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German Pages 1511 Year 2013
Gesamte Strafrechtswissenschaft in internationaler Dimension Festschrift für Jürgen Wolter zum 70. Geburtstag am 7. September 2013
Herausgegeben von
Mark A. Zöller, Hans Hilger, Wilfried Küper und Claus Roxin
Duncker & Humblot · Berlin
Gesamte Strafrechtswissenschaft in internationaler Dimension Festschrift für Jürgen Wolter zum 70. Geburtstag am 7. September 2013
Schriften zum Strafrecht Band 250
Gesamte Strafrechtswissenschaft in internationaler Dimension Festschrift für Jürgen Wolter zum 70. Geburtstag am 7. September 2013
Herausgegeben von
Mark A. Zöller, Hans Hilger, Wilfried Küper und Claus Roxin
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-13841-8 (Print) ISBN 978-3-428-53841-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-83841-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Geleitwort Am 7. September 2013 feiert Jürgen Wolter seinen 70. Geburtstag. Zu diesem Anlass gratulieren ihm seine Freunde, Kollegen, wissenschaftlichen Weggefährten und Schüler aus dem In- und Ausland herzlich; sie wollen mit der vorliegenden Festschrift zugleich ihren persönlichen Dank und die hoch verdiente wissenschaftliche Ehrung zum Ausdruck bringen. Sie gilt dem Forscher und akademischen Lehrer, einem wissenschaftlichen Lebenswerk von mittlerweile mehr als vierzig Jahren und spiegelt in der Vielzahl der in dieser Festschrift versammelten Beiträge auch die inhaltliche Spannweite und den Tiefgang seiner akademischen Arbeiten wider. Jürgen Wolter studierte nach seinem Abitur in Hannover von 1963 bis 1968 Rechtswissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen. Bereits im ersten Studiensemester beeindruckte und begeisterte ihn dort die Vorlesung des jungen Strafrechtsprofessors Claus Roxin, bei dem er nach seinem ersten juristischen Staatsexamen im Jahr 1969 schließlich 1971 mit seiner bis heute wissenschaftlich stark beachteten Dissertation „Alternative und eindeutige Verurteilung auf mehrdeutiger Tatsachengrundlage im Strafrecht“ (1972) promovierte. Es folgten 1974 das zweite juristische Staatsexamen in Hannover und eine kurze Tätigkeit bei der dortigen Staatsanwaltschaft, bevor er noch im gleichen Jahr in den „Schoß der Wissenschaft“ zurückkehrte. Von 1974 bis 1979 absolvierte er seine akademischen Lehrjahre als Wissenschaftlicher Assistent (Richter im Hochschuldienst) am Lehrstuhl von Hans-Joachim Rudolphi an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. In dieser Zeit wurde er aber auch durch die großen Bonner Strafrechtslehrer Gerald Grünwald und Armin Kaufmann entscheidend geprägt. Im Jahr 1979 habilitierte sich Jürgen Wolter mit seiner wegweisenden Schrift „Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem“ (1981). Im Anschluss an seine Habilitation folgte Jürgen Wolter unmittelbar einem Ruf auf eine Professur an die Universität Hamburg II, an der er im Rahmen der einstufigen Juristenausbildung zwei Jahre lang wirkte, bevor er 1981 einen Ruf auf eine Professur an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg annahm. Weitere vier Jahre später, im Jahr 1985, wechselte er auf eine Strafrechtsprofessur an seiner alten Wirkungsstätte an der Universität Bonn und folgte im Jahr 1988 von dort aus einem Ruf an die Universität Regensburg, wo er die Lehrstuhlnachfolge von Günther Jakobs antrat. Schließlich führte ihn sein wissenschaftlicher Werdegang im Jahr 1993 an die Universität Mannheim, an der er bis zu seiner Pensionierung (2008) den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtstheorie innehatte und in den stürmischen Jahren 1997/98 als Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät dessen Geschicke sicher durch alle Schließungstendenzen hindurch steuerte. Dass sein breites wissenschaftliches Werk
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Geleitwort
und Wirken auch noch während seiner Mannheimer Zeit die ihm gebührende Würdigung erfahren hat, belegt unter anderem der Ruf an die Universität zu Köln auf die Kohlmann-Nachfolge, der ihn 1999 ereilte und den er nach längerem Zögern schließlich ablehnte. Ein wesentliches Ergebnis seiner Bleibeverhandlungen war die im Jahr 2000 im Zusammenwirken mit Wolf-Rüdiger Schenke erfolgte Gründung des Mannheimer Instituts für deutsches und europäisches Strafprozessrecht und Polizeirecht (ISP), das er insgesamt neun Jahre lang als Direktor der strafprozessrechtlichen Abteilung leitete. Der von ihm dort ins Leben gerufene interdisziplinäre Arbeitskreis Strafprozessrecht und Polizeirecht (ASP) aus renommierten Vertretern der Strafprozess- und Polizeirechtswissenschaft, der Richterschaft, der Ministerialverwaltung, der Strafverteidigung und des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht zeichnet insbesondere für drei große, von Jürgen Wolter auch inhaltlich stark beeinflusste und herausgegebene Buchpublikationen (Zeugnisverweigerungsrechte bei [verdeckten] Ermittlungsmaßnahmen, 2002; Vorermittlungen und Datenübermittlungen, 2003; Europol und europäischer Datenschutz, 2008) verantwortlich, die die rechtswissenschaftliche Reformdiskussion entscheidend bestimmt haben. Der innovative und übergreifende Forschungsansatz des von Jürgen Wolter maßgeblich geprägten Instituts, der auf der Erkenntnis beruht, dass man im 21. Jahrhundert angesichts der informationstechnologischen Entwicklung und eines zusammenwachsenden Europas Materien wie Verfassungsrecht, Strafrecht, Gefahrenabwehrrecht, Nachrichtendienstrecht und Datenschutzrecht nicht (mehr) sinnvoll isoliert voneinander behandeln kann, steht zugleich repräsentativ für sein Verständnis von Wissenschaft. Ihm geht es nie nur um den Einzelfall, und gesetzgeberische Schnellschüsse oder Flickschusterei sind ihm von jeher ein Gräuel. Der legislative status quo oder aussichtslos erscheinende rechtspolitische Mehrheiten sind für ihn gerade keine Hindernisse, sondern Ansporn und Triebfeder für die Suche nach dem „idealen Recht“, in dem sich individuelle Freiheitsrechte der Bürger und kollektive Sicherheitsinteressen des Staates in einer angemessenen Balance befinden. Dabei hat er wie kaum ein anderer stets die Gesamtheit des Strafrechtssystems im Blick, in das sich sämtliche Teilaspekte des materiellen und formellen Rechts harmonisch einfügen müssen. Von dem bis heute ungebrochenen Reformeifer des Wissenschaftlers Jürgen Wolter zeugen zahlreiche Publikationen aus seinem beeindruckenden Schriftenverzeichnis, das im Anhang zu dieser Festschrift ausführlich dokumentiert ist. Dass er über das rechtspolitische Alltagsgeschäft hinaus in langfristigen und nachhaltigen Bahnen denkt, belegt pars pro toto besonders deutlich seine bereits aus dem Jahr 1991 (!) stammende Monographie „Aspekte einer Strafprozeßreform bis 2007“ – eine in Zeiten schnelllebiger Online-Medien heute völlig undenkbare Perspektivspanne. Und dass sich das unbeugsame Mahnen und Kämpfen für Reformen auch dann noch auszahlen kann, wenn alle anderen Reformer und Mahner längst verstummt sind, zeigt beispielhaft das wegweisende Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur akustischen Wohnraumüberwachung (BVerfGE 109, 279), in dem die Karlsruher Richter in erheblichem Umfang auf die Wolter’schen Überlegungen in seiner Kom-
Geleitwort
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mentierung zu den §§ 100c ff. StPO im Systematischen Kommentar zurückgegriffen haben. Insofern fügt es sich nahtlos in das Gesamtbild ein, dass Jürgen Wolter von 1992 bis 2005 aktives Mitglied des Arbeitskreises deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer, also des Arbeitskreises der sog. Alternativprofessoren war. In diesem Rahmen hat er nicht nur sein Fachwissen und seine Reformvorschläge in insgesamt sechs verschiedene strafrechtliche und strafprozessuale Gesetzentwürfe eingebracht, sondern insbesondere den Alternativ-Entwurf zur „Reform des Ermittlungsverfahrens“ (2001) als Geschäftsführer des AE-Arbeitskreises in besonderer Weise begleitet und beeinflusst. Und eben diesem Arbeitskreis ist er auch heute noch persönlich wie wissenschaftlich verbunden. Dass Jürgen Wolter auch nach seiner Pensionierung in unverminderter Weise in der Strafrechtswissenschaft präsent ist, zeigen vor allem zwei „Großprojekte“, die untrennbar mit seiner Person und seinem Geschick für strategische Planung verbunden sind. Beim ersten dieser Großprojekte handelt es sich um die beiden Systematischen Kommentare zum Strafgesetzbuch und zur Strafprozessordnung, die er mittlerweile in Personalunion als Herausgeber, Gesamtredakteur und Autor betreut. Insbesondere der SK StPO, den er im Jahr 1984 – im Übrigen gegen den anfänglichen Widerstand von Hans-Joachim Rudolphi (der wohl ahnte, welche Herkulesaufgabe damit auf alle Beteiligten zukommen würde) – initiiert und mitbegründet hat, lag und liegt ihm besonders am Herzen. Und wer die seit Kurzem verfügbare, gebundene Fassung der 4. Auflage dieses Großkommentars in die Hand nimmt, erkennt rasch, dass sich die Jahre des wissenschaftlichen Arbeitens, der Planung und Koordinierung gelohnt haben. Das zweite hier zu erwähnende akademische Großprojekt stellt ohne Zweifel Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, Deutschlands älteste Strafrechtszeitschrift, dar. Nachdem Jürgen Wolter dem Archiv bereits seit 1984 als Ständiger Mitarbeiter verbunden ist, leitet er – gemeinsam mit Paul-Günter Pötz, Wilfried Küper und Michael Hettinger – seit Beginn des Jahres 2002 und somit mittlerweile bereits im elften Jahr verantwortlich dessen Geschicke als Schriftleiter und Mitherausgeber. Und wer einmal das Glück hatte, Jürgen Wolters Engagement, Perfektion und Charme beim Redigieren von Manuskripten, bei der Planung der Hefte weit über ein Jahr im Voraus oder auch beim Einwerben von Beiträgen mitzuerleben, der weiß, dass dieses „Flaggschiff“ auf dem strafrechtlichen Zeitschriftenmarkt bei ihm in den richtigen Händen liegt. Mit der Arbeit für GA verbindet sich zugleich in idealer Weise ein weiteres zentrales Anliegen im Wirken von Jürgen Wolter: seine Verbindung zur spanischen und portugiesischen Strafrechtswissenschaft. Diese Verbindung reicht über Tagungen, Beiträge und Buchherausgaben in deutscher und spanischer Sprache, die Übersetzung seiner Bücher sowie einzelner Aufsätze in Spanien und Lateinamerika, seine Mitgliedschaft in der Forschergruppe der Universität León bis hin zu seiner Mitwirkung im wissenschaftlichen Beirat des portugiesischen Competition and Regulation Magazine und dokumentiert sich bis heute in der Förderung von Publikationen spanischund portugiesischsprachiger Autoren und des Austauschs mit der deutschen Strafrechtswissenschaft in Goltdammer’s Archiv, wovon zahlreiche GA-Sonderhefte, beispielsweise in den Jahren 2010, 2011 und 2013 zeugen.
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Geleitwort
Das umfangreiche und vielschichtige wissenschaftliche Gesamtwerk kann im Rahmen dieses Geleitwortes naturgemäß nicht einmal ansatzweise gewürdigt werden. Aber zumindest in groben Leitlinien lassen sich doch vier Schwerpunkte ausmachen: Den ersten Schwerpunkt bildet zweifellos der Allgemeine Teil des Strafrechts und das Strafrechtssystem, wobei hierbei wiederum Themen wie die objektive Zurechnung, Wahlfeststellung, Konkurrenzlehre, erfolgsqualifizierte Delikte oder Verjährungsfragen im Vordergrund stehen. Hinzu kommen als zweiter Schwerpunkt Fragen des Besonderen Teils wie Nötigung, Straftaten gegen ausländische Staaten, gegen Verfassungsorgane sowie bei Wahlen und Abstimmungen. Einen dritten Schwerpunkt stellt das Strafprozessrecht mit Ermittlungsverfahren, Strafprozessrechtssystem und Strafprozessreform dar. Hier geht es Jürgen Wolter vor allem um Grundrechtseingriffe, Zeugnisverweigerungsrechte, Zufallsfunde, Beweis- und Verwendungsverbote, Datenübermittlungen und Fragen der Untersuchungshaft. Und endlich schließt sich der Kreis mit dem ihm eigenen „Blick über den Tellerrand“, so dass in einem vierten Schwerpunkt der interdisziplinäre Fokus auf Materien wie dem Verfassungsrecht, dem Datenschutzrecht, dem Polizeirecht sowie den europäischen Einflüssen auf das nationale Strafrechtssystem liegt. Vor diesem Hintergrund lag es nahe, als Festschrifttitel „Gesamte Strafrechtswissenschaft in internationaler Dimension“ zu wählen, einen Titel, der die Person und das akademische Werk des Jubilars trotz der mit solchen Titeln stets verbundenen Verkürzung in fast schon idealer Weise charakterisiert. Insofern ist es für die Herausgeber auch eine besondere Freude, dass dieser Grundgedanke durch die in der vorliegenden Festschrift versammelten Beiträge der Freunde und Weggefährten aufgegriffen wird. Das Inhaltsverzeichnis mit insgesamt sieben Teilkapiteln, die von „I. Grund- und Grenzfragen der Strafrechtswissenschaft“ bis „VII. Ausländisches, Europäisches und Internationales Strafrecht“ reichen, spiegelt die wissenschaftlichen Interessenschwerpunkte Jürgen Wolters in eindrucksvoller Weise wider. Und insgesamt 83 Beiträge von 86 namhaften Autoren aus dem In- und Ausland machen deutlich, was diese Festschrift vor allem anderen ist: die dankbare Verbeugung vor einem der Großen des Strafrechts, aber nicht zuletzt auch vor dem besonderen Menschen, den wir alle im Laufe vieler Jahre kennen und schätzen gelernt haben. Bei der Korrektur von Examensklausuren pflegte der Jubilar bei schwächeren Kandidaten, die offensichtlich die Probleme des Falles verkannt und falsche Schwerpunkte bei der Bearbeitung gesetzt hatten, in der ihm eigenen Zurückhaltung, aber auch mit einem gewissen Schuss Ironie, gelegentlich Sätze zu schreiben wie „An dieser Stelle der Arbeit sind bereits 25 von 29 Seiten geschrieben.“ Das hieß im Klartext „Du hast leider (noch) keine Ahnung vom Strafrecht und mir ist langweilig!“. Herausgeber und Autoren hoffen daher, dass die Lektüre dieser Festschrift bei Jürgen Wolter das Gegenteil bewirken wird und sich dieser Satz für ihn positiv wenden lässt: An dieser Stelle sind erst 83 von hoffentlich noch sehr vielen Beiträgen zu seinen Ehren geschrieben. September 2013
Hans Hilger, Wilfried Küper, Claus Roxin und Mark A. Zöller
Inhaltsverzeichnis
I. Grund- und Grenzfragen der Strafrechtswissenschaft Volker Erb Feindstrafrecht in der Praxis? Der Fall des Rockers von Anhausen . . . . . . . . .
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Georg Freund Nicht „entweder – oder“, sondern „weder – noch“! Zum Verstoß gesetzesalternativer Wahlfeststellung gegen Art. 103 II GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
Luís Greco Tugend im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
Heike Jung Jürgen Wolter und der Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
Sergio Moccia Scienza giuspenalistica ed involuzione normativa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
Heinz Müller-Dietz Kafkas „Proceß“ – ein Strafprozess? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109
Hans-Ullrich Paeffgen Das „Rechtsgut“ – ein obsoleter Begriff? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
125
Maria Fernanda Palma Zur Bedeutung ethisch-wissenschaftlicher Erörterungen über Gefühle für das Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
167
Ramon Ragués Variationen zu dem gesamten Strafrechtssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
183
Rudolf Rengier Zur Rolle und Reichweite des Strafrechts bei Katastrophen . . . . . . . . . . . . . . .
199
Wolf-Rüdiger Schenke Die Strafbewehrung rechtswidriger Verwaltungsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
215
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Inhaltsverzeichnis
Friedrich-Christian Schroeder Der Siegeszug der Gefahr im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
247
Lorenz Schulz Rechtstheorie im Strafprozessrecht. Intradisziplinärer Stolper- oder Baustein?
257
Paulo de Sousa Mendes Über die philosophischen Wurzeln der Trennung zwischen Unrecht und Schuld
271
II. Allgemeiner Teil des Strafrechts Manuel Cancio Meliá Zur Funktion der subjektiven Tatseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
293
Armin Engländer Kann die Mitgliedschaft in einem Rockerclub eine Notwehreinschränkung begründen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
319
Patricia Esquinas Valverde „Probabilistischer Kausalbegriff und richterliche Wertungsentscheidung“ . . . .
333
Wolfgang Frisch Strafbarkeit juristischer Personen und Zurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
349
Helmut Frister Der Begriff „Verwirklichung des Tatbestandes“ in § 22 StGB . . . . . . . . . . . . .
375
Enrique Gimbernat Ordeig Strafrechtliche Gleichbehandlung der Mitwirkung an einer Selbstgefährdung und der einverständlichen Fremdgefährdung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
389
Karl Heinz Gössel Überlegungen zu Strafgrund und Wesen des Versuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
403
Andreas Hoyer Die aberratio ictus als Sonder- und Extremfall der Kausalabweichung . . . . . . .
419
Diego-Manuel Luzón Peña Handeln aus Gewissensgründen als Entschuldigungsgrund im Vergleich zur Strafbarkeit der Überzeugungstat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
431
Ricardo Robles Planas Zum Strafunrechtsausschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
439
Inhaltsverzeichnis
11
Imme Roxin Täterschaft und Teilnahme in einem Wirtschaftsunternehmen. Täterschaft kraft Organisationsherrschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
451
Fernando Guanarteme Sánchez Lázaro Eine Dekonstruktion der Erfolgszurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
465
Kurt Schmoller Verwirklichung einer unerlaubten Gefahr bei „Risikoerhöhung“ . . . . . . . . . . .
479
Arndt Sinn Der Kerngehalt des Gesetzlichkeitsprinzips. Ein Beitrag zu den sozialethischen Beschränkungen des Notwehrrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
503
Ulrich Stein Vorsatz bei Gefährlichkeits-, Gefährdungs- und Verletzungsdelikten . . . . . . . .
521
Bettina Weißer Zur Zurechnung von Verletzungserfolgen beim Konsum illegaler Betäubungsmittel. Deutsche Dogmatik und europäische Bekämpfungsstrategien . . .
541
Frank Zieschang Das „potentielle Gefährdungsdelikt“ in der Rechtsprechung des BGH . . . . . . .
557
III. Besonderer Teil des Strafrechts Walter Gropp Rettet die Höflichkeit! Plädoyer für eine Restriktion der Tatbestände der Vorteilsannahme und -gewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
575
Bernd Hecker Die Sicherheitsverantwortung des Bauunternehmers (§ 319 StGB) am Beispiel des Bauprojekts Elbphilharmonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
591
Manfred Heinrich Der Gegenstandsbereich des Medienstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
603
Michael Pawlik Erlaubte aktive Sterbehilfe? Neuere Entwicklungen in der Auslegung von § 216 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
627
Hero Schall Das 45. StÄG: Echte Gesetzesreform oder auftragsgemäße Erledigung? . . . . .
643
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Inhaltsverzeichnis
Carl-Friedrich Stuckenberg Zur Anwendung von § 138 StGB bei nicht ausschließbarer Katalogtatbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
661
Mark A. Zöller Strafbarkeit der Nutzung persönlichkeitsrechtsverletzender Bildaufnahmen in der Medienberichterstattung nach § 201a Abs. 2 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
679
IV. Kriminalpolitik und Sanktionen Heinz Giehring Die Belange der Opfer vorsätzlichen groben Justizunrechts und die Definition und Verfolgung von Rechtsbeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
699
Roland Hefendehl Die innere Sicherheit: Auf der Suche nach der Deutungshoheit . . . . . . . . . . . .
729
Michael Hettinger Künste und Kniffe, Worte und Begriffe, die wohl Manchen staunen machen. Über die Gabe, in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Schrifttum das rechte Wort zur rechten Zeit zu finden, und über zweifelhafte Ergebnisse . . . . . . . . .
747
Hans Hilger Gesetzgebung und GGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
769
Klaus Rolinski „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
777
Torsten Verrel Die normative Kraft des Faktischen. Plädoyer für eine konsequentere empirische Fundierung der Strafzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
799
Jan Zopfs Steter Tropfen höhlt den Stein? – Zur Reform der Fahrverbotsstrafe . . . . . . . .
815
V. Strafverfahrens- und Polizeirecht Rafael Alcácer Guirao Die Abwertung des Rechts auf konfrontative Zeugenbefragung . . . . . . . . . . . .
833
Antonio Cuerda Riezu Die Tatsachenfeststellung bei Straffreistellungsgründen: Beweispflicht der Verteidigung oder des Klägers? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
13
Mark Deiters Präventiv-repressive Befragung und strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
861
Ralf Eschelbach und Klaus Wasserburg Antastung der Menschenwürde im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
877
Hanns W. Feigen und Barbara Livonius Problembereiche der anwaltlichen Schweigepflicht bei der Unternehmensberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
891
Klaus Ferdinand Gärditz Strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrechte im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
909
Björn Gercke Zum Beschlagnahmeschutz anwaltlicher Unterlagen bei unternehmensinternen Ermittlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
933
Christian Jäger Prozessuale Gesamtbetrachtungs- und Kausalüberlegungen als Erosionserscheinungen in einem justizförmigen Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
947
Matthias Jahn Erforschung der Wahrheit mit Hilfe des formlosen Vorhalts? Ein Vorschlag betreffend die Einführung früherer Äußerungen des Angeklagten in die Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
963
Urs Kindhäuser Zur möglichen Beeinträchtigung von Strafverfahren durch Medien . . . . . . . . .
979
Hans Kudlich Die Lehre von der objektiven Zurechnung als Vorbild für die Argumentationslastverteilung bei der Entstehung unselbständiger Beweisverwertungsverbote .
995
Hans-Heiner Kühne Beschuldigtenangaben in vernehmungsähnlichen Situationen . . . . . . . . . . . . . . 1009 Wilfried Küper „Bagatellsachen“. Abwesenheitsverhandlung (§ 232 Abs. 1 S. 1 StPO), Vertretungsbefugnis (§ 234 StPO), Anordnung persönlichen Erscheinens (§ 236 StPO) und Verwerfung der Berufung (§ 329 Abs. 1 S. 1 StPO) . . . . . . . . . . . . . 1019 Dirk Lammer Der Verteidiger im Zeugenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1031
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Inhaltsverzeichnis
Peter Rieß Einige Bemerkungen zur äußeren Struktur von Revisionsentscheidungen des Bundesgerichtshofes – eine Skizze auf empirischer Grundlage . . . . . . . . . . . . . 1041 Claus Roxin Kernbereichsschutz und Straftatermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1057 Ralf P. Schenke Videoüberwachung 2.0 auf dem Prüfstein des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . 1077 Heinz Schöch Persönlichkeitsschutz des Zeugen im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1095 Bernd Schünemann Die Urteilsabsprachen im Strafprozess – ewige Wiederkunft des Gleichen? . . 1107 Jesús-María Silva Sánchez Möglichkeiten und Grenzen bei Widersprüchen zwischen Strafurteilen . . . . . . 1131 Thomas Weigend Das Konfrontationsrecht des Angeklagten – wesentliches Element eines fairen Verfahrens oder Fremdkörper im deutschen Strafprozess? . . . . . . . . . . . . . . . . 1145 Edda Weßlau Heimliche Ermittlungsmaßnahmen, Richtervorbehalt und datenschutzrechtliche Kontrolle – ein Klärungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1167 Wolfgang Wohlers Fernwirkung – zur normativen Begrenzung der sachlichen Reichweite von Verwertungsverboten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1181
VI. Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug Britta Bannenberg Massenmord in Norwegen – Kriminologische Betrachtung des Falles Anders Behring Breivik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1205 Bernd-Rüdeger Sonnen Strafbarkeit, Verfolgbarkeit und Bestrafbarkeit im Jugendstrafrecht . . . . . . . . . 1223 Franz Streng Das Öffentlichkeitsprinzip im Jugendstrafverfahren. Zugleich ein Beitrag zur Altersstufen-Systematik des Jugendgerichtsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1235
Inhaltsverzeichnis
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Bernhard Villmow und Alescha Lara Savinsky Staatliche Opferentschädigung nach der Jahrtausendwende. Statistische Daten, methodische Probleme und einige Anmerkungen zur gegenwärtigen Praxis des OEG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1243 Michael Walter Über konsensorientierte Formen der Kontrolle des Strafvollzugs . . . . . . . . . . . 1271
VII. Ausländisches, Europäisches und Internationales Strafrecht Kai Ambos Rechtsgutsprinzip und harm principle: theoretische Ausgangspunkte zur Bestimmung der Funktion des Völkerstrafrechts. Ein zweiter Beitrag zu einer grundlegenden Theorie des Völkerstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1285 Martin Böse Die Ermittlung der „besten“ Strafgewalt im Spannungsfeld von Strafanwendungsrecht und internationaler Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1311 Robert Esser Initiativen der Europäischen Union zur Harmonisierung der Beschuldigtenrechte. Zugleich eine kritische Analyse der Richtlinie 2012/13/EU zum Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1329 Sabine Gless Das Recht auf Konfrontation eines Auslandsbelastungszeugen. Eine europäische Perspektive aus Karlsruhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1355 Silvia Martínez Cantón Die Strafbarkeit juristischer Personen in Spanien bei Begehung von Übertretungen, erläutert an einem Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1371 Bernd-Dieter Meier Neues aus Europa? Die Opferschutzrichtlinie der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1387 Vincenzo Militello Vorteilsgewährung und Korruption unter Privaten in Italien . . . . . . . . . . . . . . . 1401 Francisco Muñoz Conde Die mittelbare Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate als Instrument der juristischen Aufarbeitung der Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1415 Nuria Pastor Muñoz Herausforderungen bei der Vermögensschadenberechnung im Lichte der Entwicklung des spanischen Vermögens- und Wirtschaftsstrafrechts . . . . . . . . . . . 1447
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Inhaltsverzeichnis
Josef Ruthig Europol als Baustein eines Europäischen Polizeirechts: Gestaltungsmöglichkeiten bei der EuropolVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1469 Schriftenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1495 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1507
I. Grund- und Grenzfragen der Strafrechtswissenschaft
Feindstrafrecht in der Praxis? Der Fall des Rockers von Anhausen Von Volker Erb
I. Einführung Für den verehrten Jubilar bilden die im Grundgesetz und in der Menschenrechtskonvention verbürgten Freiheitsrechte die Grundlage seiner Überlegungen zum System des Strafrechts und des Strafprozessrechts.1 Demgegenüber sind die politischen Tendenzen vielfach leider nicht auf einen Ausbau, sondern auf einen Abbau rechtsstaatlicher Garantien gerichtet. In der Strafrechtswissenschaft findet dieser Umstand seinen wohl intensivsten Widerhall in der Debatte um das „Feindstrafrecht“, also um ein Strafrecht, das diese Garantien im Umgang mit bestimmten Gruppen von Beschuldigten zurücknimmt, um diese als „Feinde“ des Rechts mit maximaler Effizienz „bekämpfen“ zu können.2 Soweit unter Verwendung dieses Begriffs Phänomene des gegenwärtigen inländischen Strafrechts diskutiert werden, geschieht dies (z. T. in problematischer Weise, dazu sogleich) zumeist in Bezug auf zweifelhafte gesetzliche Regelungen. Der Zustand des Rechtsstaats bestimmt sich aber nicht nur nach der abstrakt-generellen Gesetzeslage, sondern auch nach deren Umsetzung durch die Strafrechtspraxis. Deshalb sind „feindstrafrechtliche“ Attitüden in der Praxis der Strafverfolgung für die Freiheitsrechte des Beschuldigten nicht weniger gefährlich als eine entsprechend motivierte Gesetzgebung. Weil solche Einstellungen nicht in öffentlichen Stellungnahmen dokumentiert, sondern allenfalls im Rahmen interner Besprechungen oder in „Kantinengesprächen“ offenbart werden und ihre Auswirkungen auf die getroffenen Entscheidungen unterschwelliger Art sind (was sie u. a. auch für eine kritische Beleuchtung durch die Strafrechtswissenschaft schwer greifbar macht), dürfte vielmehr das Gegenteil der Fall sein. Um das Problem aufzuzeigen, bedarf es einer Analyse von Einzelfällen, die zwar keine quantitative Aussage darüber ermöglicht, wie verbreitet entsprechende Tendenzen sind, aber immerhin aufzeigt, wo 1 Vgl. Wolter, NStZ 1993, 1 ff.; ders., in: Schünemann/Dias (Hrsg.), Bausteine des Europäischen Strafrechts, Coimbra-Symposium für Claus Roxin, 1995, S. 3 ff. 2 Dazu etwa Jakobs, ZStW 97 (1985), 761 ff. (bes. 753, 756 f., 783 f., hier wie die nachfolgend genannten Autoren noch mit eindeutig kritischer Intention); Hendrik Schneider, ZStW 113 (2001), 499 (504 ff.); Hefendehl, StV 2005, 156 f.; Arnold, HRRS 2006, 303 ff.; Hörnle, GA 2006, 80 (82 ff.); Sinn, ZIS 2006, 107 ff.; B. Heinrich, ZStW 121 (2009), 94 ff.; Asholt, ZIS 2011, 180 ff; S. Schick, ZIS 2012, 46 ff.
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Wachsamkeit geboten ist. In diesem Sinne ist der vorliegende Beitrag einem Fall gewidmet, in dem mit Ausnahme der Behandlung durch den BGH auf allen Ebenen, d. h. vom Vorgehen von Staatanwaltschaft und Polizei im Ermittlungsverfahren über das Verfahren vor dem Landgericht bis hin zu den politischen Reaktionen auf die Aufhebung der Verurteilung durch den BGH, eine rechtlich unhaltbare Härte im Vorgehen gegen den Beschuldigten zu verzeichnen war. Diese wirft die Frage auf, ob sich die Strafverfolgungsorgane und diejenigen Innenpolitiker, die sich im Nachhinein lautstark zu Wort gemeldet haben, hier vielleicht weniger am konkreten Verdacht und am gerichtlich festgestellten Tatgeschehen als vielmehr an dem orientierten, was vermeintlich angezeigt war, um einen außerhalb der Bürgergesellschaft stehenden „Feind“ unschädlich zu machen.
II. Zur Verwendung des Begriffs „Feindstrafrecht“ Die Verwendung des Begriffs „Feindstrafrecht“ bedarf einer Rechtfertigung, sind doch nicht nur die Zustände auf Kritik gestoßen, die mit seiner Hilfe beschrieben wurden, sondern auch der Begriff als solcher. Dies gilt nicht nur für seine „legitimatorisch-affirmative“, d. h. die Befürwortung eines entsprechenden Parallelinstituts zum „Bürgerstrafrecht“ implizierende Variante,3 bei der die Kritik allerdings einhellig ausfällt.4 Auch gegen seine Verwendung als „deskriptiver“, entsprechende Phänomene einfach nur benennender, und als „denunziatorisch-kritischer“, diese als rechtsstaatlich untragbar skandalisierender Begriff5 wurden Bedenken erhoben: Für eine reine Beschreibung von Zuständen sei das Wort „Feind“ zu emotionsgeladen, und in seiner kritischen Verwendung sei er zu undifferenziert und zu polarisierend.6 3
In diesem Sinne nunmehr recht deutlich Jakobs, in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, 47 (53); ders., HRRS 2004, 88 (93); ders. ZStW 117 (2005), 839 (846 ff.); gleichwohl weiterhin eine rein analytisch-deskriptive Intention betonend ders., HRRS 2006, 288 (290, 297); vgl. ferner Polaino Navarrete, FS Jakobs, 2007, S. 529 (547 ff.). 4 Vgl. etwa Prittwitz, ZStW 113 (2001), 774 (795); Cancio Meliá, ZStW 117 (2005), 267 (282 ff.); P. A. Albrecht, ZStW 117 (2005), 852 (856); Gössel, FS Schroeder, 2007, S. 33 (38 ff.); Hörnle, GA 2006, 80 (89 ff.); Saliger, JZ 2006, 756 (761 f.); Ambos, in: Vormbaum/ Asholt (Hrsg.), Kritik des Feindstrafrechts, 2009, S. 354 (365 ff.); B. Heinrich, ZStW 121 (2009), 94 (123 ff.); Morguet, Feindstrafrecht – Eine kritische Analyse, 2009, S. 256 ff.; Streng, in: Vormbaum/Asholt (Hrsg.), Kritik des Feindstrafrechts, 2009, S. 181 (197 ff.); NKStGB/Paeffgen, Band 1, 3. Aufl. 2010, Vor §§ 32 ff. Rn. 223, 223a; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, 28. Aufl. 2012, Vorbem. § 13 Rn. 5a. 5 Entsprechende Unterteilung der Verwendungsmöglichkeiten des Begriffs bei Greco, GA 2006, 96 (102 ff.); ders., Feindstrafrecht, 2010, S. 49 ff.; ihm folgend Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 127. 6 Greco, GA 2006, 96 (107 ff., 110 ff.); ders. (Fn. 5), S. 54 ff., 58 ff.; Roxin (Fn. 5), § 2 Rn. 128; ähnlich Kindhäuser, FS Schroeder, 2007, S. 81 (95 ff.); Saliger, JZ 2006, 756 (760 f.).
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1. Diese Kritik ist nicht von der Hand zu weisen, was den inflationären Gebrauch des Begriffs für alle möglichen Institute des geltenden Rechts wie z. B. für sämtliche Vorfeldkriminalisierungen7 betrifft, die in einem real existierenden Rechtsstaat nicht gänzlich verzichtbar sind8 und über deren Grenzen man eine sachliche Diskussion führen muss, statt denjenigen, die solche Institute in einem etwas weiteren Rahmen für notwendig und legitimierbar halten, als es dem eigenen Standpunkt entspricht, durch die Etikettierung ihrer Position als „Feindstrafrecht“ pauschal ein gestörtes Verhältnis zum Rechtsstaat zu unterstellen.9 Es ist auch richtig, dass der Begriff am anderen Ende der Skala kritikwürdiger Phänomene, nämlich bei brutalen Willkürmaßnahmen wie der Internierung und Folterung von „Terrorverdächtigen“, die mit der Ausübung legitimer Strafgewalt schon im Ansatz nichts mehr zu tun haben und bei denen in der Tat eine nachdrückliche Empörung angebracht erscheint, „keinen Gewinn an analytischer Genauigkeit oder kritischer Potenz“ bedeutet.10 Besonders verfehlt und gefährlich ist es m. E., in beiden Zusammenhängen gleichermaßen von „Feindstrafrecht“ zu sprechen, weil hierdurch leicht die verhängnisvolle Assoziation entstehen kann (und zwar unabhängig davon, ob der jeweilige Sprecher dies intendiert oder im Gegenteil auf eine Zurückdrängung der als „feindstrafrechtlich“ gebrandmarkten Institute bedacht ist), wenn „Feindstrafrecht“ etwas sei, das ein praktisch funktionierender Rechtsstaat ohnehin in einem gewissen Umfang benötigt, dann könne es doch nicht so schlimm sein, davon bei Bedarf einen etwas großzügigeren Gebrauch zu machen, bei dem auch die zweite Hälfte der Skala nicht mehr völlig tabu erscheint. 2. Ein legitimer und sachgerechter Anwendungsbereich des Begriffs – und zwar in „deskriptiver“ und zugleich „denunziatorisch-kritischer“ Weise – liegt m. E. aber zwischen diesen beiden Feldern. Hier gibt es nämlich durchaus einen Bereich, in dem sein Gebrauch weder über das Ziel hinausschießt noch lediglich eine unspezifische Empörung über die Missachtung der „grundlegendsten Schranken jeder denkbaren legitimen Ausübung staatlicher Strafgewalt“11 zum Ausdruck bringt: Wo zwar einerseits noch keine Zustände totalitärer Willkür herrschen, der Rahmen dessen, was man äußerstenfalls noch als rechtsstaatlich vertretbar diskutieren kann, aber andererseits offenkundig überschritten ist, indem ein an sich rechtsstaatlich verfasstes Strafrecht unter Verdrängung des Tatschuldprinzips ersichtlich zum „Bekämpfungsinstrument“ mutiert, da erscheint die Bezeichnung als „Feindstrafrecht“ weder als überzogene noch als inhaltslose Etikettierung, sondern als situationsadäquates „pro7 Wie sie ursprünglich den Ausgangspunkt der „feindstrafrechtlichen“ Überlegungen von Jakobs darstellten, vgl. ZStW 97 (1985), 751 ff. 8 Für die Notwendigkeit einer differenzierten Bewertung etlicher von Jakobs als „Feindstrafrecht“ eingestufter Institute bei gleichzeitiger Verwerfung dieser Begrifflichkeit Hörnle, GA 2006, 80 (93 ff.). 9 Entsprechende Kritik an der Begrifflichkeit bei Greco (Fn. 5), S. 59 f. 10 Greco, GA 2006, 96 (113); ders. (Fn. 5), S. 59 f.; vgl. auch Paeffgen, FS Amelung, 2009, S. 81 (95). 11 Greco, GA 2006, 96 (113).
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vokante[s] Ansprechen der fraglichen Entwicklung“.12 Dies gilt auch und gerade dort, wo das Problem nicht auf der Ebene der Gesetzgebung, sondern in der Praxis der Strafverfolgung in Erscheinung tritt, indem diese bei der konkret-individuellen Anwendung der Strafgesetze auf entsprechende Abwege gerät. Damit wären wir bei der Betrachtung unseres Falles angelangt.
III. Der Fall und die Verfahrensgeschichte Bei dem – nicht vorbestraften – Beschuldigten handelte es sich um den für die Disziplin und Ordnung zuständigen „Sergeant at Arms“ im „Charter Bonn“ des Motorrad- und Rockerclubs „Hells Angels“, einer Vereinigung, die immer wieder durch die Beteiligung von Mitgliedern an typischen Delikten der „Organisierten Kriminalität“ und durch gewalttätige, in einigen Fällen bis zur Begehung von Morden reichende Auseinandersetzungen mit Angehörigen rivalisierender Organisationen von sich reden macht. 1. Ein Anfangsverdacht, der nach §§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 1 StPO die Einleitung strafprozessualer Ermittlungen legitimierte, bestand gegen den Beschuldigten zunächst jedoch ausschließlich im Hinblick auf seine Einmischung in einen Streit zwischen Prostituierten, dem folgendes Geschehen zugrunde lag: V., die seit 2006 auf einem Parkplatz in einem Sperrbezirk in einem hierfür angemieteten Wohnmobil der Prostitution nachging, war über die im Jahre 2009 hinzugekommene Konkurrenz durch W., M. und G. verärgert. Sie begegnete den Konkurrentinnen, die ihre Arbeit noch dazu früher am Tag begannen und daher die besseren Standpositionen belegen konnten, deshalb in aggressiver Weise, wobei sie u. a. drohte, „ihren Chef vorbeizuschicken.“ Nach einem entsprechenden Bericht der G., bei der es sich um die „Verlobte“ des T., eines weiteren „Hells Angels“-Mitglieds handelte, beschlossen dieser und der Beschuldigte, V. zu vertreiben. Deshalb traten sie ihr mit „Kutten“ der „Hells Angels“ bekleidet gegenüber, drohten ihr „Ärger“ sowie ein „blaues Wunder“ an und für den Fall weiterer Streitereien mit G. zusätzlich, sie „einen Kopf kürzer“ zu machen. V. behauptete ihren Standplatz allerdings bis zu der einige Wochen später erfolgten behördlichen Durchsetzung der Sperrbezirksverordnung. Zwischendurch berichtete sie der Polizei im Zusammenhang mit einer Kontrolle beiläufig vom Auftritt des Beschuldigten. Dies führte zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens (und am Ende auch zu einer entsprechenden erstinstanzlichen Verurteilung durch das Landgericht Koblenz) wegen versuchter räuberischer Erpressung, zu deren Aufklärung ausweislich S. 24 des landgerichtlichen Urteils u. a. Telefongespräche abgehört und eine (im Ergebnis verhängnisvolle) Durchsuchung des Wohnhauses des Angeklagten angeordnet wurden. Die Ermittlungen brachten offenbar weitere Vorfälle ans Licht, bei denen der Angeklagte Dritte durch bedrohliches Auftreten zu Zahlungen veranlasst oder dies versucht hat. Der auch hier zunächst erhobene Vorwurf der 12
Im letztgenannten Sinn zutr. Streng (Fn. 4), S. 181 (184).
