Fiktive Werkgenesen: Autorschaft und Intermedialität im gegenwärtigen Spielfilm 9783839440988

Authorship in the movies - about the genesis of a new sub-genre in the course of digitalization.

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German Pages 336 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
1. Vorwort – Einleitende Gedanken zum Aufkommen des Subgenres
I. Theoretische Überlegungen: Referenzebenen in fiktiven Werkgenesen
2. Medienreferenzen
3. Werkreferenzen
4. Autorreferenzen
II. Einzelanalysen: Fiktive Werkgenesen von Dramen
5. SHAKESPEARE IN LOVE
6. FINDING NEVERLAND
7. THE LIBERTINE
8. SCHILLER
9. MOLIÈRE
10. ANONYMOUS
11. Fazit und Ausblick: Zur Einordnung des Subgenres
Danksagung
Literatur
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Fiktive Werkgenesen: Autorschaft und Intermedialität im gegenwärtigen Spielfilm
 9783839440988

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Laura Zinn Fiktive Werkgenesen

Film

Laura Zinn (Dr. phil.), geb. 1985, lehrt Germanistik und Komparatistik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift für Fantastikforschung. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Intermedialitätstheorie, Literatur und Film, Fantastische Literatur, Gender Studies sowie Mythenrezeption.

Laura Zinn

Fiktive Werkgenesen Autorschaft und Intermedialität im gegenwärtigen Spielfilm

Diese Dissertationsschrift wurde an der Justus-Liebig-Universität Gießen angefertigt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Satz: Laura Zinn Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4098-4 PDF-ISBN 978-3-8394-4098-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1. Vorwort – Einleitende Gedanken zum Aufkommen des Subgenres | 7

I. THEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN: REFERENZEBENEN IN FIKTIVEN WERKGENESEN 2. Medienreferenzen | 27 2.1 Formen medialer Referenzen in fiktiven Werkgenesen | 27 2.2 Intermediale Spielarten von Medienreferenzen | 31 2.3 Erweiternde und ergänzende Medienreferenzen | 62 3. Werkreferenzen | 77

3.1 Sonderform einer ‚Literatur-‘ bzw. ‚Werkverfilmung‘ | 77 3.2 Optische und akustische Darstellung des Werks | 85 3.3 Motivische Einbindung des Werks | 103 3.4 Paratextuelle Funktion | 111 4. Autorreferenzen | 115

4.1 ‚Der Autor ist tot – es lebe der Autor‘ – Autorschaft zwischen Film und Forschung | 115 4.2 Autorschaftskonzepte in fiktiven Werkgenesen | 124 4.3 Fremdheit und Identifikationspotentiale | 147

II. EINZELANALYSEN: FIKTIVE WERKGENESEN VON DRAMEN 5. S HAKESPEARE IN L OVE | 157 5.1 Das Konstrukt ‚Shakespeare‘ | 157 5.2 Drama, Theater und Film | 164 5.3 Die Romeo and Juliet-Konstruktion | 171 6. F INDING NEVERLAND | 185

6.1 Wer ist Peter Pan? | 185 6.2 Neverlands Botschaft | 198 6.3 Mediale Grenzziehungen und Erweiterungen | 201

7. T HE L IBERTINE | 211

7.1 Libertinage des 2nd Earl of Rochester | 211 7.2 Die Bühne im Spannungsfeld von Schrift, Bild und Ton | 223 7.3 Blick durch die Kamera: Kreisende Kamerafahrt und Tunnelblick | 231 8. S CHILLER | 235

8.1 Drama und Musik | 235 8.2 Genieästhetik | 243 8.3 Kabale, Liebe und Schauspiel | 250 9. M OLIÈRE | 257 9.1 Stoff, Theater und Maskerade | 257 9.2 Autorschaft im Rauschzustand einer Nacht | 265 9.3 Potpourri aus Molières Werk | 270 10. ANONYMOUS | 277

10.1 Der Name als Chiffre | 277 10.2 ‚Unklare‘ Werkgenesen | 288 10.3 Rahmungen: Vortrag, Theater, Film | 293 11. Fazit und Ausblick: Zur Einordnung des Subgenres | 297 Danksagung | 307 Literatur | 309

1. Vorwort – Einleitende Gedanken zum Aufkommen des Subgenres

Nicht nur die Literatur gereichte dem Film seit seiner Entstehung zur quantitativ schier unermesslichen Vorlage,1 sondern auch deren Produzenten und Produzentinnen. Seit EDGAR ALLEN [sic] POE (1909) wurden die Biographien von Autor/innen wiederholt filmisch narrativiert. Innerhalb dieser über 100-jährigen Tradition lassen sich retrospektiv natürlich verschiedene Tendenzen, mitunter sogar Subgenres ausmachen, wie Sigrid Nieberle in ihrer Studie zu Literarhistorischen Filmbiographien anhand einer Untergliederung von Autorendarstellungen im deutschen Film von 1909-2007 darlegt. Das jüngste Subgenre in der Darstellung von Autorenbiographien im Spielfilm, das Nieberle aus zeitlichen Gründen nicht mehr in seiner Gesamtheit in ihre Betrachtung aufnehmen konnte, lässt sich mit dem Titel ‚Fiktive Werkgenesen‘ umschreiben. Damit sind Filme gemeint, die in der Zeit zwischen SHAKESPEARE IN LOVE (1998) und ANONYMOUS (2011) – hauptsächlich in westlichen Filmproduktionen – entstanden sind und sich durch eigene Merkmalsstrukturen klar von der Gesamtheit früherer Darstellungen von Autoren und Autorinnen unterscheiden lassen. Fiktive Werkgenesen zeichnen sich dadurch aus, dass die Darstellungen der Autorenbiographien nicht als Narration über eine historische Person (im Film selbstverständlich fiktionalisiert) gestaltet ist, sondern unter dem Gesichtspunkt der Entstehung (Genese) eines oder mehrerer (meist kanonischer) Werke des/der betreffenden Autors/Autorin (um-)gedeutet wird. Um in der Analyse jeweils zwischen den historischen Personen und deren fiktiven Pendants klar unterscheiden zu können, werden daher die fiktiven Figuren nach der ersten Nennung ihres vollständigen Namens mit dem Vornamen bezeichnet, während die historischen 1

Wie Kai-Marcel Sicks anmerkt, beziehen sich „[e]twa 80% aller HollywoodProduktionen […] auf zeitlich vor dem Film verfasste (wenn auch oft unbekannte) Romane; im europäischen Kino dürfte die Quote kaum niedriger liegen.“ Vgl. KaiMarcel Sicks, S. 284.

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Personen ab der zweiten Nennung nur noch mit dem Nachnamen genannt werden. Durch das zuvor genannte Vorgehen in fiktiven Werkgenesen wird die Biographie in eine dramaturgisch geschlossene Form im Sinne einer Erfolgsgeschichte umgeschrieben, deren Ziel die Entstehung des Werks ist. Es kommt also zu einer fiktiven (eventuell auf historische Fakten rekurrierenden) Narration der Entstehungsgeschichte eines als kulturell wertvoll angesehenen Werks im Medium Film. Eng damit verbunden ist die pointierte Darstellung verschiedener Medien, die sich schon allein durch die Darstellung des Werks ergibt, aber auch darüber hinausreichend Medien in ihren Eigenschaften, Darstellungsmöglichkeiten und Grenzen erfasst. Dass das Aufkommen und die Popularität des Subgenres der fiktiven Werkgenesen parallel zur Digitalisierung des Films verlaufen, ist bei Betrachtung dieser Merkmale kaum verwunderlich. Spätestens hier wird die Popularität des Subgenres unter dem Zeichen der Verunsicherung des Films als Medium im Zeitalter der Digitalisierung und der damit einhergehenden medialen Neuerfindung sinnhaft. Um dieses zeitlich begrenzte Subgenre adäquat erfassen zu können, bedarf es daher eines erweiterten Analyseblicks, der sich nicht nur auf die Frage nach der Art der Darstellung eines Autors/einer Autorin beschränkt. Nichtsdestotrotz wird nach wie vor auf die Figur des Autors/der Autorin rekurriert, die im Zuge der fiktiven Werkgenesen allerdings im Sinne des Schriftstellers bzw. schreibenden Subjekts als Autor/in zu kurz greifen würde. Gerade im Zug der Darstellung verschiedener Medien ist es nur logisch, dass neben Schriftsteller/innen auch Musiker/innen und Künstler/innen immer wieder thematisiert werden. Der Einfachheit halber werden all diese kreativ-schaffenden/-wirkenden Personen unter dem hier gedehnten Begriff ‚Autor/in‘ subsumiert.2

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Wohl wissend, dass diese Dehnung den ohnehin problembehafteten Begriff ‚Autor/in‘ weiter strapaziert, erscheint sie mir an dieser Stelle dennoch sinnvoll, da ausholende Umschreibungen wie ‚künstlerisch Schaffende‘ nicht alle Protagonist/innen fiktiver Werkgenesen umfassen können. Solche Umschreibungen wirken notwendig verkürzend, denn unter diesem Begriff lassen sich weder Wissenschaftler/innen (z.B. DSCHUNGELKIND, 2011, R: Roland Suso Richter), denen der Status ‚künstlerisch‘ kaum zugesprochen werden könnte, noch Drehbuchautor/innen (z.B. ADAPTATION, 2002, R: Spike Jonze), deren Werke ebenfalls nicht den Status eines ‚Kunstwerks‘ ohne Weiteres innehaben, zusammenfassen und die damit ausgeklammert werden müssten. Um diese Verkürzungen in der Gesamtbetrachtung fiktiver Werkgenesen nicht vornehmen zu müssen, ist daher der Begriff ‚Autor/in‘ in gedehnter Begriffsbedeutung als Lösung gewählt worden.

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Als Darstellung einer Biographie einer historischen Person greifen fiktive Werkgenesen im Umgang mit den Autorenfiguren auf bereits etablierte Muster zurück, die sich seit EDGAR ALLEN [sic] POE herausgebildet haben. Nieberle fasst diese folgendermaßen zusammen: Alle diese Filme erzählen von sozial inkommensurablen Figuren, die Schwierigkeiten in ihrem Umfeld haben, die rebellieren, sich unkonventionell verlieben, der Verführung von Drogen erliegen, mitunter deutliche Symptome psychischer Labilität entwickeln und sich für ihre Literatur ‚opfern‘ – kurz gesagt: Sie erzählen von Figuren der Devianz, die zum einen die „Legende vom Künstler“ stets aktualisieren und zugleich in zumeist konventioneller Weise affirmieren.3

Neben dieser Referenz auf historische Autor/innen lassen sich – wie zuvor angedeutet – in fiktiven Werkgenesen zwei weitere Referenzebenen ausmachen: Die Referenz auf eines oder mehrere Einzelwerke (jeglichen Mediums) und die Referenz auf die Medien selbst sowie deren Eigenschaften. An den Grenzen zwischen Film-, Literatur- und Medienwissenschaft, zwischen Biographie- und Intermedialitätsforschung ist die systematische Erfassung dieser drei Referenzebenen hilfreich, komplexe Strömungen im Film der Jahrtausendwende zu verstehen und unter einem neuen Gesichtspunkt zu erforschen. Wie Siegfried Kracauer bereits 1928 in seinem Zeitungsartikel „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ festgestellt hat, dient der Film (bis heute) nicht nur der Zerstreuung, sondern ist auch ein vielschichtiges Gesamtkunstwerk, das „Phantasmen und Sehnsuchtsmomente[n] der jeweiligen Epoche bzw. des Publikums“4 offenlegt: Die Filme sind Spiegel der bestehenden Gesellschaft. Sie werden aus den Mitteln von Konzernen bestritten, die zur Erzielung von Gewinnen den Geschmack des Publikums um jeden Preis treffen müssen. […] Daß die Filme in ihrer Gesamtheit das herrschende System bestätigen, ward an der Erregung über den Potemkin-Film offenbar. Man empfand sein Anderssein, man bejahte ihn ästhetisch, um das mit ihm Gemeinte verdrängen zu können. Ihm gegenüber vergingen die Unterschiede zwischen den einzelnen Filmgattungen der deutschen oder auch amerikanischen Produktion, und es erwies sich als bündig, daß die Produktion die einheitliche Äußerung der einen und gleichen Gesellschaft ist. […] Die Gesellschaft ist viel zu mächtig, um andere Bildstreifen als die ihr genehmen zu gestatten. Der Film muß sie spiegeln, ob er will oder nicht.5

3

Sigrid Nieberle (2008), S. 2.

4

Ebd., S. 27.

5

Siegfried Kracauer, S. 279f., Hervorhebung im Original.

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Der These folgend, dass die Popularität fiktiver Werkgenesen zwischen 1998 und 2011 einer Neuorientierung des Films im Zug der Digitalisierung geschuldet ist, ist die Referenz auf andere Medien in fiktiven Werkgenesen im Gegensatz zur Referenz auf den/die Autor/in und dessen/deren Werke das Charakteristikum, das das Subgenre am markantesten von früheren Darstellungen trennt. Die Filme werden somit zu einem der Anzeichen für diese Umorientierungsphase6 und sind damit (wie Kracauer für frühere Momente der Filmgeschichte feststellte) einmal mehr (aktiver) Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse. Die auffällige Einbindung von als distinkt divergent verstandenen Medien in fiktive Werkgenesen verweist dabei auf eine ganz ähnliche Umbruchssituation in der Filmgeschichte: In seinen Anfängen machte der Film bereits etablierte Unterhaltungsmedien wie Literatur, Theater und Oper für die eigene Etablierung als solches zum Darstellungsgegenstand. Im Zug der Digitalisierung um die Jahrtausendwende sieht sich das Medium neuen An- bzw. Herausforderungen gegenüber und versucht diesen erneut durch einen Rückgriff auf andere Medien, denen nunmehr bzw. nach wie vor ein künstlerischer Gehalt zugesprochen wird, zu begegnen, um sich erneut als ebenso wertvolles Medium selbst zu kennzeichnen. Dies wird auch mittels des Rückgriffs auf (meist) kanonisierte Autor/innen und deren Werke zu erreichen versucht, deren Darstellung im Film nicht nur den kanonischen Status bekräftigt, sondern auch dem Film als Transportmedium von Kulturgütern ein entsprechendes Renommee einzuräumen vermag. Durch diesen besonderen Status der medialen Referenz wird diese in der folgenden theoretischen Erfassung der drei Referenzebenen als erstes betrachtet. Dabei wird erörtert, wie Medienreferenzen in fiktiven Werkgenesen auftreten können (2.1). Startpunkt für die Betrachtung bilden Überlegungen zur Intermedialität und deren Möglichkeiten und Grenzen, um das Zusammenspiel verschiedener Medien in fiktiven Werkgenesen adäquat erfassen zu können (2.2.1). Unterteilt in schwache und starke Formen von Intermedialität lassen sich weite Teile der Medienreferenzen erfassen, die sich von Erwähnungen und Anspielungen als schwache intermediale Spielart (2.2.2) bis hin zu ‚mise en abyme‘-ähnlichen Strukturen (2.2.3) oder der Annäherung des Films an eher statische Medien wie Malerei, Photographie etc. (2.2.4) als starke intermediale Formen erstrecken. Doch Referenzen auf andere Medien werden nicht nur für das Aufzeigen eines medialen Zusammenspiels genutzt, sondern tragen auch durch einen assoziativen

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Die sich auch noch an anderen, von fiktiven Werkgenesen unabhängigen Filmgenres beobachten lässt, so beispielsweise einer wiederholten Aneignung von Computerspielen bzw. der Vermarktung des Films als Computerspiel und anderen Medienverbundsystemen.

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Gebrauch zur Gesamtästhetik des Films bei. Besonders die Einbindung von Musik dient zur atmosphärischen Untermalung und kann gleichwohl dazu verwendet werden, durch die geweckten Assoziationen eine zusätzliche Bedeutungsebene zu eröffnen (2.3.1). Dasselbe lässt sich für die Einbindung von Medien konstatieren, die dazu dient, die Darstellung im Film zu verstärken, also eine potenzierende Wirkung zu entfalten (2.3.2). Medienreferenzen werden demnach unter intermedialen, erweiternden und ergänzenden Gesichtspunkten betrachtet. Eng mit der Referenz auf Medien bleibt natürlich die Darstellung eines Einzelwerks, des/der thematisierten Autors/Autorin verbunden, da dieses sowohl in seiner medialen Qualität als auch inhaltlich in der fiktiven Werkgenese gezeigt bzw. narrativiert wird. Es kommt daher zu einer ‚Literatur-‘ bzw. umfassender ‚Werkverfilmung‘ besonderer Natur, indem das Werk (ein Buch, ein Gemälde etc.) buchstäblich verfilmt bzw. abgefilmt oder im Fall akustischer Werke auf der Tonspur wiedergegeben wird (3.1). Für die optische bzw. akustische Einbindung des Werks wird das Filmpublikum häufig in eine voyeuristische Position versetzt, indem es dem meist als intim gewerteten Akt der Werkgenese beiwohnt (3.2.1). Daneben werden die Werke auch sprachlich thematisiert, indem sie kritisch reflektiert (3.2.2) bzw. Ideen zu diesen diskutiert werden (3.2.3). Neben der optischen bzw. akustischen Einbindung wird die Genese aber auch über die Einbindung prominenter Motive des Werks im Film narrativiert, die als direktes Zitat oder als verschleierte Inszenierung erfolgen kann (3.3.1). Während das direkte Zitat präzisiert, um welches Werk es sich handelt und damit kein umfassendes Kontextwissen des Filmpublikums voraussetzt, kann die verschleierte Inszenierung nur entschlüsselt werden, wenn das Werk bekannt ist. Obgleich die Filmhandlung auch verstanden werden kann, wenn das Werk unbekannt ist, wird hier eine zusätzliche Bedeutungsebene (fast schon im Sinne eines spot the hint) eröffnet, deren Erschließung seitens der Rezipient/innen eine (wenn auch mitunter minimal gehaltene) interpretatorische Leistung erfordert. Die Darstellung für das Werk bedeutsamer Motive bzw. (soweit eine Handlung vorhanden) dem Durchleben des (meist Haupt-)Handlungsstrangs durch die Autorfigur wird in fiktiven Werkgenesen an die Behauptung geknüpft, dass nur dann ein Werk entstehen kann, wenn dieses autobiographische Bezüge aufweist – seien diese nun historisch belegt oder fiktiv für die Filmhandlung erzeugt (3.3.2). Es kommt damit zu einer eigenen, mitunter einschränkenden Interpretation des Werks. Parallel dazu erfüllt die Referenz auf das Einzelwerk auch die Funktion, durch die mitunter spannend, dramatisch etc. inszenierte (fiktive) Genese des Werks, Interesse am Originalwerk zu erzeugen. Ähnlich einem Klappentext wird also eine ‚werbende‘ Funktion im Sinne von Gérard Genettes Paratext erfüllt (3.4).

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Zur Vollständigkeit der Referenz auf Einzelwerke und deren Genese gehört gleichzeitig auch eine Referenz auf deren Produzent/innen. Dementsprechend bedeutsam ist auch die Autorreferenzebene für fiktive Werkgenesen, die sich damit konträr zum vermeintlichen Tod des Autors und dessen ‚Widerauferstehung‘ in der jüngeren Literaturwissenschaft verhält, indem hier stets klare, unhinterfragte Bezüge zwischen Autor/in, Werk und dessen Bedeutung hergestellt werden (4.1). Die Autorfigur lässt sich ungeachtet der individuellen Ausgestaltung und Narration der auf die Werkgenese zugeschnittenen Biographie in verschiedene Facetten aufteilen, die Autorschaft zwischen Beruf und Berufung, zwischen isolierter Arbeit und gesellschaftlicher Verehrung als Star ansiedeln (4.2.1). In diesem Spannungsfeld verortet sich auch die Ikonisierung und Mythisierung von Autorschaft, die in fiktiven Werkgenesen vollzogen wird (4.2.2), und das damit verbundene, aus Sturm und Drang und Romantik entlehnte, aber für die eigene Intention weiterentwickelte Genialitätskonzept (4.2.3). Darüber hinaus wird die Darstellung der Autorfigur auch von der für fiktive Werkgenesen charakteristischen (häufig im Sinne des leidenden Genies tragisch endenden) Liebesbeziehung zwischen Autor/in und einer (in der Regel gegengeschlechtlichen) Musenfigur bestimmt (4.2.4). Diese Facetten erzeugen durch ihre filmübergreifende Darstellung für die Vorstellung von Autorschaft weitreichende Identifikationspotentiale, die konträr zur Darstellung historischer Fremdheit verlaufen und einen weiteren Aspekt des ‚Mythos Autorschaft‘ ausmachen (4.3). Neben dieser im Folgenden entwickelten Systematik, in der die drei genannten Referenzebenen im Einzelnen und künstlich voneinander isoliert betrachtet werden, sollen die Einzelanalysen bestehend aus den Darstellungen von Dramenautoren helfen, die diachrone Entwicklung der fiktiven Werkgenesen nachzuzeichnen und gleichzeitig das Zusammenspiel der zuvor künstlich voneinander getrennten Referenzebenen zu betrachten. Obwohl mit dieser Auswahl der Einzelbeispiele nur männliche Dramenautoren berücksichtigt werden können,7 lässt sich die Auswahl damit begründen, dass hier die für das Genre auszumachenden Start- und Endpunkte sowie Etappen der dazwischenliegenden Entwicklungen im internationalen Raum beobachtet werden können. Die Darstellung von Dra-

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Der Film hinkt hier der aktuellen Tendenz, endlich auch Werkausgaben von Dramenautorinnen herauszugeben und so mit einer stärkeren Präsenz zu versehen, deutlich hinterher. Vgl. z.B. die 2016 durch Gaby Pailer editierte Werkausgabe zu Charlotte Schillers Literarische Schriften oder Sammlungen wie die von Tanya Caldwell herausgegebene Anthologie Popular Plays by Women in the Restoration and Eighteenth Century oder auch das von Gudrun Loster-Schneider und Gaby Pailer herausgegebene Lexikon deutschsprachiger Prosa und Dramen von Autorinnen (1730-1900).

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menautoren findet sich sowohl im deutschen, französischen, US-amerikanischen und britischen Film und damit in nahezu sämtlichen Bereichen der westlichen Filmproduktionen (die die hauptsächlichen Vertreter fiktiver Werkgenesen stellen). Gleichzeitig findet sich neben SHAKESPEARE IN LOVE oder FINDING NEVERLAND (2004), die am Mainstream-Kino orientiert sind, mit THE LIBERTINE (2004) auch das Independent Kino in der Darstellung der Dramenautoren vertreten, so dass mit der Auswahl dieser sechs Filme8 für die Einzelanalysen nahezu umfassend das Subgenre in seiner Entwicklung zwischen 1998 und 2011 abgebildet werden kann. Die zeitliche Eingrenzung fiktiver Werkgenesen auf Filme zwischen SHAKESPEARE IN LOVE und ANONYMOUS ergibt sich aus der Vorlagenfunktion, die die Darstellung der drei Referenzebenen in SHAKESPEARE IN LOVE innehat. Dass SHAKESPEARE IN LOVE bis 2011 wiederholt zum Vorbild genommen wurde, liegt sicherlich nicht zuletzt an dessen kommerziellen Erfolg.9 Die in der Nachfolge wiederholt imitierte Verzahnung von Autorbiographie und Werkgenese, die in SHAKESPEARE IN LOVE verwendet wird, führt zu einer zwangsweisen Vernachlässigung der Darstellung einer Gesamtbiographie oder zumindest der von größeren Zeiträumen aus dem Leben der thematisierten Personen mitsamt des historischen Kontextes, wie sie bis in den meisten Produktionen kurz vor bzw. parallel zu SHAKESPEARE IN LOVE noch zu finden sind.10 Alle Anekdoten, historischen Fakten und die unzähligen fiktiven Ergänzungen in der biographischen Narration werden in fiktiven Werkgenesen in den Zusammenhang der Werkgenese gestellt, sind Vorbedingungen derselben, beeinflussen sie oder reflektieren in Form einer autobiographischen Umdeutung die Bedeutsamkeit des während der Filmhandlung entstehenden Werks. Darüber hinaus gelangt der Film mithilfe der fiktiven Werkgenesen zur Positionierung als kulturell bedeutsam, insofern kanonische Werke innerhalb des Mediums adaptiert und transpor-

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Im Einzelnen: SHAKESPEARE IN LOVE (5.1), FINDING NEVERLAND (5.2), THE LIBERTINE (5.3), SCHILLER (2005) (5.4), MOLIÈRE (2007) (5.5), ANONYMOUS (2011) (5.6).

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Insbesondere die Vorlagenfunktion von SHAKESPEARE IN LOVE für BECOMING JANE wurde in der Forschung bereits wiederholt betont. Vgl. beispielsweise Marina Cano López/Rosa María García-Periado; Lisa Hopkins (2009, Relocating Shakespeare and Austen on Screen), S. 130. Dass sich die Vorlagenfunktion aber darüber hinaus auf ein ganzes, mit SHAKESPEARE IN LOVE etabliertes Subgenre erstreckt, soll mit dieser Arbeit aufgezeigt werden.

10 Beispielsweise sind hier MRS. PARKER AND THE VICIOUS CIRCLE (1994), OSCAR WILDE (1997), DANGEROUS BEAUTY (1998) oder DIE BRAUT (1998) zu nennen.

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tiert werden, und gleichzeitig Selbstreflexion des eigenen Mediums betrieben werden kann. Während die Inszenierung Shakespeares in SHAKESPEARE IN LOVE über die fiktive Werkgenese also die Darstellungsverfahren der Filme in der Nachfolge bestimmt hat, wird mit ANONYMOUS bewusst mit der Darstellung in SHAKESPEARE IN LOVE gebrochen: Der Autor ‚Shakespeare‘ wird in ANONYMOUS postmodern als Chiffre demaskiert; die Fiktionalität der Werkgenese durch die mediale Verschachtelung eines Vortrags, der in ein Theaterstück überleitet, das in die eigentliche Filmhandlung überleitet (und das alles wiederum gerahmt durch das Medium Film) offengelegt; die geschlossene Handlung, deren einzelne Szenen stringent auf die Werkgenese verweisen, zugunsten einer offeneren Handlung aufgebrochen, die auch Sequenzen zulässt, die nicht auf die Werkgenese hin umgedeutet werden. All diese Punkte sorgen für eine bewusste Distanzierung von den Darstellungsverfahren der vergangenen Jahre, so dass hier von einem (wenngleich nach wie vor nur vorläufig gesetzten) Endpunkt zu sprechen sein muss. Ob das Darstellungsverfahren der fiktiven Werkgenesen erneut aufgegriffen wird oder anderen Narrationsschemata zur Inszenierung von Autorfiguren weichen muss, kann derzeit noch nicht abschließend beantwortet werden. Interessant ist jedenfalls die in verhältnismäßig kurzer Zeit aufeinanderfolgende Darstellung von Shakespeare bzw. dem Mann hinter der Chiffre, die Rückschlüsse auf die Bedeutung des Autors und seiner Dramen für die westliche Kultur um die Jahrtausendwende zulässt. Mit diesem Start- und (vorläufigem) Endpunkt soll mit der hier vorliegenden Arbeit ein Zugang zur Analyse dieses Subgenres geschaffen werden, der spezifisch auf diese Filmgruppe zugeschnitten ist. Damit sollen frühere Forschungsansätze ergänzt werden. Besonders herauszugreifen ist dabei die oben bereits angesprochene Studie von Nieberle, die bemüht ist, die Darstellung von Autor/innen im deutschen Spielfilm von 1909 bis 2007 in einer diachronen Entwicklungslinie darzustellen und damit erstmals systematisch zu sichten und in ihrer Relevanz erstens für die Konstruktion literarischer Autorschaft, zweitens für die Einspeisung in ein filmisches Gedächtnis der Literaturgeschichte und die dadurch entstehenden medialen Interferenzen sowie schließlich drittens auf ihre wiederkehrendenden narrativen Schemata hin zu untersuchen.11

Nieberle unterteilt dabei verschiedene Phasen: In der Zeit von 1912-1932 beschäftigt sich der Film mit den „Sängern der deutschen Nation“ (Körner, Goethe,

11 Sigrid Nieberle (2008), S. 2.

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Heine und Schiller), woran sich die propagandistische Verwendung Lessings und Schillers im dritten Reich anschließt.12 Der nach dem zweiten Weltkrieg in der BRD erfolgende Aufschwung des Heimatfilms findet sich im Bereich der literarhistorischen Filmbiographien zumindest mit einem Beispiel (ROT IST DIE LIEBE, Karel Hartl (Regie), BRD 1956) vertreten.13 Von dort leitet Nieberle über einen Vergleich der Darstellung der Brüder Grimm in den beiden Filmen von 1962 und 200514 über zu den ‚Neuansätzen der 1970er Jahre‘. Dieser Neuansatz in der filmischen Autorbiographie zeichnet sich durch einen „eindrückliche[n] Paradigmenwechsel“15 aus, der bedingt durch den Niedergang der Studioära und ein neues Interesse am Anti-Helden im Film zu veränderten Narrativen führte: Die beiden hauptsächlichen Tendenzen der Biographik im 20. Jahrhundert – die „Psychologisierung und Heroisierung“ historischer Personen –, die sich teils zuwiderliefen und teils ergänzten, sind nicht ohne die Rezeption der Pathographie zu denken, die um 1900 einsetzte und, u.a. basierend auf der sogenannten Degenerationstheorie, unheilvolle Sondierungsraster für geistige Gesundheit und Krankheit etablierte. Gleichsam in der sozialkritischen und psycho-empathischen Retrospektive unterzogen die Filmemacher der 1970er Jahre das literarhistorische ‚Genie‘ einer erneuten Sichtung, indem sie von Umständen und Bedingungen für dessen Kreativität erzählten. Die Demontage des heroischen Narrativs im Dichterfilm der 1970er Jahre erfolgt auf drei Feldern der Devianz, nämlich in psychischer Hinsicht (Lenz als Psychotiker [LENZ (1971), George Moorse (Regie), L.Z.]), in juristischer Hinsicht (May als krimineller Phantast [KARL MAY (1974), Hans-Jürgen Syderberg (Regie), L.Z.]) und ideologisch-sexueller Hinsicht (Kleist als Idealist und Homosexueller [HEINRICH (1977), Helma Sanders-Brahms (Regie), L.Z.]).16

Parallel zu den Neuansätzen im westdeutschen Kino lassen sich auch für Produktionen der DEFA in den Jahren 1979 bis zu ihrer Auflösung 1992 Erneuerungen des Genres beobachten,17 die in die Genre-Innovationen ab den 1990er Jahren münden, wobei hier eine der markantesten Neuorientierungen innerhalb der Darstellung von Autorenbiographien mit den fiktiven Werkgenesen ab 1998 eingesetzt hat. Das Subgenre lässt sich demnach als nächster Schritt in dieser (von Nieberle allerdings in ihrer Untersuchung auf den deutschen Film beschränkten)

12 Vgl. ebd., S. 83-129. 13 Vgl. ebd., S. 130-137. 14 Vgl. ebd., S. 137-149. 15 Ebd., S. 149. 16 Ebd., S. 150. 17 Vgl. ebd., S. 171-200.

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Entwicklungslinie ausmachen, der im Folgenden in den internationalen, meist aber auf das westliche Kino beschränkten Ausprägungen analysiert werden soll. Dabei folgt die Darstellung in fiktiven Werkgenesen in vielen Punkten den von Nieberle anschließend an ihre diachrone Untersuchung herausgearbeiteten prominenten Motiven der filmischen Darstellung von Autor/innen: Die obligatorische Liebesgeschichte findet sich nach wie vor ebenso ausgeprägt als Narrativ wie die filmisch dargestellten Definitionen von Genie und Wahnsinn. Andere Motive hingegen (wie trial scenes, in denen sich die Autor/innen vor Gericht verantworten und das eigene Werk verteidigen müssen) treten zugunsten der stärkeren Prominenz der Werkgenese und der Medien generell in fiktiven Werkgenesen in den Hintergrund. Als Genre lassen sich fiktive Werkgenesen zwischen den Filmgenres biographical pictures (also Biographien realer Personen im Spielfilmformat, kurz: biopics) und heritage cinema (also historisierenden Kostümfilmen) verorten, die um das Narrativ des Künstlermythos ergänzt werden. Dabei sind sowohl die Mainstream-orientierten Filme als auch die Filme aus Independent Produktionen darum bemüht, den Anschein historischer Authentizität (soweit sie in der Vergangenheit spielen) bzw. (in den selteneren Fällen noch lebender Autor/innen) einen klaren Gegenwartsbezug zu wahren.18 Es entsteht so eine für die Darstellung von Autor/innen im Film charakteristische Genremischung, die durch die Kombination eigene filmische Ausdrucksmöglichkeiten eröffnet und auch in fiktiven Werkgenesen genutzt wird, um die Autorbiographie narrativieren zu können. Bis in die 1950er Jahre hinein, der Hochzeit der biopics, standen auch die Biographien von Autor/innen immer wieder im Interesse filmischer Inszenierung. Obwohl das Genre biopic ab den 1970er Jahren für mehr oder weniger ausgestorben gehalten wurde, lässt sich ein (wie Nieberle beispielsweise für den deutschen Film herausgearbeitet hat) ungebrochenes Interesse an der filmischen Darstellung von Autorschaft verzeichnen. Insgesamt definiert George F. Custen das Genre, das er hauptsächlich während seiner Blütezeit in der Studioära untersucht, als „film […] that depicts the life of a historical person, past or present.“19 Weiter führt er aus:

18 Beispielsweise wird in THE LIBERTINE konsequent auf Beleuchtungstechniken verzichtet, die nicht zur Zeit der Filmhandlung bereits zugänglich waren. Das Set wird daher in der Regel mit Kerzenlicht beleuchtet, was den Film insgesamt für heutige Rezeptionsgewohnheiten eher dunkel und diffus macht, gleichzeitig aber einen deutlichen Authentizitätsmarker zu setzen vermag. 19 George F. Custen, S. 5.

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Biography is mediated through the creation of and competence in symbol systems, and the cinematic version of such mediation has antecedents long before there was a film industry or even the technology of film. While undoubtedly people recalled tales of ancestors and other previous significant figures in their lives, the creation of notation systems (written language, iconic representations) more than the performance of a life through dance, gesture, or music created a sense of biography that located it in a particular permanent form. Biography thus arguably became the basis of the earliest forms of literature, for one of the oldest human impulses is to record for posterity something of the lives of one’s fellows. This expression is found on prehistoric slabs and scraps of papyrus, and even, as we know, on cave walls.20

Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich selbst der frühe Film der Darstellung historischer Persönlichkeiten und deren (wenn auch teilweise nur ausschnitthaft erzählten) Biographien zugewendet hat. So findet sich mit THE EXECUTION OF MARY QUEEN OF SCOTS im Jahr 1895 bereits ein erstes Beispiel.21 Die Darstellungscharakteristika in biopics variieren dabei aber, wie Custen anmerkt, von Generation zu Generation, jeweils abhängig davon, wie ‚fame‘ jeweils interpretiert wird, da die Darstellung einer historischen Person immer davon abhängt, dass ihr für den Moment Ruhm und ein Potential als Idol zugesprochen wird.22 Die häufige Produktion von fiktiven Werkgenesen in der Zeit von 1998 bis 2011 zeigt, dass Ruhm und Vorbildhaftigkeit, deren Darstellung mit intermedialen Stilmitteln angestrebt werden, in dieser Zeit eng mit kanonischer Beständigkeit verbunden sind. Fiktive Werkgenesen erlauben somit einen Rückschluss auf die zeitgenössische Vorstellung von tradierungswürdigen Narrationen über historische Personen. Gleichzeitig merkt Custen kritisch an, dass [w]hile much of the biographical doings in Hollywood films seem, from the professional historian’s perspective, to constitute a slightly deranged form of Dadaism, these films undoubtedly cultivated, for many viewers, images of what the life of, say, Madame Curie was really like. Not only did films order and in some instances create history, they also virtually defined for uninitiated viewers entire realms of endeavor and ways of being. […] In many cases, in seeing biopics, filmgoers were witnessing the first visual attempt to re-

20 Ebd. 21 Vgl. ebd. 22 Vgl. ebd., S. 6f.

18 | FIKTIVE W ERKGENESEN create a narrative that they knew of only from reports in school texts or newspapers. The re-creation becomes, de facto, the only version of history they will ever see.23

Obgleich Custen hier das Fiktionalitätsbewusstsein weiter Teile des Filmpublikums negiert,24 sind seine kritischen Überlegungen nicht ganz von der Hand zu weisen, da mit fiktiven Werkgenesen nicht nur der Film als Transportmedium von Kulturgütern seine Daseinsberechtigung legitimiert, sondern die tradierte Vorstellung über die in fiktiven Werkgenesen dargestellten Inhalte beeinflussen und teilweise verzerren kann. Wie Custen weiter ausführt, kann in biopics eine beispielhafte Illusion von Präsenz und Wahrhaftigkeit erzeugt werden, die nicht selten das Bild der dargestellten realen Person exzessiv mitprägt: „In lieu of written materials, or first-hand exposure to events and persons, the biopic provided many viewers with the version of a life that they held to be the truth.“25 Neben der Darstellung der historischen Person (in fiktiven Werkgenesen von Autor/innen) wird die dargestellte Biographie durch ein als ‚authentisch‘ ausgewiesenes Setting und eine ebensolche Kostümierung in fiktiven Werkgenesen zumeist zu bestätigen gesucht. Selbst minimalistische Ausbrüche, wie sie in SHAKESPEARE IN LOVE zu finden sind,26 sorgen letztlich nicht für eine radikale Negierung der typischen Darstellungsformen des heritage cinema. Diese werden eher durch in vielen fiktiven Werkgenesen gesetzte Fiktionalitätssignale unterlaufen, wohingegen Kostümierung und Setting weitestgehend einer Vorstellung historischer Authentizität entsprechen. Ginette Vincendeau definiert das Genre in der Einleitung seines Sammelbandes Film, Literature, Heritage folgendermaßen: „Heritage cinema […] refers to costume films made in the past twenty years or so, usually based on ‚popular classics‘ (Foster, Austen, Shakespeare, Balzac, Dumas, Hugo, Zola).“27 Ebenso wie das klassische heritage cinema zeichnen sich auch fiktive Werkgenesen obendrein durch eine zunehmende Co-

23 Ebd., S. 16f. 24 Insbesondere mit seiner (von ihm selbst bereits abgeschwächten) Behauptung: „[M]ost viewers, at least in part, see history through the lens of the film biography“. Ebd., S. 2. Auch Doris Berger geht von der Annahme aus, dass „[b]iographische Spielfilme […] das Wissen über historische Figuren [prägen, L.Z.] und […] eine eigene Wirklichkeit [bilden, L.Z.], die sich nicht mit wahr oder falsch in Bezug auf die Historie begreifen lässt.“ Doris Berger, S. 35, Hervohebungen im Original. 25 Ebd. 26 Vgl. Kapitel 5.1 dieser Arbeit. 27 Ginette Vincendeau, S. XVII.

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Operationsform verschiedener Nationen (im Fall fiktiver Werkgenesen meist west-europäisch und amerikanisch) aus. Durch den bewussten Verzicht das Werk in Form einer Literatur- bzw. Werkverfilmung zu inszenieren, sondern dessen (fiktive) Entstehungsgeschichte zu thematisieren, sowie die zuvor angesprochenen akzentuierten Verweise auf die eigene Fiktionalität distanzieren sich die Filme aber gleichzeitig vom dem heritage cinema anhaftenden „innate escapism and their promotion of a conservative, bourgeois, pastoral, ‚English‘ [auch auf andere Nationen übertragbare, L.Z.] national identity.“28 Was Custen für die biopics der 1950er Jahre als äußerst problematisch wertet, wird hier durch verschiedene Signale unterlaufen: Die Filme charakterisieren sich selbst als ‚story‘,29 als Erzählung ‚frei nach Motiven von …‘30 oder geben sich als Literaturverfilmung zu erkennen.31 Nichtsdestotrotz besitzt Claire Monks Schlussfolgerung auch für fiktive Werkgenesen Gültigkeit: „[T]he implied reaction against heritage suggests they be termed ‚post-heritage‘. […] But, paradoxically, the post-heritage films revel in the visual pleasures of heritage, even as they seem to distance themselves.“32 Wie Ginette Vincendeau anmerkt, erzeugen die Filme durch ihre aufwendige Historisierung der Kostüme und des Drehortes „what one might call a ‚museum aesthetic‘.“33 Für SHAKESPEARE IN LOVE bietet sich hier eine besondere Parallele, da nicht nur im Film aufwendige Nachkonstruktionen des Rose und des Curtain Theatres als Handlungsort eingesetzt werden, sondern obendrein in den 1990ern auch eine Nachbildung des Globe Theatre in London errichtet wurde und somit auch heute noch Shakespeares Dramen in einem (möglicherweise) historischen Kontext aufgeführt werden können.34 Inwieweit eine wirklich authentische Aufführung überhaupt möglich ist, ist besonders unter dem Aspekt

28 Claire Monk, S.7. 29 Wie zum Beispiel in MISS POTTER. 30 Wie zum Beispiel in SCHILLER. 31 Wie zum Beispiel in THE HOURS. 32 Clarie Monk, S. 7f. 33 Ginette Vincendeau, S. XVIII. 34 Doch die Nachbildung ist nicht unumstritten; vgl. Gabriel Egan, S. 185-189. Auch Julianne Pidduck stellt Beobachtungen zu dem aktuellen ‚Zeitgeist‘ des heritage cinema und dem rekonstruierten Globe Theatre an; vgl. Julianne Pidduck. Wie Annette Simonis allerdings überzeugend feststellt, wäre eine Umsetzung von SHAKESPEARE IN LOVE in dieser detaillierten Form ohne die aufführungsbezogene Shakespeareforschung und ihre Ergebnisse nicht möglich gewesen; vgl. Annette Simonis, S. 35.

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des presentism fraglich. Ingo Berensmeyer erläutert dieses Phänomen in seinem Artikel „Staging Restoration England in the Post-Heritage Theatre Film“: Every period creates its own images of the past. Although historical novels, plays and films rarely acknowledge it, they can often tell us at least as much about their own time as about the period in which their stories take place. […] Because they inevitably make selections from historical material, because they omit and emphasise or even change particular elements from the available historical evidence, the stories we tell about the past are also stories we tell about ourselves and our own time. They create a ‚usable past‘, one that is not infrequently tailored to a contemporary audience’s habits, tastes and desires.35

Um Kracauers oben genannter These über den Film zu folgen, dass er dazu beiträgt, Aussagen über die soziokulturellen Umstände seiner Entstehungszeit zu ermöglichen, ist es unabdinglich danach zu fragen, warum gerade in der Zeitspanne von 1998 bis 2011 die nach eigenen Gesetzmäßigkeiten der intermedialen Verflechtung produzierten fiktiven Werkgenesen so populär waren – bzw. Bestandteile davon immer noch populär sind, da zur Zeit auch weiterhin Filme über Autor/innen gedreht werden, die rudimentär auf die Charakteristika von fiktiven Werkgenesen zurückgreifen, ohne dabei die gesamte Merkmalspalette aufzuweisen.36 Durch die fehlende diachrone Distanz und den damit einhergehenden Überblick kann eine mögliche Antwort zurzeit nur ansatzweise gegeben werden, doch zeigt sich eine markante Parallele zwischen den fiktiven Werkgenesen, die noch heute gelesene bzw. rezipierte Werke in einem ganz neuen Maß präsent zu halten im Stande sind und der Möglichkeit – wenn auch sicherlich nur einer unter vielen – den Milleniums-Zeitraum rückblickend als Epoche einer ‚Nostalgiekultur‘37 zu fassen. Sogenannte ‚Mittelalter-Revival-Feste‘, die sich (in wenig akkurater begrifflicher Ausdeutung) bis in die antike Zeit der römischen Besetzung Germaniens zurückstrecken,38 finden in Deutschland mehrmals jährlich in unterschiedlicher Größe, Beteiligung und an verschiedenen Orten statt. Allerdings ist dies kein na-

35 Ingo Berensmeyer, S. 13. Vgl. auch Mark Robson, S. 96; Lisa Hopkins (2009, „Recent Critical Responses and Approaches“), S. 160f. 36 Beispielsweise HITCHCOCK (2012, R: Sacha Gervasi), A WALK IN THE WOODS (2015, R: Ken Kwapis) oder STEFAN ZWEIG: FAREWELL TO EUROPE (2016, R: Maria Schrader). 37 Vgl. beispielsweise Hans Ulrich Gumbrecht, S. 121. 38 Wie etwa die Feierlichkeiten zum „2000-jährigen Jubliäum“ der Varussschlacht in Kalkriese im Jahr 2009.

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tional begrenztes, genuin ‚deutsches‘ Phänomen: In den USA finden jährliche reenactments des Sezessionskriegs statt39 und in London wurde wie schon ausgeführt ‚Shakespeares Globe Theatre‘ (unabhängig zum Dreh von SHAKESPEARE IN LOVE) nachgebaut, um ein möglichst authentisches, wenngleich in seiner Authentizität umstrittenes Bühnenerlebnis für zeitgenössische Aufführungen elisabethanischer Theaterstücke erzeugen zu können – um nur zwei Beispiele aus dem anglo-amerikanischen Kulturraum herauszugreifen. Doch nicht nur über reenactments von Schlachten oder Nachbildungen von Gebäuden lässt sich die ‚Nostalgiekultur‘ begreifen, sondern auch über Filme wie die hier thematisierten fiktiven Werkgenesen. Dieses Interesse kann mit Hans Ulrich Gumbrechts These vom Bedürfnis nach ‚Präsentifikation‘ erklärt werden: Unter „presentification of past worlds“ versteht Gumbrecht „techniques that produce the impression (or, rather, the illusion) that worlds of the past can become tangible again.“40 So führt Gumbrecht das Interesse an historischen Romanen und Filmen folgendermaßen aus: The way in which some museums organize their exhibits calls to mind the son et lumière shows that some historical sites in France began to offer in the late 1950s, as well as the appeal of historical novels like The Name of the Rose and films like Radio Days, Amadeus, or Titanic. All of this points to a desire for presentification. […] Short of always being able to touch, hear, and smell the past, we certainly cherish the illusion of such perceptions. This desire for presentification can be associated with the structure of a broad present where we don’t feel like „leaving behind“ the past anymore and where the future is blocked. Such a broad present would end up accumulating different past worlds and their artifacts in a sphere of simultaneity. Another, supplementary (rather than alternative) possibility to explain our changing relationship with the past would suggest that a new historical culture – corresponding to this new chronotope – has not yet emerged, and that a very basic (and perhaps metahistorical) level of our fascination with the past is becoming visible.41

Laut Gumbrecht befindet sich unser Begriff von ‚historischer Zeit‘ im Wandel und führt so zu einem neuen Umgang mit ‚Vergangenheit‘ und ‚Zukunft‘. Hierüber erklärt Gumbrecht auch „a renewed interest in and reorientation of the his-

39 Diese reenactments sind ihrerseits mittlerweile in den Film eingegangen, wo sie mit durchaus humoristischen Zügen betrachtet sein können, wie beispielsweise in Andy Tennants Komödie SWEET HOME ALABAMA (2002). 40 Hans UIrich Gumbrecht, S. 94, Hervorhebung im Original. 41 Ebd., S. 121f., Hervorhebungen im Original.

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torical subdiscipline of archeology“; beides erschließt sich für ihn über eine Tendenz „to emphasize the dimension of space – for it is only in their spatial display that we are able to have the illusion of touching objects that we associate with the past.“42 Auch in den hier zu untersuchenden Filmen lässt sich eine starke Betonung des Raums ausmachen, dem eine authentizitätsstiftende Funktion beigemessen wird, die den ‚Museumscharakter‘ und das Bestreben, Vergangenheit zugänglich zu machen, betont. Bevor allerdings in der Forschung weiter auf ihre soziokulturellen Implikationen eingegangen werden kann, erscheint es unabdingbar eine systematische Analyse der Filmgruppe vorzulegen. Neben der filmischen Darstellung einer (wenngleich fiktiv ausgestalteten) Biographie und einem historischen Setting spielt noch das Narrativ des Künstlermythos in die Charakteristika fiktiver Werkgenesen hinein. Die Autor/innen, Künstler/innen, Musiker/innen etc. werden hierbei zur ‚heroischen‘ Figur umgeformt, die sich als ‚Star‘ inszenieren lässt. Dieses Narrativ vom Autor bzw. von der Autorin wird um eine Form der Genialität und eine mythisch konnotierte Schöpfung eines Werks mit Hilfe der Liebesbeziehung zu einer Muse ergänzt. Entsprechend Wilhelm Diltheys skeptischer Konzeption der „Biographie als Kunstwerk“ eignen sich insbesondere historische Persönlichkeiten für biographische Zugänge, „den Standpunkt zu finden, in welchem der allgemeinhistorische Horizont sich ausbreitet und nun für einen Wirkungs- und Bedeutungszusammenhang doch dies Individuum im Mittelpunkt bleibt; eine Aufgabe, die jede Biographie doch nur annähernd auflösen kann.“43 Wie Nieberle ausführt geht es hier um den ‚Kern‘ einer Persönlichkeit, die das Wesen des Künstlers ausmacht. Diese unveränderliche Konstante vorausgesetzt, unterwirft sich die Biographie gleichsam einer historischen und damit allemal medialen Entelechie. Andererseits aber ist die literarhistorische Filmbiographie für das 20. Jahrhundert nicht mehr ohne den Ansatz von Lytton Strachey zu denken, der die berühmte Persönlichkeit ‚hinter‘ den hagiographischen oder heroischen Erzählmustern entlarven wollte.44

Das von Strachey verwendete Prinzip des ‚debunking‘ dient dazu, die dargestellte Persönlichkeit ‚menschlicher‘ zu machen, indem Anekdoten über sie erzählt, ihre Schwächen oder Neigungen enthüllt, sie mitunter sogar mit einem spötti-

42 Ebd., S. 123. 43 Wilhelm Dilthey, S. 307f. 44 Sigrid Nieberle, S. 26.

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schen Blick bedacht werden.45 Die Darstellung der Autorfigur changiert also zwischen einer auf für biopics charakteristischen Darstellung von Ruhm und einer damit einhergehenden Verehrung und Verklärung sowie der gegenläufigen Darstellung des Menschen hinter der verehrten Persönlichkeit mit verschiedenen Fehlern und Schwächen. Durch die Mischung der Genres gelangen fiktive Werkgenesen zu ihren eigenen Charakteristika. Die Fiktionalisierung der historischen Person zur Autorfigur als Protagonist einer fiktiven Entstehungsgeschichte eines Werks vollzieht sich über Anleihen an den beiden zuvor genannten, etablierten filmischen Genres und dem Narrativ des Künstlermythos. In der letztlichen dramaturgischen Gestaltung weichen fiktive Werkgenesen aber deutlich von Techniken, die aus biopics und heritage cinema bekannt sind ab. Durch die Fokussierung auf die Einbindung von Kunstwerken (zumeist fremder Medien), die mit einer fiktiven Entstehungsgeschichte versehen werden, die wiederum zum Bestandteil einer fiktiv ausgestalteten biographischen Narration werden, ergeben sich in fiktiven Werkgenesen die drei miteinander verwobenen Ebenen von Referenzen auf real Existierendes: Einmal die Verweise und Eingliederungen anderer Medien in das Medium Film als Medienreferenzen; dann die Werkreferenzen, also die Verweise auf ein oder mehrere (historische und meist kanonisierte) Einzelwerke; letztlich noch die Autorreferenzen als Verweis auf den/die thematisierte Autor/in, die nun systematisch erfasst werden sollen. Da die Dichte der Medienreferenzen in fiktiven Werkgenesen insgesamt höher liegt, als dies normalerweise für den Mainstreamfilm der Fall ist, scheint es geboten, die derzeitige Intermedialitätsdebatte nach ihren Möglichkeiten für die Untersuchung fiktiver Werkgenesen hin zu prüfen. Da fiktive Werkgenesen sowohl als Mainstream- wie auch Independent-Produktionen ein Interesse an der Darstellung von Medien zeigen, kann in der Praxis kaum eine Trennung zwischen der Debatte um Intermedialität und der Untersuchung fiktiver Werkgenesen gezogen werden.

45 Vgl. ebd.; vgl. weiterführend Ulrich Raulff.

I. Theoretische Überlegungen: Referenzebenen in fiktiven Werkgenesen

2. Medienreferenzen

2.1 F ORMEN MEDIALER R EFERENZEN IN FIKTIVEN W ERKGENESEN Das Filmgenre der fiktiven Werkgenesen erzeugt ein Modell von Autorschaft, das den/die Autor/in zu einer besonderen Persönlichkeit mit mythischen Konnotationen stilisiert, der/die ein Werk mit wie auch immer zu fassender kultureller Bedeutung im Verlauf der Filmhandlung erschafft. Dieses Modell von Autorschaft lässt sich an drei ineinandergreifenden Referenzebenen beobachten: der Ebene historischer Personen, der Ebene der in der Realität vorhandenen Werke und der Ebene des Spiels mit verschiedenen Medien. Alle drei Referenzebenen gehören für eine adäquate Betrachtung fiktiver Werkgenesen zusammen und sind in der theoretischen Erfassung daher nur künstlich voneinander getrennt. Die Betrachtung der Medienreferenzen wird dabei als Startpunkt genommen, da über die Referenzen auf als distinkt divergent verstandene Medien der Film seine eigenen medialen Charakteristiken aufzeigen kann und damit einen notwendigen Verständnisrahmen für das präsentierte Modell von Autorschaft erzeugt. Bei der Betrachtung der medialen Ebene fiktiver Werkgenesen fällt die doppelte Funktion des Mediums Film auf, das hierbei als Transport- und als Rahmenmedium fungiert: Es schafft einen Rahmen, innerhalb dessen die Handlung narrativiert werden kann, und transportiert diese an den Rezipienten. Diese doppelte über fiktive Werkgenesen hinausragende, generell zu beobachtende Grundfunktion des Films gilt in Bezug auf fiktive Werkgenesen allerdings nicht nur für die Handlung, sondern auch für die Rahmung und den Transport distinkt divergenter Medien, die in die fiktive Werkgenese auf vielfältige Art und Weise sowohl auf der histoire- als auch der discours-Ebene eingebunden sind. Die Betrachtung dieses Phänomens soll in Anlehnung an Irina O. Rajewskys Terminus ‚Systemreferenz‘ unter dem Begriff ‚Medienreferenz‘ geschehen. Rajewsky definiert die Systemreferenz als Bezugnahme und (soweit möglich) Integration ei-

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nes Mediensystems in ein konventionell als distinkt unterschieden angesehenes Medium. In fiktiven Werkgenesen ist eine erweiterte Form dieses Verfahrens zu beobachten, da hier nicht nur auf Gattungs- bzw. Genrekonventionen als System innerhalb eines Mediums in ihrer Übertragung auf ein anderes Medium rekurriert wird, sondern das Medium in seinem visuellen wie ideellen Vorhandensein filmisch erfahrbar gemacht wird. Rajewsky unterteilt die Systemreferenz in die beiden Unterkategorien der ‚Systemerwähnung‘ und der (allerdings eher metaphorisch zu denkenden) ‚Systemaktualisierung‘: Im Unterschied zur reproduzierenden Systemerwähnung wird im Falle der Systemaktualisierung aber nicht zusätzlich auch eine Illusion hinsichtlich des zur Textherstellung verwendeten Systems aufgebaut. Dieses wird bei einer Systemaktualisierung eben nicht nur in Teilen reproduziert und somit punktuell, qua Erwähnung, vorgetäuscht; es wird vielmehr aktualisiert, also tatsächlich, unter Applikation und Einhaltung teils präskriptiver, teils restriktiver Regeln, kontinuierlich zur Erzeugung des Textes verwendet. […] Ein fremdmediales System kann zwar nicht zur Texterzeugung verwendet werden, und aus diesem Grund wäre es verfehlt, auch im Bereich des Intermedialen von einer Systemaktualisierung zu sprechen, wohl aber manifestiert sich bei intermedialen Bezügen, ebenso wie bei deren intramedialen Pendants, ein Unterschied zwischen nur punktuellen Rekursen auf bestimmte fremdmediale Mikroformen und solchen Arten des Bezugs, bei denen sich ein Text durchgehend in Relation zu einem fremdmedialen Bezugssystem konstituiert.1

Rajewskys Untersuchung intermedialer Systemreferenzen in der Literatur soll hier unter dem Begriff Medienreferenzen nicht nur auf das filmische Medium übertragen werden, sondern auch auf nicht explizit intermediale Bezüge erweitert werden. Zwar sind Teile der Medienreferenzen als tatsächlich ‚intermedial‘ zu werten, doch gehen einige Formen medialer Referenzen als Stilmittel zur Ergänzung der medialen Eigenschaften des Films über eine enge Definition von Intermedialität hinaus. Für die explizit intermedialen Referenzen muss Rajewskys Theorie für eine intermediale Analyse von Literatur an die medienspezifischen Charakteristika des Films angepasst werden, da dieser durch die Kombination visueller und akustischer Signale größere Integrationsmöglichkeiten fremder Medien nutzen kann, als dies in der Literatur möglich ist. Während in der Literatur sogenanntes ‚filmisches Schreiben‘ nur als Beschreibung im Stil eines Kameraschwenks erfolgen kann oder visuelle Elemente wie Malerei nur in einer Ekphrasis literarisch

1

Irina O. Rajewsky (2002), S. 120f., Hervorhebungen im Original.

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erfahrbar gemacht werden können, ist der Film in der Lage, Malerei als Abbildung oder Schrift als Schriftbild in seine visuelle Komponente einzugliedern. Malerei oder Schrift können sich also in das Filmbild ‚einschreiben‘, sind dabei aber nicht in ihrer eigenen medialen Qualität vorhanden, sondern lediglich Bestandteil des Filmbilds. Gleichzeitig sind natürlich auch dem Film in der Erzeugung intermedialer Strukturen Grenzen gesetzt, weil er beispielsweise nicht die interpretatorische Offenheit hermeneutischer Deutungen intermedialer Strukturen erzeugen kann, wie sie in der Literatur auffindbar sind (beispielsweise das Erkennen einer Beschreibung im Stil eines Kameraschwenks als literarisches Verfahren, das seine Charakteristika aus dem divergenten Medium Film bezieht). Stattdessen muss der Film die Interpretation dieser intermedialen Referenz in der Darstellung derselben festschreiben und büßt so Potential ein, das anderen Medien wie der Literatur inhärent ist. Der Kern filmisch intermedialer Referenzen ist daher als Integration fremder Medien, die je nach eigenem Medientyp in den Film eingearbeitet werden, zu fassen und entsprechend zu analysieren. Dabei ist zu beachten, dass der Begriff der intermedialen Referenz die Integration eines divergenten Mediums über bloßes ‚Abfilmen‘ hinaus meint. Generell können im Film sowohl visuell (z.B. das Abfilmen eines anderen Mediums wie Buch oder Gemälde) als auch akustisch (beispielsweise über Musikeinspielungen) divergente Medien integriert werden, doch ist deren Vorhandensein nicht per se intermedial – sofern man von einem engeren Begriff von Intermedialität ausgeht. Es gilt daher zu unterscheiden, inwieweit fremde Medien in dem ohnehin hybriden Medium Film genutzt werden, um typisch filmische Effekte, die den zeitgenössischen Rezeptionskonventionen entsprechen, zu erzeugen oder inwieweit diese die Wahrnehmung des Films innerhalb dieser zeitgenössischen Rezeptionskonventionen verändern. Ersteres ist mit Rajewskys Systemerwähnung gleichzusetzen, da der Film ein anderes Medium als Objekt der Handlung, gewissermaßen als ‚ergänzenden Schmuck‘ nutzt; letzteres ist selbst im Hybridmedium Film als enge Form der Intermedialität zu werten, da hierbei typische Medienkonventionen des Films durchbrochen werden und das integrierte Medium mit seinen eigenen medialen Voraussetzungen erkennbar bleibt. Durch diesen Bruch mit typischen Konventionen werden mit dem medialen Zusammenspiel Mediengrenzen überschritten und neue Medienformen erkennbar. Diese zweite Integrationsform weist demnach über eine Addition und Nebeneinanderstellung unterschiedlicher Medien hinaus, indem diese zu einem komplexen, intermedialen Medienkonstrukt vernetzt werden.2 Hierin folge ich der Definition

2

Für eine ähnliche Annahme, vgl. Kay Kirchmann/Jens Ruchatz, S. 18-26.

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von Jürgen E. Müller, der in Anlehnung an Jacques Aumonts Überlegungen zum Verhältnis von Malerei und Film formuliert: „Ein mediales Produkt wird dann inter-medial, wenn es das multi-mediale Nebeneinander medialer Zitate und Elemente in ein konzeptionelles Miteinander überführt, dessen (ästhetische) Brechungen und Verwerfungen neue Dimensionen des Erlebens und Erfahrens eröffnen.“3 Des Weiteren werden Medienreferenzen in fiktiven Werkgenesen über strikt intermediale Bezüge hinausweisend als ästhetisches Stilmittel genutzt, um eine mediale Basis für das Ausspielen von Autorschaftsmodellen zu kreieren. Hierbei wird der Film nicht in seiner filmischen Qualität bewertet und es würde den Begriff Intermedialität sicherlich zu vage werden lassen, hier von intermedialen Formen zu sprechen. Stattdessen sollen diese Bezüge als mediale Ergänzungen und Erweiterungen betrachtet werden, die durch Assoziation oder Potenzierung im Film dargestellte Bedeutungszuweisungen vervielfältigen. Die verschiedenen Kombinationen von Medien in fiktiven Werkgenesen, die als mediale Ergänzung und Erweiterung gewertet werden, tragen ebenso wie die intermedialen Bezüge dazu bei, die besondere, werk- und medienübergreifende Darstellung sowie die Konzeption von Autorschaft in fiktiven Werkgenesen zu fundieren. Darüber hinaus sorgt die enge Verschränkung von Referenzen auf das Medium und das Einzelwerk für eine charakteristische Ausprägung eines intermedial angelegten Medienbewusstseins, das den Film nicht nur als Transport- und Rahmenmedium versteht, sondern ihm obendrein eine paratextuelle Funktion zuspricht. In fiktiven Werkgenesen werden alte und neue, analoge und digitale Medien kongruent zu einer sich verändernden Mediennutzung der Rezipienten frei kombiniert. Dadurch entsteht nicht nur eine veränderte Rezeptionshaltung gegenüber dem Film – zumindest im Subgenre der fiktiven Werkgenesen –, sondern auch ein neuartig inszeniertes Bewusstsein für andere Medien wie die Schrift, deren Prominenz in fiktiven Werkgenesen in Anbetracht der Theorie des ‚pictorial turn‘ unerwartet ist. In vielerlei Hinsicht wirkt es beinahe so, als würde in fiktiven Werkgenesen für Romane, Gedichte, Dramen, aber auch andere Werke wie Gemälde und Musikstücke in gewisser Weise ‚Werbung‘ gemacht. Die Filme fungieren somit – mit Genette gesprochen – als Paratexte für (meist kanonisierte) Werke der Literatur, aber auch Musik, Kunst etc. Da dieser Aspekt der medialen Referenz auch eng mit der Referenz auf das Einzelwerk, die zweite charakteristische Ebene fiktiver Werkgenesen, verbunden ist, soll die paratextu-

3

Jürgen E. Müller (1998), S. 31f., Hervorhebungen im Original; vgl. weiterführend: Jacques Aumont; Claus Clüver.

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elle Funktion dort diskutiert werden4 – hier sei sie daher nur der Vollständigkeit halber angesprochen, da sie gleichzeitig auch zur medialen Selbstinszenierung fiktiver Werkgenesen zu zählen ist.

2.2 I NTERMEDIALE S PIELARTEN VON M EDIENREFERENZEN 2.2.1 Weitere und engere Definitionen von Intermedialität Wie bereits im vorhergehenden Kapitel angesprochen, kommt es bei der Verwendung des Intermedialitätsbegriffs darauf an, ob eine enge oder weite Definition angelegt wird, die den Geltungsbereich bestimmt. Für die Untersuchung von fiktiven Werkgenesen ist es unabdingbar – um die gesamten intermedialen Referenzen in ihren unterschiedlichen Intensitätsgraden zu erfassen – eine insgesamt weitere Definition von Intermedialität anzulegen, die die oben angeführte Unterteilung Rajewskys in Erwähnung ebenso wie die Aktualisierung umfasst. Um einer vollkommenen Beliebigkeit des Begriffs zu entgehen, folgen einige Vorüberlegungen zum (notwendigen) Intensitätsgrad der intermedialen Bezüge, die nach wie vor eine Vielzahl von theoretischen Ausdeutungen erfahren. Zu Recht hat Joachim Paech 1998 und mit fortwährender Gültigkeit konstatiert: „Intermedialität ist ‚in‘.“5 Ursprünglich geht der Terminus auf das von Samuel Taylor Coleridge verwendete ‚intermedium‘ zurück, mit dem der englische Dichter 1812 versuchte, das „narratologische[s] Phänomen“6 in der Wirkungsweise der Allegorie zu erklären. Im Kontext der Literaturwissenschaft wurde der Begriff erstmals von Dick Higgins 1966 als Bezeichnung für hybride Kunstformen wie konkrete Poesie oder ‚performance arts‘ verwendet.7 Seitdem hat der Begriff eine steigende und bis heute andauernde Popularität erfahren, die nicht zuletzt mit immer komplexer gestalteten Verhältnissen einzelner Medien zueinander (wie sie auch in fiktiven Werkgenesen in prägnanter Häufigkeit zu finden sind) zusammenzuhängen scheint. Obwohl seit den 1990er Jahren verschiedene Arbeiten mit dem Schlagwort ‚Intermedialität‘ im Titel publiziert wurden,8 ist es zum Topos der

4

Vgl. Kapitel 3.4 dieser Arbeit.

5

Joachim Paech (1998), S. 14.

6

Jürgen E. Müller (1998), S. 31, Hervorhebung im Original.

7

Vgl. Dick Higgins.

8

Vgl. beispielsweise Thomas Eicher/Ulf Bleckmann; Jörg Helbig; Jürgen E. Müller (1996); Joachim Paech/Jens Schröter (2008); Irina O. Rajewsky (2002).

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Forschung geworden, dass bislang kein Konsens darüber besteht, wie die unter dem Begriff ‚Intermedialität‘ subsumierten Analysestrategien und Untersuchungsschwerpunkte zu vereinheitlichen seien. Häufig wird sich dem vielfältig umgesetzten, medialen Zusammenspiel in Einzelanalysen gewidmet und dabei Intermedialität dem jeweiligen Forschungsgegenstand angepasst definiert.9 Dieser Umstand macht es nahezu unmöglich eine allgemeingültige Definition von der Funktionsweise intermedialer Bezüge abzuleiten. Hierin zeigt sich einerseits das nach wie vor bestehende Interesse und Potential der Erforschung intermedialer Bezüge, andererseits aber auch das Problem der Vielfältigkeit der Definitionen des Begriffs, dem obendrein noch eine Reihe gleichwertiger, ebenfalls nicht eindeutig definierter Kategorien beigeordnet werden: „‚Mulitmedialität‘, ‚Poly-‘ oder ‚Plurimedialität‘, ‚Transmedialität‘, ‚Medienwechsel‘, ‚Medientransfer‘, ‚mediale Transformationen‘[,] sind Termini, die im Rahmen dieser Debatte zum Tragen kommen, jedoch immer wieder anders definiert und verwendet werden.“10 Eine besonders weitgreifende Definition von Intermedialität findet sich in Jay David Bolters und Richard Grusins vielbeachteter Studie zu Remediation aus dem Jahr 1999, in der sie intermediale Bezugnahmen als „the way in which one medium is seen by our culture as reforming or improving upon another“11 beschreiben. Letztlich erklären sie Intermedialität zu einem medialen Basisphänomen, indem sie zu dem Schluss kommen, „all mediation is remediation.“12 Dieser medienkulturellen Studie steht eine Reihe von literatur- bzw. kunstwissenschaftlichen Arbeiten gegenüber, die sich auf einzelne Bereiche und Phänomene innerhalb der in intermedialen Bezügen verbundenen Medien konzentrieren. Bis zum Beginn des neuen Jahrtausends war daher die Hauptfrage der Intermedialitätsforschung, was nun mit dem Begriff ‚Intermedialität‘ tatsächlich gemeint sei.13 In der neueren Debatte lassen sich unterschiedliche Forschungsströmungen ausmachen, die sich „vielleicht [als, L.Z.] eine Archäologie von Intermedialität im Sinne einer Theoriegeschichte der sich wandelnden Bestimmungen und Prozesse von Medien“14 lesen lassen. Insgesamt wird von einer Zweiteilung

9

Vgl. beispielsweise Petra Anders; Gabriele Dürbeck; Susanne Gehrmann/Viola Prüschenk; Anne-Kathrin Hillenbach; Fernand Hörner/Oliver Kautny; Gustav Landgren; Anne Thurmann-Jajes; Volker Wehdeking.

10 Irina O. Rajewsky (2002), S. 6. 11 Jay David Bolter/Richard Grusin, S. 45. 12 Ebd., S. 55, Hervorhebung im Original. 13 Vgl. Irina O. Rajewsky (2014), S. 199. 14 Beate Ochsner/Charles Grivel, S. 9.

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des Begriffs ausgegangen, da zum einen Intermedialität als eher vage Begriffsbezeichnung im Sinne von Umberto Ecos Metapher eines termine ombrello von Rajewsky für die Gesamtheit der unter diesem Begriff subsumierten Analysen verwendet wird15 und zum anderen für das jeweilige Forschungsinteresse von engeren Begriffsdefinitionen ausgegangen wird, die je nach Disziplin und heuristischem Potential neu und unterschiedlich formuliert werden. Daher ist mittlerweile auch in der Pluralform von intermedialities die Rede.16 Andreas Mahler betrachtet die Pluralität der aktuellen Intermedialitätsforschung kritisch, wenn er konstatiert: Wie ‚Narratologie‘, ‚Kulturwissenschaft‘, ‚Diskursanalyse‘ gehört allem Anschein nach auch ‚Intermedialität‘ zu jenen fluchtbedingten Weitungen, mit deren Hilfe eine in Panik geratene Literaturwissenschaft gegenwärtig über eilfertige Etikettenänderung in manischdepressiven Schüben ihre Relevanz zu retten sucht. Was als modischer ‚umbrella term‘ beginnt, endet oftmals in messianisch-überstürzt ‚turn‘-bewusster Ausrufung eines neuen Forschungsparadigmas, welches kurzatmig fortschrittbezeugend Aufmerksamkeit und Gelder auf sich zieht. Übersehen bleibt dabei zumeist die innere Konsistenz und Logik der vermeintlich neuen Disziplin. In der Praxis wirkt dies proliferativ; in der Theorie verdeckt es mehrfach ein Problem. In der gegenwärtigen Intermedialitätsforschung ist dies ein Gegenstandsproblem, ein Relationsproblem und ein Problem des Erkenntnisinteresses: was verstehe ich unter ‚Medium‘, wie verstehe ich das Präfix ‚inter-‘ und was will ich im Rahmen einer ‚intermedialen‘ Untersuchung herausfinden?17

Mahler strebt einen sehr eng gefassten Intermedialitätsbegriff an, der seinen Untersuchungsgegenstand aus der Frage gewinnt, wie ein Medium als ‚Form‘ im Sinne eines Artefakts als ein ‚Etwas‘ für ‚etwas‘ stehen kann: Hieraus ergeben sich zwei wesentliche intermediale Untersuchungsbereiche: (1) die Untersuchung am jeweiligen Objekt: was gibt es für Artefakte, an denen sich ein intermediales Zusammenspiel beobachten läßt und wie lassen sich diese aus intermedialer Sicht beschreiben? (2) die Untersuchung am Subjekt: wie ist es überhaupt möglich, daß wir uns Medien (in diesem Sinne) schaffen können, und was sind die kognitiven Grundlagen von uns als mediale Wesen?18

15 Vgl. Irina O. Rajewsky (2002), S. 6. 16 Vgl. Ágnes Pethő, S. 19; vgl. auch Irina O. Rajewsky (2014), S. 199. 17 Andreas Mahler, S. 239f., Hervorhebungen im Original. 18 Ebd., S. 247.

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Diese sehr eng gefasste Definition von Intermedialität eignet sich allerdings nur bedingt für die Untersuchung intermedialer Referenzen in fiktiven Werkgenesen, in denen (nicht nur) der Film als materieller Gegenstand (in Form von DVD, Video-Kassette, Filmrolle etc.) für ‚etwas‘ anderes steht, sondern zunehmend über Streaming-Angebote diese Materialität einbüßt und darüber hinaus auch visuell und akustisch andere Medien in sich trägt und filmisch transportiert (die somit eben nicht als Artefakte greifbar sind). Daneben erfüllt der Film als Kommunikationsmedium (und damit nicht im Sinne eines Artefakts) drei Aufgaben gleichzeitig, wie Kai-Marcel Sicks ausführt: Erstens ist in der Wahrnehmung des Films eine Verfeinerung der menschlichen Sinnesorgane möglich.19 Zweitens erfüllt der Film eine Speicherfunktion: „Medien konservieren Daten und Informationen, durch ihre Archivierungsfunktion verbessern und unterstützen sie das menschliche Gedächtnis. Filme etwa halten Bilder von Bewegungsabläufen fest, ebenso wie sie eine bestimmte Kopplung von Bild und Ton der wiederholten Aneignung zugänglich machen.“20 Drittens nennt Sicks die kommunikationsmediale Aufgabe der Übertragung, wenn der Film als Medium Informationen vermittelt und dadurch menschliche Kommunikation erleichtert bzw. organisiert.21 Um das Medium Film adäquat in seiner Funktion als Kommunikationsmedium zu erfassen, muss also ein weiter gedachter Begriff des Mediums angelegt werden, der über das von Mahler geforderte Artefakt hinausreicht. Nur so ist es möglich, auch die intermedialen Referenzen in fiktiven Werkgenesen, die sich durch die filmische Abbildung und Einbindung distinkt divergenter Medien in den Film auszeichnen, benennen zu können. Mit diesem weitaus offeneren Begriff von Medium und dem Präfix ‚inter-‘, wie er sich in der aktuellen Forschung insgesamt beobachten lässt, geht, wie Sandra Poppe treffend erkennt, eine „Mehrdeutigkeit“ einher, die „zwar den Vorteil, möglichst viele mediale Erscheinungsformen zu umfassen, gleichzeitig aber den Nachteil, durch diese Offenheit an konkreter Bedeutung zu verlieren“,22 hat. Um dieses Problem zu lösen, wurde bisher häufig (in Anlehnung an den richtungweisenden Aufsatz von Aage A. Hansen-Löve)23 der Weg gewählt, Intermedialität über das bereits näher definierte Phänomen der ‚Intertextualität‘ zu erfassen und zu beschreiben:

19 Vgl. Kai-Marcel Sicks, S. 279. 20 Ebd. 21 Vgl. ebd. 22 Sandra Poppe, S. 21. 23 Vgl. Aage A. Hansen-Löve.

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Die meisten Definitionen von Intermedialität rekurrieren auf Julia Kristevas Definition von Intertextualität als ‚Transposition eines Zeichensystems [système de signe, U.W.] (oder mehrerer) in ein anderes‘, indem sie diese in einen medientheoretischen Kontext stellen. Dabei nutzen sie nicht nur den semiotischen Spielraum aus, den der Begriff ‚Zeichensystem‘ lässt, sondern stellen auch die Frage nach den medialen Transformationen und Fusionen.24

Seitens der Intermedialitätsforschung muss daher die Frage aufgeworfen werden, inwieweit sich Intermedialität und Intertextualität unterscheiden bzw. die Unterscheidung getroffen wird, „ob man bei einer medialen Transposition, also bei einer Übersetzung respektive Umsetzung einer medialen Verkörperungsform in eine andere mediale Verkörperungsform, tatsächlich schon von Intermedialität sprechen kann, oder ob es dazu nicht der Kopplung verschiedener Mediensysteme bedarf.“25 Um diese Unterscheidung zwischen Intertextualität und Intermedialität festzulegen, sind sich nahezu alle Theorien zu Intermedialität in dem Punkt einig, dass es ein (nach Karl Prümm) „intermediale[s] Beziehungsgefüge“26 braucht. Die variierenden Formulierungen in den unterschiedlichen Theorien weisen im Kern die gleiche Idee auf, so dass hier durchaus von einem Konsens in der Forschung gesprochen werden kann: Jürgen E. Müller spricht von der Notwendigkeit eines „konzeptionelle[n] Miteinander[s]“ der Medien, statt eines „multi-mediale[n] Nebeneinander[s]“27 sowie der „Integration von ästhetischen Konzepten einzelner Medien in einen neuen medialen Kontext“;28 Werner Wolf definiert es als „Kontakt zwischen verschiedenen Medien“;29 Thomas Eicher nennt es „Zusammenspiel verschiedener Medien“;30 Uwe Wirth versucht die unterschiedlichen Theorien in Anlehnung an Genettes Übernahme des biologischen Begriffs als ‚Pfropfung‘ zu fassen;31 Torsten Scheid sieht in intermedialen Darstellungsformen eine Filterungsfunktion, die er mit der Metaphernbildung analogisierend als ‚metaphorische Intermedialität‘ benennt,32 und Yvonne Spielmann

24 Uwe Wirth (2007), S. 255, Hervorhebungen im Original; vgl. weiterführend Rolf Kloepfer; Jürgen E. Müller (1996), S. 83; Volker Roloff S. 121; Horst Zander. 25 Uwe Wirth (2007), S. 256. 26 Karl Prümm (1988), S. 195. 27 Jürgen E. Müller (1998), S. 31f. 28 Ders. (1996), S. 89, Hervorhebung im Original. 29 Werner Wolf (1996), S. 86. 30 Thomas Eicher, S. 11. 31 Vgl. Uwe Wirth (2004), S. 414 und ders. (2011). 32 Vgl. Torsten Scheid, S. 22-25.

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bezeichnet es als „Wechselwirkung zwischen Medien“.33 Entscheidend ist für Spielmann dabei aber das „getrennte Vorkommen der verkoppelten Medien“.34 Ähnlich ist auch Rajewskys Minimaldefinition von Intermedialität aufgebaut als „Mediengrenzen überschreitende Phänomene, die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren.“35 Jochen Mecke und Volker Roloff fordern daher die Untersuchung der „Brüche, Intervalle, Zwischenräume, Passagen und Grenzüberschreitungen“36 bei der Betrachtung intermedialer Phänomene. Ziel der Intermedialitätsforschung nach diesem Ansatz ist es, den „Prozesscharakter des Intermedialen in den Blickpunkt“37 zu rücken und damit zu analysieren, wie sich die Wahrnehmung eines Mediums durch den intermedialen Transformationsprozess38 verändert. In seinem Aufsatz „Der Schatten der Schrift auf dem Bild“ liefert Joachim Paech hierbei für die Untersuchung fiktiver Werkgenesen einen wichtigen Ansatzpunkt, indem er das Verhältnis von Schrift und Bild im Film nicht nur anhand des naheliegenden Filmtitels und dem Zwischentitel des Stummfilms analysiert, sondern als ‚Fortschreiben‘ der Schrift im visuellen Filmraum; der Film wird so zur „ideogrammatische[n] Schrift“:39 Nicht Sprache ist der Film, sondern Schrift. Er übersetzt daher auch nicht einen geschriebenen Text in einen gefilmten, sondern schreibt ‚als Leser des wortgraphischen (literarischen oder Drehbuch-) Textes‘, dessen Spuren von der graphischen in die figurative Gestalt(ung) weiter. Diese adaptive Lektüre kann nur als Dekonstruktion des literarischen Textes im Film produktiv werden, weil die Heterogenität des filmischen Materials, dessen unterschiedliches Zeichenmaterial, die (scheinbare) Homogenität des literarischen Textes aufsprengen muß. Ein derart geteilter Text (zum Beispiel hier Literatur dort Film) bildet eine Art Hyper-Hieroglyphe, in deren heteromorpher Konstellation und Montagekonflikt sich die Verschiebung vom primär graphischen Text der Literatur zum primär figurativen Text des Films (und vice versa) vollzieht. Weil der Film eine Schrift ist, teilt sich der gele-

33 Yvonne Spielmann, S. 35. 34 Ebd., S. 36 35 Irina O. Rajewsky (2002), S. 13. Zu ähnlichen Definitionen kommen auch Werner Wolf (1996), S. 88 oder Thomas Eicher/Ulf Bleckmann, S. 18. 36 Jochen Mecke/Volker Roloff, S. 12. 37 Sandra Poppe, S. 23. 38 Vgl. Joachim Paech (1998), S. 15. 39 Ders. (1994, „Der Schatten der Schrift auf dem Bild“), S. 221.

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sene Text, wo er den gefilmten Text aus sich heraus schreibt, indem er sich jenem mitteilt.40

Mit diesen Annahmen gelingt es, Marshall McLuhans These („The crossings or hybridizations of the media release great new force and energy as by fission or fusion“41) nachzuspüren. Dem entgegengesetzt betont Niklas Luhmann die Differenzqualität der Medien, die für Luhmann „lose miteinander verbundene Elemente [sind, L.Z.], die für Form empfänglich sind.“42 Wie an den oben genannten Intermedialitätskonzepten zu beobachten ist, stehen „[a]vancierte Intermedialitätstheorien im Spannungsfeld dieser beiden Medienkonzepte. Sie verstehen die mediale Transformation als hybride Fusion, bei der zum einen das mediale und konzeptionelle Miteinander der gekoppelten Medien in den Blick genommen wird. Zum anderen soll aber auch das ‚getrennte Vorkommen der verkoppelten Medien‘ beobachtbar bleiben.“43 Die beiden grundlegenden Theorien der Intermedialitätsforschung von McLuhan und Luhmann mögen es zunächst paradox erscheinen lassen, in dem medienwissenschaftlich als ‚Hybridmedium‘ gefassten Film von Intermedialität zu sprechen, doch lässt sich in dieser zur Medieninterferenz neigenden Hybridform seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert eine gesteigerte Inszenierung von Intermedialität beobachten, die nicht nur in neo-avantgardistischen Filmen, sondern auch im Hollywood-orientierten Mainstreamkino zur (wenn auch nicht immer bewusst ausformulierten) ästhetischen Gestaltungsmöglichkeit avanciert. Wir haben es, wie Annette Simonis in Anlehnung an George Spencer Brown feststellt, „offenbar mit der Form eines Re-entry zu tun – eine künstlerisch gestaltete Form des Intermedialen tritt in eine bereits vorhandene intermediale Form – das sogenannte Hybridmedium Film – ein.“44 Diese Hochkonjunktur der Intermedialität im Film, die sich nicht zuletzt auch in fiktiven Werkgenesen beobachten lässt, hat sicherlich vielseitige Ursa-

40 Ebd. S, 219f., Hervorhebungen im Original. 41 Marshall McLuhan, S. 48. 42 Niklas Luhmann (1993), S. 354. Für die von Luhmann getroffene Unterscheidung von Medium und Form, vgl. Niklas Luhmann (1995), S. 165-173 und Niklas Luhmann (1998), S. 190-202; vgl. weiterführend den von Jörg Brauns herausgegeben Sammelband Form und Medium. 43 Uwe Wirth (2007), S. 257. 44 Annette Simonis, S. 15. Für das Konzept des Re-entry als Wiedereintritt der Form in die Form und seine mathematischen Grundlagen, vgl. George Spencer Brown, S. 5672.

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chen, wobei besonders zwei hervorstechen und heuristisch bedeutend bei der Erforschung des gegenwärtig andauernden Trends erscheinen: Zum einen lässt sich die Fokussierung intermedialer Gefüge im Film auf den intensivierten alltäglichen Umgang mit verschiedenen Medien verzeichnen, die in den Filmzuschauer/innen eine erhöhte Bereitschaft zum Medienwechsel und dem Interesse am intermedialen Zusammenspiel erzeugt.45 Zum anderen fällt dieser filmische Umbruch in den von Kulturwissenschaftlern wie Thomas Mitchell verzeichneten ‚pictorial turn‘46 des ausgehenden 20. Jahrhunderts, der in fiktiven Werkgenesen insbesondere in der intermedialen Verwendung von Schrift und Buch, aber auch den bildenden Künsten und der Musik aufgegriffen und kontrovers aufgearbeitet wird. Mit Beginn der Digitalisierung wird der Film (erneut) zum Experimentierfeld. Gerade an fiktiven Werkgenesen mit dem Fokus auf die Verfasstheit und Medialität eines (meist) fremdmedialen Werks, der damit einhergehenden Reflexion über das kreative Schaffen eines Werks und der hiermit verknüpften intermedialen bzw. medienerweiternden Einbeziehung von konventionell als distinkt verstandenen Medien gelingt es dem Film sich selbst zu Beginn einer neuen filmischen Ära (dem Zeitalter der Digitalisierung) neu zu erfinden. Die Hochkonjunktur fiktiver Werkgenesen korreliert mit diesem Bedürfnis, innerhalb des Mediums filmische Qualitäten neu zu definieren und mediale Grenzziehungen neu festzulegen und zu betonen. Der Vergleich zwischen den Anfängen des Films um 1900 und dessen Tendenzen um 2000 macht deutlich, dass es sich trotz der sui generis medienübergreifenden Darstellungsweisen um zwei verschiedene Ausprägungen der Nutzung von Medien im Film handelt, zwischen denen ein Jahrhundert Medienentwicklung und Filmgeschichte deutliche Spuren hinterlassen haben. Während das neuartige Medium Film in seinen Anfängen die Anlehnung an bereits etablierte Unterhaltungsmedien wie Theater, Oper und Literatur gesucht zu haben scheint, um über die Verwendung des Vertrauten eine eigene Positionierung in der Medienlandschaft zu erwirken, findet sich heute ein selbstbewusster Umgang des mittlerweile zum prominenten Unterhaltungsmedium entwickelten Films mit seiner Position im Vergleich zu den übrigen Unterhaltungsmedien und dem Ausloten der medial gegebenen Grenzen sowie dem Versuch, diese zu überschreiten und neu zu definieren.47 Hierbei bleiben die intermedialen Spielarten aber nicht

45 Vgl. Annette Simonis, 11-45. 46 Vgl. W. J. Thomas Mitchell. 47 Technisch ist hierbei sicherlich der ‚Sprung‘ in 3D ein Meilenstein, der dem Film noch mehr ‚Tiefe‘ und damit noch mehr illusorische Realität, wenn nicht gar ‚Hyperrealität‘ einschreiben soll.

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auf die ‚älteren‘ Medien fixiert, sondern es werden auch die ‚neuen‘, digitalen Medien wie Computer (z.B. über Computerspiele),48 Comics (insbesondere über Comic-Verfilmungen) oder das Internet als Hypermedium thematisiert und in das intermediale Geflecht integriert.49 Es handelt sich daher nicht mehr, wie für ‚Hybridformen‘ üblich, um die „‚Kombination von bislang isolierten medialen Einheiten oder Materialien‘ […, die] diese in die Nähe unserer Kategorie der ‚Multimedialität‘ [rückt], welche sich auf Grund ihres additiven Prinzips deutlich von der ‚Intermedialität‘ unterscheidet“,50 sondern um intermediale Formen, die durch ihre Kombination die Wahrnehmung des einzelnen Mediums beeinflussen. Um eine Verortung der in fiktiven Werkgenesen auffindbaren intermedialen Strukturen innerhalb des breiten Forschungsfeldes der Intermedialität vornehmen zu können und so der von Mahler angeprangerten Diffusität des Forschungsgegenstandes zu entgehen, werden die einzelnen Beobachtungen zur Intermedialität in einer Vereinfachung von Uwe Wirths „Typologie von Intermedialitätsstufen“ in schwache und starke Formen von intermedialen Referenzen unterteilt. Uwe Wirth gliedert Typen von Intermedialität in „Nullstufe“, also „das Thematisieren eines Mediums in einem anderen Medium“, das als schwache Form im Sinne von Erwähnungen und Anspielungen in fiktiven Werkgenesen zu finden ist; „erste Stufe“, „die mediale Modulation der Konfiguration eines Zeichenverbundsystems“, die „unterschiedliche Formen des Medienwechsels“ implizieren; „zweite Stufe“, die „Kopplung verschieden konfigurierter Zeichenverbundsysteme“; „dritte Stufe“, „die konzeptionelle Hybridbildung“.51 Der für die erste Stufe charakteristische Medienwechsel wird dabei in der Betrachtung von Medienreferenzen in fiktiven Werkgenesen zunächst ausgeklammert, da er in der Diegese wie auch der Narration von fiktiven Werkgenesen nicht zu finden ist,

48 Wobei hier eine wechselseitige Marketingstrategie zu verzeichnen ist: Es gibt sowohl den Fall der filmisch adaptierten (Computer-)Spiele als den der (Computer-)Spiele zum Film. Vgl. weiterführend Kai Thomsen und Christian W. Thomsen. 49 Intermediale Strukturen beziehen sich allerdings längst nicht mehr nur auf den eigentlichen Film, sondern umschließen diesen als Produkt in einer eigenen intermedialen Marketingstrategie, die vom Verkauf des Films auf DVD/Blu-Ray/Video mit Specials wie Interviews und Making-of, dem Kinotrailer, der separaten Veröffentlichung des Soundtracks auf CD/MP3 bis zu offiziellen Internet-Seiten, Fan-Foren, begleitenden Spielen etc. reichen und so zu Medienverbundsystemen führen. Vgl. Annette Simonis, S. 41f. 50 Jürgen E. Müller (1996), S. 42. 51 Uwe Wirth (2007), S. 262f.

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dafür aber in der Übersetzung eines realen und materiell vorhandenen Werks in die fiktive Werkgenese charakteristisch ist und daher unter dem Aspekt der Referenz auf das Einzelwerk besprochen wird. Die Kopplung distinkt divergenter Medientypen und eine Hybridbildung durch eine Verschmelzung der filmischen Charakteristika mit denen eines anderen Mediums sind hingegen essentieller Bestandteil der medialen Referenzen innerhalb der Diegese und narratologischen Struktur von fiktiven Werkgenesen. Beide Aspekte sollen als starke Formen der Intermedialität in fiktiven Werkgenesen gefasst werden. 2.2.2 Schwache Formen: Erwähnungen und Anspielungen Erwähnungen und Anspielungen finden sich in fiktiven Werkgenesen sowohl in Bezug auf Medien, Autoren und Werke. Sie sind inhaltlicher Natur und daher auf der histoire-Ebene angesiedelt. So helfen sie, den Protagonisten/die Protagonistin als Autor/in zu charakterisieren, indem beispielsweise eine Abgrenzung zwischen dem/der Protagonist/in und mit ihm/ihr konkurrierenden Autor/innen vorgenommen werden kann. Dasselbe gilt auch für die Erwähnungen von und Anspielungen auf andere Werke (beispielsweise von konkurrierenden Autor/innen), die die Genese des dargestellten Werks beeinflussen oder andere Medien, Gattungen oder Genres, die meist zunächst als höherwertig eingeführt werden, dann aber letztlich durch das in der fiktiven Werkgenese entstehende Werk an Prestige einbüßen, da das neue Werk als qualitativ hochwertiger verstanden wird. Demnach werden Erwähnungen und Anspielungen dazu genutzt, Hintergrundinformationen zu liefern oder Einsicht in Produktionsgegebenheiten eines Mediums und der darin angesiedelten Gattungen oder Genres in einer bestimmten Epoche zu geben (alles teils stark fiktionalisiert), ohne damit mediale Eigenschaften per se thematisieren zu wollen. Im Fall der Erwähnung von Medien wird das andere Medium nicht mit seinen eigenen medialen Voraussetzungen wahrgenommen, sondern als Bestandteil des Films angesehen. Es handelt sich demnach um eine schwache Form von Intermedialität, die seit Anbeginn des Films praktiziert wird und damit zu den standardisierten Darstellungsmöglichkeiten des Films zu zählen ist. Weitaus eher würde die konsequente Vermeidung der Abbildung fremder Medienprodukte in der zeitgenössischen Rezeptionshaltung ein Irritationsgefühl und damit eine (wenn auch durch Abwesenheit gekennzeichnete) starke Form von Intermedialität erzeugen, insofern die medialen Eigenschaften des Films durch das Irritationsgefühl hinterfragt würden. In der Schlusssequenz von THE AFFAIR OF THE NECKLACE (2001) dürfte es daher auch kaum als ungewöhnlich empfunden werden, wenn die Handlung um die sogenannte ‚Halsbandaffäre‘ und den daran anschließenden Prozess um die

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Veröffentlichung der Memoiren Jeanne de la Mottes52 erweitert wird. Dabei wird die komplette Werkgenese elliptisch zwischen den in den Memoiren thematisierten Ereignissen und die direkt daran anschließende Lesung aus den Memoiren zusammengefasst und lediglich durch das Voice-Over von Baron Breteuil eingeleitet.53 Die für die Buchveröffentlichung und Lesung notwendigen Medien Schrift und Buch werden in einer schwachen Form von Intermedialität im Film erwähnt, die Werkgenese selbst in einem einzigen Satz zusammengefasst, so dass hier gleichzeitig auch von einer schwachen Form einer fiktiven Werkgenese zu reden ist. Die Anspielung auf das Buch erfüllt die Funktion, die Auswirkungen der Halsbandaffäre, einem der skandalösesten Kriminalfälle der französischen Geschichte, darzustellen. Das Buch macht als real vorhandenes Werk einen Teil der im Film präsentierten Folgen aus, die andere (im Film ebenfalls in direkter kausallogischer Konsequenz auf die Halsbandaffäre bezogene) Folge ist die per Montage in dieselbe Sequenz eingefügte Hinrichtung Marie Antoinettes, deren Ruf beim Volk durch die Halsbandaffäre weiter gelitten hat. Die Erwähnung des realen Werks wird also genutzt, authentizitätsstiftend für die im Film fiktionalisiert inszenierte historische Halsbandaffäre zu wirken. Authentizitätsstiftend und erkenntnisfördernd wird auch in dem Film ADAPTATION (2002) das Medium Film genutzt, um die Arbeitsbedingungen des fiktionalisierten Drehbuchautors Charlie Kaufman darzustellen. Das Abfilmen des Sets für den Film BEING JOHN MALKOVICH (eine Anspielung auf den realen Film von 1999)54 dient nicht dazu, die Illusionsbildung des Films zu stören oder

52 Insgesamt erstrecken sich die Veröffentlichungen über mehrere Werke und einen Zeitraum von sieben Jahren, wobei die letzte Veröffentlichung posthum im Jahr nach ihrem Tod erschien: Mémoire pour Dame Jeanne de Saint-Remy de Valois, Épouse du Comte de La Motte, Paris 1785, Mémoire(s) justificatif(s) de la comtesse de Valois de la Motte, écrit par elle-même, London 1789, Second Mémoire justificatif de la comtesse de Valois de la Motte, écrit par elle-même, London 1789, Lettre de la Ctesse Valois de la Motte à la Reine de France, Oxford 1789, Vie de Jeanne de St. Remy de Valois, ci-devant comtesse de la Motte … écrite par elle-même, 2 Bände, Paris 1792. 53 Vgl. Charles Shyer, 01:44:04-01:48:00. 54 Vgl. Spike Jonze, 00:02:11-00:03:18; vgl. Spike Jonze (Regie): BEING JOHN MALKOVICH. USA: Astralwerks et al. 1999. Michaela Krützen schreibt zur Einbettung dieser Szene in ADAPTATION: „Was wie ein making of von BEING JOHN MALKOVICH anmutet, wurde selbstverständlich eigens für ADAPTION. [sic] inszeniert. ADAPTION. spielt demzufolge mit der Tatsache, dass es den Film BEING JOHN MALKOVICH in der außerfilmischen Wirklichkeit gibt.“ Michaela Krützen (2010), S. 506.

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dessen mediale Eigenschaften zu beleuchten, sondern durch das Zitat des medialen Systems die Figur Charlie (das fiktive Pendant des realen Drehbuchautors beider Filme) einzuführen und zu charakterisieren. Die Szene zeigt deutlich den minderwertigen Stellenwert des Drehbuchautors für die restliche Filmproduktion, da seine Existenz nach Abgabe des Drehbuchs für den Dreh des Films überflüssig, ja sogar störend wirkt – symbolisch dargestellt durch Charlies Gefühl, fehl am Platz zu sein, und die an ihn gerichtete Aufforderung, er möge das Set verlassen, da er im Weg sei. Die Erwähnung medialer Gegebenheiten ist also für das zugrundeliegende Konzept von Autorschaft in den jeweiligen fiktiven Werkgenesen heuristisch wertvoll. Im Fall von ADAPTATION führt sie in die Situation des Drehbuchautors ein, der die schriftliche Basis für den Film schafft; doch so wie diese in der Realisation des Films aufgeht – bzw. mit Paechs Worten „vom primär graphischen Text der Literatur zum primär figurativen Text des Films“55 verschoben wird – und für die spätere Rezeption damit in ihrem medialen Vorhandensein unerheblich ist, ist auch der Stellenwert des Drehbuchautors in der Filmindustrie verschwindend gering – woran auch die Streiks aus dem Jahr 2010 nur bedingte Veränderungen herbeiführen konnten.56 Autorschaft ist in diesem Kontext also keineswegs im Sinne einer Genieästhetik idealisiert, sondern harter und schlecht bezahlter Brotberuf.57 Diese Aussage kann implizit über die mediale Referenz der Erwähnung des Filmsettings in die fiktive Werkgenese integriert werden.

55 Joachim Paech (1994, „Der Schatten der Schrift auf dem Bild“), S. 220. 56 Vgl. beispielsweise http://www.sueddeutsche.de/kultur/usa-streik-der-drehbuchauto ren-wenn-die-showmaschine-streikt-1.789417 Stand: 26.09.2014; http://www.spiegel. de/kultur/kino/autoren-streik-amerikanern-droht-fernseh-chaos-a-515512.html Stand: 26.09.2014;

http://www.welt.de/wirtschaft/article1333125/Streik-der-Drehbuchauto

ren-legt-Hollywood-lahm.html

Stand:

26.09.2014;

http://www.stern.de/kultur/

film/autorenstreik-in-hollywood-schluss-mit-lustig-606038.html Stand: 26.09.2014; http://www.t-online.de/unterhaltung/kino/id_14218918/hollywood-autorenstreik-istbeendet.html, Stand: 26.09.2014. 57 Die unterschiedlichen Ausprägungen der in fiktiven Werkgenesen dargestellten Modelle von Autorschaft werden unten detaillierter analysiert. Zugunsten der Erfassung der einzelnen in fiktive Werkgenesen hineinspielenden Ebenen muss eine künstliche Trennung der eng miteinander verknüpften Ebenen vorgenommen werden. Für das Autorschaftsmodell, vgl. Kapitel 4 dieser Arbeit.

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2.2.3 Starke Formen I: mediale Referenz als mise en abyme-ähnliche Struktur Im Gegensatz zu der oben geschilderten Erwähnung des Filmsettings in ADAPTATION wird das mediale System des Drehbuchs inter- bzw. je nach Definition als Teil des Films intramedial in die fiktive Werkgenese integriert. Dies zeigt sich insbesondere dadurch, dass Charlies Arbeitsprozess an dem Drehbuch zu Susan Orleans (die als fiktives Pendant der realen Autorin im Film auftritt) essayistisch gehaltenen Roman The Orchid Thief (eine Einzelreferenz auf den realen Roman) thematisiert und so immer wieder auf die medialen Eigenschaften eines Drehbuchs und dessen Bedeutung für Spielfilme rekurriert wird. Wie der Titel ADAPTATION bereits nahelegt, thematisiert der Film die eigene Rolle als Literaturverfilmung, mitsamt dem hierfür notwendigen Medienwechsel, und die Rolle des Drehbuchautors als Adaptierendem und ein Original Nachahmendem. Dieses Projekt muss letztlich scheitern, da der Autor durch den Medienwechsel die gewünschte Werktreue nicht leisten kann, sondern mit der Adaption bzw. Übersetzung ein neues Werk schafft, das für sich alleinsteht. Die Darstellung des Vorgangs vom Drehbuch zum Film ist demnach kein (austauschbares) Objekt der Handlung, sondern greift in die narratologische Struktur des Films ein und lenkt die Aufmerksamkeit der Rezipient/innen auf die medialen Bedingungen von Film und Drehbuch. Es handelt sich also nicht nur um ein erwähntes Handlungsobjekt; darüber hinaus wirkt das fremde, integrierte Medium strukturgebend für die Narratologie des Films. Neben typisch filmischen Strukturen sind daher auch fremdmedial bestimmte Strukturen des discours zu beobachten. Die so entstehende Spiegelung von histoire und discours über die Verschachtelung von Medien, die eine der charakteristischen Möglichkeiten von Medienreferenzen in fiktiven Werkgenesen auszeichnet, lässt sich als Erweiterung – in der Nachfolge von Christian Metz’ einflussreicher Studie zu Federico Fellinis 8½ (OTTO E MEZZO, 1963) – der mise en abyme im doppelten Sinn erfassen, insofern dass zum einen formal die Begrenzung auf identische Medientypen aufgehoben und zum anderen inhaltlich die Ähnlichkeitsbeziehung und Spiegelfunktion durch das Verhältnis von Werkgenese und Werk58 intensiviert wird. Es findet sich in einigen fiktiven Werkgenesen eine mise en abymeähnliche Struktur, die mit denselben Analysekriterien wie die mise en abyme zu fassen ist, allerdings nicht mehr exakt deren engerer, literaturwissenschaftlicher

58 Dieser Aspekt wird in der Analyse der Verbindung von Biographie und Werkgenese detailliert betrachtet und hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Vgl. Kapitel 3.3 dieser Arbeit.

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Definition entspricht. Metz hat bei der Nutzbarmachung dieses Konzeptes zur Analyse des Films 8½ (OTTO E MEZZO) von construction en abyme gesprochen, um damit den Umstand zu verdeutlichen, dass der Film – einer MatroschkaPuppe gleich – sich in sich selbst dupliziert: „[D]er Film im Film ist hier der Film selbst.“59 Der Begriff mise en abyme geht auf eine 1893 verfasste Tagebuchnotiz André Gides zurück, „worin er unter anderem Spiegelszenen in der Malerei, das ‚Stück im Stück‘ aus Shakespeares Hamlet, die Marionettenaufführung aus Goethes Wilhelm Meister und die Lektüre-Szene in Poes The Fall of the House of Usher als Beispiele für die mise en abyme nennt.“60 Daher wird, wie Harald Fricke ausführt, noch heute das von Gide genutzte ‚abyme‘ statt der modernen Schreibweise ‚abîme‘ verwendet.61 In der Forschung wird der Begriff etwa seit den 1960er Jahren vermehrt, wenn auch mit unterschiedlichen Konnotationen in der literaturwissenschaftlichen Definition genutzt. Jean Ricardou definiert 1967 die mise en abyme unter Rückgriff auf Gide als „micro-histoire“, die er als „miroir [d’une, L.Z.] histoire préalable“62 auffasst und in Verbindung mit der Einschachtelung eines Wappens in ein anderes innerhalb der mittelalterlichen Heraldik betrachtet.63 Zehn Jahre später fertigt Lucien Dällenbach eine erste systematische Darstellung möglicher Erscheinungsformen der mise en abyme als „tentative d’approcher une structure“ an, „dont il est possible d’offrir la définition suivante: est mise en abyme toute enclave entretenant une relation de similitude avec l’œuvre qui la contient.“64 Gérard Genettes Unterteilung des narrativen ‚récit‘ in ‚histoire‘, ‚narration‘ und ‚texte‘ folgend unterscheidet Dällenbach drei Formen der mise en abyme: Die „mise en abyme fictionelle“65 spiegelt Elemente der fiktiven histoire; die „mise en abyme énonciative“66 Elemente der Narration bzw. (in der Todorovschen Terminologie) des discours; die „mise en abyme du code“ oder „mise en abyme textuelle“67 letztlich mediumstypische Elemente außerhalb der narrativen und sprachlichen Vermittlung. Neben der formal bestimmten

59 Christian Metz, S. 294; vgl. weiterführend Krützen (2015), S. 443. 60 Sonja Klimek, S. 50. Vgl. André Gide, S. 41. 61 Vgl. Harald Fricke, S. 145. 62 Jean Ricardou, S. 182. 63 Vgl. ebd., S. 173. 64 Lucien Dällenbach (1977), S. 18. Hervorhebungen im Original. 65 Vgl. ebd., S. 76. 66 Vgl ebd., S. 103 67 Vgl ebd., S. 127.

