische Ich ist auch nicht – wie es in einer weiteren Paraphrase heißt – jener Bogenschütze, der den Bruder von Cassandra tötet und die Stadt in Brand setzt. Es ist also – so kann der wissende Leser die Homonymien präzisieren – nicht Philoktet, der mit dem Bogen des Herkules, ohne den Troja einer Prophezeiung zufolge nicht eingenommen werden kann, Paris, den Bruder Cassandras, tötet. Ein bewaffnetes Lager zieht ebenso wenig von Aulis zugunsten des lyrischen Ich aus, um Cassandra zur Sklavin zu machen. Der Homer-Leser erinnert sich, dass das Heer der verbündeten Griechen unter der Führung der Brüder Agamemnon und Menelaos von Aulis aufbricht, um Helena zurückzuholen und ihre Entführung zu rächen. Im Zuge dieses Geschehens wird Cassandra nach dem Fall ihrer Heimatstadt Agamemnon als Sklavin übergeben. Der Sprecher verdeutlicht, dass seine Absichten nicht die des Agamemnon sind: Er will Cassandra nicht als Sklavin entweihen und untersteht damit einem differenten Ethos. Ronsard nimmt hier in der Erwähnung des Hafens Aulis, aus dem die Griechen zunächst wegen lauer Winde nicht auslaufen können, und in der Zurückweisung der Sklavenschaft Cassandras Elemente der griechischen Tragiker, insbesondere von Euripides, auf, der sich in der Tragödie Iphigenie mit der verhängnisvollen Lage der Flotte in Aulis beschäftigt. Das lyrische Ich identifiziert sich dagegen explizit mit Koroibos, einem Bewerber um die Gunst der schönen Cassandra, der, um sie gegen die Griechen zu verteidigen, sein Leben lässt. In der Ilias (XIII, 365 f.) findet Koroibos Erwähnung; die nachfolgenden Schriftsteller, unter anderem Vergil in der Aeneis, gestalten die Figur immer wieder neu. In dem Attribut des Wahnsinnigen je suis ce Corébe insensé; ‚ich bin dieser wahnsinnige Koroibos‘ (I, 27) folgt Ronsard Vergil, der ihn ebenfalls als wahnsinnig vor Liebe zu Cassandra darstellt. 48 Auch die (unmögliche) Ich-Identifikation mit einem Wahnsinnigen variiert das zuvor gebrauchte Muster der recusatio, der Aufru48 Vergil, Aeneis, lat.-dt., hg. von Bernhard Kytzler, übersetzt von Maria und Johannes Götte, München

1988, II, V. 341–343: iuvenisque Coroebus / Mygdonides – illis ad Troiam forte diebus / venerat insano Cassandrae incensus amore (‚dazu der junge Coroebus, / Mygdonos Sohn: In jenen Tagen war er gerade nach Troja gekommen, / ohne Sinn und Verstand in Cassandra verliebt‘).

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fung und Zurückweisung von Figuren und Rollen. Das Sprecher-Ich erscheint wiederum in Anlehnung an das Frontispiz und den im zweiten Sonett aufgerufenen Furor als ein von Wahnsinn Besessener. In der Evokation des Troja-Schauplatzes weicht Ronsard nun durch eine entscheidende Variation ab. Das lyrische Ich konstatiert, dass es nicht durch die Hand des Peneleus getötet werde, sondern durch die Pfeile, die ihm ein siegreicher Bogenschütze ins Herz geschossen habe. Mit der letzten recusatio verlässt der Sprecher den trojanischen Schauplatz und verwandelt ihn in eine Metapher für die Gewalt des Liebeskampfes. Ronsard überträgt den epischen und tragischen Stil und das dazugehörige Figurenrepertoire in die Liebeslyrik und erhöht dadurch den Anspruch der Gattung, hohes Pathos zu erzeugen. Die politische Öffentlichkeit des epischen und dramatischen Geschehens wird mit der Innerlichkeit der Liebessprache konfrontiert. Cassandra trägt im Premier livre des Amours unterschiedliche Namen. Sie wird in differenten Formen angesprochen. Ronsard gebraucht die traditionelle Form der Liebesanrede als Dame und Herrin (ma Dame XLV, ma maistresse eslue LXXVII, belle maistresse LXXXIII, Chere maistresse LXXXIV, Maistresse XLVI, Madame XCIII). Teilweise spricht das lyrische Ich die Dame im distanzierten vous, teilweise mit tu an. Cassandra wird zur Göttin überhöht (Quand au matin ma Deesse s’habille XLI, d’une Deesse [. . .] de cette Dame [. . .] que le vulgaire appelle ma maistresse LXIII) und – ähnlich wie bereits bei Homer die schönste der Töchter des Priamos – mit der goldenden Aphrodite verglichen. 49 Cassandra wird in unterschiedlichen mythologischen Namen verbildlicht und erotisch ausgeschmückt: (ma douce Charite CVII, la Nymphe que j’adore XCV, ma Nymphe CXIV, plaisante brunette XIV, ma Sereine XVI). An vielen Stellen wird die Geliebte explizit als Cassandra benannt (Nature ornant Cassandre II, ma guerrière Cassandre IV, le giron de ma belle Cassandre XX, Que je mourray, Cassandre XXXIII, ma guerriere Cassandre LI). In Anlehnung an Petrarca (dolce mia guerrera) 50 heißt sie nuancierend und paradox ma douce guerriere (CXCI), in Abweichung von Petrarca benennt Ronsard die Frauenfigur mit ihrem Eigennamen. Die Anreden an Cassandra vereinheitlichen nicht, sondern in der Fülle der erotischen Benennungen erzeugen sie Vorstellungsbilder von ihr, die sich nicht schon einer einzigen Figur integrieren lassen. Unterschiedliche Weiblichkeitsrollen und differente Einbettungen von den Chariten über die Nymphe bis zur Venusgöttin lassen ein mythologisches Universum raumgreifend aufscheinen und vergegenwärtigen eine Vielzahl von Diskursen. Die Genealogie Cassandras, ihr Prophetentum und das Kriegsgeschehen in Troja, wird – wie schon gezeigt – in Anspielungen und Namensnennungen evoziert. 51 An einigen 49 Vgl. Homer, Ilias, neue Übersetzung, Nachwort und Register von Roland Hampe, Stuttgart 1979,

526 (XXIV, 697b–700): ‚Aber keiner sah sie [Priamos mit dem Leichnam Hektors, K. W.] unter den Männern und schöngegürteten Frauen vor Kassandra, schön wie Aphrodite, die goldene, wie auf die Burg sie stieg und den Vater, den lieben, gewahrte.‘ 50 Petrarca, Canzoniere, XXI, V. 1. 51 Einen Überblick über Ronsards Quellen für die Gestaltung der Cassandra-Figur gibt Olivier Pot, „La Théorie du ‚Furor divinus‘ dans les ‚Amours‘ de 1552–53“, in Cahiers Textuels 17 (1998), 25–53. Vgl. auch Juliette Davreux, La Légende de la prophétesse Cassandre d’après les textes et les monu-

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Stellen erinnern knappe Verweise an die besonderen Gaben Cassandras. 52 Auch ihre Schändung durch Ajax nimmt Ronsard auf. 53 Dadurch gewinnen der Horizont und der Raum der antiken Figur an Präsenz. Die spezifische Zeitlichkeit ihrer prophetischen Rede wird in einigen grundlegenden Szenen und Bildern mit Bezug auf einschlägige Quellen dargestellt. So heißt es in einem ‚Lied‘ (I, 149): 1 3 5

D’un gosier masche-laurier j’oy crier Dans Lycofron ma Cassandre, Qui prophetize aux Troyens Les moyens Qui les reduiront en cendre.

‚Aus der Lorbeer kauenden Kehle höre ich in Lykofron meine Cassandra schreien, die den Troern die Mittel prophezeit die sie in Staub und Asche verwandeln werden.‘

Ronsard nennt den griechischen Autor Lykophron, 54 er evoziert Cassandra und vergegenwärtigt auf drastische Weise den Untergang einer Kultur, die, in Anspielung auf christliche vanitas, zu Asche wird. Der Versbau imitiert in der Abfolge von sieben- und dreisilbigen Versen eine unregelmäßig fließende, abgehackte Rede, wie man sich die der keuchenden, unverständliche Worte ausstoßenden Sibylle des Orakels vorstellt. Die prophetisierende Frauenfigur, die bei Lykophron Alexandra heißt, ist als „Sibylle“ (vgl. V. 9) im besonderen Ritual des Lorbeerkauens vorgestellt. Hierin ist Vers 6 der Alexandria von Lykophron, die Charakterisierung der trojanischen Prophetin als daphnephágon 55 (‚Lorbeer Verschlingende‘), aufgenommen. Ihre lebendige, exaltierte (crier) Stimme tritt dem Sprecher entgegen. Sie charakterisiert Lykophrons Alexandra, weswegen Priamos sie in einem steinernen Turm auf einem Hügel Trojas eingeschlossen hat. Bei Ronsard hört der Sprecher in dem fremden Text die eigene Cassandra (ma Cassandre) schreien; sie prophezeit – wie es in erstaunlicher Hervorhebung heißt – nicht den Untergang Trojas, sondern die ‚Mittel‘, also die Kriegslisten des Odysseus, die zur Auslöschung Trojas füh-

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ments, Paris 1942; Karl Ledergerber, Kassandra. Das Bild der Prophetin in der antiken und insbesondere in der älteren abendländischen Dichtung, Fribourg 1950. Vgl. zum Beispiel Sonett CCVII (I, 133): Sœur de Pâris, la fille au Roy d’Asie, / A qui Phebus en doute fit avoir / peu cautement l’aiguillon du sçavoir, / dont sans profit ton ame fut saisie; ‚Schwester des Paris, Tochter des Königs von Asien, / der der zögernde Phöbus wenig vorsichtig / den Stachel des Wissens verlieh / das ihre Seele ohne Nutzen ergriff‘. Vgl. zur Freveltat des Ajax an Cassandra das Sonett Apres ton cours je ne haste mes pas; ‚Deinem Lauf eile ich nicht nach‘ (I, 77) mit dem Vers 9: Il te voulut le meschant violer; ‚Er wollte Dir, der Grässliche, Gewalt antun‘. Mit Lykophron rezipieren die Pléiade-Lyriker einen bislang unbekannten Autor in der Gestaltung der Prophetinnen-Figur Cassandra. Ronsard besaß eine Lykophron-Ausgabe, die 1546 in Basel erschienen war. Jean Dorat hat im Collège de Coqueret den schwer verständlichen Text zum Gegenstand der Auslegung gemacht. Vgl. die Titelseite Lycophron, Alexandra sive Cassandra, Bâle, J. Oporin, 1546, die in François Rouget, Ronsard et le livre. Etude de critique génétique et d’histoire littéraire, Genf 2010, 255, mit der Signatur Ronsards abgebildet ist. Zu Ronsards Rezeption Lykophrons vgl. Olivier Pot, „La Théorie du furor divinus“, 26; vgl. ferner die Erläuterungen von André Hurst, Sur Lycophron, Genf 2012. Lykophrons Alexandra, griechisch – deutsch, hg. von Carl von Holzinger, Leipzig 1895, V. 6.

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ren werden. Durch die „contamination“ der Texte, wie Terence Cave formuliert, und die Eintragung der frühneuzeitlichen Cassandre in den antiken Horizont gewinnt die Liebesdichtung Ronsards eine politische Dimension: Sie verkündet nicht die Größe des französischen Imperiums, sondern sie sagt der französischen Nation Listen voraus, die zum Untergang führen. Die letzte Strophe des Gedichtes überträgt wiederum die Feuer- und Kampfesmetaphorik auf die Liebessituation des lyrischen Ich (Et pour t’amour j’ay receu / Plus de feu, / Que ne fit Troye incredule; ‚Und für deine Liebe habe ich mehr Feuer / empfangen, / als es das ungläubige Troja erhielt‘ (I, 150)). Damit verbindet Ronsard hyperbolisch den mythologischen Kampfplatz Troja mit dem Schauplatz der Liebesleidenschaft und begründet damit eine Bildlichkeit, die Eingang in die Tragödie Andromaque von Jean Racine finden wird.

5. Die Sprache der Liebe: Prophetie und Transgression Im Folgenden sei an drei Sonetten der Amours de Cassandre die Inanspruchnahme des Prophetischen aufgezeigt. In Sonett XXVII Bien mille fois et mille j’ay tenté (‚Wohl tausend Mal und tausendfach habe ich versucht‘) evoziert Ronsard die exaltierte Körperlichkeit und die keuchende Sprachlosigkeit der prophetischen Sibylle. Er macht hier Anleihen bei Vergil und dessen Beschreibung der cumäischen Sibylle, die von Æneas vor dem Eintritt in die Unterwelt als Orakel befragt wird. 56 Bei Ronsard gewinnt das Erscheinungsbild der prophetischen Sibylle subversives Potenzial: Erstens ist festzustellen, dass die prophetische Körperlichkeit als Metapher gebraucht wird. Sie verbildlicht eine Ähnlichkeit mit dem lyrischen Ich im Zustand des poetischen Schaffens. Zweitens durchkreuzt Ronsard die Erwartungshaltung, da die körperliche Exaltiertheit entgegen ihrer Konvention einen Zustand veranschaulicht, der sich aus sprachlicher und musischer Praxis, also aus einer künstlerischen Technik, und nicht aus göttlicher Inspiration ergibt. Die Metapher der Erscheinung des körperlichen Furors tritt zur Rhetorik ins Verhältnis. Die rhetorische Fähigkeit, die künstlerische Praxis des Singens gerät an eine Grenze des Darstellens und Benennens: Im Moment des Scheiterns und an der Grenze hin zum Unbenennbaren tritt prophetische Körperlichkeit im metaphorischen Prozess an die Stelle des Nicht-Sagbaren. Drittens verbildlicht die Metapher der prophetischen weiblichen Körperlichkeit einen Zustand männlicher Exaltiertheit, die Grenzen zwischen inspirierender und inspirierter Instanz schwinden. Bien mille fois et mille j’ay tenté 2 De fredonner sur les nerfs de ma Lyre, Et mille fois en cent papiers escrire 4 Le nom qu’Amour dans le cœur m’a planté.

56 Vgl. Vergil, Aeneis, VI, V. 42–51.

‚Wohl tausend Mal und tausendfach habe ich versucht / auf den Saiten meiner Leier zu summen / und tausend Mal auf hundert Blättern zu schreiben / den Namen, den Amor mir ins Herz gepflanzt hat.

Sprache der Liebe – Sprache der Prophetie Mais tout soudain je suis espouvanté: 6 Car son beau nom qui l’esprit me martyre Hors de moymesme estonné me retire, 8 De cent fureurs brusquement tourmenté.

271 Aber ganz plötzlich bin ich furchterschrocken, / denn ihr schöner Name, der den Geist mir foltert / er zieht mich erstaunt aus mir selbst, durch hunderterlei Furor plötzlich gequält.

Je suis semblable à la Prestresse folle, 10 Qui bégue perd la voix et la parolle, Dessous le Dieu qui luy brouille le sain.

Ich bin der wahnsinnigen Priesterin ähnlich, / die stottert, Stimme und Wort verliert / unter dem Gott, der ihr die Brust verwirrt.

12 Ainsi troublé de l’amour qui me touche, Fol et béant je n’ouvre que la bouche, 14 Et sans parler ma voix se perd en vain. (XXVII, 38)

Auf diese Weise aufgewühlt von der Liebe, die mich berührt, / Wahnsinnig und klaffend, öffne ich nur den Mund, / und, ohne zu sprechen, verliert sich meine Stimme im Leeren.‘

Das lyrische Ich stellt sich im Akt künstlerischen Schaffens dar. Singen und Schreiben, Leier und Papier illustrieren den Entstehungsprozess von Vers und Gesang. Die dreimalig wiederholte Zahl der ‚tausend‘ Versuche und die ‚hundert‘ Blätter verdeutlichen die vergeblichen Versuche, die das lyrische Ich unternommen hat, um ein inneres Zeichen, das in der Tradition der Liebeslyrik als Figur, Bildnis, Zeichen und Wunde im Herzen des Liebenden eingeprägt ist, in der Materialität der Schrift und im Gesang zu veräußerlichen. 57 Amor hat ein Schriftzeichen, einen Namen ins Herz eingepflanzt, dieser soll in einem Prozess der Abbildung auf das Papier geschrieben werden. Im zweiten Sonett der Sammlung handelt es sich – wie bereits gezeigt – um einen ähnlichen Prozess: die Veranschaulichung des Liebesaffekts (der im Blut zirkuliert) im Porträt. Welches der ‚schöne Name‘ ist, bleibt in diesem Sonett ungenannt. Innere phantasmatische Zeichen sollen, so wünscht es der Sprecher sehnlichst, in ein äußeres Medium übertragen werden. Offensichtlich scheitern die Darstellungsversuche. Vergeblich bemüht er sich, auf einer Vielzahl von Blättern, die willkürlich und kontingent – weder orakelhaft noch sibyllinisch – ausgestreut sind, 58 etwas Unfassbares zu verschriftlichen. Im Prozess der Versprachlichung und der Verschriftlichung erzeugt sich plötzlicher Schrecken. Keine äußere Inspirationsinstanz ist für diesen verantwortlich, sondern die handwerkliche Kunstanstrengung. Exaltation steht nicht am Anfang, sondern ist Effekt der Kunstanstrengung. Der ‚schöne Name‘, der wie ein Folterinstrument im Geist (esprit) wirkt, führt zu einem Selbstverlust des Ich. Der Name wird absolutes Zeichen für das Ich. In dem Maße, wie er in Geist und Gedanken hervortritt, entseelt er das eigene Ich. Der verschwiegene, schöne Name, das Wort, wird zu einem Spiegel der Entfremdung. Schrecken (espouvanté), Staunen (estonné) und Qual (tourmenté) treten plötzlich, überraschend und brüsk (tout soudain, 57 Vgl. Franco Mancini, La Figura nel cuore fra cortesia e mistica. Dai Siciliani allo Stilnuovo, Napoli

1988; Christopher Lucken, „L’Imagination de la Dame. Fantasmes amoureux et poésie courtoise“, in La visione e lo sguardo nel Medio Evo. View and Vision in the Middle Ages, Bd. II, Florenz/Turnhout 1998, 201–223. 58 Vgl. zum Topos der verstreuten Blätter, die die Sibylle austeilt, die Ausführungen von Perrine Galand-Hallyn, „Les ‚Fureurs plus basses‘ de la Pléiade“, 182–185. Das Bildsujet der auf Wolken lesenden Sibylle hat Luca Cambasio gestaltet.

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estonné, brusquement) auf. Leiden und Plötzlichkeit veranschaulichen eine Ich-Ekstase, die mit dem Hervortreten des Wortes einhergeht. Nunmehr erst, nach lang andauernder künstlerischer exercitio, erzeugt sich hundertfacher Furor. Auch in diesem Sonett ist wie in der Umschrift des Medaillons und in den folgenden Sonetten die Situation des wahnsinnigen oder außer sich seienden Sprechers neu gestaltet. In den Terzetten vergleicht der Sprecher die kreative Situation und die Ich-Entreißung mit einem prophetischen Vorstellungsbild. In einem Wechsel des Geschlechts, der in radikaler Transgression der Geschlechtlichkeit nochmals den Ich-Verlust verdeutlicht, ähnelt der Sprecher einer ekstatischen Priesterin, die von Apollon besessen wird. Mit diesem erotisch-körperlich vorgestellten Akt des Besessenseins (Dessous le Dieu), der – ähnlich der Sibyllenfigur in der Aeneis – zu Stimm- und Sprachverlust führt, stellt sich das lyrische Ich in seiner Liebe als der Stimme beraubt und sprachlos vor. Die Stimme erzeugt keine harmonische, sondern eine im Rhythmus unterbrochene Rede (bégue), die schließlich gänzlich verstummt. Der Sprecher verfügt über keinerlei Zeichen, die im Außenraum seine mania benennen können. Ronsard eignet sich den Akt der prophetischen Inbesitznahme in der mythologischen Bildlichkeit an: Die prophetische Besessenheit geht der lyrisch-materiellen Arbeit nicht voraus, sondern sie ist ein Bild für das Außer-Sich-Sein, das sich in Folge sprachlicher Verfertigung der Rede einstellt. Die Versprachlichung des Namens ist Entäußerung im Spiegel des schönen Namens, in dem sich das Ich verliert. Ebenso wie das Ich sich im ‚schönen Namen‘ (Cassandra?) spiegelnd enteignet, ereignet sich eine mimetische Aneignung der körperlich-weiblichen Ekstase durch das Sprecher-Ich. Es kann den schönen Namen in seinen besonderen Affektkomponenten zunächst nicht zur Darstellung bringen. Stellt sich der Name dar, erfolgt eine Entäußerung und geschlechtliche Umwendung. Wenn der ‚schöne Name‘ präsent ist, vollzieht sich eine Entäußerung auf der körperlichen Ebene: in der Übertragung des Prophetinnenbildes auf den Sprecher und in der geschlechtlichen Neufiguration. Die Terzette besiegeln auf einer körperlich-materiellen Ebene den abstrakteren Namens- und Verschriftlichungsprozess der Quartette. Die Terzette geben den Gehalt des Namens an, der in den Quartetten verborgen bleibt. Die Terzette spiegeln im körperlichen Bild das Unsagbare der Quartette. Mit dem zweiten Terzett besiegelt das Ich – in einer Petrarca-Referenz 59 – seine Sprachlosigkeit angesichts jener verdrehenden Übertragung, die Amor in ihm erzeugt. Die Erfüllung des Geschicks in der Zeit definiert die Prophetie. Diese ist auf die Zukunft oder eine kategorial neue Zeit ausgerichtete Rede. Von solcher Zeitlichkeitsstruktur weicht Ronsard ab. Er nimmt die negative Zeitlichkeit der Prophetien Cassandras, die sich auf gesellschaftliches Handeln beziehen, auf und projiziert sie auf die Liebesrede. Cassandra sagt das Schicksal Trojas und in der Liebeslyrik Ronsards den Untergang des lyrischen Ich voraus. Die prophetische Stimme Cassandras richtet sich warnend an 59 Vgl. zum Verstummen des lyrischen Ich: Canzoniere, XX, V. 9–14: Più volte giá per dir le labbra

apersi, / Poi rimase la voce in mezzo’l pecto: / Ma qual sòn poria mai salir tant’alto? // Più volte incominciai di scriver versi: / Ma la penna et la mano et l’intellecto / rimaser vinti nel primier assalto.

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das lyrische Ich. Sie weissagt in Sonett XIX das Schicksal des Dichters, auf die erschreckenden Weissagungen antwortet das Sonett XXXIII. Beide Gedichte sollen abschließend analysiert werden. In Sonett XIX ist es Cassandra, die spricht: Avant le temps tes temples fleuriront, 2 De peu de jours ta fin sera bornée, Avant le soir se clorra ta journée, 4 Trahis d’espoir tes pensers periront:

‚Vor der Zeit werden deine Schläfen blühen, / auf wenige Tage wird dein Ende begrenzt sein, / vor dem Abend wird dein Tag abgeschlossen sein, / von Hoffnung verraten werden deine Gedanken untergehen:

Sans me flechir tes escrits fletriront, 6 En ton desastre ira ma destinée, Pour abuser les poetes je suis née, 8 De tes soupirs nos neveux se riront.

Ohne mich zu beugen, werden deine Schriften welken, / in deiner Katastrophe wird sich mein Schicksal erfüllen, / um die Dichter zu täuschen, bin ich geboren, / über deine Seufzer werden unsere Neffen lachen.

Tu seras fait du vulgaire la fable, 10 Tu bastiras sus l’incertain du sable, Et vainement tu peindras dans les Cieux:

Du wirst den Menschen als Narr gelten, / Du wirst auf das Unsichere des Sandes bauen, / und vergeblich in den Himmeln malen:

12 Ainsi disoit la Nymphe qui m’affolle, Lors que le Ciel tesmoin de sa parolle, 14 D’un dextre éclair fut presage à mes yeux.

So sprach die Nymphe, die mich verrückt macht, / als vom Himmel als Zeugnis ihres Wortes, / ein rechter Blitz meinen Augen Vorhersage ward.‘

Cassandra spricht als Prophetin, ist hier aber als Nymphe (V. 12) erotisierend verbildlicht. 60 Sie weissagt das Geschick des lyrischen Ich und des Dichters im Allgemeinen. Cassandra ist eine Figur des Scheins, geboren, um die Dichter zu täuschen. Das Pathos der Gewissheit futurischer Formen, die Gebotscharakter 61 haben, verkündet dem Sprecher ein kurzes Leben: Vor der Zeit soll sein Leben den Höhepunkt erreichen, der Spielraum seines Lebens soll auf wenige Tage begrenzt sein. Gegen die Ordnung der Stunden des Tages soll seine Zeit vor dem Abend enden. Die kurze Lebenszeit ist ein Bild für das geistige Leben. Kurzer Lebenszeit entspricht die Reduktion des Denkens auf bloße Punktualität. Denn die Gedanken des Sprechers werden untergehen, weil ihnen keine Erfüllung beschieden ist. Sie entfalten keine allegorische oder figurale Bedeutung, sondern beschränken sich auf den Moment der Äußerung. In diesem Kreisschluss des frühzeitigen Endes vernichtet – so prophezeit es Cassandra – die ausbleibende Erfüllung das geistige Leben.

59 Ich übersetze Vers 1 nach der Anspielung auf Petrarca, Sonett CCX, V. 14: del fiorir queste inanzi

tempo tempie; ‚des Erblühens dieser Schläfen vor der Zeit‘, im Altfranzösischen meint das Erblühen das Ergrauen von Haar und Bart. Vgl. den Kommentar Francesco Petrarca, Canzoniere. Rerum vulgarium fragmenta, hg. von Rosanna Bettarini, Turin 2005, 2 Bde., Bd. II, 985. 60 Erotisch dargestellte Nymphen spielen in der Kunst von Fontainebleau eine wichtige Rolle. Vgl. „La Nymphe de Fontainebleau“, in L’École de Fontainebleau, 423. 61 Der Dekalog ist im Französischen in Futur-Formen verfasst, die einen moralischen Imperativ begründen: Tu ne tueras pas ist ins Deutsche als ‚Du sollst nicht töten‘ zu übersetzen. Die grammatikalischen Futurformen im Gedicht spielen mit dieser als Gesetzmäßigkeit zu verstehenden Erfüllung der Zeit.

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Das zweite Quartett liefert den Grund für die negative Weissagung. Diese begründet keine Zukunftsprognose, sondern vielmehr einen besonderen Zeit-Zustand. Wie das lyrische Ich selbst werden seine ‚Schriften‘ vor der Zeit fruchtlos verwelken: Ihr Untergang ist besiegelt, sie bleiben ohne Wirkung auf Cassandra, die sich durch die Liebesrede nicht erweichen lassen wird. In ihrer Rede spielt Cassandra hierin auf die mythische ApollonCassandra-Erzählung an. Sie hatte sich dem Gott verweigert, obgleich er ihr die Gabe der Prophetie verliehen hatte. Im Ronsard-Gedicht straft sich der Sprecher durch die vergebliche Liebeswerbung. Cassandras Bestimmung erfüllt sich als Katastrophe im Schicksal des Dichters. Die unglückliche Prognose, der nicht geglaubt wird, die aber dennoch eintritt, besiegelt das Dichterleben und sein Sprechen. In ihrer Zeitlichkeit beschränkt sich die Liebeslyrik auf eine katastrophische Endlichkeit. Die Erfüllung besteht im Vollzug eines Untergangs: Früher Tod des Sprechers und die Wirkungslosigkeit seines Sprechens besiegeln negatives Sein der Liebesrede in der Zeit. Sie ist Sprache ohne wirksame Liebeserfüllung. Cassandra definiert als Frauenfigur und in ihren Weissagungen einen neuen Status der Poetik Ronsards. Sie beschränkt die Lyrik auf einen Moment der Jetzt-Zeit, Erfüllung der Liebe ist von einer teleologischen Zeit gänzlich abgekoppelt. Die Vorstellung, dass der Dichter öffentlichem Spott preisgegeben ist, entstammt dem Proömialsonett des Canzoniere Petrarcas. Vergeblichkeitsfiguren bestimmen das Tun des Dichters und beschränken es auf den bloßen Moment: Auf Sand zu bauen, ist ein unsicherer Begründungsakt; im Himmel Wolkenmalerei zu betreiben, ein flüchtiges Unterfangen, das am Gegenpol prophetischer Rede und der communicatio des Menschen mit dem Göttlichen steht. In ironischer Weise besiegelt der Himmel, nachdem die prophetische Rede ihre eigene mise-enabyme im Poetischen verdeutlicht hat, mit seinem Blitzzeichen die besondere Zeitlichkeit der Lyrik. Ändert die Replik des Dichters in Sonett XXXIII etwas an dieser poetologischen Neubestimmung? Je ne serois d’un abusé la fable, 2 Fable future au peuple survivant, Si ma raison alloit bien ensuivant 4 L’arrest fatal de ta voix veritable,

Ich würde nicht der Erzählung Narr sein, / zukünftige Mär, das Volk überlebend, / wenn mein Verstand dem fatalen Geheiß / deiner wahren Stimme gut folgte, /

Chaste prophete, et vrayment pitoyable, 6 Pour m’advertir tu me predis souvent, Que je mourray, Cassandre, en te servant: 8 Mais le malheur ne te rend point croyable.

Keusche Prophetin, und wahrhaft erbarmenswert, / um mich zu warnen, kündest du mir oft, / dass ich sterben werde, Cassandra, wenn ich dir diene: / aber das Unglück schenkt dir keinen Glauben.

Le fier destin qui trompe mon trespas, 10 Et qui me force à ne te croire pas, Pour me piper tes oracles n’accorde.

Das kühne Schicksal, das meinen Tod täuscht, / und das mich zwingt, dir nicht zu glauben, / um mich zu täuschen, erfüllt es deine Orakel nicht.

12 Puis je voy bien, veu l’estat où je suis, Que tu dis vray: toutesfois je ne puis 14 D’autour du col me detacher la corde.

Und dann sehe ich wohl, gemessen an dem Zustand, in dem ich bin, / Dass du wahr sprichst: Dennoch kann ich / von meinem Hals die Schlinge nicht lösen.

Sprache der Liebe – Sprache der Prophetie

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Den kühnen dialektischen Bewegungen des Sonetts kann der Leser nicht ganz leicht folgen. In hypothetischen Konstrukten erläutert das lyrische Ich, dass es die Struktur der Prophezeiung Cassandras, der ‚keuschen Prophetin‘ (V. 5) durchschaut hat, aber sie gleichwohl nicht abzuwenden trachtet. Die Schmähung und öffentliche Diskreditierung des Dichters, der zum Narr und zur Spottfigur (fable) wird, könnten vermieden werden. Allerdings erfüllt sich die konditionale Bedingung der Aussage nicht, denn die Prämisse für die Behauptung will und kann der Sprecher nicht einhalten. Er müsste der ratio gehorchen und damit der wahren Stimme der Prophetin in ihrem Verdikt Glauben schenken. Nur in diesem Fall würde das Dichter-Ich nicht zum Gespött zukünftiger Geschlechter. Aber es müsste dann mit dem Dichten aufhören. Gerade die immer wieder vorgebrachte katastrophische Prophezeiung, die Liebe werde nicht erhört, der Liebende in der Befolgung des Rituals des Liebesdienstes, nicht aber in der Erfüllung seiner Liebe sterben, macht Cassandra unglaubhaft. Die Größe und Vehemenz des vorhergesagten Unglücks verhindern, dass man ihm Glauben schenkt. 62 In einer paradoxen Redefigur wiederholt der Sprecher die antike Figuration: Die größte Tragik, das Desaster des vorgestellten Scheiterns, macht Cassandras Verkündung unglaubwürdig; der menschliche Geist kann nicht in das verkündigte Schicksal einwilligen, obgleich die Ratio (V. 3) es zu erkennen vermag. Das Paradox des logischen Aufbaus liegt nunmehr darin, dass die Einsicht in die wahrheitshaltige Aussage der Prophezeiung, die eine schreckliche Erfüllung voraussieht, sich gerade darin vollzieht, sie zurückzuweisen. Im Nicht-Glauben-Schenken erfüllt sich der Mythos der Cassandra-Erzählung. Gerade weil das Telos der Aussage als schrecklich vor Augen schwebt, besteht der Nachvollzug der mythischen Erzählung darin, die Erfüllung zurückzuweisen. Die Kühnheit des Sprechers besteht nun darin, trotz besseren Wissens der negativen Prophetie Widerstand zu leisten. Die Selbstillusion täuscht über den eigenen Tod hinweg. Das lyrische Ich glaubt für einen Moment, dass es selbst – ähnlich den Troern – einer Täuschung unterliegt, die orakelhafte Rede in ihrem negativen Gehalt keine Erfüllung findet, und täuscht sich – wie die Troer – in seiner Annahme. Wie in der Lykophron-Referenz in der Chanson hebt der lyrische Sprecher seine Situation und seine Selbsttäuschung auf die Ebene der vanitas der Geschichte. Wie Joachim Du Bellay in den Antiquitez de Rome führt Ronsard in den Amours de Cassandre durch den Bezug auf die trojanische Prophetin eine Reflexion über Geschichte und translatio. In diesem paradoxen Zustand, in dem das eigene Verhängnis bestätigt und die Wahrheit des Schlechten offensichtlich vor Augen liegt, vermag es der Sprecher gleichwohl nicht, sein eigenes Schicksal der Todesbedrohung und der zukünftigen Schmähung aufzukündigen. Gegen die Prophetie der keuschen Dame stellt der Sprecher die Liebesrede. Gegen die Prophezeiung und gegen die Anzeichen ihrer Erfüllung setzt er einen irrationalen Entschluss, der darin besteht, zu dichten. In einem kruden metaphorischen Bild, der Schlinge

62 Vgl. Vergil, Aeneis, II, 246–248: ‚Jetzt noch öffnet Kassandra den Mund, zu künden das Schicksal; /

Aber die Teukrer glaubten ihr nie, so wollte der Gott es.‘

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Karin Westerwelle

um den Hals, 63 verdeutlicht der Sprecher die eigene Todesgefährdung, die er nicht abzuwenden bereit ist. Auch im Antwortsonett gehört die Dichtung damit einem Raum an, der sich in der Punktualität des Sprechens gegen das Prophetische wendet. Die Lyrik behauptet sich zugleich gegen eine Dynamik der historischen Zeit, die der Dichtung wenig oder nicht viel abgewinnen kann und im Dichter eine Spottfigur im öffentlichen Raum sieht. Ronsards außergewöhnliche Gestaltung prophetischer Rede in den Amours de Cassandre steht im Gegensatz zur zeitgenössischen Praxis in politischen und religiösen Diskursen. Cassandra als Prophetin konfrontiert mit einem negativen Kommunikationsmodell von Rede – Cassandra spricht eine Sprache, die nicht gehört wird – und einem negativen Muster der Erfüllung: Die Bewahrheitung der Rede liegt im Eintreten der Katastrophe oder des Negativen (Betrug, List, Untergang, Tod). Lyrisches Sprechen setzt sich von einer teleologisch-prophetischen Zeit ab, welche in der Erfüllung in der Welt oder im Jenseits das Ziel der Rede sieht. Auch gegenüber der Tradition der prophetischen Rede in der Dichtung ergibt sich eine Differenz. Die Dichterfigur wird mit keiner erhöhenden oder weihenden Autorität – so wie es in der Rhetorik der Herbsthymne geschieht – ausgestattet. Die dichterische Sprache der Liebe konfrontiert den Leser mit punktueller Zeitlichkeit.

63 Vgl. für das Bild der um den Hals gelegten Schlinge, die den Liebenden zu ersticken droht: Melin de

Sainct-Gelays, Œuvres complètes, hg. von Prosper Blanchemain, Paris 1873, 3 Bde., Bd. I, 300–301: 1547, Du triste cœur voudrois la flamme esteindre, / De l’estomach les flesches arracher, / Et de mon col le lien destacher, / Qui tant m’ont peu brusler, poindre et estraindre (V. 1–4).

Bernd Roling

Der Schamane und das Orakel von Delphi Prophetie und Prophetiemodelle im frühneuzeitlichen Skandinavien

1. Einleitung: Das Phänomen der paganen Prophetie als Herausforderung Zu den vielen rätselhaften Passagen im Werk des schwedischen Sehers Emanuel Swedenborg gehört ein Hinweis in seiner Schrift zur ‚Wahren christlichen Religion‘, der Vera religio christiana, die auf die Frage nach den Anfängen des wahren Christentums eine Antwort geben möchte. 1 Offenbarung war, wie der selbstproklamierte Prophet aus Stockholm in seiner großen Dogmatik erklärt, ein dynamischer Prozess, der seinen Ort in der ganzen Geschichte hatte; Schritt für Schritt konnte sich die geistige Welt von ihren äußeren Hüllen, von Metaphern und Allegorien befreien, um sich am Ende in ihrer Reinheit und inneren Sinnhaftigkeit mitzuteilen. 2 In der Person Swedenborgs hatte diese fortschreitende Freilegung des geistigen Wortes dabei ihre fast messianische Vergegenwärtigung 1 Mein Dank bei der Ausarbeitung dieser Untersuchung gilt der Alten Abteilung der Staats- und Uni-

versitätsbibliothek Göttingen und Dorothee Huff. 2 Wie alle Eigenschaften der Welt der Körper auf geistige Wirklichkeiten hinweisen und alle Ebenen in

einem Korrespondenzverhältnis zueinander stehen, zeigt Emanuel Swedenborg schon in einem Frühwerk, nämlich „A Hieroglyphic Key to Spiritual and Natural Arcana“ (zuerst als Manuskript Clavis hieroglyphica aracanorum naturalium et spiritualium per viam repraesentationum et correspondentiarum, 1741), in ders., Psychological Transactions and other posthumous Tracts 1734–1744, edited and translated by Alfred Acton, Bryn Athyn 1984, 157–216, hier §§ 26–29 (168–171). Zu diesem Werk und der schrittweisen Ausbildung der Korrespondenzlehre im Werk Swedenborgs Inge Jonsson, Swedenborgs Korrespondendslära, Stockholm/Göteborg/Uppsala 1969, 136–172; Jyrki Siukonen, Emanuel Swedenborg. Clavis Hieroglyphica. Hieroglyfinen avain ja muita filosofisia tekstejä, Helsinki 2000, 140–178; Wouter Jacobus Hanegraaff, Swedenborg – Oetinger – Kant. Three Perspectives on the Secrets of Heaven, West Chester 2007, 3–11; und jetzt Friedemann Stengel, Aufklärung bis zum Himmel. Emanuel Swedenborg im Kontext der Theologie und Philosophie des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2011, 199–207.

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Bernd Roling

gesehen und war zur Vollendung gelangt. 3 Eine erste Manifestation dieses Wortes, wie Swedenborg in der ‚Wahren christlichen Religion‘ deutlich macht, hatte gleichwohl das Innere Asien gesehen, eine Region, die von Swedenborg etwas vage als Magna Tartaria, Große Tartarei, umschrieben wird. Hier war die geistige Welt dem Menschen, wie Swedenborg betont, noch unverhüllt gegenübergetreten und unbelastet von den späteren Einkleidungen und Verhüllungen des Textes, ganz wie der innere Schriftsinn selbst. Hier hatte sich die Welt der Engel, der gewaltige himmlische Makrokosmos, noch in seiner ursprünglichen anthropomorphen Gestalt zum Ausdruck bringen können, bevor er sich unter den Schichten des Bildmaterials verbergen musste, um dann in der Abfolge der Zeiten erneut freigelegt zu werden. 4 Es wird sich nicht mehr beantworten lassen, welcher Teil des Uralgebietes oder Nordasiens Swedenborg als Heimat einer naturreligiösen Uroffenbarung und einer unmittelbaren Anwesenheit des Geisterreiches vorschwebte, ob es tatsächlich Tatarstan oder womöglich Tibet oder einfach ganz Sibirien war. 5 1730 war in Stockholm der große Asienbericht des schwedisch-deutschen Offiziers Philipp Tabbert von Strahlenberg erschienen, der seine Deportation nach dem Ende des nordischen Krieges dazu genutzt hatte, bei den Völkern jenseits des Urals jahrelange ethnographische Studien in Angriff zu nehmen. 6 Vor allem das religiöse Brauchtum der Ostjaken (Chanten), Tungusen, Samojeden und vieler anderer Völkerschaften hatte das Interesse Strahlenbergs geweckt, 7 die Rituale ihrer Scha3 Seine exegetischen Prinzipien, die das sich offenbarende verbum in ihrem Zentrum haben, erklärt

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Swedenborg z. B. in Emanuel Swedenborg, Himmel und Hölle nach Gehörtem und Gesehenem, übersetzt von Friedemann Horn, Zürich 1977 (zuerst erschienen als De coelo et et eius mirabilibus, et de inferno ex auditis et visis, London 1758), §§ 303–310 (197–204), und Emanuel Swedenborg, „The White Horse in Revelation 19“, translated by John Whitehead (zuerst erschienen als De Equo albo, London 1758), in Emanuel Swedenborg, Miscellaneous Theological Works, West Chester 1996, 387–423, §§ 1–5 (391–398). Eine Synopse seiner Theologie des Wortes gibt Swedenborg 1768 in seinem kurzen an Friedrich Christoph Oetinger gerichteten Traktat „De sensu naturali et spirituali verbi“, lateinisch und englisch, in ders., Small theological Works and Letters, London 1975, 290–295. Emanuel Swedenborg, The True Christian Religion, London 1936 (zuerst erschienen als Vera religio christiana, continens universam theologiam novae ecclesiae, Amsterdam 1769–74), § 266 (328), § 279 (335 f.). Zur Selbstoffenbarung des homo angelicus bei Swedenborg Bernd Roling, „Erlösung im angelischen Makrokosmos. Emanuel Swedenborg, die Kabbalah Denudata und die schwedische Orientalistik“, in Morgen-Glantz 16 (2006), 385–457, hier 434–457, und ebenso Friedemann Stengel, Aufklärung, 312–316. Zur Identifikation der Magna Tartaria, das für Swedenborg vielleicht mit Tibet identisch war, Anders Hallengreen, „The Secret of Great Tartary“, in Arcana 1 (1994), 35–54, und Inge Jonsson, Swedenborgs Korrespondendslära, 249–253. Als allgemeine Würdigung Strahlenbergs Marija Grigor’evna Nol’vanskaja, Filipp Iogann Stralenberg. Ego raboty po issledovaniü Sibiri, Moskau 1966, 25–91; zu Strahlenberg als Materiallieferant der frühen Finno-Ugristik Lars Gunnar Larsson, „>izi# F. J. fon Stralenberga i znahenie ego trudov dlä finno-ugorskix wtudij“, in A. A. Trofumov/B. A. Prochorowa (Hgg.): Vzaimodejstvie uralo-altajskx äzykov. Äzyk i kultura, Tscheboksary 2003, 15–18. Philipp Johann Tabbert von Strahlenberg, Das Nord- und Ostliche Theil von Europa und Asia, Stockholm 1730, Nachdruck Szeged 1975, dort z.B. zu den Riten der Jakuten 375–378.

Der Schamane und das Orakel von Delphi

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manen und ihre Götter waren von ihm, wie von anderen Reisenden vor Strahlenberg, 8 ausführlich und vorbehaltlos dokumentiert worden und waren auf erhebliches Interesse gestoßen. 9 Dass viele dieser Riten, die Entrückung der Schamanen, der Gebrauch der Trommeln und die visionäre Befragung der Geisterwelt, die autochthonen Völkerschaften Sibiriens wiederum mit den Lappen seiner Heimat Schweden und ihrem Ritualwesen verbanden, war Strahlenberg dabei nicht entgangen. 10 Mit Strahlenberg war auch Daniel Gottlieb Messerschmidt durch die Weiten Sibiriens bis in die Mongolei gereist, der nicht nur die Rituale der Schamanen, mit denen er sich konfrontiert sah, in seinen Aufzeichnungen notierte und sich um die Erschließung der indigenen Sprachen bemühte, 11 sondern sich auch nach eingehendem Vergleich der Überlieferungen die Frage gestellt hatte, ob nicht Teile der versprengten Stämme Israels vielleicht den Weg nach Tibet, in die Mongolei oder die ‚Große Tartarei‘ gefunden hatten. 12 Swedenborg wiederum hatte Strahlen-

8 Berichte über die Religionen der sibirischen Völker und ihr Brauchtum gelangen in dieser Zeit auch

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durch andere Expeditionsberichte nach Europa, genannt sei unter vielen anderen Nicolaas Witsen, Noord en Oost Tartarye, ofte bondig ontwerp van eenige dier landen en volken, welke voormaels bekent zijn geweest (2 Bde.), Amsterdam 1705, Bd. 2, dort, wenn auch wenig objektiv, z.B. zu den religiösen Bräuchen der Tungusen 645f., zu den Ostjaken 637f., und zu den Samojeden 882–894, 949; Evert Ysbrandt Ides, Drey-jährige Reise nach China, von Moscau ab zu Lande durch GroßUstiga, Siriana, Peremia, Sibirien, Daour, und die große Tartarey, Frankfurt a.M. 1707, dort zu den Ostjaken c. 5, 40–43, oder später Johann Peter Falck, Beiträge zur topographischen Kenntniß des Russischen Reiches (3 Bde.), St. Petersburg 1785–86, Bd. 3, dort zu den Wotjaken, 460f., zu den Ostjaken 460 f., oder Iwan Lepechin, Tagebuch der Reise durch verschiedene Provinzen des russischen Reiches (3 Bde.), Altenburg 1774–83, Bd. 1, zu den Mordwinen und Tschuwaschen, 1768, 99–104, zu den Bräuchen der Kalmyken, 1769, 281–285. Johann Eberhard Fischer, Sibirische Geschichte: Von der Entdekkung Sibiriens bis auf die Eroberung dieses Landes durch die russischen Waffen (2 Bde.), St. Petersburg 1768, Bd. 1, Einleitung, § 31, 55–61, kann den Schamanismus bereits als entscheidendes Fundament der indigenen Religionen des nördlichen Asiens proklamieren. Eine Einführung in die ethnographische Erschließung Sibiriens zum Ende des 17. und dem Beginn des 18. Jahrhunderts gibt z.B. James Forsyth, A History of the Peoples of Siberia. Russia’s North Asian Colony 1581–1990, Cambridge 1992, 28–83, ein schönes Beispiel der Diskussion schamanischer Praktiken zu Beginn des 18. Jahrhunderts liefert Lucas Marco Gisi, Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert, Berlin/New York 2007, 246–268. Philipp von Strahlenberg, Das Nord- und Ostliche Theil von Europa und Asia, dort zu den samischen Trommeln und ihren Entsprechungen in Sibirien z.B. Einleitung 104f., außerdem 321f., 336–339, 375, 439. Daniel Gottlieb Messerschmidt, Forschungsreise durch Sibirien 1720–1727, hg. von Eduard Winter/Nikolaj Figurovskij (5 Bde.), Berlin 1962–77, dort z.B. 14.–15. März 1721, Bd. 1, 58–60, 19. März 1721, 65–68. Eine Lebensbeschreibung Messerschmidts liefert Marija Grigor’evna Nol’vanskaja, Daniil Gotlib Messerwmidt i ego raboty po issledovaniü Sibiri, Leningrad 1970, dort zur großen Sibirienexpedition 13–148. Die Tagebuchaufzeichnungen zu den Wotjaken finden sich eigens zusammengestellt bei Vladimir Vladimirowich Napol’skich, Udmurtskie materialy D. G. Messerwmidta. Dnevnikovye zapisi, dekabr 1726, Ižwesk 2001. Daniel Gottlieb Messerschmidt, Forschungsreise, 11. März 1725, Bd. 4, 24f., 26. Juni 1725, Bd. 4, 135.

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bergs Werk wie viele Intellektuelle der Universität Uppsala gekannt, auch Verwandte des Gelehrten hatten zu den unter Karl dem XII. deportierten Soldaten gehört. Lappland hatte den Seher wie seinen Zeitgenossen und nur scheinbaren Antipoden Carl von Linné sein Leben lang begeistert, ja Swedenborg sogar zu lateinischen Gedichten auf diese Landstriche und ihre Bewohner veranlasst. 13 Hatte eine erste Offenbarung und die Keimzelle der ‚Wahren Religion‘ also bei den Naturvölkern Zentralasiens und ihren europäischen Ausläufern ihre Heimat gefunden? Swedenborg wäre zumindest in Nordeuropa der erste Gottesgelehrte gewesen, der den archaischen Religionen und ihren Ekstasetechniken ein Eigenrecht eingeräumt, ja sie auf diese Weise zu einem Präludium der Selbstwerdung des Gotteswortes erhoben hätte, denn in Wahrheit hatte die akademische Theologie seiner Heimat über 250 Jahre lang einen anderen Weg beschritten. Eine natürliche Prophetie außerhalb des Christentums, die mehr sein wollte als nur eine poetische Inspiration, eine Entrückung in eine höhere Wirklichkeit, eine Ekstase und eine Offenbarung aus einer Welt des Geistes hatte die christliche Religion nicht vorgesehen. Prophetie hatte der Vorbereitung und Bestätigung des Christentums zu dienen. Eine nichtchristliche Prophetie wäre für viele Theologen ein Widerspruch in sich gewesen. Auch Visionen, Jenseitsreisen und weniger weitreichende Entgrenzungen in die Region der geistigen Welt hatten innerhalb der Wegmarken des Christentums stattzufinden. Erkenntnistheoretisch waren die Prophetie und all ihre subalternen Formen, die Vision und der gottgesandte Traum schon im Mittelalter und vor allem von Albertus Magnus in seiner Kommentierung der Parva naturalia des Aristoteles verbindlich definiert worden. 14 Albert selbst wiederum, auf den sich auch Thomas stützen konnte, hatte auf die Definitionen des Maimonides und zum Ende Jehuda Halevis zurückgreifen können. Dem Propheten und Seher gewährte Gott, wie man einhellig glaubte, aus dem Reich des Ewigen eine Infusion eines geistigen Fluidums, des spiritus, und mit ihm Begriffe und Bilder, die von seinem Vorstellungsvermögen aufgenommen wurden. Je nachdem, ob dem Empfänger eine reine Offenbarung oder nur ein prophetischer Traum zuteil geworden war, ließ sich das Verhältnis von Begriff und Bild unterschiedlich gewichten. Engel, der tätige Intellekt oder andere stellare Intelligenzen konnten als Mittler dieser Kommunikation zwischen der Ewigkeit und dem menschlichen Verstand hinzutreten. Die späteren Scholastiker und ihre katholischen ebenso wie protestantischen Erben hatten die-

13 Emanuel Swedenborg, Ludus Heliconius and other Latin poems, hg. von Hans Helander, Uppsala

1995, Nr. 17, lateinisch und englisch, 108–111, und schon in den Jugendgedichten des Jahres 1714 Emanuel Swedenborg, Camena borea, hg. von Hans Helander, Uppsala 1988, Fabula 12, lateinisch und englisch, 104–118. Zu Swedenborgs Interesse an Lappland auch David Dunér, Världsmaskinen. Emanuel Swedenborgs naturfilosofi, Stockholm 2004, 170–176. 14 Albertus Magnus, Parva naturalia, in ders., Opera omnia (38 Bde.), hg. von Auguste Borgnet, Paris 1890–99, Bd. 9/10, Paris 1890, De somno et vigilia, Liber III, c. 3–9, 180b–190b, dazu auch Moses Maimonides, Führer der Unschlüssigen, übersetzt von Adolf Weiß, mit einer Einleitung von Johann Maier, Hamburg 1995, Liber II, c. 36–38, 238–257.

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sen elementaren Festschreibungen in der Folgezeit in der universitären Schulphilosophie kaum mehr etwas hinzuzufügen. 15 Zwei Dinge werden hier im Folgenden geleistet: Im ersten Teil wird deutlich werden, wie in der Frühen Neuzeit mit dem Phänomen der außerchristlichen Prophetie umgegangen wurde. Gezeigt wird dabei, daß sich die einmal getroffenen Grundsatzentscheidungen trotz aller altphilologischen Euphorie bis weit in die Moderne verfolgen lassen. Der zweite Teil wird wie eine Fallstudie, die sich dem prophetischen Ernstfall widmet, nachvollziehen, wie diese Grundsatzentscheidungen auch in der Auseinandersetzung mit den Schamanen des finno-ugrischen Kulturkreises in Schweden zur Anwendung gelangen konnten, und zeigen, dass ihr Deutungsraster sich auf diese Weise mit dem lebendigen Objekt vor Augen selbst am Leben erhalten konnte.

2. Die Festschreibung der dämonischen Prophetie Von Anfang an hatte das Ausschließlichkeitsprivileg des Christentums, das Gott und seinen Engeln nach dem Erscheinen des Erlösers nur in der Mitte des Christentums erlaubte, die ewigen Archive zu öffnen, die Theoretiker des Übernatürlichen vor die Frage gestellt, wie Entgrenzungserfahrungen außerhalb des Christentums zu beurteilen waren. Solange die christliche Religion sich noch nicht etabliert hatte, war es ein leichtes gewesen, Sibyllen und heidnischen Sehern vom Schlage eines Vergil die Aufgabe der externen Verifikation des Glaubens einzuräumen. Wen anders als die Jungfrau Maria sollte die Sibylle gesehen haben, als ihr eine Jungfrau im Strahlenkranz erschienen war? 16 Doch was sollte nach dem Erscheinen des Christentums geschehen? Welche Rolle konnten prophetische

15 Eine noch immer gültige Aufarbeitung der Modelle prophetischer Erkenntnis bei Thomas und Mai-

monides liefert die Arbeit von Jose Maria Casciaro, El dialogo teologico de Santo Tomas con Musulmanes y Judios. El tema de la profecia y la revelacion, Madrid 1969, oder z.B. Colette Sirat, Les théories des visions surnaturelles dans la pensée juive du Moyen-Âge, Leiden 1969, 136–146. Zur besonderen Rolle des Judah Halevi in der Ausprägung der Prophetietheorie z.B. Harry Austryn Wolfson, „Hallevi and Maimonides on Prophecy“, in ders., Studies in the History of Philosophy and Religion, hg. von Isadore Twersky and George H. Williams (2 Bde.), Cambridge Mass. 1973, Bd. 2, 60–119, oder Howard Kreisel, Prophecy. The History of an Idea in Medieval Jewish Philosophy, Dordrecht 2001, 94–147. 16 Die Debatte um die Reichweite der sibyllinischen Orakel fällt nicht mehr in den Rahmen dieser Untersuchung. Eine zusammenfassende Wertung liefern noch im 17. Jahrhundert z.B. Isaak Voss, De Sibyllinis aliisque quae Christi natalem praecessere oraculis, Oxford 1679, c. 4–6, 19–36, Jan van der Marck, De sibyllinis carminibus disputationes academicae XII, Franeker 1682, passim und im skandinavischen Raum z.B. Magnus Rydelius/Samuel Peter Planander (resp.), Tentamen academicum de oraculis sibyllinis, Lund 1735, §§ 3–12, 6–20. Eine Übersicht über die Diskussion der sibyllinischen Orakel gibt die hervorragende Arbeit von Ralph Häfner, Götter im Exil. Frühneuzeitliches Dichtungsverständnis im Spannungsfeld christlicher Apologetik und philologischer Kritik (ca. 1590–1736), Tübingen 2003, 254–304.

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Eingebungen, Entrückungen und ekstatische Weissagungen spielen, wenn sie sich der christlichen Hermeneutik entzogen und kein Werkzeug zur Verfügung stellten, um die Realien des Glaubens abzusichern? Seit den Kirchenvätern hatte man sich für eine einfache Strategie entschieden. Das heidnische Pantheon entsprach dem Reich der gefallenen Engel. Aphrodite, Jupiter oder Saturn waren Dämonen, die den Menschen der alten Welt bösartig über ihre wahre Natur hinweggetäuscht hatten. Auf der untergeordneten Ebene bestanden auch die Naturgeister der agrarischen Domänen aus wenig mehr als Teufeln, die es nach dem Höllensturz in die Welt der Elemente verschlagen hatte. Ihre diesseitige Präsenz ermöglichte auch dem religiösen Apparat des Altertums eine gewisse Wirksamkeit. War den Hirten Arkadiens ein Rudel Faune erschienen, so hatten sie sich in Wahrheit, wie Augustin in seinem Gottesstaat vermerkt, Dämonen gegenübergesehen, die sich grotesker Luftleiber bedient hatten, um den Menschen kujonieren zu können. 17 Jede Dryade, jede Nymphe, aber auch der so oft beschworene magische Glanz der Aphrodite und ihrer Gefährtinnen, der die einfache Bevölkerung ebenso wie die Poeten in ihren Bann schlug, zählte zu den Manifestationen satanischer Energie, zu einer Attacke des Teufels, deren Ziel es war, wie Martin von Braga im vierten Jahrhundert in seinem Traktat zum Glauben des alten Spaniens moniert, die einfache Seele durch Trugbilder auf die Seite des Bösen zu ziehen. 18 Das gesamte antike Orakelwesen musste daher auf diabolischen Einflüsterungen beruhen. Die Priesterkasten von Epidaurus oder Delphi bedienten sich der Hilfe der Dämonen; ihre Gabe, mit gewaltiger Geschwindigkeit von Ort zu Ort zu wechseln und Hypothesen über das Handeln der Menschen aufzustellen, verlieh ihnen, wie Augustin selbst in seiner Schrift über die Dämonen nahegelegt hatte, jenen Wissensvorsprung, den sie in ihren Prophezeiungen in den Tempeln der Griechen und Römer an ihre Verehrer weitergeben konnten. 19 Auch die Heil- und Warnträume, die sie den Getreuen im Schutz der marmornen Mauern zukommen ließen, beruhten auf einem einfachen Prinzip; sie bedienten sich diabolischer Trugbilder, die in das Vorstellungsvermögen des Träumers oder Ekstatikers implantiert wurden. Strukturell hatte sich die falsche Prophetie damit kaum von den Offenbarungen eines biblischen Propheten unterschieden, auch wenn Gott an diesem 17 Aurelius Augustinus, De civitate Dei libri XXII, hg. von Bernhard Dombart/Alphons Kalb (2 Bde.)

(CCSL 47/48), Turnhout 1955, Bd. 2, Liber XV, c. 23, 488f. Ähnlich programmatisch für die Folgezeit gestaltete sich die Begegnung mit einem Satyr, die Antonius in der Wüste widerfahren war, dazu Hieronymus, Trois vies de moines (Paul, Malchus, Hilarion) (Sources chrétiennes 508), hg. von Edgardo M. Morales/Pierre Leclerc, Paris 2007, Vita Pauli, 7–8, §§ 4–6, lateinisch und französisch 158–163. 18 Martin von Braga, De correctione rusticorum, in ders., Opera omnia, hg. von Claude W. Barlow, New Haven 1950, §§ 7–8, 186–189. 19 Aurelius Augustinus, De divinatione daemonum, hg. von Joseph Zycha (CSEL 41), Wien 1900, §§ 7–10, 603–609. Eine Einordnung dieses extrem wirkmächtigen Textes liefern Hermanus Jacob Geerlings, De antieke damonologie en Augustinus’ geschrift ‚De divinatione daemonum‘, Amsterdam 1953, passim, und rezenter Anne-Isabelle Bouton-Toubolic, „Le De divinatione daemonum de saint Augustin: le pouvoir des démons en question“, in Françoise Lavocat (Hg.), Fictions du diable: démonologie et littérature de saint Augustin à Léo Taxil, Genf 2007, 15–34.

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Vorgang nicht beteiligt war und ein Dämon ebensowenig wie ein Engel in die Zukunft blicken konnte. Der Mehrwert und Wahrheitsgehalt eines vergleichbaren Traums, auch die Ekstase einer Pythia und die zutreffenden Informationen, die sie ihrer Entrückung abgerungen hatte, waren auf die Fähigkeit eines körperlosen Dämons zurückzuführen, sich einen größeren Überblick über die Details der Frage zu verschaffen, die man an ihn herangetragen hatte, und zugleich die Gabe des Teufels, diesen Mehrwert in nachvollziehbare Phantasmen umzusetzen. 20 Mit wem hatte es Aeneas also zu tun gehabt, als ihm seine vermeintliche Mutter Aphrodite erschienen war, um ihm eine glanzvolle und in der Tat, wie die nachfolgende Geschichte zeigte, nicht ganz abwegige Zukunft in Aussicht zu stellen? 21 Die großen Dämonologen der Frühen Neuzeit, unter ihnen Francesco de Torreblanca oder Martin del Rio, 22 konnten auf diese Frage die gleiche Antwort geben wie der wortreichste unter ihren mittelalterlichen Vorgängern, Wilhelm von Auvergne. 23 Ein Dämon war dem apostrophierten Göttersohn erschienen und hatte ihm einen Ausblick in die Historie verschafft. Zugleich konnte Aeneas als Prototyp eines Menschen gelten, der in einem Inkubus ins Leben getreten war und seine Existenz einer diabolischen Spermainfusion verdankte, 24 ein Schicksal, das er mit anderen Göttersöhnen, ob nun Merlin oder Herakles, teilen musste. 25 Auch in großen Vergilkommentaren der Frühen Neuzeit, genannt sei Juan de la Cerda, oder in Glossierungen der Tragödien Senecas, wie sie Martin del Rio selbst verantwortet hatte, fehlt es nur selten an grundsätzlichen Urteilen, die das Gelesene in

20 Eine Zusammenfassung der mittelalterlichen Sicht der dämonischen oracula, die sich ganz an Augus-

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tinus lehnt, gibt z.B. der Dominikaner Bartholomäus Sibilla, Speculum peregrinarum quaestionum, Venedig 1537, Decas III, c. 8, q. 1, 536–539. Aurelius Augustinus, De civitate Dei libri XXII, Bd. 1, Liber III, c. 5, 68: Sed utrum potuerit Venus ex concubitu Anchisae Aenean parere vel Mars ex concubitu filiae Numitoris Romulum gignere, in medio relinquamus. Nam paene talis quaestio etiam de scripturis nostris oboritur, qua quaeritur, utrum praevaricatores angeli cum filiabus hominum concubuerint, unde natis gigantibus, hoc est nimium grandibus ac fortibus viris, tunc terra completa est. Eine ausführliche Abrechung mit dem ganzen antiken Pantheon und Naturgöttern aller Art findet sich bei Martin del Rio, Disquisitionum magicarum libri sex quibus continetur acurata curiosarum artium, et variarum superstitionum confutatio, Lyon 1612, Liber II, q. 27, sectio II, 129b–140a, oder knapper bei Francesco Torreblanca, Daemonologia sive de magia naturali, daemoniaca, licita et illicita libri IV, Mainz 1623, Liber II, c. 29, 283a–285b. Wilhelm von Auvergne, De universo, in ders., Opera omnia (2 Bde.), Paris 1674, Nachdruck Frankfurt a.M. 1963, Bd. 1, Secunda pars, Pars III, c. 26, 1073a–1074b. Johannes Nider, Liber insignis de maleficis et eorum deceptionibus, in Jacob Sprenger/Heinrich Institoris, Malleus maleficarum: de lamiis et strigibus, et sagis, aliisque magnis et daemoniacis eorumque arte et poena (2 Bde.), Frankfurt a.M. 1598, Bd. 2, c. 9, 765f. Einen allgemeinen Überblick über die Diskussion der Herkunft des Aeneas oder Merlins im Mittelalter gibt Maaike van der Lugt, Le ver, le démon et la vierge. Les théories médiévales de la génération extraordinaire, Paris 2004, 201–208, außerdem jetzt Bernd Roling, „Vergegenwärtigungen und Transformationen eines Mythos. Die Historisierung Merlins und Taliesius’ zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit“, in Frühmittelalterliche Studien 46 (2012), 437–483, hier 446–453.

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Bezug zur Dämonologie setzen. 26 Symbolische Kollateralschäden, die das Gründungskapital des römischen Herrschaftsanspruchs und seiner Filiationen in Mitleidenschaft hätten ziehen können, übersah man dabei von Seiten der Dämonologen geflissentlich. Wenn Circe die Gefährten des Odysseus in Schweine verwandeln konnte, hatte Homer, wie sein Kommentator Johannes Spondanus im 16. Jahrhundert festhält, nicht nur ein besonders glückliches Zeugnis seiner dichterischen Fähigkeiten abgelegt, er hatte vor allem ein aussagekräftiges Beispiel für die Wirksamkeit diabolischer Trugbilder geliefert, die schon die Anfänge der Klassischen Antike hatten begleiten können. In der Phantasie der Seeleute, so der Baseler Gelehrte, hatte der Dämon, der im Auftrag der griechischen Schwarzpriesterin tätig geworden war, die Vorstellung implantiert, eine Tiergestalt angenommen zu haben; auch ihre Betrachter waren durch die gleiche pervertierte Imagination in diesem Glauben gehalten worden. Nur durch teuflische Einflussnahme auf beiden Seiten war der magische Akt möglich geworden. 27 In der Frühen Neuzeit bestand auf diese Weise an den Universitäten ein vergleichsweise einhelliger Konsens darüber, wie die antiken Prophetien, das Sehertum und die Weissagungen der Orakel zu beurteilen waren. Sobald sie über das natürliche Maß hinausgriffen, waren Entrückungserfahrungen ein Privileg des Christentums, wie Johann Frommann in seinem Standardwerk De fascinatione festhält. Über den spiritus, das bildertragende Fluidum, versorgte Gott seinen Propheten mit species, die ihm, getragen vom göttlichen Allwissen, den Zugriff auf vergangene und zukünftige Ereignisse ermöglichte. 28 Fand sich der Prophet nicht auf dem Boden der Offenbarung wieder, hatte ein Dämon eingegriffen und nur die Illusion vermittelt. Er hatte den Sinnesapparat seines Opfers blockiert und das Vorstellungsvermögen mit Bildern versorgt, die ihm ebenso die Out-ofbody-Erfahrung alludierten, wie sie ihm die vermeintlich prophetischen Gehalte nahelegten. Nur Gott hatte in Wahrheit die Möglichkeit, die Seele aus der Umklammerung ihres Leibes zu lösen. 29

26 Unter vielen Beispielen Johannes Ludovicus de la Cerda, P. Virgilii Maronis Bucolica et Georgica,

argumentis, explicationibus et notis illustrata, Frankfurt a.M. 1608, Bucolicorum Ecloga VIII, 166a, zu den Möglichkeiten diabolischer Verkörperung, oder Martin Antonius del Rio, Syntagmata tragica seu novus commentarius in decem tragoedias, quae vulgo Senecae ascribuntur (2 Bde.), Paris 1670, ebenfalls zu teuflischen Verkörperungen Bd. 2, Commentarius in Medeam, V. 355, 43, Bd. 2, Commentarius in Herculem Oetaeum, V. 246, 311. 27 Johannes Spondanus, Homeri quae extant opera omnia, Illias, Odyssea, Batrachomyomachia, Hymni, Poematia aliquot, cum perpetuis, item iustisque commentariis, Basel 1606, Odyssea, Liber X, 137–139. 28 Johannes Christian Frommann, Tractatus de fascinatione novus et singularis, Nürnberg 1674, Liber VII, Pars IV, Sectio I, c. 3, § 4, 562. 29 Ebd. Liber VII, Pars IV, Sectio I, c. 3, §§ 5–6, 562–565.

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3. Der Streit um die paganen Orakel in der Frühen Neuzeit Ein Blick in die Fachliteratur zu den antiken Orakeln kann bestätigen, wie nachhaltig diese Festschreibungen auch im 17. Jahrhundert noch wirken konnten. In seiner ausgreifenden Abhandlung De eo quod est divinum aut supernaturale in morbis corporis, ‚Vom Göttlichen und Übernatürlichen in den Gebrechen des Leibes‘, stellt sich der Göttinger Arzt Hieronymus Jordan der Aufgabe, auch die Phänomene zu definieren, die sich dem paganen Sehertum zuordnen lassen. Was hatte es mit der Ekstase der Pythia, dem Orakel von Dodona oder den ersten Weissagungen, die den Druiden auf der Isle of Man zuteil wurden, auf sich? Jordan weiß durchaus, dass die Alte Welt in der Spätantike selbst naturalisierende Modelle vorgeschlagen hatte, um das Mysterium der Prophezeiungen in den Orakeltempeln zu lösen. Zeigen sich vielleicht Ausdünstungen der Erde, eine natürliche Exhalation, die vor allem auf Menschen mit einem Überfluss an schwarzer Galle ihren Einfluss ausüben konnte, für die Offenbarungen in Delphi oder die Ekstase eines Orpheus oder Teiresias verantwortlich? Plutarch und Cicero hatten diese langlebige These aufgestellt. 30 Dass vergleichbare organische Hilfsmittel der Entrückung der paganen Propheten förderlich sein konnten, wie einst Pietro Pomponazzi ohne großes Echo behauptet hatte, 31 bezweifelt Jordan für sich genommen nicht. 32 Fest stand jedoch zugleich, dass nur ein Dämon diese Ingredientien nutzen konnte, um mit ihrer Hilfe seine Phantasmen zu implantieren. Selbst wenn also besondere geologische oder meteorologische Umstände die Generierung von Ekstasen an antiken Kultorten forcieren und auch den bildtragenden spiritus, das Medium der Prophetie, beschleunigten, konnten diese natürlichen Vorbedingungen die Macht des Engels nur verstärken. 33 Kaum ein Traktat zum antiken Orakelwesen, der Divination und der Totenbeschwörung, mochte er auch sonst mit antiquarischen Fakten aller Art gesättigt sein, kam bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts ohne Einlassungen zur Dämonologie aus, ja die Bezugnahme auf den diabolischen Ursprung der Orakel hatte in dieser Epoche einen nahezu topischen Charakter angenommen. Überlegungen, die in einem Bekenntnis zum unterweltlichen Dämon als tragender Gewalt der falschen Offenbarung münden, lassen sich beim Niederländer Gerard Johannes Voss in seiner monumentalen Schrift De theologia gentili finden und beim großen Rostocker Antiquar Heinrich Kipping in seinen Antiquitates graecae et

30 Plutarch, „De cessatione oraculorum“, in ders., Moralia (15 Bde.), hg. von Frank Cole Babbitt, Cam-

bridge, MA 1949–76, Bd. 5, §§ 48–51, griechisch und englisch, 490–501, und Marcus Tullius Cicero, De divinatione, hg. von Remo Gionini, Leipzig 1975, Liber I, §§ 37–38, Liber II, § 117. 31 Pietro Pomponazzi, De naturalium effectuum causis, sive de incantationibus, Basel 1556, c. 9, 151–154, und öfter. Referiert wird diese Hypothese zur Erklärung der Orakel z.B. bei Johannes Antonius Venerius, De oraculis et divinationibus antiquorum tractatus, Venedig 1624, c. 11, 48–51. 32 Hieronymus Jordan, De eo quod Divinum aut Supernaturale est in morbis humani corporis, eiusque curatione Liber, Frankfurt a.M. 1651, c. 51, 178b–179b. 33 Ebd. c. 51, 180a–181a.