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vollendeten oder versuchten räuberischen Erpressung erwies sich aber wiederum durchweg als unbegründet, weil der Angeklagte jeweils zumindest subjektiv davon ausging, dass den Zahlungsempfängern ein entsprechender fälliger und einredefreier Anspruch zustand.13 2. Zur Ausführung der Durchsuchung, die zeitgleich mit Durchsuchungen bei neun weiteren „Hells Angels“-Mitgliedern erfolgen sollte, beschloss das Landeskriminalamt im Hinblick auf eine befürchtete Gewaltbereitschaft und den – legalen – Waffenbesitz des Beschuldigten den Einsatz eines Spezialeinsatzkommandos (SEK). Dieses sollte um sechs Uhr früh heimlich in das Haus des Beschuldigten eindringen, diesen im Schlaf überraschen und überwältigen (im Polizeijargon „Herstellung einer stabilen Lage“ genannt) und sodann mit der Durchsuchung beginnen. Die Verlobte des Beschuldigten weckte diesen jedoch, als sie die mit dem Aufbrechen der Haustür verbundenen Geräusche hörte. Vom Schlafzimmerfester im Obergeschoß aus konnte er nichts erkennen, nahm aber Stimmen und Geräusche an der Haustür wahr. Unglücklicherweise hatte der Beschuldigte wenige Tage zuvor glaubhafte Hinweise auf einen bevorstehenden Mordanschlag durch Mitglieder des rivalisierenden Rockerclubs „Bandidos“ erhalten und befürchtete deshalb, dass ein bewaffnetes Killerkommando versuchte, in sein Haus einzudringen. Er lud seine Sportpistole der Marke „Les Baer“14 im Kaliber .45 ACP mit acht Patronen, schaltete in Flur und Treppenhaus das Licht ein und ging die Treppe hinab, wobei er bemerkte, dass an der Tür trotz des eingeschalteten Lichts weiter gearbeitet wurde. Hierdurch sah er sich in der Annahme bestätigt, bewaffneten Angreifern gegenüberzustehen, die zu allem entschlossen waren und ihn und seine Verlobte umbringen wollten. Er blieb am Treppenabsatz stehen und rief: „Verpisst euch!“ Als auch danach noch weiter an der Tür bzw. an deren letzter verbliebener Verankerung gearbeitet wurde und 13
So zunächst in einem Fall, in dem ihn insofern schon das Landgericht nur wegen Nötigung verurteilte, sodann in dem Fall, in dem der BGH den (auf § 24 StGB gestützten) erstinstanzlichen Freispruch aufhob und die Sache insoweit zurückverwies (BGH, Urt. v. 2. 11. 2011 – 2 StR 375/11, in den veröffentlichten Fassungen der Entscheidung nicht mit abgedruckt), und in einem weiteren, nachträglich bekannt gewordenen Fall in der abschließenden Entscheidung des Landgerichts Koblenz vom 14. 6. 2012 (vgl. http://www.rhein-zeitung.de/ region/neuwied_artikel,-Anhausen-Hells-Angel-zu-einem-Jahr-Haft-verurteilt-_arid,439276. html, abgerufen am 23. 8. 2012). 14 Bei dieser handelt es sich übrigens um eine speziell für die Bedürfnisse des sportlichen Schießens ausgelegte Pistole, aus der man zwar (wie aus jeder groß- oder selbst kleinkalibrigen Schusswaffe) tödliche Schüsse abgeben kann, die jedoch aufgrund ihres hohen Gewichts, ihrer unhandlichen Größe und des fehlenden Spannabzugs für Auseinandersetzungen innerhalb der kriminellen Szene in Clubheimen, Bordellen oder an ähnlichen Orten im Vergleich zu anderen Waffenmodellen (und zwar auch solchen, deren legaler Erwerb einem Sportschützen in gleicher Weise offen stünde) keine gute Wahl wäre. Diese Tatsache und der Umstand, dass es speziell für einen „Hells Angel“ im Übrigen wohl ein Leichtes wäre, sich eine geeignete Waffe auf dem Schwarzmarkt zu beschaffen (was für ihn bei Vorliegen einer kriminellen Intention den Vorteil hätte, dass keine behördliche Registrierung vorläge, über die man im Falle einer kriminellen Verwendung eine Spur zu ihm zurückverfolgen könnte), sprechen entschieden dagegen, dass sich der Beschuldigte unter dem Deckmantel des Schießsports für den „Bandenkrieg“ ausrüsten wollte, wie ihm immer wieder unterstellt wurde.
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er befürchtete, er könne „alsbald durch die Tür oder sofort nach dem unmittelbar drohenden Aufbrechen der Tür von den vermeintlichen Angreifern beschossen werden“, gab er „zu seiner Verteidigung zwei Schüsse auf die Tür ab, die der Bewegung der Person folgten, die sich [in ihren Umrissen durch zwei Ornamentgläser erkennbar] an der Tür zu schaffen machte und die sich gerade aus gebückter Position aufrichtete.“15 Einer der Schüsse traf den Polizeibeamten, um den es sich bei der an der Tür arbeitenden Person handelte, tödlich. Erst jetzt gab sich das SEK zu erkennen, indem ein anderer Beamter rief: „Sofort aufhören zu schießen. Hier ist die Polizei.“ Der Beschuldigte ergab sich, wobei er rief: „Wie könnt ihr so was machen? Warum habt ihr nicht geklingelt? Wieso gebt ihr euch nicht zu erkennen?“ Bei der nachfolgenden Festnahme erlitt er nach den im landgerichtlichen Urteil auf S. 32 f. getroffenen Feststellungen trotz seines in jeder Hinsicht kooperativen Verhaltens „ein blaues Auge sowie ein kleines Hämatom an seinem Geschlechtsteil“ (!), als er – mit erhobenen Händen vor ihnen stehend und zugleich von mehreren anderen Beamten mit Waffen bedroht – von zwei Beamten gefesselt und „zu Boden gebracht“ wurde. 3. Obwohl sich in Anbetracht dieser Umstände eigentlich schon am Ort des Geschehens die Vermutung aufdrängen musste, dass die Abgabe der Schüsse durch ein furchtbares Missverständnis des vermeintlich einem Angriff auf sein Leben ausgesetzten Beschuldigten bedingt war, wurde über die Medien zunächst die Version eines zur Verdeckung einer anderen Straftat begangenen Mordes verbreitet.16 Auch die Anklage lautete noch auf Mord, wobei die Ausführungen des Landgerichts auf S. 47 f. und S. 60 des Urteils darauf schließen lassen, dass man dem Beschuldigten – in Ermangelung tragfähiger Anhaltspunkte in dieser Richtung anscheinend ins Blaue hinein – unterstellte, er habe den Schüssen durch die Tür nur deshalb keinen Warnschuss vorgeschaltet, weil er die Gelegenheit nutzen wollte, unter dem Deckmantel der Selbstverteidigung an einem der Einbrecher ein tödliches Exempel zu statuieren (wobei die Einstufung eines solchen Motivs als „niedriger Beweggrund“ bei einer Tat, die nicht als nachträgliche Rache, sondern während der Konfrontation mit dem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff begangen wird, schon für sich genommen fragwürdig erscheint). Nachdem sich dieser Vorwurf nicht aufrechterhalten ließ, verurteilte das Landgericht Koblenz den Beschuldigten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und neun Monaten, die unter Einbeziehung der für die vermeintliche versuchte räuberische Erpressung und eine Nötigung (s. o. 1.) verhängten Strafen (sechs Monate Freiheitsstrafe bzw. 30 Tagessätze Geldstrafe) zu einer Gesamtstrafe in Höhe von neun Jahren Freiheitsstrafe führte. Eine Entschuldigung des Tötungsdelikts wegen Putativnotwehr gegen den nach ihrer Ansicht rechtmäßigen, aber irrtümlich für einen Mordanschlag eines Killertrupps der „Bandidos“ gehaltenen Polizeieinsatz lehnte die Kammer mit der Begründung ab, die sofortige Abgabe der Schüsse auf die Person sei nicht „erforderlich“ i. S. von 15
So die Sachverhaltsschilderung im Urteil des BGH v. 2. 11. 2011 – 2 StR 375/11, JR 2012, 104 ff. = NStZ 2012, 272 ff. = StV 2012, 332 ff. 16 Vgl. http://www.spiegel.de/panorama/justiz/rheinland-pfalz-hells-angel-erschiesst-sek-be amten-a-684107.html, abgerufen am 23. 8. 2012.
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§ 32 StGB gewesen, weil der Beschuldigte zunächst noch einen Warnschuss hätte abgeben können und müssen. 4. Der BGH hob die Verurteilung wegen Totschlags auf und sprach den Beschuldigten insoweit unmittelbar frei, weil dieser in der – entsprechend den Feststellungen des Landgerichts – extrem zugespitzten Situation aus seiner Perspektive jeden Moment mit dem Eindringen einer bewaffneten Übermacht von Killern oder einem Gegenbeschuss durch die Tür rechnen musste, so dass die Zwischenschaltung eines Warnschusses für ihn mit unkalkulierbaren Risiken verbunden gewesen wäre.17 Außerdem änderte er den Schuldspruch hinsichtlich des Vorfalls mit der Prostituierten unter Aufhebung des betreffenden Strafausspruchs in versuchte Nötigung. Die Revision der Staatsanwaltschaft war nur insoweit erfolgreich, als das Landgericht bei einem von ihm angenommenen Rücktritt vom Versuch, durch Drohungen eine Zahlung zu erwirken, die Möglichkeit eines vorherigen Fehlschlags des Versuchs nicht beachtet hat. Soweit die Staatsanwaltschaft das Strafmaß in den beiden Fällen der vollendeten und versuchten (vom Landgericht noch als versuchte räuberische Er17
BGH JR 2012, 204 (206) = NStZ 2012, 273 f. = StV 2012, 332 (334). Zur Richtigkeit der Entscheidung im Einzelnen Erb, JR 2012, 207 ff.; für die Erforderlichkeit der sofortigen gezielten Schussabgabe durch die Tür unter solchen Umständen auch Engländer, NStZ 2012, 274 ff.; Hecker, JuS 2012, 263 (266); Mandla, StV 2012, 334 (337); van Rienen, ZIS 2012, 377 (380 ff.); Rotsch, ZJS 2012, 109 (115). Dem Einwand von Jäger, JA 2012, 227 (229 f.), wonach der Senat gehalten gewesen wäre, sich mit der Frage einer Einschränkung des Notwehrrechts auseinanderzusetzen, weil der Beschuldigte die Gefahr durch seine Mitgliedschaft bei den „Hells Angels“ selbst heraufbeschworen habe, ist zu widersprechen: Eine „Notwehrprovokation“ i. S. der anerkannten sozialethischen Einschränkungen des Notwehrrechts lag nicht einmal ansatzweise vor, weil der Beschuldigte den vermeintlichen Angriff der „Bandidos“ durch sein eigenes Verhalten in keiner Weise herausgefordert hatte (nach den landgerichtlichen Feststellungen war er offenbar im Gegenteil um eine Deeskalation des Konflikts zwischen den rivalisierenden Organisationen bemüht). Ein nur durch die allgemeine, für sich genommen strafrechtlich irrelevante (!) Lebensführung erhöhtes Risiko, Opfer von rechtswidrigen Angriffen zu werden, kann demgegenüber schwerlich eine Legitimation dafür bilden (und wurde als solche auch noch niemals diskutiert), dem Betroffenen die Pflicht aufzuerlegen, im Angesicht eines solchen Angriffs zur Schonung der Angreifer unkalkulierbare Risiken für Leib und Leben auf sich zu nehmen. Entgegen Burchard, HRRS 2012, 421 (449 ff.) kommt eine notwehrrechtliche Diskriminierung „Krimineller“ auch nicht dergestalt in Betracht, dass man diesen eine besondere Obliegenheit auferlegt, einen vorhersehbaren Angriff aus dem kriminellen Kontext, in den sie verstrickt sind, durch Inanspruchnahme polizeilicher Hilfe zu vermeiden. Nach welchen Kriterien jene Verstrickung in rechtsstaatlich einwandfreier Form bestimmt werden sollte (bei einem nicht vorbestraften Mitglied eines nicht verbotenen Vereins, das zuvor lediglich in völlig anderen Zusammenhängen drei Nötigungen begangen hatte und an bandenkriegsmäßigen Aktivitäten gerade nicht beteiligt war!) ist hier nämlich ebenso unklar wie die Frage, wie der Angeklagte imstande gewesen sein sollte, letzteres zu tun: Dass ein „Hells Angel“ vorbeugenden Polizeischutz erhielte, weil er einen Racheakt von „Bandidos“ befürchtet, dürfte ebenso auszuschließen sein (es sei denn, er würde sich mit – echtem oder angeblichem – Wissen über Straftaten als Kronzeuge andienen) wie das rechtzeitige Eintreffen der Polizei in einem abgelegenen Dorf im Westerwald, wenn sie während des gewaltsamen Eindringens der Angreifer verständigt wird! Gegen das Vorliegen eines Ansatzpunkts für eine „sozialethische Einschränkung“ des Notwehrrechts im vorliegenden Fall zutr. van Rienen, ZIS 2012, 377 (382 f.).
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pressung eingestuften) Nötigung beanstandete, weil das Landgericht angeblich die rechtsfeindliche Gesinnung des Beschuldigten, der wiederholt zur „Selbstjustiz“ gegriffen hätte, übersehen habe, und weil im zweiten Fall nicht unter generalpräventiven Aspekten strafschärfend erörtert wurde, dass der Gesetzgeber Prostituierten mehr Freiheit bei der Berufsausübung zubilligen wollte, wurde die Revision als unbegründet verworfen. 5. Der Freispruch des Angeklagten vom Vorwurf des Totschlags löste bei Zeitungskommentatoren, Vertretern der Polizeigewerkschaften und Politikern einen Sturm der Entrüstung aus, in der sich z. B. der rheinland-pfälzische Innenminister öffentlich zu der Äußerung hinreißen ließ, er könne das Urteil des BGH nur „mit absolutem Unverständnis hinnehmen“, es ermuntere „Schwerstkriminelle in ihrem asozialen Tun.“18 Ein offener Brief, in dem der Verfasser und einer seiner Fakultätskollegen diese Form des Umgangs eines Vertreters der Exekutive mit dem höchsten Ordentlichen Gericht in Deutschland kritisiert haben, blieb unbeantwortet.
IV. Kritik an der Behandlung des Falles Die Liste der Gesichtspunkte, die in diesem Fall jeweils entweder auf gravierende Defizite in den Rechtskenntnissen oder auf rechtsstaatlich bedenkliche Attitüden beteiligter Akteure schließen lassen, ist lang. 1. Hier ist zunächst die – im Ermittlungsverfahrens wohl originär durch staatsanwaltliche Überlegungen begründete, dann freilich durch das landgerichtliche Urteil perpetuierte und erst vom BGH korrigierte – Subsumtion des Vorfalls mit der Prostituierten unter §§ 253, 255 StGB zu nennen. Die Anwendung dieser Vorschriften ist nämlich nicht nur gleich in doppelter Hinsicht fehlerhaft (zum einen, weil ein „Standplatz“ zur verbotenen Ausübung der Prostitution im Sperrbezirk u. a. auf der Grundlage des vom BGH in ständiger Rechtsprechung vertretenen Vermögensbegriffs keine durch § 253 StGB geschützte Vermögensposition darstellt, zum anderen, weil ein evtl. erstrebter Vermögensvorteil der Konkurrentin kein dem Verlust des Standplatzes „stoffgleiches“ Äquivalent bildet).19 Sie erscheint vielmehr auch deshalb überraschend, weil die Konstellation ja in keiner Weise dem typischen Erscheinungsbild einer Erpressung entspricht und die Gefahr, bei einer oberflächlichen Strafbarkeitsprüfung unbedarft in die Anwendung des Tatbestands „hineinzustolpern“, deshalb eher gering sein dürfte. Andernfalls wäre zu erwarten, dass es auch dort, wo Prostituierte untereinander versuchen, ihren Standplatz durch bedrohliches Gehabe von lästiger Konkurrenz freizuhalten (also z. B. im Falle der vom Angeklagten bedrohten V., deren vorangegangene Ankündigung gegenüber der G., „ihren Chef vorbeizuschicken“, nach dem Kontext ebenfalls nur als massive Drohung verstanden werden kann), regelmäßig zur Durchführung von Strafverfahren wegen versuchter 18 19
Vgl. etwa FAZ vom 5. 11. 2011, S. 4. Näher zu beiden Aspekten Erb, JR 2012, 207.
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und ggf. auch vollendeter (räuberischer) Erpressung kommt. Wenn Letzteres trotz der Alltäglichkeit solcher Auftritte ersichtlich noch nie passiert ist, aber gerade gegenüber dem Angeklagten ein solcher Tatvorwurf erhoben wurde, drängt sich deshalb folgende Frage auf: Hat sich jemand bei der materiellrechtlichen Prüfung des Tatverdachts vielleicht – unbewusst20 – durch das Bestreben leiten lassen, um jeden Preis zur Anwendung einer Strafvorschrift zu gelangen, die über § 100a Abs. 2 Nr. 1k StPO eingriffsintensive, bei dem Mitglied einer dem Dunstkreis der „Organisierten Kriminalität“ zugeordneten Vereinigung aus Ermittlerperspektive aber immer „interessante“ strafprozessuale Maßnahmen eröffnet? Selbst wenn dieser Aspekt tatsächlich keine Rolle gespielt haben und die Fehlerhäufung an dieser Stelle reiner Zufall gewesen sein sollte, offenbart der vorliegende Fall hier ein Problem, das bei der Diskussion von Maßnahmen, die aufgrund ihrer Eingriffsintensität auf die Verfolgung bestimmter Katalogtaten beschränkt sind, bislang wohl zu kurz gekommen ist: Was ist eine solche Beschränkung in der Praxis wert, wenn sie so einfach durch einen – gleichwohl zur Anordnung der Maßnahme führenden – dilettantischen (im Extremfall aber auch durch einen „kreativen“) Umgang mit den Vorschriften des materiellen Strafrechts im Ermittlungsverfahren unterlaufen werden kann? 2. Eine weitere kritische Frage lautet: Wenn das Verhalten, das man dem Beschuldigten zunächst ausschließlich zur Last legte, darin bestand, gegenüber der Prostituierten V. auf dem Parkplatz verbale Drohungen geäußert zu haben, damit sie im Streit mit einer Konkurrentin das Feld räumt, was sollte dann die von § 102 StPO vorausgesetzte Vermutung begründen, bei der Durchsuchung Beweismittel für diese Tat21 zu finden? Weil dabei kein spezifisches Tatwerkzeug verwendet (abgesehen vom Tragen der als Erkennungszeichen der „Hells Angels“ dienenden „Kutte“, deren Besitz durch den Beschuldigten aber ohnehin außer Frage stand), keine Tatbeute erlangt und kein Tatprodukt hervorgebracht wurde, kämen als entsprechende Beweismittel nämlich nur schriftliche Korrespondenz oder sonstige persönliche Aufzeichnungen in Betracht, in denen die Tat erwähnt wird. Die Vorstellung, dass der Beschuldigte seine Aktivitäten auf dem Parkplatz zur Einschüchterung der V. vorher oder hinterher mit einem anderen schriftlich diskutiert oder darüber für seine Unterlagen quasi einen Aktenvermerk angelegt haben könnte, erscheint unter den gegebenen Umständen aber doch wohl völlig fernliegend. Haben die zuständigen Strafverfolger trotzdem deshalb eine so aufwendige Durchsuchungsaktion betrieben, um solche Unterlagen zu finden? Oder diente der bestehende Tatverdacht vielleicht mehr als willkommener Anlass, die Chance einer evtl. reichen Ernte von „Zufallsfunden“ wahr-
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Eine vorsätzliche falsche Rechtsanwendung soll damit keinesfalls unterstellt werden. Zur Beschränkung des zulässigen Rahmens einer Durchsuchung durch die Grenzen des bestehenden Anfangsverdachts Schäfer, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., Stand 1. 10. 2003, § 102 Rn. 5. 21
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zunehmen – die dann freilich keine Zufallsfunde i. S. von § 108 Abs. 1 StPO, sondern das Ergebnis einer rechtswidrigen Ausforschung22 wären? 3. Zur Rechtswidrigkeit eines Polizeieinsatzes, bei dem die Einsatzkräfte zur Vornahme einer strafprozessualen Durchsuchung heimlich in die Wohnung des Beschuldigten eindringen, um diesen im Rahmen eines regelrechten Überfalls im Schlaf aus dem Bett zu zerren, ohne dass er eine Möglichkeit hätte, sich zu erklären, wurde bereits anderweitig eingehend Stellung genommen.23 Nun ist ein solches Vorgehen kein Spezifikum des vorliegenden Falles, sondern anscheinend bundesweit verbreiteter Alltag in der Tätigkeit von Spezialeinsatzkommandos,24 wobei sich die Polizei gelegentlich auch einmal in der Tür irrt, was dann als „Kollateralschaden“ die schwere Traumatisierung Unbeteiligter, ggf. verbunden mit der Erschießung ihrer Hunde, zur Folge hat.25 Eine Besonderheit des vorliegenden Falles ist indessen der fatale Ausgang, der durch das Zusammentreffen eines bislang vernachlässigten, sich aber gleichwohl aufdrängenden Risikos derartiger Einsätze (nämlich der Auslösung eines Irrtums des Betroffenen, einem kriminellen Überfall ausgesetzt zu sein) mit dem ebenso unverständlichen wie verheerenden Fehler der Beamten bedingt war, nach Wahrnehmung von Licht im Treppenhaus ihren Einsatz nicht sofort offen zu legen, sondern unbeirrt mit dem Aufbrechen der Tür fortzufahren, obwohl es nunmehr erkennbar unmöglich war, den Beschuldigten wie geplant im Schlaf zu überraschen. Unter rechtsstaatlichen Aspekten erschreckend ist dabei weniger, dass es zu einem solchen Fehler kam (wo Menschen am Werk sind, zumal unter Stressbedingungen, passieren nun einmal – bei einem Polizeieinsatz leider sehr schnell auch tödliche – Fehler), als vielmehr die Art und Weise, wie Repräsentanten der Polizei damit im Nachhinein umgegangen sind: Wenn die Polizeiführung schon nicht den Mut auf22
Vgl. Schäfer, in: Löwe-Rosenberg, StPO, § 108 Rn. 9; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. 2012, § 108 Rn. 1. 23 Dazu Erb, JR 2012, 207 (208 ff.); zu bemängeln ist dabei sowohl das Fehlen einer einschlägigen Ermächtigungsgrundlage als auch die grobe Unverhältnismäßigkeit eines solchen Einsatzes zur Gewinnung von Beweismitteln in einem Routine-Strafverfahren. 24 Dabei ist die weite Verbreitung entsprechender Methoden selbstverständlich nicht geeignet, die Schwere des Rechtsverstoßes zu relativieren, sondern lässt den Befund im Gegenteil umso gravierender erscheinen. Dass die Dauer und Regelmäßigkeit eines rechtswidrigen brutalen Vorgehens bei der strafprozessualen Beweisgewinnung und die Annahme von Sicherheitsexperten, dieses sei aus – angeblicher – „ermittlungstaktische Notwendigkeit“ legitim und normal, nicht vor einem bösen juristischen Erwachen schützt, hat die durch EGMR NJW 2006, 3117 ff. (zu Recht und im Rückblick wenig überraschend) erfolgte Einstufung der zwangsweisen Brechmittelverabreichung an mutmaßliche Drogenkuriere als Verstoß gegen Art. 3 EMRK gezeigt, näher dazu Gaede, HRRS 2006, 241 ff. 25 Beispiele unter http://www.rhein-zeitung.de/regionales_artikel,-Hoppla-Maskierte-Poli zisten-stuermen-falsche-Wohnung-_arid,334591.html; http://www.sz-online.de/nachrichten/arti kel.asp?id=2938015; http://www.dnn-online.de/web/dnn/nachrichten/detail/-/specific/700-NR_ DNN_10353; http://www.wz-newsline.de/lokales/wuppertal/wuppertaler-drogenfahnder-stuer men-in-solingen-die-falsche-wohnung-1.572603; http://www.kn-online.de/Lokales/Kiel/Polizei einsatz-traf-den-Falschen; http://www.rp-online.de/gesellschaft/leute/in-der-tuer-geirrt-sek-stu ermt-falsche-wohnung-1.1612010; alle Artikel zuletzt abgerufen am 23. 8. 2012.
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bringt, einen offenkundigen Fehler einzugestehen und sich einer öffentlichen Diskussion um den Sinn und die Legitimität solcher Einsätze zu stellen, dann sollte man sich auf Polizeiseite doch wenigstens insgesamt bedeckt halten und die durch das Versagen der Polizei veranlasste irrtumsbedingte Abgabe der Schüsse auf einen Beamten schweigend als tragischen Unfall verbuchen. Dass stattdessen der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in die Offensive geht und dem BGH öffentlich vorwirft, er trage die Schuld, wenn „Schwerstkriminelle“ infolge des Urteils meinten, „sie dürften durch Türen schießen, wenn die Polizei sie festnehmen will“,26 lässt leider auf ein undifferenziertes Freund-Feind-Denken schließen, in dem für eine objektive und differenzierte Betrachtung von Recht, Unrecht und Schuld im Einzelfall kein Raum ist. 4. Nähere Betrachtung verdient weiterhin der in den Urteilen von Landgericht und BGH eher beiläufig erwähnte, bislang offenbar ohne rechtliche Konsequenzen gebliebene27 Umstand, dass der Beschuldigte bei seiner Festnahme verletzt wurde. Wenn das entsprechend den landgerichtlichen Feststellungen in einer Situation geschah, in der der Beschuldigte seine Waffe weggelegt und sich ergeben hatte, mit erhobenen Händen dastand und von mehreren anderen Polizisten mit Waffen bedroht wurde, dann kann man von den beiden Polizisten, die ihn zur Herstellung der Abführbereitschaft fesselten, als speziell geschulten SEK-Beamten erwarten, dass sie hierzu in der Lage sind, ohne dem Beschuldigten Verletzungen zuzufügen. Insbesondere ist keine Notwendigkeit ersichtlich, ihn gewaltsam „zu Boden zu bringen“, weil man einen in jeder Hinsicht kooperativen Beschuldigten ja ebenso gut auffordern kann, sich selbst so hinzulegen, dass man ihn ohne Eigengefährdung fesseln und durchsuchen kann. Dass der Beschuldigte gleichwohl ein blaues Auges und ein Hämatom am Geschlechtsteil, also Verletzungen gleich an zwei besonders empfindlichen Körperstellen erlitten hat, lässt vor diesem Hintergrund nur einen Schluss zu, nämlich denjenigen auf eine rechtswidrige Körperverletzung im Amt nach § 340 Abs. 1 (evtl. auch Abs. 3 i. V. m. § 224 Abs. 1 Nr. 4) StGB. Dabei bilden weder die Erregung der Beamten über das vorangegangene Geschehen noch die nur leichten Verletzungen des Beschuldigten einen Anlass, einer solchen Straftat mit Nachsicht zu begegnen: Was erstere betrifft, so muss man von den für Extremsituationen ausgebildeten SEK-Beamten verlangen, dass sie auch nach einem traumatischen Einsatzerlebnis noch genügend Selbstkontrolle aufbringen, um sich nicht an einem Wehrlosen zu vergreifen. Gerade im Hinblick darauf, dass die Staatsanwaltschaft Koblenz dem Aspekt der „Selbstjustiz“ im Falle des Beschuldigten ausweislich ihrer Revisionsbegründung offenbar so große Bedeutung beimisst, wäre sie gut beraten, auch dem Ver26
Allgemeine Zeitung Mainz vom 4. 11. 2011, S. 1. Der Verfasser hat die in der JR 2012, 207 ff. veröffentlichte Entscheidungsbesprechung, in deren letzten Absatz auf S. 210 er den aus den Entscheidungsgründen des landgerichtlichen Urteils folgenden Tatverdacht einer Körperverletzung im Amt bereits ausgeführt und an § 152 Abs. 2 StPO erinnert hat, Mitte Mai 2012 unter besonderem Hinweis auf eben diesen Absatz dem stellvertretenden Behördenleiter der Staatsanwaltschaft Koblenz übersandt, ohne bis zur Fahnenkorrektur des vorliegenden Beitrags (7. 2. 2013) eine Antwort zu erhalten. 27
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dacht einer gewalttätigen Revanche durch Polizeibeamte besondere Beachtung zu schenken. Die geringe Schwere der Verletzungen schließlich darf zum einen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Misshandlungen Wehrloser durch Sicherheitskräfte auch bei geringen Folgen rechtsstaatlich unerträglich sind. Zum anderen sind bei der Bewertung der Schwere einer solchen Tat nicht nur die tatsächlich eingetretenen Verletzungen in Rechnung zu stellen, sondern auch das durch den Übergriff (ob unbewusst oder gezielt, sei dahingestellt) geschaffene Eskalationspotential, das unter den gegebenen Umständen immens war: Über welches beachtliche Maß an Selbstbeherrschung muss der Beschuldigte verfügt haben, um auf den vermutlich ebenso subtilen wie schmerzhaften Gewalteinsatz gegen seine Augen und seine Genitalien nicht reflexartig mit Abwehrbewegungen zu reagieren, die man dann (ungeachtet ihrer objektiven Rechtmäßigkeit nach § 32 StGB) problemlos als rechtswidrigen Angriff auf die Beamten und als Legitimation dafür hätte vorschieben können, ihn nunmehr brutal zusammenzuschlagen (und ihn überdies noch mit einer unberechtigten Strafverfolgung wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte zu überziehen)? Vor diesem Hintergrund muss man die Frage stellen, welches generalpräventive Signal die Justiz setzt, wenn sie den dringenden Verdacht, dass sich Polizeibeamte dazu hinreißen ließen, einem „Bösen“ unauffällig „eins mitzugeben“, nicht ernst nimmt – und das im Lichte der Trotz- und Wagenburgmentalität, die in den polizeiseitigen Reaktionen auf die Entscheidung BGH zum Ausdruck kam. 5. Auf gravierende Bedenken stößt schließlich auch das weitere Vorgehen der Justiz: Neben der bereits erwähnten fragwürdigen Mordanklage (s. o. II.3.), die vor Gericht in sich zusammenfiel, hat auch die Behandlung der Schüsse durch das Gericht eine kritische Betrachtung verdient. a) Damit ist nicht die unreflektierte Bejahung der Rechtmäßigkeit des Polizeieinsatzes gemeint, die man einem Landgericht vor dem Hintergrund einer allgemeinen Praxis dieser Art nicht verübeln kann. Auch was die Verneinung der (putativ-)notwehrrechtlichen Erforderlichkeit der ohne vorherigen Warnschuss abgegebenen Schüsse durch die Tür betrifft, ist die Entscheidung zwar im Ergebnis unrichtig, aber immerhin nicht durch abwegige Unterstellungen geprägt, wie sie in tatrichterlichen Urteilen in Bezug auf angeblich sichere mildere Verteidigungsmöglichkeiten eines Notwehrtäters manchmal leider zu verzeichnen sind.28 Insofern muss man dem Landgericht Koblenz im Gegenteil sogar zugute halten, dass es die Situation, in der sich der Beschuldigte befand, nicht in einer verharmlosenden Weise beschrieb, die ihr die Dramatik genommen und der Verneinung der „Erforderlichkeit“ des tödlichen Schusses damit eine verzerrte, aber evtl. „revisionssichere“ Grundlage gegeben hätte. Stattdessen rekurrierte das Landgericht nach eingehender Schilderung der nahe liegenden Erwartung eines Mordanschlags (S. 22 ff. des Urteils) und eines Geschehensablaufs, bei dem das jeden Moment bevorstehende Aufbrechen der Tür ebenso deutlich zu erkennen war wie die Anscheinsgefahr eines Gegenbeschusses von außen durch die Tür hindurch (S. 28 f.), bei der rechtlichen Würdigung ganz freimütig dar28
Nachweise bei Erb, in: MüKoStGB, Band 1, 2. Aufl. 2011, § 32 Rn. 170 Fn. 440, 442.
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auf, dass der Beschuldigte „nicht mit Sicherheit [wusste], wer sich vor seiner Tür befand, um wie viele Angreifer es sich handelte, was diese tatsächlich planten und ob diese bewaffnet waren“ (S. 63). Dabei übersah die Kammer freilich, dass die Hervorhebung dieser „völlig diffusen und unklaren Lage“ vor dem Hintergrund eines erwarteten Angriffs eines Killerkommandos letzten Endes nicht gegen, sondern für die Erforderlichkeit eines sofortigen lebensgefährlichen Schusswaffeneinsatzes sprach, und dass sie dem BGH durch die entsprechenden Feststellungen insofern die Grundlage für einen unmittelbaren Freispruch nach § 354 Abs. 1, 1. Fall StPO lieferte. b) Ein grober Missgriff ist dem Landgericht jedoch im Rahmen der Strafzumessung unterlaufen: Selbst wenn der Beschuldigte durch die unterlassene Vorschaltung eines Warnschusses die Grenzen der (vermeintlich) erforderlichen Verteidigung überschritten hätte, wäre ein solches angstgeprägtes29 „Sekundenversagen“ bei der Abwehr des Angriffs eines Killerkommandos doch wohl milder zu bewerten als nahezu jeder andere denkbare Anlass einer vorsätzlich-rechtswidrigen Tötung eines Menschen. Von daher hätte sich die Anwendung von § 213 mit der Verhängung einer im unteren Bereich von dessen Strafrahmen angesiedelten Strafe förmlich aufgedrängt.30 Diesem zentralen Strafmilderungsgrund (neben dem in den Urteilsgründen zugunsten des Angeklagten noch die bei der Festnahme erlittene Verletzung angeführt wurde) hatte das Gericht als strafschärfende Erwägung lediglich den Umstand entgegenzusetzen, „dass der Angeklagte zwei Schüsse abgab, die beide potentiell tödlich waren. Er schoss aus einer verdeckten Position auf eine unbekannte Gestalt, ohne diese tatsächlich identifiziert zu haben oder deren genaue Absicht zu kennen“ (S. 68 des Urteils). Damit hat das Gericht in der Sache aber nur diejenigen Gesichtspunkte mit anderen Worten neu formuliert, die es zuvor bereits zur Begründung der angeblichen Putativnotwehrüberschreitung und damit der Strafbarkeit als solcher verwendet hatte – ein klarer Verstoß gegen das (entgegen dem Gesetzeswortlaut nicht nur für Tatbestandsmerkmale geltende31) Doppelverwertungsverbot nach § 46 Abs. 3 StGB. Alles in allem ist nicht nachvollziehbar, wie man vor dem Hintergrund der besonderen Tatsituation zur Annahme eines inmitten des Normalstrafrah29 Selbst wenn die Voraussetzungen von § 33 StGB nicht vorgelegen haben sollten, was vom Landgericht auf S. 64 des Urteils nur unzulänglich ausgeführt wurde: Wenn die Vorschrift als solche beim Putativnotwehrexzess nach der Rspr. keine Anwendung findet (vgl. BGH NJW 1962, 308 [309]; BGH NJW 1968, 1885; BGH NStZ 1983, 453; BGH NStZRR 2002, 203 [204]; BGH NStZ 2003, 599), ändert das nichts an der (zusätzlichen) strafzumessungsrechtlichen Relevanz der Erfüllung ihrer Merkmale, die insofern eben doch einer sorgfältigen Prüfung bedurft hätten. Wie man sich bei einem Beschuldigten, der mit seiner unmittelbar bevorstehenden Ermordung durch ein Killerkommando rechnete (!), statt dessen auf die lapidare Bemerkung beschränken kann, das Gericht gehe „sachverständig beraten … davon aus, dass der Angeklagte nicht in einem Zustand der Verwirrung, Furcht oder des Schreckens handelte“, ist unverständlich. 30 Vgl. BGH StV 2003, 74; BGH NStZ-RR 2007, 194 = BeckRS 2007, 05017 = StraFo 2007, 248; Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, § 213 Rn. 13. 31 Vgl. Franke, in: MüKoStGB, Band 1, 2003, § 46 Rn. 85 m.w.N.
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mens von § 212 StGB angesiedelten Durchschnittsfalls des Totschlags gelangen konnte. Eine solche Einstufung wäre bei einem „braven Bürger“, der durch eine ähnliche Verkettung unglücklicher Umstände in die Situation des Beschuldigten gelangte, denn wohl auch völlig undenkbar. Als plausible Erklärung für die Verhängung einer so offensichtlich jenseits der Schwere der Tatschuld angesiedelten Strafe kommt einzig und allein die Rolle des Beschuldigten als „böser Rocker“ in Betracht, die den Strafzumessungsakt unterschwellig so dominiert haben muss, dass im Ergebnis alle Grundsätze des Tatstrafrechts auf der Strecke blieben.
V. Zusammenfassende Bewertung 1. Zusammenfassend muss man danach feststellen, dass die Behandlung des Falles durch Polizei und Justiz auf allen Ebenen mit Ausnahme des BGH mit Fehlern behaftet war, die sich durchweg im Sinne eines überzogenen Vorgehens zum Nachteil des Beschuldigten auswirkten. Eine Fortsetzung dieser Linie bildeten schließlich die völlig indiskutablen Reaktionen von Politikern und Vertretern der Polizeigewerkschaften auf den korrigierenden Eingriff des BGH, in denen der Beschuldigte weiterhin mit „Schwerstkriminellen“ assoziiert und dem BGH in unsachlicher Weise vorgeworfen wurde, er falle quasi der Polizei im Kampf gegen das Böse in den Rücken – als ob es sich dabei um eine für Verurteilung oder Freispruch maßgebliche rechtliche Kategorie handeln würde.32 Eine solche Häufung von Missgriffen kann schwerlich auf Zufall beruhen. Sie ist vielmehr ein starkes Indiz für das Wirken eines Verständnisses, nach dem das Strafrecht nicht nur einer dem Tatschuldprinzip unterliegenden und strengen rechtsstaatlichen Bindungen unterworfenen Sanktionierung konkreter Taten, sondern darüber hinaus auch der „Bekämpfung“ von bestimmten, aus unterschiedlichen Gründen als „gefährlich“ eingestuften Personengruppen als solchen dienen soll. Hierfür war der Beschuldigte als Mitglied einer dem Dunstkreis der „Organisierten Kriminalität“ zugeordneten Vereinigung, die eine skurrile und bedrohlich wirkende Subkultur pflegt und quasi außerhalb der „Bürgergesellschaft“ steht, ex ante ein denkbar geeigneter Adressat, und die durch seine Hand erfolgte Tötung eines Polizeibeamten schien die Annahme, hier mit einem „Feind“ konfrontiert zu sein, der nicht nur Straftaten begeht, sondern sich mit dem Rechtsstaat in einem regelrechten Kriegszustand befindet, ja nur zu bestätigen. 2. In einem bemerkenswerten Kontrast dazu steht das – im Verhältnis zu den Erwartungen, die sich mit einem solchen Feindbild verbinden – geradezu lächerlich anmutende Ergebnis einer korrekten rechtlichen Bewertung: Der tragische Tod des Polizeibeamten rechtfertigt bei näherer Prüfung keinen Totschlags- oder gar Mordvorwurf, wie er zunächst erhoben wurde, nicht einmal denjenigen einer fahrlässigen Tö32 Zur Kritik dieser populistischen Ausfälle Engländer, NStZ 2012, 274 ff.; Rotsch, ZJS 2012, 109 (110); Neumann, StV 2012, Editorial Heft 6, S. I.
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tung, sondern ist schlicht das Resultat des Einsatzes fragwürdiger Methoden in Verbindung mit katastrophalen Fehlern beim Vorgehen der Polizei. Von den angeblichen räuberischen Erpressungen bleiben am Ende nur Nötigungen übrig. Selbst wenn in diesen eine für die Angehörigen eines Rockerclubs typische Tendenz zum Ausdruck kommen mag, „das Recht in die eigene Hand“ zu nehmen, handelt es sich nach der Ausgestaltung der jeweiligen Sachverhalte jedenfalls nicht um Delikte, die man der Schwerkriminalität zuordnen könnte, und als Demonstrationsobjekte für die Gefährlichkeit der „Organisierten Kriminalität“ sind sie denkbar ungeeignet. Der Anfangsverdacht hat sich am Ende also nur auf der Ebene bestätigt, auf der er bei einer nüchternen, nicht durch Übereifer verzerrten Betrachtung der Faktenlage von Anfang an bestand. 3. Beunruhigend ist in diesem Zusammenhang freilich, dass das mutmaßlich „feindstrafrechtliche“ Vorgehen am Ende nur deshalb so „unergiebig“ war, weil der BGH korrigierend eingegriffen hat: Ohne die sorgfältig begründete Entscheidung des 2. Strafsenats, in der eine wohl leider nicht bei allen Strafsenaten des BGH selbstverständliche33 hohe Kontrolldichte gegenüber tatrichterlichen Verirrungen zum Ausdruck kommt, hätte der Beschuldigte nicht nur eine dem Grunde nach unberechtigte (und selbst dann, wenn man der These des Landgerichts von der notwehrrechtlichen Notwendigkeit eines Warnschusses folgen wollte, maßlos überhöhte) Freiheitsstrafe wegen Totschlags verbüßen müssen. Wäre die Verhängung der Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren rechtskräftig geworden, hätte dies darüber hinaus das Bewusstsein der beteiligten Akteure gefestigt, in jeder Hinsicht richtig gehandelt zu haben, und nichts hätte die öffentliche Wahrnehmung gestört, hier habe ein böser Feind des Rechtsstaats das erhalten, was er verdient. Dass dabei eben dieser Rechtsstaat auf der Strecke geblieben wäre, hätte vermutlich kaum jemand bemerkt.