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Form untergliedert Dällenbach die mise en abmye in drei Unterkategorien, die ihren Komplexitätsgrad bezeichnen helfen: „réflexion simple, c’est-á-dire la duplication intérieure symbolisée par l’image du blason dans le blason ou le ‚modèle rèduit‘“, „réflexion à l’infini emblématisée par les matriochkas ukrainiennes“ und „réflexion aporistique c’est-à-dire l’auto-inclusion qui boucle l’ouevre sur soi.“68 Die ‚einfache Spiegelung‘ bezeichnet für ihn dabei Bezugsphänomene wie das Zusammenspiel von Binnen- und Rahmenerzählung, wobei hier keine inhaltlichen Bezüge Berücksichtigung finden. Gesteigert wird dies im Bild der ‚unendlichen Spiegelung‘, die das Verschachtelungsprinzip ins Unendliche weiterdenkt (Dällenbach verwendet wie Metz das Bild der Matroschka-Puppe), das ein inhaltliches Mikro-/Makro-Verhältnis zwischen der Binnen- und der Rahmenstruktur enthält. Die dritte Form der ‚ausweglosen Spiegelung‘ bezeichnet das paradoxe Phänomen der Selbstinklusion. Wiederum zehn Jahre später ergänzt Brian McHale in der Definition die Notwendigkeit, dass die Ähnlichkeit (also das Element, das gespiegelt wird) ein zentraler Aspekt der Rahmung sein müsse,69 während Werner Wolf 1993 die mise en abyme als „Spiegelung einer Makrostruktur eines literarischen Textes in einer Mikrostruktur innerhalb desselben Textes [auf] einer anderen Realitätsebene und/oder einer anderen erzähllogischen Ebene“70 definiert. Damit fasst er den Terminus wieder etwas weiter als McHale, für den zur Erzeugung einer mise en abyme die Rahmung ausschließlich in ihrem zentralen Motiv gespiegelt werden darf. Auch Marc König macht die mise en abyme an der Spiegelung fest, versucht den französischen durch den deutschen Begriff zu ersetzen und unterscheidet diesen in mehrere Kategorien, die Klimek folgendermaßen zusammenfasst: „Spiegelungen der dargestellten Welt […], Spiegelungen des literarischen Produktions- und Rezeptionsaktes […], Spiegelungen von Kompositionsmerkmalen des Werkganzen […] und schließlich Spiegelungen von Grunderfahrungen bzw. -anliegen des Autors, die ihn selbst zum Schreiben veranlasst haben.“71 Aus diesen unterschiedlichen Definitionen lassen sich zwei wiederkehrende Aspekte der mise en abyme ablesen: erstens die Spiegelung bzw. Iteration eines Motivs des Werks und zweitens die Verschachtelung dieses wiederholten Motivs innerhalb unterschiedlicher Ebenen desselben Mediums. Wenn mise en abyme daher als sinngeladene Verschachtelung einer Iteration innerhalb zweier identischer Medienformen gefasst werden kann, wobei das eine Medium als Träger-

68 Ders. (2001), S. 12; vgl. ders. (1977), S. 51. 69 Vgl. Brian McHale, S. 124. 70 Werner Wolf (1993), S. 296. 71 Sonja Klimek, S. 51f.; vgl. Marc König, S. 22-26.

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medium vorhanden ist, während das andere durch die Rezeption des Trägermediums erfahren werden kann, lässt sich eine Parallele zu der hier thematisierten Form der Medienreferenz in fiktiven Werkgenesen ziehen. Allerdings sind diese nur selten auf intramediale Bezüge wie einen Film im Film beschränkt, sondern meist als intermediale Bezüge zwischen zwei distinkt divergenten Medien zu finden. Daher soll das hier aufzufindende Phänomen als mise en abymeähnliches Verfahren unter Berücksichtigung der intermedialen Besonderheiten analysiert werden, da es sich um ein im Kern ähnliches Phänomen handelt und eine Analyse unter diesem Gesichtspunkt sich als heuristisch wertvoll erwiesen hat, ohne dabei jedoch den Terminus mise en abyme verfälschen oder aufweichen zu wollen. Insbesondere Dällenbachs doppelte Dreiteilung der mise en abyme erweist sich für die hier angestrebte Analyse von mise en abyme-ähnlichen Strukturen in fiktiven Werkgenesen als sinnvolles Analysewerkzeug, daher wird im Folgenden – unter der Prämisse, dass es sich um ein ähnliches, allerdings nicht identisches Phänomen handelt – auf die Terminologie Dällenbachs zurückgegriffen. Zur Verdeutlichung dieses Phänomens sei noch einmal das oben angesprochene Beispiel ADAPTATION herangezogen: ADAPTATION behandelt die (fiktive) Entstehungsgeschichte des eigenen Films, der zumindest in der filmischen Vorform des Drehbuchs während der Handlung zu entstehen scheint, was Rahmen- und Binnenhandlung in ein unentwirrbares Bezugssystem zueinander setzt, so dass der Eindruck erweckt wird, der Film schreibe sich mit fortschreitendem Zeitraum von Erzählzeit und erzählter Zeit selbst.72 Es kommt damit zu einer ähnlichen dramaturgischen Struktur wie Metz sie für Fellinis 8½ (OTTO E MEZZO) herausarbeitet. Bereits in dem initiierenden Gespräch, in dem Charlie den Auftrag erhält, das Drehbuch zur Verfilmung von The Orchid Thief zu schreiben, wird deutlich, dass die Konventionen des Spielfilmdrehbuchs das Vorhandensein verschiedener Themen und Motive wie eine Liebesgeschichte, Autojagden, Drogen oder Waffen vorsehen.73 Charlies anfängliche Weigerung, diese in die Handlung einzubauen, wird im weiteren Verlauf des Films unterwandert: Zunächst mündet seine Weigerung, ein konventionelles Drehbuch zu schreiben, in einer Schreibblockade. Der Versuch, diese zu durchbrechen, indem er die Autorin aufsucht (in deren Bild er sich obendrein verliebt hat), um sich so eine Inspiration zu holen, endet ironischerweise aber genau bei den zuvor abgelehnten, konventionellen Motiven, da Susan

72 Vgl. Spike Jonze beispielsweise 01:33:57-01:34:32, 01:42:36-01:42:56, 01:45:0501:46:13. 73 Vgl. ebd., 00:03:54-00:06:01.

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tatsächlich eine Affäre mit John Laroche pflegt und gemeinsam mit ihm Drogen anbaut und konsumiert. Um ihre Liaison mit John zu vertuschen, versucht sie zusammen mit John, Charlie und dessen (rein fiktiven) Zwillingsbruder Donald in einer stereotypen Verfolgungsjagd zu erschießen.74 Indem das im Film Geschehene später als Bestandteil des Drehbuchs präsentiert wird, wird retrospektiv der Eindruck erweckt, die gesamte zuvor gezeigte Handlung habe auf die gleiche Weise (durch das Durchleben) Einzug in das Drehbuch gefunden, das wiederum die Grundlage für den bis zu diesem Moment gesehenen Film ist. Die derart aufgebaute paradoxe Form der mise en abyme („réflexion aporistique“) lässt sich durch die Selbstinklusion nicht mehr in eine lineare Struktur einer Entstehungsgeschichte auflösen, da beide Ebenen (Rahmenfilm und Binnendrehbuch) sich wechselseitig zu bedingen und hervorzubringen scheinen. Das vorangestellte Gespräch zwischen dem Autor und der Vertreterin der Produktionsfirma, in dem diese stereotypen Elemente eines Hollywoodfilms aufgezählt werden und deren letztendliches Vorhandensein trotz der anfänglichen Weigerung des Drehbuchautors lenken den Blick der Rezipient/innen nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die mediale Eigenschaft der Illusionsbildung von Film und Drehbuch.75 Die Erweiterung der Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Binnennarration (die fiktive Werkgenese über das Drehbuch als Vorform des Films) und der Rahmung (der fertige Film) lässt sich unter anderem an der Exposition und der Sequenz über die Exposition veranschaulichen: Charlie entwickelt einen Filmanfang, der bereits zuvor als Element der Exposition des realen Films zu sehen war. Die Idee ist eine einführende Sequenz über die Entwicklung der Erde, die über verschiedene Stufen dargestellt wird.76 Auch wenn die Szenen mit unterschiedlichen medialen Mitteln (einmal Bild, einmal Sprache) realisiert werden, verdeutlicht die Repetitivität beider Sequenzen die Überstrukturiertheit des Films, der in der mise en abyme die dem Medium zugrunde liegenden Regeln thematisiert und diese gleichzeitig in Form der sogenannten ‚Prinzipien‘ für ein erfolgreiches Drehbuch von Robert McKee bricht:

74 Vgl. ebd., 00:24:53-00:27:48. 75 Auch Michaela Krützen arbeitet diesen twist in ihrer Studie zu ADAPTATION heraus. Vgl. Michaela Krützen (2010), S. 518-526. 76 Beispielsweise über die Stationen der Entstehung der Erde aus Lavaströmen; Amphibien, die das Wasser verlassen und das Land als Lebensraum erobern; das Aussterben der Dinosaurier; der Beginn des aufrechten Gangs; die Entwicklung der menschlichen Kultur am Beispiel des Baus einer Großstadt. Vgl. Spike Jonze, 00:02:03-00:03:38, 00:39:31-00:46:01.

48 | THEORETISCHE Ü BERLEGUNGEN [Charlie Kaufman, Voice-Over:] I am pathetic. I am a looser. I have failed. I am panicked. I have sold out. I am worthless. I – What the fuck am I doing here? What the fuck am I doing here? Fuck! It is my weakness, my ultimate lack of conviction that brings me here. Easy answers, rules to shortcut yourself to success. And here I am because my jaunt into the abyss brought me nothing. Well, isn’t that just the risk one takes for attempting something new? I should leave right now. I’ll start over. I need to face this project head-on – [Robert McKee:] And God help you if you use voice-over in your work, my friends. God help you. It’s flaccid, sloppy writing. Any idiot can write voice-over narration to explain the thoughts of the character.77

Wenn Charlies als Bewusstseinsstrom gehaltener Voice-Over-Monolog von der Erläuterung der Prinzipien für ein ideales Drehbuch (in diesem Fall das Verbot, Voice-Over zu nutzen) durch Robert unterbrochen wird, schafft der Film ein Bewusstsein für die Artifizialität des Drehbuchs und gleichzeitig ein Bewusstsein für das Illusionsbildungs- und -störungspotential dieses Films, der mit den Prinzipien für ein gelungenes Drehbuch bricht. Dennoch bleibt der Film, wie Michaela Krützen darlegt, über die Entwicklung der Figuren, die Charlie zunächst ebenso abgelehnt hat wie die typischen Filmmotive, dem classical cinema treu. Veränderungen lassen sich also nur über den titelgebenden Adaptionsprozess bewirken, indem gängige Muster punktuell durchbrochen werden: ADAPTATION ist auch ein Film über die geglückte Anpassung an ein Muster. Charlie wollte ein ganz neues Kino schaffen und hat dann doch das Erzählschema des Hollywoodkinos verwendet. Dennoch ist er nicht gescheitert. Der Autor hat vielmehr erkannt, dass er Neues nur schaffen kann, wenn er sich mit dem Vertrauten auseinandersetzt.78

Der Film legt den Schluss nahe, dass Charlie sich selbst und seine Schreibblockade so intensiv im Drehbuch thematisiert, dass das Ergebnis (der fertige, reale Film ADAPTATION) ausschließlich den (retrospektiv als gelungen zu wertenden) Versuch, die Schreibblockade zu überwinden, darstellen kann. Das so über die Entwicklung der Figur evozierte Happy End wird mit der abschließenden Blu-

77 Ebd., 01:04:50-01:05:35, 01:45:05-01:46:13. Sofern nicht anders angeführt handelt es sich bei direkten Filmzitaten um meine Transkriptionen. Vgl. weiterführend Robert McKee, besonders S.344f. Auch mit dem im späteren Kneipengespräch festgelegten Verzicht auf einen deus ex machina bricht der Film, indem Charlie nur durch ein Krokodil, das Laroche angreift, gerettet wird – und damit ein Paradebeispiel eines deus ex machina geboten wird. Vgl. Spike Jonze, 01:09:02-01:09:29, 01:38:50-01:41:31. 78 Michaela Krützen (2010), S. 526.

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meneinstellung nicht nur thematisch wieder auf die Grundidee des Films über Blumen zurückgeführt, sondern dient zugleich als Kommentierung des Entwicklungsprozesses, den Charlie durchlaufen hat und der trotz der anfänglichen Weigerung letztlich den Film bestimmt, wie Lorenz Engell ausführt: Die Blumeneinstellung ist natürlich eine Metapher des Happy Ends, zu dem der Film ja geführt hat. Zugleich ist es aber auch seine Kommentierung, nämlich seine Ironisierung; das Blumenbild ridikülisiert, was es selbst repräsentiert, nämlich das konventionelle, in den Konzepten von Anfang und Ende befangene Handlungskino, dessen unabdingbarer Teil, ja dessen Erfüllung es selbst dennoch ist. Es repräsentiert zugleich das Repräsentierte und die Repräsentation, das Gesehene und seine Interpretation. Es ist geschlossen und offen, es weist über sich selbst hinaus, kommt aber dabei unweigerlich auf sich selbst zurück als ein weiteres und abschließend endliches Stück Film im Film.79

Verstärkt wird der Effekt der Ausleuchtung medialer Konventionen und Möglichkeiten durch die verschiedenen Darstellungen von Charlie an seiner Schreibmaschine oder in einem Drehbuchautorenseminar, die seinen Kampf gegen die Schreibblockade thematisieren.80 Das Durchbrechen der Schreibblocklade ist durch das Vorhandensein des Films (und damit auch das Vorhandensein des dafür benötigten Drehbuchs) notwendigerweise bedingt, was – wie bereits erwähnt – den Effekt hervorruft, der Film schreibe sich mitsamt seinem Drehbuch während des Fortlaufens der Filmhandlung selbst. Damit wird die hier im Fokus stehende Medienreferenz noch zusätzlich mit Elementen der Einzelreferenz (die Einzelwerke „Drehbuch zu ADAPTATION“, der Roman The Orchid Thief sowie der immer wieder eingeblendete und sprachlich thematisierte Ratgeber The Story von McKee) und der Autorreferenz (in diesem Fall Kaufman als Drehbuchautor, Orlean als Autorin der Romanvorlage sowie McKee als Autor des Drehbuchratgebers) untrennbar (sofern die Komplexität der fiktiven Werkgenese in Gänze erfasst werden soll) verknüpft. Auf diese Weise entsteht ein spielerischer Umgang zwischen Realität und Fiktion, insofern Elemente aus der Realität wie die Personen Orlean, Laroche, McKee und der Drehbuchautor Kaufman von letzterem zu Figuren der Filmhandlung fiktionalisiert und mit rein fiktiven Figuren wie Charlies Zwillingsbruder Donald im Figurenarsenal vermischt werden. Intensiviert wird dieses Spiel noch zusätzlich, als Kaufman den Film seinem im Verlauf der Filmhandlung verstorbenen (aber nach wie vor rein fiktiven) Zwillingsbruder widmet, wie es für während der Drehar-

79 Lorenz Engell, S. 181. 80 Vgl. Spike Jonze, beispielsweise 00:14:23-00:14:52, 00:17:27-00:17:53.

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beiten verstorbene (reale) Crewmitglieder üblich ist.81 Auch der mit einem ironischen Augenzwinkern versehene Nachsatz über fiktive und reale Ereignisse verweist auf dieses charakteristische Gemisch von Realität und Fiktionalität, das über die drei hier für die Analyse getrennten Referenzebenen in fiktiven Werkgenesen zu beobachten ist: This story is based upon actual events. However, some of the characters and incidents portrayed and some of the names herein are fictitious, and with respect to such characters and incidents any similarity to the name, character or history of any person, living or dead, or any actual event is entirely coincidental and unintentional.82

Mit der zuvor erläuterten Selbstrekurrenz auf das eigene filmische Genre als amerikanische Filmproduktion, der das Klischee ‚Hollywood‘ anhaftet, und dem selbstreflexiven Umgang mit diesem Status, wird das Bewusstsein für die illusionsbildende Wirkungsweise und narratologische Struktur beim Rezipienten geschärft und ein Bewusstsein für filmische Spezifika entwickelt – wenn in diesem Fall auch nicht im Zusammenspiel mit einem konventionell als distinkt wahrgenommenen Medium, wie Rajewsky es für intermediale Bezugnahmen definiert.83 Die Verschachtelung und selbstreferentielle Bezugnahme des Films auf sich selbst und den Film im Film als Produkt seiner selbst sorgt für eine zusätzliche Bedeutungsebene, die über die Analyse der Medienreferenz erst vollständig greifbar gemacht werden kann. Die mediale Referenz auf das filmische Medium bleibt dabei untrennbar mit den beiden anderen Referenzebenen, der Autorfigur (in diesem Fall Charlie) und dem Einzelwerk (dem „Drehbuch des Films ADAPTATION“), verknüpft und lässt sich nur künstlich für die gesonderte Betrachtung der einzelnen Ebenen aus diesem komplexen Bezugssystem der Ebenen zueinander heraustrennen – wie es insgesamt für fiktive Werkgenesen gilt. An diesem Beispiel lässt sich auch die filmische Vernetzung der möglichen Ebenen, in denen eine mise en abyme-Ähnlichkeit nach den Termini Dällenbachs verortet werden kann, veranschaulichen: Wenn der Film im Film in ADAPTATION zunächst bewusst das klischeeverhaftete Mainstream-Kino negieren soll, letztlich aber nicht darauf verzichten kann, stereotype Plotbausteine aufzugreifen, wird in der Spiegelung eine Verknüpfung von Elementen der fiktiven histoire (z.B. romantischer Plot, Autojagden) mit Elementen des discours (z.B. Expositi-

81 Vgl. ebd., 01:35:58-01:38:01, 01:50:21. Vgl. für eine ähnliche Beobachtung auch Michaela Krützen (2010), S. 522-525. 82 Spike Jonze, 01:50:07. 83 Vgl. Irina O. Rajewsky (2008), S. 53-57.

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on des Films) sowie Elementen des filmischen code (z.B. Filmgenre, Möglichkeiten der Illusionsbildung im Film) in einer „réflexion aporistique“ vorgenommen. Wie bereits oben geschildert, ist die Erzeugung einer mise en abymeähnlichen Struktur in fiktiven Werkgenesen nicht an die Rekurrenz auf das Medium Film (in seinem weiteren medialen Sinn inkl. Drehbuch) beschränkt, sondern es können auch andere Medien filmisch inszeniert und für eine Spiegelung von extradiegetischen Motiven auf einer fremdmedial bestimmten intradiegetischen Ebene genutzt werden. Exemplarisch lässt sich dies an MISS POTTER (2006), einer fiktiven Werkgenese über die Kinderbuchautorin Beatrix Potter, und der hier evozierten Verschränkung zwischen Film und Malerei beobachten. Die postulierte freundschaftliche Bindung der unverheirateten 32-jährigen Beatrix zu ihren Bildern scheint zunächst lediglich ein ihrer Lebenssituation geschuldetes, exzentrisches Verhalten widerzuspiegeln, wie es in dem Gespräch mit ihren potentiellen Verlegern zu beobachten ist: [Publisher:] Bunnies in jackets with brass buttons. How ever do you imagine such things? [Beatrix Potter:] I don’t imagine them. They’re quite real. They’re my friends. [Publisher:] Ah, you based the animal characters on your friends? [Beatrix Potter:] No, the animals are my friends.84

Verstärkt wird dieser Eindruck in dem Gespräch mit ihrer Mutter, die sie wie ein Kind behandelt und herablassend darauf aufmerksam macht, dass sie eigentlich keine Freunde habe.85 Mit dieser Vorstellung wird in derselben einführenden Sequenz gespielt, als Beatrix auf der Heimfahrt vom Verlagshaus mit einer ihrer Zeichnungen redet und diese mit einem Augenzwinkern reagiert. Die Reaktion der Anstandsdame, die über Beatrix’ Verhalten die Augen verdreht, zeigt gleichzeitig, dass Beatrix offenbar die einzige Figur ist, die die Lebendigkeit ihrer Zeichnungen wahrnimmt.86 Ob sie nun exzentrisch ist und sich von ihrer Phantasie mitreißen lässt oder tatsächlich in einer Spielart von magischem Realismus lebt, bleibt ungeklärt.87 Das Potential der Medienreferenz unter medienanalytischem Erkenntnisinteresse bleibt von dieser Frage allerdings unberührt, da die bewegten Bilder für das Filmpublikum filmisch wahrnehmbar sind.

84 Chris Noonan (Regie), 00:03:57-00:04:09. 85 Vgl. ebd., 00:07:20-00:08:24. 86 Vgl. ebd., 00:06:08-00:06:23. 87 Es kann also in diesem Punkt von einem ‚phantastischen‘ Film im Sinne der Todorovschen hésitation gesprochen werden. Vgl. Tzvetan Todorov, S. 28-45.

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Obwohl die selbstreflexive Kommentierung,88 die gleich einem Rahmen um die Filmhandlung gelegt wird, explizit vom Geschichtenschreiben spricht, ist die Schrift ein kaum genutztes Medium im Film: „There’s something delicious about writing the first words of a story. You can never quite tell where they’ll take you. Mine took me here.“89 Stattdessen wird kontrastiv zur sprachlichen Äußerung im Filmbild die Vorbereitung des Malens gezeigt: die Auswahl des passenden Pinsels, das Mischen des gewünschten Farbtons und die ersten Pinselstriche. Das Übergehen der mit blauer Farbe grundierten Leinwand in den in der Schlussszene erneut aufgegriffenen Spaziergang im Lake District, der vom beide Sequenzen verbindenden Voice-Over kommentiert wird, erzeugt nicht nur das Gefühl von Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (Anfang und Ende werden gleichzeitig präsentiert), sondern positioniert das Bild auch in einem hierarchisierenden medialen Bewusstsein über die Sprache, da die fiktive Werkgenese über das Werk der Kinderbuchautorin, das von ihr geschrieben und illustriert wird, hauptsächlich über die Entstehung ihrer Bilder narrativiert wird. Das Geschriebene ist zwar in den bebilderten Geschichten mit vorhanden, doch (so zumindest die Tendenz im Film) zu vernachlässigen. Gleich einem Spiegel ihrer Gefühle reagieren die Bilder auf die ihnen und Beatrix entgegengebrachte Wertschätzung von Rupert Potter (Beatrix’ Vater), Norman Warne (ihr Verleger und kurzzeitiger Verlobter) sowie William Heelis (ihre Jugendliebe und späterer Ehemann).90 Die Wertschätzung ist dabei rein auf der künstlerischen, nicht auf der phantastischen Ebene zu finden, da deutlich gemacht wird, dass nur Beatrix und die Filmrezipient/innen die Bewegungen wie auch die Positionsveränderungen der gezeichneten Tiere, nachdem diese erneut zum malereitypischen Stillstand gekommen sind, sehen können. Diese Verschmelzung von Phantasie und Realität zeigt sich sonst nur an einer weiteren Stelle und bleibt mit den von Beatrix ausgedachten Geschichten verbunden:91

88 Ich möchte diese Form der Rahmenkommentierung deshalb als selbstreflexiv bezeichnen, weil mit dem Rückblick auf das Objekt (die histoire) der retrospektive Habitus (der discours) untrennbar verknüpft wird und so gleichzeitig die eigene Illusionsbildung mitthematisiert wird. 89 Chris Noonan, 00:02:46-00:02:57. In der Schlussszene wird das Voice-Over ebenfalls aufgegriffen und um den Zusatz: „where I belong“ erweitert, ebd., 01:23:14-01:23:27. 90 Vgl. Chris Noonan , 00:09:28-00:09:40, 00:38:30-00:38:48, 01:21:39-01:22:33. Sowie weiterführend in Bezug auf die Wertschätzung vgl. ebd., bspw. 00:12:20-00:15:10, 00:19:09-00:21:27, 00:26:04-00:30:26, 00:33:29-00:34:27, 00:37:52-00:38:48. 91 Vgl. ebd., 00:10:20-00:10:36, vgl. für die Verbindung zu den ausgedachten Geschichten beispielsweise 00:30:26-00:30:50, 00:31:56-00:32:57, 00:41:38-00:43:23.

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Nach Normans Tod und dem damit einhergehenden tragischen Ende dieser nur kurz andauernden Liebesbeziehung92 entgleitet Beatrix die eigene Kreativität. Nach der anfänglichen Schockstarre drückt sie ihre Trauer in Kreativität aus, doch die für Beatrix bewegten Bilder geraten außer Kontrolle: Der angelnde Frosch wird von dem zunächst harmlos erscheinenden Fisch im See bedroht. Als Beatrix versucht, ihn an ihrem Pinsel aus dem Papier herauszuziehen, erweist sich die damit implizierte Metalepse93 im Kontext des Films als unmöglich. Ihre Werke können nicht von der hypodiegetischen Ebene der bewegten Bilder auf dem Papier zu der intradiegetischen Ebene der bewegten Bilder des Films wechseln.94 Das Intaktbleiben dieser Grenze zeigt auch die Grenze von Beatrix’ Phantasie, die nicht zur (diegetischen) ‚Realität‘ werden kann. Stattdessen fällt der Frosch auf den Grund seiner eigenen Ebene und verschwindet aus seinem Bild in darunterliegende Bilder, ebenso wie die Bewohner dieser Bilder. Die Rahmung ist also innerhalb der hypodiegetischen Ebene keineswegs fixierend, der metaleptische Sprung in eine andere Ebene (in dem Fall der Sprung von der Hypodiegese in die Intradiegese) ist hingegen unmöglich. Statt der niedlichen Tiere werden Beatrix’ Bilder nun von Krähen, gefährlich aussehenden Hunden und ähnlich Unheimlichem bevölkert.95 Die zerrütteten und zerstörten Bilder, die das Gegenteil zu den zuvor gemalten Kinderbuchillustrationen darstellen, spiegeln also auf der hypodiegetischen Ebene in Form von ‚Miniaturfilmen‘ (bewegten Trickbildern) die Verzweiflung der Protagonistin wider. Diese Form der Spiegelung wurde bereits zuvor mit der positiven Reaktion auf Personen, die der Protagonistin nahestehen, etabliert. Die so evozierte mise en abyme-Ähnlichkeit als ‚Quasi-Film‘ im Film spielt mit den medialen Eigenschaften des Bildes, dem filmische Qualitäten zugesprochen werden und das so gewissermaßen ‚filmisch‘ auf die Darstellungsmöglichkeiten von MISS POTTER einzuwirken im Stande ist. Es liegt demnach eine Ähnlichkeit zu der von Dällenbach bezeichneten „mise en abyme énonciative“, die Elemente der Narration spiegelt, sowie zur über eine einfache Spiegelung ohne inhaltlichen Bezug hinausreichenden „réflexion à l’infini“ vor: Das Gefühlsleben als inhaltliches Motiv kann über die narrative Spiegelung ins Unendliche vervielfältigt werden.

92 Vgl. ebd., 00:39:10-01:10:05. 93 Vgl. Sonja Klimek. 94 Diese Ebenenbezeichnung ergibt sich aus der extradiegetischen Rahmung des VoiceOvers, die alles zwischen dem Spaziergang im Lake District und den damit verschmelzenden Pinselstrichen einklammert. 95 Vgl. Chris Noonan, 01:06:46-01:08:33.

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Werner Wolf bestimmt in seiner Studie zur ästhetischen Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst eine über das „Mittelmaß illusionskompatibler Sinnzentriertheit“ hinausragende narrative Ordnung, unter anderem als „eine unwahrscheinlich hochgradige und durch keine kompensatorischen Konventionen verdeckte Repetitivität von Geschichtselementen.“96 Dies geschieht in fiktiven Werkgenesen sowohl in der unten thematisierten Einbettung eines Werks in die filmisch inszenierte, frei narrativierte Biographie des Autors/der Autorin97 als auch in der Spiegelung des eingebetteten Mediums im Film oder generell der Verschachtelung zweier oder mehrerer Medien, die so den narrativierten Prozess der Werkgenese mediengenealogisch aufgreifen und verdeutlichen. Einerseits ist dies elementarer Bestandteil der Narration und der filmischen Illusionsbildung der Handlung fiktiver Werkgenesen; andererseits sorgt es aber auch durch die so entstehende Überstrukturierung des Films für Illusionsbrüche und ein Aufmerken des Rezipienten ob der medialen Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen – wie in ADAPTATION auf das filmische Genre und dessen Produktionsbedingungen oder in MISS POTTER über die mediale Hierarchisierung und der Wiederholung des Gefühlslebens in Film und (bewegter) Malerei. Die Erzeugung einer mise en abyme-ähnlichen Struktur über Spiegelung und Wiederholung eines Motivs in einem in den Film eingebetteten weiteren Medium ist eine der Möglichkeiten, wie Medienreferenzen als starke intermediale Formen in fiktiven Werkgenesen auftreten können. Eine andere ist die Annäherung des Films an ein distinkt divergent wahrgenommenes Medium, wodurch ebenfalls die medialen Eigenheiten des Films ins Bewusstsein der Rezipienten gerückt werden können. 2.2.4 Starke Formen II: mediale Annäherungen des Films an ein divergentes Medium Der Film wird in fiktiven Werkgenesen, ähnlich dem von Volker Roloff ausgearbeiteten anthropologisch ausgerichteten Konzept der Intermedialitätsforschung, zum ‚Illusionsraum‘ im Foucaultschen Sinn,98 insofern hier zum Tragen kommt, dass solche […] ‚Illusionsräume‘ mythische Phantasien inspirieren, zur weiteren Ausgestaltung und Interpretation in den verschiedenen Künsten und Medien reizen und Medie-

96 Werner Wolf (1993), S. 292f., Hervorhebungen im Original. 97 Vgl. Kapitel 3.3 dieser Arbeit. 98 Vgl. Michel Foucault (1994).

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numbrüche mitbestimmen. Gerade die neuesten Medien erinnern an die ‚archaische Macht der Kultbilder‘, die Faszination des Imaginären und der Einbildungen.99

Medienumbrüche werden nicht nur über das zuvor thematisierte Beispiel der Erzeugung mise-en-abyme-ähnlicher Strukturen evoziert, sondern auch über die Annäherung des Films an das thematisierte Medium. Besonders deutlich werden diese Brüche mit den medialen Konventionen, wenn es sich dabei um eher statisch angelegte und damit dem dynamischen ‚Filmbild‘ zuwiderlaufende Medienannäherungen handelt. Verwandt mit dem filmischen Bild und doch fremdmedial zu verstehen sind bildende Künste wie Photographie und Malerei, die durch ihre Bewegungslosigkeit das bewegte Filmbild in fiktiven Werkgenesen unterwandern und über den Kontrast ein intermediales Spannungsverhältnis evozieren. Die so entstehende „Dynamik und Proliferation, Flüchtigkeit und Fraktalität der Bilder, das Wechselspiel zwischen Fixierung und Auflösung visueller, aber auch sprachlicher Figuren“100 kennzeichnen nach Roloff den Kern von Intermedialität. Über die Annäherung und Hingabe des Films an ein statisch ausgelegtes Medium wird sich in fiktiven Werkgenesen dynamisch mit den eigenen Medienund Genrekonventionen auseinandergesetzt. Damit können diese wechselweise fixierend bestätigt oder aufgelöst werden. Gleichzeitig kommt es zur selbstreflexiven und selbstkritischen Betrachtung der eigenen medialen Grenzen auf ihre illusionsbildende Wirkung hin. Beobachten lässt sich das charakteristische Spannungsverhältnis dieser Form von intermedialen Referenzen beispielhaft in GIRL WITH A PEARL EARRING (2003) und damit der Kombination von Film und Malerei. Wie André Bazin bemerkt, kann (und wird) diese Kombination durchaus problematisch gewertet werden: Elle se ramène essentiellement à cette conclusion: pour utiliser la peinture, le cinéma la trahit et cela sur tour les plans. L’unité dramatique et logique du film établit des chronologies ou des liens fictifs entre des œuvres parfois très éloignée dans le temps et dans l’esprit. […] Il y a plus grave: au-delà du peintre, c’est la peinture qui est trahie, car le spectateur croit avoir devant les yeux la réalité picturale, quand on le force à la percevoir selon un système plastique qui la dénature profondément.101

99

Volker Roloff, S. 22, Hervorhebung im Original.

100 Ebd., S. 24. 101 André Bazin (1990, „Peinture et cinéma“), S. 187.

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Diese Kritik könnte man durchaus auch für die fiktive Biographie um die Entstehung von Johannes (Jan) Vermeers Gemälde Das Mädchen mit dem Perlenohring (Het meisje met de parel, 1665) geltend machen. Doch wie Bazin auch schon für frühere Beispiele von Filmen, die Maler und ihre Werke thematisieren, bemerkt, „[c]ar, au lieu de reprocher au cinéma son impuissance à nous restituer fidèlement la peinture, ne peut-on s’émerveiller au contraire d’avoir enfin trouvé le sésame qui ouvrira à des millions de spectateurs la porte des chefsd’œuvre?“102 Und weiter führt Bazin aus: Le cinéma ne vient pas „servir“ ou trahir la peinture mais lui ajouter une manière d’être. Le film de peinture est une symbiose esthétique entre l’écran et le tableau comme le lichen entre l’algue et le champignon. S’en indigner est aussi absurde que de condamner l’opéra au nom du théâtre et de la musique.103

GIRL WITH A PEARL EARRING erfüllt diese Symbiose nicht nur auf der Handlungsebene, sondern auch in seinen narrativen Strukturen: Als scheinbar unreflektierter, stereotyper Film beginnend,104 nähert sich GIRL WITH A PEARL EARRING immer mehr den medialen Eigenschaften eines gemalten bzw. in diesem Fall eher abgefilmten Porträts bzw. einer ‚porträtierenden‘ Photographie an. Es kommt damit zur für Jens Schröter bezeichnenden „Art von Verfremdung – oder eben Störung – […, mit der] die Medialität des repräsentierten Mediums eigens ausgestellt werden“105 kann. Zunächst kaum wahrnehmbar wird die einleitende Sequenz bereits von einem Gemälde oder Photographien ähnelnden Momentaufnahmen unterlaufen, die den Anschein eines ‚Stillstands‘ im Filmbild mit sich bringen. Realisiert wird dies entweder über das Stillstehen der Kamera und/oder dem Innehalten der Figuren bei jedweder Tätigkeit. Deutlich zu beobachten ist dies in der postkartenähnlichen Stadtansicht, dem Verweilen Griets auf dem Muster im Pflaster des Platzes, dem Blick auf die einen Spalt geöffnete

102 Ebd., S. 189. 103 Ebd., S. 191. 104 Der Filmanfang nutzt über die Beweglichkeit der Kamera, die unauffällig gesetzten Schnitte zwischen dem Gemüseschneiden und den einführenden Aufnahmen in die Umgebung, der Bewegung der eingeführten Figur Griet sowie die atmosphärisch untermalende Musik typische Merkmale des aktuellen Konventionen entsprechenden Mainstreamfilms, vgl. Peter Webber (Regie), 00:00:00-00:06:27. 105 Jens Schröter, S. 589.

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Tür zum Atelier106 und weiteren, erst retrospektiv sinntragend werdenden Momentaufnahmen.107 Semantische Aufladung erfährt die zu beobachtende Medienreferenz als Griet zunehmend mit der Kunst ihres neuen Arbeitgebers in Berührung kommt und ihm für sein berühmtes Gemälde Modell sitzt.108 Dabei macht sich der Film die Konventionen des Porträts auf zweierlei Arten zu eigen: erstens, indem ein filmisches ‚Porträt‘ über die Entstehungsgeschichte des Einzelwerks erzählt wird, die lose mit der Biographie des Künstlers verknüpft ist, und zweitens, indem die Kameraführung von den zuvor aufgezählten, unkonventionell wirkenden Methoden der filmischen Darstellung eines filmischen ‚Standbilds‘ (gekennzeichnet durch die medienuntypische Bewegungsarmut sowohl seitens der Kamera als auch der Schauspieler) dominiert wird. Es kommt zur Verschmelzung der histoire über die Entstehungsgeschichte des Porträts und des discours, der die medialen Eigenschaften des Porträts in den Film überführt und den Film in den medialen Eigenschaften des Porträts aufgehen lässt. Das somit entstehende Spannungsverhältnis zeugt, wie Kay Kirchmann und Jens Ruchatz am Zusammenspiel von Film und Photographie beobachten, von „[d]er Befähigung [des Films, L.Z.] zur Arretierung von Bewegung […], akzentuiert aber gerade deshalb auch noch einmal die Andersartigkeit seiner Form zu jener der fotografischen Stasis“109 bzw. hier der Statik des gemalten Porträts. Die Kombination der beiden divergenten, einander widersprechenden Medientypen (Porträt und Film) zeigt den „Spielraum medialer Einbildungen […], der zugleich diskret und diskreditierend, affirmativ und widerständig eine paradoxe Schnittstelle zwischen den Medien der Bilder, den Bildern der Medien und dem (Bild des) Betrachter(s) für die Medien“110 erzeugt. Der Widerspruch des auf Dynamik ausgerichteten Filmbilds und des als Standbild gefertigten Arrangements des Porträts wird in ihrer Zusammenführung zu einer eben solchen para-

106 Karl Prümm bezeichnet das Betreten des lichtdurchfluteten Ateliers durch den langen, dunklen Tunnel gar als „Übergang in eine […] übergeordnete Dimension“, der „an die Prozedur [erinnert, L.Z.], der sich die Besucher der gigantischen Panoramen des 19. Jahrhunderts zu unterwerfen hatten.“ Karl Prümm (2008), S. 434f. 107 Vgl. Peter Webber, 00:00:45, 00:01:00, 00:01:34, 00:02:11, 00:02:30, 00:03:01, 00:03:20, 00:05:09, 00:05:17. 108 Vgl. ebd., beispielsweise 00:09:58, 00:10:27-00:10:46, 00:24:14, 00:25:00-00:26:32, 00:29:11-00:29:42, 00:30:20-00:33:04, 00:36:10, 00:36:18, 00:47:05, 01:13:31, 01:17:23-01:17:55. 109 Kay Kirchmann/Jens Ruchatz, S. 29. 110 Joachim Paech (1994, „Das Bild zwischen den Bildern“), S. 163.

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doxen Schnittstelle, zumal der Film mit seinem Ende zu einem fast vollkommenen ‚Stillstand‘ kommt und aus der Handlung in Form von verschiedenen (filmischen) Einzelporträts, die mit einer minimalistischen Bewegung von Kamera und Schauspieler auskommen, herausführt. Auffällig sind hierbei die räumlichen Arrangements mit wiederkehrenden Rahmenkompositionen in der mise en scene.111 Ähnlich wie bei der Rubinschen Vase (1921) die beiden Bilder nicht getrennt werden können, ist es auch in GIRL WITH A PEARL EARRING nicht möglich die beiden Medien zu trennen, denn beides, das filmische Medium wie auch das Medium der Malerei, werden gebraucht, um die Handlung zu transportieren. In Anlehnung an Raymond Bellour nennt Paech dieses Phänomen „L’Entreimages“, „eine Art ‚Dazwischen-Bild‘“112 und legt anhand des Beispiels der Rubinschen Vase Folgendes dar: Die Abbildung zeigt zwei Bilder in einem, die nie gleichzeitig gesehen werden können: Die Identität der Gesichter ist die Vase, die Vase ihrerseits ist nur durch die Gesichter identifizierbar. Eines der Bilder folgt jeweils dem anderen in der figurativen Wahrnehmung nach, nie können, wie gesagt, beide gleichzeitig gesehen werden und doch ist es ihrer Gleichzeitigkeit zu verdanken, daß überhaupt jeweils eines der Bilder zu sehen ist. Jedes der Bilder ist eine ‚Figur ohne Grund‘, jedes ist ein das jeweils andere Bild konstituierendes ‚Zwischenbild‘, denn die Vase ist nicht etwa nur das Zwischenbild für die Gesichter, die Umkehrung ist ebenso richtig. […] Das ‚L’Entre-images‘ ist hier eine operative Grenze, die nach beiden Seiten interdependente figurative Effekte hervorruft; die Gestalt der Vase ist ein Zwischenbild oder ‚Bild zwischen den Bildern‘, weil es als Einbildung einer figurativen Umgebung und zugleich als deren figurativer Ausdruck fungiert.113

Das Ende von GIRL WITH A PEARL EARRING impliziert insofern ein ‚L’Entreimages‘-ähnliches, mediales Konzept, indem das Bild des Films sein eigenes Standbild beinhaltet. Es ist nicht notwendig, den Film im Abspielprozess anzuhalten, sondern das Filmbild hält sich gewissermaßen selbst an und widerspricht damit der eigenen Medienvoraussetzung des bewegten Bildes. Dies ist, wie Paech beobachtet, das gegenwärtig Außergewöhnliche des Films: „Während das große Phantasma am Beginn dieses [20., L.Z.] Jahrhunderts das filmisch bewegte Bild war, das zur Herausforderung der modernen Malerei und Literatur wurde,

111 Vgl. Peter Webber, 01:23:22-01:28:52. 112 Joachim Paech (1994, „Das Bild zwischen den Bildern“), S. 164; vgl. Raymond Bellour, S. 12. 113 Ebd., S. 164f.

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ist es am Ende der Filmgeschichte im Übergang zur elektronischen Bilderwelt das ‚angehaltene Bild‘ (l’arrêt sur l’image).“114 Obwohl Paech seine Beobachtung nur für das manuelle Anhalten des Bildes anstellt,115 wird in der letzten Sequenz von GIRL WITH A PEARL EARRING genau diese Strategie der Hingabe des Films an sein eigenes ‚Standbild‘ semantisch nutzbar gemacht, um die Arrangiertheit und Künstlichkeit der diegetischen Lebensumstände Griets und Jans zu symbolisieren, die entgegen aller üblen Nachrede lediglich in ihrem Gespür für Kunst vereinigt sind.116 Dieses Beispiel der Medienreferenz auf die Malerei (stellvertretend hier für die generell in fiktiven Werkgenesen thematisierten bildenden Künste herausgegriffen) zeigt den produktiven und dynamischen Umgang mit der medialen Grenze zum Film, indem die Malerei ‚filmisch‘ inszeniert und der Film gleichzeitig ‚malerisch‘ arrangiert wird. Damit werden beide Medien in ein fruchtbares Spannungsverhältnis gesetzt, bleiben in ihrer Differenz aber weiterhin erkennbar. Die Medienreferenz in fiktiven Werkgenesen erlaubt also eine Erweiterung der filmischen Ausdrucksmöglichkeiten, die sich nicht nur in dieser stark intermedialen Ausformulierung in fiktiven Werkgenesen finden lässt, sondern alle unter Medienreferenzen zusammengefassten Bezüge des Films mit anderen Medien umfasst. Auch die Schrift im Film birgt, ebenso wie die Statik des oben diskutierten Porträts, ein filmuntypisches Element in sich. Dennoch wird sie in fiktiven Werkgenesen auf vielfältige Weise genutzt: Neben den typischen Inserts wie Titel, Mitwirkende oder Ort- und Zeitangaben wird Figuren beim Schreiben über die Schulter gesehen, das Geschriebene zum Mitlesen im Film eingeblendet oder vorgelesen. Der Film kommt dabei ebenfalls zu einem Stillstand, der seiner ureigenen Dynamik zuwiderläuft und die Bedeutung des Worts (gelesen oder gesprochen) über die des Bilds stellt. In fiktiven Werkgenesen scheint generell eine Faszination an Schrift und Schreibprozessen zu bestehen, die immer wieder neu auf möglichst vielfältige Weise filmisch inszeniert werden. Paechs Beobachtung vom „Schatten der Schrift auf dem Bild“ lässt sich daher treffend auf fiktive Werkgenesen übertragen: Sehen und lesen bleiben ein Gegensatz, der ursprünglich von der Differenz zwischen dem code oral und dem code graphique gekennzeichnet wird. [… D]iese Geschriebene und schreibende Welt ist eine vor-filmische Realität, die Schrift gehört zur (dokumentieren-

114 Ebd., S. 172. 115 Vgl. ebd. 116 Vgl. Peter Webber, 00:34:53-00:36:06, 00:37:11-00:41:07, 00:43:50-00:45:18, 00:47:35-00:48:10, 00:50:24-00:53:59.

60 | THEORETISCHE Ü BERLEGUNGEN den) Szene, nicht zum Film. […] Mit der Einbildung der Schrift in die Bildschicht des Films selbst verläßt der Film das Theater und nähert sich der Malerei und den Bilderzählungen der Comics. Die Collage von Objekten der Realität, darunter auch Schrift, in die Abbildungsschicht der Malerei im Kubismus, Dada und Surrealismus zitiert Montageverfahren des Films, der seinerseits das Collagieren der Malerei weiterführt.117

Das quantitative Ausmaß der Buchstaben lässt sich exemplarisch an QUILLS (2000) beobachten. Schrift steht hier sowohl für einen Erkenntnisprozess als auch für das Motiv des Aufgehens in der Schrift, das in QUILLS äußert plastisch inszeniert wird: Bereits die ersten und letzten Worte („Dear Reader“ und „Turn the Page“118) verweisen darauf, dass der Film sich intermedial mit Schrift auseinandersetzt und mit den Konventionen im Umgang mit dem Medium Buch und Schrift spielt. Das erste in Erscheinung treten von Schrift innerhalb des Filmbilds ist die von der Hinrichtung durchzogene Schreibszene, die das Blut der Hinrichtung symbolisch mit der roten Tinte widerspiegelt.119 Bereits der hier vollzogene Übergang der roten Tinte in die Überblendung des gleichfarbigen Titelhintergrunds verweist auf die Interaktion von Film und Schrift über eine Darstellung auf der Ebene der histoire hinaus. Die Schrift wird regelrecht ‚lebendig‘, zumindest aber bewegt, als der Marquis de Sade mangels Papier und Tinte120 mit seinem Blut seine Kleidung beschriftet: My newest book. It starts at my left cuff and continues right across my back. The longest sentence you will notice runs the entire length of my inseam. And it all completes itself at the base of my right shoe. […] Two chapters: one for each cheek! My writing lives!121

Die Schrift lebt nicht nur, weil sie sich auf seiner Kleidung mit seinen Bewegungen in Falten schlägt oder dehnt und daher belebt wirkt, sondern ist durch die Verwendung seines Bluts als Tinte (in kontrastiver Anspielung auf die expositorische Verwendung der roten Tinte) obendrein mit ‚dem Lebenselixier‘ schlechthin geschrieben. Der Marquis löst sich sozusagen in seiner Schrift auf, indem er sein Leben für sie letztlich aushaucht, was sich auch in seinem finalen Tintener-

117 Joachim Paech (1994, „Der Schatten der Schrift auf dem Bild“), S. 214-216. 118 Philip Kaufman, 00:00:37, 01:58:28-01:58:30. 119 Vgl. ebd., 00:00:37-00:04:27. 120 Beides wird ihm nach seiner Entgleisung, ein eigenes Theaterstück aufführen zu lassen und seinen Roman Justine heimlich zu veröffentlichen, verwehrt, vgl. ebd., 00:04:54-00:11:27, 00:17:01-00:21:50, 00:26:46-00:52:36. 121 Ebd., 01:11:44-01:13:25.

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satz, seinen Exkrementen, zeigt.122 Paul Arthur bezeichnet ihn daher als „literary freedom fighter, a martyr to the cause of free expression“.123 Der Marquis de Sade lebt über den Tod hinaus in seinen eigenen Worten weiter, wie die absolute Identifikation des Abbé du Coulmier mit ihm am Filmende, die Vermarktung der Bücher des Marquis durch die Anstaltsleitung von Charenton und der Übergang in das Voice Over des Verstorbenen als stilistisches Mittel der Filmnarration nahelegen.124 Wie Paul Arthur darlegt, verfolgt der Film obendrein mit der Darstellung des Marquis de Sade noch ein weiteres Ziel: The film’s cultural politics could not be clearer. In a period of renewed conservative attacks on Hollywood for promulgating sex and violence to, especially, younger viewers, Kaufman’s spirited defense of a canonical, if deeply contested, author is in essence a defense of cinematic freedom coupled with a plea for openly erotic representation as counterweight to repressed America’s overindulgence in sadistic violence. Although Quills flaunts an anti-authoritarian, anti-censorship rhetoric, it is not immune to gnawing discursive contradictions – not least of which is a commercially prudent muting of sexual displays. Nonetheless, its strongest barb is reserved for opportunistic bureaucrats who secretly turn a profit from the posthumous sale of de Sade’s manuscripts.125

Die Figur des Autors wird in der filmischen Darstellung der fiktiven Werkgenesen immer wieder über einen bloßen Unterhaltungswert hinaus funktionalisiert. Neben den hier herausgearbeiteten politischen und marketingstrategischen Überlegungen zu den Freiheiten des Kinofilms generell wird im Film, insofern er über das rahmende Voice Over mit Literatur gleichgesetzt wird, ein mit den Schriftinserts des Stummfilms vergleichbares intermediales Spannungsfeld zwischen Literatur und Film eröffnet: Die Spur der Schrift nistet in den Zwischenräumen zwischen den Kadern des Filmbandes und in den Montagestellen der Einstellungen, überall dort, wo in den Stummfilm das Schrift-Bild des Zwischentitels eingefügt worden war. Es handelt sich um die projizierende Differenz dargestellter figurativer Bewegungen auf der Leinwand (die als figurative nur als Effekt der Differenz dargestellt werden kann). Die Spur der Schrift tritt hervor, wenn diese Differenz selbst in Erscheinung tritt, statt zu verschwinden, um die Projektion in der

122 Vgl. ebd., 01:47:03-01:48:00. 123 Paul Arthur, S. 337. 124 Vgl. Philip Kaufman, 01:49:15-01:58:32. 125 Paul Arthur, S. 337.

62 | THEORETISCHE Ü BERLEGUNGEN Kontinuität ihrer Bilder transparent (diaphan) zu einer imaginären Präsenz werden zu lassen.126

Paechs Überlegungen lassen sich auf die selbstbewusste Weiterentwicklung der Inszenierung von Schrift im Filmbild in QUILLS übertragen. Auch hier entsteht durch die Deklaration der Schrift als etwas ‚Lebendigem‘ und der Annäherung des Films an dieses Medium ein dynamischer Zwischenraum, in dem die Schrift sich in den Film ‚einschreiben‘ kann und als imaginäre Präsenz dessen Wahrnehmung als ‚literarisch‘ mitbestimmt. Der Film nähert sich der Literatur an, da nun neben filmischen Wahrnehmungsgewohnheiten auch literarische Rezeptionshaltungen im Filmpublikum wachgerufen werden. Der Film kann einerseits angesehen werden, aber durch das häufige Auftreten von Schrift, die bildlich eingeblendet oder vorgelesen wird, wird auch immer wieder ein Leseprozess dem Prozess des Ansehens konkurrierend und ergänzend zur Seite gestellt. Neben der Annäherung des Films an ein als distinkt divergent wahrgenommenes Medium oder die Vereinnahmung des Films von anderen Medien in einer mise-en-abyme-ähnlichen Struktur lassen sich mediale Referenzen in fiktiven Werkgenesen auch unter nicht im eigentlichen Sinne ‚intermedialen‘ Gesichtspunkten beobachten. Zusätzlich zu den hier thematisierten intermedialen Referenzen sind daher auch die als erweiternd oder ergänzend wirkenden Medienreferenzen in fiktiven Werkgenesen über Stilmittel wie Assoziationen und Potenzierungen zu betrachten.

2.3 E RWEITERNDE UND ERGÄNZENDE M EDIENREFERENZEN 2.3.1 Assoziationen Weniger unter einem intermedialen als vielmehr unter einem assoziativen Aspekt ist in fiktiven Werkgenesen beispielsweise die Einbindung von Musik zu begreifen, die nicht nur in den fiktiven Biographien von Musiker/innen zu finden ist, sondern auch Bestandteil der narrativen Verfahren bei Schriftsteller/innen und Künstler/innen.127 Da Musik zum Standardrepertoire der filmischen Ausdrucksmittel zählt und als Soundtrack die Atmosphäre des Films erzeugt, ist es

126 Joachim Paech (1994, „Der Schatten der Schrift auf dem Bild“), S. 223. 127 Zum Beispiel in BECOMING JANE, MISS POTTER oder SCHILLER. Vgl. für BECOMING JANE, Kapitel 3.2.1 und für SCHILLER Kapitel 8 dieser Arbeit.

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in fiktiven Werkgenesen nicht klar zu entscheiden, ob zwischen Film und Musik tatsächlich ein intermediales Spannungsfeld über den Eingliederungsprozess der Musik in den Film entsteht, doch bleibt die pointierte Verwendung von Musik in fiktiven Werkgenesen bemerkenswert. Unter der Prämisse, dass die Musik eine Erweiterung und Ergänzung des Films darstellt – ohne dass die Musik das Medium Film in seinen Charakteristika dynamisch verändern würde – lassen sich in fiktiven Werkgenesen vielfältige über eine gefällige Hintergrundmusik hinausreichende Verwendungen von Musik finden. Die Musik tritt in ihrer medialen Eigenschaft in den Vordergrund, statt verdeckt zur Gesamtatmosphäre beizutragen. Am eindrücklichsten lässt sich dies in fiktiven Werkgenesen zu Musiker/innen beobachten und soll exemplarisch an zwei Filmen dieses Sujets überdacht werden: In HILDE wird das Lied „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ (1968) nicht nur auf der histoire-Ebene akustisch wiedergeben, um den Höhepunkt der Karriere von Hildegard Knef zu symbolisieren, sondern erhält auch eine ordnende Funktion auf der Ebene des discours. Gleich einer extradiegetischen Erzählinstanz werden über einzelne, schriftlich eingeblendete Zitate aus dem Lied filmische Sequenzen zu sinntragenden Einheiten zusammengeführt und durch die Ausschnitte aus dem Songtext kommentiert bzw. mit einem Motto überschrieben. „Knefs Gesang untermalt (meist als Voice Over) entscheidende Höhepunkte des Films, insbesondere Filmanfang und Ende.“128 Kontrastiv wird das Lied als (Teil von) Hildes Identität auf der extradiegetischen Ebene dem Verlust der eigenen Identität auf der intradiegetischen Handlungsebene des Films gegenübergestellt. Wie an anderer Stelle in einer Detailanalyse der ‚Musikerreise‘ als einer der Campbellschen Heldenreise129 ähnlichen Struktur fiktiver Werkgenesen über Musiker bereits diskutiert, gilt in den filmischen Biographien von Musiker/innen: Die Musikerreise fokussiert die Neukonstruktion der eigenen Identität durch und in der Musik, deren Vollzug in der postulierten Unsterblichkeit dieses Identitätskonstrukts gipfelt, wie es sich prototypisch an HILDE ablesen lässt: Hildegard Knef sieht sich nach dem Durchleben des zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit in Berlin mit dem Freitod ihres Großvaters konfrontiert, der sie in eine erste Identitätskrise stürzt, da ihr Großvater bis zu diesem Zeitpunkt der Einzige war, mit dem sie all ihre frühen Erfolge teilen wollte. Diese Krise kann sie überspielen, indem sie sich einen neuen Referenzpunkt ihres Strebens sucht, den sie in Erich Pommer findet. Nur ihm ist es daher auch möglich, das Identi-

128 Laura Zinn, S. 144. 129 Vgl. Joseph Campbell.

64 | THEORETISCHE Ü BERLEGUNGEN tätskonstrukt, das Hildegard Knef nach der vollständigen Identifikation der Öffentlichkeit ihrer Person mit der von ihr verkörperten Rolle in DIE SÜNDERIN und damit der unfreiwilligen Aufgabe ihrer Menschlichkeit zugunsten ihres Werkes schützend um sich errichtet, zu erschüttern.130

Die Identitätskrise wird von Pommers simpler Frage, „Aber sagen Sie mir: Was macht Sie zu Hildegard Knef?“,131 provoziert, da es Hilde unmöglich ist, darauf eine umfassende Antwort zu geben. Erst als ihr Identitätskonstrukt auf ihrer Musik zu fußen beginnt, kann sie diese Krise überwinden – wie es die extradiegetischen Zitate aus „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ bereits von Beginn des Films an nahelegen. In Anlehnung an Sigrid Nieberle kann hierbei von der Eröffnung eines ‚metabiographischen Kontexts‘132 gesprochen werden, insofern die fiktionalisierte biographische Narration mit einer autobiographischen Ausdeutung des Songtexts versehen wird. Die sterbliche Sängerin und Schauspielerin geht in dem zeitlosen und damit unsterblichen Star-Konstrukt auf, das nun nicht mehr extern zugewiesen wird, sondern von Knef selbst mit ihren Songtexten geschaffen wird. In der Konsequenz des Filmendes erweist sich dieses Star-Konstrukt als ihre ‚wahre‘ Identität, die sie gleich einer mythischen Maske bzw. einer ‚Persona‘ trägt und die durch die vollständige Identifikation mit ihrem ‚Selbst‘ verschmilzt.133

Die Musik wird auch in anderen Musikerbiographien zum narrativen Grundsystem der Star-Konstruktion. Besonders auffällig geschieht dies in BEYOND THE SEA (2004), wenn der im Verlauf der Filmhandlung sterbende Bobby Darin dabei zu beobachten ist, „wie er einen Film über sein eigenes Leben dreht – und zwar über seinen Tod hinaus. Dabei führt Bobby Darin nicht nur Regie, sondern spielt auch seine Jugend und sein Erwachsenenleben selbst, einzig seine Kind-

130 Laura Zinn, S. 143; vgl. weiterführend Willi Forst (Regie): DIE SÜNDERIN. BRD: Deutsche Styria Film GmbH et al. 1951; vgl. Kai Wessel, beispielsweise 00:00:4100:03:25, 00:10:29-00:10:48, 00:59:58-01:01:45, 01:28:48-01:29:03, 02:02:1902:05:07. 131 Kai Wessel, 01:27:47-01:27:52. 132 Vgl. Sigrid Nieberle (2004), S. 125. 133 Laura Zinn, S. 144; für eine ähnliche Überlegung, vgl. Susan Hayward, S. 377; für den Begriff ‚Persona‘, vgl. B. L. Ware und W. A. Linkugel.

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heit wird von einem jungen Schauspieler verkörpert.“134 Auch hier wird (wenig subtil) mit dem Filmende die Unsterblichkeit des Musikers propagiert: „Walden Robert Cassotto schrieb 163 Songs und nahm 487 Titel auf. Er hat über 10 Millionen Platten verkauft. Er starb nach einer Herzoperation am 20. Dezember 1973. Bobby Darin swingt noch immer.“135 Die Musik wird hierbei kontrastierend zum Handlungsverlauf eingesetzt. Markant geschieht dies in der Beerdigungssequenz von Bobbys Mutter (eigentlich Großmutter), wenn der erwachsene Bobby zwar weitereilt, um dem Fortschreiten seiner Karriere – untermalt mit seiner populären Version von „Mack the Knife“ (1959) – zu folgen, während sein kindliches Alter-Ego trauernd am Sarg zurückbleibt. Doch trotz dieses vermeintlichen musikalischen Höhepunktes ist diese Szene für den Farbfilm auffällig in Schwarzweiß gedreht.136 Zum einen dient diese Strategie zur Signalisierung vermeintlicher Authentizität in Anlehnung an die damaligen Fernsehgegebenheiten, zum anderen weißt die Farblosigkeit darauf hin, dass dies nicht der Höhepunkt der ausgewählten biographischen Momente ist, weder musikalisch noch menschlich.137

Der endgültige musikalische Höhepunkt ist in der finalen Szene nach dem Tod des Protagonisten und dessen ‚Wiederauferstehung‘ als unsterblicher Künstler anzusiedeln. Hier durchläuft die stehengebliebene Armbanduhr (das Symbol für Waldens abgelaufene Lebenszeit) eine Metamorphose zum goldenen Mikrophon (und damit dem Symbol der Musik), auf dem Bobby den letzten Song innerhalb des Films singt und so die Unsterblichkeit des Musikers in seiner Musik akustisch inszeniert wird.138 Die assoziative Erweiterung bzw. Ergänzung, die in fiktiven Werkgenesen durch Medienreferenzen erzeugt werden kann (nicht nur in Biographien zu Musiker/innen, die hier lediglich als markante Beispiele für diese Form von Medienreferenzen gewählt wurden), zeigt, wie der Film über die Einbettung eines weiteren Mediums zusätzliches Bedeutungspotential erhalten kann. Dieser Effekt kann nicht allein mit filmischen Mitteln erzeugt werden, sondern nur durch eine Referenz auf andere Medien, die über standardisierte filmische Verfahren

134 Laura Zinn, 132f.; vgl. Kevin Spacey, 00:00:23-00:05:05, 00:05:46-00:05:49, 00:06:43-00:08:09, 01:38:03-01:45:58. 135 Ebd., 01:46:57-01:47:04; vgl. auch ebd., 01:42:02-01:42:11. 136 Vgl. ebd., 00:23:18-00:28:00. 137 Laura Zinn, S. 133. 138 Vgl. Kevin Spacey, 01:32:15-01:45:59; vgl. Laura Zinn, S. 143.

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hinausweist. Um auf die oben genannten Beispiele zurückzugreifen, offenbart sich durch die gegenseitige Ergänzung von Musik und Film das filmisch propagierte Starkonstrukt (als Bestandteil der Konstruktion von Autorschaft in fiktiven Werkgenesen), indem die Musik die Basis des Unsterblichkeitstopos’ legt, aber (wenn auch nicht ausschließlich) über den Film als ebenjene Basis (mit-) konstruiert wird.139 2.3.2 Potenzierungen Medienreferenzen in fiktiven Werkgenesen lassen sich nicht nur assoziativ als Erweiterung und Ergänzung des filmischen Mediums auffassen, sondern auch als Form der Potenzierung der filmischen Ausdrucksmöglichkeiten über die (nicht zwangsweise und nicht in einem engen Definitionssinn intermediale) Einbindung von Medien. Neben dem assoziativen Ergänzen von Medien zugunsten des Ausdrucks einer Aussage über das dargestellte Autorschaftskonstrukt, wie oben am Beispiel der Musik ausgeführt, zählen Potenzierungen zu den ebenfalls häufig genutzten Strategien der Medienkombination in fiktiven Werkgenesen, um das dem Einzelwerk zugrundeliegende Autorschaftskonzept filmisch zu inszenieren. Exemplarisch lässt sich dies an SHADOW OF THE VAMPIRE (2000) beobachten, wo gleich mehrere Potenzierungsmöglichkeiten parallel genutzt werden. So wird über die Film-im-Film-Struktur, die sich auf der histoire-Ebene über die Dreharbeiten zu NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS (eine Einzelreferenz auf den Film von 1922) und auf der discours-Ebene über den doppelten Blick durch die Kamera140 sowie den Wechsel von Farb- und Schwarzweißfilm manifestiert, die Grenze filmischer Möglichkeiten immer wieder explizit zum Ausdruck gebracht. Letztlich gelingt es dem thematisierten Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau nicht, in seinem als Meisterwerk geplanten Film NOSFERATU,141 den eigens dafür engagierten, echten Vampir während des Aussaugens der weiblichen Hauptdarstellerin und seinem damit einhergehenden Tod im Licht der

139 Vgl. ebd. 140 Gemeint ist dabei zum einen der Blick durch die reale Kamera, die den Film aufgezeichnet hat und deren Existenz in der Rezeption eines Films in der Regel ausgeblendet wird, sowie zum anderen durch die diegetische Kamera und damit gleichbedeutend die Figurenperspektiven der beiden am Dreh beteiligten Kameramänner Wolfgang Müller und Fritz Arno Wagner. 141 Der trotz aller Verweise auf das Original ein fiktives Pendant desselben bleibt und daher im Folgenden kursiv dargestellt wird.

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aufgehenden Sonne zu filmen. Überbelichtet und am Ende der Filmrolle muss der eigentliche Höhepunkt des Films für den Binnenfilm und damit (so die Aussage von SHADOW OF THE VAMPIRE) den realen Film NOSFERATU ungezeigt bleiben und kann daher (so die sich aus der Rezeption von SHADOW OF THE VAMPIRE ergebende Interpretation) in NOSFERATU nur durch das Aufgehen in Transparenz und den anschließend gezeigten Rauch symbolisch nachvollzogen werden.142 Die in SHADOW OF THE VAMPIRE gebotene Werkgenese des Filmklassikers NOSFERATU kann also für eine retrospektive Neubewertung des Films sorgen, da nun der reale Film um eine fiktive Entstehungsgeschichte ergänzt wird, die die Möglichkeiten und Grenzen des thematisierten Films auslotet, was sich insbesondere an der eingeschränkten Abbildungsmöglichkeit des (diegetisch tatsächlich lebenden) Vampirs manifestiert.143 Die Undarstellbarkeit des Vampirs im Film kündigt sich bereits beim Dreh der Speiseszene an, bei der sich der Schauspieler Gustav von Wangenheim versehentlich in den Finger schneidet und der Vampir, vom Blutgeruch außer Kontrolle geraten, versucht, dessen Blut auszusaugen. Auch hier reagiert die Technik kongruent zum Vampir, wenn mit zunehmender Erregung des Vampirs das Licht zu flackern beginnt und im Moment des Kontrollverlusts der Generator durchbrennt.144 Der intradiegetische Film kann – wie sein Titel bereits ankündigt – nur einen Schatten bzw. ein Abbild des Vampirs darstellen. Das mythische Wesen wie auch Friedrichs Wahnsinn entziehen sich somit einer filmischen Inszenierung und befinden sich außerhalb der Grenze dessen, was der Film als Medium abzubilden im Stande ist. Visuell wird dies durch das prominente Motiv des Vampirschattens und das fehlende Spiegelbild des Vampirs auf die Handlungsebene übertragen. Insbesondere der Schatten des Vampirs wird dabei zum semiotischen Zeichen, das nicht nur für dessen phantastische Andersartigkeit,145 sondern auch für die nur im platonischen Sinn schattenhaft mögliche Abbildung von Realität im Film steht. Das fehlende Spiegelbild ermöglicht es der Hauptdarstellerin Greta Schröder überhaupt erst, den Vampir als solchen und ihre eigene nicht nur intradiegetische Rolle als Opfer zu erkennen.146 Die Erkenntnis

142 Vgl. E. Elias Merhige, 01:12:58-01:25:59; vgl. Friedrich Wilhelm Murnau, 01:24:5901:30:51. 143 Die damit verbundene paratextuelle Funktion wird unten besprochen, vgl. Kapitel 3.4 dieser Arbeit. 144 Vgl. E. Elias Merhige, 00:36:18-00:38:51; für die Original-Speiseszene, vgl. Friedrich Wilhelm Murnau, 00:26:14-00:27:00 145 Vgl. Anke Steinborn, S. 239-243. 146 Vgl. E. Elias Merhige, 01:14:14-01:15:29.

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des fehlenden Spiegelbilds lässt für Greta – und damit für den Rezipienten – die Grenze zwischen Intra- und Extradiegese endgültig verschwinden. Gleichzeitig rekurrieren das fehlende Spiegelbild und das fehlende Abbild im Binnenfilm, das symbolisch durch den Schatten ersetzt wird, repetitiv auf die mediale Grenze des Films und evozieren ein kritisches Medienbewusstsein. Medientheoretisch wird dieses Problem in der philosophischen Diskussion zwischen dem Vampir und dem zweiten Kameramann Fritz Arno Wagner über Platons Thesen zu Realität und Illusion herausgearbeitet, wenn Fritz die These äußert, dass die Illusion die einzige Realität sei,147 sowie über die Aussage Friedrichs: „If it’s not in frame, it doesn’t exist.“.148 So ergibt sich zwischen extraund intradiegetischer Ebene ein Spannungsfeld, das nur über das unerreichbare Ideal von Authentizität aufzulösen wäre. Das Streben nach Authentizität wird bereits im Filmanfang festgelegt, wenn Friedrich zu Beginn der Dreharbeiten an NOSFERATU als „Germany’s greatest film-maker, in a class with such masters as Griffith and Eisenstein“149 gefeiert wird. Friedrich kanalisiert den ihm zugeschriebenen Erfolg in den Ansporn zu noch größerem Erfolg, indem er eine intensivierte Authentizität in seinem neuen Werk erreichen will, die den Stummfilm regelrecht revolutionieren soll: „Friedrich would do anything to render this movie more authentically. For the Carpathians, what does he use? The Carpathians. For a ruined castle a ruined castle. For peasants peasants. And for a vampire he will use a real vampire. Because there’s nothing he will not do.“150

Neben der medialen Potenzierung des Films im Film tritt hier somit noch eine Steigerung der Authentizitätsstiftung hinzu, was das Bedeutungspotential der medialen Referenzen für diese fiktive Werkgenese erhöht. Wie im oben genannten Zitat bereits anklingt, wird Friedrichs Bestreben insbesondere von seiner Filmcrew nicht ausschließlich positiv betrachtet. Die kritische Bewertung wird nicht zuletzt dadurch ausgelöst, dass Friedrich bereit ist, seine Crewmitglieder für den Film wissentlich auf den Speiseplan des Vampirs zu setzen.151 Die geäußerte Kritik verdeutlicht gleichzeitig die Grenze des Films, der Realität – egal

147 Vgl. ebd., 00:56:08-00:56:52. 148 Ebd., 01:21:36-01:21:39. 149 Ebd., 00:13:00-00:13:06. 150 Ebd., 01:03:22-01:03:38. 151 Vgl. ebd., 00:42:22-00:47:09, 01:00:02-01:01:36, 01:03:58-01:06:28, 01:18:1001:25:58.

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wie authentisch – immer nur abbilden, niemals aber erzeugen kann. Dieses Motiv wird bereits über die Gegenüberstellung des menschlichen Auges mit der Kamera eingeführt, die die gedrehte Szene aus NOSFERATU unterschiedlich wahrnehmen: Während das Filmmaterial des Binnenfilms auf der intradiegetischen Ebene in schwarzweiß und mit Lochblende dargestellt ist, nimmt das menschliche Auge die Umgebung, dem Farbfilm gemäß, bunt wahr.152 Die hier scheinbar aufgebaute Trennung von intradiegetischem Schwarzweißfilm und extradiegetischem Farbfilm wird durch die für den Stummfilm charakteristischen Schriftinserts, die Zeitsprünge in einer Raffung narrativieren und in neue Settings einführen, bereits mit der ersten Einstellung des Films unterlaufen. Mit fortschreitender Filmhandlung wird diese nur scheinbar klare Grenze zwischen den Filmebenen ebenfalls zunehmend diffuser, wenn die gedrehten Szenen in Farbe oder Szenen, die nicht in NOSFERATU und NOSFERATU zu finden sind, in Schwarzweiß gezeigt werden, wie sich beispielsweise an der oben bereits angesprochenen Speiseszene beobachten lässt. Zunächst bleibt aber die scheinbare Trennung der Filmebenen vorhanden. Die erste nachgedrehte Szene und zugleich Einführung der intradiegetischen, weiblichen Hauptfigur Ellen soll Pathos erzeugen, doch die extradiegetische Schauspielerin Greta kann über ihre eigene Darbietung nur die Augen verdrehen.153 Das bereits mit der Unterscheidung von Auge und Linse aufgebaute Spannungsfeld der Wahrnehmungen wird auch über das Verhalten der Katze verstärkt, die im Original dieser Szene interessiert am Spiel mit dem Wollknäuel beteiligt ist, während im Hintergrund eine verspielte Melodie die Szene entsprechend untermalt.154 In NOSFERATU hingegen sitzt die betäubte Katze lediglich unbeteiligt und apathisch vor der mit dem Faden herumfuchtelnden Schauspielerin. Der Bruch zwischen Original (NOSFERATU) und der Darstellung der Entstehungsgeschichte des Abbilds in der fiktiven Werkgenese (NOSFERATU in SHADOW OF THE VAMPIRE) lässt sich entsprechend der hier angestellten Überlegungen dahingehend erschließen, dass die Verfilmung lediglich im Stande ist, ein lebloses Abbild zu erzeugen. Alle Lebendigkeit, die im Film (in diesem Fall im Original NOSFERATU) wahrgenommen werden kann, ist nur künstlich erzeugt und hat daher nur den Anschein von Vitalität inne. Die immer wieder aufscheinende Artifizialität des (Binnen-)Films erschließt sich nicht ausschließlich über die intramediale Verknüpfung des Films im Film, sondern wird über die Strategie der Potenzierung auf verschiedene Art und Wei-

152 Vgl. ebd., 00:05:13-00:05:57. 153 Vgl. ebd. 00:05:57-00:06:47. 154 Vgl. Friedrich Wilhelm Murnau, 00:04:34-00:04:43.

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se als mediale Referenz inszeniert. Akustisch wird sie in den Gesprächen zur Medientheorie und der geäußerten Kritik an Friedrichs Bestreben erläutert, visuell manifestiert sie sich in dem Ineinandergreifen von Binnen- und Rahmenfilm sowie dem Bruch zwischen dem intradiegetischen Film NOSFERATU und dem realen Film NOSFERATU. Dieser Bruch wird nicht nur über die Darbietung der Schauspieler erzeugt, sondern auch über die Kontrastierung von ‚Filmraum‘, ‚Architekturraum‘ und ‚Bildraum‘,155 der die Artifizialität des Films noch einmal betont. Das im intradiegetischen Filmbild gezeigte Detail des Filmraums wird über die extradiegetische Sicht als in seiner Endlichkeit definierten Architekturraum präsentiert, der lediglich aus dem im Bildraum sichtbaren Ausschnitt besteht.156 Auch die daran anschließende Szene in einer Opiumhöhle verweist auf das Hauptthema des Films, das Problem der Wahrnehmung zu verhandeln.157 Fast schon proleptisch fasst Greta den Unterschied zwischen dem menschlichen Blick und dem Blick durch die Linse zusammen: „The theatrical audience gives me life, while this thing there [gemeint ist die Kamera, mit dem zentralen Fokus auf die Linse, L.Z.] merely takes it from me.“158 Letztlich stirbt sie nicht nur metaphorisch vor und für die Kamera und das Filmprojekt, sondern real durch den Biss des Vampirs, während Friedrich den von ihm angestrebten Höhepunkt zu

155 Hans Krah definiert in seinen Einführungen zur Raumtheorie die Begriffe folgendermaßen: „Zu unterscheiden sind der ‚Bildraum‘ als das auf das Rechteckt der Leinwand projizierte Filmbild, der ‚Architekturraum‘ als die natürlichen oder künstlichen Teile von Welt, wie die Projektion auf der Leinwand sie mehr oder weniger getreu darstellt, und der ‚Filmraum‘ als die Welt, die sich der Zuschauer in seiner Vorstellung zusammensetzt.“ Hans Krah (1999), S. 5. Etwas anders benennen David Bordwell und Kristin Thompson die Begrifflichkeiten zur Analyse in der neoformalistischen Filmanalyse, die Wolfgang Ruge knapp zusammenfassend erläutert: „In der Analyse wird zunächst damit begonnen, das narrative System des Films zu verstehen (film-form), um anschließend zu ergründen, wie durch den Einsatz filmsprachlicher Mittel (film-style) die Story erzählt wird. Der film-style wird analytisch in vier Bereiche unterteilt: Als ‚mise-en-scene‘ werden jene Gestaltungselemente beschrieben, die sich vor der Kamera befinden. Die cinematography beschreibt den Umgang mit der Kamera. Unter editing wird das Zusammenführen einzelner Einstellungen zusammengefasst. Der sound markiert schließlich die auditive Ebene des Films, wobei sowohl innerdiegetische als auch extradiegetische Musik und Geräusche analysiert werden.“ Wolfgang Ruge, S. 58; vgl. David Bordwell und Kristin Thompson. 156 Vgl. E. Elias Merhige, 00:05:47-00:07:53. 157 Vgl. ebd., 00:09:48-00:10:20. 158 Ebd., 00:08:19-00:08:24.

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filmen versucht – letztlich aber wie oben angesprochen scheitern muss, da die Filmrolle am Ende ist und der Tod des Vampirs obendrein eine zu starke Überbelichtung erzeugt. Während die Grenzen des filmischen Mediums bei der Darstellung von Realität klar aufgezeigt werden, verwischt die (vermeintliche) Grenze zwischen intradiegetischem Binnenfilm und extradiegetischem Rahmenfilm (wie oben bereits angesprochen) zusehends, insofern Motive des intradiegetischen NOSFERATU Auswirkungen auf die extradiegetische Rahmenfilmhandlung haben. Dies ist beispielsweise in der schwarzweiß wie in Farbe dargestellten Furcht des Schauspielers Gustav vor dem vermeintlichen Max Schreck (dem Schauspieler-Alias des Vampirs) und dessen Verkörperung des Grafen Orlock sowie der ebenfalls metaleptisch wirkenden Warnung der in den Dreh hineinplatzenden Wirtin zu beobachten.159 Mit der Entdeckung der Vampirhaftigkeit des angeblichen Schauspielerkollegen verschwimmen die beiden Ebenen vollständig und untrennbar, wie sich nicht nur an der bereits diskutierten Speiseszene, sondern auch an dem oben erwähnten Entdecken des fehlenden Spiegelbildes und der anschließenden Sterbeszene von Greta und dem Vampir beobachten lässt. Sowohl in der (in diesem Fall unterminierten) Film-im-Film-Struktur als auch den in den Dialogen ausgeführten Medienreflexionen lässt sich eine potenzierende Form der Medienreferenz finden. In SHADOW OF THE VAMPIRE lassen sich obendrein noch weitere, die Ebene der Referenz auf das Einzelwerk wie den Autor betreffende Potenzierungen beobachten. Auffällig an diesem Film ist, dass im Gegensatz zum oben diskutierten ADAPTATION keine als erfolglos zu wertende Anfangssituation (hier im Sinne einer Schreibblockade) vorliegt und somit keine simple wie positive Steigerung zu einer als erfolgreich zu wertenden Endposition des Autors, die sich im Abschluss der Werkgenese begründet, vollzogen werden kann. Um dennoch eine Entwicklung in SHADOW OF THE VAMPIRE darstellen zu können, wird sukzessive der Wahnsinn des als genial gefeierten Regisseurs offengelegt. Damit schließt sich der Film an die Darstellung der seit der Antike traditionellen, in der Epoche der Romantik besonders dicht verknüpften Verbindung von Genie und Wahnsinn an, die als komplementäre Seiten gewertet werden, wie Monika Schmitz-Emans ausführt: Wahnsinn als Abweichung impliziert stets eine Provokation. Die Rede des Wahnsinnigen ist fremde Rede: Rede aus einer wie auch immer beschaffenen Fremde. Gerade die Dichtung nun stellt seit der Antike Rand- und Grenzphänomene des Wirklichen sowie Abweichungen von Gesetz und Norm immer wieder ins Zentrum ihrer Darstellung. […] Der

159 Vgl. ebd., 00:21:11-00:25:28, 00:18:52-00:21:09.

72 | THEORETISCHE Ü BERLEGUNGEN Dichter spricht – einem bis auf die Antike zurückverfolgbaren Topos zufolge – vom Anderen, und zwar oftmals, indem er anders spricht. Letzteres verbindet ihn mit dem Wahnsinnigen. […] Vielfach betont wurde die schöpferische Dimension dieser grenzüberschreitenden Bewegung hin zum Anderen des Verstandes, die Verwandtschaft zwischen Wahnsinn und Künstlertum. An der Nachtseite der Dinge, in den dunklen Abgründen des Selbst lag das Unerhörte – die Quelle neuer Schöpfungen; von hier bezog der schöpferische Mensch die Energie zur Überbietung des Bekannten und Vertrauten – so die Leitidee.160

Neben der Übernahme der Definition von Wahnsinn als Form der Genialität, die über das Bekannte und Vertraute hinausgeht, wird in SHADOW OF THE VAMPIRE die antike und romantische Kombination von Imagination und Wahnsinn umgedeutet,161 weil Friedrich zunächst die einzige Figur ist, die den Vampir nicht imaginiert, sondern sich dessen tatsächlicher Existenz bewusst ist. Damit wird gleichfalls die Realitätsproblematik wieder aufgegriffen, da Friedrich als einziger die diegetische Realität als solche wahrzunehmen im Stande ist. Diese definitorische Abwandlung steigert die negative Bewertung von Friedrichs Verhalten, zwanghaft sich und sein Werk überbieten zu müssen, wenn er wissentlich seine Filmcrew für noch größere Triumphe opfert, der Wahnsinn also um Kalkül ergänzt wird. Für den Protagonisten führt die bereits angesprochene mediale Grenze des Films, die sich in Überbelichtung, der Notwendigkeit von beschreibbarem Filmmaterial und der mangelnden Möglichkeit zur ‚Realitätserzeugung‘ ausdrückt, zum tragischen Ausgang seines Versuchs. So wird über die Potenzierungsstrategie das Zusammenspiel zwischen dem extradiegetischen Rahmenfilm SHADOW OF THE VAMPIRE und dem hier im Entstehen begriffenen intradiegetischen Binnenfilm NOSFERATU nicht nur als Medienreferenz inszeniert, sondern auch als Referenz auf das Einzelwerk NOSFERATU, deren Bezüge sich in ihrer Vielfältigkeit nur über den Vergleich erkennen lassen, und als Referenz auf den Regisseur (in diesem Kontext definiert als ‚Autor‘). Im Zusammenspiel der drei Ebenen gelingt die Erzeugung des in diesem Fall eher negativ konnotierten Autorschaftsmodells, das sich aus dem ambivalenten Verhältnis von Genie und Wahnsinn, (diegetischer) Realität und Fiktion sowie Authentizität und Medialität speist. Die Potenzierung über eine Verschachtelung von Ebenen kann in fiktiven Werkgenesen aber nicht nur über das Hinzufügen einer intradiegetischen Ebene, sondern auch über die Verschachtelung unterschiedlicher Handlungsebenen erreicht werden, wie am Beispiel von THE HOURS (2002) über die Collage der un-

160 Monika Schmitz-Emans, S. 206f. 161 Vgl. ebd., S. 209f.

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terschiedlichen Zeitebenen, die sich jeweils mit einem eigenen Aspekt von Literatur auseinandersetzen, zu beobachten ist. Im Film werden drei Handlungsstränge erzählt: Zwei davon behandeln Autoren, die Autorin Virginia Woolf (als fiktionalisierte Version der historischen Autorin)162 und der fiktive Autor Richard Brown. Virginia wird hauptsächlich während der Entstehungsphase von Mrs. Dalloway (1925) im Jahr 1923 filmisch porträtiert. Richards Handlung ist ins Jahr 2001 versetzt und zeigt den an AIDS erkrankten Autor, der von seiner Lektorin und Freundin Clarissa Vaughan (mit dem Spitznamen „Mrs. Dalloway“) zu einer Lesung aus seinem Werk The Goodness of Time, einer Adaption von Mrs. Dalloway, gedrängt wird. Die dritte Zeitebene thematisiert mit Laura Brown die Geschichte einer Rezipientin von Mrs. Dalloway, die in ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter unglücklich ist. Damit werden sowohl der Schreibprozess über Virginias Erzählstrang, Mechanismen der Adaption mit der Handlung über Richard als auch Funktionsweisen der Literatur über die lesende Laura in den drei unterschiedlichen Ebenen zu unterschiedlichen Zeiten eines Jahrhunderts dargestellt.163 Der Titel THE HOURS (im Deutschen noch um den Untertitel VON EWIGKEIT ZU EWIGKEIT ergänzt) bezieht sich demnach nicht nur auf den von der historischen Virginia Woolf ursprünglich angesetzten Arbeitstitel von Mrs. Dalloway,164 sondern auch auf die thematisierte Zeitspanne und die Bedeutung von Zeit sowie auf die besondere Zeitwahrnehmung, die mit Literatur einhergeht und deren umfassenden und im Film propagierten zeitlos gültigen Funktionsweisen. Das Medium Literatur in seinen Ausprägungen Schrift, Sprache und Buch ist in THE HOURS nicht „zufälliges Objekt des Kamerablicks“,165 sondern steigert als mediale Referenz das hermeneutische Potenzial der fiktiven Werkgenese. Beginnend mit einer retrospektiv-kommentierenden Rahmung wird die Arbeit an Mrs. Dalloway als Erkenntnisprozess zur Wertschätzung des Lebens dargestellt: „To look life in the face, always to look life in the face, and to know it for what it is, at last to know it, to love it for what it is, and then to put it

162 Michaela Krützen fasst die „emotional geführte“ Debatte über die fiktionalisierte Darstellung von Virginia Woolf in ihrer Studie zu THE HOURS zusammen, vgl. Michaela Krützen (2010), S. 473f. 163 1923, 1941, 1951 und 2001, vgl. Stephen Daldry, 00:04:39, 00:00:38, 00:03:42, 00:05:27. 164 Für eine Analyse der Titelbedeutung und das Verhältnis zwischen den Adaptionen durch Michael Cunningham (Roman) und Stephen Daldry (Verfilmung) sowie Virginia Woolfs Original, vgl. Michaela Krützen (2010), S. 465-493. 165 Ebd., S. 215.

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away.“166 Die von Virginias Voice-Over am Filmende proklamierte Wertschätzung des Lebens, die in die vom Anfang wiederholten Bilder ihres Selbstmords übergehen, kann sie nur durch ihr intensives Erleben des Schreibens als metaphorisches zweites Leben167 erfahren. Die drei im Film thematisierten Selbstmorde sind demzufolge auch nicht zufällig mit den drei thematisierten Schriftstellern verknüpft: Virginia, Richard und Septimus Warren Smith, der Poet in Virginia Woolfs Mrs. Dalloway168 lassen sich als jeweilige Alter Egos lesen. Die Verfilmung geht, wie Krützen beobachtet, sogar noch einen Schritt weiter, indem sie Virginia eine poetische Macht über Richards Leben zuspricht: Virginia plant in der 30. Filmminute von THE HOURS, ihre Protagonistin am Ende von Mrs. Dalloway sterben zu lassen. […] Doch in Filmminute 64 ändert sie ihre Meinung. In ihr reift ein Entschluss, den sie in Filmminute 93 ihrem Mann mitteilt. Virginia wird ihre ursprünglich einsträngige Erzählung Mrs. Dalloway in eine mehrsträngige verwandeln. Und ihren zweiten Protagonisten wird sie töten. Sie erklärt: „The poet will die. The visionary.“ Die nächste Einstellung zeigt den kleinen Richie, der in seinem Bett liegt und schläft. […] Virginia redet über einen Poeten und Geisterseher, der sterben muss. Sie meint ihre Figur Septimus Warren Smith, aber der Schnitt auf das Kind suggeriert, dass sie dessen Lebensweg absehen kann. Es scheint, als habe Virginia Richie und damit Richard gemeint und als sei sein Schicksal durch ihre Entscheidung vorbestimmt worden. Das ist ein weiteres Indiz für die über ihren Text hinausreichende Gestaltungskraft der Figur Virginia, für ihre „authorial power“. Und so wird auch Richard, der sein Leben in Beziehung zu Virginia Woolf und zu ihrem Werk gesetzt hat, zu einer Figur, die dem Kopf der Schriftstellerin entsprungen zu sein scheint.169

Das Schreiben als Erkenntnisprozess und als Ausdrucksmöglichkeit dieser Erkenntnis sorgt durch den Zeitsprung im Handlungsstrang Virginias für eine Verknüpfung des Schreibens des Romans und des Schreibens ihres letzten Abschiedsbriefs und lässt beides ineinander verschwimmen, so dass letztlich mit dem Roman als ‚Abschiedsbrief‘ aus dem Leben für sie alles gesagt bzw. geschrieben zu sein scheint.170

166 Stephen Daldry, 01:44:17-01:44:42. 167 Vgl. ebd., 01:05:03-01:05:52. 168 Vgl. Virginia Woolf, S. 155-205. 169 Michaela Krützen (2010), S. 485f. Für den Begriff „authorial power“, vgl. Karen Diehl, S. 94f. 170 Auch wenn diese Darstellung des Films nicht den historischen Tatsachen entspricht, vgl. Stephen Daldry, 01:35:10-01:35:43, 01:44:35-01:45:38.

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Kontrastiert wird dieser Erkenntnisprozess mit dem Lesen, das als „Nachempfinden“ dargestellt wird: Obwohl auch Laura beim Lesen des Romans den Überlegungen der Protagonistin folgend über Selbstmord nachdenkt, kann sie sich nur zum Leben entschließen, da sie an diesem ‚Erschreiben‘ des Lebens keinen Anteil hat. Laura wird als Rezipientin des Romans daher ebenso wie Clarissa (Vaughan) mit Clarissa Dalloway verknüpft und als Alter Ego-Trio den drei Schriftsteller/innen gegenübergestellt. Lauras Vision vom Selbstmord wird durch Virginias Entscheidung unterbrochen, die Protagonistin nicht sterben zu lassen.171 Der Erkenntnisprozess wird um die Facette der Adaption erweitert, als die Richards Handlungsstrang gelesen werden kann. Richard versucht in seinen Werken, Realität in Literatur zu übersetzen, zu transportieren oder zu ‚adaptieren‘, kann dies aber sowohl durch seine AIDS-Erkrankung körperlich nicht mehr schaffen, als auch im von seinem Umfeld ausgesprochenen Urteil nicht mehr leisten, was durch die für diesen Tag angesetzte Preisverleihung für sein Lebenswerk als von ihm empfundenen Schlussstrich, der unter seine literarische Produktion gesetzt wird, zum Ausdruck kommt. Auch in seinem eigenen Urteil gelingt es ihm nicht, sein hochgestecktes Ziel zu verwirklichen: I wanted to be a writer, that’s all. […] I wanted to write about it all. Everything that happens in a moment. The way that the flowers looked when you carried them in your arms. This towel, how it smells, how it feels, its threat. All our feelings. Yours and mine. The history of it. Who we once were. Everything in the world. […] And I failed.172

Richards Roman handelt von dem, was er erlebt hat („Richard’s a writer, that’s what he is. He uses things, which actually happened. […] But then he changes things. […] He makes them his own.“),173 gleichzeitig adaptiert sein Handlungsstrang Motive von Mrs. Dalloway: Nicht nur der Spitzname „Mrs. Dalloway“ für Clarissa spielt direkt auf den Roman an, er wird auch über verschiedene Handlungsmotive aufgegriffen.174 Die Verknüpfung zu Mrs. Dalloway besteht aber nicht nur über Richard, sondern wird als Bindeglied zwischen allen drei Zeitsträngen und allen drei weiblichen Hauptfiguren (Clarissa, Laura, Virginia) verwendet: Als Virginia ihren ersten Satz findet („Mrs. Dalloway said she would

171 Vgl. ebd., 01:03:22-01:07:02. 172 Ebd., 00:21:28-00:22:00. 173 Ebd., 00:15:38-00:15:56. 174 Vgl. Michaela Krützen (2010).

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buy the flowers herself“)175 und ihn beim Schreiben ausspricht wird diese Szene in einer Montage mit den beiden anderen Handlungssträngen verknüpft, insofern dass Laura mit dem Buch in der Hand den gleichen Satz vorliest und Clarissa diesen spontan ausspricht und in die Tat umsetzt.176 Die so evozierte untrennbare Verknüpfung der drei Zeitebenen verbindet auch die drei Umgangsmöglichkeiten mit der Schrift (Schreiben, Lesen, Adaptieren) und deren mediale Ausformung (Schrift, Sprache, Buch) miteinander. Indem der Film THE HOURS alle drei Ebenen der Schrift wiedergibt, positioniert er sich selbstbewusst als Transportmedium in Bezug zur Schrift. Hier manifestiert sich noch einmal deutlich die Verknüpfung von medialer Referenz und Referenz auf das in der fiktiven Werkgenese dargestellte Werk, das zum einen über den Medienwechsel von Cunninghams Roman The Hours zu Daldrys Verfilmung und zum anderen über eine Sonderform der ‚Werkverfilmung‘ von Woolfs Roman Mrs. Dalloway in den Film integriert ist.

175 Virginia Woolf, S. 5. 176 Vgl. Stephen Daldry, 00:10:04-00:10:41. Auch der wiederkehrende Verweis auf den speziellen Sommer, den Richard und Clarissa miteinander erlebt haben, deutet sowohl auf Mrs. Dalloway als auch auf Richards fiktiven Roman, vgl. ebd. bspw., 00:51:3800:58:18, 01:11:34-01:15:02; vgl. für eine ähnliche Beobachtung Michaela Krützen (2010), S. 458-465.

3. Werkreferenzen

3.1 S ONDERFORM EINER ‚L ITERATUR -‘ ‚W ERKVERFILMUNG ‘

BZW .

Werden fiktive Werkgenesen nicht nur als in sich geschlossene filmische Werke, sondern als mit einem anderen Medium vernetzte Werke betrachtet, die auf ein real vorhandenes Werk1 rekurrieren, liegt zwischen dem Original-Werk und dessen Darstellung in fiktiven Werkgenesen ein Medienwechsel2 vor, der (wie zuvor angesprochen) nach Wirths Stufenmodell als erste Stufe eines intermedialen Beziehungsgeflechts gelten kann.3 Es kommt im tatsächlichen Wortsinn zu einer ‚Literatur-‘ bzw. über die Verfilmung schriftlicher Werke hinausreichenden ‚Werkverfilmung‘, bei der das thematisierte Werk als Buch, Gemälde etc. abgefilmt oder akustisch (z.B. als Musikstück) in der Tonspur des Films transportiert wird. Das Abfilmen des Werks birgt einen in seiner Dynamik zu analysierenden intermedialen Prozess in sich, der für fiktive Werkgenesen charakteristisch ist. Ergänzt wird dieser Prozess durch die Verknüpfung der Inhalte des filmisch inszenierten Werks mit der Biographie des/der thematisierten Autors/Autorin auf der Handlungsebene, so dass ein (nicht zwangsweise historischer, sondern meist fiktiver) autobiographischer Bezug zwischen der Person des Autors/der Autorin und dessen/deren Werk evoziert wird. Auf diese Weise wird in fiktiven Werkge-

1

Z.B. einen Roman, einen Dramentext, ein Gemälde, ein Musikstück, eine konkrete

2

Im Fall der fiktiven Werkgenesen, die auf einen Film rekurrieren, kommt es zu einem

Dramenaufführung, einen Essay oder auch einen anderen Film. intramedialen Wechsel von einem Werk zum anderen. Dieser Sonderfall ist in den folgenden Überlegungen zwar mitzudenken, wird aber nicht mehr explizit thematisiert. 3

Vgl. Uwe Wirth (2007), S. 262f.

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nesen ein autobiographisch geprägtes und sich meist durch eine besondere Ausformulierung von Originalität und Genialität auszeichnendes Konzept von Autorschaft transportiert. Es kommt also nicht nur zur wörtlichen Verfilmung von Literatur bzw. (genereller) von Werken, sondern auch zu einer besonderen Form der Verfilmung der Inhalte des thematisierten Werks. Allerdings muss hier von einer Sonderform von ‚Literatur-‘ bzw. ‚Werkverfilmung‘ gesprochen werden, da fiktive Werkgenesen nicht der gängigen Definition von Literaturverfilmungen entsprechen und weder als solche produziert und noch rezipiert werden. Stattdessen erzählen diese Filme eine fiktive Entstehungsgeschichte über das thematisierte Werk. Dennoch lohnt unter dem Aspekt der Referenz auf ein Einzelwerk der Blick auf „[d]as Stichwort ‚Literaturverfilmung‘ […, das] nach wie vor geeignet [ist], skeptische Reaktionen hervorzurufen“,4 wie Anne Bohnenkamp ausführt. So ist die Betrachtung des Films unter dem Aspekt einer literarischen Vorlage in den Filmwissenschaften eher ein Aspekt einer medienkomparatistischen Teildisziplin, wohingegen die Literaturwissenschaft sich deutlich häufiger – in der Vergangenheit aber auch meist deutlich abwertender – mit dem Prozess des Medienwechsels beschäftigt.5 Die Skepsis gegenüber der Verfilmung entspricht auch der kulturgeschichtlichen Wertschätzung des – auratischen – Originals gegenüber allen ‚abgeleiteten‘ Werken ‚aus zweiter Hand‘. Aber auch diese Position kann zumindest im akademischen Diskurs keine universelle Gültigkeit mehr beanspruchen, denn ganz im Gegensatz zur traditionellen Priorisierung des ‚Originalen‘ im Sinne des einen Ursprungs stehen ausgehend von poststrukturalistischen, dekonstruktivistischen und postkolonialen Argumentationszusammenhängen seit geraumer Zeit Phänomene der Intertextualität und der ‚Hybridisierung‘ hoch im Kurs.6

Bereits André Bazin hat in seiner Forderung nach einem „unreinen Kino“ festgehalten: Adapter, enfin, n’est plus trahir, mais respecter. […] Le passage d’une œuvre théâtrale à l’écran requérait sur le plan esthétique une science de la fidélité comparable à celle de l’opérateur dans le rendu photographique. Elle est le terme d’un progrès et le début d’une renaissance. Si le cinéma est aujourd’hui capable de s’attaquer efficacement au domaine

4

Anne Bohnenkamp (2005), S. 9.

5

Vgl. ebd., S. 9-12. Für die Diskussion der abwertenden Haltung vgl. auch Knut Hicke-

6

Anne Bohnenkamp (2005), S. 11.

thier, S. 183.

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romanesque et théâtral, c’est d’abord qu’il est assez sûr de lui-même et maître de ses moyens pour s’effacer devant son objet. C’est qu’il peut enfin prétendre à la fidélité – non plus une illusoire fidélité de décalcomanie – par l’intelligence intime de ses propres structures esthétiques, condition préalable et nécessaire au respect des œuvres qu’il investit. Loin que la multiplication des adaptations d’œuvres littéraires très éloignées du cinéma doivent inquiéter le critique soucieux de la pureté du septième art, elles sont au contraire le gage de son progrès.7

Dennoch gilt: Wenn auch die früher geäußerten Bedenken und Vorurteile gegenüber einer vermeintlich simplifizierenden, die hermeneutische Deutungsoffenheit einschränkenden, trivialisierenden Literaturverfilmung im 21. Jahrhundert als weitestgehend überholt betrachtet werden können, bleibt der Begriff weiterhin insofern problematisch, als nicht trennscharf abgegrenzt werden kann, was eigentlich eine ‚Literaturverfilmung‘ sei. Häufig wird die Literaturverfilmung als Adaption eines originären, literarischen Werks betrachtet und somit als sekundäre Rezeptionsmöglichkeit in ein Original-und-Kopie-Verhältnis gesetzt.8 Im Gegensatz zum biologischen Konzept von Adaption, das „a process by which species survive into later generations“ meint und für das weiter gilt, dass „each new adaptation is commonly regarded as an improvement – sometimes even as a part of a progressive movement towards perfection“, ist Adaption in einem kulturellen Kontext „seen as aiding the survival of only the original organism itself.“9 Wie Sarah Cardwell weiter ausführt, steht das Werk bzw. hier der literarische Text in der gängigen, wenn auch fragwürdigen Betrachtung von Literaturverfilmungen im Zentrum, um das alle anderen Adaptionen herum gruppiert werden: [E]ach subsequent adaptation is understood to hold a direct relationship with the culturally established original; this is why each adaptation appears to sustain the original, and not to develop and improve it. Unlike genetic adaptations, which exist within a trajectory of linear development, each new cultural adaptation appears to magically cross the chronological gap dividing it from the original text, and is seen as more closely related to that original text than to preceding or contemporaneous adaptations. […] Traditional critical or theoretical writing on adaptation thus frequently finds itself undertaking a stubborn project of dehistoricisation on two counts: it denies the linear, textual history of adaptation available to each new adapter, and the relationships through time that an adaptation might bear to other

7

André Bazin (1990, „Pour un cinéma impur“), S. 99-101.

8

Vgl. Sarah Cardwell S. 9f.

9

Ebd., S. 13.

80 | THEORETISCHE Ü BERLEGUNGEN adaptations; at the same time it often fails to appreciate the historical gap that separates the source novel from the adaptation in question, seeing the meanings expressed in both novel and adaptation as somehow transhistorical and unalterable. The consequences of this centre-based conceptualisation for the study of adaptations are manifold; suffice it to say here that this dehistoricisation degrades the critic’s understanding of the development of both classic-novel adaptations as a screen genre and the ‚meta-text‘ of which both source and adaptations are part.10

Die von Cardwell kritisierte, fehlende Berücksichtigung der Verweise zwischen früheren Adaptionen und dem adaptiertem Werk lässt sich in ihrer Bedeutsamkeit am Zusammenhang zwischen der besonderen Form der Werkverfilmung, dem Werk und früheren filmischen Adaptionen des Werks im Entstehungsprozess etlicher fiktiver Werkgenesen nachvollziehen. So ist der zeitliche Abstand zwischen der populären Adaption von Shakespeares Romeo and Juliet durch Baz Luhrman (ROMEO + JULIET) aus dem Jahr 1996 mit einem Einspielergebnis von 147.554.998 $11 und der nur zwei Jahre später (1998) erschienen fiktiven Werkgenese über eine Entstehungsgeschichte eben jenes Dramas von Shakespeare (SHAKESPEARE IN LOVE, Regie: John Madden) mit einem nahezu verdoppelten Einspielergebnis von 289.317.794 $12 sicherlich nicht zufällig. Erfolgreiche Adaptionen scheinen das Bedürfnis nach einer Erzählung über die Genese des gerade verfilmten Werks zu bestärken.13 So lassen sich ähnliche Verbindungen auch zwischen Joe Wrights PRIDE & PREDJUDICE (2005, Einspielergebnis: 121.147.947 $)14 und Julian Jarrolds vergleichsweise weniger erfolgreichen Version einer fiktiven Werkgenese BECOMING JANE (2007, Einspielergebnis: 37.311.672 $)15 oder zwischen P.J. Hogans PETER PAN (2003, Einspielergebnis:

10 Ebd., S. 14. 11 Laut http://www.moviejones.de/filme-5287/romeo-juliet/boxoffice/index.html Stand: 10.12.2013. 12 Laut http://www.moviejones.de/filme-2661/shakespeare-in-love/boxoffice/index.html #boxoffice Stand: 10.12.2013. 13 Vgl. für die unterschiedlichen Ziele von Adaptionen, neben der Bekanntmachung eines Werks für ein weiter gefasstes Publikum auch Anteil an dem Profit eines erfolgreichen (literarischen) Werks zu haben weiterführend Robert Giddings, Keith Selby, Chris Wensley, S. 24. 14 Laut http://www.moviejones.de/filme-1558/pride-and-prejudice/boxoffice/index.html #boxoffice Stand: 10.12.1013. 15 Laut http://www.moviejones.de/filme-7496/becoming-jane/boxoffice/index.html#box office Stand: 10.12.2013.