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romanae. 34 Auch in den anderen Aufarbeitungen der antiken Religion in der Mitte des 17. Jahrhunderts fehlt es nicht an eindeutigen Wertungen. Als der französische Hofjurist Antonius Sylvius einen mehr als fünfhundertseitigen Kommentar zu den Zwölftafelgesetzen veröffentlicht, konstatiert er pflichtbewusst, die gesamte römische Eingeweideschau sei nur eine weitere Variante der satanischen Blutgier gewesen. 35 Julius Caesar Boulenger bereichert die Erschließung der römischen Altertümer im Jahre 1621 um eine wahre Enzyklopädie der antiken Divination, die Auguren, Omina, Prodigien und Himmelszeichen aller Art systematisch aufarbeitet. 36 Auch für Boulenger besteht kein Zweifel, dass die Vögel, die am Himmel von den Auguren als vermeintliche Boten des göttlichen Willens gedeutet wurden, nichts weiter waren als willige Werkzeuge des Teufels, mit deren Unterstützung der Mensch zur Idolatrie verführt werden sollte. 37 Wiederholt werden diese Thesen in den Mühlen des akademischen Disputationswesens seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in den Arbeiten, die das Orakel- und Divinationswesen ins Auge fassen; genannt seien unter vielen die Abhandlungen von Olof Celsius und Julius Micrander aus Uppsala, 38 Christian Bunsöw von der Viadrina in Frankfurt, 39 Johann Kaalund aus Kopenhagen oder Christian Funcke aus Görlitz, die wenig mehr leisten als die Gedankengänge ihrer Vorgänger weiter auszuformulieren. 40 Der Helmstedter Daniel Clasen veröffentlicht im Jahre 1673 ein großes Sammelwerk zum antiken Prophetenwesen, das alle bedeutenden Orakelstätten und Seher systematisch zusammenfassen möchte. Clasen sichtet mögliche andere Erklärungen der nichtchristlichen Prophetie, bevor er sich rückhaltlos zur Dämonologie und ihrer epochenübergreifenden Dynamik in der Geschichte bekennt. Auch Clasen kennt zwei Optionen: zunächst die von Plutarch favorisierten Ausdünstungen des Erdinneren, die gerade Höhlen als Horte 34 Gerard Johannes Vossius, De theologia gentili et physiologia christiana, sive de origine ac progressu

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idolatriae ad veterum gesta et rerum naturam reductae, Frankfurt a.M. 1668, Liber I, c. 6, 40–48; Heinrich Kipping, Antiquitatum romanarum libri IV, continentur res sacrae, civiles, militares, domesticae, prolatis ad fidem abunde faciendam testimoniis Historicorum, Fastorum, Poetarum, Iureconsultorum, Inscriptionum, Numismatum, Iconum, Sculptarum, Franeker 1684, Liber I, c. 1, 59–64. Antonius Sylvius, Commentarius ad leges tam regias quam XII tabularum mores et canones Romani juris antiqui, Paris 1603, 227f. Julius Caesar Boulenger, „De sortibus“, in Thesaurus Antiquitatum Romanarum, hg. von Johann Georg Graevius (12 Bde.), Utrecht 1694–99, Bd. 5, Sp. 361–404, „De auguriis et auspiciis“, in ebd. Sp. 405–440, „De ominibus“, in ebd. Sp. 441–456, „De prodigiis“, in ebd. Sp. 457–514, „De terrae motu et fulminibus“ in ebd. Sp. 515–540. Julius Caesar Boulenger, De sortibus, c. 6, Sp. 384f., De auguriis et auspiciis, c. 1, Sp. 405–407. Ähnlich z. B. auch Pierre Mussard, Historia deorum fatidicorum, vatum, Sybillarum, Phoebadum, praeposita est dissertatio de divinatione et oraculis, Genf 1675, Dissertatio, 14–16. Olof Celsius/Eric Kjellman (resp.), Dissertatio de veterum gentilium prodigiis, Uppsala 1704, § 2, 3 f.; Julius Micrander/Georg J. Kihlberg (resp.), Dissertatio academica de auguriis ex occasione verborum Livii I, c. 7, Uppsala 1684, § 5, 12–15. Christian Bünsow, De oraculis, Frankfurt an der Oder 1668, c. 1, fol. Crf. Johannes W. Kaalund/Gotthard Fursmann (resp.), Dissertatio de divinandi arte apud Romanos, Kopenhagen 1733, § 1, 4f.; Christian Funcke, De auguriis veterum dissertatio, Görlitz 1671, fol. A3v f.

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der paganen Gesichte besonders attraktiv erscheinen ließen und das spirituelle Fluidum in einen temperierten Körper treiben und ihn in eine Verzückung versetzen konnten. Eine Veränderung der Erdkruste musste dann notgedrungen auch ein Ausbleiben der Orakel zur Folge haben. Es war allerdings kaum denkbar, wie Clasen einwendet, dass vergleichbare vapores die Fülle an antiken Orakeln erklären halfen; sie waren ein bloßes Medium, vielleicht eine physikalische Entsprechung jenes Bildflusses, der im Akt der dämonischen Prophetie von Anfang an die Bilder der paganen Visionen weitergegeben hatte. 41 Denkbar war auch, so Clasen weiter, dass eine große Verschwörung der heidnischen Priesterkasten, deren informative Netzwerke wie im Fall Delphis alle Städte der Umgebung und die Regierungen der großen Königreiche miteinschlossen, die spirituellen Werkzeuge, allen voran die Pythia, vor Ort mit Detailkenntnissen versorgte und ihr Wissen auf diese Weise über das gewöhnliche Maß heraushob. Bühnenzauber und Theaterdonner mochten dann ihren eigenen Beitrag geleistet haben. Auch einer solchen Hypothese, wie sie Ludovico Ricchieri vorsichtig formuliert hatte, 42 kann Clasen allenfalls einen präludierenden Charakter zubilligen, selbst wenn heidnische Verschwörungen ihre Plausibilität besaßen. 43 Das eigentliche Netzwerk war jedoch, so Clasen, ein Informationsgeflecht, das von gefallenen Engeln bedient wurde, die in den Orakelstätten ihre Heimstatt genommen hatten. Sie schwärmten aus, bereicherten sich an den Sorgen der Menschen und nutzten ihre melancholische Gestimmtheit, um sich Zugang zu ihren Vorstellungen zu verschaffen, die sie zueinander in Bezug setzen konnten. Es war kein Wunder, dass sie ihre Zuhörer auf diese Weise wieder und wieder mit sich selbst konfrontieren und in Erstaunen versetzen konnten. 44 Auch wenn der Konsens zur dämonischen Natur der Orakel zunächst einhellig scheint, gab es Denker, die zum Ende des 17. Jahrhunderts einer möglichen technischen Erklärung der paganen Prophetie weniger skeptisch gegenüberstanden und bereit waren, gegenläufige Deutungen zu entwickeln. In Kopenhagen formulierte der Chemiker Ole Borch im Jahre 1682 eine genuin physikalische Hypothese, die sich mittelbar an Pomponazzi und Plutarch lehnen konnte. Keine wenig spezifizierbaren vapores, sondern konkret fassbare Schwefeldämpfe, deren Hervorquellen Konvulsionen und Traumgesichte nach sich ziehen mussten, sorgten für die Entstehung der prophetische Rede. 45 Borch selbst hatte die Höhle der Sibylle von Cumae betreten und der Schweiß war ihm aus allen Poren gedrungen. In eine Schwefelhöhle bei Neapel jagte er zwei Hunde, deren epileptische Krämpfe ihm seine Theorie bestätigten. Schwefel, der aus Thermalquellen oder Erdspalten hervor41 Daniel Clasen, De oraculis gentilium et in specie de vaticiniis Sybillinis libri tres, Helmstedt 1673,

Liber I, c. 6, 22–25. 42 Lodovicus Caelius Rhodiginus, Lectionum antiquarum libri XXX, tam varia inexhaustaque abstrus-

arum ac reconditiorum rerum et vocum explicatione referti, Lyon 1560, Liber II, c. 12, 92f. 43 Daniel Clasen, De oraculis gentilium, Liber I, c. 6, 25–27. 44 Ebd. Liber I, c. 1, 1–3, c. 6, 25f., c. 7, 27f. 45 Ole Borch, Dissertationes, seu orationes academicae selectionis argumenti (2 Bde.), hg. von

Paul Vinding/Severin Lintrup, Kopenhagen 1725, Bd. 1, Dissertatio nona de oraculis antiquorum (zuerst 1682), 457–460.

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drang, sorgte in Orakeltempeln für eine Stimulierung der Imagination, damit aber auch für Entrückungserfahrungen, die am Anfang einer Vision und des Orakelspruchs stehen mussten. 46 Einen entscheidenden Schlag schien dem Orakelglauben auf den ersten Blick zur gleichen Zeit der niederländische Mennonit Antonin van Dale versetzt zu haben, dem sich dann in Teilen Bernard Fontenelle in seiner ‚Geschichte der Orakel‘ anschließen sollte. 47 Hätte nicht das Erscheinen Christi, wie van Dale im Jahre 1683 in seiner Schrift De oraculis veterum fragt, 48 automatisch allen außerchristlichen Prophezeiungen die spirituelle Grundlage entziehen müssen? 49 Warum sollte Gott den Teufeln überhaupt, so sein Einwand, nach der Inkarnation des Wortes noch das Recht eingeräumt haben, den Menschen durch falsche Offenbarungen zu verwirren? Es musste also nach der Etablierung des Christentums beim Menschen selbst liegen, die pagane Orakelindustrie mit ihren Ekstasen, Offenbarungen und Weissagungen am Leben zu erhalten. Für van Dale waren es nicht nur Agentennetzwerke und technische Hilfsmittel, die den Eindruck vermittelten, dass übernatürliche Zugriffe auf die höhere Welt auch den Heiden erlaubt waren. 50 Vor allem in Delphi, doch auch an den anderen Schauplätzen der antiken Orakelkultur mussten Drogen eine Rolle gespielt haben, halluzinogene Stoffe, wie man sie vor allem aus Indien und anderen Regionen des Fernen Ostens kannte, ja der Niederländer van Dale war so weit gegangen, aus der einschlägigen Literatur der Epoche, Garcia del Orta und anderen Autoren, einen Katalog an möglichen ekstasefördernden Mitteln zusammenzustellen. Auch Phänomene von Besessenheit, wie sie noch in der eigenen Zeit verzeichnet wurden, hatten auf diese Weise eine mögliche Erklärung finden können. 51 Die christli46 Ebd. Bd. 1, Dissertatio nona, 450–455. 47 Bernard Le Bouyer de Fontenelle, Histoire des oracles, Paris 1686, dort bes. Premiere dissertation,

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8–11, c. 4, 31–57, c. 17, 203–207. Der gleiche Text erschien schon 1688 in englischer Übersetzung mit sprechendem Untertitel als Bernard Le Bouyer de Fontenelle, The History of Oracles and the Cheats of the Pagan Priests, in two parts, London 1688, dort First Dissertation, 5–7, c. 4, 20–37, c. 17, 140–143. Weitere Ausgaben und Übersetzungen schlossen sich an, unter anderem noch einmal französisch 1701, 1721, und englisch 1699, 1750 und 1753. Antonius van Dale, De oraculis veterum Ethnicorum dissertationes duae, quorum prior de ipsorum duratione et defectu, posterior de eorundem auctoribus, Amsterdam 1683. Eine niederländische Fassung erschien wenig später als Antonius van Dale, Verhandeling van de oude orakelen der heydenen, Amsterdam 1687, gedruckt noch einmal 1718. Die lateinische Fassung wurde im Jahre 1700 ein zweites Mal aufgelegt. Kritisch setzt sich van Dale auch in einem weiteren Werk mit den paganen Orakeln und ihrer christlichen Deutung auseinander, nämlich Antonius van Dale, Dissertationes de origine ac progressu idolatriae et superstitionum: de vera ac falsa prophetia, uti de divinationibus idolatricibus Judaeorum, Amsterdam 1696, dort Dissertatio II, Pars II, c. 5–6, 289–341. Eine erste Rezension des Werkes in den Leipziger Acta eruditorum, Mai 1684, 207–212, war durchaus noch positiv. Antonius van Dale, De oraculis veterum Ethnicorum, dort z.B. Dissertatio I, 18–23. Zum technischen Charakter vieler Orakel und der Inszenierung ihrer Offenbarungen z.B. ebd. Dissertatio II, 288–302, 394–413, 420–422. Ebd. Dissertatio II, 246–256. Der Drogenkatalog der Pythia zu Delphi findet sich in der erweiterten Auflage des Jahres 1700, Antonius van Dale, De oraculis veterum Ethnicorum, dort Dissertatio I, c. 6, 137–140.

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chen Urväter, darunter Theologen wie Clemens von Alexandrien oder Origenes, hatten den entscheidenden Fehler begangen, sich die neuplatonische Dämonologie als Lehre zu Eigen zu machen und die Orakel mit einer Energie zu beleben, die sie für sich genommen nie besessen hatten. 52 Van Dales nicht abwegige Hypothesen sahen sich binnen kurzer Zeit an den europäischen Universitäten mit Widerlegungsschriften konfrontiert, die deutlich zeigen, wie geschlossen die Front der Dämonologen auch zum Ende des 17. Jahrhunderts noch immer war. Schon 1685 antwortet der Leipziger Theologe Georg Moebius van Dale in einem ausführlichen Traktat, als dessen zentrale Autorität die Heilige Schrift fungiert. 53 Hatten die Bücher Mose nicht ausdrücklich vor den Gefahren der Orakelbefragung gewarnt? War es im Deuteronomium nicht deutlich verboten worden, die ovot, die pythones aus dem Totenreich herauszurufen und sich ihrer spirituellen Kräfte zu bedienen? 54 Wenn die Orakel auf Illusion beruht hätten, wie von Dale glaubte, warum hatte schon das Judentum sie dann so leidenschaftlich bekämpft? Warum hatte Paulus in der Apostelgeschichte, lange nach der Ankunft des Erlösers, einer Wahrsagerin einen spiritus pythonis ausgetrieben, wenn die antike Prophetie nicht auf der Hilfe von Dämonen beruhen sollte? Offenbarten nicht die ganze Spätantike ebenso wie die Praktiken vieler indigener Völkerschaften, nicht zuletzt auch der amerikanischen Indianer, dass der Orakelbetrieb auch mit der Ausbreitung des Christentums noch immer funktionstüchtig war? 55 Es stand also außer Zweifel, so Moebius, dass der Orakelbetrieb der Antike von den Mächten der Finsternis getragen wurde. Auch wenn den Dämonen der freie Wille des Menschen ein Geheimnis bleiben musste, waren ihre Kenntnis der menschlichen Psychologie, ihr natürliches, über Jahrhunderte erworbenes Wissen um den Ablauf staatlicher Ordnungen und der dämonische Einblick in die Gesetze der Natur die Voraussetzung für die richtigen Antworten, die den Auskunftsuchenden in Delphi oder Dodona gegeben worden waren, nicht das Wissen einer Priesterkaste und der Bereicherungswille ihrer Angehörigen. Wie hätte es einer Gruppe von Betrügern über einen so langen Zeitraum wieder und wieder gelingen können, die Wahrheit zu sagen und sich durch die Ereignisse bestätigt zu sehen? 56 Noch eine ganze Reihe von Theologen und Philosophen wenden sich in der Folgezeit in ihren Schriften gegen van Dale und Fontenelle und machen sich die dämonologische Deutung der paganen Prophetie zu Eigen, darunter Johannes Landgraf in Jena oder Chris52 Antonius van Dale, De oraculis veterum Ethnicorum (1683), Dissertatio II, 185–193, und öfter. 53 Die Arbeit des Georg Moebius war zunächst erschienen als Georg Moebius, Tractatus de oracu-

lorum ethnicorum origine, propagatione et duratione, ubi varia simul exponuntur oraculorum, tam divinorum, quam ethnicorum genera, Leipzig 1656, die wegen ihres Erfolges schon ein Jahr später wiederaufgelegt wurde. Durch van Dale sah sich der Leipziger Theologe zu einer umfassenden Überarbeitung genötigt, die als Georg Moebius, Tractatus philologico-theologicus de oraculorum ethnicorum origine, propagatione, et duratione, Leipzig 1685, erschien, um im Jahre 1692 noch ein weiteres Mal ergänzt und in Frankfurt gedruckt zu werden. 54 Georg Moebius, Tractatus de oraculorum ethnicorum origine (1692), c. 1, 24–29. 55 Ebd. c. 6, 136–149, vgl. Apg 16,16–18. 56 Ebd. c. 5, 116–122.

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tian Bartholin in Kopenhagen. 57 Der französische Jesuit Jean-François Baltus schenkt beiden Aufklärern zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine ganze Serie von französischen Gegentraktaten, 58 die unverzüglich ins Lateinische übertragen werden. 59 Mit Nachdruck beharrt Baltus darauf, dass die Dämonisierung der antiken Religion keine irregeleitete Aneignung neuplatonischer Motive war; sie war die einzige legitime Schlussfolgerung, die die Kirchenväter aus der Präsenz des antiken Pantheons hatten ziehen können. Es mussten mit gleichem Recht Dämonen gewesen sein, die für das Orakel in Delphi oder in der Oase Siwa verantwortlich waren, wie die gefallenenen Engel zur Gänze die Wirkmächtigkeit der Götter in der Alten Welt erklären konnten. 60 Hatten die Christen die Mächte der Finsternis nicht mit dem Kreuzzeichen aus ihren alten Tempeln vertrieben und waren in der Lage gewesen, Dämonen auszutreiben? 61 Auch die Korruption des Orakelwesens und seine Anfälligkeit für Irrtümer durften keine Begründung liefern, so Baltus, um ausschließlich betrügerische Priester und technische Hilfsmittel für die antike Divinationsindustrie verantwortlich zu machen. Selbst wenn eine Beteiligung des Menschen nicht ausgeschlossen werden konnte, hätte der antike Kultus nie die bis weit in die christliche Zeit sichtbare Erfolgsgeschichte für sich verbuchen können, solange nicht Satan in ihm die tragende Rolle gespielt und sich immer wieder in Erinnerung gerufen hätte. Nicht der einzelne Priester, sondern der in ihm wirksame furor divinus, eine Gabe des Teufels, war für die vermeintliche Prophetie verantwortlich. 62 57 Johann Christoph Landgraf/Simon Krause (resp.), Exercitatio de gentilium oraculis, in qua vete-

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rum qua christianorum qua ethnicorum disputationes de iis responsis expendentur, Jena 1689, 11f., 21 f., und öfter; Christian Heinrich Bartholin/Georg Christian Bangius/Johann Friedrich Moltzow (resp.), Dissertatio historico-critica de oraculis ethnicorum veterum, Kopenhagen 1702–03, 9–13. Ähnlich gegen van Dale und Fontenelle in Kopenhagen auch Dithmar Bullich/Martin Caspar (resp.), De Romanorum Auguriis dissertatio, Kopenhagen 1696, 3f. Jean-François Baltus, Response à l’histoire des oracles de Mr. Fontenelle, de l’academie française, dans laquelle on refuté le systéme de Mr. Van-Dale, sur les auteurs des oracles du paganisme, sur la cause et le temps de leur silence, Straßburg 1707; ders., Suite de la réponse a l’histoire des oracles, dans laquelle on refuté les objections inserées dans le XIII. Tome de la Bibliotheque choisie, Straßburg 1708. Beide Werke wurden gleich im anschließenden Jahr neuaufgelegt und zugleich ins Englische übertragen. Einmal angeregt ließ Baltus noch eine weitere Schrift folgen, die die patristische Dämonologie vom Neuplatonismus freisprechen wollte, nämlich ders., Défense des SS. Pères accusez de Platonisme, Paris 1711, und eine zweibändige Verteidigung der Ausschließlichkeit der christlichen Offenbarung, ders., Défense des propheties de la religion chrétienne (2 Bde.), Paris 1737. Der deutschen Ausgabe der Histoire Fontenelles, Bernhard von Fontenelle, Historie der Heydnischen Orackel, Leipzig 1730, die von Johann Christoph Gottsched besorgt wurde, ist wiederum ein Anhang beigegeben, der auf die Widerlegungsversuche Baltus’ antworten möchte. Jean-François Baltus, Historia de silentio oraculorum Paganismi post Jesu Christi adventum obmutescentium, contra D. van Dale Anabaptistam batavum eiusque defensorem D. de Fontenelle, Braunschweig 1725. Dieses Werk fasst die vorausgegangenen französischen Werke zum Thema in einer Ausgabe zusammen. Ebd. Pars I, c. 13–14, 42–46. Ebd. Pars I, c. 17–18, 49–56. Ebd. Pars II, c. 4, 69–71, c. 6–7, 75–81, c. 13–14, 94–100.

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Es war vor allem Baltus, der durch seine Anhänger dafür sorgte, dass die Kontroverse an den strukturkonservativen mitteldeutschen Universitäten noch bis weit in die Mitte des 18. Jahrhunderts weitere Literatur nach sich ziehen konnte. 63 Kaum zufällig, wie wir sehen werden, lassen sich die Ausläufer der Debatte bis an die Universitäten des schwedischen Imperiums verfolgen. 64 Zu einem eigenen Thema wurde gerade hier einer der stichhaltigsten Belege für das vermeintliche Ende der paganen Orakel, das Verstummen des großen Pan, dessen Wehklagen und Tod Plutarch in seiner Schrift ‚Über das Ausbleiben der Orakel‘ eigens beglaubigt hatte. 65

4. Der Probstein der Prophetie: Die Schamanen Lapplands Auch wenn der Disput um die Natur der antiken Prophetie und ihre Ekstasetechniken auf den ersten Blick wie ein von der Theologie getragener theoretischer Diskurs erscheint, so hatte er doch, wie zu Beginn angedeutet, eine praktische Komponente. Die Front zwischen Heiden- und Christentum, zwischen der christlichen, sanktionierten Prophetie, die sich nur um die Scheidung der Geister zu bemühen hatte, und einer paganen Offenba63 Gegen van Dale und Fontenelle wenden sich z.B. in Leipzig Johann Friedrich Witzleben/Adam Gott-

lieb Müller (resp.), De oraculorum circa nativitatem Christi silentio, Leipzig 1702, § 2, fol. A2vf., § 7, fol. A4vf., und passim; Johann Christoph Erdmann, De oraculis Christi nativitate non obmutescentibus, Leipzig 1734, 18–21, und passim, und in einer ganzen Kette von Disputationen der Wittenberger Theologe Johann Friedrich Schomer, so in direkter Bezugnahme auf Baltus Johann Wilhelm Berger/Johann Friedrich Schomer (resp.), Dissertatio historico-electica de vero oraculorum praeside, Wittenberg 1720, bes. § 13, 15–17, § 27, 30–32; Johann Friedrich Schomer/Gotthard Simon Schaller (resp.), De causis praesidem oraculorum impellentibus, Wittenberg 1722, z.B. § 4, 5f.; und Johann Friedrich Schomer/Johannes Brevhan (resp.), Paralogismos Antonin van Dalen quantum ad praesidem oraculorum attinet, Wittenberg 1723, passim. 64 Als Beispiele in Lund Haquin Stridzberg/Peter Bleking (resp.), De oraculorum ethnicorum origine sive auctoribus dissertatio, Lund 1705; und die Arbeiten der Uppsalenser Theologen Johannes Steuch/Jonas Drysenius (resp.), De ortu et defectu oraculorum breve schediasma, Uppsala 1720, oder Petrus Ekermann/Petrus Ekelund (resp.), Dissertatio principium et fontem oraculorum sistens, Uppsala 1741. Nicht weiter gehen auf die Debatte ein Johannes Columbus/Jonas Columbagrius (resp.), Chresmologia sive de oraculis dissertatiuncula, Uppsala 1684; Hemming Forelius/Petrus Westhman (resp.), De oraculis ethnicorum dissertatio, Uppsala 1699; und Thorsten Rudeen/Andreas Carllööf (resp.), Apollo silens sive de oraculorum cessatione dissertatio academica, Turku 1695, doch dokumentieren sie zumindest die Popularität des Themas. 65 Plutarch, De cessatione oraculorum, § 17 (419), griechisch und englisch, 400–403. Eigens diskutiert wird der ‚Tod des großen Pan‘ z.B. von Magnus Beronius/Johannes Nyman (resp.), Disertatio gradualis de Pane Plutarchi Magno, Uppsala 1734, passim; oder von Friedrich Gotthilf Freitag, De Magno Pane Mortuo ex Plutarchi libro de oraculorum defectu, Naumburg 1725, dort 1–10, doch ohne Nennung der Hypothesen van Dales. Vielleicht nicht zufällig verbindet sich mit dem ‚Tod des Pan‘ ein gesamteuropäischer Sagenkreis, in dessen Zentrum der Tod eines Kobold- oder Zwergenkönigs steht. Systematisch untersucht diesen Sagentypus Inger M. Boberg, Sagnet om den store Pans død, Uppsala 1933, dort zu den deutschen und französischen Varianten 102–140.

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rungstechnik, die ihren eigenen Paradigmen gehorchte, verlief nicht nur im Altertum. Noch immer gab es an der Marginale Europas heidnische Religionen, die eine christliche Offenbarung nicht einfach fortschrieben oder veränderten, wie es andere Konfessionen oder Häresien in den Augen der christlichen Mehrheit betrieben hatten. Auch sie kannten Entrückungen, Seelenflüge, Offenbarungen und Entkörperlichungen und eine prophetische Priesterkaste, die in ihrer Mitte tätig war. Der scheinbar historisch-sterile Diskurs um die Deutungshoheit der antiken Religion und ihre Prophetie, der als Instanz neben dem Christentum jede Dignität abgesprochen werden musste, hatte sich hier vor Ort neu zu bewahrheiten.

4.1 Der Schamane als paganer Prophet und Werwolf Das schwedische Imperium, das in diesen Jahren vom polaren Lappland bis nach Mecklenburg und von der südlichen Ostseeküste über Livland bis nach Karelien reichte, sah sich am Rande seines Machtbereichs mit jener zu Beginn erwähnten Minderheit konfrontiert, den Samen, deren Christianisierung noch lange nicht abgeschlossen war. Ihre Kultur und Glaubensvorstellungen teilte diese Volksgruppe in wichtigen Bereichen mit den anderen Völkerschaften der finno-ugrischen Sprachgemeinschaft und ließ ihre Nähe zu Völkern Finnlands und Estlands daher offenkundig werden. Die universitäre und juristische Aufarbeitung der Magie, wie sie an allen europäischen Universitäten betrieben wurde, traf hier auf eine noch immer pagane Kultur, deren Bräuche eine Fülle von prophetischen Praktiken und ekstatischen Ritualen einschlossen. Heiler, Seher und Schamanen, die einen natürlichen Bestandteil der indigenen Lebenswelt Lapplands bildeten, fielen damit in das Erklärungsschema der postulierten falschen Prophetie, damit aber auch in das Raster der antiken Religion, die diese Prophetie, wie man glaubte, für sich usurpiert hatte. Etwas später als im übrigen Europa hatte sich in Finnland von Schweden ausgehend eine Welle von Hexenprozessen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts langsam von Westen nach Osten ausgebreitet. In allen Fällen waren diese Untersuchungen von der lutheranischen Staatskirche getragen, die zu ihrem entscheidenden Motor wurde. 66 Mehr 66 Die großen schwedischen Hexenprozesse seit der Mitte des 17. Jahrhunderts sind von Seiten der

Geschichtswissenschaft inzwischen gut erschlossen, hierzu z.B. Bengt Ankarloo, Trollsdomsprocesserna i Sverige, Lund 1971, 113–214, und Birgitta Lagerlöf-Génetay, De svenska häxprocessernas utbrottsskede 1668–1671. Bakgrund i Övre Dalarna. Social och ecklesiastik kontext, Stockholm 1990, 7–95, zu den Prozessen in Karelien und Finnland z.B. Marko Nenonen, Noituus, taikuus ja noitavainot. Ala-Satakunnan, Pohjois-Pohjanmaan ja Viipurin Karjalan maaseudulla 1620–1700, Helsinki 1992, 101–151; Marko Nenonen/Timo Kervinen, Synnin palkka on kuolema. Suomalaiset noidat ja noitavainot 1500–1700 luvulla, Helsinki 1994, 125–150; und Jari Eilola, Rajapinnoilla. Sallitun ja kielletyn määritteleminen 1600-luvun jälkipuoliskon noituus-ja taikuustapauksissa, Helsinki 2003, 187–302. Ausführlich zur juristischen Behandlung der Magie in Schweden im 17. Jahrhundert außerdem Linda Oja, Varken Gud eller Natur. Synen på magi i 1600- och 1700-talets Sverige, Stockholm 2000, 52–229.

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als ein Fünftel der Verurteilten der Prozesse im Norden waren Lappen, wie die jüngeren Archivstudien gezeigt haben, die für die Riten und Überlieferungen ihrer ursprünglichen Religion verurteilt wurden. 67 Ins Zentrum der Untersuchungen rückten die Trommeln, die von den einheimischen Heilern während ihrer Rituale verwendet werden, und die schamanischen Praktiken, die das schamanische Brauchtum in vielen Bereichen charakterisierten. 68 Dass die samische Religion als Paganismus betrachtet wurde und daher in den Augen der lutheranischen Kirche aufs Heftigste bekämpft werden musste, verwundert nicht weiter. Das samische Pantheon mit Göttern wie Storjunckar oder Bäive konnte aus christlicher Perspektive, lutheranischer wie katholischer, nur als Konglomerat gefallener Engel gelten. Schon im Jahre 1555 war die Historia septentrionalis des letzten katholischen Bischofs von Uppsala, Olaus Magnus, erschienen. Olaus behandelt den Windzauber der Samen, die Gabe, durch ein besonderes Ritual Stürme heraufzubeschwören, die allgemeine Funktion der incantationes, deren Wirkung er durch die Hilfe Satans erklären kann, und die Fähigkeit der samischen Magier, die Gestalt von Tieren, zumal von Wölfen, anzunehmen. Ein eigener Abschnitt gebührt der Gabe des lappischen Schamanen, durch das Verlassen seines Körpers und die Kontaktaufnahme mit einem Schutzgeist, einem spiritus tutelaris, Fragen zu beantworten, die seine Stammesgenossen an ihn stellen. Bemerkenswert erscheint Olaus, der das Phänomen der Entrückung des Magiers sonst nicht weiter beurteilen möchte, vor allem, dass der Körper des Seelenreisenden regungslos auf dem Boden liegen bleibt und von einem Gefährten bewacht werden muss, um von einer Berührung nicht in Gefahr gebracht zu werden. 69 Wenn der nordische Magier und Schwarz67 Zur Auseinandersetzung mit dem samischen Schamanen als Teil der Magie- und Hexereiprozesse

z. B. Karin Granquist, „Thou shalt have no other Gods before me (Exodus 20, 3). Witchcraft and Superstition trials in 17th and 18th-century Swedish Lapland“, in Peter Sköld/Kristina Kram (Hgg.), Kulturkonfrontation i Lappmarken. Sex essäer om mötet mellan samer och svenskar, Umeå 1998, 13–31, bes. 16–22; Karin Granquist, Samerna, staten och rätten i Torne lappmark under 1600talet. Makt, diskurs och representation, Umeå 2004, 117–128; Håkan Rydving, The End of DrumTime. Religious Change among the Lule Saami, 1670s–1740s, Uppsala 1993, 54–68; Daniel Lindmark, En lappdrängs omvändelse. Svenskar I möte medsamer och deras religion på 1600- och 1700talen, Umeå 2006, 13–91; und Ilmar Arens, „Finnar och lappar i svensk trolldomstro på 1600- och 1700-talen enligt protokoll i Göta Hovrätts Arkiv 1669–1776“, in Historiallinen arkisto 64 (1969), 154–162. Eine jüngere Diskussion der Rolle der ‚Magie‘ in den skandinavischen Spielarten des Schamanismus gibt Clive Tolley, Shamanism in Norse Myth and Magic (2 Bde.), Helsinki 2009, Bd. 1, 109–133. 68 Ausführlich zu den historischen Beschreibungen der samischen Trommeln in der schwedischen und lateinischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts und ihrem Gebrauch Ernst Manker, Die lappische Zaubertrommel. Eine ethnologische Monographie (2 Bde.), Stockholm 1938–56, Bd. 1, 23–56, 389–418, dort zu den Verhörprotokollen, die den Gebrauch der Trommeln ins Visier nahmen, 399–409; außerdem Håkan Rydving, „The Saami Drums and the Religious Encounter in the 17th and 18th Centuries“, in Tore Ahlbäck/Jan Bergman (Hgg.), The Saami Shaman Drum, Turku 1991, 28–51, bes. 29–34. 69 Olaus Magnus, Historia de gentibus septentrionalibus, Rom 1555, Nachdruck Kopenhagen 1972, Liber III, c. 16–17, 119–122, in englischer Übersetzung als Olaus Magnus, Description of the Nor-

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priester sein Erscheinungsbild verändern wolle, so Olaus, bediene er sich dämonischer Larven aus verdickter Luft, die sich wie eine Decke über seinen natürlichen Körper legen ließen. Frauen gelinge es auf diese Weise, sich ein liebreizendes Äußeres zu verleihen; Krieger könnten sich mit furchterregenden Masken oder Tiergestalten ihre Gegner vom Leib halten. Olaus’ Angaben wurden in der deutschsprachigen Abbreviatur seiner Historia weiter verbreitet, 70 sie finden Eingang in einschlägige Werke wie die Daemonomanie des Jean Bodin oder die Disquisitiones magicae des Martin del Rio. 71 Ebenfalls schon in der Mitte des 16. Jahrhunderts, im Jahre 1560, hatte ein Autor zum ersten Mal dem Phänomen der Entrückung des Schamanen eine eingehendere Betrachtung geschenkt und auch versucht, sie als Akt der Scheinprophetie in den entsprechenden, von der Tradition vorgegebenen Kontext zu stellen. In seiner Schrift De divinatione gelangt der Wittenberger Theologe und Naturkundler Caspar Peucer über das Phänomen der Werwölfe, die auch der Bischof von Uppsala schon mit den finno-ugrischen Völkerschaften in Verbindung gebracht hatte, 72 zu den visions- und prophetiebegabten Schamanen. Peucer bemüht sich, dort, wo auch Olaus Magnus die Lycanthropen verortet hatte, in Livland und Kurland, Erkundigungen einzuholen. 73 Man berichtet ihm von einem Jungen mit Klumpfuß, der zu bestimmten Zeiten des Jahres, zu Weihnachten und in der JohannisNacht, in der Region mit einem Stab umherwandert, um als Gesandter Satans Gefolgsleute zu versammeln. Die Gefährten umgürten sich und beginnen, unter großen Schmerzen ihre menschliche Gestalt zu verlieren. In Wolfsgestalt ziehen sie im Anschluss, wie Peucer erfährt, als marodierende Bande unter Führung des Jungen, der ihnen mit seinem

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thern Peoples. Rome 1555, translated by Peter Fisher/Humphrey Higgins (3 Bde.), London 1996–98, Bd. 1, Book III, c. 16–17, 172–175. Olaus Magnus, Die Wunder des Nordens, hg. von Elena Balzamo/Reinhard Kaiser, Frankfurt a.M. 2006, Buch III, c. 7–8, 172–175. Zur Topik der Lapplandberichte dieser Zeit, die vor allem aus Olaus Magnus schöpfen konnten, z.B. Rune Blix Hagen, „Seventeenth-Century Images of the True North, Lapland and the Sami“, in Kajsa Andersson (Hg.), L’Image du Sápmi. Études comparées, Örebrö 2009, 139–168, hier 146–165. Jean Bodin, De magorum daemonomania seu detestando Lamiarum ac Magorum cum Satana commercio, Frankfurt a.M. 1590, Liber II, c. 5, 318f., 322f.; Martin del Rio, Disquisitionum magicarum libri sex, Liber II, q. 25, 102af, Liber III, Pars I, q. 4, Sectio IV, 177bf. Eine eigene ausführliche Betrachtung der Werwölfe liefert Olaus Magnus, Historia de gentibus septentrionalibus, Liber XVIII, c. 45, 642 f., englisch als Olaus Magnus, Historia de gentibus septentrionalibus, Bd. 3, Book XVIII, c. 45, 928–930. Zur frühneuzeitlichen Diskussion der Lycanthropie z.B. Claude Lecouteux, Fées, Sorcières et Loupsgaroux au Moyen Age, Paris 2005, 121–144; Leslie A. Sconduto, Metamorphoses of the Werewolf. A Literary Study from Antiquity through the Renaissance, Jefferson/London 2008, 127–179; und die beiden Klassiker Wilhelm Hertz, Der Werwolf. Über die Werwolfsverwandlung, Verwundbarkeit und Entzauberung: ein Beitrag zur Sittengeschichte, Stuttgart 1862, Nachdruck Leipzig 2008, 87–95; Rudolf Leubuscher, Über die Werwölfe und Tierverwandlungen im Mittelalter: ein Beitrag zur Geschichte der Psychologie, Berlin 1850, Nachdruck Leipzig 2008, 43–57. Einen Überblick über die Fälle der Zeit gibt auch Jean-Beauvoys de Chauvincourt, Discours de la Lycanthropie ou De la transmutation des hommes en loups (1599), hg. von Patrick Sbalchiero, Paris 2009, Présentation, 14–54.

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Stab den Weg durch Flüsse und Wasserflächen bahnt, durch die Sprengel der Umgegend, um sich nach Ablauf von zwölf Tagen wieder in Menschen zurückzuverwandeln. Wie geht diese Transformation vonstatten? Peucer gelingt es, weitere Details in Erfahrung zu bringen. Wie von Epilepsie geschlagen fällt der angehende Werwolf zu Boden, wo er bewegungslos liegenbleibt. Er nimmt wahr, wie seine Seele ihren Körper verlässt, um sich mit der Haut eines Wolfes zu bekleiden. Nach Ablauf der festgelegten Frist kehrt sie zu ihrem immer noch unberührten Leib zurück und bemächtigt sich erneut ihrer ursprünglichen Gestalt. Eine reale Verwandlung des Leibes hatte also nicht stattgefunden, wie Peucer konstatiert; der Teufel gab dem vermeintlichen Wolfsmenschen Phantasmen ein, die ihm die falsche Vorstellung vermittelten, den Körper hinter sich lassen zu können. Kein Wunder war es daher, dass der Lycanthrop den Eindruck erhalten musste, dass weder Keller, Mauern noch Flüsse für ihn ein Hindernis darstellten, denn alle Ereignisse hatten nur auf einer wahnhaft-visionären Ebene stattgefunden. 74 Die Lycanthropen entsprachen auf diese Weise den anderen paganen Seelenreisenden der nordischen Welt, wie Peucer feststellt, den Schamanen, die sich in vergleichbaren Lügengebäuden verstrickten. Auch hier hatte der Teufel durchgehend seine Hände im Spiel. Wie die Völker des äußersten Nordens glaubten, fiel ein Schamane in Ekstase zum Schlag seiner Trommel zu Boden, um seinen Körper zu verlassen und im Kontakt mit der Geisterwelt Auskunft über die Fragen zu erhalten, die man an ihn gerichtet hatte. In Wahrheit hatte ein Dämon den heidnischen Priester in einen tiefen Schlaf fallen lassen, kontrollierte seinen Körper, setzte seine Körpertemperatur herab und sorgte dafür, dass der Schamane nicht erstickte. Dann flößte er ihm die Phantasmen ein, die ihn in der Vorstellung bestärkten, seine Seele hätte mit den Geistern Kontakt aufgenommen. 75

4.2 Die erste Aufarbeitung der samischen Prophetie an den schwedischen Universitäten Als der norwegische Prediger Halvard Gunnarson in seiner Vers-Chronik Norwegens im Jahre 1606 auf die Samen zu sprechen kommt, konstatiert er, die Samen seien in der Lage, ihre Seele aus dem Körper entfahren zu lassen, um geheimes Wissen zu erlangen. Ihre Kenntnisse jedoch verdanken die samischen Priester allein einer diabolischen

74 Caspar Peucer, De praecipuis generibus divinationum in quo a Prophetiis auctoritate divina traditis

et a Physicis coniecturis discernuntur artes et imposturae diabolicae, Wittenberg 1560, De Theomanteia, fol. 140v–142r. Ähnlich z.B. auch Jean-Jacques Boissard, Tractatus posthumus de divinatione ac magicis praestigiis, quam veritas ac vanitas solide exponuntur per descriptionem deorum fatidicorum, qui olim responsa dederunt, Oppenheim 1615, c. 6, 53–55, oder später aus medizinischer Perspektive Antonius van Deusing, Dissertatio de morborum quorundam superstitione, speciatim de morbo Man-Slacht, itemque de Lycanthropia, Groningen 1656, 106f. 75 Caspar Peucer, De praecipuis generibus divinationum, De Theomanteia, fol. 142rf., fol. 144r.

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ludificatio. 76 Eine Generation später wiederholt die erste Generation der schwedischen Lapplandmissionare die Angaben des Olaus Magnus und Caspar Peucers und sieht sie, wie man glaubt, in ihrer Realität bestätigt. 77 Männer wie Samuel Rheen, Olaus Graan, Johannes Tornaeus, Nikolaus Lund oder Gabriel Tuderus erschließen in ihren schwedisch abgefassten Berichten die Lebenswelt der Samen. Da es sich durchweg um lutheranische Geistliche handelte, konnten die indigenen Rituale bei ihnen auf wenig Gegenliebe stoßen, selbst wenn es sich bei dem Verfasser, wie bei Nikolaus Lund, selbst um einen Samen handelte. Afguderi und trumbor, Idolatrie und die Magie der Trommeln standen bei ihnen im Vordergrund. 78 Vor allem Nikolaus Lund und Gabriel Tuder gehen auch genauer auf die Rolle des Schamanen ein, der sich mithilfe seiner Trommel in Ekstase versetzt, um mit Unterstützung eines Geistes einen Kranken zu heilen, die Zukunft vorauszusagen oder die Gemeinschaft auf die Jagd vorzubereiten. 79 Im Jahr 1673 erscheint die Lapponia des Johannes Scheffer, eines Altphilologen aus Straßburg, der in Uppsala Karriere gemacht hatte. Scheffer vereinigt die Berichte der Lapplandmissionare zu einem einheitlichen Werk und stellt dem lateinischen Publikum auf diese Weise die Materialgrundlage zur Verfügung. 80 Auch Scheffer gibt einen Über76 Halvard Gunnarson, Chronicon regum Norvegiae, olim idiomate Norvegico conscriptum: nunc autem

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primo elegiacis versibus latine expositum, Rostock 1606, vorab im Widmungsgedicht an Arnold Huidfeld, fol. A4v, abgedruckt auch in Clive Tolley, Shamanism, Bd. 2, 76. Einen Überblick über die Berichte der ersten Lapplandmissionare gibt Håkan Rydving, „The Missionary Accounts from the 17th and 18th Centuries – The Evaluation and Interpretation of Sources“, in Juha Pentikäinen (Hg.), Sami Folkloristics, Turku 2000, 17–39; oder z.B. Jörgen Ingvar Eriksson, Samisk shamanism, Umeå 2002, 85–101. Die meisten dieser Berichte wurden zum Ende des 19. Jahrhunderts gedruckt, so z.B. Samuel Rheen, En kortt Relation om Lapparnes Lefwarne och Sedher, wijd-Skiepellsser, sampt i många Stycken Grofwe wildfarellser, Uppsala, 1897, dort zu den Trommeln, Göttern, Schamanen und Jagdritualen c. 13–15, 29–46; Olaus Graan, Relation eller en Fulkomblig Beskrifning om Lapparnas Ursprung, så wähl som om heela dheras Lefwernes Förehållande, Uppsala 1899, dort zu Trommeln und dem samischen Pantheon c. 16–18, 58–67; Johannes Tornaeus, Berättelse om Lapmarckerna och deras Tillstånd, Uppsala 1900, dort zur samischen Götterlehre und den Lapp-Trumman c. 7–8, 26–33; Olaus Petrus Niurenius, Lappland eller beskrivning över den nordiska trakt, som lapparne bebo i de avlägsnaste delarne av Skandien eller Sverge, Uppsala 1905, dort zur ‚Abgötterei‘ c. 21, 20–22. Nicolaus Lundius, Descriptio Lapponiae, Uppsala 1905, dort zur schamanischen Ekstase und dem Gebrauch der Trommeln 5–9; Gabriel Tuderus, En kort underrättelse om the österbothniske Lappar som under Kiemi Gebiet lyda, Uppsala 1905, dort zum Schamanentum mit dem Abdruck eines Bärengesanges c. 2, 11–16. Zu den bei Tuderus und anderen beschriebenen Jagdritualen Juha Pentikäinen, Golden King of the Forest. The Lore of the Northern Bear, Saarijärvi 2007, 60–62. Scheffers Lapponia erschien 1674 als History of Lapland in englischer Sprache und 1675 als Neue und wahrhafftige Beschreibung von Lappland in einer deutschen Übersetzung. Eine französische und niederländische Fassung schlossen sich an. Dass eine Abbreviatur dieses Werkes auch einem anderen wiederholt gedruckten Klassiker, Georg Rudolf Widman, Des Bekandten Ertz-Zauberers Doctor Fausts ärgerliches Leben und Ende, Nürnberg 1695, als Appendix beigegeben werden konnte, mit dem ausdrücklichen Ziel, von der Lapponischen Wahrsager-Paucken und ihrer Zauberey zu berichten, offenbart, welchen Weg die Lektüre Scheffers eingeschlagen hatte. Zur enormen Rezeption der Lapponia in Europa schon Ethel Seaton, Literary Relations of England and Scandinavia in the Seven-

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blick über die Gottheiten Lapplands, referiert Opferpraktiken und Kultorte und liefert eine systematische Darstellung der samischen Magie. 81 Sein Leser erhält eine ausführliche Beschreibung der Schamanentrommel, der Rolle des Gesangs und der Ekstase der Schamanen, deren Seele, wie Scheffer erfährt, im Moment der Entrückung den Körper verlässt, um mit der höheren Welt Kontakt aufzunehmen. 82 Scheffer dokumentiert, wie Schamanen im Moment der Entrückung den Ausgang der Jagd prophezeien oder die Ursache einer Krankheit aufdecken, die auf eine andere incantatio zurückzuführen war. 83 Mit der ethnographischen Erschließung der samischen Religion einher geht an den Universitäten des karolinischen Reichs die systematische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Magie im Allgemeinen und den Erscheinungen des Schamanismus im Besonderen. Ihr theoretischer Ansatz schließt sich, wie zu erwarten, an die Vorgaben der großen protestantischen und katholischen Theologen an. Schon Georg Alanus, der 1650 eine der ersten Arbeiten zu okkulten Praktiken in Finnland verantwortet, 84 gibt einen Hinweis auf die möglichen Entrückungserfahrungen und Seelenreisen der in dieser Zeit ins Visier genommenen Schamanen. Auch diese Erfahrungen können nur als Ergebnis eines satanischen Paktes und einer diabolischen Beeinflussung des Vorstellungsvermögens erklärt werden. 85 Zwei Jahrzehnte später entsteht die Arbeit zur Magie des Professors für Physik an der Universität Turku, Petrus Hahn, mit dem vielsagenden Titel Idea panegyricae Satanae, in der sich der Ton verschärft und die Zielrichtung hin zu den einheimischen Magiern und selbsternannten Propheten und proklamierten Reisenden der Geisterwelt offen zutage tritt. Satan wirkt, wie Hahn betont, durch die Beeinflussung der Imagination, durch die Vermittlung von Sinneseindrücken, die verwerfliche Willensentscheidungen produzieren. Auch die Seelenreisen lassen sich hier einordnen. Der samische Heiler erweckt den Eindruck, seine Seele könne den Leib verlassen. Nur der Teufel

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teenth Century, Oxford 1935, 252–255. Eine allgemeine Würdigung Scheffers gibt Juha Pentikäinen, Saamelaiset. Pohjoisen kansan mytologia, Helsinki 1995, 39–41. Johannes Scheffer, Lapponia, id est Regionis Lapponicum et gentis nova et verissima descriptio, Frankfurt a.M. 1673, c. 7, 56–63, c. 10, 94–119. Ebd. c. 11, 137 f. Ebd. c. 11, 140–142. Zur akademischen Diskussion der Magie an der Universität Turku im 17. und 18. Jahrhundert z.B. Antero Heikkinen, Paholaisen liittolaiset. Noita- ja magiakäsityksiä ja oikeudenkäyntejä Suomessa 1600-luvun jälkipuoliskolla (n. 1640–1712), Helsinki 1969, 88–93; Maija Kallinen, Change and Stability. Natural Philosophy at the Academy of Turku 1640–1713, Helsinki 1995, 268–270; Bernd Roling, „Von der Magie zur Poesie: Universalmythen in der finnischen Ethnogenese des 18. Jahrhunderts“, in Andreas Kilcher/Philipp Theison (Hgg.), Die Enzyklopädie der Esoterik, München 2010, 213–256, hier 219–221. Georg Christoph Alanus/Johannes Munthelius (resp.), Disputatio philosophica de magia naturali, Turku 1645, Thesis I, § 40, fol. C4rf., §§ 46–48, fol. Dr–D2r. Ähnlich auch Johannes Wassenius/Axelius Jonas Orre (resp.), Disputatio philosophica de magia naturali, Turku 1648, Thesis I, fol. B4rf. Michael Wexionius Gyldenstolpe, Epitome descriptionis Sueciae, Gothiae, Fenningiae, et subiectarum provinciarum, Turku 1650, Liber IV, c. 8, 204, konnte zugleich behaupten, die bei Alanus beschriebenen Rituale seien in der Ausrottung begriffen.

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jedoch versetzt die Organe des Menschen in einen Betäubungszustand, zugleich implantiert er dem Menschen eine Kette von Bildern, die ihn in dieser Illusion bestätigt. 86 An den schwedischen Universitäten in Lund und Uppsala erscheinen in der gleichen Zeit Dutzende weiterer Arbeiten, die in die gleiche Richtung gehen und die Samen als aktuelle Repräsentanten des gelebten und wiederbelebten Heidentums ins Auge fassen, als Vertreter diabolischer Magie und als mögliche Werwölfe. 87 Im Jahre 1680 nimmt sich die universitäre Disputationskultur in einem eigenen Traktat der magischen Trommeln an, in Gestalt einer Arbeit mit dem Titel De tympanis magicis, verfasst von Peter Laurbeck an der philosophischen Fakultät zu Turku. 88 Was bei Johannes Scheffer in der Lapponia noch ethnographisch motiviert und weitgehend wertfrei geschildert war, erscheint nun im Blickwinkel Laurbecks mit eindeutigen Wertungen, die sich in den vorausgegangenen Arbeiten schon angekündigt hatten. Magie definierte sich als Instrumentalisierung der dämonischen Energien. Das gesamte Ritualwesen Lapplands hatte unter diesen Oberbegriff zu fallen, doch vor allem die Trommeln der Schamanen, die im Zentrum der gegen die Samen gerichteten Prozesse standen, mussten ins Visier genommen werden. Laurbeck ist mit dem lappischen Pantheon und den Berichten der Lapplandmissionare vergleichsweise gut vertraut und zitiert Scheffer denkbar ausführlich: 89 Trommeln werden eingesetzt, um mit Unterstützung der Geisterwelt das eigene Schicksal vorauszusagen oder das der Rentiere, um in Erfahrung zu bringen, welche Opfer den Göttern genehm sind, und um Krankheiten zu heilen. Will man wissen, welche Strategien der Feind verfolgt oder über Ereignisse aus der Ferne informiert werden, lassen sich Hilfsgeister herbeirufen. Der Kundige schlägt die Trommel und beginnt einen Joik, eine cantilena, zu singen; die Umstehenden stimmen mit ein, bis der Trommler zu Boden fällt. Sein Geist verlässt ihn. Kommt er wieder zu sich, kann er wie ein Prophet, der in die Zukunft sieht, das Gewünschte berichten. Eine besondere Aufgabe erfährt die Ritualtrommel im Umfeld der großen Opferfeste. Wenn Bäive und Storjuncker gehuldigt wird, erteilen die Götter dem entrückten Trommler Auskunft, ob die Opfer angenommen wurden. Der ganze zweite Teil der Arbeit Laurbecks ist der Verurteilung dieser Praktiken gewidmet. Wie Christus seine Kirche durch die Kraft des Glaubens zusammenhält und in ihr Sakramente ein-

86 Petrus Hahn/Wilhelm Wargentinus (resp.), Dissertatio ideam panegyricae Satanicae exhibens, Turku

1697, Pars II, § 3, 15–25, zu den schamanischen Ritualen bes. 23f. 87 Unter vielen Beispielen Magnus Rydelius/Johannes Dahlgren (resp.), De magia daemoniaca, Lund

1729, dort zu den Samen § 7, 6f., § 20, 10; Johannes Valerius/Andreas Tolstadius (resp.), De magia naturali, Uppsala 1717, dort § 3, 5, § 9, 14f.; Georg Christoph Lemmius/Heinrich Hübner (resp.), De spectris, Greifswald 1690, q. 9, fol. B3r–B4r; Petrus Erich Liung/Olav Hiller (resp.), De praestigiis daemonum fraudibusque affinibus, Uppsala 1672, Theses 31–32, fol. C3vf. 88 Zu Laurbecks Arbeit über die Schamanentrommeln Bernd Roling, „Von der Magie zur Poesie“, 223f., und Ernst Manker, Die lappische Zaubertrommel, Bd. 1, 36f. Zur Gestalt Laurbecks selbst, der zu den großen Gelehrten seiner Heimatuniversität gehörte, Iiro Kajanto, Latina, kreikka ja klassinen humanismi Suomessa keskiajalta vuoteen 1828, Helsinki 2000, 95–98. 89 Petrus Laurbecchius/Nicolaus Forzelius (resp.), De tympanis magicis, Turku 1680, Membrum primum, §§ 3–4, fol. A3r–B2v, und passim.

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gerichtet hat, kennt die Kirche Satans, das teuflische Abbild der Kirche, die diabolische Magie als verbindendes Element. Alle necromantici, incantatores, veneficii und curatores morborum hyperphysicorum lassen sich zu ihr zählen und sind dem Bösen in einem Pakt verpflichtet, ob nun durch eigenen Willen oder als Folge ihrer Schwäche. 90 Selbst wenn es einem Heiler gelingen sollte, seinen Patienten durch einen Zauberspruch von seinem Leiden zu befreien, hatten beide in diesem Augenblick ihre Seele dem Teufel überschrieben. 91 Alle ekstatischen Erfahrungen eines Schamanen verdanken sich der Betäubung des Körpers durch einen Dämon und einem getäuschten Vorstellungsvermögen, ihre scheinbar inspirierte Kraft der Weissagung war ein teuflisches Schattenbild der wahren Prophetie. Hatte der Schlag der Trommel eine heilende Wirkung, so allein als Folge diabolischer Beteiligung. 92 All diese Einschätzungen richten sich, wie zu erwarten, gegen das Ritualwesen Lapplands, auch wenn sie eine umfassende Invektive gegenüber allen überkommenen ritualmagischen Praktiken miteinschließen. In den Priestern der Samen, so Laurbeck, finden sich die offenkundigen und derzeit bedrohlichsten Repräsentanten der satanischen Gegenkirche, ein Verbund von Schwarzpriestern, gegen die energisch vorgegangen werden muss. 93 Noch eine weitere Tendenz ist im schwedischen Umfeld, in Uppsala und in Lund, in den akademischen Diskussionen auffällig. Die Ausmerzung der okkulten Rituale der Schamanen und der Samen und Finnen im Allgemeinen war in den Augen vieler Professoren als nationales Anliegen zu begreifen, dessen Gelingen mit der Einheit und Überlegenheit des schwedisch-lutheranischen Imperiums gleichzusetzen war. Zum Feindbild waren auf diese Weise nicht allein die Einwohner Lapplands geworden, sondern mit ihnen gemeinsam alle finno-ugrischen und samojedischen Völkerschaften, die sich bis weit jenseits des Ladogasees in den Ural hinein und weiter auf russischem Imperium noch schamanischer Praktiken bedienten. Dass alle diese Völker in Russland lebten, mit dem man schon lange militärische Konflikte austrug, konnte diesen Invektiven nur entgegenkommen. Nachdrücklich feiert Samuel Klingenstierna, Professor der Mathematik und der Naturwissenschaften zu Uppsala, im Jahre 1732 in einer Schrift mit dem Namen De paganismo moderno die Ausrottung der Idolatrie in Lappland, Karelien und Finnland als Sieg des schwedischen Königshauses, den der russische Zar, wie Klingenstierna betont, noch zu erringen hatte. 94 Die Schamanen, schamanni, wie er sie nennt, der Samojeden, Ostjaken, Jakuten und Tungusen, warteten noch auf ihre Bekehrung, ihr Unglaube auf seine Ausmerzung. Andere Gelehrte der Zeit pflichten Klingenstierna bei. Anders Grönwall preist die Christianisierung Lapplands als zivilisatorische Leistung in einer Arbeit 90 91 92 93 94

Ebd. Membrum secundum, q. 2, fol. B4v–C4v, q. 3, fol. C4v–D3r. Ebd. Membrum secundum, q. 2, fol. C3v. Ebd. Membrum secundum, q. 5, fol. D4vf. Ebd. Membrum secundum, q. 1, fol. B2v–B4v. Samuel Klingenstierna/Carolus Petrus Liermann (resp.), De paganismo moderno in Europa, Uppsala 1732, § 7, 15 f. Einen biographischen Abriss der Gestalt Klingenstiernas, der als Freund Linnés zu den großen Figuren seiner Heimatuniversität zählte, liefern H. Hildebrand Hildebransson/Carl Wilhelm Oseen, Samuel Klingenstiernas levnad och verk (2 Bde.), Stockholm 1919–25.

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des Jahres 1721, die dem russischen Regenten noch bevorstand, vielleicht auch als Replik auf die Niederlage Karls XII. 95 Seinem Kollegen in Uppsala, Laurentius Arrhenius, der in seinem Traktat De religione Siberiensium das Spektrum der Völkerschaften Russlands berücksichtigt, entgeht, wie Strahlenberg nach ihm, nicht, dass die Tscheremissen ihre Kranken unter Zuhilfenahme von Gesängen und Amuletten heilen oder die Ostjaken und Wogulen während ihrer Rituale Trommeln verwenden, die sich mit den Instrumenten der Samen vergleichen lassen. 96 Alle vergleichbaren Praktiken lassen sich als Variante des Teufelskultes begreifen, so Arrhenius, ihre Wirksamkeit verdankt sich, wie man schon im Fall der Lappen bis zur Ermüdung wiederholt hatte, dämonischer Hilfestellung, ihre zahlreichen Kultbilder repräsentieren den Scheitan, den Teufel selbst. 97

4.3 Von der diabolischen Bedrohung zum Aberglauben Jene Äußerungen in der zweiten Dekade des 18. Jahrhunderts, die noch einmal den dämonischen Feind ins Blickfeld nahmen, waren gleichwohl die letzte Artikulation der althergebrachten lutheranischen Auseinandersetzung mit den Religionen der indigenen Völkerschaften im karolinischen Reich und vielleicht eher von politischem als religiösem Furor angetrieben. Wann fand die unter den Vorzeichen der Dämonologie stehende Diskussion schamanischer Phänomene an den skandinavischen Universitäten ihr Ende? Mit den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts waren die Hexenprozesse in Schweden endgültig zum Erliegen gekommen. Mehrere Ursachen hatten hierzu beigetragen. Das schwedische Imperium hatte seine offensive Position aufgegeben und nach dem Ende des Nordischen Krieges weite Teile seines Territoriums abgeben müssen, vor allem Estland und Livland, aber auch Karelien. Die Lappland-Mission war, wie wir sehen konnten, in den Augen der Zeitgenossen zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht worden, die pagane Gefahr

95 Andreas Grönwall/Andreas Swebilius (resp.), Zelus regum svevo-gothicorum in convertendis Lappis,

Uppsala 1721, § 2, 3–5. Ähnlich z.B. auch Samuel Chydelius/Henricus Wegelius (resp.), De oeconomia et moribus incolarum Lapponiae Kimiensis, Turku 1754, § 20, 23; oder Johann Bilmark/Karl Gustav Bernhard Alenius (resp.), Dissertatio academica statum politices et religionis in Lapponia Pitensi delineans, Turku 1769, §§ 1–2, 1–4. 96 Laurenthius Arrhenius/Petrus Bröms (resp.), De religione Siberiensium specimen academicum, Uppsala 1727, Pars 2, § 1, 13f. Eine Gruppe von mansischen ‚Elchgesängen‘, die als ein Zeugnis der trotz Umweltverschmutzung, rücksichtloser Ölindustrie und einer seit Jahrhunderten betriebenen Verschleppung dieser Volksgruppen noch immer lebendigen Kultur gelten kann, druckt z.B. Martá Csepregi, „The Elk Myth in Ob-Ugrian Folklore“, in Juha Pentikäinen/Péter Simonicsics (Hgg.), Shamanhood – an endangered language, Oslo 2005, 99–120, hier 108–120. 97 Laurenthius Arrhenius/Petrus Bröms, De religione Siberiensium, Pars 2, § 4, 22f., § 6, 26f. Dass die Zuschreibung des Teufelskults an die Schamanen keine Erscheinung des 18. Jahrhunderts sein muss, zeigen die Konversions- und Missionsberichte finno-ugrisch-samojedischer Völkerschaften, die bis in das 20. Jahrhundert reichen, so z.B. Laur Vallikivi, Arktika nomaadid šamanismi ja kristluse vahel. Jam-to neenetsite pöörumine baptismi, Tartu 2005, 107–120.

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verschwunden. 98 Tatsächlich aber hatte sich damit auch in der akademischen Theologie Schwedens die Haltung zur Magie, zu Ritualen und Zaubersprüchen, auf diese Weise aber auch zu den schamanischen Ekstasen langsam geändert und neue rationalistische Strömungen hatten sich durchgesetzt, die sich vor allem der cartesianischen und an Leibniz orientierten Philosophie verdankten. 99 Selbst wenn noch Dekaden vergehen sollten, bis der Vorwurf des Dämonenkultes endgültig aus den Schulbüchern und Katechismen Lapplands verschwinden sollte, 100 musste das samische Ritualwesen und die mit ihm verbundene Variante der Prophetie nicht mehr als verfolgungswürdige Herausforderung des Christentums betrachtet werden. Auch die Entwicklung hin zu bloßem Aberglauben, der den Ausschließlichkeitsanspruch des Christentums nicht mehr in Frage stellte, lässt sich an universitären Disputationen festmachen, die seit etwa 1720 gehalten werden. Johannes Thorwöste betreut im Jahre 1722 eine Arbeit mit dem Titel De effectibus fascino-naturalibus, die – ähnlich wie sein kontinentaleuropäisches Gegenstück Johannes Frommann vierzig Jahre vor ihm – versucht, die Tradition der magischen Beschwörungen aufzuarbeiten. 101 Das Bedrohungspotential der Magie ist in dieser Schrift weitgehend verschwunden. Die Rituale der Schamanen, wie sie in der bisherigen Literatur beschrieben worden waren, erweisen sich in ihrem Kern als wirkungslos. Auf der anderen Seite jedoch, so Thorwöste, gibt es verwandte Praktiken, actus naturales, die auf den ersten Blick den Anschein von Magie erwecken, doch auf natürlichem Wege eine heilende Wirkung entfalten können. 102 Für den Erfolg vieler Schamanen lässt sich hier eine Erklärung finden. Der Rhythmus einer Trommel kann eine beruhigende Wirkung, ein Gleichgewicht der Temperamente provozieren, die Rezitation von Versen oder gemeinsamer Gesang das Gemüt in einen ausgeglichenen 98 Zur späteren Missionsgeschichte Lapplands, die ebenfalls nicht von Konflikten frei war, z.B. die

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lokalgeschichtlich orientierten Arbeiten von Ritva Kylli, Kirkkon ja saamelaisten kohtaainen Utsjoella ja Inarissa, 1742–1886, Rovaniemi 2005, oder Anton Hoëm, Fra noaidiens verden til forskerens. Misjon, kunnskap og modernisering i sameland 1715–2007, Oslo 2007, dort mit reichlich Literatur. Die langwierige Durchsetzung der neuen Philosophien an den skandinavischen Universitäten beschreiben z. B. Rolf Lindborg, Descartes i Uppsala. Striderna om ‚nya filosofien‘ 1663–1689, Göteborg/Uppsala 1965, 67–338; Maija Kallinen, Change and Stability, 273–363; oder kurz Seppo J. Salminen, „Barokin filosofis-teologisen synteesin hajoaminen maassamme“, in Suomen Kirkkohistoriallisen Seuran vuosikirja 73 (1983), 52–84, hier 59–70; auch Bernd Roling, „Aristoteles zwischen melanchthonschem Bildungssystem, Paracelsismus und Descartes: Die Diskussion des LeibSeele-Problems an den schwedischen Universitäten des 16. und 17. Jahrhunderts“, in Rolf Darge/ Günter Frank (Hgg.), Der Aristotelismus an den europäischen Universitäten der frühen Neuzeit, Stuttgart 2009, 203–236. Zur langen Nachwirkung der Teufelsidee, auch im samischen Selbstverständnis, Brita Pollan, For djevelen er alt mulig. Kristne historier om samene, Kristiansand 2007, z.B. 49–72. Eine Zusammenfassung der berühmten Arbeit Thorwöstes geben AnnaMari Sarajas, Studiet av folkdiktningen i Finland intill slutet av 1700-talet, Stockholm 1982, 110–113; kurz auch Marko Nenonen, Noituus, 34. Johannes Thorwöste/Gabriel Maxenius (resp.), De effectibus fascino-naturalibus, Turku 1732, § 1, 4 f., § 5, 14–17.

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Zustand versetzen und geistige Blockaden lösen. Die alten Philosophen, so Thorwöste, hatten hier von den causae occultae gesprochen, derer sich die Ärzte und Magier gleichermaßen bedienten, und der Sympathie und Antipathie. 103 1744 lässt Johannes Browallius in Turku noch einmal über den Schamanen disputieren, unter dem Titel De superstitionibus in patria, ‚Vom Aberglauben in der Heimat‘. 104 Beim Finnen Browallius ist nun endgültig von ungefährlichen Praktiken die Rede, die nicht länger bekämpft werden mussten, und nicht mehr von dämonischen Anfechtungen. Okkultes Wissen konnte nur als Wissen erscheinen, wenn seine Abhängigkeit von naturwissenschaftlichen Kenntnissen erkannt wurde. Es hatte wenig Sinn, so Browallius, einen Kranken durch eine Zauberformel und einen Hilfsgeist kurieren zu wollen; die Heilkräuter eines indigenen Priesters dagegen konnten ihre Wirkung sehr wohl entfalten. 105 Im gleichen Zusammenhang erinnert Browallius an die zahllosen Delinquenten, gerade die Finnen und Samen, die in Schweden wegen falscher Beschuldigungen in Hexenprozessen unschuldig ums Leben gekommen waren. Dieses Vorgehen musste ein Ende haben, denn nie war von ihnen eine Gefahr ausgegangen. 106

5. Schluss Fast zeitgleich mit dieser vielleicht endgültigen Entwertung der paganen Ekstase, die nun nicht mehr dämonisiert werden musste, im Jahre 1742, geriet Emanuel Swedenborg auf seiner Suche nach der Natur der menschlichen Seele in jene Lebenskrise, die aus dem vormaligen berühmten Naturwissenschaftler und Akademiemitglied den Propheten werden ließ. Seit der Mitte der vierziger Jahre konferierte Swedenborg regelmäßig mit der Welt der Geister und Engel; fast täglich nach dem frugalen Frühstück und dem Teller Mehlsuppe trugen diese Engel ihn in ihre Welt und ließen ihn an ihren Mysterien Anteil haben. Baustein für Baustein errichtete Swedenborg zwei Jahrzehnte lang aus dieser Fülle von Entrückungen und Gesichten sein gewaltiges theologisches Gebäude, das mit den mehrbändigen Arcana coelestia seinen Anfang nahm und dessen reale Dimensionen er selbst 103 Ebd. § 7, 22–25. Zur Gänze ausschließen möchte Thorwöste die Kraft des Teufels freilich noch nicht,

dazu auch ebd. § 3, 9–12. Ob der regelmäßige Schlag der Schamanentrommel wirklich psychohygienische Wurzeln hatte, diskutieren z.B. Sandra D. Harner/Warren W. Tryon, „Psychoimmunological effects of shamanic drumming“, in Mihály Hoppál/Juha Pentikäinen (Hg.), Northern Religions and Shamanism, Budapest 1992, 196–204. 104 Auch zur Arbeit des Johannes Browallius kurz AnnaMari Sarajas, Studiet av folkdiktningen, 121; zu seiner Person allgemein z.B. Matti Klinge, Professorer. 35 professorer under lika många årtionden vid Kungliga Akademien i Åbo senare Kejserliga Alexanders-Universitet numera Helsingfors Universitet, Jyväskylä 1989, 58–64. 105 Johannes Browallius/Laurentius Trolle (resp.), Meletema de superstitionibus in Patria, Turku 1744, § 17, 15–17. 106 Ebd. § 16, 14 f. Ähnlich in Uppsala z.B. Johann Ihre/Jonas Moman (resp.), De superstitionibus hodiernis ex gentilismo residuis, Uppsala 1750, c. 3, §§ 2–6, 42–62.

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in der Geisterwelt durchmessen und durchwandert hatte. Was sich in ihm vollendet hatte, konnte auch einen Anfang besitzen. Die Offenbarungen der Alten Welt, ihre anthropomorphen Götter, die so wunderbar der menschlichen Struktur der überirdischen Welt entsprachen, die Swedenborg selbst als Makrokosmos vor Augen schwebte, und die in Delphi zu Wort gekommen waren, ebenso wie ihr Gegenstück in den Weiten der sibirischen Einöde, das gelebte Prophetentum der Schamanen, es mochte für die Mehrzahl der Theologen des Jahres 1750 als solide Psychologie oder Autosuggestion entlarvt worden sein; Swedenborg konnte ihm einen anderen Platz einräumen. Wenn seine Kontaktaufnahme zur Welt der Engel, die ihm selbst die Möglichkeit gab, die Grenzen des Christentums zu sprengen, alle bisherigen Lesarten der Heiligen Schrift zu falsifizieren und die Prophetie mit neuem Leben zu füllen, eine legitime Fortführung der prophetischen Traditionen sein konnte, gab es auch Raum für Offenbarungen anderer Art. Vielleicht hatte Swedenborg in den Schamanen, die mit der Geisterwelt einen persönlichen Umgang pflegten, einen Vorgänger seiner eigenen Erfahrungen mit der transzendenten Welt gesehen und eine Entsprechung der Entrückungen, die ihm über die Jahre ebenso zur Gewohnheit geworden waren, wie einem Schamanen der Samen, Jakuten oder Tungusen. Vielleicht war jemand, der selbst jeden Tag mit den Engeln sprach, also tatsächlich bereit, im Repräsentanten einer archaischen Naturreligion einen Geistesverwandten zu finden. Zumindest in der Heilsgeschichte Swedenborgs und seinem Neuen Jerusalem hatte die so lange bekämpfte Urprophetie daher, wie es scheint, auf diese Weise ihre Heimat finden können.