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Vgl. Erb, GA 2012, 72 ff.
Nicht „entweder – oder“, sondern „weder – noch“! Zum Verstoß gesetzesalternativer Wahlfeststellung gegen Art. 103 II GG Von Georg Freund*
I. Der Gesetzlichkeitsgrundsatz im System der Legitimation von Schuldspruch und Strafe 1. Die Vorgaben des Art. 103 II GG – Zur Ratio des Gesetzlichkeitsgrundsatzes Art. 103 II GG sieht vor: „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“ Bei diesem Gesetzlichkeitsgrundsatz werden meist die folgenden vier Teilaspekte unterschieden: Das Rückwirkungsverbot, das Bestimmtheitsgebot, das Verbot gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung und das Analogieverbot.1 Man kann auch sagen: Ein Strafgericht darf wegen einer ganz bestimmten (Straf-)Tat nur verurteilen, wenn es dafür eine vor der Tat in Kraft getretene (hinreichend bestimmte) ausdrückliche gesetzliche Ermächtigungsgrundlage gibt. Was das genau heißt und welche formellen und materiellen Bindungen der strafenden Staatsgewalt(en) sich daraus ergeben, folgt jedenfalls auch aus Überlegungen zur Ratio des Gesetzlichkeitsgrundsatzes. Es ist hier nicht der Ort, umfassend auf diese Ratio einzugehen. Schon das im Gesetzlichkeitsgrundsatz eindeutig auch enthaltene Verbot des Erlasses belastender Strafgesetze mit Rückwirkung zeigt, dass es jedenfalls nicht allein darum gehen kann, den Bürger vor strafrichterlicher Willkür zu schützen – mag dieser Schutz auch seine Berechtigung haben.2 Vielmehr geht es zumindest auch um eine Schranke * Für die kritische Durchsicht des Textes und wertvolle Anregungen danke ich sehr herzlich meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie einigen freundlichen Kolleginnen und Kollegen. 1 Vgl. dazu etwa BVerfG NJW 2010, 3209, 3210; Schönke/Schröder/Eser/Hecker, 28. Aufl. 2010, § 1 Rn. 6; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 5 Rn. 7 ff.; Kuhlen, FS Otto, 2007, S. 89 ff.; ders., in: Kudlich u. a. (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, 2012, S. 429, 431. 2 Hilgendorf, in: Kudlich u. a. (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 17; Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, 1983, S. 137 – Dass das Rückwirkungsverbot mit dem Schutz vor richterlicher Willkür nicht zu erklären ist, betont Roxin (Fn. 1), § 5 Rn. 21 m.w.N.
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für den Strafgesetzgeber. Freilich ist der in diesem Zusammenhang oft benannte Aspekt des Vertrauensschutzes3 nur wenig überzeugend, wenn etwa ein evident gegen die Rechtsordnung verstoßendes Verhalten vorliegt. Dann wird sich vielleicht sogar der bewusst gegen das Recht Verstoßende selbst darüber wundern, dass er nur deshalb nicht bestraft werden kann, weil zufällig ein gesetzestechnisches Missgeschick unterlaufen ist. Noch weniger schutzwürdig erscheint das Vertrauen desjenigen, der gezielt Strafbarkeitslücken ausnutzt und sich dabei sehr wohl über den Unrechtsgehalt seines Verhaltens im Klaren ist. Berechtigter Vertrauensschutz ist bereits durch eine angemessen konzipierte rechtliche Ordnung des Verhaltens zu erzielen. Das unverzichtbare Grunderfordernis jeder Straftat – der Verstoß gegen eine rechtlich legitimierte Verhaltensnorm – gewährleistet per se, dass kein Unschuldiger vom Strafrecht überrascht werden kann. Da die rechtliche Verhaltensnorm im Verhaltenszeitpunkt (ex ante) auf der Basis der Sachlage, die sich dem Betreffenden darbietet, zu legitimieren sein muss, ist eine rückwirkende Anordnung rechtlicher Verhaltensmissbilligung und entsprechender Strafbarkeit ohnehin von vornherein ausgeschlossen.4 Um diesen angemessenen Vertrauensschutz zu gewährleisten, bedarf es keines Gesetzlichkeitsgrundsatzes. Die Überakzentuierung des Vertrauensschutzes beim Gesetzlichkeitsgrundsatz erweist sich sogar als höchst gefährlich. Sie (ver-)führt zum Übersehen gerade des wesentlichen Aspekts des nullum crimen-Satzes etwa in den Fällen, in denen jemand von zwei Strafgesetzen, die eine abstrakte Strafandrohung enthalten, alternativ entweder die Voraussetzungen des einen oder aber des anderen erfüllt.5 In solchen Fällen kann es in keiner Weise mehr darum gehen, den Betreffenden in seinem Vertrauen darauf zu schützen, dass er keine strafrechtliche Reaktion zu erwarten hat. Im Gegenteil muss er im Verhaltenszeitpunkt von Rechts wegen sogar ausdrücklich damit rechnen, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden (sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind – insbesondere auch der ordnungsgemäße Tatnachweis im Prozess gelingt). Indessen ist es – wie gesagt – überhaupt nicht die Funktion des Gesetzlichkeitsgrundsatzes, vor einer gar nicht legitimierbaren Verhaltensmissbilligung zu schützen. Und seine Funktion erschöpft sich keineswegs im Schutz vor einer nicht zuvor angekündigten und daher überraschenden Strafbewehrung im Falle des Übertretens einer legitimierbaren Verhaltensnorm. Vielmehr muss der nullum crimenSatz genau dann strikt beachtet werden, wenn dem Strafgericht, das den Betreffenden verurteilen würde, eine durchaus sachgerechte Entscheidung zu attestieren wäre und der vor Gericht Stehende gerade nicht darauf vertrauen darf, dass er sich richtig verhalten hat oder zumindest nicht bestraft werden kann. Wenn der Gesetzlichkeits3 Vgl. zu diesem oft (über)akzentuierten Schutzaspekt etwa Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Kommentar, 11. Aufl. 2011, Art. 20 GG Rn. 67 ff.; ferner z. B. BVerfGE 48, 48, 56 (mit Blick auf Art. 2 II, 20 III GG wird der Vertrauensschutz auch besonders betont von BVerfG NJW 2006, 3483, 3484). 4 Sachlich übereinstimmend etwa Remde, Die Zukunft des präventiven Freiheitsentzugs vor dem Hintergrund der EMRK, 2012, S. 33 f. 5 Näher zu diesen Fällen der Gesetzesalternativität unten II. 2.
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grundsatz eine Verurteilung speziell in solchen Fällen gleichwohl verbietet, kann dies nur etwas mit der staatstheoretisch bedeutsamen Gewaltenteilung6 und der allein mit ihr zu erreichenden erhöhten Absicherung der Ergebnisrichtigkeit bestimmter Entscheidungen7 zu tun haben. Eine angemessene Gewaltenteilung ist speziell für das Strafrecht äußerst wichtig: Im Hinblick auf den bei einer Bestrafung besonders intensiven staatlichen Eingriff sollen (mindestens8) zwei voneinander unabhängige Staatsgewalten einen spezifisch notwendigen, aber je für sich nicht hinreichenden Beitrag in einem ausgeklügelten System gegenseitiger Begrenzung leisten. Strafrechtlich gesehen „richtige“ und in diesem Sinne „gerechte“ Verurteilungen könnten Strafgerichte auch ohne entsprechende gesetzliche Ermächtigungsgrundlage vornehmen. Desgleichen könnte auch der Gesetzgeber für begangene Untaten bestimmter Täter theoretisch ganz konkrete und in der Sache angemessene Verurteilungen anordnen. Dass eine solche Gesetzgebung recht umständlich und kaum praktikabel wäre, ändert daran nichts. Dennoch soll – und das ist ein wesentlicher Aspekt der Gewaltenteilung, an die der Gesetzlichkeitsgrundsatz anknüpft – der Gesetzgeber nicht Richter über begangene Straftaten sein. Vielmehr hat der Gesetzgeber lediglich für eine nach abstrakten Merkmalen bestimmte „Klasse“ zukünftiger Fälle – also distanziert von den späteren tatsächlichen Geschehnissen – eine einzelfallunabhängige Regelungsanordnung zu treffen.9 Er hat eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für die Strafgerichte zu schaffen, die deren Eingriffshandeln gestattet – nicht mehr und nicht weniger. Auf diese Weise lässt sich bei strafenden Eingriffen deren Richtigkeit durch eine erweiterte Legitimationsbasis stützen und damit verstärkt absichern. Nur wenn eine vor der Tat geschaffene ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage für die konkrete Bestrafung in Gesetzesform vorhanden ist und kumulativ die konkrete Bestrafung sachlich als angemessene Reaktion auf das begangene Fehlver6 Sachlich i.d.S. etwa BVerfGE 64, 389, 393; 73, 206, 235 f.; 87, 399, 411; Krey (Fn. 2), S. 138 m.w.N.; vgl. dazu auch NK-StGB/Hassemer/Kargl, 3. Aufl. 2010, § 1 Rn. 10; Remde (Fn. 4), S. 34. 7 Jakobs (Strafrecht AT, 2. Aufl. 1993, 4/9) kritisiert mit Recht die Überbetonung des psychologisierenden Vertrauensschutzes und spricht stattdessen im Kern zutreffend von „Objektivitätsgarantie“ (die freilich als „Garantie“ nicht zu haben ist). – Nicht angemessen ist hingegen die krit. Einschätzung des Aspekts der Gewaltenteilung durch Jakobs in diesem Kontext (vgl. Jakobs, Strafrecht AT, 4/5: „Wenig erhellend …“). Denn die von Jakobs gemeinte „Objektivitätsgarantie“ des Gesetzlichkeitsgrundsatzes lässt sich nur durch eine Gewaltenteilung i.S. einer differenzierten Kompetenzzuweisung realisieren: Einerseits hat der Gesetzgeber Distanz zum konkreten – bereits geschehenen – Einzelfall zu wahren und darf denselben nicht als Quasi-Richter entscheiden, sondern muss sich auf den Erlass abstraktgenerell gefasster Strafgesetze für zukünftige Fälle beschränken. Andererseits dürfen die zur Entscheidung konkreter Einzelfälle berufenen Gerichte nicht als Quasi-Strafgesetzgeber fungieren, sondern benötigen für ihren strafenden Eingriff eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage. 8 Auf die Rolle der Staatsanwaltschaft ist hier nicht näher einzugehen; vgl. dazu etwa Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur, 2008, S. 11 ff. et passim. 9 I.S. einer solchen Deutung speziell des Rückwirkungsverbots zutreffend etwa Remde (Fn. 4), S. 34.
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halten (ggf. nebst Folgen) ausgewiesen werden kann, darf der strafende Eingriff vorgenommen werden.10 2. Zum Verhältnis von Strafgesetz (Sanktionsnorm) und Verhaltensnorm Es ist nicht etwa die Aufgabe des Strafgesetzgebers, ganz bestimmte Verhaltensnormen für alle erdenklichen Situationen festzulegen. Leider wird die wichtige normentheoretische Differenzierung zwischen der Verhaltensnorm einerseits und der Sanktionsnorm andererseits noch immer nicht gebührend beachtet.11 Dadurch entsteht vor allem im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot des Gesetzlichkeitsgrundsatzes nicht selten Verwirrung. Die in der Lebenswirklichkeit notwendigen Konkretisierungen des rechtlich richtigen Verhaltens im Einzelfall kann der Gesetzgeber – und erst recht der Strafgesetzgeber – gar nicht leisten. Dafür sind die einzelnen Lebensbereiche viel zu komplex und zudem ständigem Wandel unterworfen.12 Um hier Klärungen vorzunehmen, werden alle benötigt: der Gesetzgeber mit generellen Leitlinien, die Exekutive z. B. mit gesetzeskonkretisierenden Verordnungen und Verwaltungsakten (etwa in Form von Geschwindigkeitsbegrenzungen) und nicht zuletzt jeder einzelne Bürger, der in vielen Situationen aufgerufen ist, jeweils richtig zu entscheiden.13 Aus gutem Grund regelt der Strafgesetzgeber z. B. in § 222 StGB nicht, was ein fahrlässiges Verhalten i. S. einer fahrlässigen Tötung ist, sondern nur, dass ein folgenreiches fahrlässiges Tötungsverhalten, das anhand sachlicher Kriterien als solches im Einzelfall begründet werden kann, entsprechend sanktioniert werden soll. In diesem Zusammenhang kommt nicht zuletzt einer verfassungsrechtlich abgesicher10
Zum Zusammenspiel von materiellem Verbrechensbegriff und formellen Strafbarkeitsbegrenzungen vgl. MK-StGB/Freund, 2. Aufl. 2011, Vor § 13 Rn. 27 ff., 31 ff. m.w.N. – Zur Aufgabenverteilung zwischen Strafgesetzgeber und Strafgerichten s. etwa Freund, FS Küper, 2007, S. 63, 64 f.; Reus, Das Recht in der Risikogesellschaft, 2010, S. 174 ff. 11 Zur wichtigen Differenzierung zwischen den beiden Normtypen „Verhaltensnorm und Sanktionsnorm“ s. etwa Freund, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2009, § 1 Rn. 5 ff.; Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 59 f., 77, 348, 356 f., 502 ff.; Jakobs, Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1972, S. 9 ff.; Lackner/Kühl, 27. Aufl. 2011, Vor § 13 Rn. 6; Renzikowski, FS Gössel, 2002, S. 3 ff.; ders., ARSP-Beiheft Nr. 104, 2005, 115 ff.; vgl. auch Reus (Fn. 10), S. 174 ff. 12 Der inzwischen oft gewählte Ausweg, über Blankettstrafgesetze mit Rückverweisungsklauseln die größere Flexibilität der Exekutive zu nutzen, ist nicht gangbar: Es verstößt eklatant gegen Art. 103 II GG, wenn die Exekutive ermächtigt wird, Strafbarkeitsanordnungen zu treffen. Genau das findet aber statt, wenn z. B. § 96 Nr. 2 AMG normiert, dass strafbar sein soll, wer gegen eine bestimmte Rechtsverordnung verstößt, sofern die Rechtsverordnung für einen bestimmten Tatbestand auf die Strafvorschrift des § 96 Nr. 2 AMG zurückverweist; näher dazu MK-StGB/Freund, 2. Aufl. 2013, Vor § 95 AMG Rn. 51 ff.; ferner bereits ders., ZLR 1994, 261, 286 f. 13 Zur für die Rechtskonkretisierung nötigen Bewertungsleistung des konkret handelnden oder unterlassenden Subjekts s. etwa Freund, GA 1991, 387, 396 ff.; Müller-Franken, FS Bethge, 2009, S. 223, 250.
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ten Straftatlehre erhebliche Bedeutung für die zu gewährleistende Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht zu.14 3. Strafgesetzliche Festlegung des Schuldspruchs – Begrenzung des möglichen Strafausspruchs Ureigene Aufgabe des Strafgesetzgebers ist es nach dem bereits Gesagten, in einer Sanktionsnorm mithilfe abstrakt-genereller Merkmale festzulegen, bei welcher Art von Verhaltensnormverstößen (u. U. bei Erfüllung welcher weiteren Sanktionsvoraussetzungen) eine bestimmte Bestrafung (Schuldspruch und Strafausspruch) erfolgen soll. Indem sie in abstrakter Form einen Sachverhalt schildern, stecken die Strafgesetze die äußerste Grenze dessen ab, was von ihnen erfasst sein kann. Was selbst bei großzügigem Sprachverständnis davon nicht abgedeckt wird, fällt schon wegen der sich aus der Wortlautbindung ergebenden formalen Garantie des nullum crimenSatzes15 aus dem zu sanktionierenden Bereich heraus. Die Grenze des Wortlauts darf nicht überschritten werden.16 a) Schuldspruch In Bezug auf die Angabe der genauen Art des zu erfassenden Verhaltensnormverstoßes ist es dem Strafgesetzgeber regelmäßig leicht möglich, seiner Regelungsaufgabe gerecht zu werden: Beispielsweise sind in §§ 222, 212 I StGB klar und eindeutig Verstöße gegen fremdes Menschenleben schützende Verhaltensnormen erfasst und strafbar, sofern spezifische Fehlverhaltensfolgen eingetreten sind. Für Verstöße gegen Verhaltensnormen, die fremde Körperintegrität oder andere Rechtsgüter schützen sollen, gibt es entsprechende Sanktionsnormen in §§ 229, 223 I, 242 I StGB etc. Soweit damit der Inhalt des Schuldspruchs aussagekräftig vorgegeben ist, sind derartige Sanktionsnormen eindeutig bestimmt. Das gilt auch dann, wenn im Einzelfall konkretisierungsbedürftig sein sollte, ob ein Verstoß gegen eine der gemeinten Verhaltensnormen begründet werden kann. Entsprechende Schwierigkeiten und Unsicherheiten gibt es in allen Deliktsbereichen. Sie sind sachbedingt und machen die in Frage stehende Sanktionsnorm keineswegs zu einer (zu) unbestimmten.17 14
Vgl. dazu etwa Freund, FS Küper, 2007, S. 63, 64 f.; ferner Reus (Fn. 10), S. 175 ff. Näher zur formalen Garantie des nullum crimen-Satzes Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 56 ff.; Krey (Fn. 2); s. auch Freund (Fn. 11), § 1 Rn. 28; Kuhlen, FS Otto, 2007, S. 89 ff. – Zur im Einzelfall schwierigen Abgrenzung von zulässiger Tatbestandsauslegung und verbotener Analogie vgl. MK-StGB/Schmitz, 2. Aufl. 2011, § 1 Rn. 61 ff. m.w.N. 16 Zum Wortlaut bzw. Wortsinn als „Auslegungsgrenze“ vgl. Schönke/Schröder/Eser/ Hecker (Fn. 1), § 1 Rn. 37, 54 f.; Lackner/Kühl (Fn. 11), § 1 Rn. 6; Roxin (Fn. 1), § 5 Rn. 26 ff. m.w.N. – Näher zur hier nicht weiter zu diskutierenden Bedeutung von Wortgebrauchsregeln für die Wortlautgrenze etwa Klatt, in: Kudlich u. a. (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 121 ff.; ders., Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 122 ff., 219 ff., 236 ff. 17 Bedeutsam ist diese Einsicht z. B. für die Untreue (§ 266 StGB) und die Nötigung (§ 240 StGB). 15
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Bei solchen Unsicherheiten kann die sanktionenrechtlich relevante Leitlinie für den Umgang mit dem Strafgesetz in der Praxis der Strafrechtskonkretisierung nur lauten: Lässt sich kein eindeutiges (und hinreichend gewichtiges)18 rechtliches Fehlverhalten in dem erforderlichen spezifischen Sinne begründen, darf keine strafrechtliche Sanktionierung erfolgen. Ein dennoch erfolgender Schuldspruch wäre nicht nur unberechtigt, sondern auch dysfunktional. Er würde eine nicht vorhandene Eindeutigkeit vorspiegeln. Der Einsatz gerade des spezifischen Mittels der Strafe ist ein geeignetes Instrument allein zur Erhaltung einer bereits vorhandenen – vorstrafrechtlich hergestellten – legitimen Verhaltensordnung.19 Liegt tatsächlich eindeutig ein tatbestandsspezifischer Verhaltensnormverstoß vor (hat z. B. jemand auf einen anderen Menschen mit einer Pistole geschossen und dabei erkannt, dass er diesen tödlich treffen könnte20), soll der in der entsprechenden Sanktionsnorm (§§ 212 I, 22, 23 I, 12 I StGB) gesetzlich vorgesehene Schuldspruch für eine angemessen missbilligende Reaktion sorgen. Hat der Täter sein Opfer sogar tödlich getroffen, enthält § 212 I StGB die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für einen Schuldspruch wegen Totschlags und eine entsprechende Strafzumessung innerhalb der vorgegebenen Strafrahmengrenzen – und zwar unter strikter Beachtung der sachlich-rechtlichen Kriterien der Herstellung relativer Strafzumessungsgerechtigkeit.21 Ebenso verhält es sich bei einem (verdienten) Schuldspruch etwa wegen Diebstahls, Betruges oder Hehlerei, an den sich die tatbestandsspezifische und daher auch streng schuldspruchakzessorische Strafzumessung anzuschließen hat. b) Strafausspruch als weitere Rechtsfolgenbestimmung Während der Strafgesetzgeber mit einem in seiner Sanktionsnorm vorgesehenen prägnanten Schuldspruch eindeutige Vorgaben schafft, muss er die angemessene weitere Rechtsfolgenbestimmung aus „in der Natur der Sache“ liegenden Gründen weitgehend aus der Hand geben: Mehr als eine Rahmenvorgabe ist insofern nicht möglich. Um zu gewährleisten, dass die strafrechtliche Aufgabe korrekt erfüllt, also auf das personale Fehlverhalten (ggf. nebst Folgen) auch im Verhältnis zu anderen Straftaten angemessen missbilligend reagiert wird, müssen die Strafgerichte die Möglichkeit erhalten, eine entsprechende einzelfallbezogene Konkretisierung 18 Zu diesem allgemeinen Straftatkriterium näher Freund (Fn. 11), § 4 Rn. 1, 6 ff., 86a; MK-StGB/Freund (Fn. 10), Vor § 13 Rn. 207 ff., 243 ff. 19 Zutreffend betont wird das etwa von Jakobs, Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, 2004, S. 47 f.; s. auch ders., Norm, Person, Gesellschaft, 1997, S. 116 ff.; Freund, GA 2010, 193, 195 f. 20 Entgegen der leider noch immer verbreiteten, schiefen Definition des Vorsatzes als „Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung“ bedarf es keines voluntativen Vorsatzelements. Vielmehr handelt oder unterlässt vorsätzlich, wer bei seinem (vom Willen zumindest beherrschbaren) Verhalten die Umstände kennt, welche die nicht gerechtfertigte Tatbestandsverwirklichung begründen (s. dazu Freund [Fn. 11], § 7 Rn. 108a). 21 Näher dazu Freund, GA 1999, 509 ff., 515 ff., 524 ff.; treffend der Titel der Schrift von Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit, 1984.
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vorzunehmen. Würde der Gesetzgeber hier versuchen, Strafrichter zu spielen und steuernd einzugreifen, bevor eine (Straf-)Tat vorliegt, wären unerträgliche Verstöße gegen das rechtliche Gebot der Gleichbehandlung des (wesentlich) Gleichen und der differenzierenden Behandlung des (wesentlich) Ungleichen geradezu vorprogrammiert.22 Der Gesetzgeber kann eben nicht alles leisten, was für die Rechtskonkretisierung im Einzelfall erforderlich ist. Vielmehr bedarf es eines arbeitsteiligen Zusammenwirkens mit dem zur Entscheidung berufenen Gericht, um zu bestimmen, was im konkret zu entscheidenden Einzelfall rechtens ist.23 Das vom Gesetzgeber geschaffene Strafgesetz fungiert auch insofern als verfassungsrechtlich tragfähige Ermächtigungsgrundlage für die konkrete Bestrafung.24 Dabei ist allerdings die sich aus dem Erfordernis der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage ergebende strikte Schuldspruchakzessorietät25 der weiteren Rechtsfolgenkonkretisierung zu beachten: Der bloße Umstand, dass sich jemand überhaupt in einer einen bestimmten Schuldspruch rechtfertigenden Weise strafbar gemacht hat, bedeutet keineswegs einen Freibrief für alle erdenklichen Strafzumessungserwägungen – etwa i. S. einer strafschärfenden Berücksichtigung der generellen Gesinnung einer Person.26 Vielmehr gibt der Schuldspruch in Verbindung mit der konkreten Tat, auf die er sich bezieht, klar vor, worauf es für die Strafzumessung (i. w. S.) ankommt.27 Die ausgesprochene/verhängte Strafe ist auch nicht etwa „neutral“ in dem Sinne, dass z. B. der Betrüger und der Dieb, die beide zu einer einjährigen Freiheitsstrafe verurteilt werden, „gleiche“ Strafen verbüßen. Denn das abstrakt gleiche Strafquantum hat mit Blick auf die Funktion der Strafe, auf die jeweils begangene unterschiedliche Tat angemessen missbilligend zu reagieren, auch eine jeweils unterschiedliche Bedeutung. 4. Der Gesetzlichkeitsgrundsatz vor normentheoretischem Hintergrund Art. 103 II GG soll – wie bereits dargelegt – jedenfalls nicht nur das Vertrauen schützen, (zumindest) nicht bestraft zu werden, sondern normiert in erster Linie eine gewaltenteilende Kompetenzordnung.28 Zum angemessenen Verständnis dieses 22 Zur Bedeutung der Gleichbehandlung für rechtliche Beurteilungen s. etwa Freund, JZ 1992, 993, 996 f. m.w.N. 23 Zum arbeitsteiligen Zusammenwirken von Gesetzgeber und Strafgericht vgl. Freund, FS Küper, 2007, S. 63, 64 f.; Reus (Fn. 10), S. 174 ff.; ferner Kuhlen, FS Otto, 2007, S. 89, 103 f. 24 Näher dazu Freund, GA 1999, 509 ff., 515 ff., 524 ff. m.w.N. 25 Die speziellen Fragen der Strafzumessungsrelevanz verdrängter – also zwar im Schuldspruch nicht explizit genannter, aber doch implizit enthaltener – Strafgesetze können an dieser Stelle nicht diskutiert werden. 26 Näher zur Irrelevanz von Gesinnungen des Täters in einem rechtsstaatlichen Tatstrafrecht Timm, Gesinnung und Straftat, 2012. 27 In dieser Hinsicht hängt die gesetzesalternative Wahlfeststellung bei der Strafzumessung in der Luft! – S. dazu noch unten II. 2. ab Fn. 58. 28 S. dazu oben I. 1.
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Gesetzlichkeitsgrundsatzes dürften einige Unterscheidungen29 hilfreich sein: Die grundlegende Differenzierung zwischen einer Verhaltensnorm und einer Sanktionsnorm wurde bereits oben (I. 2.) angesprochen. Im Grundsatz darf jeder Bürger tun und lassen, was er will, solange er nicht die Rechte anderer beeinträchtigt. Zur Legitimation der Einschränkung dieser Freiheit durch eine Verhaltensnorm muss diese Verhaltensnorm zur Erreichung eines legitimen Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sein. Das hat mit Strafrecht zunächst nichts zu tun, sondern muss vorstrafrechtlich konkretisiert werden. Da strafrechtlich ohnehin nur missbilligend reagiert werden darf, wenn bereits im Zeitpunkt des Verhaltens ein entsprechender Verhaltensnormverstoß in Gestalt spezifischen personalen Fehlverhaltens sachlich begründet ist, kommt dem Gesetzlichkeitsgrundsatz erstmals Bedeutung zu, wenn es um die Strafandrohung für den unabhängig davon zu begründenden spezifischen Verhaltensnormverstoß geht – genauer: wenn die Frage zu beantworten ist, ob im Verhaltenszeitpunkt gegen eine strafbewehrte Verhaltensnorm verstoßen wird. Daran fehlt es – von Sonderfällen abgesehen – z. B. bei einem bloß fahrlässigen Verstoß gegen eine fremdes Eigentum schützende Verhaltensnorm. Da es keine fahrlässige Sachbeschädigung als Straftat gibt, ist auch bereits der entsprechende Verhaltensnormverstoß nicht mit einer solchen Strafandrohung versehen. Im Gegensatz dazu liegt etwa ein Verstoß gegen eine Verhaltensnorm, die tatbestandsspezifisch i. S. d. § 222 StGB fremdes Menschenleben schützen soll, durchaus vor, wenn z. B. ein Arzt dringend indizierte kreislaufstabilisierende Maßnahmen unterlässt und der Patient nur infolge einer glücklichen Fügung auch ohne diese Maßnahmen überlebt. Bereits diese Strafandrohung steht nur dem dazu legitimierten Strafgesetzgeber zu – mag ihre Realisierung auch von weiteren Anwendungsbedingungen abhängen (dem späteren Eintritt einer spezifischen Fehlverhaltensfolge in Gestalt eines „zurechenbaren“ Todeserfolgs; dem ordnungsgemäßen Nachweis der Sanktionsvoraussetzungen). Außerdem hat diese Strafandrohung nach Art. 103 II GG in Gesetzesform vor dem Verhaltensnormverstoß zu erfolgen.30 Indessen erschöpft sich die Aufgabe des Strafgesetzgebers keineswegs darin, solche abstrakten Strafandrohungen auszusprechen. Dadurch würde derjenige, der überhaupt gegen eine strafbewehrte Verhaltensnorm verstoßen hat, gleichsam vogelfrei. Die Strafgerichte könnten nach eigenem Gutdünken bestimmen, ob und wie im Einzelfall reagiert werden soll. Ein solcher Freibrief darf jedoch nicht ausgestellt werden. Vielmehr ist es nach dem Gesetzlichkeitsgrundsatz auch und gerade die Aufgabe des demokratisch legitimierten Strafgesetzgebers, über die Normierung der Strafbewehrung von Verhaltensnormen hinaus genau festzulegen, unter welchen Bedingungen welche Schuld- und Strafaussprüche im Einzelfall rechtens sein können.31 29
S. auch dazu die Nachw. oben I. 2. Fn. 11. Zu den Strafgesetzen als Rechtsquelle der zu konkretisierenden strafbewehrten Verhaltensnorm s. Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, 1992, S. 119 f.; sachlich i.d.S. etwa auch BVerfGE 64, 389, 393; 87, 399, 411. 31 S. zur demokratischen Komponente des Gesetzlichkeitsgrundsatzes etwa NK-StGB/ Hassemer/Kargl (Fn. 6), § 1 Rn. 10; Jarass/Pieroth (Fn. 3), Art. 103 Rn. 49; Krey (Fn. 2), 30
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Im Zusammenhang mit dem Gesetzlichkeitsgrundsatz ist vor diesem Hintergrund folgende Stufung zu beachten: Eine bestimmte Verhaltensweise eines Bürgers kann rechtlich gesehen 1. erlaubt (unverboten), 2. unerlaubt, 3. bei Androhung von Strafe unerlaubt (lediglich nicht zwingend strafbar – im Verhaltenszeitpunkt muss aber mit Strafe „gerechnet“ werden) und 4. unerlaubt und außerdem (bei Erfüllung sämtlicher Sanktionsvoraussetzungen) auch definitiv strafbar sein. Nach Wortlaut und Ratio des Gesetzlichkeitsgrundsatzes ist der Strafgesetzgeber nicht nur für die abstrakte Strafandrohung (auf Stufe 3), sondern für die Normierung sämtlicher Strafbarkeitsvoraussetzungen (auf Stufe 4) zuständig. Aus gutem Grund heißt es in Art. 103 II GG nicht etwa: „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn der Täter im Zeitpunkt seines Verhaltens mit einer gesetzlich angedrohten Bestrafung zu rechnen hatte.“ Um es nochmal zu betonen: Es geht hier nicht nur um berechtigten Vertrauensschutz (dem dient primär das Erfordernis der Legitimation der Verhaltensnorm im Verhaltenszeitpunkt), sondern um die strikte Beachtung der grundgesetzlichen Kompetenz- und Aufgabenverteilung zwischen Legislative und Judikative. Strafgesetze darf nur der Gesetzgeber schaffen. Gesetzesersetzendes Richterrecht ist untersagt.32 Unter der Geltung des Gesetzlichkeitsgrundsatzes findet übrigens auch keine Abwägung mehr statt, wie viele meinen.33 Art. 103 II GG lässt sich durch das Streben nach materieller Gerechtigkeit im Einzelfall und durch kriminalpolitische Bedürfnisse nicht relativieren. Vielmehr hat die mit Blick auf die verschiedenen Facetten des Rechtsstaatsprinzips notwendige Abwägung bereits der Verfassungsgesetzgeber selbst bei seiner eindeutigen Vorrangentscheidung für den Gesetzlichkeitsgrundsatz in Art. 103 II GG vorgenommen. Diese klare Entscheidung darf nicht durch persönliche Gerechtigkeitsvorstellungen und vermeintliche kriminalpolitische Bestrafungsbedürfnisse aus den Angeln gehoben werden.
II. Die Wahlfeststellung gemessen am Gesetzlichkeitsgrundsatz 1. Die relativ unproblematische eindeutige Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage a) Eindeutig erfüllte Tatbestandsverwirklichungsformen bei reiner Tatsachenalternativität Die Vorgaben des Gesetzlichkeitsgrundsatzes für den Schuldspruch und die daran anknüpfende weitere Rechtsfolgenbestimmung (Strafzumessung i. w. S.) werfen für S. 138 m.w.N. – Zur Bedeutung der Strafgesetze als Rechtsquelle der ebenfalls einzelfallbezogen zu konkretisierenden Sanktionsnorm näher Freund (Fn. 30), S. 112 ff. 32 S. nur BVerfGE 64, 389, 393; 87, 399, 411. 33 Eine Fehleinschätzung der Gesetzeslage findet sich etwa bei LK-StGB/Dannecker, 12. Aufl. 2007, Anh. § 1 Rn. 13; Schönke/Schröder/Eser/Hecker (Fn. 1), § 1 Rn. 64 ff.; Günther, Verurteilungen im Strafprozeß trotz subsumtionsrelevanter Tatsachenzweifel, 1976, S. 165 f., 183 f., jew. m.w.N.
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eindeutige Verurteilungen auf wahldeutiger Tatsachengrundlage keine ernsthaften Probleme auf. Als klassisches Beispiel können die beiden sich widersprechenden Aussagen eines Zeugen dienen, von denen jedenfalls eine falsch ist und den Tatbestand des § 153 StGB erfüllt.34 Entsprechendes gilt für die Verantwortlichkeit z. B. wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Körperverletzung oder Tötung, wenn feststeht, dass der Täter sein Opfer mit HIV infiziert hat, aber ungeklärt bleibt, durch welchen von mehreren Sexualkontakten dies geschehen ist.35 In derartigen Fällen sind die Voraussetzungen der entsprechenden Sanktionsnorm als der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage für den strafenden Eingriff ungeachtet der Tatsachenalternativität jeweils eindeutig erfüllt. Die Schuldspruchvoraussetzungen wegen der jeweils ganz genau bestimmten Tat liegen ohne tatbestandsrelevante Zweifel vor. Bei der Strafzumessung muss in den genannten Fällen jedoch Folgendes beachtet werden: Sollte der Unwertgehalt der alternativen Geschehnisse differieren, darf für die weitere Rechtsfolgenbestimmung nach dem eindeutigen Schuldspruch nur der sicher verwirklichte Mindestumfang zugrunde gelegt werden.36 Beispiel: Wenn beim Vorwurf der fahrlässigen Tötung durch einen von mehreren Sexualkontakten der erste nur leicht fahrlässig, der zweite dagegen leichtfertig in Bezug auf die Todesherbeiführung war, darf selbstverständlich für die Strafzumessung wegen (vollendeter) fahrlässiger Tötung nur der geringere Vorwurf zugrunde gelegt werden, der mit Sicherheit erhoben werden kann. Der Rekurs auf die Leichtfertigkeit beim zweiten Kontakt im Rahmen der Strafzumessung bedeutete einen Verstoß gegen den Gesetzlichkeitsgrundsatz. Denn die möglicherweise dadurch eben nur versuchte fahrlässige Tötung ist keine Straftat des geltenden Rechts. Nach dem Gesagten ist es im Hinblick auf die für eine Verurteilung wegen Mordes erforderliche gesetzliche Ermächtigungsgrundlage ebenfalls vollkommen unproblematisch, den vorsätzlich handelnden Tötungstäter als Mörder zu verurteilen, der sein Opfer entweder zur Verdeckung einer anderen Straftat oder aber aus einem sonstigen niedrigen Beweggrund i. S. d. § 211 II StGB getötet hat.37 Denn die Tötung zur Verdeckung einer anderen Straftat ist nach zutreffendem Gesetzesverständnis nichts anderes als ein spezieller 34
Vgl. dazu etwa BGHSt 2, 351 ff.; 13, 70 ff.; Schönke/Schröder/Eser/Hecker (Fn. 1), § 1 Rn. 60; Joerden, Dyadische Fallsysteme im Strafrecht, 1986, S. 118; Welz, Zum Verhältnis von Anstiftung und Beihilfe, 2010, S. 168; Wolter, Wahlfeststellung und in dubio pro reo, 1987, S. 46 f.; vgl. auch schon ders., Alternative und eindeutige Verurteilung auf mehrdeutiger Tatsachengrundlage im Strafrecht, 1972, S. 24 ff.; ferner SK-StGB/Rudolphi/Wolter, Stand: 110. Lfg. (2007), Anh. zu § 55 Rn. 16; zur möglichen Relevanz des § 158 StGB (Berichtigung einer falschen Angabe) in diesem Kontext vgl. Küper, NJW 1976, 1828 ff. 35 Vgl. dazu etwa BGHSt 36, 262, 268 f.; SK-StGB/Rudolphi/Wolter (Fn. 34), Anh. zu § 55 Rn. 16a; ferner Schönke/Schröder/Eser/Hecker (Fn. 1), § 1 Rn. 60; Welz (Fn. 34), S. 168. – Zu solchen Fällen der reinen Tatsachenalternativität vgl. auch Günther (Fn. 33), S. 20 ff.; Schmoller, Alternative Tatsachenaufklärung im Strafrecht, 1986, S. 86 ff. 36 Sachlich übereinstimmend insoweit etwa Tsai, Zur Problematik der Tatbestandsalternativen im Strafrecht, 2006, S. 189, 209 f.; s. auch bereits Wolter, Wahlfeststellung (Fn. 34), S. 140; vgl. auch den Gedanken des Stufenprinzips bei Schmoller (Fn. 35), S. 157 ff. 37 S. zu einem solchen Fall BGH NStZ 2012, 441 ff.; zu weiteren Konstellationen dieser Art vgl. Günther (Fn. 33), S. 59.
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Unterfall der Tötung aus niedrigem Beweggrund. Die Tatsachenalternativität ändert daher nichts daran, dass das nach der gesetzlichen Sanktionsnorm erforderliche Mordmerkmal der Tötung aus niedrigem Beweggrund eindeutig erfüllt ist. Hat man in einem solchen Fall das Mordunrecht im Schuldspruchbereich zutreffend bestimmt, können sich per definitionem auch keine Strafzumessungsprobleme ergeben. Vielmehr ist für den definitiv begangenen Mord die genau richtige Strafe die für den Mörder vorgesehene „lebenslange Freiheitsstrafe“. Andernfalls wäre es kein Mord. Das zum Schuldspruch wegen Mordes Ausgeführte gilt sinngemäß für einen eindeutig möglichen Schuldspruch etwa wegen gefährlicher Körperverletzung, wenn unklar bleibt, ob der Täter eine Waffe oder ein sonstiges gefährliches Werkzeug verwendet hat.38 Da die Waffe als Unterfall des gefährlichen Werkzeugs dessen Voraussetzungen erfüllt, ist ein solcher eindeutiger Schuldspruch nach § 224 I Nr. 2 StGB möglich. Lediglich bei der Strafzumessung muss in einem solchen Fall der gefährlichen Körperverletzung darauf geachtet werden, nur den sicher verwirklichten Unwertgehalt zugrunde zu legen: Ein etwa überschießender Gefährlichkeitsanteil der nicht sicher verwendeten (Schuss-)Waffe ist auszublenden. Nach dem Gesagten ist ohne Weiteres auch eine eindeutige Verurteilung als Täter möglich, sofern lediglich offen bleibt, ob jemand unmittelbarer oder mittelbarer Täter einer Tötung ist.39 Da § 25 I StGB mit seinen Fällen der Selbstbegehung und der Begehung durch einen anderen ohnehin zumindest regelmäßig nur der Klarstellung dient40 und beide Täter den Tatbestand des § 212 I StGB erfüllen, kann bereits dieser Tatbestand als gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für den strafenden Eingriff trotz der vorhandenen Tatsachenzweifel dienen. Denn diese sind nicht tatbestandsrelevant. Ein Unterschied zu den reinen Fällen der Unklarheit über die Art und Weise der Tötung liegt nicht vor.41 Zumindest prima vista verhält es sich allerdings anders, wenn unklar bleibt, ob jemand eine Straftat als Allein- oder als Mittäter begangen hat.42 Wenn und soweit – wie regelmäßig – § 25 II StGB für den Mittäter
38 Vgl. zu solchen und weiteren Fällen Tsai (Fn. 36), S. 66 f.; SK-StGB/Rudolphi/Wolter (Fn. 34), Anh. zu § 55 Rn. 27. 39 Vgl. dazu etwa Lackner/Kühl (Fn. 11), § 1 Rn. 14 m.w.N.; s. auch Günther (Fn. 33), S. 70 ff. (der in diesem Kontext allerdings die für die Strafbarkeit konstitutive Bedeutung des § 25 II StGB nicht bemerkt). 40 Näher dazu etwa Freund (Fn. 11), § 10 Rn. 2 ff., 52 f. 41 Eines Rückgriffs auf den im Folgenden unter II. 1. b) behandelten Aspekt der Verknüpfung gleichwertiger Tatbestandsverwirklichungsformen mit „oder“ (vgl. § 25 I StGB) bedarf es daher zumindest regelmäßig nicht. Zu denkbaren Fällen strafbarkeitskonstitutiver Bedeutung des § 25 I Fall 2 StGB s. allerdings Freund (Fn. 11), § 10 Rn. 6. Für diese Fälle ist die Verknüpfung mit „oder“ im Hinblick auf den Gesetzlichkeitsgrundsatz durchaus von Bedeutung. 42 In diesen Fällen wird überwiegend eine gesetzesalternative Wahlfeststellung als zulässig angesehen; vgl. statt vieler NK-StGB/Frister (Fn. 6), Nach § 2 Rn. 102; Wolter, Alternative und eindeutige Verurteilung (Fn. 34), S. 238 f., jew. m.w.N. – Zu einer in Erwägung zu ziehenden gesetzeskonformen Legitimation dieses Ergebnisses vgl. noch unten II. 1. b) a.E.