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121.975.011 $)16 und Marc Forsters FINDING NEVERLAND (2004, Einspielergebnis: 116.766.556 $)17 ziehen. Letztere Paarung lässt sogar anhand der vergleichsweise geringen Differenz der Einspielergebnisse Spekulationen auf ein ähnliches Kinopublikum zu. Chronologische Verknüpfungen finden sich darüber hinaus auch beispielsweise bei Uwe Jansons WERTHER (2008) und Philipp Stölzls GOETHE! (2010) oder Marleen Gorris’ MRS. DALLOWAY (1997) und der etwas später veröffentlichten Verfilmung von Michael Cunninghams Roman The Hours (1998)18 (THE HOURS, Regie: Stephen Daldry, 2002). Darüber hinaus sind viele fiktive Werkgenesen selbst wiederum Literaturverfilmungen, da die fiktive Entstehungsgeschichte bereits in einem Roman (neben Cunninghams The Hours beispielsweise Girl With a Pearl Earring von Tracy Chevalier, 1999, das unter gleichem Titel im Jahr 2003 verfilmt wurde) oder einem Drama (z.B. The Libertine von Stephen Jeffreys, 1994, der auch das Drehbuch für die gleichnamige Verfilmung aus dem Jahr 2004 geschrieben hat) narrativiert wurde. Diese werkübergreifenden Verbindungen können noch durch markante Ähnlichkeiten und intertextuelle Verweise – wie z.B. die Filmanfänge von Wrights PRIDE & PREJUDICE und Jarrolds BECOMING JANE, die beide eine morgendliche, ländliche Szene zeigen, in der die Protagonistin lesend bzw. schreibend zu sehen ist, sowie die Nutzung des Klaviers innerhalb des Filmbildes, dessen Klang in die Filmmusik übergeht – verstärkt werden.19 Die deutlichen Bezüge zwischen den verschiedenen Adaptionen und Adaptionsformen zählen nach älteren Definitionen, wie der von Dudley Andrew, nicht in das Forschungsgebiet der Literaturverfilmung, da nach diesen Definitionen

16 Laut http://www.moviejones.de/filme-2086/peter-pan/boxoffice/index.html#boxoffice Stand: 10.12.2013. 17 Laut

http://www.moviejones.de/filme-1740/finding-neverland/boxoffice/index.html

#boxoffice Stand: 10.12.2013. 18 Wobei zu beachten ist, dass Michael Cunningham – wenn auch zumindest teilweise unbewusst – in seinem Roman auf beide Filme anzuspielen vermag, da er ‚seine Mrs. Dalloway‘ in dem Glauben lässt, eine Schauspielerin, nämlich Vanessa Redgrave oder Meryl Streep, gesehen zu haben. Vgl. Michael Cunningham, S. 27. Wie bereits Daniel Mendelsohn anmerkt, stehen die beiden Schauspielerinnen tatsächlich mit dem Roman indirekt in Verbindung, da Vanessa Redgrave in der 1997er Verfilmung die Titelrolle in MRS. DALLOWAY spielt, wohingegen Meryl Streep die Rolle von Clarissa in THE HOURS verkörpert. Vgl. Daniel Mendelsohn, S. 158; vgl. auch Michaela Krützen, 467. Für eine Analyse von THE HOURS als Literaturverfilmung, vgl. Henry M. Taylor, bes. S. 18-33. 19 Vgl. Joe Wright, 00:00:35-00:02:53 und Julian Jarrold, 00:00:12-00:02:50.

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gilt: „[W]e reserve a special place for those films which foreground this [adaptive, L.Z.] relation by announcing themselves as versions of some standard whole. A standard whole can only be a text. A version of it is an adaptation in the narrow sense.“20 Dieser Definition hält Cardwell entgegen, dass sie kulturelle Einflüsse unbeachtet lässt und den Text als alleinig standardisiertes ‚Ganzes‘ erfasst. Der Text hat nach Andrew allein den Status eines Originals inne, so dass filmische Adaptionen lediglich Versionen und damit nur Aspekte oder Bestandteile dieses Originals sind, aber nicht für sich stehen können. Dem ist natürlich zu erwidern, dass filmische Adaptionen auch dann gesehen und verstanden werden können, wenn der adaptierte Text unbekannt ist.21 Cardwell schlägt daher vor, Adaptionen nicht auf ein Original und die darin hineingelesenen Autorintentionen zu beschränken, sondern sie in einem weiteren Kontext zu betrachten. Statt einem literarischen Text den Status des Originals zuzusprechen, schlägt sie vor, die den literarischen Text und die Filme bestimmenden Motive und Themen als Bestandteile eines ‚Ur-Textes‘ zu lesen, der sich nicht in einem einzigen Original manifestiert, sondern immer wieder neu umgesetzt werden kann, wobei die einzelnen Varianten immer in einem Bezug zum Ur-Text und den vorangegangenen Adaptionen stehen.22 Entscheidende Motive des thematisierten Werks halten auch in die Handlungsebene von fiktiven Werkgenesen Einzug, so dass sie – wenngleich nicht explizit als solche gekennzeichnet – von mit dem thematisierten Werk vertrauten Rezipient/innen als Adaption erkannt werden können. Neben dem neu zu überdenkenden Konzept der Adaption gibt es auch den Ansatz, Literaturverfilmungen als Übersetzungen aufzufassen. Linda Costanzo Cahir macht die Bezeichnung Übersetzung gegenüber dem Begriff der Adaption stark: The term „to adapt“ means to alter the structure or function of an entity so that it is better fitted to survive and to multiply in its new environment. To adapt is to move that same entity into a new environment. In the process of adaptation, the same substantive entity which entered the process exits, even as it undergoes modification – sometimes radical mutation – in its efforts to accommodate itself to its new environment. „To translate“ in contrast to „to adapt,“ is to move a text from one language to another. It is a process of language, not a process of survival and generation. Through the process of translation a fully new text – a materially different entity – is made, one that simultaneously has a strong relationship with its original source, yet is fully independent from it. Simply put:

20 Dudley Andrew, S. 97. 21 Vgl. Sarah Cardwell, S. 18f. 22 Vgl. ebd., S. 25-28.

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we are able to read and to appreciate the translation without reading the original source. If we think of a literature-based film as a translation we will come to see that the filmmakers are moving the language of literature – made up of words – into the language of film.23

Die Literaturverfilmung nicht als Adaption, sondern als Übersetzung zu werten, ist in der jüngeren Forschung eine häufig gewählte Parallele, um den in einer Literaturverfilmung vorzufindenden Funktionsweisen und Mechanismen adäquat nachspüren zu können.24 Cahir unterteilt die Möglichkeiten der Übersetzung von der literarischen in die filmische ‚Sprache‘ in drei Kategorien: erstens die ‚literal translation‘ „which reproduces the plot and all its attending details as closely as possible to the letter of the book“; zweitens die ‚traditional translation‘ „which maintains the overall traits of the book (its plot, settings, and stylistic conventions) but revamps particular details in those particular ways that the filmmakers see as necessary and fitting“; und drittens die ‚radical translation‘, „which reshapes the book in extreme and revolutionary ways both as a means of interpreting the literature and of making the film a more fully independent work.“25 Die Übernahme prominenter Motive des thematisierten Werks in die Handlung fiktiver Werkgenesen geht mit einer autobiographischen Umdeutung des Werks einher, die impliziert, dass der/die Autor/in das Werk nur auf der Basis persönlicher Erfahrungen, in denen sich Motive und Themen des Werks widerspiegeln, erschaffen konnte. So entsteht eine (nach Cahir) radikale Übersetzung, die eine ausgeprägte Interpretation des Werks anbietet. Hierbei ist der für die Übersetzung typische Umstand zu beobachten, dass die fiktive Werkgenese auch ohne Kenntnis des Werks oder Kenntnis von der Biographie des Autors/der Autorin als eigenständiger Film rezipiert werden kann. Allerdings eröffnet die Kenntnis von Werk und Biographie zusätzliche Bedeutungspotentiale, die bei der Rezeption des Films erkannt werden können. Über den Vergleich der Biographie des/der historischen Autors/Autorin, dem materiell-realen Werk und dessen filmischer fiktiver Entstehungsgeschichte können neue Erkenntnisse ge-

23 Linda Costanzo Cahir, S. 14; vgl. auch Sarah Cardwells Ausführungen zum ‚comparative approach‘, S. 51-69. 24 Vgl. z.B. Kai-Marcel Sicks, S. 287f.; vgl. Anne Bohnenkamp (2005), S. 22-27. Diese Überlegungen schließen sich an die semiotischen Untersuchungen des Films an, die zunächst in linguistischer Ausrichtung erfolgten und den Film als Sprache mit eigenen grammatikalischen Standards zu definieren versuchten, vgl. Irmela Schneider, bes. S. 93-290. 25 Linda Costanzo Cahir, S. 16.

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wonnen werden, die über eine Summierung der Vergleichsgegenstände hinausweist. In den folgenden Überlegungen zur Referenz auf das thematisierte Einzelwerk, dessen Entstehungsgeschichte den narrativen Kern einer fiktiven Werkgenese ausmacht, wird die Bezugnahme auf das Werk unter unterschiedlichen Gesichtspunkten betrachtet. Nach Kai-Marcel Sicks ist diese Bezugnahme ausschlaggebend für eine Literaturverfilmung. Hierfür nennt er drei mögliche, je nach Sichtweise bestimmte, engere Definitionen von Literaturverfilmungen: Erstens eine Definition „aus rezeptionsorientierter Sicht“, unter die nur diejenigen Filme fallen, bei denen dem Publikum im Großen und Ganzen klar ist, dass dem Film ein Roman zugrunde liegt, oder die sogar voraussetzen, dass das Publikum den Text kennt. [… Zweitens, L.Z.] Aus wertungsorientierter Sicht ließen sich unter Literaturverfilmungen solche Filme begreifen, die klassische (also allgemein als hochwertig akzeptierte) literarische Texte adaptieren. […] Schließlich ließe sich eine dritte, ästhetikorientierte Eingrenzung des Begriffs ‚Literaturverfilmung‘ vorschlagen, der zufolge nur solche Adaptionen als Literaturverfilmungen gelten, die einen starken Bezug auf das Ausgangsmedium Literatur aufweisen. Dies kann durch eine Betonung von Prozessen der Schriftlichkeit erreicht werden, durch eine Einteilung des Films in Kapitel, durch die Einführung einer Erzählfigur etc.26

Da sich allerdings, wie Sicks anmerkt, keine dieser drei Eingrenzungen des Begriffs gegenüber den anderen bisher durchsetzen konnte, plädiert Sicks für einen weiten Begriff von Literaturverfilmung, der aber eine pragmatische Verwendung finden soll: „Einen Film als Literaturverfilmung zu bezeichnen bedeutet dann, ihn ‚mit Blick auf seine literarische Vorlage‘ zu betrachten und in der Analyse den Bezug zu dieser Vorlage gegenüber anderen, beispielsweise Gattungsbezügen zu privilegieren.“27 Wenn diese Bezugnahme nun also ausschlaggebend für die Betrachtung als Literaturverfilmung ist, lassen sich nach dieser weiten Definition auch fiktive Werkgenesen als eine mögliche Form von Literatur- bzw. Werkverfilmungen fassen, die allerdings nicht, bzw. nicht nur in einem übersetzenden Sinn das Werk verfilmen, sondern das Buch, Gemälde, Lied etc. ins Filmbild bzw. in dessen Tonspur rücken und obendrein als Kommentar über das Werk fungieren. Dementsprechend lassen sich bei Betrachtung der Werkreferenz unterschiedliche Verweistypen finden: Erstens kann das Werk optisch oder akus-

26 Kai-Marcel Sicks, S. 284f. 27 Ebd., S. 285.

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tisch als Werk dargestellt werden. Zweitens wird das Werk über die Auswahl einzelner Themen und Motive in einer autobiographischen Auslegung in die Biographie des Autors/der Autorin eingebunden. Drittens tragen fiktive Werkgenesen ein gewisses ‚Werbepotential‘ in sich, das Neugier auf das adaptierte Original wecken kann und somit eine Funktion erfüllt, die dem von Genette herausgearbeiteten Paratext vergleichbar ist.

3.2 O PTISCHE UND DES W ERKS

AKUSTISCHE

D ARSTELLUNG

3.2.1 Blick über die Schulter: Voyeurismus und Werkgenese Die Einbindung des Werks auf visueller und akustischer Ebene lässt sich an Jarrolds BECOMING JANE anschaulich verfolgen: Durch den optischen Einsatz von Schrift und Buch, das Reden über das Werk und die Entwicklung des Werks aus diesen Gesprächen wird der Werdegang der jungen Frau zur Schriftstellerin Jane Austen nachgezeichnet.28 Ganz in dem Sinn, dass nicht jeder Leser ein Schriftsteller, aber jeder Schriftsteller auch ein Leser ist, wird Jane abwechselnd lesend und schreibend gezeigt. Hierbei ist besonders die Verflechtung von Lesen und Schreiben auffällig: Jane wird zwar erst im Verlauf der Handlung zu der Schriftstellerin, als die ihre historische Vorlage in der Literaturgeschichte bekannt ist, doch die erste Szene zeigt sie bereits mit der Feder am Schreibpult sitzend. Die letzte Szene hingegen zeigt die mittlerweile berühmte Schriftstellerin aus einem ihrer Romane vorlesend.29 Die Bildeinstellungen (besonders die erste und letzte Einstellung von Jane) verlaufen somit reziprok zur Handlung. Die durch diese Wechselwirkung der unterschiedlichen Medien, Schrift und Filmbild erzeugte Struktur hat nicht nur Auswirkungen auf die Darstellung der Protagonistin, sondern auch auf das Filmpublikum, das den Film nicht nur als solchen rezipiert, sondern auch in der Rolle von Leser/in und Zuhörer/in miteinbezogen wird. Darin manifestiert sich eine von Sigrid Lange beobachtete Tendenz im neueren Hollywood-Kino, innerhalb derer Filme nicht mehr auf traditionellen Genretypen und -klischees aufgebaut werden, sondern der Versuch unternom-

28 Der deutsche Filmtitel Geliebte Jane scheint daher auch eher unglücklich gewählt, da hiermit hauptsächlich die Liebesgeschichte in den Vordergrund gerückt, das ‚Werden‘ der Schriftstellerin hingegen ausgeblendet wird. 29 Vgl. Julian Jarrold, 00:00:23-00:00:35; 01:51:12-01:51:35.

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men wird, dem Kino neue Grundlagen, eigene Stile und neue Wirkungspotentiale zu ermöglichen.30 Das Filmpublikum wird beim Betrachten von fiktiven Werkgenesen in eine markant voyeuristische Position versetzt, indem der Prozess des Schreibens in fiktiven Werkgenesen mit einer betonten Intimität und Distanzlosigkeit zur Figur dargestellt wird. In BECOMING JANE wird dies bereits mit der ersten Darstellung der Protagonistin vollzogen, wenn in einem Close-up deren Hand, die die Feder in einer Geste angestrengten Überlegens auf das Schreibpult klopft, und dahinter ein halb beschriebener Bogen Papier gezeigt werden.31 Paul Arthur wirft bei der Betrachtung ähnlicher Filme um die Jahrtausendwende die auf der Hand liegende Überlegung auf: On the surface, it is hard to imagine an activity less given to cinematic representation than a writer’s struggle to transform observations or ideas into a finished manuscript. Writing is mostly solitary, static labor performed in dull locations over excruciating stretches of time; its dramas, such as they are, tend to be internal matters of confusion, frustration, and the pressures of the unconscious.32

Um die inneren Prozesse filmisch inszenieren zu können, werden – um der Anschaulichkeit halber beim Beispiel BECOMING JANE zu bleiben – Janes Überlegungen in Handlung überführt, wenn sie in die morgendlich-verträumte Atmosphäre hinein einzelne Noten auf dem Klavier spielt. Lange beobachtet generell zu einer derartigen Einbindung von Musik im Film: Damit wird die Filmmusik zum Bestandteil der Narration mit der Funktion, diese zu untermalen oder zu kommentieren. […] Damit kann Musik eine indikative Funktion erfüllen wie die Geräuschkulisse, die unmittelbar zum Verständnis und zum Illusionseffekt beiträgt. Eine narrative Funktion hat die Musik dort, wo sie szenische Kommunikation herstellt.33

Die einzelnen Noten werden zum akustischen Symbol für die einzelnen Worte, die Jane versucht, in einen Text (bzw. zu einer Melodie) zusammenzufügen. Sie erzählen damit das, was sich weder in Worte noch Bilder fassen lässt. Fiktive Werkgenesen versuchen immer wieder über die Verwendung von unterschiedli-

30 Vgl. Sigrid Lange, S. 144-149. 31 Vgl. Julian Jarrold, 00:00:23-00:00:35. 32 Paul Arthur, S. 331. 33 Sigrid Lange, S. 61.

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chen Mediensystemen ihr Thema – kreative Schaffensprozesse an einem Werk – für das Filmpublikum erfahrbar zu machen. Wie André Gaudreault und Philippe Marion am Beispiel von Paul Austers The Invention of Solitude (1982) aufzeigen, besteht eine grundlegende Schwierigkeit bei der Formulierung und damit Medialisierung von Gedanken: But perhaps it is also true that the said form – that is, literature – is inadequate to the project envisioned by the narrator. But could it not be that the inadequacy attributed to the incarnational resistance of thought itself as a floating aura, might in the end be nothing more than a refusal of cooperation on the part of the material of expression? One might go even further and see the issue from a more positive angle: perhaps all these vague ideals which throw themselves endlessly against the breakwater of scriptural language are mistaken in persisting in this direction. Might they not find a better semiotic incarnation in another medium, in music for example? We can also note that if these thoughts escape the narrator, it is also because those thoughts have hardly yet been formulated. That idea obviously evokes the question of the possibility of the existence of thought ‚before‘ or ‚beyond‘ (depending on one’s point of view) prior to its formulation. Can thought exist without being always already formulated, that is to say mediated, if only for oneself alone, inside one’s head? This question is a momentous one, touching on such diverse fields as epistemology, philosophy, and ethics.34

Ihre Überlegungen zu Gedanken und ihrer Ausformulierung in einem Medium führen Gaudreault und Marion weiter aus, indem sie feststellen: Obviously, when one thinks of narratives, one spontaneously thinks of them in terms of their ‚natural‘ materialization in verbal language. But, even on this level, think for a moment of the very different character, and even the different meaning, of a story, or more precisely a syuzhet, when it is expressed orally as opposed to when it is expressed through the work of writing. And these differences proliferate even more when the syuzhet surfaces within such complex media as the cinema, television, and the comic strip.35

Auch in der Einführungssequenz von BECOMING JANE ist diese Schwierigkeit, Gedanken in schriftliche Form zu bringen, zu beobachten. Diesen kritischen Moment, aus einer Idee ein fertiges Werk zu erstellen, thematisieren fiktive Werkgenesen auf verschiedene Arten, doch all diesen unterschiedlichen Ausformulierungen des kreativen Schaffensprozesses bleibt gemein, dass nach filmi-

34 André Gaudreault/Pilippe Marion, S. 59. 35 Ebd., S. 65. Hervorhebungen im Original.

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schen Ausdrucksmöglichkeiten gesucht wird, diesen Moment dem Filmpublikum visuell und akustisch erfahrbar zu machen. Der/die Zuschauer/in wird in der voyeuristischen Position in diesen Moment der Selbstversunkenheit hineingelassen, indem er/sie beispielsweise in BECOMING JANE der Schreibenden und Musizierenden über die Schulter blickt, die geschriebenen Worte mitliest und den Klaviertönen und gesprochenen Worten lauscht.36 In BECOMING JANE wird hierbei die Musik zu einem ‚Medium‘ im Sinne des Vermittlers oder Zwischenstücks zwischen den Gedanken und ihrer schriftlichen Ausformulierung, die den Denkprozess in akustische (Töne der gespielten Noten) und gestische (Bewegung beim Spielen auf dem Klavier) Signale überführen hilft. Des Weiteren gehört zu diesem Prozess als mithin wichtigstes Element das Beobachten beim Schreiben bzw. Lesen, wie es in BECOMING JANE besonders ausgeprägt zu finden ist. Gerade die große Produktionszahl von fiktiven Werkgenesen legt die Vermutung nahe, dass diesem Moment der Ideenfindung und des Schreibprozesses (bzw. für die Genese anderer Werke, des Malens, Komponierens etc.) eine besondere Faszination innewohnt, die gerade in dem hier thematisierten Zeitraum um die Jahrtausendwende auf eine besondere Art in Szene gesetzt worden ist.37 Das Beobachten beim Schreiben bzw. Lesen als essentiellen Bestandteil von fiktiven Werkgenesen zu werten, erscheint zunächst paradox, geht man von einer stereotypen Filmrezeptionshandlung aus, da die Handlung zugunsten des gesprochenen und vor allem geschriebenen Wortes zu einem Stillstand zu kommen scheint. In seiner bis heute in der Geschichte der Adaptionsforschung als Meilenstein geltenden Studie Novels into Film (1957) – die zwar nicht mehr in allen Punkten als zeitgemäß betrachtet wird, die aber nach wie vor als essentieller Bestandteil der Forschungsentwicklung gilt38 – kommt George Bluestone zu dem Schluss, dass beim Wechsel vom „linguistic“ zum „visual medium“,39 wie er bei der Literaturverfilmung vorliegt, zwangsweise Änderungen auftreten müssen. Im Gegensatz zu dieser Beobachtung scheinen fiktive Werkgenesen diesen ver-

36 Vgl. Julian Jarrold, 00:00:50-00:02:51. 37 Arhur kommt in seiner Zählung von Filmen, die zwischen 1997 und 2000 eine Autorenfigur (ob nun gänzlich fiktiv oder auf einer historischen Person basierend unterscheidet Arhur nicht) thematisieren, auf 19 Filme. Vgl. Paul Arthur, S. 331f. Natürlich lassen sich auch vereinzelt in früheren filmischen Biographien zu Autorenfiguren solche Momente des Überlegens finden, doch ist die Häufung und die Ausprägung dieser Momente des kreativen Überlegens ab 1998 äußerst markant. 38 Vgl. beispielsweise Sarah Cardwell, S. 43-51; Deborah Cartmell/Irmelda Whelehan; Kamilla Elliott. 39 George Bluestone, S. 5.

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meintlichen medialen Bruch zwischen Sprache und Filmbild gerade über die intensive filmische Beschäftigung mit der Schrift (aber auch anderen Medien wie Malerei etc.) überbrücken zu wollen. Wie stellvertretend am Beispiel von BECOMING JANE zu beobachten ist, kann es im Film zu einer selbstbewussten Integration von Schrift und gesprochenem Wort jenseits der Filmdialoge kommen, die die Gemeinsamkeiten beider Medien hervorzuheben helfen und einen medienspezifischen Zugang zur Literaturverfilmung, wie er von Bluestone eingeschlagen wurde, unterwandern. Andrew hält fest, dass one would have to hold that while the material of literature (graphemes, words, and sentences) may be of a different nature from the materials of cinema (projected light and shadows, identifiable sounds and forms, and represented actions), both systems may construct in their own way, and at higher levels, scenes and narratives that are indeed commensurable.40

Die beiden Systeme werden in fiktiven Werkgenesen genutzt, um über die Referenz auf ein meist schriftlich fixiertes Einzelwerk biographische Aspekte zu einem/einer fiktionalisierten Autor/in narrativieren zu können. Am Beispiel von BECOMING JANE lässt sich beobachten, dass das inszenierte ‚Werden‘ der Schriftstellerin nur durch den Einsatz beider Medien vollständig transportiert werden kann: dem Schreiben, Vorlesen und Mitlesen des die Schriftstellerin kennzeichnenden Texts und der Übermittlung des Texts durch den Film. Beide medialen Aspekte werden zu einer sinntragenden Einheit verschmolzen, um die gesamte Narration zu entfalten. Dies beginnt auf der Ebene der visuellen und akustischen Darstellung von Texten und reicht bis zur motivischen Einbindung des Werks in die dargestellte (fiktive) Biographie der thematisierten Autorin. Das Abfilmen eines real vorhandenen Werks – in BECOMING JANE die Romane Pride & Prejudice (1813) und Henry Fieldings The History of Tom Jones, a Foundling (1749) – erzeugt daher stets ein Bewusstsein für das Ausgangsmedium ‚Text‘. Die Basis für dieses Bewusstsein wird mit der einführenden Sequenz über Janes ersten, im Film verfassten Text aufgebaut und bis zur letzten Einstellung des Films aufrechterhalten. Die einleitende Sequenz zeigt dabei charakteristisch, wie sich eine fiktive Werkgenese im Spannungsfeld zwischen den Medien Schrift und Film verorten kann: Während das Filmpublikum in der ersten Einstellung in die Intimität des Überlegens und Schreibens hineingezogen wird, sorgt die zweite Szene, in der Jane am Text arbeitet, für etwas mehr Distanz zu der im Werden begriffenen Schriftstellerin und ihren Gedanken. Wäh-

40 Dudley Andrew, S. 101.

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rend ihre Schwester Cassandra sich mit ihrer gemeinsamen Cousine für Cassandras Verlobungsfeier ankleidet, kann Jane beim Schreiben zwar beobachtet werden, doch wird das Filmpublikum nicht in ihre Schreibarbeit miteinbezogen, weder als Leser/in noch als Zuhörer/in eines vorgelesenen Texts, sondern verbleibt lediglich in der für das Medium Film standardisierten Rolle des Zuschauens.41 Das Schreiben markiert so nicht mehr die alleinige Handlung, sondern wird durch die Tätigkeiten des Ankleidens der beiden anderen Frauen in ein Netzwerk unterschiedlicher Handlungsmöglichkeiten eingespannt. Die Weiterführung der Sequenz bringt eine erneute Fokussierung des Texts mit sich, wenn Jane das nunmehr fertige Werk auf der Verlobungsfeier vorträgt.42 Dabei bekommt der Zuschauer allerdings nicht den gesamten Text vorgelesen. Mit Hilfe von Schnitt- und Montagetechnik43 werden die Bilder ineinander übergreifend aneinandergereiht. Die gleiche Technik wird für den Ton angewandt, wenn Janes Stimme mehrfach übereinandergelegt wird. Damit wird die nicht exakt benannte Dauer des Vortragens suggeriert, deren Wahrnehmung durch das wiederholt eingeblendete Bild der weiterwandernden Uhrzeiger unterstützt wird, ohne dass dabei mehr als zwei Minuten Filmzeit verstreichen. Der Effekt der Dauer wird noch durch den zwischendurch eingenickten Thomas Leffroy, der erst durch den allgemeinen Applaus wieder geweckt wird, verstärkt.44 Das Motiv des Vorlesens eines eigenen Textes wird in der Schlusssequenz erneut aufgegriffen, wenn die gealterte und nunmehr für ihre Werke berühmte Schriftstellerin Jane nach dem Vortrag einer Sängerin um eine Lesung gebeten wird.45 Auch in der letzten Sequenz greifen unterschiedliche Medien ineinander: die Darbietung der Sängerin wird zunächst nur über die Tonspur eingeblendet, während Jane beim Schreiben ihres Romans beobachtet werden kann und wird erst danach auch bildlich eingeblendet; ebenso ist die lesende Jane mit dem Buch in der Hand zu sehen, während ihr beim Vorlesen zugehört werden kann. Wie schon in der Einführungssequenz werden das filmische Bild, die im Filmbild erzeugte, musikalische Untermalung, Sprache und hier, stellvertretend für Feder

41 Vgl. Julian Jarrold, 00:13:19-00:14:09. Wobei zu beachten ist, dass seit dem Beginn des Tonfilms der Aspekt des Zuschauens immer auch um das Zuhören der gesprochenen Dialoge ergänzt ist, die sich in dieser Szene insbesondere zwischen Jane, Janes Schwester Cassandra und der gemeinsamen Cousine entspinnen. 42 Vgl. ebd., 00:16:00-00:18:20. 43 Vgl. für die Möglichkeiten der Montagetechniken im Film Sigrid Lange, S. 54-56; Robert Giddings/ Keith Selby/Chris Wensley, S. xiv; Erika Fischer-Lichte. 44 Vgl. Julian Jarrold, 00:18:20-00:18:32. 45 Vgl. ebd., 01:46:25-01:51:12.

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und Papier, das Medium Buch verwendet, um das Feld der medialen Ausdrucksmöglichkeiten aufzuzeigen und zu nutzen. Die Lesung der Schriftstellerin spiegelt damit die Einführungssequenz wieder, da hier die Verknüpfung zwischen Lesen und Schreiben spiegelverkehrt hergestellt wird: Die Schriftstellerin, die dem Namen nach mit dem Schreiben verknüpft ist, liest. Neben dem Kreuzen von Bild und Handlung in der ersten und letzten Sequenz über die Verknüpfung beider Medien sind die Sequenzen durch weitere Parallelen miteinander verbunden: Beiden liegt ein Text Janes zugrunde – in der ersten kann Jane beim Schreiben beobachtet werden, wohingegen in der letzten das Schreiben ausgeblendet wird, dafür das fertig gedruckte Werk vorliegt. Beide Texte werden – durch Montage gerafft – einem diegetischen wie realen Publikum vorgelesen. Darüber hinaus sind beide Lesungen durch Wiederholungen und Variationen verknüpft: Thomas ist bei beiden Lesungen Zuhörer. Als Antwort auf sein verspätetes Applaudieren nach Janes erster Lesung, wartet er auch bei der zweiten Lesung mit dem Applaus, obwohl er dieses Mal wach geblieben ist und so nicht nur auf ihre gemeinsame Vergangenheit und ihr erstes Aufeinandertreffen anspielen, sondern auch seine Anerkennung gegenüber ihrer schriftstellerischen Entwicklung zum Ausdruck bringen kann.46 Auch Janes Hand wird als Motiv variiert: Während die erste Einblendung sie mit der Feder in der Hand zeigt, präsentiert die letzte Einstellung Janes Hände, die über ihrem Buch gefaltet sind. Der im Film erzählte Weg zur Schriftstellerin wird somit von den Tätigkeiten ihrer Hände und den Requisiten Feder, Papier und Tinte respektive Buch gerahmt. In der Eröffnungsszene sind Janes Hände beschäftigt, die richtigen Worte zu Papier zu bringen, in der Schlussszene können sie gefaltet auf der fertigen Arbeit ruhen. Das besondere Gewicht dieser Gegenüberstellung manifestiert sich auch darin, dass das Bild ihrer auf dem Buch gefalteten Hände die letzte Einstellung des Filmes ist, bevor langsam abgeblendet wird.47 Wie in der Malerei geben diese Photographien ähnelnden Einstellungen ihrer Hände „dem Betrachter eine Wahrnehmungsperspektive“48 vor und legen somit eine bestimmte Deutung dem Betrachter nahe, die sich über die mediale Verschränkung von Film und der im Filmbild dargestellten Schrift manifestiert. Das hier symbolträchtig genutzte Motiv der Hände gibt einen beispielhaften Rahmen vor, der den Blick über die Schulter und das Beobachten der Werkgenese für den Filmzuschauer von Filmen dieses Subgenres umspannt.

46 Vgl. ebd., 01:51:12-01:51:28. 47 Vgl. ebd., 01:51:28-01:51:35. 48 Sigrid Lange, S. 51.

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3.2.2 Kritische Reflexion des Werks Neben der optischen und akustischen Darstellung muss die kritische Reflexion des Werks als weitere wichtige Etappe in der Entwicklung der thematisierten Autor/innen in fiktiven Werkgenesen betrachtet werden. Die Referenz auf das Einzelwerk erfolgt dabei nicht mehr in einem ‚Abfilmen‘ des Werks, sondern in einer metasprachlichen Thematisierung desselben, einer möglichen Interpretation, einer theoretischen Auseinandersetzung mit der Genrezugehörigkeit etc. Gerade anhand von fiktiven Werkgenesen, die auf verhältnismäßig bekannte Werke rekurrieren (wie Pride & Prejudice in BECOMING JANE) ist die Inszenierung dieser kritischen Reflexion aus literaturwissenschaftlicher und medienkomparatistischer Sicht besonders reizvoll zu beobachten. Hier scheint insgesamt ein über die Rezeption des Werks selbst oder die Rezeption von Literaturverfilmungen erzeugter hoher Bekanntheitsgrad mit klar umrissenen Vorstellungen über das Werk und dessen Bedeutung innerhalb der Reflexion vorausgesetzt zu sein. Insgesamt lassen sich fiktive Werkgenesen zwar auch ohne Kenntnisse über den/die Autor/in und/oder das thematisierte Werk rezipieren, allerdings eröffnet gerade im Beispiel BECOMING JANE die Reflexion über Romane sowie deren Status und die Verortung von Pride & Prejudice innerhalb dieses Genres eine zusätzliche Bedeutungsebene, die den Film vom stereotypen heritage cinema und der Darstellung einer tragisch endenden Affäre abhebt. Den Startpunkt der kritischen Reflexion markiert in BECOMING JANE das Ende der ersten Sequenz, als Jane ihren Text zur Verlobung ihrer Schwester aufgrund von Thomas’ negativer Kritik in ihrem Zimmer zerreißt und verbrennt.49 Bis zu diesem Moment ist eindeutig ersichtlich, wie stolz sie auf das von ihr Geschriebene ist. Das hierfür offensichtliche Indiz ist, dass sie den Text auch nach der Lesung weiterhin in der Hand behält. Ihre Unfähigkeit, mit Thomas’ Kritik umzugehen, zeigt, dass Jane an diesem Punkt zwar bereits Schreibende, aber noch nicht wirkliche Schriftstellerin ist, die als solche selbstbewusst aufzutreten und auch negativer Kritik zu begegnen vermag. Der Eindruck wird noch verstärkt, als das Filmpublikum Zeuge wird, wie sie ihre unter dem Schrank in einem Koffer versteckten Texte hervorholt. In ihrer Unsicherheit und Wut als Reaktion auf die kritischen Äußerungen nimmt sie jeden Text noch einmal prüfend in die Hand und legt ihn mit abschätziger Miene wieder beiseite. Sie sieht nun ihre eigenen Texte durch Thomas’ kritische Sichtweise. Nach der Einführungssequenz bleibt zwischen beiden die Frage, was ein ‚literarisch wertvoller‘ Text sei, ein sich wiederholendes Gesprächsthema. Diese

49 Vgl. Julian Jarrold, 00:18:42-00:20:01.

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Gespräche markieren einen essentiellen Schritt des Handlungsstrangs um das ‚Werden‘ (‚becoming‘) der Schriftstellerin. Hierbei wird eine neue Dimension der Darstellung von Schrift und Buch erschlossen, da Buch und Papier zwar in manchen Fällen gezeigt werden, es sich jedoch hauptsächlich um metasprachliche Thematisierungen der Medien handelt. Schon ihre erste Begegnung nach der Verlobungsfeier steht unter dem Zeichen der kritischen Reflexion von Literatur. Anhand von Janes Erwähnung, dass es ein Buch über den Wald (Southern Wood), in welchem sie sich gerade getroffen haben, gibt, fällt das Gesprächsthema durch Thomas’ neugierige Frage, „A novel, perhaps?“,50 auf die Gattung Roman, die Jane zu diesem Zeitpunkt der Handlung noch als sehr gering erachtet: [Jane:] Novels? Being poor and insipid things read by mere women and even, God forbid, written by mere women. [Thomas:] I see, we are talking of your reading. [Jane:] As if the writing of women did not display the greatest powers of mind, knowledge of human nature, the liveliest effusions of wit and humor in best-chosen language imaginable? [Thomas:] Was I deficient in rapture? [Jane:] In consciousness. [Thomas:] It was – it was accomplished. [Jane:] It was ironic.51

Der Verweis auf Austens Roman Northanger Abbey52 rundet die Persönlichkeit der fiktiven Jane ab, indem die junge Frau bereits die Ideen der erfahrenen Schriftstellerin in sich trägt – ein Verweis, der sich nur mit dem Werk der Autorin vertrauten Rezipient/innen erschließen wird und damit (wie in fiktiven Werkgenesen üblich) eine zusätzliche Bedeutungsebene ermöglicht. Das Gespräch offenbart auch, neben dem von ihr verfassten Einführungstext, dessen Titel „Advice from a Young Lady on the Engagement of Her Beloved Sister

50 Ebd., 00:23:49-00:23:50. 51 Ebd., 00:23:54-00:24:40. 52 „‚[I]t is only a novel! […] It is only Cecilia, or Camilla or Belinda;‘ or, in short, only some work in which the greatest powers of the mind are displayed, in which the most thorough knowledge of human nature, the happiest delineation of its varieties, the liveliest effusions of wit and humour are conveyed to the world in the best-chosen language.“ Jane Austen, S. 20.

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Cassandra to a Fowle“53 bereits seine Zugehörigkeit zu Belehrungstraktaten kennzeichnet, Janes Bestreben, ‚sinnvolle‘, wenngleich auch ironiegeladene Literatur zu verfassen. Romane als vermeintlich sentimentale und sensationslüsterne Schreiberei zählen für Jane zu diesem Zeitpunkt noch nicht dazu. Die Vorliebe zu Ironie54 ist hingegen ein von Beginn an angelegter Bestandteil ihrer Persönlichkeit und ihres Schreibstils. Daneben wird auf die in ihren Romanen angelegte Moral angespielt, deren Darstellung sie in der filmisch-fiktiven Version ihrer Entwicklung, bereits an Essays, wie dem in der Einführungssequenz vorgetragenen, geschult hat. Das Gespräch über Romane und das zuvor erwähnte Buch über Southern Wood wird bei einer weiteren Begegnung zwischen Jane und Thomas fortgeführt. Passenderweise findet dieses erneute Gespräch über Romane in der Bibliothek der Lefroys statt. Bücher werden in dieser Szene also nicht nur sprachlich, sondern auch bildlich thematisiert, was den Raum zum Bedeutungsträger macht und eine „semantisch-inhaltliche Relation zwischen Bild und Sprache“55 herstellt. [Jane:] Oh, Mr. Lefroy – and reading. [Thomas:] Yes. I’ve been looking through your book of the wood. Mr White’s Natural History. [Jane:] Well, how do you like it? [Thomas:] I cannot get on. It is too disturbing. […] Your ignorance is understandable since you lack – What shall we call it? The history? [Jane:] Propriety commands me to ignorance. [Thomas:] Condemns you to it and your writing to the status of female accomplishment. If you wish to practice the art of fiction, to be the equal of a masculine author, experience is vital. [Jane:] I see. And – ah – what – ah – qualifies you to offer this advice? [Thomas:] I know more of the world. [Jane:] Haha. A great deal more, I gather.

53 Ebd., 00:16:02-00:16:09. 54 In Austens Romanen ist der Einsatz von Ironie unverkennbar: „Im Gegensatz zur aufdringlichen Moral vieler anderer Romane ist das Werk Jane Austens (1775-1817) durch einen ironischen Ton und eine solche Ambivalenz gekennzeichnet, dass über die Einstellungen der Autorin bis heute ebenso gestritten wird wie über den konservativen, fortschrittlichen oder feministischen Gehalt ihrer Romane.“ Vera Nünning, S. 45. 55 Sigrid Lange, S. 62.

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[Thomas:] Enough to know that your horizons must be … widened by an extraordinary young man. [Jane:] By a very dangerous young man, one who has, no doubt, infected the hearts of many a young – young woman with the soft corrup[Thomas:] Read this. [Jane:] -tion – [Thomas:] And you will understand.56

Die Doppeldeutigkeit des Gesprochenen ermöglicht es Thomas, Jane wie auch die Zuschauer/innen zu überraschen, indem er ihr mit seinen letzten Worten ein Buch – Henry Fieldings Roman The History of Tom Jones, a Foundling (1749) – überreicht, von dessen Titelhelden er ganz offenbar gesprochen hat, während Jane geleitet von den Gerüchten über Thomas’ Lebenswandel eindeutig davon ausging, er meine sich selbst. Die Tatsache, dass er das Buch zielsicher und ohne größeres Suchen findet, impliziert sowohl, dass er sich öfter in der Bibliothek aufhält, als Jane ihm zugestehen möchte (wie ihre erstaunten Worte „and reading“ ausdrücken) als auch, dass er sich im Speziellen mit Romanen – zumindest diesem einen, von einem männlichen Autor geschriebenen Roman – auskennt, was Janes früher angebrachte These, Romane würden nur von Frauen gelesen, wenn nicht gar geschrieben werden, widerlegt. Thomas wird somit als Figur eingeführt, an der sich Janes Sicht auf ihre eigene Schreibarbeit entwickeln kann. Er wird damit zu einer der für fiktive Werkgenesen typischen Figuren, die für die filmisch inszenierte Reflexion über das Einzelwerk benötigt werden. Arthur betitelt diese Figuren als „rivals […], mentors […], protégés […], advisors […], love interests […], even doppelgängers […] providing opportunities for characters to discuss creative anguish, economic stress, or the calculus of Art and Life.“57 In nahezu allen fiktiven Werkgenesen, die zwischen SHAKESPEARE IN LOVE und ANONYMOUS produziert wurden, findet sich die sowohl männlich wie weiblich besetzte Figur des love interest, die als Mentor/in oder als weiblicher wie männlicher Muse fungieren kann. Die Initiierung eines kreativen Schaffensprozesses ohne das Gefühl des ‚Verliebtseins‘ scheint, folgt man dem Credo fiktiver Werkgenesen, undenkbar.58 Erst über die Interaktion mit dieser Figur vollzieht sich auch die Weiterentwicklung der Autorfigur.

56 Julian Jarrold, 00:36:24-00:38:36. 57 Paul Arthur, S. 333. 58 Vgl. auch Kapitel 4.2.4 dieser Arbeit.

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Auch Thomas erfüllt diese stereotype Rolle, indem er gleichzeitig die Funktion eines Mentors und einer Muse übernimmt. Als Muse bringt er Jane mit der Bandbreite ihrer Emotionen in Berührung, die sie – so die Darstellung in der fiktiven Werkgenese – erst als Frau durchleben muss, um dann als Schriftstellerin darauf zurückgreifen zu können. In seiner Rolle als Mentor hilft er Jane, ihre Vorurteile gegenüber Romanen zu überwinden. Die Wahl seiner Lektüreempfehlung (Tom Jones) kann dabei nicht als zufällig abgetan werden, da es erstens inhaltlich um die Thematisierung von Liebe und die Sammlung von Erfahrung aus der Sichtweise eines männlichen Protagonisten geht, zweitens die Erzählstimme mit einer ganz ähnlichen Art von Ironie arbeitet, die auch für Austens Romane kennzeichnend ist, und schließlich jedes ‚Buch‘ des Romans mit einem einleitenden, literaturtheoretischen Kapitel begonnen wird, das explizit das moralische wie auch literaturkritische Verhalten der Leser/innen vor allem gegenüber der noch jungen und vorurteilbehafteten Gattung Roman schulen soll.59 Das nächste Gespräch über Literatur, das sich zwischen den Jane und Thomas in BECOMING JANE beobachten lässt, handelt daher auch von eben diesem Roman. Auch hier wird das sprachlich thematisierte Buch gezeigt, da Jane es bei dem Gespräch in ihren Händen hält. [Jane:] I have read your book and disapprove. [Thomas:] ’Course you do. But of what? The scenes? Characters? The prose? [Jane:] No, all good. [Thomas:] The morality? [Jane:] Flawed. [Thomas:] Well, of course, it is. But why? Vice leads to difficulty, virtue to reward. Bad characters come to bad ends. [Jane:] Exactly. But in life, bad characters often thrive. Take yourself. And a novel must show how the world truly is, how characters genuinely think, how events actually occur. A novel should somehow reveal the true source of our actions. [Thomas:] What of my hero’s feelings? [Jane:] Well, it seems to me, sir, that your hero’s very vigorous feelings caused him and everyone connected with him a great deal of trouble. [Thomas:] Ah, well, if the book has troubled you … [Jane:] Oh, but an author must know trouble.60

59 Vgl. Ansgar und Vera Nünning, S. 140f. 60 Julian Jarrold, 00:39:44-00:41:00.

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In dieser Szene legt Jane zum ersten Mal ihre eigene Genredefinition und Wirkungsintention von Romanen offen dar, was ein markanter Wendepunkt auf ihrem Weg zur Schriftstellerin ist. Daneben scheint sie an diesem Punkt bereits angenommen zu haben, dass nicht alle Romane seichte ‚Romanzen‘ sind und auch in ihnen Moral und Didaktik enthalten sein können. Die Gespräche mit Thomas über Romane markieren einen Abschnitt in Janes Figurenentwicklung, der sie fort von der Schreibenden in der Einführungsszene und hin zur Lesenden führt, die das Gelesene mit den Augen einer Schriftstellerin kritisch reflektiert. Eine weitere sprachliche Thematisierung von Lesen und Schreiben findet sich in einem anderen Kontext und auf einem anderen Niveau zwischen den beiden Schriftstellerinnen Jane und Anne Radcliffe. Die Einführung einer weiteren Autorfigur ist in fiktiven Werkgenesen häufig zu finden. Diese Figuren pendeln meist zwischen der Position von Rivale und Ratgeber. Für Jane wird die zu diesem Zeitpunkt der Handlung bereits berühmte Anne zu einem Vorbild und einer Ratgeberin, auch wenn ihre Ratschläge sich letztlich für Jane als eher ernüchternd erweisen. Das Aufeinandertreffen der beiden Autorinnen macht Jane wie auch das Filmpublikum mit den Konsequenzen vertraut, denen sich eine Romanautorin des 19. Jahrhunderts stellen muss. Eine erste verbale Einführung in die sich vor allem in der gesellschaftlichen Ächtung der Schriftstellerin und dem Unverständnis gegenüber der Berufswahl von Frauen offenbarenden Konsequenzen wird in dem Gespräch mit Thomas’ Onkel, Richter Langlois, und dessen Reaktion auf das Thema ‚Schriftstellerin‘ aufgezeigt.61 Für Langlois ist es völlig abwegig, dass eine Frau aus guter Familie und damit verbunden einem gewissen Bildungsstand Romane schreibt und dafür auch noch bezahlt wird. Er wird damit zum Vertreter einer Meinung, die – wie der Film suggeriert – innerhalb der Diegese keine Seltenheit darstellt. Interessant ist an dieser Szene auch, dass Jane bereits hier von sich erzählt, sie würde Romane schreiben, obwohl sie bisher noch nicht mit der eigentlichen Schreibarbeit begonnen hat, die szenisch erst zu einem späteren Zeitpunkt des Films umgesetzt wird. Damit wird der für fiktive Werkgenesen generell in seinem Wesen filmisch nicht umsetzbare innere Prozess der Ideenfindung bereits sprachlich angedeutet und über seine gesellschaftliche Kontextualisierung externalisiert, wodurch die spätere, erste Schreibszene an Pride & Prejudice vorbereitet wird. Die Auseinandersetzung mit der drohenden gesellschaftlichen Ächtung und dem damit einhergehenden Ende ihrer Beziehung zu Thomas, der finanziell von dem Wohlwollen seines Onkels abhängig ist, wird so zu einem Bestandteil von Janes Schreibstil, wie sie im Gespräch mit Cassandra nach dem Tod von

61 Vgl. ebd., 01:07:04-01:07:44.

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Robert Fowle und der Verlobung von Thomas mit einer anderen Frau offenbart.62 Auch hierin weist BECOMING JANE typische Plotelemente von fiktiven Werkgenesen auf. Arthur bezeichnet diese als Illumination von „personal struggles between an ‚inner‘ world of the creative psyche and particular ‚external‘ circumstances that feed, inhibit, or otherwise inform the writing process.“63 Auf diese Weise kommt es zur Mystifizierung des kreativen Aktes. Die bisher eher abstrakt dargestellte Gefahr, der sich eine Schriftstellerin gegenübersieht, wird in dem Gespräch mit Anne auch visuell über den unsteten und nervösen Blick der berühmten Autorin inszeniert. [Jane:] You live so quietly. And yet your novels are filled with romance, danger, terror. [Anne:] Everything my life is not. [Jane:] Apparently. [Anne:] Of what do you wish to write? [Jane:] Of the heart. [Anne:] Do you know it? [Jane:] Not all of it. [Anne:] In time, you will. But even if that fails, that’s what the imagination is for. [Jane:] Your imagination has brought you independence. [Anne:] At a cost to myself and to my husband. Poor William. To have a wife who has a mind is considered not quite proper. To have a wife with a literary reputation nothing short of scandalous. [Jane:] But it must be possible? – To live as both wife and author? [Anne:] Oh. I think so. Though never easy.64

Bis zu diesem Gespräch hat Jane in einer literarischen Tätigkeit einen Weg zu finanzieller Unabhängigkeit65 und der Möglichkeit, ihre Vorstellungen von Moral und Anstand in ihrer ironisch-witzigen Art ausdrücken zu können, gesehen. Insbesondere das Gespräch mit Anne markiert daher einen weiteren Wendepunkt, der für die häufig in fiktiven Werkgenesen auffindbare, tragisch endende Liebesbeziehung zwischen Autor und Muse verweist.66 Anhand des Gesprächs mit Anne lässt sich ein weiterer Aspekt der Visualisierung des inneren Schreibprozesses beobachten, wenn der Versuch unternom-

62 Vgl. ebd., 01:21:57-01:25:14. 63 Paul Arthur, S. 332. 64 Julian Jarrold, 01:07:57-01:09:00. 65 Vgl. ebd., 00:50:52-00:50:56. 66 Vgl. Kapitel 4.2.4 dieser Arbeit.

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men wird, eine visuelle Verbindung zwischen den Inhalten der gothic novels von Radcliffe und der häuslichen Umgebung ihres filmischen (fiktiven) Pendants herzustellen: Der dunkle Treppenaufgang, die mediterranen Farben der Wände67 voller Patina sowie die schweren, dunklen Möbel und die unnatürlich wirkende Stille im Haus laden den Raum ähnlich markant semantisch auf, wie es für Schauerroman bzw. gothic novel üblich ist. Das äußere Erscheinungsbild der mise en scéne sorgt ebenso wie die Raumbeschreibung in gothic novels für die „Erzeugung der lustvollen Schauereffekte [… unter anderem durch, L.Z.] die ausgeprägte Semantisierung der Raumdarstellung, die zu einem eigenständigen Bedeutungsträger wird.“ 68 3.2.3 Von der Idee zum fertigen Werk Die bereits angesprochene mentale Tätigkeit des kreativen Schöpfungsprozesses wird in fiktiven Werkgenesen über die oben erfassten Strategien der Visualisierung des Werks und der Reflexion über das Werk medialisiert. Beide Strategien, den internen Prozess der Ideenfindung und der -ausformulierung zu externalisieren, sind notwendig, um zu den entscheidenden Szenen der eigentlichen schöpferischen Tätigkeit hinzuführen. Jede fiktive Werkgenese „is punctuated by obligatory scenes in which a wordsmith cogitates or paces, hesitates, then commits thoughts to paper. A seemingly trivial gesture, the motif of blank surfaces beginning to bristle with words and sentences in fact undergirds a larger, metathematic discourse concerned with relations between word and image, page and screen.“69 Der Moment, in dem das spezifische Werk entsteht, dessen Entstehungsgeschichte in der fiktiven Werkgenese narrativiert wird, wird als Höhepunkt der Handlung markiert. In BECOMING JANE handelt es sich um die nächtliche Szene, in der sie ihre „First Impressions“ zu Pride & Prejudice notiert. Dieser Höhepunkt wird durch das gänzliche Fehlen weiterer Schreibversuche (abgesehen von Briefen) zwischen dem Moment von Thomas’ geäußerter Kritik und dieser Szene vorbereitet. Erst nachdem Jane sich öffentlich dazu bekannt hat, Romanautorin zu sein, beginnt sie (entgegen dieser selbstbewussten Äußerung) nachts und

67 Was insbesondere eine Parallele zu Radcliffes zweitem Roman The Italian, or The Confessional of the Black Penitents. A Romance (1797) und dessen in Italien spielender Handlung herstellt. Vgl. auch Ansgar und Vera Nünning, S. 168. 68 Ebd., S. 164. 69 Paul Arthur, S. 332.

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heimlich mit der tatsächlichen Schreibarbeit an ihrem Roman.70 Ihre spärliche Bekleidung verweist auf die Anfangssequenz, in der Jane ebenfalls im Nachthemd in einer frühen Morgenstunde am Schreibpult gesessen hat. Doch während sie zu dieser Zeit noch im Dämmerlicht auf die sprichwörtliche Erleuchtung warten musste, zündet sie nun im ganzen Schlafzimmer Kerzen an, die als Symbole ihrer Inspiration funkeln.71 Dabei ist zu beachten, dass diese Momente der überbordenden Kreativität in fiktiven Werkgenesen mit einem (wenn auch meist nur flüchtigen) Ausblick auf ein Liebesglück einhergehen. Die enge Verschränkung von Liebe, Kreativität und Inspiration bleibt in fiktiven Werkgenesen fortwährend aufrechterhalten. Das (wenn auch nur kurzfristig) in Aussicht gestellte Liebesglück und die Erarbeitung eines Textes aus inspirierenden Momenten heraus führt zum charakteristischen Erfolgsgefühl. Paul Arthur beobachtet hierzu: A common project in these films is to dramatize and celebrate the transformation of imaginative impulses into commercially viable art, a bohemian success story. Yet, in doing so, questions concerning the limits of written texts, and the interchange between a writer’s vision and alternative or competing sources of cultural production, tend to be embedded as subtexts.72

Das hier genutzte Beispiel BECOMING JANE eignet sich für die Betrachtung dieser schriftstellerischen Erfolgsstory besonders gut, da hier sehr detailliert deren einzelne Etappen über die Reflexion über das Werk und das gesellschaftliche Umfeld hin zu einer bis heute viel gelesenen und adaptierten Schriftstellerin nachgezeichnet werden. Gleichzeitig wird in den Lese- und Schreibszenen eine mit dem Medium Film fast schon konkurrierende Begeisterung für das Medium Schrift und Literatur ausgedrückt. In BECOMING JANE wird dem Zuschauer immer wieder die Möglichkeit geboten, Textpassagen, die geschrieben, vorgetragen oder im Filmbild eingeblendet werden, mitzulesen.73 Diese sind grafisch ins

70 Dies bringt eine interessante Anspielung zum für unter anderem in mittelalterlichen Romanen auffindbaren Motiv mit sich, dass der Name von etwas auch Macht darüber verleiht – so kann auch Jane erst an ihrem ersten Roman schreiben, nachdem sie die Tätigkeit benannt und damit Macht darüber gewonnen hat. 71 Vgl. Julian Jarrold, 01:10:55-01:11:53. 72 Paul Arthur, S. 333. 73 Natürlich bleibt dabei zu beachten, dass diese Aussage hauptsächlich für ein englischsprachiges Publikum zutrifft, da der Film, der sich obendrein mit einer englischen Au-

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Filmbild eingearbeitet und setzen sich somit von illusionsstörenden Hilfsmitteln wie Unterbrechungen durch erklärende Untertitel ab. Das Filmbild wird also zum Trägermedium der Schrift.74 So sehen die Zuschauer/innen auch – ganz wie Arthur es beschrieben hat – zunächst das leere Blatt, auf dem Jane ihre ersten Gedanken unter dem Titel „First Impressions“ aufschreibt.75 Dabei werden allerdings nicht bloß die Seiten abgefilmt, sondern dem Zuschauer immer noch in einer Art Rahmung durch das filmische Bild als Bestandteil der mise en scéne des Films präsentiert. Die Montage mehrerer Bilder übereinander erlaubt es, die beschriebenen Blätter gleichzeitig mit der schreibenden Jane wahrzunehmen. Durch die Künstlichkeit zweier übereinander gelegter Bilder wird zwar einerseits Distanz im Betrachter erzeugt, gleichzeitig durch die Überblendung von Erzeugnis und Erzeuger eine nicht zu unterschätzende Nähe zu der schreibenden Figur und ihren medialisierten Gedanken evoziert. Mit der Symbiose von Schreibender und Geschriebenem wird das Filmpublikum in die Rolle von Zuschauer/in, Zuhörer/in (das Geschriebene wird zusätzlich vorgelesen) und Leser/in versetzt und nimmt somit intensiver an der Schreibarbeit Janes Teil, als dies typischerweise durch bloßes Zuschauen geschieht. Auch in dieser Szene wird obendrein – ähnlich wie in der oben diskutierten Leseszene – über die Montage mehrerer Bildund Tonspuren die unbestimmte Dauer des Schreibprozesses suggeriert. Der kreative Moment, in dem ein Gedanke in Schriftsprache zu Papier gebracht wird, wird in fiktiven Werkgenesen intensiv vorbereitet und zelebriert. Zu den in fiktiven Werkgenesen entwickelten Möglichkeiten, Prozesse der Kreativität medial ausdrücken zu können, zählen neben der oben diskutierten Visualisierung des Buches oder Textes in seiner filmischen Abbildung und dem sprachlichen Diskurs über das Schreiben auch das Spiel mit Wort und Schrift, die als

torin befasst, originalsprachlich englisch ist und daher auch alle Schriftzeugnisse in derselben Sprache abgebildet sind. 74 Damit bildet BECOMING JANE ein Gegenbeispiel zu Paechs These, dass „Lesbares in der gefilmten Szene […] zur abgebildeten, dargestellten Realität [gehört], Schrift kann zufälliges Objekt des Kamerablicks sein, Schreiben eine Handlung und Geschriebenes eine Mitteilung, die sich diegetisch dem effet de réalité unterordnet. Während der Zwischentitel den Fluss der Bilder diskontinuierlich macht, hat die Schrift in den Bildern Teil an deren Kontinuität. Aber diese geschriebene und schreibende Welt ist eine vor-filmische Realität, die Schrift gehört zur (dokumentierenden) Szene, nicht zum Film.“ Joachim Paech (1994, „Der Schatten der Schrift“), S. 215f., Hervorhebungen im Original. Doch die Erzeugung der Schrift im Bild macht diese in BECOMING JANE gerade zum Teil der filmischen Realität. 75 Julian Jarrold, 01:11:03-01:11:53.

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Text in den Film integriert sind. Häufig werden in Filmen kurz eingeblendete Untertitel verwendet, um Zeitpunkt oder Ort einer Handlung anzugeben. Sie markieren einen standardisierten Umfang einer vom Filmpublikum erwarteten Leseleistung bei der Filmrezeption. Auch der Vor- und Abspann sind als besondere Momente im Film zu betrachten, die „weitgehend auf extradiegetische informationsgebende Schriftlichkeit angewiesen [sind. …] Es handelt sich um den Umstand, dass Schrift hier selbst zum Bild wird.“76 Allerdings zeigt – um beim Beispiel BECOMING JANE ein weiteres Mal zu bleiben – der Vorspann, dass in fiktiven Werkgenesen zwei unterschiedliche Aspekte von Schriftlichkeit im Film genutzt werden: zum einen finden sich hier die außerhalb der Fiktion angesiedelten Informationen über die Namen der Mitwirkenden oder den Titel und zum anderen die diegetische Schrift, die Jane zu Papier bringt.77 Beide Arten von Einbindung der Schrift greifen in fiktiven Werkgenesen (insbesondere bei der hier als Beispiel thematisierten Darstellung einer Schriftstellerin) ineinander. Die Erweiterung der Aufgaben des Filmpublikums als Leser/innen und Zuhörer/innen werden gegen Ende von BECOMING JANE noch weiter ausgebaut: Bei der Darbietung der Sängerin wird der Akzent bereits deutlicher auf das Zuhören als das Zusehen gelegt, um die Aufmerksamkeit auf die Musik lenken zu können.78 Nur die Kamera ist in Bewegung, wohingegen das diegetische Publikum ganz auf das Zuhören konzentriert ist. Auch die Sängerin unterstützt ihre Darbietung nur durch minimalistisch anmutende Gesten. Zum Höhepunkt der Vernachlässigung des Zuschauens kommt es dann schließlich am Ende des Films, wenn das Filmbild abgeblendet wird und einige Sätze über die Biographie der historischen Personen, die fiktionalisiert im Film dargestellt wurden, eingeblendet werden. Das Sehen von Bildern entfällt hier gänzlich und nur noch die Funktionen des Lesens und Zuhörens bleiben bestehen, da sowohl der Text gelesen werden soll als auch die Abspannmusik zu hören ist. Hiermit entwickelt sich im Tonfilm eine Parallele zum Stummfilm, der die eingeblendete Schrift zur Informationsvergabe „über Ort, Zeit, Handlungsverläufe und -hintergründe sowie der Wiedergabe von Dialogen, alles unerlässliche Elemente der Information also, die nicht ins Bild aufgenommen werden konnten“,79 nutzt. Die letzten Informationen, die auf diesem Weg in BECOMING JANE nachgereicht werden, sind zwar

76 Georg Stanitzek, S. 18. 77 Beide Arten von Schrift können auch miteinander verschränkt dargestellt werden, wie beispielsweise die Darstellung des Titels in SHAKESPEARE IN LOVE zeigt. Vgl. Kapitel 5.1 dieser Arbeit. 78 Vgl. Julian Jarrold, 01:46:25-01:47:46. 79 Sigrid Lange, S. 61.

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nicht mehr direkter Bestandteil der Filmhandlung, bieten aber einen abrundenden Ausblick und dienen als vermeintliche Authentizitätsmerkmale, indem die fiktive Narration in Geschichtsschreibung überführt wird. Auf diesem Weg wird auf den vierten Bestandteil der Darstellungsstrategien von Prozessen der Kreativität in fiktiven Werkgenesen rekurriert: die Einbindung der Autorbiographie in den schöpferischen Prozess und die damit einhergehende autobiographische Umdeutung.

3.3 M OTIVISCHE E INBINDUNG

DES

W ERKS

3.3.1 Direkte und verschleierte Inszenierung von Themen und Motiven des Werks als Adaption Neben der optischen und akustischen Werkreferenz kann das Einzelwerk auch implizit in fiktive Werkgenesen eingebunden werden. Hierzu werden zentrale Motive und Themen des Werks als Erlebnisse des Autors/der Autorin in die filmisch narrativierte Biographie übertragen. Dies kann entweder direkt oder verschleiert geschehen. Die direkte Bezugnahme ist dadurch gekennzeichnet, dass in (teilweise nahezu wörtlichen bzw. bildlichen und akustischen) Zitaten Passagen aus dem thematisierten Werk punktuell aufgegriffen werden und in Erlebnisse des Autors/der Autorin umfunktioniert werden. Diese wiederum haben in der filmischen Diegese auf die Autorfigur eine inspirierende Wirkung, so dass sie aus diesem (fiktiven) Erlebnis heraus, beim Schreibprozess in das Werk ‚rückübertragen‘ werden. Es kommt also zu einem für fiktive Werkgenesen charakteristischen Spiel mit der Chronologie, das die filmisch narrativierten, fiktiven Ereignisse als Auslöser für das real vorhandene Werk ausweist und damit die zeitliche Abfolge von Werk und Sonderform einer Werkverfilmung in der fiktiven Werkgenese unterminiert. Um dieses Spiel mit Fiktion und Realität nachvollziehen zu können, sind die zentralen Themen und Motive des thematisierten Werks als bekannt vorausgesetzt. Die verschleierte Inszenierung des Einzelwerks hingegen verzichtet auf diese markierten Inspirationsmomente. Hier werden über längere Passagen des Films Parallelen oder Chiasmen über die Autorbiographie zur Handlung des Einzelwerks aufgebaut. Auch hierfür ist seitens des Filmpublikums eine zumindest vage Kenntnis des Plots – sofern das thematisierte Werk einen besitzt – erforderlich um die Einzelreferenz entsprechend entschlüsseln zu können. Ist keine Kenntnis des Einzelwerks vorhanden, bleibt diese Ebene der Werkreferenz für

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die Filmrezipient/innen unzugänglich, hatt aber keinen bedeutenden Einfluss auf das Verstehen der allgemeinen Filmhandlung. Die direkte Inszenierung von Themen und Motiven des Einzelwerks über Zitate erfolgt nur punktuell und es wäre daher verfehlt, in diesem Fall von einer Adaption oder Übersetzung des Werks in ein neues Genre oder Medium in der gängigen Definition zu sprechen, da keine der von Deborah Cartmell vorgeschlagenen Kategorien von Adaptation hiermit erfüllt werden: Es handelt sich weder um eine Transposition, einen Kommentar noch ein Analogon.80 Vielmehr lässt sich über die Verwendung von Zitatsplittern innerhalb der fiktiven Werkgenese aus einem oder verschiedenen Einzelwerken des Autors/der Autorin (in Form von gesprochenem oder geschriebenem Text bei Schriftsteller/innen, in Form von Musik oder bildender Kunst bei Musiker/innen und Künstler/innen) von einer Aneignung sprechen, über die der/die dargestellte Autor/in als Schöpfer seines/ihres gesamten Werks erfahrbar wird. In ihrer Studie zu Adaptation and Approbiation unterscheidet Julie Sanders zwei Modi intertextueller Bezüge zwischen einem ‚Original‘ und einer weiteren Version dieser Quelle, die in einem netzartigen, nicht linear zu denkenden Beziehungsgeflecht zu allen Versionen einer spezifischen Narration bzw. Darstellung stehen, dahingehend, dass [a]n adaptation signals a relationship with an informing sourcetext or original; a cinematic version of Shakespeare’s Hamlet, for example, although clearly reinterpreted by the collaborative efforts of director, scriptwriter, actors, and the generic demands of the movement from stage drama to film, remains ostensibly Hamlet, a specific version, albeit achieved in alternative temporal and generic modes, of that seminal cultural text. On the other hand, appropriation frequently affects a more decisive journey away from the informing source into a wholly new cultural product and domain. This may or may not involve a genetic shift, and may still require the intellectual juxtaposition of (at least) one text against another that we have suggested is central to the reading and spectating experience of adaptations. But the appropriated text or texts are not always as clearly signaled or acknowledged as in the adaptive process. They may occur in a far less straightforward context than is evident in making a film version of a canonical play.81

Sanders unterscheidet weiter zwischen zwei Formen von appropriation, namentlich „embedded texts and sustained appropriations“,82 wobei sie an letzteres die

80 Vgl. Deborah Cartmell, S. 24. 81 Julie Sanders, S. 26, Hervorhebungen im Original. 82 Ebd.

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Frage richtet, ob es sich hierbei um eine Hommage oder ein Plagiat handelt.83 Von Plagiat sollte in fiktiven Werkgenesen wohl kaum geredet werden, wenn einem/einer fikitionalisierten Autor/in Zitatsplitter aus dem Werk der gleichnamigen historischen Person in den Mund gelegt werden. Vielmehr lässt sich dieser Vorgang in fiktiven Werkgenesen als Hommage an das Werk des/der thematisierten Autors/Autorin verstehen, dem/der damit ein fiktives Denkmal gesetzt wird. Über die embedded texts aus Zitatsplittern wird das Gesamtwerk des Autors/der Autorin präsent gehalten und gleichzeitig eine Kette von inspirierenden Momenten aufgerufen, die den/die fiktionalisierte/n Autor/in in die Lage versetzen, sich (in der Diegese der fiktiven Autorenbiographien) zu dem/der historischen, meist kanonisierten Autor/in zu entwickeln und neben dem/den thematisierten Einzelwerk/en Bezüge zu weiteren, meist späteren Werken des/der thematisierten Autors/Autorin herzustellen. So findet sich in GOETHE! eine kurze Szene, in der Wilhelm Jerusalem seine tragisch endende Affäre beginnt, die als direkte Einbindung des hier nicht weiter thematisierten Dramas Faust dazu dient, den sich erst noch zu seinem Dichtersein bekennenden Johann für zukünftige Werke zu inspirieren: [Johann:] Schönes Fräulein, darf er’s [Wilhelm, L.Z.] wagen, Arm und Geleit Ihnen anzutragen? [Dame:] Bin kein Fräulein. [Wilhelm:] Aber schön!84

Wenngleich Faust nirgend explizit im Film erwähnt wird, dürfte es den Rezipient/innen kaum schwer fallen, das hier im Dreiergespräch variierte Faust-Zitat als solches zu erkennen. Über das kurze Zitat gelingt es, obwohl sich der gesamte Film mit einer fiktionalisierten Version von Goethes Zeit in Wetzlar im Jahr 1772 und der fiktiven Entstehungsgeschichte von Die Leiden des jungen Werther beschäftigt, Goethes Faust und damit weiterführend auch das Gesamtwerk des historischen Autors mit der fiktiven Figur Johann zu verknüpfen. Neben der Möglichkeit, über Zitate direkt auf Einzelwerke zu referieren, kommt es in fiktiven Werkgenesen auch immer wieder zur verschleierten Inszenierung von Einzelwerken, die über den gesamten Film hinweg indirekt adaptiert werden. Im Gegensatz zur optischen oder akustischen Einbindung des Werks wird hierbei auf die Nennung des Werks verzichtet. Es wird also ein selbstständiges Erkennen seitens der Filmrezipient/innen vorausgesetzt. Unterstützt wird

83 Vgl. ebd., S. 32-41. 84 Philip Stölzl, 00:30:56-00:31:11.

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die Interpretationsleistung meist durch die optische und akustische Einbindung des Werks, bei der es auch häufig zu einer Nennung des Titels in der Einzelreferenz kommt. Dennoch lässt sich an diesem Vorgehen ein Trend ausmachen, der, wie Sanders attestiert, durchaus für viele Rezipient/innen den Reiz an vergleichbarer Lektüre oder Filmen auszumachen scheint: If we adhere to some of Genette’s theories of palimpsestuous writing […], surely part of the pleasure of response for the reader consists in tracing those relationships for themselves. Without wishing to reduce the act of reading to a game of ‚spot the appropriation‘ it is surely important to acknowledge that to tie an adaptive and appropriative text to one sole intertext may in fact close down the opportunity to read it in relationship with others.85

Wie zuvor erwähnt ist die Kenntnis des referierten Einzelwerks keineswegs unabdingbar für die Rezeption des Films, der durchaus für sich allein steht und ohne entsprechendes Vorwissen in seiner Handlung verstanden werden kann. Dies entspricht der bereits von Genette zur Hypertextualität86 getroffenen Beobachtung, dass „[m]oins l’hypertextualité d’une œuvre est massive et déclarée, plus son analyse dépend d’un jugement constitutif, voire d’une décision interprétative du lecteur.“87 Wie Kai-Marcel Sicks anmerkt, beziehen sich „[e]twa 80% aller Hollywood-Produktionen […] auf zeitlich vor dem Film verfasste (wenn auch oft unbekannte) Romane; im europäischen Kino dürfte die Quote kaum niedriger liegen.“88 Diese enge Verbindung, die zwischen literarischer und filmischer Produktion besteht, lässt es kaum verwunderlich erscheinen, dass in Filmen mit diesem Umstand kokettiert wird. Wie Sanders allerdings treffend feststellt, kann es nicht das Ziel sein, die Rezeption auf ein spot the appropriation zu reduzieren. In fiktiven Werkgenesen wird mit der direkten und verschleierten Inszenierung des Werks ein eigenständiger Weg eingeschlagen, der zu einem selbstbewussten

85 Julie Sanders, S. 35. 86 Genette versteht unter Hypertextualität „toute relation unissant un texte B (que j’appellerai hypertexte) à un texte antérieur A (que j’appellerai, bien sûr, hypotexte) sur lequel il se greffe d’une manière qui n’est pas celle du commentaire.“ Gérard Genette (1982), 11f., Hervorhebungen im Original. Später spezifiziert Genette die Art und Weise der Überlagerung als entweder „transformation simple (nous dirons désormais transformation tout court)“ oder „transformation indirecte: nous dirons imitation.“. Ebd., S. 14, Hervorhebungen im Original. 87 Ebd., S. 16. 88 Kai-Marcel Sicks, S. 284.

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Spiel mit der Vorlage führt und dazu anregen kann, das Original zu rezipieren und mit dessen ‚verfilmter‘ Darstellung zu vergleichen. Durch die Nennung bekannter, meist kanonisierter Autorennamen und der Referenz auf ein ebenfalls meist kanonisiertes Einzelwerk dürfte es insgesamt eher schwierig sein, die Bezüge zwischen der fiktiven Werkgenese und deren Vorlage gänzlich zu ignorieren, doch lassen sich diese Filme auch ohne die entsprechende interpretatorische Leistung rezipieren, die versucht, alle Bezüge zwischen (in Genettes Terminologie) Hypo- und Hypertext zu entschlüsseln. Allerdings eröffnet das intertexutelle Gefüge zwischen dem Prätext und seinen diversen Adaptionen (mit der fiktiven Werkgenese als einer von diesen) für die Rezipient/innen eine zusätzliche Ebene des Films, die über die Einzelreferenz ebenso wie die Referenz auf den/die historischen Autor/in aufgebaut wird und den Rezipient/innen die Möglichkeit gibt, eigenes Vorwissen mit der im Film angebotenen Verschränkung von Autorbiographie und Einzelwerk abzugleichen. Exemplarisch lässt sich die verschleierte Einbindung eines Einzelwerks an dem zuvor bereits zitierten Film GOETHE! beobachten, in dem der ohnehin meist autobiographisch ausgelegte Briefroman Die Leiden des jungen Werther nun in Gänze als Bestandteil von Johanns Biographie dargestellt wird. Hierzu werden nicht nur markante Szenen, wie die (wenn auch im Film variiert dargestellte) Brotausteilungsszene zwischen Lotte und ihren jüngeren Geschwistern im Haus der Familie Buff89 als direkte Erlebnisse ausgelegt, sondern auch eine (fiktive) enge Freundschaft zwischen Jerusalem und Goethe dargestellt, um die Selbstmordthematik deutlich dramatischer gestalten zu können.90 Der Film gliedert sich nach Johanns Ankunft in Wetzlar in eine Abfolge aus markanten Motiven aus dem Werther, die mit fiktiven Motiven über das Verhältnis zwischen Lotte und Johann verknüpft werden. Dabei wird allerdings auf eine chronologische Darstellung einzelner Werther-Szenen verzichtet: Lotte und Johann lernen sich zwar auch auf einem Fest kennen, ohne allerdings miteinander zu tanzen,91 die im Werther die Begegnung einleitende Brotausteilungsszene hingegen wird erst Bestandteil ihrer dritten Begegnung. Die erste Begegnung wird genutzt, um einen Anlass für die „Werther-Tracht“ zu liefern, als die angetrunkene Lotte Rotwein über Johanns eigentlichen Rock verschüttet und er so gezwungen ist, sich Jerusalems, in farblichem Kontrast zu seiner gelben Hose stehende blaue Jacke zu borgen.92 Dieser und ähnliche Momente lassen die fikti-

89 Vgl. Philip Stölzl, 00:23:49-00:26:19. 90 Vgl. ebd., 00:11:52-01:10:36, besonders 01:03:35-01:10:36. 91 Vgl. ebd., 00:12:54-00:14:30. 92 Vgl. ebd., 00:20:36-00:21:11.

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onalisierte Autorfigur mit ihrer fiktiven Romanfigur verschmelzen. Die verschleierte Werkreferenz evoziert so zwangsweise eine autobiographische Deutung des Werks, indem nahegelegt wird, dass der/die (fiktionalisierte) Autor/in einzelne Episoden aus ihrem/seinem Werk durchleben muss, um anschließend darüber schreiben zu können. Gleichzeitig offenbart der Film damit aber auch seine eigene Fiktionalität, insofern der von Johann geschriebene, fiktive Werther sämtliche Episoden des Films enthält – sowohl jene, die dem originalen Werther entnommen sind, als auch jene, die der reinen Filmfiktion entstammen. Es entsteht so eine für fiktive Werkgenesen generell charakteristische, hier aber plakativ verwendete Mischung aus Fiktion und der Verwendung einer faktischen Vorlage im Film, die mit Hilfe der Werkreferenz für eine Form von (nach Cahir) radikaler Übersetzung mit einer Neudeutung des dargestellten Werks sorgt. Auch wenn die Neudeutung als autobiographisch inspiriertes Werk in Bezug auf Goethes Werther eher standardisiert wirkt, wird mit der im Film durchaus kritisch zu wertenden strikten Verneinung jedweder dichterischer Kreativität dennoch ein neues Bild von Johann und seinem fiktiven Werther gezeichnet, wobei letzterer – nicht zuletzt auch durch die im Film betriebene Ausblendung der zeitlichen Distanz zwischen Goethes Besuch in Wetzlar im Sommer 1772 und der Fertigstellung des Werther in seiner ersten Fassung 1774 – auf die Form eines literarischen Tagebuchs reduziert wird: Johann schreibt noch in Wetzlar – und obendrein wegen eines (fiktiven) Duells mit Kestner inhaftiert – seine Erlebnisse mit geringfügiger zeitlicher Distanz auf und erpresst Lotte gleichzeitig mit seinem darin angedrohten Selbstmord, sollte sie sich für Kestner und nicht für ihn entscheiden.93 Wie Nieberle in Anlehnung an Hans-Martin Kruckis feststellt, „vermittelt die Filmbiographie durch die ihr eigene Ästhetisierung eine oberflächliche und teilweise ‚verfälschte‘ Darstellung historischer Ereignisse und Personen. Die Filmbiographie ist ein fiktionales Genre, das auf Fakten referiert und nicht ohne die narrativen und ästhetischen Mittel des ‚Authentischen‘ auskommen will.“94 So wird durchaus in der Autorreferenz auf markante Eckdaten und Charakteristika des thematisierten Autors referiert, gleichzeitig wird aber auch über die autobiographische Umdeutung des Werks innerhalb der radikalen Übersetzung in das filmische Medium ein Moment der Fiktionalität eingebaut, das einer authentischen und dokumentarischen Darstellung des Autors/der Autorin in fiktiven Werkgenesen zuwiderläuft.

93 Vgl. ebd., 01:16: 25-01:27:21. 94 Siegrid Nieberle (2008), 27. Vgl. weiterführend Hans-Martin Kruckis, S.34f.

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3.3.2 Autobiographische Umdeutung als radikale Übersetzung des Werks Der Film versucht den fiktionalisierten Johann mit der fiktiven Figur Werther verschmelzen zu lassen. So wird das aus Die Leiden des jungen Werther bekannte Wahlheim statt des von Goethe wohl als Vorlage verwendeten Garbenheim zum Wohnort Lottes (deren historisches Pendant mitten in Wetzlar lebte) um so die im Werther mitschwingende, ländliche Idylle zu illustrieren. Die faktisch falschen Darstellungen im Film GOETHE!, die jedem biographischen, dokumentarischen und um Authentizität bemühten Anspruch, der dem Genre der biographical pictures zumindest ansatzweise inhärent ist, zuwiderläuft, könnten – wie Nieberle anmerkt – (nicht nur in Bezug auf GOETHE!, sondern auf das gesamte Filmgenre) dazu anregen, aus literarturwissenschaftlicher Sicht den Niedergang literarhistoriographischer Traditionen zu beklagen. Es wäre ein leichtes, das Filmkorpus auf seine Verfälschungen und Irrtümer hin zu untersuchen. Aber die literarische Filmbiographie bezieht sich ja gerade nicht auf die faktisch orientierte Historie, sondern auf Legenden, Anekdoten, literarische Auto-/ Biographien, Dramen, Briefe, zeitgenössische und postume Quellentexte: mithin also auf Narrationen, die sie in neue Narrationen transformiert.95

Genau eine solche Anekdote der Literaturgeschichte wird in GOETHE! aufgegriffen, indem hier eine Narration über den autobiographischen Gehalt des Werther erfolgt. Obendrein werden, um diesem Vorwurf entgegenzuwirken, bewusste Fiktionalitätssignale gesetzt, die den eigenen Status als fiktive Narration betonen: Wenn Lotte in GOETHE! dem Verleger des Werther auf seine Frage, ob es sich denn alles so zugetragen habe, entgegnet, „Es ist mehr als die Wahrheit. Es ist Dichtung“96, dann wird so nicht nur eine Anspielung auf Goethes Autobiographie evoziert, sondern vor allem auch der eigene Status als fiktive Werkgenese und damit einhergehend als fiktive Biographie hervorgehoben. Die dargestellten biographischen Momente haben nicht das Ziel dokumentarisch über das Leben Goethes zu informieren, sondern über die Verschmelzung vom fiktiven Werk mit der Biographie eine fiktive Erzählung zu erzeugen. Generell zeichnet sich diese in fiktiven Werkgenesen einerseits durch eine Reihe übergreifender Motive aus, die die Figur des Autors/der Autorin, des Künstlers/der Künstlerin, des Musikers/der Musikerin etc. definieren:

95 Siegrid Nieberle (2008), S. 27. 96 Philip Störzl, 01:33:57-01:34:04.

110 | THEORETISCHE Ü BERLEGUNGEN Alle diese Filme erzählen von sozial inkommensurablen Figuren, die Schwierigkeiten in ihrem Umfeld haben, die rebellieren, sich unkonventionell verlieben, der Verführung von Drogen erliegen, mitunter deutliche Symptome psychischer Labilität entwickeln und sich für ihre Literatur ‚opfern‘ – kurz gesagt: Sie erzählen von Figuren der Devianz, die zum einen die „Legende vom Künstler“ stets aktualisieren und zugleich in zumeist konventioneller Weise affimieren.97

Andererseits werden diese allgemeinen Darstellungen der devianten Figuren durch Motive und Themen aus dem referierten Einzelwerk ergänzt, so dass es zu einer autobiographischen Umdeutung des Werks kommt, die sich allerdings (zumindest immer wieder durchscheinend) ihrer Fiktionalität bewusst bleibt – wie im obigen Zitat aus GOETHE! plakativ ausgespielt. Es werden allgemeine Vorstellungen von Autorschaft über den individuellen Lebensweg ‚gestülpt‘, um einem im kulturellen Gedächtnis verankerten Konstrukt von Autorschaft gerecht zu werden. Dieses scheint sich unter anderem dadurch auszuzeichnen, dass die spätestens seit dem ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert (und damit angesiedelt in den in ihrer exakten Datierung umstrittenen Epochen Sturm und Drang und Romantik) zu Schlagworten avancierten Begriffe Genialität und Originalität entscheidendes Charakteristikum ‚des‘ Autors/‚der‘ Autorin (Schriftsteller/innen, Künstler/innen, Musiker/innen etc.) sind. Doch werden diese Begriffe in fiktiven Werkgenesen häufig gebeugt, um Momente der Inspiration erfahrbar zu machen. In fiktiven Werkgenesen entsteht Inspiration zu einem originären Werk nicht in Gedanken, sondern durch das Durchleben bestimmter Situationen. Damit wird die Möglichkeit geschaffen, den Protagonist/innen zuzuschauen. Genialität wird damit einhergehend meist von den freien Möglichkeiten der Phantasie gelöst und auf das bewusste Wahrnehmen des Umfelds und einer daraus gezogenen Inspiration reduziert. Es handelt sich also mehr um mimetische Qualitäten, die den Autor/innen zugeschrieben werden, insofern es ihnen gelingt, das Erlebte wiederzugeben – und zwar so literarisiert (oder anderweitig überarbeitet) um ein Kunstwerk entstehen zu lassen, dass „mehr als Wahrheit“, nämlich „Dichtung“ ist. Natürlich muss bei dieser Praxis auch kritisch angemerkt werden, dass damit ein großer Teil des hermeneutischen Potentials des thematisierten Einzelwerks ausgeklammert wird, indem sich ausschließlich auf eine autobiographische Lesart beschränkt wird. Konzepte der Phantasie und Gedankenfreiheit, die der Autorfigur ebenfalls inhärent sein könnten, werden damit nahezu gänzlich ausgeschlossen.

97 Sigrid Nieberle (2008), S. 2.

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3.4 P ARATEXTUELLE F UNKTION Um der Einbettung des Einzelwerks in den vielfältigen Möglichkeiten ihres Bedeutungspotentials für fiktive Werkgenesen gerecht zu werden, bietet sich weiter das Konzept von Gérard Genettes ‚Paratext‘ an. Genette stellt fest, dass [l’]œuvre littéraire consiste, exhaustivement ou essentiellement, en un texte, c’est-à-dire (définition très minimale) en une suite plus ou moins longue d’énoncés verbaux plus ou moins pourvus de signification. Mais ce texte se présente rarement à l’état nu, sans le renfort et l’accompagnement d’un certain nombre de productions, elles-mêmes verbales ou non, comme un nom d’auteur, un titre, une préface, des illustrations, dont on ne sait pas toujours si l’on doit ou non considérer qu’elles lui appartiennent, mais qui en tout cas l’entourent et le prolongent, préccisément pour le présenter, au sens habituel de ce verbe, mais aussi en son sens le plus fort: pour le rendre présent, pour assurer sa présence au monde, sa „réception“ et sa consommation, sous la forme, aujourd’hui du moins, d’un livre.98

Diese den Text umgebenden Paratexte werden von Genette in unterschiedliche Kategorien unterteilt: Autorennamen, Titel, verlegerische Paratexte (wie die Zuordnung in Reihen, die Wahl des Formats, der Umschlaggestaltung etc.), ‚Waschzettel‘ bzw. ‚le prière d’insérer‘ („un texte bref […] décrivant, par voie de résumé ou tout autre moyen, et d’une manière le plus souvent valorisante, l’ouvrage auquel il se rapporte“99), Widmungen, Motti, Vorworte, Zwischentitel, Anmerkungen und letztlich Epitexte, die öffentlicher oder privater Natur sein können. Die Zugehörigkeit eines paratexutellen Elements „consiste à déterminer son emplacement (question où?), sa date d’apparition, et éventuellement de disparition (quand?), son mode d’existence, verbal ou autre (comment?), les caractéristiques de son instance de communication, destinateur et destinataire (de qui?, à qui?), et les fonctions qui animent son message: pour quoi faire?“100 Auch fiktive Werkgenesen lassen sich als Form von Paratexten lesen. Da sie nachträglich, in den meisten Fällen sogar ohne Wissen der (bereits verstorbenen) Autor/innen entstanden sind, lassen sie sich der Gruppe der öffentlichen Epitexte zuordnen. Im Gegensatz zu den übrigen Paratexten bleibt der Epitext räumlich von dem Werk, auf das er sich bezieht getrennt, indem er „ne se trouve pas matériellement annexé au texte dans le même volume, mais qui circule en quel-

98

Gérard Genette, (1987, Seuils), 7, Hervorhebungen im Original.

99

Ebd., S. 108.

100 Ebd., S. 10, Hervorhebungen im Original.

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que sorte à l’air libre, dans un espace physique et social virtuellement illimité“,101 auch wenn eine spätere Übernahme von beispielsweise Interviews, Tagebucheinträgen, Briefen etc. in spätere Buchausgaben durchaus denkbar ist und häufiger praktiziert wird. Darüber hinaus findet sich noch eine eher funktionale Unterscheidung zwischen dem Epitext und den übrigen Paratexten: [B]ien des entretiens portent moins sur l’œuvre de l’auteur que sur sa vie, ses origines, ses habitudes, ses rencontres et fréquentations (par exemple, avec d’autres auteurs), voie sur tout autre sujet extérieur explicitement posé comme objet de la conversation: la situation politique, la musique, l’argent, le sport, les femmes, les chats ou les chiens.102

Genettes enge Definition des öffentlichen Epitexts als Interview, das der Themenwahl zufolge für ihn nur mit heterosexuellen, männlichen Autoren zu führen sei (‚die Männer‘ kommen beispielsweise nicht als potentielles Gesprächsthema vor), lässt sich dennoch problemlos auf die Funktionsweise von fiktiven Werkgenesen übertragen, die über die Einzel- und Autorenreferenz ein (wenn auch fiktives) Bild über die Entstehungsumstände eines Werks innerhalb des Lebens eines Autors/einer Autorin mit allen der oben genannten Facetten zu vermitteln suchen. Im Fall der fiktiven Werkgenesen tritt das Werk insofern in den Hintergrund, als es nicht im engeren Sinn einer Literaturverfilmung inszeniert wird, sondern zum Thema einer fiktiv-biographischen Narration wird. Hierzu zählen ebenso die Herkunft, die Gewohnheiten, Begegnungen und Umgang, wie auch – teilweise sicher eher im unseriösen Biographismus zu verortende – Erzählungen von Anekdoten über die thematisierte historische Person. Fiktive Werkgenesen fungieren somit als ‚Begleittexte‘ zu den Einzelwerken, auf die sie sich beziehen, indem sie – wenn auch in einem fiktiven Rahmen – ein Bedürfnis nach Informationen darüber, wie die darin dargestellten (und meist kanonisierten) Werke entstanden sein könnten, zu befriedigen suchen. Wie oben gezeigt, ist dieses Bedürfnis häufig im Kontext einer zuvor erfolgten Literaturverfilmung des Werks (im engeren Definitionssinn) angesiedelt. Was George Linden über erfolgreiche Adaptionsprozesse festhält, trifft auf fiktive Werkgenesen in besonderer Form zu: „A successful adaptation of a novel should not be the book. Nor should it be a substitute for the book. If it is truly successful, it should be a work of art in its own right which excites the reader to go reexperience that work in another medium: the novel.“103 Die Dringlichkeit dieses

101 Ebd., S. 346. 102 Ebd., S. 348, Hervorhebung im Original. 103 George Linden, S. 169.

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Bedürfnisses lässt sich exemplarisch an der fiktiven Werkgenese über J.K. Rowling und ihre „Harry-Potter“-Reihe beobachten. Als Sonderfall einer fiktiven Werkgenese über eine noch lebende Romanautorin lief der TV-Film in den USA ab dem 18. Juli 2011 nahezu zeitgleich mit dem Kinostart des finalen Teils der Buchadaptionen, HARRY POTTER AND THE DEATHLY HOLLOWS – PART 2 (Start UK: 07. Juli 2011; Start USA: 11 Juli 2011), im US-amerikanischen Fernsehen. MAGIC BEYOND WORDS. THE J.K. ROWLING STORY schließt nicht nur zeitlich an die Verfilmung der Buchreihe an, sondern erzählt den Zeitraum von der anfänglichen Inspiration zur Bestseller-Reihe über die Suche der Autorin nach einem Verlag bis hin zur Verfilmung des ersten Buches, mit deren Kinopremiere der Film beginnt und nahezu endet. Im Titelvorspann wird MAGIC BEYOND WORDS als „unauthorized biography“104 deklariert und zählt zu der kleinen Gruppe von fiktiven Werkgenesen, die zu einem/einer noch lebenden Autor/in produziert worden sind.105 Dabei durchlebt die fiktive Joanne– wie für fiktive Werkgenesen üblich – eine Reihe von Momenten, die klare Verweise auf die von ihr im Lauf der Filmhandlung begonnene „Harry Potter“-Reihe beinhalten und so die Inspiration dafür erklärt wird. Plakativ geschieht dies im Gespräch mit ihrem (wie Ron Weasley in „Harry Potter“ ebenfalls) rothaarigen besten Freund: „[Sean Harris:] Maybe you could write me into one of your stories. [Joanne K. Rowling:] You’re such a weasley guy.“106 Die einzelnen zuvor nur angedeuteten Inspirationen fügen sich während einer Zugpanne zu einer Geschichte aus Kindheitserinnerungen und Gegenständen, die symbolhaft für „Harry Potter“ stehen, zusammen. Als Joanne in diese Erinnerungsphantasie eintaucht, begegnet sie dort ihrer Hauptfigur und beginnt daraufhin mit dem Schreiben.107 Der Film eröffnet somit – als Verfilmung von Sean Smiths J.K. Rowling: A Biography (2001) – die Möglichkeit, die Frage nach der Entstehung der Geschichte (wenn auch selbst wiederum als fiktive Narration) zu beantworten. Insofern hier gleichzeitig die Bücher, die Verfilmung des ersten Teils und die Autorin thematisiert werden, fungiert MAGIC BEYOND WORDS in gleich mehrfacher Hinsicht als Paratext. Die Verfilmung der Biographie präsentiert die Autorin in einer fiktionalisierten Ausformulierung nun ebenfalls im filmischen Medium, die sogar am Ende des Films in einem dokumentarischen Stil mit Aufnahmen während verschiedener Lesereisen direkt ein-

104 Paul A. Kaufman, 00:00:04. 105 Weitere Beispiele sind ZEITEN ÄNDERN DICH (2010, Regie: Uli Edel) über Bushido oder I’M NOT THERE (2007, Regie: Todd Haynes) über Bob Dylan. 106 Paul A. Kaufmann, 00:14:11-00:14:17 107 Vgl. ebd., 00:19:48-00:23:06.

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geblendet wird.108 Dadurch wird versucht, den Anschein von Authentizität zu erwecken und dies gleich auf dreierlei Weise: die echte Autorin wird über Aufnahmen eingespielt, die Basis der Filmhandlung bildet eine dokumentarische Biographie und der von Rowling selbst mitinszenierte Mythos der ‚Rags to Riches‘-Entstehungs- und Erfolgsgeschichte der „Harry Potter“-Reihe wird hier weiter transportiert. Die paratextuelle Funktion verbindet so noch einmal auf einer weiteren Ebene die Referenz auf das Werk und auf die Autorin.

108 Vgl. ebd., 01:21:50-01:22:06.

Autorreferenzen

4.1 ‚D ER AUTOR IST TOT – ES LEBE DER AUTOR ‘ – AUTORSCHAFT ZWISCHEN F ILM UND F ORSCHUNG Neben den Referenzen auf die involvierten Medien mit deren Darstellungsmöglichkeiten und Eigenschaften sowie den Referenzen auf das thematisierte Einzelwerk über die Nachstellung einzelner Szenen und der autobiographischen Umdeutung lassen sich in fiktiven Werkgenesen als dritte Ebene die Referenzen auf den/der thematisierten Autor/in bzw. Schöpfer/in von Kunstwerken aller Art ausmachen. Dabei unterteilt sich die Referenz auf den/die Autor/in einmal in die individuelle Fiktionalisierung einer historischen Person, auf deren Leben zumindest mit markanten Eckdaten angespielt wird, und in eine Reihe von in Variation wiederkehrenden Facetten die dem Konzept von Autorschaft in fiktiven Werkgenesen zugrunde liegen und einen werkübergreifenden Anteil der Faszination an der Darstellung von Autor/innen ausmachen. Im letzten Jahrhundert scheint dieses Interesse an dem/der realhistorischen Autor/in und dessen fiktionalisierten Pendants in Literatur und Film kaum nennenswert abgeflaut zu sein – etwaige Schwankungen in der Quantität literarischer und filmischer Beschäftigungen mit dem/der Autor/in scheinen eher auf Veränderungen der Produktionsbedingungen wie beispielsweise dem Ende der Studioära Hollywoods1 als auf ein nachgelassenes Interesse am Topos des literarischen und/oder künstlerischen Schöpfers zurückzuführen zu sein. Im Gegenteil belegt der um die Jahrtausendwende be-

1

George F. Custen geht auf Basis dieser Veränderung der filmischen Produktionsbedingungen (etwas vorschnell wie die aktuelle Welle an biopics und der hier im Fokus stehenden fiktiven Werkgenesen als ein Bestandteil davon zeigen) sogar vom Ende des Genres biographical pictures aus. Vgl. George F. Custen, S. 214-232. Vgl. für eine ähnliche Beurteilung von Custens These Henry M. Taylor, S. 15f.

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ginnende Trend der fiktionalisierten Biographien in den 1990er Jahren und den Ende der 1990er Jahre einsetzenden fiktiven Werkgenesen, dass das Interesse an der Figur des Autors/der Autorin nach wie vor Bestand hat.2 Hierzu werden in der Darstellung fiktiver Werkgenesen verschiedene Topoi mit der individuellen Biographie des Autors/der Autorin vermischt.3 Bei der Betrachtung fiktiver Werkgenesen seit SHAKESPEARE IN LOVE fällt auf, dass in der Gesamtkonzeption des Films die Darstellung der Biographie und damit die des Autors/der Autorin dezentriert werden. Es geht vielmehr um kürzere Ausschnitte aus der Biographie, die zu Schlüsselszenen für die Entstehung eines oder mehrerer Werke werden. Prüfungsszenen, die Custen oder Nieberle für biopics bzw. literarhistorischen Filmbiographien vor fiktiven Werkgenesen anhand von trial scenes im Sinne von Gerichtsszenen oder öffentlichen Reden als charakteristisch herausarbeiten, verlieren daher an motivischer Prominenz.4 Einzig die trial scenes im Sinne einer Prüfung, in der Ausschnitte aus dem im Werden begriffenen Werk einem kritischen Publikum vorgestellt werden,5 bleiben bis heute wesentlicher Bestandteil der Figurenentwicklung. Der/die historische Autor/in verbleibt auch in fiktiven Werkgenesen als einer der entscheidenden Referenzpunkte für das Narrativ, wird nun aber intensiv in seiner/ihrer Entwicklungsgeschichte als oder zu dem/der Autor/in und weniger in seiner/ihrer individuell biographischen Darstellung mitsamt des historischen Kontextes fiktionalisiert. Von den von Nieberle herausgearbeiteten Narrativen moderner Autorschaft werden in fiktiven Werkgenesen neben einem Randaspekt der zuvor angesprochenen trial scenes hauptsächlich die Darstellung von Genie und Wahnsinn sowie das Aufgreifen eines Liebesplots weiterhin als charakteristisch für das Subgenre verwendet.6 Daneben wird der/die Autor/in nun in prometheischer Anlehnung als Schöpfer mythisiert und ikonisiert. Die in fiktiven Werkgenesen angebotenen Konzepte von Autorschaft operieren dabei einerseits mit Momenten historischer Fremdheit, bieten andererseits aber über die dem historischen Kontext enthobene, auf allgemeine Vorstellungen rekurrierende Darstellung von Autorschaft ein breites Angebot an Identifikationsmöglichkeiten, die die Autorfigur trotz aller Fremdheit zum Sympathieträger machen. Letzteres wird durch die ge-

2

Für eine ähnliche Beobachtung, vgl. Sigrid Nieberle (2008), S. 1f.

3

Exemplarisch wird die Einbindung der individuellen Biographie in den anschließenden Einzelanalysen thematisiert, während hier der Fokus auf den filmübergreifend in fiktiven Werkgenesen auffindbaren Motiven und Topoi von Autorschaft liegt.

4

Vgl. Sigrid Nieberle, S. 234-254; vgl. George F. Custen, S. 186-192.

5

Vgl. Sigrid Nieberle (2008), S. 231.

6

Vgl. ebd., S. 255-288.

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botene Definition der Arbeit des Autors/der Autorin nicht nur als Berufung eines Genies, sondern auch als zu erlernender Beruf ermöglicht. Interessanterweise arbeitet das in fiktiven Werkgenesen transportierte Narrativ von Autorschaft mit genau den Stereotypen und Topoi, von denen sich in der literaturwissenschaftlichen Untersuchung zu distanzieren versucht wurde. Während in fiktiven Werkgenesen – wie im vorhergehenden Kapitel gezeigt wurde – Werk und Biographie des Autors/der Autorin verschmelzen und damit eine postulierte Intention stets (ob zu Recht oder zu Unrecht sei an dieser Stelle ausgeklammert) autobiographisch konnotiert wird, sucht die Literaturwissenschaft ab der Mitte des vergangenen Jahrhunderts immer wieder nach anderen Möglichkeiten, Texte (und Medien) zu analysieren, ohne sich dabei auf eine vermeintliche Autorintention beschränken zu müssen. Die Herausgeber des Sammelbands „Texte zur Theorie der Autorschaft“, Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez und Simone Winko fassen diese wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung folgendermaßen zusammen: Spätestens in den fünfziger Jahren war in den USA mit Wimsatts und Beardsleys Aufsatz gegen die intentional fallacy und in Deutschland mit Wolfgang Kaysers Studien über den Erzähler im modernen Roman ein Diskussionsstand erreicht, der – wenn nicht in der Literaturkritik, so doch zumindest in der Literaturwissenschaft – die naive Identifikation von Werkbedeutung und Autorbiographie unmöglich machte. In französischen Schulen und Universitäten dominierte hingegen die so genannte explication du [sic] texte. Ein erklärtes Ziel dieser Methode besteht darin, eine Korrespondenz zwischen Autorbiographie und Werkbedeutung herzustellen.7

Betrachtet man die Vorgehensweise der explication de texte in der hier gewählten Zuspitzung so entsteht der Eindruck, dass, wie im Zuge der theoretischen Erfassung der Einzelreferenz zu beobachten war, fiktive Werkgenesen noch immer (oder schon wieder) ebenfalls in dieser Tradition wirken. Fiktive Werkgenesen neigen in ihrer Aussage dazu, die in ihnen thematisierten Texte auf eine autobiographische Lesart mit Hilfe einer autobiographisch angelegten Inspirationsquelle und damit auf die Niederlegung des Erlebten in einer künstlerischen, literarischen oder audio-visuellen Ausdrucksform zu reduzieren. Literaturwissenschaft und -produktion entfernen sich in diesem Punkt unweigerlich voneinander. Für die literaturwissenschaftliche Entwicklung konstatieren Jannidis, Lauer, Martínez und Winko, dass „[z]usammen mit Michel Foucaults Was ist ein Autor? […] Der Tod des Autors des Franzosen Roland Barthes (1915-1980) das

7

Fortis Jannidis/Gerhard Lauer/Matías Martínez/Simone Winko, S. 181.

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wohl einflussreichste Plädoyer für eine Verabschiedung des Autors aus der Interpretation literarischer Texte [ist, L.Z.]. Der Titel des Essays ist nahezu sprichwörtlich geworden.“8 Auch Heinrich Detering beobachtet, dass „[d]ie These vom Tod des Autors […] zu den meistzitierten, folgenreichsten und umstrittensten Sätzen der neueren Literaturtheorien“9 gehört. Roland Barthes strebt mit seiner provokativen These, „la naissance du lecteur doit se payer de la morte de l’Auteur“,10 eine Umorientierung von der Autorintention hin zum Rezeptionsprozess an: Nous savons maintenant qu’un texte n’est pas fait d’une ligne de mots, dégageant un sens unique, en quelque sorte théologique (qui serait le „message“ de l’Auteur-Dieu), mais un espace à dimensions multiple, où se marient et se contestent des écritures variées, dont aucune n’est originelle: le texte est un tissu de citations, issues des milles foyers de la culture.11

Barthes folgert aus dieser Überlegung: „L’Auteur une fois éloigné, la prétention de ‚déchiffrer‘ un texte devient tout à fait inutile. Donner un Auteur à un texte, c’est imposer à ce texte un cran d’arrêt, c’est le pourvoir d’un signifié dernier, c’est fermer l’écriture.“12 Während mit dieser Forderung der/die Autor/in und seine/ihre Intention aus der Textanalyse verabschiedet werden, findet sich (gewissermaßen in Negation dieser Forderung) genau diese Suche nach Autor/in und Intention in den zwischen 1998 und 2011 produzierten fiktiven Werkgenesen, die gerade das Verhältnis zwischen Autor/in und Werk fokussieren. Mit fiktiven Werkgenesen wird dem von Barthes konstatierten Wunsch von Literaturkritik und Literaten Rechnung getragen, Person und Werk miteinander zu verbinden.13 Diese Verschmelzung geschieht über eine Chronologisierung der beiden Entitäten Autor/in und Werk „distribuée comme un avant et un après: l’Auteur est censé nourrir le livre, c’est-à-dire qu’il existe avant lui, pense, souffre, vit pour lui; il est avec son œuvre dans le même rapport d’antécédence qu’un père entretient avec son enfant.“14 Bei der Narration des Entstehungsprozesses von Werken wird das von Barthes skizzierte Narrativ immer wieder neu

8

Ebd.