Alberto Saviello

Der Prophet als Poet Bildliche Darstellungen Mohammeds in westeuropäischen Koranübersetzungen und Prophetenviten als Reflexionsmedien der Kunst*

1. Die Unnachahmlichkeit des Korans (i ˘ga¯ z al-qur¯an) gilt im Islam als eindeutiger Beweis für seinen göttlichen Ursprung. 1 Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Offenbarung werden im Koran selbst an mehreren Stellen mit der Herausforderung gekontert, auch nur eine Sure zu schaffen, die denen des Propheten gleichkomme. So heißt es etwa in Sure 2:23 nach der Übersetzung von Rudi Paret: ‚Und wenn ihr hinsichtlich dessen, was wir auf unseren Diener (als Offenbarung) herabgesandt haben, im Zweifel seid, dann bringt doch eine Sure gleicher Art bei und ruft, wenn (anders) ihr die Wahrheit sagt, an Gottes Statt eure (angeblichen) Zeugen an!‘ 2 * Eine eingehende Untersuchung der historischen Wahrnehmung und Darstellung des Propheten Mo-

hammed in Westeuropa fand durch das Forschungsprojekt Crossing Boundaries, Creating Images: In Search of the Prophet Muhammad in Literary and Visual Traditions am Kunsthistorischen Institut in Florenz/Max-Planck-Institut unter der Leitung von Prof. Avinoam Shalem statt. Als Mitarbeiter dieses Projektes konnte ich 2011 meine Dissertation Bildliche Darstellungen des Propheten Mohammed in Koranübersetzungen und Prophetenviten im westeuropäischen Buchdruck vom Ende des 15. bis ins 19. Jahrhundert abschließen. Bereits erschienen sind die im Projekt entstandenen Arbeiten von Michelina Di Cesare, The Pseudohistorical Image of the Prophet Muḥammad in Medieval Latin Literature: A Repertory (Studien zur Geschichte des Orients 26), New York/Berlin 2011; sowie Avinoam Shalem (Hg.), Constructing the Image of Muhammad in Europe, Berlin/Boston 2013. Zwei weitere Publikationen sind in Vorbereitung: Christiane Gruber/Avinoam Shalem (Hgg.), The Image of the Prophet between Ideal and Ideology. A Scholarly Investigation, sowie meine Dissertation Alberto Saviello, Imaginationen des Islam: Bildliche Darstellungen des Propheten Mohammed im westeuropäischen Buchdruck bis ins 19. Jahrhundert. Die Umschrift arabischer Wörter in diesem Aufsatz folgt den Vorgaben der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. 1 Vgl. Hartmut Bobzin, Der Koran. Eine Einführung, München 62006, 119. 2 Der Koran, übers. v. Rudi Paret, Stuttgart [u.a.] 21982, 8. Alle weiteren Koranzitate richten sich nach dieser Übersetzung.

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Dieser und die anderen sogenannten taḥadd¯ı-Verse verstehen sich nicht, wie es vielleicht zunächst den Anschein hat, als Aufruf zu einem Dichterwettstreit. 3 Zwar wird in islamischen Quellen die einzigartige Schönheit der Sprache des Korans besonders hervorgehoben, seine Unnachahmlichkeit gründe indes nicht primär auf seinem spezifischen Stil und seiner Form, sondern, wie Matthias Radscheit herausgestellt hat, auf der Wahrhaftigkeit und Unwiderlegbarkeit seiner prophetischen Botschaft als der eines Bundes zwischen Gott und den Menschen. 4 Damit postulieren die taḥadd¯ı-Verse das für die Prophetie charakteristische triadische Stufenmodell einer Transmission der Botschaft von Gott über den Propheten an die Gemeinde und markieren mit dem göttlichen Ursprung zugleich den entscheidenden Unterschied zwischen der koranischen Prophezeiung und anderen zeitgenössischen Formen mantischer Rede. Die Sprechweisen, von denen sich die Suren des Propheten absetzen mussten, waren die des sh¯a ir, des Dichters, und die des k¯ahin, des Sehers. 5 Beiden Gruppen wurde im präislamischen Arabien die Fähigkeit inspirierten Sprechens zuerkannt, wobei aber der Ursprung der öffentlichen Rede beim sh¯a ir in der Kunst und beim k¯ahin in den Geistern lag, die sich seiner als Sprachrohr bedienten. 6 Beide Inspirationsquellen schieden für den Koran als Grundlage eines monotheistischen Glaubens aus. Weder durfte die Offenbarung ein Produkt menschlicher Imagination und Kunstfertigkeit sein, noch durfte sie sich aus einer irgendwie geisterhaften oder dämonischen Eingebung speisen. Gott allein kam als Urheber des Korans und als dessen ultimative Legitimation in Frage. Gerade in den frühen mekkanischen Suren finden sich daher zahlreiche Verse, in denen sich der Prophet davor verwahrt, mit einem Dichter, einem Seher oder gar einem ma˘gn¯un,

3 Vgl. ebenso die Suren 17:90 und 28:49. 4 Diese sogenannten taḥadd¯ı-Verse beziehen sich nach theologischer Auslegung nicht primär auf den

Sprachstil des Korans. „Sie weisen vielmehr auf die Unwiderlegbarkeit der prophetischen Botschaft vom Bund Gottes mit den Menschen hin“, Matthias Radscheit, Die koranische Herausfoderung. Die taḥadd¯ı-Verse im Rahmen der Polemikpassagen des Korans, Berlin 1996, 99. Thomas Bauer sieht das Verhältnis des Korans zur frühen arabischen Dichtung durch eine ‚negative Intertextualität‘ geprägt, da Sprache und Stil des Korans auf eine bewusste Vermeidung der Merkmale arabischer Dichtung schließen lassen. Vgl. Thomas Bauer, „The Relevance of Early Arabic Poetry for Qur’anic Studies Including Observations on Kull and on Q 22:27, 26:225, and 52:31“, in Angelika Neuwirth/Nicolai Sinai/Michael Marx (Hgg.), The Qur¯an in Context. Historical and Literary Investigations into the Qur¯anic Milieu, Leiden/Boston 2010, 699–732. An Bauer anknüpfend sieht Neuwirth den Koran als eine Form „religiöser Dichtung“, die jedoch stark durch die Abgrenzung und Abwandlung von anderen zeitgenössischen Formen öffentlicher Rede bestimmt ist. Vgl. Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin 2010. 5 Zu den unterschiedlichen Typen mantischer Rede im präislamischen Arabien vgl. Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike, 681–696; Michael Zwettler, „A Mantic Manifesto: The S¯ura of „The Poets“ and the Qur¯anic Foundations of Prophetic Authority“, in James L. Kugel (Hg.), Poetry and Prophecy: the Beginnings of a Literary Tradition, New York 1990, 75–119. 6 Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike, 682f. Zum sh¯a ir als Künstler vgl. Thomas Bauer, „The Relevance of Early Arabic Poetry“, 728.

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einem von einem Dschinn besessenen ‚Verrückten‘, verwechselt zu werden. 7 In Sure 69: 40–43 heißt es: ‚Er [der Koran] ist die Aussage eines vortrefflichen Gesandten, nicht die eines Dichters. Wie wenig gläubig seid ihr! (Er ist) auch nicht die Aussage eines Wahrsagers. Wie wenig laßt ihr euch mahnen! Er ist (vielmehr als Offenbarung) vom Herrn der Menschen in aller Welt (al- ¯alam¯un) herabgesandt.‘

Die so geleistete Distinktion, die den Koran als das Produkt göttlicher Eingebung (waḥy) von den anderen Formen des Sehertums abhebt, markiert das der Prophetie seit jeher inhärente Spannungsverhältnis zwischen menschlicher Imagination, übersinnlicher Inspiration und göttlicher Offenbarung beziehungsweise, um die Problematik im Folgenden auf zwei Pole zu verdichten, zwischen künstlerischem Ausdruck und religiöser Offenbarung. Bei der Verhandlung und Definition genau dieses Grenzbereiches spielte die Figur des Propheten Mohammed auch in den Darstellungen im westeuropäischen Buchdruck eine eminente Rolle. An Mohammed, dessen unbestreitbarer Erfolg aus Sicht der christlichen Autoren und Künstler einer Erklärung bedurfte, ließ sich exemplifizieren und problematisieren, was einen wahren von einem falschem Propheten unterscheide. Wenn es dabei oberflächlich meist darum ging, den islamischen Propheten zu Gunsten der christlichen Lehre zu diffamieren, diente der sich in der Figur des „falschen Propheten Mohammed“ abbildende Diskurs zugleich dazu, jene auch im Christentum stets prekäre Demarkation zwischen Kunst und Religion zu verhandeln und damit nicht zuletzt die Kunst auf ihre eigentliche Natur hin zu befragen. 8 Anhand exemplarisch ausgewählter, bildlicher Darstellungen Mohammeds aus Koranübersetzungen und Prophetenviten werden im Folgenden einige der von den europäischen Interpreten angewandten Strategien der Anerkennung beziehungsweise der Ablehnung Mohammeds als eines göttlichen Gesandten vorgestellt und bezüglich der von ihnen abzuleitenden Modelle prophetischer Autor- und Künstlerschaft erörtert.

7 So heißt es in Sure 52:29–30: ‚Mahne nun (mit dem Koran)! Du bist ja dank der Gnade deines Herrn

weder ein Wahrsager noch besessen (wie die Ungläubigen behaupten). Oder sie sagen: ‚(Er ist) ein Dichter. Wir wollen abwarten (und sehen), was das Schicksal an unvorhergesehenem (Unheil) für ihn bereit hat.‘ ‘ Wie Thomas Bauer gezeigt hat, werden die Dichter in der gleichnamigen 26. Sure des Korans als ‚Lügner‘ herausgestellt und wird so ihre künstlerische Rede als ein Trugbild entlarvt. Vgl. Thomas Bauer, „The Relevance of Early Arabic Poetry“, 725–730. 8 Einen historischen Überblick über dieses Thema gibt Horst Schwebel, Die Kunst und das Christentum. Geschichte eines Konflikts, München 2002. Das kunsthistorische Standardwerk zu dieser Thematik ist Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 62004.

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2. Darüber, dass Mohammed der eigentliche Verfasser des Korans und dieser wiederum ein menschliches Machwerk und eben keine Gottesbotschaft sei, bestand im christlichen Europa lange Zeit kein Zweifel. Die apologetischen Autoren betrachteten den Islam als ein konkurrierendes Glaubenssystem, weshalb sie sich bemühten, den Koran in aller Schärfe von der als wahrhaftige Offenbarung verstandenen Bibel zu unterscheiden. Dabei bedienten sie sich unterschiedlicher Methoden, denen jedoch gemeinsam war, dass sie den von Mohammed behaupteten göttlichen Ursprung seiner Botschaft bestritten. Zwei der von den christlichen Autoren verwendeten Topoi sind dabei von gleichsam kunsttheoretischer Relevanz. Eine Möglichkeit, die Falschheit des Korans zu behaupten und dabei zugleich seine weite Verbreitung und zahlreiche Anhängerschaft zu erklären, war die Identifizierung Mohammeds mit dem Antichrist. Bereits in einem der frühsten christlichen Berichte über den Islam wurde Mohammed als dessen Vorläufer und später, verstärkt im 15. und 16. Jahrhundert, auch selbst als Antichrist bezeichnet. 9 Dabei wurden der islamische Prophet und sein Koran als gezielte Nachahmungen Christi und der Heilslehre vorgestellt, wobei die vermeintlich oberflächliche Ähnlichkeit des Islam zur ‚wahren Religion‘ dazu gedient habe, die Menschen zu täuschen und in die Irre zu leiten. 10 Zu diesem von christlichen Apologeten literarisch wie bildnerisch zum Teil effektvoll eingesetzten Topos gab es parallel eine weitere Methode, den ‚falschen‘ von den wahren Propheten zu unterscheiden. 11 Dabei wurde das Grundmotiv einer durch die Imitation des Christentums erziel9 So etwa in dem sogenannten De Haeresibus Liber des Johannes von Damaskus (um 650–vor 754),

der Mohammed als Vorläufer des Antichrist bezeichnet. Vgl. Norman Daniel, Islam and the West. The making of an image, Edinburgh 1960, 3–5; Hartmut Bobzin, Mohammed, München 32006, 9–10. Zur Darstellung Mohammeds als Antichrist in lateinischen Viten vgl. Suzanne Conklin Akbari, „The Rhetoric of Antichrist in Western Lives of Muhammad“, in Islam and Christian-Muslim Relations 8/3 (1997), 297–307. Die These, Mohammed sei ein oder der Antichrist, findet sich in der westeuropäischen Auseinandersetzung mit dem Islam durchgängig und hat, wie eine Internetrecherche leicht zeigt, auch heute, vor allem in radikal-christlichen Kreisen, weiterhin ihre Anhänger. 10 Peter von Cluny (Petrus Venerabilis), der die erste Übersetzung des Korans in die lateinische Sprache in Auftrag gab, schrieb etwa in seiner Widerlegung des Korans (Summa totius haeresis Saracenorum), dass Mohammed das Buch aus einer Zusammenfügung der ‚Fabeln der Juden‘ (ex fabulis Iudaicis) und der ‚gewöhnlichen Lieder‘ der Häretiker (ex hereticorum naeniis) gefertigt habe. Dass Mohammed dabei in Anlehnung an die Bibel behaupte, die Offenbarung sei ihm durch den Erzengel Gabriel übermittelt worden, vergleicht Peter mit einem Giftbecher, dessen Rand mit Honig bestrichen worden sei, damit der Trinkende das Gift nicht schmecke. Vgl. James Kritzeck, Peter the Venerable and Islam, Princeton 1964, 132. 11 Die Beispiele sind zahlreich: In William Percys um 1601 entstandenem Theaterstück Mahomet and His Heaven erscheint Mohammed auf der Bühne als Weltenrichter, wobei er die traditionelle christliche Ikonographie jedoch spiegelbildlich verkehrt. Denn statt mit der linken verdammt er die Verurteilten mit seiner rechten Hand, während er die Geretteten mit der linken erhebt. Vgl. William Percy’s Mahomet and His Heaven. A critical Edition, hg. v. Matthew Dimmock, Aldershot 2006, 33, 164. Ein

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ten Täuschung beibehalten, auf eine theologisch-eschatologische Auslegung Mohammeds jedoch verzichtet. Stattdessen präsentierten die Künstler und Autoren den arabischen Propheten als einen lediglich trickreichen Scharlatan und Betrüger. Eine seit dem 13. Jahrhundert in lateinischen Quellen auftauchende und bis in 18. Jahrhundert besonders populäre Geschichte berichtet, dass Mohammed eine Taube abgerichtet habe, sich auf seine Schulter zu setzen und ihm Samenkörner aus dem Ohr zu picken. 12 Mit diesem Trick soll es ihm gelungen sein, den Arabern weiszumachen, der Heilige Geist spräche zu ihm. Eine dem Meister von Luçon zugeschriebene um 1410 entstandene Buchmalerei in einer französischen Übersetzung von Giovanni Boccaccios De casibus virorum illustrium libri novem zeigt Mohammed als Kanzelprediger, wie er das fingierte Wunder vor einer Gruppe orientalisch gekleideter Zuhörer inszeniert (Abb. 1). In der Auslegung des Illuminators ahmt der arabische Prophet hier ein christliches Motiv nach, wie es etwa für Gregor den Großen und andere Kirchväter bekannt ist, die ebenfalls mit der Heiliggeisttaube als göttlich inspirierte Autoren und Lehrer vorgestellt wurden. 13 Dass Mohammed mit seiner Inszenierung auf Gregor den Großen rekurriert und für sich ebenfalls die Rolle eines Religionsführers reklamiert, wird durch das von ihm getragene päpstliche Gewand und die Tiara verdeutlicht. Mohammed erscheint als eine Art Schauspieler und Illusionist, der, wie es in Boccaccios Text heißt, über spezielle ‚Künste‘ (artes) verfügte. 14 Beispiel aus der bildenden Kunst ist der Holzschnitttitel der ersten von Andrea Arrivabene in Venedig publizierten italienischen Koranübersetzung L’Alcorano di Macometto, nel quale si contiene la doctrina, la vita, i costumi, e le leggi sue. Sie zeigt auf ihrem Titelblatt sechs Szenen aus dem Leben Mohammeds, die auf den ersten Blick wie Darstellungen aus dem Leben Christi und christlicher Heiliger erscheinen. In der letzten Szene wird Mohammed jedoch als gehörnter Antichrist gezeigt und seine vorherige Heiligenähnlichkeit als Trug entlarvt. Eine ausführlichere Behandlung des AntichristTopos und des Holzschnitttitels in Alberto Saviello, „Muhammad’s Multiple Faces: Printed Images of the Prophet in Western Europe“ in Avinoam Shalem (Hg.), Constructing the Image of Muhammad in Europe, 87–141. 12 Diese Geschichte gehe nach dem Speculum historiale (1256) des Vincent von Beauvais auf einen bisher nicht klar zu identifizierenden Libellus in partibus transmarinis de Machometi fallaciis zurück und wurde vor allem durch das Speculum und die Legenda aurea (um 1273) des Jacobus de Voragine im lateinischen Westen verbreitet. Vgl. Annette Seitz, „Darstellungen Mohammeds und seiner Glaubenslehre in lateinischen Weltchroniken“, in Michael Borgolte (Hg.), Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft, Berlin 2008, 116–130, hier 123. Zur Darstellung Mohammeds in der Legenda aurea vgl. Stefano Mula, „Muhammad and the saints. The history of the Prophet in the ‚Golden Legend‘“, in Modern Philology 101/2 (2003), 175–188. Zweifel an dieser Anekdote, die sich in keiner der arabischen Quellen nachweisen lässt, wurden erstmals von dem englischen Orientalisten und Oxforder Professor Edward Pococke angemeldet. Vgl. Edward Pococke, Specimen historiae Arabum, sive Gregorii Abul Farajii Malatiensis: de origine & moribus Arabum succincta narratio, in linguam Latinam conversa [. . .], Oxford 1650, 186–187. Dennoch findet sich die Legende vor allem in der Kinder- und Jugendliteratur bis ins 19. Jahrhundert. 13 Die Heiliggeisttaube erscheint bisweilen auch in den bildlichen Darstellungen anderer lateinischer Kirchenväter, am häufigsten jedoch bei Gregor dem Großen. Zu dieser Ikonographie in der christlichen Buchmalerei vgl. Johann Konrad Eberlein, Miniatur und Arbeit, Frankfurt a.M. 1995, 11–114. 14 Giovanni Boccaccio, De Casibus Virorum illustrium, in Tutte le opere di Giovanni Boccaccio, hg. v. Pier Giorgio Ricci/Vittorio Zaccaria, 12 Bde., Mailand 1983, 9. Bd., Liber 9, Kap. I, 748: Post quos

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Hinsichtlich des Motivs der Imitation entsprechen sich die zur Diffamierung Mohammeds angewandten Topoi vom Antichrist und Betrüger. In beiden Fällen wird seine Offenbarung als eine Täuschung, eine durch teuflischen Trug oder künstlerische Mittel erzeugte Nachahmung des Christentums präsentiert, durch welche der Islam zwar eine oberflächliche Attraktivität besitze, aber unweigerlich in das Verderben führe. Bemerkenswert ist, dass die so vollzogene Definition von falscher Prophetie Mohammed und seine Lehre in die Nähe der Kunst rückt, die von Platon und Aristoteles bis in die Frühe Neuzeit ebenfalls unter dem Paradigma der Nachahmung (mimesis/imitatione) betrachtet wurde. 15 Abb. 1. Hinsichtlich ihrer Kunst beziehungsweise Künstlichkeit bot auch die Sprache des Korans den christlichen Autoren Anlass zu Kritik. 16 In seiner deutschen Übersetzung der Confutatio Alcorani des Dominikanermönches Ricoldo da Montecroce (um 1243–1320) fügte Martin Luther dem Hinweis auf die poetische Verfasstheit des Korans seine eigene Ablehnung einer solchen Form für religiöse und andere autoritative Texte hinzu: Der Alcoran helt nicht die weise zu reden wie die heilige Schrifft. Denn er ist aus auff Reim weise oder Poetisch gestellet, wie man die Lieder zu singen macht. Solche weise aber zu reden, ist nicht allein wider die heilige Schrifft, Sondern auch wider aller Philosophen, Rechte und andere lere Buecher, on wo die gesenge sind, Denn es schickt sich nicht, wenn einer predigen, leren oder fur gericht reden solt, das er daher keme mit reimen gefasst, als wolt er ein Lied singen oder Lotterbuebisch spielen. 17

– cum ego summa cura spectabam – seductor ille nequam Mahumeth veniebat, cuius artes quam libentissime audissem novit Deus, et qualiter post prophete nomen assumptum legesque letiferas datas in suam luxuriam, deperisset. Sed mulier quedam [Brunichilde], imo demon, adveniens me his abstulit. Erst in der französischen Übertragung durch Laurent de Premierfait (um 1380–1418) erhält auch Mohammed die Möglichkeit, seine Geschichte zu erzählen. 15 Zur komplexen Geschichte des Begriffs in der Kunsttheorie vgl. Valeska von Rosen, „Nachahmung“, in Ulrich Pfisterer (Hg.), Metzler Lexikon der Kunstwissenschaft. Ideen Methoden Begriffe, Stuttgart/ Weimar 2003, 240–244. 16 Allerdings blieb die Thematisierung der poetischen Sprache des Korans bis ins 18. Jahrhundert die weitgehende Ausnahme. Zur Stilkritik des Korans seitens deutscher Gelehrter und Orientalisten vgl. Stefan Wild, „Die schauerliche Öde des heiligen Buches. Westliche Wertungen des koranischen Stils“, in Alma Giese/Christoph J. Bürgel (Hgg.), Gott ist schön und er liebt die Schönheit, Festschrift für Annemarie Schimmel zum 7. April 1992, Bern [u.a.] 1994, 429–444. 17 Ricoldo da Montecroce/Martin Luther, Ricoldus de Montecrucis Confutatio Alcorani (1300). Martin Luther, Verlegung des Alcoran (1542). Kommentierte lateinisch-deutsche Textausgabe (Corpus Islamo-Christianum 6), hg. v. Johannes Ehmann, Würzburg/Altenberge 1999, 56, Kap. 3. Die nicht kursivierte Passage ist eine Hinzufügung Luthers und findet sich nicht in dem lateinischen Original.

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Die Meinung, Mohammed habe die göttliche Offenbarung mittels fingierter Wunder imitiert und in poetischer Sprache verfälscht, verdichtete sich im 17. Jahrhundert in dem Epitheton Der falsche Prophet, das vor allem den im europäischen Buchdruck zu dieser Zeit erstmals aufkommenden ‚Bildnissen‘ Mohammeds beinahe unumgänglich angeheftet wurde. 18 Die von den europäischen Künstlern erfundenen, Mohammed meist als ehrwürdigen Mann präsentierenden Porträts standen dabei oft in sichtbarem Widerspruch zu den darauffolgenden Beschreibungen seiner Person als absolut skrupellos, lüstern und verbrecherisch. Ein sprechendes Beispiel ist die erste deutsche Direktübersetzung des Korans durch den Frankfurter Professor und Pastor David Friedrich Megerlin (1699– 1778) aus dem Jahr 1772. Auf dem Frontispiz des Buches mit dem Titel Die türkische Bibel, oder der Koran blickt der Leser einem Mann ins Antlitz, dessen aufrechte Haltung und nachdenklicher Blick, ebenso wie seine nicht übermäßig prunkhafte, aber durchaus edle orientalische Kleidung einen positiven Eindruck erwecken (Abb. 2). 19 Erst die auf dem Sockel des Bildnisses ‚ergänzte‘ Bildunterschrift, die als in gotischen Lettern gegebener Schriftzug im Gegensatz zu dem in römischer Kapitale eingravierten Namen MAHVMED den Anschein erwecken soll, als handle es sich um eine moderne Zutat auf einem antiken Porträt, klärt den Betrachter darüber auf, dass dieser Mann ein falscher Prophet sei. Die Differenz zwischen dem visuellen Eindruck und der durch den Text folgenden Aburteilung ist gewollt, dient sie doch gleichsam als Beweis für das dem Propheten unterstellte betrügerische Talent der Verstellung. Das Bild des attraktiven, aber innerlich angeblich verkommenen, hier in der Form des Autorenbildnisses als Verfasser des Buchs präsentierten Mohammed formuliert somit noch vor Beginn der Lektüre eine Warnung an den Leser, sich weder von dem falschen Propheten noch von dem vielleicht ebenso als interessant empfundenen Inhalt seines Glaubensbuches in die Irre leiten zu lassen. Als Vorlage für das Brustbildnis des passend zum Titel türkische Bibel in einem osmanischen Kaftan und Turban erscheinenden Mohammed diente dem Illustrator Johann Michael Zell (1740–1815) ein Stich aus einer früheren deutschen Koranedition, die der lutheranische Superintendent David Nerreter (1649–1726) 1701 nach der lateinischen

18 Zur Tradition bildlicher Darstellungen Mohammeds in der islamischen Kunst vgl. Oleg Grabar/Mika

M. Natif, „The Story of Portraits of the Prophet Muhammad“, in Studia Islamica 96 (2003), 19–38; Christiane Jacqueline Gruber, The Ilkhanid book of ascension. A Persian-Sunni devotional tale, London/New York 2010; dies., „Between logos (Kalima) and light (N¯ur). Representations of the Prophet Muhammad in Islamic painting“, in Murqanas 26 (2009), 1–34; dies., El Libro de la Ascensión Mi’rajnama Timurida. The Timurid Book of Ascension (Mi’rajnama). A Study of Text and Image in a Pan-Asian Context, Valencia 2008. 19 David Friedrich Megerlin, Die türkische Bibel, oder des Korans allererste teutsche Übersetzung aus der arabischen Urschrift selbst verfertigt [. . .], Frankfurt a.M. 1772. Bereits der Titel „türkische Bibel“ weist darauf hin, dass Megerlin dem muslimischen Glaubensbuch jede Eigenständigkeit abspricht. Vgl. Elena Daum, „David Friedrich Megerlin“, in Hartmut Bobzin/Peter M. Kleine (Hgg.), Glaubensbuch und Weltliteratur. Koranübersetzungen in Deutschland von der Reformationszeit bis heute, Arnsberg 2007, 30.

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Abb. 2.

Übersetzung Lodovico Marraccis (1612–1700) gefertigt hatte. 20 Entsprechend dem auf dem Rahmen des Bildnisses hinzugefügten Label vom falschen Propheten ist auch die Charakterisierung, die Megerlin in seinem Vorwort von Mohammed gibt: Der Koran sei ein von Mohammed verfasstes Lügenbuch, geschrieben, um die Menschen zu verführen und die wesentlichen Hauptwahrheiten des Christlichen Glaubens zu verdunkeln. 21 Zudem bekennt Megerlin seine feste Überzeugung, Mohammed sei der größte Antichrist. 22 20 Allerdings ist Nerreters Sichtweise des Islam weit aufgeklärter und vielschichtiger als die Meger-

lins. Für eine ausführliche Analyse der Darstellung Mohammeds bei Nerreter vgl. Alberto Saviello, „Muhammad’s Multiple Faces“, 121–124. 21 David Friedrich Megerlin, Die türkische Bibel, 11. 22 Ebd. 25.

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Diese unter den Gelehrten der Zeit weitgehend als überholt geltende Sichtweise brachte Megerlin ebenso wie die Qualität seiner Übersetzung harsche Kritik ein. Eine in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen publizierte Buchbesprechung ging besonders hart mit der Türkischen Bibel ins Gericht. Der anonyme, wahrscheinlich mit Johann Gottfried Herder zu identifizierende Autor dieser Rezension nannte Megerlins Übersetzung nicht nur eine elende Produktion, sondern äußerte auch das Desiderat, dass einmal eine Übersetzung von einem Deutschen verfertigt würde, der mit allem Dichter- und Prophetengefühl in seinem Zelte den Koran läse, und Ahndungsgeist genug hätte, das Ganze zu erfassen. 23 Nur ein Jahr später erschien mit der Arbeit des Quedlinburger Oberhofpredigers Friedrich Eberhard Boysen (1720–1800) eine weitere Direktübersetzung des Korans ins Deutsche, die diesem Wunsch schon weit näher kam. Boysens Interesse am Koran war, wie er im Vorwort schreibt, anders als Megerlins nicht polemisch, sondern literarisch motiviert. So lobt Boysen ausdrücklich den feurigen Witz, [die] Scharfsinnigkeit und [. . .] glückliche Einbildungskraft 24 Mohammeds, der seine Gedanken nicht immer in den engen Grenzen einer matten und einförmigen Prose habe halten können. 25 Zugleich erkennt er die Wiedergabe der poetischen Sprache des Korans erstmals als eine Aufgabe des Übersetzers an. 26 Jedoch räumt er ein, dass er es nicht vermochte, das Melodische, welches die Urschrift im vorzüglichen Grade hat und das lebhafte Gefühl des Dichters in der Übersetzung wiederzugeben. 27 Ja, er zweifle gar daran, dass sich die Antriebe des orientalischen Geistes in unsere Sprache übertragen ließen, ohne sich dabei zu weit vom ursprünglichen Text zu entfernen und Eigenes in ihn einzuschreiben. 28 Jenseits der Ansprüche, die an eine Übersetzung gestellt würden, sei eine poetische Nachahmung des Korans, so Boysen, jedoch durchaus möglich. Für diese führt er in sei23 Frankfurter Gelehrte Anzeigen vom 22.12.1772. Der Autor dieser knappen Rezension wurde bereits

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mehrfach mit Goethe identifiziert. Wahrscheinlicher ist jedoch die Autorschaft Herders. Vgl. Stefan Leder, „Die Botschaft Mahomets und sein Wirken in der Vorstellung Goethes“, in Oriens 36 (2001), 215–241, hier 227. Friedrich Eberhard Boysen, Der Koran, oder das Gesetz für die Moslemer, durch Mohammed den Sohn Abdall. Nebst einigen feyerlichen koranischen Gebeten unmittelbar aus dem Arabischen übersetzt [. . .], Halle 1773, 10. Ebd. Mit der Mohammed-Biographie, die Boysen bei der zweiten Auflage seiner Übersetzung in sein Vorwort integriert, will er zudem die falschen Urteile über Mohammed und den Koran, die er, wie er schreibt, etwa in den Schulbüchern weiter verbreitet findet, revidieren. Zwar sind die Suren auch nach Boysen nur vorgebliche Offenbarungen und ein Kunstgriff zum Zwecke politischer Machterlangung, jedoch sieht er im Islam keine Häresie, sondern eine neue Religion, die versuche die Einfachheit und Lauterkeit der Religion Mose und Jesu wiederherzustellen und auf eine „uneingeschränkte Ergebung an Gott“ dränge. Nach der christlichen Religion sei daher die muslimische die vernünftigste. Ders., Der Koran, oder das Gesetz für die Moslemer, durch Mohammed den Sohn Abdall [. . .], Halle 21775, 24, 23, 31, 12. Zu Boysens Thematisierung der poetischen Sprache des Korans vgl. Hartmut Bobzin, „Von Luther zu Rückert. Der Koran in Deutschland. Ein weiter Weg von der Polemik zur poetischen Übersetzung“, in Akademie Aktuell 1 (2010), 14–17. Friedrich Eberhard Boysen, Der Koran, 1773, 10. Ebd.

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ner Einleitung zwei Werke des mit ihm befreundeten Dichters Johann Wilhelm Ludwig Gleim als Beispiele an. Dieser hatte Boysen bei der Sichtung der Druckfahnen noch dafür kritisiert, dass er einen in Versform geschriebenen Text lediglich in simpler Prosa wiedergegeben habe. Dabei fühlte sich Gleim durch die Arbeit Boysens, wie letzterer in dem Vorwort der zweiten Ausgabe seiner Übersetzung stolz anmerkt, dazu angeregt, Gedichte in einem der koranischen Prophetie nachempfundenen Ton zu verfassen und unter dem Titel Halladat oder Das Rote Buch zu veröffentlichen. 29 Die Anerkennung des Korans als ein Werk der Poesie wurde in der Folge von anderen Autoren aufgegriffen. Johann Gottfried Herder (1744–1803) bezeichnete in seiner Abhandlung Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker von 1778 das Glaubensbuch als ein Meisterstück von Dichtkunst. 30 Die künstlerische Wertschätzung blieb bei ihm aber weiterhin mit einer Ablehnung des Offenbarungscharakters verknüpft. Herder stellte den Koran in die Tradition präislamischer Dichtkunst und verstand dabei die in ihm enthaltenen taḥadd¯ı-Verse als einen konkreten Aufruf zum Dichterwettstreit: Lange vor Muhammed waren sie [die Araber] Dichter. Als dieser ihnen aber seine poetische Religion, und sein Meisterstück von Dichtkunst, wo er alle zum Wettkampfe vorrief, den Koran, eben aus poetischer Kraft und im dichterischen Glauben aufgeschwatzt hatte, wirkte er dadurch in ihre Sitten, wie in ihre Dichtkunst. 31

Bei Herder erscheint die dem Propheten attestierte Kunstfertigkeit also weiterhin als ein Argument, mit welchem zwar, ähnlich wie bei Luther, die Überzeugungskraft und der kulturelle Einfluss des Korans erklärt, keineswegs aber Mohammeds Zugang zu einer wahrhaften Gottesschau abgeleitet wird. Nach Herder geht aus der Poesie des Propheten lediglich ein dichterischer Glaube hervor.

3. Damit die (keineswegs einhellige) Anerkennung des ‚Poeten‘ Mohammed auch zu einer Neubewertung seiner Prophetenrolle führen konnte, 32 bedurfte es einer grundlegenden Neubestimmung des Verhältnisses von Kunst und Religion. 33 Die 1799 zunächst anonym 29 Ebd. 11. 30 Johann Gottfried Herder, „Ueber die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und

neuen Zeiten“, in Johann Gottfried von Herder’s sämmtliche Werke. Zur schönen Literatur und Kunst, 20 Bde., Stuttgart/Tübingen 1829, Bd. 15, 206–292, hier 259. Vgl. den Hinweis darauf in Bernd Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2006, 356–357. 31 Johann Gottfried Herder, „Ueber die Wirkung der Dichtkunst“, 259. 32 Zu den negativen Urteilen über den Stil des Korans, in denen der „poetische Prophet zum langweiligen, platten und verworrenen Prosaiker“ herabgestuft wird, vgl. Stefan Wild, „Die schauerliche Öde“, bes. 429–437. 33 Die Parallelen zwischen den islamischen Lehren von Mohammeds Prophetie und den Motiven des sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts entwickelnden Geniekults, vor allem des ‚Künstler-Genies‘,

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veröffentlichten Reden über die Religion des protestantischen Theologen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) können als paradigmatisch für eine neue Sichtweise gelten, für die er den Begriff der Kunstreligion einführte. 34 Schleiermacher vertrat die Position, dass Naturschau und innere Reflexion autonome Zugänge zur Erfahrung des Transzendenten eröffneten. Religion dürfe daher auch nicht auf ihre Riten, Dogmen oder theoretischen Einsichten reduziert werden, sondern solle in eigener Anschauung mit Sinn und Geschmack für das Unendliche und mit einem Gefühl für das Universum aktiv erlebt werden. 35 Der Kunst käme als prädestinierter Ausdrucksform und Mittlerin solcher Erfahrungen eine zentrale Rolle bei der Vervollkommnung der Religion zu. 36 Mit einer auf Sinn, Geschmack und Gefühl basierenden Religion ging aber nicht nur die Ästhetisierung, sondern auch die Individualisierung und Subjektivierung der Gotteserfahrung einher. Diese Ansicht brachte Schleiermacher mit einem vielzitierten Satz aus seinen Reden auf den Punkt: Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der, welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte. 37 Die so von tradierten Formen und institutionalisierten Autoritäten losgelöste Erfahrung des Transzendenten konnte nun von jedem empfindsamen Individuum selbst gewonnen werden, wobei nach Schleiermacher das Göttliche in allen Erscheinungen der Natur und der Kunst erfahrbar sei. 38

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hat Navid Kermani eindrücklich aufgezeigt. Vgl. Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Korans, München 1999, bes. 319–335. Aus der mittlerweile reichen Forschungsliteratur zum Konzept der Kunstreligion seien hier lediglich Ernst Müller, Ästhetische Religiosität und Kunstreligion in den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus, Berlin 2004; Bernd Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, und der Tagungsband Albert Meier/Alessandro Costazza/Gérard Laudin, Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung, Bd. 1: Ursprung des Konzeptes um 1800, New York/Berlin 2011 genannt. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Reden über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern [1799], Zweite Rede: „Über das Wesen der Religion“, Stuttgart 1985, 36. Zur unmittelbaren Erfahrung des Universums durch individuelle Anschauung vgl. ebd. 38ff. Gunter Scholtz, „Schleiermacher und die Kunstreligion“, in Ulrich Barth/Claus-Dieter Osthövener (Hgg.), 200 Jahre ‚Reden über die Religion‘. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft (Halle 14. bis 17. März 1999), Berlin/New York 2000, 515–533, hier 522: „Schleiermacher scheut also gar nicht die Verbindung von Kunst und Religion als Ästhetizismus, sondern er behauptet sie, und sein Begriff dafür ist ‚Kunstreligion‘.“ Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Reden über die Religion. 82. In der späteren Fassung des Texts von 1806 hat Schleiermacher diese Passage zu Gunsten der institutionalisierten Religionen entschärft und die individuelle Freiheit kreativer Religionsfindung eingeschränkt. Ders., Reden über die Religion, Berlin 1806, 162: Nicht Jeder hat Religion der an eine heilige Schrift glaubt, sondern nur der, welcher sie lebendig und unmittelbar versteht, und ihrer daher auch am leichtesten entbehren könnte. Zur religiösen Erfahrung bei Schleiermacher vgl. Andrew C. Dole, Schleiermacher on Religion and the Natural Order, Oxford 2010, 11–13, 199–201. Zu der von Schleiermacher betonten Rolle des Gefühls in der religiösen Wahrnehmung vgl. Sergio Sorrentino, „Feeling as a Key Notion in a Transcendental Conception of Religion“, in Brent W. Sockness/Wilhelm Gräb (Hgg.), Schleiermacher, the Study of Religion and the Future of Theology. A Transatlantic Dialogue, Berlin/New York 2011, 97–108; Thorsten Dietz, „Emotions between Body and Mind. Philosophy of Emotion and Schleier-

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Abb. 3.

Eine im Jahr 1802 erschienene deutsche Übersetzung von Jean Gagniers (1670–1741) Prophetenvita nach dem Text des ayyubidischen Historkers Ab¯u l-Fid¯a (1273–1331) zeigt vor dem Titelblatt ein Bildnis Mohammeds, das diesen erstmals als einen wahrhaft göttlich Inspirierten vorstellt. Das Porträt sei, wie die Bildunterschrift angibt, nach einer Antike von Johann Friedrich Rossmäßler (1775–1858) gestochen worden (Abb. 3). Es zeigt den Propheten in ein einfaches weißes Tuchgewand gehüllt, womit die Authentizität suggerierende Behauptung, es handle sich um die Reproduktion eines antiken Bildes, visuell unterstrichen wird. Wahrheitsgemäß beruft sich die Darstellung auf ein älteres, wenn auch im heutigen Sinne nicht antikes Vorbild, nämlich auf das Porträt in dem Kupmachers’s Concept of Feeling“, in Dietrich Korsch/Amber L. Griffioen (Hgg.), Interpreting Religion. The Significance of Friedrich Schleiermacher’s Reden über die Religion for Religious Studies and Theology, Tübingen 2011, 19–36, bes. 33–36; Jörg Lauster, „Religion as Feeling. Schleichermacher’s Program as a Task for Theology“, in ebd. 73–84.

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Abb. 4.

fertitel einer deutschen Ausgabe der französischen Koranübersetzung von André Du Ryer (um 1580–1660) aus dem Jahr 1707 (Abb. 4). 39 An der Umgestaltung, die Roßmäßler bei der Übernahme dieser Graphik vorgenommen hat, wird nicht nur deutlich, wie sehr sich die Vorstellung vom Charakter des Propheten in knapp einhundert Jahren gewandelt hat, sondern ebenso, wie stark die Wirkung eines Porträts durch seine Kontextualisierung und durch das sensible Zusammenspiel physiognomischer Details bestimmt wird. Im Gegensatz zu dem Titelblatt der Ryer’schen Übersetzung, auf dem das Gesicht des Propheten gleichsam als Sockel des über ihm thronenden orientalischen Herrschers sinnbildlich dessen Machtanspruch fundiert, steht Mohammed in Rossmäßlers Adaption ganz für sich 39 Zur ersten Koranübersetzung ins Französische durch André Du Ryer und ihre europaweite Rezeption

vgl. Alastair Hamilton/Francis Richard, André Du Ryer and Oriental Studies in Seventeenth-Century France, Oxford 2004, bes. 91–121.

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selbst. 40 Auch die Bildrahmen tragen zu den unterschiedlichen Wirkungen der Porträts bei. Bei Ryer wird Mohammed wie unter einem Vergrößerungsglas als ein gleichsam kurioses Studienobjekt präsentiert, während er in der späteren Fassung distanzierter und in einem der Körperform stärker entsprechenden Oval eingeschrieben ist. Der veränderten Perspektive entsprechen auch die von Rossmäßler vorgenommenen Abwandlungen des Gesichtes. Die Züge des Propheten wirken bei ihm beruhigter und lichter, ein Eindruck, der vor allem durch die im Nachstich nicht mehr sichtbaren Zähne und die größer erscheinenden Augen erzeugt wird. Auch der in der Vorlage noch kropfartig vorstehende Adamsapfel und der zerzauste Bart des Propheten und seine gleich Hörnern geschwungenen Stirnlocken wurden im Nachstich geglättet. Rossmäßler bemühte sich also darum, die Wiedererkennbarkeit der Vorlage zu bewahren, Mohammed jedoch nicht mehr mit einer verzerrten Physiognomie zu diskreditieren. Der emphatisch zum Himmel gerichtete Blick Mohammeds erscheint stattdessen erstmals eingebunden in eine Aura des Sakralen. Sicher nicht zufällig erinnert das als antik beschriebene Bildnis an Darstellungen römischer Auguren und Priester. So teilt der Prophet etwa mit der Darstellung antiker römischer Priester nicht nur das bei Opferfesten und sakralen Handlungen gewöhnlich mit einem Tuch beziehungsweise einem Teil der Toga bedeckte Haupt (capite velato), 41 sondern ebenso den nach oben gewandten Blick und die für Denker und Philosophen in bildlichen Darstellungen charakteristische, hohe und von Falten durchwirkte Stirn (frons contracta). 42 Derart in das Gewand der Antike gehüllt und damit in sicherer Distanz zur zeitgenössischen Lebenswelt des 19. Jahrhunderts verortet, konnte Mohammed im Autorenbild erstmals in die Rolle des vates, des antiken Sehers, schlüpfen. Dass Mohammeds Koran Zeugnis eines inspirierten Geistes sei und von einer persönlichen Gotteserfahrung künde, entsprach auch der Sichtweise Johann Wolfgang von Goethes. 43 Diese hatte er bereits mit seinem Gedicht Mahomets Gesang von 1773 metaphorisch artikuliert und vertrat sie auch noch in seinem 1819 veröffentlichten West-Öst40 Dies entspricht der im 16. und 17. Jahrhundert verbreiteten Sichtweise, der islamische Glaube sei eine

ideologische Stütze despotistischer Herrschaft: „In Persia, Turkey, and The Mogul Empire, what is the despot if not Mahomet’s successor and, like him an absolute leader, not just in temporal but in the spiritual sense [. . .].“, Alain Grosrichard, The sultan’s court. European fantasies of the East, London [u. a.] 1998, 89; vgl. ebenso Thierry Hentsch, L’Orient imaginaire. La vision politique occidentale de l’Est méditerranéen, Paris 1988, bes. 156–165. 41 Vgl. Vassilis Fyntikoglou/Emmanuel Voutiras, „Gebetspraxis: Bräuche und Riten“, in Jean C. Balty (Hg.), Thesaurus cultus et rituum antiquorum (ThesCRA), 5+2 Bde., Los Angeles 2005, Bd. 5: Personnel of cult, cult instruments, 163. 42 Zur frons contracta als physiognomischer Chiffre in antiken und mittelalterlichen Philosophen- und Dichterbildnissen vgl. Wolf-Dietrich Löhr, Lesezeichen. Francesco Petrarca und das Bild des Dichters bis zum Beginn der Frühen Neuzeit, Berlin 2010, 72f. 43 Zu Goethes Auseinandersetzung mit Mohammed und dem Koran vgl. Stefan Leder, „Die Botschaft Mahomets“; Katharina Mommsen, Goethe und die arabische Welt, Frankfurt a.M. 1988; Bernard E. Dold, Carlyle, Goethe and Muhammad, Messina 1984; Said H. Abdel-Rahim, Goethe und der Islam, Augsburg 1969.

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lichen Divan. Wie Boysen sah auch Goethe im Koran ein Modell, dessen Nachahmung für den Dichter nicht ohne Gewinn sei. So schreibt er in seinen Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des West-östlichen Divan mit Bezug auf die nächtliche Himmelsreise des Propheten: Und was sollte den Dichter hindern, Mahomets Wunderpferd zu besteigen und sich durch alle Himmel aufzuschwingen. Warum sollte er nicht erfurchtsvoll jene heilige Nacht feiern, wo der Koran dem Propheten von obenher gebracht ward. Hier ist noch gar manches zu gewinnen. 44

Diese Wertschätzung des Korans galt jedoch lediglich der dem Text eigenen imaginativen Kraft und pathetischen Sprache. Dem vom Mohammed reklamierten Prophetenamt stand Goethe hingegen kritisch gegenüber. Unter dem Lemma Mahomet folgt in den Noten auf die Beschreibung der koranischen Poesie ein kategorischer Vergleich zwischen Dichter und Prophet. 45 Während der Poet seine Gabe zwecklos dem Genuss widme und in seinen Ansichten und in seinem Schaffen auf eine grenzlose Mannigfaltigkeit ziele, strebe der Prophet nur einem einzigem Zweck, der Verbreitung und Durchsetzung seiner Lehre, entgegen. Diese Einfalt des Strebens führe nicht nur zu einer Monotonie der Rede, sondern zwinge den Propheten auch dazu, zur Erreichung seines Zieles selbst die einfachsten Mittel, respektive Gewalt anzuwenden. 46 Mit seiner Beschreibung greift Goethe die antiken Konzepte des vates und des Propheten als gleichsam göttlich inspirierte Sprecher auf, präferiert dabei jedoch den Dichter, der dem Propheten in Stil und Ethos letztlich überlegen erscheint. 47 Eine visuelle Darstellung, welche die von Goethe abgelehnte weltliche Machtausübung des Propheten mit seiner göttlich inspirierten Botschaft erstmals in Einklang brachte, war das von Godefroy Engelmann (1788–1839) lithographierte Prophetenbildnis in der Ausgabe von Claude-Étienne Savarys (1750–1788) Koranübersetzung aus dem Jahr 1826 (Abb. 5). 48 Das Autorenbild zeigt Mohammed im nach rechts gewandten Dreiviertelprofil, wodurch der Eindruck entsteht, als blicke der Prophet auf das gegenüberliegende Titelblatt des Buches. Der elegant gebundene Turban, die Brosche am Kragen und das an den Armen verzierte Obergewand verleihen Mohammed, ähnlich wie in Megerlins Bildnis, das Aussehen eines osmanischen Fürsten. Seine bewegte Pose ist jedoch weit weniger auf die Repräsentation eines hohen gesellschaftlichen Status angelegt. An die Stelle ostentativer Selbstpräsentation tritt hier eine starke Momenthaftigkeit, die in der Wendung des Kopfes und in der deutlichen Überschneidung der Figur durch den rechten 44 Johann W. von Goethe, Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des West-östlichen Divan

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[1819], in Goethe. Johann Wolfgang von Goethe. Werke, Kommentare und Register, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. v. Erich Trunz, München 172006, Bd. 2, 206. „Mahomet“, in ebd. 143. Ebd. 143–145. Vgl. hierzu Stefan Leder: „Die Botschaft Mahomets“, 237f. Der in Mühlheim geborene Deutsch-Franzose Godefroy Engelmann gründete seine Werkstatt 1816 in Paris und war bedeutend für die Verbreitung der Lithographie in Frankreich. Die sich hinter der Signatur „Aurore de Courvai“ verbergende Künstlerin (?), die das Bildnis entworfen haben soll, konnte nicht identifiziert werden.

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Abb. 5.

Bildrahmen evident wird. Die Okkasionalität dieser regelrecht unruhigen Porträtpose mit dem scheinbar spontanen und lebendigen Ausdruck eines physisch wie psychisch aktiven Individuums verleiht dem Bildnis den Eindruck von Authentizität. Der Blick aus den großen, leicht nach oben gewandten Augen und die weiche Zeichnung des hier wenig prominenten Barts geben Mohammed ein beinah zartes Äußeres und sprechen zusammen mit seiner Verweigerung einer traditionellen herrschaftlichen Pose für einen empfindsamen Charakter. Der Eindruck innerer Dynamik und Spannung wird zudem durch die diagonale Lichtführung unterstrichen, wobei bezeichnend ist, dass sich der Prophet von der Dunkelheit abwendet und ins Licht schaut. Unter dem Bild sind die Attribute des Propheten, das Schwert und der Koran, kompositorisch zu einer Vignette verbunden. Die elegant geschwungene, an ihrer Spitze mit einem rosenförmigen Ornament geschmückte Waffe, die traditionell als Zeichen für die vermeintliche Gewaltbasiertheit des Islam stand, wurde in ihrer Größe an das darunter liegende Buch angeglichen, so dass sie nun mehr die

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Gestalt eines Zierdolches hat. 49 Von beiden Attributen kommt dem Buch hier zweifelsfrei die größere Bedeutung zu, denn der Strahlenkranz, der die Gegenstände umgibt, geht eindeutig von ihm und nicht von dem Schwert aus. Der Koran erscheint als eine Quelle des Lichts und die Vermutung liegt nahe, dass die eigenwillige Lichtführung im darüber liegenden Bildnis mit den von Mohammed selbst geschaffenen ‚Lichtquellen‘, mit dem Koran in der Vignette und mit dem Titelblatt des tatsächlichen Buches auf der rechten Seite, in Zusammenhang gesehen werden soll. Das Portrait des Propheten, das ihn bei allen Zeichen seiner Machtfülle doch eher als einen empfindsamen Mann vorstellt, entspricht weitgehend dem Bild, das Savary im Text von Mohammed entwirft. 50 Auch die charismatische, entwaffnende Strahlkraft des Korans auf dem Frontispiz findet dort eine entsprechende Parallele. Nachdem Savary in seinem Vorwort die poetische Qualität des Korans besonders hervorhebt, die von den bisherigen Übersetzern viel zu wenig beachtet worden sei, 51 folgt eine Passage, in der er die aus der Biographie Ab¯u l-Fid¯as übernommene Geschichte von der wundersamen Bekehrung des Umar ibn al-Haṭṭ¯ab (592–644) wiedergibt. Dieser sei durch die Lektüre von ˘ koranischen Versen so enthusiasmiert worden, dass er, von seinem eigentlichen Plan, den Propheten zu ermorden, abgebracht, von einem Feind zu einem der treuesten Anhänger des Islam wurde. 52 Diese Geschichte zeigt eine geradezu erstaunliche Parallele zu einer Äußerung Schleiermachers, aus den bereits zitierten Reden über die Religion: Ja, wenn es wahr ist, daß es schnelle Bekehrung gibt, Veranlassungen durch welche dem Menschen, der an nichts weniger dachte, als sich über das Endliche zu erheben, in einem Moment wie durch eine innere unmittelbare Erleuchtung der Sinn fürs Universum aufgeht, und es ihn überfällt mit seiner

49 Neben dem Koran in Buchform gehörte das Krummschwert (scimitar) zu den Standardattributen

Mohammeds. Analog wurde der Islam bis ins 18. Jahrhundert und bisweilen auch heute als eine „Religion des Schwertes“ bezeichnet. Vgl. etwa Johann Wilhelm Fück, „Islam as an historical problem in European Historiography since 1800“, in Bernhard Lewis/Peter M. Holt (Hgg.), Historians of the Middle East, New York/Toronto 1962, 303–314, hier 303. 50 Bereits Alessandro D’Ancona stellte fest, dass auch Savary, wie schon vor ihm der Übersetzer des englischen Korans, George Sale, für die Popularisierung eines positiven Verständnisses von Mohammed in Europa wegbereitend war. Alessandro D’Ancona, La leggenda di Maometto in Occidente [1912], hg. v. Andrea Borruso, Salerno 31994, 20. 51 Claude-Étienne Savary, Le Coran, traduit de de l’Arabe, accompagné de notes, et précédé d’un abrégé de la vie de Mahomet, 2 Bde., Paris 1783, Bd. 1, VIII: Si le Coran exalté dans tout l’orient pour la perfection du style, & la magnificence des images, n’offre sous la plume de Du Ryer qu’une rapsodie platte & ennuyeuse, il faut en accuser sa manière de traduire. 52 Amèna (nach anderen Quellen F¯aṭima), die bereits zum Islam konvertierte Schwester Umars, überreicht ihrem dem Islam noch feindlich gesonnenen Bruder den Koran. Ebd. 34: Il [Umar] en lut plusieurs versets, & l’enthousiasme prenant la place de la violence, il s’ecria: „que cette doctrine est sublime! Combien je la révère! Je brûle d’embrasser l’Islamisme.“ Umar wurde schließlich zum zweiten Kalifen.

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Herrlichkeit, so glaube ich, daß mehr als irgend etwas anders der Anblick großer und erhabener Kunstwerke dieses Wunder verrichten kann. 53

In diesem Sinne erscheint auch der bildlich dargestellte Koran auf dem Frontispiz von Savarys Übersetzung als ein Objekt, dessen inspirierende Kraft weiterhin aktiv und erfahrbar ist. Zwar meldet auch Savary Zweifel an der Gottgesandtheit Mohammeds an, bei ihm ist die Poesie des Korans jedoch kein Anlass zur Kritik, sondern ein Argument der Auszeichnung der prophetischen Rede Mohammeds, die er mit den Psalmen Davids vergleicht. 54 Was Mohammed aus Savarys Sicht dabei von den ihm nachfolgenden Imitatoren und falschen Propheten unterscheide, sei seine lichthafte Natur und sein Genie. 55 Gerade die Charakterisierung Mohammeds als Genie diente nicht nur dazu, seine Poesie in den Rang einer religiösen Offenbarung zu heben, sondern konnte, wie etwa in Thomas Carlyles (1795–1881) Vorlesung über die Rolle des „Helden“ in der Weltgeschichte von 1840, auch dazu dienen, Mohammed als bewaffneten und machtpolitisch agierenden Propheten zu legitimieren. 56 Abschließend lässt sich sagen, dass der arabische Prophet Mohammed in den Darstellungen und Interpretationen des christlichen Europa eine Figur war, anhand derer sich das Verhältnis von Kunst und Religion mit besonderer Deutlichkeit exemplifizieren ließ. Für die bildende Kunst war dabei gerade die Charakterisierung Mohammeds als ein Gegenspieler Christi wesentlich, da sich an ihm somit all jene Fraglichkeiten einer sich in der Frühen Neuzeit säkularisierenden Bilderpraxis erörtern ließen, die sich bei der Darstellung christlicher Themen verboten. 57 Als ‚Antichrist‘ und ‚Betrüger‘ bot er in den Darstellungen des Buchdrucks ein Thema, anhand dessen sich die Kunst als Medium 53 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Reden über die Religion, 111f. Allerdings betont er, dass er

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diese Offenbarungsfunktion eher in einer zukünftigen Kunst und weniger in Rückblick auf bereits Geschaffenes sehe. Claude-Étienne Savary, Le Coran, VIII: Ce livre est divisé en versets comme les Pseaumes de David. Ce genre d’écrire adopté par les Prophètes, permet à la prose les tours hardis, les expressions figurées de la poésie. Ebd. 247–248: Les sages d’entre les Orientaux, qui, s’élevant au – dessus de la foible vue du vulgaire, lui refusent avec raison le titre de Prophète, le regardent comme un des plus grands hommes qui ayent existé. Une foule de faux-Prophètes qui ont voulu marcher sur ses traces, sans avoir son génie & ses lumières, ont tous fait une chute plus ou moins éclatante à proportion de leurs talens. Vgl. Thomas Carlyle, On heroes, hero-worship, & the heroic in history. Six Lectures, London 1841, 48–89. Die zweite Vorlesung aus der Reihe vom 8. Mai 1840 trug den Titel: The hero as a Prophet. Mahomet: Islam. Allerdings war Carlyles Wertschätzung Mohammeds darauf beschränkt, dass er ihn, genau wie Odin, Dante, Shakespeare, Martin Luther, John Knox, Samuel Johnson, Napoleon u.a., als eine Konkretisierung des „Helden“ verstand. Eine Vorstellung, die in Zusammenhang mit Hegels Konzepten von „Weltgeist“ und „Heroenrecht“ zu verstehen ist. Carlyle bezeichnet Mohammed zwar ebenfalls als Poeten, gesteht ihm aber lediglich „[r]ude vestiges of poetic genius“ zu. Auch eine Verbindung zwischen Poesie, Natur und Gott sieht er nur eingeschränkt gegeben: Wenn Gott in der poetischen Schönheit der Natur erfahrbar sei, so Carlyle, dann stelle der poetische Vortrag eine Art verwässerte Verehrung Gottes dar. Vgl. ebd. 79, 48. Zur der in der Neuzeit einsetzenden „Ära der Kunst“, die die Ära des Bildes bzw. des Kultbildes abzulösen begann vgl. Hans Belting, Bild und Kult, bes. 24–27.

Der Prophet als Poet

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des Spiels und der Illusion erproben konnte. Die erstmalig populäre Wertschätzung, die Mohammed im 19. Jahrhundert als enthusiastischer, das heißt als ein von Gott erfüllter Religionsstifter in Westeuropa erfuhr, ist dabei in Zusammenhang mit einer generellen Neubestimmung der Bedeutung subjektiver ästhetischer Erfahrung und künstlerischer Schöpfung im Verhältnis zur Religion zu sehen. Die hier in aller Kürze vorgestellten, den Propheten als Individuum imaginierenden Mohammed-Bildnisse aus Koranübersetzungen und Prophetenviten veranschaulichen in ihrem jeweiligen Text-Bild-Verhältnis also nicht nur die zeitgenössischen Sichtweisen auf den Islam, sondern sind zugleich Zeugnisse des sich wandelnden Selbstverständnisses künstlerischen Schaffens in Europa.

Matías Martínez

Gewissheiten Über Wahrheitsansprüche in faktualer, fiktionaler und prophetischer Rede

1. Empirische Wahrheit: Der Geltungsanspruch faktualer Rede Der Egon Erwin Kisch-Preis, renommierteste Auszeichnung für deutschsprachige Reportagen, wurde im Jahr 2011 an den Spiegel-Reporter René Pfister für sein Porträt des bayrischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer verliehen. Am Stellpult beginnt mit der Schilderung von Seehofers Hobbykeller: Ein paarmal im Jahr steigt Horst Seehofer in den Keller seines Ferienhauses in Schamhaupten, Weihnachten und Ostern, auch jetzt im Sommer, wenn er ein paar Tage frei hat. Dort unten steht seine Eisenbahn, es ist eine Märklin H0 im Maßstab 1:87, er baut seit Jahren daran. Die Eisenbahn ist ein Modell von Seehofers Leben. [. . .] Seit neuestem hat auch Angela Merkel einen Platz in Seehofers Keller. Er hat lange überlegt, wohin er die Kanzlerin stellen soll. Vor ein paar Monaten dann schnitt er ihr Porträtfoto aus und kopierte es klein, dann klebte er es auf eine Plastikfigur und setzte sie in eine Diesellok. Seither dreht auch die Kanzlerin auf Seehofers Eisenbahn ihre Runden. Seehofer hat sich in Schamhaupten eine Welt nach seinem Willen geformt, er steht dort am Stellpult, und die Figuren in den Zügen setzen sich in Bewegung, wenn er den Befehl dazu erteilt. Es ist ein Ort, wo sich Seehofers Spieltrieb mit seiner Lust am Herrschen paart. Beides ergibt bei ihm keine glückliche Verbindung. [. . .] Manchmal scheint es, als wäre er vor allem deshalb CSU-Chef geworden, damit die echte Welt und die Kellerwelt in Schamhaupten miteinander verwachsen. Er war jahrelang ein Fachpolitiker, der Mann fürs Detail. Jetzt hat er ein zweites Stellpult, und das steht in der bayerischen Staatskanzlei. 1

Während der Preisverleihung erklärte Pfister auf eine Nachfrage, er selbst sei nie in Seehofers Hobbykeller gewesen. Diese Bemerkung führte einige Tage später dazu, dass die 1 René Pfister, „Am Stellpult“, in Spiegel 33 (14.8.2010). Zitiert nach: http://www.spiegel.de/spiegel/

print/d-73290158.html [11.12.2012].

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Jury in einer umstrittenen Entscheidung Pfister den Egon Erwin Kisch-Preis wieder aberkannte. Die Reportage, so die Begründung, erwecke irreführenderweise den Eindruck, die Schilderung von Seehofers Hobbykeller beruhe „auf der eigenen Wahrnehmung des Autors“. Die „Glaubwürdigkeit“ einer Reportage erfordere aber, dass erkennbar sei, „ob Schilderungen durch die eigene Beobachtung des Verfassers zustande gekommen sind, oder sich auf eine andere Quelle stützen, die dann benannt werden muss“. 2 Auf der Homepage des Henri-Nannen-Preises (zu dem auch der Egon Erwin KischPreis gehört) wird bestimmt, was eine Reportage sei: In die Reportage-Kategorie gehören journalistische Arbeiten, die in nicht-fiktiver Darstellungsform eine räumlich und zeitlich begrenzte Geschichte wiedergeben, die vom Autor erlebt oder beobachtet wurde. Sie darf subjektive Elemente enthalten und soll beim Leser für ‚Kino im Kopf‘ sorgen. Für diese Kategorie können auch journalistische Porträts ausgewählt werden. 3

Auch wenn also „subjektive Elemente“ erlaubt sind, muss sich die Reportage einer „nichtfiktiven Darstellungsform“ bedienen. Bezieht man diese Maßgabe auf Pfisters Text, so ist zunächst festzustellen, dass Pfister in der anstößigen Passage über Seehofers Modelleisenbahn keine „räumlich und zeitlich begrenzte Geschichte“ erzählt, sondern ein Persönlichkeitsporträt zeichnet: Die Eisenbahn dient als symbolisches „Modell von Seehofers Leben“. (Eine kleine Ausnahme bildet lediglich der Satz über das Aufkleben eines verkleinerten Porträtfotos Angela Merkels auf eine Plastikfigur.) Der Text beschreibt im gnomischen Präsens nicht ein einmaliges Ereignis, sondern eine symbolisch bedeutsame Gewohnheit Seehofers: Ein paarmal im Jahr steigt Horst Seehofer in den Keller seines Ferienhauses in Schamhaupten, Weihnachten und Ostern, auch jetzt im Sommer, wenn er ein paar Tage frei hat. Die eher abstrakt gehaltene Darstellung verzichtet weitgehend darauf, Seehofers Eisenbahnspiel durch Details und erlebnisbezogene Darstellungsverfahren anschaulich zu machen. Und Pfister behauptet nirgendwo explizit, er habe dieses Geschehen selbst „erlebt oder beobachtet“. Soweit der Text. Nun sind aber für den faktualen Geltungsanspruch der Reportage pragmatische Aspekte ebenso wichtig wie textinterne Darstellungsverfahren. Weil Am Stellpult im Spiegel erschien, darf der Leser auch ohne genaue Quellenangaben darauf vertrauen, dass die geschilderten Sachverhalte nicht willkürlich erfunden, sondern nach journalistischen Kriterien überprüft wurden – und tatsächlich stammen Pfisters Informationen über Seehofers Hobbykeller von Mitarbeitern Seehofers und von anderen Spiegel-Reportern, die die Modelleisenbahn mit eigenen Augen gesehen hatten. 4

2 Zitate aus der Begründung der Jury nach dem Abdruck in „In eigener Sache. Unverständnis über

Aberkennung des Egon-Erwin-Kisch-Preises“, in http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/in-eigener-sache-unverstaendnis-ueber-aberkennung-des-egon-erwin-kisch-preises-a-761579.html [11.12. 2012]. 3 http://www.henri-nannen-preis.de/reportage.php [11.12.2012]. 4 Siehe Ariel Hauptmeier/René Pfister, „Kisch-Debatte: Interview mit René Pfister“, in Reporterforum, 10.5.2011, http://www.reporter-forum.de/index.php?id=117&tx_rfartikel_pi1[showUid]=502 [11.12.2012].

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Warum nahm die Mehrheit der Jury also nachträglich Anstoß an Pfisters zunächst preiswürdigem Seehofer-Porträt? Ausdrücklich nicht, weil „Zweifel an der Korrektheit von Pfisters Fakten“ entstanden seien; vielmehr werde die „Glaubwürdigkeit“ des Textes durch das Bekenntnis des Autors beschädigt, dass er den von ihm beschriebenen Keller nicht selbst gesehen habe. Der Streit ging also nicht um die faktische Wahrheit der erzählten Sachverhalte, sondern um die Art und Weise, wie der faktuale Geltungsanspruch des Textes gerechtfertigt wurde. Genauer gesagt: Pfisters tatsächliche Quellen, seine journalistischen und politischen Gewährsleute, wären durchaus akzeptabel gewesen, wenn Pfister sie denn explizit benannt hätte. Eigentlich richtet sich der Vorwurf also auf die mangelnde Erkennbarkeit von Pfisters Quellen, die den Leser fälschlicherweise vermuten lasse, die Eisenbahngeschichte sei vom Autor selbst beobachtet worden. Ich skizziere diesen Fall, weil er zeigt, dass der Geltungsanspruch eines faktualen, hier: journalistischen Textes weniger von seinem Inhalt als von seiner passenden Rechtfertigung abhängt. ‚Geltungsanspruch‘ ist ein pragmatisches Textmerkmal: Er bezeichnet einen bestimmten Umgang mit Texten. Ob ein Text als faktualer oder fiktionaler zirkuliert, darüber bestimmen letztlich nicht textinterne Eigenschaften, sondern ein komplexes Bündel von Relevanzfaktoren, das bestimmte Textmerkmale, aber auch kommunikative Absichten des Autors, paratextuelle Signale, situative und institutionelle Kontexte, mediale Voraussetzungen und Zuschreibungen durch die Leser umfasst.

2. Literarische Gewissheit: Der Geltungsanspruch fiktionaler Rede Vergleichen wir den faktualen Geltungsanspruch, wie er sich im Fall der Pfister-Reportage zeigt, mit fiktionaler Rede. In einer berühmten Passage seiner Defence of Poesie (1595) erklärt Philip Sidney: I think truly, that of all writers under the sun the Poet is the least liar. [. . .] the Poet, he nothing affirms, and therefore never lies. For [. . .] to lie, is to affirm that to be true, which is false. [. . .] other artists, and especially the historian, affirming many things, can, in the cloudy knowledge of mankind, hardly escape from many lies. But the Poet [. . .] never affirms [. . .]. And therefore, though he recounts things not true, yet because he tells them not for true, he lies not [. . .]. 5

Von allen Autoren, so Sidneys vielzitierte These, lügen die Dichter am allerwenigsten, weil sie – im Gegensatz etwa zu den Geschichtsschreibern – in ihren Werken gar nichts als wahr behaupten. Der Dichter erzählt zwar von etwas, das nicht existiert (das heißt von erfundenen Ereignissen), aber er lügt nicht. Denn nur derjenige lügt, der wider besseres Wissen und mit Täuschungsabsicht etwas behauptet, was nicht der Fall ist. Die Rede des Dichters besitzt offenbar einen anderen Geltungsanspruch als den, den wir normaler-

5 Philip Sidney, The Defence of Poesie, hg. v. Jan Adrianus van Dorsten, Oxford 41975, 52f.

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weise in behauptender Rede erheben. Der Unterschied zwischen historiographischen und dichterischen Texten liegt für Sidney nicht so sehr im unterschiedlichen ontologischen Status der erzählten Sachverhalte, das heißt in der Frage, ob die Figuren und Ereignisse real oder erfunden (fiktiv) sind. Es ist vielmehr der mit der Rede verbundene Geltungsanspruch, der den Unterschied ausmacht. Die Werke der Dichter sind fiktional, weil sie keinen Anspruch auf unmittelbare Referenz auf zeitlich und räumlich individuelle Sachverhalte der Wirklichkeit erheben. Sidneys Ausführungen erfassen jedoch nur die halbe Wahrheit. Zum angemessenen Verständnis fiktionaler Texte als solcher gehört nicht nur, dass man ihnen keine behauptende Kraft in Bezug auf unsere Welt zuweist, sondern auch, dass man ihnen im Hinblick auf die erzählte Welt durchaus Glauben schenkt. Wir verstehen fiktionale Rede als authentische (wenn auch fiktive) Behauptungen eines bestimmten (wenn auch fiktiven) Sprechers, die nicht auf nichts, sondern auf bestimmte (wenn auch fiktive) Sachverhalte referieren. Fiktionale Texte besitzen eine komplexe Struktur: Einerseits sind sie Teil einer realen Kommunikationssituation, in der ein realer Autor Sätze produziert, die von einem realen Leser gelesen werden. Andererseits gehören sie auch einer zweiten, imaginären Kommunikationssituation an, in der ein fiktiver Erzähler sich an ebenso fiktive Leser richtet. Auf der realen Kommunikationsebene ist der referentielle Geltungsanspruch aufgehoben, auf der imaginären nicht. Ein fiktionaler Text fordert den Leser nicht nur auf: ‚Glauben Sie nicht, dass p‘, sondern auch: ‚Stellen Sie sich eine erzählte Welt vor, in der p der Fall ist‘. Demgegenüber beruht faktuale Rede, die beansprucht, auf konkrete Sachverhalte unserer Wirklichkeit zu referieren, auf einer strukturell einfacheren Kommunikation zwischen realen Personen. Über den Schriftsteller Gustav von Aschenbach heißt es in Thomas Manns Der Tod in Venedig (1912): Mit vierzig, mit fünfzig Jahren wie schon in einem Alter, wo andere verschwenden, schwärmen, die Ausführung großer Pläne getrost verschieben, begann er seinen Tag beizeiten mit Stürzen kalten Wassers über Brust und Rücken und brachte dann, ein Paar hoher Wachskerzen in silbernen Leuchtern zu Häupten des Manuskripts, die Kräfte, die er im Schlaf gesammelt, in zwei oder drei inbrünstig gewissenhaften Morgenstunden der Kunst zum Opfer dar. 6

Wer diese Sätze als biographische Behauptungen über den Arbeitsalltag eines historischen deutschen Schriftstellers verstünde und nach München reiste, um Aschenbachs Wohnung zu besuchen, verwechselte die Geschäftsgrundlage und läse eine Novelle nach den pragmatischen Regeln einer faktualen Biographie. Wer sich andererseits keine fiktive Welt vorstellte, in der ein Aschenbach sich frühmorgens mit kaltem Wasser übergießt, um dann unter Kerzenlicht zu schreiben, käme gar nicht erst ins literarisch-fiktionale Spiel hinein. Wie in Pfisters Seehofer-Porträt werden auch hier Handlungen mitge6 Thomas Mann, „Der Tod in Venedig“, in Frühe Erzählungen, 1893–1912, hg. und textkritisch durch-

gesehen von Terence James Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, hg. v. Heinrich Detering [u.a.], Bd. 2.1), Frankfurt a.M. 2002, 501–592, hier 510.