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strafbarkeitskonstitutive Bedeutung hat,43 der Betreffende also weder sicher den Tatbestand des Besonderen Teils noch sicher den durch diesen Tatbestand i. V. mit § 25 II StGB gebildeten speziellen Mittäterschaftstatbestand erfüllt, scheidet eine eindeutige Verurteilung als Alleintäter bzw. als Mittäter aus.44 Hingegen ist z. B. ein eindeutiger Schuldspruch wegen Anstiftung nach den klaren gesetzlichen Vorgaben auch dann möglich, wenn alternativ eine mittelbare Täterschaft unter Einsatz eines vorsätzlich-schuldlos Handelnden in Betracht zu ziehen ist. Denn die in einem solchen Fall mögliche mittelbare Täterschaft ändert nichts an der gleichzeitigen und damit letztlich eindeutigen Erfüllung der Anstiftungsvoraussetzungen.45 Wiederum anders verhält es sich aber, wenn der unmittelbar Handelnde möglicherweise ein gutgläubiges Werkzeug war. Dann sind die Voraussetzungen der Anstiftung ebenso wenig eindeutig erfüllt wie die der (mittelbaren) Täterschaft: Für die Anstiftung fehlt die eindeutig gegebene vorsätzliche Haupttat und für die (mittelbare) Täterschaft – von Sonderfällen abgesehen46 – die eindeutige täterschaftliche Verantwortlichkeit für das Geschehen.47 Die bloße „Gleichwertigkeit“ genügt nicht für die Erfüllung der spezifischen Voraussetzungen der jeweiligen Sanktionsnormen. Daher bedeutete eine Verurteilung – in welcher Form auch immer – am Gesetzlichkeitsgrundsatz gemessen eine verbotene Analogie. b) Alternative Tatbestandsverwirklichungsformen desselben Tatbestands Die im Bisherigen erörterte Möglichkeit, eine trotz der Tatsachenalternativität eindeutig erfüllte Tatbestandsverwirklichungsform für den Schuld- und Strafausspruch als gesetzliche Ermächtigungsgrundlage heranzuziehen, scheidet aus, wenn es sich lediglich um (annähernd) gleichwertige Tatbestandsverwirklichungs43 Nicht beachtet wird das etwa von Günther (Fn. 33), S. 70 ff. – Zur strafbarkeitskonstitutiven Funktion des § 25 II StGB s. etwa Freund (Fn. 11), § 10 Rn. 22 f. 44 Hier ist es auch nicht ohne Weiteres möglich, auf den im Folgenden unter II. 1. b) behandelten Aspekt der ausdrücklichen Verknüpfung gleichwertiger Tatbestandsverwirklichungsformen mit „oder“ abzustellen und die Unklarheit über die Täterschaftsform der Allein- oder der Mittäterschaft als tatbestandsirrelevant abzutun. Im Gesetz steht es nun einmal zumindest prima facie anders. Überlegenswert ist allenfalls, mit Blick auf die vollkommene Gleichstellung in den Rechtsfolgen (Schuldspruch und Bestrafung des Mittäters „als Täter“) zwischen § 25 I und § 25 II StGB eine sich aus dem Sachzusammenhang ergebende „oderVerknüpfung“ anzunehmen (s. dazu noch unten II. 1. b] a.E.). 45 Für die vergleichbare Konstellation des nicht erweislichen, aber möglichen täterschaftsbegründenden Nötigungsdrucks auf den unmittelbar handelnden Vorsatztäter sachlich übereinstimmend etwa Wolter, Alternative und eindeutige Verurteilung (Fn. 34), S. 241 (eindeutige Verurteilung wegen Anstiftung). Nicht näher einzugehen ist hier auf die Problematik der „Rechtswidrigkeit“ der Haupttat i.S. der Anstiftungssanktionsnorm, wenn das Handeln des Genötigten infolge des Nötigungsdrucks als gerechtfertigt anzusehen ist; vgl. dazu Freund (Fn. 11), § 10 Rn. 14 ff. 46 Vgl. zu solchen denkbaren Sonderfällen Freund (Fn. 11), § 10 Rn. 6. 47 In einem „Einheitstäterkonzept“ mag das anders sein.
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formen handelt.48 Sofern nicht eine davon als allgemeine die andere als speziellere umfasst, ist gerade keine der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen isoliert betrachtet für einen Schuld- und Strafausspruch eindeutig erfüllt. Wenn etwa offen bleibt, ob ein gefährliches Werkzeug verwendet worden ist, ein Angriff mehrerer stattgefunden hat oder aber eine lebensgefährdende Behandlung vorgenommen wurde, kann man zwar sagen, dass der Täter in materieller Hinsicht den Unwertgehalt einer gefährlichen Körperverletzung sicher verwirklicht hat. Er erfüllt aber nach dem Wortlaut des § 224 I StGB keinen der speziell aufgezählten Qualifikationsgründe in einer nachgewiesenen Form. Je für sich betrachtet liegt daher keiner der Qualifikationsgründe sicher vor. Das Ergebnis einer nur wegen einfacher Körperverletzung möglichen Verurteilung wäre jedoch offensichtlich unbefriedigend. Dass vielleicht bei der Strafzumessung innerhalb des Rahmens des § 223 I StGB der vorhandene gesteigerte körperverletzungsspezifische Unwertgehalt berücksichtigt werden könnte, bedeutete nur einen schwachen Trost. Denn immerhin bliebe dem Täter der materiell verdiente Schuldspruch des § 224 StGB erspart. Indessen wären diese Überlegungen nicht geeignet, den Gesetzlichkeitsgrundsatz des Art. 103 II GG unter direktem Rekurs auf ein „Gebot der Gerechtigkeit“49 auszuhebeln. Vielmehr gilt es, sich immer vor Augen zu halten, dass der Gesetzlichkeitsgrundsatz gerade dann seine berechtigte formellstrafbegrenzende Funktion zu erfüllen hat, wenn das Ergebnis im Einzelfall materiell gesehen ganz und gar ungerecht erscheint.50 Um materiell unberechtigte Bestrafungen zu verhindern, bedarf es des Gesetzlichkeitsgrundsatzes nicht. Diese sind ohnehin illegitim. Zu einem mit dem Gesetzlichkeitsgrundsatz in Einklang stehenden Ergebnis kann man freilich bei einem nach dem Wortlaut ohne Weiteres möglichen modifizierten Verständnis der Aufzählung von Qualifikationsgründen in § 224 I StGB gelangen: Obwohl prima facie ein Verständnis der Aufzählung naheliegt, bei dem für einen Schuldspruch wegen gefährlicher Körperverletzung zumindest einer der genannten Qualifikationsgründe sicher erfüllt sein muss, ist es jedenfalls nicht ausgeschlossen, die Verwendung der Konjunktion „oder“ auch auf die hier interessierenden Konstellationen der Tatsachenalternativität zu beziehen.51 Eine Lesart i. S. einer dadurch gesetzlich gestatteten „wahldeutigen“ Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung entweder i. S. der Nr. 2 oder der Nr. 4 oder der Nr. 5 dehnt zwar den tradierten 48 Zur Problematik der „Gleichwertigkeit“ und dazu, dass die Annahme der Gleichwertigkeit bestimmter Tatbestandsverwirklichungsformen nicht dazu berechtigt, den Gesetzeswortlaut zu missachten, näher Tsai (Fn. 36), S. 150 ff. (S. 183 ff. speziell zur Behandlung eines non liquet bei Tatbestandsalternativen). 49 Auf diesem Niveau freilich die Argumentation etwa in BGHSt 1, 127, 129. 50 Das wird mit Recht betont von NK-StGB/Frister (Fn. 6), Nach § 2 Rn. 83; s. auch Jakobs (Fn. 7), 4/8 („Der Grundsatz produziert also Einzelfallungerechtigkeit“); Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Band III, 2. Aufl. 2008, Art. 103 II Rn. 13: „Art. 103 II GG entscheidet […] einen rechtsstaatlichen In-sich-Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit ausdrücklich zugunsten letzterer […]“. 51 Vgl. zur Problematik dieser Fälle etwa Tsai (Fn. 36), S. 199 ff., 206 ff.; instruktiv dazu auch Schmoller (Fn. 35), S. 45 ff.
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Sinn etwas aus, ist aber sehr wohl möglich. Diese Form der Verurteilung sprengt nicht etwa die Schuldspruchgrenzen des gesetzlichen Tatbestands, sondern bleibt tatbestandsimmanent. Der Täter wird am Ende zu Recht eindeutig wegen gefährlicher Körperverletzung nach § 224 I StGB schuldig gesprochen und wegen dieser Tat angemessen bestraft. Insofern verhält es sich nicht anders als bei dem durchaus gesetzeskonform wegen Betruges Verurteilten, bei dem die Bereicherungsabsicht feststeht und nur nicht geklärt werden kann, ob es ihm um eine Eigen- oder um eine Drittbereicherung ging. Denn das Strafgesetz des § 263 I StGB erfasst beides gleichermaßen – und zwar aufgrund der „oder-Konjunktion“ des Wortlauts auch mit der Maßgabe, dass offen bleiben darf, ob das eine oder das andere gegeben ist. Damit liegt nach den Vorgaben des Tatbestands letztlich auch nur eine spezielle Form der reinen Tatsachenalternativität vor.52 Entsprechendes lässt sich vielleicht gerade noch sagen, wenn es darum geht, ob jemand Allein- oder Mittäter einer bestimmten Straftat ist. Der Mittäter wird gemäß § 25 II StGB ebenfalls „als Täter“ schuldig gesprochen und entsprechend bestraft. Mit Blick auf diese vollkommene Identität in den Rechtsfolgen und aufgrund der in § 25 StGB umfassend geregelten Täterschaft kann zwischen § 25 I und § 25 II StGB eine sich aus dem Sachzusammenhang ergebende „oder-Verknüpfung“ angenommen werden. Dadurch gelangen die jeweils normierten Formen der Allein- und der Mittäterschaft in den Rang bloßer Unterfälle des übergreifenden „Tätertatbestands“, der durch § 25 StGB mitgeprägt wird und für dessen Verwirklichung die Alternativität der täterschaftlichen Erscheinungsformen ausreicht. Von den Fällen der reinen Tatsachenalternativität unter Einschluss der gesetzlich zugelassenen alternativen Erfüllung bestimmter Tatbestandsverwirklichungsformen desselben Tatbestands streng zu unterscheiden sind die im Folgenden behandelten Konstellationen der sog. „echten“ oder „ungleichartigen“ Wahlfeststellung – genauer: der Wahlfeststellung bei Gesetzesalternativität.53 Diese gesetzesalternative Wahlfeststellung ist – um das Ergebnis vorweg zu nehmen – gesetzlich nicht vorgesehen. Sie verstößt daher eklatant gegen den nullum crimen-Satz des Art. 103 II GG. 2. Die strafgesetzlich nicht vorgesehene gesetzesalternative Wahlfeststellung Es verwundert nach den durchaus handfesten Vorgaben des Art. 103 II GG, mit welcher Unbekümmertheit noch immer von der Rechtsprechung und einem Großteil des Schrifttums mit dem Institut der gesetzesalternativen Wahlfeststellung „gearbeitet“ wird. Zwar wird durchaus zur Kenntnis – ja geradezu zur Voraussetzung für die 52 Sachlich übereinstimmend insofern etwa Wolter, Wahlfeststellung (Fn. 34), S. 30 (eindeutige Verurteilung auf mehrdeutiger Tatsachengrundlage), der mit Recht auf das (auch) für solche Fälle bedeutsame Gleichwertigkeitserfordernis hinweist (bei materieller Ungleichwertigkeit handelt es sich sachlich um verschiedene Tatbestände). 53 Zur Terminologie vgl. Günther (Fn. 33), S. 23 m.w.N.
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gesetzesalternative Wahlfeststellung – genommen, dass nach der Gesetzeslage in den relevanten Fällen eine eindeutige Verurteilung nicht möglich ist, weil die Voraussetzungen der vorhandenen Strafgesetze nicht eindeutig erfüllt sind.54 Sodann wird aber bei „rechtsethischer und psychologischer Vergleichbarkeit“55 der alternativ verwirklichten Tatbestände bzw. bei einer „Identität im Unrechtskern“56 oder bei Erfüllung einer sonst präzisierten Gleichwertigkeitsformel57 nicht etwa nach einer die Lücke ausfüllenden anderen Ermächtigungsgrundlage für einen (alternativ gefassten) Schuldspruch gesucht oder die bei negativem Befund zwingende Konsequenz des Art. 103 II GG gezogen. Stattdessen wird unter direktem Rückgriff auf angebliche Gerechtigkeitsüberlegungen schlicht praeter legem die Möglichkeit einer alternativen Verurteilung postuliert. Das ist inakzeptabel: Denn die alternative Begehung einer „ähnlichen“ oder „im Unrechtskern identischen“ oder sonst irgendwie „vergleichbaren“ Straftat ändert nichts an der Tatsache, dass die Voraussetzungen von jeweils einem der beiden Strafgesetze nicht sicher (vollständig) erfüllt sind. Und ein Strafgesetz, das die alternative Verurteilung vorsieht, gibt es nicht.58 54 Im Klartext: Der Verstoß gegen den Gesetzlichkeitsgrundsatz soll Voraussetzung für die Zulässigkeit der sog. „echten Wahlfeststellung“ sein. – Zu der Voraussetzung der gesetzesalternativen Wahlfeststellung, dass eine eindeutige Verurteilung nicht möglich sein darf, s. etwa Schönke/Schröder/Eser/Hecker (Fn. 1), § 1 Rn. 78; Lackner/Kühl (Fn. 11), § 1 Rn. 11; MKStGB/Schmitz (Fn. 15), Anh. zu § 1 Rn. 39, 46, jew. m.w.N. 55 Vgl. zu diesem Kriterium etwa BGHSt 9, 390, 393 f.; Lackner/Kühl, (Fn. 11), § 1 Rn. 13. – Zur Kritik an der Formel der „rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit“ s. etwa Günther (Fn. 33), S. 106 ff.; Wolter, Alternative und eindeutige Verurteilung (Fn. 34), S. 79 ff., 85; SK-StGB/Rudolphi/Wolter (Fn. 34), Anh. zu § 55 Rn. 36 f. 56 Zu diesem Kriterium vgl. etwa Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 16 III 3 (S. 150); Otto, FS Peters, 1974, S. 373, 390 f.; s. auch die weiteren Nachw. bei Röhmel, JA 1975, 371, 377 und Lackner/Kühl (Fn. 11), § 1 Rn. 19. Zur Kritik an diesem Kriterium s. Wolter, Alternative und eindeutige Verurteilung (Fn. 34), S. 100 ff.; SK-StGB/Rudolphi/Wolter (Fn. 34), Anh. zu § 55 Rn. 39 ff. 57 Wolter (Wahlfeststellung [Fn. 34], S. 117 ff., 128; vgl. auch ders., JuS 1984, 606, 609) ist um eine starke Beschränkung der gesetzesalternativen Wahlfeststellung bemüht. Er benutzt dafür eine präzisierte Gleichwertigkeitsformel: Eine alternative Verurteilung soll möglich sein, wenn „die wahldeutig festgestellten Straftaten in ihrem (zumindest teilweise) gesetzlich vertypten (Handlungs- und Erfolgs-)Unrecht sowie in der Tatschuld konkret rechtsethisch vergleichbar sind“. Psychologische Aspekte sollen mit Recht keine Rolle spielen. Beispielsweise soll eine gesetzesalternative Wahlfeststellung demnach zulässig sein bei schwer voneinander abgrenzbaren Taten wie Trickdiebstahl und Betrug. Dem ist jedoch entgegenzuhalten: Wenn der mögliche Trickdieb die Voraussetzungen des Betruges gerade nicht erfüllt, darf er auch nicht entsprechend alternativ verurteilt werden. Et vice versa. 58 Die gesetzesalternative Wahlfeststellung mit Recht ablehnend daher etwa Endruweit, Die Wahlfeststellung und die Problematik der Überzeugungsbildung, der Identitätsbestimmung, der Urteilssyllogistik sowie der sozialen und personalen Gleichwertigkeit von Straftaten, 1973, S. 251 ff., 264, 293 ff., 338, 342 f.; Köhler, Strafrecht AT, 1997, S. 96; Schmidhäuser, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1975, 5/44 (S. 113); s. auch Alwart, GA 1992, 545, 550, 562 ff. Sachlich wird bei gesetzesalternativer Wahlfeststellung die nach Art. 103 II GG zu beachtende Wortlautbindung ignoriert und verbotene Analogie betrieben; s. auch schon Freund (Fn. 11), § 1 Rn. 30a. – In erfreulichem Klartext etwa Montenbruck, Wahlfeststellung und Werttypus im Strafrecht und Strafprozessrecht, 1976, S. 117: „Damit bestraft das Gericht formal wegen
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Es ist und bleibt unmöglich, die in Frage stehende Rechtsfolge des wahldeutigen Schuldspruchs und Strafausspruchs mit dem Gedanken gesetzesalternativer Tatbestandsverwirklichung zu legitimieren. In den hier interessierenden Fällen kann die in Erwägung gezogene Rechtsfolge (des [alternativ gefassten] Schuldspruchs und der entsprechenden Strafe) gerade nicht auf zwei alternative Tatbestandsverwirklichungen gestützt werden, die genau diese Rechtsfolge tragen. Denn die strafrechtlichen Rechtsfolgen der beiden in Frage stehenden Tatbestände sind jeweils grundverschieden. Schon wegen des Unterschieds im Schuldspruch als der Hauptrechtsfolge jeder Straftat kann z. B. der Diebstahlstatbestand die Verurteilung wegen Hehlerei niemals tragen. Desgleichen ist der Hehlereitatbestand nicht geeignet, einen Schuldspruch wegen Diebstahls zu rechtfertigen.59 Und für die Strafen der beiden unterschiedlichen Delikte gilt Entsprechendes – mögen diese bei oberflächlicher Betrachtung als Freiheits- oder Geldstrafe auch gleich aussehen. Die zur Stützung des gegenteiligen Ergebnisses gängigen Überlegungen sind in knapper Form etwa bei Tsai60 zusammengestellt: Ein Freispruch bei klar erwiesener Strafbarkeit widerspreche dem allgemeinen Rechtsempfinden und wäre selbst dem Angeklagten unbegreiflich; der Zweifelssatz dürfe den Angeklagten nicht ungerecht begünstigen; andernfalls seien „Unehrlichkeiten in der Rechtsprechung der Untergerichte“ zu befürchten, was für den Angeklagten ungünstiger sein könne als die Zulassung der gesetzesalternativen Wahlfeststellung. Schließlich widerspreche ein Freispruch präventiven Erwägungen, weil mit Sicherheit ein vom Angeklagten in rechtsfeindlicher Absicht begangenes Delikt feststehe. Indessen ändert die lange Tradition der gesetzesalternativen Wahlfeststellung nichts daran, dass genau Derartiges durch Art. 103 II GG strikt untersagt wird. eines neuen Tatbestandes.“ Indessen gilt: Ein derartiger – aus bestimmten Strafgesetzen herausdestillierter neuer und einem bestimmten „Typus“ entsprechender – Tatbestand, man mag ihn mit Montenbruck (vgl. z. B. S. 117, 220) „Grundtatbestand“ nennen, hat gerade keine strafgesetzliche Gestalt angenommen. Montenbruck spricht ganz offen von einem „außergesetzlichen Grundtatbestand“, der allgemeiner und damit weiter gefasst ist als vorhandene gesetzliche Bestimmungen der Strafbarkeit (vgl. S. 228, 240). Dieser allgemeinere Tatbestand mag zwar durch Richterrecht durchaus konkretisierbar sein (vgl. S. 122 ff., 199, 242), er entbehrt jedoch zwangsläufig der entsprechenden gesetzlichen Festlegung der Strafbarkeit. Genau diese ersatzweise Bildung eines neuen Straftatbestands durch Richterrecht wird durch Art. 103 II GG strikt untersagt. – Überlegungen zur sachlichen Berechtigung eines derartigen „außergesetzlichen Grundtatbestands“ können allenfalls Mahnung an den Gesetzgeber sein, seine Strafgesetze stärker an dem auszurichten, worauf es normativ tatsächlich ankommt, statt sich in naturalistischen Details zu verlieren. Klassisches Beispiel für diesen Fehler ist die angeordnete Strengerbestrafung des Forstdiebstahls, der mittels eines „bespannten Fuhrwerks“ begangen wird (fehlerhaft dazu BGHSt 10, 375 f.; zur Kritik s. Freund [Fn. 11], § 1 Rn. 29). Abhilfe kann hier nur eine angemessene Gesetzgebungslehre schaffen, die in der Gesetzgebungspraxis auch tatsächlich beachtet wird. 59 Zutreffend beanstandet Schmoller (Fn. 35), S. 70, dass ein Schuldspruch in solchen Fällen gesetzlich nicht vorgesehen ist, und zwar auch nicht als Schuldspruch i.S. eines „gemeinsamen Grundtatbestands“ Montenbruckscher Prägung. 60 Tsai (Fn. 36), S. 187; vgl. ferner etwa Welz (Fn. 34), S. 161 f.
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Nach dem oben (I. 1., 4.) zur Gewaltenteilung Gesagten soll es den Strafgerichten aus gutem Grund absolut verwehrt sein, Strafgesetzgebung zu betreiben. Eine schon klassisch zu nennende Entscheidung des BGH ist hier aufschlussreich: Es ging um den Fall einer anlässlich des Muttertages entwendeten Topfblume. Dabei blieb unklar, ob der Angeklagte die Topfblume selbst gestohlen oder aber seine Ehefrau zu dem Diebstahl angestiftet hatte.61 Der BGH begründet die Verurteilung nicht – wie es allein angemessen gewesen wäre – mit einem Strafgesetz, das diese Verurteilung62 anordnet, sondern mit einem angeblichen „Gebot der Gerechtigkeit“. Der BGH erkennt durchaus, dass sich im konkreten Fall die beiden Beteiligungsformen gegenseitig rechtlich ausschließen, meint aber dennoch, den Angeklagten einer auf jeden Fall verdienten Strafe zuführen zu dürfen. Das sei genauso richtig „wie bei der allgemein für zulässig erachteten Wahlfeststellung zwischen Diebstahl und Hehlerei“.63 Dem ist entschieden entgegenzuhalten: Der nullum crimen-Satz kommt mit seiner formalen Wortlautgarantie gerade dann zum Tragen, wenn ein Freispruch materiell eigentlich „ungerecht“ erscheint. Im Falle des Diebstahls der Topfblume war der Angeklagte daher freizusprechen.64 Er hat weder die Tatbestandsvoraussetzungen des Diebstahls noch die der Anstiftung zum Diebstahl mit der erforderlichen Sicherheit erfüllt. Daher greift auch die Anordnung der entsprechenden Rechtsfolge nicht ein. Und eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für eine alternative Verurteilung fehlt offensichtlich. Dabei handelt es sich auch nicht etwa um ein bloßes (prozessuales) Beweisproblem, bei dem das „non liquet“ nur in der Vorstellung des Richters bestehe, wohingegen materiell-rechtlich die Strafbarkeit des Angeklagten feststehe.65 Für den konkret in Frage stehenden Rechtseingriff gegenüber dem in verschiedener Hinsicht möglicherweise Schuldigen gibt es im geschriebenen materiellen Strafrecht keine Rechtsgrundlage. Der Gesetzlichkeitsgrundsatz des Art. 103 II GG darf in dieser Hinsicht nicht hinter dem allgemeinen rechtsstaatlichen Erfordernis einer gesetzli61
BGHSt 1, 127 ff. – S. zu diesem Fall bereits Freund (Fn. 11), § 1 Rn. 30b. Trotz der vom BGH eigentlich für richtig gehaltenen Wahlfeststellung zwischen täterschaftlichem Diebstahl und Anstiftung zum Diebstahl sieht er im Ergebnis die durch die Vorinstanz erfolgte eindeutige Verurteilung des Angeklagten wegen Anstiftung zum Diebstahl als diesen nicht beschwerend an (BGHSt 1, 127, 129). Nach wie vor auf demselben falschen Weg etwa BGH NStZ 2009, 258 (Verurteilung wegen Anstiftung zur Brandstiftung bei möglicher Täterschaft); vgl. auch Norouzi, JuS 2008, 17, 20. 63 BGHSt 1, 127, 129; zur großen zahlenmäßigen Bedeutung der Wahlfeststellung zwischen Diebstahl und Hehlerei s. Wolter, Wahlfeststellung (Fn. 34), S. 163 f.; ferner etwa Montenbruck, GA 1988, 531. 64 Für diese Konstellation exklusiver Alternativität von (Allein-)Täterschaft und Anstiftung sachlich übereinstimmend Wolter, Alternative und eindeutige Verurteilung (Fn. 34), S. 251 ff. – Mit Recht in solchen Fällen die Beachtung des Gesetzlichkeitsgrundsatzes einfordernd auch NK-StGB/Frister (Fn. 6), Nach § 2 Rn. 53, 102. – Zur Gegenauffassung s. etwa LK-StGB/ Dannecker (Fn. 33), Anh. § 1 Rn. 92. 65 Diese verbreitete Fehlintuition findet sich etwa bei Günther (Fn. 33), S. 168 f. – Zutreffend demgegenüber bereits Endruweit (Fn. 58), S. 253 f.: Das Verbot gesetzloser Verurteilung kann durch einen Verweis auf das Beweisrecht nicht ausgeschaltet werden. 62
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chen Ermächtigungsgrundlage für den konkret in Frage stehenden Rechtseingriff zurückbleiben.66 Er schreibt keineswegs nur vor, dass der Gesetzgeber die Strafandrohung im Voraus festzulegen hat. Es stimmt nicht, dass er zu der Frage schweigt, ob eine Verurteilung nur eindeutig oder auch mehrdeutig sein darf.67 Eine abstrakt-generelle gesetzliche Strafbarkeitsandrohung ist unzureichend. Vielmehr bedarf es einer Strafbarkeitsanordnung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, die eine tragfähige Eingriffsgrundlage für den konkreten Schuld- und Strafausspruch im Einzelfall bildet. Indessen ist eine mehrdeutige Verurteilung strafgesetzlich ebenso wenig vorgesehen wie die Verurteilung des hochwahrscheinlich Schuldigen – mag auch für diesen im Falle seiner wirklichen Täterschaft die abstrakt-generelle Strafandrohung bestehen. Der konkrete Schuld- und Strafausspruch hat nur dann eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage in einem bestimmten Strafgesetz, wenn dessen Voraussetzungen prozessordnungsgemäß bewiesen sind. Entsprechendes gilt selbstverständlich – entgegen der Annahme des BGH – auch bei einer mit einem Diebstahl im exklusiven Alternativverhältnis stehenden Hehlerei. Da der Dieb als Vortäter nicht zugleich sein eigener Hehler sein kann, ist weder der eine noch der andere Tatbestand erfüllt. Und auch in diesem Fall führt die Suche nach einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage für eine „Entweder-Oder-Verurteilung“ zu einem eindeutig negativen Ergebnis.68 Ein Diebstahl ist nun einmal keine Hehlerei und ein Betrug kein Diebstahl. Selbst eine nur begrenzte Zulassung der gesetzesalternativen Wahlfeststellung macht den Richter in unzulässiger Weise zum Strafgesetzgeber und konterkariert so die für den Gesetzlichkeitsgrundsatz des Art. 103 II GG wesentliche Ausdifferenzierung des Deliktssystems, das in Gesetzesform zu schaffen ist. Aus gutem Grund gehört dessen differenzierte Erfassung zu den wesentlichen Zielen der Juristenausbildung im Strafrecht. In diesem Zusammenhang überrascht es einigermaßen, mit welcher Leichtigkeit das gesetzliche System spezieller Straftatbestände beiseitegeschoben wird, um ein diffuses Bestrafungsbedürfnis zu befriedigen: Dem Angeklagten dürfe es nicht zugutekommen, dass der Gesetzgeber durch den Gesetzlichkeitsgrundsatz gezwungen sei, ein derart differenziertes und damit notwendig lückenhaftes System zu schaffen.69 66
S. zu diesem wichtigen Aspekt etwa Jarass/Pieroth (Fn. 3), Art. 103 Rn. 49; Kuhlen, FS Otto, 2007, S. 89, 91 ff., jew. m.w.N. 67 So aber unzutreffend z. B. Stuckenberg, JA 2001, 221, 222 (mit der immerhin richtigen Erkenntnis, dass die gesetzesalternative Wahlfeststellung bei Einschlägigkeit des nullum crimen-Satzes „unrettbar verfassungswidrig“ ist, „weil Art. 103 II GG absolut gewährleistet und keiner Abwägung mit kriminalpolitischen Bedürfnissen zugänglich ist“). 68 Nicht näher einzugehen ist hier auf die Möglichkeit, in einem solchen Fall zu einer eindeutigen Verurteilung wegen Unterschlagung zu kommen. Zur Unterschlagungsproblematik vgl. etwa Küper, Probleme der Hehlerei bei ungewisser Vortatbeteiligung, 1989, S. 75 ff.; ferner NK-StGB/Altenhain (Fn. 6), § 259 Rn. 86; NK-StGB/Frister (Fn. 6), Nach § 2 Rn. 97 a.E. 69 Vgl. etwa Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2003, § 10 Rn. 36: „Weder der Grundsatz nullum crimen noch der Grundsatz in dubio pro reo zwingen uns, dem Täter die Verschanzung gerade hinter den Regelungen zu gestatten, die der Gesetzgeber zur genauen
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Ebenso wie eine Straftat nur entweder ganz oder gar nicht begangen werden kann, ist die Strafbarkeit dieser Tat auch nur entweder ganz oder gar nicht i. S. d. Art. 103 II GG gesetzlich bestimmt. Bei nur gesetzesalternativ begangener Tat wird nicht etwa jede der beiden möglichen Taten zur Hälfte oder auch nur „ein bisschen“ begangen, sondern keine von beiden Tatbegehungen liegt so vor, dass deren Strafbarkeit mit der erforderlichen Sicherheit auf die jeweils vorhandenen Strafgesetze als Eingriffsgrundlage gestützt werden könnte. Denn dafür müssten deren Anwendungsbedingungen erfüllt sein. Der jeweilige bloße Verdacht genügt nicht.70 Vielmehr gehört zu diesen Anwendungsbedingungen selbstverständlich auch ein ordnungsgemäßer Tatnachweis. Und auch die abstrakte gesetzliche Strafandrohung für den Fall der Begehung dieser Straftat ändert nichts daran, dass die Strafbarkeitsanordnung nur unter der Bedingung der erwiesenen tatsächlichen Tatbegehung gilt.71 Durch die bloße Addition zweier nicht nur unvollständig, sondern überhaupt nicht erfüllter gesetzlicher Sanktionsanordnungen kann nun aber ebenfalls keine gesetzliche Strafbarkeitsanordnung entstehen. Daran ändert die Sicherheit hinsichtlich der gesetzesalternativen Erfüllung jedenfalls einer der beiden Sanktionsnormen nicht das Geringste. Um dahin zu kommen, bedürfte es eines entsprechend alternativ gefassten Strafgesetzes, das diese „Alternativen-Tat“ unter Strafe stellte.72 Art. 103 II GG ist wörtlich zu nehmen, wenn er verlangt, dass eine „Tat“ nur dann bestraft werden darf, wenn deren Strafbarkeit gesetzlich „bestimmt“ war, bevor die Tat begangen wurde. Der konkrete Schuld- und Strafausspruch muss sich danach auf ein vorhandenes Strafgesetz stützen können, dessen Voraussetzungen erwiesenermaßen vollständig erfüllt sind. Der Gesetzlichkeitsgrundsatz darf nicht auf das Erfordernis einer abstrakten Strafandrohung für das Begehen irgendwelcher – und sei es auch verwandter – Taten verkürzt werden. Die bloß abstrakte Androhung von Strafe für irgendetwas ist noch lange keine gesetzliche „Bestimmung“ der Strafbarkeit der konkreten „Tat“, von der Art. 103 II GG spricht. Vielmehr bedarf es dafür der gesetzlichen Festlegung sämtlicher Strafbarkeitsvoraussetzungen.
Spezialisierung des Unrechts und nicht etwa zum Schutz des Täters, sondern zum besseren Schutz der Rechtsgemeinschaft erlassen hat.“ – Dem ist zu widersprechen: Das in Art. 103 II GG normierte zwingende Erfordernis gesetzlicher Festlegung der Strafbarkeitsvoraussetzungen dient durchaus dem Schutz dessen, der mit Sicherheit irgendetwas rechtlich Missbilligtes getan hat! Sachlich übereinstimmend etwa Endruweit (Fn. 58), S. 165: Der Gesetzlichkeitsgrundsatz schützt nicht nur den vollkommen Unschuldigen; vielmehr ist Straftäter „nur der, auf den eine zur Tatzeit bestehende Strafnorm genau zutrifft“. 70 Mit Blick auf die Unschuldsvermutung zutreffend krit. gegenüber der gesetzesalternativen Wahlfeststellung Schmoller (Fn. 35), S. 71 ff. 71 Zur wichtigen normentheoretischen Differenzierung zwischen der Verhaltensnorm, der strafbewehrten Verhaltensnorm und der Sanktionsnorm näher oben I. 2., 4. 72 Zu den – beschränkten – Möglichkeiten angemessener tatbestandsimmanenter Normierung solcher Alternativen-Tatbestände vgl. oben II. 1. b). – De lege ferenda sind mit Blick auf die zu erfüllende Aufgabe von Schuldspruch und Strafe enge Grenzen gesetzt – jedenfalls wenn angemessene Strafgesetzgebung betrieben werden soll (vgl. dazu unten II. 3.).
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Die Bemühungen im Schrifttum, dem Unwesen gesetzwidriger Wahlfeststellung Einhalt zu gebieten,73 sind uneingeschränkt zu begrüßen. In dieser Hinsicht hat sich nicht zuletzt der Jubilar Jürgen Wolter mit seinen gründlichen Untersuchungen zu dieser Problematik große Verdienste erworben.74 Bei vielen Kritikern der gesetzesalternativen Wahlfeststellung ist lediglich zu bedauern, dass die Ablehnung nicht konsequent genug erfolgt, sondern mehr oder weniger große Zugeständnisse gemacht werden. Ein Übel bleibt auch dann ein solches, wenn man diesem keinen ungehemmten Wirkungskreis einräumt. Nur dessen vollkommene Beseitigung bewahrt davor, dass es auf engem Raum großen Schaden am rechtsstaatlichen Strafrecht anrichtet. Für den zu wahrenden Gesetzlichkeitsgrundsatz besteht ein straftatbestandlich relevanter Unterschied zwischen den möglicherweise begangenen Taten auch bei engstem Verständnis einer „rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit“ oder einer „Identität im Unrechtskern“ oder einer sonst irgendwie präzisierten „Vergleichbarkeit“. Auch und gerade das „Drumherum“ kennzeichnet den spezifischen Deliktstyp, den nur der dazu berufene – demokratisch legitimierte – Strafgesetzgeber festlegen darf. Unter dem Blickwinkel des Gesetzlichkeitsgrundsatzes spielt es keine Rolle, ob der Angeklagte ein möglicher Wilderer oder alternativ Täter eines versuchten Mordes am Förster ist oder aber alternativ zum Betrüger ein Dieb etc. Nach weithin anerkannter Auffassung muss der Angeklagte, der in der erstgenannten Konstellation etwa im Revier eines anderen Jagdausübungsberechtigten mit ungeklärtem Ziel geschossen hat, freigesprochen werden. Die gegenteilige Position dürfte im Übrigen kaum ernsthaft vertretbar sein, und das, obwohl in diesem Fall durchaus feststeht, dass der Angeklagte eine Straftat begangen hat und auch sonst alle oben aufgeführten „Argumente“ für eine auf jeden Fall verdiente Verurteilung greifen. Es fehlt unter diesen Umständen lediglich an einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage für die Bestrafung. Nicht anders verhält es sich aber auch, wenn die alternativ begangenen Straftaten nicht ganz so weit auseinanderliegen wie die Wilderei und der Mordversuch. Wilderer oder Täter eines versuchten Mordes, Dieb oder Betrüger ist der Angeklagte entweder ganz oder gar nicht. Daher ist auch der mit dem entsprechenden Schuldspruch erhobene Vorwurf bei der Alternativstellung von Diebstahl und Betrug ebenso wenig teilweise berechtigt wie bei der Alternativstellung von Wilderei und Mordversuch. Die alternativ genannten Delikte sind allesamt nicht etwa in ihrem Unrechtskern (oder in vergleichbarer Hinsicht) – also teilweise – mit Sicherheit began-
73 Zu nennen sind außer dem Jubilar etwa Endruweit (Fn. 58), S. 251 ff., 264, 293 ff., 338, 342 f.; NK-StGB/Frister (Fn. 6), Nach § 2 Rn. 83 ff.; Günther (Fn. 33), S. 218 ff., 237 ff.; Jakobs, GA 1971, 257 ff., 269 ff.; Schmoller (Fn. 35), S. 27 ff., 43 ff., 71 ff., 157 ff.; s. auch Alwart, GA 1992, 545, 550, 562 ff. 74 S. dazu etwa Wolter, Alternative und eindeutige Verurteilung (Fn. 34); ders., Wahlfeststellung und in dubio pro reo, 1987; Grundfälle zur Wahlfeststellung bei Wolter, JuS 1983, 363 ff., 602 ff., 769 ff. und 1984, 37 ff., 530 ff., 606 ff.; s. auch ders., GA 1974, 161 ff.; ferner SK-StGB/Rudolphi/Wolter (Fn. 34), Anh. zu § 55 Rn. 5 ff., 30 ff., 42 ff.
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gen. Vielmehr erfüllt das, was erwiesenermaßen „begangen“ worden ist, per definitionem keinen Straftatbestand des geltenden Rechts. Durchaus ernst zu nehmen ist allerdings die oben angesprochene Gefahr, dass die Tatgerichte bei konsequenter Umsetzung des Gesetzlichkeitsgrundsatzes durch die Revisionsgerichte – also bei vollkommener Ablehnung der gesetzesalternativen Wahlfeststellung – geneigt sein könnten, an der Sachverhaltsschraube so lange zu drehen, bis der festgestellte Sachverhalt eindeutig zu einen bestimmten Straftatbestand passt.75 Indessen ist es vollkommen inakzeptabel, diesen rechtsbeugenden Sachverhaltsteufel durch den keineswegs weniger schlimmen Wahlfeststellungsbeelzebub austreiben zu wollen. Denn am Ende hat man deren zwei. Stattdessen gilt es, das Übel an seiner Wurzel und die tatrichterliche Willkür bei den Hörnern zu packen: Auch die Tatfrage ist eine reine Rechtsfrage, für deren Beantwortung entsprechende Kriterien und Kontrollmechanismen zu entwickeln sind.76 Die auch nur begrenzte Zulassung der gesetzesalternativen Wahlfeststellung ohne entsprechende Ermächtigungsgrundlage ist demgegenüber kein gangbarer Lösungsweg. 3. De lege ferenda zuzulassende gesetzesalternative Wahlfeststellung? Nach alledem stellt sich abschließend die Frage, ob nicht vielleicht wenigstens de lege ferenda eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung zur gesetzesalternativen Wahlfeststellung alle Probleme lösen könnte. Indessen ist vor einer solchen verlockend klingenden „Lösung“ zu warnen.77 Eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung zur Verurteilung in den hier interessierenden Fällen gab es bereits einmal. Im Jahre 1935 wurde § 2b RStGB (vgl. auch § 267b StPO a.F.) mit folgendem Inhalt eingeführt: „Steht fest, daß jemand gegen eines von mehreren Strafgesetzen verstoßen hat, ist aber eine Tatfeststellung nur wahlweise möglich, so ist der Täter aus dem milderen Gesetz zu bestrafen.“ Nicht ohne Grund wurde diese Regelung durch Kontrollratsgesetz Nr. 11 v. 30. 1. 1946 wieder aufgehoben.78 Das Konzept einer gesetzlichen Zulassung gesetzesalternativer Verurteilungen würde genau das aus den An-
75 Vgl. zu dieser Gefahr etwa auch LK-StGB/Dannecker (Fn. 33), Anh. § 1 Rn. 11; Günther (Fn. 33), S. 165, 180, 182 f.; Montenbruck (Fn. 58), S. 195 f., jew. m.w.N. 76 Zur Tatfrage als Rechtsfrage näher Freund, FS Meyer-Goßner, 2001, S. 409 ff., 417 ff.; s. auch bereits ders., Normative Probleme der „Tatsachenfeststellung“, 1987; Grasnick, in: Simon/Stegmaier (Hrsg.), Fremde Vernunft, 1998, S. 194, 204 ff.; Stein, in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, 1995, S. 233 ff. 77 Für eine sehr weitgehende gesetzliche Zulassung gesetzesalternativer Wahlfeststellung freilich etwa Fuchs, Die Wahlfeststellung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, 1962, S. 123 f., 132 ff.; s. auch Zeiler, ZStW 72 (1960), 4 ff., 24 ff. – Dagegen bereits zutreffend Wolter, Alternative und eindeutige Verurteilung (Fn. 34), S. 279 f. 78 Vgl. dazu etwa Welz (Fn. 34), S. 162 f.; Schönke/Schröder/Eser/Hecker (Fn. 1), § 1 Rn. 58, jew. m.w.N.