9

Heinrich Detering, S. XI.

10 Roland Barthes (1984), S. 67. 11 Ebd., S. 65. 12 Ebd. 13 Vgl. ebd., S.62. 14 Ebd., S. 64. Hervorhebungen im Original.

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inszeniert, indem der/die Autor/in für sein/ihr Buch bzw. genereller für sein/ihr Kunstwerk lebt und bereit ist, Opfer für dessen Fertigstellung zu erbringen. Dieses Narrativ prägt das Konzept des leidenden Genies und der häufigen Darstellung der Beziehung zur Muse als für die Kunst zu bringendes Opfer. Auch Michael Foucault führt die Verknüpfung von Schreiben bzw. Erzählen (übertragbar auch auf andere künstlerische Tätigkeiten) und Tod bzw. Opfer aus: Ce thème du récit ou de l’écriture faits pour conjurer la mort, notre culture l’a métamorphosé; l’écriture est maintenant liée au sacrifice, au sacrifice même de la vie; effacement volontaire qui n’a pas à être représenté dans les livres, puisqu’il est accompli dans l’existence même de l’écrivain. […, C]e rapport de l’écriture à la mort se manifeste aussi dans l’effacement des caractères individuels du sujet écrivant; par toutes les chicanes qu’il établit entre lui et ce qu’il écrit, le sujet écrivant déroute tous les signes de son individualité particulière; la marque de l’écrivain n’est plus que la singularité de son absence; il lui faut tenir le rôle du mort dans le jeu de l’écriture.15

Foucaults Vorstellungen zum Verhältnis von Tod und Schreibendem, werden in fiktiven Werkgenesen eher seltener am Tod des Autors/der Autorin entfaltet. Häufiger kommt es hier zur Entscheidung für ein Opfer: die Wahl zwischen der Aufgabe der Kunst oder des love interests, die im Sinne einer Erfolgsstory zugunsten der Kunst entschieden wird. Neben den Überlegungen zu Tod und Opfer beschäftigt sich Foucault mit seiner Frage „Qu’est-ce qu’un auteur?“ mit den vier Funktionen, die ein/e Autor/in einnimmt: 1. Le nom d’auteur: impossibilité de le traiter comme une description définie; mais impossibilité également de le traiter comme un nom propre ordinaire. 2. Le rapport d’appropriation: l’auteur n’est exactement ni le propriétaire ni le responsable de ses textes; il n’en est ni le producteur ni l’inventeur. Quelle est la nature du „speech act“ qui permet de dire qu’il y a œuvre. 3. Le rapport d’attribution. L’auteur est sans doute celui auquel on peut attribuer ce qui a été dit ou écrit. Mais l’attribution – même lorsqu’il s’agit d’un auteur connu – est le résultat d’opérations critiques complexes et rarement justifiées. Les incertitudes de l’„opus“. 4. La position de l’auteur. Position de l’auteur dans le livre (usage des embrayeurs; fonctions des préfaces; simulacres du scripteur, du récitant, du confident, du mémoraliste). Position de l’auteur dans les différents types de discours (dans le discours philosophique par exemple). Position de l’auteur dans un champ discursif (Qu’est-ce que le fondateur d’une

15 Michel Foucault („Qu’est-ce qu’un auteur?“), S. 7.

120 | THEORETISCHE Ü BERLEGUNGEN discipline? Que peut signifier le „retour à …“ comme moment décisif dans la transformation d’un champ de discours?).16

Die von Foucault herausgearbeiteten Autorfunktionen lassen sich (natürlich) auch in fiktiven Werkgenesen, deren Narration von der Anwesenheit eines/einer fiktionalisierten (historisch meist abwesenden) Autors/Autorin bestimmt wird, finden. Der Autorname wird dabei einerseits als Eigenname der fiktiven Figur geführt, um die Referenz auf den/die historischen Autor/in plakativ zu machen, und gleichzeitig als Begriff verwendet, der eine Aneignung des/der thematisierten historischen Autors/Autorin gestattet und das Narrativ über die fiktive Werkgenese überhaupt erst ermöglicht. Daher erscheint es kaum verwunderlich, dass häufig der Name oder Namensteile im Filmtitel bereits aufgegriffen werden: z.B. SHAKESPEARE IN LOVE, SCHILLER, BECOMING JANE, GOETHE!, MOLIÈRE, BROTHERS GRIMM, MISS POTTER, CASANOVA, ELIVS, HILDE, FRIDA etc. Zum Aneignungsverhältnis beziehen fiktive Werkgenesen in der Nachfolge von SHAKESPEARE IN LOVE klar Stellung, indem sie das Verhältnis von Schöpfer/in und Schöpfung, Autor/in und Werk nicht in Frage stellen. Die in fiktiven Werkgenesen weniger prominenten, aber in ihrer Grundidee in manchen Beispielen und Spielarten vorhandenen Gerichtsszenen symbolisieren die Verantwortlichkeit des Autors/der Autorin als Eigentümer und Erfinder seiner/ihrer Schöpfung. So schwebt einem Damoklesschwert gleich während des Films GRIPSHOLM der drohende Prozess über Kurt Tucholskys Sommerurlaub im titelgebenden schwedischen Schloss. Es kommt zwar zu keiner expliziten Anklageszene, in der sich der Autor für seine Werke verantworten müsste (diese sind in ihrer Bedeutung in der Zeitspanne der fiktiven Werkgenesen in den filmischen Biographien zu Autor/innen allgemein stark reduziert), aber allein die expositorische Androhung des Gerichtsprozesses zeigt, dass Autor/innen als genealogisch (wie in einer Eltern-Kind-Beziehung) über ihren Schöpfungen stehend und damit als verantwortlich begriffen werden: [Chefredakteur/Verleger:] Das kam gerade über den Ticker: Die Reichswehr will Anklage gegen Sie erheben. [Kurt:] Schon wieder? [Chefredakteur/Verleger:] Ja, die stützen sich auf das bekannte „Sagte ich Mord? Ja, natürlich Mord. Soldaten sind Mörder.“ Ja, da sehen die Braunen natürlich rot. [Kurt:] Gegen wen soll denn Anklage erhoben werden? Gegen ein Pseudonym? [Chefredakteur/Verleger:] Ignaz Wrobel! Ganz Berlin weiß, dass Sie das sind.

16 Ebd., S. 3f.

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[Kurt:] Der Text ist ein Jahr alt. [Chefredakteur/Verleger:] Na ja, die Zeiten werden stürmischer. [Kurt:] Als ob man mit Schreiben überhaupt noch was ändern könnte. [Chefredakteur/Verleger:] Doch! Ihr Leben!17

Die Bedrohung der Anklage führt den fiktionalisierten Autor ebenso wie das Ausbleiben politischer Veränderungen durch seine Schriften in eine Schaffenskrise, die den ganzen Film nicht überwunden werden kann – lediglich Lydias Voice-Over offenbart, dass die Krise mit dem Roman Schloss Gripsholm jenseits der Filmhandlung überwunden wird, zu dem der Film gewissermaßen die ‚wahren‘ Hintergründe enthüllen will: Unsere Geschichte hat Kurt anders erzählt. Einiges von dem, was wir erlebt hatten, kam darin vor, anderes veränderte er. Es sollte ja eine Sommergeschichte sein, etwas, was die Leute ihrer Freundin schenken konnten, eine kleine Geschichte, leicht ironisch, mit zartem Gefühl und einem bunten Umschlag.18

Die in fiktiven Werkgenesen thematisierten Werke werden ohne Zweifel einem/einer Autor/Autorin zugeschrieben (selbst bei unklaren Autorschaftsverhältnissen, wie sie beispielsweise für The Farce of Sodom, or, The Quintessence of Debauchery (1684) zu verzeichnen sind, werden in fiktiven Werkgenesen klare Antworten auf die Autorschaft geliefert – hier, indem das Drama im Film THE LIBERTINE vorbehaltlos John Wilmot, 2. Earl of Rochester zugeschrieben wird).19 Mit ANONYMOUS als für diese Untersuchung vorläufig gesetztem Endpunkt der fiktiven Werkgenesen wird das Verhältnis zumindest insofern hinterfragt, als das Werk nicht mit dem ihm zugewiesenen Autornamen verbunden ist. Die Position des Autors/der Autorin wird in fiktiven Werkgenesen über die verschiedenen Konzepte von Autorschaft etabliert, die sich zwischen den Polen des Schreibens/künstlerischen Schaffens als Arbeit oder Hobby, als schwere Tätigkeit oder natürliche Begabung verorten. Hierbei sind vier Narrative auszumachen über die eine Positionierung innerhalb der Pole vorgenommen werden kann: die Inszenierung als Star oder ‚im stillen Kämmerlein‘ Arbeitenden/Arbeitender, die mythische bzw. ikonographische Darstellung, die Darstellung als Genie und das Verhältnis zwischen Muse und Autor/in.

17 Xavier Koller (Regie), 00:05:04-00:05:39. 18 Ebd., 01:31:46-01:32:04. 19 Vgl. Kapitel 7 dieser Arbeit.

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Fiktive Werkgenesen neigen demnach dazu, die von Barthes und Foucault eingeschlagenen Ansätze zum Umgang mit dem/der Autor/in zu negieren. Neuere Forschungsansätze seit dem beginnenden 21. Jahrhundert zu Autor/in und Autorschaft tragen diesem Missverhältnis zwischen Forschung und Produktion Rechnung, indem der/die Autor/in im Zuge der Jahrtausendwende erneut als Forschungsgegenstand etabliert wird und damit den verschiedenen fiktiven Darstellungen von Autor/innen erneut Aufmerksamkeit geschenkt wird. Zusammenfassend stellt Detering zu diesem Umstand fest: Auch wenn der Autor selbst, wie so oft proklamiert und ebenso oft bestritten worden ist, verschwunden sein sollte – die Frage nach ihm ist es sicher nicht. Im Gegenteil. Die Auseinandersetzung um den ‚Tod des Autors‘, seine Umwertung oder Rückkehr ist in den vergangenen Jahren zunehmend lebhaft und ertragreich geführt worden.20

Hierbei werden sowohl seine Funktion als Instanz der Literaturproduktion mit darin eingeschriebenen Diskursen über Kreativität und Genialität diskutiert als auch dessen gesellschaftliche Einbindung, biographische Forschungen und Fiktionalisierungsmechanismen. Die hier vorliegende Arbeit bewegt sich in Bezug auf die dritte Referenzebene in fiktiven Werkgenesen (Autorreferenzen) an verschiedenen Schnittstellen der in den letzten rund 15 Jahren neu aufgelebten Diskussion. Einerseits wird eine real-historische, meist bereits verstorbene Person als filmische Figur fiktionalisiert. Dieser Fiktionalisierungsprozess vollzieht sich über eine Komplexitätsreduktion der Biographie und des Charakters der historischen Person hin zu einer filmisch darstellbaren und im zeitlichen Rahmen der Handlung nachvollziehbaren Figurenkonzeption. Um die Biographie und die Charaktereigenschaften zu veranschaulichen wird in der Regel auf Anekdoten zurückgegriffen. Die Narrativierung der weitestgehend bekannten biographischen Eckdaten wird zugunsten einer geschlossenen Filmhandlung obendrein um fiktive Elemente ergänzt. Die Auswahl der dargestellten biographischen Aspekte und die Ergänzung der fiktiven Aspekte erfolgt dabei (im Sinne der geschlossenen Filmhandlung) unter dem Blickwinkel der Kohärenzbildung: Alles, was im Film über den/die Autor/in gezeigt wird, ermöglicht bzw. bedingt überhaupt erst die im Handlungsverlauf stattfindende Werkgenese. Somit wird der „seit einer genieästhetischen Propagierung gern als allein gültige Gegebenheit unterstellt[en]“ Vorstellung Rechnung getragen, die auch Erich Kleinschmidt in seiner Untersuchung zur Theorie von Autorschaft erläutert, „daß das dichterische Werk vom individuellen Leben des Autors oder der Autorin bestimmt sei. Das

20 Heinrich Detering, S. IX.

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Werk erscheint als ein Zeichen konkreter Existentialität, die in der Formulierung entweder direkt abgebildet wird oder aber als metaphorische Umschrift erfolgt.“21 Neben dieser individuellen, durch (pseudo-)biographische Momente motivierten Autorschaft werden in fiktiven Werkgenesen andererseits auch Plotelemente hinzugezogen, die in jeder individuellen Ausformulierung einer fiktiven Werkgenese dazu beitragen, den/die Autor/in als ‚Star‘ zu stilisieren. Eng damit verbunden sind Topoi, die den/die Autor/in ikonisieren und mythisieren und damit spezifische Erinnerungskonzepte bedienen und Strategien der Biographik des 18. und 19. Jahrhunderts neu aufleben lassen. Mit der durch die gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüche im 18. Jahrhundert initiierten Veränderung des Stellenwerts von Schriftsteller/innen ergibt sich auch eine neue Praxis, wie diese biographisch dargestellt werden können. So führt Heidi Denzel de Tirado in Anlehnung an Joseph Graf von Westphalen aus: „In Deutschland verdreifacht sich die Zahl der Dichter innerhalb von 30 Jahren von 3000, im Jahr 1771, auf ca. 9000 zur Jahrhundertwende.“22 Ein Aspekt der neueren Erforschung des Autors/der Autorin beschäftigt sich daher mit diesen gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüchen und den daraus resultierenden Darstellungen von Autor/innen in Biographien, Elogen und auch der Selbststilisierung als ‚Kraftkerl‘ und ‚Genie‘ der Stürmer und Dränger sowie der Romantiker.23 Fiktive Werkgenesen greifen ebenfalls (wenn auch vielleicht eher unbewusst) auf Aspekte dieser Praxis des Geniekults zurück und bieten mit ihrer Form der Biographik weiteres Forschungspotential.

21 Erich Kleinschmidt, S. 104. 22 Heidi Denzel de Tirado, S. 26; vgl. weiterführend Joseph Graf von Westphalen. 23 Vgl. beispielsweise Frauke Berndt; Christian Begemann; Joachim Jacob; oder auch die Erforschung der Darstellung einzelner Autor/innen über mehrere Jahrhunderte und Mediengrenzen hinweg wie beispielsweise durch Heidi Denzel de Tirado. Darüber hinaus wird selbstverständlich auch die Frage thematisiert, wie sich Autorschaft im Zeitalter der Digitalisierung durch das Internet verändert, vgl. beispielsweise Florian Hartling; Michael Wetzel.

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4.2 AUTORSCHAFTSKONZEPTE IN FIKTIVEN W ERKGENESEN 4.2.1 Intime Schreibarbeit und öffentliche Verehrung als Star Die Facetten des Narrativs von Autorschaft in fiktiven Werkgenesen lassen sich ebenso wie die drei charakteristischen Referenzebenen für diese Filmgruppe nur künstlich für die theoretische Erfassung voneinander trennen. Die erste Facette ergibt sich aus der Darstellung von Autorschaft zwischen den Polen von Beruf und Berufung, von einer intimen Arbeit in einem abgeschlossenen Raum und einer öffentlichen Idolisierung bis hin zur regelrechten Vermarktung des Autors/der Autorin als Star sowie dem „bekannten Gegensatzpaar […] von inspiriertem Genie und poetischem Handwerker oder Ingenieur.“24 Da es sich in der Regel im von fiktiven Werkgenesen angebotenen Narrativ von Autorschaft um die Erzählung einer Erfolgsgeschichte handelt, sind beide Aspekte, die Arbeit und der daran anknüpfende Erfolg, in fiktiven Werkgenesen zumeist aufeinanderfolgend präsentiert, wobei die Gewichtung individuell variieren kann. So wird zu Beginn der Filmhandlung wie bereits angesprochen25 häufiger eine Exposition des Autors/der Autorin gewählt, die diese/n als eher erfolglos bewertet, um so im Verlauf der Filmhandlung das Durchbrechen der für die Erfolglosigkeit verantwortlichen Strukturen zeigen und am Ende eine als erfolgreich zu wertende Situation präsentieren zu können. Die expositorische Erfolgslosigkeit wird meist entweder durch das noch ausstehende Debüt des Autors/der Autorin (z.B. BECOMING JANE, FRIDA, GOETHE!, SCHILLER, LES AMANTS DU FLORE) oder durch eine Schreibkrise eines/einer bereits etablierten Autors/Autorin (z.B. SHAKESPEARE IN LOVE, FINDING NEVERLAND, THE HOURS, ADAPTATION, MOLIÈRE) aufgebaut. Neben der bereits zuvor skizzierten Ausnahme in SHADOW OF THE VAMPIRE, in der ein expositorischer Erfolg in Wahnsinn gesteigert wird, findet sich unter den häufig gewählten Expositionen fiktiver Werkgenesen als dritter Einstieg in die Filmhandlung eine selbstreflexive Rahmenkommentierung, die die experimentellste Form der Exposition in fiktiven Werkgenesen darstellt. Über das Voice-Over eines erzählenden Ichs (oftmals von Bildern späterer Momente der filmischen Handlung begleitet) wird ein Rückblick aufgebaut, der eine extradiegetische Rahmung für die intradiegetisch erfolgende fiktive Werkgenese bietet. Hierbei wird der Tatsache Rechenschaft geschuldet, dass das im Film noch im

24 Anne Bohnenkamp (2002), S. 62. 25 Vgl. Kapitel 2.3.2 dieser Arbeit.

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Entstehen begriffene Werk bereits real-historisch existiert. Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die Entstehung des bereits Entstandenen, wird dadurch umgangen, dass das erzählende Ich auf das erlebende Ich zurückblickt und die fiktive Werkgenese narrativiert wie auch kommentiert (z.B. MISS POTTER, THE LIBERTINE, CASANOVA, QUILLS, WALK THE LINE, RAY). Mit Hilfe der Erfolgsgeschichte werden die beiden Facetten von Autorschaft, Arbeitende/r und Star, in einer chronologischen Abfolge als zwei zusammengehörende, auseinander hervorgehende Narrative von Autorschaft präsentiert. Dabei ergibt sich im Film, wie Custen für die Produktionen von biographical pictures der Studio-Ära ausführt, eine doppelte Auslegung des Starkonstrukts: Movie biographies offered the public the possibility of connecting concretely with a glamorous image of a famous historical person in the guise of a contemporary movie star. One could admire the past life depicted while worshipping the very real current incarnation of this life on screen, and off the screen, in publicity materials. Movies created a rhetoric of fame that was essentially different from that of print. In movies, the actor portraying the eminent figure had an actual, corporeal existence outside the narrative frame of a particular biographical life that may or may not have been congruent with the figure depicted. […] Stated another way, movie biographies presented a double level of the articulation of fame. At the first level, one was absorbed by the narrative constructed about selected episodes in the life of the subject. At the second level, one encountered the famous figure in other filmic materials.26

Es kommt zu einer unentwirrbaren Verbindung aus der historischen Person und dem/der sie verkörpernden Schauspieler/in. Erst in deren Zusammenspiel entsteht die fiktionalisierte Filmfigur, die erkennbare Züge beider realen Personen (den Namen und ggf. einige markante biographische Besonderheiten des/der thematisierten Autors/Autorin und die Physiognomie des/der darstellenden Schauspielers/Schauspielerin) trägt und um die sich aus der Narration ergebende Fiktion ergänzt wird. Daher sei, wie Darryl F. Zanuck in einem Memo am 23. Mai 1950 an den Produzenten George Jessel schreibt, beim Casting Folgendes zu berücksichtigen: „If an established personality play such a role [einer historischen Persönlichkeit, L.Z.], she [es geht um die Besetzung der Lotte Crabtree in GOLDEN GIRL mit der Newcomerin Mitzi Gaynor, L.Z.] is never accepted as readily as is a talented newcomer.“27 Allerdings argumentiert Custen hier zurecht dagegen, da nach wie vor etablierte und berühmte Schauspieler/innen Rollen in

26 George F. Custen, S. 34. 27 Zitiert nach ebd., S. 197.

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fiktiven Werkgenesen übernehmen können und wollen, ohne damit beim Publikum fehlende Akzeptanz zu riskieren. Obendrein führt Custen aus, dass „[a]ctors with strong personas that were physically remote from the historical figure could ‚tone down‘ their star image (that is, they could act), and critics would remark favorably upon this muted star energy as inspired casting.“28 Gleichzeitig nimmt die Besetzung der Rolle natürlich auch Einfluss auf die endgültige Gestaltung der Figur, sowohl was die Physiognomie angeht – die mitunter im kulturellen Gedächtnis präsenter sein kann, als das historische Porträt der realen Person – als auch die charakterliche Darstellung der Person. Richard Dyer legt mit seinen Werken Stars und Heavenly Bodies den Grundstein für die Erforschung des Stars und schlägt hierfür vier Untersuchungskategorien vor: „The star image is made of media texts that can be grouped together as promotion, publicity, films, and commentaries/criticism. […] Just as intertextual forces delimited the shape of a life, so too did star considerations reconfigure the historical person.“29 Custen überträgt Aspekte von Dyers Ansatz auf die als Filmgruppe für sich zu betrachtenden biographical pictures der Studioära. Da sich in fiktiven Werkgenesen der Fokus des Hauptinteresses zugunsten der Entstehung des Werks und dessen medialen Eigenschaften verschiebt bzw. erweitert, sind die Filme, die in der Folge von SHAKESPEARE IN LOVE entstanden sind, in ihrem Narrativ über Autorschaft nicht mehr identisch mit den Narrativen früherer Subgenres der biographical pictures. Obwohl sich der Fokus von der Darstellung der Autorbiographie hin zu der der Werkgenese verschiebt, lassen sich aber dennoch einige Gemeinsamkeiten ausmachen, weshalb Custens Ausführungen auf das Spannungsfeld des intimen Schreibprozesses und der öffentlichen Verehrung als Star insgesamt übertragbar bleiben. Custen definiert anhand der filmischen Entertainer-Biographie, dass all entertainers have demonstrated the ability to win over an audience. They have to be able to engineer the big break that is supposed to come by chance. Often, they must vanquish not an actual individual, but instead contend with a different performing style. Tradition in performance is their enemy.30

Dieses ‚Neuartige‘, dass (bis in fiktive Werkgenesen – insbesondere über Musiker/innen – hinein) die Grundbedingung für die aufkommende Popularität ist, wird selten näher definiert. Custen erläutert hierzu weiter:

28 Ebd., S. 199. 29 Richard Dyer (1979), S. 68. Vgl. weiter ders. (1986). 30 George F. Custen, S. 208.

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It is enough to be told that an entertainer is radically different without having to explain – or to demonstrate – why this is so. Having to secure claims of radicalism in a conventional format is a difficult task. The irony of the limitation of the narrative form on claims of radicalism is apparent, though seldom investigated. The best Hollywood can do to convince us of (past) radicalism and innovation is to surround it with hyperbole and verbal avowal.31

In fiktiven Werkgenesen wird über die drei Referenzebenen versucht, diesem Dilemma über intermediale und ähnliche Strukturen, neue Möglichkeiten der Ausformulierung zu geben. Dazu wird zunächst das Arbeiten an einer Idee, die in ihrer Gestaltung ‚neuartig‘ ist, gezeigt, um dann im zweiten Schritt den/die Autor/in nach Vollendung und Bewertung des Neuartigen der Arbeit zum Star erheben zu können. Dennoch bleibt der Film in seinen medialen Eigenschaften und Möglichkeiten als solcher weiterhin begrenzt. So lassen sich viele Neuerungen, die die Verehrung als Star ermöglichen, häufig nur sprachlich behaupten. Die Funktion von Arbeit und Starkult bzw. der Darstellung des Autors/der Autorin zwischen Beruf und Berufung lässt sich exemplarisch an LES AMANTS DU FLORE (2006) über die Verbindung von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre beobachten, da hier die beiden Facetten des Autornarrativs über weite Teile des Films auf die beiden Figuren aufgeteilt sind. Während Simone diejenige ist, die wiederholt und an den verschiedensten Orten, aber meist allein und in sich gekehrt, beim Schreiben beobachtet werden kann (und dies nicht nur vom realen Filmpublikum, sondern auch wiederholt von anderen Figuren und somit dem voyeuristischen Blick permanent ausgesetzt ist),32 wird Jean-Pauls Arbeit meistens in Form der Ergebnisse (fertige Manuskripte, veröffentlichte Bücher, Theaterinszenierungen, Vorlesungen etc.) präsentiert, wofür er im Gespräch mit anderen Figuren verehrt und als Star inszeniert wird.33 Simone erfüllt damit die Facette des zu erlernenden Berufs der Schriftstellerin, der mit Übung und Arbeit verbunden ist und nicht automatisch zu Erfolg führt, während für Jean-Paul der Aspekt der Berufung sinntragend wird, wenn hier der Weg des Schreibens weitestgehend ausgeblendet wird und hauptsächlich ein mit Leichtigkeit errungener

31 Ebd., S. 209f. 32 Ilan Duran Cohen, 00:04:26-00:04:57, 00:21:21-00:23:38, 00:24:18-00:24:41, 00:38:23-00:39:10,

01:04:02-01:05:27,

01:08:32-01:08:55,

01:10:02-01:10:36,

01:14:17-01:14:37, 01:21:28-01:22:12, 01:32:37-01:35:01. 33 Ebd.,

00:26:05-00:26:11,

00:32:29-00:32:47,

00:38:30-00:38:48,

00:41:14-

00:42:48,00:59:05-01:06:27,

01:03:13-01:04:02,

01:11:40-01:12:19,

01:14:37-

01:15:31.

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Erfolg inszeniert zu werden scheint. Trotz ihres Versuchs, mit ihrer offenen Beziehung (die wiederholt durch Eifersucht an ihre Grenzen gebracht wird) eine neue Lebensform als Paar zu erschaffen,34 wirkt die Form der Darstellung von Autorschaft über weite Teile des Films konservativ, da sich eine strikte Gendertrennung ergibt: die Autorin als die still vor sich hin Schreibende, sich im Hintergrund Haltende und bei der Verlagssuche auf männlichen Zuspruch Angewiesene, der Autor wie selbstverständlich die öffentliche Sphäre dominierend. Mit diesem Bild wird erst gebrochen, als Simone mit Le Deuxième Sexe – Bouvoirs Manifest der feministischen Bewegung – ihre eigene, von Jean-Paul unabhängige Position entwickelt. Prompt emanzipiert sie sich auch optisch, indem sie ihn mit einem vielsagenden Blick daran hindert, ihr weiterhin beim Schreiben über die Schulter zu blicken.35 Auf der Straße wird sie nun selbst als die Autorin von Le Deuxième Sexe erkannt und bejubelt bzw. verteufelt.36 Neben der oben ausgeführten, an der Schwelle zwischen Realität und Fiktion angesiedelten Starkultur werden in fiktiven Werkgenesen demnach auch auf der diegetischen Ebene die dargestellten Autoren mit einer Aura dieser Starkultur versehen: Johann wird in GOETHE! am Ende von einer jubelnden Fanmasse umringt,37 Johns Starallüren werden in THE LIBERTINE durch die Schlagworte „Sex, Drugs & Rokoko“ auf dem Filmplakat und dem DVD-Cover an zeitgenössische Musikerimages angenähert und der Klappentext der deutschen DVD-Ausgabe von ELVIS (2005) bewirbt den Film mit den Schlagworten „authentisch – packend – unsterblich“38 und verweist damit nicht nur auf „die vermeintliche Authentizität“ fiktiver Werkgenesen „als Spiegel realer Begebenheiten“, wie sie gerne von den an der Produktion Beteiligten stilisiert werden, „sondern auch die postulierte Unsterblichkeit des Musikers durch und in seiner Musik“,39 die er oder sie als Star zugeschrieben bekommt. Wenn es daher im Klappentext ebenfalls heißt, dass „[e]rstmalig […] ein Spielfilm über Elvis mit Originalaufnahmen unterlegt“40 wurde, dann ist das die Weiterführung dieses Gedankens. Auch

34 Ebd., 00:12:30-00:20:09, 00:23:38-00:24:00, 00:24:41-00:27:45, 00:29:47-00:35:12, 00:38:48-00:41:26,

00:41:57-00:42:48,

00:44:46-00:45:32,

00:48:32-00:50:58,

01:01:34-01:02:20,

01:09:27-01:09:53,

01:10:36-01:11:39,

01:11:40-01:14:17,

01:14:54-01:16:35, 01:18:22-01:42:15. 35 Ebd., 01:36:08-01:36:32. 36 Ebd., 01:36:38-01:37:36. 37 Vgl. Philip Stölzl, 01:29:55-01:34:30. 38 James Steven Sadwith, Klappentext. 39 Laura Zinn, S. 129. 40 James Steven, Sadwith, Klappentext.

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Bob Dylan wird im Klappentext der deutschen DVD-Fassung zur fiktiven Werkgenese I’M NOT THERE als Star, Ikone, sogar als Mythos betitelt: Bob Dylan, schillernde Ikone des Folk, Rock und Pop, tritt in I’M NOT THERE gleich sechsfach in Erscheinung. […] Auf ebenso ungewöhnliche wie innovative Weise nähert sich Regisseur Todd Haynes dem Geheimnis hinter dem Mythos Bob Dylan. Kombiniert mit den darstellerischen Qualitäten eines sensationellen All-Star-Ensembles erreicht I’M NOT THERE

eine mitreißende Intensität, die der einzigartigen Bedeutung dieses herausra-

genden Künstlers voll und ganz gerecht wird. Ein Kino-Highlight, das nicht nur DylanFans begeistern wird!41

Der Star wird gleichsam als ‚Ikone‘ und ‚Mythos‘ (in einer weiten und modernen Begriffsdefinition) wahrgenommen und setzt sich aus dem dargestellten Musiker Bob Dylan und den die fiktiven Figuren verkörpernden Schauspieler/innen zusammen. Dabei ergibt sich nicht zuletzt über die Werbung, die der Paratext hier betreibt, das Postulat, der Star habe, um diesen Status zu erreichen und zu verdienen, etwas Großartiges geleistet. Custen argumentiert, dass the shape given to history in these films cultivates the notion of the ‚great man‘ who shapes history, these specific images (the great man or woman as star) are carried away from screenings and become part of popular constructions of a real, historically constituted human determined historical impersonation in a single film […] and into the larger arena of real life, where, in the age of infotainment, we expect our leaders to be as worthy of fan worship while carrying the mantle of statehood as Spencer Tracy, Bette Davis, and George Arliss, and to deal with crises as neatly as their film counterparts.42

Was Custen hier an biographical picutres der Studioära festmacht, gilt auch weiterhin für fiktive Werkgenesen, wenn auch nicht in Bezug auf Politiker/innen, sondern in Bezug auf Autor/innen, denen eine Rolle als Idol und Träger/innen oder auf ihrem Gebiet Begründer/innen, zumindest aber Revolutionäre kultureller Güter zugewiesen wird, die auch außerhalb der Filmdiegese das Bild der historischen Person beeinflussen kann. Hierin offenbart sich, wie am Beispiel von I’M NOT THERE bereits angesprochen, eine weitere Facette des Autor-Narrativs in fiktiven Werkgenesen, das den mit mythischen Konnotationen aufgeladenen Schöpfer beinhaltet.

41 Todd Haynes, Klappentext. 42 George F. Custen, S. 205.

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4.2.2 Ikonisierung und Mythisierung der Figur des Autors Die Idee des/der menschlichen Schöpfers/Schöpferin ist spätestens seit dem Sturm und Drang eng mit Motiven und Topoi des Prometheus-Mythos verwoben und wird genutzt, um das dichterische Schaffen im Sinne des second maker zu erfassen. Als kulturelles Erbe sind Teile dieses Gedankenguts bis heute erhalten geblieben und manifestieren sich – vermutlich eher unbewusst, aber dennoch erkennbar – auch in fiktiven Werkgenesen als Teil der Autorreferenzebene. Die Entwicklung dieser mythischen Gleichsetzung vollzieht sich im 18. Jahrhundert über christlich konnotierte Bilder, wie sie beispielsweise Johann Georg Hamann für die Darstellung des schöpferischen Menschen sucht: Diese Analogie des Menschen zum Schöpfer [Adams Namensgebung der Tiere, L.Z.] ertheilt allen Kreaturen ihr Gehalt und ihr Gepräge, von dem Treue und Glauben in der ganzen Natur abhängt. Je lebhafter diese Idee, das Ebenbild des unsichtbaren GOTTES in unserm Gemüth ist; desto fähiger sind wir Seine Leutseeligkeit in den Geschöpfen zu sehen und zu schmecken, zu beschauen und mit Händen zu greifen. Jeder Eindruck der Natur in dem Menschen ist nicht nur ein Andenken, sondern ein Unterpfand der Grundwahrheit: Wer der HERR ist. Jede Gegenwürkung des Menschen in die Kreatur ist Brief und Siegel von unserm Antheil an der Göttlichen Natur, und daß wir Seines Geschlechts sind.43

Die Schöpfung bleibt dabei verbunden mit der Kunst, die Hamann als die ursprünglichste Ausdrucksform wertet,44 und so wird Gott ihm, auf den zweiten Brief an die Korinther anspielend, zum „Poet[en] am Anfang der Taten“,45 so dass es nur folgerichtig ist, wenn der Mensch in seiner Nachfolge ebenfalls zum Poeten wird. Wie Gerhard Kaiser ausführt, wird diese christliche Konnotation zugunsten der mythischen im Sturm und Drang verworfen: „[W]ährend Hamann noch diese Mitarbeit im Sinne der Berufung Adams auffaßt, sehen die Stürmer und Dränger den Künstler, gleichfalls eine traditionsreiche Metapher aktualisierend, als selbstherrlichen Prometheus.“46 Wie sich exemplarisch an Goethes Prometheus-Darstellung in seinem gleichnamigen Gedicht beobachten lässt, wird Prometheus zu einer Figur, die unterschiedliche Motive zum Schöpfer und Rebell umfasst.47

43 Johann Georg Hamann, S. 206f., Hervorhebungen im Original. 44 Vgl. ebd., S. 197. 45 Ebd., S. 206; vgl. Gerhard Kaiser, S. 186. 46 Ebd. 47 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe.

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Tirado erörtert in Anlehnung an Westphalen, dass die den neuen Stellenwert des Schriftstellers begünstigenden gesellschaftlichen und kulturellen Umwälzungen des 18. Jahrhunderts die Entstehung dieser Vorstellungen in einer neuen Form der Biographik zu manifestieren helfen: Die Entstehung von Autobiographien von Schriftstellern, Dichterbiographien und Dichterromanen – besonders gegen Ende des 18. Jahrhunderts – sieht Westphalen als Produkt derselben Entwicklung an; nämlich als Folge gesellschaftlicher Umwälzungen und dem wachsenden Einfluss der Dichter in der Gesellschaft. ‚Zweifel und Stolz des Dichters‘ entstehen zwar nicht erst im 18. Jahrhundert, doch wird diese Komponente nun so wichtig, dass literarische Selbstreflexionen nicht mehr ausreichen, um dieser Thematik Raum zu geben.48

Die neue Gewichtung des Autors und dessen Autonomie machen sich bereits in den Reflexionen Friedrich Gottlieb Klopstocks bemerkbar, der innerhalb der rhetorischen Poetik einer medialen Praxis den Weg [ebnet, L.Z,], in deren Zuge die Kreativität der Poesie dem Poeten zugesprochen, die Metonymie des Autornamens bzw. der Personalpronomina ‚Wir‘ oder ‚Ich‘ […] dem historischen Individuum kurzgeschlossen und das Design der Empfindung mit einem Gemütszustand der zu codierenden ‚Seele‘ verwechselt werden darf, so daß ‚der Dichter und der Leser einander‘ im Medium der Dichtung ‚am gewissesten kennen[lernen, F.B.]‘ können.49

Klopstock legt in seiner Definition des Genies fest, dass „die letzten und höchsten Wirkungen der Werke des Genies“ darin bestehen, „daß sie die ganze Seele bewegen.“50 Das Genie und die Genese seiner Werke wird von Klopstock mit der Metapher des ‚Feuers‘ umschrieben. So schreibt er in „Die deutsche Gelehrtenrepublik“ vom „gewaltigen Feuer“,51 mit dem Werke geschaffen werden, und greift dies auch an anderer Stelle im Kontext der Schöpfung eines Werks erneut auf: „Den Entwurf zu einem Buche machen, das Neues enthält – mit Schnelligkeit, mit Feuer, mit Ungestüm!“52 In „Von dem Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaften“ ist die Rede vom „Feuer“ der „Seele“, die „sich

48 Heidi Denzel de Tirado, S. 25. 49 Frauke Berndt, S. 29, Hervorhebungen im Original; vgl. weiter Friedrich Gottlieb Klopstock („Von der Heiligen Poesie“ [HP]), S. 1009. 50 Friedrich Gottlieb Klopstock (HP), S. 1000; vgl. weiter Frauke Berndt, S. 28. 51 Friedrich Gottlieb Klopstock („Die deutsche Gelehrtenrepublik“ [GR]), S. 904. 52 Ebd. (GR), S. 907.

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den Beschäftigungen der Phantasie und der Leidenschaft […] sollte überlassen können“;53 in der „Einleitung zu den geistlichen Liedern“ wird der Gesang als „fast immer kurz, feurig, stark, voll himmlischer Leidenschaften“54 definiert und in „Von der Sprache der Poesie“ heißt es: „Die Stellen, wo in dem Gedichte die Einbildungskraft herrscht, sollen ein gewisses Feuer haben, das sich der Leidenschaft nähert.“55 Es entsteht eine Anlehnung an Prometheus als ‚Feuerbringer‘, da das Genie über seine (Werk-)Schöpfung das metaphorische ‚Feuer‘ weitergibt. In fiktiven Werkgenesen wird diese Idee aufgegriffen. So werden in FRIDA (2002) beispielsweise die Werke von Frida Kahlo von ihrem fiktiven Pendant als individueller und sehr persönlicher Ausdruck ihrer Leiden betrachtet,56 während Leon Trotsky ihr zu verstehen gibt, dass ihre Bilder Ausdruck der allgemein wahrnehmbaren Gefühle Einsamkeit und Schmerz und damit wertvoll für die Allgemeinheit seien: [Frida:] At the end of the day, we can endure much more than we think we can. [Leon:] That’s what I loved about your paintings. That they carry that message. You said that nobody would care about them, but I think you’re wrong. Because your paintings express what everyone feels: they are alone, in pain.57

Das Werk Kahlos wird als Expression allgemeiner Empfindungen inszeniert, die über die Betrachtung der Bilder eine Botschaft vermitteln können und Frida als eine Art prometheischer ‚Feuerbringerin‘ interpretieren. Das Image des gefeierten Stars, das Frida auf ihrer final erreichten Ausstellung im eigenen Land zugeschrieben wird,58 plausibilisiert sich über dieses mythische Konzept. Erst indem es dem/der Autor/in (hier der Künstlerin) gelingt, etwas Neuartiges zu schaffen, können der Erfolg und der Ruhm einsetzen, der den/die Autor/in überhaupt erst würdig werden lassen, dass eine fiktive Werkgenese über sie/ihn gedreht wird. Die Ikonisierung als Schöpfer/in ist, wie in der Zeit des Sturm und Drangs und der Romantik etabliert, eng mit der Konzeption als Genie verwoben. Wie Chris-

53 Ebd. („Von dem Range der schönen Künste“ [RKW]), S. 985. 54 Ebd., „Einleitung zu den geistlichen Liedern“ (GL), S. 1011. 55 Ebd., „Von der Sprache der Poesie“ (SP), S. 1021f. 56 Vgl. Julie Taymor, 01:23:36-01:24:00. 57 Ebd., 01:27:45-01:28:05. 58 Vgl. ebd., 01:48:32-01:50:44. Auch Verena Berger betitelt die Protagonistin in ihrer Untersuchung des Films FRIDA und anderer (fiktiver) Darstellungen der Künstlerin als Ikone, Märtyrerin und Mythos, vgl. Verena Berger.

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tian Begemann ausführt, argumentiert bereits Johann Gottfried Herder für eine Verbindung zwischen Genese und Genie: Mit größter Gewißheit, so noch einmal Herder, ‚empfinde und sehe ichs, daß ich lebe, wenn ich gleich auch nie weiß, was Lebenskraft sei. Angebohren, organisch, genetisch ist dies Vermögen: es ist der Grund meiner Natur=Kräfte, der innere Genius meines Daseyns.‘ Wird Kunst aus der genetischen Kraft abgeleitet, so erscheint diese hier ihrerseits als der innere Künstler des Lebens. Daß Genius und das von Genesis abgeleitete Wort genetisch auf eine gemeinsame Wurzel zurückgehen, soll offenbar in dieser Formulierung nicht nur unmittelbar sinnfällig, sondern auch argumentativ belastet werden.59

Das Genie als Schöpfer von etwas Neuartigem, das gleich dem ‚Feuerbringer‘ das kulturelle Leben beeinflusst, wird zum leitenden Thema der Autorreferenz in fiktiven Werkgenesen. Dies geschieht in Anlehnung an die Romantik, während der dem Dichter „in Deutschland und England […] eher eine magische, nahezu religiöse Funktion zugeschrieben“60 wurde, er aber zumindest, wie von Friedrich Schlegel, zum „Wohltäter seiner Nation“61 erklärt wurde. Dabei rückt Schlegel „den Geist freier Fortschreitung“,62 „Vervollkommnung“,63 den „echten Geist gesetzlicher Freiheit“,64 die „gewaltige Selbstständigkeit der schöpferischen Kraft“65 und die „lebendige Einheit der verschiedenen natürlichen, künstlichen und freien Bildungsbestandteile“,66 die für ihn das Genie ausmachen, als Tugenden des Schriftstellers in den Vordergrund. Jakob Burckhard macht zwei Funktionen aus, die Autor/innen (hier auf die erweiterte Definition ausgedehnt) in der Gesellschaft einnehmen: „den innern Gehalt der Zeit und Welt ideal zur Anschauung zu bringen und ihn als unvergängliche Kunde auf die Nachwelt zu überliefern.“67 Entsprechend dieser in fiktiven Werkgenesen insgesamt nicht immer vordergründig ersichtlichen Vorstellung von den Funktionen des Autors/der Autorin werden die Arbeiten Fridas und noch mehr ihres Ehemanns,

59 Christian Begemann (2002, „Der Körper des Autors“), S. 49, Hervorhebungen im Original. 60 Heidi Denzel de Tirado, S. 51. 61 Friedrich Schlegel (1967, „Georg Forster“), S. 79. 62 Ebd., S. 81 63 Ebd., Hervorhebung im Original. 64 Ebd. 65 Ebd., S. 98. 66 Ebd. 67 Jakob Burckhardt, S. 158.

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Diego Rivera, immer wieder in einen politischen und gesellschaftlichen Kontext zurückgeführt. So werden von Diegos Wandgemälden immer wieder revolutionäre Aspekte herausgegriffen, wie beispielsweise das Lenin-Porträt im Foyer des Rockefeller Centers.68 Frida wird gezeigt, wenn sie sich selbst genderrollenübergreifend inszeniert und damit reaktionäre Frauenrollen und Gesellschaftsordnungen durch ihre Handlungen kritisiert. Dies lässt sich bereits beim zu Beginn der Handlung aufgenommenen Familienporträt beobachten, wenn sie sich nicht als Tochter, sondern Sohn der Familie positioniert.69 Sie intensiviert diese Selbstdarstellung noch weiter, wenn sie an dem Trinkspiel der Männer um einen Tanz mit Tina Modotti teilnimmt und gewinnt. Der getanzte Tango mit homosexueller Erotik rundet ihre Parodie des Männlichkeitsbilds ab.70 Entsprechend dieser filmischen Interpretation der Künstlerin ist es auch nicht verwunderlich, dass zwischen den ausgewählten Selbstporträts von Kahlo auch eines gezeigt wird, das die Figur zwischen beiden Rollenstereotypen ansiedelt, oder auch über das Abschneiden ihrer Haare Genderklischees aufgebrochen werden.71 Das Genie als Schöpfer und ‚Feuerbringer‘ wird (auch) in einer gesellschaftlichen Umbruchsphase inszeniert, die es durch ihre/seine Werke mitgestalten kann und für die es erinnert wird. Wie Tirado in Anlehnung an Hans-Martin Kruckis ausführt entstehen in der Zeit des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts neue biographische Formen, die sie als Mythographie und Überbiographie bezeichnet.72 Wie Kruckis darlegt, geht „die Tradition der Leben-und-Werk-Biographie, wie sie für das 19. Jahrhundert charakeristisch ist“,73 auf die Idee zurück, dass das Werk zum Beleg des Inneren des Künstlers/der Künstlerin wird. „Daß jetzt Werkteile die höhere Ganzheit von Autor und Werk symbolisieren können, macht das revolutionär Neue solchen Denkens aus, das bis in die geistesgeschichtliche Literaturwissenschaft des beginnenden 20. Jahrhunderts ausstrahlt (bzw. dort als Modell

68 Vgl. Julie Taymor, 01:04:08-01:07:33. 69 Vgl. ebd., 00:07:32-00:08:03. 70 Vgl. ebd., 00:28:58-00:32:08. 71 Vgl. ebd., z.B. 01:14:31-01:16:09. Ein ähnlicher Genderrollenwechsel liegt auch vor, wenn Frida Diegos männliches Rollenschema des Fremdgehens annimmt, mit Leon eine Affäre beginnt und so mit dem Gefühl der Kränkung der Ehefrau und dem empfundenen Vergnügen in Konflikt gerät, die sie nun beide kennengelernt hat, vgl. ebd., 01:29:31-01:34:19. 72 Vgl. Heidi Denzel de Tirado, S. 50. 73 Hans-Martin Kruckis, S. 556.

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wiederentdeckt und ausgebaut wird).“74 Wie fiktive Werkgenesen zeigen hat sich diese Annahme sogar noch weiter bis in das beginnende 21. Jahrhundert erhalten. 4.2.3 Genialitätskonzept Das Genie als Schöpfer (inklusive der oben ausgeführten mythischen Konnotationen) wird in der Zeit des Sturm und Drang unter dem Begriff des Originalgenies mit der darin implementierten Neuartigkeit bzw. Originalität des geschaffenen Werks verknüpft. Gleichzeitig bleibt der Schöpfungstopos nicht als einziger mit dem Genie verbunden, wie bereits Klopstock ausführt, ist dieser nur ein zwangsläufiger Aspekt der Charakteristik des Genies: Ist die Reizbarkeit der Empfindungskraft etwas größer als die Lebhaftigkeit der Einbildungskraft; und ist die Schärfe des Urteils in ungleichen Abstande von beiden, größer als sie: so sind dies vielleicht die Verhältnisse, durch welche das poetische Genie entsteht. (Wenn man hier die Fähigkeit zu erfinden vermißt; so siehet man nicht, was sich doch von selbst versteht, daß es dem, der jene Reizbarkeit und jene Lebhaftigkeit hat, sehr leicht wird zu erfinden.)75

In fiktiven Werkgenesen wird der Aspekt der Schöpfung (wie der Genrename bereits anklingen lässt) in den Fokus gerückt. Hier beschäftigen sich die Narrative um den/die Autor/in immer wieder mit der Entstehung des zentralen Werks (oder der zentralen Werke). Allerdings wird die Idee des Genies nicht im Sinne des Originalgenies übernommen, sondern postmodern dekonstruiert und modifiziert: Der/die Autor/in wird zwar weiterhin als Mensch mit besonderen, angeborenen Talenten gefeiert, schafft aber nicht aus sich selbst heraus die Werke, sondern bedarf dazu Übung und äußerer Anreize im Sinne filmischer Handlung. Wie Kaiser ausführt, wird im Sturm und Drang obendrein „das Genie dem Gesetz enthoben, es drängt zur schrankenlosen Selbstverwirklichung und ist als Originalgenie unvergleichlich – leicht ist hier das Genieideal in seiner Zusammengehörigkeit mit dem neuen Individualitätsgedanken zu fassen, wie überhaupt die Genieidee nur deshalb in Deutschland besonders tief Wurzel schlagen kann, weil sie religiös vorbereitet ist.“76 Daraus ergibt sich, wie Kaiser weiter ausführt, für „das Genieideal mit den hybriden Zügen der prometheischen Selbstverherrli-

74 Ebd., S. 558. 75 Friedrich Gottlieb Klopstock, GR, S. 905. 76 Gerhard Kaiser, S. 185f.

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chung“ der Ausdruck einer Ortlosigkeit: „Der Aufklärer fühlt sich als Bürger, das Genie steht praktisch auf sich allein, gehalten lediglich in elitären Gruppen: das Volk, dem man sich nahefühlt, lebt in einer anderen, außerliterarischen Welt. Die Begegnung mit ihm ist ein literarisches Wunschbild, bestenfalls Episode.“77 Das ungebunden von gesellschaftlichen Zwängen und Konventionen schaffende Genie wird von den Zeitgenossen zum Ideal der Kunst erhoben, wie beispielsweise in dem Heinrich Wilhelm von Gerstenberg zugeschriebenen dialogischen „Briefe über die Merckwürdigkeiten der Litteratur“ beobachtet werden kann, wenn der Gesprächspartner erklärt, „‚ich glaube, daß nur das Poesie sey, was das Werk des poetischen Genies ist, und alles übrige, so vortrefflich es auch in jeder Absicht seyn möge, sich diesen Namen mit Unrecht anmaaße, wenn es auch die Tragödie selbst wäre.‘“78 In der sich daraufhin entspinnenden Diskussion, wie das Genie eigentlich zu definieren sei, unterscheidet der Gesprächspartner zwischen dem ‚Genie‘ und einem ‚großem Kopf‘: Erst sagen Sie mir, fiel ich ihm ins Wort, was Sie unter Genie verstehen. „Nicht das, antwortete er, was Sie in den Abhandlungen des Herrn Sulzer, und der beyden Ungenannten in der Berlinischen Sammlung vermischter Schriften und den Breßlauischen Beyträgen, die übrigens alle recht gute Anmerkungen enthalten, darüber disputirt finden. Was diese Gelehrten Genie nennen, ist bloß bestimmte Fähigkeit, und unzulänglich, das Werk des Genies von Meisterstücken großer Köpfe ohne Genie zu unterscheiden.“ Dieß letzte verstehe ich nicht. „Vermuthlich darum nicht, weil Sie gewohnt sind, die Wörter Genie, großer Kopf, schöner Geist, Meisterstück, u. s. w. mit einander zu verwechseln. Beyspiele werden Ihnen das Räthsel auflösen. Ben Johnson, Corneille, Virgil waren große Köpfe, machten Meisterstücke, und hatten kein Genie. Shakespear, ein Genie, machte selten Meisterwerke, und war kein schöner Geist: ein Wort von französischem Ursprunge, mit dem wir den Begriff eines feinen Geschmacks zu verbinden pflegen.“79

Shakespeare wird wie bereits bei Lessing auch im Sturm und Drang zur Vorlage des Geniegedankens erhoben, wenn auch unter je anderen Bedingungen: Für Lessing ist Shakespeare das Genie, weil sein Drama nach denselben Gesetzen gebaut ist wie das griechische. Für Herder liegt die Größe Shakespeares gerade darin, daß sein Drama eine neue, einmalige Gestalt ist. Der Dichter bringt eine je eigene Kunstwelt hervor, er ist Entdecker seelischer Kontinente, die noch kein Mensch betreten hat. Er ahmt

77 Ebd., S. 192. 78 [Heinrich Wilhelm von Gerstenberg], S. 228. Hervorhebungen im Original. 79 Ebd., S. 228f. Hervorhebungen im Original.

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nicht mehr die Naturerscheinung oder Naturwirkung nach, sondern ist selbst naturhafte Kraft. Der Sturm und Drang begreift erstmals das Kunstwerk als „lebendiges Ganze“ nach Analogie des Naturphänomens, und er genießt es zugleich als Konfession des Künstlers, als Abdruck seiner Seele, „inniger, einiger, eigner, selbstständiger Empfindung“.80

Die beiden fiktiven Werkgenesen über ‚Shakespeare‘, mit SHAKESPEARE IN LOVE als Startpunkt und ANONYMOUS als zumindest vorläufig gesetzten Endpunkt des Subgenres, verdeutlichen den bis heute vorhandenen Status, den Shakespeare als Autor und Genie einnimmt, auch wenn in beiden fiktiven Werkgenesen der Geniegedanke nicht mehr rein in der Konzeption von Sturm und Drang (oder dessen Weiterführung während der Romantik) Verwendung findet. Das hier verwendete Konzept von Genialität setzt sich zwar noch immer aus der Schöpfung von etwas Neuartigem und der Überwindung bzw. Negierung gesetzter Normen zugunsten der individuellen Selbstverwirklichung zusammen, wird aber (wie oben bereits angesprochen) darum ergänzt, dass die Inspiration zur Werkgenese nicht aus dem Genie ‚heraus‘ kommt, sondern mit dem Aspekt der Nachahmung, mit der Adaption von als inspirierend empfundenen Momenten verbunden wird. Wie im obigen Zitat zu sehen, tritt das in fiktiven Werkgenesen verwendete Konzept damit wieder einen Schritt hinter die Konzeption des Sturm und Drang zurück und entwickelt dieses gleichzeitig weiter, da der/die Autor/in nicht als isoliertes Wesen verstanden wird, sondern in einem Netzwerk aus persönlichem Umfeld und historischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten kontextualisiert wird. Wie zuvor ausgeführt wird die Genese des Werks an (fiktive) Momente der Biographie des Autors/der Autorin geknüpft. Exemplarisch lässt sich dies an BROTHERS GRIMM (2005) beobachten, dessen diegetische Zeit mit der Romantik in eben jene Zeit der dem Sturm und Drang nachfolgenden Überlegungen zum Genie fällt. Im Film werden allerdings keine expliziten Diskurse zur Genieästhetik wiedergegeben. Auch die Darstellung des historischen Kontexts erfolgt eher fantastisch-verzerrt und markiert an verschiedenen Stellen die eigene Fiktionalität, wenn Motive der Märchensammlung durchlebt werden. Wie Nieberle anmerkt kommt hier „primär das Fantasy-Genre zum Tragen, bleibt im Grunde aber vage zwischen ‚[genre, S.N.] romp, action, adventure, comedy‘.“81 Dennoch werden typische Elemente des Genies aus Sturm und Drang und Romantik und der erweiterten Konzeption der fiktiven Werkgenesen verwendet, um die Brüder Grimm als Autoren zu inszenieren.

80 Vgl. Gerhard Kaiser, S. 186f. 81 Sigrid Nieberle (2008), S. 138; vgl. weiter Bob Mc Cabe, S. 24f.

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Zunächst erweisen sich die Brüder als Betrüger, die den Aberglauben der Menschen ausnutzen, um ihnen Märchen (im Sinne von Lügen) vorzuspielen und sie so gegen Bezahlung von der vermeintlichen Heimsuchung durch Trolle, Geister, Hexen etc. zu befreien: [Gregor:] Who are you? […] [Wilhelm:] Grimm is the name – two m’s. We are the Brothers Grimm. […] [Watchman:] What’s your business? [Wilhelm:] We’re here to save your land from evil enchantments. [Old Crone:] Too late! The old ways have returned. […] [Jacob:] We’re from Kassel, near Frankfurt. We’ve heard about your missing children. […] [Sasha:] It’s all right. They’re the Brothers Grimm. People talk about them in Malzburg, they’re famous. […] They kill trolls and giants, Papa. [Wilhelm:] That’s right. Of course we do, Darling. Jake, me, the team. Team Grimm at your service.82

Die Brüder inszenieren sich als Helden und Retter vor der Bedrohung, die entweder von den Brüdern und ihren Gehilfen selbst inszeniert wurde oder von der sie ausgehen, dass sie das Werk einer konkurrierenden Truppe sei.83 Mit dieser betrügerischen Selbstdarstellung stehen sie außerhalb der Gesellschaft und leben als Gesetzlose, die von den französischen Behörden verfolgt, gefoltert und zur Mithilfe bei der Überführung und angestrebten Verhaftung der vermeintlich konkurrierenden Truppe gezwungen werden.84 Während der so durchlebten Abenteuer begegnen ihnen Märchenmotive, die von Jacob dokumentiert werden. Im Verlauf der Gespräche mit aufgebrachten Dorfbewohnern wird den Filmrezipient/innen wiederholt ein Blick auf Jacobs Notizen gewährt, die charakteristische Stichworte wie „Little Red Riding Cape“ liefern und damit die visuellen Anspielungen auf den Kontext der Märchensammlung um den schriftsprachlichen ergänzen.85 Wie Nieberle herausstellt, ist bei der Betrachtung des Films, was den Aspekt der Autorschaft betrifft, zu beachten, dass dieser „nicht annährend am Stand der Forschung interessiert“ ist:

82 Terry Gilliam, 00:23:52-00:25:10. 83 Vgl. ebd., 00:02:45-00:10:44, 00:18:40-00:20:05, 00:29:13-00:58:14. 84 Vgl. ebd., 00:13:47-00:20:05; 00:22:55-00:26:37, 00:41:43-00:42:01, 00:50:5800:55:07, 01:18:19-01:26:18. 85 Vgl. ebd., 00:03:00-00:04:49; 00:25:15-00:26:37.

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Hier wie dort sammeln Wilhelm (in der älteren Version) [Henry Levin/George Pal (Regie): THE WONDERFUL WORLD OF THE BROTHERS GRIMM. USA: MGM 1962, L.Z.] und Jacob (in der jüngeren) [BROTHERS GRIMM, L.Z.] Geschichten ‚vom Wegesrand‘ und bedienen damit das Stereotyp der beiden über Land ziehenden Brüder. Längst ist bekannt, dass die Quellen für die KHM in bürgerlichen gebildeten Kreisen sprudelten und entweder aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld der Brüder stammten (die in dieser Sache mehr Besuche empfinden als welche abstatteten) oder ohnehin aus literarischen Texten extrapoliert wurden [… In BROTHERS GRIMM, L.Z.] notiert Jacob […] lediglich die märchengleichen Ereignisse, die er im Märchenwald erlebt. Kommt er in einer der Schreibszenen nicht über seinen Namen und den Titel des zu erfindenden Märchens hinaus, so rettet ihm der geläuterte Gegenspieler Cavaldi schließlich sein Notizbuch, was zu einem rundum gelungenen happy end nicht unwesentlich beiträgt. Ohne diese authentische Vorlage, so suggeriert der Film, hätte er selbst nicht entstehen können; denn nur die kontinuierliche mediale Überlieferung ermöglicht es, die Erzählung vom Buch in den Film zu transferieren und zu transformieren.86

Jacobs Schreibprozess vollzieht sich zu Beginn der Filmhandlung an Märchen und Sagen, die den Brüdern bereits bekannt sind und die sie nutzen, um ihren Spuk zu inszenieren. Die rätselhaften Ereignisse im Wald von Marbaden – dessen Name ein weiteres Beispiel für die Verschmelzung von einer historischen Darstellung und einer märchenhaften Überformung des Dargestellten bildet, ebenso wie die märchenhaften, über Schriftinserts realisierten Zeitangaben, die sich durch ihre geschwungene Schrift bereits als dem Märchenhaften zugehörig zu erkennen geben –87 hingegen erweisen sich als zunächst unlösbar, da Jacob die dazu gehörige Erzählung nicht einfällt. Dementsprechend kommt er beim Versuch, die Erlebnisse im Wald zu notieren, nicht über den Titel, der als Ortsangabe gestaltet ist, und seinen Namen hinaus.88 Erst als ihn die Erkenntnis trifft, dass er diese Geschichte bereits kennt, wird es ihm möglich, aktiv in das Geschehen einzugreifen und die Handlung zu seinen Gunsten zu beeinflussen.89 Das wiederholte Tradieren bereits bekannter Märchen als Erzählung oder Erlebnis wird somit als grundlegend für den Erfolg des Autorenduos ausgewiesen. Dieser bleibt auch mit dem für das Märchen typischen Motiv der Bruderliebe

86 Sigrid Nieberle (2008), S. 143f.; vgl. weiter Ulrich Knoop. 87 Vgl. Terry Gilliam, 00:00:10-00:00:21, 01:45:53-01:46:03; vgl. auch Sigrid Nieberle (2008), S. 142f. Vgl. weiterführend für eine Untersuchung des Waldes (auch an diesem Beispiel), Hans Krah (2014). 88 Vgl. Terry Gilliam, 00:34:59-00:35:50. 89 Vgl. ebd., 00:56:05-00:58:14.

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und mit der Überwindung des Konflikts um die angeblichen Zauberbohnen verknüpft.90 Obwohl die diegetische Zeit der Filmhandlung in der Epoche der Romantik angesiedelt ist, verzichtet der Film darauf, das Geniekonzept von Romantik und dem ihm vorangehenden Konzept der Stürmer und Dränger unkommentiert zu übernehmen. Statt der Darstellung von Originalgenies wird hier – wie in fiktiven Werkgenesen werkübergreifend zu beobachten – Genialität nicht als die Fähigkeit aufgefasst, aus sich selbst heraus Werke zu erschaffen, sondern vielmehr im Kontakt mit dem Umfeld inspirierende Momente erkennen zu können und in der Lage zu sein, diese in eigene Werke zu überführen. Häufig sind diese inspirierenden Momente eng mit der Beziehung zu einer Musenfigur verbunden, die die Darstellung der Autor/innen entscheidend mitdefiniert. 4.2.4 Musendarstellung Nicht zuletzt werden die Autor/innen über ihre emotionalen Fähigkeiten (insbesondere der Liebe zu einer meist gegengeschlechtlichen Musenfigur) definiert. Der nahezu obligatorische Liebesplot in Filmen wird auch in fiktiven Werkgenesen zum handlungstragenden Element: Kaum eine Filmbiographie vermag […] auf die Figur des Autors und Autorin als Liebende/r zu verzichten. Die alte Regel des Erzählkinos, love and action möglichst wirkungsvoll in der story miteinander zu verknüpfen, wie schon im ersten literarhistorischen Biopic über Poe und seine Ehetragödie (1909) zu beobachten ist, wird zumeist eingehalten und hat sich als überraschend stabil bis hin zu den jüngsten Produktionen über Brentano oder Goethe erwiesen.91

Die Begegnung mit der Muse sorgt für die emotionale Entwicklung des/der thematisierten Autors/Autorin und liefert gleichzeitig durch gemeinsame Erlebnisse inspirierende Schlüsselmomente für das entstehende Werk. Mit dem Liebesplot zur Musenfigur wird das Motiv des leidenden Genies über eine Opfer- und Todesthematik verknüpft, indem die Beziehung zur Muse in den meisten Fällen tragisch endet und teilweise sogar (zugunsten des Werks) aktiv aufgegeben werden muss.92

90 Vgl. ebd., 00:00:00-00:01:17, 01:33:34-01:43:51; vgl. weiter Sigrid Nieberle (2008), S. 139-141. 91 Ebd., S. 229f. 92 Vgl. Sigrid Nieberle, S. 255.

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Exemplarisch lässt sich dies an dem zuvor eingeführten Beispiel GRIPSHOLM beobachten, da hier Lydia sich selbst explizit als Muse betitelt, die Kurt zu der von seinem Verleger in Auftrag gegebenen Sommerromanze inspirieren möchte und diese Rolle auch exakt erfüllt: [Lydia/Prinzessin:] Und? Wirst du die Sommergeschichte schreiben? [Kurt:] Ach! [Lydia/Prinzessin:] Du hast ein bedeutendes Thema. [Kurt:] Welches denn? [Lydia/Prinzessin:] Ja, mich! Ich bin Deine Muse.93

Dabei lassen sich unterschiedliche Funktionen beobachten, die Musenfiguren wie Lydia zugewiesen bekommen: Zum einen dienen sie – wie oben bereits angesprochen – als Anreiz der Inspiration, indem die mit ihnen erlebten Ereignisse von der Autorfigur in den jeweiligen Werken, wenn auch mitunter verdeckt, geschildert werden, wie Lydia in ihrem abschließenden Voice-Over betont, zum anderen tragen sie zur Entwicklung des Autors/der Autorin im Sinne der Erfolgsstory bei: Unsere Geschichte hat Kurt anders erzählt. Einiges von dem, was wir erlebt hatten, kam darin vor, anderes veränderte er. Es sollte ja eine Sommergeschichte sein. Etwas, was die Leute ihrer Freundin schenken konnten. Eine kleine Geschichte, leicht ironisch, zart im Gefühl, mit einem bunten Umschlag. Er starb drei Jahre später, nur wenig entfernt von dem Ort, wo wir unseren Sommer verbracht hatten. Seine Abschiedsworte hab ich nie vergessen: Man denkt oft, die Liebe ist stärker als die Zeit, aber immer ist die Zeit stärker als die Liebe.94

Dies entspricht dem von Begemann beobachteten Trend, der sich in fiktiven Werkgenesen bis heute fortsetzt: „Spätestens seit den 1790er Jahren […] werden narrative Szenarien in großer Zahl entworfen, die zeigen, daß Männer erst durch die Begegnung mit einer Frau zu Künstlern werden.“95 Interessant ist hierbei auch die Differenz zwischen der sich mündlich (und damit mit einer zeitlichen Flüchtigkeit) äußernden Muse (Lydia) und der Schriftlichkeit (und damit mit einer gewissen Dauerhaftigkeit versehenen Äußerung) des Autors (Kurt bzw. der

93 Xavier Koller, 00:23:24-00:23:35. 94 Ebd., 01:31:47-01:32:22. 95 Christian Begemann („Körper des Autors“, 2002), S. 58; vgl. weiter ders. (1999); ders. („Kunst und Liebe“, 2002).

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reale Tucholsky). Die Vergänglichkeit von Lydias Äußerung am Filmende korreliert mit der am Ende der Filmhandlung stehenden Trennung. Auch Kurts in Lydias Voice-Over wiedergegebene Abschiedsworte spielen auf die Vergänglichkeit bzw. Zeitlichkeit an und entheben seine durch Lydia gefilterten letzten Worte jeglicher verklärenden Romantik. Implizit wird hier auf den ebenfalls mit der Musenfigur verwobenen Topos des leidenden Genies angespielt. Begemann beobachtet zu der Verknüpfung von Liebe und dem Leiden des Genies: Freilich darf die ersehnte Frau nicht erreicht, ‚besessen‘ oder gar geehelicht werden, sondern muß distanzierter Gegenstand des Begehrens bleiben, weil andernfalls der kreative Impuls erlöschen würde. […] In diesen Texten hat sich der epochale Klärungsbedarf bezüglich der Entstehungsbedingungen von Kunst ein eigenes Genre geschaffen, das zeittypisch um die Biographie des fiktiven Künstlers herum organisiert ist und auf die Biographie realer Autoren zurückwirkt. Auf der Basis des Prokreationsdiskurses hat die Literatur ein Imaginationsmuster erfunden, das in den (Selbst-) Stilisierungen von Autoren zu unglücklich Liebenden wiederkehrt und von der biographistischen Literaturwissenschaft nur allzu bereitwillig übernommen worden ist.96

Neben der finalen Trennung von der Muse bleibt das Thema des leidenden Genies in GRIPSHOLM zentral und dominiert die Handlung in der sich durch die geringe Resonanz von Kurts Werken und der ihm drohenden Anklage manifestierenden Schreibblockade. Visualisiert wird das Leiden an der akuten Sprachlosigkeit durch die wiederholte Einblendung der Szene, in der Kurt rauchend auf dem Billardtisch lehnt und die weiße Kugel gegen sein leeres, in der Ecke stehendes und damit den Billardtisch dysfunktionaliserendes Whiskey-Glas rollt.97 Seine Sprachlosigkeit macht ihn als Schriftsteller ebenso dysfunktional. Parallel hierzu lassen sich auch die Szenen begreifen, in denen Kurt einsam am Klavier sitzt und nur einzelne Töne spielen kann, die erst ohne seine Armbewegung auf der extradiegetischen Tonebene zu einer Melodie werden und in die nächste Szene überleiten, oder das leere Blatt in seiner Schreibmaschine anstarrt.98 Diesem inneren Exil in der Sprachlosigkeit („irgendwas in mir ist verstummt“) kor-

96 Ders. („Körper des Autors“, 2002), S. 59. 97 Vgl. Xavier Koller, 00:04:29-00:04:58, 01:21:37-01:22:07, 01:27:55-01:28:15, 01:31:52-01:32:00. 98 Vgl. ebd., 01:14:40-01:15:46 und 01:20:47-01:21:37. Der Missbrauch des Autors durch die Nazis als regimekonforme Varieté-Unterhaltung am Filmende lässt sich letztlich ebenfalls unter diesem Gesichtspunkt der Sprach- bzw. Wehrlosigkeit lesen, vgl. ebd., 01:32:22-01:34:04.

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reliert das äußere Exil in Schweden, in das sich Kurt vor der Reichswehr flüchten muss.99 Der/die Autor/in verfällt durch die Schreibkrise (wie sich an Kurt beobachten lässt) oder durch mangelnde Möglichkeiten (insbesondere, wenn das Debüt noch aussteht) in Passivität, die von der Muse durch die Einforderung von Aktivität bzw. der Ermöglichung von Gelegenheiten, wieder aktiv zu werden, durchbrochen wird. In Lydias Fall geschieht dies einerseits durch ihre eigene Aktivität in Bezug auf die ‚Rettung‘ des Mädchens Ada, bei der sie Kurt ebenfalls zum Handeln nötigt,100 und andererseits durch die verbale Thematisierung der Schreibblockade: [Lydia:] Was ist denn in dich gefahren? Du hast alles nur noch viel schlimmer gemacht. [Kurt:] Ja, es tut mir leid. Ich war mir selbst ganz fremd. Gut, aber schlecht. Ich hab’s verbockt. [Lydia:] Ja, das hast du auch. [Kurt:] Du hast den Mief doch selbst gerochen. Ich hab’s nicht mehr ausgehalten. Mein Gott, mir ist die Galle hochgekommen. [Lydia:] Das war dir so wichtig, dass du darüber das kleine Ding [Ada, L.Z.] vergessen hast? [Kurt:] Das hab’ ich nicht. Es tut mir leid. Ich werd’ ihr schreiben. [Lydia:] Schreiben? [Kurt:] Ich werde der Mutter ausführlich schreiben. [Lydia:] Schreiben? [Kurt:] Ja! [Lydia:] Du hast seit wir hier sind noch nicht einen einzigen Satz geschrieben. [Kurt:] Ich hab’ Sommerpause. [Lydia:] Pause? Ich sag dir was du hast: Ausgeschrieben hast du! Für dich ist doch alles nur noch ein einziger Witz. Deine Bücher und ich auch. Dein ganzes Leben ist dir so egal wie das Mädchen.101

Die Muse fungiert hier gleichsam als Gewissen, das den Autor mit unbequemen Wahrheiten konfrontiert und somit aktive Reaktionen provoziert. Zwar kann Kurt seine Schreibblockade während der Filmhandlung nicht überwinden, die Überwindung wird lediglich über das Voice-Over (und Tucholskys real vorhandenen Roman Schloss Gripsholm, aus dem teilweise vollständige Dialoge in den

99

Ebd., 00:26:56-00:26:57; vgl. ebd., 00:25:58-00:28:22; 01:28:44-01:31:47.

100 Vgl. ebd., 00:24:00-01:31:47. 101 Ebd., 01:19:52-01:20:32.

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Film übernommen wurden)102 evident. Dennoch wird im Film in einer der letzten gemeinsamen Szenen des Paares die Muse in die Position versetzt, das von ihr inspirierte Werk einzufordern: [Lydia:] Es war ein kurzer Sommer. Er war voller Liebe und voller Zärtlichkeit. Und du hast es mir leicht gemacht, ihn zu genießen – trotz allem. Du hattest Recht, es ist gar nicht so kalt in Schweden. Aber jetzt musst du dich gut einpacken. Es ist ein langer und harter Winter angesagt. Und schreibe. Schreiben hält warm.103

Häufig wird in fiktiven Werkgenesen (wie im obigen Zitat mit dem Motiv des Schreibens, das durch den Winter hilft, angedeutet) die diegetische Wirklichkeit der Fiktion gegenübergestellt, so dass die Fiktion für alles das stehen kann, was in der diegetischen Wirklichkeit dem Liebespaar versagt bleibt. So heißt es zum Beispiel in GOETHE! im Abschiedsgespräch zwischen Lotte und Johann: [Lotte:] Glauben Sie ernsthaft, ich könnte jemals wieder glücklich sein, wenn Sie sich etwas antun? [Johann:] Aber ohne Sie kann Werther nicht leben. [Lotte:] Will Werther in der Provinz bleiben und seinen Doktor machen und Lottes ganze Familie ernähren und sich immer weiter hocharbeiten bis zum Gericht-, bis zum Gerichtspräsidenten? Will er das? – Das ist nicht Werthers Leben. Das ist Alberts und Lottes. […] [Johann:] Und Werther? [Lotte:] Er soll etwas aus seinem Talent machen und – und sich nicht umbringen. […] Trotzdem werden die beiden immer zusammenbleiben. Nicht in der Wahrheit, aber in der Dichtung.104

Johanns vollständige Identifikation mit seiner Romanfigur kommt auch hier zum Tragen, wenn gleichzeitig vom Ende des Briefromans und dem Selbstmordwunsch der Filmfigur gesprochen wird. Durch ihre Unterteilung in Wahrheit und Dichtung (erneut als Anspielung auf Goethes Autobiographie)105 ermöglicht Lotte ihm die Alternative, sein Leiden in Kreativität umzuformen, so dass er seinen geplanten Selbstmord letztlich nicht zu Ende führen kann, sondern den Ruhm als Autor von Die Leiden des jungen Werther annimmt und den von Lotte vorgese-

102 Vgl. Kurt Tucholsky. 103 Xavier Koller, 01:29:06-01:29:37. 104 Philip Stölzl, 01:22:27-01:23:48. 105 Vgl. auch Kapitel 3.3.2 dieser Arbeit.

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henen Weg beschreitet.106 Auch hierin manifestiert sich erneut die von Sigrid Nieberle an der endgültigsten Form dieser Versagung des Liebesglücks zwischen Autor- und Musenfigur beobachtete Veränderung zwischen der in fiktiven Werkgenesen verwendeten Konzeption von Autorschaft und derjenigen der Romantik: Leben und Werk stellen einen unauflöslichen Konflikt dar, ist doch das Modell des „sterbenden Dichters“ der Romantik, der „die Missgeschicke des Lebens nicht überwinden“ kann und im „Elend zugrunde“ geht, „während ihn ein Ruhm erwartet, der zu spät kommt“ […] melodramatisch auf den Tod der Ehefrau [bzw. genereller den Tod oder die anderweitig tragisch endende Beziehung zu Geliebter oder Geliebtem, L.Z.] verschoben.107

Zwar kommt es in GOETHE! nicht zum Tod der Muse, doch kann es sowohl aus Gründen zur Wahrung der historischen Vorlage als auch aufgrund der darzustellenden Erfolgsgeschichte auch nicht zum Freitod des Autors kommen. Der Tod der Muse bleibt nur die Zuspitzung einer in fiktiven Werkgenesen gängigen Praxis, die ein individuelles Opfer (meist in Form des Verzichts oder Verlusts der geliebten Muse) für die Werkgenese und den damit verbundenen Ruhm fordert.108 Nicht nur in GOETHE! wird plakativ darauf verwiesen, sondern beispielsweise auch in BECOMING JANE im Gespräch zwischen der angehenden Schriftstellerin Jane und der bereits etablierten Autorin Anne: [Anne:] Of what do you wish to write? [Jane:] Of the heart. [Anne:] Do you know it? [Jane:] Not all of it. [Anne:] In time, you will. But even if that fails, that’s what the imagination is for.109

Neben diesem für fiktive Werkgenesen eher typischen Umgang mit der Musenfigur und deren Verhältnis zur Autorfigur, wählen die fiktiven Werkgenesen zu Musiker/innen einen anderen Weg. Hier ist das oben angesprochene ‚Opfer‘ nicht in Verbindung mit einem Verzicht auf die Beziehung zur Muse zu werten,

106 Vgl. Philip Stölzl, 01:25:08-01:34:31. 107 Sigrid Nieberle (2008), S. 20. 108 Für die Auswirkungen des Tods der Muse vgl. beispielsweise MISS POTTER und die oben dazu gelieferten Überlegungen, Kapitel 2.2.3 dieser Arbeit. 109 Julian Jarrold, 01:08:10-01:08:27.

146 | THEORETISCHE Ü BERLEGUNGEN

sondern in einem Verzicht auf den im Verlauf der Filmhandlung ausgelebten Drogenkonsum. Die Muse übernimmt hier also gleichsam eine mütterliche (bzw. väterliche) Rolle bzw. die eines, wie Glenn D. Smith Jr. es fasst, „mythical savior“,110 die/der aus dieser zu bewältigenden Krise herausführen soll. Da also in dieser Untergruppe fiktiver Werkgenesen bewusst nicht der Verzicht auf die Beziehung zur Musenfigur inszeniert wird, wird eine nach Smith Jr. „more feminine narrative (heterosexual romantic love) as moral resolution“ erlaubt. „This narrative stresses the importance of familiy, compassion, and lifelong companionship.“111 Dennoch bleibt auch hier das Konzept des leidenden Genies erhalten, zumal die Auseinandersetzung mit dem Tod eines geliebten Menschen zentral wird.112 So sind es beispielsweise in RAY und WALK THE LINE die Schuldgefühle der Protagonisten, die mit dem Tod des Bruders einhergehen und über weite Strecken des Films die Handlungen der Protagonisten bestimmen, indem sie zu Minderwertigkeitsgefühlen, zum Streben nach Erfolg und einem exzessiven Drogenkonsum führen.113 Der omnipräsente Tod des Bruders in WALK THE LINE und RAY entwickelt sein krisenhaftes Potential insbesondere durch die Schuldgefühlte, die beide Protagonisten im Hinblick auf das eigene Überleben entwickeln. Der Druck, sich vor sich selbst, den Eltern und dem Rest der Welt zu beweisen, findet hier seinen Ursprung und wird als Auslöser des Erfolgs dargestellt. Der Tod des Bruders fördert das individuelle Denken der Protagonisten, da sie aus der Gemeinschaft (‚Brotherhood‘) herausgerissen werden und damit frei sind, ihren individuellen, schicksalhaft vorgezeichneten Weg zum Erfolg zu beschreiten, der sie weiter von der Gemeinschaft isoliert, die als Masse der Fans ihnen gegenübergestellt wird.114

Auch für die Darstellung fiktionalisierter Musiker/innen sind trotz aller Veränderungen im Umgang mit der Musenfigur zu beobachten, dass sich „Ängste und ein sexuelles Begehren als notwendige Bedingungen für das schreibende [bzw. hier musizierende, L.Z.] Subjekt herausstellen.“115 Auch bei dieser Form der Darstellung sind die Autor/innen (in dem Fall Musiker/innen) passiv „und müs-

110 Glenn D. Smith Jr., S. 233. 111 Ebd., S. 224. 112 Vgl. Laura Zinn, S. 142-149. 113 Vgl. James Mangold, z.B. 00:09:23-00:09:50, 01:36:56-01:41:37; vgl. Taylor Hackford, z.B. 00:11:54-00:12:23, 00:26:16-00:35:10, 02:13:41-02:17:36. 114 Laura Zinn, S. 146f.; vgl. für eine ähnliche Beobachtung Glenn D. Smith Jr., S. 228f. 115 Sigrid Nieberle (2004), S. 118.

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sen von ihrer ‚Muse‘ gerettet werden, die das Ende des Drogenkonsums und Selbstmitleids zumindest einzuleiten versucht und somit eine aktive, rettende Position als ‚mythical saviour‘ einnimmt.“116 Die Musenfigur kann demnach unterschiedliche Rollenmuster in fiktiven Werkgenesen erfüllen, bleibt aber in ihrer Funktion für den/die dargestellte/n Autor/in konstant: Sie stellt ein (wenn auch nur scheinbar oder vorerst) unerfüllbares Begehren dar, inspiriert zu der/den Werkgenese/n und hilft dem/der Autor/in, aus seiner/ihrer Passivität auszubrechen und mit der Werkgenese aktiv zu werden.

4.3 F REMDHEIT

UND I DENTIFIKATIONSPOTENTIALE

Neben der Darstellung der individuellen Biographie lassen sich, wie oben besprochen, einige charakteristische Merkmale eines genreübergreifenden Autorschaftskonzepts ausmachen: Die Verherrlichung als Star, die Ikonisierung und Mythisierung des Autors als Genie und das Verhältnis zwischen Autor und Muse sorgen für ein Konzept, das über die individualisierte Darstellung jeder einzelnen fiktiven Werkgenese hinausreicht. Während jeder der Filme einen spezifischen historischen Kontext eröffnet, der stärker oder schwächer von der Rezipientengegenwart abweichen kann (beispielsweise SHAKESPEARE IN LOVE oder ANONYMOUS im ausgehenden 16. Jahrhundert; ADAPTATION in der Zeit des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts), wird so gleichzeitig ein zeitloses, von historischen Kontexten unabhängiges Bild von dem/der Autor/in geschaffen, dass durch die Wiederholung der einzelnen Narrative um Autorschaft einen entsprechenden Wiedererkennungswert verspricht. Helmut Scheuer schreibt in seiner Studie zur Biographie vom 18. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert hinein, dass „die traditionelle Dialektik von innen und außen, von Held und Welt, […] in einen geistig-seelischen Innenraum zurückgenommen“117 wird. Auch in fiktiven Werkgenesen tritt der historische Kontext zugunsten einer zeitlosen Narration der (fiktiven) Werkgenese in den Hintergrund. In ihrer Gesamtheit beleuchten die Filme also weniger punktuelle historische Momentaufnahmen, sondern vielmehr über die drei Referenzebenen einen Erklärungsversuch, wie kreative Schaffensprozesse vonstattengehen. Auch durch die Auswahl der einzelnen Autor/innen (beispielsweise der – bisherige – Verzicht Dramenautorinnen zu behandeln) wird dieses Konzept von Autorschaft weiter aufgebaut und wirkt, wie Sigrid Nieberle anmerkt, kanonisch bestätigend:

116 Laura Zinn, S. 153. 117 Helmut Scheuer, S. 103.

148 | THEORETISCHE Ü BERLEGUNGEN Literarhistorische Filmbiographien entwerfen mittels ihrer historischen und gleichermaßen symbolischen Autorfiguren einen massenmedial vermittelten Kanon literarischer Werke vor dem – oftmals pittoresken – Hintergrund kanonisierter politischer und kulturhistorischer Ereignisse.118

Es entsteht damit ein Spannungsfeld, dass sich einerseits durch eine mitunter auftretende historische Fremdheit und andererseits durch ein über die Narrative aufgebautes Identifikationspotential auszeichnet. Stephanie Wodianka entwickelt in ihrer Studie zu Darstellungen von Matière de Betragne und Jeanne D’Arc eine Methode, die Narrativierung nach ihren Erinnerungsmodi zwischen Mythos und Geschichte zu verorten.119 Der Erinnerungsmodus kann „Aufschluss geben […] über Status und Bedeutung des Erinnerten.“120 So wie Wodianka eine „Konjunktur des Mittelalters“121 beobachtet, lässt sich in Bezug auf die fiktiven Werkgenesen zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch von einer filmischen Konjunktur des Autors/der Autorin sprechen. Wodianka sieht in dieser ein „Erinnerungskonkurrenzen aushandelnde[m, s] Phänomen“122, das als ‚erinnerungskulturelle Herausforderungslage‘ gewertet werden kann. Unter diesem Terminus ist Folgendes zu fassen: Mit dem Begriff ‚erinnerungskulturelle Herausforderungslage‘, der vom Gießener Sonderforschungsbereich 434 „Erinnerungskulturen“ geprägt wurde, ist grundsätzlich die Infragestellung einer Erinnerungskultur, ein Angriff oder eine Infragestellung von innen oder außen gemeint. Über das konventionelle Begriffsverständnis hinaus, das mit Herausforderungslagen vorrangig geschichtlich-politische Umstände meint, geht die vorliegende Untersuchung davon aus, dass sich Herausforderungslagen auch auf ästhetische und medienspezifische Besitzverhältnisse beziehen können, und dass erinnerungskulturelle Besitzverhältnisse umgekehrt durch ästhetische Paradigmen markiert werden. Medien und Ästhetiken sind nicht nur als Spiegel historisch-gesellschaftlicher Herausforderungslagen zu begreifen, sondern können auch selbst im Zentrum der Herausforderungslage stehen – als Austragungsort ebenso wie als Austragungsanlass oder Austragungsmarker einer erinnerungskulturellen Herausforderungslage. Eine Herausforderungslage führt u.a. dazu – und das macht sie für die vorliegende Untersuchung interessant –, dass die Erinnerungskultur selbstreflexiv wird: Sie thematisiert sich selbst, um sich zu verteidigen, sich der heraus-

118 Sigrid Nieberle (2008), S. 229. 119 Vgl. Stephanie Wodianka, S. 7. 120 Ebd., S. 6. 121 Ebd., S. 4. 122 Ebd., S. 4.

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fordernden Lage anzupassen, auf sie zu reagieren. Außerdem nimmt die Externalisierung bzw. der Objektivationsdruck einer Erinnerungskultur zur Selbstprofilierung zu – deshalb ist eine Herausforderungslage auch häufig mit Erinnerungskonjunkturen verbunden. Diese (selbstthematisierenden) Objektivationen finden z.B. in politischen Diskursen statt, aber eben auch in Literatur, Film und Alltagskultur. […] Erinnerungskulturen können als Hinweis auf eine von den Mitgliedern einer Erinnerungskultur empfundenen Herausforderungslage aufgefasst werden.123

Wie bereits zuvor ausgeführt, steht die in fiktiven Werkgenesen mit neuem Fokus versehene Beschäftigung mit dem Autor sicherlich nicht zufällig an der Schwelle zur Digitalisierung des Films und damit dessen Versuch, sich selbst neu zu definieren. Ähnlich wie zu Beginn seiner Geschichte greift der an der Schwelle zur Digitalisierung stehende Film auf etablierte Medien zurück, um seine eigenen Möglichkeiten und Grenzen ausloten zu können. Dabei werden aber nicht nur die Medien wie Theater, Schrift, Musik etc. verwendet, um diese Neuorientierung zu ermöglichen, sondern über die konkrete Thematisierung einzelner Werke und Autoren ein zusätzliches Identifikationspotential angeboten. Fiktive Werkgenesen schließen durch ihre Referenzebenen an die Neuorientierung des Films im Zuge der Digitalisierung und gleichzeitig auch an die Alltagserfahrungen ihres Publikums an, das häufig mit einer aufeinanderfolgenden oder gar parallelen Nutzung unterschiedlicher Medien vertraut ist. Die so gesteigerte Bereitschaft zum schnellen Medienwechsel seitens der Rezipient/innen ermöglicht auch den Produzenten von (meist im Mainstream-Kino angesiedelten) fiktiven Werkgenesen komplexe intermediale Bezüge, ohne dabei Unverständnis ihrer Zuschauer/innen zu provozieren. Im Gegenteil scheint es in verschiedenen Filmen des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts fast schon notwendigerweise dazuzugehören, wie Simonis darlegt: Der Film kristallisiert sich […] als bevorzugtes Medium gezielter intermedialer Verfahren heraus, wenn nicht gar als Ort einer intermedialen ästhetischen Kompositionskunst eigener Art. Eine solche Kinoästhetik ist symptomatisch für eine postmoderne Gesellschaft um 2000, in der die ehemaligen ästhetischen Stilkriterien und medienspezifischen Konventionen ins Wanken geraten zugunsten einer spielerischen Auflösung der Formen, Gattungsgrenzen etc. durch diverse Hybridisierungs- und Vernetzungsprozesse. Die Modellierung des Intermedialen und der Medienwechsel generieren überdies eine spezifische, neuartige Zuschauerdisposition. […] Die (bewusste) Wahrnehmung von intermedialen Konstellatio-

123 Ebd., S. 5.

150 | THEORETISCHE Ü BERLEGUNGEN nen im Film und der Medienvergleich bewirken meist eine erhöhte Prägnanz sowie eine Bündelung der Aufmerksamkeit auf Seiten der Zuschauer.124

Durch die Kombination der unterschiedlichen Referenzebenen entsteht in fiktiven Werkgenesen ein ähnlich umfassendes Narrationskonzept wie Friedrich Schlegel es bereits in und für die Romantik ausgerufen hat und das hier gewissermaßen im filmischen Medium fortgesetzt wird: Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen.125

Auch in fiktiven Werkgenesen wird durch die vorliegende Verschränkung von Medienreferenzen, Einzelreferenzen auf (meist) kanonisierte Werke von (meist ebenfalls) kanonisierten, thematisierten Autor/innen aus den unterschiedlichsten künstlerischen/wissenschaftlichen Bereichen ein ganzheitlicher Blick auf die kulturelle Landschaft geworfen und dem Film damit seine eigene Neuorientierung über z.B. etablierte Kunstrichtungen ermöglicht.126 Damit wird eine ähnliche Problemlösungsstrategie verwendet, wie Tirado sie für Künstlerromane der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beobachtet: Die Konzentration auf historische Dichter und ihre Werke zeugt von dem Wunsch, Persönlichkeiten der Vergangenheit für die Lösung der Probleme der Gegenwart heraufzubeschwören. In Deutschland entstehen mehrere Künstlerromane, die den Dichter im Stile von Bildungsromanen in der Auseinandersetzung mit der Welt reifen, wachsen und eine geradezu religiöse Macht erkennen lassen.127

Die Narrative von Autorschaft verfolgen einen ähnlichen Weg wie der Bildungsroman, insofern sich aus dem Bedürfnis zu schreiben, malen, musizieren etc. über Übung, Fleiß und der Auseinandersetzung mit Kritik der Weg zum/zur Au-

124 Annette Simonis, S. 217f. 125 Friedrich Schlegel (1967, „Athenäums-Fragmente“), S. 182. 126 Damit erfüllt sich einmal mehr Ludwig Jägers Beobachtung, dass „Verfahren wechselseitiger intermedialer Um-, Ein- und Überschreibungen […] die basale Strategie für die Generierung kultureller Semantik“ darstellen, Ludwig Jäger, S. 71. 127 Heidi Denzel de Tirado, S. 51; vgl. auch Max Kommerell, S. 438.

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tor/in öffnet. Der Film kann sich hierfür jedes anderen Mediums (auch des eigenen) bedienen und frei aus einem kulturellen Kanon schöpfen, den er somit gleichsam weiterschreibt. Dabei kommt ihm seine scheinbar ‚erzählerlose‘ Grundsituation zugute, die nach Roland Barthes auch für den Mythos charakteristisch ist.128 Durch die so aufgebaute Nähe zwischen Film und Mythos (in seiner modernen Begriffsbedeutung) ist es für fiktive Werkgenesen entsprechend einfach, die Darstellung der thematisierten Autor/innen und deren Werke durch die (wenn auch mitunter stark fiktionalisierte) Biographie und die oben aufgeführten Narrative von Autorschaft zwischen einem historischen und einem mythischen Erinnerungsmodus zu verorten. Dabei arbeitet der ‚Mythos‘ nach Stephanie Wodianka wie folgt: Indem Mythen zeitlich-menschliche Geschichte in überzeitlich-gegebene ‚Natur‘ überführen, reduzieren sie Komplexität: Sie setzen sinnlich-konkrete Wahrnehmungen an die Stelle von Abstraktionen, sie bedeuten scheinbar unmittelbar und heben Gegensätze auf. Auf ihrer unmittelbaren Wirksamkeit ohne dialektische Tiefe basiert auch ihr hohes, Gegensätze umfassendes Identifikationspotential.129

Das Identifikationspotential fiktiver Werkgenesen manifestiert sich in den filmübergreifenden Narrativen von Autorschaft sowie den (auto-)biographisch gedeuteten Inspirationsmomenten. Diese entsprechen insofern mythischen, zeitlosen Narrativen, als sie „zeitenthobene Gültigkeit“ besitzen, sich „zeitlicher Zuordnung“ entziehen und somit „die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ verwischen: Selbst ein möglicherweise historisch-zeitliches Referenzereignis der erzählten ‚Geschichte‘ wird ‚in illo tempore‘ aufgehoben und durch eine überzeitlich-präsentische Evidenzerfahrung überlagert – das Mythische hebt zwar u.U. über ein Ereignis an, entspringt aber nicht aus ihm. Im Unterschied zum historischen Erinnerungsmodus wird im Erinnerungsmodus des Mythischen nicht Historisches erinnert, sondern Archetypisches bzw. zum Archetypos Erhobenes: zwar ‚überlieferte Rede‘, die aber ihre historisch-zeitlichen Ursprünge – selbst und gerade im Verweis auf diese – tilgt. Deshalb ist es auch unerheblich, in welchem tatsächlichen zeitlich-historischen Abstand sich das erinnerte reale oder fiktive Geschehen zum Erinnerungsprozess befindet: Der mythisierende Erinnerungsmodus

128 Vgl. Roland Barthes (2010), S. 236-238. 129 Stephanie Wodianka, S. 17.

152 | THEORETISCHE Ü BERLEGUNGEN bringt das Zeitbewusstsein, das ihn als solchen (mit)konstituiert, selbst performativ hervor.130

So wird in fiktiven Werkgenesen einerseits gezeigt, wie ein Talent entdeckt, gefördert und ausgelebt werden kann – ganz im Sinne einer an den ‚American Dream‘ angelehnten Erfolgsstory,131 wobei der Erfolg nicht als allumfassend dargestellt wird, sondern immer mit einem ‚Opfer‘ verbunden bleibt. Andererseits wird eine voyeuristische Sensationslust befriedigt, indem kanonisierte Autor/innen durch kleine (mitunter historisch nicht nachweisbare) Anekdoten ‚menschlich‘ dargestellt werden. Dieser anekdotische Zugang zur Biographie eines Autors/einer Autorin findet seinen Ursprung im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, wie Tirado ausführt: Paradoxerweise nimmt das öffentliche Bild des homme de lettres einen äußerst privaten Charakter an, die Öffentlichkeit möchte am Alltag im Heim der grands hommes teilnehmen. Dementsprechend zeigt das Genre der éloges immer mehr den ‚wahren Menschen‘ hinter der Fassade der Großartigkeit, und biographische Szenarien – sei es auf der Bühne oder in der Presse – geben vor, hinter die Kulissen zu schauen und die ‚wahre Identität‘ der Großen zu zeigen. Diese neue Form, den Dichtern imaginär näher zu kommen, führt schließlich zu wahren Pilgerreisen zu den Dichtern, die sich besonders gegen Ende des 18. Jahrhunderts und Anfang des 19. Jahrhunderts in den Grands Tours junger Adliger und Bürger zeigen sollte.132

Die Identifikation kann also in fiktiven Werkgenesen durch die (wenn auch nur imaginierte) Möglichkeit, dass jede/r durch die Förderung angeborener Talente oder sogar nur durch Fleiß Erfolge erleben kann, vollzogen werden. Durch den ‚Opfer‘-Gedanken und die in den Biographien narrativierten Anekdoten wird gleichzeitig der Mensch hinter dem Erfolg beleuchtet. Es entsteht eine ‚Evidenzerfahrung‘, in der „für den teilhabenden Adressaten unmerklich die zeitlichhistorischen Kontexte des Erzählten“ getilgt werden: „Aus diesem Grunde tritt beim Mythischen der Erinnerungsprozess als solcher möglicherweise gar nicht ins Bewusstsein: Es wird nicht erinnert, es ist.“133 Fiktive Werkgenesen verorten sich nicht zuletzt deshalb im Bereich des Spielfilms, Historienfilms, heritage ci-

130 Ebd., S. 19. 131 Vgl. James Truslow Adams. 132 Heidi Denzel de Tirado, S. 28f. 133 Stephanie Wodianka, S. 20.

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nema134 etc., weil sie zwar einen historischen Erinnerungsgegenstand wählen, diesen aber über weite Strecken der Filmhandlung als gegenwärtig verstehen.135 Giddings, Selby und Wensley sprechen daher in diesem Zusammenhang auch von einem „diachronic tourism“: „The tour operators promise you a trip to the past and a safe journey home to the twentieth [bzw. 21., L.Z.] century and its blandishments. This seems to realize a manifest need deeply felt in modern times, to connect with the past, to trace roots backwards in time.“136 Diese Besonderheit der fiktiven Werkgenesen, die sich zwischen einem historischen Erinnerungsmodus mit entsprechenden Momenten historischer Fremdheit und einem mythischen Erinnerungsmodus mit überzeitlichen Narrativen bewegen, wird erst durch das Zusammenspiel der drei zuvor betrachteten Referenzebenen möglich. Im theoretischen Teil sollte anhand eindrücklicher Beispiele die Funktion der einzelnen, jeweils im Fokus stehenden Referenzebenen in fiktiven Werkgenesen dargestellt werden. Im Anschluss sollen nun in den Einzelanalysen zu Dramenautoren die drei Referenzebenen nicht mehr künstlich voneinander getrennt, sondern auch an ihren Schnittstellen analysiert werden, um das Zusammenspiel anhand des individuellen Beispiels besser erfassen zu können.

134 Vgl. Ginette Vincendeau. 135 Es kommt damit zu den von Hans Ulrich Gumbrecht in Production of Presence beobachteten Momenten einer ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘, vgl. Hans Ulrich Gumbrecht. 136 Robert Giddings/Keith Selby/Chris Wensley, S. 39; vgl. auch Paul Arthurs Fazit von „pleasures of spectacle-driven entertainment“, S. 332; und vgl. weiter David Lowenthal, S. 363-412; Robert Hewison, S. 15-32.

II. Einzelanalysen: Fiktive Werkgenesen von Dramen

5. SHAKESPEARE IN LOVE

5.1 D AS K ONSTRUKT ‚S HAKESPEARE ‘ Der Film SHAKESPEARE IN LOVE als Startpunkt für das Subgenre der fiktiven Werkgenesen eröffnet mit der hier erstmals in voller Gänze ausgespielten Verweisstruktur der verschiedenen Ebenen einen neuen Blickwinkel auf die mediale Verknüpfung zwischen Einzelwerk, Autor und Film. Da sich in der Analyse die zuvor bei der theoretischen Erfassung künstlich vollzogene Trennung dieser drei Referenzebenen nicht mehr sinnvoll umsetzen lässt, wird nun gerade das Zusammenspiel der Ebenen unter Gesichtspunkten, die jeweils eine der drei Ebenen vordergründig betrachten, aufgezeigt. Neben diesem Gemisch aus Referenzen wird im Film poststrukturalistisch mit Historizität umgegangen und das romantische Genieverständnis angepasst bzw. dekonstruiert. Trotz der aufwendigen und um Authentizität bemüht wirkenden Kulissen, Requisiten und größtenteils auch der Kostüme wird ein eigenes Verhältnis zu der dargestellten Vergangenheit eingegangen, wie Elizabeth Klett ausführt: „When we consider these two aspects of the film, anachronism and accuracy, it becomes evident that Shakespeare in Love is creating a dialectical realitionship between past and present.“1 Bettina Boecker bemerkt in ihren Überlegungen zu Shakespeares elisabethanischem Publikum ebenfalls die Gegenwartsüberformung in Bezug auf Shakespeare: So schafft sich die Shakespearerezeption je nach ihren eigenen Bedürfnissen einen fiktiven Autor und ein fiktives Publikum, die in einer fiktiven Epoche situiert sind, um die mit Shakespeares Status als Nationaldramatiker nicht vereinbaren Elemente seiner Stücke in einen scheinbar objektiv gegebenen Kontext der historischen Fremdheit zu integrieren.2

1

Elizabeth Klett, S. 25, Hervorhebungen im Original.

2

Bettina Boecker, S. 19.

158 | EINZELANALYSEN

Für den Film gilt dabei nicht nur die Überformung Shakespeares als englischer Nationalpoet, sondern als englischsprachiger Poet, der auch für Amerika, insbesondere ‚Hollywood‘ seinen Wert als Kulturgut besitzt.3 Diese Verknüpfung wird in SHAKESPEARE IN LOVE bereits über die englisch-amerikanische CoProduktion hergestellt und spiegelt sich auch in der Besetzungsliste wider, die sowohl britische als auch amerikanische Schauspieler aufweist. Sarah Mayo stellt in ihrer kritischen Betrachtung des Films zu dieser ‚Amerikanisierung‘ Shakespeares fest, dass one of the ways in which Shakespeare in Love attempts to resolve the adversarial relationship between high culture and popular culture established by modernism is by the triumphant Hollywoodization of the Shakespearean world, which it achieves by means of the insertion of a series of paradigmatic references to the Hollywood industry into the context of a beautifully re-created Elizabethan theatre complete with local Bankside colour. But, at the same time as Shakespeare in Love re-creates the Shakespearean theatre as a little Hollywood, it also stresses the historical peculiarities of that theatre and the academic discourses which surrounded it, particularly by its evocation of the metaphor of the theatrum mundi.4

Bereits die erste Szene, in der William Shakespare oder ‚Will‘ auftritt, zeigt, wie der Film den Dramatiker als fiktive Figur konstruiert. Während Will zerknüllte Seiten, auf denen er zuvor eifrig geschrieben hat, in seinem Zimmer herumwirft, gestattet die Kamera einen Blick auf die dabei getroffenen Gegenstände: Ein Papierknäuel landet neben dem durch Hamlet mit Shakespeare assoziierten Totenkopf,5 eine andere in einer Tasse, deren Aufschrift „A Present From StratfordUpon-Avon“ lautet und nach einem für die Filmrezipient/innen zeitgenössischen Souvenir aussieht.6 Das so etablierte ahistorische Erzählen des Films macht deutlich, dass es nicht seine Intention sein kann, einen historisch authentischen William Shakespeare darzustellen, sondern einen Will, der zur (Pop-)Ikone stilisiert wird, um somit nicht nur einen Zugang zum zeitlich distanzierten elisabethanischen England herzustellen, sondern auch einen Bezug zur aktuellen Gesell-

3

Mit ANONYMOUS als vorläufigem Endpunkt fiktiver Werkgenesen wird die mit SHAKESPEARE IN LOVE etablierte Darstellung des Autors als Kulturgut negiert, indem die Fiktionalität unserer Vorstellung von Shakespeare ins Zentrum der Darstellung gerückt wird. Vgl. Kapitel 10 dieser Arbeit.

4

Sarah Mayo, S. 308, Hervorhebungen im Original.

5

Vgl. beispielsweise Jonathan Bate, S. 253-258.

6

Vgl. John Madden, 00:03:55-00:04:36.