Gewissheiten

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teilt, die jemand allein vollzieht. Was diese Passage zu einem fiktionalen Text(ausschnitt) macht, ist nicht der Umstand, dass der allwissende Erzähler um Aschenbachs einsame Arbeitsroutine weiß – Aschenbach könnte ja die Gestaltung seines Arbeitsalltags gelegentlich jemandem anvertraut haben; oder es könnte ein phantasievoller Biograph diese Szene aufgrund von entsprechenden Dokumenten interpoliert haben. Die Fiktionalität zeigt sich vielmehr darin, dass der Leser die Behauptungen des Erzählers für zweifellos wahr hält, obwohl dieser die Herkunft seines Wissens überhaupt nicht rechtfertigt – während genau das gegenüber Pfister eingeklagt wurde. Es ist nicht der Inhalt als vielmehr der empirisch nicht legitimierte, gleichwohl vom Leser als unbedingt gültig hingenommene Wahrheitsanspruch, welcher fiktionale Rede von Behauptungen unterscheidet, die den Rechtfertigungsanforderungen normaler Alltagskommunikation unterliegen. Die Behauptungen fiktiver Erzähler in fiktionalen Texten besitzen somit eine besondere Eigenschaft, die sie von den faktualen Äußerungen realer Erzähler unterscheiden: Sie sind nicht einfach nur wahr, sondern notwendig wahr. Nun gibt es allerdings nicht nur in der literarisch-fiktionalen Rede allwissender Erzähler, sondern auch in der normalen Alltagsrede notwendig wahre Sätze, nämlich analytisch wahre Sätze. Das sind bekanntlich Behauptungen, deren Wahrheit allein aus den Gesetzen der Logik oder aus den Regeln einer Sprache folgt: ‚Wenn a größer als b ist und b größer als c, dann ist a größer als c‘ oder ‚Ein Schimmel ist ein weißes Pferd‘. Aber die Wahrheit einer allwissenden Erzählerrede in fiktionalen Texten ist in einem anderen Sinn ‚notwendig‘ als diejenige analytischer Aussagen: Der allwissende Erzähler trifft (in Kantischer Terminologie) ‚synthetische‘ Aussagen über empirische Sachverhalte der erzählten Welt; gleichwohl erheischt er vom Leser unbedingten Glauben. Während alltäglich-empirische Rede den Einschränkungen möglicher Erfahrung unterliegt und die Wahrheit ihrer Behauptungen grundsätzlich kontingent, also wahr-oder-falsch ist, stoßen wir bei allwissend-fiktionaler Erzählerrede auf eine Stimme, die sich von faktualer Rede fundamental unterscheidet. Sowohl fiktionale als auch faktuale Texte bestehen wesentlich aus Aussagesätzen, die mit behauptender Kraft Sachverhalte darstellen. (Selbstverständlich enthalten faktuale wie fiktionale Texte daneben in der Regel auch nicht-behauptende Satzformen wie Fragen, Befehle oder Ausrufe.) Darüber hinaus stellen fiktionale wie faktuale Behauptungen konkrete Sachverhalte dar: Sie beziehen sich auf individuelle, zeitlich und räumlich bestimmte Sachverhalte einer (imaginären oder realen) erzählten Welt. Solche konkrete Sachverhalte behauptenden Sätze sollen im Folgenden ‚mimetische Sätze‘ heißen. 7 Sie bilden den notwendigen Kernbestand jedes fiktionalen Textes. Ist nun die Unterscheidung ‚fiktional vs. faktual‘ vollständig im Sinne einer Unterscheidung von zwei Teilmengen, die zusammen die Vereinigungsmenge von mimetischer Rede insgesamt bilden? Sind alle mimetischen Texte entweder fiktional oder faktual? In der Narratologie und der Fiktionalitätstheorie wird überwiegend stillschweigend unter7 Zum Begriff des ‚mimetischen Satzes‘ vgl. Félix Martínez-Bonati, Fictive Discourse and the Struc-

tures of Literature, Ithaca, N.Y./London 1981, 23f.

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stellt, dass es sich so verhalte. Die Unterscheidung ‚fiktional vs. faktual‘ ist jedoch nicht vollständig. Es gibt mimetische Texte, die weder fiktional noch faktual sind.

3. Ludwig Wittgensteins Begriff der Gewissheit Der besondere logische Modus der fiktionalen Erzählerrede liegt darin, dass seine (synthetischen) Behauptungen über das, was in der erzählten Welt der Fall ist, eine besondere, absolute Gültigkeit beanspruchen. Mit einem Begriff Ludwig Wittgensteins kann man auch sagen: Die Rede eines (allwissenden) Erzählers in literarisch-fiktionalen Texten ist nicht wahr, sondern ‚gewiss‘. In seinem nachgelassenen, in den letzten Lebensjahren 1950 und 1951 entstandenen Konvolut Über Gewißheit unterscheidet Wittgenstein zwischen ‚Wahrheit‘ und ‚Gewissheit‘ von Sätzen. 8 Er tut dies allerdings nicht mit Bezug auf fiktionale, sondern auf faktuale Rede. Wittgenstein stellt fest, dass es in den Sprachspielen, mit deren Hilfe wir uns auf die Wirklichkeit beziehen, unterschiedliche Arten von „Erfahrungssätzen“ (ÜG 136) gibt (Wittgenstein verwendet synonym auch die Bezeichnungen „Erfahrungsaussagen“ [ÜG 167] oder „empirische Urteile“ [ÜG 137]): „Ich bin geneigt zu glauben, daß nicht alles, was die Form eines Erfahrungssatzes hat, ein Erfahrungssatz ist“ (ÜG 180). Erfahrungssätze scheinen als empirische Behauptungen stets begründungsbedürftig zu sein: Ihre Wahrheit ist grundsätzlich bezweifelbar und durch Beweise oder Hinweise zu rechtfertigen. Aber in jedem Sprachspiel gibt es, so Wittgenstein, auch „Erfahrungssätze, die wir ohne besondere Prüfung bejahen, also Sätze, die im System unsrer Erfahrungssätze eine eigentümliche logische Rolle spielen“ (ÜG 136). Diese besonderen Erfahrungssätze sind empirisch-synthetisch, insofern sie „geographische, chemische, geschichtliche Tatsachen etc.“ (ÜG 170) aussprechen und damit eine Geltung beanspruchen, die über eine analytische, „mathematische oder logische Wahrheit“ (ÜG 350) hinausgeht. ‚Normale‘ empirische Behauptungen sind grundsätzlich kontingent, bezweifelbar und fehlbar; sie müssen deshalb vom Sprecher prinzipiell gerechtfertigt werden können. Doch irgendwann finden solche Begründungen ein Ende: „Die Begründung aber, die Rechtfertigung der Evidenz kommt zu einem Ende“ (ÜG 204, vgl. 110 und 192). An diesem Punkt setzen die Gewissheiten ein. Sätze mit Gewissheitsanspruch sind notwendig wahr („‚certain beyond all reasonable doubt‘ “, ÜG 416). Bei ihnen ist „ein Irrtum nicht möglich“ (ÜG 194), weil derjenige, der ihre Gültigkeit bestritte, nicht ernst genommen oder als pathologisch eingeschätzt würde: „Der vernünftige Mensch hat gewisse Zweifel nicht“ (ÜG 220). Gewissheiten sind nicht begrün8 Ludwig Wittgenstein, „Über Gewißheit“, in ders., Bemerkungen über die Farben. Über Gewißheit.

Zettel. Vermischte Bemerkungen (Werkausgabe, Bd. 8), Frankfurt a.M. 1984, 113–258. Zitatnachweise aus Über Gewißheit im Folgenden mit Sigle ‚ÜG‘ und Absatznummer. Zu Wittgensteins Begriff der ‚Gewissheit‘ vgl. Michael Kober, „Certainties of a world-picture: The epistemological investigations of ‚On Certainty‘“, in Hans Sluga/David G. Stern (Hgg.), The Cambridge Companion to Wittgenstein, Cambridge 1996, 411–441.

Gewissheiten

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dungsbedürftig, weil sie allererst die Basis (oder auch: das „System“, das „Bezugssystem“, das „Fundament“, das „Lebenselement“, die „Grundlage“, die „Regel“, das „Netz“, den „Hintergrund“) für wahrheitsheischende Behauptungen bilden: „Wenn das Wahre das Begründete ist, dann ist der Grund nicht wahr, noch falsch“ (ÜG 205). Gewissheiten bilden vielmehr den „Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide“ (ÜG 94), denn „unsere Zweifel beruhen darauf, daß gewisse Sätze vom Zweifel ausgenommen sind, gleichsam die Angeln, in welchen jene sich bewegen“ (ÜG 341). „Das Spiel des Zweifelns selbst setzt schon die Gewißheit voraus“ (ÜG 115). 9 Zu solchen Gewissheiten gehören Behauptungen wie die, dass die Erde rund sei (ÜG 291), dass ein Freund keine Sägespäne im Kopf habe (ÜG 281) und dass Katzen nicht auf Bäumen wüchsen (ÜG 282), oder auch deiktische Äußerungen wie ‚Das ist meine Hand‘ (ÜG 374) und ‚Das ist ein Baum‘ (ÜG 347), sofern sie in passenden Situationen vorgebracht werden. Die Menge dieser Gewissheiten ist allerdings nicht universal und konstant, sondern besteht nur relativ zum jeweiligen „Sprachspiel“ (ÜG 256) oder „Weltbild“ (ÜG 262), in das man innerhalb einer „Gemeinschaft [. . .], die durch die Wissenschaft und Erziehung verbunden ist“ (ÜG 298), hineingewachsen ist. 10

4. Prophetische Gewissheit: Der Geltungsanspruch inspirierter Rede Der bemerkenswerte Film The Invention of Lying (USA 2009; Regie: Ricky Gervais, Drehbuch: Ricky Gervais/Matthew Robinson, deutscher Verleihtitel: Lügen macht erfinderisch) zeigt eine Welt, die unserer weitgehend ähnelt – mit einer Ausnahme: In dieser Filmwelt gibt es keine Lüge. Alle Menschen sagen immer die Wahrheit. Sie tun dies nicht aus moralischen Gründen, weil sie es verwerflich fänden zu lügen, sondern weil die Sprechhandlung ‚Lügen‘ in ihrem kommunikativen Repertoire nicht vorkommt. Sie lügen nicht nur nicht, sie wissen gar nicht, dass es möglich ist zu lügen. Einer von ihnen ist der

9 Das Phänomen des unzuverlässigen Erzählens in fiktionaler Literatur kann in diesem Sinne als Deri-

vatphänomen des zuverlässigen Erzählens erklärt werden, vgl. Matías Martínez/Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 9., erw. u. aktual. Aufl., München 2012, 99–110, und Matías Martínez, „Allwissendes Erzählen“, in Manfred Engel/Rüdiger Zymner (Hgg.), Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder, Paderborn 2004, 139–154. 10 Wenngleich Wittgenstein das Phänomen der Gewissheit als logisches Problem untersucht, beschreibt er es gelegentlich auch entwicklungspsychologisch: „Das Kind lernt, indem es dem Erwachsenen glaubt. Der Zweifel kommt nach dem Glauben“ (ÜG 160). Neuere empirische Untersuchungen bestätigen diese These von der ontogenetischen Priorität der Gewissheit gegenüber der Unglaubwürdigkeit, vgl. Fabrice Clément/Melissa Koenig/Paul Harris, „The Ontogenesis of Trust“, in Mind & Language 19/4 (2004), 360–379. Eine Stelle in Über Gewissheit legt eine Übertragung auf das Phänomen des unzuverlässigen Erzählens in der Literatur besonders nahe: „Ein Kind lernt viel später, daß es glaubwürdige und unglaubwürdige Erzähler gibt, als es Fakten lernt“ (ÜG 143).

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arbeitslose Drehbuchautor Mark Bellison, der eines Tages einen elektrischen Schlag erleidet und plötzlich lügen kann. Bellison setzt diese neue Fähigkeit sogleich ein, um seine sterbende Mutter, die sich vor dem Tod fürchtet, zu trösten. Die Mutter lebt in einer Seniorenresidenz – in der lügenfreien, also auch propagandalosen Welt des Films heißen solche Orte „a sad place where homeless old people come to die“. Bellison erzählt seiner Mutter, ein bärtiger alter Mann sei ihm im Traum erschienen und habe ihm gesagt, sie werde nach ihrem Tod zu ihm in den Himmel kommen und es werde ihr dort an nichts fehlen. Diese Prophezeiung lässt die Mutter alsbald glücklich sterben. Sie wird aber zufällig auch von Pflegern und Ärzten gehört, die die Nachricht vom schönen Leben nach dem Tode und vom gütigen alten Mann über den Wolken verbreiten. Bellison wird zum unfreiwilligen Propheten eines Glaubens, von dem er als einziger weiß, dass er auf Lügen beruht. Alle anderen halten seine Behauptungen für zweifellos wahr. In einer zentralen Szene des Films (Szene 14, 54:07–1:01:21) tritt Bellison vor sein Haus und verkündet der versammelten Menge sein angebliches Wissen über das Leben nach dem Tode („I know some things, some very important things“). Er liest zehn Gebote vor, deren Befolgung zu Lebzeiten sich auf das Leben im Jenseits auswirke. Anders als bei Moses sind seine zehn Gebote allerdings nicht auf zwei Steintafeln (vgl. 2. Mose 34:28), sondern auf zwei Pizza-Hut-Kartons geschrieben. Ähnlich wie Moses hat auch Bellison mit dem widerspenstigen Volk zu kämpfen, das zwar die Wahrheit seiner Behauptungen („There is a man in the sky who controls everything“) nicht anzweifelt, aber Details erfahren möchte („What does he look like?“ – „Tall, big hands, good head of hair“; „What about his ethnicity?“ – „Its a new type of ethnicity, he’s a mixture of all our ethnicities“; „Does he live in the clouds?“ – „No, he lives high above the clouds, too high to see him“; „So he lives in space? “ – „No, not that high“). Die kommunikative Ordnung von The Invention of Lying funktioniert grundsätzlich anders als unsere: In unserer Welt müsste sich eine prophetische Rede als solche legitimieren, um nicht als bloß faktuale Rede, die auch falsch sein könnte und begründungsbedürftig ist, missverstanden zu werden. Der Prophet vermutet nicht, dass es ein Leben nach dem Tode gibt, sondern es ist ihm gewiss, weil er über ein übernatürliches, inspiriertes Wissen verfügt. Seine Rede ist nicht wahr oder falsch, sondern notwendig wahr. Der dramaturgische Grundkonflikt, der die Filmhandlung vorantreibt und immer wieder Komik generiert, beruht darauf, dass Bellisons Behauptungen, es gebe einen allmächtigen Mann im Himmel, alle Menschen kämen nach dem Tode entweder in den Himmel (mit komfortablen Häusern und kostenloser Eiscreme für jeden) oder in die Hölle, gleichzeitig in den Rahmen verschiedener, miteinander unvereinbarer Sprachspiele gestellt sind: Während Bellison selbst (und mit ihm der Zuschauer) weiß, dass er lügt, verstehen alle anderen Figuren seine Behauptungen als notwendig wahr. So können wir mit Hilfe von Wittgensteins Begriff der Gewissheit im Gesamtbereich der mimetischen Rede drei besondere Fälle unterscheiden und damit auch den vermeintlich exhaustiven (sei es konträren, sei es kontradiktorischen) Gegensatz zwischen fiktionaler Rede und faktualer Rede zugunsten einer vielfältigeren Typologie aufbrechen:

Gewissheiten

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(a) Gewissheiten: Wittgenstein selbst hebt mit Hilfe dieses Begriffs innerhalb der (wie wir heute sagen würden: faktualen) Erfahrungssätze eine besondere Gruppe von Sätzen hervor, deren Wahrheit nicht rechtfertigungsbedürftig, sondern gewiss ist. (b) Prophetische Rede: Auch die prophetische Rede stellt eine faktuale Rede dar, insofern sie beansprucht, Aussagen über empirische Sachverhalte zu treffen. Ähnlich wie die Gewissheiten, an denen Wittgenstein interessiert ist, erhebt sie für ihre Behauptungen einen notwendigen Wahrheitsanspruch, der, anders als ‚normale‘ faktuale Rede, nicht zulässt, dass die Behauptung nur kontingent wahr ist. Auch der Prophet beansprucht Gewissheit. Was prophetische Rede von Wittgensteins Gewissheiten unterscheidet, ist der unterschiedliche Referenzbereich derjenigen Sätze, für die Gewissheit beansprucht wird: Der Prophet ist sich bestimmter Sachverhalte gewiss, die in einer durch ein gegebenes Sprachspiel konstituierten Gemeinschaft gerade nicht unter die Wittgenstein’schen Gewissheiten fallen, sondern für rechtfertigungsbedürftig gehalten werden. (c) Fiktionale Rede: Sowohl Wittgensteins Gewissheiten als auch Prophezeiungen stellen Varianten der faktualen Rede dar. Doch auch im Modus der fiktionalen Rede beanspruchen die Erzählerbehauptungen Gewissheit; dieser Geltungsanspruch ist aber auf die Domäne der fiktiven erzählten Welt begrenzt.

Wolfgang Braungart

Priester und Prophet Literarische Autorschaft in der Moderne. Am Beispiel Stefan Georges1

1. Wer Autor ist, ist nicht einfach Autor. Auch wir, die in den meisten Fällen keine Autoren von Literatur sind, wollen und können, in einem metaphorischen Sinne, Autoren unserer Lebens-Geschichten sein, aber wir müssen es auch. Die in der Moderne nicht erst aufkommende, sich jedoch zuspitzende Frage – Wer bin ich als ‚Autor‘ meiner selbst? – treibt mich immer voran, weil ich nie identisch bin mit meiner Autorschaft, in ihr nie völlig aufgehe. Und weil ich – mehr oder weniger eingestanden – weiß, dass ich mich nie völlig mir selber in meiner Autorschaft verdanke und nie werde verdanken können. Immer beobachte ich mich – mehr oder weniger selbst-bewusst – in dieser meiner beschränkten Autorschaft. Ganz und gar identisch mit seiner Autorschaft ist, theologisch gesprochen, nur einer. 2 Meine, unsere Autorschaft ist dagegen notwendig mangelhaft und beschränkt. Unsere ‚poietische‘ Kraft richtet sich auf etwas und leistet etwas, indem sie sich zugleich auf etwas anderes nicht richten kann und anderes nicht zu leisten vermag. Das gilt auch und gerade für die ‚poietische‘ Kraft, die sich auf uns selbst richtet. Dieser grundsätzliche Mangel menschlicher Autorschaft betrifft literarische Autorschaft in besonderer Weise, weil sie in besonderer Weise sich selbst beobachtende Autorschaft sein muss. Selbstzweifel und Melancholie begleiten literarische Autorschaft darum

1 Etwas überarbeiteter und ergänzter Text meines Vortrags bei der Münsteraner Tagung ‚Autorschaft

und Prophetie‘, Mai 2011. Ich danke Martina Wagner-Egelhaaf und den Münsteraner Diskussionsteilnehmern; ich danke Nils Rottschäfer, Christian Wiebe, Christina Peters, Markus Pahmeier und Tristan Weigang für kritische Lektüre und redaktionelle Hilfe. 2 Zu einer Theologie göttlicher Autorschaft vgl. Oswald Bayer, Gott als Autor. Zu einer poietologischen Theologie, Tübingen 1999, I, 1: „Wer bin ich? Gott als Autor meiner Lebensgeschichte“, 21ff.

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Wolfgang Braungart

seit der Antike als eine ständig herausfordernde, produktive Kraft. 3 Sie sind nicht nur ein modernes Adelsdiplom der Künste. (Das sind sie aber auch.) Seit jeher gibt es jedoch Konzepte von Autorschaft, die diesen grundsätzlichen Mangel hintergehen wollen, indem sie besonders hoch greifen und Autorschaft eine besondere Würde verleihen. 4 Der Topos vom Künstler als alter Deus zum Beispiel, der im künstlerischen Spiel das große Schöpfungsspiel wiederholt, kann sich legitimiert sehen durch die unüberbietbare anthropologische Aussage des Alten Testaments, der Mensch sei imago Dei. 5 Das heißt also: des ‚Autors Gott‘. 6 Die Rhetorik künstlerischer Produktivität ist bekanntlich durchzogen von mehr oder weniger offensichtlichen und reflektierten Theologumena. So wie er möchte man es selber hinbekommen. Mit den Selbstinszenierungen als Priester und Prophet ist man wenigstens schon ziemlich nahe dran.

2. Literarische Autorität hängt von vielem ab, auch davon, wie Autorschaft in dieser ihrer unauflösbaren Kontingenz ausgeübt und welche Autor-Rolle dabei beansprucht wird: vom empirischen Autor selbst in seiner Lebenspraxis wie durch die Rhetorik des poetischen Textes. 7 Literarische Autorschaft vollzieht sich irgendwann auch vor Publikum. Sie kann in sich spannungsreich sein, ja eine einzige Provokation: wie bei Stefan George, diesem erratischen Block in der literarischen Landschaft der deutschen Moderne. Bei wenigen Autoren ist es so angebracht wie bei ihm, von einer Autor-Rolle zu sprechen, die eingenommen wird. Das Modell der sozialen Rolle impliziert, man habe in der kommunikativen Praxis tatsächlich immer die Wahl, sich für eine Rolle zu entscheiden. Vorausgesetzt sind Freiheit, 3 Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf, Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration,

Stuttgart/Weimar 1997. 4 Vgl. Ernst Kris/Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Mit einem Vor-

wort von Ernst H. Gombrich, Frankfurt a.M. 1980; Jochen Schmidt, Die Geschichte des GenieGedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, 2 Bde., Darmstadt 1985. 5 Vgl. Hans-Georg Kemper, Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungsprozeß. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Aufklärung. 2 Bde., Tübingen 1981. 6 Vgl. Oswald Bayer, Gott als Autor. 7 Vgl. Peter J. Brenner, Das Problem der Interpretation. Eine Einführung in die Grundlagen der Literaturwissenschaft (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 58), Tübingen 1998, 255f. Auf die komplexe und aspektreiche Debatte um den Autor, die seit einigen Jahren geführt wird, kann ich hier freilich nicht eingehen. Vgl. etwa: Fotis Jannidis [u. a.] (Hgg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999; Heinrich Detering (Hg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart/Weimar 2002; Carlos Spoerhase, Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik, Berlin 2007; Marcus Willand, „Autorfunktion in literaturwissenschaftlicher Theorie und interpretativer Praxis. Eine Gegenüberstellung“, in Journal of Literary Theory 5 (2011), 279–301.

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Selbstbestimmung, Reflexivität. Verfügt man wirklich immer darüber? Das ist ein ähnliches Problem wie beim linguistischen Konzept der sprachlichen Register. Nun darf man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten: Selbstverständlich gibt es soziale Situationen, in denen ich mich für eine Rolle wirklich entscheide, in denen ich sie also aus einem sozialen Repertoire, das mir zur Verfügung steht, auswähle. Ich kann mich, zum Beispiel, in bestimmten sozialen Konstellationen sicher und aus ganz verschiedenen Gründen heraus dazu entscheiden, die Rolle des Provokateurs einzunehmen. Wenn ich das aber ständig tue, weiß das meine soziale Umwelt, und es entsteht unter Umständen ein sozialer Erwartungsdruck auf mich, dem ich mich irgendwann nicht mehr so ohne Weiteres entziehen kann. Das ist das Problem des Klassenkaspers: Er kann irgendwann gar nicht mehr anders, weil er sonst seine soziale Identität verlöre. Literatur- und kunstgeschichtlich ist das ebenfalls interessant, wie man etwa an der Entwicklung Martin Walsers gut sehen kann. Das Überbietungs- und Originalitätsgebot der ästhetischen Moderne, das, trotz aller postmodernen Relativierungen (aber die Postmoderne ist ja selbst ein Überbietungskonzept), noch immer gilt, ist mit der Rolle des Provokateurs gut vereinbar. Es gibt soziale und ästhetische ‚Rollen‘, die zum Markenzeichen und damit fast habituell werden können, sodass die Vorstellung der freien Wahl der Rolle unpassend scheint. Genauso gibt es aber auch ästhetisch-soziale Praktiken, die sich in der konkreten Interaktion ergeben oder notwendig werden und die darum als angemessen und passend erachtet werden. In ihnen gestaltet sich soziale Kommunikation. Das alte rhetorische Konzept des aptum scheint mir noch immer anregend. George nun beansprucht immer, von Beginn seines Werkes an, eine ‚starke‘ Autorschaft. Er realisiert, ja inszeniert mit seinem Leben und Werk viele Rollen, die sich traditionsgeschichtlich für dieses Selbstverständnis als ‚starker‘ Autor anbieten: etwa die des Dichters als Melancholiker, des für sein poetisches Werk und für seine Jünger Leidenden, des Dandys, Erziehers, Sängers, Lehrers, die Rolle dichterischer beziehungsweise poetologischer Autorität, 8 die des ethisch-ästhetischen Führers. 9 Als ‚starker‘ Autor kann George deshalb charakterisiert werden, weil er eine umfassende „Werkherrschaft“, 10 die

8 Wie in den mit Karl Wolfskehl herausgegebenen Anthologien und den Übersetzungen moderner euro-

päischer Lyrik, besonders der französischen. 9 Kein Zufall ist es, dass Max Kommerell, der neben Friedrich Gundolf bedeutendste Literaturwis-

senschaftler, der aus dem George-Kreis hervorgegangen ist, ein „Meisterwerk“ (Walter Benjamin) schrieb, das diese Perspektive einnimmt und mit autoritativem Gestus einsetzt: „Klopstock schuf das erste Gedicht in neudeutscher Sprache und gab ihm die Form der Ode.“ So der erste Satz des Buches nach der Vorbemerkung (Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul, Hölderlin, Berlin 1928, 11). 10 Gemeint ist hier aber nicht der juristische Begriff des Autors, wie er im 18. Jahrhundert entsteht; vgl. Heinrich Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn 1981.

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das poetische wie das soziale Werk des Kreises umfasst, zum leitenden Konzept seiner Selbstinszenierung vor Publikum macht. 11 Der Begriff der Inszenierung wird neuerdings gerne großzügig für ziemlich viele, zu viele kulturelle Handlungen und Prozesse in Anspruch genommen. Bei George aber ist er wirklich angebracht. Sein Leben und sein Werk stellen eine große Inszenierung dar. 12 Das meine ich völlig unpolemisch. Denn – mehr oder weniger – inszenatorisch muss Kunst schließlich immer sein, weil sie Arbeit an der Form sein muss. 13 Bei George wird die Inszenierung jedoch förmlich gezeigt, vorgeführt; sie schließt die Person immer ein. 14 Nie soll man vergessen, dass sich mit dieser Lyrik ein ganz eigener, mit der Formel Rudolf Ottos: ein „ganz anderer“ Raum eröffnet: der Sakral-Raum der Kunst. 15 Und zwar durch ihn, den souveränen Autor; ausgestaltet und präsentiert über viele Jahre in den buchkünstlerischen Weihetempeln Melchior Lechters. 16 George nützt dafür zwei der inszenatorisch eindrucksvollsten Konzepte von Autorschaft: eben die des Dichters als Priester und die des Dichters als Prophet. Auf sie vor allem werde ich mich konzentrieren. Andere Rollen, weitere Strategien der Selbstinszenierung als Autor lassen sich in sie sehr gut integrieren, ja fördern sie sogar. Dazu gehören zum Beispiel Strategien der Selbstcharismatisierung durch Stigmatisierung und völlige Kontrolle über seine ‚reale Präsenz‘ unter den Jüngern und seine Absenz. Niemand leidet so sehr für seine Jünger und für seine Kunst wie der Meister. Hofmannsthal gegenüber bekundet er 1902 seine tiefe Enttäuschung darüber, dass der sich der sehr heilsame[n] diktatur, die sie beide hätten üben können, und zwar durch Jahre in unsrem schrifttum, entzogen habe: dass es dazu nicht kam dafür mach ich Sie allein verantwortlich. 17 Hofmannsthal wusste von der ersten Begegnung mit George an (1891), dass diese diktatur in Wahrheit doch nur einer ausgeübt hätte, auch über ihn selbst. Hofmannsthals frühes Gedicht Der Prophet darf man auch auf seine Begegnung mit Stefan George beziehen. Schon früh wird er von einem, der ihn wirklich kennt, in dieser religiösen Rolle gesehen und ausgelegt. 18 11 Grundlegend: Steffen Martus, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom

17. bis zum 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin 2007. 12 Das hat die Forschung seit der einflussreichen Studie Gert Mattenklotts immer wieder hervorgehoben;

vgl. etwa Martin Roos, Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung, Düsseldorf 2000. 13 Vgl. den grundlegenden Band von Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser (Hgg.), Schriftstellerische

Inszenierungspraktiken. Typologie und Geschichte, Heidelberg 2011. 14 Vgl. Kai Kauffmann, „Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze“, in Achim Aurnhammer

[u. a.] (Hgg.), Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Berlin/Boston 2012, Bd. 1, 7–94. 15 Vgl. einführend hierzu meinen Artikel „Poetik, Rhetorik, Hermeneutik“, in Achim Aurnhammer

[u. a.], Stefan George und sein Kreis, Bd. 2, 495–550. 16 Vgl. Melchior Lechters Gegen-Welten. Kunst um 1900 zwischen Münster, Indien und Berlin, hg. v.

Jürgen Krause und Sebastian Schütze im Auftrag des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster 2006. 17 Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal. Zweite ergänzte Auflage, München/Düsseldorf 1953, 150. 18 Vgl. Jens Rieckmann, Hugo von Hofmannsthal und Stefan George. Signifikanz einer ‚Episode‘ aus der Jahrhundertwende, Tübingen/Basel 1997 (Kap. Der Prophet).

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Der Prophet verkündet und sagt vorher. Der Priester inszeniert das Heilige, er verwaltet es und regelt den Zugang zu ihm. Er bringt auch das Profane dem Heiligen im Opfer dar oder verwandelt das Profane in das Heilige. Besondere Vollmachten oder Weihen berechtigen ihn dazu. So verwandelt auch der Dichter-Priester das profane Wort in die ‚heilige Sprache der Kunst‘. Dieses sakramentale Verständnis von Dichtkunst ist für Stefan George grundlegend. 19 Beide Konzepte von Autorschaft, Priester und Prophet, haben aber Geltung für die gesamte ästhetische Moderne. Wo sie beginnt – in der ‚Sattelzeit‘ der ästhetischen Moderne –, werden auch diese ästhetischen Konzepte begründet. Das will ich zunächst kurz erläutern.

3. Wann man die literarische beziehungsweise ästhetische Moderne beginnen lassen will, ist eine bis heute heftig diskutierte Frage. 20 Sie wird es wohl auch bleiben. Nicht wenig spricht dafür, in den letzten drei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts nicht nur die ‚Sattelzeit‘ der geschichtlichen Moderne zu sehen (Koselleck), sondern ebenso die ‚Sattelzeit‘ der ästhetischen Moderne. 21 Es ist wohl ein untrügliches Zeichen, daß einer keinen Beruf zum Dichter habe, den bloß eine Empfindung im Allgemeinen zum Dichten veranlaßt, und bei dem nicht die schon bestimmte Szene, die er dichten will noch eher als diese Empfindung, oder wenigstens zugleich mit der Empfindung da ist. Kurz, wer nicht während der Empfindung zugleich einen Blick in das ganze Detail der Szene werfen kann, der hat nur Empfindung, aber kein Dichtungsvermögen. 22

Dies ist eine von vielen für eine neue Poetik einschlägigen Stellen in Karl Philipp Moritz’ ‚psychologischem Roman‘ Anton Reiser. Der Roman ist von 1785 bis 1790 in vier Bänden erschienen; er wurde nicht abgeschlossen. Es ist wohl der unbekannteste unter den großen Romanen der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Der Erzähler, der die Stimme des Autors sein will (auf diese Verwechslung von lyrischem Sprecher und empirischem Autor legt es George ebenfalls an), wird hier und auch sonst oft sehr deutlich und

19 Vgl. Wolfgang Braungart, „‚Durch dich, für Dich, in Deinem Zeichen.‘ Stefan Georges poetische

Eucharistie“, in ders./Ute Oelmann (Hgg.), George-Jahrbuch 1, 1996, 53–79. 20 Vgl. Silvio Vietta, Die literarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutsch-

sprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard, Stuttgart 1992; Sabina Becker/Helmuth Kiesel (Hgg.), Literarische Moderne. Begriff und Phänomen, Berlin/New York 2007. 21 Ich begründe dies ausführlicher in Wolfgang Braungart, „Die Anfänge der Moderne und die Tragödie“, in Sabina Becker/Helmuth Kiesel, Literarische Moderne, 61–96. Vgl. auch Silvio Vietta, „Eine kopernikanische Wende der Ästhetik? Frühromantik als Beginn der ästhetischen Moderne“, in Sabina Becker/Helmuth Kiesel, Literarische Moderne, 259–275. 22 Karl Philipp Moritz, Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Mit Textvarianten, Erläuterungen und einem Nachwort, hg. v. Wolfgang Martens, Stuttgart 1975, 475; recte Gesetztes – hier wie auch in den folgenden Zitaten – ist bei Moritz selbst hervorgehoben.

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direkt. Moritz’ ‚psychologischer Roman‘ schaut nicht nur erstmals in der Romanliteratur besonders tief in die Seele seines Protagonisten hinein. Es ist auch ein realistischer Roman, der eine gedrückte Existenz aus ihren engen religiösen und sozialen Umständen heraus erfahrbar und plastisch werden lässt. Und es ist ein sehr eindringlicher pädagogischer Roman, der Pflichtlektüre sein sollte für jeden, der die Aufgabe übernimmt, Jüngere auszubilden und zu erziehen. Schließlich ist es ein poetologischer Roman, wie man schon an der zitierten Stelle sehen kann: Das Dichten kann dem nicht gelingen, der nur durch sein subjektives Empfinden, nur durch die Sehnsucht nach sozialer Anerkennung und nach Aufwertung seiner selbst getrieben wird und der sich deshalb nicht von sich selbst freizumachen vermag. Das Kunstwerk, das entstehen soll, die bestimmte Szene, die er dichten will, muss der Dichter aber aus dem Abstand heraus völlig überblicken und bis in jedes Detail beobachten: Vielheit in der Ganzheit – das Kernthema klassizistischer Ästhetik. Er muss einen Überblick über sein ganzes Werk haben, wie ihn eigentlich nur einer hat. Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck, von Moritz beeinflusst, nehmen diese Schöpfungs-Poeto-Theologie in ihren Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders einige Jahre später auf (1797) und forcieren sie noch. 23 Moritz’ Erzähler wird aber noch deutlicher. Die religiöse Rhetorik fasziniert Reiser, weil sie glanzvolle Auftritte verspricht. Um die Wirkung seiner Person geht es dem jungen Anton also, nicht um die Sache selbst – ein Vorbehalt, der die Rhetorik bis heute trifft. Später setzt Reiser bei einem von ihm verfassten Trauerspiel, in dem er Meineid, Blutschande und Vatermord [. . .] zusammenzuhäufen suchte, alles daran, beim Zuschauer möglichst effektvoll anzukommen. Der Zweck seiner Kunst liegt also nicht im Kunstwerk selbst, sondern außerhalb. Wir würden heute vielleicht mit Pierre Bourdieu sagen: im Gewinn symbolischen Kapitals für die soziale Praxis. Anders jedoch der wahre Dichter und Künstler. Er findet und hofft seine Belohnung nicht erst in dem Effekt, den sein Werk machen wird, sondern er findet in der Arbeit selbst Vergnügen und würde dieselbe nicht für verloren halten, wenn sie auch niemandem zu Gesicht kommen sollte. 24 Der wahre Künstler muss seine künstlerische Arbeit ganz selbstzweckhaft betreiben. Sie muss ein Wert an sich sein. Der Protagonist Reiser ist dagegen kein echter Künstler: Es war also kein echter Beruf kein reiner Darstellungstrieb, der ihn anzog: Denn ihm lag mehr daran, die Szenen des Lebens in sich, also außer sich darzustellen. Er wollte für sich das alles haben, was die Kunst zum Opfer fordert. 25 Das wirkliche Kunstwerk wäre also ein autonomer Wert, der nicht mehr ableitbar und nicht mehr hintergehbar sein soll. Es wäre, so könnte man jetzt etwas zugespitzt sagen, ein eigenes neues Heiliges. Reiser aber kann sich diesem neuen Heiligen nicht opfern, nicht wirklich und ganz hingeben. (Auch die Opferidee gehört zu den ästhetisch-poetischen

23 Etwa im Kapitel Einige Worte über Allgemeinheit, Toleranz und Menschenliebe in der Kunst. 24 Karl Philipp Moritz, Anton Reiser, 477. 25 Ebd. 413.

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Theologumena.) Er kann seine Subjektivität nicht zurückstellen, weil er von Kindheit auf zu wenig eigene Existenz gehabt hatte: Er täuschte sich selbst, indem er das für echten Kunsttrieb nahm, was bloß in den zufälligen Umständen seines Lebens gegründet war. [. . .] Hätte er damals das sichere Kennzeichen schon empfunden und gewußt, daß wer nicht über der Kunst sich selbst vergißt, zum Künstler nicht geboren sei, wie manche vergebene Anstrengung, wie manchen verlorenen Kummer, hätte ihm dies erspart! 26

Das wirkliche Kunstwerk muss, so Moritz in diesem Roman und dann detailliert in seinen ästhetischen und kunsttheoretischen Schriften, eine eigene, innere Notwendigkeit haben. Es rechtfertigt sich nur aus sich selbst. Es muss rein bleiben von der Welt und ihren Erwartungen und Anforderungen, die es beschmutzen könnten. Oder in der von Adornos Ästhetik her geförderten Sprache, die für die ästhetische Debatte bis heute prägend ist: Es muss sich jeder Instrumentalisierung verweigern. Jürgen Brokoff hat kürzlich in einer groß angelegten Studie gezeigt, wie wichtig diese Vorstellung von der reinen Poesie ist. 27 Das Kunstwerk verlangt deshalb sowohl vom Produzenten als auch vom Rezipienten eine eigene ästhetische Einstellung. Sie impliziert eine Ethik. Mit Moritz wäre dies das ‚Opfer‘ einer Subjektivität, die sich selbst nicht überschreiten kann. George formuliert sie gut 100 Jahre später als eine Ethik der Askese, des Verzichts auf billige Brauchbarkeit und einfache Bedeutungsgeschenke, eine Ethik unbarmherziger Strenge gegenüber sich selbst. So schon im zweiten Gedicht seines ersten Gedichtbandes der Hymnen (1890): 28 Im Park Rubinen perlen schmücken die fontänen · Zu boden streut sie fürstlich jeder strahl · In eines teppichs seidengrünen strähnen Verbirgt sich ihre unbegrenzte zahl. Der dichter dem die vögel angstlos nahen Träumt einsam in dem weiten schattensaal. Die jenen wonnetag erwachen sahen Empfinden heiss von weichem klang berauscht · Es schmachtet leib und leib sich zu umfahen. Der dichter auch der töne lockung lauscht. Doch heut darf ihre weise nicht ihn rühren Weil er mit seinen geistern rede tauscht: Er hat den griffel der sich sträubt zu führen. (SW II, 11)

26 Ebd. 413 f. 27 Jürgen Brokoff, Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avant-

garde, Göttingen 2010. 28 Zitiert wird das Werk Georges nach folgender Ausgabe: Stefan George, Sämtliche Werke in 18 Bän-

den, hg. v. der Stefan George Stiftung, bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff. Nachweis künftig mit der Sigle SW, Bd., S. im fortlaufenden Text.

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Er, der Dichter, hat den griffel der sich sträubt zu führen. Das muss er tun: [w]eil er mit seinen geistern rede tauscht, weil er also auserwählt ist, zu einer Welt Zugang zu haben, die den ‚vielen‘ verschlossen bleibt. Das Amt allein zählt, die Aufgabe. Nicht die persönlichen Neigungen, Wünsche und Sehnsüchte, nicht die ‚Lockungen‘ der sinnlichen Welt, die der dichter freilich auch kennt. Er ist nicht der bessere Mensch, sondern der ausgezeichnete. Was nicht nur bei George auch heißt: der Gezeichnete. So kann Charisma entstehen.

4. Doch noch einmal zurück ins 18. Jahrhundert: So klar und so entschieden wie Moritz, in dem Goethe einen jüngeren Bruder sah, mit dem es das Schicksal nur nicht so gut gemeint habe wie mit ihm selbst, hat das zuvor noch keiner ausgedrückt. Mit Moritz wird die moderne Autonomieästhetik erstmals in ihrer ganzen Radikalität ausformuliert. Die Kritik der Urteilskraft Kants folgt wenige Jahre später, ebenso die entscheidenden ästhetischen Schriften Schillers und der frühen Romantik, in denen sich das Konzept weiter bis hin zur Kunstreligion entfaltet, die neuerdings wieder heftig diskutiert wird. 29 Aber alles hat auch eine Vorgeschichte: Kunst habe, so schon Lessing in seiner Laokoon-Abhandlung von 1766, und nur dies möchte ich hier an ihr hervorheben, zuallererst dem Schönen zu dienen. Es dürfen sich, sagt Lessing, also auch keine Spuren gottesdienstlicher Verabredung zeigen. Kunst darf nicht bloßes Hilfsmittel der Religion sein. Sie muss um ihrer selbst willen entstehen. Sie darf deshalb auch nicht zuerst auf das Bedeutende schauen, sondern immer zuerst auf das Schöne. 30 – Um ihrer selbst willen: Das ist das entscheidende Stichwort in meinem Zusammenhang. Schlagend wird deutlich, dass hier schon, bei Lessing, das Kunstwerk Kontur gewinnt als ein Analogon und Symbol des autonomen Subjekts, gerade indem es zu nichts – in einem bloß funktionalistischen Sinne – gut und zu nichts pragmatisch brauchbar ist. 31 In diesen Jahrzehnten zwischen etwa 1770 und 1800 bildet sich also das Konzept der Autonomie der Kunst heraus, das für die Geschichte der Literatur wie der Künste überhaupt und für das moderne Verständnis der Rolle des Autors weitreichende Konse29 Die beste, umfassendste Darstellung hat Bernd Auerochs vorgelegt: Die Entstehung der Kunstreli-

gion, Göttingen 2006; ein kritisches Forschungsreferat bei Kai Sina, „Kunst – Religion – Kunstreligion. Ein Forschungsüberblick“, in Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 21/2 (2011), 337–344. 30 Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte, in ders., Werke und Briefe. 12 Bde. in 14 Teilbdn., hg. v. Wilfried Barner [u.a.], Bd. 5/2: Werke 1766–1769: LAOKOON / Briefe, Antiquarischen Inhalts, hg. v. Wilfried Barner, Frankfurt a.M. 1990, 85. 31 Vgl. hierzu Wolfgang Braungart, „‚Ich bin ein Mensch‘. Ästhetische Erfahrung, religiöse Erfahrung und die jüdisch-christliche Idee des Subjekts“, in der Dokumentation der Europatagung der KonradAdenauer-Stiftung Tallinn 2011 (im Druck, erscheint voraussichtlich 2014).

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quenzen hat. Diese Konzeption des Kunstwerks als eine autonome, aber in sich sinnvoll organisierte Totalität ohne externe Funktionen und Zwecke inthronisiert die Kunst als ein neues, erfahrbares Heiliges – und zwar nach, eher: während der aufgeklärten Rationalisierung von Mythos und Religion. Doch ist mir einst das Heil’ge, das am / Herzen mir liegt, das Gedicht gelungen / [. . .] mehr bedarfs nicht, heißt es in Hölderlins Ode An die Parzen (1798), der für George und seinen Kreis eine besondere Bedeutung hat, auch wegen der ihm zugesprochenen Rolle des Sehers. 32 Ist das Heil’ge gewonnen, lässt sich sowohl priesterlich-eucharistisch (Brod und Wein) als auch seherisch-kündend reden wie schon in jenen Versen, die zu den berühmtesten der deutschen Lyrik zählen: Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott. / Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch. 33 Aber gerade der Hinweis auf Hölderlin ist auch heikel, weil man bei ihm schon nicht immer entscheiden kann, was nun genau gemeint ist: die selbst heilige Poesie oder das Heilige, das in der Poesie gestaltet wird und zum Ausdruck kommt. Bereits die frühneuzeitliche Bibeldichtung (Milton, Klopstock) macht Dichtung zum eigentlichen Organ der höchsten biblischen Wahrheit, die also durch den Dichter zugänglich wird, nicht durch die traditionellen Institutionen und Medien der Religion (Kirche, Predigt, Liturgie/Ritual). 34 Mit der romantischen Wende zum Subjekt in Philosophie (Kant), Religion (Schleiermacher) und Kunst (Frühromantik) werden Kunst und Religion wechselseitig fast völlig ineinander übersetzbar. Man sollte also nicht zu schnell von der Entzauberung der Welt in der Moderne reden – wie tragfähig auch immer das kunstreligiöse Konzept tatsächlich ist (oder eher: nicht ist). Das autonome Kunstwerk in seiner geheimnisvollen, unausschöpfbaren symbolischen Kraft wird nun mit dem Anspruch ausgezeichnet und zugleich belastet, der kulturelle Ort der Transzendenz in der Moderne zu sein, der Ort, an dem sich eine eigene, begriffslose, also nicht weiter ableitbare, nicht mehr hintergehbare und in seiner Tiefe nicht ausschöpfbare Wahrheit ereignen soll und erfahrbar ist. „In diesem Sinne bezeichnet Kunstreligion dann die autonome Kunsterfahrung, nicht als Analogon der religiösen, sondern als selbst religiöse Erfahrung.“ 35 Über das Geistige in der Kunst heißt die berühmte Schrift Kandinskys von 1912. Das bedeutet auch, dass in der Kunst etwas sichtbar wird, was man sonst nicht sehen kann: das Geistige. 36 Wie sehr

32 Vgl. Henning Bothe, „Ein Zeichen sind wir, deutungslos.“ Die Rezeption Hölderlins von ihren Anfän-

gen bis zur Gegenwart, Stuttgart 1992. 33 „Patmos“, in Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe. 3 Bde., hg. v. Jochen Schmidt. Bd. 1,

Gedichte, hg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt a.M. 1992, 350. 34 Vgl. Dieter Gutzen, Poesie der Bibel. Beobachtungen zu ihrer Entdeckung und ihrer Interpretation

im 18. Jahrhundert, Bonn 1972; Joachim Dyck, Athen und Jerusalem. Bibel und Poesie in der Tradition ihrer argumentativen Verknüpfung im 17. und 18. Jahrhundert, München 1977; Joachim Jacob, Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland, Tübingen 1997. 35 Heinrich Detering, „Kunstreligion und Künstlerkult. Bemerkungen zu einem Konflikt von Schleiermacher bis zur Moderne“, in Günter Meckenstock (Hg.), Schleiermacher-Tag 2005 (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. I. Philologisch-historische Klasse 2006, Nr. 4), Göttingen 2006, 179–200, hier 190f. 36 Vgl. Friedmar Apel, Das Auge liest mit. Zur Visualität der Literatur, München 2010.

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gerade die ästhetische Moderne auf das Religiöse bezogen bleibt, ist in den letzten Jahren vielfach gezeigt worden und lässt sich ernsthaft nicht mehr bestreiten, noch nicht einmal relativieren. 37 Wer in dieser Tradition und aus diesem Selbstverständnis heraus redet, der muss, will er seinem Gegenstand gegenüber auf angemessene Weise reden, auf andere poetische Register zurückgreifen als der ‚gesellige‘ oder ‚lyrische Dichter‘: 38 auf die erhabene, feierliche oder kündende Sprache, auf den hohen Stil. Man hat das schon an den zwei kurzen, hochrhetorischen Zitaten aus dem Werk Hölderlins bemerken können. Diese Konzepte von Autorschaft, vom Dichter-Priester, der das Heilige, das profane Wort verwandelnd, schafft und den Zugang zu ihm ermöglicht, und dem Dichter-Propheten, der im Auftrag einer ‚ganz anderen‘ Instanz zu ‚künden‘ beansprucht, haben höchste ‚poietische‘ Relevanz, insofern sie spezifische Schreibweisen erfordern. Sprechen aus einer solchen Autorität heraus, wie sie aus den Legitimationsprozessen des 18. Jahrhunderts hervorgeht, stellt auch auf die Person des Dichters ab und generiert hohe poetische Verbindlichkeit. Zum Prophetischen gehören, gerade weil es häufig, aber nicht immer, kulturkritisch motiviert sein kann, bestimmte Sprechhaltungen: Beschimpfung, Warnung, Zürnen, Drohung, Verwerfung, Schmähung, eine Sprache der Feierlichkeit, die Entscheidung für das genus sublime. 39 Auch die Literatur der Moderne nutzt noch diese alten religiös-kulturellen Muster zur Selbstverständigung über Autorschaft und zur Legitimation ihrer kulturellen Bedeutung. Sie sind keineswegs einem Säkularisierungsprozess zum Opfer gefallen, der viel zu oft nur einfach und linear konzipiert wird. 40 Mit der Idee der Kunstreligion, die sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ausbildet und die sicher nicht ganz so einfach auf einen Nenner zu bringen ist, wie ich eben suggeriert habe, werden diese religiös-kulturellen Muster auf die Kunst und den Künstler übertragen. Der Lyriker und Literaturwissenschaftler Dirk von Petersdorff hat in einem fulminanten Essay auf die grundlegende Bedeutung hingewiesen, die die frühe Romantik mit der für sie zentralen Idee der Kunstreligion durchgängig für das Selbstverständnis der ästhetischen Moderne hatte, zumindest in Deutschland. 41 Die frühromantische Kunstre37 Aus musikwissenschaftlicher Sicht vgl. jetzt Werner Keil, Dissonanz und Harmonie in der Romantik,

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Paderborn 2012. Soeben ist erschienen: Thomas Erne/Peter Schütz (Hgg.), Der religiöse Charme der Kunst, Paderborn [u.a.] 2012. Charme halte ich freilich in diesem Zusammenhang für eine sehr schwierige Kategorie. Vgl. Dieter Lamping, Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, Göttingen 1989. – Bei Mörike kann man beobachten, wie wohl bei keinem Lyriker des 19. Jahrhunderts sonst, in welch komplexer und spannungsreicher Beziehung ‚gesellige‘, ‚lyrische‘ und auch theologisch-religiös sensibilisierte Konzepte von Lyrik zueinander stehen können. Werner Frick, „Poeta vates. Versionen eines mythischen Modells in der Lyrik der Moderne“, in Matías Martínez (Hg.), Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen, Paderborn [u. a.] 1996, 125–162, hier 159. Vgl. auch Jürgen Wertheimer, Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges. Formen und Wandlungen, München 1978, bes. Teil III. Eine hervorragend informierte Übersicht gibt Werner Frick, „Poeta vates“, bes. 125–136. Dirk von Petersdorff, „200 Jahre deutsche Kunstreligion!“, in ders., Verlorene Kämpfe. Essays, Frankfurt a.M. 2001, 15–25, hier bes. 21ff.

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ligion sei der Ursprung der Macht- und Größenphantasien und des Dünkels, ja Hasses gegenüber dem ‚Normalen‘ und Bürgerlichen, die die ästhetische Moderne auszeichne. Erst mit der sogenannten Postmoderne, mit der programmatischen Auflösung schroffer Abgrenzungen zwischen ‚high‘ und ‚low culture‘, die seit den 1960er Jahren mit ihrer Öffnung gegenüber der amerikanischen Pop-Kultur einsetzt, scheint sich die Nachwirkung dieses Konzeptes abzuschwächen. 42 Aber Peter Handke? Oder Botho Strauß? Und Durs Grünbein?

5. Es hat also einen systematischen Grund, warum diese Rollen gerade in der Moderne noch zum Tragen kommen. Stefan George realisierte mit seinem Leben und Werk und mit hohem, demonstrativen Autoritätsanspruch genau diese zwei Rollenmuster, die aus einer anderen Zeit zu stammen scheinen und die doch auch auf die ‚Sattelzeit‘ der ästhetischen Moderne selbst zurückgeführt werden können. Leicht lassen sich Beispiele nennen, die nahe legen, in George immer wieder vor allem den prophetischen Dichter zu sehen (etwa: Der Eid; Einzug; SW VI/VII, 60–63). Beide Rollen werden, wie gesagt, von weiteren Rollen- und Selbstdeutungsmustern flankiert, die George (wie andere Autoren auch) ebenfalls für sich in Anspruch nimmt: die des Melancholikers, des sich für die Jünger und für seine Aufgabe Opfernden und Leidenden, des Erlösers und des Erziehers. Schon in der neutestamentlichen Person Jesu Christi sind alle diese Rollen angelegt. Der moderne Künstler als Postfiguration Jesu Christi ist eine grundlegende Selbstauslegungsfigur der ästhetischen Moderne. 43 Zum seherisch redenden Dichter, dem poeta vates, gehört die Inspiration. Das inspirationspoetische Modell ist ebenfalls noch gültig und wirksam für die Dichtkunst der Moderne: Als Seher spricht der Dichter in eines ganz Anderen Auftrag; durch ihn spricht es. 44 Die poetologisch grundlegende Bedeutung von Georges Gedicht Weihe, das die Hymnen eröffnet, ist von der Forschung vielfach gezeigt worden. 45 Es gestaltet den Kuss 42 Welche poetischen und intellektuellen Möglichkeiten sich damit eröffnen, untersucht ein Forschungs-

projekt Charis Goers an der Universität Bielefeld, das 2014 abgeschlossen wird. 43 Vgl. Gerhard Kaiser, Christus im Spiegel der Dichtung. Exemplarische Interpretationen vom Barock

bis zur Gegenwart, Freiburg i.Br. [u.a.] 1997; Friedhelm Marx, „Ich aber sage Ihnen . . .“ Christusfigurationen im Werk Thomas Manns, Frankfurt a.M. 2002. 44 Eike Barmeyer, Die Musen. Ein Beitrag zur Inspirationstheorie (Humanistische Bibliothek, Reihe I, Bd. 2), München 1968; dort auch eine Typologie der Inspiration; Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens; Ulf-Michael Schneider, Propheten der Goethezeit, Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995. 45 Zuletzt: Ralf Simon, „Hymne und Erhabenheit im 19. Jahrhundert. Ausgehend von Stefan Georges ‚Hymnen‘ “, in Steffen Martus (Hg.), Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur, Bern [u.a.] 2005, 357–385; ders., Die Bildlichkeit des lyrischen Textes. Studien zu Hölderlin, Brentano, Eichendorff, Heine, Mörike, George und Rilke, München 2011.

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durch die Muse, den Moment der Inspiration und seine Voraussetzungen: Zeitlosigkeit und Entrücktheit (vierte Strophe), Offenheit, Bereitschaft – zwischen festem Land und offenem Wasser (erste bis dritte Strophe) – und Hingabe (fünfte Strophe): Weihe Hinaus zum strom! wo stolz die hohen rohre Im linden winde ihre fahnen schwingen Und wehren junger wellen schmeichelchore Zum ufermoose kosend vorzudringen. Im rasen rastend sollst du dich betäuben An starkem urduft · ohne denkerstörung · So dass die fremden hauche all zerstäuben. Das auge schauend harre der erhörung. Siehst du im takt des strauches laub schon zittern Und auf der glatten fluten dunkelglanz Die dünne nebelmauer sich zersplittern? Hörst du das elfenlied zum elfentanz? Schon scheinen durch der zweige zackenrahmen Mit sternenstädten selige gefilde · Der zeiten flug verliert die alten namen Und raum und dasein bleiben nur im bilde. Nun bist du reif · nun schwebt die herrin nieder · Mondfarbne gazeschleier sie umschlingen · Halboffen ihre traumesschweren lider Zu dir geneigt die segnung zu vollbringen: Indem ihr mund auf deinem antlitz bebte Und sie dich rein und so geheiligt sah Dass sie im kuss nicht auszuweichen strebte Dem finger stützend deiner lippe nah. (SW II, 10)

Sprache und Bildlichkeit sind jugendstilhaft artifiziell, steil, vielleicht auch fragwürdig (Kann sich eine dünne nebelmauer [. . .] zersplittern? Bewegt sich das noch im Rahmen metaphorischer Lizenzen?). Das Gedicht arbeitet sich zu einer kontrollierten Sakralität vor, die im hochstilisierten, schwer aufzulösenden Schlussbild kulminiert. Der (Dichter-)Priester agiert nicht spontan, nicht individualisiert, sondern – wie in Zeremoniell, Ritual, Liturgie – formbewusst, kontrolliert, im Bewusstsein seiner Würde. Schon die flüchtigste Lektüre George’scher Gedichte lässt diese Anmutung entstehen. Vorausgesetzt wird hier wie in vielen anderen Gedichten, dass man bereit und in der Lage ist, sich vom Alltäglichen und Profanen zu lösen, und weiß, wie man sich der Kunst zu nähern hat. Die lämmer für den dienst der götter seien rein von flecken (An Menippa, SW III, 31), heißt es in einem frühen Gedicht – ‚rein‘ auch von den Flecken des Gewöhnlichen und Banalen der modernen Welt, von dem schutt. Denn nichts anderes ist dieses gut das euch vor allem galt (Die tote Stadt, 1907, SW VI/VII, 30). Der Gedanke der angemessenen Vorbereitung und Reinheit – mit oder ohne expliziten Bezug auf Rituale

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und Kulte (So war das reine opfer ihnen teuer / So lächelten und winkten sie mit Gnade, SW II, 20) 46 – spielt in Georges Werk eine wichtige Rolle, so in seinem wohl berühmtesten Gedicht, dem Sonett Komm in den totgesagten park (Der reinen wolken unverhofftes blau / Erhellt die weiher und die bunten pfade, SW IV, 12; meine Hervorhebung). Oder in Jahrestag: O schwester nimm den krug aus grauem thon Begleite mich! denn du vergassest nicht Was wir in frommer wiederholung pflegten. [. . .] (SW III, 11)

Die autonome Kunst selbst ist gleichsam der Auftraggeber für den Dichter; aus der Autonomie der Kunst resultiert paradoxerweise die Heteronomie des Dichters. 47 Diese Konzeption der Autonomie der Kunst soll, wir haben es bei Moritz schon gesehen, vor subjektivistischer Willkür schützen. Sie macht den Künstler notwendig: als Priester und/oder Prophet. So wird Kunst selbst, mit einer berühmten Formel Clemens Lugowskis, zum ‚mythischen Analogon‘. Für Lugowski kann sie deshalb den Charakter eines ‚formalen Mythos‘ mit „gemeinsamkeitsbegründender Kraft“ annehmen. 48 Am Theater und besonders an der Oper lässt sich das vielfach beobachten; sehr gut bekanntlich an Werk und Wirkung Richard Wagners, aber auch noch weit darüber hinaus. Das Heilige in seiner unhintergehbaren Wahrheit und in seinem Geltungsanspruch braucht immer seine Priester, die es einerseits schützen und andererseits den kontrollierten Zugang zu ihm ermöglichen. Der Umgang mit dem Heiligen vollzieht sich in angemessenen Praktiken, in Kulten und Ritualen, die sorgfältig eingehalten werden müssen. Die Rolle des Dichter-Priesters, die die Moderne dem Dichter zugedacht hat und die besonders der Symbolismus so wirkungsvoll in Szene setzt (in der gesamten europäischen Moderne), provoziert auch Spott. George selbst und sein ganzer Kreis haben ihn schon früh auf sich gezogen. Er zielte auf dessen kunstreligiösen, ‚sektenhaften‘ Charakter (so bei Brecht). Der Erfolg Georges hat aber auch genau damit zu tun. Kulturelle, aber ebenso soziale und politische Neuansätze sind generell umso erfolgreicher, je stärker sie sich an Religion koppeln oder gar selbst religiös aufladen und so selbst auratisieren. 49

46 Vgl. hierzu Hansjürgen Linke, Das Kultische in der Dichtung Stefan Georges und seiner Schule,

Köln 1954; Wolfgang Braungart, Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997. 47 Vgl. Werner Frick, „Poeta vates“, 149, allerdings mit Bezug auf Brecht und sein Svendborger Gedicht An die Nachgeborenen. 48 Clemens Lugowski, zit. nach Werner Frick, „Poeta vates“, 154. 49 Vgl. Hermann Lübbe, Heilserwartung und Terror. Politische Religionen des 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1995.

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6. Die andere Rolle, die auch George für sich in Anspruch nimmt, ist die des Dichters als Prophet, als Mahner und Künder, als Kritiker der eigenen, ‚dürftigen Zeit‘. Beide Rollen hängen poetologisch aufs Engste miteinander zusammen, auch wenn sie religionswissenschaftlich unbedingt zu unterscheiden sind. Grundsätzlich ist die prophetische Rede immer auf das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft bezogen. Der Prophet sagt, was sich in einer bestimmten sozialen Umwelt sonst keiner zu sagen traut: Er sagt das Unerhörte. Mit der autonomen Kunst als neues Heiliges ist auch ein unhintergehbarer Wert gewonnen, der nicht mehr weiter abgeleitet werden kann, und damit ein Maßstab für diesen Gegenwartsbezug und die Beurteilung einer Welt, die sich dem Banalen und Trivialen hingibt, die sich geschäftig und umtriebig in unsinnige Funktionszusammenhänge einbindet und der dabei nichts mehr wirklich heilig ist: einer welt die birst (Leo XIII, SW VI/VII, 20). Mit Hölderlin und Schiller beginnt die poetisch-ästhetische Kulturkritik in Deutschland im Zeichen dieser Doppelrolle der Kunst und des Künstlers. 50 Das ist nun der letzte, hier aber ebenfalls wichtige Aspekt, der zu nennen ist. Wir geraten hier mitten in eine – wie mir scheint – ziemlich deutsche Problematik: der strukturellen Überforderung und Überlastung des Ästhetischen und der Abstoßung der politischen und sozialen Wirklichkeit, die durch diese ästhetische Emphase legitimiert wird. 51 Von nun an wird das ein Spezifikum der deutschen ästhetischen Kulturkritik sein. Ob man sich dem wirklichen Kunstwerk öffnen kann, ob man dem Anspruch der sich selbst Gesetz gebenden Kunst standhält, wird kritischer Maßstab für den Bildungsprozess des Subjekts wie für eine Kultur, die das ermöglicht – oder eben verhindert. Julius Langbehn, einer der wirkungsmächtigsten, weil trivialsten Kulturkritiker des 19. Jahrhunderts, dessen Pamphlet Rembrandt als Erzieher von 1890 bis in den Nationalsozialismus hinein immer wieder, auch in sogenannten Volksausgaben, aufgelegt wird, sieht „von jeher“ eine ‚Verwandtschaft‘ zwischen Prophet und Künstler. 52 Ich euch gewissen · ich euch stimme dringe / Durch euren unmut der verwirft und flucht (Das Zeitgedicht, SW VI/VII, 32): In dieser anderen, prophetischen Rolle übernimmt George die Aufgabe des radikalen Mahners und Kritikers, des sozialen Störenfrieds und Unruhestifters in einer Welt, die das unbedingt nötig hat. Das soll sie durch die prophetische Rede auch begreifen. Erich von Kahler, der selbst aus dem George-Kreis kommt, 53 50 Vgl. Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, Mün-

chen 2007. 51 Gewiss gibt es auch eine Kulturkritik in Mittelalter (Walther von der Vogelweide) und Früher Neuzeit/

Humanismus; sie ist jedoch anders, nicht ästhetisch motiviert. 52 Friedhelm Marx, „Heilige Autorschaft? Self-Fashioning-Strategien in der Literatur der Moderne“,

in Heinrich Detering (Hg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen (Germanistische Symposien. Berichtsbände 24), Stuttgart/Weimar 2002, 107–120, hier 109, Anm. 7. 53 Zu Kahler vgl. die eindrucksvolle, umfassende Monographie Gerhard Lauers Die verspätete Revolution. Erich von Kahler. Wissenschaftsgeschichte zwischen konservativer Revolution und Exil, Berlin/ New York 1995.

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unterscheidet drei Typen von Prophetie: „die tatsächliche Voraussage, die existentielle Vorausnahme und die züchtigende und erhöhende Verkündigung.“ 54 Dem letzten, dem Typus „der zürnenden, Strafe beschwörenden Verkündigung und endlichen Verheißung“, ordnet er Stefan George zu: „Sie [die Prophetie] ist nicht Prognose noch Darstellung, sondern willentliche, eingreifende Warnung; es ist die des Teiresias, der Kassandra und ganz besonders der Propheten des Alten Testaments.“ 55 Der grundlegende poetische Gestus des Dichter-Propheten ist Rhetorik, Hinsprache, belehrende, erziehende, mahnende, verkündende, also: intentionale, auf soziale Wirkung zielende und entsprechend gestaltete Rede. Der kulturkritische Dichter-Prophet ‚singt‘ nicht; er verkündet vielmehr Unheil, wie der Prophet in der Regel überhaupt. Im Unverständnis der bürgerlichen Welt oder der modernen Massengesellschaft gegenüber dem Heiligen, das am Herzen mir liegt, [dem] Gedicht, zeigt sich, dass sie die Scheltrede (Hölderlin, Hyperion) und dringende Mahnung zur Umkehr nötig hat wie nichts sonst. 56 Poetische Prophetie und poetische Pädagogik gehören bei George also ebenfalls zusammen. Sie sind aber auch grundsätzliche Dimensionen der ästhetischen Moderne. Die Intentionalität dieser poetischen Rhetorik schließt gewiss jedoch sehr viel mehr ein, als ich es hier darstellen kann: das Gebet, den Zuspruch, den Trost, die Mahnung. Jürgen Wertheimer hat diese poetischen Sprechakt-Typen dargestellt und typologisch in Akte der Zuwendung und des Ausdrucks differenziert. 57 Von dieser Doppelrolle her lässt sich Georges Poetik entwickeln. Sie begründet, wie schon angedeutet, seine zwei grundlegenden Schreibhaltungen. Etwas zu pointiert: eine poetische der ‚Kunst für die Kunst‘ und eine rhetorische der Kunst für das Leben. So wie es schon dem jungen George um die soziale Wirksamkeit im Zeichen der Kunst geht und er deshalb auch früh beginnt, Gleichgesinnte um sich zu versammeln, so wendet er sich auch schon früh ihnen schreibend zu und wirkt auf sie ein. Wo die Idee autonomer Kunst Maßstab poetischer Kulturkritik bleibt, reduziert sich die Gefahr, dass sie in rechte Ideologie übergeht. Man sieht das bei George an den Zeitgedichten des Siebenten Rings (1907), die umstritten sind und umstritten sein wollen. Sie wollen die kritische Konfrontation, unverkennbar in Zeitgedichten wie Die tote Stadt oder Porta Nigra (SW VI/VII, 30 f.,

54 Erich von Kahler, „Stefan George. Größe und Tragik“, in ders., Untergang und Übergang. Essays,

München 1970, 228–249, hier 247. Ich greife hier einen Hinweis Jürgen Wertheimers auf (Dialogisches Sprechen, 245, Anm. 78). 55 Erich von Kahler, „Stefan George. Größe und Tragik“, 248. 56 Vgl. William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrungen. Eine Studie über die menschliche Natur, Frankfurt a.M./Leipzig 1997 [1901], Vorlesung IX und X (‚Bekehrung‘). Zu ‚Bekehrung‘ und ‚Umkehr‘ als Interpretationsmuster der Begegnung mit Stefan George vgl. Wolfgang Braungart: „Metánoia. Georges Poetik der Entschiedenheit“, in Ute Oelmann/Ulrich Raulff (Hgg.), Frauen um Stefan George (Castrum Peregrini NF 3), Göttingen 2010, 59–83. Weiter ausgreifend: Christian Heidrich, Die Konvertiten. Über religiöse und politische Bekehrungen, München 2002; Karlheinz Ruhstorfer, Konversionen. Eine Archäologie der Bestimmung des Menschen bei Foucault, Nietzsche, Augustinus und Paulus, Paderborn [u.a.] 2004. 57 Jürgen Wertheimer, Dialogisches Sprechen.

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16 f.). Dennoch geben auch sie im Ganzen ihren Kunstanspruch nicht preis. Man kann sie gewiss nicht einfach als schlechte Gedichte abtun. Das muss selbst der einräumen, dem ihr ‚ästhetischer Konservatismus‘, vielleicht sogar, mit Stefan Breuer, ihr „ästhetischer Fundamentalismus“, widerstrebt. 58 Anders kann das aber in den Gesprächsäußerungen und Briefen Georges sein; anders ist es vor allem in vielen, oft – man kann es kaum anders sagen – unsäglichen poetischen Versuchen der Kreismitglieder. Äußerst harsch und schroff bis hin zum elitärsten Zynismus kann diese poetische Kulturkritik Georges ausfallen, weil sie ihren Kern in einem emphatischen Kunstbegriff hat, nicht aber, diesen fundierend, in einem emphatischen Begriff des Subjekts. Darin unterscheidet sich George von der Ästhetik des Deutschen Idealismus, und darum ist der Schritt zur ideologischen Indienstnahme so leicht getan. Bei Schiller ist das autonome Kunstwerk das größte Symbol für das Subjekt in seiner Freiheit; und das ästhetische Spiel ist Einübung in das freie Subjekt-Sein im Dienste der menschlichen Gattung. Bei George geht es dagegen um die ‚Entscheidung‘ für, mit Adornos berühmter Formel, ein anderes ‚Leben im falschen‘. Auf diese Figuren der Konversion und des Umbruchs hat George freilich kein Monopol. 59 Als poeta vates, als seherischer, kündender und verwerfender Dichter richtet George sich zunächst an diejenigen, die es wert sind, sich angesprochen zu fühlen. Seine Gedichte sind auf die Gemeinschaft im engeren und die Gesellschaft im weiteren Sinn hin angelegt, bis zur Entwicklung von Vorstellungen, wie diese Gemeinschaft aussehen soll: eine charismatisch geführte Elite, in der der Einzelne erst wirklich seine Identität finden kann und als deren Zentrum nach der Jahrhundertwende im Gedichtband des Siebenten Rings der von George selbst konstituierte, poetische Gott Maximin gelten soll. Dieses von ihm selbst poetisch konstituierte ‚göttliche Kind‘ (Vergil, Vierte Ekloge) wird Georges Muse (Stern des Bundes, 1914). Schon im Urchristentum „heißen die charismatischen Verkünder des Gotteswortes ‚Propheten‘“. 60 Der Sprachgestus Georges wird im Verlauf seiner poetischen Entwicklung immer häufiger thetisch, verkündigend, fordernd, oratorisch. Das schlägt sich auch in der Wahl der Gattung nieder (Sprüche an die Lebenden, SW IX, 71 f.): Freu dich an dem wert der gabe; Liebe freilich kennt kein maass (SW IX, 73). Im Fortgang von Georges Werk entwickelt sich auch diese Anlage auf die Gemeinschaft hin.