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geln heben, was ein gesetzlich ausdifferenziertes rechtsstaatliches Tatstrafrecht leisten soll. Es kann dafür nicht genügen, dass jemand, der sich irgendetwas hat zu Schulden kommen lassen, irgendeine Strafe erhält. Vielmehr muss zur Wiederherstellung des durch eine ganz bestimmte ordnungsgemäß nachgewiesene Tat gestörten Rechtsfriedens genau auf diese Tat mit dem richtigen Schuldspruch und dem passenden Strafausspruch angemessen missbilligend reagiert werden.79 Ansonsten tritt an die Stelle einer bestimmten Straftat ein „Generaldelikt des Rechtsbruchs“, bei dem offen bleibt, wodurch der Betreffende „ein schlechtes Beispiel“ gegeben hat.80 Damit würde er auch zum Erhalt der Geltungskraft solcher Verhaltensnormen herangezogen, gegen die er mit einiger Wahrscheinlichkeit überhaupt nicht verstoßen hat.81 Damit, dass eine bestimmte Tat nicht nachweisbar ist, kann und muss ein rechtsstaatliches Strafrecht leben. Wer meint, dies in dem Fall anders sehen zu dürfen, in dem sich immerhin nachweisen lässt, dass jemand überhaupt irgendeine Straftat begangen hat (man weiß nur nicht welche), müsste konsequenterweise für eine grenzenlose Zulassung einer Verurteilung in solchen Fällen eintreten.82 Es wäre willkürlich, die gesetzesalternative Verurteilung bei irgendwie ähnlichen oder verwandten Straftaten gesetzlich zuzulassen, aber z. B. nicht bei dem, der entweder gewildert oder aber versucht hat, den Förster zu töten. Daher bleibt es dabei: Die gesetzlichen Grenzen der jeweiligen Tatbestände dürfen nicht verwischt werden. Nur auf dieser Basis gibt es die sowohl für den Schuldspruch als auch für die weitere Rechtsfolgenbestimmung benötigte klare strafrechtliche Verantwortlichkeit.
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Die Bedeutung des straftheoretischen Aspekts der zu erfüllenden Aufgabe erfasst zutreffend NK-StGB/Frister (Fn. 6), Nach § 2 Rn. 85 ff., 88 ff. (s. auch schon Jakobs, GA 1971, 257 ff., 267 ff., 269 ff.). Relevant ist dieser Aspekt allerdings nur de lege ferenda. De lege lata kommt es allein darauf an, dass es für die gesetzesalternative Verurteilung keine Rechtsgrundlage gibt (zumindest missverständlich insofern NK-StGB/Frister [Fn. 6], Nach § 2 Rn. 84; klar und eindeutig dagegen Rn. 97: „durch das Gesetz in keiner Weise legitimiert“). 80 Mit Recht betont von Jakobs, GA 1971, 257 ff., 269. 81 Jakobs, GA 1971, 257 ff., 269 beanstandet daher zutreffend den Verdachtsstrafencharakter der gesetzesalternativen Wahlfeststellung: „Zwar führen die Wahrscheinlichkeiten auf Grund ihrer Alternativität insgesamt zur Gewißheit, aber ohne daß auch mit Gewißheit die verletzte Norm oder auch nur das verletzte Rechtsgut bezeichnet werden könnte. Es fehlt die Notwendigkeit, die Achtung vor sämtlichen in Frage kommenden Rechtsgütern einzuschärfen, da ohne deren Mißachtung – und diese ist zwar je wahrscheinlich, alternativ aber ausgeschlossen – die Unverbrüchlichkeit der sie schützenden Normen nicht in Frage steht.“ – Am Verdachtsstrafencharakter gesetzesalternativer Wahlfeststellung ändert sich übrigens selbst dann nichts, wenn man im Strafrecht allein Wert auf gerechte Vergeltung der begangenen Tat legt. Mit Recht betont Wolter (SK-StGB/Rudolphi/Wolter [Fn. 34], Anh. zu § 55 Rn. 5b), „dass der Täter durch Missachtung einer bestimmten Verhaltensnorm Schuld auf sich geladen“ haben muss. Nur ein rechtsstaatswidriges „Täterstrafrecht“ kann sich damit begnügen, dass der Betreffende dem Recht irgendwie feindlich gegenübersteht. 82 Zumindest konsequent insofern etwa Fuchs (Fn. 77), S. 134 f.
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4. Weitere Beispiele strafgesetzlich nicht vorgesehener Verurteilungen bei offenem Sachverhalt Zur Abrundung seien an dieser Stelle noch kurz einige weitere Verstöße gegen den Gesetzlichkeitsgrundsatz angesprochen, die im Zusammenhang mit strafbarkeitsrelevanten Sachverhaltszweifeln auftreten. Nach dem zur gesetzesalternativen Wahlfeststellung Gesagten liegt gleichfalls ein Verstoß gegen den Gesetzlichkeitsgrundsatz in manchen Fällen der sog. „Postpendenzfeststellung“83 vor – etwa wenn jemand wegen Hehlerei verurteilt wird, obwohl nicht ausgeschlossen werden kann, dass er das Hehlereiobjekt bereits als Mittäter an dem Betrug als Vortat erlangt hat.84 Wenn die Erlangung eines Gegenstandes durch einen mittäterschaftlichen Betrug nicht erweislich, sondern nur möglich ist, liegen die Voraussetzungen einer Verurteilung wegen Betruges nicht vor. Bei immerhin möglicher Erlangung des Gegenstandes als Betrugsmittäter ist aber auch das Hehlereierfordernis der durch einen „anderen“ (den vom Hehler zu unterscheidenden Vortäter) erlangten Sache nicht erfüllt.85 Man mag das als ungerecht empfinden – gesetzlich vorgesehen ist eine Verurteilung des Betreffenden als Hehler eindeutig nicht. Der geheimnisvoll klingende Begriff der „Postpendenzfeststellung“ schafft keine ausreichende gesetzliche Ermächtigungsgrundlage. In diesen Kontext gehört auch die Bestrafung wegen Nichtanzeige einer geplanten Straftat, obwohl eine strafbare Beteiligung an der anzuzeigenden Tat möglich erscheint und lediglich nicht nachweisbar ist.86 Geht man davon aus, dass den Tatbeteiligten keine Anzeigepflicht trifft,87 liegen die Voraussetzungen der Sanktionsnorm 83 Allg. zu den Konstellationen der sog. Postpendenz- oder Präpendenzfeststellung etwa Heinrich, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2012, Rn. 1454 ff.; Joerden (Fn. 34), S. 120 ff.; s. auch Küper (Fn. 68), S. 18 ff., 39 ff., 69 ff.; ders., FS Lange, 1976, S. 65 ff.; Wolter, Wahlfeststellung (Fn. 34), S. 38 ff. 84 S. zu einem solchen Fall etwa BGH NStZ 1989, 1867 f. (in dem zumindest unklar ist, ob der Angeklagte die Beute nicht bereits als Mittäter der Vortat „erlangt“ hat). – Zurückhaltender insofern noch BGHSt 35, 86 ff. (= NStZ 1988, 455 f. m. Anm. Wolter; in dieser Entscheidung legt der BGH noch Wert darauf, dass die Hehlereivoraussetzung der primären Sacherlangung durch einen anderen [Mittäter] eindeutig erfüllt ist). Vgl. dazu auch Küper (Fn. 68), S. 5 ff., 22 ff., 69 ff.; ders., FS Lange, 1976, S. 65, 73 ff. 85 Zu Überlegungen, den „anderen“ nicht als tatbestandsrelevant, sondern nur als konkurrenzrechtlich bedeutsam anzusehen mit Recht krit. etwa Küper (Fn. 68), S. 56 ff. (bezogen auf den Alleinvortäter). 86 Eine Verurteilung nach § 138 StGB soll trotz fortbestehenden Beteiligungsverdachts unter Rückgriff auf den Grundsatz in dubio pro reo möglich sein; s. etwa BGHSt 55, 148 ff. (= BGH NStZ 2010, 449 f.) m. zutr. krit. Anm. Schiemann, NJW 2010, 2293 f. Der BGH bezieht in dieser Entscheidung leider keine klare Position in der Frage, ob der Tatbestand des § 138 StGB bei tatsächlicher Beteiligung erfüllt ist, sondern spricht nur vage von einem „normativethischen Stufenverhältnis“ und einer „minderen Zurechnungsform“. 87 Dass man diese verbreitete Auffassung (vgl. etwa BGHSt 39, 164, 167; Fischer, StGB, 60. Aufl. 2013, § 138 Rn. 18 f. m.w.N.) durchaus kritisch sehen kann (vgl. etwa SK-StGB/ Rudolphi/Stein, Stand: 66. Lfg. [2006], § 138 Rn. 5 f.; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT, Teilband 2, 10. Aufl. 2012, § 98 Rn. 17), soll hier nicht weiter diskutiert werden. Im ent-
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des § 138 StGB schon bei möglicher Tatbeteiligung nicht (sicher) vor. Darüber helfen auch verunklarende Formulierungen wie „Auffangtatbestand“88 nicht hinweg. Nicht unerwähnt bleiben soll schließlich die Missachtung des Gesetzlichkeitsgrundsatzes durch den BGH bei einer nicht nachweisbaren Beihilfe durch Zusage eines falschen Alibis, das nach der möglicherweise geförderten Haupttat tatsächlich gegeben wird.89 Wenn – wie im Fall des BGH – nicht ausgeschlossen werden kann, dass die mit dem falschen Alibi begangene Strafvereitelung zugunsten des Haupttäters auch begangen worden ist, um die eigene Bestrafung wegen der möglichen Haupttatbeihilfe zu vereiteln, liegen die Voraussetzungen der Strafbarkeitsausnahme des § 258 V StGB nach Wortlaut und Ratio möglicherweise vor. Für eine Verurteilung wegen Strafvereitelung müsste sicher feststehen, dass diese Selbstbegünstigungstendenz keine Rolle gespielt hat. Neben der Sache liegen insofern die Überlegungen des BGH zu einer Art Vorverschulden mit Blick auf die möglicherweise gegebene Zusage des falschen Alibis vor der Tat. Die klare gesetzliche Regelung in § 258 V StGB sieht das jedenfalls anders. Nach ihr soll auch derjenige in den Genuss der Strafbefreiung kommen, der die Situation zu verantworten hat, in die er durch seine Vortatbeteiligung geraten ist. Der BGH missachtet hier die gesetzliche Regelung und setzt an deren Stelle seine eigene Auffassung von strafender Gerechtigkeit. Eine solche Befugnis zur Strafgesetzgebung steht ihm jedoch nicht zu. Die Beispiele ließen sich vermehren.90
III. Fazit Im Hinblick auf die Legitimationsbedingungen staatlicher Eingriffe muss für den Schuldspruch und die Bestrafung im konkreten Einzelfall zum einen eine vor der Tat geschaffene ausdrückliche gesetzliche Ermächtigungsgrundlage des dazu demokratisch legitimierten Gesetzgebers vorliegen (Art. 103 II GG). Zum anderen muss kumulativ die konkrete Bestrafung auch die angemessene Reaktion auf ein ganz bescheidenden Punkt (des tatbestandsmäßigen Verstoßes gegen die Anzeigepflicht) unklar BGH NStZ 2010, 449 f.; desgleichen bereits BGH NStZ 2004, 499 f. – Erfreulich problembewusst insofern BGH v. 9. 3. 2010 – 3 ARs 3/10, NStZ-RR 2010, 204 f. (in seiner Antwort auf die Anfrage des 5. Senats). 88 Mit Recht krit. gegenüber diesem Begriff Günther (Fn. 33), S. 138 ff.; Wolter, Alternative und eindeutige Verurteilung (Fn. 34), S. 85 ff. 89 BGHSt 43, 356, 358 f. m. Anm. Paul, JZ 1998, 739 f.; s. dazu auch Seebode, JZ 1998, 781 ff. 90 Erwähnt sei nur noch die gesetzwidrige Verurteilung wegen Urkundenunterdrückung nach § 274 I Nr. 1 StGB schon bei sicherem Wissen um die Beeinträchtigung des fremden Beweisführungsrechts (s. etwa BGH NStZ 2010, 332, 333; weitere Nachw. bei Küper, Strafrecht BT, 8. Aufl. 2012, S. 239, 240 [Stichwort: Nachteilszufügung, Absicht der]). Im Gesetz ist von „Absicht“ die Rede. Nach den Regeln der deutschen Sprache, die auch dem Gesetzgeber bekannt sind, besteht ein Unterschied zwischen Wissen und Absicht. Nicht umsonst steht z. B. in § 258 I StGB: „Wer absichtlich oder wissentlich […]“ und gerade nicht: „Wer wissentlich, also absichtlich […]“. Das wäre sprachlicher Unfug (näher zu dieser Problematik, Freund, Urkundenstraftaten, 2. Aufl. 2010, Rn. 294 ff.).
Nicht „entweder – oder“, sondern „weder – noch“!
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stimmtes Fehlverhalten (ggf. nebst Folgen) sein. Das haben die dazu berufenen unabhängigen Strafgerichte – innerhalb der durch den Wortlauttatbestand gezogenen Grenzen – anhand rechtlicher Kriterien im jeweils konkret zu entscheidenden Einzelfall zu begründen. Auf diese Weise wird Strafrecht in arbeitsteiligem Zusammenwirken verschiedener Staatsgewalten konkretisiert. Der Gesetzlichkeitsgrundsatz bringt es mit sich, dass es zu materiell als ungerecht empfundenen Freisprüchen kommt. Nur in solchen Fällen entfaltet er überhaupt eine messbare Wirkung. Die sog. „echte Wahlfeststellung“ (genauer: die gesetzesalternative Verurteilung) geschieht ohne gesetzliche Ermächtigungsgrundlage und verstößt daher gegen Art. 103 II GG. Derartige gesetzesalternative Schuldsprüche sind als reines Richterrecht91 ungesetzlich und verstoßen gegen die in der Verfassung vorgeschriebene gewaltenteilende Kompetenzordnung. Sie bieten daher formell und – wegen ihrer Unklarheit – auch materiell keine tragfähige Grundlage für eine rechtsstaatlichen Kriterien entsprechende Strafzumessung. Nur ein gesetzlich vorgesehener (eindeutiger) Schuldspruch trägt der bei der weiteren Rechtsfolgenkonkretisierung zu beachtenden strikten Schuldspruchakzessorietät Rechnung und führt zu einer durch die jeweilige Strafvorschrift in qualitativer und in quantitativer Hinsicht gesetzlich bestimmten Strafbarkeit. Wenn es keinen eindeutigen Tatvorwurf gibt, ist in einem rechtsstaatlichen Strafrecht ein Freispruch zwingend geboten. Die Voraussetzungen einer Straftat werden entweder ganz oder gar nicht erfüllt. Bei nur gesetzesalternativ begangener Tat wird nicht etwa jede der beiden möglichen Taten zur Hälfte oder auch nur „ein bisschen“ begangen. Vielmehr liegt keine der beiden denkbaren Tatbegehungen mit Sicherheit vor. Genau das wäre aber erforderlich, um deren Strafbarkeit auf die jeweils vorhandenen Strafgesetze als Eingriffsgrundlage stützen zu können. Ohne passendes Strafgesetz gilt jedoch: Nicht „entweder – oder“, sondern „weder – noch“!
91 Dass es sich um reines Richterrecht handelt, wird zutreffend hervorgehoben etwa von MK-StGB/Schmitz (Fn. 15), Anh. zu § 1 Rn. 4, der allerdings aus dieser Erkenntnis wie viele nicht die gebotene Konsequenz zieht (vgl. Rn. 12).
Tugend im Strafverfahren Von Luís Greco
I. Zweckmäßigkeit, Rechte und Charakter Zu den tradierten Argumentationsformen der liberalen Strafverfahrenstheorie gehört vor allem die Berufung auf Zweckmäßigkeitserwägungen oder auf Rechte. Normativ-ethisch würde man Erstere als eine konsequentialistische Argumentationsform einordnen, weil sie von der Maximierung des Guten ausgeht, die Zweite dagegen als eine deontologische, da sie auf der Beachtung von Pflichten basiert.1 Am Beispiel der Kritik an der Folter bedeutet dies: Man kann die Folter als unzweckmäßig ablehnen, weil sie zu falschen Geständnissen führe und das Gut der Wahrheitsfindung gefährde; man kann aber auch von Rechten sprechen und behaupten, dass die Folter die Würde des Betroffenen und somit die Pflicht verletze, diese zu achten. Auch der Strafprozesstheoretiker und -systematiker Jürgen Wolter, der sich über den Zustand der Strafprozesstheorie („Ur- und Rohzustand“2) beklagt und dem dieser Beitrag gewidmet ist, bemüht sich darum, sein Theoriegebäude in erster Linie auf (teilweise sogar unabwägbare) Rechte zu stützen, ohne freilich der Zweckmäßigkeit den Rücken zu kehren.3 Die vorliegende Abhandlung möchte indes die Aufmerksamkeit auf Argumente lenken, die diese traditionelle Dichotomie von Zweckmäßigkeit und Rechten spren1 Die Einzelheiten dieser hier nur grob skizzierten Definitionen sind heillos umstritten, vgl. u. a. Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, 2. Aufl., S. 113 ff., 173 ff.; van der Pfordten, Normative Ethik, 2010, S. 14; meine Versuche in Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2009, S. 120 Fn. 62 m.w.N. 2 Wolter, FS Roxin I, 2001, S. 1141 ff.; ebenso ders., in: ders. (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, 1995, S. 267 ff. 3 Wolter, GS K. Meyer, 1990, S. 492 ff., 496 ff.; ders., in: Eser u. a. (Hrsg.), 4. deutschpolnisches Kolloquium über Strafrecht und Kriminologie, 1990, S. 89 ff., 104 ff.; ders., StV 1990, 175 ff.; ders., Jura 1992, 520 ff., 528, 530; ders., Aspekte eines Strafprozeßreform bis 2007, 1991, S. 20 f., 23 ff., 94 f. ders., NStZ 1993, 1 ff., 3 ff.; ders., SK-StPO (Loseblatt, 1994), vor § 151 Rn. 23 ff., 130 ff.; ders., in: ders. (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, 1995, S. 49 ff., 63 ff., 273 ff.; ders., ZStW 117 (1995), 793 ff., 813 ff., 830 ff.; ders., FS Brauneck, 1999, S. 501 ff., 503 ff.; ders., in: ders. u. a. (Hrsg.), Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, 1999, S. 319 ff., 323 f.; ders., FS BGH, 2000, S. 963 ff., 986 ff., 994 ff.; ders., GA 1999, 158 ff., 167 f., 171 ff.; ders., FS Roxin I, S. 1145 ff., 1151; ders., FS Küper, 2007, S. 707 ff.; ders., GA 2007, 183 ff., 195 ff.; ders., FS Roxin II, 2011, S. 1262 f.; ders., ZIS 2012, 238 ff., 245.
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gen.4 Gemeint sind Argumente, die von Tugenden sprechen. Eine tugendorientierte Betrachtung erfasst Handlungen in erster Linie weder als Ursachen für eine Mehrung oder Minderung des Guten noch als pflichtgemäß oder pflichtwidrig, sondern sieht sie als Ausdruck des Charakters des Handelnden an.5 Nicht Kants Frage „Was soll ich tun?“,6 sondern die sokratische Frage: „Was für ein Mensch soll ich sein?“ bzw. „Wie soll ich leben?“7 steht im Vordergrund.8 Auch die Strafprozesstheorie, die nach eigener Selbstdeutung mit dem fortwährenden Kampf zwischen Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit zu tun hat,9 verzichtet nicht auf derartige charakterbezogene Argumente. So war eine wichtige Erwägung gegen die Folter, dass derjenige, der sich dieses brutalen Mittels bedient, sich dadurch als brutale Person zu erkennen gibt. Ein Pionier der Folterkritik, der Franzose Augustin Nicolas, schrieb 1682: „Ohne Zweifel haben wir Henkerseelen, denn wir stellen uns taub vor entsetzlichen Schreien eines möglicherweise Unschuldigen […]“,10 und im 18. Jahrhundert beklagte sich Servan: „Ein Henker mischt sich in die Aufgaben der Gerichtsbarkeit ein.“11 „Grausam und unempfindlich sind wir! Sind es Schreie, die wir vernehmen?“12 4 S. etwa Watson, in: Statman (Hrsg.), Virtue Ethics. A Critical Reader, 1997, S. 56 ff., 57; and. Trianosky, ebda., S. 42 ff., 46 f. 5 Slote, From Morality to Virtue, 1992, S. XIV, 89; Statman, in: Statman (Fn. 4)), S. 1 ff. (7 f.); Rippe/Schaber, in: dies. (Hrsg.), Tugendethik, 1998, S. 7 ff., 10; Hursthouse, On Virtue Ethics, 1999, S. 83. 6 Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. 1787 (Ak. Ausgabe 1968), S. 522. 7 Platon, Der Staat, in: Löwenthal (Hrsg.), Sämtl. Werke, Bd. II, 1982, Buch I 352D (S. 43); ders., Gorgias, ebda., Bd. I, 500c (S. 375). 8 Mayo, Ethics and the Moral Life, 1958, S. 209 f. (Gegenüberstellung von „doing“ und „being“); B. Williams, Ethics and the Limits of Philosophy, 1985, S. 1 ff.; Annas, The Morality of Happiness, 1993, S. 27 ff.; Crisp/Slote, in: dies. (Hrsg.), Virtue Ethics, 1997, S. 1 ff., 10; Crisp (Hrsg.), How should one live?, 1996; das hat nicht zu bedeuten, dass die erste Frage als irrelevant angesehen wird (betont von Hursthouse, in: Statman [Fn. 4], S. 227 ff., 229; s. a. u. Fn. 147 f.). 9 Am prominentesten Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl., 1965, S. 7 (Vorwort). Die einigen „revisionistischen“ Entwürfen zugrundeliegende Sichtweise (z. B. Naucke, Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2000, S. 4 ff.; ders., ARSP-Beiheft 87 [2003], 41 ff. [43: „Entidealisierung“]; Ignor, Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532 – 1846, 2002, S. 154 ff., 191 ff., 290) betont nur, dass hinter der Berufung auf Gerechtigkeit und Rechte häufig bloße Zweckmäßigkeit stand, also dass es eine Instrumentalisierung der Rechte durch die Zweckmäßigkeit gab. Damit bewegt sie sich aber innerhalb der Achse der traditionellen Dichotomie. 10 Nicolas, Si la torture est un moyen seur à vérifier les crimes secrets, 1682, S. 186. 11 Servan, Discours sur l’administration de la justice criminelle, 1768, S. 81. 12 Servan (Fn. 11), S. 82; s. a. Beccaria, Dei delitti e delle pene, hrsgg. v. Venturi, 1994, § XVI: Folter als „vermeintliches Wahrheitskriterium, freilich einem Kannibalen würdiges Kriterium“, eine konsequentialistische aber auch tugendbezogene Kritik. In der gegenwärtigen Folterdiskussion haben Reemtsma, in: Beestermöller/Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter, 2006, S. 69 ff., 71 f.; ders., Folter im Rechtsstaat, 2005, S. 91 ff., 99, 122 ff. und jüngst Hörnle, in: Pieper/Brudermüller (Hrsg.), Grenzen staatlicher Gewalt, 2012, S. 71 ff., 91 eine charakterbasierte Argumentation vorgeschlagen (ähnl. Jäger, FS Herzberg, 2008, S. 539 ff.).
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Diese Jürgen Wolter gewidmete Abhandlung verfolgt ein doppeltes Anliegen: An erster Stelle möchte sie deskriptiv der Benutzung solcher tugendbezogenen Argumente in der Strafverfahrenslehre nachgehen. Wegen der Herrschaft der traditionellen Dichotomie sind derartige Erwägungen selten als solche wahrgenommen worden. Gleichzeitig soll normativ nach dem wissenschaftlichen Ertrag tugendbezogener Argumente gefragt werden. Insbesondere ist zu prüfen, ob sie gegenüber den beiden „herkömmlichen“ Argumenten einen Mehrwert aufweisen. Es erscheint lohnend, sich nach der Klärung einiger Vorfragen (u. II.) der Vergangenheit zuzuwenden und sich insbesondere die für die liberale Strafverfahrenslehre konstitutive Geschichte der Überwindung des Inquisitionsverfahrens durch das sog. Reformierte Strafverfahren erneut anzuschauen (u. III.). Nach einer präzisierenden Zwischenbilanz (u. IV.) soll ein kursorischer Überblick über gegenwärtige Prozessinstitute unter dem Blickwinkel der Tugend gezeichnet (u. V.) und ein zusammenfassendes Fazit gezogen werden (u. VI.).
II. Philosophische Vorfragen Sowohl der hier zur Verfügung stehende Raum als auch meine fachliche Kompetenz zwingen dazu, die Abhandlung philosophisch enthaltsam zu gestalten. Mit den Einzelheiten der ethischen Diskussion über die Tugend und die einzelnen Tugenden werde ich mich nicht beschäftigen können. Ich werde mich hier damit begnügen, Tugend als guten Charakterzug13 bzw. als bewunderungswürdige Eigenschaft eines Subjekts zu verstehen.14 Worauf diese Güte oder Bewunderungswürdigkeit beruht, was also Tugenden zu Tugenden macht, soll hier offen bleiben.15 Die der Alltagsmoral zugrundeliegende Liste guter und schlechter Charakterzüge - etwa Aufrichtigkeit, Mut, Besonnenheit, Barmherzigkeit, Weisheit auf der einen Seite, Unredlichkeit, Feigheit, Haltlosigkeit, Grausamkeit und Stumpfheit auf der anderen Seite –
13 Swanton, Virtue Ethics: A Pluralistic View, 2003, S. 19: „good quality of character, more specifically a disposition to respond to, or acknowledge, items within its field or fields in an excellent or good enough way“; Annas, in: Copp (Hrsg.), The Oxford Handbook of Ethical Theory, 2006, S. 515 ff., 516: „disposition to do the right thing for the right reason“. 14 Slote (Fn. 5), S. 94 und passim; Hursthouse (Fn. 5), S. 12: „excellence of character“. Abw. Rhonreimer, Die Perspektive der Moral, 2001, S. 177: „Habitus der guten Handlungswahl“. 15 Am Verbreitesten scheinen wohl sog. eudämonistische Ansätze zu sein, die im Anschluss an Aristoteles, Nikomachische Ethik, Meiner Ausgabe, 1995, Buch I Kap. 2 (S. 4) Tugend als Vervollkommnung der menschlichen Natur deuten (Hursthouse [Fn. 5], S. 167 ff., 205 ff.; dies. [Fn. 8], S. 229; Annas [Fn. 13], S. 520 ff.; Irwin, in: Crisp [Fn. 8], S. 37, 41 ff.); andere vertreten pluralistische Theorien (Swanton [Fn. 13], S. 90 ff.) bzw. einen Intuitionismus der Tugenden (Slote, in: LaFollette [Hrsg.], The Blackwell Guide to Ethical Theory, 2000, S. 325 ff., 329 ff.: „agent-based“ Tugendethik).
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wird hier als richtig vorausgesetzt.16 Wichtig erscheint auch, die Möglichkeit einer nicht auf die Hörner der Dichotomie zurückführbaren und in diesem Sinne theoretisch eigenständigen tugendbezogenen Betrachtung anzuerkennen.17 So versuchen auf der einen Seite Konsequentialisten, Tugend als zweckmäßige, weil zur Maximierung des Guten führende Charaktereigenschaft zu deuten,18 auf der anderen Seite wird von Deontologen Tugend als Disposition verstanden, eigene Pflichten zu erfüllen bzw. Rechte anderer zu achten.19 Radikale Tugendethiker vertreten eine Umkehrung, wonach das Gute oder die Pflicht als Sekundärbegriffe zur Tugend anzusehen sind.20 Derjenige aber, der die Perspektive der alltäglichen Moral ernst nimmt, wird vielmehr dazu geneigt sein, in einer anti-reduktionistischen Einstellung die drei Betrachtungsweisen gleichberechtigt nebeneinander bestehen zu lassen.21 Im moralischen Alltag beurteilen wir Handlungen danach, ob sie nutzen oder schaden, ob sie pflicht- bzw. rechtsgemäß oder rechtswidrig sind; wir beurteilen sie aber auch nach dem edlen oder niedrigen Charakter, der sich in ihnen offenbart. Bereits die Ernstnahme dieses alltäglichen Verständnisses rechtfertigt es also, dass man sich über Tugenden Gedanken macht.22 Dass Liberalismus und Tugend mit16 Unser Ausgangspunkt darf somit auch in dieser Sphäre die dem Alltagsleben zugrundeliegende Beschreibung der Wirklichkeit sein (bereits Greco [Fn. 1], S. 367), wobei es keinen guten Grund gibt, das Moralische aus dem Bereich des Wirklichen von vornherein auszuschließen. Das heißt noch nicht, dass man sich bei den Beschreibungen nicht irren kann – eine wesentliche Aufgabe philosophischer und wissenschaftlicher Reflexion bleibt es, solche Irrtümer aufzudecken. 17 Ebenso Crisp, in: ders. (Fn. 8), S. 1 ff., 7; Irwin (Fn. 8), S. 47; Stocker, in: Statman (Fn. 4), S. 118 ff. Eindrucksvolle Beispiele bei Slote, in: Crisp/ders. (Fn. 8), S. 239 ff., 247 f. Ob der Charakter etwas Internes ist (so Platon [Fn. 7], Buch 4, 443d [S. 157]), oder ob er von Handlungen konstituiert wird (so insb. die Existentialisten, etwa Sartre, L’existentialisme est un humanisme, 1948, S. 22), kann hier offen bleiben. 18 Klassisch Bentham, in: Burns/Hart (Hrsg.), The collected Works of Jeremy Bentham, Introduction to the Principles of Morals and Legislation, 1970, S. 125 ff.; ders., in: Parekh (Hrsg.), Bentham’s Political Thought, 1973, S. 89 f.; heute Driver, in: Crisp (Fn. 8), S. 111 ff. 19 Insb. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), in: Kants Werke, Ak. Ausgabe, Bd. VI 1968, S. 23: „fest gegründete Gesinnung seine Pflicht genau zu erfüllen“; näher Johnson, JBRE 5 (1997), 364 ff.; O’Neill, in: Crisp (Fn. 8), S. 77 ff.; heutzutage Rawls, A Theory of Justice, Rev. Ed., 1971, S. 383 f.; Gert, Review of Metaphysics 38 (1985), 739 ff., 743. W.N. aus der Geschichte der Moralphilosophie seit Locke bei Schneewind, in: Crisp/Slote (Fn. 8), S. 181 ff. 20 Dafür aber Statman (Fn. 5), S. 8; Watson (Fn. 4), S. 58 f. („primacy of character“); Alderman, in: Statman (Fn. 4), S. 145 ff. 21 Dafür Nagel, in: Mortal Questions, 1979, S. 128 ff. („fragmentation of value“); Ch. Taylor, in: Sen/Williams (Hrsg.), Utilitarianism and Beyond, 1982, S. 129 ff., 142; Larmore, Patterns of Moral Complexity, 1987, S. 11 („heterogeneity of morality“); Louden, in: Statman (Fn. 4), S. 180 ff., 191; Hursthouse (Fn. 8), S. 230; s. a. Greco (Fn. 1), S. 27 f. 22 Ebenso Trianosky (Fn. 4), S. 53. Das heißt auch, dass eine Hinwendung zur Tugend nicht zwangsläufig auf einer Sehnsucht nach der kleinen, homogenen Polis beruht, von der sog. Kommunitaristen schwärmen, die häufig auch viel von der Tugend halten (vor allem MacIntyre, After Virtue, 2. Aufl., 1984, insb. S. 121 ff., 181 ff.). Der gegen diese kommunitaristische Variante der Tugendethik gerichtete Einwand, dass moderne Gesellschaften komplex und
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einander verträglich sein müssen,23 belegt vor allem die vom Allgemeinsinn geteilte Überzeugung, dass der Charakter bei der Beurteilung von Handlungen von Bedeupluralistisch sind (Louden [Fn. 21], S. 189, 191; Schneewind [Fn. 19], S. 200), muss deshalb nicht befürchtet werden (ebenso Solomon, in: Statman [Fn. 4], S. 205 ff., 212 f.). Zweitens kann derjenige, der von Tugend spricht, weitgehend mit derselben Selbstbewusstheit auftreten, wie derjenige, der sich auf das Gute oder auf die Pflicht beruft, und braucht sich über den Einwand des Relativismus ebenso viele oder wenig Sorgen zu machen wie seine Konkurrenten (Hursthouse [Fn. 8], S. 230). Zwar sind Tugenden keine rein apriorischen Größen, die Tatsache aber, dass man Menschen entferntester Gegenden und Epochen, die von anderen Wertmaßstäben ausgehen, als Menschen bewundern und verabscheuen kann, spricht jedoch dafür, dass Tugend nicht als durchgehend sozialabhängige Größe gedeutet werden kann (eindrucksvoll Alderman [Fn. 20], S. 148 ff.). Die bei Homer im Vordergrund stehenden Tugenden des Kriegers und die unter Puritanern hochgepriesene Tugend der Keuschheit sind heute in Verruf geraten; die Tugenden, auf die ich mich in der vorliegenden Abhandlung berufen werde, sind aber ausschließlich solche, die einen glaubwürdigen Anspruch auf objektive Geltung formulieren können (ob dieser Anspruch berechtigt ist, erfordert eine philosophische Untersuchung, die aber den vorliegenden Rahmen sprengt; s. bereits o. Fn. 16). 23 Häufig nimmt man an, es gäbe ein distanziertes oder sogar feindseliges Verhältnis zwischen Liberalismus und Tugend. Kants Ablehnung des sog. „eudämonistischen Staates“ (Kant, Die Metaphysik der Sitten [1797], in: Werke [Fn. 19], S. 318) bzw. einer „väterlichen Regierung“ (Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein pp., in: Werke [Fn. 19], Bd. VIII, S. 274 ff., 290 f.) sprach dem Staat das Recht ab, Bürger durch Zwang nicht nur glücklich, sondern auch und wohl insbesondere tugendhaft zu machen (ein solches Verständnis vor allem bei C. Wolff, Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem Gemeinen Wesen, 4. Aufl. 1736, hrsgg. von Arndt, 1975, §§ 215 ff.). Ein guter Staat funktioniere auch für ein Volk von Teufeln (Kant, Zum ewigen Frieden, in: Werke [Fn. 19], Bd. VIII, S. 341 ff., 366). Die Koryphäen des heutigen Liberalismus nehmen demgemäß das Recht des Individuums, seinen Charakter nach seiner eigenen Vorstellung des guten Lebens zu gestalten, als Ausgangspunkt ihrer Reflexion (Rawls, Political Liberalism, 2005, S. 30, 302; Dworkin, A Matter of Principle, 1985, S. 181 ff., 191 f.; Quong, Liberalism without Perfection, 2011, S. 315 ff.). Der Perfektionismus, d. h. grob die These, wonach es Aufgabe des Staates ist, die Bürger tugendhaft zu machen, erscheint demnach als die prototypische anti-liberale Theorie. Die damit suggerierte Unvereinbarkeit von Tugend und Liberalismus ist aber eine voreilige Vereinfachung; der Liberale hat nur ein Problem damit, dass Tugenden als Argument eingesetzt werden, die Staatsmacht gegenüber den Individuen zu erweitern (im Strafrecht wird das z. B. getan, wenn man Kriminalisierungen mit der Verletzung der eigenen Menschenwürde des Täters begründet [Nachw. u. Krit. bei Roxin, Strafrecht AT, Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 20 ff.; Greco, RW 2011, 275 ff., 279 f.] oder wenn man eine Theorie der Charakterschuld vertritt [krit. Roxin, ebda., § 19 Rn. 27 ff. m. Nachw.]). Deshalb konnten zentrale Autoren der liberalen Tradition wie W. v. Humboldt (Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, 1967, S. 22 ff., 28 ff.) und Mill Beispiele für einen tugendbasierten Liberalismus liefern, dessen Hauptargument für staatliche Zurückhaltung darin besteht, dass Individuen nur dann zur Tugend gedeihen können, wenn der Staat ihre Freiheit respektiert. Die neuere Mill-Forschung (näher Donner, in: West [Hrsg.], The Blackwell Guide to Mill’s Utilitarianism, 2006, S. 117 ff., 132 ff.; Skorupski, Why Read Mill Today, 2006, S. 24 ff.) hat den tugendorientierten Elementen in dessen Werk zunehmende Aufmerksamkeit gezollt (insb. der Unterscheidung von höheren und niederen Lüsten, Mill, Utilitarianism, 2. Aufl. 1864, S. 11 ff.; und seinem pädagogischen Argument für das harm-principle, s. Mill, in: Himmelfarb (Hrsg.), On Liberty, 1974, S. 120 [„experiments in living“]) und stellt sogar seine Einordnung als Utilitarist in Frage. Auch nach der sog. moralteleologischen Deutung von Kants Rechtsbegründung
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tung ist. Das Argument, „wir sind keine Henker“, leuchtet intuitiv als gutes Argument ein und lässt sich nicht nur gegen die oben erwähnte Folter, sondern beispielsweise auch gegen die Todesstrafe anführen.24 Ein Liberaler kann zwar bezweifeln, ob hiermit der Kern der Sache getroffen wird,25 es ist aber nicht einzusehen, aus welchen Gründen dieses Argument mit den Prämissen seiner Theorie unvereinbar sein sollte.
III. Tugend in der Geschichte des Strafverfahrens Wie bereits erwähnt, betrachtet die herkömmliche Geschichtsschreibung das Strafverfahrensrecht durch die Brille der Unterscheidung von Zweckmäßigkeit und Rechten.26 Es lohnt sich aber, sich dieser Geschichte erneut zuzuwenden, und zu fragen, ob nicht wenigstens Ansätze einer tugendbezogenen Betrachtungsweise zu finden sind. 1. Gerade der spätmittelalterliche Inquisitionsprozess hat sich auffällig häufig auf die Tugend berufen. Die Richter werden angemahnt, dass bei der Folter „masse vnd bescheidenheit in solichen gehalten werden“; die, die die peinliche Frage stellen, „haben vnd halten menschliche und des Rechten bescheidenheit“ (Wormser Reformation v. 1498).27 Die Constitutio Criminalis Carolina (CCC) bestimmt, dass die Tortur „nach ermessung eyns guten vernünfftigen Richters“ angeordnet werden soll (Art. 58 CCC).28 Aus heutiger Sicht ist der Stil der zwei großen mittelalterlichen Strafgesetze Deutschlands, nämlich der Constitutio Criminalis Bambergensis
(vertreten von der Mehrzahl der Rechtsphilosophen, Nachw. in Greco [Fn. 1], S. 37) soll das Recht bestehen, damit jedes Individuum in Freiheit den Weg zur Moral und somit zur Tugend finden könne. Zudem bemühen sich mehrere gegenwärtige dem Liberalismus verpflichtete Theoretiker um die Überbrückung der traditionellen Distanz zur Tugend (etwa Macedo, Liberal Virtues, 1990, S. 254 ff.; Baurmann, Der Markt der Tugend, 1996, insb. S. 546 ff.; O’Neil, Towards Justice and Virtue, 1996, S. 154 ff., 184 ff.; Dagger, Civic Virtues, 1997, S. 120 ff., 193 ff.; Kersting, Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend, 1997, S. 436 ff., 453 ff.; Höffe, in: Rippe/Schaber [Fn. 5], S. 42 ff.; Rasmussen/den Uyl, Norms of Liberty, 2005, S. 111 ff.; Galston, Liberal Purposes, 2008, S. 213 ff.). 24 Z. B. Voltaire, L’ A, B, C, dialogue curieux, 1768, S. 131 (gegen qualifizierte Todesstrafen); und Servan (Fn. 11), S. 140 ff., der die Hoffnung einer Abschaffung der Todesstrafe äußert und für mildere Strafen plädiert: „Haben wir uns so erniedrigt, dass wir uns einer milderen Regelung für unfähig halten? […] Wir sollten davon erröten“ (S. 140). 25 Insbesondere dann, wenn er individuelle Rechte in den Vordergrund stellt, also eine deontologisch reduktionistische Position einnimmt (Nachw. o. Fn. 19). 26 S. o. Fn. 9. 27 Zit. nach Eb. Schmidt, FS Siber, Bd. I, 1941, S. 99 ff., 170. Dieser erblickt in den zitierten Vorschriften erste Erscheinungsformen des Gerechtigkeitsgedankens im Strafverfahren, womit das Strafverfahren als Rechtsverfahren und nicht bloß als Maßnahme der Zweckmäßigkeit begriffen werde (S. 74 f.). 28 Ich benutze die von Schroeder hrsg. Reclam Ausgabe der CCC und die von H. Bauer hrsg. Ausgabe der CCB (2009).