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schaft zu ermöglichen.7 Dies geschieht über die drei in den fiktiven Werkgenesen vorhandenen Referenzebenen. Gerade die Ebene der Medienreferenzen spielt im Gegenwartsbezug eine bedeutsame Rolle, indem sie auf aktuelle Problematiken des Films Bezug nimmt, um sich medial im Zeitalter der Digitalisierung neu zu verorten. Hierfür werden die Medien der Schrift in Form des Dramentexts, das Theater und die filmische Qualität der Kameraführung prominent im Film platziert. Die drei Medien Schrift, Theaterbühne und Film stehen in Wechselwirkung zueinander, da sie gegenseitig auseinander hervorgehen und ihre jeweilige Thematisierung bedingen: Dabei wird der schriftliche Dramentext auf die Bühne gebracht und gleichzeitig die so entwickelte Bühnentradition filmisch narrativiert. Die Konstruktion ‚Will‘ und die autobiographische Umdeutung der Dramen Shakespeares nimmt ihren Startpunkt in der Schrift. Bereits die erste Einstellung zeigt den hier unhinterfragt als Autor präsentierten Will beim eifrigen Schreiben. Doch ist er nicht, wie von Henslowe zunächst angekündigt, dabei, seinem Drama den letzten Schliff zu verpassen. Er ist auch nicht, wie seine frustrierte Geste des Zerknüllens der Blätter andeutet, dabei, überhaupt nur einen Anfang für das Drama zu finden. Statt eines Dramas schreibt Will seinen Namen nieder – in den verschiedenen, von Shakespeare überlieferten Schreibweisen –8 und konstruiert sich damit selbst als das Kunstprodukt ‚William Shakespeare‘, dessen Vermarktung bis heute ‚boomt‘, wie auch die Wiederholung einer fiktiven Werkgenese (wenn auch unter anderen Vorzeichen) mit ANONYMOUS nur 14 Jahre später zeigt. Mit dem Austesten der unterschiedlichen Schreibweisen seines Nachnamens legt Will fest, wie er bzw. sein historisches Pendant gelesen werden soll. Während er noch eifrig am Wegstreichen der Schreibweisen ist, die ihm missfallen, zeigt der gleichzeitig mit Wills Federführung über das Filmbild geschriebene Filmtitel, dass seine Selbstkonstruktion letztlich erfolgreich sein wird, denn der Film nutzt eben jenes Konstrukt bereits, dessen Entstehung mit dem Beginn der fiktiven Werkgenese angelegt wird und dessen erste Phase mit Wills Autogramm im Schlangenkopf für Rosaline abgeschlossen wird.9 Allgemein stellt Catherine Belsey in ihrer Untersuchung der Namen in Romeo and Juliet fest, dass „[t]he name is a trapping, inessential, inherited or given, a reminder that the individual’s autonomy is always imaginary, the effect of a place allotted by oth-

7

Diesen Gedanken machen neben Sarah Mayo im obigen Zitat auch Richard Burt, S. 217 und John Blakely, S. 250-254 stark.

8

Vgl. Kenneth Womack, S. 156; Richard Burt, S. 219.

9

Vgl. John Madden, 00:03:42-00:04:44, 00:10:27-00:11:08.

160 | EINZELANALYSEN

ers, by the family, by a whole culture.“10 William Shakespeare ist somit nicht mehr nur der Name einer Person, sondern, wie der Film nahelegt, einer Kunstfigur, die sich über die Dramen in unser kulturelles Leben eingeschrieben hat. Wills Bedürfnis, Autogramme zu geben, steht aber nicht nur im Zusammenhang mit seiner Selbstkonstruktion, sondern darüber hinaus mit seinem Verlangen nach Anerkennung und Geltung. Als angeheuerter Dramenautor Henslowes muss er ständig seinem Geld für die Dramen hinterherlaufen: [Henslowe:] I gave you three pounds a month since. [Will:] Half what you owed me. I am still due for One Gentleman of Verona. […] [Henslowe:] … Will! What is money to you and me? I, your patron, you my wordwright! […] [Will:] Mr Henslowe, will you lend me fifty pounds? [Henslowe:] (staggered) Fifty pounds? What for? [Will:] Burbage offers me a partnership in the Chamberlain’s Men. For fifty pounds my hired player days are over. [Henslowe:] Cut out my heart! Throw my liver to the dogs! [Will:] (answering for him) No, then. […] I am still owed money for this play, Burbage. [Burbage:] Not from me. I only stole it. When are you coming over to the Chamberlain’s Men? [Will:] When I have fifty pounds.11

Will wurde für sein letztes Stück Two Gentlemen of Verona nur zur Hälfte bezahlt, weshalb er wortgewandt den Titel ebenfalls um die Hälfte reduziert.12 Um diesem Zustand zu entgehen, plant er daher, sich in die Theatertruppe von Henslowes Konkurrenten Burbage einzukaufen und endlich von seinem Status als „Nobody. The author“13 fortzukommen. Auf diese Weise muss er sich auch über die plakativ ausgewiesene, minimalistische Bezahlung als Dramenautor keine Sorgen mehr machen, denn als Burbages Teilhaber erhielte er einen entsprechenden Anteil am Gewinn. Dieser Aspekt des Films verarbeitet zum einen historisch belegte Tatsachen, wie Stephen Longstaffe ausführt: „It was Shakespeare’s financial share in the Globe and other assets of his theatrical company which made him his fortune (although his plays contributed to the company’s

10 Catherine Belsey, S. 53. 11 Marc Norman/Tom Stoppard, S. 10f., 18. Hervorhebungen im Original. 12 Der Film schafft also nicht, wie Burt vermutet, lediglich einen neuen Titel, vgl. Richard Burt, S. 209. 13 Marc Norman/Tom Stoppard, S. 52.

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success, he would have been paid very little for delivering the script itself).“14 Zum anderen wird hier ein weiteres Mal ein ahistorischer Bezug hergestellt, indem Wills Situation der eines Drehbuchautoren (wie oben am Beispiel von ADAPTATION diskutiert)15 gleichgesetzt wird. Autorschaft wird hierbei erneut zum schlecht bezahlten Beruf, der (zunächst) jeglicher Idealisierung enthoben wird: Als angeheuerter Schreiber des Produzenten Henslowe wird von Will erwartet, dessen Wünsche, die die des Theaterpublikums darstellen (sollen), in seinem nächsten Werk zu berücksichtigen, obwohl er Henslowes Ideen lächerlich findet.16 Gleichzeitig muss er versuchen, den Star der Truppe, Ned Alleyn, bei Laune zu halten. So macht Will Ned die Rolle des Mercutio schmackhaft, wenn er seine Schilderung so formuliert, als ob dieser die Hauptfigur des neuen Stücks sei.17 Trotz seiner über die Filmhandlung konstant gehaltenen finanziellen Abhängigkeit gelingt es Will schließlich, sich und sein Werk von Henslowe und Alleyn zu emanzipieren und die ursprünglich verlangte Piratenkomödie in Romeo and Juliet umzuschreiben. Seine anfängliche Arbeit an dem Drama, dessen Entstehungsgeschichte erzählt wird, ist noch ganz dem von Henslowe in Auftrag gegebenen Schema des „crowd-tickler – mistaken identities, a shipwreck, a pirate king, a bit with a dog, and love triumphant“18 verhaftet. Auch in seinem Brief an den vermeintlichen Thomas Kent beschreibt Will die Rolle des Romeo noch als Protagonist einer Piratenkomödie voller Verwechslungen, angepasst an den durch die Königin geprägten Geschmack, während Liebeserklärungen im Theatersaal einzunicken, aber die Anwesenheit eines Hundes auf der Bühne mit schallendem Gelächter zu honnorieren:19 [Viola:] (delighted) He sees himself in me! Romeo Montague, a young man of Verona! [Nurse:] (unimpressed) Verona again.

14 Stephen Longstaffe, S. 56. 15 Vgl. Kapitel 2.2.2 dieser Arbeit. 16 Vgl. John Madden, 00:05:43-00:05:50. Auch Boecker zeigt, dass die Theater der Renaissancezeit immer wieder als gewinnorientierte Unternehmen verstanden werden. Vgl. Bettina Boecker, S. 34f, 50, 257-259. 17 Vgl. Marc Norman/Tom Stoppard, S. 53. 18 Ebd., 6. 19 John Madden, 00:11:24-00:12:43.

162 | EINZELANALYSEN [Viola:] (devouring the letter) A comedy of quarrelling families reconciled in the discovery of Romeo to the very same Capulet cousin stolen from the cradle and fostered to manhood by his Montague mother that was robbed of her own child by the Pirate King!20

Über seine Liebesbeziehung zu Viola, die – wie nachfolgend diskutiert wird – Elemente der Tragödie vorwegnimmt, wandelt sich die Piratenkomödie schnell in das bekannte Drama Shakespeares, auf das detailliert auf der Ebene der Werkreferenzen verwiesen wird. Wills Emanzipation von den Wünschen seines Produzenten manifestiert sich in seiner Loslösung von ritualistischem Gebaren. Während er unter dem Zwang steht, seine Phantasie in die von Henslowe vorgegebene Richtung zu drängen, vollzieht er vor dem Schreiben eine festgesetzte Reihenfolge von Handlungen, um sich dann konzentriert zum Schreiben niederzulassen: Er nimmt die Feder, dreht sich einmal um die eigene Achse, reibt die Feder zwischen den Händen, spuckt aus und setzt sich.21 Nachdem er, inspiriert von seiner Begegnung mit Viola, seiner schöpferischen Kraft freien Lauf lässt, wird auf dieses Ritual verzichtet. Der Fokus rückt fort von der Notwendigkeit Wills, seine Schreibblockade zu überwinden, um weiterhin seinen Lebensunterhalt verdienen zu können, hin zu dem inspirierten Autor, der seiner Gabe lediglich freien Lauf lassen muss.22 Die Visualisierung des Schreibprozesses an den beiden in SHAKESPEARE IN LOVE thematisierten Dramen vollzieht sich zum einen über die autobiographische Umdeutung, die eine Tragödie wie Romeo and Juliet nur realisierbar erscheinen lässt, wenn sie die Verarbeitung einer ebenfalls von Hindernissen geprägten und tragisch endenden Affäre ist, und zum anderen über die verschiedenen Szenen, in denen Will beim Schreiben gezeigt wird und sein Text auf der Theaterbühne in gesprochene Worte und Handlungen überführt werden. Während die fiktive Werkgenese von Romeo and Juliet auf diese Weise einen Großteil der Zeit im Film einnimmt, wird die als Ausblick gestaltete Entstehung von Twelfth Night im nahezu stereotypen Muster einer (Mini-)Literaturverfilmung szenisch ausgearbeitet, während Wills Voice-Over seine Idee zu diesem neuen Drama erläutert. Es bleibt dabei in der Schwebe, ob der gezeigte Schiffbruch und Violas Überleben nur in Wills Imagination geschehen oder Violas Schiff auf der

20 Marc Norman/Tom Stoppard, S. 43. Hervorhebungen im Original. 21 Vgl. John Madden, 00:13:09-00:13:14. 22 Wobei zu beachten bleibt, dass der Film den Begriff ‚Genie‘ mit einer eigenen Bedeutung ausstattet, die von der romantischen Konzeption abweicht. Vgl. für das Genialitätskonzept Kapitel 4.2.3 dieser Arbeit.

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Überfahrt nach Virginia tatsächlich parallel zu Wills Schreibarbeit sinkt und sie als einzige Überlebende ihre neue Welt in Virginia betritt.23 Die Version von Twelfth Night, die Will hier schreibt, weicht von Shakespeares Drama ab, da die erste Rede hier Viola zugeordnet wird und nicht Orsino. Hierin lässt sich eine Anspielung auf Trevor Nunns Verfilmung von TWELFTH NIGHT OR WHAT YOU WILL (1996)24 erkennen, in der ebenfalls zugunsten der Chronologie der Schiffbruch und Violas Flucht in Männerkleidung zuerst dargestellt werden, bevor der Film sich der eigentlichen Dramenhandlung annähert. Die Adaption der Dramen in SHAKESPEARE IN LOVE beinhaltet somit gleichsam das Bewusstsein für frühere Adaptionen.25 So schließt SHAKESPEARE IN LOVE über Wills Schreibarbeit am Ende des Films den Bogen zurück zu dem Konstrukt ‚William Shakespeare‘, das neu ausgelegt und wie in Nunns Fall den filmischen Gegebenheiten problemlos angepasst werden kann. Die Fiktion des Films erlaubt es obendrein durch das Filmzitat einen vermeintlichen Entstehungshintergrund zu bieten.26 Während zu Beginn des Films Wills Schreiben des Namens mit dem Schreiben des Filmtitels verknüpft wird, wird das letzte Film-

23 Vgl. John Madden, 01:50:44-01:54:45. Auch hierbei ist zu beachten, dass es der Film mit historischen Fakten wenig genau nimmt, da die Kolonie Virginia erst 1607 mit der Besiedelung von Jamestown durch die Virginia Company gegründet wurde. Vgl. Max Zeuske, S. 623. Vgl. auch Elizabeth Klett, S. 25. 24 Trevor Nunn (Regie): TWELTH NIGHT OR WHAT YOU WILL. GB/IR/US: Renaissance Films et al. 1996. 25 Gerade hier wird die von Cardwell als unvollständig aufgefasste Verknüpfung einer Adaption lediglich an das ‚Original‘ erneut in den Fokus gerückt. Vgl. Kapitel 3.1 dieser Arbeit. 26 Blakeley bietet eine andere Lesart an, wenn er die letzte Szene als endgültig abgeschlossene Amerikanisierung Shakespeares deutet, der über den Film neben dem Konstrukt als englischem Nationalpoet auch zum Markterfolg für Hollywood werde. Vgl. John Blakeley, S. 250-254. Dieser ‚Amerikanisierung‘ Shakespeares (über diverse Verfilmungen) stehen Lynda E. Boose und Richard Burt in ihrem ersten Band Shakespeare; the movie kritisch gegenüber: „Nonetheless, this film [gemeint ist LAST

ACTION HERO, L.Z.] marks neither the unequivocal triumph of a new American cultural imperialism nor the displacement of a Shakespeare understood to be English by one who has become brashly American. As much as the film would seem to dismiss Shakespeare, it may also be understood as playing out one more version of the way that America, through the aesthetic medium that is as peculiarly American as the stage is English, tries to come to terms with its own, unregenerate fascination with the Bard of Avon.“ Lynda E. Boose/Richard Burt, S. 19; vgl. auch ebd., S. 10-12.

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bild mit Violas Wanderung fort von der Küste zum Landesinneren mit dem Abspann überschrieben. Der Film vereinnahmt so Schrift und Schreibarbeit, um seine eigenen Bilder zu erzeugen und macht damit seine Herangehensweise an das Konstrukt ‚Shakespeare‘ transparent.

5.2 D RAMA, T HEATER

UND

F ILM

Während die Hauptfigur über das Schreiben konstruiert wird, wird die Handlung von SHAKESPEARE IN LOVE hauptsächlich vom Medium des Theaters getragen. Die Schrift liefert hier (ähnlich wie das Drehbuch für den Film) eine Vorform, auf deren Basis die Theaterinszenierung erfolgen kann. Wills Schreibszenen mit zunehmender Befreiung des Talents und der Befähigung, Erlebtes zu narrativieren, werden daher immer wieder von der Darstellung des Theaters als Handlungsort und dem Motiv ‚gespielter‘ oder verkörperter Rollen abgelöst bzw. um diese ergänzt. Violas Sehnsucht nach „love that overthrows life“27 ist verbunden mit ihrem Wunsch, Schauspieler zu sein. Der Film macht immer wieder deutlich, dass die Erfüllung dieses Wunsches unmöglich ist: „Stage love will never be true love while the law of the land has our heroines played by pipsqueak boys in petticoats! […] I would stay asleep my whole life if I could dream myself into a company of players.“28 Ihrem Wunschtraum folgend, kreiert Viola ein Alter Ego, wenn sie als Thomas Kent für Wills neues Stück vorspricht. Als Will ihr dann tatsächlich eine Rolle geben will, erhält „Thomas Kent the life of Viola De Lessep’s dreaming.“29 Ironischerweise soll Viola aber nicht die weibliche Hauptrolle spielen und damit ihrem oben zitierten Vorwurf entgegenwirken. Stattdessen spielt sie als Frau die männliche Hauptrolle, während Juliet weiterhin von einem Jungen verkörpert wird. Da dies das Problem der unadäquaten Darstellung nicht auflöst, wird schnell klar, dass die in den Proben einstudierte Inszenierung unaufführbar ist. Die Unmöglichkeit dieser Aufführung wird durch die Wette zwischen Will und Wessex unter der Aufsicht der Königin weiter intensiviert: „Can a play show us the very truth and nature of love? I bear witness to the wager, and will be the judge of it as occasion arises. […] I have not seen anything to settle it yet.“30 Die Entscheidung fällt nach der Uraufführung von Romeo and Juliet, als Viola nicht länger in der Rolle Romeos auftritt, der nunmehr von Will selbst

27 Marc Norman/Tom Stoppard, S. 26. 28 Ebd., S. 25-27. 29 Ebd., S. 44. 30 Ebd., S. 94.

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verkörpert wird, sondern Juliet anstelle des im Stimmbruch befindlichen Sam darstellt. Der Film suggeriert daher, was Viola bereits kritisierte: dass ‚wahre‘ Liebe auf der Bühne nur dargestellt werden kann, wenn Frauenrollen von Schauspielerinnen verkörpert werden. Das anfängliche gender-crossing durch die Besetzung weiblicher Figuren mit männlichen Schauspielern und der männlichen Hauptfigur durch eine Schauspielerin wird entsprechend Violas Vorwurf geschlechterübergreifend ausgeweitet (denn auch Viola kann – zumindest außerhalb des Theaters – als Mann nicht überzeugen) und letztlich in einen heteronormativen Darstellungsmodus aufgelöst: [Boatman:] Thank you, my lady! [Will:] (stunned). Lady? [Boatman:] Viola De Lesseps. Known her since she was this high. Wouldn’t deceive a child.31

Innerhalb des Theaters hingegen stellt niemand die ‚Männlichkeit‘ von Thomas Kent infrage. Will kann das Schauspiel erst durchschauen, nachdem der Bootsmann ihn darüber in Kenntnis gesetzt hat. Dies grenzt an Ironie, da gerade die Schauspieler eigentlich im Stande sein müssten, diese Maskerade zu durchschauen, zählt sie doch (besonders für die Darstellung von Frauenfiguren) zur täglichen Arbeit. Doch gerade die Schauspieler – vielleicht weil sie nicht davon ausgehen, dass jemand ihnen etwas vorspielen könnte, vielleicht auch, weil sie so sehr damit leben, Rollen zu spielen, dass sie es nicht mehr hinterfragen – sind es, die Tilney mit seiner Anschuldigung, Thomas Kent sei eine Frau, und der damit verbundenen Schließung des Theaters, überrascht.32 Der Film arbeitet damit mit dem von Phyllis Raskin in „Shakespeare and Women“ als ‚Fiktion‘ enttarnten Gebot, dass Frauen auf der Bühne verboten wären: Although the company William Shakespeare joined, like the other London-based professional companies, did not include women players, there was no legal prohibition against performances by women. […] The reason why English professional companies excluded women from the stage has never been satisfactorily explained, but one of the reasons may have been the players’ interest in improving their status. The business of playing was new in late sixteenth-century London, and it was often condemned as a dangerous innovation. The players clearly knew that their exclusion of women was anomalous, and they seem to have exploited that anomaly in an effort to establish their business on a respectable foot-

31 Ebd., S. 66. 32 Vgl. John Madden, 01:21:15-01:22:28.

166 | EINZELANALYSEN ing. Excluding women from their companies may have been an attempt to insulate themselves both from the taints of effeminacy and immorality that were associated with theatrical impersonation and from the low social status of travelling players. The exclusion of women made the new professional companies look more like the male students who performed Latin plays at Oxford and Cambridge and less like the amateurs who performed in village festivals or the wandering professionals who travelled across the countryside from time immemorial, both of which included women as well as men. It also provided a basis for claiming superiority to the European professional companies that did include women.33

Die Handlung von SHAKESPEARE IN LOVE stützt sich weitestgehend auf dieses häufiger mit dem elisabethanischen Theater verknüpfte Faktoid,34 um die notwendige Dramatik im Handlungsgefüge erzeugen zu können. Violas Rollenspiel macht nur Sinn, solange ihr als Frau das Leben als Schauspieler verwehrt bleibt. Sie spielt so in der Uraufführung von Romeo and Juliet den Schauspieler Thomas Kent, der in Violas Brautkleid Juliet verkörpert, was die Figuren endgültig miteinander verschmelzen lässt. Da die Bühnenpraxis es vorsah, dass zeitgenössische Kostüme Verwendung fanden, wird die Kostümwahl nicht weiter problematisiert, denn „some costumes, indeed, were sourced from courtiers. For many Elizabethans, these were as close as they could get to the high fashions of the court, even if they were last season’s fashions.“35 Entsprechend des Faktoids hat Viola als Mann auf der Bühne keinen Erfolg, da sie aufgrund ihrer Brüste (dem Weiblichkeitssymbol schlechthin) als Frau identifiziert wird.36 Erfolg wird ihr erst zugesprochen, als sie als Frau in einer weiblichen Rolle das Publikum des Curtains in ihren Bann zieht. Als Tilney sie auch hier anklagen will, schreitet die Königin ein und deckt Viola: „Yes, the illusion [Thomas Kents vermeintliche

33 Phyllis Raskin, S. 41-43. 34 Vgl. Marcus Junkelmann, S. 15. 35 Stuart Hampton-Reeves, S. 116. 36 Peter Stallybrass stellt in seinem Aufsatz „Transvestism and the ‚body beneath‘“ einige Überlegungen zu der Darstellung des Frauenkörpers durch einen Jungen an und beschäftigt sich besonders mit der Frage, wie dem Körper eines Jungen dieses Symbol der Weiblichkeit zugeschrieben werden kann. Was er für den männlichen Körper im Frauenkostüm aufzeigt, wird in „Shakespeare in Love“ parallelisiert, indem einem weiblichen Körper Männlichkeit durch das Abbinden der Brust und männliche Kleidung zugeschrieben, er sogar mit dieser gleichgesetzt wird. „The power of clothes, like language, to do things to the body is suggested in both dramatic and non-dramatic texts, and it is this power of clothes which is so insistently asserted by antitheatricalists.“ Peter Stallybrass, S. 203.

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Ähnlichkeit zu einer Frau, L.Z.] is remarkable and your error, Mr. Tilney, is easily forgiven, but I know something of a woman in a man’s profession, yes, by God, I do know about that.“37 Damit gibt auch die Königin zu, eine Rolle zu spielen. Queen Elizabeth wird, nach Richard Burt, in SHAKESPEARE IN LOVE als „less powerful, if more humane, than is usually the case in mass culture films about her“38 dargestellt. Obwohl die Königin in Violas Fall als seine Art dea ex machina auftritt, gesteht sie durch ihren Vergleich der eigenen Situation mit Violas Rollenspiel ihre individuelle Beschränkung als Frau ein. Nicht nur die weiblichen Filmfiguren spielen Rollen, sondern auch Will wird durch seine Verkörperung der unterschiedlichen Dramenfiguren Shakespeares als Figur immer wieder neu inszeniert. So spielt Will letztlich in der Inszenierung von Romeo and Juliet im Curtain Theatre Romeo, verkörpert aber zuvor während der Proben und in seiner Beziehung zu Viola die Rolle der Juliet. Es wurde häufig bemängelt, dass SHAKESPEARE IN LOVE versucht, sich über eine konventionelle Liebesgeschichte als Mainstream-Film zu etablieren – immerhin wird eine mögliche Homoerotik, wie sie eine autobiographische Lesart der Sonette nahelegt, konsequent negiert: Bei Küssen zwischen Will und Thomas Kent ist dem Zuschauer stets bewusst, dass unter Thomas Kents angeklebtem Bart eine Frau steckt. Ähnlich verhält es sich mit dem als Violas Anstandsdame Wilhelmina verkleideten Will, der als letztes Zeichen seiner Männlichkeit seinen Bart behält.39 Will ist bei seinem Versuch eines Geschlechtertauschs ebenso erfolglos wie Viola: Die Königin durchschaut die Maskerade auf den ersten Blick.40 Da der Film den Hintergrund zu einer autobiographischen Lesart von Romeo and Juliet und einigen anderen Dramen innerhalb der Filmdiegese zu etablieren versucht, scheint die konsequente Verneinung einer möglichen Homoerotik auf den ersten Blick einen Widerspruch zu bilden. Deshalb präsentieren Marc Norman und Tom Stoppard „the most famous of these love poems, „Shall I compare thee to a summer’s day“, as an inspired gift of Shakespeare to the lovely Viola de Lesseps; perhaps Shakespeare’s beautiful young man was simply a cross-dressed woman after all.“41 Der Kritik, die Konventionen des Mainstream-Kinos bedienen zu wollen, wird über die unterschiedlichen ‚Rollenspiele‘, die eine Verwirrung der ansonsten traditionell ausgerichteten Geschlechterrollen verursacht, partiell entgegen-

37 Marc Norman/Tom Stoppard, S. 148. 38 Richard Burt, S. 211. 39 Vgl. John Madden, 00:57:36-01:01:08. 40 Vgl. ebd., 01:00:55-01:01:11, 01:45:39-01:45:53. 41 Ian McAdam, S. 56. Vgl. John Madden, 00:36:08-00:36:35.

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zuwirken versucht. Will übernimmt demgemäß innerhalb der Beziehung den femininen Part, Viola den männlichen. Viola wird dem ihr vorgeschriebenen Rollenbild zum Trotz aktiv und verfolgt ihre Ziele: Sie steht auf der Bühne und holt sich Will in ihr Bett, der auch hier eher feminin wirkt und einen (schwachen) Versuch unternimmt, Violas Jungfräulichkeit zu bewahren. Dieser Rollenverteilung folgen die beiden nicht nur während der Proben, wo Will sich bei den Kussszenen eifersüchtig als Juliet auf die Bühne drängt, sondern auch in den verschiedenen Bettszenen, wo jeder den jeweils ihm bzw. ihr zugeordneten Dramentext spricht.42 Als Will versucht, aus seiner Rolle als Juliet herauszutreten, wird er von Viola prompt in seine Schranken verwiesen: „That’s my line.“43 Erst am Ende des Films mit der Aufführung von Romeo and Juliet kehren die beiden in die ‚eigentlichen‘ Geschlechterrollen zurück, der Film fügt sich damit einem vorausgesetzten heteronormativen Mainstream-Geschmack. Neben diesem Spiel mit für das Theater herkömmlichen Darstellungen von Rollen, bedient sich der Film auch einer ungewöhnlicheren Kombination von Medien: Auf auffällige Weise werden der statische Theaterraum und die bewegliche Kamera miteinander verknüpft. Bereits die erste Einstellung des Films macht diese Symbiose der beiden Medien deutlich: Die Kamera zeichnet in ihrer kreisenden Bewegung den kompletten Bühnenraum des elisabethanischen Theaters nach und fährt von den ‚Heavens‘ über die Bühne und die (noch) leeren Galerien zu der unter der Bühne befindlichen ‚Hell‘ und verweilt auf dem Boden der Groundlings, wo sich nur die Ankündigung eines Theaterstücks befindet. Mit dieser kreisenden Fahrt wird auf die Möglichkeit der Kamera verwiesen, den statischen Raum des Theaters dynamisch zu erkunden, wenngleich das leere Theater trotzdem noch nicht ‚lebendig‘ bzw. ‚belebt‘ ist. Die zweite Bühne, die eng mit der Kamera verknüpft wird, ist die von Whitehall. Doch ist hier nichts von der zuvor gezeigten Vitalität der Kamera zu spüren. Sie verharrt beinahe ebenso statisch wie die für die Aufführung errichtete Bühne, den davor positionierten Zuschauer/innen und mit Kempes Ausnahme auch den Schauspielern auf ihr.44 Lediglich hier folgt die Kamera seinen wilden Bewegungen, doch sind diese Kameraschwünge nicht eigenständig, sondern entstehen durch die Notwendigkeit den Schauspieler im Filmbild zu halten, ähnlich der Augenbewegung des Publikums, die den Sprüngen des Schauspielers folgt. Insgesamt zeigt sich während Kempes Auftritt das von Lachen geschüttelte Publikum aktiver, wohingegen die Kamera weiterhin still verharrt. Die einzige Un-

42 Vgl. Marc Norman/Tom Stoppard, S. 67, 71-87. 43 Ebd., S. 81. 44 Vgl. John Madden, 00:11:27-00:12:28.

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terbrechung dieser Statik ist die Aneinanderreihung der unterschiedlichen, wiederum unbewegten Einstellungen, die in einem Schuss-Gegenschuss-Prinzip zwischen Bühne und Publikum wechseln. Es manifestiert sich der Eindruck, dass auch hier das Theater, obwohl der Zuschauerraum gut besucht ist und die Bühne von Schauspielern bevölkert wird, nicht ‚lebendig‘/‚belebt‘ sei. Die einzige längere Kamerafahrt der Szene ist ein Close-Up auf Viola, die voller Inbrunst, aber tonlos Silvios Monolog mitspricht.45 Durch den Einsatz der Kamera kommt es zur ‚mise en abyme‘-ähnlichen Struktur, da die Kamera auf der Diskursebene eine ähnliche Funktion erfüllt wie die auf der Handlungsebene stattfindende Wette zwischen Will und Wessex und damit die These, dass das Theater nur dort wirklich wirken kann, wo ‚echte‘ Gefühle vermittelt werden, ins Unendliche vervielfältigt wird. Erst in der endgültigen Inszenierung von Romeo and Juliet erreichen Kamera und Theater gemeinsam Vitalität und Dynamik, wenn Viola und Will die Dramenhandlung vor dem Hintergrund ihres persönlichen Scheiterns als Paar darstellen. Kenneth Womack interpretiert das Hinarbeiten des tragischen Paares auf die Inszenierung des Dramas als eigentlichen Sinn ihrer Beziehung: „While realtiy promises to end their affair, Will and Viola never lose sight of their larger artistic mission. Real life ceases to matter, for the lovers implicitly realize that the play is truly the thing.“46 Vor Beginn der Inszenierung als Höhepunkt des Films wiederholt die Kamerafahrt durch das Curtain die anfängliche Fahrt durch das leere Rose Theatre, doch diesmal sind Galerien und Parkett gefüllt von erwartungsvoll in das Theater strömenden, sich angeregt unterhaltenden Zuschauer/innen aller Gesellschaftsschichten: von der Königin über Aristokraten, Bürger aus Mittel- und Unterschicht, Prostituierte und selbst der Puritaner Makepeace.47 Diese Kamerafahrt macht darauf aufmerksam, wie wichtig auch das Publikum für den Erfolg dieser Inszenierung ist. Bettina Boecker erläutert die immense Bedeutung des Theaterpublikums generell und speziell für Shakespeares Dramen: Innerhalb des Theaterkontextes ist das Publikum zudem aufgrund des Prinzips der triadischen Kollusion von besonderer Bedeutung. Aus dem Zusammenspiel von Publikum, Bühne und Werk, das zum Zustandekommen der theatralen Illusion nötig ist, ergibt sich

45 Vgl. ebd., 00:12:43-00:13:05. 46 Kenneth Womack, S. 158. 47 Vgl. John Madden, 01:28:36-01:28:50. Dies folgt der von Boecker aufgezeigten Deutung des elisabethanischen Theaterpublikums seit dem 18. Jahrhundert als schichtund einkommensübergreifend. Vgl. Bettina Boecker, besonders S. 82f, 160, 175, 179, 245-257.

170 | EINZELANALYSEN die Möglichkeit, von jedem der beteiligten Elemente auf eines der anderen zu schließen. Im Falle Shakespeares wird dies insbesondere dann relevant, wenn das Werkelement um die Komponente des Autors erweitert wird, so dass vom Werk auf den Autor geschlossen werden kann, in umgekehrter Richtung aber auch auf das Publikum. Autor und Publikum treten vermittels des Werks also in direkte Relation. Für die Konstruktion Shakespeares als site of meaning erhält das elisabethanische Publikum damit eine nicht zu unterschätzende Bedeutung, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil seit der durch die Romantik initiierten neuen Wertschätzung des (Autor-) Individuums das Konzept der (historischen) Authentizität virulent wird.48

Das Publikum verhält sich dabei sowohl so wie es für das elisabethanische Publikum heute angenommen wird, indem beispielsweise im Theater gegessen wird, als auch wie ein modernes Publikum, das nahezu andächtig auf die Inszenierung fokussiert ist. So ist am Ende der Aufführung das Publikum zu erschüttert, um sofort in Applaus auszubrechen, der dann aber umso ekstatischer wird – besonders vom eigentlichen Theatergegner Makepeace,49 der mit diesem Stück, das eben keine Zurschaustellung von Unzucht, sondern die Darstellung von etwas ‚Authentischem‘ ist, seinem Namen entsprechend, seinen Frieden mit dem Theater machen kann. Einzig die Amme bedient das Motiv der Interaktivität zwischen Schauspieler(in) und Elisabethanischem Publikum, indem sie auf Juliets (rhetorische) Frage, wo Romeo sei, antwortet.50 Bei der Inszenierung von Romeo and Juliet gibt es keine Unterbrechungen, wie der Zwischenruf der Königin bei der Aufführung in Whitehall,51 denn das hier präsentierte ist für die Zuschauer/innen zu ‚echt‘, als dass sie anders als mit Ehrfurcht reagieren könnten. Auch hier bleibt der Film seiner Linie von Authentizität und Ahistorizität treu. Dies entspricht einer Interpretationslinie, die Boecker nachzeichnet und die es dem Filmpublikum des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts ermöglicht, sich trotz aller historischen Fremdheit mit dem elisabethanischen Publikum über die langen Kamerafahrten zu identifizieren: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fungieren die englischen Theaterbesucher der frühen Neuzeit zunehmend weder als Gegenbild zur eigenen Identität noch als rückwärtsgerichtete Utopie eines harmonischen gesellschaftlichen Miteinanders, sondern als histori-

48 Ebd., S. 13. Hervohebungen von im Original. 49 Vgl. John Madden, 01:41:38-01:43:12. 50 Vgl. ebd., 01:40:03-01:40:35. 51 Vgl. ebd., 00:12:20-00:12:26.

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sche Rückwärtsprojektion der eigenen Befindlichkeit – nicht mehr bloß Shakespeare erweist sich als ‚our contemporary‘, sondern auch seine ursprünglichen Zuschauer.52

Im Film wird die ‚triadische Kollusion‘ um den vierten Aspekt der Filmzuschauer/innen erweitert. Diese werden durch die Kamera während der Inszenierung stets in der Schwebe zwischen der Position der diegetischen Theaterbesucher/innen und der der Schauspieler/innen gehalten, insofern als das Filmpublikum auf, hinter und vor der Bühne positioniert wird.53 Die Beweglichkeit der Kamera ist geknüpft an das Fortschreiten der dramatischen Handlung, wo die Handlung verlangsamt wird, wird auch die Kamerabewegung ‚eingefroren‘. Dies passiert beispielsweise bei dem gestotterten Einstieg des Prologs. Als der Sprecher auf die Bühne tritt, folgt die Kamera in einer Fahrt seiner Bewegung; wenn der Stotternde dann aber zunächst nicht über das erste Wort hinauskommt, verharrt auch die Kamera in statischen Einstellungen auf Wabash, Will und das Publikum. Erst als Wabash sein Stottern überwindet und seinen Text flüssig vortragen kann, kehrt die Kamera wieder zu ihren längeren Fahrten zurück und verzichtet auf das während des Stotterns verwendete Schuss-Gegenschuss-Prinzip.54 Die Kamera wird in SHAKESPEARE IN LOVE mit einer eigenen ‚Rolle‘ versehen, denn erst durch sie wird das im Film geschriebene und für die Bühne vorbereitete Drama und daran geknüpft die Filmhandlung erzählbar. Die auf der Handlungsebene narrativierte fiktive Werkgenese braucht daher die Referenz auf alle drei Medien für ihre Darstellung: das Drama als Ausgangspunkt ihrer Handlung, die Inszenierung des Dramas als Charakterisierung seiner Handlungsträger und die Kamera als eine Art Erzähl- und Reflexionsinstanz, die Handlungs- und Diskursebene vereint.

5.3 D IE R OMEO AND J ULIET -K ONSTRUKTION Neben dieser ‚mise en abmye‘-ähnlichen Struktur über die Medienreferenzen wird ein Großteil der filmischen Handlung von den Referenzen auf das Einzelwerk Romeo and Juliet, aber auch durch verstreute direkte wie indirekte Zitate auf das Gesamtwerk Shakespeares eingenommen. Dies geschieht über die Auslegung von Shakespeares Schreibprozess als autobiographisch beeinflusst,55 wie

52 Bettina Boecker, S. 263. 53 Vgl. John Madden, 01:28:51-01:43:12. 54 Vgl. ebd., 01:30:26-01:31:24. 55 Vgl. Jonathan Bate, S. 354 und weiterführend S. 184.

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sie mit dem ahistorischen Kunstprodukt ‚Will‘ inszeniert wird. Nicht nur über Wills Umgebung wird die Filmhandlung aus ihrer historischen Umgebung herausgelöst (z.B. das Souvenir aus Stratford-Upon-Avon), sondern auch über Wills Kostümierung mit einem „punkish leather doublet.“56 Will wird im Verlauf der Handlung daher auch weniger über die vereinzelten, historisch belegbaren Fakten aus Shakespeares Leben dargestellt, sondern über dessen Dramenfiguren konstruiert.57 Obwohl der Film mit seiner eher herkömmlichen Liebesgeschichte auch für Zuschauer verständlich ist, die von Shakespeare nur dessen Namen kennen, baut der Film einen Großteil seiner Komik über die Parallelen zu den Dramenfiguren und der daraus resultierenden Erwartungshaltung des Publikums auf.58 Wenngleich bekannt ist, dass Shakespeare Dramen seiner Vorgänger als

56 Elizabeth Klett, S. 25. 57 Dieser Vorgang ist, wie Bate anmerkt, in der Literaturwissenschaft nicht unüblich: „In the absence of external evidence, biographers have sought to unearth anecdotes of the author’s youth from details in his plays. This is a very dubious procedure.“ Jonathan Bate, S. 6. Einem ähnlichen Gedanken folgt auch Gabriel Egan in seinem Beitrag zu Hiscocks und Longstaffes „Shakespeare Handbook“. Vgl. Gabriel Egan, S. 173. 58 Dies ist auch möglich, da Shakespeare als der meist rezipierte Autor englischsprachiger Literatur zumindest in der westlich orientierten Welt ein solches Allgemeingut ist, dass sich nahezu jeder unter Namen wie Hamlet, Romeo und Juliet etwas vorstellen kann. Bate schreibt hierzu: „Romeo and Juliet: think of this title and one thinks first of an idea. Millions of people who have never read a word of Shakespeare instantly associate Romeo and Juliet with the idea of being in love. Shakespeare’s dramatization of their story has become Western culture’s archetypal myth of youthful passion.“ Jonathan Bate, S. 278, Hervorhebungen im Original. Womack kommt zu einer ähnlichen Überlegung: „In sharp contrast with the often more overt aspects of metanarration that mark other postmodernist texts, the levels of metanarration in Norman and Stoppard’s screenplay provide subtle but profuse cultural and literary references. Shakespeare’s stature as the most celebrated writer in the Western literary tradition and his prodigious cultural influence obviously make this kind of easy recognition possible. While audience members clearly enjoy different levels of intertextual awareness, few viewers could possibly fail to perceive the filmmakers’ various references to the plots of Romeo and Juliet and Hamlet.“ Kenneth Womack, S. 155. Hervorhebungen im Original. Dieser absolute Bekanntheitsgrad von Shakespeare führt Mark Robson zu der zynischen Bemerkung: „Every critical school or methodology has been tried out on Shakespeare’s texts, and there are more books published on Shakespeare in a year than most people will read in a lifetime.“ Mark Robson, S. 94. Für eine Übersicht der unterschiedlichen Rezeptionshaltungen gegenüber Shakespeare und seinen Wer-

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Vorlage nahm,59 wird dieser Aspekt in SHAKESPEARE IN Love ausgeblendet. Als Vorlage dienen hier ausschließlich inspirierende Erlebnisse. Will wird dadurch eng mit den im Verlauf der Filmhandlung entworfenen Dramenfiguren verbunden. Es entsteht der Eindruck, dass die thematisierten Dramen nahezu zwangsläufig aufgrund der Erlebnisse geschrieben werden müssen. Will durchlebt, was Shakespeares Dramenfiguren erleben, und verkörpert diese über weite Strecken der Filmhandlung. So wird Will zu Romeo, Hamlet, Juliet und schließlich Orsino.60 Über den fiktionalisierten Will wird auch der historische Autor (bzw. das Konstrukt ‚Shakespeare‘ mit allen Facetten der ungeklärten Urheberschaft) zur Projektionsfläche mythischer Überformung. Bate benennt diese Vorgehensweise des Films ebenfalls als Mythenbildung: Shakespeare in Love was a triumph because it replicates the technique of Shakespeare’s own plays – their mingling of high and low comedy, but also of authenticity and anachronism, fact and fiction. Tom Stoppard and his collaborators have done for Shakespeare what Shakespeare did for Cleopatra. They have transformed history into myth, and in so doing demonstrated how ‚age cannot wither him, nor custom stale his infinite variety‘.61

Als besonders geeignet für die mythische Überformung Shakespeares erweist sich Romeo and Juliet, das, wie Dympna Callaghan es formuliert, als „one of the pre-eminent cultural documents of love in the West“62 gelten muss.

ken in den einzelnen Jahrhunderten, vgl. Andrew Hiscock/Stephen Longstaffe, S. 320. So ist es wohl auch kaum verwunderlich, wenn die Filmindustrie als Massenmedium sich dieses Massenphänomens bedient. Vgl hierzu auch Jonathan Bate, S. 347349. 59 Vgl. ebd., S. 10-13. 60 Doch nicht nur Shakespeares Dramenfiguren werden zur Konstruktion von ‚Will‘ herangezogen, darüber hinaus spielt der Film auch auf kleinere Legenden an, die sich um Shakespeare ranken. Vgl. John Madden, 01:06:12-01:06:15 und Jonathan Bate, S. 24f. 61 Jonathan Bate, S. 355. Hervorhebungen im Original. 62 Dympna C. Callaghan, S. 59. Einem ähnlichen Gedanken folgt auch Mayo in ihrer kritischen Bemerkung: „It is no accident that making a Shakespeare for ‚the people‘ involves making a film about Shakespeare in love. […] One of the signals of this ‚profound continuity‘ of the past with the present is the popularity of the romantic love ideology, which, in spite of its relatively recent provenance, is often assumed to have dominated the entire historical sweep of Western literature. […] When Miramax Films agreed to make a film about the historical figure of William Shakespeare, it was important that the film concerned itself with, as John Madden puts it, ‚how [Shake-

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SHAKESPEARE IN LOVE begnügt sich aber nicht nur mit der Vermischung der Chiffre Shakespeare mit Romeo and Juliet, sondern ergänzt diese in direkten und indirekten Zitaten um Twelfth Night und Hamlet. Expositorisch wird Will als eine Kombination aus Hamlet und Romeo dargestellt. Wie Romeo zu Beginn der Dramenhandlung ist Will wankelmütig verliebt und dadurch unfähig einer Beschäftigung nachzugehen.63 Von seinen zahlreichen, vermeintlichen Musen wie „Black Sur, Fat Phoebe, Rosaline, Burbage’s seamstress; Aphrodite, who does it behind the Dog and [Trumpet, L.Z.]“,64 die ihm das Gefühl geben „as if the organ of the imagination has dried up. As if the proud tower of my genius has collapsed“65, wird im Film nur Rosaline, Burbages Schneiderin, die neben ihrer Beziehung zu Will auch eine zu Richard Burbage sowie Tilney, dem Master of Revels, unterhält, im Film näher vorgestellt. Wie auch in Romeo and Juliet dienen diese Liebschaften nur der Charakterisierung des Protagonisten und werden nach dem Auftreten der weiblichen Hauptfigur schnell vergessen. Will versetzen diese unklaren Liebesverhältnisse in einen Hamlet-artigen Zustand der Unsicherheit und des Zögerns.66 In Wills Fall ist das Fehlen von Liebe der Auslöser für eine Schreibblockade, wie er sie seinem Therapeuten Dr. Moth in seiner „weekly confession“67 schildert. Die Therapieszene ist ein weiteres Signal der unklaren historischen Einordnung und macht aus Will mehr einen Drehbuchautor Hollywoods, denn einen Dramatiker des Elisabethan Age.68 Trotz ihrer Ahistorizität werden mit der Therapieszene eine Reihe von Elementen bemüht, die mit den heutigen Vorstellungen jener Epoche verbunden werden: Als Will Dr. Moth seine Schreibblockade über phallische Metaphern schildert, geht Dr. Moth darauf ein, indem er ihm Fragen zu seinem Sexualleben stellt. Nach der Elisabethanischen Lehre, geprägt von „Plato and Aristotle, Hippocrates and Galen“,69 muss der menschliche Kör-

speare] came to write Romeo and Juliet‘: Shakespeare in Love is based on the premise that ‚this man who wrote so many extraordinary things and had so many amazing insights must have had something that happened in his life that enabled him to do that‘.“ Sarah Mayo, S. 299f. Hervorhebungen im Original. 63 Vgl. William Shakespeare (2002), I, i, 158-236. 64 Marc Norman/Tom Stoppard, S. 14. 65 Ebd., S. 14. 66 Vgl. William Shakespeare (2004), III, i, 56-88. 67 Marc Norman/Tom Stoppard, S. 13. 68 Vgl. beispielsweise Ian McAdam, S. 58; Elizabeth Klett, S. 25. 69 Ruth Leila Anderson, S. 3. Vgl. auch Susan Zimmerman, S. 5-7.

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per im Gleichgewicht sein, um ‚ordentlich‘ zu funktionieren.70 Die typischerweise mit der Epoche verbundene, zuweilen nahezu manische Rückbesinnung auf die Antike wird offensichtlich über Dr. Moths Therapievorschlag, ein Armband, (angeblich) gefunden in Psyches Tempel, zu verwenden. Will muss hierfür nur seinen Namen auf einem Stück Papier in das Glas legen und seiner Muse zum Tragen geben. Erfüllt er diese Voraussetzungen, so prophezeit ihm sein Therapeut: „The woman who wears the snake will dream of you, and your gift will return. Words will flow like a river.“71 Der zweite Teil von Dr. Moths Prophezeiung bewahrheitet sich tatsächlich, doch geht dies nicht mit dem Glauben an (vermeintliche) antike Artefakte einher, sondern mit der Überwindung dieser expositorischen Ungewissheiten durch das Auftreten Violas in der Funktion als love interest und Muse. Seine ‚wahre‘ Liebe bringt nicht nur seine Gabe zu Schreiben zurück, sondern bricht auch mit dem Glauben an die Macht der Antike, indem Rosalines Armband nach ihrer Untreue Will gegenüber und seiner Abkehr von ihr als seiner Muse zerstört wird. Das Tragen des Armreifs und Wills Schreibarbeit verlaufen unabhängig voneinander. Gleichzeitig bricht die Filmhandlung auch mit dem modernen Glauben in die Kraft der Therapie, da Will seit seiner ersten Begegnung mit Viola keinen Gedanken mehr an seine „weekly confession“ verschwendet. Im Film wird demnach vorausgesetzt, dass Will Liebe erfahren muss, um zum Schreiben über sie inspiriert zu werden. Paul J.C.M. Franssen bemerkt hierzu: „Love’s ennobling quality is obvious in Shakespeare in Love, in spite of its bitter-sweet ending. Thus the genre that Shakespeare himself pioneered has now turned him into a character, as a young author who overcomes his writer’s block and produces his first masterpieces, a romantic tragedy (Romeo and Juliet) and a romantic comedy (Twelfth Night) under the influence of love.“72 Es wird unterstellt, dass Kunst,

70 Auch in der aktuellen Gegenwart wird immer wieder Bezug auf diese Vorstellungen genommen, so dass sie präsent genug sind, um dem breiten Publikum – und nicht nur den Experten über die elisabethanische Gesellschaft – Dr. Moths Therapie verständlich zu machen. Ob diese nun in der aktuellen Vorstellung oder dem Elisabethanischen Pendant ihren Ursprung findet, löst der Film nicht auf, aber die Ähnlichkeit zum Galenischen System besteht: „The Galenic System was based on the idea that the body contained four principal humours. These humours were Phlegm, Blood, Choler and Black Bile. If an individual’s body maintained each humour in balance with the others, all would be well. But if one humour predominated, the imbalance would cause an ill humour.“ Adrian Streete, S. 138. 71 Marc Norman/Tom Stoppard, S. 16. 72 Paul J.C.M. Franssen, S. 102, Hervorhebungen im Original.

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sofern sie über die Posen des Theaters hinausreichen will,73 nur auf Erlebnissen basieren kann. Bate formuliert diese romantisierende Deutung für Shakespeares Werk allgemein: „In accordance with the Romantic theory of art, we are to imagine Shakespeare throwing himself personally into his creation. Only by doing so, the theory goes, can he enable us as spectators to see ourselves in the artwork.“74 Als Will sich in die für ihn unerreichbare Viola de Lesseps verliebt, befindet er sich von da an in einer Beziehung, die der von Romeo und Juliet ähnelt. Statt zweier verfeindeter Familien ist es in diesem Fall die Unverträglichkeit vom Berufsstand des Schauspielers und Dichters mit dem Stand des Adels, die das Liebespaar trennt.75 Neben dem Standesunterschied wird eine Verbindung von Will und Viola auch durch dessen (wenn auch nur erwähnte) Ehefrau und die arrangierte Ehe von Viola mit Lord Wessex unmöglich gemacht. Der Film baut auf der Behauptung auf, dass eine Ehe auch nicht von Queen Elizabeth annulliert werden könne, wie sie nach Violas Vermählung mit Wessex beteuert.76 Selbst eine der beiden Ehen würde demnach ausreichen, eine dauerhafte Beziehung zwischen den beiden unmöglich zu machen, durch die Dopplung der Hindernisse wird immer wieder intensiv darauf hingewiesen. Will nutzt in einem Bettgespräch mit Viola für diese Konstellation unüberwindlicher Hindernisse die Metapher eines breiten Flusses: „A broad river divides my lovers – family, duty, fate – as unchangeable as nature.“77 So wie in Romeo and Juliet das Paar unfähig ist, die Differenzen zwischen den Familien zu überwinden, bleibt es auch Viola und Will unmöglich, den Standesunterschied durch Liebe zu kompensieren und ihre Ehen zu überwinden. Das tragische Ende für die Liebenden ist somit gesellschaftlich vorgegeben, wie ihnen jederzeit bewusst ist: [Will:] You cannot! Not for the Queen herself! [Viola:] What will you have me to do? Marry you instead?

73 Vgl. ebd., S. 25-27. 74 Jonathan Bate, S. 277. 75 Zu derselben Überzeugung gelangen auch Kim Fedderson und J.M. Richardson: „Will and Viola’s affair is transferred to an Italian setting (Verona) with the feud between the Montagues and the Capulets standing in for the class feud that separates Will and Viola.“ Kim Fedderson/J.M. Richardson, ohne Seitenangaben. 76 Vgl. Marc Norman/Tom Stoppard, S. 149. 77 Ebd., S. 87.

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[Will:] (brought up short). To be the wife of a poor player? – can I wish that for Lady Viola, except in my dreams? And yet I would, if I were free to follow my desire in the harsh light of day. [Viola:] (tartly). You follow your desire freely enough in the night. […] Oh, Will! As Thomas Kent my heart belongs to you but as Viola the river divides us, and I will marry Wessex a week from Saturday. […] [Will:] My love is no lie. I have a wife, yes, and I cannot marry the daughter of Sir Robert De Lesseps. It needed no wife come from Stratford to tell you that. And yet you let me come to your bed. […] [Viola:] (declaring herself). I love you, Will, beyond poetry. […] [Will:] You cannot marry Wessex! [Viola:] If not Wessex the Queen will know the cause and there will be no more Will Shakespeare. […] But I will go to Wessex as a widow from these vows, as solemn as they are unsanctified.78

Dieses Bewusstsein führt Will zu Romeos Ausruf „O, I am fortunes fool“79, den dieser nach Tybalts Ermordung äußert. Während er für den mit Juliet verheirateten Romeo das Bewusstsein beinhaltet, dass nun doch jede Hoffnung auf Frieden zwischen den Familien verloren ist, markiert der Ausruf für Will bereits die Verurteilung zum Scheitern am Starpunkt seiner Beziehung zu Viola, die er dort zum ersten Mal in ihrem weiblichen Erscheinungsbild anspricht.80 In dieser Beziehung durchlebt Will die Szenen, die wohl als die bekanntesten aus Romeo and Juliet gelten. Komik entsteht dabei besonders dort, wo die angedeuteten Dramenszenen variiert werden und so die Erwartungshaltung des Publikums überraschend gestört wird. Auf diese Weise vermeidet der Film ein stumpfsinniges ‚Vorspiel‘ der Dramenhandlung. Wills Gefühl der ‚Liebe auf den ersten Blick‘, das er auf dem Ball im Haus der De Lesseps erfährt und das Romeos Gefühle bei seiner ersten Begegnung mit Juliet spiegelt,81 ist – wie das Filmpublikum weiß – strenggenommen kein ‚erster Blick‘, da die beiden sich bei Violas Vorsprechen in ihrer Verkleidung als Thomas Kent bereits getroffen und miteinander gesprochen haben und Viola obendrein ebenso wie Will der Aufführung in Whitehall beiwohnte.82 Im Unterschied zu Romeo, der beim Tanzen einen Dialog mit Juliet führen und sie so zu ihrem ersten Kuss überreden kann,

78 Ebd., S. 89, 110f. Hervorhebungen im Original. 79 William Shakespeare (2002), III, i, 138. 80 Vgl. Marc Norman/Tom Stoppard, S. 49. 81 Vgl. ebd., S. 46f. und William Shakespeare (2002), I, v, 41-52. 82 Vgl., John Madden, 00:12:18-00:12:24, 00:21:08-00:22:22.

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fehlen dem Poeten Will die Worte, was ihn in die passive Rolle des Reagierens setzt, während Viola die Richtung des Dialogs aktiv bestimmt, bis sie von Wessex unterbrochen werden.83 Die an den Ball anschließende Balkonszene wird in beiden Fällen mit dem geseufzten Namen Romeos verbunden: Juliet spricht von ihrem Tanzpartner, Viola träumt von ihrer Rolle, die sie als Thomas Kent darstellen will.84 Der sich daraufhin entspinnende Dialog zwischen Viola und Will folgt einem ähnlichen Muster wie der im Drama: Beide Männer entschuldigen sich, zu sein, wer sie sind; beiden droht die Entdeckung und in beiden Fällen wird der Dialog von der Amme unterbrochen.85 Doch während Romeo all dem zum Trotz nach Juliets zweitem Erscheinen den von ihm ersehnten Liebesschwur und das Versprechen auf ein Wiedersehen erhält, wird Will zur komischen Figur, als er in Erwartung Violas zum Balkon emporklettert und dort von ihrer schreienden Amme überrascht wird. Sein Sturz ins Gebüsch und seine Flucht vor den Wachen führen diesen Bruch mit der Erwartungshaltung der Zuschauer/innen fort.86 Bereits hier wird das Grundmuster gelegt, das eine stringente Lesart von Will als Romeo verhindert, da er immer wieder in ein passives, feminin anmutendes Rollenschema gedrängt wird. Obwohl Will nur bei jenen Szenen zugegen ist, in denen auch Romeo auftritt und somit eine Annäherung der beiden Figuren impliziert wird, verkörpert Will während der Dauer der Proben die Rolle der Juliet, während Romeo mit Viola in ihrer Verkleidung als Thomas Kent verknüpft wird. Die motivische Einbindung von Romeo and Juliet findet aber nicht nur während Wills Präsenz auf der Leinwand statt. So wird im Haus der De Lesseps jene Handlung angedeutet, die mit der geplanten Vermählung von Juliet und Paris einhergeht: Die Amme und Lady De Lesseps unterhalten sich über Wessex’ Antrag, von dem Viola allerdings erst später durch Wessex erfährt.87 Dennoch ist der Kern des Gesprächs identisch mit dem in Romeo and Juliet. Diese Szene kann für Will streng genommen nicht zur Vorlage werden, da er sie nicht selbst miterlebt. Da sie aber dennoch im realen Drama wie auch dessen filmischer Version vorhanden ist, nutzt der Film das Drama nicht nur, um Wills kreativen Schaffensprozess zu zeigen, sondern auch umgekehrt die Realitätsnähe des

83 Vgl., William Shakespeare (2002), I, v, 92-109 und Marc Norman/Tom Stoppard, S. 47. 84 Vgl. William Shakespeare (2002), II, ii, 33 und Marc Norman/Tom Stoppard, S. 48. 85 Vgl. ebd., S. 48f. und William Shakespeare (2002), II, ii, 50-138. 86 Vgl., ebd., II, ii, 128, 141-185 und Marc Norman/Tom Stoppard, S. 49f. 87 Vgl. William Shakespeare (2002), I, iii, 1-99 und Marc Norman/Tom Stoppard, S. 41f., 59f.

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Dramas und des das Drama darstellenden Films zu unterstreichen. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Duell zwischen Wessex und Will, das Ähnlichkeiten mit dem Kampf zwischen Romeo und Tybalt aufweist. Auch Will geht davon aus, Wessex trage die Schuld an Marlowes Tod, da er Will für ihn gehalten hat.88 Die Kampfszene kann ebenfalls nicht als Vorlage dienen, da diese Szene zu dem Zeitpunkt bereits von Will geschrieben ist und von der Truppe gerade einstudiert werden soll.89 Der fließende Übergang zwischen der Dramenhandlung (bei der Probe stehen sich gerade die Männer der rivalisierenden Familien auf der Bühne gegenüber) in den Kampf der beiden rivalisierenden Schauspielertruppen auf der Bühne, demonstriert ebenfalls die ‚Realitätsnähe‘ von Shakespeare Figuren, was zur Rechtfertigung dient, die Figur Will aus verschiedenen Dramenfiguren zu konstruieren. Die motivische Einbindung beschränkt sich aber nicht auf die Werkreferenz auf Romeo and Juliet. Es werden auch Vorgriffe auf die Inspiration zu Hamlet gemacht, die mit Wills Ausgangssituation und dem Schädel in seiner Kammer ihren Anfang nehmen und zum Teil im Drehbuch explizit thematisiert werden: „Kempe leads the dog into the wings and rummages in a box of props. He finds a skull. He has one foot on the box, his elbow on his knee, he looks at the skull … in other words he reminds us of Hamlet.“90 Schlussendlich verkörpert Will noch den liebeskranken Orsino,91 nachdem er endgültig von Viola Abschied nehmen musste, und nutzt diesen Umstand, um die von der Königin gewünschte Komödie Twelfth Night zu schreiben.92 Durch die Verbindung der Dramenfiguren mit Will wird er als Autor eng mit seiner Umwelt verbunden, die ihm zur steten Inspirationsquelle wird. SHAKESPEARE IN LOVE bezieht über die quasi-biographische Verknüpfung der Filmfigur Will mit Shakespeares Dramen klar Stellung zum Autorschaftsdisput,93 wenn Violas Frage, „Are you the author of the plays of Will Shakespeare?“ von Will mit „I am“94 beantwortet wird. Im Zuge der Handlung wird Will als Autor einerseits als Genie im romantischen Sinne konstruiert, da er seine Gefüh-

88 Vgl. ebd., S. 117f. und William Shakespeare (2002), III, i, 124-134. 89 Vgl. Marc Norman/Tom Stoppard, S. 97-101. 90 Ebd., S. 17f. Hevorhebungen im Original. 91 Vgl. William Shakespeare (2005), I, i, 1-22. 92 Vgl. Marc Norman/Tom Stoppard, S. 150-154. 93 Vgl. für die verschiedenen Positionen wie Stratfordians und Oxfordians und deren Hintergründe Jonathan Bates, S. 65-100 sowie Kapitel 10 (besonders 10.2) dieser Arbeit. 94 Marc Norman/Tom Stoppard, S. 67.

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le zu Viola spontan in Dramen niederschreibt. Doch der Geniegedanke nach romantischer Konzeption wird gleichzeitig dekonstruiert, da Will streng genommen kein ‚origineller‘ Dichter ist, der seine Dramen aus der eigenen Imagination und damit aus sich selbst heraus erschafft, sondern sich einer Reihe von inspirierenden Motiven und Inspirationsquellen bedient. Bate führt aus, wie das Mitwirken des Umfelds auf Shakespeare verstanden werden könnte: „An Elizabethan play was a collaborative work that belonged to the theatrical company which performed it every bit as much as to the dramatist who wrote it. For this reason, plays were rarely the medium for self-portraiture on the part of the writer. But for the same reason, they were quite likely to include injokes for the enjoyment of the company.“95 Entgegen dieser Annahme über das elisabethanische Theater liegt die Schreibarbeit im Film dennoch in Wills Händen. Er bleibt dabei aber von seiner Umwelt abhängig, um von ihr seine Themen beziehen zu können. Diese Abhängigkeit zeigt sich am deutlichsten über seinen omnipräsenten Rivalen Christopher Marlowe, der das Handlungsgerüst von Romeo and Juliet festlegt: [Marlowe:] What is the story? [Will:] Well, there’s a pirate … (Confesses) In truth, I have not written a word. [Marlowe:] Romeo is … Italian. Always in and out of love. [Will:] Yes, that’s good. Until he meets … [Marlowe:] Ethel. [Will:] Do you think? [Marlowe:] The daughter of his enemy. [Will:] (thoughtfully). The daughter of his enemy. [Marlowe:] His best friend is killed in a duel by Ehtel’s brother or something. His name is Mercutio. [Will:] Mercutio … good name.96

Das Verhältnis der beiden konkurrierenden Dramatiker wird wiederholt inszeniert: Will verdreht immer wieder die Augen über die angestellten Vergleiche oder Marlowes beständige Betitelung als ‚dem‘ Dramatiker. So rezitieren alle Schauspieler, außer Viola in ihrer Verkleidung als Thomas Kent, eine Passage aus Marlowes Doctor Faustus beim Vorsprechen für Wills neues Drama.97 Na-

95 Jonathan Bate, S. 6. Vgl. auch Stephen Longstaffe, S. 48 und Ros King, S. 210 für eine ähnliche Erklärung. 96 Marc Norman/Tom Stoppard, S. 34f. Hervorhebungen im Original. 97 Vgl. ebd., S. 35-38.

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türlich ist Viola die Einzige, die ihre gewählte Textpassage mit einer solchen Leidenschaft vorträgt, dass sie als Romeo prädestiniert erscheint. Doch bleibt auch die Tatsache nicht zu verachten, dass sie obendrein die Einzige ist, der durch die Auswahl des ‚richtigen‘ Textes, nämlich gerade nicht Marlowes Text für Wills neues Stück, sondern ein Ausschnitt aus Wills eigenem Werk, volle Aufmerksamkeit geschenkt wird. Hier wird bereits angedeutet, dass Will dabei ist, Marlowe als ‚den‘ Dramatiker abzulösen. Doch bleiben für ihn natürlich auf seinem Weg zum „poet of true love“98 noch weitere Hindernisse zu überwinden, wenn er sich weiterhin mit Marlowe messen lassen muss: Ned Alleyn prahlt mit seinen Rollen in Marlowes Dramen und führt nur der Höflichkeit halber auch Henry VI als eine weitere Rolle an;99 Fennyman behauptet Will gegenüber, „[t]here is no one like Marlowe“;100 nach Marlowes Ermordung gesteht Will Viola, dass Marlowe neben seiner Hilfestellung für Romeo and Juliet auch Ideen zu anderen Werken beigesteuert hat und ordnet sich so selbst dem Rivalen unter, um dessen Andenken zu ehren.101 Während Will also unter dem ständigen Druck steht, sich gegenüber dem ‚Genie‘ Marlowe zu behaupten, sieht dieser in Will – vielleicht auch aus dem Bewusstsein heraus, der Bessere zu sein – einen Kollegen, mit dem er Ideen austauscht. Auf diese Art interpretiert der Film Will als Dramatiker, der zunächst von Marlowe, dann von Viola De Lesseps für Tweflth Night102 einen groben Handlungsumriss vorgegeben und die Namen seiner Hauptfiguren diktiert bekommen muss, ehe er in der Lage ist, innerhalb des so gesteckten Rahmens seine eigenen Erlebnisse hineinzudichten und poetisch zu überformen. Dasselbe gilt für die Titel seiner Stücke, die von Ned Alleyn und Queen Elizabeth beigesteuert werden.103 Während Will sich im Verlauf der Handlung von Männern wie Ned Alleyn und Christopher Marlowe emanzipieren kann, die ihn zuvor in ihren Schatten gestellt haben und ihm zu seinen Ideen verhelfen, gerät er zunehmend in die Abhängigkeit von weiblichen Inspirationsquellen bzw. Musen (Viola und Queen Elizabeth), von denen keine Emanzipation stattfindet. Der Film spielt also mit Genderkonzepten und einem Bruch mit einem explizit männlich gedachten Geniekonzept, indem er zwei Frauen in ‚Männerberufen‘ (Königin und Schau-

98

Ebd., S. 150.

99

Vgl. ebd., S. 53.

100 Ebd., S. 54. Die ständige Wiederholung wird auch durch die anschließende Regieanweisung deutlich gemacht: „Will is used to it.“ 101 Vgl. ebd., S. 110. 102 Vgl., ebd., S. 151. 103 Vgl., ebd., S. 85, 150.

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spielerin) als Ideengeberinnen darstellt, die das Schreiben der Komödie Twelfth Night in Gang bringen.104 Wills Heraustreten aus Marlowes Schatten geschieht hauptsächlich über seine Schreibarbeit an Romeo and Juliet.105 Dass dies nicht ausschließlich mit dessen Tod zusammenhängt, zeigt Wills Abhängigkeitsgefühl, das er Viola gegenüber gesteht. Stattdessen findet Will über Romeo and Juliet seine Möglichkeit, das Drama als Gattung entscheidend weiterzuentwickeln, indem es ‚reale‘ Gefühle auf der Bühne präsentieren kann, wodurch er seinen eigenen Beitrag im Sinne eines ‚Feuerbringers‘ für die Kultur des Elisabethan Age leisten kann. Doch um diesen entscheidenden Schritt gehen zu können und zu der Ikone zu avancieren, die heute verehrt und im Film konstruiert wird, muss Will zunächst lernen, die Eindrücke, die im Lauf der Filmhandlung auf ihn einstürmen, in seine Dramen hineinzudichten. Damit erzeugt der Film jenen Effekt, den Kirk Melnikoff auch Shakespeares Schaffen unterstellt: „Shakespeare was himself no island; he, like all of us, was moulded by the world in which he was born. His society – its norms and everyday practices – irrevocably shaped his writing, and its particular social logics can be traced within the less-obvious connotations of his ubiquitous word-play.“106 Will ist zwar in der Lage, all die Eindrücke, die ihm als Inspirationsquelle dienen können, zu sammeln, doch bedarf es eines äußeren Impulses, ehe er aus diesen Eindrücken seine Dramen entwickeln kann. Im Film wird diese Umformung von Wills Erlebnissen in die Dramenhandlung zu Wills eigentlicher ‚Genialität‘ gemacht. Damit wird die romantische Idee vom ‚Genie‘ – wie in der Postmoderne nahezu typisch – dekonstruiert, die sich bis heute, wie Bates ausführt, als Definition erhalten hat:

104 Vgl. für eine ähnliche Überlegung auch Richard Burt, S. 209. 105 Dieser Vorgang wird erst nach Marlowes Tod mit der Aufführung von Romeo and Juliet abgeschlossen. Bate deutet Marlowes Tod als Startpunkt für Shakespeares Karriere. Vgl. Jonathan Bate, S. 103. Der Film verfolgt zwar eine ähnliche Interpretationslinie, doch gründet Wills Erfolg nicht allein auf dem Tod seines Konkurrenten. Worin Bates’ These und die des Films aber völlig übereinstimmen, ist die Annahme, dass „metaphorically, not literally, Shakespeare was the rival who killed Marlowe“. Ebd., S. 105. Will trägt insofern keine Schuld an Marlowes Tod, dass seine Aussage vor Wessex, er sei Marlowe, nicht zu dessen Tod geführt hat. Vgl. Norman, Stoppard, S. 47, 118. Doch durch den Erfolg von Romeo and Juliet wird angedeutet, dass durch seine Dramen Marlowes Werk in Vergessenheit zu geraten droht und er so indirekt von Will ermordet wird. 106 Kirk Melnikoff, S. 92. Auch Womack bemerkt die Nutzung von Inspirationsquellen, um Wills Schreibarbeit zu charaktersieren. Vgl. Kenneth Womack, S. 155, 157.

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Our modern conception of genius makes creativity synonymous with originality. In matters artistic, there is no more severe accusation than that of plagiarism. [...] They [Bates Studierende, L.Z.] are scandalized that Shakespeare did not make up his own story. […] But to the Elizabethans, this procedure would have been admirable, not reprehensible. For them, there was no higher mark of artistic excellence than what they called the lively turning of familiar material. This was the art of copiousness which they were taught in school: take a piece of received wisdom (a proverb, a phrase, a historical incident, a story out of ancient myth), turn it on the anvil of your inventiveness, and you will give it new life.107

Diese seit der Romantik gängige Vorstellung von Genialität wird in fiktiven Werkgenesen zu einem charakteristischen, eigenen Konzept umgeformt. Fast schon im Rückgriff auf elisabethanische Genialitätsmaßstäbe wird Genie neu besetzt, das sich durch eine scharfe Beobachtungsgabe und die Fähigkeit, Beobachtungen poetisch zu narrativeren, auszeichnet. Letztlich gilt das, was Bates ausführt: „Shakespeare’s environment did much to make his plays, but in the end what made Shakespeare uniquely Shakespeare was something indefinable, some peculiar alchemy of genes and circumstances. ‚Genius‘ is the word we reach for in order to connote this alchemy.“108 Der Film macht sich die Shakespeareforschung insofern zunutze, als er impliziert, dass Shakespeare auf Vorlagen angewiesen war, doch werden diese Vorlagen im Film nicht aus anderen Dramen oder historischen Ereignissen gezogen, hierauf verweist lediglich eine knappe Bemerkung von Lambert, er habe das Stück, von dem Henslowe spreche, bereits gesehen und nicht gemocht, woraufhin dieser entgegnet: „This time it is by Shakespeare.“109 Stattdessen sind in die Filmhandlung eine Reihe bekannter Zitate oder Szenen aus Romeo and Juliet eingebettet, die Will im Lauf seiner Schreibarbeit nutzt, um seine Figurenrede zu gestalten: Der Ausruf des puritanischen Predigers Makepeace („I say a plague on both their houses!“) wird von Will im Vorbeigehen angehört und abgespeichert, wie die Regieanweisung im Drehbuch vorschreibt („As he passes Will gratefully makes a mental note.“)110 Obwohl Makepeaces Fluch nichts mit Romeo and Juliet zu tun hat, sondern sich gegen die beiden für den Film maßgeblichen Theater Curtain und Rose und deren Zurschaustellung von Unzucht richtet, funktioniert Will den Satz um, indem

107 Jonathan Bate, S. 12. Hervorhebungen im Original. 108 Ebd., S. 158. 109 Marc Norman/Tom Stoppard, S. 6. 110 Vgl. ebd., S. 12. Hervorhebungen im Original. Diese Gedankennotiz wird im Film durch anerkennendes Nicken und mit Finger hin- und herwedeln dargestellt. Vgl. John Madden, 00:06:31-00:06:35.

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er ihn dem sterbenden Mercutio in den Mund legt und die beiden Häuser als die rivalisierenden Familien auslegt.111 Des Weiteren ist es Ned Alleyn, der als Mitglied der Schauspielertruppe eine Szene zwischen der Vermählung und dem Tod des tragischen Paars fordert und damit Will dazu anregt, das Gespräch am Morgen nach Wills und Violas erster gemeinsamer Nacht in das Drama zu integrieren.112 Damit wird das Drama zum gemeinschaftlich inspirierten Werk, wie Bate es für das elisabethanische Drama herausarbeitet.113 Für das zweite im Film verfasste Drama, Twelfth Night, wird das gleiche ‚Erfolgsrezept‘ angewandt. Auch hier nutzt Will, nachdem Viola den Impuls durch das Umreißen der Handlung gegeben hat, seine Erlebnisse, um seine Figuren zu erfinden: Viola De Lesseps wird zur Dramenfigur Viola, die als Mann verkleidet vor Orsino (der zu diesem Zeitpunkt zu Wills Alter Ego wird) tritt. Damit wird die für Romeo and Juliet vorausgesetzte Art, wie Will seine Dramen verfasst, generalisiert. Dieser Ausblick schreibt die autobiographisch inspirierte Werkgenese nicht mehr nur auf Romeo and Juliet fest, sondern überträgt sie auf Wills gesamtes weiteres Werk (und damit auch auf den als Kunstprodukt verstandenen ‚Shakespeare‘ und dessen Werk). Die in den darauffolgenden Jahren entstehenden fiktiven Werkgenesen greifen dieses Narrationsmuster immer wieder in verschiedenen Variationen auf (im Folgenden exemplarisch an den Narrationen über Dramenautoren gezeigt), was sicherlich nicht zuletzt dem kommerziellen Erfolg von SHAKESPEARE IN LOVE geschuldet ist, der mit jeder weiteren fiktiven Werkgenese erneut zu erreichen versucht wurde.

111 Vgl. Marc Norman/Tom Stoppard, S. 62 und William Shakespeare (2002), III, i, 108. 112 Vgl. Marc Norman/Tom Stoppard, S. 69-71, 112. 113 Vgl. Jonathan Bate, S. 6.

6. FINDING NEVERLAND

6.1 W ER IST P ETER P AN ? Wie mit SHAKESPEARE IN LOVE zur genretypischen Charakteristik entwickelt, wird in FINDING NEVERLAND Sir James Matthew Barries Drama Peter Pan mit seiner Biographie in Verbindung gebracht und als autobiographisches Werk gedeutet. Das von SHAKESPEARE IN LOVE etablierte Narrationsschema wird so bestätigt und weiter verfestigt. Das Vorgehen der fiktiven Werkgenese FINDING NEVERLAND ist allerdings nicht rein fiktiv zu werten, denn Barrie hat den Grundstein für mögliche autobiographische Deutungen seiner verschiedenen Werke selbst gelegt, indem er die Behauptung aufgebaut und aufrechterhalten hat, seine Figuren seien realen Vorbildern nachempfunden. Der Ursprung einer autobiographischen Lesart von Barries Peter Pan findet sich in seiner 1928 veröffentlichten Widmung „To the Five“: What I want do first is to give Peter to the Five without whom he never would have existed. I hope, my dear sirs, that in memory of what we have been to each other you will accept this dedication with your friend’s love. The play of Peter is streaky with you still, though none may see this save ourselves. A score of Acts had to be left out, and you were in them all. We first brought Peter down, didn’t we, with a blunt-headed arrow in Kensington Gardens? […] As for myself, I suppose I always knew that I made Peter by rubbing the five of you violently together, as savages with two sticks produce a flame. That is all he is, the spark I got from you. […] What was it that made us eventually give to the public in the thin form of a play that which had been woven for ourselves alone? Alas, I know what it was, I was losing my grip. […] This brings us back to my uncomfortable admission that I have no recollection of writing the play of Peter Pan, now being published for the first time so long after he made his bow upon the stage. You had played it until you tired of it, and tossed it in the air and gored it and left it derelict in the mud and went on your way singing other songs; and then I stole back and sewed some of the gory

186 | EINZELANALYSEN fragments together with a pen-nib. That is what must have happened, but I cannot remember doing it.1

Barrie erklärt hier, die Idee für Peter Pan nicht selbst entwickelt, sondern aus dem Spiel der Llewelyn Davies-Brüder entwendet zu haben, und verleugnet darüber hinaus auch jegliche Erinnerung daran, das Stück überhaupt selbst geschrieben zu haben. Damit entwickelt Barrie eine eigene Fiktion der Werkgenese für sein wohl bekanntestes Drama oder – wie er es nennt –, sein ‚dream-child‘.2 Unter dieser Annahme, Barrie habe Peter Pan unter autobiographischen Einflüssen geschrieben, etabliert FINDING NEVERLAND seine Handlung, die sowohl die Suche nach dem Inhalt von Peter Pan als auch dessen Uraufführung und Etablierung als zeitlose Geschichte der Kindermedien umspannt. So ist das Streitgespräch zwischen dem Ehepaar Barrie programmatisch für den gesamten Film anzusehen: „[James Matthew:] You needn’t steal my journal to get to know me, Mary. [Mary:] No, I suppose I could just go see the plays.“3 Historische Tatsachen aus Barries Leben, die sich aus dem erhaltenen Schriftverkehr ergeben, werden zugunsten dieser Annahme großzügig umgedeutet, um in das Handlungsgefüge zu passen: So wird James Matthew4 zwar als be-

1

James Matthew Barrie (2008), S. 75f. Hervorhebungen im Original. Barrie begann schon früh mit seiner Autorschaft von Peter Pan zu spielen, so wies das Programm der Uraufführung Miss Ela Q. May, die Darstellerin der Liza, als Autorin des Dramas aus. In der Kurzgeschichte „The Blot on Peter Pan“ (1926) verkompliziert er diese hier aufgebaute Behauptung noch weiter. Vgl. David Rudd, S. 263. Das Zitat spiegelt insgesamt Barries Selbstverständnis als Autor: Auch in anderen Werken arbeitet er damit, dass seine Dramen und Romane immer aus seinem Privatleben gegriffen seien. So lässt er den (möglicherweise nach sich selbst modellierten) Tommy Sandys in „Tommy and Grizel“ erzählen: „Some must write from their own experience, they can make nothing of anything else.“ Zitiert nach Andrew Birkin, S. 65. Desweiteren wurde Barries Hund Luath (im Film mit dem Namen seines ersten Hundes, Porthos, versehen) als Nana in Peter Pan eingearbeitet und sogar die Kleidung der Llewelyn Davies Brüder als Vorlage genommen. Vgl. ebd., S. 111.

2

Isaac F. Marcosson/Daniel Frohman, S. 369.

3

Marc Foster, 00:54:02-00:54:09.

4

In FINDING NEVERLAND wird auf eine Trennung zwischen realen und fiktiven Personen weitestgehend verzichtet, indem nicht wie in SHAKESPEARE IN LOVE der Autor ‚Will‘ als fiktiv überformtes Konstrukt von William Shakespeare explizit gemacht wird, sondern durch die um Authentizität bemühten Namen und Figurenkonstellationen die Illusion erschaffen wird, das Filmpublikum nähme an realen Geschehnissen

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gabter, aber doch aktuell (1903) wenig erfolgreicher Autor eingeführt. Sein neuestes Drama Litte Mary wird direkt nach der Premiere abgesetzt.5 Tatsächlich lief es „despite its ‚rather silly‘ plot (as The Times commented) […] for over 200 performances.“6 Ein erfolgreicher Autor zu Beginn des Stückes würde aber die Erfolgsgeschichte nur schwer realisierbar machen (wie z.B. am oben diskutieren SHADOW OF THE VAMPIRE ersichtlich wurde). Das von Syd Field postulierte Grundmuster von Drehbüchern, es ginge um „a person, or persons, in a place or places, doing his or her or their ‚thing‘“,7 kann demnach nur durch die markante Negierung von Barries Erfolgen vor Peter Pan geschehen, da James Matthew nur so in die Lage versetzt wird, allen äußeren Widrigkeiten zum Trotz seine Arbeit als Dramatiker fortzusetzen. James Matthew wird als schüchterner und zurückgezogener Autor dargestellt, was der vorzugsweisen Darstellung der historischen Person durch ihre Biographen entspricht.8 So verbringt James Matthew die Premieren seiner Stücke allein hinter dem Vorhang des Ausgangs und beobachtet verstohlen das Publikum.9 Darüber hinaus wird auf einzelne Begebenheiten aus Barries Leben angespielt, wenn diese auch zeitlich alle, um eine für die geschlossene Filmhandlung vereinfachte Zeitstruktur zu erhalten, in die Jahre 1903 und 1904 verlegt werden, wie beispielsweise Barries Cricket-Team, die Allahakbarries und unter ihnen der zeitweise dort spielende Sir Arthur Conan Doyle,10 das Scheitern von Barries Ehe, das im Film auf Marys Eifersucht auf Sylvia Llewelyn Davies zurückge-

teil, die im Film umgesetzt werden. Dies zeigt sich auch in der stärker um Akkuratesse bemühte Darstellung des historischen Kontexts, die den Film deutlicher dem Bereich des heritage cinema zuordnet. Der Einfachheit halber wird (obwohl im Film weitestgehend mit dem Nachnamen angesprochen) der fiktive Autor auch hier mit dem Vornamen betitelt, um ihn deutlicher vom historischen Autor abgrenzen zu können. 5

Vgl. Marc Foster, 00:00:17-00:06:23.

6

Andrew Birkin, S. 99. Mindestens ebenso erfolgreich sowohl in England als auch in Amerika waren die 1902 veröffentlichten Stücke „Quality Street“ und „The Admirable Crichton“ sowie der Roman „The Little White Bird“ mit dem ersten Auftritt von Peter Pan. Vgl. ebd., S. 94-96.

7

Syd Field, S. 10. Hervorhebungen im Original.

8

Vgl. beispielsweise Andrew Birkin, S. 8; Linda Robertson, S. 59f.

9

Vgl. Marc Foster, 00:00:51-00:05:04. Dass dies Tradition für ihn ist, zeigt sich bei der Premiere von Peter Pan, bei der James Matthews Exfrau an seinem angestammten Platz hinter dem Vorhang auf ihn wartet. Vgl. ebd, 01:16:12-01:17:24.

10 Vgl. ebd., 00:05:24-00:05:44, 00:33:08-00:34:44 und Andrew Birkin, S. 19.

188 | EINZELANALYSEN

führt wird,11 die Verbindung der beiden Hunde der Barries, dem Bernhardiner Porthos und dem schwarz-weißen Neufundländer Luath in ein und dasselbe Tier12 oder das Gespräch zwischen Sylvia und George, „[Sylvia:] You’ll be sick tomorrow. [George:] I’ll be sick tonight.“13 Während das Gespräch (eigentlich zwischen der Mutter und ihrem zweitältesten Sohn Jack) von Barrie in sein Drama Little Mary eingearbeitet wurde – wofür er Jack pro Aufführung einen ‚halfpenny‘ bezahlte –, bleibt das Gespräch im Film folgenlos, da dieses Drama bereits uraufgeführt und abgesetzt wurde. Es dient damit, ähnlich dem Auftritt der Allahakbarries, im Sinne eines ‚Spot-the-Hint‘ nur dazu, den mit Barries Biographie Vertrauten ein paar zusätzliche Nebeninformationen anzubieten und den Film damit als ‚Biographie‘, die den gängigen Darstellungen entspricht, zu untermauern. Nachdem Little Mary entgegen den historischen Tatsachen als ‚Flop‘ deklariert wurde, verspricht James Matthew, von Schuldgefühlen getrieben, seinem Freund und Produzenten Charles Frohman – der es auf die Bühne brachte, obwohl sich beide sicher waren, dass das Drama nichts tauge –, ein neues Stück zu schreiben, das diesmal ein Erfolg werden soll.14 Der Grundstein für die Suche nach dem geeigneten Stoff für sein Meisterwerk wird also über eine explizite Ankündigung gelegt. Da James Matthew keine Vorstellung davon hat, wovon sein neues Drama handeln soll, lässt er sich von seiner Zufallsbekanntschaft mit der Familie Llewelyn Davies inspirieren und erhebt die einzelnen Familienmitglieder zu seinen Musen. Für den Film wurde diese seit 1897 andauernde Freundschaft zwischen den Barries und den Llewelyn Davieses ebenfalls auf die Jahre 1903 und 1904 reduziert. Die Familie wurde auch um einige Familienangehörige verringert: Arthur Llewelyn Davies, der Vater der Jungen, wird bereits als verstorben erklärt, obwohl er tatsächlich 1907 starb. Demzufolge würde der fünfte Sohn Nicholas nach der filmischen Darstellung nie geboren werden.15 Der Film reduziert das freundschaftliche Verhältnis zweier Familien auf eine menage à trois zwischen Mary, Sylvia und James Matthew, die mit der Scheidung von

11 Vgl. Marc Foster, beispielsweise 00:53:37-00:56:09 und Andrew Birkin, S. 60f. und 107f. 12 Die Vorlage hierfür liefert Barrie in seiner Peter Pan-Widmung. Vgl. Barrie (2008), S. 83f. 13 Vgl. Marc Foster, 00:51:01-00:51:05 und Andrew Birkin, S. 99f. 14 Vgl. Marc Foster, 00:05:13-00:05:23, 00:15:06-00:15:22. 15 Vgl. Andrew Birkin, S. 40-154. Für einen kurzen Überblick vgl. Erhard Dahls Nachwort zu seiner Edition von Barries Peter Pan. Vgl. James Matthew Barrie (2006), S. 211-218.

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Mary und dem Tod Sylvias gleich doppelt tragisch endet. Durch die leere Position von Vater und fünftem Sohn erlaubt der Film James Matthews Eindringen in die Llewlyn Davies Familie in doppelter Hinsicht: Zum einen kann der erwachsene Autor als ‚fünftes Kind‘ am Spiel der Brüder teilnehmen und zum anderen seinen unerfüllten Wunsch nach eigenen Kindern befriedigen.16 Diese doppelte Rollenbesetzung wird als wenig problematisch empfunden, da – wie Christine Roth ausführt – gilt: „For Barrie, as for so many Edwardian lovers of youth(s), males could remain boyish forever; the identities of father and son, man and boy, civilized and savage existed simultaneously and harmoniously.“17 Nahezu alle in der Barrie-Forschung diskutierten möglichen Vorbilder für die Figur Peter Pan werden in die Filmhandlung übernommen. Der literaturwissenschaftliche Kanon der „[s]ources which may have inspired Peter Pan include[s] Barrie’s five child companions, the Llewelyn Davies boys [im Film auf die vier ältesten, George, Jack, Peter und Michael reduziert, L.Z.], Barrie’s elder brother David who dies young and so never grew up, the son Barrie never had, Barrie himself, and the mythic Pan.“18 Abgesehen von der mythischen Figur wird jeder dieser möglichen Vorlagen Aufmerksamkeit geschenkt. Den Grundstein für Peter Pan und seine Welt legt James Matthews Wunsch, seinem toten Bruder einen Ort zu geben. Jedoch wird dieser Ort, genannt Neverland, für James Matthew erst dann zur Quelle der Inspiration, als er sich in einer Art ‚zweitem Frühling‘ im Spiel zusammen mit den vier Brüdern selbst wieder wie ein Junge fühlen und benehmen kann, was besonders von Mary und Mrs. du Maurier, Sylivas Mutter, heftig kritisiert wird.19 Über das gemeinsame Spiel versucht der kindlich gebliebene James Matthew den frühzeitig ‚erwachsen‘ gewordenen Peter (Llewelyn Davies) wieder zu einer kindlich geprägteren Weltsicht zu verführen. Somit setzt der Film James Matthew und Peter in eine besondere Beziehung zueinander, die über die Freundschaft zwischen dem Autor und den anderen Brüdern hinausreicht und die beiden, insbesondere in der Frage, wer nun

16 Vgl. beispielsweise Andrew Birkin, S. XIV und Kayla McKinney Wiggins, S. 82f. 17 Christine Roth, S. 54. 18 Karen L. McGavock (2009), S. 39. Jill P. May wählt die Liste der möglichen Quellen für Peter Pan unter einem anderen Gesichtspunkt und kommt dementsprechend zu einem veränderten Ergebnis. Vgl. Jill P. May, S. 69. Weitere Interpretationen von Peter Pan, die den kanonischen Quellen folgen, finden sich beispielsweise bei Jacqueline Rose, S. 6; Peter Hollindales Thesen in seinem Vorwort als Herausgeber von „Peter Pan and Other Plays“, James Matthew Barrie (2008), S. XXIII; Humphrey Carpenter, S. 177. 19 Vgl. Marc Foster, 00:16:11-00:17:36, 00:18:19-00:20:57, 00:36:21-00:38:26.

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die Vorlage für Peter Pan sei, zu Alter Egos macht. Während auch für den historischen Peter Llewelyn Davies eine Patenschaft (nicht nur über den Namen) angenommen wird,20 darf sich der filmische Peter von dieser alleinigen Vorlagenfunktion distanzieren: [James Matthew:] What do you think? [Peter:] It’s about our summer together, isn’t it? [James Matthew:] It is. [Peter:] About all of us. [James Matthew:] That’s right. … Did you like it? [Peter:] It’s magical. Thank you. [James Matthew:] Oh, thank you. Thank you, Peter. [Partyguest:] This is Peter Pan! How wonderful. […] [Peter:] But I’m not Peter Pan. He is.21

Auf diese Art wird Peter Pan zu einer Summe, die aus vielen Inspirationsquellen zusammengefügt wird. James Matthew und sein Drama Peter Pan werden zwar stark aufeinander bezogen, aber dennoch nicht gänzlich miteinander gleichgesetzt, wie auch Allison B. Kavey feststellt: „In what initially appears to be a sloppy and often syrupy conflation of biography and fictional narrative, Foster offers a rigorous and disciplined separation of the author and the character, insisting on the radical distinction between the two.“22 Über die (wenn auch teilweise nur unscharf) vorhandene Trennung von Autor und Drama bezieht der Film deutlich Stellung in der Debatte um die häufig, besonders im Zug psychoanalytischer Interpretationen, in die Erzählstimme des Romans Peter Pan hineingelesenen pädophilen Anspielungen und den möglichen Zusammenhang zu

20 Vgl. Andrew Birkin, S. 1f. 21 Marc Foster, 01:18:49-01:19:26. 22 Allison B. Kavey („Introduction“), S. 5. Weitaus kritischer betrachten Donna R. White und C. Anita Tarr FINDING NEVERLAND: „Unlike the earlier [film, L.Z.] versions, which tried to repeat or revise the original play, Finding Neverland somewhat inaccurately examines the creation of Peter Pan, drawing a sentimental (albeit engaging) portrait of Barrie, Sylvia Llewelyn Davies, and her boys.“ Donna R. White, C. Anita Tarr, S. XIX, Hervorhebungen im Original. Einen ebenfalls kritischen Blick wirft Jennifer Geer in ihrem Artikel „J.M. Barrie gets the Miramax Treatment“ auf den Film, worin sie sich besonders mit der Vermarktung des Films auseinandersetzt. Vgl. Jennifer Geer, besonders S. 195f.

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Barries eigenen sexuellen Neigungen.23 FINDING NEVERLAND folgt einer neuen Deutungslinie, die die psychoanalytische Interpretationsart in zwei Punkten zu korrigieren strebt: The first argues that what people write cannot be taken as a direct reflection of their hidden desires. The tale is not the author and the author is not the tale. Anyone who can disentangle Barrie’s secret desires and hidden addictions from the language he employs to relate the events in Peter Pan is more psychic than psychoanalyst. In this often opaque text, desire is everywhere, nowhere, nebulous, defined, pervasive, and absent. It is, like Peter, a cipher, and far too carefully constructed to be the reflection of a single man’s sexuality. The second correction comes from historians whose influence on literary scholarship remains inconsistent but contains an important message: don’t make unfounded biographical assertions based on fictional evidence. Since the Llewelyn Davies boys have consistently assured Barrie biographers that they remained unmolested, the least we can do is believe them. They are, after all, the victims, whose voices many scholars claim they want to recover. I wish those writing about Peter Pan would listen to what they actually say about „Uncle Jim“ and his many kindnesses to them.24

In FINDING NEVERLAND wird dies explizit in einer Szene beim Cricketspiel thematisiert, wenn James Matthew auf die Gerüchte, die sein stetes Zusammensein mit der Llewelyn Davies-Familie betreffen, angesprochen wird.25 James Matthews schockierte Reaktion favorisiert klar die Aussagen von Barries Adoptivkindern zu diesem Thema, wie beispielsweise die von Nicholas Llewelyn Davies: „Of all the men I have ever known, Barrie was the wittiest, and the best company. He was also the least interested in sex. He was a darling man. He was innocent; which is why he could write Peter Pan.“26 Barries in der psychoanalytischen Deutung unterstelltes Verlangen nach Kindern wird in FINDING NEVERLAND umgedeutet in ein (erfüllbares) Verlangen nach Kindheit und Jugend auch im Erwachsenenalter: James Matthew gelingt es mit Hilfe seiner Phantasie und über das Schreiben, sich eine kindliche Sichtweise der Welt zu bewahren und sich so immer wieder selbst neu zu ‚erfinden‘ und neue Rollen

23 Vgl. für eine Übersicht beispielsweise Martha Stoddard Holmes, S. 135-139; Karen Coats, S. 3-22. 24 Allison B. Kavey („Introduction“), S. 4f. 25 Vgl. Marc Foster, 00:33:27-00:34:43. 26 Nicholas Llewelyn Davies, zitiert nach Andrew Birkin, S. XIX.

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anzunehmen.27 Auch für Peter wird diese Möglichkeit eröffnet, über das Schreiben aus seinem verzweifelten Versuch als ‚Erwachsener‘ dem Verlustgefühl, das der Tod seiner Eltern hinterlassen hat, zu entgehen und eine lebenswerte Kombination aus Kind und Erwachsenem zu finden. Peter zeigt sich schon früh an James Matthews Schreibarbeit interessiert, verneint diese Möglichkeit aber zunächst für sich,28 bis James Matthew ihn mit einer Kladde und einem Titel für sein erstes Werk ausstattet: [James Matthew:] There you go. [Peter:] What’s this? [James Matthew:] All great writers begin with a good leather binding and a respectable title. Open it. [Peter:] „The Boy Castaways. Being a record of the terrible adventures of the brothers Davies, faithfully set forth by Peter Llewelyn Davies.“ [James Matthew:] Kipling would swallow his own ear for a title like that. […] [Peter:] I still have no idea what to write. [James Matthew:] Write about anything. Write about your family. Write about the talking whale. [Peter:] What whale? [James Matthew:] The one that’s trapped in your imagination and desperate to get out. […] I have actually begun writing about the adventures of the Davies brothers myself. [Peter:] A play? [James Matthew:] A play indeed, yes. And I would be extremely honoured if you would allow me the use of your name for one of the characters.29

Mit der Autorreferenz auf Kipling, die durch die Prominenz des Autors dazu dient, Peter die Bedeutsamkeit seines Titels zu suggerieren, werden allgemeine Arbeitsweisen von Autoren in dieser fiktiven Werkgenese verknüpft und rezeptartig zusammenaddiert: Für eine gelingende Schreibarbeit braucht es eine Kladde, einen aussagekräftigen Titel, eigene Erlebnisse und Phantasie. Damit erklärt FINDING NEVERLAND, wie (innerhalb der Filmfiktion) Peter Pan, an dem James Matthew gerade schreibt, entstehen konnte. Auch Peter nutzt nun den Vorschlag und beginnt seine eigenen Eindrücke unter dem von James Matthew vorgegebe-

27 Geschichten und deren Erzählen ist auch ein stets wiederkehrendes Motiv in Peter Pan. Vgl. beispielsweise Barrie (2006), S. 40f., 126-131. Für die Darstellung der Bedeutung dieses Motivs vgl. Paul Fox, S. 32; Irene Hsiao, S. 163. 28 Vgl. Marc Foster, 00:14:04-00:14:29, 00:22:58-00:23:47. 29 Ebd., 00:27:29-00:28:31.

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nen Titel aufzuschreiben. Das realexistierende Buch The Castaway Boys ließ Barrie in einer streng limitierten Auflage von zwei Exemplaren drucken, eines für sich selbst und eines für den Vater der Jungen, welches dieser allerdings bei einer Zugfahrt verlor. Das Buch besteht hauptsächlich aus Fotographien, die Barrie während der gemeinsamen Spiele im Sommer 1901 geschossen hat und die mit erklärenden Untertiteln versehen sind. Der damals vierjährige Peter Llewelyn Davies soll das Vorwort dazu verfasst haben.30 Im Film wird das Buch als vage Werkreferenz dazu genutzt, um Peter die Möglichkeit zu geben im Sommer 1904 selbst zum Autor zu werden. Schreiben (besonders von der Jugend) soll demnach selbst wieder jung machen. In FINDING NEVERLAND wird dies genutzt, um die filminterne Interpretation des edwardianischen Kults um die Kindheit, wie ihn Adrienne E. Gavon und Andrew F. Humphries definieren, aufzuzeigen: Childhood in the Edwardian period was a subject of deep concern, fascination, and even obsession. Despite Romanticism’s idealization of the child and Victorian advances in education, it was the Edwardians who truly made the child central to ‚childhood‘ and childhood central to the Zeitgeist. Nowhere was this more evident than in fiction. […] Paternalistic ‚seen and not heard‘, ‚spare the rod and spil the child‘ notions of childhood were being swept away and children became protected, longed for, and recognized as having their own needs and desires. The concept of childhood, too, became a symbolic counterweight to the urbanized, pressurized, anarchic stresses of modern life and a civilization felt to be in decline.31

Wie Susan Honeyman ausführt, wird ‚Kindheit‘ dabei zum fiktiven Konstrukt, über das der Versuch unternommen wird, zurückzugewinnen „whatever adults have lost and maybe never had“.32 Peter Pan wird im Film zur Metapher für das Kind, das jede/r Erwachsene in sich bewahren sollte und auch bewahren kann, wie nicht nur am Beispiel James Matthews deutlich wird, sondern auch anhand der der Familie vorstehenden Mrs. du Maurier, die im Film sowohl für Hook als auch eine Kombination aus Mr. und Mrs. Darling Pate steht, aber dennoch bei der ‚Wohnzimmerinszenierung‘ von Peter Pan als erste in die Hände klatscht,

30 Vgl. Andrew Birkin, S. 83-92. 31 Adrienne E. Gavin/Andrew F. Humphries, S. 1f. Jonathan Rose kommt zu einem ähnlichen Gedanken: „The Edwardian withdrawal into childhood was, in part, a reaction against the Decadent movement in literature. More generally, it was an attempt to rejuvenate – or escape from – a civilization that seemed old, dissolute, and sterile.“ Jonathan Rose, S. 184. 32 Susan Honeyman, S. 4.

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um ihren Glauben an Feen zu zeigen und Tinker Bell zu retten.33 Diese Verwischung von implizierten Trennlinien zwischen dem Dasein als Kind und als Erwachsenem findet sich auch in der Rezeptionshaltung gegenüber Barries Theaterstück und Romanadaption wieder. Auf die Frage, für wen Peter Pan tatsächlich geschrieben wurde, lassen sich die unterschiedlichsten Antworten finden: von der Verneinung, dass es sich um ein Kinderbuch handle,34 über die ‚Vereinnahmung‘ des Kinderbuchs durch Erwachsene, das Kindern hauptsächlich über andere Medien (wie Filmadaptionen) zur Verfügung gestellt wird,35 bis hin zur Überlegung einer doppelten Adressatengruppe.36 FINDING NEVERLAND schließt sich mit seiner Interpretation der intendierten Zuschauer des Theaterstücks der letzten Interpretationsrichtung an. James Matthew lässt in dem von erwachsenen Zuschauer/innen gefüllten Publikumsraum 25 im Saal verteilte Sitzplätze für Waisenkinder reservieren.37 Der Zauber des Stücks Peter Pan entfaltet sich der Darstellung des Films nach nur dort, wo Grenzen zwischen Erwachsenen und Kindern überwunden werden. Neben dieser Unschärfe, was die Trennung von Kind und Erwachsenem betrifft, macht der Film auch deutlich, dass es die ‚ewige Kindheit‘ nicht geben kann und für jeden ein ‚Moment des Erwachsenwerdens‘ kommt, wie beispielsweise James Matthews Übernahme der Rolle seines Bruders, Peters Verlust des Vaters oder Georges Furcht vor der Krankheit seiner Mutter.38 ‚Erwachsen werden‘ wird vom Film zum punktuell verortbaren Ereignis gemacht, das sich nicht rückgängig machen lässt, aber durch eine bewahrte, kindliche Weltsicht ergänzt werden muss. Der Film hebt die Wichtigkeit dieser Kombination hervor, wenn Mrs. du Maurier James Matthew eröffnet, dass Sylvia verfügt hat, sie sollen beide, der ‚kindische‘ James Matthew und die ‚erwachsene‘ du Maurier, die Vor-

33 Vgl. Marc Foster, 00:23:53-00:24:57, 01:24:07-01:24:26. Als Pate für Mr. Darling steht auch der im Film bereits verstorbene Arthur Llewelyn Davies, von dem es heißt, er hätte einen Hund im Haus nicht geduldet, sondern ihn, ganz im Sinne von Mr. Darling, draußen angebunden. Vgl. ebd., 00:28:40-00:29:10. 34 Vgl. Jaqueline Rose. 35 Vgl. Allison B. Kavey („Introduction“), S. 3. 36 Vgl. Karen L. McGavock (2009), S. 42. 37 Vgl. Marc Foster, 00:57:35-00:57:55, 01:06:36-01:07:19. Dies erzeugt einen Verweis auf Barries spätere Vergabe der Rechte von Peter Pan an das Great Ormond Street Hospital. 38 Vgl. ebd., 00:17:49-00:17:55, 00:30:08-00:31:23, 00:58:20-00:59:39. Für das Verhältnis von Barries Mutter, Barrie und den verstorbenen David, vgl. weiter Andrew Birkin, S. 3-5; M. Joy Morse, S. 283.

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mundschaft für ihre Söhne übernehmen.39 Dies ist möglich, da beide Figuren sich im Lauf der Filmhandlung einander angenähert haben und sich weiterhin gegenseitig beeinflussen: James Matthew wird verantwortungsbewusster als er es in seiner gescheiterten Ehe jemals gewesen ist und Mrs. du Maurier gestattet sich den Glauben an das Magische, das für sie mit einer vermeintlich verlorenen Kindheit verknüpft ist. FINDING NEVERLAND beschränkt die Referenzen auf Autor und Einzelwerk nicht auf eine eindeutige Festschreibung, wer die Vorlage für die Figur Peter Pan ist. Vielmehr wird die Notwendigkeit für James Matthew und auch die anderen Figuren aufgezeigt, ihren persönlichen ‚Peter Pan‘ zu finden. Das für SHAKESPEARE IN LOVE charakteristische Wechselspiel von (vermeintlicher) Authentizität und bewusster Signalsetzung von Fiktionalitätsmerkmalen wird in FINDING NEVERLAND aufgegriffen und somit als typisch für das filmische Subgenre bestätigt. Einerseits thematisiert FINDING NEVERLAND explizit die fiktive Werkgenese von Peter Pan und widmet sich den möglichen (teils fiktiven) Vorlagen für die einzelnen Figuren des Dramas, andererseits betont der Film aber auch eine strikte Trennung zwischen den im Film thematisierten, fiktionalisierten Personen und den fiktiven Dramenfiguren. Dieser dialektische Umgang lässt sich nicht zuletzt an der Darstellung von Peter Pan durch eine Schauspielerin beobachten. Diese Praxis entspricht den Bühnen- und frühen Filmkonventionen und wird von Marc Foster in der im Film nachgestellten Premiere des Stücks berücksichtigt.40 Wie Patrick B. Tuite darlegt, wurde die Darstellung Peter Pans durch eine Schauspielerin mehr oder minder vom Gesetz vorgegeben und letztlich zu einem ‚Geniestreich‘ umgedeutet: Nina Boucicault, the first actress to play Peter Pan, was not Barrie’s first choice for the part. He wanted a young boy to play the role. However, labor laws prevented anyone under fourteen from appearing on stage, and Barrie’s producer, Charles Frohman, wanted one of his leading actresses to play Peter. […] It appears that Dion [Boucicault, Jr., Nina Boucicaults Bruder und Regisseur der ersten Inszenierung von Peter Pan, L.Z.] had been correct when he claimed that no man could play the adolescent boy with authority. Nina [Boucicault, L.Z.] played the role with the spirit of a boy, while reaching beyond a conventionalized and sentimental depiction of British boyishness.41

39 Vgl. Marc Foster, 01:27:30-01:28:53. 40 Der erste ‚männliche‘ Peter Pan trat in dem Disney Zeichentrickfilm (und damit bezeichnenderweise nicht von einem realen Schauspieler verkörpert) 1953 und damit fast 50 Jahre nach der Uraufführung in Erscheinung. Vgl. Pomerance Murray, S. 34. 41 Patrick B. Tuite, S. 109, 112.