58 Vgl. Jan Andres/Wolfgang Braungart/Kai Kauffmann (Hgg.), „Nichts als die Schönheit“. Ästheti-

scher Konservatismus um 1900, Frankfurt a.M./New York 2007; Stefan Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995. 59 Zu diesem Kontext jetzt: Daniel Meyer/Bernard Dieterle (Hgg.), Der Umbruchsdiskurs im deutschsprachigen Raum zwischen 1900 und 1933, Heidelberg 2011. 60 Reinhold Glei, „Prophetie“, in Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Bd. 7, Darmstadt 1989, 1473–1475, hier 1474.

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7. Georges lyrisches Werk fällt aber nicht in eine priesterlich-sakrale Feier autonomer Kunst und in eine prophetisch-rhetorische Kritik der modernen Welt auseinander. Bezeichnend ist gerade, dass er schon in einem seiner frühen Werke, dem Zyklus Algabal, in dessen Zentrum der spätrömische Kaiser steht, die Verabsolutierung der Rolle des DichterPriesters sehr kritisch sieht. Kaiser Algabal, der hier spricht, „ist auch ein Priester“. 61 Im berühmtesten Gedicht dieses Zyklus Im Unterreich heißt es zunächst (erste Strophe): Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme · Der garten den ich mir selber erbaut Und seiner vögel leblose schwärme Haben noch nie einen frühling geschaut.

Die radikal autonome, in radikaler Selbstherrlichkeit erbaute Kunst-Welt dieses poetischen Gartens – der Garten ist ein altes, in der Literatur um 1900 besonders gerne genutztes Symbol für die Dichtkunst – zeigt sich als Reich des Todes: Von kohle die stämme · von kohle die äste Und düstere felder am düsteren rain Der früchte nimmer gebrochene läste Glänzen wie lava im pinien-hain.

Die letzte Strophe nimmt unübersehbar Bezug auf die Blaue Blume der Romantik – und verkehrt die Semantik dieses großen Symbols in ihr genaues Gegenteil: Wie zeug ich dich aber im heiligtume – So fragt ich wenn ich es sinnend durchmass In kühnen gespinsten der sorge vergass – Dunkle grosse schwarze blume? (SW II, 63)

Dieser bloß selbstherrliche heilige Dienst an der Kunst (heiligtume) in äußerster sozialer Isolation und eisiger Kälte des Gefühls ist nichts als ein toter Kult. 62 Er kennt nicht die sorge, er lässt sie, wie das Gedicht selbst sagt, vergessen: also den Daseins-Modus, der uns menschlichen Wesen bestimmt ist, wie schon die berühmte antike Cura-Fabel lehrt, die Martin Heidegger in das 6. Kapitel des ersten Teils von Sein und Zeit aufgenommen (Die Sorge als Sein des Daseins) und die als Selbst-Sorge auch Michel Foucault so intensiv beschäftigt hat. Die Sorge ist es, die uns im Leben hält. Das Schlussgedicht des Algabal-Zyklus ist das berühmte Gedicht Vogelschau. Damit ist es auch das Schlussgedicht des gesamten zweiten Bandes der von George selbst besorgten Werkausgabe in der endgültigen Fassung, wie es auf dem Titelblatt bezeichnenderweise heißt. Wie bei vielen Eröffnungs- und Schlussgedichten nützt George die pro61 Bernhard Böschenstein, „Garten und Tod in Gedichten Georges, Rilkes und Trakls. Eine Skizze“, in

Compar(a)ison 1 (2007), Themenheft ‚Le jardin et la mort‘, 29–36, hier 30. 62 Vgl. ebd. 30.

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minente Position dieses Gedichtes. Von den Wandervögeln wird es übrigens bis heute gesungen. Dieses Gedicht ist poetologisch hochgradig selbstreflexiv. Der poeta vates richtet seine schau, seinen seherischen Blick, auf sich selbst und seine Tätigkeit: Vogelschau Weisse schwalben sah ich fliegen Schwalben schnee- und silberweiss Sah sie sich im winde wiegen In dem winde hell und heiss. Bunte häher sah ich hüpfen Papagei und kolibri Durch die wunder-bäume schlüpfen In dem wald der Tusferi. Grosse raben sah ich flattern Dohlen schwarz und dunkelgrau Nah am grunde über nattern Im verzauberten gehau. Schwalben seh ich wieder fliegen Schnee- und silberweisse schar Wie sie sich im winde wiegen In dem winde kalt und klar! (SW II, 85)

Am Ende geht das Gedicht ins Präsens über. Es kommt im ‚Kalten‘ und ‚Klaren‘ an; es durchläuft einen Klärungsprozess vom Heißen und Bunten über das Dunkle und Gefährliche. 63 Von diesem Konzept kühlster priesterlicher Feier der Kunst geht es nicht weiter, nicht in der Poesie, die nur tautologisch werden könnte, und nicht im Leben. George hat also selbst gesehen, welche äußerst vorgeschobene Position der Algabal-Zyklus darstellt. An Hofmannsthal schreibt er den bis heute viel zitierten Satz: was ich nach Halgabal noch schreiben soll ist mir unfasslich. 64 George spürt früh, dass der Kult der reinen Kunst steril und geradezu terroristisch werden kann. War der soziale Ort der neuen Kunst-Religion in der Romantik der Salon, die scharfsinnig ironische, selbst ‚progressive‘ Geselligkeit, so ist es bei George das ‚schöne Leben‘, von dem schon das Eröffnungsgedicht Vorspiel der folgenden Bücher der Hirtenund Preisgedichte der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten (1895) spricht: das schöne Leben der auserwählten Elite, die im Sozialen das Komplement zur reinen Kunst bildet und so selbst kulturkritisches Gegenmodell zum unsinnigen Treiben der modernen ‚Masse‘ wird. Die poetische Umkehr, die Konversion, zu vollziehen, weg von den Irrwegen des zeitgenössischen Naturalismus, ist von Anfang an eine Grundintention des Werkes, wie 63 Für eine eingehendere Interpretation vgl. den Abschnitt ‚Selbstbezüglichkeit‘ in Wolfgang Braungart,

Ästhetischer Katholizismus, 254–264. 64 Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal, 12.

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George gleich in der ersten Folge der Blätter für die Kunst 1892 programmatisch verlautbaren lässt: Seine neue kunst müsse im gegensatz zu jener verbrauchten und minderwertigen schule die einer falschen auffassung der wirklichkeit entsprang, stehen. 65 Diese Konversion zur neuen kunst – In der kunst glauben wir an eine glänzende wiedergeburt 66 – weitet sich nach der Jahrhundertwende aus zum Programm einer kulturellen und sozialen Umkehr: George sieht sich mehr und mehr als einer, der [e]in Drüben schuf durch umkehr eures Hier. / Der euren wahnsinn so lang in euch schrie / Mit solcher wucht dass ihm die kehle barst (SW VIII, 34). Hier wäre nun ein neues Kapitel zu beginnen, das auch – im Hinblick auf 1933 – von den inneren Differenzierungen des George-Kreises zu sprechen hätte, aber über die ‚zwei Rollen des modernen Dichters‘, die ich hier skizziert habe, weit hinausführen müsste. 67

65 Blätter für die Kunst. Begründet von Stefan George, hg. v. Carl August Klein 1892–1919. Abgelich-

teter Neudruck, Düsseldorf/München 1969, Folge I und II, 1. 66 Ebd.; meine Hervorhebung. 67 So wie sich auch die Jugendbewegung differenziert. Vgl. Gudrun Fiedler, Jugend im Krieg. Bürger-

liche Jugendbewegung, Erster Weltkrieg und sozialer Wandel 1914–1923, Köln 1989. Hier wie dort gibt es in dieser Frage der Vorgeschichte des Nationalsozialismus freilich keine einfachen Antworten.

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Medien des Propheten Marshall McLuhan und Thomas Mann

Am 21. Juli 1911 wurde der Literaturwissenschaftler und Medientheoretiker Herbert Marshall McLuhan in Edmonton/Kanada geboren. Im Jahr 2011 wäre er 100 Jahre alt geworden – Anlass für Medien und Feuilleton, an denjenigen zu erinnern, dessen Behauptung, dass das Medium die Botschaft sei, 1 längst zum geflügelten Wort geworden ist, auch und gerade in ihrer auf einen Schreibfehler zurückgehenden, vom Autor nachträglich approbierten Verstellung, die aus der message eine massage 2 machte. Die Zeitschrift Literaturen zeigt in ihrer Ausgabe Nr. 101 vom Mai/Juni 2011 auf der Titelseite ein Porträt von McLuhan, das mit der Unterschrift „Der Prophet unserer Gegenwart. Marshall McLuhan: Guru des Globalen Dorfs“ versehen ist. McLuhan ist das Titelthema dieser Literaturen-Nummer und in den Beiträgen, die ihm gewidmet sind, setzt sich der Prophetendiskurs fort. Man erfährt zum Beispiel, wie ein Prophet heute aussieht: „Exzentrische Krawatten, wirre Haare, grandiose Rhetorik“. 3 McLuhans Prophetentum wird damit begründet, dass seine Aussagen über die Medienwelt, die sich vor über vierzig Jahren vor allem auf das Radio und das Fernsehen bezogen, erst in unserer digitalen Gegenwart ihre prognostische Bedeutung erhalten haben. Das Prophetenbild wird mit dem Hinweis 1 Vgl. Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media, Basel 21995, 21 (die ameri-

kanische Originalausgabe erschien 1964). 2 Vgl. Marshall McLuhan/Quentin Fiore, Das Medium ist Massage, koordiniert von Jerome Agel,

Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1984 (das amerikanische Original erschien 1967); vgl. Richard Cavell, „McLuhans Gespenster. Elf Anmerkungen für ein neues Lesen“, in McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert, hg. v. Derrick de Kerckhove/Martina Leeker/ Kerstin Schmidt, Bielefeld 2008, 270–284, hier 272. „The medium is the mess age“ und „the medium is the mass age“ sind weitere Versionen einer produktiven Rezeption. 3 Ronald Düker, „Prophet unserer Gegenwart. Exzentrische Krawatten, wirre Haare, grandiose Rhetorik: Vor hundert Jahren wurde der Medientheoretiker Marshall McLuhan geboren, der seine Zeitgenossen faszinierte und schockierte. Dabei entfaltet sein Denken erst im Internetzeitalter seine volle Wucht“, in Literaturen. Die Zeitschrift für Leser 101 (Mai/Juni 2011), 24–35.

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abgerundet, dass McLuhan mit 24 zum Katholizismus konvertierte, jeden Sonntag in die Kirche ging, ausschließlich an katholischen Hochschulen lehrte und von den Schriften des jesuitischen Theologen Teilhard de Chardin fasziniert gewesen sei. Auch die Wochenzeitschrift Die Zeit präsentiert den kanadischen Medientheoretiker anlässlich und sogar genau am Tag seines Geburtstags als Propheten, der Jünger hat, Fernseher und Computer zur Erlösungsreligion verklärte und mit seinen Prophezeiungen unsterblich geworden ist. Thomas Assheuer bezeichnet McLuhan als Visionär des Medienzeitalters und stellt fest: Wer McLuhan heute liest, kommt aus dem Staunen nicht heraus, der Mann war ein Hellseher, der groß gedacht und groß geirrt hat. 4 Auch hier wird McLuhan der Prophetenstatus zuerkannt, weil er bereits vor 50 Jahren die mediale Welt vorausgesehen hat, in der wir heute leben. Aber nicht nur im Rückblick, sondern auch bereits den Zeitgenossen erschien McLuhan als Prophet. So schreibt Hans Magnus Enzensberger 1970 im Kursbuch: Heute hat diese apolitische Avantgarde ihren Bauchredner und Propheten in Marshall McLuhan gefunden, einem Autor, dem zwar alle analytischen Kategorien zum Verständnis gesellschaftlicher Prozesse fehlen, dessen wirre Bücher aber als Sandgrube unbewältigter Beobachtungen an der Bewußtseins-Industrie dienen können. 5

Selbst die wissenschaftliche Literatur bemüht das Bild des ‚Propheten‘. 6 Dieter Mersch bezeichnet McLuhan überdies als „Visionär des elektronischen Zeitalters“ und spricht von seinen „Hymnen“. 7 Der McLuhan zugeschriebene Prophetenstatus ist dabei eng verbunden mit der Sache, die er vorausgesehen hat, die moderne Welt der Medien, das Apriori des Medialen, die völlige Immersion des Menschen in seiner medialen Umwelt. McLuhans Katholizismus dient dabei als eine probate Handhabe, Erscheinung und Funktionsweise der Medien in einen religiösen Bedeutungshorizont zu stellen, umso mehr als Religiosität und Medienexpertise einem landläufigen Verständnis zufolge eher gegensätzliche Pole bilden. Heißt es in Ronald Dükers Literaturen-Artikel, „die Frage nach den strukturellen Parallelen zwischen Religion und Medientheorie [liege] auf der Hand. Heilige, Engel, Reliquien – auch der Maschinenraum des Katholizismus führt ein beachtliches Arsenal vermittelnder Instanzen“ 8, begründet Mersch McLuhans „Prophetie“ 9 des 4 Thomas Assheuer, „Der Magier. In diesen Tagen wäre Marshall McLuhan, der einflussreichste

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Medientheoretiker aller Zeiten, 100 Jahre alt geworden. Er verklärte Fernseher und Computer zur Erlösungsreligion. Seine Jünger tun das noch heute“, in Die Zeit, 21. Juli 2011, http://www.zeit.de/ 2011/30/Medientheoretiker-McLuhan (30.11.2011). Zit. n. Detlef Kremer, Literaturwissenschaft als Medientheorie, Münster 2004, 35. Vgl. John Durham Peters, „McLuhans grammatische Theologie“, in Derrick de Kerckhove [u.a.] (Hgg.), McLuhan neu lesen, 61–75, hier 61, 66, 68 (aus dem Amerikanischen von Michael Barchet); vgl. auch Dieter Mersch, „Kritik des Medienteleologismus. McLuhan, Flusser und Hegel“ in Derrick de Kerckhove [u.a.] (Hgg.), McLuhan neu lesen, 196–209, hier 207 oder Richard Cavell, „McLuhans Gespenster“, 271. Dieter Mersch, „Kritik des Medienteleologismus“, 206. Ronald Düker, „Prophet unserer Gegenwart“, 34. Dieter Mersch, „Kritik des Medienteleologismus“, 206.

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emphatischen Aufbruchs medienphilosophisch und nimmt im McLuhan’schen Medienteleologismus eine religiöse Struktur wahr. Gegenüber Hegels Auffassung des Medialen als Übergang zur reinen Form, „wie er für den künstlerischen Ausdruck oder den religiösen Glauben kennzeichnend ist“ 10, hätten Medientheoretiker wie McLuhan, Flusser, Baudrillard und andere das Medium „als Transzendentalität aller kultureller Praxis“ 11 ernst genommen. „Medialität bezeichnet dann die Bedingung der Möglichkeit aller Erscheinung oder Signifikation, mithin ein apriorisches Konstituens, das alle Wahrnehmung und Erkenntnis, jeden Zeichenprozess sowie alles Verstehen und Handeln bereits terminiert und damit auch immer schon verändert und modifiziert haben wird.“ 12

McLuhans Buch Understanding Media sei, so Mersch, das erste Werk gewesen, das den transzendentalen Aspekt des Medialen herausgestellt hätte. 13 Im Anschluss an McLuhans Diktum, demzufolge ein Medium nur in einem anderen Medium vorkommt und reflektiert werden kann, geht Merschs negative Medienphilosophie davon aus, dass Medien im Erscheinen verschwinden und im Verschwinden erscheinen. 14 Kritik übt er am sich auf Hegels Konzept vom Gang der Vernunft zurückführenden teleologischen Verständnis der Medienentwicklung, dem zahlreiche Medientheoretiker, nicht zuletzt McLuhan, verpflichtet sind. Die europäische Kultur ist in dieser triadisch verfassten medienteleologischen Sicht von Skripturalität und Textualität geprägt; die Linearität der Schrift löst eine mit Logik, Rationalität, Kausalität und Wissenschaftlichkeit konnotierte Kulturentwicklung aus, die durch die elektronischen Medien abgelöst wird und eine phantasmatische Rückkehr zu archaischen Formen einer unmittelbaren Kommunikation verspricht. 15 Eben dieses triadische Geschichtsmodell der Medienentwicklung liest Thomas Assheuer in der Zeit als klassischen Dreischritt ‚Paradies – Sündenfall – Erlösung‘. 16 Das Paradies steht für die voralphabetische, oral verfasste archaische Kultur, die McLuhan in Die Gutenberg-Galaxis etwa folgendermaßen darstellt: 10 11 12 13

Ebd. 196. Ebd. 197. Ebd. Vgl. ebd. 199; vgl. auch ebd. 208: „Als ‚Drittes‘, das buchstäblich ‚Dazwischen‘ liegt, entzieht sich der Medienbegriff jeder positiven Bestimmung. Medialität bezeichnet darum auch keine identifizierbare Struktur, die vorläge und auf ihre Bedingungen hin zu analysieren wäre; vielmehr unterliegt die Frage des Medialen der grundlegenden philosophischen Crux, dass Medien stets entweder nur in einem anderen Medium beschreibbar sind, das sie zugleich verschiebt und verzerrt, oder aber sich entlang der Splitter seiner Effekte und ihrer Verwerfungen bemerkbar macht.“ Ganz anders, ja sogar gegen McLuhan, begründet Sybille Krämer ihre neue Metaphysik des Mediums; vgl. Sybille Krämer, Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a.M. 2008. 14 Vgl. Dieter Mersch, „Kritik des Medienteleologismus“, 199. 15 Vgl. ebd. 203 f., 207. 16 Thomas Assheuer, „Der Magier“. Detlef Kremer, Literaturwissenschaft als Medientheorie, 40 spricht von einem Vierschritt in McLuhans teleologischem Denken: auf die orale Stammeskultur folge die literale Manuskriptkultur, die durch Typografie bestimme Gutenberg-Galaxie und das elektronische Zeitalter.

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Der Alphabetismus gibt den Menschen die Fähigkeit, ihre Augen auf einen Punkt zu fokussieren, der in einiger Entfernung vom Bild liegt, so daß sie das ganze Bild mit einem Blick überschauen können. Nichtalphabetische Menschen besitzen diese erworbene Gewohnheit nicht und schauen Gegenstände nicht auf unsere Weise an. Vielmehr tasten sie mit ihren Augen Gegenstände und Bilder so ab, wie wir die Druckseite abtasten, Stück um Stück. Daher haben sie keinen distanzierten Gesichtspunkt. Sie sind völlig beim Objekt. Sie fühlen sich in es hinein. Das Auge wird sozusagen nicht perspektivisch, sondern tastend gebraucht. Euklidische Räume, die weitgehend auf der Trennung des Sehens vom Tasten und vom Hören beruhen, sind ihnen unbekannt. 17

Das Buchzeitalter ist, so liest Assheuer McLuhan, die Zeit des Sündenfalls, von der die elektronische Revolution die Erlösung bringt. Dieser Medienteleologismus impliziert, wie Mersch ausführt, eine lediglich retrospektiv feststellbare Wirkung der Medien: „Erst vor dem Hintergrund der Buchkultur werden die medialen Strukturen der oralen Kultur und erst vor der Folie elektronischer Medien die Effekte der literalen sichtbar.“ 18 Die Technik erscheint in dieser ‚religiös‘ anmutenden Betrachtung auch in Merschs Lektüre als eschatologisch gedachte „Erlösungsfigur“ 19. Das retrospektiv-teleologische Zeitmodell ist für den Prophetenstatus von konstitutiver Bedeutung: Reflexive Distanz, so gibt Mersch zu denken, ist im Rückblick nur gegenüber zurückliegenden Zeiten möglich. Gegenüber der Gegenwart lässt sich keine kritisch-reflexive Distanz einnehmen, sie wird erst in der Zukunft lesbar. Die sich immer erst abzeichnende „Zukunft der Gegenwart“ 20 benennt auf der Grundlage des kritisierten teleologischen Geschichtsdenkens eine conditio sine qua non prophetischer Vorausschau, die sich freilich nur in der Retrospektive beglaubigen lässt. Die Gegenwart aus der Perspektive der Zukunft zu betrachten, erfordert ein Sichherausnehmen aus der Zeit, ein Sichdistanzieren von der eigenen Gegenwart, das freilich nur bedingt möglich ist. Insofern kann die zukünftige Perspektive auf die Gegenwart immer nur eine gegenwartsgesättigte sein. Anders gesagt: Das Wissen um die „Zukunft der Gegenwart“ erzwingt einen genau zusehenden und damit sich distanzierenden Blick auf das Gegenwärtige, der in der Gegenwart die Zukunft wahrnimmt und die Zukunft metaleptisch als gegenwärtig diagnostiziert. Literaturen zitiert McLuhan mit folgender Aussage: In Wirklichkeit [. . .] sage ich (. . .) nur vorher, was bereits geschehen ist, und denke bloß einen laufenden Prozess bis zu seinem logischen Schluss zu Ende. 21 McLuhan geriert sich hier eher als Prognostiker, 17 Marshall McLuhan, Die Gutenberg-Galaxis. Die Entstehung des typographischen Menschen, mit

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einem Vorwort von Richard Cavell, aus dem Amerikanischen von Max Nänny, Hamburg/Berkeley 2011, 49 (die amerikanische Originalausgabe The Gutenberg-Galaxy. The Making of Typographic Man erschien 1962. Die bei Gingko Press 2011 erschienene deutsche Neuauflage druckt auf der Buchrückenseite die Literaturen-Schlagzeile ab: „Der Prophet unserer Gegenwart“). Vgl. Dieter Mersch, „Kritik des Medienteleologismus“, 207. Vgl. ebd. 205. Vgl. ebd. 208. Sprachlich realisiert sie sich etwa auch in der bereits zitierten Textstelle (S. 345, Fußnote 12: Medialität als Konstituens, „das alle Wahrnehmung und Erkenntnis, jeden Zeichenprozess sowie alles Verstehen und Handeln bereits terminiert und damit auch immer schon verändert und modifiziert haben wird“ [197; Hervorhebungen M. W.-E.]). Marshall McLuhan, zit. n. Ronald Düker, „Prophet unserer Gegenwart“, 29.

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der die Gegenwart in die Zukunft hochrechnet, denn als Prophet. In einem ebenfalls in Literaturen abgedruckten Interview mit dem Schriftsteller Tom Wolfe, das belegen soll, „wie hellsichtig diese beiden Intellektuellen in die Zukunft geblickt haben“ 22, und in dem McLuhans Vorhersagen in Bezug auf das Verhältnis von Krieg und Berichterstattung etwa oder die US-amerikanische Schulpolitik zur Debatte stehen, wird McLuhan mit folgendem prophetisch anmutenden, kryptischen ‚Wahrspruch‘ zitiert: Ich habe mich immer sehr bemüht, niemals etwas vorherzusagen, was nicht bereits eingetreten war. Die Zukunft ist nicht mehr das, was sie mal war. Sie ist hier. Und wenn du in den Rückspiegel schaust, dann siehst du meist nicht das Auto, das du gerade überholt hast, sondern den Lastwagen, der mit hoher Geschwindigkeit auf dich zurollt. Sieh nie zurück. Sie werden dich vielleicht einholen. Du kannst also nicht verlieren. Du kannst nicht gewinnen. In der Gegenwart sind Vergangenheit und Zukunft enthalten. 23

Eine strukturell vergleichbare Ausführung der für das Prophetenparadigma kennzeichnenden metaleptischen Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft findet sich, gestaltet von Quentin Fiore, in Das Medium ist Massage (Abb. 1). Dass Vergangenheit nur aus der Perspektive der Gegenwart Vergangenheit ist ebenso wie die Zukunft eine Gegenwartskonstruktion darstellt, ist das Grundmuster der Teleologie. In diesem Sinn hat Friedrich Schlegel in den Athenäums-Fragmenten den Historiker als „rückwärts gekehrte[n] Prophet[en]“ bezeichnet. 24 Der Prophet ist die Reflexions- und Überschreitungsfigur dieser teleologischen Relationalität: er blickt aus der Gegenwart in die Zukunft und aus dieser zurück in die Gegenwart, die auf diese Weise zur Vergangenheit der Zukunft wird (Abb. 2). Die Propheten-Karikatur aus dem New Yorker führt anschaulich vor Augen, dass die metaleptische Verschränkung von Gegenwart und Zukunft, die für die Figuration des Propheten in der Moderne kennzeichnend zu sein scheint, den Propheten dann im wahrsten Sinne des Wortes ‚alt‘ aussehen lässt, wenn sich seine Voraussagen im Rückblick nicht bewahrheiten. Ein weiser Prophet wird daher seine Prophezeiungen hinreichend allgemein halten müssen, sollen sie sich im Rückblick bestätigen. Die Bestätigung kann freilich nur von der Nachwelt vorgenommen werden, die bereit ist, ihre Gegenwart in der vormaligen Zukunftsprognose des Propheten wiederzuerkennen. Sie ist es denn auch, der es obliegt, den Prophetenstatus rückblickend, wie im Falle von McLuhan, zuzuerkennen.

22 „ ‚Die Zukunft ist nicht mehr das, was sie mal war. Sie ist hier‘. Ein Gespräch zwischen Marshall

McLuhan und Tom Wolfe über Literatur, Musik, Medien – und unser Zusammenleben“, aus dem Amerikanischen von Rainer Höltschl, in Literaturen. Die Zeitschrift für Leser 101 (Mai/Juni 2011), 37–43. In diesem Interview werden eine ganze Reihe von Aussagen über Autorschaft gemacht, die der Diskussion wert sind, beispielsweise über das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Lyrik und Radio, Autor und Buch etc., auf die im Einzelnen hier nicht eingegangen werden kann. 23 Ebd. 43. 24 Friedrich Schlegel, Athenäums-Fragmente 80, in: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), hg. und eingel. v. Hans Eichner, München, Paderborn, Wien 1967, 165–272, hier 176 (für den Hinweis auf Schlegel sowie für seine kritische Lektüre dieses Beitrags danke ich Christian Sieg).

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Abb. 1: Marshall McLuhan/Quentin Fiore, in Das Medium ist Massage (1984), 74 f.

McLuhans prophetischer Gestus wird in der Forschung aber auch noch anders begründet. In seinem kritischen Rückblick auf den kanadischen Medientheoretiker beschreibt John Durham Peters auf der Grundlage von McLuhans erst spät veröffentlichter Dissertation aus dem Jahr 1943 seine Medientheorie als „grammatische Theologie“ 25. Ausgehend von der Schwierigkeit, McLuhan als eindeutigen, klar konturierten Theoretiker zu erfassen, 26 postuliert Peters eine von McLuhan selbst hergestellte Nähe zwischen mit25 John Durham Peters, „McLuhans grammatische Theologie“, 61, 66, 68. 26 „Geht es um den Professor der Anglistik, der 1951 The Mechanical Bride schrieb und sich dort als

entschlossener moralischer Kritiker der Vulgärkultur zeigte, ganz im Sinne von F. R. Leavis, seinem Lehrer in Cambridge? Haben wir es etwa mit einem technodeterministischen kanadischen Historiker und Medienphilosophen in den Fußstapfen von Harold Innis zu tun? Oder dem ersten Intellektuellen, der im Fernsehen über das Fernsehen spricht? Handelt es sich um einen modernistischen Literaturkritiker in der Nachfolge von Joyce und Pound? Oder doch eher um den katholisch-humanistischen Kritiker der Schriftkultur, dem wir in The Gutenberg Galaxy (1962) begegnen? Vielleicht

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Abb. 2: aus: The New Yorker (6/2011)

telalterlichem und modernem Denken, 27 für die das Wechselverhältnis von Grammatik, Rhetorik und Dialektik ausschlaggebend sei. „McLuhan als grammatischen Theologen zu lesen, ist einerseits die zugespitzte Version des traditionellen Verständnisses von McLuhan als katholischen Humanisten, aber es erhellt darüber hinaus auch sein Sprachverständnis und seine Vorstellung von Medienanalysen, sein systematisches Vermischen von Logik und Analogie, seine Unterdrückung dialektischen Denkens und seine Vorliebe für statische Thesen und bewegungslose Metaphern,“ erläutert Peters. 28 Grundlegend für ist McLuhan ja auch der gegenkulturelle Prophet des Cyberspace im Geiste von Wired Magazine oder dessen Vorläufer, Steward Brands Whole Earth Catolog. Ist McLuhan nun ein Weggefährte des Poststrukturalismus oder Frankfurter Schule, wie manche behauptet haben, oder hat er sich an die Konsumkultur verkauft, wie es ihm von den Cultural Studies lange Zeit vorgeworfen wurde?“ (John Durham Peters, „McLuhans grammatische Theologie“, 61.) 27 Vgl. dazu Herbert Marshall McLuhan, „Joyce, Aquinas, and The Poetic Process“, in Renascence. A Critical Journal of Letters 4/1 (1951), 3–11. Analogie und Äquivokation beschreibt McLuhan als sowohl erkenntnisleitende als auch poetische Prinzipien, die sich für ihn insbesondere in der Figur des Labyrinths vergegenständlichen. 28 John Durham Peters, „McLuhans grammatische Theologie“, 62. McLuhans Doktorarbeit ist dem grundlegenden Einfluss des sog. Trivium, also Grammatik, Rhetorik und Dialektik, auf die europäische Bildungsgeschichte gewidmet; vgl. Marshall McLuhan, The Classical Trivium. The Place of Thomas Nashe in the Learning of his Time, hg. v. William Terrence Gordon, Corte Madera 2006 (Diss. University of Cambridge 1943).

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den grammatischen Ansatz ist McLuhan zufolge die Annahme einer Korrespondenz zwischen sprachlicher Ordnung und der Ordnung der Natur. Daraus ergibt sich für ihn, so interpretiert Peters, ein fundamentales Vertrauen darauf, dass die Welt verstanden werden könne; im Zusammenhang damit stünde auch McLuhans Neigung zur Enzyklopädie, deren Modus der Wissensorganisation das Nebeneinander ist. McLuhan selbst sprach von seiner „ ‚Mosaik-Methode‘ der Patchwork-Argumentation“ 29. Auch Kremer verweist auf McLuhans „ausgeprägte[n] Hang zur Textcollage“, sieht in ihr aber eine dezidierte, gegen die Gutenberg-Galaxie gerichtete Programmatik, die sich mit dem Aufkommen der elektronischen Medien gezielt gegen Linearität, Finalität und Kausalität der Buchund Schriftkultur wendet. „Von einem Jenseits der Gutenberg-Galaxie her argumentierend, komponiert McLuhan seine Texte zirkulär, mosaikhaft und fragmentarisch und nimmt mit ihrem Collagen- oder Baukastenprinzip die erst später entwickelten Hypertextstrukturen voraus. Mit Bezug auf vormoderne Kriterien der Analogie und Ähnlichkeit sperrt er sich gegenüber einer rationalen, logischen Beweisführung und fügt anstatt dessen seinen Schriften ein ästhetisches Motiv ein: Wortspiele, Anspielungen, Aphorismen fügen sich nicht der Schlüssigkeit des Beweises, sondern sind an sinnlicher Vielfalt, Gedankenreichtum und der beliebigen Rekombinierbarkeit des mosaikhaft arrangierten Materials interessiert.“ 30

McLuhan gehe es darum, so Kremer weiter, „das Gutenberg-Medium Buch im Buch aufzuheben“ 31. Für Peters bildet McLuhan den „Kontrapunkt zur mathematischen Kommunikationstheorie“, die in den 1950er-Jahren prägend wurde. Als Erklärung verweist er auf die mögliche Vorbildwirkung eines theologischen Konzepts: „Vielleicht bedurfte es eines Denkers, der mit der Theologie der Inkarnation vertraut war, um die Untrennbarkeit von Geist und Körper der Kommunikation zu entdecken und darauf zu bestehen, dass es keine Information ohne Form gibt [. . .].“ 32 Und: Sein grammatisches Denken ist letztlich ein literarisches, das sich in Wortspielen gefällt und in der Zurückweisung der Dialektik und damit auch der epistemologischen Befragung der eigenen Prämissen „ein Selbstbewusstsein“ hervorbrachte, „das sich an der Schwelle zur Arroganz bewegen konnte“. 33 Die mit dem Anspruch auf Erlösung verbundene Poetik des heterogenen Nebeneinanders ist konstitutives Merkmal von McLuhans Medienteleologie; ihr Zusammenspiel bildet die Grundlage von McLuhans Propheten-Image. In Thomas Manns Erzählung Beim Propheten nimmt die am Beispiel McLuhans herausgearbeitete Grammatik des Prophetischen literarische Gestalt an.

29 Zit. n. Dieter Mersch, „Kritik des Medienteleologismus“, 197. Georg Christoph Tholen verweist

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im Blick auf die Gutenberg-Galaxis auf McLuhans „kursorisch oder mosaikartig argumentierendes Werk“ (Georg Christoph Tholen, „Mit und nach McLuhan. Bemerkungen zur Theorie der Medien jenseits des anthropologischen und instrumentellen Diskurses“, in Derrick de Kerckhove [u.a.] (Hgg.), McLuhan neu lesen, 127–139, hier 129). Detlef Kremer, Literaturwissenschaft als Medientheorie, 37; vgl. 36f. Ebd. 37. John Durham Peters, „McLuhans grammatische Theologie“, 65. Ebd. 67.

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Die Erzählung Beim Propheten entstand im Frühjahr 1904. In seinem Kommentar zur Erzählung weist Terence J. Reed darauf hin, dass die Prophetenfigur gerade den jungen Thomas Mann beschäftigt und er in ihr eine „Maske für das eigene Problem von Ehrgeiz, Geltungsbedürfnis, Selbstbehauptung und Selbstzweifel“ gesehen habe. 34 In seinem 1913 erschienenen Essay Der Literat vergleicht Mann den Literaten explizit mit dem Propheten. Da heißt es: Der Literat ist anständig bis zur Absurdität, er ist ehrenhaft bis zur Heiligkeit, ja, als Wissender und Richtender den Propheten des alten Bundes verwandt, stellt er in der Tat auf seiner vornehmsten Entwicklungsstufe den Typus des Heiligen vollkommener dar, als irgendein Anachoret einfacherer Zeiten. 35

Allerdings werde, so Reed, in Beim Propheten das prophetische Pathos bereits ironisiert und verabschiedet. Der in der Erzählung auftretende bürgerliche Novellist, in dem unschwer Thomas Mann selbst zu erkennen ist, zeige sich als eher der Gesellschaft und dem Leben zugewandt und kündige eine zukünftige, sich an den „Humaniora“ orientierende Poetik an. 36 Tatsächlich gehen die biographischen Bezüge, wie auch Reeds Kommentar deutlich werden lässt, bis ins Einzelne. Allerdings ist offenkundig, dass auch der Handfesterem als prophetischen Allgemeinplätzen und Abstrakta zugewandte Novellist mindestens genauso ironisch dargestellt wird wie die prophetische Inszenierung, der er beiwohnt. Im Folgenden sollen die Inszenierung des Propheten in Thomas Manns Erzählung im Hinblick auf ihren Einsatz und die Funktion von Medien untersucht und die Frage beantwortet werden, wie sich Literatur und Prophetie in der Perspektive von Manns Erzählung zueinander verhalten, ob und in welcher Weise Autorschaft als prophetisch markiert wird und welche Bezüge sich zum prophetischen Gestus von McLuhans Medienteleologie herstellen lassen. Szene des Geschehens in Thomas Manns Erzählung ist die Wohnung des Propheten Daniel, in der sich dessen Jünger versammeln, um an einer Lesung seiner Proklamationen teilzunehmen. Historisches Vorbild für den Propheten Daniel ist der George-Jünger Ludwig Derleth (1870–1948), der tatsächlich am 1. April zu einer Lesung seiner Proklamationen in seine Schwabinger Wohnung eingeladen hatte. 37 Thomas Mann nahm an dieser Veranstaltung teil (Abb. 3). 34 Terence James Reed, „Beim Propheten“, in Thomas Mann, Frühe Erzählungen 1893–1912, Kom-

mentar von Terence James Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, hg. v. Heinrich Detering [u.a.], Bd. 2.2, Frankfurt a.M. 2004, 278–288, hier 279. 35 Thomas Mann, „Der Literat“, in Essays I, 1893–1914, hg. und textkritisch durchgesehen von Heinrich Detering unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, hg. v. Heinrich Detering [u.a.], Bd. 14.1, Frankfurt a.M. 2001, 354–362, hier 362; vgl. Terence James Reed, „Beim Propheten“, 279. 36 Vgl. Terence James Reed, „Beim Propheten“, 279f. 37 Über Derleth und seine Proklamationen vgl. auch Raymond S. Furness, „Ludwig Derleth and ‚Die Proklamationen‘ “, in Forum for Modern Language Studies 15 (1979), 298–304 und Dietmar Kainer, „Thomas Mann und Ludwig Derleth unter besonderer Berücksichtigung der Erzählung ‚Beim Pro-

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Abb. 3: Einladungskarte zur Lesung aus Derleths Proklamationen; aus: Terence James Reed, „Beim Propheten“, 282

Der Name Daniel verweist auf den Propheten des Alten Testaments, den Protagonisten des Buches Daniel, der als Kind in das Reich des Nebukadnezar gebracht worden war und für seine Gabe, Träume deuten zu können, bekannt wurde. Den Juden gilt Daniel nicht als Prophet, weil er nicht mit Gott selbst gesprochen hat, sondern lediglich mit Engeln. Manns Prophet Daniel lebt am Rande der Großstadt, in einer eher ärmlichen Dachwohnung, zu der die Besucherinnen und Besucher zahlreiche Treppen empor steigen müssen: Seltsame Orte gibt es, seltsame Gehirne, seltsame Regionen des Geistes, hoch und ärmlich. An den Peripherien der Großstädte, dort, wo die Laternen spärlicher werden und die Gendarmen zu zweien gehen, muß man in den Häusern emporsteigen, bis es nicht weiter geht, bis in schräge Dachkammern, wo junge, bleiche Genies, Verbrecher des Traumes, mit verschränkten Armen vor sich hinbrüten [. . .]. 38

Wenn für prophetische Offenbarungen gilt, dass sie wegweisenden ethischen Charakter für eine Gemeinschaft haben, 39 scheinen in der pluralistischen Gesellschaft der Moderne Propheten an die Peripherie der Großstadt, das heißt an den Rand der modernen Mehrheitsgesellschaft verdrängt worden zu sein. Der Ort ist so unscheinbar wie in seiner stolzen Abgeschiedenheit auch elitär und der Zeitpunkt des Treffens ist mit Bedacht gewählt: Karfreitagabend. Der Prophet macht sich in jedem Fall die christliche Zeichen- und Sym-

pheten‘ und der Dillinger Lebenszeugnisse Ludwig Derleths“, in Jahrbuch des Historischen Vereins Dillingen an der Donau 92 (1990), 489–534. 38 Thomas Mann, „Beim Propheten“, in Frühe Erzählungen 1893–1912, hg. u. textkritisch durchges. von Terence James Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Werke – Briefe – Tagebücher, hg. v. Heinrich Detering u.a., Bd. 2.1, 408–418, 408 (Nachweise aus Beim Propheten künftig im Text). 39 Bärbel Beinhauer-Köhler [u.a.], „Prophet/Prophetin/Prophetie“, in Hans Dieter Betz [u.a.] (Hgg.), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 4., völlig neu bearbeitete Auflage, Bd. 6: N–Q, Tübingen 2003, 1692–1708, hier 1692.

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bolsprache zunutze. Seine Besucher werden, nachdem sie mehrere Treppen hochgestiegen sind, 40 von einem Lichtschein empfangen: Sie stiegen in dem engen Treppenhaus wie in einem halbdunklen Schacht empor, zuversichtlich und ohne Aufenthalt; denn von oben, von dort, wo es nicht weiter ging, winkte ihnen ein Schimmer, ein zarter und flüchtig bewegter Schein aus letzter Höhe. Endlich standen sie am Ziel, unter dem Dach, im Licht von sechs Kerzen, die in verschiedenen Leuchtern auf einem mit verblichenen Altardeckchen belegten Tischchen zu Häupten der Treppe brannten. (409)

Der Prophet Daniel scheint also im Dienste des christlichen Gottes beziehungsweise Jesu Christi zu stehen. Es treffen sich bei ihm ein polnischer Maler, ein jüdischer Lyriker, ein Spiritist und Rittmeister a.D., ein junger Philosoph, eine Erotikerin 41 und nicht zuletzt ein Novellist mit bürgerlichen Bindungen, steifem Hut und gepflegtem Schnurrbart (vgl. 409), in dem man, wie gesagt, ein Porträt Thomas Manns erkennt und der entschlossen ist, sich wie in der Kirche zu benehmen (410). Die sich aus Künstlern und Intellektuellen zusammensetzende Gruppe weist darauf hin, dass die prophetische Veranstaltung um Geist, Kunst und Literatur zentriert ist. Empfangen werden die erwartungsvollen Besucher/innen von einem stummen Knaben, der ihnen mit einer Kerze in der Hand durch die Wohnung leuchtet. Im Vortragsraum erwartet sie eine feierlich schwankende und flimmernde Helligkeit, erzeugt von zwanzig oder fünfundzwanzig brennenden Kerzen (410). Hat McLuhan das elektrische Licht als ein Medium ohne Inhalt beschrieben, 42 ist das Kerzenlicht in der modernen elektrifizierten Gesellschaft eindeutig religiös konnotiert – erst recht, wenn die Eintreffenden von einem zweiten menschlichen Medium empfangen werden, das – es handelt sich um die Schwester des Propheten – auch noch den Namen Maria Josefa trägt. Ein weiteres Medium des Propheten ist seine Abwesenheit. ‚Er ist nicht hier‘, sagte Maria Josefa. ‚Er ist abwesend, ich weiß nicht, wo. Aber im Geiste wird er unter uns sein und die Proklamationen Satz für Satz verfolgen, während sie hier verlesen werden.‘ (410) Der Prophet lässt sich durch einen Jünger aus der Schweiz vertreten, von dem Maria Josefa beim Empfang nur sagen kann, dass er noch nicht da sei, im rechten Moment aber zur Stelle sein werde (vgl. 411). Als weiteres Medium 43 des Propheten 40 Friedhelm Marx, „Künstler, Propheten, Heilige. Thomas Mann und die Kunstreligion der Jahrhun-

dertwende“, Thomas Mann Jahrbuch 11 (1998), 51–60, hier 52 sieht hier eine Anspielung an „die zahlreichen Bergepiphanien des Alten und Neuen Testaments“. Maria Lucia Wacker, Poetik des Prophetischen. Zum visionären Kunstverständnis in der klassischen Moderne, Berlin/Boston 2013, 119, interpretiert die Dachstube des Propheten als klassische Heterotopie, nach Foucault also als einen Ort, der in seiner Abgeschiedenheit mit allen anderen Räumen der Gesellschaft in Verbindung steht (vgl. Michel Foucault, „Von anderen Räumen“, in Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. v. Jörg Dünne/Stephan Günzel, Frankfurt a.M. 2006, 317–329, hier 320). 41 Zum Porträt Franziska von Reventlows in Thomas Manns Erzählung vgl. Yahya Elsaghe, „Beim Propheten. Portrait und Ideologie in Thomas Manns Frühwerk“, in Neophilologus 88 (2004), 417–427. 42 Vgl. Detlef Kremer, Literaturwissenschaft als Medientheorie, 42; Georg Christoph Tholen, „Mit und nach McLuhan“, 132. 43 Zur Medialität der Propheten-Inszenierung vgl. auch Maria Lucia Wacker, Poetik des Prophetischen, 122, die den Mann’schen Propheten als „Leerstelle“ (110, 117) liest.

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nimmt der Besucher eine Fotografie des Abwesenden wahr, die auf einem Schrein an eine Heiligenfigur gelehnt steht. Dass der Schrein sowohl der namenlosen Heiligenfigur als auch dem Propheten Daniel gilt, ist von ambivalenter Eindeutigkeit: Zur Rechten des Einganges erhob sich ein altarartiger Schrein, auf welchem zwischen Kerzen, die in silbernen Armleuchtern brannten, eine bemalte Heiligenfigur mit aufwärts gerichteten Augen ihre Hände ausbreitete. Eine Betbank stand davor, und näherte man sich, so gewahrte man eine kleine, aufrecht an einem Fuße des Heiligen lehnende Amateurphotographie, die einen etwa dreißigjährigen jungen Mann mit gewaltig hoher, bleich zurückspringender Stirn und einem bartlosen, knochigen raubvogelähnlichen Gesicht von konzentrierter Geistigkeit zeigte. (411) 44

Alles scheint auf den Propheten hinzudeuten. Eine in heftigen Strichen ausgeführte Kreidezeichnung, die Napoleon darstellte sowie ein gotischer Stuhl, der wie ein Thron und Hochsitz empor (411) ragt, stellen den religiösen Emblemen politische zur Seite. 45 Die Proklamationen des Propheten erscheinen als ein Stapel beschriebenen Papiers in Folioformat, präsentiert auf eine[r] vergoldete[n] Gipssäule, deren Kapitäl von einer blutrotseidenen Altardecke überhangen wurde (412). In dem kapellenartigen Raum befinden sich des Weiteren ein Kruzifix, ein siebenarmige[r] Leuchter, ein[] mit rotem Weine gefüllter Becher und – der Autor biegt die weihevolle Atmosphäre ironisch in die Niederungen des Alltäglichen zurück – ein Stück Rosinenkuchen auf einem Teller (412). Weitere Gäste treffen ein, bis im ganzen etwa zwölf Personen anwesend sind. Dass es nur etwa zwölf Personen sind, unterstreicht die Ironie der Christus-Inszenierung. Mit McLuhan ließe sich von einer kompletten Immersion der Anwesenden in der medialen Repräsentanz des abwesenden Propheten sprechen. Das Erscheinen einer reichen Dame lenkt die Aufmerksamkeit des Novellisten auf deren (gleichfalls abwesende) Tochter Sonja, nach deren Wohlergehen er sich so ergeben wie ergriffen erkundigt, um für sich festzustellen, daß er ein gewisses Verhältnis zum Leben habe (414). Die Tatsache, dass Mann in der schönen reichen Dame ein Porträt seiner künftigen Schwiegermutter Hedwig Pringsheim zeichnet und sich hinter dem Namen Sonja nur leicht verstellt seine spätere Frau Katia verbirgt, 46 lässt die Begegnung des Novellisten mit dem Propheten einmal mehr zur reflexiven Autorschaftsszene werden. Im rechten Moment ist denn auch tatsächlich der Jünger aus der Schweiz zur Stelle, ein häßlicher junger Mann mit Doggennase, grobe[n] Backenknochen, [. . .] eingefallene[r] Wangenpartie und wulstig hervorsspringende[n] Lippen (415). Er trägt mit wilder und lauter Stimme die Proklamationen des Propheten vor. Mit McLuhans Medienteleologie

44 Das ‚raubvogelähnliche Gesicht‘ verweist auf das Adler-Emblem der Einladung. 45 Den ideologischen Hintergrund der Erzählung leuchtet Barbara Neymeyr, „Militanter Messianismus.

Thomas Manns Erzählung Beim Propheten im kulturhistorischen Kontext“, in Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 45 (2004), 179–198 aus. Neymeyr verweist auf den Nietzscheanismus der Zeit um die Jahrhundertwende, der sich mit seiner Infragestellung tradierter Werte bei den Intellektuellen, etwa auch bei dem mit Derleth in Verbindung stehenden George-Kreis, großer Beliebtheit erfreute. 46 Vgl. Terence James Reed, „Beim Propheten“, 285. Der Novellist hat gute Karten bei Mutter und Tochter, da erstere „seine Bücher schätzte“ (414).

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betrachtet, führt er mit der Verlesung der Prophetenblätter die literale Manuskriptkultur zurück in die Oralität. 47 Es waren Predigten, Gleichnisse, Thesen, Gesetze, Visionen, Prophezeiungen und tagesbefehlartige Aufrufe, die in einem Stilgemisch aus Psalter- und Offenbarungston mit militärisch-strategischen sowie philosophisch-kritischen Fachausdrücken in bunter und unabsehbarer Reihe einander folgten. Ein fieberhaftes und furchtbar gereiztes Ich reckte sich im einsamen Größenwahn empor und bedrohte die Welt mit einem Schwall von gewaltsamen Worten. Christus imperator maximus war sein Name [. . .]. (415)

Es präsentiert sich ein geistlicher Kaiser (415), dessen demütige Vorläufer Buddha, Alexander, Napoleon und Jesus sind. Auch wenn der Vorlese-Jünger aus der Schweiz nur ein weiteres Medium des Propheten ist, so ‚verkörpert‘ er doch dessen Botschaften: er zittert, produziert Schweiß, lässt seine Lippen beben und bringt fauchende Geräusche hervor. Vom Inhalt der Proklamationen gibt der Text kaum etwas wieder; Armut und Keuschheit spielen eine Rolle, sehr viel mehr erfährt man nicht. Es scheint um die Proklamationen als Proklamationen zu gehen, als Geste und Redeakt. The medium is the message, ließe sich hier mit McLuhan formulieren – und the massage im Sinne einer ideologischen Bearbeitung des Publikums ebenfalls, denn am Ende adressiert der Prophet seine Zuhörer/ innen als Soldaten, denen er die Welt zur Plünderung übergibt. 48 Tatsächlich sind Derleths Proklamationen ein unzusammenhängender Text, der Versatzstücke aus Religion, Mythos und Geschichte zusammenstellt – und offensichtlich beziehen sie gerade aus diesem kryptischen Nebeneinander, das an McLuhans Poetik des Heterogenen erinnert, ihre prophetische Rhetorik. Wenn dem Novellisten nach längerem Zuhören die Vision einer Schinkensemmel (416) kommt, die im Geiste gewissermaßen neben das Stück Rosinenkuchen auf dem Teller im Prophetenzimmer zu liegen kommt, und der Gedanke des Novellisten an Sonja einen Bezug zu den sich bei dem Wort ‚Keuschheit‘ verschleiernden Augen der Erotikerin herstellt, wird deutlich, dass der bürgerliche Novellist ebenso ironisiert wird wie der abwesende Prophet. Auch dieser ist wie seine Abwesenheit letztlich nur ein Medium, ein Medium seiner Eingebungen, die sich in Wörtern, Bildern und Phrasen erschöpfen. Die Zuhörerschaft scheint am Ende ebenso erschöpft wie der Jünger des Propheten und geht rasch auseinander, nicht ohne freilich, dass der Novellist, bevor er sich vornimmt Nun will ich zu Abend essen wie ein Wolf! (418), seiner Schwiegermutter in spe einen Gruß an Sonja mit in die Kutsche gibt (vgl. 417). Manns Erzählung spannt ein sich zwischen schwindelnder geistiger Höhe und materialer Erdverbundenheit bewegendes Spektrum von Autorschaft aus, an dessen einem Ende der Prophet angesiedelt ist und an dessen anderem Ende der bürgerliche Novellist steht. Der Prophet hat sich medial so sehr transzendiert beziehungsweise seine transzendente Position dadurch inszeniert, dass er selbst abwesend bleibt und sich nur in seinen Medien 47 Neymeyer spricht vom „verbalen Exzeß der ‚Proklamationen‘“ (Barbara Neymeyr, „Militanter Mes-

sianismus“, 195). 48 Vgl. wortwörtlich Ludwig Derleth, Proklamationen, München 1919, 130: Soldaten, ich gebe Euch

zur Plünderung die Welt.

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materialisiert, während der anwesende bürgerliche Novellist 49 doch sehr handfeste körperliche Bedürfnisse aufweist. Auch wenn es richtig sein mag, dass sich Mann mit der Erzählung vom prophetischen Gestus verabschiedet, so reflektiert der Text ein Autorbild, dessen zwei Pole aufeinander verweisen. Wie vermerkt, auch der an Schinkensemmeln und reichen Bürgerstöchtern interessierte Novellist erscheint in ironischem Licht und immerhin zeigt er sich in dieser Erzählung, in der er sich angeblich von seinem Gegenbild verabschiedet, durchaus fasziniert von Daniels Inszenierung. Solche Luftikusse wie der Prophet Daniel haben es Thomas Mann schließlich immer wieder angetan; man denke nur an den virtuosen Meister der Selbstinszenierung Felix Krull, dessen Verwandlungskünste den ästhetischen Reiz eines ganzen Romans ausmachen. Das Luftig-Schwindlige, das der Prophet Daniel in ganz anderer Weise inszeniert, ist es schließlich auch, das der Erzählung Beim Propheten die poetische Staffage liefert. Auch wenn die Frage nach dem Genie am Ende der Erzählung ironisch gemeint ist, so wird sie doch formuliert: „Ja, was ist das Genie“, sagte er [der bürgerliche Novellist] nachdenklich. „Bei diesem Daniel sind alle Vorbedingungen vorhanden: die Einsamkeit, die Freiheit, die geistige Leidenschaft, die großartige Optik, der Glaube an sich selbst, sogar die Nähe von Verbrechen und Wahnsinn. Was fehlt? Vielleicht das Menschliche? Ein wenig Gefühl, Sehnsucht, Liebe? Aber das ist eine vollständig improvisierte Hypothese . . .“ (417)

Auch wenn diese Äußerung insofern ironisch gemeint ist, als der Erzähler Daniel keinesfalls als Genie erscheinen lässt, so wird die Frage nach dem Genie als einer traditionsmächtigen Autorschaftssemantik 50 doch gestellt. Beim Propheten Daniel sind ja auch nur die Vorbedingungen gegeben, Einsamkeit, Freiheit etcetera – das, was fehlt, das Menschliche, ist das, was hinzukommen müsste. Ob in dieser vollständig improvisierte[n] Hypothese ein Ideal oder eine Paradoxie von Autorschaft der Betrachtung anheimgestellt wird, bleibt im ambivalenten Licht der ironischen Darstellung, reflektiert das Bild des bürgerlichen Literaten jedoch nicht ohne Grund vor der Folie des pseudoreligiösen Propheten. In seiner Typologie der vier Formen des Wahrsprechens hebt Michel Foucault für den Propheten hervor, dass er eine Vermittlerrolle einnimmt. 51 Mit anderen Worten: Der Prophet ist selbst ein Medium.

49 Über ‚Anwesenheit‘ und ‚Abwesenheit‘ als Kategorien in der Autorschaftsdebatte vgl. die Disserta-

tion von Matthias Schaffrick, In der Gesellschaft des Autors. Religiöse und politische Inszenierungen von Autorschaft, Münster 2012 (erscheint Heidelberg 2014), 39. 50 Vgl. Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, 2 Bde., Darmstadt 1985. 51 Michel Foucault, Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen, Bd. II, Vorlesung am Collège de France 1983/84, Berlin 2010, 32 (den Hinweis auf Foucault und Agamben [vgl. Anm. 55] verdanke ich Matthias Schaffrick); vgl. 45: Prophezeiung, Weisheit, Lehre, parrhesia, das sind, glaube ich, vier Weisen der Veridiktion, die [erstens] verschiedene Persönlichkeiten bedingen, zweitens verschiedene Weisen der Sprechens erfordern und sich drittens auf verschiedene Gegenstände beziehen (Schicksal, Sein, techne, ethos).

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Der Prophet spricht per definitionem nicht in seinem eigenen Namen. Er spricht für eine andere Stimme, sein Mund dient als Sprachrohr für eine Stimme, die von anderswoher spricht. 52

Der Prophet, den auch Foucault als Oralitätsinstanz entwirft, befindet sich zwischen Gegenwart und Zukunft; er enthüllt das, was die Zeit den Menschen entzieht. 53 Er nimmt eine Stelle ein, an der sich die Endlichkeit des Menschen mit der Struktur der Zeit verbindet. 54 Einmal mehr wird der Prophet unter den Auspizien einer teleologisch ausgerichteten Temporalitätsstruktur, die von ihm unterlaufen wird, entworfen. Hinzu kommt, und offensichtlich ist dieses Merkmal mit der temporalen Inversion verbunden, dass die Prophezeiung, Foucault zufolge, immer mit einer gewissen Dunkelheit einhergeht, dass sie sich in die Form des Rätsels kleidet und interpretationsbedürftig bleibt. Der Prophet ist, so betrachtet, eine Entzugsfigur und Thomas Manns Prophet Daniel, wie vermerkt, klug genug, nicht selbst in Erscheinung zu treten. Giorgio Agamben diskutiert im Anschluss an Foucault den Propheten religionsphilosophisch als eine Figur zwischen Schöpfung und Erlösung. 55 ‚Erlösung‘, ein programmatisches Attribut, das, wie erörtert, ein wesentliches Konstruktionselement von McLuhans Propheten-Imago darstellt, 56 bildet, darauf verweist Barbara Neymeyr, gleichermaßen eine Konstante in dem von Manns Erzählung aufgerufenen Zeitkontext. 57 Der Engel sei der Schöpfung zugeordnet, der Prophet der Erlösung, schreibt Agamben. Zwischen Schöpfung und Erlösung aber konstatiert er ein metaleptisches Zeitverhältnis, das die Schöpfung ursächlich von der Erlösung her begreift: Wer handelt und schafft, muss seine Schöpfung auch retten, erlösen. [. . .] Und ebenso einzigartig ist die Zeit, die sie zusammenhält, der Rhythmus, gemäß dem die Schöpfung der Erlösung vorausgeht, ihr jedoch in Wirklichkeit folgt, und die Schöpfung der Erlösung folgt, ihr jedoch in Wahrheit vorausgeht. 58 In der Kultur der Moderne, so behauptet Agamben weiter, beerben Philosophie und Kritik das prophetische Erlösungswerk, Dichtung, Technik und Kunst hingegen das engelhafte Schöpfungswerk. Doch handle es sich bei beiden ‚Werken‘ um zwei Seiten eines göttlichen Vermögens, die nur beim Propheten in ein und demselben Wesen zusammenfallen. 59 An dieser Stelle eröffnet Agamben eine Analogie zwischen dem Gott und dem Dichter, wenn er darauf hinweist, dass, wie Genie und Talent, die ursprünglich geschieden seien, im Werk des Dichters eine Einheit bilden, die beiden Werke von Schöpfung und Erlösung als zwei Vermögen eines Gottes verbunden bleiben. In unmissverständlich Benjamin’schem Ton52 53 54 55 56 57

58 59

Ebd. 32. Ebd. Ebd. 33. Vgl. Giorgio Agamben, „Schöpfung und Erlösung“, in ders., Nacktheiten, aus dem Italienischen von Andreas Hiepko, Frankfurt a.M. 2010, 7–20. Vgl. Thomas Assheuer, „Der Magier“; Dieter Mersch, „Kritik des Medienteleologismus“, 205. Vgl. Barbara Neymeyr, „Militanter Messianismus“, 187: „Durch einen Mangel an identitätsstiftenden Werten und durch antirationalistische Strömungen wurden diffuse Erlösungsbedürfnisse und die Hoffnung auf einen charismatischen messianischen Führer gefördert.“ Giorgio Agamben, „Schöpfung und Erlösung“, 11f. Ebd. 14.

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fall begreift Agamben die Einheit von Schöpfung und Erlösung, Aktion und Kontemplation, Tätigkeit und Untätigkeit als ‚unrettbar‘. 60 Und das Bewusstsein dieser konstitutiven ‚Unrettbarkeit‘ lässt aus dem weinenden Engel den Propheten, aus der Klage des Dichters über die Schöpfung [. . .] kritische Prophetie, das heißt Philosophie werden. 61 Auch wenn in dieser waghalsigen religionsphilosophischen Spekulation die Zusammenhänge etwas unklar bleiben, so ist doch bemerkenswert, dass der Prophet hier als eine Figur entworfen wird, in der die ‚unrettbare‘, das heißt die unmögliche Einheit von Schöpfung und Erlösung, Kunst und Philosophie zusammengedacht werden kann. Schöpfung ruft die Welt ins Dasein und in die Zeitlichkeit, Erlösung ist nichts anderes als die Auflösung der Zeit(enfolge). So sehr sich der bürgerliche Schriftsteller in Thomas Manns Erzählung vom Propheten Daniel abzusetzen sucht, so deutlich wird, wie eng beide Autorschaftsfiguren, der ‚geniale‘ prophetische Autor und der ‚talentierte‘ bürgerliche Autor, aufeinander bezogen sind. 62 Der eine wird zur Kontrastfolie des anderen. Und in dem Maß, in dem der eine, Daniel, abwesend ist, sich gleichsam in die Abwesenheit Gottes einrückt, ist der andere, der bürgerliche Schriftsteller, in Manns Erzählung anwesend. Der bürgerliche Schriftsteller ist in Manns Text nicht nur körperlich anwesend, da der Text auf ihn fokussiert, wird er gleichsam zum Medium, über das der Leser respektive die Leserin der prophetischen Inszenierung teilhaftig wird. Während die Inszenierung des Propheten Daniel eine mündliche ist und offensichtlich von einem ebenso wirren Nebeneinander gekennzeichnet, wie man es McLuhan zum Vorwurf gemacht hat, bleibt der bürgerliche Schriftsteller auf das geordnete Medium der Schrift verwiesen. Die Schrift ist, ganz im Unterschied zu der Platonischen Kritik im Phaidros, in der Konstellation von Thomas Manns Erzählung das Gegenwartsmedium, das nicht zuletzt den Text Beim Propheten zu lesen gibt, während der Prophet Daniel mit Buddha, Alexander, Napoleon und Jesus aus einer Vergangenheit spricht und auf eine die Gegenwart überwindende Zukunft zielt. Er spricht gleichsam aus der Überzeitlichkeit und das heterogene Nebeneinander seiner wirren Rhetorik scheint in ihrem Dienst zu stehen. Tatsächlich ist mit der Konstellation Prophet/bürgerlicher Schriftsteller die Problematik auktorialer Verbindlichkeit angesprochen. Rolf Christian Zimmermann, der davon ausgeht, dass „Dichtung“ seit je etwas Seismographisches habe, exponiert gleichfalls die spezifisch prophetische Verschränkung von Gegenwart und Zukünftigkeit, wenn er die folgende Frage in den Mittelpunkt seiner Untersuchung stellt: „[. . .] wo am günstigsten und mit welchen speziellen Mitteln kann Dichtung den beiden logischen Grunderfordernissen von Seismographik genügetun, daß sie einerseits nahe genug bei der gegenwär-

60 Ebd. 19. 61 Ebd. 62 Vgl. auch Friedhelm Marx, „Künstler, Propheten, Heilige“, 60: „Jenseits der psychologischen Ent-

larvung dieses Typus ist immer auch eine Spur Sympathie zu verzeichnen, insofern die Erzählfigur des Propheten gegen das naive, sich selbst genügende Leben, gegen die dionysische RenaissanceVerherrlichung und Nacktkultur Einspruch erhebt.“

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tigen Gesellschaftswirklichkeit bleibt, um mit ihrer beobachtenden Exaktheit eine ganz bestimmte Gesellschaft wiedererkennbar zu machen; und daß sie andrerseits trotzdem den unumgänglichen nötigen Spielraum gewinnt, um ein im Gegenwärtigen noch gar nicht angekommenes Zukünftiges in und mit dem Gegenwärtigen – auch noch unbewußt und absichtslos! – darzustellen, es in die Mimesis des Gegenwärtigen ohne Glaubwürdigkeitsverlust des Dargestellten hereinzuholen.“ 63

Sein Konzept des Prophetischen leitet Zimmermann geistesgeschichtlich aus der vatesFigur und aus dem Genie-Begriff ab. 64 Seit dem 18. Jahrhundert sei das Genie immer stärker mit der Erkenntnis der Realität verbunden worden, schreibt er: „Überschritt der von Inspiration und Imagination geprägte poeta vates zuweilen die Grenzen zum Religiösen hin, so überschreitet nun das von seiner Vertrautheit mit der realen Natur her definierte ‚Genie‘ ab und zu die Grenze zwischen Dichtung und Wissenschaft.“ 65 Die besondere Fähigkeit des Wissenschaftlers – als Beispiel erwähnt er Newton –, Naturgesetze zu erkennen, begründet sein ‚Genie‘ und in der Konsequenz seine ‚prophetische‘ Autorität. Im Hinblick auf McLuhans Medienteleologie scheint es bemerkenswert, dass Zimmermanns zentrale Kategorie des ‚Seismographischen‘ ein technisches Gerät zur Aufzeichnung von Erderschütterungen aufruft. Thomas Mann selbst spricht, in Bezug auf Georg Lukács’ Rezension seines Tod in Venedig vom Dichter (und vom Philosophen) als Melde-Instrument, Seismograph [!], Medium der Empfindlichkeit. 66 Die Frage nach der Gestaltung des Verhältnisses von Gegenwart und Zukunft in der prophetischen Rede stellt sich für Zimmermann als eine ästhetische, und die Antwort lautet: mittels der Groteske. Begreift man als ‚grotesk‘ die Zusammenfügung des Nichtzusammenpassenden, so findet sich Groteskes bei McLuhan ebenso wie in Thomas Manns Erzählung, die etwa Buddha und Rosinenkuchen zusammendenkt. Die groteske Verzerrung scheint den Blick aus der Zukunft in den Text hineinzunehmen und dessen realistische Mimesis aufzubrechen. Nicht zufällig ist McLuhans gemeinsam mit Quentin Fiore gestalteter Band The Medium is the Massage, dt. Das Medium ist Massage, durchzogen von grotesken Darstellungen. Da stößt man auf eine sich aus Rednerpult, Rednerfigur und Hintergrunddekoration zusammensetzende, gen Himmel blickende Gestalt, die an einen Engel erinnert, in Verbindung mit den Zeilen: „Die Sterne sind so groß/und die Erde ist so klein, bleib wie du bist“ 67, oder aber auf eine spiritistisch anmutende Tischrunde, die um ein Tuch mit der Aufschrift „Keep in Circulation the Rumor that God ist Alive“ versammelt ist – auf der Buchseite daneben dann eine abstrakte Strichzeichnung mit einem Meister EckhartZitat: „Einzig die Hand, die auslöscht, kann das Wahre schreiben.“ 68 Geisterhaft mutet etwa auch eine Abbildung mit weißem Rauch oder Nebel an, aus dem schwarze Hände 63 Rolf Christian Zimmermann, Der Dichter als Prophet. Grotesken von Nestroy bis Thomas Mann als

64 65 66 67 68

prophetische Seismogramme gesellschaftlicher Fehlentwicklungen des 20. Jahrhunderts, Tübingen/ Basel 1995, 12. Vgl. ebd. 40–45. Ebd. 43. Zit. n. ebd. 28. Vgl. McLuhan/Quentin Fiore, Das Medium ist Massage, 79. Vgl. ebd. 146 f.

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Abb. 4: Peter Moore, in Marshall McLuhan/ Quentin Fiore, Das Medium ist Massage (1984), 121

hervorkommen. Verse von Laotse über das Sein und das Nichts verbinden sich mit einer Reflexion über die elektrische Schaltungstechnik, die den Westen veröstliche, 69 etc., etc. Unterschiedlichstes wird zusammengebracht und man versteht nur halb (oder gar nicht) warum und zu welchem Zweck. Besonders markant ist für den vorliegenden Diskussionszusammenhang ein Gesicht, das an der Stelle des rechten Auges ein Ohr hat. Die groteske Vertauschung von Auge und Ohr (Abb. 4) spielt auf McLuhans Medienteleologie an, der zufolge die mediale Entwicklung den Menschen vom Ohren- zum

69 Vgl. ebd. 144 f.

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Augenmenschen gemacht hat. Der Prophet mit seinem seismographischen Ohr ist offenbar Ohrenmensch geblieben, 70 wie der Jünger in Manns Erzählung die schriftlich verfassten Proklamationen des Propheten durch Vorlesen zu Gehör bringt. Damit ist Manns Prophet eine Grenzfigur zwischen Literalität und Oralität, deren regressiver Ohrenstatus insofern auch als progressiv gedacht werden kann, als er im Sinne einer sekundären Oralität die Schrift hinter sich gelassen hat. Indessen ist die Groteske in Beim Propheten doppelt motiviert: aus der Perspektive der prophetischen Inszenierung, die über die zeitgenössische Wirklichkeit hinausblickt, aber gleichermaßen aus der Perspektive des bürgerlichen Schriftstellers, der die prophetische Phase bereits hinter sich gelassen hat, beziehungsweise des Erzählers, der aus der Perspektive des bürgerlichen Schriftstellers schreibt. Als literales Leitmedium rückt dieser damit in die prophetische Position ein, insofern als er bereits weiß, dass das prophetische Gerede zu nichts führt, gleichsam keine Zukunftsperspektive hat. Die prophetische Perspektive ist also eine doppelt-reflexive: der prophetischen Inszenierung des Propheten steht die auktorial-prophetische Geste des bürgerlichen Schriftstellers gegenüber. Bemerkenswerterweise kehrt der Dachstuben-Prophet Daniel im Doktor Faustus (1947) als Daniel Zur Höhe wieder. Im Unterschied zu Manns früher Erzählung tritt der Prophet im Doktor Faustus als Mitglied des Schwabinger Kreises um den Graphiker, Buchschmuck-Künstler und Sammler ostasiatischer Farbenholzschnitte und Keramik 71 Sixtus Kridwiß persönlich auf. Aus dem Abwesenden ist ein Anwesender, aus dem Propheten im Roman allerdings ein Dichter geworden. 72 Eine gleichsam negative ‚Doppelnatur‘ des historischen Derleth zwischen Prophet und Dichter kommt in einer bei Kainer zitierten Aussage von André Germain zum Ausdruck, in der es heißt: „. . . er wollte Prophet sein gegen den Willen des Heiligen Geistes, der ihm seinen Anhauch verweigerte, er stieß mit den Füßen eine andere Berufung von sich – die des Dichters – als sei sie

70 In Marshall McLuhan/Quentin Fiore, Das Medium ist Massage, 111 heißt es: Das Ohr bevorzugt kei-

nen besonderen ‚Gesichtspunkt‘. Wir werden vom Schall umhüllt. Er umgibt uns mit seinem nahtlosen Gewebe. 71 Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, hg. und textkritisch durchgesehen v. Ruprecht Wimmer unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Werke – Briefe – Tagebücher, hg. v. Heinrich Detering [u. a.], Bd. 10.1, Frankfurt a.M. 2007, 525. 72 Zimmermann geht streng mit dem Doktor Faustus ins Gericht: Der gelungenen „Gestaltungsprophetie“ in der frühen Erzählung Beim Propheten (Rolf Christian Zimmermann, Der Dichter als Prophet, 53) steht die rückwärtsgekehrte, von Urteil und Reflexion bestimmte Prophetie des Doktor Faustus gegenüber, die so sehr konstruiert ist, dass sie keinen Blick mehr für die gesellschaftlichen Realitäten hat und auch Daniel Zur Höhe nicht einmal mehr grotesk, sondern nur noch skurril erscheinen lässt (vgl. Rolf Christian Zimmermann, Der Dichter als Prophet, 124–154). Für Zimmermann sind die frühen, grotesken, Erzählungen Manns tatsächlich prophetisch. Friedhelm Marx dagegen ist der Auffassung, dass es im Unterschied zum Roman von 1947 in der Erzählung des Jahres 1904 noch nicht um die politischen Aspekte des dargestellten Prophetentums gehe (vgl. Friedhelm Marx, „Künstler, Propheten, Heilige“, 54).