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(CCB) und der CCC, auffallend: Er ist „belehrend, mahnend, warnend“.29 In diesen Gesetzen manifestiert sich die Sorge, dass alle Halsgerichte „mit tüglichen Richtern vnd Vrtheylern versehen und besetzt werden, so tüglichst, beste vnd meist dieselbigen nach gelegenheit jedes orts mögen bekommen vnd gehabt werden“ (Art. 3 CCB). Die zitierte Vorschrift taucht fast wörtlich in der CCC auf, ergänzt um die Bestimmung, dass die Gerichte mit „frommen, erbarn, verstendigen vnd erfarnen personen“ besetzt sein müssten (Art. 1).30 Ähnliches liest man bei Autoren jener Zeit, etwa bei Servan, der folgendermaßen an die Richter appelliert: „Sie sind Mensch, seien Sie menschlich; Sie sind Richter, seien Sie gemäßigt; Sie sind Christ, seien Sie barmherzig. Mensch, Richter, Christ, der Sie sind, respektieren Sie das Unglück“.31 Die Richter sollten daran denken, dass das Volk über sie richtet;32 jeder Bürger, der vor einen Richter gebracht wird, fragt sich: „Welcher ist dieser Mensch, der über mein Schicksal und mein Leben richtet?“33 2. Mit der Zeit wurde die Kritik am Inquisitionsverfahren lauter und lauter. a) Zum einen findet man etwas, das man hier als interne Kritik bezeichnen könnte: Ohne das Inquisitionsverfahren insgesamt infrage zu stellen, wurden bestimmte Rechtsinstitute als unanständig oder unwürdig abgelehnt. So wurde etwa in der damals üblichen Zufügung einer Strafe trotz unvollständigen Beweises eine „Zumuthung für den Richter“ gesehen.34 Die oben erwähnte Folterkritik von Nicolas und Servan ist ein weiteres Beispiel einer derartigen Argumentation. b) Wichtiger war aber die externe Kritik, also eine Ablehnung des Inquisitionsverfahrens als solches, samt seiner grundlegenden Prämissen. Eine dieser Prämissen wurde von den Fürsprechern der Strafverfahrensreform scharfsinnig gerade darin erblickt, dass das alte Verfahren viel zu sehr auf die persönliche Güte der Richter setzte. Schon bei Servan liest man, dass die Tugend der Richter unzuverlässig sei, so dass sie viel zu leicht als Deckmantel der Leidenschaft fungieren könne;35 unter anderem des-
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So Eb. Schmidt (Fn. 27), S. 175. Beide Passagen werden auch von Eb. Schmidt (Fn. 27), S. 175 zitiert. Vgl. a. Grolman, Grundsätze der Criminalwissenschaft, 1798, § 582 (S. 386): „Menschenachtung, Gerechtigkeit, Menschenliebe seyen die Tugenden unsrer Richter, – der Mensch und das Recht ihr unabläßiges Studium“. 31 Servan (Fn. 11), S. 78. 32 Servan (Fn. 11), S. 101 f.: „Ein Richter mag zeitweilig seine Unkenntnis der Gesetze verbergen; […] Das, was er nicht wird verbergen können, ist seine Unfähigkeit, über Strafsachen zu richten; das, was er nicht wird verbergen können, sind die Leidenschaften, die ihn anfeuern, seine Leichtgläubigkeit oder Sturheit, seine Neigungen und Vorurteile, die Vorlieben seiner Launen, seine Unkenntnis der Sitten und des Charakters der Menschen“. 33 Servan (Fn. 11), S. 103. Alle Beteiligten der Strafrechtspflege, also sowohl die Richter als auch Verteidiger und Staatsanwalt werden von ihm aufgefordert, den Spruch, der das Buch eröffnet und beendet, ernst zu nehmen: „Homo sum, nil humani à me alienum puto“ (S. 51 f.). 34 Jarke, NArchCrimR 8 (1826), 97 ff., 116. 35 Servan (Fn. 11), S. 110. 30
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halb brauche man gute Gesetze.36 In Deutschland verglich Zachariä den alten Inquisitionsprozess mit einer „unbeschränkten Monarchie“, da beide in der Persönlichkeit des alleinigen Machtbefugten, „in seinem Gewissen und seinen moralischen Eigenschaften die einzige Schutzwehr gegen Unrecht“ erblickten.37 In Italien schrieb Carrara: „Diese Verfahrensmethode (das Inquisitionsverfahren, L.G.) kennt keine weitere sachliche Schranke als Gewissen und Religion des Richters“.38 In dieser Kritik manifestiert sich im Kleinformat eine erstrangige Diskussion politischer Philosophie: Zu den liberalen Grundüberzeugungen gehört die Ablehnung des platonischen Politikos, der als tugendhafter Herrscher keine Gesetze braucht;39 an dessen Stelle möchte man gute Gesetze und Institutionen, deren Daseinsberechtigung gerade darin liegt, dass allein sie es verhindern können, dass schlechte, aber mächtige Menschen Schlechtes tun.40 Hierin könnte man fast einen Beleg für die distanzierte Beziehung von Liberalismus und Tugend vermuten.41 Diese Schlussfolgerung wäre indes voreilig. Ein guter Teil der externen Kritik am Inquisitionsverfahren beruft sich auf Tugenden. Beim Kampf um die Reform des Strafverfahrens im Kontinentaleuropa des späten 18. und des 19. Jahrhunderts ging es um vier konkrete Anforderungen: Schwurgerichte, Mündlichkeit, Unmittelbarkeit und Öffentlichkeit.42 Gerade die Argumentation für die Öffentlichkeit des Verfahrens lässt sich nach näherem Hinsehen zum großen Teil als tugendbezogen deuten. So schrieb Voltaire über das römische Strafverfahren: „Cette procédure étoit noble & franche, elle respiroit la magnanimité romaine“.43 Dem stellte er das heimliche Inquisitionsverfahren gegenüber: „Ziehmt es der Justiz, geheim zu sein? nur dem Verbrechen ist es angemessen, dass es sich versteckt“.44 In der für Deutschland grundlegenden Monografie von Feuerbach45 wurde der Gedan36
Servan (Fn. 11), S. 120 ff. Zachariä, Die Gebrechen und die Reform des deutschen Strafverfahrens, 1846, S. 139; s. a. Leue, Der mündliche öffentliche Anklage-Prozeß und der geheime schriftliche Untersuchungs-Prozeß in Deutschland, 1840 S. 111: „Alles hängt hier von der Persönlichkeit des Richters ab, der aber auch der Angeschuldigte ohne Rettung hingegeben ist“; Köstlin, Der Wendepunkt des deutschen Strafverfahrens, 1849, S. 79. 38 Carrara, Del Giudizio Criminale, in: Programma del Corso di Diritto Criminale, 2004, S. 29 ff. (zuerst 1859 ff.),§ 849 (S. 98). 39 Platon, Der Staatsmann, in: Werke (Fn. 7), 294 A f. (S. 793). 40 Montesquieu, De l’esprit des lois, 1748, Buch XI Kap. 4: „Qui le dirait! la vertu même a besoin des limites“; Popper, The Open Society and Its Enemies, Bd. II, 5. Aufl. 1966, S. 131. 41 Näher o. Fn. 23. 42 Vgl. bereits die Überschrift der Monografie von Mittermaier, Die Mündlichkeit, das Anklageprinzip, die Oeffentlichkeit und das Geschwornengericht, 1845; ferner Biener, Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft 12 (1844), S. 69 ff., 73, 86; s. a. Ignor (Fn. 9), S. 180 ff., 231 ff. 43 Voltaire, Commentaire sur le livre des délits et des peines, (s. I.) 1766, § 22 (S. 85). 44 Voltaire, Prix de la justice et de l‘humanité, 1777, Art. XXII, § 5 (S. 100). 45 Auch sein Argument für Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, das zwar in erster Linie auf dem Recht der Partei beruht, vor dem Richter, der über ihr Schicksal entscheidet, Gehör zu 37
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ke, dass die Öffentlichkeit eine Kontrolle der richterlichen Rechtsanwendung gestatte, abgelehnt. Eine solche Kontrolle sei weder faktisch möglich, weil das Volk juristisch unkundig sei, noch wünschenswert, weil sie mit der Unabhängigkeit der Richter nicht verträglich/vereinbar sei.46 Feuerbachs Hauptargument für die Öffentlichkeit des Verfahrens ist charakterbezogen: „Wie nach der Vorstellung der meisten Völker das Licht als Quelle, Element oder Symbol des Guten, hingegen die Finsternis als Ursprung, Werkstätte oder Sinnbild alles Bösen betrachtet wird, so ist auch die Vorstellungsart, nach welcher das Wahre und Rechte immer in eng verwandter Verbindung mit der Offenheit – Unwahrheit, Unrecht und Laster als lichtscheue Nachtgeister in ebenso inniger Verbindung mit der Verborgenheit gedacht werden, – tief in der Natur des menschlichen Gemüths und der Dinge selbst begründet.“47 „Die Schlechtigkeit ist geminiglich feig, wagt sich nicht leicht ins Offene heraus, scheut besonders die Gewalt der Blicke, in welchen sie ihr Verdammungsurtheil, die Verachtung liest; aber im Geheimen, außer den Augen, hinter dem Rücken, da fühlt sie sich in der Freiheit und wird ihres Daseyns froh“ (S. 138). „Scheut sich kein wahrhaft ehrlich Mann öffentlich Recht zu thun; wie sollte ein ehrlicher Richtersmann sich scheuen öffentlich Recht zu sprechen?“ (S. 143). „Heimlichkeit ist Character der Unredlichkeit“ (S. 418). Eine Generation später nennt Leue die Öffentlichkeit „das schönste und herrlichste Stück der mündlichen Gerechtung“.48 „[…] wer selbst keine Thaten thut, die das Licht zu scheuen hätten, der verlernt es am Ende begreiflich zu finden, wie sich noch Menschen dazu hergeben können, um gegen das Sonnenlicht und für die Finsternis zu streiten“.49 Er gibt Feuerbach darin recht, dass eine Kontrolle der
finden (Betrachtungen über die Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege, Bd. I, 1821, insb. S. 296 f.), weist eine tugendbezogene Färbung auf: „Unter diesem Schreiben, Abschreiben, Wiederschreiben und Immerschreiben, das zum größten Theil mehr vom Körper als von der Seele fordert, sinkt denn sehr natürlich die edle Wissenschaft und Kunst des heiligen Richteramts zu einer wahren ars umbratica et sellularia, zu einem schreibenden sitzenden Handwerke herab […]“ (S. 248); und Feuerbachs wirkmächtige Verteidigung der kollegialen Struktur der Gerichte wird unter anderem darauf gestützt, dass „die Vereinigung voller Gerichtsgewalt in einer einzigen Person […] schon mit der Würde der Gerechtigkeit unverträglich“ sei (S. 365). Auch seine Ablehnung der damals üblichen Zuweisung der Verteidigungsaufgabe an den Richter (sog. materielle Verteidigung) wird mit dem Zusatzargument begründet, dass sie „immer ein zweideutiges Geschäft ist, das mit der Gradheit des richterlichen Characters eben so wenig sich verträgt, als mit der Würde des richterlichen Amtes […]“ (S. 389). Hauptgrund ist aber das allen zustehende Recht, sich zu verteidigen, und die nicht allen zukommende Fähigkeit, dieses Recht selbst wahrzunehmen (S. 371 ff., 390). 46 Feuerbach (Fn. 45), S. 147 ff., 156 f.; ebenso Abegg, Beiträge zur Strafprocess-Gesetzgebung, 1841, S. 119 Fn. 156; Mittermaier (Fn. 42), S. 338. 47 Feuerbach (Fn. 45), S. 87 f.; s. a. S. 89: „Aber indem sie nicht mehr als diese erscheint, begiebt sie sich der ihr eigenthümlichen Würde, und stiftet, sobald sie dem lichtscheuen Unrecht seinen Schleier abgeborgt hat, mit diesem eine ihr durchaus unziemliche äußere Gemeinschaft“. 48 Leue (Fn. 37), S. 202. 49 Leue (Fn. 37), S. 203. Später zitiert er aus dem Evangelium des Johannes: „Wer Böses thut, der hasset das Licht und will in der Finsternis bleiben […]; wer aber Gutes thut, der
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Richtigkeit der Rechtsanwendung durch ein juristisch ungebildetes Volk nicht erfolgen könne (S. 242 f.), möchte aber den Gedanken anders verstehen, nämlich als institutionelle Absicherung gegen die menschlichen Charakterschwächen der Richter: „Die Öffentlichkeit der Verhandlungen […] erhält den Richter in der Zucht, daß er als würdiger Diener der Gerechtigkeit erscheine und die Anwandlungen seiner menschlichen Schwachheit besiege“.50 Charakter und Tugenden haben in der deutschen Reformdiskussion des 19. Jahrhunderts eine weitere Rolle gespielt. Verteidiger des herkömmlichen Inquisitionsverfahrens spielten im Zeitalter der Romantik, des Volksgeistes, der Gemeinschaft und der Restauration51 mit dem Trumpf, das neue Verfahren sei undeutsch. Sofern man sich auf eine solche Diskussion einließ,52 replizierte man entweder geschichtlich, also durch den Nachweis, dass einige der vier Elemente des reformierten Verfahrens bereits im germanischen Recht ihre Wurzeln finden,53 oder eher philosophisch, durch eine Berufung auf den deutschen Charakter. Ein Beispiel für Letzteres bietet der bereits erwähnte Leue, der behauptet, dass das Inquisitionsverfahren samt allen seinen Gebrechen, vor allem Heimlichkeit und Folter, auf dem Einfluss des kanonischen Rechts beruhe: „so würden die Deutschen des fünfzehnten Jahrhunderts nimmermehr aus sich selbst auf die Gründung von Dingen gerathen sein, die ihrem offenen und ehrlichen Karakter, ihrer gewohnten Denk- und Handlungsweise und den von ihren Vätern ererbeten und ihren Geist ganz durchdringenden Gebräuchen und Gesetzen so sehr widerstritten, ja sie völlig umstürzten“.54 3. Es sei dieser kursorischen Darstellung gestattet, das Rad der Geschichte um über hundert Jahre weiter zu drehen. In der Strafverfahrensliteratur der Nachkriegszeit gab es prominente Konzepte, die der Tugend große Bedeutung verliehen, wenn auch nicht mit dieser Bezeichnung. Zum einen verstand Peters das Strafverfahren als „sittlichen Vorgang“, als „sittlichen Läuterungsprozeß“, an dem „jeder Prozeßbeteiligte […] als sittliche Persönlichkeit teil“ nehme.55 Aus der „Prozeßidee selbst“, also aus dem Gedanken, dass „im Strafverfahren […] der Täter der Sühne, der Besserung, der Rechtsachtung zugeführt werden soll“, versuchte er die Grenzen der Wahrheitsfindung zu gewinnen, denn „Verhaltensweisen und Methoden, die unsittlich sind, scheut nicht das Licht […]“ (S. 226 f.). Er führt eine Reihe zusätzlicher Argumente an, auf die es im jetzigen Zusammenhang nicht ankommt (S. 228 ff., 262 ff., 266 ff.). 50 Leue (Fn. 37), S. 230 ff., 240 (Zitat). Vgl. noch S. 241: Richter „bleiben immer Menschen und bringen alle ihre angeborenen Schwachheiten in ihr Amt mit und es ist mehr die Schuld der Gesetze und des Verfahrens, wenn diese die Menschen besser voraussetzen, als sie wirklich sind, und statt der Möglichkeit der Ausartung durch angemessene Mittel entgegen zu wirken, sie durch Gewährung aller Bequemlichkeit dazu einladen“. 51 Näher Stübinger, Schuld, Strafrecht und Geschichte, 2000, S. 63 ff., 152 ff. 52 Dagegen z. B. Biener (Fn. 42), S. 85. 53 Köstlin (Fn. 37), S. 157 ff., 284 f. und insb. S. 295 ff., 391, dessen zentrales Anliegen die Begründung des Geschworenengerichts als germanisches Rechtsinstitut ist. 54 Leue (Fn. 37), S. 31. Genauso erklärt Leue die Folter (S. 66 f.). 55 Peters, Strafprozeß, 1. Aufl. 1952, S. 38 f.; 4. Aufl. 1985, S. 43 f.
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versperren den Weg zum Prozeßziel“56. Als konkrete Folgerung leitet er u. a. die Unverwertbarkeit der Zeugenaussage eines U-Haft-Spitzels ab.57 Und Eb. Schmidt stellt zwar die wohl in erster Linie konsequentialistisch, wenn auch teilweise deontologisch rekonstruierbaren Werte der Wahrheit und Gerechtigkeit in den Vordergrund seines prozessualen Denkens.58 Viel Aufmerksamkeit widmete er dennoch den einzelnen an der Rechtspflege beteiligten Personen, von denen er erwartete, dass sie von den „unabdingbaren Intentionen auf Wahrheit und Gerechtigkeit“ beseelt sein sollten.59 In der von CCC und CCB an die Richter gestellten Aufforderung zu den Tugenden der „mâze“ und „bescheidenheit“60 erkennt er die Bemühung, „zu echter richterlicher Haltung aufzurufen und die Richter an die Grenzen ihres Könnens zu erinnern“.61 4. In der gegenwärtigen Strafverfahrenslehre hat sich wohl als Erster Clark um eine explizite tugendbezogene allgemeine Theorie verdient gemacht: Strafverfahren spiegeln seines Erachtens das Selbstverständnis einer bestimmten Gemeinschaft und ihre Vorstellungen des Guten wider. So deutet er das amerikanische Verfahren als Verkörperung einer „egalitarian fortrightness“, die als eine Ethik verstanden wird, „die es für unanständig (ignoble) und feige ansieht, einen Menschen in den Rücken zu schießen, auch dann, wenn man davon überzeugt ist, dass dieser Mensch erschossen werden muss und erschossen zu werden verdient“.62
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Peters, Summum ius, summa iniuria, 1963, S. 191 ff., 200. Peters (Fn. 56), S. 200 ff.; s. a. ders., 46. DJT, 1966, S. 162 (Verstoß gegen die „richterliche Würde“). 58 Eb. Schmidt, FS Kohlrausch, 1944, S. 263 ff. (276, 287, 289); ders., in: LK-StPO I, 2. Aufl. 1964, Rn. 20, 23, 329. 59 Eb. Schmidt, Justita fundamentum regnorum, 1947, S. 28; s. a. ders., MDR 1948, 374 ff., 379 ff. Ähnl. Henkel, Strafverfahrensrecht, 2. Aufl. 1968, S. 84: die Rechtspflegeorgane müssten „von der Triebkraft des Wahrheitssuchens und des Gerechtigkeitsstrebens“ „bedingungslos erfüllt“ sein. 60 Eb. Schmidt, in: LK-StPO (Fn. 58), Rn. 20. 61 Eb. Schmidt (Fn. 27), S. 176; s. auch ders. (Fn. 59), S. 19: „Schwarzenberg ist von der Auffassung durchdrungen, daß echtes Richtertum […] eine charakterliche Haltung erfordert, in der äußerste Selbstzucht das hervorstechendste Merkmal ist“. 62 Clark, in: Duff u. a. (Hrsg.), The Trial on Trial, Bd. 2, 2006, S. 83 ff., 86 (Zitat). Zu seiner daraus abgeleiteten Deutung der miranda-warnings s. u. Fn. 116. Die Lektüre dieses wunderbaren Aufsatzes hat zum Entstehen der vorliegenden Abhandlung maßgeblich beigetragen. – In Deutschland erklärt Hassemer, KritV 1990, 260, 271 das Strafverfahren zum „Indikator der jeweiligen politischen und rechtlichen Kultur“ bzw. zum „Zeichen der jeweiligen Rechtskultur“. Dennoch versucht er, diese Berufungen auf einen guten Charakter in sein umfassenderes Konzept einzubetten, das in der Folgenorientierung die einzig akzeptable Rationalitätsform der Moderne erblickt (ders., Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl. 1990, S. 285), mit dem Ergebnis, dass die Tugend hinter einer positiven Generalprävention (insb. ders., in: Schünemann u. a. [Hrsg.], Positive Generalprävention, 1998, S. 29 ff., 41 ff.) versteckt wird. – Zu tugendorientierten Ansätzen im Recht s. a. den nach Fertigstellung des Beitrags publizierten Sammelband „Law, Virtue and Justice“, hrsg. v. Amaya/Lai, 2013. 57
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An zwei spezifischen Stellen findet man sogar ausdrückliche Berufungen auf die Tugend. Die Literatur zu der Persönlichkeit und Ausbildung von (Straf-)Richtern hat über den ganzen hier angesprochenen Zeitraum ununterbrochen von Tugenden gesprochen.63 Am wichtigsten erscheint die Rolle der Tugend im Recht der Beweisverbote. Früher berief man sich auf den Gedanken einer moralischen Überlegenheit des Staates:64 Der verfolgende und bestrafende Staat dürfe keine „Wahrheitserforschung um jeden Preis“ (BGHSt 14, 358, 365) anstreben, d. h. sich derartiger Mittel bedienen, die ihn auf dieselbe Stufe hinabsteigen lassen, auf der sich der Verbrecher befindet. Am Schicksal dieses Arguments in der späteren deutschen Literatur erkennt man den Eifer, der Tugend nicht als solcher, sondern erst nach einer konsequentialistischen Umformulierung Anerkennung zu zollen:65 Die angebliche moralische Überlegenheit des Staates wird von einigen als eine Voraussetzung dafür gedeutet, dass das Verfahren und die Strafe vom Betroffenen verständnisvoll aufgenommen werden und deshalb spezialpräventiv sinnvoll wirken können,66 oder sie erfährt eine positivgeneralpräventive Umdeutung, indem man die Gefahr einer „Störung der generalpräventiven Funktion der Strafe“ beschwört.67 63 Etwa Zacharias, Ueber Persönlichkeit, Aufgaben und Ausbildung des Richters, 1911, S. 5 ff.; Hellwig, ZStW 33 (1912), 35 ff.; Binding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen, Bd. II, 1915, S. 3 ff., 111: „gestählter Charakter, der die Regungen der Gefühle niederhält und allen Versuchungen gegenüber das Recht zur Geltung bringt“; S. 112: „Es ist aber die Urteilsfindung nicht nur Sache eines durchgeschulten Intellekts, sondern auch Sache eines im Dienste des Rechts gestählten Charakters“; Arndt, Das Bild des Richters, 1957; Scheuerle, Vierzehn Tugenden für vorsitzende Richter, 1983. 64 Eb. Schmidt, LK-StPO II, 1957, § 136a Rn. 21; Mueller, 46. DJT, 1966, S. 41 („Verletzung der Ethik und der Würde des Souveräns“), 48 f. (mit unbedingt lesenswerten Passagen!); Haffke, GA 1973, 65 ff., 72; Arzt, FS Peters, 1974, S. 223 ff., 232 ff.; H. Schneider, NStZ 2001, 8 ff., 13. – Im angelsächsischen Raum spricht man von einem Prinzip der „judicial integrity“ (Nachw. bei Brubaker, Polity 17 [1985], 715 ff., 718 ff., der dem Gedanken abl. gegenüber steht) oder vom „moral standing“ des Gerichts (Ashworth, Human Rights, Serious Crime and Criminal Procedure, 2002, S. 36.). Die Gerichte dürften nicht zu „accomplices in the willful disobedience of a Constitution“ werden (Elkins vs. U.S., U.S. 364 [1960] 206, 223; Kanadas Charter of Rights Sect. 24 II bestimmt die Unverwertbarkeit von Beweisen, wenn ihre Verwertung „would bring the administration of justice into disrepute“). Allgemein sind Entscheidungen des amerikanischen Supreme Court eine Fundgrube tugendorientierter Argumente, mit der man sich in Zukunft näher beschäftigen sollte. 65 Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozeß, 1977, S. 57 spricht von der „Suche nach einer Zweckerwägung hinter dem ethischen Appell“. 66 Osmer, Der Umfang des Beweisverbots nach § 136a StPO, 1966, S. 10 f.; Otto, GA 1970, 289 ff., 297 ff.; Haffke, GA 1973, 72; Baumann, in: Lüderssen/Sack (Hrsg.), Seminar: Abweichendes Verhalten, Bd. 2, 1976, S. 41 ff., 50. 67 Dencker (Fn. 65), S. 59 ff.: Verwertungsverbot als „Gebot der Selbstreinigung der Justiz […], um den bereits eingetretenen Autoritätsverlust zu neutralisieren“ (S. 65); ähnl. Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß, 1990, S. 20 ff., 64; ders., FS Roxin I, S. 1262 f.; Jahn, 67. DJT 2008, S. C 47, der den Gesichtspunkt unter die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege einordnet; s. a. Mapp vs. Ohio, U.S. 367 (1961) 643, 659: „Nothing can
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IV. Zwischenbilanz: Drei Subjekte der Tugend Der kursorische Überblick verdeutlicht, dass die Berufung auf die Tugend keine einheitliche Bezugsperson hat. Bei genauerem Hinsehen kann man drei unterschiedliche Subjekte der Tugend unterscheiden. 1. Zunächst kann es um die Tugend des Herrschers bzw. Richters als natürliche Person gehen. Bei derartigen Argumenten ist Vorsicht geboten. Es kann zwar nicht bestritten werden, dass Herrscher und insbesondere Richter bestimmte Charakterzüge aufweisen sollten, die sie zur Erfüllung ihrer hohen Aufgaben benötigen. Es ist seit jeher bekannt, dass auch die besten Gesetze erstens auf die Urteilskraft68 und zweitens auf die gesetzestreue Gesinnung ihrer Anwender angewiesen sind, und dass der Text allein keine Gewähr gegen seine Pervertierung bietet.69 „The devil can cite scripture for his purpose“.70 Eine solche Gesinnung setzte bei den Beratungen über die RStPO z. B. der Abgeordnete Schwarze voraus, als er meinte, es sei entbehrlich, klarzustellen, dass das Verbot der Verlesung des Vernehmungsprotokolls eines Zeugen, der erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht (§ 252 StPO), auch nicht durch die Vernehmung der Verhörsperson umgangen werden dürfe: „Denn wenn es zulässig ist, daß durch derartige Manipulationen […] der Gedanke und die Vorschrift des Gesetzes illusorisch gemacht werden kann und darf, […] da hört jede Gesetzgebung auf“.71 Das Schicksal von § 252 StPO72 belegt gleichzeitig die Grenze dieses Appells an die Tugenden des Richters. So unentbehrlich sie auch sind, sie können niemals als hinreichend angesehen werden. Werden sie als Belege für die Verzichtbarkeit von institutionellen Kontrollen angeführt, dann hat man sich der vorliberalen Argumentationsform des platonischen Politikos und des Inquisitionsverfahrens bedient, gegen die die Reformer des 19. Jahrhunderts ihre Stimme erhoben haben. Dass diese herkömmliche Argumentationsform fortlebt und empfindliche Lücken in der Rechtsstaatlichkeit unseres Verfahrens stützt, lässt sich an zwei Beispielen erkennen, einem älteren und einem neueren. Das ältere Beispiel ist die seit dem 19. Jahrhundert geführte Diskussion über die Kontrolle der unter exekutivistischer Weisung stehen-
destroy a government more quickly than its failure to observe its own laws, or worse, its disregard of the charter of its own existence.“ (kursiv von mir). 68 Grdl. Aristoteles (Fn. 15), Buch 6 Kap. 5, 8 ff.; heute Larmore (Fn. 21), S. 5 ff. 69 Peters (Fn. 55), 4. Aufl., S. 113. 70 Shakespeare, The Merchant of Venice, Act I, Sce. III (Vers 94). 71 In: Hahn, Die gesammten Materialien zur Strafprozeßordnung, 2. Abt., 2. Aufl. 1886, S. 1902; ferner Schwarze, GS 33 (1881), 270 ff., 281 ff.; Muskat, GA 36 (1888), 281 ff., 293 ff.; aus heutiger Sicht Schünemann, ZStW 114 (2002), 1, 6 f., der diese Passage ebenfalls zitiert. 72 RGSt 5, 142; 16, 119; danach BGHSt 2, 99; 7, 195; 13, 394, der nur die Vernehmung eines Richters zulässt. Zust. Rogall, FS Otto, 2007, S. 973, 990 ff.
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den Staatsanwaltschaft.73 Schwarze glaubte, diese Weisungsabhängigkeit sei wegen des Charakters der Staatsanwälte kein Problem,74 ein Argument, mit dem sich in der Sache viele heute noch zufrieden geben.75 Und im Rahmen der Absprachenkontroverse wird wiederholt versucht, die Klagen gegen den mit diesem Institut einhergehenden Abbau aller schützenden Formen und Kontrollen mit einem Hinweis auf das Verantwortungsbewusstsein der einzelnen Entscheidungsträger zu beschwichtigen.76 2. Womit man zum zweiten Subjekt der Tugend gelangt: Nicht mehr der natürlichen Person eines Richters, sondern Institutionen oder sogar dem Staat selbst werden Tugenden zugesprochen. Auf dieser Ebene bewegen sich die ganzen Beschwörungen einer sittlichen Überlegenheit des Staates, seiner Würde, einer Würde des Gerichts oder der Gerechtigkeitspflege. Wie gesagt, erfahren diese Argumente nicht selten eine deontologische oder konsequentialistische „Anpassung“; Erstere, wenn man sich auf Rechte des Individuums oder auf Gebote materieller oder prozeduraler Gerechtigkeit beruft, Letztere, wenn man von Autorität, Vertrauen, Rechtsfrieden oder positiver Generalprävention spricht. In der Tat passiert das nicht von ungefähr: Dass der Staat oder eine seiner Institutionen Träger bestimmter Tugenden sein soll, mutet uns, die wir nicht mehr an die Selbstzweckhaftigkeit des Staates glauben, immer als begründungsbedürftige Behauptung an. Die Berufung auf weitere Rechte oder Zwecke liefert hier die vermisste Begründung. 3. In unserem Überblick war noch von einem dritten Subjekt die Rede. „Wir sind keine Henker“: Angesprochen ist damit das Volk oder die Gesellschaft, das bzw. die sich mit der Aufgabe der Verfolgung von Straftaten beschäftigt. Die Art und Weise, 73 Etwa Holtzendorff, Die Reform der Staatsanwaltschaft in Deutschland, 1864, S. 35 ff.; Freydorf, Verh. des 5. DJT, Bd. 1, 1864, S. 119 ff., 141 ff.; Gneist, Vier Fragen zur Deutschen Strafproceßordnung, 1874, S. 21 ff. 74 Schwarze, GS 1864, 401 ff., 421: „Da wo sich die Staatsanwaltschaft dazu hergiebt, mit Verläugnung dieses Standpunktes (des Rechts, L.G.), politischer Verfolgungssucht zu dienen und das Gesetz zum Vortheile einer oder der anderen Parteimeinung zu beugen, verläugnet sie ihre Aufgabe und schändet sie ihren Beruf“; S. 422: Es sei „darauf hinzuwirken, daß in der Staatsanwaltschaft selbst der Geist unbeugsamer, jeder Willkür fremder, das Gesetz und nur das Gesetz befolgender […] Gerechtigkeit sich verkörpere“; abl. Gneist (Fn. 73), S. 25; Holtzendorff (Fn. 73), S. 36: „Selbst wenn wir die Gewißheit hätten, daß unter allen Umständen nur bewährte Charaktere an die Zugbrücke gestellt werden, welche die Citadelle der Gerechtigkeit schützen soll, würden wir davon absehen müssen, persönliches Vertrauen als einen Wechselkredit zu gewähren, wo wir als gewissenhafte Verwalter der Rechtsinteressen nur auf Pfänder leihen dürfen“. 75 Z. B. Kretschmer, Jura 2004, 452 ff., 458; in die Diskussion über die sog. externe Weisungsgebundenheit der StA kann man hier nicht einsteigen; befürwortend Wohlers, FS Schroeder, 2006, S. 735 ff., 743 ff. einerseits, krit. Günter, DRiZ 2002, 55 ff., 59 f., 67 f.; Heghmanns, GA 2003, 433 ff., 441 f.; Frank, ZRP 2010, 147 ff. andererseits. 76 Etwa Krüger, DRiZ 1989, 150; Ignor, ZStW 119 (2007), 927, 932; Rosenau, FS Puppe, 2011, S. 1597, 1627 (Berufung auf das „Richterethos“); und jüngst die Stellungnahme von Bayerns Justizministerin Merk vor dem BVerfG, http://www.bayern.de/Pressemitteilungen-. 1255.10400430/index.htm, zuletzt aufgerufen 3/2013; zu Recht krit. Schünemann, FS Baumann, 1992, S. 374; ders., ZStW 119 (2007), S. 945, 953.
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wie eine Gesellschaft bei Strafverfahren handelt, offenbart etwas über den Charakter dieser Gesellschaft. Erst damit erfährt die Berufung auf die Tugend des Staates oder von Institutionen eine Begründung, die nicht unter dem Trilemma steht, einen selbstzweckhaften Staat zu postulieren oder sich auf die Deontologie oder den Konsequentialismus reduzieren zu lassen. Hinter dem Staat und seinen Institutionen stehen wir. Uns ist wichtig, was für Menschen wir sind.77
V. Kleines System strafprozessualer Tugenden und Laster Eine Berufung auf Tugenden im Strafverfahren soll demnach den Weg bis zu diesem dritten Subjekt finden können, also bis zu den Menschen, in deren Namen der Staat und seine Institutionen handeln. An einer Vielzahl von Beispielen, bei denen es besonders nahe liegt, sich auf Tugenden zu beziehen, soll das Potenzial dieser Argumentationsweise erprobt werden. Statt einer bloßen Aneinanderreihung von Beispielen wird versucht, auf der Grundlage zweier Paare von Kriterien, die rudimentär mit der Ferne oder Nähe eines Verhaltens zu einem Subjekt zu tun haben, eine Matrix zu bilden. Das erste Paar ist die Entgegensetzung von Ausnutzen und Initiieren, das Zweite fragt, ob es um fremdes oder eigenes „bemakeltes“ bzw. fehlerhaftes Verhalten geht.78 Wie es zu diesem Makel bzw. Fehler kommt, kann offen gelassen werden: Materiell kann er deontologisch, konsequentialistisch oder unmittelbar tugendbezogen begründet werden, formell wird es häufig, wenn auch nicht immer, um eine schlichte Gesetzesverletzung gehen. 1. Ausnutzen fremder Fehler a) Die erste Fallgruppe, in der unmittelbar von Tugenden gesprochen wird, ist die wegen der Liechtenstein-Affäre erneut in den Vordergrund geratene Frage nach der Verwertbarkeit von Beweisen, die durch rechtswidriges Verhalten von Privaten erlangt worden sind. Die h.M. möchte insbesondere mit Berufung auf das Zweckargu77 Ein viertes Subjekt fehlt in unserem Überblick – der Beschuldigte – und dies nicht, weil man bzgl. seiner Person niemals von Tugend spricht (Hauptbeispiel: BGHSt 19, 325, 331: das Grundgesetz schütze nur die Entfaltung, nicht den Verfall der Persönlichkeit; eine These, die wohl implizit in BVerfGE 109, 279, 319 und in § 100c IV 3 StPO Widerhall gefunden hat; krit. Wolter, StV 1990, 179), sondern weil die Berufung auf die Tugend, um dem Staat Befugnisse gegen einen konkreten Bürger zu verleihen, genau die Argumentationsform ist, zu der die liberale Tradition im Spannungsverhältnis steht (s. o. Fn. 23). 78 Makel und Fehler werden hier als Synonyme gebraucht. Diese Zurechnungskriterien scheinen nicht tugendspezifisch zu sein, sondern sogar dem geltenden Recht zugrunde zu liegen, was an der folgenden Sequenz aufsteigender Nähe zur Tat erkennbar ist: die Anschlussstraftat als Ausnutzen eines fremden Fehlers wiegt grds. weniger schwer als dessen Initiierung (§§ 257 II, 258 III StGB; Anstiftung, § 27 StGB), die ihrerseits weniger wiegt (§ 30 StGB) als die Initiierung eines eigenen Fehlers (Begehungstäterschaft). Die Ausnutzung eines eigenen früheren Fehlers (Ingerenzgarantenstellung) wird auch milder bewertet (§ 13 S. 2 StGB) als seine willentliche Begehung.
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ment der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege diese Beweismittel grundsätzlich verwerten.79 Eine tugendbezogene Betrachtung neigt zur entgegengesetzten Auffassung. Anderenfalls würden wir als „Hehler“ handeln,80 durch deren Verhalten der „Makel der Rechtswidrigkeit […] perpetuiert“ würde.81 Dieses Verhalten wäre um eine Stufe abscheulicher, wenn wir derartige Beweise ankaufen würden, also den Rechtsbruch, der uns nichts kostet (nämlich die Verletzung von Persönlichkeitsrechten unserer Mitbürger) belohnen, um den Rechtsbruch, der für uns teuer ist (die Steuerhinterziehung), zu bekämpfen.82 Hierdurch zeigen wir die niedere Bereitschaft, Dinge, deren Wert nicht in Geld erfasst werden kann, zu monetarisieren.83 b) Ein weiteres interessantes Feld für Tugenden ist die Problematik der gesperrten V-Leute, deren Wissen über das Mittel eines Zeugen vom Hörensagen in das Verfahren eingeführt wird. Bekanntlich lässt die Rechtsprechung dieses Beweismittel zu, wenn auch mit der Beteuerung, im Rahmen der Beweiswürdigung äußerste Vorsicht walten zu lassen.84 In der Literatur ist seit mehreren Generationen gegen diesen sich versteckenden Zeugen Unbehagen geäußert worden. Früher berief man sich schlicht auf § 250 StPO,85 später hob man (konsequentialistisch) die Unzuverlässigkeit der Aussage hervor.86 Zunehmend thematisiert man das Problem unter der Rubrik einer möglichen Verletzung des fairen Verfahrens bzw. des Konfrontationsrechts
79 BGHSt 27, 355, 357; 36, 167, 173; BVerfG, NJW 2011, 2417, 2418 ff.; im Erg. a. Nüse, JR 1966, 281 ff., 285; Dencker (Fn. 65), S. 98; Senge, in: KK-StPO, 6. Aufl. 2008, vor §§ 48 ff. Rn. 52; w.N. zum Ganzen bei Godenzi, GA 2008, 500 ff., mit diff. Erg. (512 ff.). 80 Schmidt-Leichner, 46. DJT, 1966, S. F 139. 81 Koriath, Über Beweisverbote im Strafprozeß, 1994, S. 102. S. a. Kleinknecht, NJW 1966, 1537 ff., 1541 ff.; Klug, 46. DJT 1966, S. F 30 ff., 47 (Verlorengehen der „rechtsstaatlichen Integrität des strafgerichtlichen Verfahrens“); Haffke, GA 1973, 83; Otto, FS Kleinknecht, 1985, S. 319 ff., 326 ff. („Glaubwürdigkeit des Staates als Wahrer der Rechtsidee“). 82 Ein solches Argument lässt die Frage nach der Einordnung des ersten Rechtsbruchs als strafbares Unrecht unberührt (hierzu ausf. Schünemann, NStZ 2008, 305, 307 ff. einerseits und Satzger, FS Achenbach, 2011, S. 447 ff. andererseits). Tugendbezogene Argumente auch bei Beulke, Jura 2008, 665: „Bild der StPO von einem geordneten rechtsstaatlichen Verfahren“; Schünemann, GA 2008, 322: „Beweismaterial, das … das Kainsmal auf der Stirn trägt“; Trüg/Habetha, NJW 2008, 887, 890; Ostendorf, ZIS 2010, 301 ff., 301 f., 308; Ignor/Jahn, JuS 2010, 390 ff., 394; Kühne, FS Roxin II, S. 1269, 1282 f. Für Verwertbarkeit Pawlik, JZ 2010, 693 ff.; Satzger, FS I. Roxin, 2012, S. 421, 424 ff. 83 Ähnl. Schünemann, NStZ 2008, 308: „kruder Handlungsutilitarismus“. Fast wortgleich Kühne (Fn. 80), S. 1284: „kruder Utilitarismus jenseits von rechtsstaatlichem Anstand“; er versteht seine Argumentation, die derart entschiedene tugendethische Züge hat, als Konkretisierung der Abwägungslösung (S. 1281), die aber eher dem Konsequentialismus als der Tugendethik (McDowell, in: Crisp/Slote [Fn. 8], S. 141 ff., 146) verwandt ist. 84 BGHSt 17, 382, 387 f.; 49, 112, 118 ff. 85 Beling, Deutsches Reichstrafprozeßrecht, 1928, S. 319 f.; v. Hippel, Der deutsche Strafprozeß, 1941, S. 391. 86 I. Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren, 1980, S. 154 ff.; Peters (Fn. 55), S. 399.