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Neben diesem scheinbaren Versuch einer originalgetreuen Reproduktion der Premiere des Stücks bricht der Film gleichzeitig mit historischer Exaktheit, indem er zugunsten seiner Aussage eine erst 1906 nachträglich eingefügte Szene in die Uraufführung hineinversetzt und damit ein klares Fiktionalitätssignal setzt.42 In dieser Szene steht der ewig junge Peter Pan dem Tod gegenüber, als er vermeintlich schwer verwundet auf Marooner’s Rock zurückbleibt. FINDING NEVERLAND thematisiert immer wieder Peters (Llewelyn Davies) Angst vor dem Verlust durch den Tod und so scheint dieser Bruch mit der Chronologie der Entstehungsgeschichte für die intendierte Aussage des Films nur logisch: Sowohl Peter als auch sein Namensträger Peter Pan müssen sich im Verlauf ihrer jeweiligen Handlungsstränge mit dem Tod auseinandersetzen und lernen, einen eigenen Umgang damit zu entwickeln. Die Filmhandlung schlägt hierfür eine Kombination aus Spiel und Ernst vor, indem James Matthew den Nachmittag mit dem Papierdrachen als Vorlage nimmt und mit dem Thema des Todes verknüpft.43 Letztlich ist es aber Peters Mutter Sylvia, die sich in einer Peter Pan-gleichen Situation ihrem eigenen Tod gegenübersieht und ihn als ‚neues Abenteuer‘ annimmt, indem sie der Schauspielerin, die Peter Pan verkörpert in einer Metalepse durch die vierte Wand hindurch nach Neverland folgt. Durch die Besetzung Peter Pans mit einer Frau und die zuletzt eröffnete Verbindung von Peter Pan und Sylvia entsteht ein Bruch mit den potentiellen männlichen Vorlagen und es wird der Blick auf Sylvia als weibliche Vorlage geöffnet. Peter Pan ist somit als Figur nicht nur auf ein männliches Gender-Konzept festgelegt. David Rudd stellt zu Peter Pans Sexualität und Geschlecht fest: [Jacqueline, L.Z.] Rose describes the child sexuality that Peter exhibits as ‚bisexual, polymorphous, perverse‘, which is certainly apposite. […] Not only does he have ‚ecstasies innumerable‘ but he is also not delimited by a masculine structure – which would only come into play after becoming subject to the Law of the phallus. It is therefore quite appropriate that he has traditionally been played by a female in the stage play.44

42 Vgl. Linda Robertston, S. 51 und Marc Foster, 01:15:14-01:16:12. 43 Ebd., 00:21:04-00:23:41. So ist es auch nicht verwunderlich, dass neben der Szene auf Marooner’s Rock auch jene von Tinker Bells Vergiftung zur Darstellung im Film ausgewählt wurde. Vgl. ebd., 01:22:49-01:24:31. Hook und seine Furcht vor dem Tod werden hingegen nur am Rande thematisiert. 44 David Rudd, S. 271. Für Untersuchungen zu Peter Pans Sexualität und der damit verbundenden ‚gender confusion‘, vgl. beispielsweise Karen L. McGavock (2006), besonders S. 198; Carrie Wasinger, besonders S. 226; Marjorie Garber, besonders S. 168-174.

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Ähnlich verhält es sich mit seinem Kontrahenten Captain James Hook, wie die Erzählinstanz der Prosafassung von Peter Pan erklärt: „In the dark nature [von Hook, L.Z.] there was a touch of the feminine, as in all great pirates.“45 Historisch wird Hooks Besetzung mit femininen Gender-Attributen durch Barries ursprünglich geplante Dopplung von Mrs. Darling und Captain Hook evident. Als letztlich aber der Schauspieler, der für Mr. Darling engagiert wurde, auch den Piratenkapitän spielte, wurde damit diese Rollendopplung für alle weiteren Inszenierungen als Prototyp festgelegt.46 FINDING NEVERLAND hält an der ursprünglichen Idee, Hook als Alter Ego von Mrs. Darling darzustellen, über die Figur von Sylvias Mutter fest: Als ‚Übermutter‘ für ihre kranke Tochter und deren vier Söhne erdrückt sie jegliche Eigeninitiative ihrer fünf Schützlinge, bis sich ihr George, Sylvias ältester Sohn, entgegenstellt und dieses Wortduell gewinnt.47 Die explizite Darstellung von Inspirationsquellen als Vorlagen für die einzelnen Figuren wird neben Peter Pan und Hook auch für Wendy ausgeführt, da Sylvia als ‚Wendy-artig‘ eingeführt wird und trotz ihres Erwachsenseins bis zu ihrem Tod die Tochter ihrer Mutter bleibt. Sie wird so gleichsam zum Prototyp des Frauenbilds der edwardianischen Epoche: The middle class epitomized its privileged social position in its daughters and in its childlike wives – figures of saintly feminine purity who existed exclusively within the private sphere of domesticity. By safeguarding and sequestering the girls within a domestic sphere that denied any overt or accessible sexuality in the children, the middle class could reassure itself that its wives and daughters embodied, both physically and spiritually, the feminine ideals of innocence and purity more successfully then their working-class counterparts.48

Den ‚working-class counterpart‘ bildet Mary, die durch ihre frühere Arbeit als Schauspielerin diesen idealtypischen Zustand des behüteten und unschuldigen Wesens verloren hat, sich aber dennoch während ihrer Ehe mit James Matthew zwanghaft in dieses Rollenschema integrieren möchte. Trotz dieser historischen Vorlage bleiben die Frauenfiguren nicht auf diese Typenbilder beschränkt: Sylvia kann im gemeinsamen Rollenspiel auch als Bootsmann von Captain Swarthy dienen und sich aus dem Tod heraus von ihrer Mutter über ihren letzten Willen

45 James Matthew Barrie (2006), S. 107f. Für Hooks Femininität, vgl. Lester D. Friedman, S. 201f. 46 Vgl. Patrick B. Tuite, S. 110. 47 Vgl. Marc Foster, 01:10:03-01:10:43. 48 Paul Fox, S. 49.

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emanzipieren, während Mary ihre selbst auferlegte Rolle der perfekten ‚middle class‘ Ehefrau ablegt und sich von dem für sie vorgesehenen Rollentyp emanzipiert, sobald sie ihre Entscheidungen jenseits gesellschaftlicher Konventionen trifft und nach der Trennung von ihrem Ehemann eine neue Beziehung eingeht – womit auch sie sich dem Bild des selbstsüchtigen Kindes, das Peter Pan impliziert, annähert.49 FINDING NEVERLAND macht sich die androgyne Besetzung von Peter Pan, ermöglicht durch dessen unterschiedliche im Film dargestellte Vorlagen, zu Nutze: Auf diese Weise wird die Notwendigkeit eines Mittelwegs zwischen Peter Pan, dem ewigen ‚Jungen‘, und Hook, dem von der Zeit gejagten Erwachsenen, der durch seine maskuline Verkörperung auf der Bühne und seine feminine Attribuierung und die ebenfalls feminine Vorlage durch Mrs. du Maurier ebenfalls auf kein Geschlecht festgelegt wird, ersichtlich gemacht. Immer wieder wird auf den Tod als Teil des Lebens hingewiesen, aber auch auf die Möglichkeit, dem Leben spielerisch und mit Phantasie zu begegnen.50

6.2 N EVERLANDS B OTSCHAFT Parallel zur Verknüpfung auf der Ebene der Autorreferenz zwischen James Matthew, Peter und Peter Pan wird in FINDING NEVERLAND auch eine weitere zwischen dem Handlungsort Neverland und einem Garten Eden nach christlicher Vorstellung erzeugt. So gesteht James Matthew gegenüber Sylvia, dass er den imaginären Raum Neverland erfand, um seinen verstorbenen Bruder weiterhin verorten zu können: [James Matthew:] I used to say to myself that he’d gone to Neverland. [Sylvia:] Where? [James Matthew:] Neverland. It’s a wonderful place. … I’ve not spoken about this before to anyone. Ever. [Sylvia:] What’s it like … Neverland? [James Matthew:] One day I’ll take you there.51

49 Vgl. Marc Foster, 00:36:21-00:38:27, 01:27:29-01:28:52, 01:16:20-01:17:05. Vgl. James Matthew Barrie (2006), beispielsweise S. 183-185. 50 Vgl. Marc Foster, 01:17:39-01:18:23. Vgl. für die Gegenüberstellung Peter Pans und Captain Hooks, Lester D. Friedman, S. 215f. 51 Vgl. Marc Foster, 00:31:26-00:32:08.

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Auch Sylvia geht im Zug der für sie und ihre Kinder inszenierten ‚WohnzimmerAufführung‘ nach Neverland. Da die nächste Szene ihre Beerdigung zeigt, wird auch hier eine Verknüpfung zwischen Neverland und einem imaginierten Totenreich hergestellt.52 Dieser Paradiesgarten als Reich der Toten nimmt dabei sowohl James Matthew als auch Sylvia und ihren Kindern die Furcht vor dem Tod. Im Zug dieser Deutung Neverlands liefert FINDING NEVERLAND eine eindeutige Interpretation über Peter Pans Zustand als Junge, der nie erwachsen wird beziehungsweise in diesem Fall nie erwachsen werden kann, da er als Bewohner des Reichs der Toten nicht mehr Teil des Lebens ist und nicht länger Veränderungen unterliegt. Die Verbindung von Peter Pan als dem ewigen Kind mit dem Tod ist in der Literaturwissenschaft nicht neu, wie Karen L. McGavock darlegt: By exploring the liminal space between childhood and adulthood in Peter Pan, Barrie contributes to our awareness of the evolving nature of childhood and adulthood. Barrie’s contribution goes beyond this, however, in his creation of a character that symbolizes ‚process‘. Peter Pan can be regarded as a catalyst, as one who generates change but who remains in himself unchanged. The idea that Peter Pan symbolizes ‚process‘ is borne out in the way that he is suspended between states. Barrie describes him as a „betwixt and between“. […] Owing to his atemporality, Peter Pan is suspended. The death of childhood can be regarded figuratively as a mode of development and this is symbolized to great effect in Peter Pan. Peter Pan symbolizes death in a number of ways and indeed Susan Mansfield even goes so far as to suggest that Peter Pan „is Death, who empties the nurseries like a plague“.53

FINDING NEVERLAND bietet damit als indirekte Literaturverfilmung einen expliziten Kommentar zur Interpretation des Textes (vergleichbar mit einer radikalen Übersetzung), auch wenn im Film die Deutung der Figur Peter Pan nicht so weit geht, diesen als Personifizierung des Todes darzustellen. Durch seine Verbindung zum verstorbenen David wird er allerdings mit einem ‚Toten‘ gleichgesetzt und ist damit als Figur unveränderlich und außerhalb der Zeit. Dieser Bezug wird sowohl über die im Film thematisierten Vorbilder für Peter Pan erzeugt als auch über die christlich-religiöse Konnotation Neverlands als Paradiesgarten. Die symbolische Besetzung des Gartens hat, wie ihn Adrienne E. Gavin und Andrew F. Humphries darlegen, für Barrie einen zeitgenössischen Hintergrund:

52 Vgl. ebd., 01:25:46-01:26:37. Vgl. auch Pomerance Murray, S. 45. 53 Karen L. McGavock (2009), S. 50, Hervorhebungen im Original. Vgl. auch Allison B. Kavey („History and Epistemology of Peter Pan “), S. 93f.; Ann Wilson, S. 128; Donna R. White/C. Anita Tarr, S. VIIf.; John Pennington, S. 255.

200 | EINZELANALYSEN The Symbolism of the garden or, in the case of J.M. Barrie and D.H. Lawrence, the islandas-garden, operates as a separate domain of childhood play, otherness, or escape from the adult home. […] Gardens offer freedom and adventure to children, who, for Edwardian writers, seem to represent the hope, natural resilience, and creative imagination society needed. Houses, by contrast, at times symbolize adult power and degeneration.54

In FINDING NEVERLAND wird immer wieder auf den symbolischen Gehalt des Gartens als Fluchtpunkt und Ort der Kreativität zurückgegriffen. Während seine Frau sich in ihr Schlafzimmer zurückzieht, öffnet James Matthews Schlafzimmertür für ihn den Weg in einen imaginierten weitläufigen Garten, der zu seinem Rückzugsort wird. Als Arbeitszimmer wählt der Autor den Park und seine Ideen für das in der fiktiven Werkgenese entstehende Drama Peter Pan kommen ihm beim Spiel im Garten mit den Llewelyn Davies-Brüdern.55 Die edwardianische Rückbesinnung der Londoner Stadtbevölkerung auf den Garten erklärt Paul March-Russel über „new technologies, such as the motor car, the bicycle […] and cinema“56, die Englands ländliche Gegenden der Stadtbevölkerung wieder nahebringen konnten. Die für die edwardianische Zeit neue Errungenschaft des Autos wird auch im Film thematisiert und genutzt, um eben solche Ausflüge aufs Land zu unternehmen, wie Paul March-Russel sie anspricht.57 So lässt sich auch das Phänomen der Idealisierung des Gartens in der Literatur dieser Zeit erklären: „These writers [Autoren der edwardianischen Epoche, L.Z.] posited a ‚Golden Age‘, a ‚secret garden‘, in their works. […] These writers constructed an Arcadian facsimile of childhood, a fantasy world into which they could project their own personal, spiritual and psychological anxieties, an emotional haven into which they could retreat.“58 Der Film nutzt diese literarische Konvention der edwardianischen Epoche, um diese auf seine diegetische Realität zurück zu übertragen und somit die Illusion zu erzeugen, der Film stelle jene Tatsachen dar, die dazu führten, dass der Garten in der edwardianischen Zeit zu seiner symbolisch überformten, fiktiven Darstellungsart gelangte. Auf diese Weise wird die fiktive Werkgenese für das Drama Peter Pan legitimiert, da der Garten zum Katalysator für die Entstehung von Neverland als Handlungsort für das Drama wird.

54 Adrienne E. Gavin, Andrew F. Humphries, S. 6f. Vgl. für eine ähnliche Deutung des Gartenmotivs: Joanne Campbell Tidwell, S. 58; Jill P. May, S. 81f. 55 Vgl. Marc Foster, beispielsweise 00:06:31-00:06:49, 00:16:11-00:17:34, 00:36:2100:38:27. 56 Paul March-Russel. S. 29. 57 Vgl. Marc Foster, 00:34:45-00:35:51. 58 Paul March-Russel, S. 23.

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Diesen Gedanken greift auch Marys Vorstellung von Neverland auf: „[S]ome secret place where good ideas floated around like leaves in autunm. And I hoped, at least once you would take me there with you. […] Neverland.“59 Marys Gebrauch der Vergangenheitsform zeigt, dass sie ihren Glauben an Neverland und sein Potential verloren hat, also wie Wendy am Ende von Peter Pan ‚erwachsen‘ geworden ist.60 Neverland steht in FINDING NEVERLAND neben einem paradiesischen Garten auch für das Reich der Imagination, das es ermöglicht, auch dem Zeitlosen, den Verstorbenen einen Ort zu geben. Peter kann durch seinen Glauben an seine Phantasie und damit an Neverland letztlich das Bild seiner Mutter wieder vor sich sehen.61 Neverland wird gleichzeitig als räumlich unbegrenzte Welt der Phantasie dargestellt, die es gemeinsam mit der Kindheit zu bewahren und dem Erwachsenen-Dasein ergänzend zu Seite zu stellen gilt. Der Titel erweist sich damit in gleich mehrfacher Hinsicht programmatisch, da die Figuren auf jeweils eigene Art eines ‚Neverlands‘ bedürfen und dieses finden müssen. Aber das Konzept Neverland ist, wie das Verblassen von James Matthew und Peter auf der Parkbank und letztlich auch deren Verblassen zeigen, nicht allmächtig und kann die Toten nicht zurückbringen.

6.3 M EDIALE G RENZZIEHUNGEN

UND

E RWEITERUNGEN

Nicht nur über die Figuren und die Konzeption Neverlands wird die Durchlässigkeit zwischen der diegetischen Realität und dem Drama dargestellt. Dies geschieht auch über die Verortung des Raums, in dem das Drama seine ‚Aufführung‘ finden kann. Neben dem ‚klassischen‘ Theater mit seiner ‚Guckkasten‘Bühne finden sich Bühnentypen, die mit der Natur und der häuslichen Sphäre assoziiert werden und somit keine räumliche Trennlinie zwischen der diegetischen Realität und dem Drama zulassen. FINDING NEVERLAND beginnt mit der Darstellung einer typischen Theaterbühne, die für James Matthew auch sofort an ihre medialen Grenzen gebracht wird, da das Theaterstück Little Mary in der Diegese nicht die erhoffte Wirkung beim Publikum erzielen kann. Daraufhin wird James Matthew – und mit ihm dem Filmpublikum – die Möglichkeit eingeräumt, eine Reihe unterschiedlicher Bühnentypen auf deren potentielle Möglichkeiten hin zu erproben und so den für James Matthew ‚idealen‘ Bühnentyp zu finden.

59 Marc Foster, 00:54:22-00:54:44. 60 Vgl. James Matthew Barrie (2006), S. 193-206; Ders. (2008), S. 155-163. Für die ‚Möglichkeiten‘ Neverlands, vgl. weiterführend Paul Fox, S. 252-254. 61 Marc Foster, 01:29:18-01:32:28.

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Hierfür wird zunächst die Bühne aus dem Theater herausgeholt und in die ‚Natur‘ verlegt: Im Park tritt James Matthew mit seinem Hund Porthos als Bärendompteur auf. Dabei wird, was die diegetische Realitätsebene betrifft, gänzlich auf eine Bühne verzichtet. Nur auf der diegetischen ‚Phantasieebene‘ verwandelt sich der Park in eine Zirkusmanege.62 Durch den Verzicht auf eine Bühne kann James Matthew so seine Zuschauer/innen (besonders die Llewelyn Davies-Familie) nahezu distanzlos an seine Vorführung heranbringen und am Geschehen teilnehmen lassen – was auch abgesehen von Peter erfolgreich ist, da die Bilder der Phantasieebene sich über die Realitätsebene legen. Doch scheint diese Form einer ‚Bühne‘ wenig geeignet, auf ihr eine Handlung mit sich verändernden Kulissen, geschweige denn die ‚Flugszenen‘ aus Peter Pan zu spielen. Als Peter sein Drama aufführen will, wählt er eine Kombination aus dieser eher unkonventionellen Form der ‚Naturbühne‘und einer traditionellen Bühne, indem er das ‚Spielhaus‘ in den Garten verlegt, aber das Stück selbst domestiziert und zwischen den drei Wänden der Bühne einfängt.63 Auch für Peter stellt sich nicht der erhoffte Erfolg ein, da die schwere Erkrankung seiner Mutter während der Inszenierung endgültig zum Vorschein kommt. Demzufolge kann sich das Drama nur dort vollständig entfalten, wo es zwar eine Bühne als Aufführungsort hat, aber nicht auf diese beschränkt bleibt, sondern das Publikum involviert. Ein erster Versuch in diese Richtung wird bei der Uraufführung von Peter Pan gewagt: Zwar handelt es sich wieder um die klassische Bühnenform, doch sorgt die Kamera für eine Verbindung zwischen Bühne und Zuschauerraum, indem sie beispielsweise Wendys Flug mit dem Drachen über das Publikum hinweg suggeriert.64 Auf diese Art kann Peter Pan den Erfolg verzeichnen, der Little Mary im Film versagt geblieben ist. Dieser Erfolg ist aber für die Figuren keineswegs von vorneherein gewiss: Obwohl es vor Peter Pan bereits eine etablierte Tradition des Kindertheaters gab, wie beispielsweise die Pantomime,65 wird Peter Pan in FINDING NEVERLAND ganz im Sinne der Erfolgsstory immer wieder als ‚bahnbrechend‘ und ‚neuartig‘ betitelt und folgt damit den Zuschreibungen der realen Erstaufführung. So schreibt Birkin über das Gefühl der Mitwirkenden vor der realen Uraufführung:

62 Vgl. Marc Foster, 00:09:43-00:12:35. 63 Vgl. ebd., 00:41:31-00:42:59. 64 Vgl. ebd., 01:15:53-01:16:05. 65 Für eine Defintion der ‚Pantomime‘ und eine Interpretation von Peter Pan als solche, vgl. Donna R. White/C. Anita Tarr; Andrew Birkin, S. 92f.

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The success of the production […] was by no means assured; indeed, quite the reverse: most of the company were expecting a mild disaster. […] The cause for concern was not merely the bizarre nature of the play, so unlike anything that had ever been presented before; the opening night had been announced for December 22nd [1904, L.Z.], but by midDecember the mechanical gear required for many of the special effects had not yet been installed, let alone rehearsed. Numerous elements from Barrie’s original script had to be dropped at the eleventh hour. […] Dion Boucicault, who had worked himself almost to death, was forced to postpone the opening until the 27th. […] Barrie was now quite convinced that Beerbohm Tree’s estimation of his sanity [geäußert nachdem Barrie ihm als erstes das Drama zur Inszenierung angeboten hatte, L.Z.] had been accurate. […] Peter Pan […] was to be staged before a highly sophisticated first-night audience, dressed up for the occasion and expecting to see a polished and professional play by one of the country’s leading playwrights.66

Der Film bringt diese Unsicherheit über die Figur Charles Frohman in die Handlung und charakterisiert diesen damit entgegengesetzt der Aussagen von Frohmans Biographen, nach denen der historische Frohman sofort von Peter Pan angetan war und es zu produzieren versprach.67 Charles steht dem Projekt weitaus skeptischer gegenüber: [Charles:] Wait a minute, James. He’s a fairy? [James Matthew:] No. He’s the irrepressible spirit of youth. Tinker Bell is the fairy. [Charles:] Tinker Bell is a woman? [James Matthew:] She’s not a woman. She’s a fairy. He is a boy who stays young forever. [Charles:] James, how does anyone stay young forever? It doesn’t work. [James Matthew:] He just believes, Charles. He imagines life the way he wants it to be, and he believes in it long enough and hard enough that it all appears before him, you see? [Charles:] James, I’m your friend. You’re coming off a flop. You have a man who is a fairy. [James Matthew:] No, a boy who has a fairy. [Charles:] Yes. And this girl calls herself Tinker. And you have a pirate ship on stage surrounded by tons and tons of water. That’s a lot of water. [James Matthew:] It’s a lot of water. [Charles:] Yes, and that’s a lot of money. [James Matthew:] It is, but we can fake the water.

66 Ebd., S. 112-114, Hervorhebungen im Original. 67 Vgl. Isaac F. Marcosson/David Frohman, S. 369. Vgl. auch Linda Robertson, S. 5557; Andrew Birkin, S. 103-112.

204 | EINZELANALYSEN [Charles:] Oh well, if we can fake the water then I’m sure your play will be a hit. You know what I think I’ll do? I think I’ll imagine life the way I want it to be … [James Matthew:] Long enough and hard enough? [Charles:] Yes, and then the money for the play will appear magically before me.68

Nachdem Charles wider besseren Wissens das Geld für Peter Pan zur Verfügung gestellt hat, bleibt noch das Problem eines möglicherweise mit Unverständnis reagierenden Publikums aus Londons High Society zu lösen.69 James Matthew beugt dem vor, indem er 25 Plätze für Waisenkinder reservieren lässt und die Vorführung erst beginnen darf, nachdem sie alle eingetroffen sind.70 Die Kinder werden zunächst vom erwachsenen Publikum als störende Fremdkörper im Theater empfunden und äußerst kritisch beäugt, doch als die Kinder die Eröffnungsszene mit Nana lachend aufnehmen, brechen sie so auch die eher abweisende Haltung der Erwachsenen, die sich vom Kinderlachen anstecken lassen und so auch von dem Drama verzaubert werden.71 FINDING NEVERLAND macht demnach das Gelingen der Premiere sowie Peter Pans herausragende Stellung als „the play“72 von dem gemischten Publikum abhängig. Birkins Beschreibung des realen Premierenabends klingt ähnlich: ‚Do you believe in fairies?‘ cries Peter Pan in his effort to save Tinker Bell. ‚If you believe, wave your handkerchiefs and clap your hands!‘ The prospect of a bleak, embarrassed silence did not bear thinking about, and at the last moment Barrie took steps to insure against such an eventuality by arranging with the musical director, John Crook, that if there was no response to Peter’s plea, the orchestra should down instruments and clap. […] When the curtain rose to reveal a dog preparing a small boy for his bath, it was greeted in stunned silence – followed by a gasp of astonished delight. For the rest of the evening the audience succumbed as one to Barrie’s spell: the élite of London’s society, with few children among them, emulated Sentimental Tommy by ‚flinging off the years and whistling childhood back.‘ The audience were not the only ones to be taken unawares: the entire company, bleary-eyed and exhausted, were as astonished as anyone else by the re-

68 Marc Foster, 00:32:10-00:33:01. Vgl. auch ebd., 00:38:27-00:39:45, wo Frohman anstelle von Beerbohm Tree, James Matthews geistige Zurechnungsfähigkeit anzweifelt. 69 Vgl. ebd., 00:56:09-00:58:10. 70 Vgl. Jennifer Geer, S. 197. 71 Vgl. Marc Foster, 01:06:32-01:10:03. 72 Ebd., 01:21:06-01:21:08. Die Filmhandlung versucht so auch Sylvias Handlung zu rechtfertigen, Peters Kladde zu reparieren, indem sie zeigt, dass Dramen es wert sein können, dass man an sie glaubt, vgl. ebd., 01:05:32-01:06:32.

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ception they received. When Nina Boucicault turned to the distinguished gathering and begged their belief in fairies, the response was so overwhelming that she burst into tears.73

Die ‚perfekte‘ Inszenierung erfährt Peter Pan aber nicht in einem Theater, sondern im Wohnzimmer der Familie Llewelyn Davies. Hier wird der Fokus hauptsächlich auf die Szenen gelegt, in denen es um Feen und den Glauben an sie geht.74 Zwar wird das reale Filmpublikum aufgrund der medialen Gegebenheiten des Films wohl kaum geneigt sein, auf Peter Pans Drängen hin in die Hände zu klatschen, doch die wenigen Zuschauer/innen auf dem Sofa, die durch die Enge des Raums fast selbst auf der ‚Bühne‘ und damit Teil des Geschehens sind, retten Tinker Bell durch ihr heftiges Klatschen. Durch diese Glaubensbekundung wird die Basis für James Matthews Rat an Peter nach Sylvias Beerdigung geschaffen: [James Matthew:] She went to Neverland. And you can visit her any time you like if you just go there yourself. [Peter:] How? [James Matthew:] By believing, Peter. Just believe.75

In der Wohnzimmerinszenierung entfaltet das Theater seine ganze Möglichkeit, Illusion zu erzeugen. Durch den bekundeten Glauben an Feen und damit an die ‚Realität‘ des Theaters, öffnet sich neben der vierten Wand noch eine weitere und gibt den Blick frei auf die ‚Welt‘ hinter dem Theater.76 Diese ‚Welt‘ scheint durch die sich überlappenden Bildebenen im Lauf des Films immer wieder durch. Neben dem Austesten der theatralischen Ausdrucksweisen nutzt FINDING NEVERLAND gerade hier typisch filmische Mittel, die durch ihr Zusammenspiel ein intermediales Spannungsfeld erzeugen. Tracy C. Davis stellt in ihrer Untersuchung zur ‚dramatic license‘ in Peter Pan fest, dass „onstage, a symbolic world is created in which the phantasmic is a necessary condition of making narrative.“77 In FINDING NEVERLAND werden die zur Verfügung stehenden Mittel genutzt, um diesen Effekt auf die discours-Ebene zu übertragen. Die Möglichkeit, Illusion zu erzeugen, wird nicht nur auf das Theater beschränkt, sondern

73 Andrew Birkin, S. 114-117. 74 Vgl. Marc Foster, 01:22:09-01:26:23. 75 Ebd., 01:31:13-01:31:36. Vgl. auch ebd., 00:21:57-00:22:45. 76 Vgl. Tracy C. Davis, besonders S. 65f., wo sie diesen ‚act of dramatic license‘ für die Theaterinszenierung untersucht. 77 Ebd., S. 60.

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auch auf die diegetische Realität übertragen, indem sie an die Figur James Matthew geknüpft wird. Er erfüllt damit die Aufgabe, die Davis dem realen Autor für das Theaterstück zuspricht: „Barrie has proposed that what is pretense is not real; what is imaginary has reality (for some); the imaginary and imagined can be commensurate; the real can be misconstrued; what is real may not be present; pretense is unreliable, fragile, and unknowable; what you do not know can indeed hurt you; and physical matter of imaginary and real consequence can coexist.“78 Die Verknüpfung der Phantasieebene mit James Matthew wird bereits auf der gescheiterten – oder passender ‚ins Wasser gefallenen‘ – Premiere bildlich umgesetzt, wenn in James Matthews Vision über dem Theaterpublikum ein Regenschauer niedergeht, der seine Gefühle und die Stimmung im Zuschauerraum plakativ macht.79 Auf diese Weise wird das Filmpublikum eng mit der Figur und ihrem Innenleben verbunden, denn es ist der einzige Zeuge von James Matthews eigener Bildebene. Ähnlich verhält es sich auch, wenn das Ehepaar Barrie jeweils das eigene Schlafzimmer betritt und sich für Mary die Tür zu einem weiteren Zimmer des Hauses öffnet, James Matthew hingegen durch seine Schlafzimmertür einen sonnendurchfluteten Garten betritt, der im vollkommenen Kontrast zur düsteren Atmosphäre des restlichen Hauses steht.80 Da diese bizarr anmutende Raumaufteilung nicht als ‚real‘ vermittelt werden soll, wird auch hier das Filmpublikum zum Komplizen von James Matthews ‚Eskapismus‘ gemacht, mit dem er sich seinen eintönigen Alltag phantasievoll umgestaltet. So sieht auch nur James Matthew die tobenden Jungen aus dem Fenster fliegen, was zum inspirierenden Moment für die Arbeit an Peter Pan wird.81 Diese Überlagerungen sind nicht nur auf die Bildebene des Films beschränkt, sondern können auch durch die Filmmusik ausgedrückt werden.82 Diese anfänglich nur punktuell auftretende Bildüberlagerung der diegetischen Realitätsebene durch die der Phantasie wird durch James Matthews Freundschaft zur Familie Llewelyn Davies zum beinahe alltäglichen Erlebnis.

78 Ebd., S. 65. Vgl. weiter Jennifer Geer, S. 201f. 79 Vgl. Marc Foster, 00:04:47-00:05:05. 80 Vgl. ebd., 00:20:52-00:21:03. Vgl. für eine ähnliche Beobachtung auch Jennifer Geer, S. 197. 81 Vgl. Marc Foster, 00:29:14-00:29:40. 82 Vgl. hierfür die Verknüpfung von Mrs. du Maurier mit Hook. In der Hand hält sie einen Kleiderbügel, doch erst durch die einsetzende, bedrohlich klingende Musik und ihre veränderte Stimmlage wird darauf aufmerksam gemacht, dass sich unterhalb der realistischen Bildebene noch eine andere befindet, ebd., 00:24:46-00:24:57.

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Dass die Überlagerung der filmischen Bildebenen für die Beziehung programmatisch ist, wird beim ersten Aufeinandertreffen deutlich gemacht: [James Matthew:] Currently, I make my living entertaining princes and their courts with my trained bear Porthos. If you command your brother, Peter, to join us, I am willing Prince George, to give you just such a performance. […] Now, I want you to pay particular attention to the teeth. Some unscrupulous trainers will show you a bear whose teeth have all been pulled, while other cowards will force the brute into a muzzle. Only the true master would attempt these tricks without either measure of safety. [Peter:] What did you bring me over here for? […] This is absurd. It’s just a dog. […] [James Matthew:] „Just a dog“? „Just“? Porthos, don’t listen to him. Porthos dreams of being a bear and you want to dash those dreams by saying he’s „just a dog“? Tztztz. What a horrible, candle-snuffing word. That’s like saying, „He can’t climb that mountain, he’s just a man.“ Or, „That’s not a diamond, it’s just a rock.“ „Just.“ [Peter:] Fine then. Turn him into a bear. If you can. […] [James Matthew:] With those eyes, my bonny lad, I’m afraid you’d never see it. However, with just a wee bit of imagination, I can turn around right now and see the great bear, Porthos.83

Die Llewelyn Davies Brüder werden beim Spiel eingeführt, worin George als Prinz über seine Brüder regiert.84 Doch erst mit James Matthew verwandelt sich das ‚Vortäuschen‘ in eine bildlich erfahrbare Imagination. Durch die in Montage aneinandergereihten Perspektiven von diegetischer Realitätsebene – dem im Park mit dem Neufundländer Porthos tanzenden Dramatiker James Matthew – und der Phantasieebene – dem in einer Zirkusmanege mit dem Bären Porthos tanzenden Dompteur James Matthew – wird die ‚Realität‘ überlagert und in ihrer objektiven Aussagekraft sukzessiv in Frage gestellt.85 Je mehr James Matthew in dem Vergnügen seiner Vorstellungskraft aufgeht, desto umfangreicher gestaltet sich die Umgebung. Zunächst ist das tanzende Paar im alleinigen Fokus, dann wird der Blick auf eine Zirkusmanege mit gemaltem Publikum geöffnet, die bald von miteinander tanzenden Clowns, die sich um das Hauptpaar drehen, bevölkert wird, bis die Manege sich letztlich in einen weitläufigen, von Säulen getragenen Tanzsaal verwandelt. Durch das Hinzutreten von James Matthew in die Spiele der Brüder, werden diese phantastischer und gewinnen durch die bildliche Darstellung der Phantasieebene an ‚Realitätsgehalt‘. Neben der bildlichen Ausge-

83 Ebd., 00:09:25-00:11:10. 84 Vgl. ebd., 00:07:47-00:09:42. 85 Vgl. ebd., 00:11:10-00:12:11.

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staltung des Vorgestellten, bringt James Matthews Verknüpfung mit dem Theater zusätzlich den Einsatz von (zumindest angedeuteten) Kostümen mit sich. Durchbrochen wird diese Ebene nur noch, wenn die Kamera Peters Perspektive wählt, der im Gegensatz zu seinen Brüdern in der Ebene der diegetischen ‚Realität‘ verhaftet bleibt.86 Durch die Heterogentität der Perspektiven wird es ermöglicht, die Funktionsweise der Illusionsstiftung des Theaters aufzudecken und zu hinterfragen: [James Matthew:] Lords and ladies, His Royal Highness, King Michael the Benevolent, protector of the realm. [Peter:] That sceptre’s made of wood. [James Matthew:] Yes, well, we dream on a budget here, don’t we? [Peter:] No, I mean, everyone thinks it’s made of gold, but it’s just an old hunk of wood. [James Matthew:] The means to an end, Peter. What we’ve done is taken an old hunk of wood and transformed it for all the world to see into the most magnificent gold.87

Hier zeigen sich sowohl die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen des Theaters, Illusion zu erzeugen, und damit übertragen auch für den Film: Innerhalb des Theaters und des Spiels sind diese Möglichkeiten unbegrenzt, solange an die erzeugte Illusion ‚geglaubt‘ wird.88 Durch die Glaubensbekundung an Feen zur Rettung Tinker Bells wird durch die Bestätigung der Illusion die Wand des Wohnzimmers angehoben und der Blick freigegeben auf Neverland als Inbegriff der ‚Phantasieebene‘, die gleich einer platonischen Ideenwelt hinter der Realität steht und an verschiedenen Stellen immer wieder durchscheint.89 Bis zu dem Moment, in dem Sylvia Neverland betritt ist es bevölkert mit dem zum Teil aus den Theaterszenen bekannten diegetischen Schauspielern. Als Sylvia es betritt ziehen sich diese zurück und es bleiben nur die Puppen des Krokodils und zweier Meermädchen. Durch Sylvias Betreten wird die Theaterillusion von der Ebene

86 Vgl. ebd., 00:15:38-00:17:34. Bemerkenswert hier ist auch das ‚Hineingleiten‘ der ‚Phantasieebene‘ in die vorherige Einstellung vom Theater, die damit auch Charles’ Aufforderung an James Matthew widerspiegelt, Theaterstücke nicht als ‚Ernst‘ anzusehen, vgl. weiter ebd., 00:36:21-00:38:26. Nicht nur über die Kostümierung zeigt sich James Matthews Verbundenheit mit dem Theater, sondern auch über den bewussten Gebrauch von im Theater praktikablen Kulissen, so wird beispielsweise das Meer zu einer mechanisch bewegten Masse aus Pappe oder Holz. 87 Ebd., 00:27:00-00:27:28. 88 Vgl. beispielsweise die Szene mit dem Drachen, ebd., 00:21:00-00:22:45. 89 Vgl. ebd., 01:22:49-01:26:22.

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der ‚Realität‘ durchdrungen, Neverland ist nicht mehr nur die mit Phantasie ausgeschmückte Theaterwelt, sondern hat als imaginiertes Totenreich eine engere Bindung zum realen Geschehen (Sylvias Tod). Unter diesem Wechselspiel von ‚Phantasie‘ und ‚Realität‘ lässt sich Mrs. du Mauriers wildes Klatschen mit Diane Purkiss’ These über eine unreflektierte Höflichkeit, zu klatschen, wenn es gefordert ist, oder selbst noch über einen kindlich-naiven Glauben an Feen hinaus deuten: For a moment, they [die Kinder im Zuschauerraum, L.Z.] can feel that they have in themselves the power to defeat death. […] Once the proscenium has been ruptured, once the child has become conscious of himself as a spectator, the theatricality of the entire enterprise becomes obvious. We are not being asked to make real magic; we are being asked to make technical magic, theatre magic, the fairy magic of the spectaculars. It has the same effect as the narrator’s voice in the book. It makes things less real. And death on stage is always a rehearsal, a non-death, and hence a way of managing the real thing.90

Demnach ist Mrs. du Mauriers für sie sonst eher untypische Akzeptanz des Phantastischen als ihr verzweifelter Versuch anzusehen, das Leben ihrer eigenen Tochter durch den Glauben an ihre Genesung zu retten. Dass dies jedoch nicht funktionieren kann, da es sich hier, wie Purkiss erklärt, nicht um wahre Magie, sondern Theatermagie handelt, wird bereits früher im Film festgelegt: Sylvia, die während eines Hustenanfalls die Karten für die Premiere von Peter Pan sucht, wirft die Schreibtischlampe um, die in Scherben zerschellt.91 Sylvias Leben kann nicht durch Theatermagie gerettet werden, da ihre Lampe bzw. ihr Licht buchstäblich ‚aus‘ ist. Das Gespräch zwischen Sylvia und James Matthew über Sylvias Verleugnung ihrer Krankheit ist daher symptomatisch für die Konzeption des Films zu sehen: [James Matthew:] You can’t go on just pretending. [Sylvia:] „Just pretending“? You brought pretending into this family, James. You showed us we can change things by simply believing them to be different. [James Matthew:] A lot of things, Sylvia, not everything. [Sylvia:] But the things that matter. We’ve pretended for some time now that you’re a part of this family, haven’t we? You’ve come to mean so much to us all that now it doesn’t

90 Diane Purkiss, S. 274. Für mögliche Bedeutungen dieser Glaubensbekundung, vgl. auch Pomerance Murray, S. 19, 44f.; Paul Fox, S. 260; Tracy C. Davis, S. 80f. 91 Vgl. Marc Foster, 01:03:40-01:03:52.

210 | EINZELANALYSEN matter if it’s true. And even if it isn’t true, even if that can never be, I need to go on pretending. Until the end. With you.92

Während die Möglichkeiten der Illussionsstiftung innerhalb des Theaters und des Spiels unbegrenzt sind, werden die Grenzen der Phantasieebene in diesem Gespräch deutlich gemacht: Sie kann die Ebene der diegetischen Realität durchdringen, jedoch deren Gesetzmäßigkeiten nicht verändern. Sylvias Erkrankung lässt sich nicht durch ein ‚So-tun-als-ob‘ fortglauben. Demnach ist der Wechsel des Verbs von „just pretending“ zu „believing“ als Zugeständnis an diese Einschränkung zu verstehen. Während das illusionäre Vortäuschen („just pretending“) bildlich umgesetzt werden kann, aber letztlich konsequenzlos für das Weiterleben der Jungen und James Matthew ist, kann Peters Glaube daran, seine tote Mutter sehen zu können („believing“) nicht in das Filmbild übertragen werden. Es ist weder eine Illusion, noch ist es filmische ‚Realität‘. Jennifer Geer bemerkt zu diesem Verhältnis von Phantasie und Realität: Peter Pan may have succeeded because Barrie believed in his seemingly impossible play, but Sylvia’s illness and death suggest that outside the theatre, imagination can only soften circumstances, not prevent or alter them. Finding Neverland’s last scene, in which Barrie comforts Peter Davies after Sylvia’s funeral […] restrains childlike creativity even while idealizing it. Although Peter tells Barrie that he „can see“ his mother in Neverland, we as viewers see his tearful face, but we do not see Sylvia. This refusal to show Peter’s thoughts is unusual in a film that tends to visualize its character’s fantasies and suggest the limits of imagination. Imagination may help Peter cope with his loss, but it cannot restore his mother, even as an image on the screen. Finding Neverland thus encourages its audience to cherish childhood and imagination because they are vulnerable.93

Auf der discours-Ebene von FINDING NEVERLAND wird die auf der histoireEbene erzeugte fiktive Werkgenese von Peter Pan als Versuch interpretiert, mit Phantasie die Grenzen der Realität zu durchdringen und so einen angemessenen Umgang für tragische Ereignisse wie Sylvias Tod zu entwickeln. Erst durch das Zusammenspiel von Handlungsebene und Erzählebene wird es dem Film möglich, seine Thematik ganz zu erschließen.

92 Ebd., 01:11:57-01:13:00. 93 Jennifer Geer, S. 197. Hervorhebungen im Original. Vgl. auch Marc Foster, 01:30:3801:32:02.

7. THE LIBERTINE

7.1 L IBERTINAGE

DES

2 ND E ARL

OF

R OCHESTER

Laurence Dunmores Film THE LIBERTINE verweist vage auf einige markante Daten aus dem Leben von John Wilmot, 2nd Earl of Rochester. John wird hier als „moralisch verkommener Säufer und […] zynischer Poet, mit einer Vorliebe für Exzesse und erotische Phantasien“1 charakterisiert. Diese Deutung von Rochesters Leben steht in einer langen Tradition um den „Rake Rochester myth“.2 Schon früh nach seinem Tod wurde der in das Kunstprodukt ‚Rochester‘ hineininterpretierte Lebenswandel immer wieder benutzt, um (politische) Propaganda wirksam zu machen. Der erste in einer langen Reihe von Autor/innen ist Gilbert Burnet, der in „Some Passages in the Life and Death of the Right Honourable John Earl of Rochester“ kurz nach dessen Tod auf „the disorderliness and irreligion of the poet’s life in order to demonize a monarch who took money from the absolutist King of Catholic France so that he could rule without Parliament“3 verweist. Ab diesem Zeitpunkt waren der Vermarktung des Kunstprodukts ‚Rochester‘ keine Grenzen mehr gesetzt, wie Germaine Greer in der Einleitung zu ihrer Biographie über den Earl feststellt: „Rake Rochester was as effectively packaged and sold as any modern literary product.“4 Hierüber lässt sich auch die

1

Klappentext der DVD.

2

Germaine Greer, S. 5. Melissa E. Sanchez kritisiert in ihrem Artikel „Libertinism and Romance in Rochester’s Poetry“, dass Rochesters Biograph/innen sich meist nur auf einen Aspekt (wie beispielsweise ‚Libertinage‘) konzentrieren. Vgl. Melissa E. Sanchez, S. 442, 451.

3

Germaine Greer, S. 2f.

4

Ebd., S. 3-7. Auch die neun überlieferten Elegien auf Rochesters Tod gestalten, der jeweiligen Intention entsprechend, ein ambivalentes Bild von Rochester, das stark zu dessen Verklärung beiträgt, vgl. Nicholas Fisher, besonders S. 4-12. Vgl. auch Jeremy

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Verbindungslinie zu Dunmores Filmprojekt finden, denn ein Film über die englische Restaurationszeit ist, wie Ingo Berensmeyer feststellt, keine Selbstverständlichkeit: „Restauration appears to be lacuna in comtemporary cultural and cinematic memory. If not cinematically unrepresented, it is certainly underrepresented.“5 Auch in THE LIBERTINE wird die Restaurationszeit nicht zum eigentlichen Darstellungszweck, sondern zur Kulisse für die eigene Interpretation Rochesters, der gleich einem launischen Star in Szene gesetzt und von sich selbst über Prolog und Epilog wie auch von den ihn umgebenden Figuren als ‚Rake Rochester‘ inszeniert wird. Bezeichnend hierfür ist der Untertitel des Films SEX, DRUGS & ROCOCO, der die Verknüpfung zum Rockstar über die Anlehnung an den Slogan ‚Sex, Drugs & Rock’n’Roll‘ plakativ macht. Die Inszenierung des Autors als Star wird in der ersten Szene im Theater etabliert, wo er entsprechend gefeiert wird.6 Eng damit verbunden ist auch die Besetzung der Rolle durch Johnny Depp, der durch seine Persönlichkeit und die verschiedenen eingenommenen Rollen die Inszenierung des historischen Rochester um ein ganz eigenes Starimage ergänzt.7 Die aus dem Leben des historischen Rochester verwendeten Begebenheiten werden ebenso wie die zitierten Ausschnitte aus seinem Werk unter diesem Aspekt ausgewählt und in eine, der Darstellung einer kritisch betrachteten Erfolgsgeschichte entsprechende und damit nicht zwangsläufig historisch korrekte Chronologie gesetzt. So wird Rochesters verschwenderisches Leben auf Kredit, das er sich laut Germaine Greer von seiner Mutter abgeschaut haben soll, in den Film übernommen.8 Wiederholt wird auf die ‚Entführungsgeschichte‘ von Elizabeth Malet durch Rochester angespielt, die letztlich zu der Ehe der beiden führ-

W. Websters Artikel „Rochester’s Easy King“: „Whenever historians and literary critics discuss or even allude to libertinism in Restorauration England, John Wilmot, Earl of Rochester, is inevitably evoked as a representative figure, THE [sic] libertine or THE [sic] rake.“ Jeremy W. Webster, S. 1. 5

Ingo Berensmeyer, S. 14.

6

Vgl. Laurence Dunmore, 00:15:28-00:16:40. Vgl. auch Ingo Berensmeyer, S. 22.

7

Dies übrigens selbst von Film zu Film unterschiedlich, da seine Verkörperung James Matthew Barries in FINDING NEVERLAND einen ganz anderen Umgang mit einem Dasein als Star voraussetzt. Vgl. weiterführend für eine Analyse von Johnny Depps verschiedenen Rollen Ingrid Tomkowiak.

8

Vgl. Germaine Greer, S. 11 und Laurence Dunmore, 00:12:07-00:12:30. Allerdings ist dieses Verhältnis zu seinen Schulden im Film nicht auf seine äußerst puritanisch dargestellte Mutter zurückzuführen.

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te.9 Während Rochester allerdings gefasst wurde, bevor die Kutsche mit der entführten Elizabeth Malet ihn erreichen konnte, wird in der filmischen Fassung auf Helferfiguren verzichtet, so dass John gleich in der Kutsche seine zukünftige Frau nicht nur ent-, sondern verführt. Diese geänderte Fassung wird im Film wiederholt narrativiert – zuletzt bekommt John sie auf dem Sterbebett erzählt – und wird durch die Wiederholungen (zumindest filmimmanent) als authentisch legitimiert. Unter dem Aspekt der Skandalträchtigkeit wurden auch die im Film verwendeten Zitatsplitter aus den überlieferten Werken ausgewählt. Sie sollen besonders die Zügellosigkeit und Ausschweifungen Johns auf der sprachlichen Ebene des Films verankern helfen und gleichzeitig authentizitätsstiftend wirken. Der Film setzt mit Johns Verbannung vom Hof ein, nachdem er dem König und einigen Verwandten von dessen im Film nicht präsenter Frau seine Satire auf Charles II. vorgetragen hat.10 Wofür Charles II. ihn verbannen ließ, wird er von seinen Freunden, die sich im Film aus Charles Sackville, George Etherege und später Billy Downs zusammensetzen, aufs Höchste gelobt.11 In diesem Gespräch liefert John, eingeklammert von den ausgewählten Zitaten vom Anfang und Ende des Gedichts, die filminterne Interpretation des Werks: Die Satire auf Charles II. wird erst als Angriff auf die Monarchie enthüllt, als Charles II. vor der Verwandtschaft seiner Frau mit seinem ‚Court Wit‘ angeben muss und John beleidigt, wogegen John sich mit aller Macht (in dem Fall mit Worten) zur Wehr setzt. Politische Rebellion wird also zur sekundären Begleiterscheinung bewusst heraufprovozierten skandalösen Verhaltens und dem Bedürfnis als Idol im Mittelpunkt zu stehen. Die weiteren Zitate sind überwiegend aus Gedichten ausgewählt, deren Inhalt als pornographisch gewertet werden kann. So werden neben „A Satyr on Charles II“ besonders die Gedichte „A Ramble in St. James’s Park“, „Imperfect Enjoyment“ und „Signor Dildo“ hervorgehoben sowie das Rochester nicht eindeutig zuordbare (Lese-)Drama „The Farce of Sodom, or, The Quintessence of Debauchery“, das im Mittelpunkt der Narration der fiktiven Werkgenese in THE

9

Vgl. Germaine Greer, S. 11-14, Sarah Ellenzweig, S. 703f. und Laurence Dunmore, 00:05:37-00:06:27, 01:39:55-01:40:32.

10 Vgl. ebd., 00:07:49-00:0:41 und Germaine Greer, S. 34-36, 55f. Vgl. auch Jeremy W. Webster, S. 3. 11 Vgl. Laurence Dunmore, 00:07:38-00:09:42 und John Wilmot (2002), S. 60f. Für den historischen Freundeskreis um Rochester, vgl. Germaine Greer, S. 2.

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LIBERTINE steht.12 Obwohl Johns Libertinage durch diese Zitatauswahl hauptsächlich über zügellose Sexualität definiert wird, wird diese nur selten von der Wortebene auf die Bildebene geholt. Stattdessen liegt der Fokus der Bildebene auf dem Verhältnis der Geschlechter, wie Berensmeyer beobachtet: Both films [STAGE BEAUTY und THE LIBERTINE, L.Z.] can be viewed as enquiries into masculinity under duress. They surround their male protagonists with strong female characters, whose rise in stature and status points even more forcefully the men’s decline. From strongly assertive, potent and powerful characters, Kynaston and Rochester are in the course of both films successively reduced to social insignificance, personal insecurity, and, in Rochester’s case, even mental and physical annihilation.13

Von Beginn der Handlung an, ist John bestrebt, ein Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern herzustellen, indem er seine Frau dazu bringen will, ebenfalls ihre Sexualität anzuerkennen und auszuleben, wie es die meisten männlichen Figuren über die gesamte Handlung hinweg ganz selbstverständlich tun.14 Als er sie in der Kutsche auf dem Weg nach London befriedigen will, wehrt sie ihn mit der Begründung des unpassenden Orts ab. Doch John zwingt seine Frau, ihre Sexualität zu ‚kosten‘ und sie anzuerkennen, indem er ihr den Finger, mit dem er sie zuvor befriedigt hat, in den Mund schiebt.15 Darüber hinaus weigert er sich, Jane auf ihren Körper zu reduzieren, obwohl sie dies in ihrer Funktion als Prostituierte ausdrücklich verlangt.16 Auch seine Beziehung zu Elizabeth Barry basiert von seiner Seite her auf Respekt. So duldet er es nicht, dass in seinem Freundeskreis

12 Vgl. beispielsweise Ingo Berensmeyer, S. 24; Paul Hammond, S. 60; Simon Hampton, S. 167. Greer argumentiert dafür, „Sodom“ Rochester zuzusprechen. Vgl. Germaine Greer, S. 63f. Der Film bezieht mit seiner Handlung eine eindeutige Position zu diesem Streitpunkt. 13 Ingo Berensmeyer, S. 17. Für Interpretationen des Verhältnisses zwischen dem historischen Rochester und den ihn umgebenden Frauen, vgl. Germaine Greer, S. 46-48. 14 Tracy Wendt Lemaster untersucht in ihrem Aufsatz „Lowering the Libertine“ die männliche Dominanz der Gesellschaft zu Rochesters Zeit und wie er in seinen Gedichten dieser entgegentritt. Vgl. Tracy Wendet Wendt Lemaster, besonders S. 123f. Vgl. auch Sarah Ellenzweig, S. 715-719. 15 Vgl. Laurence Dunmore, 00:05:38-00:07:08. 16 Vgl. ebd., 00:34:55-00:38:00. Eine Rolle, der sie selbst ebenfalls widerspricht, da sie neben Alcock die Einzige ist, die Rochester während seiner Flucht und seines zunehmend schlechter werdenden Gesundheitszustands beisteht, bis Rochester sie endgültig fortschickt. Vgl. ebd., 01:15:16-01:18:44.

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über sie gelästert wird. Als Charles Sackville im Zuge dieses Streitgesprächs fordert, die eingetroffene Elizabeth warten zu lassen (denn „She is a whore and she will wait.“),17 springt John auf, um ihr stattdessen eine respektvolle Höflichkeitsbekundung entgegen zu bringen. Doch durch die Aufwertung der Frau degradiert sich John nahezu zwangsläufig selbst als Mann, was sich bildlich in seiner kurzfristigen Impotenz nach dem ersten Training mit Elizabeth ausdrückt und ihn damit mit dem lyrischen Ich aus „Imperfect Enjoyment“ gleichsetzt. Indem John, während Janes vergeblichen Bemühungen, eine der Stellen zitiert, die die Impotenz des lyrischen Ichs offenlegen, erweckt der Film den Anschein, als wäre der Zuschauer ‚live‘ dabei, wenn John seine Gedichte verfasst.18 Der Prozess des Dichtens wird dabei (im Sinne einer romantischen Geniekonzeption) als spontan gefasst, denn die Gedichtsplitter, die der diegetische Rochester zitiert, bedürfen nie einer Korrektur oder längeren Phasen des Überlegens. So findet John es auch bemerkenswert, dass er an „A Satyr on Charles II“ fast eine Stunde gearbeitet hat und der König dieses ‚erarbeitete‘ Werk nicht angemessen würdigt.19 Eine Trennung zwischen John und den unterschiedlichen Personae, die in den Gedichten als lyrisches Ich auftreten, ist im Film nicht vorgesehen.20 Obwohl John, besonders über die Gedichte, viel über das Thema redet und immer wieder damit assoziiert wird, ist er nur in einer einzigen Szene mit Elizabeth Barry bildlich beim Sex zu beobachten.21 Elizabeths Reaktion, ihr Gesicht zusammen mit ihren Tränen die meiste Zeit hinter ihren Armen zu verbergen, zeigt, dass selbst diese eine Szene der Bildebene wenig mit dem freizügigen sexuellen Verhalten zu tun hat, das die ausgewählten Gedichtzitate auf der sprachlichen Ebene vermitteln. Dies spiegelt sich, wie Germaine Greer erläutert, auch in der zeitgenössischen Auffassung von Rochester wider: „In the thousands of scurrilous verses written in his lifetime to satirize his contemporaries at court in terms of their sexual proclivities Rochester was never mentioned as a performer, even in satires that accuse his known associates of orgiastic excesses of every hue. There was no evidence that he was any kind of sexual athlete.“22

17 Ebd., 00:54:50-00:55:23. 18 Vgl. ebd., 00:35:17-00:35:59. 19 Vgl. ebd., 00:09:24-00:09:31. 20 Diese Haltung bemängelt Greer in vielen Biographien über Rochester. Vgl. Germaine Greer, S. 2, 7. Vgl. auch Sarah Ellenzweig, S. 722, n. 11; Dustin H. Griffin, S. 24f.; John O’Neill, S. 190f. 21 Vgl. Laurence Dunmore, 00:56:50-00:58:09. 22 Germaine Greer, S. 5.

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Johns Libertinage ist also nicht gleichzusetzen mit seiner Lebenseinstellung, sondern als eine Fluchtbewegung vor den an ihn gerichteten Erwartungshaltungen zu werten. Plakativ wird dies besonders in seinem Verhältnis zu seiner Mutter und zu Charles II. Johns Mutter erwartet von ihm gottesfürchtig und ein vorbildlicher Adliger zu sein.23 Um dieser Erwartungshaltung an ihn zu widersprechen, gibt er sich dem hemmungslosen Alkoholgenuss hin und versucht den Anschein zu erwecken, der Teufel sei in ihm – mit Erfolg, wie die Geschichten, die über ihn erzählt werden, bestätigen.24 Darüber hinaus setzt er alles daran, die Schlechtigkeit im Menschen zu beweisen und sich wie ein Misanthrop und Feigling zu verhalten.25 Auch die Erwartungen des Königs richten sich an seinen Stand und seinen Intellekt: [Charles II.:] When you first came to court, Johnny, you were a boy of eighteen, a certain flippancy, a whiff of impertinence. This was acceptable. But with ten years down the road the view is different. The tone has to change. I have to look responsible, sober. I want you with me. […] I want you to take on a new role. [John:] Here? In the playhouse? [Charles II] No, the House of Lords. […] The time has come for you to pay your dues. People listen to you, Johnny. If you took your seat in the Lords, you could make great speeches that would influence things. Anyone can oppose. It’s fun to be against things. But there comes a time when you have to start being for things as well. […] [John:] What do you want from me? [Charles II.:] Writing, something profound, that will stand as a monument to my reign. You’re my literary giant. Dryden? Plodder. But look what he’s achieved. Elizabeth had her Shakespeare. You can be mine. Give me a major work of literature and I’ll give you 500 Guineas. [John:] When would you like it? Friday? [Charles II.:] Don’t fuck it up, John. I love you.26

Während John zunächst von einer Aufgabe im Theater angetan scheint, begegnet er der zweiten formulierten Erwartung des Königs an ihn, nämlich gerade sein ‚Shakespeare‘ zu werden, mit Sarkasmus. Die Vorstellung, Theaterdichter zu sein, hat für ihn nur einen Reiz, solange niemand erwartet, dass er dies sein soll.

23 Vgl. Laurence Dunmore, 00:04:50-00:05:13, 00:51:14-00:52:05. 24 Vgl., ebd., 01:24:36-01:25:53 und Germaine Greer, S. 67. 25 Vgl. Laurence Dunmore, 00:11:16-00:14:57, 01:13:33-01:14:32, 01:20:05-01:20:18 und Germaine Greer, S. 22. 26 Laurence Dunmore, 00:18:38-00:19:40, 00:25:26-00:26:25.

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‚Shakespeare‘ ist hierbei allerdings nicht als reale Person zu betrachten, sondern als das Kunstprodukt, dass sich für (politische) Propaganda nutzen lässt: „Shakespeare had for some time been established as the English national poet. […] He served as a weapon against the hegemonic tendencies of French neoclassical culture. This was the most significant sense in which he was ‚used‘ and ‚made alive‘ in the eighteenth and nineteenth centuries.“27 Im Film gilt diese Beobachtung von Bate auch für das 17. Jahrhundert. Charles II. plant John als ‚Schild‘ gegen die Franzosen zu nutzen: Mit einem Theaterstück soll er dem französischen Botschafter die Herrlichkeit der Regentschaft von Charles II. demonstrieren – und so die politische Basis schaffen, die er braucht, um sich Geld vom französischen Monarchen leihen zu können.28 John, in allem bestrebt, dem Wunsch des Königs zu widersprechen,29 richtet sein Theaterstück, „The Farce of Sodom, or, The Quintessence of Debauchery“ gegen Charles II. Als dieser nach der „Sodom“-Inszenierung jegliche Erwartungen an John aufgibt, widerspricht er in seinen Handlungen auch dieser ‚Erwartungslosigkeit‘, indem er die andere Erwartung des Königs an ihn, im House of Lords als sein Fürsprecher seinen Verstand für wortgewandte Reden zu verwenden, tatsächlich erfüllt.30 Doch sofort, nachdem der König erneut dabei ist, Erwartungen an ihn zu stellen, indem er anerkennt, dass dieser seine früheren Erwartungen nun letztlich doch erfüllt hat, muss John erneut widersprechen – wenn auch erfolglos, da der König das letzte Wort behält. Gleichzeitig mit der erfüllten Erwartung des Königs hat John sich hiermit aber auch in die Erwartungen seiner Mutter gefügt, indem er die von ihr propagierte „Stärke des Adels“ in sich entdeckt, aus seinem Sterbebett noch einmal aufzustehen. Darüber hinaus lässt er sich überzeugen, dass ein kluger Verstand nicht automatisch Gott widersprechen muss. Die Ursache der ‚Death-Bed Repentence‘ wird im Film also nicht in einem plötzlichen Sinneswandel gesucht, sondern in Johns schwindendem Wider-

27 Johnathan Bate, S. 183. 28 Vgl. Laurence Dunmore, 00:58:09-00:58:51; Ingo Berensmeyer, S. 23f. 29 Vgl. Laurence Dunmore, beispielsweise 00:25:11-00:25:24. Auch Greer zeigt, dass sich der historische Earl of Rochester immer wieder in Situationen wiederfand, die ihn als Gegner des Königs auswiesen. Vgl. Germaine Greer, S. 18-21, 49. 30 Vgl. Laurence Dunmore, 01:19:19-01:21:04, 01:33:18-01:33:48. Zugunsten dieses Wandels verzichtet der Film darauf, Rochesters belegtes Interesse an Politik und sein früheres und mehr oder minder regelmäßiges Erscheinen im House of Lords zu erwähnen. Vgl. Germaine Greer, S. 15, 23.

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stand gegenüber der an ihn gerichteten Erwartungen.31 Dies steht im Zusammenhang mit seinen nachlassenden körperlichen Kräften, aber auch mit einem sich wandelnden Verhältnis zu seiner Frau. Johns Abneigung, den Erwartungen zu entsprechen, findet sich auch im Verhalten seiner Freunde und manifestiert sich besonders in der Verspottung Drydens, der als Poet Laureate seiner Zeit die an ihn gestellten Erwartungen erfüllt.32 Zentral für diesen Charakterzug ist auch das Portrait, das John von sich und einem Affen anfertigen lässt. Keith Walker schreibt in seinem Beitrag „Lord Rochester’s monkey (again)“ über Huysmans’s Portrait (und dessen Kopie, deren Künstler nicht ermittelt ist): The most famous monkey connected with Rochester […] is the monkey in Huysmans’s portrait of Rochester. […] Huysmans is reputed to have been influenced by earlier satirical painters, but nothing of satire can be seen in his portraits of women of the court. One unusual (indeed, in my experience, unique) feature of his monkey is the monkey itself. […] People tend to see in Huysmans’s portrait of Rochester what they want to see. The neatest and the most egregious (but all too typical) is that by Charles Norman: “The portrait … depicts a man who has found nothing to satisfy him. […] His face has the pallor, his eyes, the fixed gaze, of a man with mortal illness.“ The presence of the monkey, though, as I have argued, is a calculated offence to our expectations. We expect an aristocrat to have himself painted primarily as an act of memorial; he might surround himself with dogs, or horses, or possibly a library or an ample estate, or even with a wife and children, but never with an animal so lascivious, or dirty, or so unpredictable, as a monkey. It is so ungrand. […] Rochester must have discussed the composition of the Huysmans painting with the artist. […] Does the monkey, then, satirise some enemy of Rochester? Dryden has been suggested. […] The relationship between Dryden and Rochester was uneasy at best and underwent several vicissitudes.33

31 Vgl. Laurence Dunmore, 01:26:04-01:28:25. Die häufig gesuchte Erklärung, warum so wenige von Rochesters Dokumenten überliefert sind, wird mit der Verbrennung derselben im Film ebenfalls gewählt. Hier ist es seine Mutter, die die ihrer Überzeugung nach verwerflichen Unterlagen ihres Sohns verbrennt. Vgl. hierfür auch Germaine Greer, S. 8. Eine mögliche Erklärung für Rochesters ‚Deathbed-Repentance‘ suchen Germaine Greer, S. 73; Richard Harries, S. 191-194 und Thom Gunn, S. 253. 32 Vgl. Laurence Dunmore, 00:07:16-00:07:22, 01:12:24-01:13:05. Vgl. auch Germaine Greer, S. 27. 33 Keith Walker, S. 84-86.

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Im Film wird die Idee zu diesem Gemälde allein dem gelangweilten und deshalb im Vergleich zu seiner still sitzenden Frau auffällig herumzappelnden und nach einer Ablenkung suchenden John zugeschrieben, während der diegetische Huysmans es zunächst als unadäquat ablehnt, ein solches Gemälde anzufertigen.34 Ein möglicher Zusammenhang zwischen dem gekrönten Affen und Dryden wird im Film nicht hergestellt. Das Porträt dient hier vordergründig der Darstellung von Johns zwanghaften Konventionsbrüchen. Da es letztlich anstelle des Gemäldes mit seiner Frau entsteht, zeigt sich hier auch die Problematik, die sich aus Johns Verhalten für die Ehe der beiden ergibt.35 Während John das Portrait mit dem Affen eigentlich nur wünscht, um mit ihm die konventionellen Gemälde des Adels ad absurdum zu führen, bezieht seine Frau seine Handlungen auf sich selbst. John versucht ihr zwar sein Interesse an dem Gemälde mit dem Affen zu erklären, doch kann er seine Fluchtbewegung vor den Erwartungen anderer nicht präzise genug reflektieren, um sie ihr begreiflich zu machen. Obwohl Johns Liebe zu ihr sich immer wieder zeigt, wie beispielsweise in seiner Weigerung, sie nur noch als Bewahrerin der Adelslinie zu betrachten, befindet er sich in derselben Situation wie das lyrische Ich in „Absent from thee“.36 In einer vergleichbaren Position der höfischen Minne- oder der petrarchischen Sonett-Tradition kann er seine Ehefrau nur als das Ferne und Idealisierte begehren, aber nicht als tatsächliche Frau. Seine Briefe an sie sind voller Leidenschaft, die er ihr aber nicht persönlich zeigen kann. Erst als sie dem von der Krankheit bereits stark angegriffenen John sowohl mit ihrer körperlichen Überlegenheit als auch ihrem für John unvermuteten Zornausbruch und dem Beweis, dass auch sie sich dem Alkoholgenuss hingeben kann, bewusstmacht, dass sie eine Frau aus Fleisch und Blut ist, trägt auch sie einen Teil zu Johns Veränderung bei, die sich letztlich in der ‚Death-Bed Repentance‘ ausdrückt:

34 Vgl. Laurence Dunmore, 00:39:27-00:40:46. 35 Vgl. ebd., 00:40:46-00:43:50, 01:11:24-01:11:40. In der zweiten Szene sendet der auf der Flucht vor Charles II. befindliche Rochester seiner Frau das Portrait mit dem Affen. Ihrer Reaktion nach zu urteilen, geht sie davon aus, Rochester will sie in ihrer Sorge um ihn weiter verspotten. Ob dies die tatsächliche Absicht Rochesters ist oder ob er ihr, da er nicht selbst zu ihr kommen kann, wenigstens ein Bild von sich als Zeichen seiner Gedanken an sie schicken will, wird im Film offengelassen. 36 Vgl. John Wilmot (2002), S. 88f. Vgl. auch Thom Gunn, S. 254. Das Gedicht wird nicht zititert, doch die Ähnlichkeit zwischen dem lyrischen Ich von „Absent from thee“ und John ist markant.

220 | EINZELANALYSEN [Elizabeth Wilmot:] I am ever your last resort. When your mistress has kicked you into the street and the last whore in Covent Garden refuses to attend to you, then and only then do you come to me. [John:] I think you will never be a contented woman, until you are a much respected widow. And I am hard at work on doing you that last good service. [Elizabeth Wilmot:] I don’t want you to do die. I want you to live and live differently.37

Johns fehlende Reaktion auf diese klar an ihn formulierte Erwartungshaltung seiner Frau zeigt seine körperliche Schwäche und vermutlich auch seinen Schock über die deutlichen Worte. Die Krankheit macht es John unmöglich seine Flucht sowohl geistig wie auch körperlich weiter fortzusetzen und er muss sich den an ihn gerichteten Erwartungen stellen. Er muss sich – wie Charles II. prophezeit hat – entscheiden, für etwas zu sein. Dieser Wandel in Johns Verhalten gegenüber seiner Umwelt wird ermöglicht durch die Entwicklung, die er während der Filmhandlung durchlaufen muss und die besonders durch das Zusammenspiel von ‚Schauspiel‘ und ‚Wahrheit‘ ausgelöst wird. Johns Libertinage wird als Fluchtbewegung dargestellt, die ihn geistig wie auch körperlich immer wieder ins Theater treibt.38 Johns Verbundenheit zum Theater erklärt sich primär natürlich aus dessen Unangemessenheit für den Adelsstand,39 darüber hinaus über sein Gefühl des ‚Verlorenseins‘ im Leben: „Life has no purpose. It is everywhere undone by arbitrariness. I do this and it matters not a jot if I do the opposite. But in the playhouse, every action, good or bad, has its consequences.“40 John bewundert das Theater, das ihm Sicherheit vermittelt, da hier nicht Zufall und Willkür vorherrschen, sondern ein der Form des geschlossenen Dramas entsprechender, logischer Aufbau der einzelnen Handlungselemente, der nachvollziehbar und durchschaubar wird.41 Dieses Gefühl der Sicherheit braucht John wie eine Droge.42 Da das Theater für ihn die ‚Realität‘ regelrecht ersetzen soll, stellt er den Anspruch an das Schauspiel, ‚wahrheitsgetreu‘ und ‚echt‘ zu sein. „I wish to be moved. I cannot feel in life, I

37 Laurence Dunmore, 01:23:30-01:23:51. 38 Für die Verbundenheit des historischen Earl of Rochester mit dem Theater, vgl. beispielsweise Germaine Greer, S. 54-66; Brean Hammond/ Paulina Kewes, S. 134f.; David Farley-Hills, S. 164. 39 Vgl. Laurence Dunmore, 00:50:53-00:51:02. 40 Ebd., 00:33:29-00:33:43. 41 Vgl. Uwe Spörl, S. 224-227. 42 Vgl. Laurence Dunmore, 00:33:49-00:33:56.

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must have others do it for me here in the theatre.“43 Das Potential für das ‚perfekte Schauspiel‘, das die Illusion der ‚Echtheit‘ erzeugen und erhalten kann, sieht er in Elizabeth Barry und beschließt, ihr Talent für seine Bedürfnisse zu schulen.44 Befähigt sieht er sich dazu, weil er, als „cynic of our Golden Age“45 den nötigen Einblick in das Verhalten seiner Mitmenschen hat, was ihn befähigt zwischen ‚echtem‘ Empfinden und der Vortäuschung desselben zu unterscheiden, denn „counterfeit will not serve you on the stage.“46 Auch Elizabeth stellt die Anforderung an ihr Schauspiel, dass es auf ‚Wahrheit‘ gründen und sich von dem gestelzten Spiel ihrer Vorgängerinnen, das die Künstlichkeit des Theaters nur weiter hervorhebt, unterscheiden solle.47 In dem ersten Auftritt, der John und mit ihm dem Filmpublikum von ihr gezeigt wird, versucht sie das intime Gespräch, in das ihre Figur verwickelt ist, durch die zum Flüstern gesenkte Stimme zu verdeutlichen. Doch so kann sie über die zweite Reihe hinaus nicht mehr verstanden werden und muss ausgebuht von der Bühne flüchten.48 Erst durch das Training mit John, das sich hauptsächlich mit der Rolle der Ophelia aus Shakespeares Hamlet beschäftigt, gelingt es ihr, ihren Wunschtraum, die größte Tragödien-Schauspielerin ihrer Zeit zu werden, zu erfüllen.49 Passenderweise ist es auch hier der Schatten ‚Shakespeares‘ der Johns Handlungen überragt. Berensmeyer bemerkt zur ausgeprägten Präsenz ‚Shakespeares‘ in THE LIBERTINE: „Shakespeare [is enlisted, L.Z.] as the central cultural medium of the period (and, implicitly, of our own era, in filmic adaptations).“50 Durch seinen zeitlosen Status als ‚klassischer‘ Autor kann die Chiffre ‚Shakespeare‘ auch zum Referenzpunkt für das reale Filmpublikum werden und als Synonym für das Theater (oder im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert zusätzlich für den Film) stehen.51 Der Film verweist so auf die Möglichkeit, dass beide Dramatiker zu einem englischen ‚Kulturgut‘ zusammengeschmolzen werden könnten, doch John wehrt sich im Laufe der Handlung gegen diese Aus-

43 Ebd., 00:33:01-00:33:10. 44 Für Untersuchungen des historischen Verhältnisses zwischen Rochester und Barry, vgl. beispielsweise Warren Chernaik, S. 13f.; Simon Hampton, S. 168-178. 45 Laurence Dunmore, 00:33:14-00:33:16. 46 Ebd., 00:29:00-00:29:02. 47 Vgl. ebd., 00:26:41-00:34:07. 48 Vgl. ebd., 00:20:11-00:21:51. 49 Vgl. ebd., 00:44:12-00:46:17. 50 Ingo Berensmeyer, S. 20. Für die historische Bedeutung Shakespeares für die Bühne der Restaurationszeit, vgl. Germaine Greer, S. 57. 51 Vgl. für diese Überlegung auch Ingo Berensmeyer, S. 26.

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legung seines Lebens, indem er mit seinem Drama kein tiefgründiges Monument für die Regentschaft von Charles II. abliefert. Statt sich von dem Konstrukt ‚Shakespeare‘ vereinnahmen zu lassen, macht sich John ihn zu Nutze, um seine eigenen Ziele zu erreichen. Elizabeth Barry gibt John das Gefühl, in seinem Leben selbst keine Rolle spielen, keine Erwartungen erfüllen zu müssen, denn sie übernimmt mit ihrem ‚wahren‘ Schauspiel diesen Part. Daher bleibt es bis zuletzt unklar, ob Rochester nun tatsächlich Elizabeth oder ihr Schauspiel als Teil des Theaters, das er so schätzt, liebt: [John:] I’ve met this woman. Lizzy Barry. [Jane:] That new actress? She ain’t no looker. [John:] There is spirit in her. [Jane:] When a gent sees the spirit and not the eyes or the tits, then the gent is in trouble. [John:] Would you call me a cynic, Jane? [Jane:] I would call you a man who pretends to like life more than he does. [John:] Is that cynic? [Jane:] I’m just a moll-sack. I don’t do questions. [John:] Well, if I am a cynic, how have I fallen in love with a plain woman whom I do not know? [Jane:] You saw her on stage. All the colours and them [sic] poems they say. Gives’em a glow. You seen [sic] her out of the theatre? [John:] No. [Jane:] Well, then it’s not her, it’s the theatre. That or … [John:] Or what? [Jane:] They say men fall three times. First is calf love. Second is the one you marry. [John:] And third? [Jane:] Third …, third is your death-bed bride. You sniff her, you sniff your own shroud. [John:] Ah, how you have cheered me.52

Obwohl Janes Worte von ihrer Eifersucht auf die neue Konkurrentin um Johns Aufmerksamkeit geleitet sind, treffen sie doch den Kern von Johns Unsicherheit, wem seine Gefühle tatsächlich gelten. Um eine Antwort zu finden, spaziert er mit Elizabeth während des zweiten Trainings über den Markt. Doch beide bleiben sie fest dem Thema Theater verhaftet, da Elizabeth auch hier lernen soll, Ophelias Gefühle in ihrer körperlichen Manifestation zu beherrschen.53 Letztlich bleibt es für John irrelevant, ob er Elizabeth als Frau oder Personifizierung des

52 Laurence Dunmore, 00:36:07-00:37:36. 53 Ebd., 00:44:11-00:45:17

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Theaters liebt, denn sie ist es, die ihn fortschickt, nachdem sie von ihm gelernt hat, was sie braucht. Ihr Schauspiel ist so perfekt geworden, dass John sich der Illusion hingeben kann, Elizabeth würde seine (mögliche) Liebe für sie erwidern. Doch, getreu ihrem Versprechen an John, eifersüchtig über ihr Talent zu wachen und es über alles andere in ihrem Leben zu stellen, schickt sie ihn fort, nachdem sie gelernt hat, was er ihr beibringen konnte, und verändert damit Johns Verhältnis zu ‚Schauspiel‘ und ‚Wahrheit‘, zum Theater und zum Leben.54 Durch Elizabeths Darstellung vermeintlich ‚echter‘ Gefühle im Theater, setzt sie eine Entwicklung in Gang, die die Grenze zwischen dem intradiegetischen Theater und Johns Leben verwischt und die diegetische ‚Realität‘ dem Theater ähnlich werden lässt.55

7.2 D IE B ÜHNE IM S PANNUNGSFELD VON S CHRIFT , B ILD UND T ON THE LIBERTINE öffnet mit einer schriftlich eingeblendeten Fremdcharakterisierung des Hofs von Charles II.: „In 1660, following the years of repressive Puritan rule, Charles II is restored to the English throne amid general rejoicing. Under the new King’s guidance, theatre, the visual arts, science and sexual intercourse flourish. Along with war, natural disasters, political conflict, economic headaches and binge drinking. By 1675 the hangovers kick in. A desperate Charles turns to one particular friend …“56 Direkt im Anschluss folgt eine Selbstcharakterisierung von John, die er in einem abgedunkelten Raum allein in die Kamera spricht.57 Prolog und Epilog fassen die filmische Handlung damit in ein metaleptisches Element der ‚Illusionsdurchbrechung‘,58 insofern John sein Leben posthum als ‚Rake Rochester‘, wie er auch zu dem zuvor charakterisierten Hof von Charles II. passt, interpretiert. Während hierin Bild- und Tonebene noch miteinander harmonieren, widersprechen sie sich in einem anderen Punkt bereits: Der Prolog holt John (und damit indirekt auch das beim Filmpublikum ent-

54 Vgl. ebd., 00:30:22-00:34:54, 01:36:37-01:39:06. 55 Dieser Umstand manifestiert sich im Drama, das zur Filmvorlage gereichte noch deutlich intensiver, indem es hier zu einer reinen ‚mise-en-abyme‘ kommen kann, statt der ‚mise-en-abyme‘-ähnlichen Struktur in der wechselseitigen Durchdringung von Theater und Film. 56 Laurence Dunmore, 00:01:00-00:01:37. 57 Vgl. ebd., 00:01:40-00:03:36. 58 Vgl. weiterführend Sonja Klimek, S. 44f.

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stehende Bild von der historischen Person Rochester) aus einer zeitlichen Verortbarkeit heraus, indem dieser anmerkt, dass er noch immer das sexuelle Vergnügen erleben könne, das ihn als Figur laut seiner Selbstcharakterisierung auszeichnet, die im Film aber nicht zum Tragen kommt.59 Während auf der Bildebene durch die Schrift historische Verortbarkeit und Authentizität angestrebt werden, widerspricht die daran anschließende Tonebene, indem sie den Verklärungsprozess des historischen Rochester in den filmisch thematisierten ‚Rake Rochester‘ anspricht. Dieser mythologisierende Verklärungsprozess richtet sich besonders auf den Poeten, der mit den Personae seiner Gedichte gleichgesetzt wird. Der Prolog widerspricht durch seinen bewussten Verzicht auf Reime sowohl der Erwartungshaltung der Filmzuschauer, was die Biographie eines Dichters der Restaurationszeit anbelangt und auch der folgenden Filmhandlung, die John gerade über Gedichtzitate charakterisiert.60 Johns gesprochene Selbstcharakterisierung und die Fremdcharakterisierung durch das Filmbild werden somit in ein fortdauerndes Spannungsfeld gehoben, da der Protagonist stets bestrebt ist, seine Selbstcharakterisierung zu verifizieren, aber häufig dabei scheitert.61 Durch das Nutzen des ‚Rake Rochester‘-Mythos für die Filmhandlung und das gleichzeitige Sichtbarmachen der Künstlichkeit derselben über die Erzählebene entwickelt sich im Film ein ambivalentes Verhältnis zu dessen Protagonisten. John trifft in seinem Prolog eine entscheidende Aussage über die Sympathielenkung: „Allow me to be frank at the commencement: You will not like me. […] You will not like me now and you will like me a good deal less as we go on. […] I do not want you to like me.“62 Die Filmhandlung verfolgt den Niedergang von ‚Rake Rochester‘ bis zu dessen Tod und stellt im Epilog dessen Konstrukti-

59 Vgl. Laurence Dunmore, 00:02:02-00:03:14. Entgegen seiner Ankündigung ist Rochester nur selten bei sexuellen Handlungen zu beobachten. Wenn diese thematisiert werden, dann nur, um das Gefühl zu vermitteln, dass Befriedigung für beide Partner zur gleichen Zeit nicht möglich ist. Von der ebenfalls angekündigten Homoerotik kann nur ansatzweise in der Szene gesprochen werden, in der Billy Downs Rochester für die „Sodom“-Aufführung schminkt. Vgl. ebd., 00:05:38-00:07:08, 00:34:5500:36:05, 00:56:19-00:58:08, 01:06:18-01:06:27. 60 Vgl. ebd., 00:03:16-00:03:24, 00:35:17-00:35:59, 00:56:20-00:56:29, 01:14:5501:15:16. 61 Vgl. weiterführend Thom Gunn, S. 244, der die Wichtigkeit der Reputation für den historischen Earl of Rochester herausarbeitet. 62 Laurence Dunmore, 00:01:40-00:01:56, 00:03:31-00:03:34. Für die Problematik der Sympathielenkung, vgl. auch Ingo Berensmeyer, S. 25.

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on rückwirkend in Frage: „Well. Do you like me now? Do you like me now? Do you like me now? Do you like me? Now?“63 Über seinen Prolog und Epilog wendet er sich, einem Akt der ‚Artistic License‘64 gleich, an das Filmpublikum, indem er direkt in die Kamera schaut und dieses anspricht, was für den Film ungewöhnlich und – bedenkt man die medialen Grenzen der filmischen Aufzeichnung – unmöglich ist. Der Gebrauch der ‚Artistic License‘ als Rahmung der Filmhandlung erzeugt ein ambivalentes Verhältnis zur Konstruktion der Figur und damit auch zur Konzeption des Films, der hierüber seine Handlung reflektiert, da die Sprachebene nicht rein die Bildebene in Worten wiedergibt, sondern dieser zuweilen widerspricht. Diese Ambivalenz spiegelt sich auch in Johns charakteristischem Verhalten wider.65 Greer bemerkt zum ‚Rake Rochester‘Konstrukt: Rake Rochester has always been assumed to be seeking justification for his own addiction to sensual pleasures, but the invocation of a ‚reforming will‘ that can construct pleasures that do not result in satiety and revulsion should indicate that the justification of selfindulgence is not the point. […] It is hard to believe that a poet so possessed by moral in-

63 Laurence Dunmore, 01:42:49-01:43:14. 64 Davis definiert ‚Artistic License‘ folgendermaßen: „Artistic license is typically invoked to characterize unconventional combinations of artistic elements, such as painting within sculpture, abstract techniques in realistic works, or familiar materials made unfamiliar through radical change to their functionality. Like poetic license, artistic license may come down to a question of contrast, accuracy, and taste in a visual rather than descriptive medium. Either may be invoked to indicate excess or satire, turning on a question of taste, yet the medium per se may not be important to the efficacy of the license that is taken. This suggests that the demarcations of poetic and artistic license are murky, serving sometimes to shape the narrative and sometimes to function as a kind of reverse ekphrasis whereby visual depictions are narratological.“ Tracy C. Davis, S. 61, Hervorhebungen im Original. 65 Vgl. Laurence Dunmore, beispielsweise Johns Verhältnis zu seinen Freunden, 00:07:32-00:07:37, oder zu Jane, die er zwar als Prostituierte ohne Gefühle für ihn zu wünschen vorgibt, aber während der Filmhandlung eine platonische, freundschaftliche Beziehung zu ihr führt, 00:17:16-00:17:53,00:34:55-00:38:00, 01:15:17-01:19:06; vgl. weiter Johns Verhalten gegenüber Charles II. und dessen Erwartungen an John. Auch der König steht zu John in einem ambivalenten Verhältnis: Zwar traut er ihm zu, das gewünschte Theaterstück für den französischen Botschafter zu schreiben, steht diesem in John gesetzten Vertrauen allerdings mit Misstrauen gegenüber und will ihn von Elizabeth Barry überwachen lassen, vgl. ebd., 00:58:38-00:59:15, 01:00:36-01:01:51.

226 | EINZELANALYSEN dignation could have been the most licentious individual at Charles II’s licentious court. Rochester’s conspicuous failure as a courtier would seem rather to suggest that he was less a villain than the rest and less able to conceal his real loyalties and interests than they.66

Obwohl der Epilog mit seiner finalen Frage nach der Sympathie des Filmpublikums die während der Filmhandlung aufgebaute Haltung gegenüber dem Protagonisten in Frage stellt, macht die letzte Einstellung die Verankerung des Films in die ‚Rake Rochester‘-Tradition vermeintlich erneut plakativ: Selbst noch nach seinem Epilog, nachdem die gesamte Konstruktion der Figur in Frage gestellt wurde, bleibt John mit dem Alkohol verknüpft. Die erste und die letzte Einstellung von John spiegeln sich, indem dieser aus der Dunkelheit auftaucht beziehungsweise in ihr verschwindet und dabei aus seinem Weinglas trinkt.67 Dies sorgt für eine Kreisstruktur des Films. Doch durch die veränderten Gegebenheiten der Filmhandlung und des interpretierenden Epilogs wird deutlich, dass der Wein nicht als Droge zu werten ist, die Johns Libertinage verdeutlichen soll, wie der Prolog zunächst nahezulegen scheint, sondern als Verstecken der eigenen Unsicherheit. Je stärker Johns Umfeld auf ihn einstürmt, desto intensiver wird sein Eskapismus in den Alkoholkonsum,68 was, wie Greer darlegt, auch auf die historische Vorlage verweist: If Rochester had been a true libertine he would have lived as his peace-loving King did, untroubled by the strugglings of conscience and ready to ignore any principle that might prove inconvenient. The King avoided conflict as assiduously as Rochester sought it. Hardly a month went by in which Rochester was not implicated in some fracas. Some would say that this was simply because he was quarrelsome when drunk, which prompts a further question: why was he so often drunk? A tension between the necessity of doubting and the longing for belief tugs at even his most lyrical writing.69

Während der Prolog sich dem zeitlosen Bild des ‚Rake Rochester‘ bedient, untergräbt der Epilog die Etablierung dieses Kunstprodukts, indem er das fiktive Konstrukt ‚Rochester‘ in einen eigenen Mythos verpackt, der Libertinage nicht

66 Germaine Greer, S. 71f. 67 Vgl. Laurence Dunmore, 00:01:42-00:01:46, 01:43:16-01:43:25. 68 Vgl. ebd., beispielsweise 00:43:44-00:44:01. Nachdem seine Frau beschließt aufs Land zurückzukehren, um seiner Affäre mit Elizabeth Barry nicht länger im Weg zu sein, reagiert John, indem er einen ordentlichen Schluck Wein nimmt und seine Probleme zumindest vorläufig im Alkohol ertränkt. 69 Germaine Greer, S. 69.

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als Selbstzweck, sondern als Flucht deutet. So wie der Wein wird auch das Theater genutzt, um Johns ‚Libertinage‘ zu etablieren. Das Theater bildet für Rochester einen Ort, in den er zu seinem Selbstschutz vor der Außenwelt fliehen kann. Trotz seines oben diskutierten Verlangens nach Schauspiel, das die Realität ersetzen kann, versucht John eine strikte Trennung zwischen der filmisch dargestellten ‚Realitätsebene‘ und der intradiegetischen Ebene des Dramas aufrechtzuerhalten. Das Theater soll für ihn zur Metapher für die ‚Realität‘ werden, die durch ihren bewussten Einsatz eine Form von Kontrolle suggeriert, die John im ‚realen‘ Leben vermisst.70 Dieser Trennung von Theater und Leben treu bleibend, muss John zu Beginn seiner Schreibarbeit an seinem eigenen Drama einen kontinuierlichen Grad der Trunkenheit halten, um überhaupt das leere Papier, wenn auch nicht mit für ihn zufriedenstellendem Inhalt, füllen zu können.71 Doch diese strikte Trennung wird nicht durchgehalten: John, inspiriert von seiner Nacht mit Elizabeth Barry und dem Gespräch über die Ananas mit Charles II., geht so in seiner Arbeit auf, dass er ab diesem Moment auf den Wein als stimulierende Droge verzichtet.72 Diese Produktivität abseits der Trunkenheit sorgt für eine Verwischung der Trennlinie zwischen der von John geflohenen ‚Realität‘ und seinem Zufluchtsort, dem Theater. Die Annäherung der beiden räumlichen Konzepte wird durch die damit einhergehende Nähe des Filmpublikums zu John symbolisiert. Während das Publikum zuvor John zwar beim Verbrennen des beschriebenen Papiers beobachten durfte, hatte es doch keinen Anteil an Johns Schaffensprozess. Nun spricht dieser seine Gedanken zur Suche der passenden Reimworte seiner Verse aus – „Back again. Back again. Sceptres bear. Fear“73 – und die Filmzuschauer dürfen ihm, zusammen mit Alcock, beim Anfertigen seiner Skizzen für die Inszenierung über die Schulter sehen.74 Auch der Inhalt des Dramas ist dieser Annäherung von Theater und ‚Realität‘ geschuldet, insofern er zum einen aus inspirierenden Begebenheiten, die sich zwischen John und Charles II. zugetragen haben (wie die Szene um die Ananas), besteht. Hierfür wird der Text aus „Sodom“ „I drink to swive and swive to drink again“75 umgeformt in „I eat to swive and swive to eat again.“76 Zum anderen

70 Vgl. Ingo Berensmeyer, S. 15. 71 Vgl. Laurence Dunmore, 00:52:51-00:53:40. 72 Vgl. ebd., 00:56:19-01:00:04. Alcocks Missverstehen von Rochesters Ruf nach „Ink“ als Ruf nach „Drink“ zeigt wie neuartig dieser Wunsch Rochesters ist. 73 Ebd., 01:00:17-01:00:23. 74 Vgl. ebd., 01:02:45-01:03:07. 75 John Wilmot (2007), S. 7.

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wird durch die Königsfigur Bolloximian ein vollkommen gegenläufiges Bild von Charles II. im Stück gezeichnet, als dessen Repräsentation während der restlichen Filmhandlung nahelegt: Charles II. wird nur in zwei Szenen mit Frauen gezeigt. Einmal mit Jane beim öffentlichen Spiel, das andere Mal mit Elizabeth Barry, die den Auftrag erhält, John zu überwachen.77 Ansonsten ist der meist schwarz gekleidete, sich bedeckt haltende Monarch allein oder von Männern umgeben und offenbart nichts von dem ausschweifenden Lebenswandel, den John in Bolloximian auf der Bühne satirisch verkörpert.78 Die Gegenüberstellung dieser beiden gegensätzlichen Charakterisierungen von Charles II. wird durch die Farbwahl der Kleidung intensiviert, da John in seiner Rolle als Bolloximian das für Charles II. typische schwarz trägt, während Charles II. zu dieser Gelegenheit einmalig in weißer Kleidung ins Theater geht. Die Ähnlichkeit der beiden Figuren wird durch die angeklebte Nase, die der von Charles II. nachempfunden ist, und durch das von John auf der Bühne imitierte Lispeln von Charles II. bei öffentlichen Anlässen verstärkt. Den Ursprung dieser gegensätzlichen ‚Bilder‘ von Charles II. erklärt Jeremy W. Webster in seinem Artikel „Rochester’s Easy King“: „In order to shore up his political power, Charles II had by the mid-1670s distanced himself from the libertines at court, including Rochester, which has left them without power or influence in Charles’ government.“79 Webster interpretiert unter diesem Gesichtspunkt das Gedicht „In the Isle of Great Britain“ oder „A Satyr on Charles II“, das demnach aus Ärger über den Verlust von politischem Einfluss entstanden sei.80 Übertragen auf den Film ergibt sich aus diesen Überlegungen Johns Widerstand gegen die Erwartungen des Königs, John solle seinen Lebenswandel als Libertin aufgeben und dem König helfen, dessen seriöses Image weiter auszubauen. John widersetzt sich, indem er dem König und dem restlichen Publikum (sowohl diegetisch als auch real) dessen eigenes, vergangenes Dasein als Libertin vor Augen führt. Die ‚Vernachlässigung‘ der Frauen durch die Männer, die eines der Themen des Dramas wie auch in der filmischen Darstellung von Charles II. sind, wird aufgegriffen, wenn einzelne Strophen und Verse aus „Signor Dildo“ zu Beginn

76 Laurence Dunmore, 00:59:42-00:59:45. 77 Vgl. ebd., 00:24:45-00:25:24, 01:00:36-01:02:12. Doch beide Frauen stehen in einer Verbindung zu John, so dass der König hier nur als Monarch und nicht als Mann auftritt. 78 Vgl. ebd., 00:03:48-00:04:46, 01:08:59-01:10:50. 79 Jeremy W. Webster, S. 2. 80 Vgl. ebd., besonders S. 2-16.

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der Aufführung gesungen werden.81 Die Auswahl der Strophen konzentriert sich dabei hauptsächlich auf die Ersetzbarkeit der Männer. Weggelassen werden besonders jene Strophen, die sich satirisch auf historische Persönlichkeiten beziehen. Was bleibt ist ein Weiblichkeitsbild, das sich in seinem Streben nach Befriedigung vom Mann emanzipiert hat, indem dieser auf seine Geschlechtsorgane reduziert und obendrein durch technische Hilfsmittel ersetzbar gemacht wird. Der Film umgeht die eigentliche Unaufführbarkeit des Stücks, die sich in Akt V manifestiert,82 da die Vorführung nach der ersten Szene, in der einige von Bolloximians Redeteilen zu einem Monolog zusammengestrichen werden, durch Charles II. abgebrochen wird. Diese widersprüchlichen Charakterisierungen von Charles II. werden durch die Schriftinserts zu Beginn des Films zusammengeführt, die das ausschweifende Leben des Königs und seines Hofstaats betonen, aber diesen in einer Zeit der Krise verorten, in der er sich von seinem vorhergehenden Lebenswandel distanzieren muss.83 Die Grenze zwischen Theater und diegetischer Realität wird nun endgültig aufgelöst, da Johns Theaterstück ‚reale‘ Konsequenzen nach sich zieht: Der französische Botschafter reist ab und John muss vor dem Zorn des Königs fliehen.84 Was John zuvor nur dem Theater zusprach, dringt zunehmend in sein Leben ein. Aber nicht nur das Theater wird für John immer ‚realistischer‘, sondern auch sein Leben gleicht mehr und mehr einem Theaterstück: Während seiner Flucht muss er sich als A.B., „Alexander Bendo“ oder „Any Body“ verkleiden, um überleben zu können,85 und die Krankheit, als Konsequenz seines ausschweifenden Lebenswandels gefasst, holt ihn letztlich im Sinne einer geschlossenen Dramaturgie ein.86

81 Vgl. Laurence Dunmore, 01:06:59-01:08:20, Wilmot (2002), S. 54-59 und (2007), S. 9. 82 In der Regieanweisung für Akt V heißt es: „In a banqueting-house are discovered men playing on tabours and dulcimers with their pricks, and women with jews’ harps in their cunts.“ Wilmot (2007), S. 45. Der Film arbeitet damit gegen Rochesters (sofern er der historische Autor ist) wahrscheinliche Intention eines Lesedramas. Vgl. Germaine Greer, S. 64; Paddy Lyons, S. 314. 83 Vgl. auch Ingo Berensmeyer, S. 24f. 84 Vgl. Laurence Dunmore, 01:11:07-01:12:25. Vgl. auch Germaine Greer, S. 22. 85 Vgl. Laurence Dunmore, 01:16:08-01:18:01 und Germaine Greer, S. 64-66, die die Legende um Rochesters Straßentheater mit „A.B.“ für „Any Body“ entschüsselt hat. 86 Vgl. Laurence Dunmore, 00:24:20-00:24:46, 01:15:16-01:18:30, 01:21:28-01:26:04. Der Film schließt sich der verbreiteten, wenn auch laut Greer unhaltbaren These an, Rochester hätte sich an Syphillis infiziert, wie der Hautausschlag, der Befall innerer

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Abgeschlossen wird Johns Desillusionierung von der behüteten und geschlossenen Welt des Theaters, als Elizabeth Barry, deren ‚realistisches‘ Schauspiel für John überhaupt erst die Möglichkeit einer Annäherung beider Bereiche offenbarte, ihre Beziehung zu ihm beendet.87 Johns Scheitern im Theater, sowohl als Dramatiker als auch in seiner Beziehung zu Elizabeth, macht ihm bewusst, dass sein metonymischer, mitunter auch metaleptischer und metaphorischer Gebrauch desselben sich seiner Kontrolle entzieht. John kann demnach im Theater nicht finden, was er sich davon erhofft hatte. Seine Suche nach Konsequenzen, die in ihrer Unvermeidlichkeit auch Kontrolle versprechen, führt ihn fort vom Theater und zurück in sein eigenes Leben, wo diese beispielhaft in der Entführungsgeschichte von Elizabeth Malet auffindbar gemacht sind.88 Gleich einem Theaterstück findet sich hier eine geschlossene Handlung, die durch die geschlossenen Räume von Kutsche und Tower symbolisch unterstützt werden. Die Episode wird wie ein festgeschriebener Monolog seiner Ehefrau als Klammer der Handlung vorgetragen und symbolisiert damit, wie auch der Prolog und Epilog Johns, die Geschlossenheit des Films. Ähnlich einem Theaterstück hat auch der Film selbst eine geschlossene Handlung und damit die Konsequenzhaftigkeit, die John dem Theater zuschreibt. Diese Selbstreflexivität des Films wird evident über Ethereges Drama Man of Mode, das im Film ebenfalls eine eigene (verkürzte) fiktive Werkgenese erhält. Davon ausgehend, dass Dorimant nach der Vorlage Rochesters modelliert wurde,89 wird in THE LIBERTINE Ethereges Drama Man of Mode drastisch umgestaltet, um so die eigene Filmhandlung retrospektiv mit einer fiktiven Authentizität auszustatten.90 Das Drama wird zu Johns Biographie, der in einer Montageszene parallel in seinem Sterbebett wie auch auf der Bühne stirbt – dort zumindest bis zur nächsten Vorstellung.91 So erhält John über seine intradiegetische Verkörperung seine letzte Ehre im Theater. Durch den Erfolg, den das diegetische Drama Man of Mode feiert, wird der Unterschied der beiden Dramatiker, George und John, aufgezeigt: John bleibt als Adligem die Rolle des Dramatikers,

Organe und die auftretenden Lähmungserscheinungen andeuten. Vgl. Laurence Dunmore, 01:17:25-01:17:28; Germaine Greer, S. 5, 19, 25; Simon Hampton, S. 165; John O’Neill, S. 199; Ingo Berensmeyer, S. 22, 25. 87 Vgl. Laurence Dunmore, 01:34:58-01:39:07. 88 Vgl. ebd., 00:05:37-00:06:26, 01:39:38-01:40:29. 89 Vgl. Germaine Greer, S. 54; Simon Hampton, S. 165, 171-173. 90 Das im Film gezeigte Drama „Man of Mode“ weicht markant vom realen Stück des historischen Sir George Etherege ab. Vgl. George Etherege. 91 Vgl. Laurence Dunmore, 01:40:27-01:42:00.

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der seine Stücke gegen Geld schreibt, verwehrt. Zwar erhält er ein entsprechendes Angebot vom König, kann dieses aber nicht vor seinem Freund und Konkurrenten rechtfertigen. Ihm bleibt nur die Flucht in die Abwehrhaltung gegenüber Georges Drama, die bis zum Vorwurf des Plagiats reicht.92 Parallel wird auch das von John propagierte ‚Actor-Understudy‘-Verhältnis zwischen ihm und Harris aufgelöst, da dieser als Johns Verkörperung auf der Bühne gefeiert wird.93 Durch das diegetische Drama wird der Film in einer ‚mise en abyme‘-ähnlichen Struktur zur Spiegelung der Dramenhandlung und es so möglich die Geschlossenheit des Dramas, die John am Theater bewundert, auch für dessen Leben zu etablieren. Hier wird erfüllt, was John mit dem Theater erreichen wollte: Die Bühne steht metonymisch für den Film, dessen diegetische Realität und den darin implementierten ‚Wahrheitsgehalt‘.

7.3 B LICK DURCH DIE K AMERA: K REISENDE K AMERAFAHRT UND T UNNELBLICK Das Motiv der Geschlossenheit, wie es für den Theaterraum und letztlich auch den filmischen Raum aufgebaut wird, manifestiert sich in der Kamerabewegung und der Bildkomposition. Johns Suche nach Geschlossenheit wird in der ersten Szene im Theater etabliert: Der Theaterraum wird in einer kreisenden Bewegung von der Kamera aufgenommen.94 In diesem geschlossenen Kreis des Theaterraums befinden sich die Bühne sowie die Zuschauerräume Galerie und Parkett. Das Filmpublikum wird als Zentrum dieser Bewegung in den diegetischen Raum hineinversetzt. Dies schließt eine Trennung der Bereiche Bühnenraum und Zuschauerraum – zumindest soweit sich die medialen Grenzen des Films in der aufgebauten Illusion ausblenden lassen – aus. Die Verknüpfung von Zuschauerraum und Bühne wird noch weiter verstärkt, wenn die Filmhandlung letztlich als Drama zu sehen ist. Auch diese letzte Szene im Theater wird durch eine Kameradrehung um die eigene Achse eingefangen.95

92 Vgl. ebd., 00:10:32-00:11:05, 00:26:01-00:26:05, 00:53:57-00:54:28, 01:33:5301:34:25. Für das historische Verhältnis von Sir George Etherege und John Wilmot, vgl. Simon Hampton, S. 170. Dies geht auch einher mit der These von O’Neill, Rochester habe einen privaten Leserkreis intendiert, was sich mit dem breiten Theaterpublikum nicht verträgt. Vgl. John O’Neill, S. 189f., 193. 93 Vgl. Laurence Dunmore, 01:05:45-01:05:56, 01:35:12-01:36:26. 94 Vgl. ebd., 00:15:29-00:16:33. 95 Vgl. ebd., 01:41:16-01:41:59.