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seiner unwürdig“. 73 Der Erzähler des Doktor Faustus, Serenus Zeitblom, spricht über die Teilnehmer des Kreises mit unüberhörbarer Distanz: Der Kunstgelehrte und Dürerforscher Professor Gilgen Holzschuher, auch ein Geladener, war mir auf ähnlich schwer zu rechtfertigende Weise nicht geheuer; und vollends galt dies für den öfters anwesenden Dichter Daniel Zur Höhe, einen in geistlich hochgeschlossenes Schwarz gekleideten hageren Dreißiger mit Raubvogel-Profil und von hämmernder Sprechweise, die etwa lautete: „Jawohl, jawohl, so übel nicht, o freilich doch, man kann es sagen!“, wobei er immerfort nervös und inständig mit dem Fußballen auf den Boden klopfte. Er liebte es, die Arme über der Brust zu kreuzen oder eine Hand napoleonisch im Busen zu bergen, und seine Dichterträume galten einer in blutigen Feldzügen dem reinen Geiste unterworfenen, von ihm in Schrecken und hohen Züchten gehaltenen Welt, wie er es in seinem, ich glaube, einzigen Werk, den schon vor dem Kriege auf Büttenpapier erschienenen „Proklamationen“, beschrieben hatte, einem lyrisch-rhetorischen Ausbruch schwelgerischen Terrorismus, dem man erhebliche Wortgewalt zugestehen mußte. Der Signatar dieser Proklamationen war eine Wesenheit namens Christus imperator maximus, eine kommandierende Energie, die todbereite Truppen zur Unterwerfung des Erdballs warb, tagesbefehlartige Botschaften erließ, genießerischunerbittliche Bedingungen stipulierte, Armut und Keuschheit ausrief und sich nicht genug tun konnte in der hämmernden, mit der Faust aufschlagenden Forderung frag- und grenzenlosen Gehorsams. „Soldaten!“ schloß die Dichtung, „ich überliefere euch zur Plünderung – die Welt!“ 74

Der Dichter-Prophet Daniel Zur Höhe, der nur ein einziges Werk geschrieben hat, noch dazu (Ludwig Derleths) ‚wortgewaltige‘ Proklamationen, scheint, mit McLuhan, auch hier vielmehr dem Zeitalter des Ohrs als dem des Auges und der Schrift anzugehören. Und da es im Zeitalter des Ohrs auch keine Urheberschaft gab, so weiß zumindest McLuhan, 75 spricht der Daniel Zur Höhe des Doktor Faustus nicht im eigenen Namen, sondern unterzeichnet mit Christus imperator maximus, allerhöchste geistliche und weltliche Autorität ineinanderschmelzend. Auch wenn Daniel Zur Höhe zwischenzeitlich vom Propheten zum Dichter mutiert ist, so geriert sich der Kridwiß-Kreis, dem er angehört, insgesamt als ein prophetischer Zirkel. Es ging, so berichtet der Erzähler des Doktor Faustus, Serenus Zeitblom, der Konferenz um Ausblicke auf soziologische Wirklichkeiten [. . .], um Feststellung des Seienden und Kommenden. 76 Man sieht kommen, worauf die politischen Entwicklungen hinauslaufen:

73 André Germain, zit. n. Dietmar Kainer, „Thomas Mann und Ludwig Derleth“, 590. 74 Thomas Mann, Doktor Faustus, 528. 75 Marshall McLuhan/Quentin Fiore, Das Medium ist Massage, 122: ‚Urheberschaft‘ – in dem Sinne,

wie wir sie heute als individuelle geistige Leistung im Zusammenhang mit dem Buch als Handelsartikel verstehen – kannte man vor dem Aufkommen der Buchdrucktechnik praktisch nicht. Die Wissenschaftler kümmerten sich nicht um die genaue Identität der ‚Bücher‘, die sie studierten. Sie selbst signierten selten ihre eigenen Werke. Sie gehörten einem bescheidenen Dienstleistungsbetrieb an. Die Beschaffung von Texten war oft eine sehr mühselige und zeitraubende Aufgabe. Mancher kurze Text wurde in Folianten gemischten Inhalts überliefert, recht ähnlich den ‚Glossen‘ in einem Sammelalbum. Und bei dieser Art der Überlieferung ging die Urheberschaft oft verloren. 76 Thomas Mann, Doktor Faustus, 529.

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Auf Diktatur, auf Gewalt lief ohnehin alles hinaus, denn mit der Zertrümmerung der überlieferten staatlichen und gesellschaftlichen Formen durch die Französische Revolution war ein Zeitalter angebrochen, das, bewußt oder nicht, eingestanden oder nicht, auf die despotische Zwangsherrschaft über nivellierte, atomisierte, kontaktlose und, gleich dem Individuum, hilf lose Massen zusteuerte. 77

Aus dem Rückblick in die Vergangenheit, auf die Französische Revolution, wird hier eine Zukunftsprognose gewonnen. Dem Erzähler des zwischen Mai 1943 und Januar 1947 niedergeschriebenen Romans, 78 mit dem sprechenden Namen Serenus Zeitblom, der als Figur und Medium der Erzählung auf bemerkenswerte Weise mit auf der Bühne des Texts steht und ebenfalls, mit einer gewissen Distanz, versteht sich, an den Treffen um Kridwiß teilnimmt, ist unwohl vor allem wegen der heiteren Genugtuung und der bedrückenden Heiterkeit, 79 mit denen die anwesenden Künstler, Intellektuellen und Wissenschaftler über das Kommende sprechen. Der Kreis diskutiert unter anderem das 1908 erschienene Werk Réflexions sur la violence des französischen Sozialphilosophen Georges Sorel (1847–1922), dessen unerbittliche Vorhersage von Krieg und Anarchie 80 als prophetisch qualifiziert wird: Dieses war in der Tat die krasse und erregende Prophetie des Buches, daß populäre oder vielmehr massengerechte Mythen fortan das Vehikel der politischen Bewegung sein würden: Fabeln, Wahnbilder, Hirngespinste, die mit Wahrheit, Vernunft, Wissenschaft überhaupt nichts zu tun zu haben brauchten, um dennoch schöpferisch zu sein, Leben und Geschichte zu bestimmen und sich damit als dynamische Realitäten zu erweisen. 81

Eine imaginierte Gerichtsverhandlung, in der versucht wird, den massenwirksamen Mythen mithilfe rationaler Wissenschaftlichkeit zu begegnen, wird als Groteske 82 beschrieben – offensichtlich prallen auch hier zwei inkommensurable Welten aufeinander. Die heitere Prophetenrunde weiß, als hätte sie McLuhan gelesen, genau was kommen wird: Vorausgesehen wird eine neuigkeitsvolle[] Rückversetzung der Menschheit in theokratisch mittelalterliche Zustände und Bedingungen – Rückschritt und Fortschritt, das Alte und Neue, Vergangenheit und Zukunft wurden eins. 83 So phantasmatisch-verzerrt das Bild, das McLuhan von der oralen Kultur zeichnet, ist, so eindimensional ist auch die Mittelaltervision des Kridwiß-Kreises:

77 Ebd. 531. 78 Vgl. Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt

79 80 81 82 83

von einem Freunde, Kommentar von Ruprecht Wimmer unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Werke – Briefe – Tagebücher, hg. v. Heinrich Detering [u. a.], Bd. 10.2, Frankfurt a.M. 2007, 23. Thomas Mann, Doktor Faustus, Bd. 10.1, 531. Ebd. Ebd. 532. Ebd. Ebd. 535.

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[. . .] gerade weil das geistig Uniforme und Geschlossene dem mittelalterlichen Menschen durch die Kirche von vornherein als absolut selbstverständlich gegeben gewesen, war er weit mehr Phantasiemensch gewesen, als der Bürger des individualistischen Zeitalters, hatte er sich der persönlichen Einbildungskraft im einzelnen desto sicherer und sorgloser überlassen können. 84

Auch wenn ‚orale Kultur‘ und ein pauschales ‚Mittelalter‘-Verständnis selbstredend keineswegs zusammenzudenken sind – Detlef Kremer legt Wert darauf, dass McLuhan auf die orale Stammeskultur die mittelalterliche Skript-Kultur folgen lässt –, 85 ist den Kridwissern klar, dass die neue Zeit mit einem Abbau der Buchkultur einhergehen wird. Vom primären Erlernen der Buchstaben, vom Lautieren, werde man abgehen und sich der ganzheitlichen Methode des Wörter-Lernens zuwenden. 86 Das heißt der Schriftgebrauch wird nicht mehr rationalen Konstruktionsmustern folgen, sondern Einprägen und Nachahmen, der Schlagwortgebrauch gewissermaßen, werden die dominanten literalen Tätigkeiten sein. Wozu überhaupt Wörter, wozu Schreiben, wozu Sprache?, fragt sich Zeitblom da insgeheim. 87 Die Kridwisser gefallen sich in ihren Re-Barbarisierungsvisionen und Zeitblom glaubt seinen Ohren nicht zu trauen, 88 denn tatsächlich imaginiert die versammelte Intelligenzia ein Zeitalter umfassender Kriege und Revolutionen. 89 Serenus Zeitblom mit seinem sprechenden Namen 90 ist bekanntermaßen eine problematische Figur: Er berichtet aus einer kritisch-distanzierten Perspektive – und macht doch mit. Sein gelassen-erhabenes (‚Serenus‘) Zeitbewusstsein (‚Zeitblom‘) 91 lässt ihn zum Medium einer literarischen Zukunftsprognose werden, die aus einer auktorialen Position nachträglichen (Besser-)Wissens dem Prophetenstatus ihrer Figuren eine Mitschuld zuschreibt. 92 Diese Mitschuld liegt im ästhetischen Wohlgefallen an der prophezeiten Katastrophe. Indem Thomas Mann Daniel Zur Höhe nach dem Krieg in einer vor dem Krieg spielenden literarischen Realität noch einmal auftreten lässt und ihn diesmal tatsächlich von einem Abwesenden zu einem Anwesenden macht, erhält im Rückblick auch der erste Auftritt der Figur in der Erzählung von 1904, der den hohlen Inszenierungscharakter des Prophetischen in den Vordergrund stellt, eine auktorial-prophetische Dimension. Ob Propheten richtig prophezeien, weiß man immer erst im Nachhinein. 93 Thomas Mann schrieb am 1. April 1950 an Otto Reeb: Der Faustus ist ein schrecklich moralisches

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Ebd. 536. Vgl. Detlef Kremer, Literaturwissenschaft als Medientheorie, 40 (vgl. Fußnote 16). Thomas Mann, Doktor Faustus, Bd. 10.1, 536. Ebd. Vgl. ebd. 537. Vgl. ebd. 538. Vgl. dazu auch Thomas Mann, Doktor Faustus, Bd. 10.2, Kommentar, 181f. Der Wortbestandteil ‚blom‘ lässt an ‚Blume‘, d. h. an Wachstum und Verblühen denken. Für Zimmermann geht dieses Schuldeingeständnis nicht weit genug. Für ihn ist es ein Ärgernis, dass der Doktor Faustus die ‚langen Wurzeln‘ des Versagens einem mythischen Nationalcharakter der Deutschen und nicht dem konkreten historischen Versagen der zeitgenössischen gesellschaftlichen Kräfte zuschreibt (vgl. Rolf Christian Zimmermann, Der Dichter als Prophet, 150). 93 Vgl. ebd. 91.

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Buch, in dem es unter anderem um die Nachbarschaft von Ästhetizismus und Barbarei geht. So kam es, daß sich mir unwillkürlich eine Figur wie der Dichter Zur Höhe mit ihren an Derleth erinnernden Zügen unter die bedrohlichen prae-faschistischen Gestalten des Romans drängte. 94 Und so kam es auch, möchte man anschließen, dass in der Retrospektion durch den Dichter Daniel Zur Höhe im Doktor Faustus dessen alter ego, der Prophet Daniel aus der früheren Erzählung Beim Propheten, unter (für ‚echte‘ Propheten nicht ganz legaler) Zuhilfenahme späteren Zeitwissens gewissermaßen metaleptisch zum grotesken Medium einer sich von hohlem Prophetenpathos abgrenzenden und dieses doch zugleich in Dienst nehmenden bürgerlichen Schriftsteller-Prophetie werden konnte.

94 Zit. n. Thomas Mann, Doktor Faustus, Bd. 10.2, Kommentar, 717.

Matthias Schaffrick

Jona, Bloch, Melville Uwe Johnsons prophetischer Sound

1. Johnson ist nicht Jona Im November des Jahres 1957 schrieb der 23-jährige Uwe Johnson eine Nacherzählung der biblischen Geschichte von Jona, dem Propheten. 1 22 Jahre später, in den Frankfurter Vorlesungen Begleitumstände (1979) kommentiert Johnson die Erzählung folgendermaßen: Immerhin hatte ein Jonas einmal Streit gehabt mit seinem Gott, weil der anders tat als er versprochen hatte. Der Fall dieses Ideologen wurde schriftlich durchgenommen im November 1957 (jetzt veröffentlicht unter dem Titel „Jonas zum Beispiel“). 2

Vermutlich datiert Johnson die Entstehung der nur drei Druckseiten umfassenden Erzählung auch deshalb so genau, weil Jonas zum Beispiel zu einem Zeitpunkt entsteht, der für seine Karriere als Autor entscheidend ist. Nach der Fertigstellung seines ersten Romans Ingrid Babendererde suchte Johnson einen Verlag für die Veröffentlichung des Manuskripts. Doch Johnson hatte weder in der ‚halbmodernen‘ DDR 3 noch in der Bundesre-

1 Die Erstveröffentlichung erfolgte laut Angaben in der Forschungsliteratur am 06.01.1962 in der

Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Vgl. Bernd Neumann, Uwe Johnson. Mit zwölf Porträts von Diether Ritzert, Hamburg 1994, 499. Bertram Salzmann berichtet zudem von einer früheren Veröffentlichung „1960 in einer italienischen Literaturzeitschrift“, ohne genauere Angaben zu machen. Bertram Salzmann, „Jonas, Johnson und Jehova. Uwe Johnsons produktive Bibelrezeption in Jonas zum Beispiel“, in Johnson-Jahrbuch 13 (2006), 139–150, hier 139. Schließlich erschien die Erzählung in dem Band Karsch, und andere Prosa von 1964, nach dem der Text in diesem Aufsatz zitiert wird. Vgl. Uwe Johnson, „Jonas zum Beispiel“, in ders., Karsch, und andere Prosa, Frankfurt a.M. 1990, 82–84. 2 Uwe Johnson, Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1980, 121. 3 Vgl. zum Konzept der ‚halbierten Moderne‘ Wolfgang Emmerich, „Autonomie? Heteronomie? DDR-Autoren zwischen Fremd- und Selbstinszenierung“, in Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser

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Matthias Schaffrick

publik Erfolg bei dieser Suche. 4 In den Begleitumständen schildert er, dass die Veröffentlichung in der DDR an politischen Restriktionen scheiterte. Johnson war also damals, nach dem Ende seines Studiums, „‚arbeitslos‘ in einem Lande, das solchen Zustand abgeschafft haben wollte“ 5, und befand sich daher in einer recht prekären Situation. Ohne einen Verlag, der sein Buch veröffentlicht, kann Johnson seine Berufung nicht zum Beruf machen. Er muss sich entscheiden, ob er sein Auskommen sichern oder seine Selbstbestimmtheit und erzählerische Freiheit bei der Schilderung der politischen Gegebenheiten behalten möchte. Vorerst arbeitet Johnson unentgeltlich. Man könnte sich fragen, warum Johnson sich in dieser Situation mit dem Propheten Jona auseinandersetzt. Weil Jona wie Johnson ein Berufener ist? Weil Jona wie Johnson mit seiner Berufung hadert? Weil beide „Streit“ haben mit der religiösen beziehungsweise politischen Macht? Dient die Erzählung der Selbststilisierung des Autors zum Propheten? Reflektiert Johnson bereits hier – am Beispiel von Jonas Flucht vor seiner göttlichen Beauftragung – seine Flucht nach Westberlin im Jahr 1959, die er beharrlich „Umzug“ nennen wird? 6 Spiegelt sich in der Figur Jona der Autor Johnson? Spricht nicht schon die Assonanz ihrer Namen für eine Identifikation? 7 Ich überspitze etwas, um die Antwort auf all diese Fragen gleich mitzuliefern: Sie lautet Nein! Die gängige Lesart der Erzählung jedoch antwortet auf die meisten dieser Fragen mit Ja. Jonas zum Beispiel stelle einen „entscheidenden Moment der Selbstklärung des Autors wie auch seiner Zeit- und Gesellschaftsanalyse“ 8 dar und die „Titelfigur der Geschichte“ sei „mehr Dichter als Prophet.“ 9 In der Tat eröffnet die Erzählung einen weiten Interpretationsspielraum, um den Autor auf der einen und den Propheten auf der anderen Seite der Parabel miteinander ins Verhältnis zu setzen. Aber ob Johnson und Jona und ihre Situation wirklich miteinander vergleichbar sind, erscheint mir äußerst fragwürdig. Die Geschichte, die biblische Vorlage ebenso wie Johnsons Nacherzählung, ist zu rätselhaft und vieldeutig, als dass sie sich auf eine Lesart festlegen ließe.

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(Hgg.), Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte (Beihefte zum Euphorion 62), Heidelberg 2011, 293–312, hier 293f. Johnsons „erster“ Roman wird erst 1985 nach Johnsons Tod publiziert werden. Vgl. dazu das Nachwort zu Ingrid Babendererde von Siegfried Unseld, „Die Prüfung der Reife im Jahre 1953“, in Uwe Johnson, Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953, Frankfurt a.M. 1992, 249–264. Uwe Johnson, „Ich über mich“, in Raimund Fellinger (Hg.), Über Uwe Johnson, Frankfurt a.M. 1992, 372–376, hier 374. „Offiziell gibt es drüben keine Arbeitslosen, doch ich war arbeitslos“, Wilhelm J. Schwarz, „Gespräche mit Uwe Johnson. (Am 10.7.1969 in West-Berlin)“, in Eberhard Fahlke (Hg.), „Ich überlege mir die Geschichte“. Uwe Johnson im Gespräch, Frankfurt a.M. 1988, 234–247, hier 245. Uwe Johnson, Begleitumstände, 153. Vgl. auch Wilhelm J. Schwarz, „Gespräche mit Uwe Johnson“, 245. Vgl. Theo Buck, „‚Jonas zum Beispiel‘. Interpretation eines Schlüsseltextes“, in Text+Kritik 65/66, Neufassung (2001), 83–103, hier 89. Ebd. 84. Buck interpretiert die Erzählung als „wichtige literarische Positionsbestimmung“ (84) in und mit einem „autobiographischen Zusammenhang“ (87). Ebd. 94.

Jona, Bloch, Melville

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In meinem Beitrag wähle ich einen anderen Zugang zu der Erzählung, um den „Identifikationskurzschluss“ 10 Johnson/Jona zu vermeiden. In vier Schritten werde ich zeigen, wie die Erzählung jenseits der biografischen und politischen Situation 1957 ein Bedeutungsspektrum entfaltet, das narrative, prophetiephilosophische, moralische und letztlich auch autorschaftsbezogene Dimensionen der Erzählung zusammenführt. Um die komplexe Bedeutungskonfiguration aufzuzeigen, müssen in jedem Schritt Vergleichstexte herangezogen werden. Dazu gehören die Vorlage, also das biblische Buch Jona, aber auch Ernst Blochs Leipziger Vorlesungen, Herman Melvilles Roman Moby Dick und schließlich Johnsons Begleitumstände. Mittels dieser Kontexte lässt sich zeigen, was die JonaErzählung so reizvoll für die literarische Bearbeitung macht und worin die Besonderheit von Johnsons kleinem Beitrag zur großen Erzählung dieses ‚problematischen Propheten‘ 11 besteht. 12

2. Prophetie als Erzählung (Johnsons Jona) „Wie ist hier erzählt!“, 13 fragt der Theologe Gerhard von Rad in seinen Ausführungen über Jona, um die erzählerischen Vorzüge („Anmut und Leichtigkeit“) der biblischen Geschichte hervorzuheben. In der Theologie findet das Jona-Buch als ein Text, der sich durch seine Narrativität auszeichnet, besondere Beachtung. Jona gilt als Prophetenerzählung mit einer „komplexen Erzählstruktur“. 14 Die Geschichte sei „ein biblisches Kapitel narrativer Theologie“. 15 Die narrative Komplexität, ihre Ambivalenzen, ja auch ihre mär10 Dieser Begriff findet sich bei Rainald Goetz, loslabern. Bericht Herbst 2008 (Schlucht 2), Frank-

furt a.M. 2009, 30. 11 So der Titel eines Sammelbands über Jona, der zeigt, welche Vielgestaltigkeit diese Figur in Theo-

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logie, Kunst und Literatur auszeichnet. Vgl. Johann Anselm Steiger/Wilhelm Kühlmann (Hgg.), Der problematische Prophet. Die biblische Jona-Figur in Exegese, Theologie, Literatur und Bildender Kunst (Arbeiten zur Kirchengeschichte 118), Berlin/Boston, MA 2011. Vgl. auch die Charakterisierung des Propheten bei Gerhard von Rad: „Jona ist problematisch und psychologisch kompliziert“, Gerhard von Rad, Theologie des alten Testaments. Bd. 2. Die Theologie der prophetischen Überlieferung Israels, München 41965, 300. Vgl. zum Zusammenhang von grands récits und Religion Heinrich Detering, „9.4 Religion“, in Thomas Anz (Hg.), Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände, Konzepte, Institutionen, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2007, 382–395, hier 390f. Der Begriff der ‚großen Erzählung‘ als Prinzip für die Legitimierung von Wissen geht zurück auf Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, hg. von Peter Engelmann, Graz/Wien 1986. Gerhard von Rad, Die Theologie der prophetischen Überlieferung Israels, 301. Eberhard Bons, „YHWH und die Völker. Überlegungen zum Verhältnis zwischen dem Gott Israels und den Nichtisraeliten auf dem Hintergrund der Theorien Jan Assmanns“, in Stefan Gehrig/Stefan Seiler (Hgg.), Gottes Wahrnehmungen. Helmut Utzschneider zum 60. Geburtstag, Stuttgart 2009, 13–29, hier 17. Rüdiger Lux, Jona. Prophet zwischen ‚Verweigerung‘ und ‚Gehorsam‘. Eine erzählanalytische Studie (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments 162), Göttingen 1992, 212.

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chenhaften oder fantastischen Züge machen die Geschichte von Jona besonders anregend für literarische Bearbeitungen. So wurde Jona vielfach und häufiger als andere Propheten zum Gegenstand literarischer Texte. 16 Aber was passiert mit der biblischen Geschichte, wenn sie literarisch bearbeitet und umerzählt wird? Der Literaturwissenschaftler Daniel Weidner hat diesen Prozess als ‚literarische Säkularisierung‘ beschrieben. Literarische Säkularisierung sei, so Weidner, dadurch gekennzeichnet, dass „sich die intertextuelle Bezugnahme auf religiöse Texte mit der poetologischen Selbstreflexion verbindet und damit auch zur Selbstkritik der Literatur wird.“ 17 Johnsons literarische Bearbeitung ist also nicht einfach nur Nacherzählung, sondern problematisiert zugleich das eigene Erzählen. 18 Jona ist dafür besonders geeignet, weil der biblische Text selbst einerseits narrativ verfasst und andererseits eine „Selbstkritik“ 19 der Prophetie darstellt. Die theologischen Aspekte von Jona, Gottes Barmherzigkeit und Gnade gegenüber den Bewohnern von Ninive, seine Handlungsfreiheit trotz des bereits verkündeten Prophetenworts und die über Israel hinausgehenden „inkludierenden Tendenzen“ des Monotheismus, 20 treten dabei zunächst einmal in den Hintergrund. Dafür stehen andere, primär literarische, nämlich die narrativen Merkmale der Erzählung im Vordergrund. Daher ist von Rads emphatischer Ausruf, „Wie ist hier erzählt!“, die Leitfrage für die folgenden Überlegungen. Welche Verfahren wendet Johnson an, um die Geschichte von Jona zu erzählen und welche Umarbeitungen nimmt er dabei vor? Bisher habe ich einfach vorausgesetzt, dass Johnson sich auf die alttestamentliche Geschichte von Jona bezieht, was vom Titel der Erzählung her, Jonas zum Beispiel, nicht feststeht. Der erste Satz der Erzählung beseitigt jedoch diesbezüglich alle Zweifel: Jehova war der Herr, der das Meer und das Trockene gemacht hat, und die Juden waren sein

16 Vgl. den umfassenden, interdisziplinären Band von Johann Anselm Steiger/Wilhelm Kühlmann

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(Hgg.), Der problematische Prophet, der auch eine Bibliografie mit deutschsprachigen Literarisierungen des Jona-Buches enthält, ebd. 488–493. Besonders hervorzuheben sind zudem der Aufsatz von Wilhelm Kühlmann, „Modell Jona. Zur biblischen Typologie in der deutschen Essayistik und Erzählprosa des 20. Jahrhunderts. (Andres, Jendryschik, Johnson, Lattmann, Rinser u.a.)“, in ebd. 317–333, sowie der Überblick zur Lyrik des 20. Jahrhunderts bei Jost Eickmeyer, „Vom Scheitern und von der Hoffnung. Facetten der Jona-Figur in der deutschen Lyrik des 20. Jahrhunderts (zu Andres, Bonhoeffer, Weiß, Gan, Kolmar)“, in ebd. 391–428. Daniel Weidner, „Parodie und Prophetie. ‚Literarische Säkularisierung‘ in Heines biblischer Schreibweise 1844“, in Zeitschrift für Germanistik 18 (2008), 546–557, hier 556. Hier finden sich auch Anmerkungen zu Heinrich Heines Stilisierung sowohl als Unheilsprophet wie auch als Walfisch mit dem wütenden Propheten Jona im Bauch. Vgl. ebd. 554f. „Die auf den Glauben setzende Jona-Parabel wird [bei Johnson] rigoros säkularisiert und so zum Gegenstand der Reflexion“, Theo Buck, „‚Jonas zum Beispiel‘“, 89. Vgl. in diesem Sinne bereits Ingrid Riedel, Wahrheitsfindung als epische Technik. Analytische Studien zu Uwe Johnsons Texten, Diss. 1970, 201–203. Gerhard von Rad, Die Theologie der prophetischen Überlieferung Israels, 302. Eberhard Bons, „YHWH und die Völker“, 29. Vgl. zur Barmherzigkeit ebd. 12, 29. Zur Freiheit Gottes vgl. Joseph Blenkinsopp, Geschichte der Prophetie in Israel. Von den Anfängen bis zum hellenistischen Zeitalter, Stuttgart [u.a.] 1998, 244.

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Volk (82). 21 Die Beziehung zwischen den Israeliten und Gott ist durch einen Vertrag (ebd.) geregelt, der von Zeit zu Zeit [. . .] in Vergessenheit (ebd.) gerät. Wenn dies geschieht, ist es an der Zeit, einen Propheten zu berufen – oder wie es bei Johnson heißt: zu erwecken: Dann erweckte Jehova einen Vorbedachten und Auserwählten in seinem Volke zum Propheten, der dem Volk sagen sollte, wie der Herr es meine (ebd.). Bemerkenswerterweise ist der Prophet bereits bevor er zum Propheten berufen wird ‚vorbedacht‘ und ‚auserwählt‘, also zum Propheten bestimmt. Der erste Absatz, der die Erzählung einrahmt und gegenüber der biblischen Vorlage hinzugefügt ist, endet mit einem „Schlüsselsatz der ganzen Geschichte“: 22 Die Seele des Propheten ist empfindlich und wissend und zweif lerisch, um die Stimme des Herrn zu hören und das Unglück zu erfahren (ebd.). Es handelt sich um eine Charakterisierung der prophetischen ‚Seele‘. Die Attribute erinnern durchaus an den wissenden und zweifelnden Hamlet. Propheten und insbesondere Jona sind bei Johnson Hamletfigurationen, blockierte Helden, die an ihrem Auftrag oder ihrer Aufgabe (ver)zweifeln. 23 Ihnen ist verheißen, das Unglück zu erfahren. Dies kann zweierlei bedeuten. Denn einerseits erlebt der Prophet die Berufung und die Folgen der Berufung als Unglück. Zuvor heißt es in Jonas zum Beispiel über zwei prominente Propheten der Bibel: Jesaja lebte im Unglück mit seinen Reden, Jeremia kam in die Kloake zu sitzen (ebd.). Sie erfahren das Unglück am eigenen Leibe. Andererseits kennzeichnet der erste Absatz die biblischen Propheten durch die Wendung ‚das Unglück erfahren‘ als Unglücks- beziehungsweise Unheilspropheten: Die Propheten werden durch die Stimme des Herrn von dem bevorstehenden und zu verkündigenden Unglück in Kenntnis gesetzt und haben dies zu verkünden. Mit dem zweiten Absatz fokalisiert die Erzählung auf Jona. Zunächst werden der Anlass für die Berufung des Propheten Jona und sein Auftrag konkretisiert. Jehova erzürnt die Bosheit und die Sünde der Stadt Ninive (82). Der Erzähler differenziert den Grund für Jehovas Zorn, belässt ihn allerdings in einer irritierenden Zweideutigkeit: Jehova, so heißt es, geriet in Zorn wegen seines Gesetzes (ebd.). Aber genau genommen müsste Gott doch wegen der ‚Verletzung seines Gesetzes‘ in Zorn geraten. Denkbar wäre also auch, dass Gott über sich selbst und sein Gesetz zürnt, was zu seiner späteren verzeihenden Reaktion gegenüber den bekehrten Niniviten passen würde. Die Folge seines Zorns jedenfalls ist die Berufung und Beauftragung Jonas. Er berief Jona (82). Jonas Reaktion dürfte bekannt sein und Johnson ändert prinzipiell nichts am Handlungsverlauf der Erzählung. Jona versucht dem aktiven Teil der Prophetie zu entgehen: Da wollte Jona nach Tharsis fliehen (82). Die Flucht jedoch gelingt nicht, weil sie nicht

21 In Klammern gesetzte Seitenzahlen im fortlaufenden Text beziehen sich auf Uwe Johnson, „Jonas

zum Beispiel“, in ders., Karsch, und andere Prosa, Frankfurt a.M. 1990, 82–84. 22 Bertram Salzmann, „Jonas, Johnson und Jehova“, 144. 23 „Hamlet wusste, was er zu tun hatte, deshalb zauderte er und war nicht in der Lage, den Akt zu

vollbringen“, Slavoj Žižek, Die Tücke des Subjekts, aus dem Englischen übersetzt von Eva Gilmer, Andreas Hofbauer, Hans Hildebrandt und Anne von der Heiden, Frankfurt a.M. 2001, 540.

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gelingen kann. Die einmal an ihn ergangene Berufung kann Jona nicht aufkündigen oder umkehren. Ein einmal berufener Prophet muss seinen Auftrag auch erfüllen. Der Grund für Jonas Flucht bleibt zunächst – wie im Buch Jona – „unbegründet und rätselhaft“. 24 Das Narrativ lässt eine Motivationslücke. 25 Der nächste Satz sticht durch eine distanzierende Verfremdung, die schon bei der ersten Lektüre des Textes auffällt, aus der Erzählung der Ereignisse heraus: Die gelehrte Forschung dieser Hinsicht meint, daß diese Stadt [Tharsis] vielleicht in Südspanien vermutet werden könne, und hält eine unvergleichliche Entfernung für jedenfalls wahrscheinlich. (82) Der historisch-kritische Kommentar betont den zeitlichen Nacherzählungscharakter von Jonas zum Beispiel. Der an dieser Stelle manifeste Johnson’sche Erzähler, der nicht nur nacherzählt, sondern auch kommentiert, bezieht sich auf die der biblischen Erzählung zeitlich nachgeordnete Forschung. Er erzählt aus spürbarer und parodierender Distanz. Der Absatz, der Jonas Flucht-, Schiffs- und Walepisode stark gerafft zusammenfasst, behält die distanzierte Erzählhaltung bei. Jona soll ja geschlafen haben (83) auf dem Schiff, berichtet der Erzähler, obwohl ein Sturm tobte. Und durch ein legendenhaftes So heißt es (ebd.) relativiert er die Faktizität des Berichts über die drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches (ebd.). Gezwungenermaßen geht Jona also nach Ninive und verkündigt seine Kurzprophetie: [D]ann predigte er: Noch vierzig Tage, und Ninive ist zerstört! (Ebd.) Die prophetische Verkündigung selbst ist in Jonas zum Beispiel äußerst knapp. Jonas prophezeit das drohende Unheil kurz, prägnant und überhaupt nicht rätselhaft. 26 Aufgrund dieser extrem kurzen Prophetenrede bezeichnet Yehoshua Gitay den biblischen Jona als ‚antirhetorischen Propheten‘. Man könnte im Gegenteil zwar auch die kurze Prophetie auf ihre rhetorischen Vorzüge hin befragen, aber entscheidend an Gitays Einwand ist, dass er das Narrative am Buch Jona in den Vordergrund rückt. Bei Jona und ebenso in Johnsons Nacherzählung werden die Merkmale prophetischer Rede, ihre rätselhafte Offenheit und ihre zur Deutung einladende Ambiguität auf die Erzählweise übertragen. Das Prophetische liegt bei Jona in der Erzählung, nicht in der kurzen ‚antirhetorischen‘ Prophetie. Für die erschrockene Reaktion der Niniviten ist wiederum eine Vermutung entscheidend, auf die im Schlusssatz der Erzählung erneut angespielt wird: Wer weiß, vielleicht gereut es Gott doch noch. Und in der Tat: Gott gereute [. . .] das angedrohte Unheil, und er tat es nicht. (Ebd.) Gott zerstört Ninive nicht. Jonas Unheilsankündigung erfüllt sich nicht. Aber erfüllt die Prophetie trotzdem ihre Wirkung? 24 Eberhard Bons, „YHWH und die Völker“, 19. 25 Vgl. Miriam Reinhard, „Uwe Johnsons Jonas zum Beispiel. Ein Beispiel für das Verhältnis von Bei-

spiel, Lektüre und Sinn“, in Johann Anselm Steiger/Wilhelm Kühlmann (Hgg.), Der problematische Prophet, 335–345, hier 337. 26 Vgl. zu Jonas Unheilsankündigung Yehoshua Gitay (1995): „Jonah: The Prophecy of Antirhetoric“, in Astrid B. Beck [u.a.] (Hgg.): Fortunate the Eyes That See. Essays in Honor of David Noel Freedman in Celebration of His Seventieth Birthday, Grand Rapids/Cambridge 1995, 197–206, hier 201–203. Das hebräische Verb, das Jona verwendet, bedeutet nicht nur ‚zerstören‘, sondern auch ‚umkehren‘.

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Bekanntlich wird Jona ob seiner rechthaberischen und widerwilligen Haltung von Gott zurechtgewiesen. Im Dialog mit Gott wird nun auch die noch offene Leerstelle gefüllt, warum Jona nach Tharsis hat fliehen wollen. Weil du nie tust, wie du gesagt hast und wie es gerecht ist nach deinem Gesetz! (84) Um Jona deutlich zu machen, was die Zerstörung der Stadt Ninive für ihn bedeutet hätte, lässt Gott einen Strauch wachsen, der Jona Schatten spendet, und ihn am folgenden Tag durch einen Wurm (ebd.) zerstören. Jona bleibt jedoch uneinsichtig. Die Erzählung endet mit Mutmaßungen über Jonas Zukunft, die lediglich durch die Interpunktion als Fragen gekennzeichnet sind, während es sich in syntaktischer Hinsicht um propositionale Aussagen handelt. Und Jona blieb sitzen im Angesicht der sündigen Stadt Ninive und wartete auf ihren Untergang länger als vierzig mal vierzig Tage? Und Jona ging aus dem Leben in den Tod, der ihm lieber war? Und Jona stand auf und führte ein Leben in Ninive? Wer weiß. (84) In ihrem Parallelismus konkurrieren die Aussagen um die wahrscheinlichste der drei Möglichkeiten für die Fortsetzung von Jonas Geschichte. Als Umkehrung dieser Satzkonstruktionen endet der abschließende Fragesatz nicht mit einem Fragezeichen. Die Fragenkaskade karikiert die prophetische Voraussage und gerinnt zum „rätselhaften Spiegelbild aporetischer Alternativen“ 27. Jonas Zukunft bleibt dem Erzähler unbekannt. Die biblisch-souveräne Fokalisierung erfährt eine Begrenzung, das Wissen des Erzählers ist beschränkt. Auf das ungewisse Wer weiß. gibt er keine Antwort. 28 Der Schlusssatz bietet einige Anhaltpunkte für die Interpretation der Johnson’schen Erzählung, die man prägnant folgendermaßen zusammenfassen könnte: Der Prophetie fehlt der Autor, das handelnde Subjekt. Schon Gitay hat darauf aufmerksam gemacht, dass Jonas Prophetenrede – Noch vierzig Tage, und Ninive ist zerstört! – kein Subjekt benennt, das die Zerstörung in die Hand nimmt. Es heißt ja nicht: Noch vierzig Tage und Gott zerstört Ninive! Die Antwort auf die Frage des Schlusssatzes müsste ein Subjekt nennen, das weiß, was passieren wird, ob Gott, einen Propheten, den Erzähler oder eben den Autor selbst. Die Zukunft bleibt trotz der Prophetie ungewiss. Eine Prophetenerzählung ist eben keine Voraussage der Zukunft, sondern eine „Lehrerzählung“ 29 über den Umgang mit der Zukunft in der Gegenwart, in der die Zukunft noch frei zu gestalten und nicht vorherbestimmt ist. Der Erzähler kann nur Mutmaßungen anstellen über den Ausgang der Geschichte und das Weiterleben Jonas. Daher bleibt es bei der „Nicht-Vorhersagbarkeit und prinzipielle[n] Offenheit des Geschehens“ 30, die das genaue Gegenteil der prophetischen Vor-

27 Wilhelm Kühlmann, „Modell Jona“, 324. 28 Für Kurt Fickert deutet dies auf einen unreliable narrator hin, der vielleicht mehr weiß, als er zugibt.

Vgl. Kurt Fickert, „The Attitude of Narration in Johnson’s ‚Jonas zum Beispiel‘“, in Internationales Uwe-Johnson-Forum 4 (1996), 169–179, hier 175. 29 Gerhard von Rad, Die Theologie der prophetischen Überlieferung Israels, 301. 30 Bertram Salzmann, „Jonas, Johnson und Jehova“, 148f.

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aussage darstellt. Der Erzähler ist kein Prophet, was das Schicksal des Propheten angeht. Die Selbstkritik der Prophetie wird zur Selbstkritik des Erzählens transformiert. Wer weiß. Der Satz verdeutlicht auch, dass kein Prophet wissen kann, ob seine Verkündigung in der Zukunft eintreten wird oder ob sie ihre Wirkung erfüllt. Die „Selbstkritik“ der Prophetie, 31 die bereits die biblische Vorlage kennzeichnet, zielt auf verschiedene Punkte ab. Sie richtet sich an Jona, der als Bote zunächst versagt, da er zu fliehen versucht. Zweitens wird das Prinzip ‚Prophetie‘ zum Gegenstand der Kritik. Der Determinismus ‚prophetischer Kausalität‘ 32 wird durchbrochen, indem die Verkündigung und das Eintreten der Verkündigung entkoppelt werden. Warum sollte Jona auch sonst eine Frist von 40 Tagen bis zur Zerstörung Ninives einräumen? Bereits der König begründete die Maßnahmen zur Umkehr mit einer Mutmaßung: Wer weiß, vielleicht gereut es Gott doch noch. (83) Mit Jona und der möglichen Wendung des angekündigten Schicksals stellt sich das „Problem der unerfüllten Prophezeiungen“ 33, das die Autorität des Propheten fundamental betrifft, da sich seine Glaubwürdigkeit, überhaupt seine öffentliche Anerkennung gemeinhin am Eintreten des Vorhergesagten misst. „Wie es immer bei den großen Prophetien der Fall war: Sie werden als solche erst erkannt, wenn sie eingetreten sind, und sie erfüllen sich in einer unerwartbaren Weise. Jeder wirkliche Prophet sagt mehr, als er weiß und wissen kann.“ 34 Wie Jona können Propheten also gar nicht begreifen, was sie sagen und dadurch bewirken. Im letzten Satz Wer weiß. entfaltet sich also die für die Prophetie typische „Ambivalenz von Freiheit und Vorbestimmung“ 35, die mit Jona und in Jonas zum Beispiel eine Wendung vom vorherbestimmten Schicksal zum Anti-Schicksal erfährt.

3. Philosophie der Prophetie (Blochs Jona) Der Begriff des Anti-Schicksals findet sich bei dem Philosophen Ernst Bloch. 36 Bloch hatte bis zu seiner Zwangsemeritierung 1957 den Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Leipzig inne. Johnson besuchte Blochs Vorlesungen 37 und stieß hier vermutlich 31 32 33 34

Gerhard von Rad, Die Theologie der prophetischen Überlieferung Israels, 302. Diese Formulierung findet sich bei Joseph Blenkinsopp, Geschichte der Prophetie in Israel, 245. Ebd. 244. Martin Mosebach, „Der Roman als Geschichtsschreibung“, in ders., Als das Reisen noch geholfen hat. Von Büchern und Orten, München 2011, 107–122, hier 119f. 35 Heinrich Detering, „9.4 Religion“, 389. 36 Vgl. Ernst Bloch, Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs, Frankfurt a.M. 1968, 139. 37 Neumann deutet in seiner Johnson-Biografie mehrfach an, dass Johnson bei Bloch studierte. Vgl. Bernd Neumann, Uwe Johnson, 155, 297f., 655. Zudem erwähnt Neumann, dass Ernst Bloch (Das Prinzip Hoffnung) und Uwe Johnson (Mutmaßungen über Jakob) die Attraktionen am Suhrkampstand der Frankfurter Buchmesse 1959 waren. „Der legendäre Leipziger Philosoph und der ehemalige

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auf eine einprägsame Gegenüberstellung griechischer und biblischer Prophetie, die erstens dazu beigetragen haben könnte, dass Johnson die Erzählung schrieb und zweitens, dass er sie über Jona schrieb und nicht über Kassandra. Bloch sieht den Schwerpunkt der biblischen Prophetie im Ausdruck menschlicher Freiheit. Die Propheten lehrten eine mündige Wahlfreiheit, die sich auch übers Verhängte erstreckt, sie lehrten die Macht menschlicher Entscheidung. Daher eben sprechen alle Propheten von der Zukunft nicht kategorisch, als von einer feststehenden, sondern hypothetisch, als von einer alterierbaren, alternativischen. 38

Die Zukunft liegt, so Bloch, in den Händen der Menschen. Sie „können das Unheil wenden“ 39. In der Prophetie gibt es einen ‚subjektiven Faktor‘ und diesen erläutert Bloch, indem er den Propheten Jona der griechischen Unheilsprophetin Kassandra gegenüberstellt. Am prägnantesten formuliert Bloch diesen Gegensatz, den er bereits in den Leipziger Vorlesungen (1950–1956) 40 sowie in Das Prinzip Hoffnung (1959) 41 ausführt, in der späteren Schrift über Atheismus im Christentum (1968): Das wirklich prophetisch Spezifische dagegen kam eben aus der ungerufenen Mitwirkung freier Moralität am Schicksal bis zuletzt, besonders bis zuletzt. Diese Mitwirkbarkeit, ja neue Weichenstellung macht schon den Unterschied zwischen dem Propheten Jona und der durch ihn bewirkten (freilich nicht von ihm begriffenen) Abwendung des Untergangs Ninives und der griechischen ‚Prophetin‘ Kassandra, die den Fluch über den Atriden nur vorhersehen, doch durch keinen Anruf, keine bewirkte Umkehr wenden kann. 42

Jonas „Wende-Verkündigung“ 43, die den Untergangs Ninives verhindert, stellt für Bloch einen Gegensatz zur lediglich ‚passiv-hinnehmenden‘ Kassandra dar. 44 Eigentlich möchte

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Leipziger Student tranken derweil [während sich DDR-Verlage darüber empörten] Tee miteinander“, Bernd Neumann, Uwe Johnson, 348. 1961 lektoriert Johnson eine Ausgabe von Blochs Spuren und besucht diesen gemeinsam mit Siegfried Unseld in Tübingen (vgl. ebd. 370). 1977 war Johnson bei der Beerdigung Blochs anwesend (vgl. ebd. 746). Michael Hofmann, Uwe Johnson (RUB 17625), Stuttgart 2001, 22f., nennt Bloch als Indikator der ‚relativen Liberalität‘ und Modernität in Leipzig und als Opponent gegen politische Repressionen. Ernst Bloch, Atheismus im Christentum, 133. Biblische Prophetie geschieht nach Bloch „hypothetisch, das heißt unter Voraussetzung eigener Umkehr, mit der Prämisse eigener Entscheidung und dadurch Alternative“, ebd. 138f. Ernst Bloch, Antike Philosophie (Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie 1950–1956, Bd. 1), bearbeitet von Beat Dietschy und Hanna Gekle, Frankfurt a.M. 21989, 479. Ebd. 478 f. „So nun erblicke man eine der lehrreichsten Bibelstellen in diesem Betracht [der Wirksamkeit moralischer Umkehr]: nämlich das Erstaunen des Propheten Jona, weil er seinen Unterschied zu Kassandra nicht begriffen hat“, Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. In drei Bänden, Bd. 3, Suhrkamp 1967, 1514. Ernst Bloch, Atheismus im Christentum, 133. Ebd. 138. Vgl. ebd. 133.

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Jona zwar Kassandra sein, nur begreift er nicht, dass seine Prophetie dadurch wirkt, dass sie sich nicht erfüllt. Sprachspielerisch akzentuiert Bloch die Differenz zwischen den beiden Modellen der Prophetie, indem er die Vorhersage des schicksalhaft und unumkehrbar ‚Notwendigen‘ (Kassandra) dem Aufruf zum ‚Not-wendenden‘ (Jona) gegenübergestellt. 45 Bloch wählt Jona als Antithese zu Kassandra, weil im Spiegel von Jonas Beharren auf der prophetischen Kausalität, die sich im Widerwillen gegenüber der Berufung, gegenüber der Umkehr der Niniviten und gegenüber seiner nicht-eintretenden Prophetie zeigt, die frei zu gestaltende Offenheit der Zukunft besonders deutlich hervortritt. Die Prophetie bestimmt nicht das Handeln, sondern eröffnet erst die Möglichkeit des aktiven Tun- oder LassenKönnens. Außerdem verdeutlicht die Geschichte von Jona, dass Prophetie nicht die Vorhersage der Zukunft bedeutet, sondern wie mit dieser Zukunft umgegangen wird. Zentral ist für Blochs Religionsphilosophie der Menscheneinsatz, das heißt die Zurückholung oder Zurücknahme Gottes in den Menschen. Dieser Menscheneinsatz kommt durch das Erzählen von Gott und den Propheten zustande. Das Erzählen über Prophetie kündigt zwar die Vorbestimmung an, aber schafft bei Jona und auch bei Johnson gerade dadurch die Freiheit des Menschen, es anders zu machen. Die Prophetie macht den Menschen zum Autor. Erzählen schafft Alternativen, wie der letzte Absatz von Johnsons Erzählung deutlich macht. Die Beziehung zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen Mensch und Gott, zwischen Freiheit und Vorbestimmung muss immer neu erzählt werden und dadurch zeigt sich, dass diese Beziehungen durch das Erzählen konstituiert werden. Die Gegenwart gibt Anlass zum rebellischen „Prophetenzorn“ und die Zukunft wird zum Gegenstand der „Prophetenhoffnung“. 46 Bloch macht deutlich, dass die Propheten nicht durch Berufung legitimiert sind, also nicht, weil sie berufen sind, sondern sie fühlen sich berufen oder beauftragt. Das ist etwas Anderes. „Die biblischen Propheten fühlten sich ja genau zu einer Not wendenden Predigt der eigenen und dadurch des Geschicks mächtigen Wandlung berufen und beauftragt; mit dem moralischen Charisma als dem ersten Recht zu prophezeien.“ 47 Sie sind nicht nur Sprachrohr Gottes, nicht nur Beauftragte, sondern gewinnen ihre Autorität durch moralisches Charisma, das bei Jona allerdings fragwürdig erscheint, ist er doch durch seinen Fluchtversuch schuldig geworden.

45 Vgl. ebd. 137. 46 Ebd. 138. 47 Ebd. 138.

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4. Die Moral und der Sound der Prophetie (Melvilles Jona) In Jonas zum Beispiel kommentiert der Erzähler: Da wollte Jona nach Tharsis fliehen. Die gelehrte Forschung dieser Hinsicht meint, daß diese Stadt vielleicht in Südspanien vermutet werden könne, und hält eine unvergleichliche Entfernung für jedenfalls wahrscheinlich (82). Wie kommt dieser Satz in Johnsons Erzählung? Diese weist zwar auch an anderen Stellen einige sprachliche Eigenheiten auf, von denen die auffälligste sicherlich die folgende ist: Und der Herr entbot einen Rizinus, dessen Saft als castor oil gehandelt wird anderswo in der Welt (84). Aber nur das vorherige Zitat stellt eine bemerkenswerte intertextuelle Anspielung dar. Im neunten Kapitel von Herman Melvilles Roman Moby-Dick oder Der Wal predigt Vater Mapple folgendermaßen: Nach allen überkommenden Berichten kann es sich bei Tharsis um keine andere Stadt als das Cadiz von heute handeln. Das ist die Meinung gelehrter Männer. Und wo liegt Cadiz, Kameraden? Cadiz liegt in Spanien und ist zu Wasser so weit fort von Japho, wie Jona in diesen alten Zeiten, da der Atlantische Ozean ein beinah unbekanntes Weltmeer war, irgend segeln konnte. 48

Diese Stelle erinnert sehr an die Ortsbestimmung durch die gelehrte Forschung bei Johnson und vermutlich hat er nicht nur bei Bloch, sondern auch bei Melville Anregungen für seine Erzählung bekommen. Während Johnson nämlich einen Verlag für seinen ersten Roman suchte und die Erzählung Jonas zum Beispiel schrieb, war er auch als Übersetzer tätig, zwar nicht von Moby-Dick, aber von Melvilles Israel Potter. 49 Sicherlich wird Johnson in diesem Zusammenhang oder schon früher auch Moby-Dick gelesen haben. Welche Rolle also spielt Jona für Moby-Dick und welche Rolle spielt dieser Roman für Jonas zum Beispiel? Moby-Dick nimmt an verschiedenen Stellen auf Jona Bezug. Neben dem parodistischen Kapitel 83, Jona, historisch-kritisch betrachtet, ist für die Jonarezeption in MobyDick das neunte Kapitel, Die Predigt, entscheidend. Hier dient die Geschichte von Jona als wirkliche Lehrerzählung. Vater Mapple predigt: Welch schicksalsträchtige Lehre erteilt uns dieser Prophet! [. . .] Bordkameraden, es ist eine zwiegezwirnte Lehre: eine Lehre für uns alle als sündige Menschen und eine Lehre für mich als einen Lotsen des lebendigen Gottes. 50 Vater Mapple liefert also eine „zweifache Auslegung der Jona-Geschich-

48 Herman Melville, Moby-Dick oder Der Wal, Deutsch von Matthias Jendis, hg. von Daniel Göske,

München 62003, 92. 49 Diese Übersetzung erschien aufgrund seines ‚Umzugs‘ nach Westberlin, also aus politischen Gründen, ohne Johnson als Übersetzer zu nennen. Vgl. dazu Andreas Lorenczuk, „Von Melville zur South Ferry. Bemerkungen zum Übersetzen bei Johnson“, in Ulrich Fries [u.a.] (Hgg.), So noch nicht gezeigt. Uwe Johnson zum Gedenken (Johnson-Studien 7), Göttingen 2006, 141–154. Vgl. zudem Uwe Johnson, Begleitumstände, 154. 50 Herman Melville, Moby-Dick oder Der Wal, 91f.

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te“ 51. Die eine Auslegung stellt Jona als ungehorsamen Sünder dar und stilisiert ihn als einen Kriminellen, zu dem er durch seinen Ungehorsam geworden ist. Schließlich aber beschreibt ihn Mapple als ein Vorbild für ehrliche Reue. Die Lehre für die Gemeinde lautet: ‚Sündiget nicht, doch tut ihr es dennoch, so habet acht, daß ihr sie so bereuet wie Jona‘, 52 der noch für seine Strafe dankt. Die zweite Lehre bezieht sich auf den Prediger selbst, der sich in Jonas Rolle hineinversetzt und sich mit ihm identifiziert, als ‚Lotsenprophet oder Verkünder der Wahrheit‘ 53. Die Aufgabe des Propheten, die auch den Priester betrifft, besteht darin, ‚die Wahrheit zu predigen im Angesicht der Lüge!‘ 54 Diese Aufgabe bedeutet eine ungeheure Last und Anstrengung, aber ihr ist nicht zu entkommen. Ist das Johnsons Lehre für seine Arbeit als Autor? Er selbst führt sein Schreiben, wie er in den Begleitumständen schildert, zwar darauf zurück, dass er sich der Wahrheit annähern wolle, weil er seinen Streit mit der Welt darüber, wann etwas Wahrheit ist und bis wann eine Wahrheit eine Bestrafung verdient, aushandeln muss. 55 Diese Verteidigung der Wahrheit gegen die politisch-ideologischen Einflussversuche trägt Johnson schriftlich 56 aus. Dadurch wird Johnson aber nicht zum ‚Lotsenprophet‘, sondern Lehrling in diesem Beruf, den er sich selber beizubringen hat 57. Der Einfluss von Moby-Dick ergibt sich aus einem anderen Kontext. In der MobyDick-Interpretation von E. M. Forster in den Aspects of the Novel bildet Vater Mapples Predigt das Zentrum und die rätselhafte Vorausdeutung auf alle weiteren Ereignisse, die der Pequod widerfahren werden. In dem Kapitel über Prophecy stellt Forster Moby-Dick überhaupt als Paradebeispiel für einen prophetischen Roman heraus, in dem sich zahlreiche prophetische Motive und Prophetenfiguren finden lassen. 58 Forster stellt zu Beginn des siebten Abschnitts seiner Aspects of the Novel klar: „With prophecy in the narrow sense of foretelling the future we have no concern.“ Er definiert: „Prophecy – in our sense – is a tone of voice.“ 59 Dieser Ton, diese Stimme ergibt sich aus 51 Felix C. H. Sprang, „Herman Melvilles Moby-Dick als Jona-Geschichte im Licht der Transzendenta-

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listen“, in Johann Anselm Steiger/Wilhelm Kühlmann (Hgg.), Der problematische Prophet, 441–458, hier 447. Herman Melville, Moby-Dick oder Der Wal, 99. Ebd. 100. Ebd. 101. Beide Zitate nach Uwe Johnson, Begleitumstände, 69. Vgl. ebd. 89. In dem Interview Über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit erläutert Johnson seine Probleme bei der Verlagssuche für seinen ersten, bis 1985 unveröffentlicht gebliebenen Roman Ingrid Babendererde folgendermaßen: [E]s wurden mir Änderungen vorgeschlagen, nicht stilistischer oder ästhetischer Art, sondern sozusagen politischer. Ich hätte mein Bewußtsein ändern müssen, um diese Änderungen anzubringen, Arnhelm Neusüss, „Über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit. Gespräch mit Uwe Johnson. (Am 10.9.1961 in West-Berlin)“, in Eberhard Fahlke (Hg.), „Ich überlege mir die Geschichte“, 184–193, hier 185. Uwe Johnson, Begleitumstände, 69. Vgl. Niels Werber, „Ahab’s Charisma: Captains, Kings, and Prophets“, in New German Critique 38 (2011), 51–62. Edward Morgan Forster, Aspects of the Novel. And related Writings, London 1974, 86.

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der Eigentümlichkeit des Erzählens. 60 Prophetisch ist also nicht der Autor oder Erzähler, sondern prophetisch ist der „sound“ oder „song“ eines Textes, der sich, so Forster, nicht auf eine Bedeutung oder Symbolik festlegen lässt. Die Botschaft des Propheten konstituiert sich durch seine Stimme, die man hören kann. Das unterscheidet ja auch den Propheten vom Autor: der eine spricht, ruft oder verkündet, der andere schreibt. Propheten sind Redner und nicht Autoren. 61 Im Text zeigt sich das Prophetische dann in der Rauheit der Oberfläche („roughness of surface“ 62). Der song oder sound liegt jenseits der Worte. In diesem Sinne steht Johnsons Autorschaft im Zeichen der Prophetie.

5. Johnsons Beruf Der offensichtliche Unterschied zwischen der biblischen Erzählung und Jonas zum Beispiel besteht darin, dass die Nacherzählung einen namentlich ausgewiesenen Autor nennt. Was lässt sich nun ausgehend von der Jona-Erzählung über Johnsons Autorschaft aussagen? Ist Johnson ein Prophet? Die meisten Interpretationen von Jonas zum Beispiel gehen, wenngleich mit unterschiedlichen Akzentsetzungen, davon aus, dass es sich bei Johnsons Erzählung um einen poetologischen „Selbstverständigungstext“ 63 handelt. 64 In der Einleitung habe ich angedeutet, dass auf unterschiedlichen Wegen versucht wird, in den Worten des Erzählers den Autor dingfest zu machen. Wie bei den abschließenden Vermutungen über Jonas Zukunft konkurrieren verschiedene Angebote für die allegorische Deutung der Figuren, Handlun60 Stimme ist eine narratologische Kategorie, die sich mit der Frage „Wer spricht?“ auseinandersetzt.

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Bezogen auf das Erzählen erinnert diese Frage wiederum an die berühmte Stelle in Johnsons Jahrestage: „Wer erzählt hier eigentlich, Gesine. / Wir beide. Das hörst du doch, Johnson.“, Uwe Johnson, Jahrestage. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl, Frankfurt a.M. 2008, 231. Vgl. Jan Dietrich: „Prophetenrede“, in Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 7, Tübingen 2005, 290–307, hier 291. Edward Morgan Forster, Aspects of the Novel, 94. Bernd Neumann, Uwe Johnson, 499. Die gleiche Formulierung findet sich bei Bertram Salzmann, „Jonas, Johnson und Jehova“, 142, 149. Vgl. auch Awino Kührt, „Uwe Johnsons Kurzgeschichte ‚Jonas zum Beispiel‘ als Modell künstlerischer Selbstverständigung über die Gegenwart“, in Carsten Gansel/Jürgen Grambow (Hgg.), . . . Biographie ist unwiderruflich . . . Materialien des Kolloquiums zum Werk Uwe Johnsons im Dezember 1990 in Neubrandenburg, Frankfurt a.M. [u.a.] 1992, 79–95. In der Aufsatzüberschrift steht im Titel statt „Selbstverständigung“ (Inhaltsverzeichnis) „Selbstverständlichkeit über die Gegenwart“. In Theo Bucks detailliertem und materialreichem Aufsatz über Jonas zum Beispiel finden sich besonders viele darauf ausgerichtete Beobachtungen und Schlussfolgerungen. Die Erzählung stelle die „alttestamentliche Geschichte in den Dienst einer aktuellen Erzählung über die Befindlichkeit des Schriftstellers 1957 in der DDR“; „Leicht kann man hinter den Worten Jonas den wütenden Akt notwendiger Selbstvergewisserung des Autors wahrnehmen“; „Ersichtlich hat der Jonas-Text viel zu tun mit Johnsons existenzieller Haltung“; „Das Dilemma des Jonas war und blieb das Dilemma des Schriftstellers Johnson“, Theo Buck, „‚Jonas zum Beispiel‘“, 90, 95, 96, 99.

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gen und Orte im Hinblick auf die Situation Johnsons und der Intellektuellen in der DDR 1957. Nimmt der Autor Johnson die Position des Propheten Jona ein oder ist er doch der ‚Schöpfer‘ Jehova, dessen Kommunikation mit den Menschen/Lesern Missverständnisse hervorruft und scheitert? 65 Sind die Bewohner von Ninive die Aufständischen in der DDR oder doch der kapitalistische Westen? Das Problem der meisten vorliegenden Interpretationen der Erzählung ergibt sich aus solchen Vereinheitlichungen der „narrativen Doppelstruktur“ 66. Diese Lektüren überschreiten mehr oder weniger leichtfertig nicht nur die Schwelle zwischen Erzähler und Autor, sondern auch zwischen Prophet (Jona) und Autor (Johnson), also Prophetie und Autorschaft, ohne die systematischen Differenzen oder Johnsons Selbstaussagen zu seinem ‚Beruf‘ zu beachten. Niemand würde, das behauptet jedenfalls Giorgio Agamben, heute „die Position des Propheten vorbehaltlos für sich reklamieren“ wollen. 67 Auch Uwe Johnson will dies nicht. Agamben hat nämlich recht: Mit der (literarischen) Säkularisierung kommt die ambivalente Prophetenrolle in der Moderne nicht mehr als Form für die Autorschaft infrage. Johnson ist kein Prophet. Autorschaft ist keine Prophetie. Johnson definiert seine Autorschaft hingegen als Beruf. In den Frankfurter Vorlesungen berichtet er akribisch über die Begleitumstände seiner Arbeit. Man sollte die Begleitumstände, sofern man sich an Johnson hält, auch nicht als ‚Poetikvorlesung‘ bezeichnen. Sie sind kaum Poetik, aber Berufsberatung 68. Sie sind eine moderne Form der Berufsautobiografie. 69 Die Besonderheit der Autorschaft besteht darin, dass sich dieser Beruf in dem und durch den Text konstituiert, der über den Beruf berichtet. In der Tat dreht sich in diesen Vorlesungen alles um Autorschaft als Beruf, die Anforderungen dieses Berufs und das Subjekt ‚Autor‘ als Medium der schriftstellerischen Arbeit, als das Mittel der Produktion 70. Damit ist Ihnen, kündigt Johnson seinen Zuhörern in der ersten Vorlesung an, garantiert, dass private Mitteilungen zur Person entfallen werden. Es trifft sich mit meiner Überzeugung, sie seien ohnehin wenig ergiebig 71. Die öffentliche Seite der Person ist ihre Arbeit, Johnsons Autorschaft. Johnson macht deutlich, dass er seine Autorschaft nicht als Prophetie versteht. In den Begleitumständen findet sich eine Liste mit 58 Bezeichnungen für den Beruf des Autors, in der zwischen Autor, Dichter, Federheld, Marquis Prosa, Papierverderber, Reimbold, 65 „Als Autor, der schöpferisch tätig ist und mit dem Leser durch seinen Text in Verbindung tritt, nimmt

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Johnson dabei die Position des biblischen Jehova ein“, Bertram Salzmann, „Jonas, Johnson und Jehova“, 149. Theo Buck, „ ‚Jonas zum Beispiel‘“, 92, 95. Giorgio Agamben, „Schöpfung und Erlösung“, in ders., Nacktheiten, aus dem Italienischen von Andreas Hiepko, Frankfurt a.M. 2010, 7–20, hier 8. Uwe Johnson, Begleitumstände, 453. Vgl. zu diesem Begriff Günter Niggl, „Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie im 18. Jahrhundert“, in ders. (Hg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 21988, 367–391, hier 372, 390. Uwe Johnson, Begleitumstände, 452. Ebd. 24.

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Schreibathlet, Silbenstecher, Text-Macker und Wortklempner die Bezeichnung ‚Prophet‘ nicht auftaucht. 72 Johnsons Fazit zu seiner Rolle als Autor lautet: Deswegen stellt er sich auch an, als wär sein Beruf einer wie jeder andere, und seine Arbeit wie andere eine Arbeit. 73 Sowohl die biblische als auch die literarische Erzählung teilen mit der prophetischen Rede ihre Mehrdeutigkeit, aus der der Spielraum für verschiedene Auslegungen resultiert. Der prophetischen Enthüllung eignet „eine gewisse Dunkelheit, und er [der Prophet] offenbart nicht, ohne das, was er sagt, in eine bestimmte Form zu hüllen, nämlich die Form des Rätsels“ 74. Nicht die politische Konstellation oder eine politische Botschaft bildet den Dreh- und Angelpunkt von Jonas zum Beispiel, sondern die Prophetie als narratives Konzept, über das erst ein Verständnis der politischen Dimension dieser Erzählung möglich wird. „Ein Roman ist keine revolutionäre Waffe, er bringt nicht unmittelbar politische Wirkung hervor.“ 75 Die Wirkung lässt sich nicht berechnen, nicht voraussagen. All die im Vorangegangenen diskutierten Aspekte des Prophetischen lassen sich auf die Eigenschaften von Narrativen zurückführen. Die Ausrichtung der Prophetie auf die Zukunft betrifft die erzählte Zeit und die Möglichkeiten zu Voraussagen (Prolepsen), Freiheit und Vorherbestimmung betreffen die Motivation des Geschehens, die entweder mythisch auf ein vorbestimmtes, schicksalhaftes Ende hin (final) oder eben als offener und schicksalsfreier Geschichtsverlauf (kausal) gestaltet werden kann, wobei Jonas zum Beispiel eine Geschichte des Anti-Schicksals ist. Prophetie ist als Erzählprinzip aufzufassen. Wenn, dann liegt das Prophetische bei Johnson also auf der narrativen Ebene, im Erzählen, bei dem es Johnson um das Ausagieren der ‚Wahrheit‘ geht. Diese erzählerische Wahrheit lässt sich nicht festlegen, sie kennt keinen letzten Grund, sondern entsteht aus der Konkurrenz verschiedener, sich teils widersprechender „Teilwahrheiten“: einer subjektiven, einer objektiven und einer parteiischen Wahrheit, 76 die verschiedene Perspektiven notwendig machen. Johnsons Erzählungen teilen mit der Prophetie die Ausrichtung am Wahrsprechen, die damit verbundenen Gefahren und Waghalsigkeiten und die darauf reagierenden rätselhaften Sprechweisen. Johnsons Jonas zum Beispiel entwickelt anhand des mehrdeutigen Erzählens den prophetischen Sound, der Jonas zum Beispiel mit allen späteren Texten des Autors verbindet.

72 Ebd. 160 f. 73 Uwe Johnson, „Wenn Sie mich fragen . . . (Ein Vortrag)“, in Eberhard Fahlke (Hg.), „Ich überlege

mir die Geschichte“, 51–64, hier 63. 74 Michel Foucault, Der Mut zur Wahrheit, 32. 75 Uwe Johnson, „Wenn Sie mich fragen . . .“, 61. In der Büchner-Preis-Rede berichtet Johnson über

sich (in der dritten Person als „der Verfasser“), dass „er im gegenwärtigen Zeitpunkt jede revolutionäre Bewegung als eine vergebliche Unternehmung betrachtet“, Uwe Johnson, „1971“, in BüchnerPreis-Reden 1951–1971. Mit einem Vorwort von Ernst Johann, Stuttgart 1972, 217–240, hier 239. 76 Arnhelm Neusüss, „Über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“, 191f. (Zitat hier 192).

Christian Sieg

Apokalypse und Autorschaft Prophetische Rede bei Günter Grass und im deutschsprachigen literarischen Feld der 1980er-Jahre

Die Kunst der 1980er-Jahre stand im Zeichen des Weltuntergangs. Das gilt nicht nur für die Literatur. Ein Blick auf die Filme des Jahrzehnts verdeutlicht die Relevanz der Thematik drastisch. Erinnert sei nur an Apocalypse Now (1979), War Games (1983), The Day After (1983) und die beiden letzten Filme der Mad-Max-Trilogie (1981 und 1985). Auch Lyrik und Theater partizipierten am Thema: Tankred Dorst und Heiner Müller brachten den Weltuntergang auf die Bühne; Günter Kunert und Sarah Kirsch motivierte er zu lyrischen Texten. Schließlich beherrschte das Thema auch die Prosa: Franz Fühmann veröffentlichte 1981 den Erzählband Saiäns-Fiktschen und Volker Braun 1982 Verfahren Prometheus. Im Jahr 1983 publizierten Anton Andreas Guha Ende. Tagebuch aus dem dritten Weltkrieg, Mathias Horx Glückliche Reise. Roman zwischen den Zeiten, Gerhard Zwerenz Der Bunker, Udo Rabsch Julius oder Der schwarze Sommer und Christa Wolf Kassandra. Drei Jahre später folgte Günter Grass mit Die Rättin (1986). Neben diesen deutschsprachigen Neuerscheinungen erschienen zudem etliche Neuauflagen und Übersetzungen, die das Thema ‚Weltuntergang‘ fiktional verarbeiteten. 1 Und selbst die Kinder- und Jugendliteratur beschäftigte sich mit dem Weltuntergang. Bekannt geworden sind vor allem die Romane von Gudrun Pausewang, die sich sowohl mit Die letzten Kinder von Schewenborn oder . . . sieht so unsere Zukunft aus? (1983) als auch mit Die Wolke. Jetzt werden wir nicht mehr sagen können, wir hätten von nichts gewußt (1987) der atomaren Katastrophe als Thema annahm. Die Überlegungen Günter Kunerts anlässlich seiner Frankfurter Poetikvorlesungen im Jahr 1981, die vier Jahre später bei Hanser unter dem Titel Vor der Sintflut. Das Gedicht als Arche Noah erschienen, belegen ferner, welche Relevanz das Thema ‚Weltuntergang‘ auch für die poetologischen Reflexionen von Autorinnen und Autoren hatte. Wie es der Titel seines Buches schon vermuten lässt,

1 Vgl. Hans Krah, Weltuntergangsszenarien und Zukunftsentwürfe. Narrationen vom Ende in Literatur

und Film 1945 – 1990, Kiel 2004, 312.