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(Art. 6 III d EMRK), die aber regelmäßig abgelehnt wird.87 In der Diskussion tauchen aber gelegentlich Erwägungen auf, die das Problem zumindest teilweise als eine Charakterfrage einordnen und sich deshalb auch für die Unverwertbarkeit aussprechen. Nach Peters sei im Verfahren „anhand einer ethisch und kriminalistisch abgesicherten Beweisführung die Würde und Hoheit des Rechts darzutun“;88 ein halb konsequentialistisches, halb tugendbezogenes Argument. Und Grünwald rügt das widersprüchliche Verhalten des Staates, der einen Zeugen sperrt, sich aber zur Verurteilung dessen Wissen bedienen möchte.89 Das aus einer tugendbezogenen Perspektive wohl entscheidende Argument ist aber, dass der Zeuge, der nicht bereit ist, offen aufzutreten und die Verantwortung für seine belastenden Aussagen zu übernehmen, Charaktermängel offenbart,90 mit denen wir uns identifizieren und solidarisieren, wenn wir auf der Grundlage dieser Aussagen einen Menschen bestrafen. Die Argumente sind schon von den Kritikern des Inquisitionsverfahrens und dessen heimlicher Zeugenvernehmung formuliert worden. So meinte Feuerbach noch teilweise zweckmäßigkeitsorientiert: „Aber welch ein Zeuge, der nur hinter dem Rücken des andern wahrhaftig ist! […] Welche Gesetze, indem sie auf solche Weise die Feigheit des Characters berücksichtigen, eben diese Feigheit, und mit dieser die Zweideutigkeit, Tücke und Falschheit hegen und nähren“.91 Und Voltaire argumentierte, das englische Verfahren sei am besten, u. a. weil „on ne fait point déposer les témoins en secret, ce serait en faire des délateurs“.92 2. Initiieren fremder Fehler Zeigen wir uns als Hehler, wenn wir aus einem bereits begangenen Fehler Vorteile ziehen, so machen wir uns zum korrumpierenden Anstifter und Verführer, wenn wir zur Begehung eines Fehlers auffordern. Das klarste Beispiel hierfür ist die für das allgemeine Rechtsempfinden so anstößige Kronzeugenregelung.93 Der Gesetzgeber ist von ihrer Zweckmäßigkeit überzeugt94 und möchte nicht auf das Institut verzich-
87 Für die Verletzung dieses Rechts I. Müller (Fn. 86), S. 156 ff.; dagegen BGHSt 17, 382, 388; BVerfGE 57, 250; N. zur EGMR-Rspr. bei Gaede, Fairness als Teilhabe, 2007, S. 323 Fn. 719. 88 Peters (Fn. 55), S. 318. 89 Grünwald, JZ 1966, 494; ebenso Bruns, Neue Wege zur Lösung des strafprozessualen V-Mann-Problems 1982, S. 65 ff. m.w.N. 90 Clark (Fn. 62), S. 93 f. 91 Feuerbach (Fn. 45), S. 106 f. 92 Voltaire (Fn. 24), S. 132. 93 §§ 46b I Nr. 1, 84 V, 98 II, 129 VI, 129a VII StGB, § 31 Nr. 1 BtMG. 94 BT-Drs. 16/13094, S. 1; ebenso Maier, in: MK-StGB, 2. Aufl. 2012, § 46b Rn. 3; Kneba, Die Kronzeugenregelung des § 46b StGB, 2011, S. 140.
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ten. Die Gefahren für die Wahrheitsfindung95 und die Verletzung von Gleichheitsgebot und Schuldprinzip liegen auf der Hand.96 Aber jenseits dieser konsequentialistischen und deontologischen Vorbehalte gibt es eine weitere Dimension, auf die in der kritischen Literatur ununterbrochen hingewiesen wird: Der Kronzeuge „wird für Verrat rechtlich begünstigt […]“.97 Die Kronzeugenregelung „verstrickt den Staat in einen Handel mit dem Verbrecher“,98 in ihr manifestiert sich eine „Strafrechtspflege, welche mit Schwerverbrechern paktiert“.99 Um die Sache auf den Punkt zu bringen: Der, den wir am Ende bestrafen, wird nicht mehr wegen seiner Tat bestraft, sondern wegen der Tatsache, dass er nicht schnell genug war, um seine Komplizen als Erster zu verraten. Mit diesem Kriminellen, den wir noch zum kriminellen Verräter korrumpiert haben, machen wir uns gemein. 3. Ausnutzen eigener Fehler Hier geht es in erster Linie um die Frage der Fernwirkung von Beweisverboten. Die h.M. bejaht die grundsätzliche Verwertbarkeit solcher Beweismittel mit dem zweckmäßigkeitsbezogenen Argument, dass das Verfahren wegen eines Fehlers nicht lahmgelegt werden dürfe.100 Gegenauffassungen berufen sich entweder auf einen weiteren Zweck, nämlich die Abschreckung bzw. Disziplinierung der Verfolgungsorgane,101 oder auf Rechte des durch den ersten Fehler Verletzten.102 Eine tugendbasierte Betrachtung, die in der Literatur bereits ansatzweise vorhanden ist,103 setzt die Akzente freilich anders: Ist es bereits verdächtig, aus fremden Fehlern Vorteile zu ziehen (s. o. unter 1.), dann muss dies erst recht für das Ziehen von Vorteilen 95
Malek, StV 2010, 200 ff., 206; S. König, StV 2012, 114. Dies wurde auch vom Gesetzgeber erkannt, der mit einer Verschärfung des materiellen Rechts reagiert hat (BT-Drs. 16/ 13094, S. 2). 96 Hassemer, KritV 1990, 271, 275; Frank/Titz, ZRP 2009, 137 ff., 139 f.; Salditt, StV 2009, 375 ff., 376, 377; S. König, NJW 2009, 2481, 2483. 97 Hassemer, KritV 1990, S. 275 98 S. König, StV 2012, 113. 99 Hassemer, KritV 1990, 275; s. a. Clark (Fn. 62), S. 95; Ferrajoli, Diritto e ragione, 5. Aufl. 1998, S. 864. 100 Etwa BGHSt 27, 355, 358; 51, 1, 7 ff.; 55, 314, 318 f.; im Erg. a. Baumann, GA 1959, 38 ff.; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. 2012, Einl Rn. 57, § 136a Rn. 31. 101 So im amerikanischen Recht grdl. Mapp vs. Ohio (Fn. 67), 648, 658 (näher hierzu Long, Mapp v. Ohio, Kansas, 2006); für Deutschland etwa Nüse, JR 1966, 284 f. 102 Nüse, JR 1966, 284; Amelung, FS Roxin I, S. 1262, 1268, auf Grundlage seines Informationsbeherrschungsrechts; Bottke, FS Roxin I, S. 1257; diff.: Grünwald, JZ 1966, 500; Rogall, ZStW 91 (1979), 39 f.; Wolter, FS BGH, S. 994 (Fernwirkung bei einer Verletzung unantastbarer Grundrechte); Jahn (Fn. 67), C 95. 103 Nüse, JR 1966, 284 („ethisches Argument“), 285 Fn. 47; Otto, GA 1970, 294 (Distanz der Strafrechtspflege gegenüber verpönten Methoden); Haffke, GA 1973, 80 (Gebot der Widerspruchsfreiheit); Dencker (Fn. 65), S. 80; Koriath (Fn. 81), S. 103 (der Makel der Rechtswidrigkeit dürfe nicht perpetuiert werden – was bei schweren Delikten nicht ausschlaggebend sein solle); s. a. Baumann, GA 1959, 40, mit abw. Erg.
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aus eigenen Fehlern gelten. Als rechtschaffene Menschen sollten wir bemüht sein, uns von unseren Fehlern zu distanzieren. Wir müssten sie vielmehr bedauern und ihre Folgen rückgängig machen, wenn dies noch möglich ist, oder uns anderenfalls um Entschädigung bemühen. 4. Eigenes bemakeltes Handeln In dieser letzten Fallgruppe wird das fehlerhafte Verhalten vom Staat mit Absicht begangen. Gerade in diesem Fehler manifestiert sich ein Laster, dessen Hervorhebung den Kern einer tugendorientierten Kritik des jeweiligen Verhaltens darstellt. a) Man denke an die Konstellation des Lockspitzels, bei der man ähnlich wie beim Kronzeugen allgemein „Unbehagen“ empfindet.104 Nach einem anfänglichen Zögern, bei dem die Kategorien des widersprüchlichen Verhaltens bzw. der Verwirkung des Strafanspruchs105 eine Rolle gespielt haben, hat sich die deutsche Rechtsprechung dazu entschieden, dem Provozierten in bestimmten Fällen eine Strafmilderung zu gewähren.106 Hier soll die Vermutung in den Raum gestellt werden, dass die Armut unseres herkömmlichen theoretischen Vokabulars teilweise daran schuld ist, dass man den hinter diesen beiden Kategorien stehenden Kerngedanken nicht zu erfassen vermochte. Angesichts des Vorwurfs, es gehe dabei um eine Übertragung zivilrechtlicher Kategorien in das Strafverfahrensrecht,107 versuchten die Kritiker des Lockspitzels den Widerspruch konsequentialistisch108 oder deontologisch109 zu deuten. Naheliegender wäre es gewesen, sich offen der Sprache der Tugenden zu bedienen. Der Widerspruch, der den Strafanspruch so fragwürdig macht, besteht darin, dass der strafende Staat wegen seiner Provokation zugleich als „echter Komplice“ in die Sache verwickelt ist,110 so dass ihm „die sittliche Autorität und rechtliche Legitimation zur Verhängung einer Strafe fehlt“.111 Mit den pointiert tugendbezogenen Worten des Reichsgerichts: Es sei „unaufrichtig und jedenfalls mit dem Ansehen der Behörden der Strafrechtspflege unvereinbar, wenn deren Beamte oder Beauftragte sich dazu hergeben, […] zum Verbrechen anzulocken, und auch, wenn sie nur den Schein
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Katzorke, Die Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs, 1989, S. 11. BGH, NJW 1981, 1626; ebenso Bruns, NStZ 1983, 49 ff., 53 f.; Taschke, StV 1984, 178 ff.; Katzorke (Fn. 104), S. 80. 106 BGHSt 32, 345, 352 ff.; 33, 356, 362; 47, 44, 48; 45, 321, 326. 107 BGHSt 32, 345, 353; Schumann, JZ 1986, 66 ff., 68 ff.; ähnl. Foth, NJW 1984, 221 f. 108 Schünemann, GA 1986, 293 ff., 319: Der Staat bekämpfe selbst produzierte Kriminalität. 109 Gössel, NStZ1984, 420 ff., 421: Der Staat verletze seine Pflicht, Straftaten zu verhindern. 110 So Bruns, NStZ 1983, 54; Seelmann, ZStW 95 (1983), 797 ff., 827: Fehlen der gebotenen „Distanz zum Täter“; s. a. Puppe, NStZ 1986, 404 ff., 405 f., die den Gedanken der wohl tugendorientierten Schuldteilnahmetheorie bemüht. 111 Wolter, in: SK-StPO, 2010, § 110c Rn. 11; fast wortgleich ders., ZIS 2012, 238 f. 105
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erwecken, als ob sie Täuschung oder sonstige unlautere Mittel in den Dienst der Strafrechtspflege stellten.“112 b) Die Regeln, die für die delikate Situation der Vernehmung gelten, gestatten auch teilweise eine tugendorientierte Deutung. Der Leitgedanke lautet hier, dass der Vernommene sich in einer besonders schwachen Position befindet, in die ihn der vernehmende Staat selbst gebracht hat: „ein einfacher Mann steht der erfahrenen Obrigkeit, ein furchtbesessener Angeklagter einem ruhigen und selbstbeherrschten Richter gegenüber“.113 In Deutschland schrieb deshalb Gneist: „[…] ein Verfahren, das durch unbestimmt fortgesetzte Spezialverhöre den Angeklagten in Widersprüche zu verwickeln sucht, ihn durch Vorhaltungen, Ermahnungen, Beschämungen (und in Wechselwirkung damit durch die Einsamkeit einer monatelangen Untersuchungshaft) zum Geständnis zu bringen sucht, liegt nicht im Berufe des Richteramts und ist des rechtsprechenden Staats nicht würdig“.114 Ebenso hieß es in einer grundlegenden Entscheidung des U.S. Supreme Court zur Selbstbelastungsfreiheit: „the terrible engine of the criminal law is not to be used to overreach individuals who stand helpless against it. […] a prisoner is not to be made the deluded instrument of his own conviction“.115 Am genauesten dürfte folgende Formulierung sein: Eine Ausbeutung der Verletzlichkeit des vernommenen Beschuldigten, um Geständnisse zu erzwingen, würde das Laster der Feigheit manifestieren. Dieser Gedanke führt ohne Zwischenschritte zum einen zu den Belehrungspflichten gem. § 136 I StPO, die für die Verletzlichkeit eine Art Ausgleich schaffen sollen,116 zum anderen zum Verbot gewisser Vernehmungsmethoden (§ 136a StPO). Gerade bei der Auslegung letzterer Vorschrift sind tugendorientierte Deutungen vor-
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RG bei Kohlrausch, ZStW 33 (1912), 695: „eine solche Irreführung ist aber, auch wenn sie nicht unter das Strafgesetz fällt, doch vom allgemein sittlichen Standpunkt, den die Behörden der Strafrechtspflege ohne Rücksicht auf Erfolge einzunehmen haben, nicht zu billigen“ (S. 694). Ich lasse offen, ob ich angesichts dieser neuen Überlegungen an meiner früher vertretenen Ansicht (Greco, StraFo 2010, 52 ff.) festhalte. 113 Servan (Fn. 11), S. 80. 114 Gneist (Fn. 73), S. 82. S. a. Wimmer, ZStW 50 (1930), 538 ff., 551: „Es verträgt sich nicht mit der Würde des Gerichts, ein Geständnis zu erschleichen“; und in Italien sagte Carrara (Fn. 38), § 930 (S. 193), dass Geständnisse „spontan“ sein müssten, also „weder durch physische oder moralische Gewalt genötigt […] noch durch Kniffe (artifizi) gewonnen werden dürften, die […] dazu führen würden, dass die Rechtspflege aus einer Immoralität Vorteile zieht“. 115 Culombe vs. Connectitut, U.S. 367 (1961), 568, 581. 116 S. a. die von Clark (Fn. 62), S. 87 f. vorgelegte Deutung der sog. miranda warnings: Ähnlich wie das Gebet vor einer Mahlzeit, das einer gläubigen Familie Gelegenheit gibt, sich zu vergewissern, was für eine Familie sie ist oder sein möchte, entscheide sich die Gemeinschaft, vor einer Verhaftung eine solche Pause zur Selbstvergewisserung einzuschieben. Durch die Belehrung werde eine bestimmte Vorstellung des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat symbolhaft bestätigt, nämlich dass der Bürger auch dann, wenn sich die Staatsmacht gegen ihn wendet, eine Stimme habe und ein autonomes Subjekt bleibe.
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geschlagen worden,117 mit denen die in der Dichotomie von Konsequentialismus und Deontologie verhaftete h.A. wenig anfangen konnte. Deshalb wurde dieser Argumentation vorgehalten, dass bei ihr der Zweckbezug fehle,118 und der Versuch unternommen, das Argument zweckbezogen umzuformulieren,119 als gäbe es keine andere Rationalität als die konsequentialistische. c) Die Bemerkungen zur Feigheit der Ausbeutung fremder Verletzlichkeit führt uns zu der problematischsten aller Entwicklungen des deutschen Strafverfahrensrechts, nämlich den Absprachen. Die Hauptargumente, die man gegen dieses Institut angeführt hat, geben sich als deontologisch zu erkennen – Absprachen seien weder mit der Unschuldsvermutung120 noch mit der Selbstbelastungsfreiheit121 bzw. mit § 136a StPO122 vereinbar – und es wird auf die Gefährdung des Zwecks der Wahrheitsfindung hingewiesen.123 Diese Argumente werden von einer Reihe von Modulierungen begleitet, in denen sich die Berufung auf Tugenden offenbart. So argumentierte bereits Schmidhäuser in seiner Kritik des § 153a StPO: „Wenn sich auch nur in einem begrenzten Bereich der Handel im staatlichen Strafen breit macht, so wird die strenge Bestrafung an anderer Stelle unehrlich“.124 Die Strafrechtspflege gerate mit einer solchen Vorschrift „in den Bereich des Feilschens“,125 „die staatlichen Organe (würden) in unwürdige, mit ihrer Aufgabe nicht verträgliche Situationen gedrängt“.126 Als diese Absprachen später eingeführt wurden, wurden sie von Anfang an als „Deal“ oder als „Handel mit Gerechtigkeit“127 gebrandmarkt. Das sie belebende Interesse an einer einfachen Verfahrenserledigung sei „unglaubwürdig und unwürdig“; sie verkörperten ein „unwürdiges Feilschen“128 und seien im Grunde nicht mehr als „sprachliche Heuchelei, Nötigung durch rückhaltlosen Machtge-
117 S. einige der o. Fn. 64 genannten Autoren. Außerdem auch Peters (Fn. 55), 4. Aufl., der § 136a StPO im Lichte sowohl der Wahrung der Würde des Vernommenen (S. 333), der Sicherung der Tatsachenfeststellung (S. 335) als auch des „Ansehens des Staates und seiner Strafrechtspflege“ deutet (S. 334); Baumann, GA 1959, 33 Fn. 2; Hassemer/Matussek, Das Opfer als Verfolger, 1996, S. 77 f.: „strafprozessuale Dignität der Ermittlungsergebnisse“. 118 S. o. Fn. 65. 119 S. o. Fn. 67. 120 Etwa Dencker/Hamm, Der Vergleich im Strafprozeß, 1988, S. 53; Schünemann, 58. DJT, 1990, S. B 95 ff. 121 Dencker/Hamm (Fn. 120), S. 54. 122 Schünemann (Fn. 120), S. B 100 ff., B 106, 110; ders., FS Baumann, 1992, S. 361 ff., 372; Hauer, Geständnis und Absprache, 2007, S. 319 ff., 340. 123 Eb. Schmidt, MDR 1967, 879; Schünemann (Fn. 122), S. 372. 124 Schmidhäuser, JZ 1973, 536. Es bestehe ferner die „Gefahr eines ganz neuartigen Tuschelverfahrens, eines Verfahrens hinter vorgehaltener Hand oder zwischen Tür und Angel“ (S. 535). 125 Schmidhäuser, JZ 1973, 534. 126 Schmidhäuser, JZ 1973, 536. 127 Schumann, Der Handel mit Gerechtigkeit, 1977. 128 Hauer (Fn. 122), S. 182.
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brauch und schrankenlose Einzelfallwillkür“,129 deren unabweisbare Folge ein Verlust der „moralischen Substanz des Strafrechts“130 sein müsse. Diese Argumente sind mehr als bloße Modulierungen anderer Erwägungen. Eine tugendorientierte Betrachtung erkennt in den Absprachen eine Reihe von Lastern: neben der bereits erwähnten Feigheit auch die Heuchelei, vom Konsens zu sprechen, wo in Wahrheit Druck ausgeübt wird, Schuldsprüche zu fällen, deren Ungenauigkeit man kennt, Verteidigungsrechte zuzuerkennen, auf deren Wahrnehmung man mit erhöhten Strafen reagiert, und zuletzt eine typische Ausprägung der Willensschwäche, nämlich die Bereitschaft, zum eigenen Vorteil eher großzügig bei der Feststellung von Notsituationen (hier: eines Justiznotstands) zu sein.131
VI. Bilanz Die obigen Erwägungen gestatten eine Feststellung: Tugendbezogene Argumente spielen bereits jetzt eine nicht unbeträchtliche Rolle in der Strafverfahrenstheorie. Nun gilt es nur noch zu fragen, welche Vor- und Nachteile solche Argumente im Vergleich zu konsequentialistischen und deontologischen Argumenten aufweisen. Der erste Vorteil der Berufung auf eine Tugend oder ein Laster ist, dass häufig allein sie dazu in der Lage ist, dasjenige präzise zu treffen, was an einem bestimmten Institut problematisch ist. Der Grund, weshalb die Kronzeugenregelung und die Lockspitzel so anstößig wirken, wird erst erschlossen, wenn man den Blick über Zwecke und Rechte hinaus richtet.132 Ohne die Dimension der Tugend wird es dabei bleiben, dass die vor bestimmten Instituten unweigerlich gespürte Intuition 129
Schünemann (Fn. 122), S. 376. Schünemann (Fn. 122), S. 378. 131 Zu dieser Untugend allgemein Hursthouse (Fn. 5), S. 86. Hieran wird klar, dass eine solche tugendbezogene Kritik sich an den äußersten Grenzen der noch zulässigen sachlichen Diskussion bewegt. Das ist ein Nachteil der Berufung auf die Tugend, worauf man unter V. zu sprechen kommen wird. 132 Ursprünglich plante ich, das o. unter IV. entwickelte „kleine System“ anders, nämlich nach einzelnen Tugenden zu gliedern. Eine Gruppe von Erwägungen, die sich nur schlecht in das letztlich vorgezogene Schema eingliedern lässt, werde ich deshalb in dieser Fußnote erwähnen. Gemeint ist die Tugend der Aufrichtigkeit, auf die man sich berufen könnte, um eine Vielzahl von Phänomenen zu kritisieren, neben den Absprachen (s. o. V. 4. c]) etwa die vielfachen Strategien der Umgehung von Belehrungspflichten, vom Schweigerecht und von Zeugnisverweigerungsrechten, die die Anerkennung dieser Rechte zum Lippenbekenntnis macht (krit. Wolter, FS BGH, S. 969 ff.; i. S. eines sog. „Umgehungs- und Ausforschungsverbots“; umfassend ders., ZIS 2012, 238 ff.); Veränderungen des materiellen Rechts als Vorwand, strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen einsetzen zu können (letztes Beispiel: § 89a StGB, das auch in die Kataloge der §§ 111, 100a, 100c und 112a StPO eingeführt worden ist, krit. Wolter, FS Roxin II, S. 1250); oder die zunehmende Verpolizeilichung des an sich repressiv orientierten Strafprozessrechts (krit. Wolter, Aspekte [Fn. 3], S. 29 ff.; ders., Jura 1992, 525 ff.; ders., Zur Theorie (Fn. 2), S. 277 ff.; ders., ZStW 117 (1995), 829 f.; ders., FS BGH [Fn. 3], S. 983; ders., FS Rolinski, 2002, S. 273 ff., 283 f.). 130
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eines „rechtsstaatlichen Unbehagens“133 höchstens als Frage der political correctness134 bzw. der Rechtspolitik135 oder sogar als nacktes „Gefühl“136 wahrgenommen werden kann. Es gibt keinen Grund, Tugenden nicht neben Rechten und Zwecken einen Platz im materiellen Unterbau des Rechts anzuerkennen. Und zu einer Zeit, wo allein dem verfassungsrechtlich Übersetzbaren der Status des Rechtlichen zugesprochen wird,137 wird es gewiss nicht schaden, dass sich alle oben erwähnten Tugenden ohne aufwändige Zwischenschritte auf das Rechtsstaatsprinzip (Art. 1 III, 20 III, 28 I GG), das Prinzip des fairen Verfahrens (Art. 104, 2 II 2 GG) und den Gedanken der Demokratie (Art. 20 II GG) zurückführen lassen. Im Vergleich zu konsequentialistischen Argumenten hat die Tugend den Vorteil, dass sie die Argumentation nicht von einer empirisch fragwürdigen Prognose abhängig macht. Wer etwa sagt, die Verwertung eines Beweises, der indirekt aus der Verletzung eines Beweisverbotes herrührt, beeinträchtige das Vertrauen der Rechtspflege oder sei positiv-generalpräventiv unangebracht, macht sich anfällig für die Replik, dass ein Freispruch in solchen Fällen bekannter Schuld noch schlimmere Folgen für das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung haben könnte.138 Die Berufung auf Tugenden kann die von der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege geförderte „Rutschbahn zur Strafverfolgung“139 abbremsen sowie bestimmte Zwecke „niederer Art“, wie z. B. ökonomisch-fiskalische Erwägungen, die auch in diesen Begriff der Funktionstüchtigkeit Aufnahme finden können, zähmen und zivilisieren (Beispiel: Justiznotstand und Absprachen; Liechtenstein-Diskussion). Stellt man tugendbezogene Argumente der Berufung auf Rechte gegenüber, so sieht man, dass auf Letztere nicht verzichtet werden kann: Wohl gelangt man nur über deontologische Argumente und nicht durch die Tugend140 zu abwägungsfesten Rechten, für deren Anerkennung im Strafprozess141 und auch im materiellen Straf-
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Ausdruck von Kölbl, NStZ 2008, 244, der selbst Anführungszeichen gebraucht. So Ostendorf, ZIS 2010, 308. 135 Pawlik, JZ 2010, 702. Freilich gehört Pawlik zu den wenigen, die die Eigenart der tugendbezogenen Argumentation erkannt haben (S. 700 f., „Selbstachtung der Rechtsgemeinschaft“). 136 So Satzger (Fn. 80), S. 428. Dass dies nicht richtig sein kann, erschließt sich aus der späteren Behauptung, dass es sich beim Ankauf von Steuer-CDs „nur um einen […] Fall der Symbiose zwischen Straftäter und Staat“ handele (S. 432; kursiv von mir). Wollen wir solche sein, die mit Straftätern gemeinsame Sache machen? 137 Krit. Greco, in: Brünhober u. a. (Hrsg.), Strafrecht und Verfassung, 2013, S. 13 ff. 138 In der Sache Satzger (Fn. 80), S. 432; Jahn (Fn. 67), S. C 58 (gegen Dencker). 139 Ausdruck von Wolter, FS BGH, S. 988; ders., FS Rudolphi, 2004, S. 733 ff., 742; ders. FS Küper, S. 708. 140 And. Swanton (Fn. 13), S. 220 ff.; Hursthouse (Fn. 5), S. 87; Rhonreimer (Fn. 14), S. 303 ff. wie hier aber der Tugendethiker Slote (Fn. 17), S. 254. 141 S. o. Fn. 3. 134
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recht142 Jürgen Wolter immer nachdrücklich gekämpft hat. Die Tugenden erweisen sich aber gerade dort als besonders hilfreich, wo sie für dieselbe Rechtsfolge sprechen wie Rechte. Die Bezugnahme auf Letztere hat nämlich das endemische Problem, dass sie zwar als Grund häufig richtig und sogar hinreichend ist, als Motiv aber viel zu schwach wirkt. Viel attraktiver wirkt etwa die Maxime „wirksames Strafverfahren durch unfaires Strafverfahren“.143 Deshalb haben sich die großen Väter der liberalen Tradition immer darum bemüht, dieses Motivationsproblem dadurch zu lösen, dass sie neben der Berufung auf Rechte auch zweckmäßigkeitsbezogene Überlegungen angaben:144 Z.B. verletze die Folter die Menschenwürde, darüber hinaus sei sie unklug, weil sie die Wahrheit nicht aufdecke. Das Richtige lohne sich. Das Problem ist natürlich, dass die zweckmäßigkeitsbezogene Überlegung instabil ist: Es wird immer wieder Fälle geben, wo Folter das einzige Mittel ist, zur Wahrheit zu gelangen. Die Tugend kann hier weiterhelfen und ein anschlussfähiges,145 aber nicht instabiles Motiv liefern: Auch dann, wenn Folter zur Wahrheit führt, sind wir keine Folterknechte. Gerade die Tatsache, dass die Tugend auf der einen Seite Zweckverfolgung zivilisiert, auf der anderen die Achtung vor Rechten attraktiver macht, führt zu einem weiteren Vorteil: Es könnte sein, dass die Tugenden den Punkt zu bestimmen vermögen, in dem man die ewige Spannung zwischen Zweckmäßigkeit und Rechten überwinden oder wenigstens abmildern könnte. Einige Nachteile lassen sich aber nicht bestreiten. Wird ein Rechtsinstitut als Manifestation eines Lasters abgelehnt, dann besteht die Gefahr, diejenigen, die dieses Institut für gut halten, persönlich zu beleidigen und eine sachliche Diskussion zu erschweren.146 Die Berufung auf Tugenden erfordert deshalb selbst die Tugend des Feingefühls und des Takts, die Fähigkeit, den richtigen Ton zu treffen. Ferner wird in der philosophischen Diskussion immer wieder gegen die Tugendethik geltend gemacht, dass sie keine konkreten Verhaltensanweisungen zu liefern vermag, dass sie sogar regelfeindlich sei.147 Dies ist aber ein Zerrbild. Aus der Bestimmung 142
Wolter, NStZ 1993, 5, 8; ders., 140 Jahre GA, 1993, 269 ff., 285, 305; ders., in: Schünemann/Figueiredo Dias (Hrsg.), Bausteine des europäischen Strafrechts, 1995, S. 3 ff., 22 ff.; ders., GA 1996, 201, 208 ff.; ders., in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem, 1996, S. 1 ff., 14 ff.; ders., in: Silva Sánchez (Hrsg.), Política criminal y nuevo derecho penal, 1997, S. 101 ff., 106; ders., in: Luzón Peña/ Mir Puig (Hrsg.), Cuestiones actuales de la teoría del delito, 1999, S. 1 ff., 11 ff. – womit er zur dogmatischen These eines rechtsfreien Raums vor dem Tatbestand gelangt. 143 Nach einer Wendung von Wolter, FS BGH, S. 968. 144 Greco (Fn. 1), S. 513 ff.; ders., InDret 4/2010, S. 1 ff. 145 Dies erst recht dann, wenn man eine Tugend als etwas versteht, das für ihren Träger gut ist (so Platon [Fn. 7], Buch 9, 582B ff.; Aristoteles [Fn. 15] Buch 1 Kap. 5 f., 9 ff.; heute Foot, Virtues and Vices, 2002, S. 2; Hursthouse [Fn. 5], S. 163 ff.; Irwin [Fn. 15], S. 41 ff.). 146 Ebenso Schneewind (Fn. 19), S. 200; s. a. o. IV. 4. c]). 147 Z. B. Louden (Fn. 21), S. 183 f.; Driver, in: Dreier (Hrsg.), Contemporary Debates in Moral Theory, 2006, S. 113 ff., 116. Traditionell meinte man, Tugenden geben nur sog. unvollständige Pflichten her, so O’Neil, Constructions of Reason, 1989, S. 224 ff.; philoso-
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einer Tugend (z. B. Mut) folgt schon die Anforderung, sich in einer bestimmten Situation (wenn das eigene Kind von einem tollwütigen Hund angegriffen wird) auf eine bestimmte Weise zu verhalten (nämlich nicht zu fliehen, sondern einzuschreiten).148 Die Probleme dürften hier nicht größer sein als diejenigen, mit denen die Bestimmung des Zweckmäßigen oder einzelner Rechte zu kämpfen hat.149 Der praktisch wichtigste Nachteil dürfte aber darin bestehen, dass Tugenden Ideale darstellen, die keine Grenze nach oben kennen.150 Auch der Heilige und der Held können über Tugenden definiert werden. So könnte man im Namen der Wahrhaftigkeit nicht nur die Heimlichkeit des Inquisitionsverfahrens, sondern alle verdeckten Maßnahmen im Ermittlungsverfahren pauschal verdammen. Viele würden auch die Schlussfolgerungen für überzogen erachten, die man auf Grundlage der Tugenden für die Frage der Verwertung von Beweisen erhält, die durch rechtswidriges Verhalten Privater gewonnen werden oder indirekt aus der Verletzung von Beweisverboten herrühren.151 Eine tugendbasierte Strafverfahrenslehre wird sich deshalb vielen der oben unter II. offen gelassenen Fragen zuwenden müssen und sich vor allem darüber Gedanken machen müssen, welche Tugenden man haben152 und wie tugendhaft man sein soll. (Die Tugenden des Heiligen sind sicherlich nicht solche, nach welchen die Gesellschaft der Menschen streben sollte). Aber bereits in der Zwischenzeit, bevor diese Arbeit geleistet wird, könnte man die Unterscheidung von guten und schlechten Charakterzügen als Richtlinie nehmen. Wir müssen nicht gerade durch das Strafverfahren unsere besten Seiten zeigen; wir sollten aber schon darauf achten, darin nicht unsere Laster widergespiegelt zu sehen. Die Lasterhaftigkeit eines bestimmten Verhaltens liefert somit einen Grund für seine rechtliche Unzulässigkeit. Unser Strafverfahren sollte nicht nur ein Spiegel unserer selbst sein, sondern dessen, was wir sein möchten und vor allem auch sein sollten. Das ist die Botschaft der Tugend im Strafverfahren. phiegeschichtlich Kersting, Studia Leibnitiana 14 (1982), 184 ff.; Schneewind (Fn. 19), S. 185 ff. 148 So auch Hursthouse (Fn. 5), S. 17 f., 36 ff. (das Beispiel ist aber von mir); dies., in: Crisp (Fn. 8), S. 19 ff. Ferner Watson (Fn. 4), S. 59 f.; Solomon, in: Statman (Fn. 4), S. 165 ff., 174 ff.; Crisp (Fn. 17), S. 8. 149 Hursthouse (Fn. 5), S. 229. 150 Hursthouse, in: Dreier (Fn. 147), S. 99 ff., 104 f.; ferner Trianosky, The Journal of Philosophy 83, 1986, 26 ff.; Annas (Fn. 4), S. 115 ff. – Eine andere Lösung könnte der sog. „satisficing“-Ansatz bieten (dafür Swanton, in: Statman [Fn. 4], S. 82 ff., 86 ff.; Slote [Fn. 17], S. 254). 151 Denkbar wäre es auch, die obigen Makel, die auch zum Verwertungsverbot führen, erst bei einer Rechtsverletzung besonderer Schwere oder Qualität anzunehmen (so Wolter, FS BGH, S. 994 ff.: Verletzung unantastbarer Grundrechte), was zu einer Kombination von Tugend und Rechten führen würde. 152 Auf die Kontroverse über die Einheit der Tugend (so Platon, in: Werke [Fn. 7], Bd. I, 329B ff. S. 83 ff.; heute McDowell [Fn. 83], S. 144; Irwin [Fn. 15], S. 52 ff.; abl. Slote, in: Baron/Pettit/Slote (Hrsg.), Three Methods of Ethics, 1997, S. 175 ff., 184 f.) möchte ich nicht eingehen.
Jürgen Wolter und der Gesetzgeber Von Heike Jung
I. Einführung Wir wissen zwar nicht so ganz genau, wer eigentlich der Gesetzgeber ist.1 Aber eines wissen wir sicher: Der deutsche Gesetzgeber ist ein beliebter „Sparringspartner“ unseres Jubilars. Ich möchte Jürgen Wolter, dem ich seit Jahren freundschaftlich verbunden bin, vor dem Hintergrund seines imponierenden wissenschaftlichen Werkes daher eine Fallstudie ganz persönlicher Art zu dem Thema „Strafprozessgesetzgeber und Wissenschaft“ widmen. Ich knüpfe damit an meinen Beitrag über „Von der Emanzipation des Strafprozessrechts und der Strafprozesswissenschaft“2 an. Dort ging es unter anderem um die (politische) Ausstrahlung der Strafprozesswissenschaft. Was ich dabei in allgemeiner Form angesprochen habe, will ich nun am Beispiel eines profilierten Strafprozesswissenschaftlers konkretisieren. Methodisch muss ich gleich einen Vorbehalt anbringen. Bei einer „Einzelfallstudie“ erwartet man eigentlich eine Art „Vollerhebung“. Ich muss jedoch, verbunden mit einem Schuss Bewunderung, einräumen, dass der Umfang von Jürgen Wolters Oeuvre, auch wenn wir es hier nur mit dessen prozessualem Ausschnitt zu tun haben, dies nicht zulässt, jedenfalls nicht im Rahmen eines solchen Beitrags. Ich werde mich daher auf einige wenige Werke konzentrieren, was auch eine spezifische sachliche Fokussierung mit sich bringen wird. Sagen wir es doch gleich: Im Zentrum wird jene Frage stehen, die die deutsche Strafprozessdiskussion lange Zeit beherrscht hat, nämlich die Frage nach einer Gesamtreform des Strafverfahrens. Wissenschaftler rechnen es mit zu ihren vornehmsten Aufgaben, anderen auf die Sprünge zu helfen. Speziell Rechtswissenschaftler empfinden seit jeher das Bedürfnis, dem Gesetzgeber zu zeigen, wo es lang geht.3 Wir reflektieren eigentlich kaum mehr die Berechtigung hierzu oder sagen wir besser, warum gerade wir im Gesetzgebungsprozess mehr zu sagen haben sollen als jeder beliebige andere. Hier rühren wir an die allgemeinere Frage nach der Rolle des Wissenschaftlers, man könnte auch sagen des Sachverständigen, im demokratischen Diskurs. Dieser allgemeine Hinter1
Ich erinnere nur an Zanders Kapitelüberschrift „Who are the Real Legislators?“ in: A Matter of Justice, Oxford University Press, Oxford 1989, S. 236. 2 Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 2012, S. 39. 3 Hoffnungsfroh mit Bezug auf die Rolle der Rechtswissenschaft Binding, ZStW 1 (1881), S. 4, 29: „Sie … trägt die Fackel, und in ihrem Licht folgen Richter und Gesetzgeber.“.
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grund schwingt bei einer solchen Fallstudie natürlich mit. Ohne diese Zusammenhänge hier vertieft behandeln zu können, will ich sie doch ins Bewusstsein rufen, um die Bedeutung der Wolter’schen Appelle ins rechte Licht zu rücken.
II. Zur Rolle der Wissenschaft im Gesetzgebungsprozess Die Rolle der Wissenschaft im Gesetzgebungsprozess einer demokratisch konstituierten Gesellschaft ist (er)klärungsbedürftig. Man muss sich schon die Frage stellen, wieso eigentlich der Stimme des Wissenschaftlers und Sachverständigen mehr Gewicht zukommen sollte als der eines anderen Bürgers, mit anderen Worten, ob der Wissenschaft eine irgendwie geartete Vorrangstellung im Gesetzgebungsprozess gebührt. Wissenschaftler neigen zwar durchweg zu der Annahme, dass sie – jedenfalls bezogen auf ihren Arbeitsbereich – grundsätzlich alles besser wissen und deswegen mehr zu sagen haben. Diese verbreitete Selbsteinschätzung allein rechtfertigt jedoch keine Vorrangstellung. Warum sollten sich die Rechtswissenschaftler nicht einfach in den wabernden concursus omnium einfügen? In der Tat wirken am Prozess der Rechtsfindung viele mit, selbst wenn man nicht so weit geht wie Schulze-Fielitz, der von der „offenen Gesellschaft der Rechtsfinder“4 spricht. Das Besondere der Rechtswissenschaft besteht darin, dass deren Fokus auf das Gesetz ausgerichtet ist. Die systematische Exegese von Gesetzen erfolgt aber nicht wertneutral, sondern schließt Gesetzeskritik wie auch Gesetzesberatung nachgerade selbstverständlich mit ein, zumal wenn man davon überzeugt ist, dass es zur Aufgabe des Rechtswissenschaftlers gehört, das Recht voranzudenken.5 Rechtswissenschaftler fühlen sich also im Grunde berufen, sich nicht nur als Bürger, sondern auch mit ihrem Sachverstand einzubringen.6 Nur: Warum sollte, umgekehrt betrachtet, der Gesetzgeber gerade auf die wissenschaftliche Absicherung von Gesetzen achten? Zumeist bemüht man in diesem Zusammenhang das Rationalitätsgebot, das man bis ins Rechtsstaatsgebot, ja sogar bis ins Demokratiegebot7 verlängern kann. In diese Richtung weisen auch die deutlichen Worte, die Hanack in seinem epochalen Gutachten zum 47. Deutschen Juristentag gefunden hat. Er hat damals nämlich mit der Vorstellung aufgeräumt, Art. 38 GG berechtige den Abgeordneten dazu, Sachfragen aus der Tiefe seines Gemütes zu entscheiden. Von ihm werde – so Hanack – viel4
Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung – besonders des 9. Bundestages (1980 – 1983), 1988, S. 149. 5 Allg. zur Rolle der Rechtswissenschaft Jahr, in: Wadle (Hrsg.), Recht und Gesetz im Dialog, 1982, S. 3. 6 Vgl. zu dieser Doppelrolle auch Hassemer, in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 21, 42. 7 Treffend die französische Soziologin Schnapper, En qui peut-on avoir confiance?, Le Monde v. 15. 7. 2010, S. 14: „La seule voix qui soit conforme à la vocation de la connaissance scientifique et aux idéaux de la démocratie, c’est celle de la raison“.