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Doch während die erste Kamerabewegung sich gleich einer Spirale im Uhrzeigersinn weiter in das Theater hineindreht und sich der Blick dabei von der Galerie in das Parkett senkt, vollzieht sich die zweite Bewegung in entgegengesetzter Richtung und der Blick bleibt nach oben auf die Galerie gerichtet. Das Bild wird schwarz, bevor die Bühne erneut erreicht werden kann. Während die erste Bewegung den Kreis über John schließt, wird in der Wiederholung abgeblendet bevor Elizabeth Barry auf der Bühne erneut erreicht wird. Das Motiv der Geschlossenheit bleibt an John gebunden. Da er die zweite Kreisbewegung der Kamera nicht miterlebt, bleibt sie daher notwendig unvollkommen. Dies manifestiert sich nicht nur über die Bildebene, sondern auch auf der Tonebene, denn in beiden Szenen ist es John, der im Theater gefeiert wird: In der ersten Szene bildet sich nach etlichen Ausrufen seines Namens ein Chor, der immer wieder „Johnny said cunt to the King!“ skandiert.96 Auch die zweite kreisende Kamerabewegung wird von Gesang unterstützt, doch ist es hier das Solo einer Sängerin, die das Publikum dazu auffordert, John bzw. der um ihn etablierten Kunstfigur ‚Rochester‘ die letzte Ehre zu erweisen. Das Theaterpublikum steht vor dem auf der Bühne befindlichen Harris auf, doch da dieser die Rolle Johns spielt wird deutlich, dass der Applaus und die Verbeugungen der Verschmelzung beider Figuren gelten: der intradiegetischen ‚Rochester‘-Figur aus The Man of Mode und John. Aus dieser Verschmelzung wird das mythische Kunstprodukt ‚Rochester‘, das der Film über Prolog und Epilog etabliert und in der fiktiven Werkgenese neben den Gedichten und Dramen ebenfalls mit einer Entstehungsgeschichte versieht. Johns Suche nach Geschlossenheit birgt aber nicht nur den Vorteil von Sicherheit und Kontrolle in sich, sondern sorgt auch für ein klaustrophobische Gefühl der Enge. Die Kreisfahrt durch das Theater lässt in beiden Fällen die Gesichter verschwimmen und verhindert so das Scharfstellen des Blicks und das Fokussieren auf einen festen Punkt. Diese klaustrophobische Beklemmung findet sich auch außerhalb des Theaters in dem zwar räumlich offenen, aber dennoch gleich dem Theater als geschlossenen Ort des ‚Anderen‘ auffassbaren St. James’s Park. Doch während sich das Theater durch die Geschlossenheit seiner Handlung auszeichnet und daher das Gefühl der Klaustrophobie von einem Gefühl der Sicherheit und Kontrolle aufgewogen wird, ist der durch den Nebel erzeugte Tunnelblick in St. James’s Park jeglicher Sicherheit entledigt. Die hier vollzogenen orgiastischen Handlungen sind nicht geschlossen und damit ohne vorhersehbare Konsequenzen. Der Nebel verhindert eine räumliche Verortung und eine Abgrenzung der Szene. Die Handelnden sind durch den Nebel nur

96 Ebd., 00:16:20-00:16:32.

T HE L IBERTINE

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punktuell und unscharf zu beobachten. Dementsprechend scheint diese Orgie in St. James’s Park weder Anfang noch Ende zu haben. Das über die Szene gelegte Voice-Over von Rochester zitiert dazu Ausschnitte vom Anfang des Gedichts „A Ramble in St. James’s Park“, die sich hauptsächlich mit der Etablierung des Raums beschäftigen und auf die narrative Handlung des Gedichts verzichten.97 Der Film zeigt St. James’s Park, wie ihn Greer in ihrer Deutung des Gedichts beschreibt: Rochester’s interrogation of his own sexuality reached its apogee in ‚A Ramble in St James’s Park‘ which was circulating in manuscript by March 1673. The poem creates St James’s Park, known to all to be a place of promiscuous sexual encounter, as a phallic landscape sollipsistically constructed in the imagination of the questing male, who interprets every event within it as an analogue of erection and orgasm.98

Obwohl Ton- und Bildebene einander entsprechen läuft John mit beängstigt umherschweifendem Blick, der sich durch den Kontext der zuvor gezeigten „Impotenz“-Szene erklären lässt, durch diese nebulöse und groteske Szenerie. Um ihn herum befinden sich verschiedene nackte Körper, die wie Früchte an einem Baum hängen und meist nur als einzelne Körperteile aus dem Nebel hervorblitzen und von der Kamera eingefangen werden.99 Die klaustrophobische Beklemmung wird hier im Gegensatz zum Theaterraum nicht abgeschwächt. In der Kombination von kreisender Kamera und Tunnelblick entwickelt sich das Spannungsfeld, in das John sein Verlangen nach Geschlossenheit bringt.100 Auch hierin manifestiert sich das ambivalente Verhältnis des Films zu seinem Protagonisten, das sowohl über die medialen Mittel von Schrift, Bild und Ton, über die Selbstreflexion des Films im Medienwechsel zum Drama, wie auch über die Kamera als eng mit John verbundener Erzählinstanz etabliert wird. Die Ambivalenz wird auch zuletzt nicht aufgegeben, sondern durch den Epilog weiter verstärkt, was die nötige Zeitlosigkeit mit sich bringt, um John als Mythos zu stilisieren und über die zu den verschiedenen im Film thematisierten Werken erzeugten fiktiven Werkgenesen mit (fiktiver) Authentizität zu versehen. Obwohl ein-

97

Vgl. ebd., 00:38:11-00:38:44 und Wilmot (2002), S. 40-46.

98

Germaine Greer, S. 44. Vgl. auch Mona Narain, S. 559-563.

99

Vgl. Laurence Dunmore, 00:38:38-00:39:26. Für eine Analyse des mit Szenen wie dieser leicht zu verbindenden Ekels vgl. Naomi Rokotnitz.

100 Unterstützt wird dieser Effekt durch den konsequenten Verzicht auf elektrisches Licht. Die Beleuchtung wird nur durch Tages- und Kerzenlicht erzeugt, was die Lichtverhältnisse dunkler und weniger konstant macht.

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deutig als Independent-Film produziert und insezeniert, finden sich auch hier die typischen Merkmale fiktiver Werkgenesen, die über das Zusammenspiel der drei Referenzebenen beobachtet werden können und somit nicht nur eine Charakteristik eines Mainstream-orientierten Kinos sind.

8. SCHILLER

8.1 D RAMA UND M USIK „Frei nach den Motiven aus dem Leben von Friedrich Schiller“,1 so kündigt sich der Film SCHILLER selbst an und hält, was er verspricht: Entstanden im Zuge der Feierlichkeiten des Schillerjahrs 2005, zeigt der Film ein Mosaik von Begebenheiten aus dem Leben des historischen Schiller und verfolgt dessen Jugend bis zu seinem endgültigen Verlassen Mannheims. Die thematisierten Begebenheiten werden so geordnet und präsentiert, dass sie dem im Film proklamierten Bild ‚Schillers‘ unter dem Titel „Leben und Leiden eines Jahrhundertgenies“2 entsprechen. Dieser Umstand führte Gernot Müller zu der Bemerkung: „Mit Hendrik Hölzemanns Film Schiller kam die ARD ihrem volkspädagogischen Auftrag zum Gedenkjahr nach.“3 Der Film befindet sich somit in dem Spannungsfeld, das Wulf Segebrecht in seiner „Betrachtung einiger neuer Biographien“ aufdeckt: „Zwischen diesen problematischen Positionen – der Aneignung Schillers und der Anpassung an ihn – spielen sich notwendigerweise die Versuche ab, Leben und Werk Schillers erneut darzustellen.“4 Dabei wird auch in der deutschen Ausprägung fiktiver Werkgenesen, wie sie beispielsweise mit SCHILLER vorliegt, die Darstellung von Medien und deren Zusammenspiel zum entscheidenden Bestandteil von histoire und discours.

1

Martin Weinhart, 00:00:54-00:00:57.

2

Klappentext der DVD.

3

Gernot Müller, S. 88. Hervorhebungen im Original. Matthias Schweighöfer spricht im Interview mit Marc Hairapetian über seine Konzeption von Schiller als „dreckig und verkommen, körperlich krank und innerlich tot, schlicht eine kaputte Seele“, die die Genieästhetik um die Figur ‚Schiller‘ ausmachen solle. Vgl. Marc Hairapetian, S. 11.

4

Wulf Segebrecht, S. 528.

236 | EINZELANALYSEN

Wie für den historischen Schiller ist auch für Friedrich eine starke Affinität zur Musik zu verzeichnen.5 Die Musik wird in SCHILLER zur ‚Erzählinstanz‘, die das Innenleben der Figuren, besonders das von Friedrich vermittelt. Dabei wird sie zum Ausdruck dessen, was sich weder von Friedrich noch von anderen Figuren in Worte fassen lässt. So setzt die ansonsten eher sparsam verwendete Hintergrundmusik des Films bei der Flucht aus Stuttgart erst ein, als die Kutsche mit Friedrich und Andreas Streicher die Stadttore passiert hat und somit dem Erfolg des Unternehmens nichts mehr im Weg steht. Das zunächst unauffällige, sich wiederholende Thema wird abgelöst von fröhlicher Musik, die zum Ausdruck von Friedrichs Freiheitsempfinden wird. Er selbst kann sich zunächst nur in einem befreiten Aufschrei äußern.6 Auch Friedichs Beziehung zu Katharina Baumann wird über die musikalische Untermalung oder deren Wegfallen charakterisiert. So ist die Szene vor dem ersten (‚echten‘) Aufeinandertreffen von Streichmusik untermalt, doch sobald Katharina den Raum betritt, bricht die Musik ab und wird nicht wiederaufgenommen.7 Zuvor hat Friedrich sie zwar in der Rolle der Amalia auf der Bühne gesehen, was entscheidend für sein ‚Bild‘ von Katharina ist, doch hier spricht sie zum ersten Mal ihre eigenen Worte und nicht Zeilen aus Die Räuber zu ihm. Das Aussetzen der Musik wird zum Ausdruck von Friedrichs tiefgreifender Bewunderung für die junge Schauspielerin. Das zweite Aufeinandertreffen hingegen wird von Musik untermalt. Dies ist möglich, da Katharina hier nicht als ‚reale‘ Person vor ihm steht, sondern in ihrem Kostüm der Elfenkönigin, deren Rolle sie auch vor Friedrich weiterspielt, wenn sie ihm anbietet, er habe einen Wunsch frei. Dementsprechend bezieht sich sein Wunsch darauf, sie möge eine der Rollen in seinem Fiesko spielen.8 Die Musik charakterisiert durch ihren Einsatz Friedrichs Verhältnis zu Katharina, der sie als Idealbesetzung seiner Frauenfiguren liebt und darüber die ‚reale‘ Frau ausblendet. Das erneute Abbrechen der Musik bei Friedrichs Antwort macht deutlich, dass die Beziehung der beiden unter diesen Voraussetzungen nicht bestehen kann. Die Musik bleibt als ‚Erzählinstanz‘ jedoch nicht nur mit Friedrich verknüpft; auch Andreas’ Entscheidung, seine eigenen Zukunftspläne zu opfern, um Friedrich mit seiner Musik zur Seite stehen zu können, wird musikalisch untermalt und kommentiert:

5

Vgl. Marie Haller-Nevermann, S. 212.

6

Vgl. Martin Weinhart, 00:15:12-00:16:45.

7

Vgl. ebd., 00:06:26-00:08:30.

8

Vgl. ebd., 00:19:30-00:20:05.

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[Andreas:] Und meist schon beim Mittagstisch hat er mich gefragt: „Streicher, wirst du nicht heute Abend wieder Klavier spielen?“ Sobald es dämmerte wurde sein Wunsch erfüllt. Er ging dann auf und ab, ich musste häufig das gleiche Thema spielen, das versetzte ihn in eine poetische Stimmung, er brach dann in begeisterte Laute aus, als sei er von allen Musen umschwebt. Vielleicht habe ich mit meiner Musik etwas beigetragen zu seinem Werk.9

Die Musik, die seine Entschlossenheit mit all ihren Konsequenzen anklingen lässt, setzt leise während Andreas’ letztem Satz ein und wird lauter und eindringlicher, je intensiver er seine Entscheidung empfindet, bis er sie umgesetzt hat und zum erkrankten Friedrich zurückgekehrt ist.10 Begründet wird die Entscheidung mit dem Erkennen der Verbundenheit von Andreas’ Musik mit Friedrichs Worten. Dies weist eine zweite Funktion der Musik im Film auf. Nicht nur auf der Erzählebene wird die Musik eingesetzt, sondern auch als Teil der Diegese, wo sie für Friedrich eine ähnlich stimulierende Wirkung wie Schnupftabak und Wein hat. Die Musik versetzt ihn gleich einer Droge in einen Rauschzustand, aus dem er seine Inspiration ziehen kann.11 Durch die Verbindung von Friedrich, Musik und Schillers Werk liefert der Film eine Interpretation, warum letzteres sich so gut zur Vertonung eignet – immerhin gehört der historische Schiller „zu den meistvertonten Dramatikern der Weltliteratur“.12 Im Film besonders hervorgehoben wird Schillers „Ode an die Freude“. Zunächst fehlt im Film diesem Gedicht jeglicher Bezug zur Musik. Verbunden wird es nur mit einer der anderen stimulierenden Drogen (dem Wein), da Friedrich es als Trinkspruch zur Jubiläumsfeier des Mannheimer Nationaltheaters und seiner gerade offiziell gemachten Position als Hausdichter spontan und in seinem typisch enthusiastischen Gebaren dichtet.13 Durch die Einspielung der Melodie von Ludwig von Beethoven, der das Gedicht dem letz-

9

Ebd., 00:46:51-00:47:20.

10 Vgl. ebd., 00:47:15-00:48:01. 11 Vgl. ebd., 00:22:23-00:23:15. Vgl. auch Marie Haller-Nevermann, S. 72, 79, 214f. 12 Ebd., S. 228. Auch im Film wird dem Rechenschaft getragen: beispielsweise das von den Darstellern der Räuberfiguren nach dem Auftritt gesungene Lied der Räuber, vgl. Martin Weinhart, 00:08:17-00:08:30. Auch auf die musikalische Untermalung der Aufführungen von Schillers Dramen wird verwiesen, vgl. ebd., 00:03:31-00:03:46. Haller-Nevermann macht allerdings darauf aufmerksam, dass die tatsächlichen Kompositionen nicht mehr erhalten sind. Vgl. Marie Haller-Nervermann, S. 222. 13 Vgl. Martin Weinhart, 01:01:39-01:03:19 und Friedrich Schiller (2004, „An die Freude“). Vgl. auch Marie Haller-Nervermann, S. 94.

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ten Satz seiner 9. Symphonie als Text zugrunde gelegt hat,14 werden am Ende des Films die beiden Funktionsweisen der Musik im Film wieder zusammengeführt.15 Die Musik kann demnach als ‚Erzählinstanz‘ sowohl die Gefühle der Figuren aufzeigen, bewerten und kommentieren als auch in die Handlung eingebunden sein. Durch die Verknüpfung des während der Filmhandlung entstandenen Gedichts als Trinkspruch und die spätere bekannte Vertonung desselben, die den Ausblick durch Friedrichs Voice-Over untermalt, offenbart der Film seine Intention, die Mythisierung, die der historische Schiller in den vergangenen 200 Jahren erfahren hat, sichtbar zu machen und nachzuzeichnen. Nicht nur über die Musik wird die fiktive Werkgenese über Schillers Drama Kabale und Liebe narrativiert, sondern auch über die innerhalb des Theaters inszenierte Konkurrenz der beiden Dramenautoren Friedrich und August Wilhelm Iffland, die sich sowohl über die jeweilige Dramentheorie, die die beiden Rivalen vertreten, als auch über diverse Rollenzuweisungen ausdrückt. Die Rollenzuweisungen, die beide Kontrahenten erfüllen, sind hauptsächlich über den Theaterapparat festgelegt: Schiller als ‚genialer‘ Autor kann zwar seine Figuren auf dem Papier zum Leben erwecken, doch ihnen keine Stimme verleihen. Dementsprechend ist das Fiasko beim Vortragen seines Fiesko programmatisch.16 August hingegen wird vordergründig als Schauspieler verstanden, der eher nebenher Dramen verfasst.17 Seine Rollenzuweisung erfolgt über den Figurentyp, den er per Vertrag zu spielen hat: den Antagonisten.18 Seine Paradefigur ist Franz Moor aus Die Räuber, den er sich gänzlich zu eigen macht.19 Wie Franz Moor gegen Karl intrigiert auch August gegen Friedrich und versucht die Liebe Amalias, in ihrer Verkörperung durch Katharina, zu gewinnen.20 Ebenso wie Friedrich mit seiner Reduktion Katharinas auf ihre beiden Rollen als Amalia und Luise versucht auch August seine Beziehung zu ihr über ihre Tätigkeiten als Schauspieler/innen aufzubauen.21 Ein Großteil der im Film gezeigten Szenen aus Die Räuber beschäftigt sich daher auch mit dem Verhältnis zwischen Amalia und Franz Moor.22 Diese Szenen spiegeln Augusts Innenleben wider, besonders

14 Vgl. ebd., S. 224f. 15 Vgl. Martin Weinhart, 01:28:19-01:29:20. 16 Vgl. ebd., 00:24:13-00:26:07. Vgl. auch Marie Haller-Nevermann, S. 71. 17 Vgl. Martin Weinhart, 00:20:06-00:20:57. 18 Vgl. ebd., 01:06:32-01:06:34. 19 Vgl. ebd., 00:08:06-00:08:17. 20 Vgl. Friedrich Schiller (2004, Die Räuber), I/3, S. 516-521; III/1, S. 556-558. 21 Vgl. Martin Weinhart, beispielsweise 00:29:04-00:29:16, 01:06:17-01:06:30. 22 Vgl. ebd., 00:03:51-00:05:24, 00:54:05-00:55:03.

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seine Eifersucht auf Friedrich, dem er einen Erfolg bei Katharina trotz seiner eigenen homosexuellen Neigungen nicht gönnen will. Doch August, der seine Rolle als Antagonist reflektiert und sich darüber echauffiert – so wie Franz Moor über seine Benachteiligung durch sein äußeres Erscheinungsbild und sein Schicksal als Zweitgeborener –,23 bleibt nicht so uneinsichtig wie seine Lieblingsrolle. Nach seinem (vermeintlichen) Triumph über Friedrich, erkennt er dessen Überlegenheit sich selbst und seinem eigenen Werk gegenüber an, doch zu spät, um die Verhältnisse zwischen ihnen beiden noch ändern zu können.24 Diese Annäherung geschieht nicht zuletzt über Augusts Möglichkeit, aus seinem festgefahrenen Rollenschema heraustreten zu dürfen, indem Friedrich ihn für die gelungene Umsetzung der Rolle Ferdinands während der Probe lobt, obwohl er eigentlich (der typischen Rollenverteilung entsprechend) für die Verkörperung von Sekretär Wurm vorgesehen ist.25 Die restlichen Szenen der diegetischen (und damit der fiktiven Werkgenese gemäß teilweise veränderten) Räuber-Inszenierung reflektieren Karls utopische Vorstellungen vom Räuberdasein, das einer republikanischen Gesellschaftsform entsprechen soll, in der die steile und starre Hierarchie der feudalen Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation mit den zersplitterten Fürstenreichen stark abgeflacht ist.26 Die Szenen der Inszenierungen werden mit Szenen der diegetischen ‚Realität‘ gemischt und dienen so als Kommentar für diese. Die Szenen um Karl spiegeln Friedrichs inneren Widerstand gegen den Württembergischen Fürsten, was Karl zur Identifikationsfigur für Friedrich macht. Das Identifikationspotential zwischen Friedrich und seiner Figur Karl Moor liegt besonders im Ziel beider, Nachruhm zu erwerben.27

23 Vgl. Friedrich Schiller (2004, Die Räuber), I/1, S. 500. 24 Vgl. Martin Weinhart, 01:25:27-01:25:33, 01:26:46-01:27:21. 25 Vgl. ebd., 01:09:56-01:11:54. 26 Vgl. Martin Weinhart, 00:01:41-00:03:04. Obwohl, wie auch Jaimey Fisher hervorhebt, die Wahl Karls als Hauptmann der Räuber eine neue hierarchische Ordnung etabliert. Doch weist Fisher darauf hin, dass durch die Wahl dennoch eine demokratische Struktur in Form eines „social contract“ erhalten bleibt. Vgl. Jaimey Fisher, S. 83. Vgl. auch Marie Haller-Nevermann, S. 38. 27 Für Karl Moor, vgl. Friedrich Schiller (2004, Die Räuber), I/2, S. 502-516. Noch deutlicher tritt dieser Charakterzug im Vergleich mit Spiegelberg, einer Art Alter Ego für Karl, hervor. Diesen Charakterzug arbeitet auch Christoph E. Schweitzer heraus. Vgl. Christoph E. Schweitzer, S. 165f. Vgl. auch Marie Haller-Nevermann, S. 55f.

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Die Konkurrenz der beiden Dramatiker, die sich äußerlich in ihrem Wettstreit, um den Posten des Hausautors und Katharina manifestiert, wird aufgebaut, über deren gegenläufige Vorstellung vom Theater: [August:] Das Einzige, was mir an Ihrem Fiesko missfällt, ist, dass Sie Shakespeare kopieren und zwar vor allem seine Fehler. Das ist doch alles viel zu kompliziert, wer soll denn das verstehen? […] Dass es fast unmöglich zu spielen und zu besetzen ist, darüber mag man hinwegsehen, aber was ich einfach nicht verstehe: Warum ist bei Ihnen immer alles so übertrieben, so maßlos überzogen? [Friedrich:] Weil es Tragödie ist. [August:] Ach ja? Genau das Richtige für unsere Mannheimer vor dem Abendessen. [Friedrich:] Mit Ihren Stückle wird sich in fünf Jahren keiner mehr den Arsch wischen. Damit machen Sie die Menschen nicht besser. Im Gegenteil: Sie halten sie absichtlich dumm mit Ihrem Quark. [August:] Das mag sein. Nur was nützt es mir, ein besserer Mensch zu sein, wenn ich von einem Balken baumele, an den ich mich, mit Verlaub, selbst geknüpft habe und zwar direkt nach der Lektüre Ihres Fiesko. [Friedrich:] Nach dem Werther haben sich Hunderte die Kugel gegeben. Ist Goethe deshalb ein Mörder? [August:] Ah, Goethe und Schiller. Hahaha. Das ist schön, dass wir so offen reden. Ich werde mir das Mädchen schnappen, den Posten als Hausautor und Ihnen überlasse ich die Verehrung der Nachwelt. Ich lebe jetzt. [Friedrich:] Wenn Ihnen das genügt.28

28 Martin Weinhart, 00:30:07-00:31:32. August vollzieht mit seiner Anspielung auf möglichen Selbstmord nach der Lektüre des Fiekso, was Bernhard Jahn in seinem Artikel „Der Imaginator und seine Opfer“ aufzeigt: „Die Behandlung der Imaginationsthematik bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen Imaginationsterror und Imaginationskritik: Wer sich den Imaginationen der Figuren hingibt – und das ist ja nicht ohne Reiz – dessen Imagination wird versengt, wie es in einer zeitgenössischen Rezension heißt.“ Bernhard Jahn, S. 67, Hervorhebung im Original. Jahn bezieht sich zwar ausschließlich auf das Drama Die Räuber, doch übertragend lässt sich dies auch für Augusts Vorwurf anwenden. Gleichzeitig offenbart sich in der Anspielung auf die vermeintliche Selbstmordwelle nach dem Erscheinen des Werther, wie hartnäckig sich Faktoide halten, obgleich die Forschung längst belegt hat, dass es sich hier um pure Fiktion handelt. Vgl. Martin Andree, bes. S. 175-197; Patrick Difour, S. 614; Achim Hölter; Katja Mellmann; für den Begriff ‚Faktoid‘, vgl. Markus Junkelmann, S. 15.

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Während August versucht das Publikum, besonders die Kurfürstin, durch sittenkonforme Komödien zu unterhalten, will Friedrich mit seinen Tragödien Erziehungsarbeit leisten.29 Dies zeigt sich exemplarisch an seiner Figur Spiegelberg: [Caroline:] Ihr Stück hat mich zutiefst beeindruckt. […] Aber eins sollen Sie auch wissen: Wie Sie diesen Spiegelberg mit der Schändung der Nonnen prahlen lassen. Das ist widerwärtig. [Friedrich:] Ja. Unaussprechlich. Der Mensch ist nichts anderes als ein Mittelding zwischen Engel und Vieh.30

Besonders über ‚Spiegelberg‘ zeigt sich die Erziehungsmethode, dem Publikum einen Spiegel vor Augen zu führen, indem auch oder besonders das Grausame zu sehen ist, wie Schiller in seiner veröffentlichten Vorrede zu Die Räuber erläutert: „Wer sich den Zweck vorgezeichnet hat, das Laster zu stürzen und Religion, Moral und bürgerliche Gesetze an ihren Feinden zu rächen, ein solcher muß das Laster in seiner nackten Abscheulichkeit enthüllen und in seiner kolossalischen Größe vor das Auge der Menschheit stellen.“31 Friedrich richtet sein Denken und Handeln auf die Zukunft, in der seine Erziehungsarbeit ihre Früchte tragen soll, August auf die Gegenwart und deren Gebote. Dies erklärt sich auch durch Augusts Selbstverständnis als Schauspieler, dessen Vorstellung (zu einer Zeit ohne filmische Aufzeichnungsmöglichkeiten) an den Moment gebunden ist.32

29 Vgl. Martin Weinhart, 00:37:46-00:40:25, 00:53:27-00:53:35. Vgl. auch Marie HallerNevermann, S. 16f, 198. 30 Martin Weinhart., 00:06:37-00:06:58. 31 Vgl. Schiller (2004, Die Räuber), S. 485. Karl S. Guthke untersucht in seinem Aufsatz „Schiller und das Theater der Grausamkeit“, wie dieser mit Grausamkeit in seinem Werk umgeht und welchen Zweck die Darstellung derselben erfüllt. Vgl. Karl S. Guthke, besonders S. 26. Auch Gilles Darras beschäftigt sich mit Schillers Erziehungsanspruch. Diesen sieht Darras besonders im Aufzeigen von „Ab- bzw. Verirrungen der Seele, […] die den ‚ganzen Menschen‘ mit all seinen widersprüchlichen Aspekten und seinen Schattenseiten untersuchen will, wobei die Depressions-, Mordund Selbstmordfälle von besonderer Bedeutung für den Seelenforscher werden, und zwar nicht sosehr in moralischer, als vielmehr in präventiver Hinsicht. Einem ‚literarischen Arzt‘ oder ‚medizinischen Schriftsteller‘ wie Schiller geht es ja in erster Linie darum, zu verstehen und, wenn nicht zu heilen, doch vielleicht vorzubeugen.“ Gilles Darras, S. 71f. 32 Vgl. Martin Weinhart, 01:00:53-01:01:10.

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Die gegenläufige, ihren Werken zugrunde liegende Dramentheorie der beiden Autoren zeigt sich auch über deren im Film parallel gezeigten Schreibprozess: Während Friedrichs bürgerliches Trauerspiel in einer spartanisch möblierten, düsteren Umgebung ohne genießbare Nahrung – die Äpfel auf seinem Schreibtisch sind alle verfault – und nur mit einer Flasche Wein entsteht, schreibt August seine Komödie in seinem reich verzierten, bunten Arbeitszimmer, seinen Wein aus einem Kristallglas trinkend.33 Doch obwohl die Dramatiker in ihrem Schaffensprozess unterschiedlicher kaum sein könnten, profitieren beide von diesem Umstand, indem sie gegenseitig ihre Stücke bewerten und so das Beste aus dem jeweils anderen – meist aber aus Friedrich – herausholen können.34 Dies geschieht vor allem durch die Vergleiche zwischen Schiller, Shakespeare, Goethe und Lessing bzw. richtiger deren fiktionalisierten Pendants.35 Gerade der letzte Vergleich zwischen Schiller und Lessing gibt August die Möglichkeit, etwas zu Friedrichs ‚Genialität‘ beitragen zu können, indem er dessen bürgerlichem Trauerspiel den Titel Kabale und Liebe verleiht, anstelle des von Friedrich bevorzugten Titels Luise Millerin, was einen Vergleich mit Lessings Emilia Galotti geradezu herausfordert.36 Hierbei zeigt sich vor allem Augusts Stärke für einschlägige Titel, da er das Drama weder gelesen hat noch dessen Inhalt kennt. Letztlich führen die unterschiedlichen Dramentheorien auch zu unterschiedlichen Erfolgschancen: Friedrich glaubt mit jedem neuen Drama sich selbst zu übertreffen, was ihm ermöglicht, seine Dramentheorie praktisch umzusetzen, wohingegen August aufgrund seiner homosexuellen Neigung an der Sittenkonformität seiner Dramentheorie scheitert.37 Die Betitelung seines Vaters als „nichtswürdiger Komödiant“38 wirkt daher programmatisch für Augusts Lebensweg, soweit der Film ihn abbildet. Obwohl es vom historischen Schiller heißt, er habe sein gesamtes Leben lang unverbesserlich geschwäbelt,39 spricht Friedrich bzw. der Schauspieler Matthias Schweighöfer Hochdeutsch. Das Sprechen im Dialekt wird nur jenen Figuren zugeordnet, die als flache Charaktere karikiert werden. Zu diesen typisierten Fi-

33 Vgl. ebd., 00:27:08-00:28:16. 34 Vgl. ebd., beispielsweise 00:41:22-00:42:47, 00:52:20-00:52:29. 35 Vgl. beispielsweise „der Shakespeare Stuttgarts“, ebd., 00:24:19, „Goethe und Schiller“, ebd., 00:31:10-00:31:13, „Minister […] wie dieser Mensch, dieser Goethe“, ebd., 01:15:51-01:06:12. 36 Vgl. ebd., 01:01:11-01:01:38. Vgl. auch Marie Haller-Nevermann, S. 75. 37 Vgl. Martin Weinhart, 00:17:52-00:18:00, 01:04:00-01:04:54, 01:14:12-01:15:06. 38 Ebd., 00:26:43-00:26:44. 39 Vgl. Karl S. Guthke, S. 9.

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guren gehören beispielsweise Augusts Diener und Liebhaber, der einen stark hessischen Einschlag in seiner Sprechweise hat und der Pfälzisch sprechende Wolfgang von Dalberg, bei dem auch dessen Leidenschaft mitten in der deutschen Rede englisch zu sprechen, karikativ verwendet wird.40 Die Sprache, deren Entfaltungsmöglichkeiten im Dialog für Schiller den Ausschlag zur Wahl des Mediums Theater gegeben haben, wird auch im Film durch bewussten Einsatz, besonders durch den Gebrauch unterschiedlicher deutscher Dialekte, nutzbar gemacht. Damit greift der Film Schillers Dramentheorie auf und macht sie sich für seinen Umgang mit seinen fiktionalisierten Figuren zu Nutze.

8.2 G ENIEÄSTHETIK Im Zuge der Aneignung einiger markanter Episoden aus seinem Leben wird Friedrich als isoliertes Genie dargestellt, das sich die meiste Zeit der Handlung über in einer anderen, geistigen Sphäre befindet, die den restlichen Filmfiguren, wie auch dem extradiegetischen Publikum unzugänglich ist. Dabei gilt je höher Friedrichs Geist strebt, je weiter sich sein Genie über seine Dramen (besonders thematisiert wird die Arbeit an Kabale und Liebe) offenbart, desto kränklicher und angeschlagener wird sein Körper.41 Friedrich blüht in Anlehnung an die historische Vorlage so in seinem kreativen Schaffen auf, dass ihm darüber jegliches Körperbewusstsein verloren geht, wie Marie Haller-Nevermann in ihrer Biographie verzeichnet: „Schiller ging es nur darum, schreiben zu können, das Schreiben war für ihn innere Notwendigkeit und existentiell für seine Künstlernatur. Es leitete den Ablauf jedes Tages und fixierte die geistige Landschaft, die er in sich erschuf.“42

40 Vgl. ebd., beispielsweise 00:26:17-00:26:52, 00:58:46-00:59:30. Vgl. auch ebd., 00:20:26-00:20:47, wo August sich diesen Umstand zur Parodie Wolfgangs zu Nutze macht. Er wird somit der Figur Hofmarschall von Kalb angenähert, der, statt englischer, französische Ausdrücke in seine Rede einfließen lässt, um den Anschein des Erlesenen zu erwecken. Vgl. Schiller (2004, Kabale und Liebe), beispielsweise III/2, S. 803f. 41 Vgl. Martin Weinhart, 01:16:11-01:25:31, 01:25:44-01:27:18, 01:27:21-01:27:36. 42 Marie Haller-Nevermann, S. 9. Die Biographie von Haller-Nevermann weist allerdings, obwohl sie die Lebensdaten Schillers äußerst detailliert recherchiert hat, einige fragwürdige Schlussfolgerungen auf, wie ihre Vermutung, Schillers Dramen seien in der Auseinandersetzung mit der französischen Revolution entstanden: „In seinem dreißigsten Lebensjahr wurde Schiller Zeuge der französischen Revolution. Die kriti-

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Dies gilt im Film sowohl für die Phasen schwerer Erkrankung als auch für alltägliche, banale Belange wie seine Kleidung, die sich meist in Unordnung befindet, oder Essen und Trinken, wobei ihm fortwährend Lebensmittel aus dem Mund rinnen oder fallen, sofern er überhaupt daran denkt, seinem Körper Nahrung zuzuführen, die nicht geistiger Natur ist.43 Das Einzige, was er zum Arbeiten immer parat hat und haben muss, sind Stimulanzen wie Wein und Tabak.44 Aufgrund dieses Mangels an Selbstständigkeit ist Friedrich die gesamte Handlung hindurch darauf angewiesen, dass sich seine Freunde und Vertrauten um ihn und seine alltäglichen Belange kümmern.45 So bricht der erste große Krank-

sche Analyse dieser ersten bürgerlichen Erhebung innerhalb der modernen Demokratiebewegung hat sein weiteres Leben grundlegend bestimmt. Zentrale Themen seiner Dichtung wie seiner historischen und philosophischen Schriften waren fortan die Freiheits- und Menschenrechte, die Kritik an absolutistischer Willkür („Die Räuber“, „Don Karlos“, „Wilhelm Tell“) und an der Ständegesellschaft („Kabale und Liebe“).“ Marie Haller-Nevermann, S. 8. Hervorhebung von L.Z. Abgesehen davon, dass vor der französischen Revolution der amerikanische Unabhängigkeitskrieg (1775-1783) ein entscheidendes Vorbild und Thema für die Dramatiker der Sturm und DrangPeriode war – man denke beispielsweise an Friedrich Maximilian Klingers Drama Sturm und Drang (1776), das der Periode zu ihrem Namen verhalf –, erscheint es (vorsichtig formuliert) fragwürdig, Dramen wie Die Räuber (Uraufführung 1782), Don Karlos (Uraufführung 1787) und Kabale und Liebe (Uraufführung 1783) auf die französische Revolution (Beginn 1789) zu beziehen. Die Idee der Vorbildfunktion des Unabhängigkeitskriegs Nordamerikas wird auch in den Film SCHILLER übernommen, was Friedrichs republikanische Gesinnung verdeutlichen soll. Vgl. Martin Weinhart, 00:09:00-00:09:03. 43 Vgl. ebd., beispielsweise 00:27:08-00:27:22, 00:27:52-00:28:18, 00:37:14-00:37:22. 44 Vgl. ebd., beispielsweise 00:22:23-00:22:29, 00:35:37-00:35:55, 00:56:06-00:56:16, vgl. auch Marie Haller-Nervermann, S.22f., 74. 45 Vgl. Martin Weinhart, beispielsweise 00:01:14-00:01:17, 00:08:35-00:09:09, wenn Georg Friedrich Scharffenstein versucht die Unordnung in Friedrichs Kleidung zu beheben. Bezeichnenderweise ist es auch Georg, der Friedrichs Flucht plant, nachdem dieser sie beschlossen hat. Andreas muss den ins Schreiben vertieften Friedrich für die Flucht in die Kutsche zerren, damit der ausgearbeitete Plan funktionieren kann. Vgl. ebd., 00:12:41-00:15:23. Vgl. auch Katharinas Warnung vor den Offizieren aus Stuttgart: Während Friedrich sich nur Sorgen über die Annahme seines Fiesko macht, packt Katharina seine Sachen, um ihn in Sicherheit zu bringen. Alles, was Friedrich zu der Flucht beiträgt, ist die Mitnahme seines Notizbuchs, vgl. ebd., 00:43:2500:44:19.

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heitsschub auch erst aus, nachdem Andreas aufgebrochen ist, um sein Musikstudium in Hamburg anzutreten. Mit seiner Rückkehr und Pflege wird Friedrich gesundheitlich wieder soweit hergestellt, dass er weiterschreiben kann.46 Friedrich nimmt die Schar von Helferfiguren, allen voran Andreas, der seine eigenen Zukunftspläne opfert, um dem Freund in seiner schwierigen Mannheimer Phase beistehen zu können, mit nur geringer Reflexion von deren Leistungen und erbrachten Opfern an.47 Andreas bleibt Friedrich treu, bis dieser ihn fortschickt, um seinen Weg allein weiterzugehen. Dass dies Andreas seiner gefühlten Lebensaufgabe entledigt, wird symbolisch über seine Blöße im Nachthemd gezeigt. Dieser Eindruck wird verschärft, da hier Friedrich in der geteilten Wohnung vollständig angekleidet ist – was eine Seltenheit darstellt und Friedrichs Dominanz visualisiert.48 Zu der Gruppe von Friedrichs konstanten Helfer/innen gehören neben Andreas, Caroline und Katharina auch der Buchhändler Georg Friedrich Schwan, der Friedrich gleich einem väterlichen Freund unter die Arme greifen will. So unterstützt er diesen mit der Ankündigung seines Zeitschriftenprojekts, „Rheinische Thalia“, in der dieser sich als Weltdichter definiert und seinen Ideen ein Forum bieten will.49 Aber als Geschäftsmann ist er dennoch auch an den Markt gebunden und kann Friedrich die horrende Summe, die dieser zunächst im (vielleicht vermessenen) Bewusstsein seines Genies für sein Gedicht fordert, nicht zahlen.50 Als sich Friedrich aus seiner finanziellen Bedrängnis heraus entschließt, das Gedicht auch für weniger Geld zu verkaufen, kann dieser es eigentlich gar nicht mehr gebrauchen, da sich die Anthologie, in der es erscheinen sollte, bereits im Druck befindet. Trotzdem kauft er es Friedrich ab und verspricht, die Differenz zwischen aktuell bezahlter Summe und potentiellem Wert auszuzahlen, sobald er das Gedicht untergebracht habe.51 Damit verzichtet der (fiktive)

46 Vgl. ebd., 00:46:12-00:49:41 47 Für Andreas’ Rolle als Helferfigur, vgl. ebd., beispielsweise 00:17:00-00:17:36, 00:36:34-00:37:08, 01:07:37-01:08:08. Für die historische Freundschaft zwischen Schiller und Streicher, vgl. Marie Haller-Nevermann, S. 72f., 79. 48 Vgl. Martin Weinhart, 01:15:32-01:16:11. 49 Für die historische Einordnung der Ankündigung der „Rheinischen Thalia“, vgl. Marie Haller-Nevermann, S. 14. 50 Vgl. Martin Weinhart, 00:49:42-00:51:13. 51 Vgl. ebd., 01:17:06-01:19:21. Damit unterscheidet sich der diegetische Schwan in seiner Rolle als Helferfigur stark von Haller-Nevermanns Charakterisierung des historischen Schwan, der Schillers Werke (besonders den Fiesko) unter Wert ankaufte und

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Buchhändler darauf, aus Friedrichs Notlage Gewinn zu schlagen, obwohl ihm dies ein Leichtes gewesen wäre. Er erkennt den Wert von Friedrichs Arbeit an und versucht diesen nach Möglichkeit zu fördern. Das fortdauernde Ungleichgewicht zwischen Friedrich und seinen Helfer/innen und die für die übrigen Figuren bestehende Unerreichbarkeit von Friedrich in seiner Gedankenwelt führt die Helferfiguren immer wieder an die Grenzen ihrer Belastbarkeit, wie sich in dem Gespräch zwischen Katharina und Andreas exemplarisch offenbart: [Katharina:] Wie geht es ihm? [Andreas:] Die Gläubiger sind hinter ihm her. Seine Gesundheit lässt zu wünschen übrig. Er schont sich nicht, arbeitet Tag und Nacht. [Katharina:] Und von mir hat er gar nicht gesprochen? Er hat mich versetzt. Schon wieder. [Andreas:] Das bedeutet nichts. Das Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden wird bald bei ihm zurückkehren. Ich kenne die aussetzenden Impulse seiner Freundschaft, aber sie entfernen mich nicht von ihm. Sie dürfen ihn nicht einfach so abschreiben. Einer wie er wird nicht in hundert Jahren geboren.52

Zwar sind auch für Schiller chronische Geldsorgen und Schübe von ernsthafter Erkrankung verzeichnet,53 doch ist die im Film dargestellte exzessive Distanzierung Friedrichs von seiner Umwelt eher der Darstellung von Autorschaft mittels eines durch die Romantik inspirierten Geniekonzepts geschuldet, denn Überlieferungen zu Schillers Verhalten – für das eher das Gegenteil zu verzeichnen ist: „Ein Grundzug seiner Persönlichkeit war das Dialogische. Schiller war, einer Feststellung seines Freundes Wilhelm von Humboldt zufolge, für das Gespräch, den geistigen Austausch geboren. Zeit seines Lebens suchte er den Dialog, der ihm Lebensbedingung war.“54

diesen an den verschiedenen Nachdrucken finanziell nicht beteiligte. Vgl. Marie Haller-Nevermann, S. 72f. 52 Martin Weinhart, 01:08:10-01:09:05. Für Friedrichs Geldsorgen, vgl. ebd., beispielsweise 00:19:15-00:19:29. Dieser Dauerzustand macht das ansonsten eher weltfremde Genie zum harten Verhandlungspartner, der seiner Kunst einen hohen Preis in der Gegenwart zuordnen muss, während er sonst eher auf die zukünftige Wirkung seiner Dramen und Gedichte blickt, vgl. ebd., 00:50:38-00:51:10, 00:57:28-00:58:10. 53 Vgl. Marie Haller-Nevermann, beispielsweise S. 14, 67, 70, 72f. 54 Ebd., S. 9f. Vgl. auch S. 11, 92. Für sein Bedürfnis nach Ruhe, um sich von seinen Krankeitsschüben zu erholen und zum Arbeiten, vgl. ebd., beispielsweise S. 133f.,

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Der Film beginnt mit einem ersten historisch rekonstruierbaren Einschnitt im Leben des Autors, als dieser durch einen von seinen Eltern erzwungenen Vertrag, wie das resignierte Verhalten seines Vaters und die widerstrebende Unterschrift sowie die Tränen seiner Mutter zeigen, wider Willen zum Eleven der Carlsschule wird.55 Das Vorhaben des Fürsten, seinen Schülern zum Vater zu werden und somit jegliche Familienverbindungen seiner Zöglinge zu stören, scheitert in Bezug auf Friedrich. Sein Vater bleibt auch nach der 8-jährigen Schulzeit sein Ansprechpartner, mit dem er seine zukünftigen Pläne diskutiert: [Johann Schiller:] Ich komme vom Herzog. Seine Durchlaucht hat strikt verboten, dass er weiterhin literarische Schriften produziert. [Friedrich:] Vater, ich kann aber nicht anders. [Johann:] Was er kann oder nicht, darauf kommt es nicht an. Der Herzog hat befohlen, dass er hier als Arzt dient. Beim nächsten Mal wird es bei zwei Wochen Arrest nicht bleiben. [Friedrich:] Wenn Sie in Mannheim gewesen wären, dann wären Sie jetzt stolz auf mich. [Johann:] Es gibt nichts Flüchtigeres als den Erfolg. Wir sind nicht in England. In Deutschland kann er vom Schreiben nicht leben. [Friedrich:] Vater, sagen Sie mir einen Menschen, der sich nicht nach etwas Höherem sehnt, nach seiner wahren Natur. [Johann:] Junge, was soll das? [Friedrich:] Meine Sprache hat Macht über die Menschen. Ich führe ihnen den Spiegel ihrer ganzen Kraft vor Augen. Jeder soll der Held seines eigenen Lebens werden und dann … [Johann:] Es ist immer das Gleiche mit ihm. Er hofft zu viel und fürchtet zu wenig. [Friedrich:] Dalberg hat mir den Posten als Hausautor angeboten. [Johann:] Arzt bist du! […] [Friedrich:] Es tut mir leid. Ich bin zu etwas Großem aufgehoben. [Johann:] Ich hatte gehofft, ihn zur Vernunft zu bringen, aber unter dem Epochalen will er’s wohl partout nicht machen.56

Während Johann zunächst über die Anrede in der dritten Person Autorität und Distanz seinem Sohn gegenüber demonstrieren und ihn, aus Sorge um dessen Zukunft, zur Fürstentreue bewegen will, beweist er seinem Sohn in dieser Szene

145. Trotzdem betont Haller-Nevermann gerade Schillers auffällig intensives Familienleben. Vgl. ebd., S. 8, 208f. 55 Vgl. Martin Weinhart, 00:01:20-00:01:42 und Marie Haller-Nevermann, S. 34f. 56 Martin Weinhart, 00:09:50-00:11:13.

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aber auch, dass er an ihn und sein Talent glaubt, indem er ihm, dem Verbot des Fürsten zum Trotz, sein Notizbuch ins Gefängnis schmuggelt.57 Dass er dieses schon zu Beginn des Gesprächs im Mantel stecken hat, zeigt, wie gut er seinen Sohn und dessen Entschlossenheit zu schreiben kennt und somit den Ausgang des Gesprächs in eben dieser Form erwartet hat. Über seine zweite und letzte Szene im Film wird Johann als verständnisvoll und unterstützend charakterisiert und steht damit im Gegensatz zu der vom Fürsten verkörperten, autoritären ‚Vaterfigur‘. Das problematische Verhältnis von Friedrich zu seinem Fürsten, das sich aus dieser Konstellation ergibt, ist das Leitmotiv für die ausgewählten Szenen von der Uraufführung der Räuber in Mannheim, die er ohne Erlaubnis des Fürsten besucht und die in Arrest, Schreibverbot und seiner Flucht aus Stuttgart in seine persönliche Freiheit münden.58 Mit seiner Flucht aus Stuttgart kann Friedrich sich seinem Selbstverständnis nach als Dichter begreifen, denn „als Dichter bin ich niemandem Untertan.“59 Während Friedrich sich selbst nur in der Rolle des Dichters sieht, dessen Anliegen im Film die mögliche Republik Deutschlands ist, wird Schiller nachgesagt, dass er sich parallel zu seinem Dichterdasein auch in der Rolle des Arztes gesehen hat.60 Im Gegensatz dazu wird im Film Friedrichs medizinische Befähigung über die drakonische Selbstbehandlung seiner Malaria-Erkrankung, die als einzige Szene den ‚Arzt‘ in Aktion zeigt, angezweifelt. Obwohl der diegetische wie auch der historische Schiller die eigene begrenzte Lebenszeit erkennen, geschieht dies bei letzterem aufgrund seiner medizinischen Ausbildung, während Friedrich im Fieberwahn phantasiert und diese Erkenntnis daher eher prophetisch, denn wissenschaftlich fundiert erscheint.61 Friedrichs Lebensweg steht immer unter dem Zeichen, dass er zu Großem bestimmt sei.62 Der Erfolg seiner Räuber und das Angebot von Wolfgang bestätigen ihn in seinem Entschluss seinen Weg jenseits der Vorstellungen seines

57 Vgl. ebd., 00:11:21-00:11:44. 58 Vgl. ebd., 00:01:43-00:16:44. Friedrichs Voice-Over, das über das Filmbild gelegt wird, verwendet dabei Auszüge aus der Ankündigung der „Rheinischen Thalia“, die auch die Schulzeit rückblickend bewertet. Vgl. Marie Haller-Nevermann, S. 37, 6870. 59 Martin Weinhart, 00:02:08-00:02:10 und Marie Haller-Nevermann, S. 14. 60 Vgl. ebd., S. 48-55. 61 Vgl. Martin Weinhart, 00:48:16-00:48:58 und Marie Haller-Nevermann, beispielsweise S. 12f., 80f. 62 Damit unterscheidet sich Friedrich stark von seiner historischen Vorlage, der selbst immer wieder Zweifel an seinen Fähigkeiten äußerte. Vgl. ebd., S. 16.

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Fürsten zu gehen. Doch seine Hoffnung, als Hausautor angestellt zu werden, scheitert an seiner republikanischen Gesinnung, die nicht auf die Resonanz des machthabenden Adels stoßen kann.63 Wolfgang versucht immer wieder, Friedrich hinzuhalten, unfähig die Courage zu zeigen, Friedrich und die mit ihm verbundenen Skandale im Theater gegenüber der Kurfürstin zu vertreten, oder den Entschluss zu fassen, ihn ziehen zu lassen. Zwar hat er in einem Moment der Euphorie, Friedrich den Posten des Hausautors angeboten, doch geschah dies aus dem Bewusstsein heraus, dass Friedrich als Regimentsarzt in Stuttgart Verpflichtungen hat und somit nicht frei ist, das Angebot tatsächlich anzunehmen.64 Nachdem Friedrich sich seine Freiheit durch die Flucht ertrotzt hat, steht Wolfgang nicht nur vor dem Problem eines skandalträchtigen Hausautors, sondern auch in der unbequemen Position, dem württembergischen Fürsten entgegen treten zu müssen, sollte er Friedrich unterstützen.65 Durch sein fortwährendes Bestreben oder regelrechtes ‚Winden‘, sich nicht zu einer Entscheidung und den mit ihr verbundenen Konsequenzen zwingen zu lassen, sondern in einer Zwischenposition zu verharren und so den größtmöglichen Vorteil aus der Konfliktsituation zu schlagen, wird Wolfgang im übertragenen Sinn zur Vorlage von Sekretär Wurm im während des Films entstehenden Dramas Kabale und Liebe.66 Sein Auftreten und Gebaren machen ihn darüber hinaus zur Vorlage für Hofmarschall von Kalb.67 Das bürgerliche Trauerspiel bringt durch die Popularität des Genres Friedrich zwar die Stelle des Hausautors am Nationaltheater in Mannheim ein, doch verliert er sie wieder durch Augusts Intervenieren, der der Kurfürstin den Inhalt des Fiesko als aufrührerisch darlegt.68 Das im Film präsentierte Bild des historischen Schiller ist das des ‚Stürmers und Drängers‘, der die Welt in ihren Grundfesten erschüttern und eine neue Ordnung erreichen will. Doch dieser ‚Schiller‘ scheitert vordergründig an der herrschenden Ordnung. Er muss Mannheim den Rücken kehren, während der sittenkonforme August zum Hausautor wird. Mit dem Ende des Films öffnet sich für Friedrich die Möglichkeit eines Neuanfangs, wofür symbolisch auch der Ortswechsel steht. Ermöglicht wird dies besonders durch sein nun doch realisierbares

63 Vgl. Martin Weinhart, 00:39:14-00:40:27. 64 Vgl. ebd., 00:05:56-00:06:25, 00:36:22-00:36:29. 65 Vgl. ebd., 00:17:45-00:18:41. Für das Verhalten des historischen Dalberg, vgl. Marie Haller-Nevermann, S. 64-72. 66 Vgl. Friedrich Schiller (2004, Kabale und Liebe), I/5, S. 767-770. 67 Vgl. ebd., S. 27-29, 66-71, 85-88, 101-103. 68 Vgl. Martin Weinhart, 00:56:35-00:58:11, 01:03:46-01:05:29, 01:22:21-01:23:06, 01:25:52-01:26:35.

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Zeitungsprojekt, „Rheinische Thalia“, die von vier anonym bleibenden Freunden aus Leipzig angekauft wurde.69 Der zukünftige Weg fort vom ‚Stürmer und Dränger‘ hin zum tragenden Mitglied der ‚Weimarer Klassik‘ wird im Film immer wieder durch Anspielungen auf seine spätere Freundschaft und Zusammenarbeit mit Goethe angedeutet, wie beispielsweise in dem Streitgespräch der beiden Konkurrenten um den Posten des Hofautors.70 Die Zukunftsorientierung in Friedrichs Handeln beschränkt sich aber nicht nur auf Schillers Lebenszeit, sondern richtet sich auch auf den Nachruhm, den sich Friedrich für die nächsten zweihundert Jahre erhofft und der sich auch über die fiktive Werkgenese widerspiegelt, dessen Protagonist er ist: „Und wenn ich mir denke, dass in der Welt mehr solche Zirkel sind, die mich unbekannt lieben und sich freuten mich zu kennen, dass vielleicht in hundert und mehr Jahren, wenn auch mein Staub schon lange verweht ist, man mein Andenken segnet und mir noch im Grabe Tränen und Bewunderung zollt, dann freue ich mich meines Dichterberufes und versöhne mich mit Gott und meinem oft harten Verhängnis.“71

8.3 K ABALE , L IEBE

UND

S CHAUSPIEL

Das im Film konstruierte Geniekonzept wird leitmotivisch über Friedrichs weitestgehend von Unsicherheit und Anbetung geprägtes Verhältnis zu Frauen dargestellt, wie beispielsweise sein selbstanalytischer Kommentar zeigt: [Friedrich:] Erdolcht auf der Treppe des Dogenpalastes. Idiot! Ich kann nicht denken, wenn sie da ist. […] Es ist der Geist, der sich den Körper baut. Aber was nützt mir der Geist, wenn ich nicht über ihn verfüge, in ihrer Nähe, Fräulein Baumann. [Andreas:] Geh doch zu einer Mamsell vorher. [Friedrich:] Bei den Huren wird mir immer schlecht. [Andreas:] Tja, dann musst du ihr halt fernbleiben. Dann musst du ihr halt schreiben. [Friedrich:] Natürlich, ich schreibe ihr. Ein Trauerspiel.72

69 Vgl. ebd., 01:27:31-01:28:23. 70 Vgl. ebd., 00:30:55-00:31:15. Für weitere Anspielungen auf Goethe und Schillers Bewunderung für ihn, vgl. ebd., 01:15:50-01:16:04. Für die historische (Freundschafts-)Beziehung von Goethe und Schiller, vgl. beispielsweise Marie HallerNevermann, S. 99-105; Rüdiger Safranski. 71 Martin Weinhart, 01:28:01-01:28:23. 72 Martin Weinhart, 00:21:07-00:22:31. Für die Beziehung des historischen Schiller zu Frauen, vgl. Marie Haller-Nevermann, S. 66, 79f.

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Um seiner empfundenen Unfähigkeit, mit Katharina ein vernünftiges Gespräch zu führen, zu entgehen, beschließt Friedrich ihr die Hauptrolle in seinem neuen Stück, „Luise Millerin“, zu schreiben. Indem er für seine weibliche Hauptfigur ein Vorbild der diegetischen ‚Realität‘ nimmt, wird der Grundstein für eine autobiographische Deutung des Dramas gelegt, die sich weniger darauf konzentriert, einzelne Handlungselemente als Begebenheiten aus Friedrichs Leben zu rekonstruieren, sondern vielmehr darauf, einzelnen Figuren eine ‚reale‘ Vorlage zu verschaffen und somit gleichzeitig den Autor und sein Drama zu einem mythisch überformten ‚Kunstprodukt‘ verschmelzen zu lassen. Dieser Prozess fand mit dem Einsetzen jährlicher Gedenkfeiern zu Schillers Ehren seinen Anfang und wird, wie der Film SCHILLER offenbart, noch heute fortgeführt.73 So wird (wie oben bereits erwähnt) Wolfgang durch sein Bestreben, aus dem Konflikt um Friedrich den größtmöglichen Vorteil für sich herauszuschlagen zur Vorlage von Sekretär Wurm und durch sein äußeres Erscheinungsbild und Gebaren zum Modell von Hofmarschall von Kalb, Katharina zur idealisierten Besetzung der Luise Miller und die von ihrer Krankheit entstellte Caroline zu Friedrichs Zugang zu seiner Figur Lady Milford.74 Die Werkgenese wird demnach von einer Reihe von inspirierend wirkenden Figuren aus Friedrichs Umfeld initiiert und gefördert, wobei gerade die Frauenfiguren in Form von Musen eine besondere Stellung einnehmen. Dass Friedrich in seinem Umgang mit Frauen zwar unsicher, aber nicht unerfahren ist, zeigt sich besonders in seinem sexuellen Verhältnis zuerst zu Caroline, dann zu Katharina. Doch auffällig bleibt, dass es in beiden Fällen die Frauen sind, die den entscheidenden Impuls geben: Caroline bietet Friedrich ihre ‚Dienste‘ anstelle einer anderen Prostituierten an und Katharina versteckt Friedrich für die Nacht vor den Soldaten und erklärt ihm, dass sie tun können, was immer sie wollen.75 Gerade in seinem Verhältnis zu Caroline offenbart sich Friedrichs Interesse am Inneren des Menschen, nicht an dessen äußerem Erscheinungsbild. Während sie Friedrich für ihre gemeinsame Nacht die Augen verbinden will, um so die Illusion ihrer verlorenen Schönheit aufrecht zu erhalten, nimmt dieser die Augenbinde wieder ab, auf die Illusion verzichtend und dennoch nicht von ihrer Entstellung abgestoßen, wie Caroline zunächst annimmt. Die Unsicherheit hingegen wird deutlich, wenn es um mehr geht, als nur um eine Nacht, wie seine beiden ausgesprochenen Heiratsanträge nahelegen. Der erste Heiratsantrag geschieht aus der Euphorie über seine gerade gewonnene

73 Vgl. Ebd., S. 236. 74 Vgl. Martin Weinhart, 00:34:25-00:34:35, 00:40:28-00:40:37. 75 Vgl. ebd., 00:33:41-00:35:55, 00:44:19-00:45:49.

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Freiheit und so ruft er einer unbekannten Frau zu, ob sie ihn heiraten wolle. Als diese überrumpelt nickt, ist die Sache für Friedrich erledigt.76 Doch diese flüchtige Bekanntschaft hat keinerlei Konsequenzen für Friedrichs Leben. Dieser Antrag drückt lediglich seine Spontaneität und seinen überquellenden Enthusiasmus aus. Anders verhält es sich mit dem zweiten Antrag, den er an Katharina richtet. Auch dieser ist spontan und wird ausgesprochen, ohne an mögliche Konsequenzen zu denken. Er dient nur dazu, August zuvor zu kommen: „Katharina, wollen Sie mich heiraten?“ Katharinas Reaktion auf die Frage ist zunächst Schweigen, dann verdeckt sie ihr halb entblößtes Bein, mit dem sie im Wasser des Brunnens gespielt hatte, und stellt ihre Gegenfrage: „Und was tun Sie, wenn ich ja sage?“77 Im Gegensatz zu Friedrich ist sie sich durchaus der möglichen Konsequenzen einer Ehe bewusst und scheint auch Friedrichs Unsicherheit wahrzunehmen, die ihn veranlasst, als Antwort auf ihre Frage die Flucht zu ergreifen.78 Obwohl er Georg Friedrich Scharffenstein gegenüber behauptet, daran zu arbeiten, eine Komödiantin zu heiraten,79 ist er zu keiner längeren Beziehung fähig. Sowohl Caroline als auch Katharina weist er als Frauen von sich, da sie eine Konkurrenz zu seiner Arbeit darstellen.80 Sein Interesse an ihnen ist nicht stark genug, um gegen seine Dichternatur bestehen zu können. Ein Nebeneinander von beidem gibt es für ihn nicht. Daher wird das Verhältnis zu beiden Frauen auf deren Funktion als Vorlage für seine Figuren reduziert. Katharina erkennt dies in ihrem Abschiedsbrief an Friedrich an: „Leben Sie wohl, geliebter Freund. Es küssen Sie Amalia, Luise und Katharina.“81 Ihren eigentlichen Namen nennt sie zuletzt, denn vordergründig ist sie für Friedrich die Verkörperung seiner Dramenfiguren. Beide Frauen bleiben trotz der Reduzierung, die sie durch Friedrich erfahren, stark und eigenständig. Wie Andreas entscheiden sich beide bewusst dazu, zu Helferfiguren für Friedrich zu werden: Katharina, indem sie August befiehlt, den Fiesko zu lesen und zu bewerten und Caroline, indem sie als Wolfgangs Mätresse diesen überzeugt, den Fiesko spielen zu lassen, um sich neben der Milford eine zweite von Schillers Frauenfiguren aneignen zu können.82 Weiter verhilft Katharina Friedrich dazu, über seine Etappe in Mannheim einen Neuanfang zu wagen und seine Stuttgarter Vergangenheit hinter sich zu lassen. Sie ermutigt ihn

76 Vgl. ebd., 00:16:34-00:16:43. 77 Ebd., 00:32:59-00:33:12. 78 Vgl. ebd., 00:33:12-00:33:29. 79 Vgl. ebd., 00:51:47-00:51:59. 80 Vgl. ebd., 00:40:25-00:41:00, 01:11:47-01:13:19. 81 Ebd., 01:25:34-01:25:45. 82 Vgl. Martin Weinhart, 00:28:37-00:29:50, 00:55:04-00:56:06.

S CHILLER

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zu der zukunftsorientierten Haltung, die sein Genie mit ausmacht.83 Die Unterstützung, die Friedrich von Katharina erfährt, reicht bis zur Vollendung des fünften Aktes von Kabale und Liebe, den Friedrich ihr diktiert.84 Nachdem er sie nicht mehr für Kabale und Liebe braucht, dessen Inspirationsquelle sie letztlich war, verlässt sie ihn und Mannheim, als den Ort, an dem Friedrich nicht die Würdigung erfahren konnte, die ihm – wie sein Nachruhm beweist – zugestanden hätte. Obwohl sie dort gute Chancen auf eine Karriere als Schauspielerin mit der Festanstellung am Mannheimer Nationaltheater gehabt hätte, ist diese Möglichkeit durch die Entlassung Friedrichs als Hausautor für sie uninteressant geworden.85 Auch Caroline bleibt eine eigenständige Frau, die ihre Stärke nicht nur in ihrem Umgang mit ihrer Krankheit, sondern auch mit ihrer Konkurrenz zu Wolfgangs Ehefrau unter Beweis stellt.86 Diese musenartige Inspiration durch die beiden Frauenfiguren strahlt auf diese zurück, indem Friedrich ihnen eine klar definierte Rolle nach Vorgabe der Theaterkonventionen zuschreibt (und sie so auch ein Stück weit auf diese Rollentypen festschreiben hilft). Mittels der Werkgenese von Kabale und Liebe (bzw. weiter gefasst auch den angedeuteten Genesen von Die Räuber und Fiesko) werden in SCHILLER auch die Konventionen von Theater und Drama sowie der Konflikt der beiden konträren Dramentheorien von Friedrich und August thematisiert. Das Narrativ der Werkgenese wird hier plakativ (durchaus im Sinne einer Weiterführung der mit SHAKESPEARE IN LOVE aufgekommenen Narrationscharakteristika) mit einer Medienreflexion des Theaters und indirekt auch des Films verbunden. Es kommt wiederholt zu Szenen im Theater, in denen die statisch wirkende Kamera eine Vermittlerrolle zwischen den Positionen von Publikum und Schauspieler/in einnimmt. Dabei ist natürlich zu beachten, dass das Filmpublikum nicht in die direkte Position des Schauspielers/der Schauspielerin versetzt werden kann. Durch das Schuss-Gegenschuss-Prinzip, das die Kamera von den Standpunkten einzelner Figuren löst und das Gefühl einer größeren Übersicht über das Geschehen suggeriert, werden die Positionen von Schauspieler/innen und Zuschauer/innen einander gegenüber gestellt, wobei sowohl der eher statische Blick des diegetischen Publikums auf die Bühne übernommen

83 Vgl. ebd., 00:44:19-00:45:49. 84 Vgl. ebd., 01:23:09-01:25:21. Die Szene erinnert an Wurms diktierten Brief an Luise, was die Kombination aus Luise Miller und Katharina Baumann weiter hervorhebt. Vgl. Friedrich Schiller (2004, Kabale und Liebe), III/6, S. 814-817. 85 Vgl. Martin Weinhart, 01:22:21-01:25:52. 86 Vgl. ebd., 00:18:42-00:19:10, 00:53:41-00:54:05, 00:59:47-01:00:27.

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wird, als auch der der Schauspieler/innen in den Zuschauerraum.87 Bewegung wird hierbei nur durch die Schauspieler/innen, das Beifall jubelnde Publikum oder Kamerafahrten, die die Bewegung einer Figur verfolgen oder ihre Perspektive zeigen sollen, erzeugt. Die ansonsten nur aus einigen wenigen Positionen gewählten, statischen Einstellungen, sind ganz der Verknüpfung des realen Zuschauerpublikums mit dem Medium des Theaters verbunden, womit sich der Film medial dem Theater annähert. Dies versetzt das Filmpublikum nicht nur in eine Position zwischen Schauspieler/in und diegetischem Publikum, sondern verknüpft dieses auch soweit mit dem Theater, dass der Konflikt zwischen Friedrich und August, der sich über Dramentheorien etabliert, auch auf der visuellen Ebene nachvollziehbar wird. Die ideale Zwischenposition erfährt der Zuschauer dabei bei den Waldproben zu Kabale und Liebe.88 Hier ist keine Bühne vorhanden, die die Trennung zwischen Schauspieler/in und Zuschauer/in betonen würde. Das Publikum besteht nur aus den Schauspieler/innen, die daher sowohl als Publikum als auch als Schauspieler/innen in ihren Rollen agieren können. Hierin werden aber auch die Grenzen des Mediums Film aufgedeckt, denn was den realen Schauspieler/innen mit ihrer Doppelrolle möglich wird, bleibt dem Filmpublikum versagt. Sein Anteil an der diegetischen Welt bleibt an das Zuschauen gekoppelt, auch dann, wenn das Filmbild die Sicht der Schauspieler/innen darstellt. Da hier, im Gegensatz zum Theaterraum mit klarer Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum, keine Fixpunkte vorhanden sind, an denen die Kamera statisch verharren kann, ist die Kamera hier kontinuierlich in Bewegung. Das filmische Medium ordnet sich in den Szenen, die im Theaterraum spielen, dem des Theaters gänzlich unter. Doch sobald Friedrich ins Filmbild kommt, entwickelt die Kamera ein wenn auch nur minimalistisch realisiertes ‚Eigenleben‘. Sie beginnt leichte Drehbewegungen, verfolgt seine Bewegungen, auch wenn diese ihn nicht aus dem Filmbild bringen würden. Damit tritt die Kamera in eine Verbindung mit Schillers enthusiastischem, von Bewegung geleitetem Verhalten.89 Diese Veränderung im ansonsten statischen Theaterraum suggeriert die Veränderungen, die Friedrich dem Theater seiner Zeit als Dramatiker bringen soll. Diese Verbundenheit zwischen dem Protagonisten des Films und der Kamera als der ‚Erzählinstanz‘ des Films reicht bis zur Aufgabe einer überblicksartigen Position der Kamera, wenn diese Schillers Perspektive über-

87 Vgl.

Martin

Weinhart,

beispielsweise

00:01:44-00:01:51,

00:02:26-00:02:51. 88 Vgl. ebd., 01:09:45-01:12:00. 89 Vgl. ebd., beispielsweise 00:03:51-00:06:26, 00:37:46-00:39:14.

00:02:12-00:02:22,

S CHILLER

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nimmt,90 was in der Kombination von Filmbild und Friedrichs Voice-Over sogar noch intensiviert wird.91 Die Möglichkeiten der Kamera werden in SCHILLER demnach genutzt, um den Protagonisten sich auch auf der Erzählebene entfalten lassen zu können. Eine ganz ähnliche Strategie wird auch für den zwei Jahre später erschienen französischen Film über den Dramatiker Molière gewählt.

90 Vgl. ebd., beispielsweise 01:02:53-01:03:19, wo Schillers vom Alkohol herbeigeführte Bewusstlosigkeit von der Kamera nachgezeichnet wird. 91 Vgl. ebd., beispielsweise 00:01:51-00:03:02.

9. MOLIÈRE

9.1 S TOFF , T HEATER

UND

M ASKERADE

Bereits der Anfang der fiktiven Werkgenese MOLIÈRE symbolisiert eines der Hauptthemen des Films: Es werden eine Reihe unterschiedlicher Stoffbahnen, die durch ihren Faltenwurf Licht und Schatten kombinieren, gezeigt1 und damit auf die beiden miteinander ‚verwobenen‘ Themen des Films verwiesen, passende ‚Stoffe‘ (im Sinne von Inhalten) für das Theater zu finden und das Theater in seiner ‚Stofflichkeit‘ (also seiner Materialität und seinen Mediencharakteristika) im Filmbild dazustellen, zu definieren bzw. umzugestalten. Nicht nur bildlich, sondern auch sprachlich wird dies in der filmischen Exposition thematisiert. Nach der Rückkehr mit seiner Wandertruppe nach Paris, die sich mit der Darbietung von Farcen in der Provinz einen Namen gemacht hat,2 will Jean-Baptiste sich durch einen Genrewechsel von der Farce zur Tragödie als ernstzunehmender Schauspieler und Dramatiker etablieren: Ni Le Barbouillé, ni L’Étourdi, ni Le Médecin volant, nous ne donnerons pas de farce. […] Nous ne sommes plus à la foire aux bestiaux de Dijon. Ce sont les gens de la Cour qui vont venir nous voir ici. Ce public-là mérite mieux qu’une grossière farce; notre troupe mérite mieux qu’une farce; je mérite mieux qu’une farce. […] Ce sont les textes. Les textes de Corneille ne me conviennent pas. […] Je dois écrire mes propres pièces, voilà tout. […] J’ai des choses à dire, Madeleine. J’ai besoin de faire entendre ma voix.3

1 2

Vgl. Laurent Tirard, 00:00:07-00:00:59, Transkription von Sophia Mehrbrey. Für die Nachzeichnung des historischen Verlaufs dieser Zeit, vgl. Jürgen Grimm, S. 17-20.

3

Laurent Tirard, 00:02:58-00:04:03.

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Farce wird hier also rekurrierend auf die im (ausgehenden) 17. Jahrhundert gängige Praxis als abwertende Bezeichnung für Dramen genutzt: „When the newly created Poet Laureate, Nahum Tate, set out to defend farce in 1693, his literary colleagues were accustomed to employ the word as a term of contempt. Thomas Rhymer, for example, savagely damned Shakespeare’s Othello as ‚a Bloody Farce, without salt or savour‘.“4 Molière musste sich wiederholt dem erstmals von Thomas Corneille getätigten Vorwurf stellen, er tauge als Schauspieler nur für Farcen.5 Im Film wird dieser Vorwurf indirekt aufgegriffen und als (fiktiver) Selbstvorwurf umgedeutet, der eine Weiterentwicklung von der vermeintlich niederen Dramenform zur Gründung neuer Dramenformen initiiert. Dieser Umstand entspricht allerdings nicht Molières tatsächlichem Umgang mit den verschiedenen Ausprägungen der Komödie. Seine ganze Karriere hindurch hat er sich allen ihren Formen, mit denen er sich in den Wanderjahren durch die Provinz vertraut machen konnte, gewidmet, sie weiterentwickelt und sie gleichermaßen auf seinen Spielplan gesetzt: So ist der in der Provinz entstandene und 1655 in Lyon uraufgeführte Fünfakter L’Étourdi ou Les Contretemps bis 1672 im Repertoire von Molières Truppe geblieben,6 die vermeintliche Abkehr von seinen frühen Stücken gibt es demnach nur für die dramaturgische Geschlossenheit der fiktiven Werkgenese, die eine Weiterentwicklung der Figur signalisieren soll. Neben den Farcen zeichnet sich Molières Werk besonders durch die lange Zeit als Auftragsarbeiten für Ludwig XIV. verpönten Ballettkomödien aus, die als Genre von Molière erfunden wurden, um dem Geschmack des Königs Rechnung zu tragen,7 sowie durch seine zeitkritischen Komödien wie Ecole des Femmes oder Le Tartuffe ou L’Imposteur, die von seinen Zeitgenossen kontrovers diskutiert wurden. Insbesondere die ‚Querelle‘ um Le Tartuffe ist hierfür symptomatisch: Die Uraufführung fand am 12. Mai 1664 im höfischen Rahmen statt und wurde prompt für die öffentliche Vorführung verboten. Während eines fünfjährigen Kampfs gegen Klerus und weitere Gegner aus Theater- und Adelskreisen überarbeitete Molière das Stück weitreichend, wobei sich diese Veränderungen allerdings durch den Verlust der Vorgängerversionen nur vage nachvollziehen lassen: So erhält der Untertitel der Erstfassung l’Hypocrite in der Endfassung mit l’Imposteur eine andere Bedeutungsdimension. Aus den ursprünglich aufgeführten drei Akten werden in der Endfassung im Stil einer klassischen Ko-

4

Jessica Milner Davis, S. 69, Hervorhebung im Original.

5

Vgl. Jürgen Grimm, S. 61.

6

Vgl. ebd., S. 51-56.

7

Vgl. ebd., S. 21f.

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mödie fünf Akte. Durch die Intervention des Königs, der Molières Truppe im Zug der Querelle seinem Protektorat unterstellt hatte, konnte das Stück am 5. Feburar 1669 endlich öffentlich ausgeführt werden. Dies wurde zu einem Triumph Molières, der sich nicht nur des Rückhalts des Königs sicher sein konnte, sondern auch eine „Rekordeinnahme von 2.860 Pfund“ und „achtundzwanzig Aufführungen in Folge“ 8 feiern konnte. Jürgen Grimm sieht in dieser Unterstützung durch den absolutistischen Monarchen das „Bewusstsein seiner politischen Macht“, der „durch die ‚Paix de l’église‘ (Sept. 1668/Jan. 1669) den Einfluss der religiösen Gruppierungen zu neutralisieren trachtet, sich von den beengenden Fesseln moralischer Bevormundung befreit und gegen den kirchlichen Bannspruch ein Stück durchsetzt, das einen bereits ins 18. Jh. weisenden Religionsbegriff propagiert.“9 Die Filmhandlung verzichtet auf die Darstellung dieser Querelle und reduziert damit die Komplexität der Ereignisse auf Jean-Baptistes Streben nach einem von ihm als ernsthaft empfundenen Theater, zu dem die Farce für ihn nicht zählen kann. Um sich von dieser in der Filmhandlung als minderwertig charakterisierten Form des Schauspiels abzusetzen, plant Jean-Baptiste künftig nur noch Tragödien (und damit die prestigeträchtigste Dramenform) zu spielen. Der Protest seiner Truppe, Jean-Baptiste sei ein miserabler Tragödienspieler, wird nur wenige Szenen darauf auch visualisiert, wenn er zu Beginn der als Rückblick gestalteten Binnenhandlung auf der Bühne, bei dem Versuch einen ernsthaften Text zu sprechen, durch sein maßloses Überbetonen und Dehnen der Worte kläglich scheitert. Das Publikum erreicht er erst, als er die beiden Geldeintreiber, die seine Darbietung unterbrechen, durch Pantomime und derbe Streiche lächerlich macht, was die Versammelten prompt mit Gelächter und Applaus quittieren.10 Diese Darstellung des 1643 gegründeten ‚Illustre Théâtre‘ verweist einerseits auf das hauptsächlich aus Tragödien bestehende Repertoire sowie die Geldsorgen der nur zwei Jahre bestehenden Theatergruppe11 und postuliert andererseits eine anfängliche Erfolglosigkeit des Protagonisten, aus der sich ein individueller Weg zum Erfolg abzeichnet. Die pantomimische und Slapstick-artige Verhöhnung der beiden Beamten verweist in einem Vorgriff auf Jean-Baptistes späteren, in der Rahmenhandlung eingetretenen Ruhm als Dichter und Darsteller

8

Ebd., S. 94. Für die Querelle insgesamt vgl. ebd, S. 91-108; vgl. auch Maya Slater, S. 170-173; für die sich daraus ergebenden Veränderungen an Le Tartuffe, vgl. Robert McBride.

9

Jürgen Grimm, S. 94.

10 Vgl. Laurent Tirard, 00:09:06-00:11:55 11 Vgl. Jürgen Grimm, S. 14-16.

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von Farcen, die nach Eric Bentleys Definition „joking turned theatrical“12 sind, sowie auf die Beeinflussung von Molières Dramen durch die italienische commedia dell’arte, die in seinem Gesamtwerk allerdings weniger in direkten Bezügen im schriftlichen Text nachweisbar ist. „Fassbar wird er [der Einfluss, L.Z.] vor allem in der auf Gestik, Mimik und Pantomime beruhenden Komik, überall dort also, wo die Komödie über das reine Worttheater hinausgeht, wo das optisch Sinnfällige dominiert, mit dem allein die Italiener ein französisches Publikum unmittelbar ‚ansprechen‘ konnten.“13 Gleichzeitig wird hier erneut eine Änderung historischer Darstellungen Molières vorgenommen, um Jean-Baptiste als tragikomischen Protagonisten des Films etablieren zu können. Jürgen Grimm führt zu Molières äußerem Erscheinungsbild Folgendes aus: Selbst wenn wir den zahlreichen, vermutlich idealisierten Porträts […] nur beschränkten dokumentarischen Wert beimessen, lassen sich aus ihnen und anderen Zeugnissen doch folgende Merkmale ablesen: Molière war klein und untersetzt; dünne Beine trugen einen gedrungenen Oberkörper und ein zu kurzer Hals einen großen Kopf, der tief in den Schultern zu stecken schien. Das runde Gesicht selbst war ohne Harmonie: hervorspringende Backenknochen; kleine, weit auseinander liegende Augen; eine breite Nase mit stark betonten Nasenflügeln; ein großer Mund mit dicken Lippen; ein stark hervortretendes Kinn; dunkle Hautfarbe und Augen; schwarze, buschige Augenbrauen und Schnurrbart. Der Blick, auch sein Lächeln, in den meisten Fällen melancholisch, ja ernst. […] Hinzu kommt eine dumpfe Stimme, durchsetzt mit schrillen, außergewöhnlichen Tönen, und insbesondere ein krankhaftes Schlucken (‚hoquet éternel‘; ‚tic de gorge‘), das mitunter am Ende eines jeden Verses hervorbrach und vermutlich fortwährend für unfreiwilliges Gelächter sorgte. Ein Schauspieler mit solcher Konstitution taugt kaum für die Rolle eines tragischen Helden, und auch getragene Rollen der Komödie dürften bei ihm unfreiwillig komisch ausfallen. Eher wird man im Fall Molières von einer geradezu physiologischen Prädestination für derb-komische Rollen sprechen müssen. Es verwundert daher nicht, dass er mit Vorliebe die lächerlichen Gestalten seiner Komödien spielt. Mit Sicherheit beruht sein Erfolg beim zeitgenössischen Publikum zu einem großen Teil auf seinen komödiantischen Fähigkeiten.14

12 Eric Bentley, S. 234. 13 Jürgen Grimm, S. 46. 14 Jürgen Grimm, S. 31f. Für eine weiterführende Analyse zum Verhältnis von Schauspieler und Dramatiker, vgl. Marie-Claude Canova-Green.

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Die sich hier manifestierende fehlende Übereinstimmung mit dem Körper des Schauspielers (Romain Duris) wird über den filminternen Tick Jean-Baptistes, die gesprochenen Worte in der Tragödie mit einer schier endlosen Dehnung zu versehen und mit hölzern wirkenden Bewegungen zu untermalen, zu einem ähnlichen Ergebnis geführt: Die Darbietung wird unfreiwillig komisch und erst dann erfolgreich, wenn sie bewusst als derb-komisch intendiert ist. Obendrein wird Jean-Baptistes Bestreben, Tragödien aufzuführen, durch den Wunsch seines Gönners, Philipp von Orléans, dem Bruder des Königs, unmöglich gemacht, da dieser bei der Vorführung etwas Heiteres wünscht.15 Tatsächlich hat Molière am 24. Oktober 1658, dem ersten Auftritt seiner Truppe „im Wachsaal des Louvre vor dem König [Ludwig XIV., L.Z.] und dem versammelten Hof […] mit mäßigem Erfolg Corneilles Nicomède [gespielt, L.Z.], eine ungeschickte Wahl, da das Stück eine Episode der Fronde aufgreift; doch lässt Molière ein ‚petit divertissement‘ folgen, vermutlich die in der Provinz erprobte Farce Le docteur amoureux, die den Durchbruch bringt.“16 Jean-Baptistes Anmerkung im obigen Zitat („Les textes de Corneille ne me conviennent pas.“) verwirft einerseits diese historische Tatsache, da die erste Aufführung ein von ihm selbst geschriebenes Stück sein wird, andererseits antizipiert sie das historische Misslingen der Aufführung von Nicomède, indem Jean-Baptiste im obigen Zitat nur mit seinen eigenen Worten eine gelingende Darstellung erwartet („Je dois écrire mes propres pièces, voilà tout. […] J’ai des choses à dire, Madeleine. J’ai besoin de faire entendre ma voix.“). Die erste Aufführung vor dem königlichen Hof wird so als Anlass genommen, die fiktive Genese der Werke, insbesondere von Le Bourgeois gentilhomme und Le Tartuffe, die für die Analyse hervorgehoben werden, zu narrativieren. Um dem sich aus den Forderungen seines Gönners und seinen eigenen Bedürfnissen nach ernsthaftem Theater entspinnenden Dilemma zu entfliehen und gleichzeitig den Fähigkeiten seiner Schauspielertruppe (sich selbst eingeschlossen) gerecht zu werden, ist Jean-Baptiste gezwungen, eigene Stücke zu schreiben, die alle drei dieser Aspekte für eine gelungene Aufführung erfüllen. Die unten diskutierte, angedeutete Schreibblockade angesichts dieser Aufgabe mündet in einer Rückblende, die seine Erinnerungen an den Aufenthalt im Haus der Familie Jourdain umspannen und motivisch die Vorlage und damit den Kern für seine (demnach in der Fiktion autobiographisch zu wertenden) Komödien (insbesondere Le Tartuffe und Le Bourgois gentilhomme) liefern. Punktuell wird aber gleichzeitig auch auf andere Werke verwiesen, wie beispielsweise über die Verwendung des Namens Célimène für eine kokette Ad-

15 Vgl. Laurent Tirard, 00:04:09-00:05:42. 16 Jürgen Grimm, S. 18.

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lige als Verweis auf Le Misanthrope, und so eine (fiktive) Inspiration für sämtliche Werke angedeutet.17 In der Rückblende wird wiederholt auf das Theater und dessen Ausdrucksmöglichkeiten sowie dessen ‚Stofflichkeit‘ rekurriert. Plakativ geschieht dies anhand Jean-Baptistes Rolle als Berater für Monsieur Jourdains Bestreben im Salon von Célimène ein Solotheaterstück vorzuspielen und sie damit zu verführen. Jean-Baptiste, der das von Jourdain verfasste Stück bewerten soll, ist entsetzt ob der Stümperhaftigkeit des Texts. Als Jean-Baptiste daraufhin einen eigenen Text verfassen soll, zeigt sich Jourdain wiederum uneinsichtig und bewertet JeanBaptistes Text vernichtend. Hier wird auf das typische Problem verwiesen, dass Molières Dramen (abgesehen vielleicht von Le Tartuffe, wie Maya Slater herausarbeitet)18 keine Lesedramen sind, sondern der Text als Grundlage für die Aufführung gedacht ist: Molière repeatedly asserted that he regarded his plays as acting texts. He maintained that seeing a performance was what counted, and that reading the play came a very poor second. […] At the time he was writing, comedy, and, in particular, farce, relied heavily on improvisation. Molière would have expected a production to use a text as a basis to build on rather than as a blueprint to be followed in slavish detail.19

Molière selbst schreibt hierzu in seinem Vorwort zu L’Amour Médecin: „On sait bien que les comédies ne sont faites que pour être jouées, et je ne conseille de lire celle-ci qu’aux personnes qui ont des yeux pour découvrir, dans la lecture, tout le jeu du théâtre.“20 Während Jourdain also – zusätzlich zu seiner sonstigen Ungebildetheit und Lächerlichkeit21 – prototypisch für jene Dramenleser/innen

17 Damit findet das von SHAKESPEARE IN LOVE etablierte Vorgehen, auf das Gesamtwerk zu verweisen, während die Genese von einem bis zwei Werken hauptsächlich fokussiert wird, auch hier seine Anwendung und erweist sich somit als international und diachron beständig für fiktive Werkgenesen. Für eine Analyse der koketten Célimène aus Le Misanthrope, vgl. Jürgen von Stackelberg (2011), S. 45-49. 18 Maya Slater, S. 172f. 19 Ebd., S. 161, 164. Vgl. auch Jürgen von Stackelberg (1986), S. 9. 20 Molière (1960, L’Amour Médecin), S. 781. 21 Andrew Calder schreibt zu Monsieur Jourdain: „[He] arouses laughter at yet another level. The behavior of the bourgeois is seen to be morally wrong, but we are invited to enjoy his errors without dwelling too much on their possible consequences. These consequences are sketched out for us: Monsieur Jourdain is squandering his wealth in an attempt to gain entry into an aristocratic elite for which he is entirely unfit; he ne-

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steht, die den Text nicht vor ihrem inneren Auge inszeniert sehen und damit richtig verstehen können, ist seine Frau Elmire die einzige Leserin, die den Wert des Textes auf Anhieb versteht.22 Ansonsten werden im Film die Texte nur von Jean-Baptistes Truppe gelesen, um sie für die Aufführung vorzubereiten und damit dem von Molière intendierten Zweck zuzuführen. Auf Basis der gegenseitigen Verurteilung als ‚Stümper‘ entbrennt zwischen Jean-Baptiste und Jourdain ein Disput über das Theater, der sich in den Übungen zur Schauspielkunst deutlich zeigt: Die Aufforderung, ein Pferd darzustellen, wird von Jourdain mit einem stereotypen Pferd beantwortet, wohingegen JeanBaptiste erwartet, dass ein Schauspieler sich in den Charakter eines individuellen Pferdes einfühlt.23 In seiner Darstellung unterschiedlicher individueller Pferde vom Andalusier bis zum Ackergaul zeigt Jean-Baptiste eine auffällige Wandlungsfähigkeit, die sein Schauspiel über die Verkörperung von Stereotypen und Klischees erhöht. Hiermit wird auf die Molière nachgesagte Vielseitigkeit seines Schauspiels angespielt: Molières Verwandlungsfähigkeit muss unerschöpflich gewesen sein. […] Zu […] ausdrucksstarker Mimik und Gestik kommt die Wandelbarkeit der Stimme, sei es durch Imitation fremder Stimmen, durch Verstellungen oder Gesangseinlagen; weiter Tanz und Akrobatik, die gleichzeitige Darstellung mehrerer Rollen, Verkleidungen, ja auch die Vermummung als Frau, die Karikatur von Schauspielern der Konkurrenzbühnen und anderes mehr.24

Jean-Baptiste betont gegenüber Jourdain, Schauspielkunst sei „un métier de sentir, et non du paraître.“25 Das Schauspiel soll demnach Individuen, in deren Rolle

glects his wife, trying to arrange a liaison with a marquise, and threatens his daughter’s happiness by seeking to marry her to an aristocrat. Molière takes care to draw the sting from each of these follies: the bourgeois is so rich that his profligacy does no lasting harm; his wife, played by a man, is a tough bourgeoise who can look after herself, and Monsieur Jourdain, in any case, is such an inept suitor that Dorimène, his marquise, remains unaware of his intentions; the threat to his daughter Lucile is introduced late in the play (III,3), never becomes acute, as her father has no particular aristocrat in mind for her, and is soon overcome.“ Andrew Calder, S. 71. 22 Vgl. Laurent Tirard, 00:31:38-00:37:07. 23 Vgl. ebd., 00:13:40-00:17:56, 00:28:57-00:32:57, 00:47:45-00:50:30. 24 Jürgen Grimm, S. 32. 25 Laurent Tirard,00:50:33-00:50:37.

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geschlüpft wird, darstellen und Sachverhalte glaubhaft vermitteln, wenngleich sie nicht der Realität entsprechen. Gemäß dieser Grundkonzeption des Theaters wird der ganze Film zur miseen-abyme-ähnlichen Spiegelung des Theaters, wenn wiederkehrend Motive wie das Schlüpfen in verschiedene Rollen und Vorspielen von nicht der Realität entsprechenden Sachverhalten aufgegriffen werden: So spielt der mittellose Aristokrat Dorante Jourdain vor, er werbe in dessen Namen um Célimène. Gleichzeitig mimt er Célimène gegenüber den reichen Verehrer, indem er Jourdains kostspielige Geschenke als seine eigenen ausgibt.26 Célimène wiederum möchte sich gerne selbst als geistreich inszenieren, offenbart aber immer wieder ihre Oberflächlichkeit, wenn sie ihren Verehrern Versprechungen passend zu dem Wert der Geschenke macht oder geistreiche Konversation mit Lästern verwechselt.27 Jean-Baptiste ist genötigt, in die Rolle des Geistlichen Tartuffe, der als Hauslehrer angestellt ist, zu schlüpfen, um seine Anwesenheit im Haushalt gegenüber Elmire Jourdain, die von dem ehebrecherischen Vorhaben ihres Gatten nichts erfahren soll, zu rechtfertigen und sich somit als Betrüger (dem neuen Untertitel L’imposteur entsprechend) zu verhalten.28 Schließlich mimt der bürgerliche Jourdain – als Vorlage für Le Bourgeoise Gentilhomme – noch den Adligen, wenn er sich (mit eher mäßigem Erfolg) in verschiedenen Künsten unterrichten lässt. Es kommt zu einer komischen Verkehrung der für den Erwerb der Künste notwendigen Ernsthaftigkeit, wenn Jourdain seine Lehrer häufig zur gleichen Zeit bestellt und ewig warten lässt, weil er sich nicht entscheiden kann, womit er

26 Vgl. ebd., 00:36:56-00:39:38, 00:44:15-00:47:44. 27 Vgl. ebd., 00:14:27-00:16:10. Durch die rahmende Narration Jourdains, der Célimènes Anmut und Esprit in den höchsten Tönen lobt, betont ihr Lästern im Kreis der Damen ihres Salons den Kontrast zwischen Schein und Sein umso deutlicher, vgl. ebd., 00:45:22-00:48:10. 28 Vgl. ebd., 00:16:47-00:37:07. Der ursprüngliche Untertitel L’Hypocrite wird im Film ebenso wie die ‚Querelle‘ ausgeblendet, da Jean-Baptiste sich in seiner Rolle als Geistlicher so unwohl fühlt, dass er nur zaghafte Versuche unternimmt, einen strengen Glauben vorzuheucheln und dabei meist sofort von Elmire unterbrochen wird. Seine Rolle als Heuchler wird auch dadurch fragwürdig, dass Jourdain von Beginn an über die Maskerade informiert ist und Elmire zumindest von Jean-Baptiste teilweise eingeweiht wird, wenn er sich als Betrüger darstellt, der auch ihren Ehemann täuscht, um so als Geistlicher Geld für seine bankrotte Theatertruppe zu ergaunern, so dass in Bezug auf die im Film gebotene Interpretation des Tartuffe eher von einem Betrüger, denn einem Heuchler zu sprechen sein muss. Vgl. ebd., 01:00:11-01:00:57.

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beginnen möchte, sowie im endlich begonnenen Unterricht kaum bei der Sache ist und diesen daher bald wieder abbricht.29 Neben diesen indirekten Verweisen auf das Theater werden verschiedene Täuschungsszenen auch explizit als ‚Komödie vorspielen‘ thematisiert bzw. die Beteiligten als ‚Komödianten‘ betitelt. Das Theater wird so von einer örtlichen Gebundenheit an eine Bühne und eine damit verbundene Rezeptionshaltung gelöst und die Komödie zum Bestandteil des alltäglichen Lebens gemacht. Diese explizite Rahmung findet sich beispielsweise in Jean-Baptistes Offenbarung gegenüber Elmire, in der seine Anwesenheit als Tartuffe als „le rôle que l’on vous [Jean-Baptiste, L.Z.] a confié“30 deklariert wird. Wenngleich Elmire zu diesem Zeitpunkt nicht die Tragweite der Maskerade durchschaut, geht sie doch davon aus, alle Geistlichen seien Komödianten und bezieht ihre Handlungen daher auf eine dem Theater vergleichbare Maskerade.31 Das gleiche Vorgehen findet sich auch in der inszenierten Entführungsgeschichte, um die Ehe zwischen Henriette und Thomas zu verhindern, in der Elmire sich als Komödiantin versucht.32 Aufgegriffen wird diese Idee erneut, wenn Jourdain seinen finanziellen Ruin vortäuscht, um das zu Ende zu führen, worin die Komödie seiner Frau gescheitert ist.33 Eine ebenso explizite Rahmung erfährt auch die Aufdeckung von Dorantes Täuschung, wenn Jourdain sich als Edeldame verkleidet in Célimènes Salon einschleicht und Jean-Baptiste als Edelmann die Rolle eines neuen Verehrers übernimmt, mit dem sie über Jourdain lästert.34 Die diegetische Realität der Rückblende wird damit zur Vorlage für das Theater, das demnach in die Lage versetzt wird, ‚Realität‘ in besonderer Weise abzubilden bzw. darzustellen. Eng mit diesem mimetischen Konzept wird die dargestellte Rolle des Autors verbunden.

9.2 AUTORSCHAFT

IM

R AUSCHZUSTAND EINER N ACHT

Die Suche nach den eigenen Texten, die Jean-Baptistes oben skizziertes Dilemma lösen soll, mündet zunächst in einer Schreibblockade, für deren Darstellung

29 Vgl. ebd, 00:19:13-00:21:49. Vgl. für die Theatralität von Jourdains Verhalten im Drama (und der daran angelehnten Darstellung im Film) Wolfgang Matzat, S. 184188; vgl. weiterführend Andrew Calder, S. 107f. 30 Laurent Tiard, 00:40:21-00:40:23, Transkription von Sophia Mehrbrey. 31 Vgl. ebd., 00:40:32-00:40:55. 32 Vgl. ebd., 01:19:42-01:24:21. 33 Vgl. ebd., 01:39:58-01:42:43. 34 Vgl. ebd., 01:26:23-01:34:24.

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typisch filmische Stilmittel verwendet werden: Jean-Baptiste sitzt bewegungslos an seinem Schreibtisch, die Feder verharrt dysfunktional knapp über dem Papier in der Luft. Bewegung wird durch die Kamera und die wechselnden Lichtverhältnisse erzeugt. Die Kamera kreist um den nahezu paralysierten Schriftsteller, während der Wechsel von Tages- zu Kerzenlicht und wieder zurück das Fortschreiten der Zeit signalisiert. Letztlich kapituliert Jean-Baptiste, indem er die Feder von sich wirft.35 Die vorläufige Kapitulation vor den eigenen Ansprüchen soll mit der in Trunkenheit getätigten Ankündigung, der größte Dramatiker Frankreichs zu werden, überspielt werden, die jedoch keiner der Anwesenden ernst nimmt.36 In paradoxer Konstellation wird hier einerseits auf Molières Nachruhm verwiesen, der die fiktive Werkgenese über ihn überhaupt erst möglich macht, und gleichzeitig ein krisenhafter Moment im Leben Jean-Baptistes signalisiert, der zwischen Schein und Sein, zwischen Ideal und Realität changiert. Jean-Baptistes Krise der Schreibblockade kann daher auch nicht von ihm selbst gelöst werden, sondern erst von der im Sterben liegenden Muse, die von ihm fordert, aus dem Unglück eine neuartige Form der Komödie zu schreiben: [Elmire:] Monsieur Molière, vous savez très bien que la tragédie n’a jamais été votre forme. Sêchez ces larmes et tâchez plutôt de me faire rire pendant les quelques heures qui me restent. [Jean-Bapitste:] La situation se prête bien peu au rire, j’en ai peur. [Elmire:] Vous avez tort. Le malheur a des vertus comiques qu’il ne faut pas sous-estimer. [Jean-Baptiste]: Comment suggérez-vous que je fasse rire de ce qui fait pleurer? Ce genre de comédie n’existe pas. [Elmire:] Et bien, inventez-le.37

Die in der Binnenhandlung dargestellten Ereignisse enden für Jean-Baptiste und Elmire als Liebespaar tragisch. Ihr Tod in der Rahmenhandlung entzieht dem Paar endgültig jegliche Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft. Gleichzeitig ermöglicht der Verzicht auf eine gemeinsame Zukunft Elmire ein Leben mit ihrer Familie. Damit wird die Handlung in MOLIÈRE in ein für Molières Dramen häufig charakteristisches Spannungsfeld aus Komödie und Tragödie gebracht. In der Rückbesinnung auf die Erlebnisse der Binnenhandlung schreibt JeanBaptiste das seiner Truppe versprochene Stück im Rauschzustand einer Nacht.

35 Vgl. ebd., 00:05:53-00:06:25. 36 Vgl. ebd., 00:06:26-00:07:05. 37 Ebd., 01:49:41-01:50:11, Transkription von Sophia Mehrbrey.

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Seine verblüffte Miene, als er am nächsten Morgen auf den vollbeschriebenen Seiten erwacht, zeigt deutlich, dass er sich weder an den Akt des Schreibens erinnern kann, noch dass dieser in irgendeiner Weise geplant war.38 Damit wird auf Molières eigenes Kokettieren mit schnell hingeworfenen Auftragsarbeiten angespielt, allerdings sein bevorzugtes Arbeiten als sorgfältig geplantes Schreiben verleugnet. Zeitgenössischen Dokumenten lässt sich weiter entnehmen, dass Molières Spiel alle Zufälligkeit fremd war. Im Gegenteil ist jede Geste, jeder Schritt sorgfältig einstudiert, und dies entspricht voll und ganz Molières bürgerlichem Arbeitsethos. Denn er arbeitet viel und langsam. Eilig entworfen und niedergeschrieben sind allerdings mehrere im Auftrag des Königs entstandene Ballettkomödien. Wenn Molière hier mitunter mit seiner schnellen Arbeitsweise kokettiert, hat er doch gewiss alle nur irgend mögliche Sorgfalt auf die Abfassung und Inszenierung dieser Stücke verwendet. In dem seinem Malerfreund Mignard gewidmeten, poetologisch wichtigen Versepos La gloire du Val-de-Grâce […] stellt Molière die langsame, immer wieder Korrekturen gestattende Ölmalerei der Freskenmalerei gegenüber, die die schnelle Anwendung einer sicher beherrschten Technik verlangt. Er selbst beherrscht beide Verfahren. Seiner eigenen Natur hält er jedoch die stetige Arbeit, die das Talent ausmache und allein dauerhaften Erfolg verspreche, für angemessener. Auch sein Inszenierungsstil zeichnet sich durch sorgfältige Arbeit aus, was für die Zeitgenossen eine auffällige Neuheit darstellt.39

Stattdessen wird im Film die Darstellung eines spontanen Dichtens präferiert. Als Elmire von Dorante die Summe von „trente mille livres“40 genannt bekommt, mit der sie ihre Tochter aus der geplanten Ehe mit Dorantes Sohn freikaufen könnte, ersinnt Jean-Baptiste spontan die ‚Komödie‘ über die Entführung der Tochter, mit deren Lösegeldforderung Jourdain um das benötigte Geld betrogen werden soll.41 Ebenso wie in der Rahmenhandlung erweist sich JeanBaptiste gerade unter Zeitdruck als fähig, einen für die Umstände passenden Plot zu erfinden. Die Rahmenhandlung zeichnet sich obendrein noch durch eine markante Verschachtelung der einzelnen Szenen aus, die eine stringente Chronologie unterwandert. Damit wird für eine nahezu zirkuläre Narration des Motivs der Schreibblockade gesorgt, die als Bindeglied zwischen den einzelnen Szenen

38 Vgl. ebd., 01:45:31-01:45:52. 39 Jürgen Grimm, S. 33. 40 Laurent Tirard, 01:19:55-01:19:56. 41 Vgl. ebd., 01:19:58-01:23:15.

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fungiert und damit die ansonsten typische chronologische und kausal-logische Anordnung von Szenen ablöst. Der Ausweg bietet sich in Jean-Baptistes Rolle des leidenden Genies: Während er Elmire in gleich doppelter Weise verlieren muss – einmal durch den Verzicht zugunsten ihrer Familie und seiner Karriere als Komödiant, einmal durch ihren Tod –, gestattet ihm diese private Tragödie den gesuchten Ausweg aus der Schreibblockade, indem er ‚ernsthafte Komödien‘ verfasst, wozu der Film insbesondere die final aufgeführten Dramen Le Tartuffe und (nicht ganz der gängigen Einordnung entsprechend) Le Bourgeoise gentilhomme zählt. Der in den finalen Sequenzen des Films gezeigte Besuch bei Elmire erweist sich als retrospektiv sinnstiftend. Hierin manifestiert sich der initiierende Moment für Jean-Baptistes Erfolg, der damit auch den Bogen zur Popularität und zum Ruhm der historischen Vorlage schlägt. Vorbereitet wird diese Schlüsselszene bereits im nahezu mittig im Film angesiedelten und damit als dem filmischen Höhepunkt zugehörig markierten, heimlichen Treffen von Jean-Baptiste und Elmire, wenn er für Elmire im Stil der Farce seine bisherigen Erlebnisse im Haus Jourdain zusammenfasst. Während sie zuerst noch fröhlich lacht, wird sie schließlich ernst, um ihn darauf aufmerksam zu machen, dass er wahrhaft talentiert und dazu berufen sei, andere zu erheitern.42 Entsprechend seiner oben skizzierten Hierarchisierung der Dramengattungen fühlt er sich verspottet, als Elmire ihm nur ein Talent zur Komödie bescheinigt: [Elmire]: Vous avez un vrai talent. [Jean-Baptiste:] Ne vous moquez pas, j’ai honte. [Elmire:] Je ne me moque pas. Vous êtes né pour faire rire. [Jean-Baptiste:] Madame je vous ai dit que je m’étais emporté. C’est un défaut que j’ai. Je vous demande maintenant d’oublier cela. [Elmire]: N’est-ce pas ce que vous voulez – jouer la comédie? Quels gens qu’ont dit [sic] que vous êtes blessé? [Jean-Baptiste:] C’est que je prends le métier d’acteur pour une chose grave qui exige le respect. [Elmire:] M’en ai-je moqué [sic]? [Jean-Baptiste:] Oui Madame. Quand vous confondez la farce et le théâtre. Le théâtre, Madame, est quelque chose de plus grand, de plus noble de plus... de plus éssentiel que ce que je vous ai montré. […] Si vous voulez bien me laisser maintenant. Je crois qu'il est tard.