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stellt Kunert einen Zusammenhang zwischen Prophetie, Weltuntergang und Literatur her. Das Gedicht besitzt ihm zufolge die Fähigkeit der Witterung, der Vorahnung, der Prophetie, wobei ich, um seine Wirkung zu charakterisieren, sofort auf Kassandra verweise. Sie hat den Untergang Trojas vorausgesagt, ohne daß irgendeiner im Ort die Vorhersage ernst genommen hätte. 2

Die Identifikation mit Prophetinnen und Propheten findet sich nicht nur bei Kunert. Insbesondere Christa Wolf, Günter Grass und Wolfgang Hildesheimer eigneten sich den prophetischen Redemodus in fiktionalen, poetologischen und politischen Texten an. Im Folgenden werden verschiedene Texte Günter Grass’, insbesondere sein 1986 publiziertes Buch Die Rättin, im Kontext des literarischen Feldes der 1980er-Jahre verortet. Im Zentrum steht dabei die Analyse der Art und Weise, wie Grass sich mit der Unheilsprophetie identifiziert und an die Tradition der jüdisch-christlichen Apokalyptik anschließt. Anstatt eine detaillierte Analyse der Rättin vorzulegen, die im Rahmen eines Artikels nicht zu leisten ist, werde ich aufzeigen, wie es Grass in Paratexten gelingt, den fiktionalen Rahmen des Buches zu überschreiten und sich mit der prophetischen Rede desselben zu identifizieren. Bevor ich diese Selbststilisierung des Autors zum Apokalyptiker analysiere, soll jedoch demonstriert werden, dass Grass’ Aufgreifen der jüdisch-christlichen Apokalyptik mitsamt des prophetischen Redemodus kein singuläres Phänomen darstellt, sondern nur im Kontext des politischen und literarischen Feldes der 1980er-Jahre verstanden werden kann. Auch wenn christliche Motive im Grass’schen Werk seit jeher eine zentrale Stellung einnahmen, so offenbart Grass’ endzeitlich gefärbte Inszenierung seiner Autorschaft in den 1980er-Jahre doch gerade Zweifel an dem zuvor verfolgten aufklärerischen Paradigma seiner Werke und politischen Einsprüche. 3

1. Die Literaten und die Friedensbewegung Der Weltuntergang muss sicherlich zu den traditionellen Motiven der Literatur gezählt werden. Die eindrucksvolle Präsenz dieser Thematik in den Künsten der 1980er-Jahre verlangt dennoch nach Erklärungen. Sie verweist auf die politischen Diskurse der Zeit. Zahlreiche zeitgenössische Debatten bezogen sich auf die Gefahr einer atomaren Katastrophe, das Waldsterben oder die durch die weltweite Überbevölkerung produzierten Ängste. Seit 1981 fungierte zudem Ronald Reagan, ein bekennender Anhänger biblischer 2 Günter Kunert, Vor der Sintflut. Das Gedicht als Arche Noah. Frankfurter Vorlesungen, München

1985, 10. 3 Die Bedeutung der christlichen Religion für das Werk Grass’ ist bisher nur in Ansätzen erforscht.

Insbesondere ist auf den kurzen, aber einschlägigen Aufsatz von Volker Neuhaus zu verweisen. Vgl. Volker Neuhaus, „Das christliche Erbe bei Günter Grass“, in Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Günter Grass, München 1988, 108–119. Für Grass’ politisches Engagement gegen die atomare Bedrohung mittels Essayistik und Reden vgl. Timm Niklas Pietsch, „Wer hört noch zu?“ Günter Grass als politischer Redner und Essayist, Essen 2006, 229–53.

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Weltuntergangsprophetien, als Präsident der USA. 4 Die drohende atomare Katastrophe wurde in dieser Zeit nicht zuletzt auch deswegen zu einem literarischen Thema, weil sich viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller für den Frieden engagierten. Um einen Eindruck von der starken Beteiligung der Akteure des literarischen Feldes an der Friedensbewegung zu geben, sei lediglich darauf verwiesen, dass der 1981 lancierte Appell der Schriftsteller Europas innerhalb eines Jahres von 3000 Autorinnen und Autoren unterzeichnet wurde. 5 Aber nicht nur Unterschriften wurden geleistet. Im Dezember des Jahres 1981 kamen zahlreiche Autorinnen und Autoren in Ost-Berlin anlässlich eines Schriftstellertreffens zusammen, zu dem Stephan Hermlin über hundert Kolleginnen und Kollegen eingeladen hatte. Ziel dieses Treffens war es, ungeachtet der politischen Differenzen der Teilnehmenden aus Ost- und Westeuropa darauf aufmerksam zu machen, dass die Möglichkeit eines begrenzten Atomkriegs, wie sie von einigen Militärs vertreten wurde, nicht nur eine Illusion sei, sondern den Ausbruch eines Krieges wahrscheinlicher mache. 6 Die Veranstaltung war dementsprechend von einer Weltuntergangsrhetorik geprägt: Hermann Kant berichtete davon, dass es auf der Weltuntergangsuhr des Bulletin of Atomic Scientists vier Minuten vor zwölf sei, 7 Stefan Heym mahnte, dass die Atombombe aus der Erde einen toten Stern 8 machen könne, Adolf Muschg erinnerte daran, dass es um das schlichte Überleben von uns allen 9 gehe, Peter Schneider konstatierte, dass der dritte Weltkrieg nur 72 Stunden 10 bis zur totalen Vernichtung der Menschheit benötigen würde, Günter de Bruyn warnte vor einer Todesspirale 11 beim Wettrüsten, Franz Fühmann formulierte, was zu tun sei, wenn die Menschheit überleben will 12, und Günter Grass gab schließlich zu, dass auch ihn die Weltuntergangsstimmung 13 erreicht habe. Äußerst pessimistisch liest sich Christa Wolfs Beitrag, in dem sie konstatierte, dass nur noch das Unwahrscheinliche retten könne: Wenn diese Zivilisation imstande war, ihren eigenen Untergang derartig genau zu planen und vorzubereiten, sich die Mittel dafür zu beschaffen unter solchen furchtbaren Opfern, dann ist sie krank, wahrscheinlich geisteskrank, vielleicht todkrank. 14

4 Paul Boyer hat in seiner Monografie eindringlich dargestellt, wie sehr der Millenarismus die politi-

5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

schen Debatten in den USA der 1980er-Jahre beeinflusste. Vgl. Paul Samuel Boyer, When time shall be no more. Prophecy belief in modern American culture, Cambridge, MA 61999, 140–151. Vgl. Christian Schultz-Gerstein, „Welt- oder Seelenfrieden?“, in Der Spiegel 45 (1982), 242–243, hier 242. Vgl. das Eröffnungsstatement von Stephan Hermlin in: Berliner Begegnung zur Friedensförderung. Protokolle des Schriftstellertreffens am 13./14. Dezember 1981, Neuwied 1982, 5–10. Ebd. 31. Ebd. 66. Ebd. 67. Ebd. 73. Ebd. 81. Ebd. 101. Ebd. 44. Ebd. 117.

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Wolfs kulturkritische Töne gehören nicht nur zur Vorgeschichte ihrer Erzählung Kassandra (1983), sondern demonstrieren eine Pathologisierung sozialer Prozesse, die dazu diente, den drohenden Weltuntergang als notwendige Folge einer zivilisatorischen Fehlentwicklung zu deuten. Dieses Argumentationsmuster wird sich auch bei Grass finden lassen. Auf das Schriftstellertreffen in Ost-Berlin folgte nur ein halbes Jahr später das Haager Treffen in den Niederlanden, das sich unter anderem mit den Konferenzthemen Europa rüstet zur Katastrophe: Wettrüsten, ökologischer Zusammenbruch, Zuspitzung des Nord-Süd-Konflikts, Souveränitätsverlust, wachsende Abhängigkeit, atomarer Untergang 15 auseinandersetzte. Die Weltuntergangsrhetorik ist schon in dieser Themenaufstellung offensichtlich und wurde von Bernt Engelmann, der das Treffen dokumentierte, noch einmal unterstrichen, wenn er darauf verweist, dass man sich der extremen Gefährdung des menschlichen Lebens und seiner Grundlagen durchaus bewußt war. 16 Ganz in diesem Sinne gab auch Peter Härtling zu Protokoll: Wir haben uns unserem Ende näher gebracht, indem wir uns einem Fortschritt verschrieben, der, fürchte ich, von kaum einem mehr durchschaut und von wenigen verwaltet wird, deren Sprache von uns, den Verwalteten, schon lange nicht mehr verstanden wird. 17

Härtlings Fortschrittskritik, die ihrerseits als ein Echo auf Christa Wolfs Beitrag in OstBerlin verstanden werden kann, schloss sich auch Carl Amery an, der darauf hinwies, dass das auf beiden Seiten der Elbe zu findende instrumentelle Verhältnis zur Umwelt die sicherste Garantie für den Untergang der Spezies 18 sei. Angesichts dieser Diagnose verpflichteten sich die Teilnehmenden in der Abschlusserklärung, als Schriftsteller dem Mißbrauch der Sprache zur Kriegsvorbereitung entgegenzutreten und die wahren Sachverhalte jedermann verständlich zu machen. 19 Auf die Treffen in Ost-Berlin und Den Haag folgten Treffen in Köln und West-Berlin, in denen der Beitrag der Schriftstellerinnen und Schriftsteller zur Friedenserhaltung weiter diskutiert und erneut gemahnt wurde, dass niemals zuvor mit dem Frieden die Existenz des Menschen so elementar bedroht 20 gewesen sei. Wie sehr die Angst vor dem Weltuntergang durch eine religiöse Rhetorik gestützt wurde, zeigt eine Umfrage der Zeit unter einundzwanzig Intellektuellen zum Jahreswechsel 1986/87. Die Redaktion leitet die Antworten auf die Frage „Hat die Hoffnung noch eine Zukunft?“ mit den Worten ein: Die Apokalypse lebt: finstere Ausblicke auf das Weltende beherrschen unsere Köpfe und Phantasien. Zwischen Tschernobyl und Bhopal, zwischen Aids und SDI bleibt, so scheint es, kein Raum mehr

15 Bernt Engelmann (Hg.), ‚Es geht, es geht . . .‘. Zeitgenössische Schriftsteller und ihr Beitrag zum 16 17 18 19 20

Frieden – Grenzen und Möglichkeiten, München 1982, 65. Ebd. Ebd. 79. Ebd. 122. Ebd. 133. Ebd. 148.

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für Hoffnung. Hoffnung, so glaubten wir einst zu wissen, als wir Ernst Blochs ‚Prinzip Hoffnung‘ lasen, ist eine politische Kategorie. Hoffnung war die Zuversicht, wir könnten die Aufklärung über ihre Zukunft hinwegretten und endlich in das Ende der selbstverschuldeten Unmündigkeit eintreten. 21

Wie auch diese Passage demonstriert, werden ‚Weltuntergang‘ und ‚Apokalypse‘ in den 1980er-Jahren, theologisch natürlich keineswegs korrekt, oftmals synonym verwendet. 22 Die religiöse Rhetorik folgt der kulturkritischen Intention der Zeit-Redaktion. Gefragt wird nicht nach einer politischen Analyse, sondern nach einer geschichtsphilosophischen Prognose. Bewahrheitet sich Horkheimers und Adornos Skepsis gegenüber der Aufklärung oder kann an den Optimismus Kants und Blochs doch noch angeschlossen werden? Wolfgang Hildesheimer setzte diesen mit religiöser Rhetorik grundierten und geschichtsphilosophisch fundierten Weltuntergangsdiskurs in seiner Antwort fort. Für ihn lässt sich die geschichtsphilosophische Sonnenuhr deutlich ablesen: Mit jeder Stunde braucht es weniger Prophetie, um die Zeichen zu deuten. 23 Zur Prophetie bedarf es Hildesheimer zufolge keiner metaphysischen Gabe mehr. Um noch hoffen zu können, so gab Jürg Laederach zu bedenken, benötige der Zeitgenosse jedoch eine religiöse Geborgenheit. 24 Selbstverständlich zogen die geschichtsphilosophischen Prämissen der Fragestellung auch Kritik nach sich. Insbesondere Niklas Luhmann und Kurt Sontheimer, beide bekanntlich keine Schriftsteller, deuteten den fehlenden Pragmatismus des linken Engagements und gerade den Glauben an geschichtsphilosophische Narrative auf Seiten der Akteure als Quelle für den Katzenjammer. Anstatt sich mit der sperrigen Wirklichkeit 25 auseinanderzusetzen, so Sontheimer, hätte die 68er-Generation auf die Hoffnung gesetzt. Dadurch sei sie bitter enttäuscht worden. Die zeitgenössische Hoffnungslosigkeit habe daher subjektive Ursachen. Die Weltuntergangsrhetorik der Friedensbewegung führte nicht nur zur Aktualität jüdisch-christlicher Deutungsmuster, sondern auch zu einem verstärkten Bezug auf die antike Untergangsprophetin Kassandra. 26 Grass beispielsweise sah, wie er sich in einem offenen Brief an die Abgeordneten des Bundestages ausdrückte, den Schriftsteller gene-

21 „Hat die Hoffnung noch eine Zukunft? ZEIT-Umfrage unter Wissenschaftlern, Künstlern und Intel22 23 24 25 26

lektuellen“, in Die Zeit 1 (1987), 29–31, hier 29. Vgl. Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, München 1988. 21. „Hat die Hoffnung noch eine Zukunft?“, 29. Ebd. 30. Ebd. 31. Thomas Epple zeigt in seiner Studie zur Geschichte der Kassandradarstellungen auf, dass in der DDR der Bezug auf die trojanische Prophetin durchaus häufig hergestellt wurde. Er nennt Erich Arendt, Johannes Bobrowski, Günter Kunert, Thomas Barsch, Jürgen Rennert und Ulrich Schacht und verweist u. a. auf die Bedeutung der Geschichtsphilosophie im Marxismus, die den verstärkten Bezug erklären könne. Vgl. Thomas Epple, Der Aufstieg der Untergangsseherin Kassandra. Zum Wandel ihrer Interpretation vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Würzburg 1993, 258f.

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rell in der Kassandra-Nachfolge. 27 Auch in dieser Hinsicht positionierte sich Sontheimer kritisch. In einem langen Beitrag für den Rheinischen Merkur konstatierte er: Der Geist der Zeit hat gegenwärtig eine eher pessimistische Note. Viele zeitgenössische Rufer im Gewande der Kassandra verheißen uns eine düstere Zukunft, wenn die Welt so weitermache, wie es bisher ihre Art war. 28

Während Sontheimer den Pessimismus kritisierte, der den Bezug auf die mythische Prophetin motivierte, verwahrten sich Schriftsteller wie Walter Jens dagegen, nur Schwarzseherei zu betreiben: So undankbar das Kassandra-Geschäft der Warnung in letzter Stunde auch ist: Angst, im Sinne eines Bedenkens drohenden Unheils, kann Erkenntnis- und Hilfs-Mittel sein [. . .]. 29 Ähnlich rechtfertigte Johano Strasser, Redakteur der u. a. von Böll und Grass herausgegebenen Zeitschrift L’80, seinen Bezug auf George Orwell, dessen Roman 1984 von ihm als ein prophetisches Buch angesehen wurde. Seine durch Orwell inspirierte Zeitdiagnose schloss er mit den Worten: Feststellungen wie diese entspringen nicht einer krankhaften Neigung zu apokalyptischen Visionen. 30 Die Rechtfertigungen von Jens und Strasser zeigen, dass die Warnungen vor einer katastrophalen Zukunft durchaus dem Ideologieverdacht ausgesetzt waren. Nicht nur divergierende Bewertungen der Kriegsgefahr waren dafür ausschlaggebend, angezweifelt wurde auch, dass die Imagination des Weltendes überhaupt helfe, dieses zu verhindern. So erinnerte Ulrich Greiner daran, dass die Schreckensvisionen in Film und Literatur auch Lethargie erzeugen können: Niemand weiß, wem die grassierende Angst hilft, dem Frieden oder dem Krieg. 31 Der Spiegel vermutete sogar noch andere Motive für die endzeitliche Rhetorik und sprach im Titel der letzten Ausgabe des Jahres 1981 von der Lust am Weltuntergang. Hans Magnus Enzensberger hatte dies schon 1978 vermutet: Die Apokalypse gehört zu unserem ideologischen Handgepäck. Sie ist ein Aphrodisiakum. 32

27 Günter Grass, „Offener Brief an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages“, in ders., Essays und

28 29 30 31 32

Reden III. 1980–97, hg. v. Daniela Hermes, Göttingen 1997 (Werkausgabe, hg. v. Volker Neuhaus/ Daniela Hermes, 16), 106–110, hier 106. Kurt Sontheimer, „Im Gewand der Kassandra. Puren Pessimismus hält der Mensch nicht lange aus“, in Rheinischer Merkur (18.3.1983), 8. Walter Jens, „Appell in letzter Stunde“, in ders. (Hg.), In letzter Stunde, München 1982, 7–26, hier 20. Johano Strasser, „Die 80er Jahre: Orwells Jahrzehnt“, in L’80 13 (1980), 5–19. Ulrich Greiner, „Apokalypse now. Über den amerikanischen Film „The Day After“ und neuere apokalyptische Romane“, in Die Zeit 49 (1983), 43–44, hier 44. Hans Magnus Enzensberger, „Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang“, in ders., Politische Brosamen, Frankfurt a.M. 1982, 225–236, hier 225.

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2. Autorschaft und Apokalypse in den 1980er-Jahren Natürlich gab es im literarischen Feld der 1980er-Jahre auch Widerspruch gegen die Zunahme der Weltuntergangsrhetorik. In den zeitgenössischen Debatten um das richtige Autorschaftsmodell bezeugt sich die agonale Struktur des literarischen Feldes. So positionierten sich Häretiker verschiedener Couleur gegen die arrivierten Autorinnen und Autoren Wolf, Grass und Hildesheimer. Sowohl Peter Handke, der schon in den 1970erJahren zum Intimfeind der politisch engagierten Literatur geworden war, als auch einige Autoren, die sich im Umfeld des Literaturmagazins aus dem Rowohlt-Verlag im vergangenen Jahrzehnt um die Neukonstituierung einer politischen Literatur bemüht hatten, positionierten sich gegen die Erben der Gruppe 47. Eine Analyse dieser Debatte erlaubt es, die Konturen eines prophetischen Autorschaftsmodells genauer zu skizzieren. Handke provozierte die engagierten Literaten mit einer Passage seines 1983 erschienenen Buchs Phantasien der Wiederholung. Dort heißt es apodiktisch: Sicheres Zeichen, daß einer kein Künstler ist: wenn er das Gerede von der ‚Endzeit‘ mitmacht. 33 Verzichtete Handke im Buch auch auf eine Kontextualisierung seiner These, so verfehlte sie ihre Wirkung dennoch nicht. Wolfgang Hildesheimer skandalisierte die Textstelle wiederholt. Noch im Dezember 1986, in seiner pessimistischen Weltsicht durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl bestärkt, echauffiert sich Hildesheimer in der Zeit über Handke und setzt dessen Positionierung seinen Autorschaftsbegriff entgegen: Es gehört zum Wesen des Künstlers, daß er die, seine Existenz berührenden Strömungen und Phänomene seismographisch aufnimmt. Daß er ihr Walten erfaßt und ihre Bedeutung früher erahnt als andere. Daß er daher auch das Bedrohliche an den Veränderungen der Natur erkennt, wenn nicht gar physisch erlebt, und, bewußt oder unbewußt, mit all seinen Sinnen verarbeitet. Künstler ist nicht nur, wer sich mitteilt, sondern auch der, dem es sich mitteilt. 34

Hildesheimer knüpft hier an einen Topos des prophetischen Redemodells an, indem er sich einerseits die Rolle eines passiven Mediums zuschreibt und andererseits sein Leiden an der Zukunftsvision herausstellt. Schon 1984 hatte Hildesheimer in einem Interview im Stern Handke vorgeworfen, weit davon entfernt zu sein, die Realität zu erfassen. Er selbst könne sich hingegen der offensichtlichen Bedrohung des menschlichen Lebens nicht verschließen. Als Autor fiktionaler Texte könne er fortan nicht mehr tätig sein. Seinen Abschied von der Literatur begründet Hildesheimer mit dem Schrecken seiner Zukunftsvision: Wenn ich [. . .] am Schreibtisch sitze und nachdenke, dann guckt mich das bare Entsetzen an über unsere Zeit und unsere Lage, so daß ich also absolut gelähmt bin. 35 Hildesheimer will seine Entscheidung nicht als psychologisch gedeutet, sondern

33 Peter Handke, Phantasien der Wiederholung, Frankfurt a.M. 1983, 89. 34 Wolfgang Hildesheimer, „Endzeit – nur ein Gerede. Zu einem Satz Peter Handkes“, in Die Zeit 50

(1986), 51. 35 Tilman Jens, „‚Der Mensch wird die Erde verlassen‘. Weshalb der Schriftsteller Wolfgang Hildes-

heimer Abschied vom Schreiben genommen hat“, in Stern 16 (1984), 58–60, hier 58.

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als Reaktion auf eine objektiv hoffnungslose Situation verstanden wissen. Deshalb konstatiert er, dass einige der besten Autoren mit dem Schreiben aufgehört haben, und nennt als Beispiel neben Wolfgang Koeppen auch Günter Grass, auch wenn der immer wieder anfängt, anzufangen versucht. 36 Hildesheimer spielt so auf den Umstand an, dass Grass zu diesem Zeitpunkt seit sieben Jahren keinen Roman mehr veröffentlicht hatte. Grass selbst gab einige Monate später in L’80 bekannt, dass er Hildesheimers Gesellschaftsdiagnose teile, seine eigene, auch aus dieser Bedrohung resultierende Schreibpause von drei Jahren jedoch überwunden habe. Dass das Thema Autorschaft und Apokalypse für ihn damit aber nicht obsolet geworden ist, sondern sein Schreiben nun thematisch beeinflusst, deutet Grass an, wenn er konstatiert, dass es ihm gelungen sei, die veränderte Grundsituation mitzuschreiben. 37 Die vielen Schreibszenen, die sich in Die Rättin finden, und die Bedeutung der Autorschaftsthematik für das Buch deuten sich hier an. Die Signifikanz des politischen Diskurses für das literarische Feld nahm nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 noch zu. Das betraf auch die Erfolgsaussichten literarischer Werke, die Untergangsszenarien entwarfen. Besonders gut lässt sich dies an der Aufführungsgeschichte von Harald Muellers Totenfloß aufzeigen. Wurde das Stück nach der Uraufführung 1984 in Oberhausen von keiner überregionalen Zeitung besprochen, avancierte es nach Tschernobyl zum Titelthema von Theater heute und wollten laut Spiegel 20 Bühnen das Stück im Jahr 1986 aufführen. 38 Ein Jahr nach dem Reaktorunfall veranstaltete das Literaturmagazin des Rowohlt-Verlags eine Umfrage unter größtenteils weniger arrivierten Autorinnen und Autoren zu den Folgen von Tschernobyl. Die Redaktion fragte, inwieweit die katastrophale gesellschaftliche Entwicklung, die in Tschernobyl kulminiert sei, ihr Schreiben beeinflusse und ob sich die durch Grass und Hildesheimer artikulierte Weltuntergangsangst auch auf ihr Verständnis von Autorschaft auswirke. Beachtlich ist die Ablehnung, auf die schon die Fragestellung bei vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Umfrage stieß. Es ist schwer, vielleicht sogar unmöglich, eine falsch gestellte Frage richtig zu beantworten. 39 So begann Hans Christoph Buch, der in der rituelle[n] Beschwörung des Weltuntergangs 40 ein nationales Phänomen sah, das von den eigentlichen sozialen Problemen der Welt, wie dem Kolonialismus und der Verelendung in den sogenannten Entwicklungsländern, ablenke. In Hildesheimers Abschied von der Literatur sah auch Silvio Blatter keine Reaktion auf den Zustand der Welt, sondern eine altersbedingte Problematik, 41 die er mit Max Frisch teile. Fried36 Ebd. 60. 37 Günter Grass/Hans Christoph Buch [u.a.], „Die Maßstäbe müssen sich verändern! Ein Gespräch über

Schriftsteller und Literatur heute“, in L’80 32 (1984), 36–55, hier 37. 38 Vgl. Anonym, „Rotzandkotz“, in Der Spiegel 42 (1986), 276–277. 39 Hans Christoph Buch, „Die Zukunft der Literatur ist ihre Vergangenheit“, in Martin Lüdke/Delf

Schmidt (Hgg.), Warum sie schreiben wie sie schreiben, Reinbek bei Hamburg 1987 (Literaturmagazin 19), 32–33, hier 32. 40 Hans Christoph Buch, „Die Zukunft der Literatur ist ihre Vergangenheit“, 32. 41 Silvio Blatter, „Die Welt mit Kunst erfassen – ist vielleicht die Utopie des Feuilletons“, in Martin Lüdke/Delf Schmidt (Hgg.), Warum sie schreiben wie sie schreiben, 23–31, hier 23.

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rich Christan Delius konstatierte weniger polemisch, dass er im Gegensatz zu Hildesheimer nicht gedenke, zwischen Umweltschutz und Autorschaft zu wählen, sondern beide Praktiken ihre Berechtigung hätten: Tschernobyl müsse die Literatur nicht verändern. 42 Kritisch beäugt wurde die Fragestellung des Literaturmagazins auch, weil mit ihr der mediale Diskurs ungebrochen ins literarische Feld importiert würde. Die Aufmerksamkeitsökonomie der Mediengesellschaft beeinflusst Hanns-Josef Ortheil zufolge so auch die Intellektuellen: Wer jetzt nicht sein Scherf lein beiträgt, die „Endzeit“-Diskussion in Gang zu halten, den gibt es intellektuell gar nicht mehr. 43 Auch Ilma Rakusa sah in der medialen Abhängigkeit das eigentliche Problem: Denn die Simulation ist es, die das Arsenal atomarer Waffen in einen Alptraum und das Leben in ein Überleben, in einen Einsatz ohne Einsatz, verwandelt hat. 44 Brigitte Kronauer betrachtete die aufoktroyierten Diskurse ebenfalls äußerst skeptisch. Sie drückte ihre Hoffnung aus, dass sie aufhören werde zu schreiben, wenn die Einbrüche der Außenwelt stärker werden als die (von ihr beeinflussten, aber doch selbstbewußten) inneren Vorstellungen. 45 Bodo Kirchhoff schließlich gab zu bedenken, dass Tschernobyl doch nur eine Medien-Ware 46 sei, an der sich der Schriftsteller nicht orientieren dürfe: Alles Apokalypsengerede entspringt einem narzißtischen Weltbild: Da, wo ich bin, müssen Superlative gelten [. . .]. 47 Sten Nadolny erkannte gar einen Schuldkomplex, aus dem die Erwartung des Jüngsten Gerichts resultierte: Die verdiente Menschheitsstrafe muß kommen, dessen sind oft gerade die gescheitesten Menschen sicher, vielfach nach einer Phase der selbstlosen Aktivität. 48 Die Umfrage endete mit einem Essay des Redakteurs Martin Lüdke, dessen Titel den Tenor der meisten Beiträge zusammenfasst: Plädoyer gegen die Weinerlichkeit. Allerdings handelt es sich bei Lüdkes Beitrag keinesfalls um eine Zusammenfassung, sondern um eine weitere Fürsprache für die Unabhängigkeit der Kunst von der Politik und gegen die Tradition der Gruppe 47. Lüdke buchstabiert aus, gegen wen sich diese Betonung der Unabhängigkeit des Ästhetischen von der Politik richtete: Böll, Walser, Grass – das sind große Namen. Nur, wofür stehen sie noch ein? Bestenfalls für routiniert geschriebene, unterhaltsam zu lesende, bei Lichte besehen aber unbedeutende Literatur. 49 Sah Hildesheimer einen dro42 Vgl. Friedrich Christian Delius, „Gute Zeiten für Ghostwriter“, in Martin Lüdke/Delf Schmidt (Hgg.),

Warum sie schreiben wie sie schreiben, 37–41, hier 40. 43 Hanns-Josef Ortheil, „Das Kalkutta-Programm“, in Martin Lüdke/Delf Schmidt (Hgg.), Warum sie

schreiben wie sie schreiben, 88–94, hier 88. 44 Ilma Rakusa, „Weiter, und ob“, in Martin Lüdke/Delf Schmidt (Hgg.), Warum sie schreiben wie sie

schreiben, 96–97, hier 97. 45 Brigitte Kronauer, ohne Titel, in Martin Lüdke/Delf Schmidt (Hgg.), Warum sie schreiben wie sie

schreiben, 72–74, hier 73. 46 Bodo Kirchhoff, „Ich bin ein Möchtegernschriftsteller“, in Martin Lüdke/Delf Schmidt (Hgg.),

Warum sie schreiben wie sie schreiben, 62–63, hier 62. 47 Bodo Kirchhoff, „Ich bin ein Möchtegernschriftsteller“, 63. 48 Sten Nadolny, ohne Titel, in Martin Lüdke/Delf Schmidt (Hgg.), Warum sie schreiben wie sie schrei-

ben, 85–88, hier 86. 49 Martin Lüdke, „Plädoyer gegen die Weinerlichkeit. Letzte Lieferung“, in ders./Delf Schmidt (Hgg.),

Warum sie schreiben wie sie schreiben, 134–142, hier 136.

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henden Weltuntergang, der seine eigene Autorschaft infrage stellte, so wehrten sich die meisten Autorinnen und Autoren des Literaturmagazins gegen eine Übernahme der Weltuntergangsrhetorik, die ihnen zufolge nur dazu diente, das Modell des politisch engagierten Autors, für das die Namen Böll, Walser und Grass standen, wieder zu reaktivieren. Wie sich Günter Grass in seinen literarischen, poetologischen und politischen Texten in dieser Debatte verhielt, soll nun anschließend analysiert werden.

3. Die apokalyptische Rhetorik von Grass’ Reden Autorschaft wurde von Grass in den 1980er-Jahren nicht nur in seinen fiktionalen Texten, sondern auch in Essays und Reden inszeniert. Zwei Wahlkampfreden des Autors, in denen er sein Dezennium als Orwells Jahrzehnt bezeichnet, bezeugen dies exemplarisch. 50 In ihnen zeigt sich, dass Grass die eigene Gegenwart im Lichte eines literarischen Textes, der durch seine Zukunftsvisionen berühmt geworden ist, wahrnimmt. Grass interpretiert Orwells 1984 als eine Prophetie, die sich bereits bewahrheitet habe. Der Roman sei nicht unter literarischen Gesichtspunkten von Interesse, sondern als Prophezeiung: es ist die düstere Hellsichtigkeit des Autors, die uns immer noch oder mehr als vor drei Jahrzehnten betrifft. 51 Zwar betont Grass, dass die von Orwell vorausgesagten gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen noch zurückgedrängt werden können, etliche Aspekte seiner Zukunftsvision prägen ihm zufolge jedoch schon die Gegenwart. 52 Grass valorisiert somit die prophetische Rede als zeitdiagnostisches Instrument. Den literarischen Status des Romans ignoriert er. Dass Grass von Orwell im Wahlkampf spricht, unterstreicht zudem die politische Signifikanz der Prophetie. Sie soll aufrütteln und damit helfen, die von ihr selbst vorausgesagte Zukunft möglichst zu verhindern. Anders als der biblische Jona setzt Grass auf die Umkehr und aktualisiert damit eine Funktion der Prophetie, die, wie nicht zuletzt das Buch Jona zeigt, Teil der biblischen Prophetie war. 53 Orwell dient Grass auch dazu, dem literarischen Autor die Kompetenz politisch-prophetischer Rede zuzusprechen: Er wollte warnen. Doch die Politiker und Wissenschaftler, die auf ihn hätten hören sollen, haben ihn als Literaten belächelt und abgetan: Was der sich da ausgedacht hat, dieser Schriftsteller! Die seine Schreckensvisionen heute als gegenwärtig erleben, haben ihn nie gelesen. 54

50 Vgl. Günter Grass, „Orwells Jahrzehnt I. Rede im Landtagswahlkampf Baden-Württemberg“, in

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ders., Essays und Reden III. 1980–97, hg. v. Daniela Hermes, Göttingen 1997 (Werkausgabe, hg. v. Volker Neuhaus/Daniela Hermes, 16), 5–18; Günter Grass, „Orwells Jahrzehnt II. Rede im Bundestagswahlkampf“, in ders., Essays und Reden III, 71–79. Günter Grass, „Orwells Jahrzehnt I“, 5. Vgl. Günter Grass, „Orwells Jahrzehnt II“, 73. Wassilios Klein [u.a.], „Propheten/Prophetie“, in Gerhard Müller (Hg.), Theologische Realenzyklopädie, Berlin 1997, 473–517, hier 516. Günter Grass, „Orwells Jahrzehnt I“, 5.

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Grass spielt in diesen Zeilen die diagnostische Fähigkeit der Literatur, die auch Hildesheimer in die Nähe der Prophetie rückt, gegen die Wissenschaft und den politischen Diskurs aus. Die Identifikation mit Orwell ist dabei unverkennbar und schließt das Bewusstsein ein, dass auch er selbst, Grass, nicht erhört werden könnte. Die Aktualität der KassandraProblematik findet hier ihren erneuten Ausdruck. Grass inszeniert Prophetie nicht nur mit Bezug auf Orwell als ein Autorschaftsmodell, sondern richtet an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten dramatische Appelle an seine schreibenden Kolleginnen und Kollegen, sich der drohenden Zukunft zu stellen. Auf dem Haager Schriftstellertreffen im Mai 1982 fordert er beispielsweise dazu auf, nicht mehr so zu tun, als sei zwar die Welt insgesamt gefährdet, bis zum Erlöschen der Menschheit aber weiter so schreiben, weiter so zu schreiben versuchen, als gäbe es noch diese Garantie der Zukunft. 55 Diese Weltuntergangsangst bestimmt auch Grass’ Rede zur Entgegennahme des Internationalen Antonio-Feltrinelli-Preises in Rom im November des gleichen Jahres. Zitiert sei hier eine Passage, in der Grass die jüdisch-christliche Apokalyptik explizit aufgreift: Kein Johannes auf Patmos schreibt seine dunklen, den Untergang feiernden Bilder nieder. Kein Buch der „Sieben Siegel“ wird uns zum Orakel. Nein, sachlich und unserer Zeit gemäß schlagen zu Buche: Zahlenkolonnen, die den Hungertod bilanzieren, die Statistik der Verelendung, die ökologische Katastrophe zur Tabelle verkürzt, der ausgezählte Wahnsinn, die Apokalypse als Ergebnis eines Geschäftsberichtes. Strittig sind allenfalls noch die Stellen hinterm Komma, nicht mehr der unabweisbare Befund: Die Vernichtung der Menschheit durch die Menschen auf vielfältige Weise hat begonnen. 56

Grass’ Rede, die sich auf den Bericht The Limits to Growth des Club of Rome beruft, lässt keinen Zweifel daran, dass der Weltuntergang als notwendiges Endergebnis eines Prozesses verstanden werden muss, der bereits begonnen hat. Der modernen Prognostik wird somit ein absoluter Wahrheitsanspruch zugesprochen. Grass ordnet sie in die Tradition der Apokalyptik ein. Die Passage ist kein Einzelfall. Sie wiederholt eine kulturkritische These, die Grass schon ein Jahr zuvor auf einem Schriftstellertreffen in Finnland vertreten hatte: Mit technischer Präzision, also eindeutig und ohne zwielichtiges Geheimnis, ist uns die Apokalypse vorprogrammiert. 57 In Finnland betont Grass die Vorteile der apokalyptischen Rhetorik gegenüber der modernen Sachlichkeit stärker noch als in der längeren oben zitierten Passage. Johannes auf Patmos wird zum Vorbild für den zeitgenössischen Schriftsteller, weil Grass zufolge nur der Mythos eine Wirklichkeit noch zu begreifen vermöge, die selbst mythisch geworden sei. Während die Sachlichkeit nur ein Oberflächenphänomen sei, habe sich der Computer, der Inbegriff moderner Rationalität, zum neuzeit-

55 Günter Grass, „Ohne garantierte Zukunft. Statements beim Haager Schriftstellertreffen“. in ders.,

Essays und Reden III, 39–40, hier 39. 56 Günter Grass, „Die Vernichtung der Menschheit hat begonnen. Rede zur Verleihung des Internationa-

len Antonio-Feltrinelli-Preises für erzählende Prosa in Rom“, in ders., Essays und Reden III, 57–60, hier 57. 57 Günter Grass, „Literatur und Mythos. Rede auf dem Schriftstellertreffen in Lathi (Finnland)“, in ders., Essays und Reden III, 19–23, hier 20.

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lichen Schamanen 58 transformiert. Die Gegensätze zwischen Vernunft und Mythos sieht Grass als aufgehoben an. Er empfiehlt seinen Kolleginnen und Kollegen daher eines hoffentlich nicht zu späten Tages, wieder in Bildern und Zeichen zu denken. 59 Grass’ Bezug auf die religiöse Apokalyptik und ihre Rhetorik darf einen wesentlichen Unterschied zwischen der Weltuntergangsrhetorik der 1980er-Jahre und der jüdisch-christlichen Tradition allerdings nicht vergessen lassen. Denn natürlich fehlt bei Grass der eschatologische Rahmen des Untergangs. Klaus Vondung hat daher für die Weltuntergangsnarrative der 1980er-Jahre den Begriff einer kupierten Apokalypse 60 geprägt: Das Ende der Welt wird als die endgültige Vernichtung der menschlichen Lebensgrundlage verstanden, auf das kein neues Jerusalem folgen kann. Während die christliche Apokalypse als eine Textgattung verstanden wird, die Trost spendet, indem sie auf die Erlösung verweist, kann die Vision des Weltuntergangs in den 1980er-Jahren nur noch Entsetzen erregen.

4. Grass’ Die Rättin und die Apokalypse Grass’ Essays und Reden der frühen 1980er-Jahre verdeutlichen, dass die Prophetie von ihm als ein Autorschaftsmodell für die Gegenwart begriffen wird. Doch wie ist es um sein 1986 publiziertes literarisches Werk Die Rättin bestellt? Man kann dieses Buch, das ohne jede Gattungsbezeichnung veröffentlicht wurde, mit einigem Recht als den düstersten literarischen Text von Günter Grass bezeichnen. Am Ende des Buches dominiert ein postapokalyptisches Szenario, in das die Leser schon auf den ersten Seiten eingeführt werden. Das menschliche Leben auf der Erde ist nach dem Atomkrieg vernichtet, die Ratten beherrschen den Planeten und der einzige überlebende Mensch kreist in einer Raumkapsel um die Erde. Um diesen menschengemachten Weltuntergang in Szene zu setzen, bedient sich Grass einer apokalyptischen Rhetorik, auf deren Tradition sich der Text explizit beruft. Genannt werden: die Bücher der großen und kleinen Propheten, Jeremias Klagelieder, eine Szene aus dem Buch Daniel, die Offenbarung des Johannes und Jean Pauls apokalyptische Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab. Die intertextuellen Bezüge werden zudem nicht nur genannt, sondern drücken sich auch im Standort des Erzählers aus. In der Tradition der biblischen Apokalyptik fasst Grass den Erzähler als Medium, der das ihm in der Vision Gezeigte wiedergibt. Der Erzähler in Die Rättin vernimmt den Weltuntergang in einem Zustand zwischen Träumen und Wachen. Er fungiert so als Verkünder einer ihm durch eine Ratte offenbarten Wahrheit:

58 Ebd. 20. 59 Ebd. 23. 60 Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, 12.

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Und ich sah, was mir träumte, sah Gelee bibbern und Filmbänder unterwegs, sah rollenden Schrott und Folien von Stürmen bewegt, sah Gift aus Fässern suppen; und ich sah sie [die Rättin – CS], die vom Müllberg herab verkündete, daß der Mensch nicht mehr sei. 61

Stilistisch unterstreicht diese Passage, wie auch andere Stellen in Die Rättin, den Visionsbericht durch die Häufung des Verbs ‚sehen‘ und erinnert damit an das zahlreich verwendete „Dann sah ich“ in der Johannesoffenbarung. Gleichsam findet sich die emotionale Verunsicherung der biblischen Propheten bei Grass. Auch sein Erzähler wehrt sich verbal gegen die Offenbarungen der Rättin: Nein, Rättin, nein! schrie ich. 62 Wie die biblischen Propheten kämpft der Grass’sche Erzähler mit der emotionalen Erregung, die aus der Offenbarung resultiert. 63 Hartmut Böhmes Erinnerung, dass die Evidenz der Apokalyptik kein Produkt diskursiver Prozesse ist, sondern ein fragiles Produkt poetischer Bildkaskaden, gilt auch für Die Rättin. 64 Der Schrift gehen Stimmen und Bilder voraus, die sich dem Verfasser bzw. Erzähler aufzwingen, ihn geradezu in ein Medium transformieren. Findet sich in Die Rättin auch keine Reihung von Kampfszenen, ein weiteres traditionelles Mittel apokalyptischer Narrative, die den Konflikt zwischen Gott und Satan in immer neuen Bildern anschaulich werden lassen, so wird doch auch bei Grass der auf den atomaren Einschlag folgende Todeskampf gleich mehrfach in Szene gesetzt. Berichtet wird nicht nur einmal, wie die Atombombenexplosion das Leben der Insassen eines Forschungsschiffes und der Gäste einer Geburtstagsfeier beendet. Grass lässt seine Protagonisten auferstehen, allein um sie danach wieder zugrundegehen zu lassen, kommt auf die genauen Todesumstände der Schiffsbesatzung ein zweites und drittes Mal zu sprechen und bringt das ohne menschliche Leben auf der Ostsee treibende Schiff dem Leser noch zweimal zur Anschauung. 65 Jedoch darf nicht nur auf die Nähe der Grass’schen Untergangserzählung zur jüdischchristlichen Apokalyptik hingewiesen werden. Auch Differenzen sind zu konstatieren. So wird das Böse bei Grass nicht metaphysisch verortet, sondern geschichtlich begriffen. Das Ende wird zudem als Ereignis menschlicher Provenienz in Szene gesetzt. Die Rättin stellt ferner Bezug zu einem Text her, der Klaus Vondung zufolge als Paradebeispiel für einen säkularen Bezug auf die Eschatologie zu gelten habe: Gotthold Ephraim Lessings Die Erziehung des Menschgeschlechts (1780). 66 Grass hebt durch diesen Bezug nicht nur hervor, dass die Möglichkeiten und Grenzen der Erziehung in seinem Buch eine besondere Rolle spielen, sondern spielt auch auf den Geschichtsoptimismus Lessings und 61 Günter Grass, Die Rättin, hg. v.Volker Neuhaus, Göttingen 1997 (Werkausgabe, hg. v. Volker Neu-

haus/Daniela Hermes, 11), 15. 62 Ebd. 63 Daniel bekennt beispielsweise, dass die ihm in der Vision offenbarten Bilder ihn erschreckten und er

erbleichte (vgl. Daniel 7) und Johannes fällt im Angesicht der Zukunftsvision vor Schrecken auf die Knie und zittert am ganzen Leib (vgl. Offenbarung 1,17). 64 Vgl. Hartmut Böhme, „Vergangenheit und Gegenwart der Apokalypse“, in ders., Natur und Subjekt, Frankfurt a.M. 1988, 380–398, hier 383. 65 Vgl. Günter Grass, Die Rättin, 315f., 329, 385, 405, 442. 66 Vgl. Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, 57f.

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der gesamten Aufklärung an. Die theologische Dimension von Lessings Schrift ist dabei nicht unwichtig, plädiert Lessing doch für die Vereinbarkeit von Religion und Vernunft: „Das Eschaton der heilsgeschichtlichen Theologie und die konkrete Utopie der vernunftgerichteten Entwicklung der Menschheit fallen für Lessing zusammen in ein und dasselbe menschheitliche Fernziel.“ 67 Diesem theologisch grundierten geschichtsphilosophischen Optimismus präsentiert Grass die Rechnung, indem er an die in den 1980er-Jahren populäre Vernunftkritik anknüpft, die nicht zuletzt durch Peter Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft (1983) Auftrieb erfahren hatte. Aber auch die Thesen der Dialektik der Aufklärung (1944) von Horkheimer und Adorno dürfen in ihrem Einfluss auf Grass nicht unterschätzt werden. Der instrumentelle Charakter der Ratio, den die beiden Philosophen in ihrem Werk kritisieren, zeigt sich wohl in keinem Lebewesen besser als in der Ratte, die in den Labors der aufgeklärten Wissenschaft deren Wissensdrang mit ihrem Leben bezahlt. Die Ratte figuriert in Die Rättin dementsprechend das menschliche Natur- und Selbstverhältnis. Dieses zeichnet sich Grass zufolge durch Aggression und nicht durch Vernunft aus. Im folgenden Zitat klagt die Ratte die Menschheit an: Deshalb hat sich der Mensch von uns mit Wörtern Bilder gemacht. Die Rattenpest fürchtete, den Rattenfraß verfluchte er. Wir, das Böse an sich, in den Schreckenskammern seiner hintersten Gedanken waren wir gegenwärtig. Wir, die wir alles, was ihm als Schleim oder in Stücken abging, seinen Kot, seine säuernden Reste, alles was er erbrach, sobald ihn Elend würgte, wegräumten, ohne Umstand verputzten und ihm, dem Empfindsamen, aus dem Blick schafften, wir, seiner Kotze froh, waren ihm ekelhaft. [. . .] Und weil dem Menschen so vieles möglich war, hat er, im Haß auf seinesgleichen, uns in sich gesucht, ohne langes Umherirren gefunden, kenntlich gemacht und vernichtet. 68

Der Hass gegen die Ratten, der sich im hate speech der Moderne fortsetzt, wird hier mit einem gestörten Verhältnis der Menschheit zur eigenen Gattung erklärt. In diesem Sinne spielt das Buch auch auf Antisemitismus und Euthanasie an. 69 Die zahlreichen Bezüge auf Noah und die Sintflut bezeugen zudem, dass die Ratte zum Symbol einer Gewalt wird, die der menschlichen Zivilisation seit ihren Ursprüngen innewohnt. Grass transformiert die biblische Geschichte folgenreich. Seiner Fiktion zufolge wurden die Ratten von Noahs Söhnen von der Rampe geprügelt. 70 Die Rättin beklagt sich dementsprechend und beruft sich auf Gottes Gebot, alle Tiere zu retten, wie es das erste Buch Mose fasst. 71 Bereits die Söhne des Gerechten tragen in diesem Szenario den Keim der Sünde in sich. Der Bezug auf die biblische Sintflut unterstreicht außerdem die apokalyptische Rhetorik des Grass’schen Buches, denn bekanntlich bestraft Gott durch die Sintflut die Bosheit des Menschengeschlechts und ist die Rettung der Menschheit allein dem gerechten Noah zu 67 Louis Ferdinand Helbig, Gotthold Ephraim Lessing. Die Erziehung des Menschengeschlechts. His-

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torisch-kritische Edition mit Urteilen Lessings und seiner Zeitgenossen, Einleitung, Entstehungsgeschichte und Kommentar, Bern 1980, 46. Günter Grass, Die Rättin, 116. Vgl. ebd. 58. Ebd. 25. Vgl. ebd. 185.

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verdanken. Dass die Rättin zudem von einer Rampe spricht, weckt Assoziationen an das Selektionsverfahren im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Die Rättin zeichnet ein düsteres Menschenbild und Grass vergisst nicht, all jene gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart zu thematisieren, die geeignet sind, den aufklärerischen Glauben an die Vernunft zu unterminieren. Vom Waldsterben und der Vergiftung des Meeres wird durchgehend berichtet, aber auch die Überbevölkerung wird genannt. 72 Grass bezieht sich so auf einen vernunft- und kulturkritischen Diskurs, der Weltuntergangsängste zu schüren vermag. Wolfgang Ignée hat aus diesen und anderen Gründen Die Rättin der apokalyptischen Literatur zuordnet und die „elementare menetekelhafte Kraft, die von dem gedanken- und strukturreichen Roman ausgeht“, 73 gelobt. Er folgt dabei begrifflich den Herausgebern des 1986 publizierten Sammelbands Apokalypse, in dem sein Beitrag zu finden ist. Dort wird in der Einleitung festhalten: „‚Apokalyptisch‘ sollen die Werke genannt werden, die – mitunter im Rückgriff auf Bild- und Symbolvorräte der jüdisch-christlichen Tradition – eine sich in fortschreitender Auflösung befindliche, unaufhaltsam auf den Untergang, die Katastrophe, zusteuernde Ordnung vorstellen [. . .].“ 74

Die Vorstellungswelt der Grass’schen Rättin weist diesen Rückgriff auf die Tradition in der Tat auf. Und auch das Geschichtsbild des Buches trägt deterministische Züge. Volker Neuhaus verweist in diesem Sinne darauf, dass Geschichte bei Grass zwar nicht mehr transzendente Ursachen hat, aber immanent deterministisch gedacht wird. 75 Jedoch handelt es sich bei Die Rättin um ein fiktionales Werk. Wird die Apokalypse daher zu einem Stoff abendlicher Unterhaltung? Grass ist dieser Vorwurf tatsächlich gemacht worden. Während Manfred Durzak Grass’ politisches Engagement gegen die atomare Kriegsgefahr positiv bewertete, sah er die „Ernsthaftigkeit des Themas“ 76 durch den fiktionalen Rahmen beschädigt. Die Apokalypsen seien in Die Rättin „als pure Materialzitate in seinen Erzähltext geraten“ und können als „faktisch triviale Science-fiction-Anleihen“ bezeichnet werden. 77 Durch Durzaks Kritik wird offensichtlich, dass es, um den Status des Prophetischen und der apokalyptischen Tradition in Die Rättin zu beurteilen, nicht ausreicht, motivgeschichtlich vorzugehen. Die metanarrativen Textstrategien des Buches, in denen der fiktionale Rahmen desselben transzendiert wird, können hier nicht analysiert 72 Vgl. ebd. 268. 73 Wolfgang Ignée, „Apokalypse als Ergebnis eines Geschäftsberichts. Günter Grass’ Roman ‚Die Rät-

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tin‘ (1986)“, in Gunter E. Grimm/Werner Faulstich/Peter Kuon (Hgg.), Apokalypse. Weltuntergangsvisionen in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1986, 385–401, hier 387. Gunter E. Grimm/Werner Faulstich/Peter Kuon (Hgg.), Apokalypse, 9. Volker Neuhaus: „Günter Grass’ ‚Die Rättin‘ und die jüdisch-christliche Gattung der Apokalypse“, in Gerd Labroisse/Dick van Stekelenburg (Hgg.), Günter Grass. Ein europäischer Autor? Amsterdam 1992, 123–139, hier 134. Manfred Durzak, „Apokalyptische Szenarien in der deutschen Gegenwartsliteratur. Am Beispiel von Günter Grass’ ‚Die Rättin‘ und Christa Wolfs ‚Störfall‘“, in Keith Bullivant/Bernhard Spies (Hgg.), Literarisches Krisenbewußtsein, München 2001, 184–194, hier 192. Ebd. 191.

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werden. Allein die Tatsache jedoch, dass das Buch ohne die übliche Gattungsbezeichnung ‚Roman‘ veröffentlicht wurde, deutet schon darauf hin, dass in dieser Hinsicht Aufmerksamkeit geboten ist. Für Grass’ Positionierung im literarischen Feld der 1980er-Jahre ist aber nicht nur der apokalyptische Ton seines Buches von Belang, sondern auch die Bezugnahme des Autors auf Die Rättin in anderen Texten und Medienformaten. Abschließend soll daher untersucht werden, wie Grass sich in einem Interview mit dem prophetischen Gehalt seines Buches identifiziert und sich das Autorschaftsmodell der Prophetie damit unter den Bedingungen der Unmöglichkeit prophetischer Rede im fiktionalen Rahmen aneignet.

5. Der Autor als Prophet Grass hat sich nach dem Erscheinen von Die Rättin dagegen gewehrt, dass die apokalyptischen Bilder der Rättin als Aussagen des Autors aufgefasst werden. Dieses Dementi hat Tradition. Schon nach seinem Debütroman Die Blechtrommel (1959) fühlte sich der Autor von der Literaturkritik und Personen, die juristisch gegen das Buch vorgingen, dazu genötigt, den Unterschied zwischen Figurenrede und Autorintention herauszustellen. In einem Fernsehinterview mit Beate Pinkerneil im Jahr 1986 beantwortet er daher auch die Frage, ob er der gleichen Meinung wie seine tierische Protagonistin sei, literaturtheoretisch präzise: Ein Autor teilt sich mit dem ganzen Buch mit. 78 Grass hat damit natürlich recht: Weder die Rättin noch der Erzähler oder Oskar Matzerath können einfach als Sprachrohr des Autors begriffen werden. Die Figurenrede muss unter Berücksichtigung des Kontexts, das heißt des ganzen Buches, interpretiert werden. Jedoch fragt sich, ob die Einbeziehung der Erzählstruktur, des Plots und der Figurenkonstellationen die Aussagen der Rättin nicht valorisiert. Immerhin setzt sich die Rättin mit ihren apokalyptischen Visionen schließlich durch und erkennt der Erzähler die Realität des Weltuntergangs am Ende an. Pinkerneil macht sich diesen Umstand zunutze und problematisiert geschickt die Dominanz der Rättin: „Wenn der Pessimismus das letzte Wort hat, dann fragt man sich natürlich, weshalb? Welche Funktionen, welche Wirkung kann Literatur dann noch entfalten?“ 79 Pinkerneils Interview mit Grass ist von großem Interesse, weil Grass sich anfangs gegen die analytische Insistenz seiner Gesprächspartnerin wehrt, sich ihr aber letztlich nicht ganz entziehen kann. Kontinuierlich auf die politischen Implikationen seines Buches angesprochen, übernimmt Grass die Weltuntergangsrhetorik desselben und etliche Positionen seiner Figuren. Insbesondere das Dilemma und die Positionen des Erzählers macht er sich zu eigen:

78 Günter Grass/Beate Pinkerneil, „Mir träumte, ich müßte Abschied nehmen“, in Gespräche mit Günter

Grass, hg. v. Klaus Stallbaum, Darmstadt/Neuwied 1987 (Werkausgabe in zehn Bänden, hg. v. Volker Neuhaus, Bd. 10), 342–368, hier 342. 79 Ebd. 347.

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B. P.: [. . .] Der Erzähler ist am Anfang voller Widerstand, voller innerem und auch geglücktem Widerstand. Aber am Ende ist er fast der Unterlegene. G. G.: Er ist der Unterlegene. Das geht in die Verantwortung des Autors hinein. Mir sind für die menschliche Position der erzählenden Ratte gegenüber, der Rättin gegenüber, die Argumente ausgegangen. Sie ist, leider muß ich sagen, überzeugender. 80

Grass bezieht sich hier auf den argumentativen Wettstreit zwischen der Rättin und dem Erzähler. Den Sieg der Rättin führt er auf ihre besseren Argumente zurück. Ihre apokalyptische Weltsicht habe ihn selbst und daher auch den Erzähler überzeugt. Grass identifiziert sich in dem Interview also explizit mit dem Erzähler seines Buches, der auch in der Fiktion Gemeinsamkeiten mit der Biografie des Autors aufweist. Das apokalyptische Szenario der Rättin wird damit als überzeugender als die anfänglichen, der Aufklärung verhafteten Positionen des Erzählers ausgewiesen. Indem Grass die Überzeugungskraft der Rättin betont, gegen die er keine Gegenargumente mehr finden könne, knüpft er zugleich an ein zentrales Strukturmerkmal prophetischen Redens an: Der Prophet spricht als Vermittler. Er bezieht sich auf eine ihm verkündete und völlig evidente Wahrheit. Bei Grass hat diese freilich keinen transzendenten Ursprung, sondern spricht durch die Rättin, folgt man der Rhetorik des Buches, die geknechtete und nicht erhörte Natur. Indem Grass in der oben zitierten Passage des Interviews bemüht ist, den Eindruck zu erwecken, als vernehme er nur die Stimme seines Werks, das freilich von ihm gestaltet ist, inszeniert er sich als Vermittler einer evidenten Wahrheit, das heißt als Prophet. Im Laufe des Interviews bekennt sich Grass auch zu etlichen anderen Thesen, die in seinem Buch aus der Figurenperspektive geäußert werden und dazu dienen, das apokalyptische Szenario teleologisch zu plausibilisieren. In der Diktion Oskar Matzeraths spricht er von den politischen Großfälschern 81 Adenauer und Ulbricht, die ein zweifelhaftes Verhältnis der Gesellschaft zur Wirklichkeit geprägt hätten; ganz wie die Rättin geißelt er die Delegation menschliche[r] Verantwortung an Computer 82 und ganz im Sinne des Erzählers spricht er das Waldsterben an. 83 Die Rättin thematisiert Autorschaft in einem auch im Grass’schen Werk unbekannten Maße. Parallelen zwischen dem essayistischen und dichterischen Werk des Autors sind daher leicht herstellbar. Grass springt zwischen den Textsorten mühelos hin und her und integriert in die Fiktion Thesen, die sich in leichter Abwandlung in seinen Essays finden. Sagt die Rättin in der Fiktion aus postapokalyptischer Sprecherposition: Hingerissen vom Ende, veräußerten sich viele Künstler so restlos, als wäre ihnen, wie seit altersher, der Lorbeer immergrün, Unsterblichkeit sichergewesen. 84 So spricht Grass in einer Rede den gleichen Irrglauben an: Ihnen, deren Zuwachsrate ‚Unsterblichkeit‘ hieß, war selbst in widrigster Gegenwart nicht beizukommen [. . .], immer siegte am Ende das Buch und mit 80 81 82 83 84

Ebd. 346. Ebd. 359. Ebd. 352. Vgl. ebd. 355. Günter Grass, Die Rättin, 268.

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ihm das Wort. 85 Die Redundanz in Grass’ Werk ist beachtlich. Das betrifft auch seine Romanfiguren, die in Die Rättin wieder auftauchen. Oskar und der Butt sind dem GrassLeser gute alte Bekannte und auch für neue Figuren, wie die Rättin, erfindet Grass eine werkimmanente Genealogie. Inszeniert wird auch letztere in Fiktion und Interview mit fast den gleichen Worten. Gegenüber der Rättin rechtfertigt sich der autobiografisch charakterisierte Erzähler mit den Worten: Schon immer war Platz in meinem Wappen für dich. Schon früh ließ ich bei Hochwasser zwei Ratten, Strich und Perle genannt, witzig über die Menschen plaudern. 86 Im Interview des Autors heißt es: Es gibt, um jetzt wieder auf die Ratte zu kommen, ein sehr frühes Theaterstück von mir, in den fünfziger Jahren geschrieben, Hochwasser, in dem schon zwei Ratten, Strich und Perle, auftreten [. . .]. 87 Indem Grass sich ständig selbst zitiert, schafft er einen scheinbar geschlossenen und widerspruchsfreien Werkkosmos. Selbst der Verweis auf die Ratten, die sein Werk begleiten, dient dabei der Stilisierung zum Propheten. Die Ratte, so Grass im gleichen Interview, sei schon immer ein Symbol der instrumentellen Vernunft, die Gefahr für die Gesellschaft immer schon gegeben gewesen: Eine Einsicht, die uns mittlerweile mehr und mehr dämmert. Die war bei mir sehr früh da. 88 Von der Öffentlichkeit wurden solche Selbstinszenierungen gerne aufgegriffen. So kommentiert die Zeitschrift natur den Bezug des Autors auf das Rattensymbol: „Genau besehen entspricht es schon fast der Logik seiner Dichtung, wenn er nun endlich mal der Ratte zum großen Auftritt verhilft.“ 89 Abgesichert wird eine solche feuilletonistische These dann mit den Hinweisen auf Theaterstück und Gedicht, wie sie im literarischen Text gegeben werden. Möglich macht Grass eine solche Inszenierung seiner Autorschaft auch dadurch, dass er es mit semantischen Differenzen nicht allzu genau nimmt. Überprüft man die literarischen Selbstbezüge des Autors, dann wird die behauptete Kontinuität zumindest hinsichtlich des Gedichts fraglich. Spielt Grass mit den Ratten im Theaterstück durchaus auch auf die instrumentelle Deformation der Vernunft an, so symbolisiert die Ratte in seinem frühen Gedicht über Racine allein die unfeinen Seiten des menschlichen Lebens. 90 Präsentiert sich der junge Lyriker Grass durch das Symbol der Ratte als realistischer Schriftsteller, der vor den Schattenseiten des Daseins nicht die Augen verschließt, so erklärt sich der gereifte Autor in seiner Prosa mit dem gleichen Wappentier zugleich zum Fürsprecher der durch die instrumentelle Vernunft bedrohten Natur. Indem Grass diese Differenzen übergeht, kreiert er eine ungebrochene 85 86 87 88 89 90

Günter Grass, „Die Vernichtung der Menschheit hat begonnen“, 58. Günter Grass, Die Rättin, 180. Günter Grass/Beate Pinkerneil, „Mir träumte, ich müßte Abschied nehmen“, 353. Ebd. Jürgen Schreiber, „Der Herr der Ratte“, in natur 4 (1986), 39–45, hier 43. Vgl. Günter Grass, „Hochwasser“, in ders., Theaterspiele, hg. v. Volker Neuhaus/Daniela Hermes, Göttingen 1997, 19–63; vgl. Günter Grass, „Racine läßt sein Wappen ändern“, in ders., Gedichte und Kurzprosa, hg. v. Volker Neuhaus/Daniela Hermes, Göttingen 1997 (Werkausgabe, hrsg. v. Volker Neuhaus/Daniela Hermes, 1), 91f. Auf das Gedicht nimmt Grass zudem im zweiten Teil der Danziger Trilogie Bezug: vgl. Günter Grass, Katz und Maus, Volker Neuhaus (Hg.), Göttingen 1997 (Werkausgabe, hrsg. v. Volker Neuhaus/Daniela Hermes, 4), 146.

Apokalypse und Autorschaft

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Kontinuität schriftstellerischen Engagements, in der der Kampf gegen die Vergangenheitsverdrängung in den 1950ern zum Vorläufer des Kampfes gegen die Stationierung von Atomraketen in den 1980er-Jahren wird. Interviews und Reden arbeiten an der Inszenierung der Werkkontinuität mit. Konstatiert Oskar in Die Rättin, dass die fünfziger Jahre eigentlich nicht aufgehört hätten und wir noch immer vom damals fundierten Schwindel 91 zehren, so gibt Grass im Interview zu Protokoll: Erst jetzt in den achtziger Jahren sind wir mit den Konsequenzen der fünfziger Jahre, den Fehlentscheidungen, konfrontiert. 92 Grass spielt hier auf die deutsche Spaltung als Grundlage des Ost-West-Konflikts an, der mit der atomaren Hochrüstung in den 1980er-Jahren an Brisanz gewinnt. Seine fiktive Figur Oskar habe daher seine Stunde wiederkommen sehen, nicht er habe mit ihr geplant, sondern sie habe sich selbst gemeldet. 93 Grass erklärt sich so erneut als passiv und inszeniert sich zum Vermittler fremder Botschaften, deren Wahrheit er anerkennt. Er vernehme nur die warnenden Stimmen, die zu ihm sprechen. Sein literarisches Werk wird von Grass in dieser Weise zum Frühwarnsystem für gesellschaftliche Katastrophen erklärt. Ungeachtet solcher Inszenierungsstrategien steht Die Rättin nicht so sehr für die Kontinuität im Werk des Autors als für einen Bruch. In dem Buch dominiert die Rättin den herbeigerufenen Oskar in dem Maße, in dem sich das postapokalyptische Szenario gegenüber den Hoffnungen auf die Aufklärung durchsetzt. Grass, Oskar und dem Ich-Erzähler gehen angesichts der atomaren Bedrohung die Argumente aus. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft ruht daher nicht mehr auf der Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern darauf, dass sich die Leserinnen und Leser von der Imagination einer möglichen Zukunft aufschrecken lassen. Die Frage Pinkerneils, ob der Schriftsteller die Rolle des Kassandra-Rufers und Katastrophen-Beschwörers 94 innehabe, bejaht Grass folgerichtig. Auch sein Zusatz, dass auch das Nichtgehörtwerden 95 zum Beruf des mahnenden Schriftstellers gehöre, bestätigt den Skeptizismus der Rättin, die kontinuierlich betont, dass die menschliche Umkehr zu spät kam. Der Bezug auf die damals aktuelle Figur der Kassandra zeigt erneut, dass Grass’ Identifikation mit der Unheilsprophetie durchaus kein Einzelfall im literarischen Feld der 1980er-Jahre war. Will man die Bereitschaft, prophetische Redemuster zu nutzen, in einen weiteren Kontext stellen, dann sei auf ein ebenfalls 1986 publiziertes Buch verwiesen: Ulrich Becks Risikogesellschaft. In seiner überaus erfolgreichen Studie weist Beck darauf hin, welche Konsequenzen das angewachsene Zerstörungspotential der Modernisierung für die Zeitwahrnehmung hat: Das Zentrum des Risikobewußtseins liegt nicht in der Gegenwart, sondern in der Zukunft. In der Risikogesellschaft verliert die Vergangenheit die Determinationskraft für die Gegenwart. An ihre Stelle

91 92 93 94 95

Günter Grass, Die Rättin, 30. Günter Grass/Beate Pinkerneil, „Mir träumte, ich müßte Abschied nehmen“, 358f. Vgl. ebd. 357. Ebd. 352. Ebd.

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tritt die Zukunft, damit aber etwas Nichtexistentes, Konstruiertes, Fiktives als ‚Ursache‘ gegenwärtigen Erlebens und Handelns. 96

Becks These, dass die zeitgenössische Transformation in Richtung auf eine Risikogesellschaft die Bedeutsamkeit der Zukunft erhöht, vermag zu erklären, warum für viele Autorinnen und Autoren des literarischen Felds der 1980er-Jahre Redemuster von Interesse waren, die Zukunftserwartungen zu formulieren erlaubten. Die Aneignung der bildermächtigen antiken und jüdisch-christlichen Tradition prophetischen Sprechens ermöglichte ihnen, die existentielle Verunsicherung angesichts einer unsicheren Zukunft deutlich adäquater auszudrücken, als es die säuberlichen Zahlenreihen der Statistik vermochten. Beck konstatiert zudem eine zunehmende Signifikanz des Fiktiven. Die Konzentration auf die Zukunft erschwere eine klare Trennung zwischen Fakt und Fiktion, prägten Vorstellungen von einer möglichen Zukunft doch die Wahrnehmung des Gegenwärtigen. Nicht zuletzt hierin liegt ein Grund dafür, warum Grass in der apokalyptischen Inszenierung seiner Autorschaft die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit permanent überschritt.