42 Vgl. ebd., 01:08:23-01:09:56.

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[Elmire:] Mais enfin. Est-ce ma faut si vous avez parlé comme une chèvre qui aurait perdu toute sa famille à la guerre? [Jean-Baptiste:] La tragédie fait appel à une sensibilité que peut-être vous n’avez pas, tout simplement. [Elmire:] Épargnez-moi votre air supérieur. Je sais, moi, ce qui me plaît et ce qui m’ennuie. Et quoi que vous disiez vos pitreries sont plus touchantes que n’importe quelle tragédie. [Jean-Baptiste:] Non, Madame, ce n’est pas possible. [Elmire:] Pas possible? Mais pourquoi? [Jean-Baptiste:] Parce que la comédie, pour laquelle vous êtes si complaisante, ne repose que sur des grossiers effets mécaniques, alors que la tragédie, elle, explore l’infinie complexité de l’âme humaine. [Elmire:] Alors, jouez des comédies qui explorent l’âme humaine. [Jean-Baptiste:] Ce genre de comédie n’existe pas. [Elmire:] Et bien, inventez-le. Vous savez quel est le mal qui vous ronge? L’orgueil. Le plus important, c’est de pouvoir vivre de votre art. Faites votre métier. Partez sur les routes. Voyagez à travers le pays. Jouez la comédie dans chaque ville, dans chaque village. Faites-les rire. C’est comme ça que vous vous ferez connaître. Le reste viendra ensuite.43

Mit der Aufforderung, er möge die für ihn passende Komödienform erfinden und sich als Mitglied einer Wandertruppe einen Namen machen, stellt sie als Geliebte und Muse die typische Forderung nach Aktivität, die letztlich nur auf Kosten der Beziehung verwirklicht werden kann. Auf dem Sterbebett liegend verweist Elmire daher auch auf die Bedeutung der Förderung von Jean-Baptistes Karriere, der sie mehr Wert beimisst, als ihrem persönlichen Glück: „Les larmes que j'ai pu verser sont peu de choses comparées au bonheur que j'ai eu d'apprendre ce que vous étiez devenu.“44 Elmire erweist sich damit als Muse nicht nur als Figur, deren Anwesenheit inspirierend wirkt, sondern auch als treibende Kraft, die Jean-Baptiste Wege und Möglichkeiten aufzeigt und Forderungen stellt. Dass sich Jean-Baptiste ihrer Bedeutung für seinen Erfolg bewusst ist, zeigt die letzte Szene mit ihm als Beobachter hinter der Bühne, die als Überarbeitung der Ereignisse zwischen Henriette und Valère deren Versöhnung zeigt. Obgleich die Szene in der Binnenhandlung nicht in der Fassung vorkommt, sondern erst durch Jourdains Intervenieren ein positiver Ausgang für das junge Liebespaar herbeigeführt wird, zeigt sich hier Jean-Baptistes Versuch, Elmires Wunsch zu erfüllen

43 Ebd., 01:09:29-01:11:33, Transkription Sophia Mehrbrey. 44 Ebd., 01:48:58-01:49:05, Transkription Sophia Mehrbrey.

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und die Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit ihr in seinen Stücken lebendig zu halten. Gleichzeitig wird so mit dieser finalen Aufführungssequenz auf die Dramen Molières, deren fiktive Werkgenese erzählt wird, in einem Potpourri aus Szenen angespielt.

9.3 P OTPOURRI

AUS

M OLIÈRES W ERK

Neben Anspielungen auf einige Farcen, die dem Titel nach in der Rahmenhandlung genannt werden sowie der Verwendung von einzelnen Motiven oder Namen (wie beispielsweise Célimènes) als Verweis auf andere Stücke, setzt sich die Filmhandlung der Rückblende hauptsächlich aus der motivischen Einbindung von Le Tartuffe und Le Burgoise gentilhomme zusammen, deren Themen und Motive miteinander verwoben werden. Dies lässt sich bereits plakativ auf der Ebene der Figurennamen beobachten, wenn der Bürger Jourdain (Le Burgoise gentilhomme) die Anwesenheit Molières – der Jourdain dabei helfen soll, die Adelige Célimène mit einem selbstgeschriebenen Theaterstück zu verführen – seiner Frau gegenüber damit zu erklären versucht, dass er ihn als den Geistlichen Tartuffe (Le Tartuffe) ausgibt.45 Zur Einbindung wird sich sowohl direkter Zitate bedient als auch einer verschleierten Inszenierung von Themen und Motiven des Werks. Neben dem direkten Zitat der Figurennamen (aus Le Bourgeoise gentilhomme neben Jourdain noch Dorante; aus Le Tartuffe neben Jean-Baptistes Verkleidung als Tartuffe noch Elmire als Vorname von Jourdains Ehefrau und Valère, der heimliche Liebhaber Henriettes, der ältesten Tochter der Familie Jourdain) kann als weiteres direktes Zitat die Theaterinszenierung am Schluss gewertet werden, die als Schnittstelle zwischen der Rahmenhandlung und dem in seiner Genese vollendeten Drama fungiert. Hier werden die zunächst in der Binnenhandlung verschleiert inszenierten Motive explizit den Dramen Le Tartuffe und Le Bourgeoise gentilhomme zugewiesen und in einem direkten Zitat und als punktuell realisierte Literaturverfilmung gezeigt. So wird die zuvor verschleiert inszenierte Intrige um die Verheiratung von Henriette mit Dorantes Sohn Thomas, durch die sich Dorante einen Anteil an Jourdains Vermögen verspricht, nun als Tartuffes Intrige auf der Bühne dargestellt und so die Verbindung zwischen Jean-Baptistes Verkleidung und der von ihm beobachteten Ereignisse gezogen. Gleichzeitig spielt Dorante auch die in Le Bourgeoise gentilhomme angelegte Rolle des ‚schmarotzerischen‘ Adligen, der gegen ein Bürgertum abgegrenzt wird, das un-

45 Vgl. ebd., 00:17:57-00:24:23.

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ter der Regentschaft von Ludwig XIV. zur tragenden Wirtschaftssäule aufgestiegen ist.46 In der abschließenden Theaterinszenierung werden in einem bunten Potpourri berühmte Szenen aus Molières Dramen aneinandergereiht, darunter auch Szenen aus Le Tartuffe und Le Bourgeois gentilhomme, die hier für die Analyse hervorgehoben werden. Diese Szenen liefern einen direkten Verweis auf die zuvor gesehene Filmhandlung und stellen so direkte Zitate aus den Dramen dar. Exemplarisch sei dies an dem Gespräch zwischen Valère und Mariane in Le Tartuffe II,4 gezeigt, das stark gekürzt auf der diegetischen Bühne inszeniert wird: [Schauspieler Valère]: Madame, une nouvelle qui sans doute est belle. [Schauspielerin Mariane]: Quoi? [Schauspieler Valère]: Que vous épousez Tartuffe. [Schauspielerin Mariane]: Il est certain que mon père s’est mis en tête ce dessein. [Schauspieler Valère]: Et quel est le dessein où votre âme s’arrête, Madame? [Schauspielerin Mariane]: Je ne sais. [Schauspieler Valère]: Vous ne savez? [Schauspielerin Mariane]: Non. Que me conseillez-vous? [Schauspieler Valère]: Je vous conseille, moi, de prendre cet époux. [Schauspielerin Mariane]: Vous me le conseillez? [Schauspieler Valère]: Parfaitement. [Schauspielerin Mariane]: Hé bien! C’est un conseil, Monsieur, que je reçois. [Schauspieler Valère]: Vous n’aurez pas grand-peine à le suivre, je crois. [Schauspielerin Mariane / Jean Baptiste leise hinter der Bühne]: Pas plus qu’à le donner en a souffert votre âme. [Schauspieler Valère]: Moi, je vous l’ai donné pour vous plaire, Madame. [Schauspielerin Mariane]: Et moi, je le suivrai pour vous faire plaisir, Monsieur. [Schauspielerin Dorine]: Non, ma non! Cessez ce badinage, et venez çà tous deux. Vous vous aimez tous deux plus que vous ne pensez.47

Das Gespräch ist in seiner finalen Theaterinszenierung eine ‚Überarbeitung‘ des hinter den Kulissen stattfindenden Streits zwischen Henriette und Valère, der die ‚Komödie‘ um die Entführung der Tochter in der Binnenhandlung zum Scheitern bringt und damit auch die Fluchtpläne Jean-Baptistes und Elmires zunichtemacht. Jean-Baptiste verarbeitet in den Dramen also explizit die Erlebnisse im

46 Vgl. Jürgen Grimm, S. 20-22. 47 Laurent Tirard, 01:51:03-01:51:49; vgl. Molière [1960, Le Tartuffe ou l’Imposteur] II,4, 685-703, 768, 784.

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Haus der Familie Jourdain und das Scheitern seiner Beziehung zu Elmire, die ihn auf dem Sterbebett rät, aus dem Unglück eine Komödie zu machen. JeanBaptiste befindet sich damit in einer ähnlichen Lage wie Mariane, die den erteilten Rat befolgen will, obwohl es ihr zutiefst widerstrebt. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass er genau diese Zeile von seiner Position hinter der Bühne mitspricht und damit explizit auf sich und Elmire überträgt, deren Rat bzw. Aufforderung er hiermit nachgekommen ist. Ein ähnliches Verhältnis zwischen Drama und Film lässt sich auch für die Briefszene aus Le Bourgois gentilhomme konstatieren, die gleich doppelt im Film gezeigt wird – einmal in der finalen Aufführungsszene, die Szenen aus Le Bourgois gentilhomme und Le Tartuffe durchbrochen von der Erinnerung an das letzte Treffen zwischen Jean-Baptiste und Elmire aneinanderreiht, und einmal in der Binnenerzählung, wo die Szene ebenfalls mit den Worten des Dramas als Gespräch zwischen Jourdain und Jean-Baptiste in seiner Verkleidung als Tartuffe wiedergegeben wird: [Jourdain]: Je voudrais donc lui mettre dans un billet: „Belle Marquis, vos beaux yeux me font mourir d’amour“; mais je voudrais que cela fût mis d’une manière galante. […] [Jean-Baptiste]: Mettre que les feux de ses yeux réduisent votre cœur en cendres. [Jourdain]: Non, non, non, je ne veux point tout cela; je ne veux que ce que je vous ai dit: „Belle Marquis, vos beaux yeux me font mourir d’amour.“ […] [Jean-Baptiste]: Hé bien! On les peut mettre premièrement comme vous avez dit: „Belle Marquis, vos beaux yeux me font mourir d’amour.“ Ou bien: „D’amour mourir me font, belle Marquise, vos beaux yeux.“ Ou bien: „Vos yeux beaux d’amour me font, belle Marquise, mourir.“ Ou bien: „Mourir vos beaux yeux, belle Marquise, d’armour me font.“ Ou bien: „Me font vos yeux beaux mourir, belle Marquise, d’amour.“ [Jourdain]: Mais laquelle est la meilleure? [Jean-Baptiste]: Celle que vous avez dite: „Belle Marquise, vos beaux yeux me font mourir d’amour.“48

Durch die doppelte Wiedergabe der Szene im Film wird eine explizite Erklärung geliefert, wie die Werkgenese (in der Fiktion) vonstattengegangen ist, indem die erste Szene als Inspiration für das letztliche Theaterstück gewertet wird. Das direkte Zitat, das über die Theaterinszenierung als solches markiert wird, wird retrospektiv mit der anfangs nur verschleierten Inszenierung derselben Szene ver-

48 Laurent Tirard, 00:43:05-00:44:04 und 01:47:03-01:47:28; vgl. das Gespräch zwischen Monsieur Jourdain und dem Maître de Philosophie im Drama Molière (1966, Le Bourgois gentilhomme), II,4, S. 454.

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bunden. Vom Filmende her wird die fiktive Werkgenese so mit Authentizität und einer Legitimation versehen, da die fiktiven Ereignisse (der Darstellung des Films nach) Auslöser für das Entstehen von Molières (fiktionalisiertem) Werk sind. Neben diesen direkten Zitaten, die sich leicht erkennen lassen und eindeutig auf ihren Prätext verweisen, wird über die motivische Einbindung und insbesondere die Verknüpfung von Themen und Motiven aus den beiden für die Analyse hervorgehobenen Dramen auch eine interpretatorische Leistung der Rezipient/innen vorausgesetzt, sollen die verschleierten Inszenierungen in einer indirekten Form der Werkverfilmung entschlüsselt werden. Auch die nicht durch die Theaterinszenierung mit einem direkten Verweis auf die Dramen Molières ausgestatteten wörtlichen oder motivischen Entleihungen aus denselben innerhalb der Binnenhandlung werden durch die finale Theaterszene retrospektiv als Inspirationsmomente ausgewiesen. Wiederholt findet sich neben der oben angeführten Briefszene die wörtliche Wiedergabe einzelner Sätze aus Molières thematisierten Dramen, so beispielsweise die Szene, in der Dorante sich noch einmal Geld von Jourdain leihen möchte, was er mit der Behauptung einleitet, er wolle seine Schulden, deren genaue Höhe er nicht mehr kenne, zurückzahlen. Hierbei werden einzelne Sätze aus Molières Drama eingearbeitet oder es erfolgt zumindest eine sinngemäße Wiedergabe der Inhalte, so dass den mit dem Drama vertrauten Rezipient/innen die Ähnlichkeit der Szene auffallen muss.49 Neben dieser einfachen motivischen Verwendung wird den Rezipient/innen dort ein größeres Maß an interpretatorischer Leistung abverlangt, wo die Handlungsstränge der beiden Dramen miteinander verwoben werden. So kommt es im Film wiederholt zu Zusammenführungen bzw. zur Aufgliederung unterschiedlicher Figuren aus Molières Dramen, die auf die Filmfiguren der Binnenhandlung übertragen werden. Elmire Jourdain erweist sich durch die Zusammenführung der Namen der Ehefrauen aus Le Tartuffe und Le Bourgois gentilhomme als Prototyp der Molière’schen Ehefrau, deren herausragende Stellung natürlich besonders von ihrem oben diskutierten Musendasein geprägt wird. Wie Jürgen von Stackelberg herausarbeitet, wird „[v]on Molière […] zu Recht gesagt, er habe sein Gut hergeholt, wo er es fand. Vergessen wird dabei, dass er eines von nirgendwo herholen konnte: die Zahl und das Gewicht der Frauen, die in keiner Komödie vor ihm so groß waren wie bei ihm.“50 Mit der Verwendung der unten besprochenen Enthüllungsszene aus Le Tartuffe erweist sich Elmire als Konglomerat verschiedener Figuren und der damit dargestellten Typen: Sie ist

49 Vgl. Laurent Tirard, 00:37:10-00:38:39; vgl. Molière (1966, Le Bourgois gentilhomme), 3,4, S.466-470. 50 Jürgen von Stackelberg (2011), S. 13.

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Ehefrau in einer unglücklichen Ehe, die sich letztlich (gemäß Dorimènes Forderung in Le Mariage forcé)51 dieselben Rechte wie ihr Ehemann herausnimmt (Jourdain ist bestrebt, Célimène zu seiner Geliebten zu machen, sie beginnt eine Affäre mit Jean-Baptiste) und ihrem Ehemann somit farcentypisch Hörner aufsetzt. Die Reaktion des gehörnten Jourdain in Aussprache mit Jean-Baptiste führt allerdings zu einem Rückzug des Geliebten und einer Versöhnung des Ehepaars; die ursprüngliche Ordnung wird also im Film wiederhergestellt und verbessert, indem Jourdain als geläuterter und reuiger Ehemann zu seiner Frau zurückkehrt. Gleichzeitig vereint sie Typen unterschiedlicher Stände, indem sie einerseits die Ehefrau eines reichen Bürgers ist, andererseits mit dem Listenreichtum von Molières servante Dorine den vermeintlichen Geistlichen, den Jean-Baptiste mimt, zu entlarven anstrebt. Dabei sagt sie parallel zu Madame Jourdain aus Le Bourgeiose gentilhomme ihrem Mann wiederholt „unverblümt die Meinung“.52 Parallel zu Elmire als Bindeglied zwischen unterschiedlichen Figuren(typen) verbindet auch Jourdain die beiden hauptsächlich thematisierten Dramen Molières, indem er zum einen den bürgerlichen Edelmann in seinem gesamten Gebaren verkörpert und sein Handeln primär Motive des Bourgois gentilhomme aufgreift und zum anderen indem er sich von Dorante überreden lässt, seine Tochter nicht Valère, den Jourdain als unwürdig erachtet, zur Frau zu geben, sondern dessen Sohn Thomas, der seiner Tochter einen Adelstitel bringt. Während er im Falle Dorantes ebenso wie Orgon der Heuchelei bzw. dem Betrug zunächst erliegt, macht er sich im Gegensatz zu Orgon im Fall von Jean-Baptistes Betrug zum Mitwisser und Mittäter, indem er dessen Verkleidung als Tartuffe überhaupt erst initiiert. Neben diesen Zusammenführungen unterschiedlicher Figuren der beiden Dramen in die Filmfiguren findet sich auch die Aufgliederung einzelner Aspekte von Figuren. Die Rolle von Tartuffe wird zwar dem Namen nach von Jean-Baptiste gespielt, doch ist es – wie zuvor bereits angeklungen – Dorante, der sich wie Tartuffe als Betrüger verhält,53 indem er Jourdain vorspielt, für ihn bei Célimène zu werben, gleichzeitig aber Jourdains Geschenke vor Célimène als seine eigenen ausgibt, und Jourdain überredet, ihre Kinder miteinander zu vermählen (was erst mit Jean-Bapitstes Umschreiben der Ereignisse auf die intendierte Ehe zwischen Tartuffe und Marine zum direkten Verweis auf das Drama wird).

51 Vgl. Molière (1960, Le Mariage forcé), I,2; vgl. Jürgen von Stackelberg (2011), S. 3437. 52 Jürgen von Stackelberg (2011), S. 63. 53 Diese Verbindung zwischen den beiden Dramen zieht auch Calder. Vgl. Andrew Calder, S. 71.

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Während sich mit diesen Parallelen eine weitestgehende Übereinstimmung zwischen Molières Dramen und der Filmhandlung ergibt, werden aber auch pointierte Brüche eingebaut, die die Erwartungshaltung der mit Molières Dramen vertrauten Rezipient/innen täuschen und so eine weitere Form von Komik erzeugen. Hierzu zählt beispielsweise die Erkennungsszene, in der Orgon den Betrüger Tartuffe endlich (wenngleich eigentlich schon zu spät) als solchen wahrnimmt. In beiden Szenen fordert Elmire ihren Ehemann dazu auf, sich unter dem Tisch zu verbergen, um Zeuge der amourösen Avancen zu werden, die Tartuffe ihr macht. Während im Drama allerdings Dorine den Anstoß zu dieser Idee gibt, ist im Film die List, um sich des unliebsamen Gastes zu entledigen, ganz allein Elmires Plan. Orgon wie auch Jourdain verstecken sich unter dem Tisch, obwohl sie es als lächerlich empfinden. Während allerdings Tartuffe im Drama auf Elmires vermeintliche Avancen eingeht und damit Orgon die Augen öffnet,54 ist Jean-Baptiste von Elmires plötzlichem Sinneswandel überfordert und möchte ihr nach dem verpatzten heimlichen Treffen in seiner Verkleidung als mittelloser Autor sowohl ihre Gabe zurückgeben als auch eine Entschuldigung aussprechen. Als Elmire die Verbindung zwischen dem vermeintlichen Tartuffe und dem Autor des amourösen Dialogs erkennt, möchte sie ihn vor der Entdeckung durch ihren Ehemann schützen und lässt ihre Avancen bewusst ins Leere laufen, so dass Jourdain sich hinterher nur wundern kann, was sie ihm eigentlich habe beweisen wollen.55 Das Spiel mit den Erwartungshaltungen kann deshalb zustande kommen, weil die Voraussetzungen für Tartuffes bzw. Jean-Baptistes Betrug im Film und im Drama gänzlich gegensätzliche sind. Nicht der Ehemann ist das Opfer des Betrugs, sondern dessen Ehefrau, die demnach auch keine Aufdeckung desselben bewirken, mit dieser Szene allerdings die Rolle wechseln kann, insofern nun Jourdain durch ihre Affäre mit Jean-Baptiste hintergangen wird. Durch dieses semi-transparente Spiel mit dem Betrug – Jean-Baptiste spielt letztlich beide Ehepartner gegeneinander aus, indem Jourdain glaubt, seine Frau durchschaue die Maskerade Tartuffes nicht, und Elmire in dem Glauben belassen wird, JeanBaptiste spiele ihrem Mann den Geistlichen vor, um sich so Geld für seine Truppe zu verdienen – bedarf es in der Auflösung des Films auch keines deus ex machina in Form des königlichen Gesandten, der den Betrüger letztendlich zu Fall bringt.56 Die Rolle des Königs für Molière und seinen Kampf um den Le Tartuffe wird, wie Jürgen Grimm ausführt, mit dieser Szene im Drama gespiegelt.57 Die

54 Vgl. Molière (1960, Le Tartuffe ou l’Imposteur), IV,3-8, 1313-1572. 55 Vgl. Laurent Tirard, 00:56:36-00:59:36. 56 Vgl. Molière (1960, Le Tartuffe ou l’Imposteur), V,7, 1899-1944. 57 Vgl. Jürgen Grimm, S. 22.

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filmische Auflösung hingegen kann durch die Läuterung Jourdains und JeanBaptistes Rückzug aus dem Familienleben ohne einen derartigen Kunstgriff bewirkt werden. Einen weiteren Bruch bildet natürlich auch die chronologische Ordnung der Entstehungsgeschichte. Der im Mai 1665 uraufgeführte und danach für fünf Jahre verbotene Le Tartuffe wird ebenso mit einer fiktiven Uraufführung im Jahr 1658 bedacht wie Le Bourgeoise gentilhomme, dessen Uraufführung erst 1670 stattfand. Zugunsten der geschlossenen Handlung der fiktiven Werkgenese wird auf historische Exaktheit verzichtet und die Inspiration für die Dramen als Erlebnisse in die Zeit vor den Wanderjahren verlegt. Zusammen mit den Medienreferenzen, der Darstellung der Einzelwerke und ihrer (fiktiven) Entstehungsgeschichte sowie der Darstellung des Autors zwischen der Arbeit am Werk und dem durch das Werk erworbenen Ruhm, markiert der freie Umgang mit historischen Fakten zugunsten einer geschlossenen Handlung ein weiteres typisches Merkmal fiktiver Werkgenesen, die mit Molière erneut in ihrer Gänze bedient werden. Mit ANONYMOUS hingegen lässt sich die Abkehr von den typischen Merkmalen fiktiver Werkgenesen beobachten.

10. ANONYMOUS

10.1 D ER N AME

ALS

C HIFFRE

In den zuvor besprochenen Einzelanalysen von SHAKESPEARE IN LOVE bis MOLIÈRE lässt sich in Variationen die für fiktive Werkgenesen charakteristische Verknüpfung der Ebenen beobachten. Die drei Referenzebenen zu Autor, Werk und Medien bleiben dabei trotz der Variationen in ihrem Kern gleich definiert und folgen denselben definitorischen Vorüberlegungen. Während also die Inszenierung der fiktiven Werkgenesen in SHAKESPEARE IN LOVE die Darstellungsverfahren der Filme in der Nachfolge bestimmt hat, lässt sich bei der Analyse von ANONYMOUS beobachten, dass hier mit dieser Darstellungsform einer Autorbiographie gebrochen wird: Der Autor ‚Shakespeare‘ wird in ANONYMOUS postmodern als Chiffre demaskiert, die klaren Bezüge zwischen Autor, Name und Werk somit in Frage gestellt. Die Fiktionalität der Werkgenese wird durch die mediale Verschachtelung eines Vortrags, der in ein Theaterstück überleitet, das in die eigentliche Filmhandlung übergeht, in der das Theater zum zentralen Handlungsort wird und das alles wiederum durch das Medium Film gerahmt wird, offengelegt. Die geschlossene Handlung, deren einzelne Szenen stringent auf die Werkgenese verweisen, wird zugunsten einer offenen Handlung aufgebrochen, die auch Sequenzen zulässt, die nicht auf die Werkgenese hin umgedeutet werden. Die Werkgenese der wenigen in der Zeit der Filmhandlung von ANONYMOUS entstehenden Werke wird obendrein auf eine minimalistische Darstellung reduziert. All diese Punkte sorgen für eine Distanzierung von den Darstellungsverfahren der vergangenen Jahre, so dass hier von einem (wenngleich nach wie vor nur vorläufig gesetzten) Endpunkt in der Adaption typischer Charakteristika von fiktiven Werkgenesen zu sprechen ist. Ob das Darstellungsverfahren der fiktiven Werkgenesen künftig erneut aufgegriffen wird oder anderen Narrationsschemata zur Inszenierung von Autorenfiguren weichen muss, kann sicherlich erst in der

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Retrospektive abschließend beantwortet werden. Interessant ist jedenfalls die in verhältnismäßig kurzer Zeit aufeinanderfolgende Darstellung von William Shakespeare bzw. dem Mann hinter der Chiffre, die Rückschlüsse auf die Bedeutung des Autors und seiner Dramen für die westliche Kultur um die Jahrtausendwende und für den Film in seiner Neuorientierungsphase im Zuge der Digitalisierung zulässt. In ANONYMOUS wird hinterfragt, ob Shakespeare wirklich der Autor der Werke ist, die gemeinhin unter diesem Namen erhältlich sind. Hierzu wird sich auf Basis von Shakespeares mangelnder höherer Bildung der in der Forschung diskutierten These bedient, Shakespeare sei nur der Strohmann für einen Autor, der aus gesellschaftlichen Gründen nicht selbst als Verfasser öffentlicher Theaterstücke auftreten durfte. In der Debatte werden verschiedene mögliche Autoren diskutiert, zu denen neben dem in ANONYMOUS favorisierten Edward de Vere, 17. Earl of Oxford, auch Francis Bacon und sogar Christopher Marlowe zählen. Obwohl mit seinem Aufgreifen der Oxford-Autorschafts-Theorie als äußerst kontrovers und kritisch zu betrachten,1 stellt Donovan Sherman für ANONYMOUS zu Recht fest: „While this absurd tale has been ably and repeatedly disproven, Anonymous remains an overlooked and, I believe, theoretically fruitful object of serious critical attention.“2 Hierzu ist vor allem die Häufung von subtil gesetzten Fiktionalitätsmerkmalen zu zählen, die die umstrittene Darstellung des Autors von Shakespeares Werken entschärfen. Am auffälligsten ist hierbei die unten diskutierte mehrfache Rahmung der Filmhandlung. Ein weiteres Fiktionalitätsmerkmal, das auch für fiktive Werkgenesen typisch ist, findet sich in der bewussten Veränderung von historischen Fakten. Dazu zählt beispielsweise der Tausch der Dramen Richard II und Richard III, der zeigt, wie sich beim Betrachten der Aufführung das Publikum einem Aufstand zugunsten von Robert Devereux, 2. Earl of Essex, angeschlossen haben soll: Emmerich and Orloff [Drehbuchautor von ANONYMOUS, L.Z., …] find themselves acting less as dutiful historians and more as ocular scavengers that piece together citations to fit a

1

Vgl. für die Kritik an den Anti-Shakespeare-Theorien z.B. das Wortspiel ‚ANONYMOUS‘ und ‚Anonymess‘ von Richard Burt/Julian Yates, S. 111-135; Graham Holderness, S. 172-177; Scott McCrea. Für die Theorie, Edward de Vere sei der Autor von Shakespeares Werken, hingegen argumentieren beispielsweise Percy Allen; Paul Hemenway Altrocchi; Mark Anderson; William Farina; J. Thomas Looney; Bernard Mordaunt Ward. Eine Übersicht über die Debatte um de Vere und Shakespeare liefern Alan H. Nelson; James Shapiro.

2

Donovan Sherman, S. 129. Hervorhebung im Original.

A NONYMOUS

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narrative. Hence one of their largest transgressions in historical reportage: the replacement of Richard II with Richard III as the play that supposedly roused its audience enough to join Essex, who has returned from Ireland seeking revenge on the Queen, in his thwarted attempt at sedition. Orloff explains the reasoning behind this switch: „We changed the play from Richard II to Richard III only because of the hunchback. We thought the audience would understand the metaphors much quicker … more economically.“ The „hunchback“ here connotes, of course, the famous deformity of Shakespeare’s king; for Orloff however, it also supplies a quick visual signature that allows the audiences of the play and film an efficient connection between the bloodthirsty monarch and William Cecil’s son, Robert, who appears parodied, as did his father, in obvious theatrical guise. Orloff discusses „economy“ in a temporal sense, but his reasoning fits a more conventional notion of the word, in which the desires to create a commercially successful work trump any fidelity to the record.3

Wie Sherman herausarbeitet werden diese Änderungen zwar vordergründig unreflektiert vorgenommen, doch es finden sich für jene Rezipient/innen, die die Änderungen als solche Erkennen, versteckte Hinweise im Film: Richard II does not disappear from the film, however. In flashback, we see young Cecil – the same figure who will be parodied in Richard III hovering in a doorframe while spying on the Queen. Behind him, barely visible through the crack of the door, we see the sigil of Richard II, the white hart lying on the ground with a golden collar, from the Wilton Diptych. Unmentioned in the film, the image presents the rejected king’s emblem as if compensating for his missing story.4

Neben dieser Veränderung von historischer Überlieferung ist als weiteres, über die Darstellungsverfahren fiktiver Werkgenesen hinausreichendes Fiktionalitätsmerkmal die Nutzung des Wetters anzusehen. Während in der Rahmung die Funktionsweise des ‚Bühnenregens‘ als theatralisches Mittel eingeführt wird, wird der technische Aspekt des Regens und Donners in der filmischen Binnenhandlung zwar ausgeblendet, jedoch so mit ‚Höhepunkten‘ der histoire verknüpft, dass der vorherige Verweis auf die discours-Ebene weiterhin mitschwingt:

3

Ebd., S. 136f. Vgl. auch Douglas M. Lanier, S. 219.

4

Ebd., S. 137. Eine ähnliche Vorgehensweise arbeitet Sherman auch für die Darstellung Ben Jonsons heraus. Vgl. ebd., S. 137f.

280 | EINZELANALYSEN In the same scene [Derek Jacobis einleitendem Vortrag, L.Z.] the theatrical mechanics of the dramatic effect of rain pouring upon the narrator are revealed. Later in the film there are further weather effects, but these are presented seamlessly, as the heaven’s punctuations of key emotional moments. Rain begins to fall during the performance, on the Rose’s outdoor stage, of Hamlet’s „to be or not to be“ […] speech, showering the mood with a seemingly „natural“ commentary beyond the will of any of the film’s characters. At this moment even the Renaissance stage, hitherto presented as an anti-realist space, falls under the diegetic logic of a seamless coming together of word, action, and third-person metaphor. Likewise, when the Earl of Essex leads his rebellion to ruination, Oxford is shown gazing through a window at his friend’s failure, the camera zooming in to a close-up as rain begins to fall upon the panes with what would be, outside of cinema’s artificial seamlessness, impeccable dramatic timing. This scene culminates with Oxford’s nemesis, Robert Cecil, telling the film’s protagonist that his childhood under the wardship of William Cecil was part of an elaborate scheme to manipulate Queen Elizabeth’s succession. Robert Cecil’s claim that the plan would have succeeded were it not for Oxford’s neglect of his duties „all to write … poetry,“ is followed by an ominous rumble of thunder. […] Each of these weather effects, taken in isolation, would merely be part of cinema’s overall realityeffect, an element of verisimilitude so conventionalized as to be unrecognizable. Juxtaposing, however, these effects’ seamlessness with a prior foregrounding of their artificiality, in the preceding presentation of the contemporary theater, again demonstrates the masochistic dialectic of suture.5

In der Rahmung werden die technischen Aspekte des Regens auf der Bühne hervorgehoben und damit ein klarer Bezug zwischen histoire- und discours-Ebene evoziert, da der künstlich erzeugte Regen zum Symbol für die Stimmung wird, in der sich Jonson nach dem Tod Edwards befindet, während er versucht, Edwards gesammelte Werke vor Cecils Soldaten zu schützen.6 Wenn daher in der Binnenhandlung des Films, die die Rahmung als Theaterstück verschleiert, weiterhin Regen und Donner parallel zu Trauer oder markanten Enthüllungen eingesetzt werden, schwingt – wie Geal im obigen Zitat herausgearbeitet hat – diese Verknüpfung und damit die Artifizialität des Wetters erneut mit. Auf ähnliche Weise funktioniert auch die Überblendung von Bens Folter in die Publikumsreaktionen zu seinem am Beginn der Binnenhandlung inszenierten Stück Every Man Out of His Humour:

5

Robert Geal, S. 446f.

6

Vgl. Roland Emmerich, 00:02:09-00:05:22.

A NONYMOUS

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At the end of one of the film’s first sequences, Cecil’s men, who are eager to find de Vere’s plays to destroy them, interrogate Ben Jonson. As Jonson is not willing to collaborate and surrender the works, which de Vere asked him to protect, a guard starts smacking him in the face. Emmerich then uses a surprising transition to introduce the flashback that follows, in which the narration of de Vere’s life starts. After each blow but the first one, the sequence flash cuts to shots of laughing faces. In the next sequence, the film shows the faces belong to the groundlings gathered in the Rose Theatre. Those reaction shots create continuity with the opening sequence. They remind, with the focus on a theatrical audience, that the film that has just started is allegedly a play called Anonymous. Simultaneously, the impact of the concrete smack in Jonson’s face is displaced and translated into abstract terms. This suggests that raising a full house’s laughter is metaphorically as violent as hitting someone.7

Indem der Film sich mit dieser Art der Überblendung und Montage als Theaterstück inszeniert, das mit filmischen Mitteln das Theater thematisiert, wird über die Selbstreflexivität auch gleichzeitig die Fiktionalität des Dargestellten offengelegt. Als weiteres Fiktionalitätsmerkmal werden Spekulationen wie die ‚Prince Tudor‘-Theorie8 eingebaut, wenn Robert Cecil Edward enthüllt, dass er Elizabeths erster unehelicher Sohn und damit der eigentliche Thronerbe sei – was gleichsam die Enthüllung der inzestuösen Verbindung zwischen Edward und Elizabeth mit sich bringt, aus der im Film ein weiteres illegitimes Kind, Henry Wriothesley, 3. Earl of Southampton (ein weiterer Aspekt der ‚Prince Tudor‘Theorie),9 hervorgegangen ist. Sherman führt zu diesem „kaleidoscopic, historically infelicitous play of signifiers“ in ANONYMOUS weiter aus, dass es „ultimately and ironically celebrates a specifically Shakespearean artistic approach.“10 In dem indirekt auf die Prologe Shakespeares und deren Filmgeschichte verweisenden, einleitenden Vortrag des sich selbst darstellenden Schauspielers Derek Jacobi erklärt dieser explizit: „Our Shakespeare is a cipher. A Ghost.“11

7

Sébastien Lefait, S. 251.

8

Vgl. Paul Streitz.

9

Vgl. Dorothy und Charlton Ogburn. Für Kritik an der ‚Prince Tudor‘-Theorie, vgl. Alan H. Nelson, S. 45f.

10 Donovan Sherman, S. 138. 11 Roland Emmerich, 00:02:32-00:02:36. Für einen Vergleich von Jacobis Prolog in ANONYMOUS und seine Darstellung des Chorus in Kenneth Branaghs HENRY V., wo-

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Die im Film angebotene Deutung Shakespeares als Strohmann für Edward de Vere, 17. Earl of Oxford, ist allerdings in ANONYMOUS, wie Sherman im obigen Zitat andeutet und auch Sébastien Lefait anmerkt, nicht als historisches Statement, sondern als neu ausgeschöpfte Inszenierungsmöglichkeit der Stücke Shakespeares zu lesen: If one puts aside the authorship debate, Anonymous reads as an adaptation of moments from the plays wavering between offstage and onstage spaces. On the one hand, while it shares many features with the biopic, its focus on the authorship debate makes the film an instance of the new approach to Shakespearean adaptation Cartelli and Rowe describe.12

Thomas Cartelli und Katherine Rowe machen in diesem neuen, bereits vor ANONYMOUS aufgekommenen Zugang zu Shakespeare „irreverent, broadly allusive, and richly reimagined takes“ aus, die auf „authorial competition“ und „indulgence in anachronism and irony“ basieren.13 Insofern führt auch ANONYMOUS die Darstellung Shakespeares aus SHAKESPEARE IN LOVE weiter, widerspricht ihr aber gleichzeitig in vielen Punkten, allen voran mit der Verneinung von Williams Autorschaft, der hier als wenig gebildeter Schauspieler auftritt, sowie von einer kollektiven Autorschaft generell, wie Douglas M. Lanier herausarbeitet: The film’s portrayal of authorship in this context is especially notable. In Anonymous’s vision of the plays, the public theatre milieu, so often the focus of Shakespeare authorship narratives, is quite literally an afterthought. Oxford’s scripts are all single-authored without a thought to their staging outside of the court, and he has his go-between Jonson drop them off at the public theatre for production like an executive drops off his laundry to be dry-cleaned. His writing is unsullied by contact with other writer-collaborators, actors or the production process; his only link to the realities of staging is when we see him as a boy performing as Puck in a court performance of A Midsummer Night’s Dream. When we first meet the mature Oxford, he is apparently attending the public theatre for the very first time, urged on by his companion Southampton who is enamoured of its superior production values. His only concern, a telling one, is that the experience not be vulgar – ‚There won’t be puppets, will there?‘ he worries. Only after seeing the crowd’s response to a caricature of a foppish nobleman and the authorities’ repressive response (they close the production) does Oxford consider having his work secretly produced for the public stage. […]

rin Jacobi ebenfalls in für das Kinopublikum zeitgenössischer Kostümierung auftritt, vgl. Pascale Aebischer, S. 218. 12 Sébastien Lefait, S. 243. 13 Thomas Cartelli/Katherine Rowe, S. 1, 3, 6.

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In short, Oxford is presented as a private poet, not a public playwright, writing for the page not the stage. […] In several ways […] Anonymous presents Oxford the author as standing above the conditions of public stage production. It recoils at the idea that Shakespeare’s works were conceived as popular entertainment, and so they are recast as covert court commentary.14

Während Wills ‚Genialität‘ in SHAKESPEARE IN LOVE darin liegt, die von seinem Umfeld gegebenen Inspirationen und Anregungen anzunehmen (was die Werke indirekt zu einer kollektiven Leistung macht), verschärft Edwards Darstellung als isoliert arbeitendes Genie die von Richard Burt heruasgearbeiteten Impliaktionen aus SHAKESPEARE IN LOVE. Hier wird „not so much a critique of the Romantic account of literary authorship“ geboten, sondern vielmehr „its reinvention.“15 Allerdings wird das der Romantik entlehnte und für fiktive Werkgenesen weiterentwickelte Konzept von Autorschaft für ANONYMOUS noch einmal erweitert und uminterpretiert. Obwohl Lanier behauptet, Edwards Stücke und Gedichte beruhten auf seinen Erfahrungen,16 werden diese, abgesehen von einer Vorbildszene für Hamlets Ermordung von Polonius, die unten diskutiert wird, nicht gezeigt. Autorschaft und die Inspiration dazu unterliegen demnach anderen Gesetzmäßigkeiten als dies in fiktiven Werkgenesen typischerweise der Fall ist, wenn hier in der Filmhandlung transportierte Erlebnisse in den Werken verarbeitet und somit klare (fiktive) autobiographische Bezüge herausgestellt werden. In dieser Darstellung wird Edward als Autor ebenso wie Will in SHAKESPEARE IN LOVE als Figur aufgefasst, deren Leben „as a lore of adventure and plots“ dargestellt ist „into which he merely had to tap to write his plays.“17 Während also einerseits das abenteuerliche Leben auf eine (hier allerdings nur implizierte und nur einmalig mit einem direkten Bezug zwischen Leben und Werk ausgestattete) Werkgenese verweist, wird andererseits und paradoxerweise der Autor in seiner Funktion als Schöpfer von Werken hier hinter die Darstellung bzw. Inszenierung von Shakespeares Dramen zurückgestellt. Die meisten der Dramen sind zur Zeit der Filmhandlung bereits geschrieben und harren lediglich ihrer ersten Veröffentlichung auf Londons Bühnen.18 Die wenigen in den Film integrierten Schreibszenen werden nicht in einen kausallogischen Zusammenhang zu zuvor Geschehenem gestellt, sondern vielmehr als Auslöser für

14 Douglas M. Lanier, S. 216, Hervorhebungen im Original. 15 Richard Burt, S. 221. 16 Vgl. Douglas M. Lanier, S. 217. 17 Sébastien Lefait, S. 243. 18 Vgl. Roland Emmerich, 00:36:52-00:37:56.

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künftige, intendierte Ereignisse, wie den erhofften Sturz von Robert inszeniert.19 Während das Schreiben in SHAKESPEARE IN LOVE und den folgenden Werken ein eher rückwärtsgewandtes Aufarbeiten des zuvor Erlebten ist (häufig sogar in einer direkten Dopplung der Ereignisse, die zunächst dem Autor und dann dessen Figuren passieren), zeigt ANONYMOUS dieses Bild von Autorschaft nur in einer einzigen Szene, während alle anderen Schreibakte sich auf zukünftige Ereignisse beziehen, die durch die performative Macht der Worte ausgelöst werden sollen: „Ten thousand souls, all listening to the writings of one man, the ideas of one man. That’s power.“20 Die Macht der Worte entfaltet sich allerdings erst, wenn die Worte auf der Bühne eine performative Wirkung hinzugewinnen. Hierzu bedarf es neben Edwards zumeist nicht gezeigter Schreibarbeit auch des Körpers des Schauspielers, dem er aus seiner Loge zusehen kann. Edward beobachtet zwar die Wirkung seiner Worte, ist aber selbst kein Teil davon. Zwar ruft er bei der Premiere von Henry V. „Death to the French!“21 aus, doch ist diese punktuelle Interaktion durch seinen Logenplatz dennoch vom übrigen Theater isoliert und wiederholt sich auch nicht. Während die Groundlings aktiv in direkten Kontakt zum Schauspieler, der Henry V. darstellt, treten und diesen anfassen wollen bzw. die Bühne stürmen, um ihm gegen die Schauspieler, die die feindlichen Truppen symbolisieren, beizustehen, bleibt Edward ein passiver Beobachter, der den Text nur lautlos mitspricht.22 Im Gegenteil scheinen Edward fremde Körper und deren Nähe sogar zuwider zu sein, wie Sherman in der Gegenüberstellung des körperbetont agierenden William und des davon abgestoßenen Edward ausführt: In its zeal to deify Oxford as a transcendent genius and vilify Shakespeare as a bawdy imposter, it attempts to show a model of authorship so absolute that the human body is almost entirely removed from the process. And yet by phobically asserting such a nonperformative, purely textual model of literary creation, Anonymous ends up tacitly recruiting the very elements of theatricality it disdains in its own construction. Furthermore, in this use of crypto-theatricality, the film operates as a powerful autocritique; its central figure, demonstrating how the desire to refashion the past ultimately exists as a desperately theatricalized act. In short, Anonymous radicalizes the claims of Shakespearean performance theory not by merely suggesting that performance is a form of authorship, but also

19 Vgl. ebd., 01:16:33-01:31:18 20 Ebd., 00:10:12-00:10:17. 21 Ebd., 00:34:04-00:34:06. 22 Vgl. ebd., 00:30:12-00:34:23. Vgl. weiterführend Douglas M. Lanier, S. 221f.

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that authorship, even when fetishistically asserted as a purely textual process, comprises a kind of performance.23

Als Folge dieses Widerspruchs zwischen der Verabscheuung von Körpern und der notwendigen Performanz der Worte ist auch Edwards Entsetzen zu werten, als sich William – „an actor!“ – als Autor von Henry V. ausgibt und damit zum offiziellen Gesicht von Edwards Werken wird.24 Nachdem er sich damit abgefunden hat, testet Edward in Anlehnung an SHAKESPEARE IN LOVE ebenfalls die Schreibweise seiner neuen ‚Persona‘, die William ihm ermöglicht, aus.25 Allerdings wird durch die fehlende Einheit von Name und Namensträger das Filmzitat in einen neuen Kontext überführt, in dem die Figur des Autors als Entität hinterfragt wird. Jane E. Kingsley-Smith sieht in der Version von SHAKESPEARE IN LOVE in Anlehnung an Barthes „La morte de l’auteur“ die Darstellung einer „Romantic conception of authorship by privileging such scenes of writing“.26 Robert Geal erweitert Kingsley-Smiths Interpretation auf ANONYMOUS, so dass „the film’s Oxford not only allegorizes the Barthesian author’s death, […] but also thematizes the contested nature of cinematic enunciation.“27 Das auf die filmische Vorgeschichte der Filmfigur ‚William Shakespeare‘ verweisende Zitat der Szene aus SHAKESPEARE IN LOVE stellt gleichzeitig heraus, dass in ANONYMOUS nicht nur ein anderer Autor für die Stücke Shakespeares dargestellt wird, sondern auch die Darstellung des Autors als Filmfigur neu interpretiert wird. Dasselbe gilt auch für das Zitat der Bootszene, in der William (ANONYMOUS) ebenso wie Will (SHAKESPEARE IN LOVE) ein anderes Boot verfolgen lassen: Während Will den Schauspieler Thomas Kent verfolgt, um ihn für sein Stück zu gewinnen und letztlich Viola dadurch demaskiert und seine Inspiration für Romeo and Juliet erhält, folgt William Edwards Diener, um herauszufinden, wer der wahre Autor der Stücke ist, die er in Bens Auftrag als die seinen auf die Bühne bringen soll.28 William wird durch die Begegnung mit Edward

23 Donovan Sherman, S. 130, Hervorhebungen im Original. Vgl. für Edwards angewiderte Reaktion auf andere Körper Roland Emmerich, 01:18:30-01:19:21. 24 Vgl. ebd., 00:35:22-00:36:50. 25 Vgl. ebd., 00:37:58-00:38:17; John Madden, 00:03:58-00:04:23. Vgl. für eine weiterführende Interpretation auch Robert Geal, S. 443f. 26 Jane E. Kingsley-Smith, S. 159. 27 Robert Geal, S. 438. 28 Vgl. Roland Emmerich, ca. 01:03:45-01:06:00; John Madden, 00:23:32-00:24:20. Douglas M. Lanier erläutert in seinem Aufsatz weitere intertextuelle Verweise in

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daher auch nicht inspiriert ein eigenes Werk zu verfassen, sondern lediglich dazu verführt, Edward wegen dessen heimlicher Autorschaft zu erpressen. In ANONYMOUS wird Autorschaft auf zweierlei Weise gedeutet: William nimmt die Rolle des Autors zunächst als Schauspieler an, indem er sich maskiert (die Finger in Tinte tunkt) und mit passenden Requisiten (Feder und Dramentext) ausstattet. Da der Text seiner Dankesrede nicht auswendig gelernt ist, sondern spontan erfolgen muss, wirkt er dabei in seiner Rolle des den Autor spielenden Schauspielers entsprechend unsicher und stammelt einen Dank, der in erster Linie gerade jenen Schauspielern dient, mit denen er sich im Kontext des Theaters als einzige identifizieren kann.29 Entsprechend entsetzt ist er, als Ben Jonson ihm erklärt, dass er als Autor keinen Platz mehr auf der Bühne habe.30 Während für William Autorschaft zu einer Rolle wird, die sein Leben nachhaltig beeinflusst, und sich körperlich über die Requisiten, aber auch in dem durch das Geld ermöglichten Besuch bei Prostituierten manifestiert, ist sie für Oxford eine eher geistige, dem Körperlichen enthobene Tätigkeit. Der eigentliche Schreibakt wird kaum gezeigt, sondern eher auf einer abstrakteren, sprachlichen Ebene thematisiert, wie beispielsweise in seiner Antwort auf die Forderung seiner Frau, er möge sofort mit dem Schreiben aufhören: [Edward]: The voices, Anne. The voices, I can’t stop them. They come to me. When I sleep, when I wake, when I sup, when I walk down the hall. The sweet longings of a maiden, the surging ambitions of a courtier, the foul designs of a murderer, the wretched pleas of his victims. Only when I put their words, their voices to parchment are they cast loose, freed. Only then is my mind quieted. At peace. I would go mad if I didn’t write down the voices. [Anne]: Are you possessed? [Edward:] Maybe I am.31

Autorschaft wird für Edward als Besessenheit dargestellt, als Ventil drohendem Wahnsinn entgegenzuwirken. Für Robert Geal liegt hierin neben der gefälschten Autorschaft ein weiteres Indiz für die ‚Mystifikation‘ der Autorschaft von Shakespeares Dramen „into a process that only a superhuman or an idiot savant could execute, foregrounding a mythic conception of authorship while simulta-

ANONYMOUS auf andere Filme über Shakespeare und/oder dessen Zeit; vgl. Douglas M. Lanier, S. 215f. 29 Vgl. Roland Emmerich, 00:34:58-00:36:04. 30 Vgl. ebd., 00:39:56-00:40:59. 31 Ebd., 00:39:18-00:39:53.

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neously denying the true author.“32 Gleichzeitig lässt sich anhand dieser Szene, wie Sherman herausarbeitet, ein weiterer Aspekt von Edwards Dilemma zwischen seiner Aversion gegen Körper und der benötigten, durch körperliche Darstellung erzeugten Performanz seiner geschriebenen Worte beobachten: This turn to the supernatural results from the film painting itself into a performative corner: the audience must witness the act of writing while the film maintains, somehow, a clear separation of body and text – without resorting to inflecting Oxford with the corporeal excess that so marks Shakespeare. Oxford’s voices result from this conundrum reaching an absurd conclusion: he cannot be shown actually writing, with all the bodily investment that it requires, and yet his inspiration must exist within the filmic vocabulary – and so it lurks outside his body but still connected to his subjectivity as an unseen prosthesis. The spectral voices that torment Oxford provide the true „author“ of his works, even if they exist so removed from the worldly trappings that they deny identification as even human; instead of becoming a body, they possess one to transmit purely the beauty of the dramatic text. The voices are, in other words, „Shakespeare“ as commonly conceived of today – a sublime field of universality with unparalleled potential for the creation of literary meaning.33

Das Postulat des Schreibzwangs bei gleichzeitiger (weitestgehender) Ausblendung des Schreibakts problematisiert das dargestellte Konstrukt von Autorschaft ebenso wie die oben ausgeführte Trennung von Name, Person und Werk. Letztere wird in der finalen Begegnung zwischen Edward und Elizabeth klar benannt, wenn sie im Austausch für Henrys Leben von ihm verlangt, niemals als der wahre Autor der Stücke Shakespeares aufzutreten: „But Edward? None of your poems or your plays will ever carry your name. None.“34 Neben dem Schreibakt werden auch die für Werkgenesen typischen Verehrungsszenen des Autors/der Autorin als dem/der Schöpfer/in seines/ihres Werks zur Leerstelle, da Edward die Anerkennung für seine Leistung, für die William gefeiert wird, versagt bleibt. Er kann sich lediglich am Ruhm seines Strohmanns erfreuen, muss sich aber zeitgleich auch für die Wahrung seines Geheimnisses von William erpressen lassen. Daher tritt der Autor Edward auch hierbei nicht in die für fiktive Werkgenesen charakteristische direkte Verbindung zwischen Autor, Werk und Verehrung, was einen weiteren Bruch mit den typischen Darstellungsverfahren des Subgenres mit sich bringt.

32 Robert Geal, S. 445. 33 Donovan Sherman, S. 132. 34 Roland Emmerich, 01:43:29-01:43:41.

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10.2 ‚U NKLARE ‘ W ERKGENESEN Trotz dieser klaren Brüche mit den vorhergehenden fiktiven Werkgenesen findet sich, wie oben erwähnt, in ANONYMOUS eine Sequenz, die den Charakteristika fiktiver Werkgenesen entsprechend eine direkte Verknüpfung zwischen einem Erlebnis in Edwards Leben und den Inhalten seiner Dramen gestattet: Der junge Edward ermordet einen für William Cecil spionierenden Diener. Als Teil des Dramas Hamlet wird diese Szene in der Fortführung dieser Sequenz und als Höhepunkt der Montage einzelner bekannter Szenen aus Shakespeares Werk, die Edward nacheinander von William inszenieren lässt, mit Polonius’ Ermordung durch Hamlet nahezu bildgleich auf der Bühne inszeniert. Roland Emmerich sagt über ANONYMOUS und dessen Intentionen: „One of these things we wanted to say in this movie is, art doesn’t come from a vacuum. It comes from life experiences.“35 Allerdings wird diese direkte Verknüpfung zwischen Edwards Erfahrungen und den Drameninhalten nur an dieser einen, wenngleich prominent platzierten, Stelle gezogen. Sébastien Lefait führt zu ihrer Positionierung aus: [T]he closet scene appears at the end of a series of „greatest hits“ from Shakespeare’s works put on at the Rose Theatre. Nevertheless, the scene from Hamlet contrasts with the extracts making up the Shakespeare „best of, “ because it is harder to identify, but also because it serves a different purpose. The sequence encompassing the closet scene is a montage of performance bits, each preceded by a close-up on a playbill. For the first plays featured in the concatenation of short scenes, the mention of the title on a poster is an unnecessary addition. Indeed, Emmerich selects the extracts so the spectators can easily recognize their origin. […] To crown this pot pourri of filmed theater scenes, the spectators may expect, when the playbill for Hamlet appears on-screen, that it will be followed by a rendition of „to be or not to be“ or an extract from the gravedigger scene, preferably showing Hamlet with Yorick’s skull in his hand. Emmerich thwarts those expectations by offering another scene for the audience to recognize and enjoy, not as a cultural monument, but as the onstage reproduction of one of the film’s earlier sequences. […] As the lines are far from being the most famous in the play, few of the spectators will immediately recognize the character as Polonius. This missing cultural reference, however, will still allow most audience members to relish in the pleasure of recognition by focusing on other déjà vu aspects. […] The life-inspired episode, once adapted for the stage, becomes a weapon designed to kill Cecil through the character of Polonius. This aesthetical form of action is ideally fitted to de Vere’s plan to avenge himself on Cecil. The revenge tragedy, used as a revenge instrument, kills Cecil in two ways. The first one is metaphorical. By ridiculing

35 Roland Emmerich, zitiert nach Donovan Sherman, S. 136.

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Cecil on stage, de Vere murders him as a political persona. He does so by exposing that his manipulative intentions conceal a clear lack of the spiritual substance that makes great statesmen. […] His second „death,“ therefore, is political.36

Verkürzt um den Diener macht Edward hier William Cecil mit einem klaren Vergangenheitsbezug zum öffentlichen Objekt seines Hasses, da Polonius auch vom Publikum der Aufführung als Ebenbild William Cecils verstanden wird.37 Wie sich beispielsweise an Paul Hemenway Altrocchis Ausführungen beobachten lässt, ist der Gedanke einer autobiographischen Lesart Hamlets als Indiz für die Thesen der Oxfordians nicht neu.38 Im Film wird mit diesem punktuellen Ausflug in die autobiographischen Inspirationsquellen der Grundstein für Edwards künftig nicht mehr vergangenheits-, sondern zukunftsorientiertes Schreiben gelegt,39 das die Cecils stürzen soll – wenngleich sich diese direkte politische Auswirkung seiner Schriften in einer symbolischen Bestrafung seiner Hybris als unwirksam und fatal für seine Mitstreiter erweist.40 Abgesehen von dieser einen Szene wird dem Werk Shakespeares (bzw. der filminternen Logik nach Edwards) keine für fiktive Werkgenesen typische direkte autobiographische Inspiration mehr zugeordnet, die in der Filmhandlung gezeigt und in einer nachfolgenden Schreibszene verarbeitet würde. Stattdessen wird die Inspiration für Oxford zum einen mit den oben erwähnten ‚voices‘ und zum anderen mit den ihn umgebenden Requisiten erklärt: Sein Arbeitszimmer wirkt wie eine Komprimierung von Shakespeares Werk auf einzelne prominente Requisiten: In einem überquellenden Regal befinden sich (bis auf wenige Ausnahmen, wie Richard III) die Dramentexte, die nur ihrer Veröffentlichung unter dem Namen William Shakespeare harren. Daneben finden sich einzelne Gegenstände, die symbolisch für die einzelnen Dramentexte stehen können: Crammed with skulls, maps, globes, paintings, sculpture, parchment, tapestries, coins, jewels, clothing, musical instruments, navigational devices, birds, and a monkey, the space

36 Sébastien Lefait, S. 245f. 37 Vgl. Roland Emmerich, 00:49:58-00:51:27. 38 Vgl. Paul Hemenway Altrocchi, S. 277; für eine kritische Analyse vgl. Alan H. Nelson, S. 44f. 39 Obwohl Douglas M. Lanier zwischen der Darstellung von Autorschaft in SHAKESPEARE IN LOVE und ANONYMOUS kaum unterscheidet, arbeitet er anhand von A Midsummer Night’s Dream heraus, inwieweit Edward in seinen Dramen künftige Handlungen antizipiert, vgl. Douglas M. Lanier, S. 220. 40 Vgl. Roland Emmerich, 01:17:29-01:40:45.

290 | EINZELANALYSEN resembles less a scholarly study than it does a cabinet of curiosities. These objects exist within a storehouse of his experiences, lying in wait for their incorporation into art; as Emmerich states, „You can see all of the ideas for the plays are in this room.“ In trying to invite the viewer to see these ideas, however, he has created exactly what he set out to avoid – a vacuum, an airless space seemingly unhinged from a specific temporality and instead containing an entire life within a single chamber. […] The vision of history, here, is as fantastical as its vision of authorship – in fact, the two are the same: a bloodless process of refusing actual bodily life or temporality to intervene on the conceptualization of writing literature and conscious experience. „Shakespeare“ lies dormant outside the realm of the human, injected in an array of monuments and artifacts and uneasily grafted later onto a single author.41

Anstelle einzelner Anekdoten über den Autor, die eine autobiographische Umdeutung des Werks und der Werkgenese evozieren, wird Edwards Arbeitszimmer zum zeitlosen Raum der Inspiration, der unabhängig von seinen Erfahrungen und in Kombination mit den ihn heimsuchenden ‚voices‘ zur Inspirationsquelle wird. Edward bedarf daher auch keiner Musenfigur. Die Darstellung seiner (ebenfalls tragisch endenden) Liebesbeziehung vollzieht sich in Rückblenden und sprachlich thematisierten Erinnerungen. Durch diese Abkehr von den Darstellungsverfahren der fiktiven Werkgenesen ergibt sich eine neue Interpretation von Autorschaft, wie auch Sherman resümiert: The film shows the cost of not allowing performance to enter our experience of Shakespeare’s plays or his history: audiences become plastic, inspiration becomes supernatural, texts become always-already written, historical images return from repression. History and playwriting become utterly divorced from the human and rely, instead, on the eerily autonomous trafficking of images, things, and words.42

Selbst für die den fiktiven Werkgenesen noch am ehesten verbundene HamletSzene wird auf die Darstellung der Werkgenese verzichtet, die typische Narrationskette also verkürzt dargestellt. Statt ausgiebiger Schreibszenen werden in ANONYMOUS, wie Sherman ausführt, „the actions of writing itself, as a vocation, into a medium dependent on bodies and representation“43 überführt. Damit das Werk seine volle Wirkung (nach der filmimmanent ausgewiesenen Intention Edwards) entfalten kann, bedarf es neben dem Autor nach Vollendung des

41 Donovan Sherman, S. 136. 42 Ebd., S. 138. 43 Ebd., S. 133.

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Werks allerdings noch weiterer Akteure: Die Botschaft des Gedichts „Venus and Adonis“ kann nur durch den Akt der Rezeption und mit entsprechender Kenntnis entschlüsselt werden. Aufgrund ihrer gemeinsamen Vergangenheit mit Edward ist Elizabeth in der Lage das Gedicht richtig zu verstehen.44 Daneben braucht es für die Theaterinszenierungen die Schauspieler, die den Text sprechen und die dazugehörigen Handlungen darstellen, ebenso wie es das Publikum braucht, das die Anspielungen, wie beispielsweise die oben genannte auf William Cecil als Vorbild für die Figur Polonius in der Hamlet-Inszenierung, entschlüsselt, versteht und idealerweise diese als Anlass für die von Edward intendierten politischen Handlungen nimmt. Lanier spricht daher auch von Edward als einem „aristocratic puppet-master, manipulating the (heart)strings of the commons with populist sentiments so that he can use ‚the mob‘ for his own interests, all while maintaining the pretence that the plays issue from a man of the people, Shakespeare, a contemptible front-man.“45 Das Theater wird somit nicht nur als kulturelles, sondern besonders auch als politisches Instrument verstanden, wenn Edward in der Nachfolge seiner Hamlet-Inszenierung von Polonius/William Cecil, das Drama Richard III schreibt – von dessen Genese allerdings ebenfalls nur das Schreiben der letzten Worte gezeigt wird –, um Robert Cecils Sturz mithilfe der Londoner Bevölkerung zu erzwingen und Robert Devereux (Essex) als Elizabeths rechtmäßigen Thronerben einzusetzen.46 Obwohl er damit auf die Reaktionen der Zuschauer/innen seiner Dramen angewiesen ist, interessiert ihn letztlich nur eine einzige Meinung: die von Ben als dem einzigen Autor, den er als ebenbürtig auffasst. Sein erster Besuch des öffentlichen Theaters gilt Jonsons Every Man Out of His Humour, das er als politisches Drama versteht, wie er auch seine Dramen verstanden sehen möchte.47 Es entspinnt sich daher ein wachsendes Einvernehmen zwischen den beiden Autoren, das, wie Lanier ausführt, symbolisch für die filmische Bewertung der Autorschaft von Shakespeares Dramen steht: The playhouse scenes repeatedly feature closeups of Jonson set apart from the crowd, alone cognizant of sheer literary greatness. He glances at Oxford in amazed admiration and Oxford responds with an imperious nod, a secret exchange of recognition between the artistic elite. If Oxford is the heroic author pursuing grand political ends, Jonson is at first a cowardly one, unwilling to acknowledge that his comedy-writing is political, succumb-

44 Vgl. Roland Emmerich, 01:16:38-01:22:32. 45 Douglas M. Lanier, S. 222. 46 Vgl. Roland Emmerich, 01:17:29-01:19:07, 01:22:32-01:32:33. 47 Vgl. ebd., 00:06:45-00:20:57.

292 | EINZELANALYSEN ing to envy when he exposes Oxford’s caricature of Cecil and undermines the Essex rebellion. Jonson’s ‚sin‘ sets up a culminating scene of redemption and artistic legitimation, the inaugural moment of Oxfordianism. After the rebellion is crushed, Jonson visits Oxford on his death-bed, where the dying poet craves one thing: Jonson’s acknowledgment of his writings’ literary greatness, an acknowledgment Jonson tearfully offers. For Oxford, Jonson’s imprimatur is the consolation for his political losses. […] Jonson here emerges as a stand-in for the modern Oxfordian, the one who alone knows the full biographical story and alone can appreciate the plays’ value, the one who himself stands apart from his peers in his willingness to suffer for art.48

Statt eine fiktive Fassung einer autobiographisch inspirierten Werkgenese filmisch zu narrativieren, wird in ANONYMOUS die Werkgenese als ein politisches Instrument, das Imagination um Kalkül ergänzt, inszeniert. Der Fokus wird damit weniger auf den Akt des Schreibens als Überführung von Erlebnissen in ein fiktives Werk gelegt, wie es SHAKESPEARE IN LOVE wegweisend für ein ganzes Subgenre vorgemacht hat, sondern vielmehr auf die Darstellungen möglicher politischer Auswirkungen des Geschriebenen und im Theater Inszenierten gerichtet. Wie Sherman anmerkt, lässt sich für ANONYMOUS daher beobachten: „In attempting to answer the question ‚Did Shakespeare write those plays?‘ Anonymous ends up answering the question ‚Did Shakespeare write those plays?‘ In other words, by forcing itself to reckon with the identity of the author, the film must also portray what, exactly, authorship is.“49 Neben der Gegenüberstellung von Autorschaft als körperlicher Inszenierung (Williams Darstellung eines Autors, die Performanz des Geschriebenen) und einer geistigen Tätigkeit (Edwards ‚voices‘) wird Autorschaft auch über eine klare Intention, die dem Werk implementiert wird, definiert. Der/die Rezipient/in des Textes bzw. der Aufführung wird dadurch aufgewertet, da es eine rezipierende Instanz braucht, die die Intention entschlüsseln kann. Obwohl Geal dafür argumentiert, dass „the film’s plays are the written, sole discours-like possession of this mythologized author“,50 da sie in der Ben anvertrauten Manuskriptform den Theaterbrand überleben und damit über den Moment der Inszenierung hinaus fortbestehen, bedarf es der Inszenierung bzw. Rezeption, um Edwards Texten ihre intendierte Wirkung zu geben. Gleichzeitig wird durch diese Beschränkung auf Edwards Intention in der Filmdiegese Deutungsoffenheit negiert, indem nur die auf Edwards Sicht beschränkte Lesart ermöglicht wird.

48 Douglas M. Lanier, S. 223; vgl. Auch Sébastien Lefait, S. 251. 49 Donovan Sherman, S. 129f., Hervorhebungen im Original. 50 Robert Geal, S. 445.

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10.3 R AHMUNGEN : V ORTRAG , T HEATER , F ILM Neben den beobachteten Tendenzen, die Darstellungsverfahren von fiktiven Werkgenesen weiterzuentwickelnden bzw. die Darstellung von Autorschaft und Werkgenese zu negieren bzw. zu unterlaufen, wird die Rahmung als eine besondere Technik genutzt, um die Medienreferenz von fiktiven Werkgenesen auf eine neue Weise zu steigern. Nach über einem Jahrzehnt der pointierten Einbindung verschiedener Medien in fiktiven Werkgenesen werden auch hier die medialen Eigenschaften des Films über die Verknüpfung von Mediensystemen thematisiert. Durch die mehrfache Rahmung findet sich in ANONYMOUS eine paradoxe mise-en-abyme-ähnliche Struktur: Die Thematisierung von Shakespeares Theaterstücken erfolgt in einem von einem Vortrag begleiteten, die Filmhandlung bildenden Theaterstück über die Frage nach dem Autor eben jener Stücke.51 Der Film fungiert dabei einerseits als Rahmung, da das Filmpublikum einen Film betrachtend ins zeitgenössische Theater mitgenommen wird – in dem das mit dem Filmplakat beworbene Stück Anonymous aufgeführt wird. Hier wird das Filmpublikum allerdings nicht ausschließlich in die typische Position eines Theaterbesuchers versetzt, sondern erhält auch Einblicke in die Position der auf und hinter der Bühne befindlichen Schauspieler und Theatermitarbeiter.52 Zunächst wird das Theater zum Handlungsort des Films, der sich somit des distinkt divergenten Mediums bedient und auf dessen mediale Eigenschaften (inkl. Bühnentechniken wie der besprochene Regen) verweist. Während hierbei der Film noch das hierarchisch übergeordnete Medium bleibt und sich des Theaters bedient, kippt dieses Verhältnis, wenn der Film sich selbst als Theaterstück und damit als theatralisch inszeniert: Die Theaterbühne verwandelt sich in das (teils digital erzeugte) Filmsetting. Das als Setting etablierte London im 17. Jahrhundert erweist sich somit in der filminternen Logik als Bestandteil der Theaterbühne im 21. Jahrhundert. Damit wird für die Binnenhandlung das Theater zum Leitmedium, da es das Filmsetting erst hervorzubringen vermag. Dieser Übergang wird mit der Figurenbewegung eingeleitet: Der Schauspieler Sebastian Armesto ist in seiner Rolle als Ben Jonson zunächst wartend hinter der Bühne zu beobachten, während Jacobi seinen einleitenden Monolog über die Frage nach Shakespeares Autorschaft hält. Als er losläuft und damit logischerweise die Bühne betreten müsste, blendet das Filmsetting in das London des beginnenden

51 Für eine ähnliche Interpretation vgl. Sébastian Lefait, S. 248f. 52 Vgl. Roland Emmerich, 00:00:36-00:02:57; vgl. weiterführend Sébastien Lefait, S. 247f.

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17. Jahrhunderts über.53 Dieses Paradoxon von Architektur- und Filmraum54 lässt sich nur metaphorisch auflösen, wenn angenommen wird, dass das Theaterstück dank der medialen Eigenschaften des Films an dieser Stelle eine so illusionsfördernde Wirkung entfalte, dass die Bühne zugunsten des auf ihr dargestellten Raums ausgeblendet werden kann. Dadurch entsteht eine weiterentwickelte Form von Selbstreflexivität, die nicht eine klassische Film-im-Film-Struktur nutzt, sondern den von Thomas Elsaesser und Malte Hagener beobachteten Trend einer „different form of self-reference“55 weiterführt. Durch die anfängliche Inszenierung des Films als Theaterstück wird selbstreflexiv auf den eigenen Ansatz verwiesen, die Dramen Shakespeares, wenngleich nur ausschnitthaft, filmisch zu adaptieren und mit einer (pseudo-)historischen Verortung auszustatten. Sébastien Lefait bewertet ANONYMOUS daher als „‚metadaptation‘“: „[T]he film insists on its own ability to distort historical fact. In so doing, it considers the practice with sufficient distance for the challenge to appear merely secondary to the film’s attempt at offering an innovative treatment of the plays’ reflexive feature.“56 Es werden nicht nur die Inhalte von Shakespeares Dramen adaptiert, sondern auch unterschiedliche Formen des Theaters selbst reflektiert. Am auffälligsten ist die Unterscheidung zwischen dem zeitgenössischen Theater der Rahmung und dem elisabethanischen der Binnenhandlung. Jacobi spricht seinen Pro- und Epilog vor einer im Dunkeln sitzenden, stillen und unbewegten Masse: His [Jacobis, L.Z.] story concluded, the film switches to a wide shot of the entire theatre, heightening awareness of the supposed liveness of the captured event. We see a full house of audience members but individual faces remain obscured in the distance. The sound design features a general quiet murmur without discernible words. Most strikingly, no one claps or in any way responds to what has, ostensibly, been a piece of performance; the credits display over this quiet susurration.57

Die von Sherman beschriebene Darstellung des zeitgenössischen Theaterpublikums, die der Situation des 2011/12 im Kino befindlichen Publikums entspricht, das nach dem Ende des Films auch nicht zu applaudieren geneigt sein wird, wird mit dem (fiktiven) elisabethanischen Publikum kontrastiert, in dessen Reaktio-

53 Vgl. ebd., 00:01:52-00:03:09; vgl. weiterführend Robert Geal, S. 446. 54 Für die Begriffe vgl. Hans Krah (1999), S. 5. 55 Thomas Elsaesser/Malte Hagener, S. 75. 56 Sébastien Lefait, S. 256. 57 Donovan Sherman, S. 133.

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nen durch die hellen Zuschauerräume, sowohl bei den höfischen IndoorInszenierungen als auch in den öffentlichen Open-Air-Theatern, Einblicke gewährt werden können. Während das höfische Publikum sittsam dem Dargebotenen folgt, nehmen die Groundlings der öffentlichen Theater aktiv am Bühnengeschehen teil, wenn sie mit den Schauspielern interagieren und deren Darbietung mit Zwischenrufen kommentieren, wie beispielsweise in der oben diskutierten Aufführung von Henry V oder bei der Identifikation von Polonius als William Cecil. Während ANONYMOUS hier einen kritischen Blick auf das Verhalten des eigenen Publikums ermöglicht, wird sich, wie Geal ausführt, mit der Inszenierung von Henry V. gleichzeitig auch das elisabethanische Theater für die Selbstinszenierung als ‚filmisch‘ zunutze gemacht: When Henry V. is shown playing at the Rose, the Chorus’ plea for the audience to „Think, when we talk of horses, that you see them“ […] intermittently cuts to scenes of the Earl of Southampton and his men riding off to war, as though they were about to fight at Agincourt. The Chorus’ anti-realist stress, to the theater’s audience, that it is „your thoughts,“ with these first two words repeated, „your thoughts, that must deck our kings,“ […] is immediately followed by the work of computer-generated imagery and mobile camera, decking the kings without the need for subjects to employ their „imaginary forces.“ […] The constructed, collaborative, anti-realist theatre […] is here juxtaposed with seamless cinematic diegesis.58

ANONYMOUS setzt die verwendeten Medien Film und Theater in ein permanentes Spannungsverhältnis, das einerseits für eine kritische Reflexion wie im Kontext des Publikums und andererseits für eine gegenseitige Vereinnahmung bzw. Anverwandlung genutzt werden kann. Beides weist über die für fiktive Werkgenesen üblichen Medienreferenzen hinaus, so dass in dieser Hinsicht eine signifikante Weiterentwicklung der für das Subgenre typischen Charakteristika zu beobachten ist. Neben den oben herausgearbeiteten Brüchen ist dies ein weiterer Grund, ANONYMOUS als einen möglichen Endpunkt des Subgenres zu betrachten.

58 Robert Geal, S. 446.

11. Fazit und Ausblick: Zur Einordnung des Subgenres

In den vorausgehenden Kapiteln der vorliegenden Untersuchung konnte anhand verschiedener Filmbeispiele der letzten Jahre gezeigt werden, welche außerordentliche Bedeutung der Darstellung von Literaturproduktion bzw. literarischen Werkgenesen im Medium des Films zukommt. Dabei scheint es auf den ersten Blick keineswegs selbstverständlich, dass Filme, insbesondere solche des Mainstream-Kinos, der Literatur, weiteren Künsten oder gar der Wissenschaft sowie ihren Erzeuger/innen (im Kontext dieser Untersuchung in einer definitorischen Begriffserweiterung als Autor/innen gefasst) eine derartige Aufmerksamkeit schenken. Sie bestätigen damit implizit auch die kulturstiftende Rolle, die beispielsweise fiktionale Literatur und deren Autor/innen bis heute in einem internationalen Kontext innehaben. Die spezifischen Mythen, die sich seit der Antike und im neuzeitlichen Europa, verstärkt seit der Genieästhetik um den Schaffensprozess literarischer Werke ranken, werden in den Filmen teilweise aufgegriffen und bestätigt, teilweise ironisch unterlaufen und destabilisiert. Die Konstellation einer Einbettung von (fiktiven) Entstehungsprozessen literarischer Werke ins filmische Medium begünstigt zudem die intermediale Ausrichtung der Filme, insofern die gewählten Filmbeispiele solche Werkgenesen nicht allein thematisieren, sondern darüber hinaus immer wieder zum Ausgangspunkt einer differenzierten Durchleuchtung und intensiven sowie subtilen medienreflexiven Analyse nehmen. Dabei hat sich in den letzten Jahren ein Modell herauskristallisiert, an dem sich die Filmschaffenden in der Folgezeit orientiert und das sie damit implizit als Prototyp des Subgenres bestätigt haben: Gemeint ist SHAKESPEARE IN LOVE (1998). An den großen internationalen Erfolg dieses Films konnten in den darauffolgenden Jahren weitere, thematisch verwandte Produktionen anknüpfen und ihn als beispielhaftes Modell im Blick auf den Umgang mit der Trias von Autor/in, Werk und Medialität verwenden. Die geschickte Handhabung und

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Engführung der genannten drei Referenzebenen weisen SHAKESPEARE IN LOVE als gelungenes Beispiel für solche intermedialen Erprobungen aus und als modellbildend im Blick auf die filmische Repräsentation einer Werkgenese. Die chronologisch nach ihren Entstehungsjahren geordneten, aufeinanderfolgenden Einzelanalysen zu fiktiven Werkgenesen über Dramenautoren lassen erkennen, wie konstant insbesondere das Mainstreamkino das von SHAKESPEARE IN LOVE etablierte Schema verfolgt hat. Bis MOLIÈRE (2007) finden sich nur geringfügige Variationen der drei miteinander verwobenen Referenzebenen. Im Independent-Film mit THE LIBERTINE lassen sich einige Abweichungen finden, die sich als gewissermaßen wegweisend für den Bruch mit dem Genre, wie er in ANONYMOUS zu beobachten ist, werten lassen. So wird in THE LIBERTINE bereits die Werkgenese von einem einzigen oder maximal zwei in den Fokus gerückten Werken auf eine Vielzahl verschiedener Werke ausgeweitet, was einen episodenhaften Narrationscharakter mit sich bringt, der in ANONYMOUS mit den lückenhaft narrativierten Werkgenesen noch weiter von dem Vorbild SHAKESPEARE IN LOVE abgerückt wird. Während THE LIBERTINE aber noch klar der Darstellung der drei Referenzebenen und damit insgesamt noch dem Vorbild SHAKESPEARE IN LOVE verhaftet geblieben ist, wird in ANONYMOUS – wie in Kapitel 10 ausführlich dargelegt wurde – mit der bisherigen Darstellung der Referenzebenen gebrochen. In THE LIBERTINE findet sich die Verschachtelung der Medien, die in den Film als Transportmedium der Handlung integriert werden, ebenso elaboriert wie in den übrigen Werkgenesen. Dasselbe gilt auch für die Darstellung von Autorschaft in einer klaren (in THE LIBERTINE sogar mehr fiktiv hergeleiteten als faktisch belegten) Zuordnung zwischen Werk und Autor und der (wenn auch im Fall des Königs und mit der Verherrlichung als Protagonist eines Theaterstücks erst posthum einsetzenden) Verehrung des Autors für seine Leistung sowie die Darstellung des Schreibakts mit klar zugewiesener Inspirationsquelle und einer die Inspiration ermöglichenden Muse. ANONYMOUS hingegen bricht mit der eindeutigen Zuordnung von Autor, Werk und Verehrung. An die Stelle der Muse treten die körperlosen ‚voices‘. Die mediale Verschachtelung der Ebenen wird zwar erneut aufgegriffen, doch deutlich gegenüber den Vorgängern potenziert, so dass der Film nicht nur strukturell komplexer wirkt, sondern er zudem theatrale Elemente adaptiert und immer wieder eine kritische Gegenüberstellung zwischen Theater und Film herausfordert, wobei auch die unterschiedlichen Publikumstypen verglichen werden. Die Darstellung fiktiver Werkgenesen, die durch die Engführung der drei Referenzebenen auf Medien, Werk und Autor ermöglicht wird, erweist sich somit (zumindest vom gegenwärtigen Standpunkt aus) als ein zeitlich begrenztes Phä-

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nomen eines verlängerten Jahrzehnts um die und nach der Jahrtausendwende und der parallel verlaufenden zunehmenden Digitalisierung des Films sowie dessen damit einhergehender Neuorientierung. Gerade ANONYMOUS spielt über sein digital erzeugtes Setting (London im ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert) mit den neuen Möglichkeiten, die dem Medium Film gegeben sind, während der Einsatz der neuen Techniken in den vorhergehenden fiktiven Werkgenesen eher sparsam und verdeckt Verwendung findet oder es – wie im Fall von THE LIBERTINE – sogar zugunsten höherer Authentizität zu einem vollständigen Verzicht auf technische Hilfsmittel (insbesondere die Verwendung von Beleuchtungstechniken, die hier nur mit den Gegebenheiten des Handlungszeitraums realisiert werden) kommt. Der Einsatz digitaler Möglichkeiten in ANONYMOUS signalisiert ein neues Selbstbewusstsein des Films, das dieser offenbar im Lauf der Neuorientierungsphase gewonnen hat und das den Einsatz der neuen Techniken nicht nur auf die Darstellung phantastischer Welten (im weitesten Wortsinn) beschränkt, sondern auch für Filmgenres, die zum heritage cinema und zum biopic gezählt werden können oder diesen zumindest ähneln, selbstverständlich macht. Zwar ist der Gruppierung einzelner Werke in Genres bzw. Subgenres immer auch ein gewisses Maß an Artifizialität und Arbtirarität inhärent, da Werke häufig nicht mit dem Ziel geschaffen werden, ein bestimmtes Genre zu bedienen und sich in ihrer individuellen Gestaltung voneinander unterscheiden, doch hat die Bündelung der Filme, die in der Nachfolge von SHAKESPEARE IN LOVE gedreht wurden, gezeigt, dass sich die Filme in markanten Punkten trotz ihrer jeweiligen, individuellen Ausgestaltung und den damit einhergehenden Unterschieden insofern ähneln, dass von einem eigenen Subgenre innerhalb der über hundertjährigen Tradition der Darstellung von Autor/innen im Spielfilm zu sprechen ist. Die im ersten Teil der Arbeit erfassten Referenzebenen, die sich zwar einzeln wahrnehmen lassen, aber in den Filmen, wie die Einzelanalysen gezeigt haben, eng miteinander verwoben sind, erweisen sich dabei als genrecharakteristisch. Erst durch die mediale Verschachtelung in der Narration über die Entstehung eines Einzelwerks als Bestandteil der Biographie eines Autors/einer Autorin entstehen die für Werkgenesen typische histoire- und discours-Ebene. Die nach ANONYMOUS beobachtbaren Veränderungen in der Darstellung von Autor/innen geben zu erkennen, dass die in fiktiven Werkgenesen auszumachenden Referenzebenen zwar nicht gänzlich aus dem filmischen Repertoire verschwunden sind, aber eine andere Gewichtung erhalten, als dies bislang der Fall gewesen ist. Exemplarisch sei hier als Beispiel für die an fiktive Werkgenesen anschließenden Darstellungen von Autor/innen auf A WALK IN THE WOODS (2015) ver-

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wiesen, das weitaus stärker als fiktive Werkgenesen als Literaturverfilmung wirkt, indem die im Text erzählten Erlebnisse bei der Wanderung des Appalachian Trails aufgegriffen und somit auch visuell der Bericht des historischen Bill Bryson auf den fiktiven Bill übertragen wird. Die eigentliche Werkgenese wird erst in den letzten Einstellungen des Films erkenntlich und nach dem (nicht handschriftlich, sondern mit Computer) geschriebenen Titel abgeblendet.1 Die akustische und/oder optische Einbindung des Werks, die es sowohl in seinen für die Entstehung notwendigen Gegenständen und Medien (z.B. Schrift, Papier, Stift, Computer) als auch als fertiges Werk (z.B. Buch) abbildet, kommt somit nur punktuell zustande. Genauso wenig wird der Weg vom Durchleben der inspirierenden Momente bis hin zum eigentlichen Schreiben in A Walk in the Woods reflektiert oder erfahrbar gemacht. Es verbleibt einzig das für die Einzelreferenz charakteristische Durchleben von inspirierenden Momenten, die erst außerhalb der Filmhandlung in den Text überführt werden – wie die Andeutung des getippten Buchtitels suggeriert. Wie der identische Titel zwischen literarischer Vorlage und Film bereits nahelegt, steht hier die Literaturverfilmung im Vordergrund, die einzelne Episoden der Vorlage adaptiert und interpretiert.2 Fiktive Werkgenesen tendieren dazu, ihre Interpretation des als Vorlage dienenden Einzelwerks an einer (ob nun zurecht angestellten oder nur fiktiv hergeleiteten) autobiographischen Deutung festzumachen. Die Bedeutungsoffenheit des Werks wird damit massiv eingeschränkt. Gleichzeitig unterscheidet sich die in fiktiven Werkgenesen auffindbare Einzelreferenz maßgeblich von Literaturverfilmungen im eigentlichen Sinne, da das Werk hier nicht nur inhaltlich dargestellt wird, sondern dessen mediale Eigenschaften, der Entstehungsprozess und die Darstellung des fertigen Werks zentrale Aspekte ausmachen und mit der motivischen Einbindung einzelner Episoden des Werks, die auf die Biographie des Autors/der Autorin übertragen werden, kombiniert sind. Da, wie oben angesprochen, in A WALK IN THE WOODS die letztliche Rücküberführung der Erlebnisse in den als Vorlage dienenden Text nur rudimentär am Filmende stattfindet und

1

Vgl. Ken Kwapis, 01:35:01-01:35:18.

2

Zum Verhältnis von Literaturverfilmung und Interpretation führen Wolfang Gast, Knut Hickethier und Burkhard Vollmers aus: „Eine Literaturverfilmung ist immer in erster Linie ein Film und etwas anderes als das als Vorlage benutzte literarische Werk. Für den Leser des Romans kann deshalb die Verfilmung nur eine mögliche Interpretation dieses Romans von vielen sein, die er mit seiner eigenen Sicht oder auch mit anderen filmischen Interpretationen vergleichen kann. Dem literarischen Werk gegenüber verhalten sich Verfilmungen damit zugleich wiedergebend und interpretierend.“ Wolfgang Gast/Knut Hickethier/ Burkhard Vollmers, S. 20.

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sich damit auf eine Anspielung beschränkt, wäre hier (vergleichbar mit THE AFFAIR OF THE NECKLACE) nur von einer schwachen fiktiven Werkgenese zu sprechen. Da dieser Eindruck allerdings nur durch eine der drei Referenzebenen von fiktiven Werkgenesen zustande kommt, das Genre sich aber gerade durch deren Zusammenspiel auszeichnet, lässt sich bei einer Berücksichtigung der beiden anderen Referenzebenen selbst dieser schwache Bezug kaum noch aufrechterhalten. Das interpretatorische Potential von A WALK IN THE WOODS manifestiert sich am augenscheinlichsten bei der Motivation des Protagonisten, die Wanderung zu beginnen. Die Darstellung des fiktiven Autors Bill weicht markant von der realen Vorlage Bryson ab. Während Bryson Teile des Appalachian Trails zwischen 1995 (nach seinem Umzug nach Hannover, New Hampshire, setzt die Beschäftigung mit dem nahe an seinem Haus entlangführenden Appalachian Trail ein) und 1998 (Veröffentlichung des Buchs A Walk in the Woods) gewandert ist und damit zwischen 44 und 47 Jahre alt war, wird er durch Robert Redford als gealterter Autor (zum Zeitpunkt der Dreharbeiten war Redford 78 Jahre alt) dargestellt, der – leicht panisch durch die Realisation der mittlerweile erhöhten Sterberate in seinem Freundeskreis – mit der Wanderung des Appalachian Trails zu einem letzten Abenteuer aufbricht, um sich zu beweisen, dass sein Leben noch nicht vorbei ist.3 Hier wird also nicht die für fiktive Werkgenesen typische Suche nach schriftstellerischem bzw. künstlerischem Erfolg narrativiert, sondern eine Suche nach einem persönlichen Erfolgserlebnis im höheren Alter. Bill ist (vergleichbar mit Friedrich in SHADOW OF THE VAMPIRE) zu Beginn der Handlung bereits ein etablierter Autor, der in Talkshows eingeladen wird. Doch treibt ihn dieser Umstand (im Gegensatz zu Friedrich) nicht zu einem weiteren Streben nach Erfolg (was in SHADOW OF THE VAMPIRE zu der oben diskutieren Verkehrung der Erfolgsgeschichte mit dem zunehmenden Wahnsinn des Protagonisten führt). Ganz im Gegenteil erweckt er im Interview in der Bostoner Morningshow den Anschein, überhaupt nicht mehr schreiben zu wollen.4 Die Wanderung Bills wird somit in gleich mehrfacher Hinsicht zum Selbstfindungstrip, insofern er nicht nur sein Leben im Alter neu definiert, sondern auch sein Dasein als (berühmter) Autor letztlich positiv umdeuten und am Ende des Films wieder schreiben kann. In fiktiven Werkgenesen wird der/die Autor/in im Spannungsfeld zwischen der individuellen, häufig sehr intim inszenierten Arbeit am Werk und der öffentlichen Verehrung als Idol und Star in Szene gesetzt. Ergänzt werden diese beiden

3

Vgl. Ken Kwapis, 00:02:42-00:15:19.

4

Vgl. ebd., 00:00:05-00:01:52.

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Pole der Darstellung von Autorschaft durch die Auffassung derselben als Beruf, der gerade im Kontext von Schreibblockaden, fehlenden Ideen etc. von den Protagonisten als anstrengend empfunden wird, bzw. als eine ‚Berufung‘, der sich der Protagonist in Anlehnung an die Geniekonzepte aus den Epochen des Sturm und Drang, der Romantik und deren Weiterentwicklung dank einer zuvor erfolgten Inspiration hingeben kann. Damit gehen mythische und ikonische Implikationen einher, die den Autor/die Autorin als Schöpfer/innen zweiter Ordnung (also als menschliche Schöpfer/innen) stilisieren. Die Inspiration wird insbesondere durch eine Musenfigur gegeben, die meist auch zugleich als love interest auftritt. Im Vergleich zu den bisher betrachteten fiktiven Werkgenesen im Film fehlt in A WALK IN THE WOODS das ausgewiesene Streben nach Erfolg (im Sinne der Anerkennung als Schöpfer) und die damit einhergehende doppelte Inszenierung von Ruhm (sowohl über den Schauspieler als auch über den in diesem Fall noch lebenden Autor). Durch das Fehlen dieser Charakteristik der Autorreferenzebene werden auch an dieser Stelle die Bezüge zu fiktiven Werkgenesen nur eher vage realisiert. Einzig das auf die Einzelreferenz hinweisende Durchleben von inspirierenden Momenten, die später in den Text überführt werden, bleibt von den vertrauten Genrecharakteristiken bestehen. Hierbei wird auch auf eine klassische Musenfigur, die meist Teil einer hetero-normativen Liebesgeschichte ist und die Übertragung der durchlebten Ereignisse in ein Werk einfordern würde, verzichtet. Als Musenfigur findet sich höchstens Bills Freund, Stephen Katz, der Bill auf seinem Abenteuer begleitet und so weitestgehend der einzige Gesprächspartner ist.5 Ähnlich vage ist auch die Verbindung zwischen A WALK IN THE WOODS und den für fiktive Werkgenesen genrebestimmenden Medienreferenzen. In der Narration der Wanderung in A WALK IN THE WOODS kommt es zu keiner medialen Verschachtelung und auch die anfängliche Darstellung der Bostoner Morningshow wird kaum genutzt, um mediale Selbstreflexion zu betreiben. Die Einbindung erfolgt daher im Sinne einer Anspielung, die dazu dient, die Fernsehgewohnheiten der Rezipient/innen anzusprechen und damit dem Film Authentizität zu verleihen. Im Gegensatz zu klar intermedialen Formen der Mediendarstellung wird hier das Medium des Fernsehens nicht benutzt, um mediale Reflexion zu betreiben, sondern vor allem, um durch die Mediennutzung standardisierte Verhaltensmuster wiederzugeben und damit eine gewisse ‚Normalität‘, auf deren Basis die Rezipient/innen sich mit dem Dargestellten identifizieren können, zu erzeugen. Die Morningshow erweist sich somit als austauschbares Handlungsobjekt ohne Einwirkung auf die discours-Ebene. Die mediale Anspielung befindet

5

Vgl. ebd., 00:25:08-01:32:00.

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sich daher ausschließlich auf der histoire-Ebene. Darüber hinaus dient diese Sequenz hauptsächlich Bills Charakterisierung und der Einführung von dessen anfänglichen Dilemmas, sich als zu alt für einen Neubeginn (sei dies ein Buch oder eine Wanderung) zu fühlen. Neben der hier gezeigten Anspielung werden Medienreferenzen in fiktiven Werkgenesen hauptsächlich mit einer Wirkung auf die discours-Ebene integriert. Diese können in einem engeren Definitionssinn intermedial sein oder als assoziative und potenzierende mediale Erweiterungen und Ergänzungen wirken. Während die Anspielungen nur als schwach intermedial zu werten sind, sind mise en abyme-ähnliche Strukturen und die mediale Annäherung des Films an ein distinkt divergentes Medium als starke Formen von Intermedialität zu werten. Mit Hilfe der Medienreferenzen wird die Neuorientierung und Neuetablierung des Films im Rückgriff auf andere Unterhaltungsmedien oder auch in einer selbstreflexiven Darstellung des eigenen Mediums in fiktiven Werkgenesen realisiert. Das markante Verschwinden dieser Ebene in Filmen wie A WALK IN THE WOODS deutet an, dass diese Rückgriffe nun offenbar nicht mehr in dem Ausmaß wie noch wenige Jahre zuvor notwendig sind. Es kommt in A WALK IN THE WOODS zwar zu keinem umfassenden und endgültigen Bruch mit den Darstellungsverfahren der fiktiven Werkgenesen, doch lassen sich markante Veränderungen und Bedeutungsverschiebungen in der Darstellung und Verwendung der drei Referenzebenen ausmachen. Es lässt sich allerdings aufgrund der fehlenden retrospektiven Distanz derzeit noch nicht mit Sicherheit entscheiden, ob es sich um einen Endpunkt des Subgenres handelt und sich dessen Produktivität weitgehend erschöpft hat. Ebensowenig lässt sich abschätzen, ob und wie sich das Subgenre im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung weiter entfaltet. Dass es sich bei der medialen Neuorientierungsphase des Films um ein zeitlich begrenztes Phänomen gehandelt hat, das parallel zur zunehmenden Digitalisierung und zum Versuch, einer stärker intermedial ausgerichteten Mediennutzung der Rezipient/innen Rechnung zu tragen, erfolgt ist, lässt sich auch anhand anderer Filmtypen beobachten. Ein Blick auf andere aktuelle filmische Trends, wie sie sich beispielsweise bei Comicverfilmungen beobachten lassen, lässt ähnliche Phänomene sichtbar werden wie im Falle der hier diskutierten filmischen Darstellung von literarischen Werkgenesen. Auch die Comicverfilmungen greifen auf ein etabliertes Unterhaltungsmedium (Comic) zurück, so wie sich die fiktiven Werkgenesen auf kanonisierte Autor/innen beziehen. Auch hier stützt sich der Film als Medium über diesen Rückgriff auf etablierte Künste und Unterhaltungsmedien im Kulturbetrieb. Beispielhaft lässt sich die damit einhergehende Verzahnung unterschiedlicher Einzelfilme und Kurzfilme zu einem Netzwerk bzw. einem eigenen ‚Filmuniversum‘, das zuletzt auch durch eine Reihe von Se-

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rien ergänzt wurde, in den Verfilmungen von „Marvel’s Avengers“ beobachten.6 Dies zeugt auf eine andere Art von dem auch bei den fiktiven Werkgenesen festzustellenden Phänomen, die medialen Grenzen des Films auszuloten. Im Fall von „Marvel’s Cinematic Universe“ geht es allerdings weniger um intermediale Darstellungsformen als vielmehr um das Austesten neuer Formen des seriellen Erzählens durch die Gleichzeitigkeit von Ereignissen in unterschiedlichen Filmen und Serienepisoden, die immer wieder Querverweise setzen und so das ‚Netz‘ zwischen den Einzelwerken spannen. So wird das Aufdecken der ehemaligen Nazi-Organisation H.Y.D.R.A., die S.H.I.E.L.D. unterwandert hat, im Film CAPTAIN AMERICA: THE WINTER SOLDIER (Kinostart: 13. März 2014) und in „End of the Beginning“ (Staffel 1, Episode 16, Erstausstrahlung: 01. April 2014) sowie den folgenden Episoden der ABC-Serie MARVEL’S AGENTS OF S.H.I.E.L.D. nicht nur inhaltlich, sondern auch zeitlich parallel narrativiert. An „Marvel’s Cinematic Universe“ lässt sich auch die zunehmende Bedeutung von Serien – eine ebenfalls parallel verlaufende Entwicklung – beobachten: Die durch Streaming-Dienste ermöglichte dauerhafte Zugänglichkeit von Serien

6

In chronologischer Reihenfolge des Erscheinens handelt es sich im „Marvel Cinematic Universe“ um: IRON MAN (2008), THE INCREDIBLE HULK (2008), IRON MAN 2 (2010), THOR (2011), CAPTAIN AMERICA: THE FIRST AVENGER (2011), MARVEL ONE-SHOT: THE CONSULTANT (Kurzfilm, 2011), MARVEL ONE-SHOT: A FUNNY THING HAPPENED ON THE WAY TO THOR’S HAMMER (Kurzfilm, 2011), MARVEL’S THE AVENGERS (2012), MARVEL ONE-SHOT: ITEM 47 (Kurzfilm, 2012), IRON MAN 3 (2013), MARVEL ONE-SHOT: AGENT CARTER (Kurzfilm, 2013), MARVEL’S AGENTS OF

S.H.I.E.L.D. (Serie, 2013-), THOR: THE DARK WORLD (2013), MARVEL ONE-

SHOT: ALL HAIL THE KING (2014), CAPTAIN AMERICA: THE WINTER SOLDIER (2014), GUARDIANS OF THE GALAXY (2014), MARVEL’S AGENT CARTER (Serie, 2015-2016), MARVEL’S DAREDEVIL (Serie, 2015-), AVENGERS: AGE OF ULTRON (2015), ANT-MAN (2015), MARVEL’S JESSICA JONES (Serie, 2015-), CAPTAIN AMERICA: CIVIL WAR (2016), MARVEL’S LUKE CAGE (Serie, 2016-), DOCTOR STRANGE (2016); angekündigt sind an weiteren Filmen und Serien derzeit: MARVEL’S IRON FIST (Serie, 2017-), GUARDIANS OF THE GALAXY VOL. 2 (2017), SPIDER-MAN: HOMECOMING (2017), THOR: RAGNAROK (2017), THE INHUMANS (Serie, 2017-), MARVEL’S THE PUNISHER (Serie, 2017-), MARVEL’S THE DEFENDERS (Serie, 2017-), MARVEL’S CLOAK AND DAGGER (Serie, 2017-), BLACK PANTHER (2018), AVENGERS: INFINITY WAR (2018), ANT-MAN AND THE WASP (2018), CAPTAIN MARVEL (2019) und ein finaler Film über alle Avengers, derzeit geführt als UNTITLED AVENGERS (2019) sowie die Serie MARVEL’S DAMAGE CONTROL, für die noch kein Erscheinungstermin ersichtlich ist.

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geht einher mit einer deutlich gesteigerten Zahl von Literaturverfilmungen im seriellen Erzählen. Als eines der derzeit prominentesten Beispiele ist hier sicherlich GAME OF THRONES (2011-), basierend auf George R.R. Martins derzeit noch nicht abgeschlossener Romanreihe A Song of Ice and Fire (1996-), anzuführen. Auch die Darstellung von Autor/innen und deren Biographien hat mittlerweile in diese Form des seriellen Erzählens Einzug gehalten und sorgt ebenfalls für eine Weiterentwicklung jenseits der Darstellung der Autor/innen in fiktiven Werkgenesen. Beispielhaft soll hier die Serie DA VINCI’S DEMONS (2013-2015) herausgegriffen werden, deren Spezifika von einem selbstbewussten Umgang mit der Selektivität der Bilder zeugen. Monika Reif-Hülser hat 1984 den folgenden Hinweis zur Wahl der Bildeinstellungen im Film geliefert: Die von der Kamera gezeigten Bilder tun so, als ob sie Realität abbildeten, während sie jedoch in einem bewussten Akt der Selektion diese Einzelansichten der Welt durch Entfremdung, Blende, Winkel, Licht etc. verfremden und als durch einen fremden Blick bereits Gestaltetes uns zur Anschauung bringen. In diesem Sinne ist das, was wir wahrnehmen, wenn wir einen Film sehen, immer schon die Repräsentation einer anderen Vorstellung und ästhetisch vermittelt.7

In DA VINCI’S DEMONS wird regelrecht selbstbewusst mit der Auswahl der gezeigten Bilder umgegangen, wenn Leonardo Da Vincis erhaltene Skizzen und Zeichnungen zum Bestandteil der Weltwahrnehmung des fiktiven Leonardo werden und damit eine stets verfremdete Weltsicht durch die Fokalisierung der Figur parallel zur in jedem Film durch die Kamera erzeugten Selektion präsent gehalten wird. Inwieweit die Charakteristika der hier als filmisches Subgenre gefassten fiktiven Werkgenesen auf das serielle Erzählen übertragen werden können, bliebe in einer künftigen Arbeit zu erforschen. Jedenfalls zeigt die von TNT im Frühjahr 2016 unter dem Titel WILL in Auftrag gegebene und für Mitte Juni 2017 angekündigte Serie, dass Shakespeare sich nach wie vor eignet, um neue Narrationsformen von Autorschaft in Film und Serie auszutesten. Mit William Shakespeare hat eine wirkungsmächtige Autorfigur auch in das Serienformat Eingang gefunden, die auch im Kontext der in dieser Arbeit erforschten fiktiven Werkgenesen im Film eine Schlüsselrolle spielte. Es wird deutlich, dass das Subgenre der fiktiven Werkgenesen und seine künftige Entwicklung neben der Positionierung in der Tradition von filmischen Autorendarstellungen auch mit zeitlich parallel verlaufenden aktuellen Trends in Serien und Filmproduktionen gemeinsam

7

Monika Reif-Hülser, S. 19.

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erforscht werden müsste.8 Die hier geleistete systematische Erfassung des Subgenres der fiktiven Werkgenesen im Film kann hierfür nur als erster Schritt dienen und wäre um weitere Forschungen auf diesem Gebiet in Zukunft zu ergänzen.

8

Aus zeitlichen Gründen der Drucklegung dieser Arbeit ist es nicht möglich, erste Eindrücke der Serie zu integrieren, doch lässt der Trailer Anklänge an die Inszenierung aus SHAKESPEARE IN LOVE vermuten, wenn auch hier eine ähnliche Kostümierung und das Image als ‚(Rock-)Star‘ angedeutet werden. Inwieweit dieser erste Eindruck tatsächlich Bestandteil der seriellen Darstellung ist, wird sich erst zukünftig beantworten lassen.

Danksagung

Die Arbeit an meiner Promotion (abgeschlossen im April 2017 an der JustusLiebig-Universität Gießen) wäre sicherlich zu keinem glücklichen Ende gekommen, gäbe es nicht eine ganze Reihe von Helfer/innen, die mir von der Planung des Themas bis zur finalen Korrekturphase auf jede nur erdenkliche Weise zur Seite gestanden hätten. Besonders möchte ich daher meinen beiden Betreuerinnen, Prof. Dr. Annette Simonis und Prof. Dr. Lisa Gotto, danken, die immer bereit waren, mit mir strittige Passagen und Formulierungen zu diskutieren und mir so den Ansporn zu gaben, meinen Text (hoffentlich) zu verbessern. Ein großes Dankeschön gilt auch meinen fleißigen Korrekturlesenden (in alphabetischer Reihenfolge): Danke an Alexandra, Diana, Markus, Michael und Pascal, dass ich euch mit meinen Texten bombardieren und eure Zeit beanspruchen durfte. Ebenso großer Dank gebührt auch Sophia Mehrbrey, die mir in meiner Verzweiflung mit der Transkripition des Films MOLIÈRE tatkräftig unter die Arme gegriffen und große Teile der Transkription für mich übernommen hat. Ich würde vermutlich heute noch daran sitzen ... Und last but not least möchte ich ein riesiges Dankeschön an meine Familie richten, die mit unendlicher Geduld den Schaffensprozess begleitet hat, Verständnis dafür hatte, dass ich tatsächlich gearbeitet habe, wenn ich auf dem Sofa lag und Filme angeschaut habe, und die mich emotional unterstützt hat. Allen voran gilt dieser Dank natürlich meinen Eltern, ohne deren Begeisterung für das Lesen, die sie mir vermittelt haben, und deren jahrelange Unterstützung ich heute nicht diese Worte schreiben würde, und selbstverständlich auch meinem Mann, der nicht nur stressige Zeiten wie Abitur und Studium, sondern auch die Endphase meiner Doktorarbeit mit Geduld und Liebe durchgestanden hat. Danke für das Korrekturlesen in letzter Minute und vor allem die emotionale Unterstützung. Laura Zinn 18.06.2017

Literatur

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Medienwissenschaft Florian Sprenger, Christoph Engemann (Hg.)

Internet der Dinge Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt 2015, 400 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3046-6 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3046-0 EPUB: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-7328-3046-6

Gundolf S. Freyermuth

Games | Game Design | Game Studies Eine Einführung 2015, 280 S., kart. 17,99 E (DE), 978-3-8376-2982-8 E-Book PDF: 15,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2982-2

Gundolf S. Freyermuth

Games | Game Design | Game Studies An Introduction (With Contributions by André Czauderna, Nathalie Pozzi and Eric Zimmerman) 2015, 296 p., pb. 19,99 E (DE), 978-3-8376-2983-5 E-Book PDF: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2983-9

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Medienwissenschaft Thilo Hagendorff

Das Ende der Informationskontrolle Zur Nutzung digitaler Medien jenseits von Privatheit und Datenschutz Januar 2017, 264 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3777-9 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3777-3

Carolin Wiedemann

Kritische Kollektivität im Netz Anonymous, Facebook und die Kraft der Affizierung in der Kontrollgesellschaft 2016, 280 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3403-7 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3403-1

Ramón Reichert, Annika Richterich, Pablo Abend, Mathias Fuchs, Karin Wenz (eds.)

Digital Culture & Society (DCS) Vol. 2, Issue 2/2016 — Politics of Big Data 2016, 154 p., pb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3211-8 E-Book PDF: 29,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3211-2

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