96 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986, 44.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Hans Hinrich Biesterfeldt, Ruhr-Universität Bochum, Seminar für Orientalistik und Islamwissenschaft, Universitätsstr. 150, 44801 Bochum Prof. Dr. Eberhard Bons, Université de Strasbourg, Faculté de Théologie Catholique, Palais Universitaire, 9 Place de l’Université, 67000 Strasbourg, Frankreich Prof. Wolfgang Braungart, Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universitätsstr. 25, 33615 Bielefeld Dr. Pia Doering, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“, Johannisstr. 1, 48143 Münster Prof. Dr. Susanne Köbele, Universität Zürich, Deutsches Seminar, Abteilung Ältere deutsche Literaturwissenschaft, Schönberggasse 9, 8001 Zürich, Schweiz Prof. Dr. Matías Martínez, Bergische Universität Wuppertal, Fachbereich A: Germanistik, Abteilung Neuere deutsche Literatur, Gaußstr. 20, 42119 Wuppertal Prof. Dr. Christel Meier(-Staubach), Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Seminar für Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit, Bogenstr. 15/16, 48143 Münster Prof. Dr. Bruno Quast, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Germanistisches Institut, Abteilung Literatur des Mittelalters, Vom-Stein-Haus, Schlossplatz 34, 48143 Münster Prof. Dr. Bernd Roling, Freie Universität Berlin, Institut für Griechische und Lateinische Philologie, Abteilung Latinistik, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Dr. Alberto Saviello, Freie Universität Berlin, Kunsthistorisches Institut, Koserstr. 20, 14195 Berlin Matthias Schaffrick, M. A., Universität Siegen, Germanistisches Seminar, Abteilung Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Adolf-Reichwein-Str. 2, 57068 Siegen Prof. Dr. Silvia Schmitz, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen, Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft, Abteilung Ältere Deutsche Literatur, Templergraben 55, 52056 Aachen Christian Sieg, Ph. D., Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“, Johannisstr. 1, 48143 Münster Prof. Dr. Nikolaus Staubach, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Institut für Frühmittelalterforschung, Robert-Koch-Str. 29, 48149 Münster Jun.-Prof. Dr. Sita Steckel, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20–22, 48143 Münster Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Germanistisches Institut, Abteilung Neuere deutsche Literatur, Vom-Stein-Haus, Schlossplatz 34, 48143 Münster Prof. Dr. Karin Westerwelle, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Romanisches Seminar, Bispinghof 3, 48143 Münster

Personenregister

Aaron 53, 58, 60, 62, 66 Abaelard/Abälard 67, 205 Abbate, Niccolò dell’ s. dell’Abbate, Niccolò Abdallaṭ¯ıf Ḥasan Abdarraḥm¯an 62 Abdel-Rahim, Said H. 318 Abraham 15, 53, 57 f., 60, 62f., 66, 68, 74, 80, 89, 90, 251 Abrahamov, Binyamin 61 Ab¯u l-Fid¯a 316, 321 Achaemenides 211 Achill/Achilleus 211, 214, 267 Acker, Lieven Van s. Van Acker, Lieven Acton, Alfred 277 Adam 62 f., 66, 96, 98, 121 Adams, Jeremy Duquesnay 121 Adenauer, Konrad 411 Adorno, Theodor W. 341, 350, 399, 408 Adriaen, Marc(us) 73, 76, 89, 124, 174 Aelred von Rievaulx 205 Aeneas/Æneas 34, 207, 209, 211f., 213–217, 218, 220, 221 f., 224f., 270, 283 Aertsen, Jan A. 179 Agamben, Giorgio 148, 368, 369f., 392, Agamemnon 211, 261, 267 Agel, Jerome 355 Aglauros 265 Agneta 101 Agrippa d’Aubigné s. d’Aubigné, Agrippa Ahl, Frederick 210, 212 Ahlbäck, Tore 293 Ailly, Pierre d’ s. Pierre d’Ailly

Aischylos 261 Ajax 269 Akbari, Suzanne Conklin 308 Alan von Lille 71f., 85, 93 Alanus, Georg Christoph 297 Albert der Große (Albertus Magnus) 18, 28, 280 Albrecht, Folker 72 Albricus 108 Albumasar 227 Albunea 248 Alenius, Karl Gustav Bernhard 300 Alexander der Große 41, 62, 254, 367, 370 Alexander IV. (Papst) 136, 147 Alexander VI. (Papst) 229, 231, 233 Algabal/Halgabal 351f. Al¯ı, A. S. 55 Alkinoos 209, 211f. Amasja 48–50 Ambrosius 124, 193 Amèna/F¯aṭima 321 Amery, Carl 398 Amitthai s. Matt¯a Amor 251, 265f., 270–272 Amos 31, 39f., 42f., 45, 46, 47–50, 201 Amphiaraos 221 An¯aq 66f. Anchises 212, 213–220, 223f. Ancona, Alessandro d’ s. d’Ancona, Alessandro Andersen, Elizabeth 177, 197 Anderson, Wendy Love 103, 156 Andersson, Kajsa 294

418 Andia, Ysabel de s. de Andia, Ysabel Andres, Jan 350 Andres, Stefan Paul 382 Ankarloo, Bengt 292 Anna (Mutter Samuels) 122 Antikleia 209 Antonetti, Pierre 232f., 236, 241 Antonius 282, 100 Anz, Thomas 381 Apel, Friedmar 343 Aphrodite 268, 282f. Apoll/Apollon 71, 243, 250, 255–257, 259f., 265, 271, 274, 291 Arendt, Erich 400 Arens, Ilmar 293 Aristoteles 219, 280, 301, 309 Armogathe, Jean-Robert 19 Arnold de Bost 127 Arnold von Köln 92 Arnold, Heinz Ludwig 397 Arrhenius, Laurentius 300 Arrivabene, Andrea 309 Arweiler, Alexander H. 14, 218 Ascoli, Albert Russell 224 as-Saqq¯a, Muṣṭaf¯a 55 Assheuer, Thomas 356–358, 369 Astell, Ann W. 103 Athene/Athena 209, 265 Athenaeus 105 Aubigné, Agrippa d’ s. d’Aubigné, Agrippa Auerbach, Erich 211 Auerochs, Bernd 23, 314f., 342 Augustin(us) (Aurelius A., A. von Hippo) 101, 106, 107, 135, 177, 182, 184, 204, 282, 283, 349 Augustus 216, 248 f. Aune, David Edward 72 Aurnhammer, Achim 338 Autenrieth, Johanne 219 Avicenna 17 Avinoam, Shalem 305, 309 Babbitt, Frank Cole 285 Bachmann, Peter 57, 59f. Baehrens, Wilhelm Adolf 74 Baier, Thomas 210 Baïf, Antoine de s. de Baïf, Antoine Bäive 293, 298 Baldermann, Ingo 72

Personenregister Balsamo, Jean 257 Baltus, Jean-François 290f. Balty, Jean C. 318 Balzamo, Elena 294 Bangius, Georg Christian 290 Barbet, Jeanne 84 Barbi, Michele 224 Barchet, Michael 356 Barlow, Claude W. 282 Barmeyer, Eike 345 Barner, Wilfried 342 Barral, J. M. 57 Barsch, Thomas 399 Barth, Ulrich 315 Bartholin, Christian Heinrich 290 Bartoli, Marco 17 Bastin, Julia 134, 163 Baudelaire, Charles 23, 245, 254 Baudrillard, Jean 357 Bauer, Barbara 218, 220 Bauer, Thomas 15, 306f. Baum, Richard 225 Baur, Franz Nicolaus 232 Bautz, Traugott 230 Bayer, Oswald 335f. Bayle, Pierre 258f., 267 Beaune, Colette 100 Becchi, Ricciardo 229, 231, 232, 234, 236, 238, 240 Beck, Astrid B. 384 Beck, Ulrich 413f. Becker, Sabina 339 Beda Venerabilis 79, 121 Béguin, Sylvie 248 Beierwaltes, Werner 95 Bein, Thomas 199f. Beinhauer-Köhler, Bärbel 364 Bellay, Joachim Du s. Du Bellay, Joachim Bellosi, Luciano 230 Belting, Hans 307, 322 Benakis, Linos G. 111 Bendlin, Andreas 14 Berndt, Rainer 99 Benjamin, Walter 337 Benoît de Sainte-Maure 219 Benz, Ernst 142, 173, 180, 220 Berg, Dieter 176 Berger, Johann Wilhelm 291 Berges, Ulrich 11f., 72, 99

Personenregister Bergman, Jan 293 Bernhard von Clairvaux 17, 103, 155f., 224 Bernhard, Thomas 339 Beronius, Magnus 291 Berres, Thomas 213 f., 220 Berschin, Walter 197 f. Bertau, Karl 186, 189 Bettarini, Rosanna 273 Betz, Hans Dieter 364 Bèze, Théodore de s. de Bèze, Théodore Bezner, Frank 179 Bezzola, Reto Roberto 223 Biesterfeldt, Hans-Hinrich 15, 31 Bihrer, Andreas 95 Bilmark, Johann 300 Binding, Günther 84 Binet, Claude 245 Birgitta/Brigitta von Schweden 101, 102 Birkhan, Helmut 204 Birus, Hendrik 62 Blanchemain, Prosper 276 Blasberg, Cornelia 25 Blatter, Silvio 402 Bleking, Peter 291 Blenkinsopp, Joseph 382, 386 Bloch, Ernst 38, 379, 381, 386–389, 399 Boberg, Inger M. 291 Bobrowski, Johannes 399 Bobzin, Hartmut 15, 305, 308, 311, 313 Bobzin, Katharina 15 Boccaccio, Giovanni 243f., 309 Bodin, Jean 294 Böhme, Hartmut 407 Böll, Heinrich 400, 403f. Boer, Jan-Hendryk de s. de Boer, Jan-Hendryk Böschenstein, Bernhard 351 Boiadjiev, Tzotcho 111 Boissard, Jean-Jacques 295 Bollenbeck, Georg 348 Bolzoni, Lina 261 Bonagiunta da Lucca 221 Bonaparte, Napoleon s. Napoleon (Bonaparte) Bonaventura (Hl.) 131, 132f., 136, 176 Bonhoeffer, Dietrich 382 Bonifaz IX. (Papst) 101 Bons, Eberhard 31, 43, 48, 381f., 384 Borch, Ole 287 Borgnet, Auguste 18, 280 Borgolte, Michael 219, 309

419 Borruso, Andrea 321 Boschung, Dietrich 106 Bosquet, François 112 Bosse, Heinrich 337 Bothe, Henning 343 Botticelli, Sandro 230, 239 Boulanger, André 251 Boulenger, Julius Caesar 286 Bourdieu, Pierre 23f., 135, 202, 340 Bossuat, Robert 71 Bouton-Toubolic, Anne-Isabelle 282 Boyer, Paul Samuel 397 Boysen, Friedrich Eberhard 313f., 319 Brand, Steward 361 Brandes, Wolfram 140 Braun, Volker 395 Braungart, Wolfgang 37, 339, 342, 347, 349, 352 Brecht, Bertolt 347 Bredekamp, Horst 238, 244 Bremer, Kai 135 Bremmer, Jan Nicolaas 13, 40 Brenner, Peter J. 336 Breuer, Dieter 19 Breuer, Stefan 350 Brevhan, Johannes 291 Brind’Amour, Pierre 253 Brinken, Anna-Dorothee von den s. von den Brinken, Anna-Dorothee Brinner, William 62 Briquel, Dominique 13 Bröms, Petrus 300 Brokoff, Jürgen 341 Browallius, Johannes 302 Brown, Elizabeth A. R. 121 Brückner, Thomas 222 Brunetto Latini 220 Brunner, Horst 199f. Bruyn, Günter de s. de Bruyn, Günter Buch, Hans Christoph 402 Buchner, Max 110f., 118, 122f. Buck, August 223f., 257 Buck, Theo 380, 382, 391f. Buddha 367, 370f. Büchner, Wilhelm 208 Bürgel, Christoph J. 310 Buhr, Gerhard 207 Bullich, Dithmar 290 Bullivant, Keith 409 Bund, Konrad 110

420 Bunel, Pierre 253 Bunsöw, Christian 286 Buonarroti, Michelangelo s. Michelangelo (Buonarroti) Burdach, Konrad 203 Burr, David 142 Burschel, Peter 19 Busa, Roberto 132 Busse, Heribert 57, 62, 64 Busson, Henri 247 Bye, Cornelius 112, 114, 122 Cacciaguida 221 Caesarius von Heisterbach 99, 156 Calvin, Johannes 251, 253 Cambasio, Luca 271 Cangrande della Scala 225 Canning, Joseph 141 Canova, Giovanni 68 Capodieci, Luisa 248 Cardano, Gerolamo 247 Careggio, Mercurio da s. da Careggio, Mercurio Carlevaris, Angela 87 Carllööf, Andreas 291 Carlyle, Thomas 319, 322 Caron, Antoine 248f. Carozzi, Claude 130 Casciaro, Jose Maria 281 Caspar, Martin 290 Cassandra 245, 255, 257–261, 264–269, 272–276 Cassiodor (Magnus Aurelius C.) 16, 29, 32, 73f., 75, 76 f., 83, 91, 95, 102, 124, 138, 171, 174, 202 Cassirer, Ernst 169f. Castellan, Gisèle Mathieu 246 Castellion, S. 248 Castillo Castillo, Concepción 56f. Catherine de Médicis 245, 249 Cavallera, R. P. Ferdinand 112 Cave, Terence 250 f., 255, 257, 270 Cavell, Richard 355f., 358 Céard, Jean 247 Celli, Carlo 237 Cellini, Benvenuto 261 Celsius, Olof 286 Cerda, Johannes Ludovicus de la s. de la Cerda, Johannes Ludovicus Cesare, Michelina Di s. Di Cesare, Michelina Chabod, Federico 227

Personenregister Chardin, Teilhard de s. de Chardin, Teilhard Charles IX. (König von Frankreich) 245, 248f. Charlesworth, James Hamilton 50 Chatelain, Emile 148 Chauvincourt, Jean-Beauvoys de s. de Chauvincourt, Jean-Beauvoys Chavasse, Antonius 115 Cherchi, Paolo 18 Chiapelli, Fredi 225 Chiser 62 Chlodwig (I.) 127 Chlodwig II. 113 Chmel, Joseph 127 Chomarat, Jacques 246 Chydelius, Samuel 300 Cicero (Marcus Tullius C.) 13, 39, 247, 285 Circe/Kirke 208, 209, 210, 213f., 284 Cizek, Alexandru N. 218 Clasen, Daniel 286f. Clasen, Sophronius 132 Clemens (I.) (Papst) 112–116, 117, 119, 121, 123 Clemens von Alexandrien 289 Clément, Fabrice 331 Columbagrius, Jonas 291 Columbus, Johannes 291 Congar, Yves 131f., 159 Cormeau, Christoph 199 Courvai, Aurore de s. de Courvai, Aurore Costa-Zalessow, Natalia 243 Costazza, Alessandro 23, 315 Crébillon, Claude-Prosper Jolyot 106 Creusa 215 Crosby, Virginia 247 Crouzet, Denis 247 Csepregi, Martá 300 Curtius, Ernst Robert 220, 222 Cusato, Michael F. 131 Cyrus 229f. d’Ancona, Alessandro 321 d’Aubigné, Agrippa 247 d’Evelyn, Stephan 98, 192 da Careggio, Mercurio 228 da Rimini, Francesca s. Francesca da Rimini Dagobert (I.) 118 Dahlgren, Johannes 298 Dale, Antonius van s. van Dale, Antonius Damian-Grint, Peter 140

Personenregister Daniel (Figur in Thomas Mann, Beim Propheten) 37, 363 f., 365 f., 368–370, 373, 377 Daniel (Prophet des AT) 33, 37, 74, 79, 80, 89, 90, 141, 150–152, 166, 363f., 406, 407 Daniel zur Höhe s. zur Höhe, Daniel Daniel, Catherine 18 Daniel, Norman 309 Dante Alighieri 34, 187, 207f., 218, 219–226, 227, 243, 322 Daphne 259 Dares Phrygius 219 Darge, Rolf 301 Daum, Elena 311 Daumier, Honoré 254 Dautzenberg, Gerhard 11, 16, 72, 170, 202 David 29, 42, 53, 60, 62f., 66, 73f., 75, 89, 98, 99, 172, 174, 176, 193, 195, 322 David von Augsburg 182 Davis, Kathleen 148 Davreux, Juliette 268 Dawson, James Doyne 133, 153 de Andia, Ysabel 111, 117f. de Baïf, Antoine 265 de Bèze, Théodore 251 de Boer, Jan-Hendryk 244 de Bruyn, Günter 397 de Chardin, Teilhard 356 de Chauvincourt, Jean-Beauvoys 294 de Courvai, Aurore 319 de Fontenelle, Bernard Le Bouyer s. Le Bouyer de Fontenelle, Bernard de Gandillac, Maurice 84 de Goeje, Michael Jan 55 de Jong, Irene J. F. 208–212 de Kerckhove, Derrick 355f., 362 de la Cerda, Johannes Ludovicus 283, 284 de Malherbe, François 245 de Médicis, Catherine s. Catherine de Médicis de Montaigne, Michel 247, 253 de Navarre, Marguerite s. Marguerite de Navarre de Ronsard, Pierre 35, 245–247, 248, 250–262, 264 f., 266, 267–270, 272, 274–276 de Saint-Gelais, Mellin/de Sainct-Gelays, Melin 245, 276 de Torreblanca, Francesco 283 de Tyard, Pontus 247 de’ Medici, Lorenzo 230 dell’Abbate, Niccolò 248

421 della Mirandola, Giovanni/Gianfrancesco Pico 230, 244 del Orta, Garcia 288 del Rio, Martin Antonius 283, 284, 294 Deb(b)ora 74f., 172 Decius 111, 121 Delgado, Mariano 140, 178 Delius, Friedrich Christan 403 Denifle, Heinrich 142, 148 Denysot, Nicolas 247 Depreux, Philippe 109 Derleth, Ludwig 363f., 366, 367, 373f., 377 Derolez, Albert 87 Detering, Heinrich 328, 336, 343, 348, 363f., 373, 375, 381, 386 Deusing, Antonius van s. van Deusing, Antonius Di Cesare, Michelina 305 Di Rocco, Emilia 210, 214 Dictis Cretensis 219 Diderot, Denis 125 Dido 209, 211, 215f. Dieterle, Bernard 350 Dietrich, Jan 391 Dietschy, Beat 387 Dietz, Thorsten 315 Dimmock, Matthew 308 Diogenes Laertius 105 Diogenes von Sinope 105 Diokletian 175 Dionysius (Hl.) 32f., 84, 110–122, 124, 127 (s. auch D. Areopagita u. Pseudo-D.) Dionysius Areopagita/Areopagites 83, 86 (s. auch D. [Hl.] u. Pseudo-D.) Dipple, Geoffrey 157 Dobbs, Betty J. T. 20 Dobin, H. 18 Doering, Pia Claudia 19, 35 Dogniez, Cécile 41 Dold, Bernard E. 318 Dole, Andrew C. 315 Dombart, Bernhard 282 Donner, Herbert 46 Dorat, Jean 246, 248, 255f., 269 Doren, Alfred 143 Dorst, Tankred 395 Dorsten, Jan Adrianus van s. van Dorsten, Jan Adrianus Dronke, Peter 14, 87, 99 Drysenius, Jonas 291

422 Du Bellay, Joachim 246, 250, 257, 275 du Mans, Jacques Peletier s. Peletier du Mans, Jacques Du Ryer, André 317, 321 Duchesne, Louis 115 Düker, Ronald 355, 356, 358 Dümmler, Ernst 110, 118 Dünne, Jörg 365 Dufeil, Michel-Marie 130, 132, 133, 136f., 139, 142 f., 147 f., 153, 160 Dufournet, Jean 134 Dunér, David 280 Durzak, Manfred 409 Dyck, Joachim 343 Eberlein, Johann Konrad 309 Eberlin von Günzburg, Johann 157 Eckhart (Meister E.) 34, 173f., 177–185, 187, 194–196, 371 Effe, Bernd 210, 220, 264 Egger, Stephan 202 Ehmann, Johannes 310 Ehrich, Susanne 134 Ehrismann, Otfrid 200 Eichendorff, Joseph von s. von Eichendorff, Joseph Eichner, Hans 359 Eichrodt, Walther 46 Eickmeyer, Jost 382 Eilola, Jari 292 Einhard 108–110, 120 Eisenberg, Isaac 65 Eißler, Friedmann 58 Ekelund, Petrus 291 Ekermann, Petrus 291 Eleutherius (Hl.) 112f. Elias 112 f. Elisabeth von Schönau 205 Elliott, Dyan 103 Elsaghe, Yahya 365 Embach, Michael 99 Emmerich, Wolfgang 379 Emmerson, Richard K. 140 Engel, Manfred 25, 331 Engelmann, Bernt 398 Engelmann, Godefroy 319 Engelmann, Peter 381 Engen, John H. van s. van Engen, John H. Enzensberger, Hans Magnus 356, 400

Personenregister Epictet 105 Epple, Thomas 399 Erdmann, Johann Christoph 291 Eriksson, Jörgen Ingvar 296 Eriugena s. Johannes Scotus Eriugena Erne, Thomas 344 Ernst, Josef 72 Ernst, Ulrich 99, 107 Esau 74 Esdras 19, 33, 123–127 (s. auch Pseudo-Esdras) Ess, Josef van s. van Ess, Josef Etaix, Raymond 117 Eugen von Toledo 122, 123 Eugipp(ius) 172 Euripides 40, 261, 267 Eusebius 121 Eva 66 Evelyn, Stephan d’ s. Stephan d’Evelyn Ezechiel/Hiezechiel 28, 32, 74, 76, 78–83, 87, 90, 124, 173, 176, 202, 204, 254 Fahd, Tauf¯ıq 54 Fahlke, Eberhard 380, 390, 393 Falck, Johann Peter 279 Faral, Edmond 133f., 136f., 154, 159, 162f. Farrell, Joseph 218 Fatima s. Amèna Faulstich, Werner 409 Fellinger, Raimund 380 Felten, Franz J. 169, 172 Festugière, André 251 Ficino, Marsilio 227, 230, 247, 250, 257 Fickert, Kurt 385 Fiedler, Gudrun 353 Figurovskij, Nikolaj 279 Finsler, Georg 219 Fiore, Quentin 355, 359, 360, 371, 372, 373f. Fiorentino, Rosso 239 Firpo, Luigi 227, 231 Fisch, Harold 27 Fischer, Johann Eberhard 279 Fisher, Peter 294 Flaccitheus 172 Flasch, Kurt 185 Fleckenstein, Josef 108 Floerke, Hanns 232 Fludernik, Monika 69 Flüchter, Antje 157 Flusser, Vilém 356, 357

Personenregister Fögen, Marie Theres 175 Fontenelle, Bernard Le Bouyer de s. Le Bouyer de Fontenelle, Bernard Forbes, Christopher 72 Forelius, Hemming 291 Forster, Edeltraud 93, 98f. Forster, Edward M. 390f. Forsyth, James 279 Forzelius, Nicolaus 298 Foucault, Michel 349, 351, 365, 368f., 393 Fra Domenico 236 Fra Francesco di Puglia 233 Fragonard, Marie-Madeleine 246, 260 Fraioli, Deborah A. 103 Francesca da Rimini 223 Franck, Sebastian 185 François Ier 245, 248, 261, 264 Frank, Günter 301 Franke, Patrick 62 Franssen, Paul 221 Franz I. (von Frankreich) s. François Ier Franziskus 176 Frappier, Jean 247 Frauenlob s. Heinrich Frauenlob Freedman, David Noel 384 Freher, Marquard 127 Freitag, Friedrich Gotthilf 291 Freudenreich, Ignatius Maria 132 Frick, Werner 344, 347 Fried, Johannes 118 Friedberg, Emil 157 Friedrich (Sohn Heinrichs VI.) 201 Friedrich II. (Kaiser) 140 Fries, Ulrich 389 Frisch, Max 402 Frisé, Adolf 25, 226 Frommann, Johann Christian 284, 301 Frühwald, Wolfgang 22 Fuchs, Gotthard 178 Fück, Johann Wilhelm 321 Fühmann, Franz 395, 397 Führkötter, Adelgundis 87 Fürst, Alfons 107, 155 Fuhr, Andreas 230 f., 244 Fuhrmann, Horst 107 Fuhrmann, Manfred 14 Fulgentius (Mythographus) 218 Full, Bettina 260 Fulton, Rachel 193

423 Funcke, Christian 286 Furness, Raymond S. 363 Fursmann, Gotthard 286 Fyntikoglou, Vassilis 318 Gabriel 15, 64, 67, 108f., 308 Gaethgens, Thomas 248, 264 Gagniers, Jean 316 Galand-Hallyn, Perrine 250, 271 Gan, Peter 382 Gandillac, Maurice de s. de Gandillac, Maurice Gansel, Carsten 391 Garfagnini, Gian Carlo 19 Gaston, Vivien 239 Gebeno von Eberbach 28, 91, 99 Geerlings, Hermanus Jacob 282 Gehrig, Stefan 381 Geiger, Abraham 55 Gekle, Hanna 387 Geltner, Guy 130f., 133, 137, 140, 144f., 149f., 154, 158f., 162 Gendre, Andre 257 Geoffrey of Monmouth 18 Georg (Hl.) 63 George, Stefan 25, 37, 336–339, 341–343, 344, 345–353, 363, 366 Gerardino de Borgo San Donnino 133, 136f., 140, 142–144, 147–150, 157 Gerhardt, Mia I. 68 Germain, André 373, 374 Gerson, Johannes/Jean 32, 100–103, 168 Gervais, Ricky 331 Gibb, Hamilton Alexander Rosskeen 54 Giebel, Marion 40 Gieryn, Thomas F. 135 Giese, Alma 310 Giles, John Allen 154 Gilles-Raynal, Anne-Véronique 112 Gilliot, Claude 54 Gilmer, Eva 383 Gilmore, Myron P. 229 Gionini, Remo 285 Gisi, Lucas Marco 279 Gitay, Yehoshua 46, 384f. Glei, Reinhold 350 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 314 Glorie, Franciscus 79 Glorieux, Palémon 118 Gmelin, Hermann 220, 222, 225

424 Goeje, Michael Jan de s. de Goeje, Michael Jan Goering, Joseph 160 Goers, Charis 345 Göske, Daniel 389 Goethe, Johann Wolfgang 62, 219, 313, 318f., 337 f., 342 Götte, Johannes 211, 267 Götte, Maria 211, 264 Goetz, Hans-Werner 107, 176 Goetz, Rainald 381 Goetz, Walter 220 Goldziher, Ignaz 54, 56, 69 Gordon, William Terrence 361 Gottsched, Johann Christoph 290 Goullet, Monique 112 Graan, Olaus 296 Grabar, Oleg 311 Gräb, Wilhelm 315 Graevius, Johann Georg 286 Grambow, Jürgen 391 Gramlich, Richard 54 Granquist, Karin 293 Grass, Günter 38, 395–414 Gregor der Große (I.) (Papst)/Gregorius Magnus 16, 29, 30, 32, 73, 75–83, 87, 89–92, 95, 101f., 117, 124, 138, 141, 149, 166, 176, 202, 309 Gregor IX. (Papst) 157 Gregor von Tours 111–113, 121, 123 Greiner, Ulrich 400 Griffe, Élie 111–114 Griffioen, Amber L. 316 Grimm, Gunter E. 409 Grönwall, Anders 299, 300 Grosrichard, Alain 318 Gruber, Christiane Jacqueline 305, 311 Grünbein, Durs 345 Grundmann, Herbert 141, 156, 159 Gryphius, Andreas 19 Gryson, Roger 202 Guardiani, Francesco 160 Guenée, Bernard 107 Günzel, Stephan 365 Guha, Anton Andreas 395 Guibert de Nogent 205 Guido de Columnis 219 Guido von Praeneste 201 Guillaume d’Auxerre s. Wilhelm von Auxerre 149

Personenregister Guillaume de Saint-Amour/Guilielmus de Sancto Amore s. Wilhelm von St. Amour Gundlach, Wilhelm 117 Gundolf, Friedrich 337 Gunnarson, Halvard 295, 296 Guttenberg, Karl Theodor zu s. zu Guttenberg, Karl Theodor Gutzen, Dieter 343 Gyldenstolpe, Michael Wexionius 297 Haacke, Hrabanus 81, 197 Haag, Guntram 204 Haas, Alois M. 179 Haberer, Johanna 185 Hades 208, 210f., 214 Hadrian I. (Papst) 117 Häfner, Ralph 171, 281 Härtling, Peter 398 Hagen, Hermann 213 Hagen, Rune Blix 294 Hahn, Gerhard 199f., 205 Hahn, Petrus 297, 298 Halafall¯ah, Muḥammad Aḥmad 55 ˘ Halevi, Abraham ibn Daud 13 Hallberg, Robert von s. von Hallberg, Robert Hallengreen, Anders 278 Hamann, Johann Georg 20, 21 Hamesse, Jacqueline 162 Hamilton, Alastair 317 Hamlet 129, 383 Hamm, Berndt 185 Hampe, Karl 109 Hampe, Roland 268 Handke, Peter 345, 401 Hanegraaff, Wouter Jacobus 277 Hankins, James 227 Hansmann, Martina 243 Harl, Marguerite 41 Harner, Sandra D. 302 Harris, Paul 331 Hartmann von Aue 175 Hartmann, Wilfried 107 H¯ar¯un ar-Raš¯ıd 59 Harutyunyan, Harutyun 155 Hasebrink, Burkhard 174, 180 Haubrichs, Wolfgang 81, 171, 197 Hauck, Karl 108 Haug, Walter 93, 187 Hauptmeier, Ariel 326

Personenregister Hausmann, Frank-Rutger 220, 222, 224 Haverkamp, Anselm 215 Hayes-Healy, Stephanie 121 Hayton, Magda 156 Heck, Eberhard 217 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 322, 356, 357 Heidegger, Martin 351 Heiden, Anne von der s. von der Heiden, Anne Heidrich, Christian 349 Heikkinen, Antero 297 Heil, Gunther 84 Heimbach, Marianne 178 Heine, Heinrich 171, 345, 382 Heinrich II. (König von Frankreich) s. Henri II Heinrich IV. (HRR) 201 Heinrich IV. (König von Frankreich) s. Henri IV Heinrich VI. (HRR) 201 Heinrich VII. (HRR) 223f. Heinrich Frauenlob 186 Heinrich von Langen 99 Heinrich von Meissen 186, 189, 191 Heinrich von Ofterdingen 22 Heinrich von Veldeke 220 Heinze, Richard 211, 218 Heinzelmann, Martin 108, 112, 114, 117 Heist, William W. 158 Hektor 215, 268 Helander, Hans 280 Helbig, Louis Ferdinand 408 Helena 211, 258, 267 Helenus 215 f., 218 Heliodor 211 Helios 208–211 Heller, Bernát 57 Hempfer, Klaus W. 225 Henoch s. Idr¯ıs Henri II 245 Henri IV 247 Henry, Elisabeth 215 f. Hentsch, Thierry 318 Herakles/Herkules 247, 248, 267, 283 Herberichs, Cornelia 176 Herder, Johann Gottfried 313f., 337 Herkules s. Herakles Hermann, Siegfried 163 Hermes 265 Hermes, Daniela 400, 404, 407, 412 Hermlin, Stephan 397 Herodot 40

425 Herr Liphardt aus Stettin, s. Liphardt aus Stettin (Herr) Herr Zimmermann, Königl. Cammer Calculator zu Breslau s. Zimmermann (Herr), Königl. Cammer Calculator zu Breslau Herse 265 Hertz, Wilhelm 294 Herwig, Malte 328, 363f. Herzog, Reinhart 215, 216–218 Heßelmann , Peter 19 Hettema, Theo L. 135 Heubeck, Alfred 208 Heym, Stefan 397 Heyse, Elisabeth 219 Hiḍr 62 ˘ Hiepko, Andreas 369, 392 Hieronymus 75, 79, 89, 176, 193, 205, 230, 282 Higgins, Humphrey 294 Higman, Francis Montgomery 255 Hilarius 117, 282 Hildebrandt, Hans 383 Hildebransson, H. Hildebrand 299 Hildegard von Bingen 17, 28, 29, 30, 32, 75, 87, 88, 89–93, 94, 95f., 97, 98f., 104, 122, 134, 138, 140, 149, 155f., 168, 171f., 176, 192, 205 (s. auch Pseudo-Hildegard) Hildesheimer, Wolfgang 396, 399, 401–403, 405 Hilduin (von St. Denis) 32f., 84, 109–111, 114, 118–125, 127f. Hiller, Olav 298 Hinkmar von Reims 33, 125–128 Hiob 53, 60, 62f., 66, 163 Hirdt, Willi 225 Hobbins, Daniel 103 Hochner, Nicole 248, 264 Hödl, Ludwig 158 Hoeges, Dirk 239 Höfner , Markus 169 Hölbl, Günther 41 Hölderlin, Friedrich 22f., 337, 339, 343f., 345, 348f. Hölscher, Uvo 208–210, 212 Hoëm, Anton 301 Hoenselaars, Ton 221 Hofbauer, Andreas 383 Hofmann, Michael 387 Hofmannthal, Hugo von s. von Hofmannsthal, Hugo Hogrebe, Wolfram 13

426 Hollander, Robert 225 Holt, Peter Malcolm 56, 321 Holt, Philip 216 Holzinger, Carl von s. von Holzinger, Carl Holzschuher, Gilgen 374 Homer 34, 207, 208–212, 213, 214, 216f., 218f., 220, 221, 224, 267f., 284 Hoppál, Mihály 302 Horaz 219, 221 Horkheimer, Max 399, 408 Horn, Friedemann 278 Horovitz, Josef 60 Horst, Ulrich 132 Horx, Mathias 395 Hossfeld, Frank-Lothar 72 Hrabanus Maurus 81 Hruza, Karel 17, 137 Huber, Christoph 188, 191 H¯ud 62 f. Hübner, Heinrich 298 Hugo von St. Cher 149 Hugo von St. Victor 17, 84, 86, 93, 101 Hugo, Victor 254 Humbert de Romanis 142 Hunibald 126 f. Hurst, André 269 Hus, Jan 53 Hyginus 219 Ibn Abb¯as 64 Ibn al-Jawz¯ı 56 Ides, Evert Ysbrandt 279 Idr¯ıs/Henoch 63 Ignée, Wolfgang 409 Ihre, Johann 302 Ihring, Peter 243 Imbach, Ruedi 225 Ingold, Felix Philipp 177, 197 Innis, Harold 360 Innozenz III. (Papst) 156, 157, 201 Innozenz IV. (Papst) 136 Irigoin, Jean 118 Isaak 68 Isaia s. Jesaja Isidor von Sevilla 16, 74, 124 Jacob, Joachim 343 Jacobus a/de Voragine 248, 309 Jaeger, Charles Stephen 156

Personenregister Jakob 66, 74 James, William 349 Jannidis, Fotis 218, 224, 336 Jaspers, Karl 24 Jaspert, Nikolas 134 Jauß, Hans Robert 209 Jeauneau, Édouard 111, 121 Jean Paul s. Richter, Johann Paul Friedrich Jehuda Halevi 280, 281 Jendis, Matthias 389 Jendryschik, Manfred 382 Jens, Tilman 401 Jens, Walter 400 Jeremias (Prophet) 33, 42, 47, 79f., 90, 137, 160– 165, 383, 406 Jeremias, Jörg 43, 48–50 Jesaja/Isaia 74, 80, 89, 149, 152, 166, 383 Jesus (Christus/von Nazareth) 15f., 34, 36f., 53, 62f., 66, 75, 76f., 79, 115, 132, 141, 147, 150, 151, 155, 162, 163, 165, 172, 176f., 180, 181, 182–185, 188, 191, 193–195, 248, 281, 288, 290f., 298, 308, 309, 313, 322, 345, 365–367, 370, 374, 406 Joachim von Fiore 17, 30, 100, 136–138, 140– 145, 148–150, 152, 165–167, 176 Johannes (Evangelist) 16, 72, 93, 140, 180f., 183–186, 221, 406f. Johannes der Täufer 16, 53, 66, 72 Johannes Gerson 32, 100, 101 Johannes Scotus Eriugena 84, 85 Johannes Trithemius 126, 127 Johannes von Damaskus 308 Johannes von Parma 142 Johnson, Samuel 322 Johnson, Uwe 38, 379–393 Jolivet, Jean 121 Jona/Junus/Y¯unus 31f., 38, 53, 57–69, 70, 171, 379–393, 404 Jong, Irene J. F. de s. de Jong, Irene J. F. Jonsson, Inge 277f. Jordan, Hieronymus 285 Jørgensen, Sven-Aage 21 Josef/Joseph 53, 57, 62f., 66 Josias 123 Jostmann, Christian 17, 100, 138 Joyce, James 360f. Jünger, Friedrich Georg 21 Jürgensen, Christoph 338, 379 Julius II. (Papst) 239

Personenregister Jullien, Marie-Hélène 108f., 118f., 121, 123 Juno 214, 217 Junus (ibn Mattai) s. Jona Jupiter 217, 227, 282 Juynboll, Gautier H. A. 56, 63 Kaalund, Johann 286 Kab al-Aḥb¯ar 66 Kablitz, Andreas 187, 220f., 225 Kahl, Michael 25 Kahler, Erich von s. von Kahler, Erich Kainer, Dietmar 363, 373, 374 Kaiser, Gerhard 207, 338, 345, 379 Kaiser, Reinhard 294 Kajanto, Iiro 298 Kalb, Alphons 282 Kallimachos 251 Kallinen, Maija 297, 301 Kalypso 210–212 Kaminski, Nicola 218 Kandinsky, Wassily 343 Kant, Hermann 397 Kant, Immanuel 20, 277, 329, 342f., 399 Kappler, Matthias 57 Karl der Große 249 f. Karl VIII.(König von Frankeich) 230f., Karl XII. (König von Schweden) 280, 300 Karlauf, Thomas 25 Kassandra/Cassandra 35, 255, 257–261, 264– 269, 272–276, 216, 268f., 275, 349, 387f., 395 f., 398–400, 405, 413 Kauffmann, Kai 338, 350 Kaufhold, Martin 17, 176 Kaup, Matthias 17, 137 Kehnel, Annette 169, 172 Keil, Werner 344 Kelaeno 216 Kellner, Beate 79 Kellner-Heinkele, Barbara 57 Kemper, Hans-Georg 336 Kerby-Fulton, Kathryn 17, 99, 140, 155f. Kerckhove, Derrick de s. de Kerckhove, Derrick Kermani, Navid 15, 28, 315 Kern, Manfred 204 Kervinen, Timo 292 Kesting, Wolfgang 231 Khoury, Raif Georges 56, 62 Kiening, Christian 176, 188 Kienzle, Beverly Maine 162

427 Kiesel, Helmuth 339 Kihlberg, Georg J. 286 Kilcher, Andreas 297 Kimmelman, Burt 224 King, Edward J. 141 Kintzinger, Martin 134 Kippenberg, Hans G. 23 Kipping, Heinrich 285, 286 Kirchhoff, Bodo 403 Kirke s. Circe Kirkham, Victoria 18 Kirsch, Sarah 395 al-Kis¯a¯ı, Muḥammad ibn Abdall¯ah 65–68 Kister, Meir J. 54 Kittler, Friedrich A. 207 Kjellman, Eric 286 Klaes, Monika 92 Klein, Carl August 353 Klein, Wassilios 11, 72, 404 Kleine, Peter M. 311 Kleinhenz, Christopher 221, 223 Klinge, Matti 302 Klingenstierna, Samuel 299 Klinkert, Thomas 223 Klopsch, Paul 30 Klopstock, Friedrich Gottlieb 21, 337f., 343 Knapp, Fritz Peter 107 Knauer, Georg Nicolaus 213f., 216f. Knauf, Ernst Axel 11 Knecht, Robert Jean 261 Knödler, Julia 153 Knox, John 322 Kober, Michael 330 Koch, Klaus 11f., 72, 170, 201 Köbele, Susanne 27, 29, 33, 175f., 185, 188 Köckert, Matthias 13 Köhnken, Adolf 211 Kölzer, Theo 113 Koenig, Melissa 331 Koeppen, Wolfgang 402 Kolf, Marie C. van der s. van der Kolf, Marie C. Kolmar, Gertrud 382 Kommerell, Max 337 Kooij, Arie van der s. van der Kooij, Arie Koroibos 258, 267 Korsch, Dietrich 316 Koschorke, Albrecht 178 Koselleck, Reinhart 339 Krämer, Sybille 357

428 Krah, Hans 395 Kram, Kristina 293 Krause, Jürgen 338 Krause, Simon 290 Kreisel, Howard 13, 281 Kremer, Detlef 356f. , 362, 365, 376 Kremers, Dieter 223 Kris, Ernst 336 Kriss, Rudolf 70 Kriss-Heinrich, Hubert 70 Kritzeck, James 308 Kronauer, Brigitte 403 Krüger, Anke 112 Krüger, Klaus 260 Krusch, Bruno 112–114, 118, 125f. Kühlmann, Wilhelm 381f., 384f., 390 Kühne, Udo 99, 171 Kührt, Awino 391 Kugel, James L. 18, 26, 306 Kullmann, Wolfgang 219 Kunert, Günter 395f., 399 Kuno von Raitenbuch 198 Kuon, Peter 409 Kurth, Godefroid 111, 113 Kurz, Otto 336 Kurze, Friedrich 109 Kylli, Ritva 301 Kytzler, Bernhard 267 Laarmann, Matthias 72 Labroisse, Gerd 409 Lachmann, Karl 199 Lachmann, Renate 215 Lachner, Raimund 230 Lacroix, Benoît 107 Laederach, Jürg 399 Lagerlöf-Génetay, Birgitta 292 Laird, Andrew 218 Laistner, Max L. W. 121 Lamping, Dieter 344 Lancelot 223 Landgraf, Johannes 289, 290 Landino, Cristoforo 227 Landmann, Georg Peter 341 Lang, Bernhard 23 Langbehn, Julius 348 Lange, Armin 11 Lansing, Richard 222 Laotse 372

Personenregister Largier, Niklaus 173, 180, 182–184 Larsson, Lars Gunnar 278 Lattmann, Dieter 382 Laudage, Johannes 107 Laudin, Gérard 23, 315 Lauer, Gerhard 218, 224, 348 Laumonier, Paul 251, 259, 262, 266 Laurbeck, Peter (Petrus Laurbecchius) 298f. Laurent de Premierfait 310 Lausberg, Heinrich 39 Lauster, Jörg 316 Lavocat, Françoise 282 Le Blévec, Daniel 130 Le Bouyer de Fontenelle, Bernard 288 Leavis, F. R. 360 Lechter, Melchior 338 Leclerc, Pierre 282 Lecouteux, Claude 294 Leder, Stefan 313, 318f. Ledergerber, Karl 269 Leeker, Joachim 219 Leeker, Martina 355 Lefèvre, Eckard 223 Legrand, Marie-Dominique 260 Lemmius, Georg Christoph 298 Lentzen, Manfred 225 Leo I./der Große (Papst) 115f. Leo XIII. (Papst) 348 Leo, Friedrich 123 Leonhardt, Rochus 107 Leonzio Pilato 219 Lepechin, Iwan 279 Leppin, Volker 140 Lerner, Robert E. 100, 131, 133, 138, 140, 141, 144f. Lessing, Gotthold Ephraim 342, 407f. Leubuscher, Rudolf 294 Lévêque, Pierre 207 Levillain, Léon 111–114, 118 Levison, Wilhelm 111, 118 Lewis, Bernard 56, 321 Lidzbarski, Mark 56, 67, 68 Lieberknecht, Otfried 222, 225 Liermann, Carolus Petrus 299 Lindborg, Rolf 301 Lindmark, Daniel 293 Lindsay, Wallace Martin 74, 124 Linke, Hansjürgen 347 Linné, Carl von s. von Linné, Carl

Personenregister Linse, Ulrich 24 Lintrup, Severin 287 Liphardt aus Stettin (Herr) 22 Littlejohns, Richard 22 Littmann, Enno 59 Liung, Petrus Erich 298 Livius Andronicus 219 Löhr, Wolf-Dietrich 260f., 318 Löser, Freimut 177 Loenertz, Raymond J. 112, 114, 116–118, 121 Lorenczuk, Andreas 389 Lot/Loth 58, 63, 74 Lot, Ferdinand 109 Louth, Andrew 117 Lovejoy, Arthur Oncken 207 Lucianus von Beauvais 116 Lucken, Christopher 271 Ludwig der Fromme 84, 108–110, 118, 122 Lübbe, Hermann 347 Lüdke, Martin 402, 403 Luff, Robert 203 Lugowski, Clemens 347 Lugt, Maaike van der s. van der Lugt, Maaike Luhmann, Niklas 399 Lukács, Georg 371 Lukan 221, 222 Lund(ius), Nikolaus 296 Luscombe, David 111 Luther, Martin 253, 310, 313, 314, 322 Lutz, Eckart Conrad 81 Lux, Rüdiger 381 Lykophron 269, 275 Lyotard, Jean-François 381 Macchi, Jean-Daniel 11 Macer, Jean 264, 45 Machiavelli, Niccolò 35, 227–244 MacPherson, James 21 Macrobius (Ambrosius Theodosius M.) 213, 219, 220, 224 Maggi, Armando 18 Maier, Johann 13, 280 Maimonides s. Moses Maimonides Mainberger-Ruh, Elisabeth 232 Malherbe, François de s. de Malherbe, François Malik, Jamal 135 Malinowski, Bernadette 21–23 Mancini, Franco 271 Manemann, Jürgen 135

429 Manker, Ernst 293, 298 Mann, Katia 366 Mann, Thomas 37f., 175, 328, 345, 362–371, 373, 374f., 376f. Mans, Jacques Peletier du s. du Mans, Jacques Peletier Marcellinus 108f. Marcellus (Bischof) 116 Marcellus (Neffe des Augustus) 216 Marck, Jan van der s. van der Marck, Jan Marguerite de Navarre 247 Maria 34, 60, 63, 74, 101, 122, 186–195, 248, 281 Marinianus 76 Marmursztejn, Elsa 131 Marracci, Lodovico 312 Mars 283 Martelli, Mario 232, 235 Martens, Wolfgang 339 Martin(us) (Hl.) 101, 117 Martin von Braga 282 Martínez, Matías 36, 331, 344 Martínez-Bonati, Félix 329 Martus, Steffen 338, 345 Marx, Christoph 19 Marx, Friedhelm 345, 348, 365, 370, 373 Marx, Michael 15, 306 Marzolph, Ulrich 59 Marzo-Wilhelm, Eric 204 Matt¯a/Amitthai/Matthäus 59, 63f., 66 Mattenklott, Gert 338 Matthäus s. Matt¯a Matthäus Paris/Matthew Paris 154, 159 Matucci, Andrea 236 Maxenius, Gabriel 301 Mazour-Matusevich, Yelena 103 McAuliffe, Jane Dammen 54 McGinn, Bernard 137f., 140–142, 176, 198 McGuire, Brian Patrick 103, 168 McKeon, Peter R. 130, 133 McLoughlin, Nancy 168 McLuhan, Herbert Marshall 37, 355–363, 365– 367, 369–376 Mechthild von Magdeburg 172, 178 Meckenstock, Günter 343 Medici, Lorenzo de’ s. de’ Medici, Lorenzo Médicis, Catherine de s. Catherine de Médicis Megerlin, David Friedrich 311–313, 319 Meginfrid 126

430 Mehltretter, Florian 221f. Meier, Albert 23, 315 Meier, Christel 11, 16f., 19, 23, 28f., 32, 72, 81, 87, 91, 93, 95, 99, 122, 129, 134f., 138, 149, 165, 166, 170 f., 175–177, 197f., 202, 205 Meinhardt, Helmut 84 Meisami, Julie Scott 68 Meister Eckhart s. Eckhart (Meister E.) Meister von Luçon 309 Melville, Gert 134, 169 Melville, Herman 38, 381, 389, 390 Ménager, Daniel 247 Menelaos 211, 267 Mercurio da Careggio s. da Careggio, Mercurio Merkel, Angela 325f. Merlin 18, 283 Mersch, Dieter 356–358, 362, 369 Messerschmidt, Daniel Gottlieb 279 Mews, Constant J. 130, 141 Meyer, Daniel 350 Meyer, Heinz 79 Michelangelo (Buonarroti) 230, 239 Micrander, Julius 286 Miethke, Jürgen 17, 147, 176 ˙ ar 57 Mikk¯aw¯ı, Abd al-Gaff¯ Millet, Olivier 253 Milstein, Rachel 57 Milton, John 343 Minnis, Alastair J. 197 Mirandola, Giovanni/Gianfrancesco Pico della s. della Mirandola, Giovanni/Gianfrancesco Pico Misch, Georg 205 Mittmann, Siegfried 44, 47 Moebius, Georg 289 Mörike, Eduard 344f. Mohammed/Muḥammad 15, 29, 31f., 36, 53–58, 59, 60–63, 68, 305, 307–314, 316–323 Möllendorff, Peter von s. von Möllendorff, Peter Moltzow, Johann Friedrich 290 Moman, Jonas 302 Mommsen, Katharina 318 Monagle, Clare 141 Monfrin, Jacques 121 Montaigne, Michel de s. de Montaigne, Michel Moog-Grünewald, Maria 261 Moore, Peter 372 Moos, Peter von s. von Moos, Peter Morales, Edgardo M. 282 Moranski, Karen R. 26, 138

Personenregister Morgan, Alison 222 Morgan, Nigel 17, 140, 156 Morgenstern, Matthias 58 Moritz, Karl Philipp 22, 37, 339–342, 347 Mosebach, Martin 386 Moses 15, 58, 62, 66, 72, 74, 80, 89, 90, 127, 184, 229, 239f., 242, 280, 332 Moses Maimonides/Mose ben Maimon 13, 280, 281 Most, Glenn W. 220 Moynihan, Ropert 100 Müller, Adam Gottlieb 291 Müller, Ernst 315 Müller, Gerhard 404 Mueller, Harald 402 Müller, Heiner 395 Müller, Jan-Dirk 177f., 197 Müller, Ulrich 199 Müller-Bochat, Eberhard 225 Müller-Hofstede, Justus 243 Müller-Luckner, Elisabeth 138, 145 Münkler, Herfried 234 Müntzer, Thomas 19 Muessig, Carolyn 162 Muḥammad s. Mohammed Mula, Stefano 309 Munthelius, Johannes 297 Muret, Marc-Antoine 246, 258, 265 Muschg, Adolf 397 Musil, Robert 24f., 226 Mussard, Pierre 286 Nadolny, Sten 403 Nänny, Max 358 Nagel, Tilman 56, 63, 65f., 68, 69 Napoleon (Bonaparte) 322, 366f., 370 Napol’skich, Vladimir Vladimirowich 279 Nathan 72 Natif, Mika M. 311 Navarre, Marguerite de s. Marguerite de Navarre Neef, Heinz-Dieter 47 Nenonen, Marko 292, 301 Neoptolemos 211 Nerreter, David 311, 312 Nesselrath, Heinz-Günther 41 Neuhaus, Volker 396, 400, 404, 407, 409, 410, 412 Neumann, Bernd 379, 386f., 391 Neumann, Gerhard 187

Personenregister Neusüss, Arnhelm 390, 393 Neuwirth, Angelika 15, 54, 58, 60f., 69, 306 Newman, John Kevin 14 Newman, Barbara 98, 102, 192 Newton, Isaac 20, 371 Neymeyr, Barbara 366f., 369 Nicholas von Lisieux 133f. Nicklas, Tobias 72, 163 Niclas, Hendrick 19 Nider, Johannes 283 Niehl, Rüdiger 218 Niesner, Manuela 107 Nietzsche, Friedrich 23f., 349 Niggl, Günter 392 Nihan, Christoph 11 Niurenius, Olaus Petrus 296 Noah 15, 53, 58, 60–63, 66, 74, 395, 396, 408 Nöldeke, Theodor 58, 61 Nol’vanskaja, Marija Grigor’evna 278f. Norden, Eduard 213–215, 217, 223 Nostradamus 253 Nüsslein, Theodor 172 Numa Pompilius 228 f. Numitor 283 Nyman, Johannes 291 O’Hara, James J. 217 f. Oberste, Jörg 134 Odin 322 Odoaker 172 Odysseus 34, 207–220, 269, 284 Oelmann, Ute 339, 341, 349 Oetinger, Friedrich Christoph 277f. Oexle, Otto Gerhard 107 Ohly, Friedrich 75, 191, 207 Oja, Linda 292 Olaus Magnus 293 f., 296 Olsen, Kenna 156 Opelt, Ilona 135, 221 Origenes 74, 75, 175, 289 Orpheus 285 Orre, Axelius Jonas 297 Orta, Garcia del s. del Orta, Garcia Ortheil, Hanns-Josef 403 Orwell, George 400, 404f. Oseen, Carl Wilhelm 299 Osthövener, Claus-Dieter 315 Oswald, Marion 190 Otfrid von Weißenburg 79

431 Ott, Ludwig 140 Otto IV. 34, 200f. Otto, Rudolf 338 Otto von Freising 141 Ovid 210, 219, 221, 265 Pan 291 Paracelsus (Theophrastus Bombastus von Hohenheim) 20 Parenti, Piero 236 Paret, Rudi 53, 305 Paris 267, 269 Paschke, Franz 105 Patschovsky, Alexander 17, 19, 84, 114, 117, 176 Paul I. (Papst) 117 Paul of Middleburg 227 Paul von Narbonne /Paulus von Narbonne 112f. Paul, Shalom M. 42 Pauliny, Ján 56, 65, 68 Paulus (Apostel) 75f., 87, 115f., 119, 121, 144f., 150, 154f., 157, 184, 201, 202, 222, 282, 289, 349 Pausewang, Gudrun 395 Pečar, Andreas 115 Peletier du Mans, Jacques 251 Pellat, Charles 56 Peneleos 258 Penelope 209, 212 Pentikäinen, Juha 296f., 300, 302 Peradotto, John 213 Percy, William 308 Perelman, Françoise 108 Persephoneia 214 Petrus Venerabilis/Peter von Cluny 308 Peters, Christina 335 Peters, John Durham 356, 360–362 Petersdorff, Dirk von s. von Petersdorff, Dirk Petráček, Karel 68 Petrarca, Francesco 18, 242–244, 250, 252, 257, 259, 260, 261, 268, 272, 273, 274, 318 Petrus (Apostel) 29, 108, 112, 114–116, 119, 124 Petrus von Ruthenac 163 Peucer, Caspar 294–296 Pfister, René 325–329 Pfisterer, Ulrich 310 Philipp von Schwaben 34, 201 Philippus (spanischer Bischof) 115 Philoktet 267 Philon von Alexandrien 13

432 Phönix (Myrmidone) 267 Pich, Federica 261 Pichois, Claude 254 Pickavé, Martin 179 Pierre d’Ailly 99 Pietsch, Andreas 19, 72, 129, 134, 177 Pietsch, Timm Niklas 396 Pigné, Christine 247 Pilon, Germain 248 Pinault, David 68 Pindar 251, 254 Pinkerneil, Beate 410, 412, 413 Pippin 117, 118 Pistelli, Ermenegildo 224 Pitra, Johannes Baptista 95 Planander, Samuel Peter 281 Plantin, Henri Moretus 112, 114–117 Platon 14, 40, 251, 310, 370 Plutarch 285–287, 291 Pococke, Edward 309 Pollan, Brita 301 Pollner, Clausdirk 220 Pommier, Édouard 264 Pomponazzi, Pietro 247, 285, 287 Poseidon 208 f., 214 Pot, Olivier 268 f. Potestà, Gian Luca 14, 16f., 72, 100, 138, 141f., 149, 152, 165 Poulin, Joseph-Claude 114 Pound, Ezra 360 Preimesberger, Rudolf 260 Primaticcio, Francesco 248 Pringsheim, Hedwig 366 Prudlo, Donald S. 130 Pseudo-Dionysius/Denys Areopagita 16, 73, 83, 86, 111, 117 (s. auch Dionysius [Hl.] u. Dionysius Areopagita) Pseudo-Eugenius 123 Pseudo-Hildegard von Bingen 99, 156 Pseudo-Esdras 124, 127 Pseudo-Methodius 72 Pseudo-Ovidius 30 Pseudo-Pindar 264 Pythia 40, 283, 285, 287, 288 Quainton, Malcolm 260, 265 Quast, Bruno 34, 178

Personenregister Rabelais, François 247 Rabsch, Udo 395 Rad, Gerhard von s. von Rad, Gerhard 381f., 385f. Radscheit, Matthias 306 Rakusa, Ilma 403 Rathofer, Johannes 99 Ratzinger, Joseph 131 Rauh, Horst Dieter 140 Raulff, Ulrich 349 Ray, Roger D. 107 Raymond, Marcel 245, 264 Reagan, Ronald 396 Reeb, Otto 376 Reed, Terence James 377 Reeves, Marjorie 100, 141–143 Regn, Gerhard 221, 224 Rehm, Bernard 105 Reichert, Benedictus Maria 142 Reiff, Arno 218 Reinhard, Miriam 384 Remigius (Hl.) 33, 125, 127 Renaud, Bernard 45, 47 Rennert, Jürgen 399 Reuter, Astrid 135, 168 Reventlow, Franziska von s. von Reventlow, Franziska 365 Rheen, Samuel 296 Rhodiginus, Lodovicus Caelius 287 Rhu, Lawrence F. 18 Ricchieri, Ludovico 287 Ricci, Pier Giorgio 232, 309 Richard, Francis 317 Richter, Johann Paul Friedrich (Jean Paul) 337, 406 Ricklin, Thomas 225 Ricoldo da Montecroce 310 Rieckmann, Jens 338 Riedel, Ingrid 382 Riedl, Matthias 26, 176 Riesebrodt, Martin 23f. Rilke, Rainer Maria 25, 345, 351 Rimini, Francesca da s. Francesca da Rimini 223 Ringger, Kurt 223 Rinser, Luise 382 Rio, Martin Antonius del s. del Rio, Martin Antonius 283, 284, 294 Rippel, Philipp 234 Rippin, Andrew 15, 56f.

Personenregister Risden, Edward L. 26, 138 Ritter, Adolf Martin 84 Ritter, Joachim 350 Robinson, Jonathan 160 Robinson, Matthew 331 Rocco, Emilia Di s. Di Rocco, Emilia 210, 214 Römer, Thomas 11 Rösch, Erich 265 Rösel, Martin 107 Rohlfing, Helmut 220 Roisman, Hanna M. 210, 212 Roling, Bernd 13, 18, 20, 35, 278, 283, 297f., 301, 415 Romulus 228 f. Ronsard, Pierre de s. de Ronsard, Pierre Roos, Martin 338 Roques, René 84 Rosen, Valeska von s. von Rosen, Valeska Rosenthal, Franz 56 Rossi, Aldo 230 Rossmäßler, Johann Friedrich 316–318 Rubin, Uri 15, 28, 54 Rudeen, Thorsten 291 Rüegg, August 222 Rührdanz, Karin 57 Ruh, Kurt 182, 183 Ruhstorfer, Karlheinz 349 Ruinart, Thierry 111 Rupé, Hans 207 Rupert von Deutz/Rupertus Tuituensis 17, 79, 81, 87, 99, 104, 134, 171, 197–199, 204f. Rusconi, Roberto 17 Russer, Achim 23 Rusterholz, Peter 19 Rusticus (Hl.) 112 f. Rutebeuf 134, 163 Rychterová, Pavlína 17, 138 Rydelius, Magnus 281, 298 Rydving, Håkan 293, 296 Ṣadaqa 66 Safrai, Chana 11, 13, 72 Šahr ibn Ḥaušab 64 Saint-Gelais, Mellin de s. de Saint-Gelais, Mellin 245 Sale, George 321 Ṣ¯aliḥ 62 f. Salimbene von/de Parma 143 Salminen, Seppo J. 301

433 Salomon 62f., 66, 74, 125, 188 Salviati, Cassandre 259 Salzer, Anselm 194 Salzmann, Bertram 379, 383, 385, 391f. Samuel 122, 124, 149 Santagata, Marco 243, 259 Sara 68 Sarajas, AnnaMari 301f. Satran, David 55 Saturn 227, 282 Saturninus von Toulouse 111–113, 116 Savary, Claude-Étienne 319, 321f. Saviello, Alberto 36, 305, 309, 312, 416 Savonarola, Girolamo 19, 35, 227–243, 244 Sbalchiero, Patrick 294 Scève, Maurice 257 Schabert, Tilo 26, 176 Schacht, Ulrich 399 Schaffrick, Matthias 38, 368, 416 Schaller, Gotthard Simon 291 Schefers, Hermann 108 Scheffer, Johannes 296–298 Scheibelreiter, Georg 107 Schenker, Adrian 45 Schiewer, Regina D. 177 Schiller, Friedrich 337, 342, 348, 350 Schisto, Elisabetta 230 Schlegel, Friedrich 359 Schleiden, Karl August 21 Schleiermacher, Friedrich 36, 315, 316, 321, 322, 343 Schlosser, Marianne 18, 100, 138, 142, 149, 170– 172, 182 Schmale, Franz-Josef 176 Schmaus, Michael 131 Schmidt, Delf 402f. Schmidt, Ernst A. 217 Schmidt, Hans-Peter 27 Schmidt, Jochen 21, 336, 343, 345, 368 Schmidt, Kerstin 355 Schmidt, Ludwig 48 Schmidt, Paul Gerhard 95 Schmieder, Felicitas 140 Schmit-Neuerburg, Tilman 213 Schmitt, Carl 148 Schmitt, Jean-Claude 107 Schmitz, Barbara 57 Schmitz, Gerhard 107 Schmitz, Silvia 34, 220, 416

434 Schmitz, Thomas 209, 212, 251, 254 Schneider, Peter 397 Schneider, Ulf-Michael 21, 171, 345 Schneidmüller, Bernd 134 Schöck, Cornelia 66 Scholtz, Gunter 315 Scholz, Manfred Günter 200, 203 Schomer, Johann Friedrich 291 Schrage, Eva-Maria 155 Schreiber, Jürgen 412 Schreiner, Klaus 107, 193 Schreiner, Stefan 58, 59, 60f. Schüppert, Helga 201 Schütz, Peter 344 Schütze, Sebastian 338 Schultheis, Franz 202 Schultz-Gerstein, Christian 397 Schwally, Friedrich 58 Schwarz, Wilhelm J. 380 Schwebel, Horst 307 Schwibs, Bernd 23 Schwindt, Jürgen Paul 212 Sconduto, Leslie A. 294 Screech, Michael Andrew 257 Seaton, Ethel 296 Secret, François 253 Seehofer, Horst 325–328 Segre, Cesare 222 Sehlmeyer, Markus 14 Seiler, Stefan 381 Seit, Stefan 17, 19 Seitz, Annette 309 Seneca (Lucius Annaeus S.) 283, 284 Sengle, Friedrich 105 Servius (Maurus S. Honoratius) 213, 218, 222 Severin 172 Shakespeare, William 129, 322 Shalem, Avinoam 305, 309 Sibilla, Bartholomäus 283 Sibylle(n) 13, 14, 15, 17f., 30, 72, 99 100, 138, 139, 144, 158, 214f., 217f., 220, 224, 248f., 256, 269–272, 281, 287 Sidersky, David 55 Sidney, Philip 327 f. Sieg, Christian 38, 359, 416 Siegert, Folker 41 Sigebert von Gembloux 176 Silano, Giulio 160 Silvestre, Hubert 107

Personenregister Simian-Yofre, Horacio 47 Simon, Ralf 345 Simondon, Michèle 209 Simonicsics, Péter 300 Simonin, Michel 247 Simpson, James 167 Simson 63 Simson, Bernhard 110 Sina, Kai 342 Sinai, Nicolai 15, 306 Singleton, Charles S. 225 Sinon 211 Sirat, Colette 281 Siukonen, Jyrki 277 Sköld, Peter 293 Sloterdijk, Peter 408 Sluga, Hans 330 Šmahel, František 19 Smith, Glosse Lesley 145 Smith, Joshua Byron 98, 192 Smits, Edmé Renno 121 Sockness, Brent W. 315 Sokrates 105 Sontheimer, Kurt 399f. Sorel, Georges 375 Sorrentino, Sergio 315 Soulié, Marguerite 251 Sowinski, Bernhard 99 Spanily, Claudia 87 Spechtler, Franz Viktor 199 Speyer, Heinrich 55, 60 Speyer, Wolfgang 106, 123 Spies, Bernhard 409 Spilling, Herrad 219 Spoerhase, Carlos 135, 336 Spondanus, Johannes 284 Sprang, Felix C. H. 390 Stachorski, Stephan 363, 373, 375 Stackmann, Karl 186, 189 Stallbaum, Klaus 410 Starkey, Kathryn 190 Starkey, Paul 68 Starnes, Thomas C. 105 Staub, Martial 141 Staubach, Nikolaus 30, 32, 75, 84, 125–127, 416 Stauffer, Hermann 135 Steck, Odil Hannes 72 Steckel, Sita 33, 100, 134, 153, 155f., 170, 416 Steiger, Johann Anselm 381f., 384, 390

Personenregister Stein, Elisabeth 95, 99 Steinmetz, Ralf-Henning 191f. Stein, Georg 42 Stekelenburg, Dick van s. van Stekelenburg, Dick Stengel, Friedemann 277f. Stephan II. 110, 118 f. Steppich, Christoph J. 18 Stern, David G. 330 Steuch, Johannes 291 Stock, Konrad 11, 72 Storey, Charles Ambros 57 Storjunckar 293 Strack, Georg 153 Strahlenberg, Philipp Tabbert von s. Tabbert von Strahlenberg, Philipp Strasser, Johano 400 Strauß, Botho 345 Strauss, Leo 136 Stridzberg, Lund Haquin 291 Strohschneider, Peter 79, 172, 185 Stroppa, Sabrina 243 Šuayb 62 f., 66 Suerbaum, Werner 210–212, 215–218, 222, 243 Suntrup, Rudolf 16, 79 Swartz, Merlin 56 Swebilius, Andreas 300 Swedenborg, Emanuel 20, 35, 277–280, 302f. Sylvius, Antonius 286 Symes, Carol 134 Szittya, Penn R. 131, 133, 137, 139f., 153, 155, 157, 160, 168 aṭ-Ṭabar¯ı, Muḥammad ibn Ǧar¯ır 55f., 60 Tabbert von Strahlenberg, Philipp 278f., 300 a-"alab¯ı, Ab¯u Isḥ¯aq Aḥmad ibn Muḥammad 62–67 "alab ibn Š¯arid 66 Taliesin 18 aṭ-Ṭaraf¯ı, Ibn Muṭarrif 63, 64, 67 Taviani-Carozzi, Huguette 130 Tawaddud 59 Teiresias 34, 208 f., 210, 211–218, 285, 349 Thackston, Wheeler M., Jr. 65–67 Theison, Philipp 297 Theodosius 175 Theokrit 251, 264, 266 Théry, P. Gabriel 111, 118 Theseus 229 Thilo, Georg 213

435 Tholen, Georg Christoph 362, 365 Thomas von Aquin 100, 132, 138, 148, 160, 168, 174, 182, 233 Thomson, Williel R. 159 Thorwöste, Johannes 301f. Tieck, Ludwig 22, 338, 340 Tierney, Brian 133 Tillschneider, Hans-Thomas 58 Tilly, Michael 41 Töpfer, Bernard 142 Tolley, Clive 293, 296 Tolstadius, Andreas 298 Toorn, Karel van der s. van der Toorn, Karel Tormentino, Lorenzo 230 Tornaeus, Johannes 296 Torreblanca, Francesco de s. de Torreblanca, Francesco Torrell, Jean-Pierre 18, 100, 138, 149, 170 Tottoli, Roberto 54, 56, 63, 64 Trampedach, Kai 115 Trapp, Joseph Burney 261 Traver, Andrew G. 129f., 132, 134, 136f., 140, 144, 153, 159, 161, 165, 168 Tristan 223 Trithemius, Johannes s. Johannes Trithemius Trolle, Laurentius 302 Trunz, Erich 319 Tryon, Warren W. 302 Tuder(us), Gabriel 296 Turck, Dieter 207 Turk, Horst 207 Twersky, Isadore 13, 281 Tyard, Pontus de s. de Tyard, Pontus Ubl, Karl 115 Ueding, Gert 391 Ugolini, Gherardo 210 Ulbricht, Walter 411 Ullmann, Walter 115 Umar ibn al-Haṭṭ¯ab 321 ˘ 380, 387 Unseld, Siegfried Vajda, Georges 54 Valerius, Johannes 298 Valla, Lorenzo 111 Vallikivi, Laur 300 Van Acker, Lieven 92 van Dale, Antonius 288f., 290f. van der Kolf, Marie C. 13

436 van der Kooij, Arie 135 van der Lugt, Maaike 283 van der Marck, Jan 281 van der Toorn, Karel 11 van Deusing, Antonius 295 van Dorsten, Jan Adrianus 327 Van Engen, John H. 198 van Ess, Josef 54, 63 van Stekelenburg, Dick 409 Vasari, Giorgio 230 Vasoli, Cesare 228, 231 Vauchez, André 17, 19, 26, 138, 140 Veit, Raphaela 17, 19, 138 Venantius Fortunatus 112, 122, 123 Venerius, Johannes Antonius 285 Verger, Jacques 130, 136, 148 Vergil 14 f., 34, 207, 210f., 213–221, 222, 223– 225, 244, 259, 264, 267, 270, 275, 283, 350 Verheyden, Joseph 72, 163 Vietta, Silvio 22, 339 Villey, Pierre 253 Vincent von Beauvais 309 Vinding, Paul 287 Vinken, Barbara 250 Visbius 122 Vivanti, Corrado 228 Vogt-Spira, Gregor 213 Voigt, Verena 155 Volk, Paulus 127 Vollmann-Profe, Gisela 81, 172 Vollmer, Friedrich 123 von den Brinken, Anna-Dorothee 176 von der Heiden, Anne 383 von Eichendorff, Joseph 22, 345 von Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel 19 von Günzburg, Johann Eberlin s. Eberlin von Günzburg, Johann von Hallberg, Robert 222 von Hofmannsthal, Hugo 338, 352 von Holzinger, Carl 269 von Kahler, Erich 348, 349 von Linné, Carl 280, 299 von Möllendorff, Peter 212, 217, 220 von Moos, Peter 87, 134, 169, 205 von Petersdorff, Dirk 344 von Rad, Gerhard 381f., 385f. von Reventlow, Franziska 365 von Rosen, Valeska 260, 310

Personenregister von Strahlenberg, Philipp Tabbert s. Tabbert von Strahlenberg, Philipp von Wilckens, Leonie 100 Vondung, Klaus 399, 406f. Voss(us), Gerard Johannes 285, 286 Voss, Isaak 281 Voutiras, Emmanuel 318 Vuillemin-Diem, Elisabeth 147 Vuillemin-Diem, Gudrun 130, 132 Wachinger, Burghart 186–189, 191 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 22, 340 Wacker, Gabriela 25, 26, 27 Wacker, Maria Lucia 365 Wagner, Richard 347 Wagner-Egelhaaf, Martina 6, 11, 19, 23, 37, 72, 99, 129, 134, 135, 177, 198, 335f., 416 Wahb ibn Munabbih 62 Walde, Christine 14, 215 Walser, Martin 337, 403f. Walter von Châtillon 178, 195 Walther von der Vogelweide 34, 178, 195, 197, 199–201, 203f., 205, 206, 348 Wargentinus, Wilhelm 298 Warning, Rainer 175, 187 Warnke, Martin 238 Wassenius, Johannes 297 Watt, William Montgomery 61 Weber, Max 23f., 202 Weber, Robert/Robertus 221 Wegelius, Heinrich/Henricus 300 Wehle, Winfried 221 Wehrli, Max 196 Weidner, Daniel 25, 26f., 171, 382 Weigand, Rudolf Kilian 177 Weiher, Anton 208 Weijers, Olga 151 Weil, Gustav 55 Weinfurter, Stefan 169, 172 Weinstein, Donald 229–231 Weinstock, Horst 220 Weippert, Manfred 12 Weischedel, Wilhelm 20 Weiß, Adolf 13, 280 Weiß Ernst 382 Wensinck, Arent Jan 66 Wenzel, Franziska 79 Wenzel, Horst 190 Werber, Niels 390

Personenregister Werner von Kirchheim 99 Wertheimer, Jürgen 344, 349 Westerwelle, Karin 18, 23, 35, 250, 254, 416 Westhman, Petrus 291 Wetherbee, Winthrop 222 Whitehead, John 278 Whitfield, John Humphreys 229 Whitman, Walt 21 Widman, Georg Rudolf 296 Wieland, Christoph Martin 105f., 343 Wielandt, Rotraud 55 Wiener, Oskar 261 Wieruszowski, Helene 220 Wilckens, Leonie von s. von Wilckens, Leonie Wild, Stefan 310, 314 Wilhelm von Auvergne 142, 283 Wilhelm von Auxerre/Guillaume d’Auxerre 149 Wilhelm von St. Amour/Guillaume de Saint-Amour/Guilelmus de Sancto Amore 33, 100, 129, 130, 131–140, 143–168 Wilhelm, Friedrich 106 Willand, Marcus 336 Willer, Stefan 25, 26 Williams, George H. 13, 281 Williams, Gordon 220 Williams, Werner 176 Willi-Plein, Ina 50 Willis, Jacob 213 Wimmer, Ruprecht 373, 375 Winklehner, Brigitte 223f. Winko, Simone 218, 224 Winter, Eduard 279 Witsen, Nicolaas 279 Wittekind, Susanne 106 Wittgenstein, Ludwig 36f., 330, 331, 332f. Witzleben, Johann Friedrich 291 Wlosok, Antonie 15, 217 Wolf, Christa 395–398, 409 Wolfe, Tom 359

437 Wolff, Hans Walther 43f., 48 Wolfram von Eschenbach 81, 171, 187, 197 Wolfskehl, Karl 337 Wolfson, Harry Austryn 13, 281 Wolfzettel, Friedrich 243 Wunderlich, Werner 177, 197 Yandell, Stephen 26, 138 Y¯unus s. Jona Zaccaria, Vittorio 309 Zacharias 60, 66f., 74 Zamfir, Korinna 72, 163f. Zangenberg, Jürgen K. 41 Zarathustra 24 Zechiel-Eckes, Klaus 106 Zell, Johann Michael 311 Zelzer, Michaela 124 Zeus 210 Ziegeler, Hans-Joachim 188 Ziegler, Johann 232 Zimmermann, Albert 130, 132, 147 Zimmermann (Herr), Königl. Cammer Calculator zu Breslau 22 Zimmermann, Michel 177, 197 Zimmermann, Rolf Christian 370f., 373, 376 Ziolkowski, Jan 18 Zipfel, Frank 224 Žižek, Slavoj 383 Zola, Émile 23 Zorn, Rudolf 228 zu Guttenberg, Karl Theodor 39 zur Höhe, Daniel 373f., 376f. (s. auch Daniel [Figur in Thomas Mann, Beim Propheten]) Zwerenz, Gerhard 395 Zwettler, Michael 306 Zycha, Joseph 282 Zymner, Rüdiger 331