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mehr mit Selbstverständlichkeit erwartet, dass er sich um die Sachprobleme bemühe und wissenschaftlicher Erkenntnis nicht durch den Rückzug auf eine „Volksmeinung“ ausweiche.8 Freilich atmet dieses Gutachten wie kaum ein anderes strafrechtliches Werk dieser Epoche den Geist der Aufklärungszeit. Insofern lohnt es, mit Bourdieu daran zu erinnern, dass die Rolle der Wissenschaft zu keinem Zeitpunkt selbstverständlich war, sondern immer wieder neu ausgehandelt worden ist,9 und zwar für jede Gesellschaft gesondert. Heute wird sich das aufklärerische Rationalitätsgebot ohnehin gegen Tendenzen in der modernen Informationsgesellschaft durchsetzen müssen, wonach jedermann sein eigener Experte ist ganz abgesehen davon, dass eine Verlängerung in das Demokratiegebot kaum mit jenen populistischen amerikanischen Demokratievorstellungen und ihrem „lingering distrust of experts, of intellectuals, and of those who set themselves apart from the common people“10 zu vereinbaren ist. Aber vielleicht genügt es ja schon, den Grundsatz der Arbeitsteilung heranzuziehen: Chirurgen operieren, Dachdecker decken Dächer etc. Wenn man diesen Gedanken fortspinnt, ist es nicht von der Hand zu weisen, dass Rechtswissenschaftler bei der Herauspräparierung und gesetzlichen Fixierung des normativen Konsenses besonders gefragt sind. Dabei geht es über das rein Handwerkliche hinaus um systematische Stimmigkeit, Transparenz und „Wertungsgerechtigkeit“. Dies vorausgeschickt muss man das Verhältnis von Gesetzgeber und Wissenschaft sicher differenziert sehen und zwar nach Rechtsgebieten, nach Epochen und nach Jurisdiktionen. International betrachtet mag man meine Fragestellung geradezu als ein typisch deutsches Thema begreifen, das eigentlich nur so recht verständlich ist vor dem Hintergrund der ausgeprägten Verwissenschaftlichung des Fachs, mit der eine eigentümliche Mischung von Distanz und Mitsprachewillen einhergeht. Binnendisziplinär betrachtet will mir scheinen, dass etwa Zivilrechtler einen kürzeren Draht zum Gesetzgeber haben, vielleicht weil diese Materie mehr technisches Knowhow zu verlangen scheint als Strafrecht und Strafprozessrecht. Das Strafprozessrecht gehörte, jedenfalls in Deutschland, lange Zeit ohnehin nicht zu den bevorzugten Interessengebieten der Strafrechtswissenschaft. Mit ihrem ausgeprägt philosophischem Duktus hat sich die Strafrechtswissenschaft vor allem dem materiellen Strafrecht zugewandt. Diese Präferenz hat sich erst allmählich und zwar mit der Herausbildung des Verbrechensbegriffs entwickelt. Noch in der Post-Aufklärungszeit kam die staatstheoretisch angehauchte prozessuale Perspektive – ich denke an Feuerbach, Zachariä und Mittermaier – zumindest gleichrangig zur Geltung. Erst als der reformierte Strafprozess unter Dach und Fach war, sank der Stern der Prozessualisten. Es ist bezeichnend, dass man sich bei der rechtsstaatlichen Neuausrichtung des Strafrechts nach dem tiefen Fall in 8 Hanack, Gutachten A zum 47. Deutschen Juristentag, Verh. des 47. Deutschen Juristentages, Bd. I (Gutachten), Teil A, 1968, S. A 40. 9 Bourdieu, Science de la science et réflexivité, Raisons d’agir, Paris 2001, S. 19. 10 Garland, Peculiar Institution, Oxford University Press, Oxford 2010, S. 175.
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der Zeit des Nationalsozialismus zunächst auf das materielle Strafrecht konzentrierte. Das Strafprozessrecht stand im Schatten, und zwar, von wenigen leuchtenden Ausnahmen wie Eberhardt Schmidt abgesehen, auch wissenschaftlich betrachtet. Vielleicht war ja nach der kräftezehrenden Strafrechtsreform der 1960er und 1970er Jahre der Reformelan einfach verpufft. Seitdem beherrscht der Effektivitätsgedanke, ein alter Bekannter, die Szene – nicht unbedingt ein Lieblingsthema der Wissenschaft. Es verwundert nicht, dass die Praxis und der Gesetzgeber unter diesem Rubrum auch grundstürzende Veränderungen betrieben haben (z. B. die Verständigung), ohne sich von der überwiegend opponierenden Wissenschaft daran hindern zu lassen. Bei dem anderen Reformthema der letzten Jahre, der Stellung des Opfers im Verfahren, konnte sich die Wissenschaft zwar zur Geltung bringen,11 möglicherweise aber nur, weil sich eine weit gespannte Koalition bildete, die vom emanzipatorischen bis zum repressiven Lager reichte, eine Mischung, die der Diskussion nicht immer gut getan hat. Nun ist das strafprozessuale Denken in der Strafprozesswissenschaft seit geraumer Zeit wieder im Vordringen begriffen.12 Es mangelt auch nicht an Arbeitskreisen, die strafprozessuale Reformvorschläge gemacht haben. Was angepackt und dem Gesetzgeber offeriert wurde, stieß jedoch ganz überwiegend nicht auf Interesse. Rieß ist in seiner grundlegenden Analyse schon vor dreißig Jahren zu dem Schluss gekommen, dass der Gesetzgeber und die Wissenschaft unterschiedliche Prioritäten setzen und deswegen nur selten zueinander finden.13 Sicher trägt auch die mangelnde Ruhe im politischen Alltagsgeschäft dazu bei, dass man sich mit den auf den ersten Blick vielleicht etwas abgehoben erscheinenden Vorschlägen der Wissenschaft nicht anfreunden kann. Nicht selten wird der Widerstand auch der kriminalpolitischen Linie gelten, die in den Vorschlägen zum Ausdruck kommt.
III. Jürgen Wolters Linie Jürgen Wolters gesetzgebungsbezogenes Repertoire ist differenziert: Programmatische Schriften wechseln mit Kommentierungen und Beiträgen, in denen er sich des Gesetzgebers annimmt, überwiegend kritisch, nicht ohne konstruktive Verbesserungsvorschläge zu machen. Sicher ragen die von ihm mitautorisierten Gesetzesentwürfe heraus. Pars pro toto nenne ich den Alternativ-Entwurf „Reform des Ermittlungsverfahrens“.14 Als Geschäftsführer dieser Kampagne hat er wesentlich an diesem nach wie vor richtungweisenden Versuch mitgewirkt, das Ermittlungsverfah11 Vgl. Jung, The Renaissance of the Victim in Criminal Policy: A Reconstruction of the German Campaign, in: Essays in Honour of Roger Hood, Oxford University Press, Oxford 2003, S. 443, 450. 12 Vgl. auch Hassemer, Journal für Rechtspolitik 15 (2007), S. 79, 81 f.; Jung (Fn. 2). 13 Rieß, ZStW 95 (1983), S. 529. 14 Bannenberg u. a., Alternativ-Entwurf Reform des Ermittlungsverfahrens (AE-EV), 2001.
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ren rechtsstaatlich besser „durchzukomponieren“.15 Das „Vorwort“ liest sich unverändert wie eine Merkliste unerledigter Programmpunkte auf der Reformagenda.16 Die allgemeine Marschrichtung ist klar: Es geht um mehr Rechtsstaatlichkeit, um mehr Gesetzesklarheit, ohne die Bedürfnisse der Praxis dabei aus dem Auge zu verlieren. Nicht selten münden seine Überlegungen in Leitsätze und konkrete Gesetzesvorschläge. Der Fokus liegt vor allem auf dem Ermittlungsverfahren. Hier sieht er zu Recht den größten (rechtsstaatlichen) Regelungsbedarf. Die Zusammenhänge mit dem Polizeirecht, denen wir hier auf Schritt und Tritt begegnen, überblickt er wie kaum ein anderer.17 Neuerdings tritt auch der Gesichtspunkt der „Europäisierung“ zunehmend in den Vordergrund.18 Dass es bei Jürgen Wolter systematisch und nicht ekklektisch zugeht, versteht sich von selbst.19 Kriminalpolitische Überlegungen werden nicht einfach so dahingeblättert, stets wird der theoretisch-systematische Rahmen mitgeliefert.20 Sein vorrangiges Anliegen ist die Umsetzung der Grund- und Menschenrechte. Er will sie, ein durchaus pädagogisierender Ansatz, mit hineinnehmen in den Text der Prozessordnung, auf dass sie sich dann am Detailproblem bewähren, wie er sich auch in seiner Dogmatik des materiellen Strafrechts dadurch hervortut, dass er die Beziehungen zur Verfassung herstellt.21 Kriminalpolitischer drive in Verbindung mit systematischem Blick – da liegt es natürlich nahe, dass Jürgen Wolter immer das Gesamt des Strafprozesses und der Strafprozessordnung und damit auch die Gesamtreform im Auge hat. Mit dem Stichwort „Gesamtreform“ fällt ein Begriff, der lange Zeit die Diskussion beherrscht hat, den man aber seit einiger Zeit immer seltener in den Mund nimmt. Vor dem Hintergrund der thematischen Zuspitzung auf „Jürgen Wolter und die Gesamtreform des Strafverfahrens“ tragen die folgenden Überlegungen zwangsläufig Züge einer Miniatur zur strafprozessualen Zeitgeschichte.
IV. Die Belegstücke Zwei Werke von Jürgen Wolter sollen im Mittelpunkt stehen: Zum einen sein Regensburger Vortrag aus dem Jahre 1989, der zwei Jahre später unter dem Titel „As15
Vgl. auch Wolter, in: Kreuzer u. a. (Hrsg.), Fühlende und denkende Kriminalwissenschaften, 1999, S. 501. 16 Bannenberg u. a. (Fn. 14), S. V. 17 Typischer Wolter-Titel „Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Maßnahmen im Strafprozessrecht und Polizeirecht“ (in: Festschrift für Rieß, 2002, S. 633). 18 S. nur seine Leitsätze zur Verfahrensrechtskultur und zum Strafprozessverfassungsrecht – Allgemeiner Teil eines europäischen Ermittlungsverfahrensrechts, in: GA 1999, S. 158, 175. 19 Vgl. etwa Wolter, in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, 1995, S. 267. 20 Wolter, in: Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag, 2001, S. 1141. 21 Wolter, GA 1996, S. 207.
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pekte einer Strafprozeßreform bis 2007“22 erschienen ist, zum anderen der Beitrag „Wider das systemlose Abwägungs-Strafprozessrecht – Über den Niedergang von Gesetzgebung und Rechtsprechung im Strafverfahrensrecht“ aus dem Jahre 2011.23 Schon die Lektüre der Titel der Publikationen zeigt, dass in diesen zwanzig Jahren nicht nur die Rechtschreibreform, sondern auch ein gewisser Entfremdungsprozess zwischen Jürgen Wolter und dem Gesetzgeber stattgefunden hat: Die programmatische Schrift aus dem Jahre 1991, deren Vorläufer sich bis zum Jahre 1985 zurückverfolgen lassen,24 stellt den couragierten Versuch dar, Bewegung in die Strafprozessreform zu bringen. Sie ist also bei allem Realitätssinn, der schon in der zeitlichen Projektion zum Ausdruck kommt, erwartungsvoll angelegt. Der Beitrag aus dem Jahre 2011 klingt demgegenüber nach einer desillusionierten Abrechnung mit dem Gesetzgeber. Interessant sind in unserem Zusammenhang vor allem die strategischen Positionen, die in diesen Veröffentlichungen zum Ausdruck kommen, namentlich natürlich etwaige Veränderungen. Erinnern wir uns: Schon 1985 hat Wolter jene implizite Forderung von Rieß aufgegriffen, wonach die Wissenschaft doch tunlichst Fragestellungen behandeln möge, für die sich auch der Gesetzgeber interessiere. Er trat dabei gewissermaßen in Rieß’ Fußstapfen; denn dieser war bekanntlich mit „Prolegomena zu einer Gesamtreform des Strafverfahrensrechts“25 in Vorlage getreten. Wolter dachte schon damals in längeren Zeiträumen. „Das Thema“, heißt es eingangs der Zusammenfassung, „zielt auf eine konkrete Gesamtperspektive für ein systemimmanent reformiertes Strafverfahren etwa im Jahre 2004.“26 Intendiert ist zudem nichts grundstürzend Neues, sondern eher eine innere Reform („systemimmanent“). Nur wenige Jahre später liefert er eine groß angelegte Fortschreibung. Hoffnungsfroh stellt er fest: „Die Zeichen für eine Gesamtreform des Strafverfahrens und Strafprozeßrechts stehen erstmals wieder seit 25 Jahren nicht schlecht,“27 eine Feststellung, die er freilich schon in der Fußnote relativiert.28 Er setzt bei dieser Hoffnung auf einen Beitrag des damaligen Bundesjustizministers Engelhard, der in das Plädoyer mündete, „nunmehr durch geduldige und sachbezogene Arbeit ein realistisches Verfahrensmodell für das kommende Jahrhundert zu entwerfen.“29 Jürgen Wolter versteht es, systematische Ambitionen mit pragmatischen Handreichungen zu verbinden. Er entwirft nämlich einen konkreten Zeitplan und macht – in einer gewissen Anlehnung an Rieß – sogar Vorschläge zur Zusammensetzung der 22
Wolter, Aspekte einer Strafprozeßreform bis 2007, 1991. Wolter, in: Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag, 2011, S. 1245. 24 Wolter, GA 1985, S. 49. 25 Rieß, in: Festschrift für Schäfer, 1979, S. 155; vgl. schon ders., ZRP 1977, S. 67. 26 Wolter (Fn. 24), S. 49. 27 Wolter (Fn. 22), S. 9. 28 Wolter (Fn. 22), S. 9: „Andererseits steht zu befürchten, daß mittelfristig andere Gesetzesvorhaben Vorrang beanspruchen.“ 29 Engelhard, in: Festschrift für Rebmann, 1989, S. 45, 62. 23
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von Engelhard zur Stützung und Zentrierung der Reformarbeit ins Spiel gebrachten großen Strafverfahrensreformkommission.30 Und dann gibt er dieser Gesamtreform – versehen mit dem relativierenden Begriff „Aspekte“ – das Programm vor: Die Reichsstrafprozessordnung soll nur mehr „tragender historischer Gebäudeteil in einem erheblich erweiterten Gebäudekomplex“ sein. Zwar strebe er weder eine Generalrevision noch einen revolutionären Systemwandel an; es gehe ihm um ein „modernes grundrechtsschützendes und funktionales Strafverfahren auf systemimmanenter, aber auch systemergänzender Grundlage“.31 Man mag streiten, ob dies der Bauauftrag für einen Anbau, einen Umbau oder einen Neubau ist. Die weiteren Stichworte sind bekannt: Internationale Orientierung, Festlegung des Unverfügbaren, Befreiung der StPO vom Polizeirecht/Befreiung des Polizeirechts vom Strafprozessrecht und schließlich ermittlungsverfahrenszentrierter Reformansatz. Kaum einen Satz habe ich öfter zitiert als Wolters provokative Feststellung: „Das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren ist Kern und Höhepunkt des Strafprozesses.“32 Jürgen Wolter ist Realist: Die §§ 153 ff. StPO will er eher ausgebaut wissen. Absprachen hält er grundsätzlich für zulässig. Sie sollten aber zum Schutz des Beschuldigten, was ja nach Jahr und Tag geschehen ist, einen gesetzlichen Rahmen erhalten. Er will also durchaus Raum schaffen für Kooperation, Konsens und Verständigung – hier konfrontativer, da kooperativer Strafprozess.33 Die Stellungnahmen zu Schuldinterlokut und Wechselverhör fallen zurückhaltender aus.34 Im Zentrum der Einzelvorschläge stehen das Ermittlungsverfahren (U-Haft, Einstellungsvorschriften) und sein Hauptanliegen die Absprachen im Strafprozess.35 Am Ende spricht er den wissenschaftlichen Nachholbedarf an u. a. mit den Forderungen nach einer neuen Systematik des Ermittlungsverfahrens und nach einer grundrechtsbasierten Strafprozesstheorie, Forderungen, für deren Einlösung er selbst mit am meisten getan hat. Abschließend drückt er aufs Tempo: Wenn man nicht bald mit vereinten Kräften beginne, werde man das Ziel bis 2007 nicht erreichen. Wie wahr! Wenden wir uns nun Jürgen Wolters (An)Klage aus dem Jahre 2011 zu. Wolter schließt hier von der Analyse zweier Gesetze, nämlich des Gesetzes zur Wohnraumüberwachung von 2005 und des Gesetzes zur Telekommunikationsüberwachung aus dem Jahre 2009, sozusagen aufs Ganze: Es hagelt da nur so verfassungsrechtliche Bedenken, Kritik am Handwerklichen, Vorwürfe der Systemlosigkeit und Inkonsequenz. Auch die Rechtsprechung wird nicht verschont. Wolter geißelt deren systemloses und gelegentlich auch unhaltbares „Abwägungs-Strafprozessrecht“. Es geht natürlich auch um den Inhalt, nämlich die von ihm völlig zu Recht kritisierte einseitige Bevorzugung des Topos „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“. Die an die 30
Wolter (Fn. 22), S. 12. Wolter (Fn. 22), S. 16. 32 Wolter (Fn. 22), S. 35. 33 So die Gegenüberstellung von Roxin, in: Festschrift für Jauch, 1990, S. 183, 190. 34 Vgl. im einzelnen Wolter (Fn. 22), S. 37. 35 Wolter (Fn. 22), S. 65.
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Adresse des Gesetzgebers gerichtete Zusammenfassung ist vernichtend: „Im Gesetz selbst häufen sich Fälle von Verfassungswidrigkeit einschließlich Unbestimmtheit und Unverhältnismäßigkeit, von Unrichtigkeit, Unzuständigkeit, Unvollständigkeit und abwägungsfördernder Systemlosigkeit.“36 Das klingt fast schon verzweifelt. Doch ein Jürgen Wolter gibt die Hoffnung (auf den Gesetzgeber) nicht ganz auf. Er steckt freilich zurück. Angesichts der Komplexität der Materie und der mangelnden Kapazitäten setzt er nicht mehr auf eine Gesamtreform des Strafprozessrechts, sondern eher auf eine Reform in Teilschritten nach ausländischem Vorbild. Bezeichnenderweise hat auch Rieß, auf den sich Wolter ausdrücklich beruft, seine Erwartungen längst zurückgenommen. Er ist skeptisch, ob der heutige Gesetzgeber zu einer einheitlichen Gesamtreform in der Lage ist, wiewohl er schon meint, dass man sich einer Neubestimmung stellen müsste.37 Die beiden Veröffentlichungen von Jürgen Wolter spiegeln die Veränderungen in der allgemeinen Stimmungslage, was die Haltung zur Strafprozessgesetzgebung anbetrifft. Waren die 1970er bis 1990er Jahre noch geprägt von dem Willen zur Mitgestaltung, der sich in den verschiedensten Gesetzesvorschlägen und Bestandsaufnahmen38 niedergeschlagen hat, so dominieren seit geraumer Zeit skeptische bis kritische Stellungnahmen. Das Vertrauen in die Gestaltungskraft und das Orientierungsvermögen des Gesetzgebers schwindet zusehends. Schon 1992 meinte Weigend, manche fragten sich zaghaft, ob man sich nicht – angesichts der bisherigen Fehlschläge aller Bemühungen um eine Gesamtreform – mit dem flickenübersäten Gewand der Strafprozessordnung von 1877 zufrieden geben solle.39 Ich selbst habe 2002 bei meiner Analyse der Reformentwicklungen in Europa mit einer gewissen Vorsicht und einem Stück Wunschdenken davon gesprochen, dass auch in Deutschland eine umfassende Verfahrensreform in Tritt kommen könne, es jedenfalls an Vorarbeiten hierzu nicht mangele.40 Der vorsichtige Optimismus hing damit zusammen, dass die Regierungskoalition 2001 ein Eckpunktepapier zur Diskussion gestellt hat41 und die damalige Bundesjustizministerin Däubler-Gmelin in einem kommentierenden Beitrag den Willen zu einer breiter angelegten Reform unterstrichen hatte.42 Über einen „Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens“43 aus dem Jahre 2004 hinaus sind diese Bemühungen jedoch nicht gediehen. Man mag diesen Entwurf als den vielleicht letzten Versuch bezeichnen, wenn nicht eine Gesamtschau, so doch ein, im Sprachgebrauch von Jahn, entwicklungsfähiges Modul hierfür zu 36
Wolter (Fn. 23), S. 1267. Rieß, StraFo 2010, S. 401, 402. 38 Z. B. Schreiber (Hrsg.), Strafprozeß und Reform, 1979; Schreiber/Wassermann (Hrsg.), Gesamtreform des Strafverfahrens, 1987. 39 Weigend, ZStW 104 (1992), S. 486. 40 Jung, GA 2002, S. 65, 81. 41 Mit dem Titel: Eckpunkte einer Reform des Strafverfahrens, in: StV 2001, S. 314. 42 Däubler-Gmelin, StV 2001, S. 359. 43 Abgedruckt in: StV 2004, S. 228. 37
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präsentieren, aus dem man die Schwerpunkte Opferschutz, Konsens und Partizipation und damit wenigstens eine konzeptionelle Linie herausdestillieren konnte.44 Doch ist der Entwurf als Gesamtprojekt in der Folge irgendwie versackt. Andere auf die „Runderneuerung“ des Ermittlungsverfahrens zielende rechtspolitische Signale wie der „Alternativ-Entwurf Reform des Ermittlungsverfahren“45 und Satzgers Gutachten zum 65. Deutschen Juristentag wurden zwar registriert und diskutiert. Sie vermochten jedoch keinen rechten Schwung in die Debatte zu bringen. Nun strotzte der für die strafrechtliche Abteilung des 65. Juristentages vorgegebene abwägende Titel „Chancen und Risiken einer Reform des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens“ nicht gerade vor Reformeifer. Immerhin stellte Satzger abschließend fest: „Eine Reform ist möglich und unabdingbar“, um dann fortzufahren, „allerdings verengen sich die Reformüberlegungen ohne gleichzeitige Gesamtreform des Strafprozessrechts auf systemimmanente Ansätze.“46 Das Bekenntnis zur Gesamtreform verblasst hier zu einer Art rituellen Verbeugung gegenüber einem Traditionsgut der Strafprozesswissenschaft. Der Fairness halber muss man feststellen, dass die Strafprozesswissenschaft durchaus in den Gesetzgebungsprozess eingebunden ist. Wir werden regelmäßig im Rahmen der Anhörung zu konkreten Gesetzgebungsprojekten um Stellungnahmen gebeten.47 Mit unseren grundsätzlicher angelegten reformpolitischen Anliegen dringen wir jedoch nicht durch.
V. Abgesang an die große Strafverfahrensreform? Der Gesetzgeber hat nicht auf Jürgen Wolters Vorschläge für eine Gesamtreform des Strafverfahrens reagiert. Er hat stattdessen eine ad hoc-Gesetzgebung betrieben und damit einen Zustand heraufbeschworen, den Schünemann mit dem Titel seines Beitrags „Wohin treibt der deutsche Strafprozess?“48 trefflich umschrieben hat. Wir sollten uns mit diesem Zustand nicht abfinden. Insofern will ich im Gefolge von Jürgen Wolter für mehr Systemdenken in der Gesetzgebung und damit unverdrossen für eine Gesamtreform des Strafprozesses werben. Natürlich kündet die historische Erfahrung von der Langlebigkeit der Prozessmodelle. Denken wir nur an die Constitutio Criminalis Carolina von 1532, die mehrere Jahrhunderte überdauert hat. Veränderungen vollziehen sich in neuerer Zeit unter Führung der Gerichtspraxis, die, wenn erforderlich, das Grundmodell ein wenig de44
Jahn, NJ 2005, S. 106, 108; vgl. auch Freund, GA 2002, S. 82. Bannenberg u. a. (Fn. 14). 46 Satzger, Chancen und Risiken einer Reform des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, Gutachten C in: Verhandlungen des 65. Deutschen Juristentages, Bd. I, 2004, S. C 145. 47 Vgl. auch den Hinweis bei Wolter, GA 1996, S. 201, 206. 48 Schünemann, ZStW 114 (2002), S. 1; vgl. auch die Gesamteinschätzung im Epilog bei Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 27. Aufl., 2012, S. 541 ff. 45
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formiert, um es passend zu machen. Die bekanntesten Belegbeispiele aus neuerer Zeit sind das System der Einstellung unter Auflagen des § 153a StPO und die Verständigung. Immer wieder sind es kapazitäre Engpässe, die die Praxis umtreiben und entsprechende Reformen antreiben.49 Was dann zum Durchbruch kommt, ist selten systematisch durchdacht, bisweilen geradezu im wörtlichen Sinne – siehe die Emminger’schen Notverordnungen – aus der Not geboren. Die Systematiker hecheln dann regelmäßig hinterher, um sich mehr oder weniger erfolgreich an den Neuerungen abzuarbeiten. Diese Art der Arbeitsteilung mag hin und wieder angehen, als Dauerzustand ist sie unbefriedigend. Nun ist es keineswegs so, dass die Strafprozessgesetzgebung in Deutschland stagniert. Das Problem liegt nur darin, dass sie, soweit sie nicht ohnehin nur Vorgaben der Rechtsprechung ratifiziert, reine „Flickschusterei“ oder, um ein Bild von Rieß zu verwenden, eine „Reform in Trippelschritten“50 betreibt. Der Begriff signalisiert, wo das eigentliche Problem liegt. Es ist natürlich nicht Aufgabe des Gesetzgebers, eine Art anlasslosgelöste Vorratsgesetzgebung zu produzieren. Vielmehr geht es darum, die Stimmigkeit des Gesamtsystems im Auge zu behalten. Die Verständigung und die Opfergesetzgebung sind typische Beispiele dafür, wie problematisch es ist, wenn der Gesetzgeber Änderungen vornimmt, ohne die übergreifenden Konsequenzen hinreichend zu bedenken. Mit der Verständigung hat man z. B. unter der Hand einen neuen Prozesstyp geschaffen, ohne die dadurch entstandene Dualität der Prozessmodelle wirklich durchdacht und folgerichtig durchkomponiert zu haben. Ich zähle bekanntlich nicht zu den prinzipiellen Gegnern der Verständigung.51 Ich finde allerdings, dass mit dieser Neuerung eine prinzipielle Weichenstellung einhergeht, die der Gesetzgeber deutlicher als solche hätte markieren müssen.52 Ähnliches gilt für die forcierte Hinwendung zum Opferparadigma, die längst die prozessuale Ausgangssituation des Strafverfahrens, das prinzipiell auf das Verhältnis „Staat/Beschuldigter“ angelegt ist, zu vernebeln droht.53 Deswegen kann man sich auch nicht auf eine Gleichwertigkeit der Interessen und Rechte von Beschuldigten und Opfern54 oder auf ein „Nullsummenspiel“ einlassen. Mit anderen Worten: eine (weitere) Stärkung der Stel-
49 Dies gilt auch für die Reform des Sanktionensystems; vgl. Jung, Sanktionensysteme und Menschenrechte, 1992, S. 184. 50 Rieß, in: Festschrift für Miklau, 2006, S. 433, 442. 51 Vgl. zuletzt Jung, Le plaider coupable et la théorie du procès pénal, in: Mélanges Pradel, Cujas, Paris 2006, S. 805. 52 Vgl. zu § 257 c StPO statt vieler die erhellende Kommentierung von Stuckenberg, in: Löwe/Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 26. Aufl. 2013. 53 Vgl auch die zugespitzte Mahnung von Gardner, Crime: in Proportion and in Perspective, in: Essays in Honour of Andrew von Hirsch, 1998, S. 31, 52. „That victims do not try, convict, sentence, or punish criminal offenders, and have no official part in the trial, conviction, sentencing, and punishment of criminal offenders, is not an accident of procedural history. It is, on the contrary, one of the main objectives of the whole exercise.“. 54 So auch Wolter, in: Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag, 2001, S. 1141, 1170.
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lung des Opfers darf jedenfalls nicht zu Lasten des Garantiehaushalts des Beschuldigten gehen.55 Wenn es auch nur ansatzweise grundsätzlich wird, hängt eben alles mit allem zusammen. Als durchschlagender Beleg für die These vom Gesamtzusammenhang mag das derzeitige AE-Projekt „Unmittelbarkeit“ gelten. Denn „Unmittelbarkeit“ zählt im Grunde zu den Bestimmungsgrößen für das Verfahren. Damit mag es auch zusammenhängen, dass der Arbeitskreis sich mit der exakten Konturierung der Thematik bei dieser AE-Kampagne besonders schwer getan hat.56 Eine Reform durch Teilgesetze, also eine Wiederbelebung der Planungen der 1970er Jahre, hätte natürlich einen gewissen Charme, wenn wir dabei die Gesamtperspektive im Auge behalten. Es spricht jedoch einiges dafür, dass wir für einen solchen Schritt doch eine umfassende Bestandsaufnahme und eine entsprechende Konzeptualisierung benötigen. Dass umfassendere Reformen darstellbar sind, haben unsere Nachbarländer Schweiz und Österreich vorexerziert.57 Nun kann man natürlich einwenden, dass der Reformdruck dort unverhältnismäßig größer war, hier ein nicht mehr zeitgemäßes sicherheitspolizeilich überformtes Ermittlungsverfahren, dort das Bedürfnis, ein bundeseinheitliches Strafprozessrecht zu etablieren. Dennoch haben beide Reformprojekte das systematische Potential freigesetzt, das man in der deutschen Gesetzgebungspraxis derzeit vermisst. Es ist sicher nicht die primäre Aufgabe des Gesetzgebers, systembildend zu wirken. Dennoch muss man sich um einen Gesetzgeber, der übergreifende Reformvorstellungen „aussitzt“ und eine Änderung an die andere „kleistert“, ernste Sorgen machen.58 Längst ist die StPO zu einer zerbrechlichen Hülle, zu einem instabilen Gefüge geworden, bei dem nur noch ein enger Zirkel von Spezialisten die Fülle der einzelnen Änderungen überblickt, was dem Prinzip der Kodifikation den Todesstoß versetzt.59 Fragen der Rechtsklarheit und Kohärenz scheinen aber niemanden mehr sonderlich zu interessieren. Natürlich werden bei einer Gesamtreform auch kriminalpolitische Richtungsfragen zum Schwur kommen, weswegen manch einer in diesen Ruf lieber nicht oder doch nicht so lautstark einstimmen wird. Mit solcher Zurückhaltung vermag man freilich grundstürzenden Veränderungen, die dann eben unter der Hand stattfinden, (auch) nichts entgegenzusetzen. 55
Das macht wolkige Absichtserklärungen, wonach es gelte, den Opferstatus aufzuwerten, so problematisch; ebenso Freund (Fn. 44), S. 86; zum Ganzen auch – in Auseinandersetzung mit Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer: Gesetz und Gerechtigkeit, 2002 – Jung, JZ 2003, S. 1096. 56 Mehr dazu bei Radtke, GA 2012, S. 187. 57 Dazu z. B. Jung, GA 2002, S. 65; Riklin, GA 2006, S. 495; Schmoller, GA 2009, S. 505. 58 Roxin, in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Fn. 6), S. 369, 385, attestiert denn auch der Gesetzgebungskunst auf dem Gebiet des Strafrechts, dass sie einen besonderen Tiefstand erreicht hat. 59 Ursache oder Wirkung?: Rieß, in: Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 25. Aufl., Stand 1998, Einl. Abschn. E Rn. 192, vermisst jedenfalls eine kodifikationsfreundliche Grundhaltung der Gesellschaft.
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Nun werde auch ich mit diesen eher skizzenhaften Überlegungen sicher keinen Reformdruck generieren. So bleibt mir nur festzustellen, dass es nicht gut tut, sich in der „Krise des Strafprozesses“60 einzurichten. Jedenfalls warten wir noch auf das Happy End in der Geschichte von „Jürgen Wolter und der Gesetzgeber“.
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Vgl. zu dem Stichwort „Krise“ auch die Einschätzung von Rieß (Fn. 50), S. 449.
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I. In questo momento storico si è diffusamente consolidato, al livello legislativo, ma anche della prassi, un habitus di tipo emergenziale dalle origini risalenti, collegato, attualmente, anche contro gravi e diffuse forme di criminalità – terrorismo, criminalità organizzata, criminalità economica, ecocriminalità – che non può non destare preoccupazione in rapporto alla difesa dei diritti dell’individuo: in realtà, vengono messe fortemente in discussione le garanzie individuali fondamentali. Quali limiti a difesa della persona contro le sopraffazioni dell’autorità, le garanzie rappresentano, infatti, l’espressione più significativa di quel lungo e tormentato processo evolutivo che ha tratteggiato lo svolgersi della civiltà giuridica contemporanea. Pertanto, non è possibile in strutture ordinamentali ispirate a democrazia, sia pur al fine di contrastare fenomeni criminali, anche gravissimi, adottare rimedi normativi e prassi giurisprudenziali, che finiscono per far scivolare le strutture ordinamentali verso preoccupanti forme di arbitrio: esse hanno costantemente caratterizzato i momenti più difficili per le ragioni dell’individuo. I termini efficientismo o funzionalismo designano forme di repressione oggi diffuse in Europa ed in America, cioè in Paesi le cui costituzioni pur contengono i principi dello stato sociale di diritto e del diritto penale liberale. L’efficientismo penale costituisce l’ultima variante del diritto penale dell’emergenza, una degenerazione che ha da sempre accompagnato la vita del diritto penale moderno. Nonostante la specificità dei conflitti che esistono nei diversi Paesi dell’area europea ed americana, l’efficientismo rappresenta un denominatore comune della conflittualità legata ad una crisi profonda e di grande portata; la crisi del sistema economico-sociale prodotto dalla globalizzazione e dalle politiche neoliberiste dominanti il mercato e le conseguenti disuguaglianze e profondi squilibri, che determinano un’accelerazione ed un aggravamento dei conflitti. In questo contesto, il diritto penale cessa di essere sussidiario e torna ad essere la prima ratio della politica sociale, una sorta di illusoria panacea con la quale si vogliono affrontare, e risolvere, i più diversi problemi. All’interno di questo processo, l’efficientismo penale cerca di rendere più rapida ed efficace la risposta punitiva, limitando o
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sopprimendo garanzie sostanziali e processuali – cioè diritti fondamentali dell’individuo – che, rompendo con secoli di barbarie, sono state stabilite nella tradizione del diritto penale liberale, nelle costituzioni dei Paesi civili e nelle convenzioni internazionali. In realtà, i problemi alla base delle scomposte reazioni efficientistiche andrebbero affrontati con ben altri strumenti e, soprattutto, perseguendo ben altre finalità. Ed invece, il dramma delle migrazioni, ad esempio, viene utilizzato come alibi per la messa in discussione di elementari, risalenti acquisizioni di civiltà in materia di accoglienza; la minaccia del terrorismo viene usata come arma di pressione per imporre nuove, non meno odiose forme di colonialismo; il disagio giovanile, e non – specialmente in rapporto alla precarietà esistenziale – come occasione per reprimere culture, non necessariamente “alternative”, fondate su valori di solidarietà e cancellare le grandi conquiste dello stato sociale. In una parola è in atto lo smantellamento, all’interno dei Paesi occidentali, dei diritti civili, se non della stessa democrazia. Si pensi, ad esempio, agli strappi della legalità in Inghilterra relativamente all’ampliamento – impensabile qualche anno fa – dei poteri di polizia o alla violazione dei diritti costituzionali negli Stati Uniti, fino all’uso di forme di vera e propria tortura, con il palese tradimento, tra l’altro, della presunzione di innocenza – cardine dello stato di diritto -: la persona sospetta appare sic et sempliciter colpevole e, dunque, da “punire” direttamente, salva successiva acquisizione di prova contraria, a “punizione”, scilicet tortura, già avvenuta; si pensi, più in generale all’ampia definizione del concetto di terrorismo, in grado di inglobare, e dunque criminalizzare, anche semplici manifestazioni del pensiero, assecondando, in tal modo, una risalente, mai interrotta tradizione repressiva in materia di “cattivi pensieri”; si considerino inoltre, i diffusi, poco sopportabili, condizionamenti di tipo etico-religioso in materia di bioetica. II. Appare necessario riprendere e sviluppare le implicazioni di una concezione del sistema penale orientata alla difesa dei diritti fondamentali e ciò passa attraverso una riflessione sui rapporti tra diritto e politica. Ma partiamo da lontano, con un’indagine di tipo “moderno” che guarda ai fondamenti, ai principi, alla storia, al sistema, alla “complessità” delle cose, certamente da “ridurre”, ma non da nascondere, altrimenti non si va molto lontano. Il diritto è politica: nell’ordinamento giuridico vengono formalizzate le scelte della politica. Altro è l’uso politico del diritto. L’influenza della politica e/o la sua riconoscibilità all’interno dei singoli settori appare molto diversificata. Essa, com’è noto, è fortissima nell’ambito del diritto penale. Infatti, dall’impostazione socio-politica generale sono immediatamente influenzate le scelte fondamentali di politica criminale. Per quel che riguarda la selezione dei tipi di reato, va sottolineato il fatto che questi sono posti, tendenzialmente, alla tutela di quei valori basilari che, attraverso l’azione di integrazione del sistema valutativo del diritto, sono divenuti beni giuridici e
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possono, quindi, dallo stesso essere difesi attraverso la predisposizione di fattispecie penali. Queste devono risultare, dal punto di vista formale, caratterizzate da chiarezza, riconoscibilità, “rarità”, oltre che da predeterminazione rispetto al fatto. Sotto altro profilo, per quel che concerne il significato o le finalità delle sanzioni criminali, il collegamento con l’opzione politica di fondo è altrettanto immediato. Infatti, nei rapporti di diritto penale il soggetto viene ad essere coinvolto, normalmente, negli aspetti fondamentali del suo essere: libertà e, quindi, personalità. Si tratta, evidentemente, di interventi nella sfera dei diritti fondamentali dell’individuo parecchio differenziabili l’uno dall’altro, così come viene testimoniato dall’ampio ventaglio dalle teorie penali elaborate nel corso della storia, cosi come delle concrete configurazioni di esecuzione realizzate. Un discorso analogo vale per le forme di accertamento del reato: struttura e funzione del processo penale rispecchiano con assoluta fedeltà la qualità politica del rapporto tra individuo ed autorità in un determinato contesto socio-politico. E, più in generale, è possibile affermare che nei rapporti di diritto penale si misura con precisione millimetrica il livello qualitativo della tutela di libertà e personalità individuale in una determinata compagine statuale, in un particolare momento storico. Ed infatti, man mano che la tutela dei diritti dell’individuo si impone come processo storico, i limiti a questi apponibili vanno delineati con estremo rigore. A ben vedere, la ricerca di un affidabile, perché comprensibile, complesso di regole ed il privilegio di prospettive soggettive nella definizione dei titoli di responsabilità, in una parola l’impianto garantistico che contrassegna, o dovrebbe, il sistema penale, rappresenta una diretta conseguenza del fatto che quel sistema, in via di principio, è orientato ad incidere, anche in misura notevole, sui diritti di libertà e personalità individuale che, per definizione, sono posti all’apice dei valori sui quali si basa il patto sociale in democrazia. Ed ecco perché in democrazia si pretende un sistema penale che, in rapporto alla definizione dei presupposti per la sua applicazione, sia in fase generale ed astratta – le singole prescrizioni legislative –, sia in fase individuale e concreta – il singolo giudizio e, eventualmente, la singola esecuzione della sanzione – dedica una cura particolare al rispetto dei principi fondamentali: ogni deviazione da questi rappresenta, in termini politici, un ritrarsi della stessa democrazia. D’altronde, a risultati analogamente insoddisfacenti porta un esasperato tecnicismo, che finisce per assecondare, più o meno consapevolmente scelte illiberali, nella misura in cui non comporta la possibilità per l’interprete di indagare al fine dell’elaborazione di argomenti di tipo assiologico, tendenti a porre in discussione la validità e/o la legittimità di singoli aspetti del sistema. Ciò ha consentito il consolidarsi di quel carattere quasi esoterico che ha contrassegnato fino a non molti anni orsono parte non trascurabile della dommatica giuspenalistica; essa, infatti, del tutto incurante di significato e scopo dei principi fondamentali e senza alcuna considerazione dei reali rapporti esistenziali, concepiva il suo compito unicamente
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nel dominio tecnicistico e nell’elaborazione di tipo concettualistico della materia del diritto. Altra questione è quella relativa ad una dommatica tesa all’elaborazione di regole generali ed astratte, che “organizzi” il materiale legislativo, tenendo conto anche di parametri “metatecnicistici”, quali ragionevolezza, conformità allo scopo e così via; sempre che, naturalmente, le norme siano redatte, dal punto di vista strutturale e dei contenuti, in maniera tale da consentire lo stesso procedimento di affidabile generalizzazione ed astrazione. Ed in questo senso è possibile affermare che la dommatica serve a realizzare, dal punto di vista del diritto penale, il principio di eguaglianza sub specie proporzione: infatti, le sottili distinzioni, che, ad esempio, si effettuano tra atti preparatori, tentativo, desistenza, recesso attivo, ravvedimento post delictum servono ad escludere o ad attivare l’intervento penale e, all’interno di un’opzione di attivazione dell’intervento, a graduare la sanzione. Il sistema del diritto penale, assiologicamente orientato ai principi fondamentali di garanzia, tende, dunque, a pervenire ad un’architettura normativa vicina alla realtà, caratterizzata da ordine concettuale e chiarezza. Uno stretto collegamento tra norme giuridiche e realtà sociale è, infatti, la premessa per la costruzione di un sistema che aspiri ad esprimere una logica afferrabile dai destinatari e, coerentemente, persegua prospettive di praticabilità. Da tutto ciò consegue che la comprensione sia del sistema nel suo complesso, che dei singoli istituti passa, innanzitutto, attraverso l’attenta considerazione dei principi di fondo. Ciò significa, in altri termini, che ai fini della coerenza sistematica – che poi altro non è che la spia di legittimità e funzionalità del sistema – la correzione o la rimozione di soluzioni normative risultanti aporetiche passa, necessariamente, attraverso rigorose operazioni di verificazione o di falsificazione delle stesse in rapporto alle opzioni fondamentali implicate. Partendo dal dato della possibile contraddittorietà, rispetto alle opzioni fondamentali, delle singole scelte del legislatore, sarà compito dell’interprete – dottrina e giurisprudenza – segnalare l’errore e, quindi, la mancata coerenza sul piano della teleo/logica interna e/o la carenza di compiutezza della singola soluzione: mai, ovviamente, perseguire nei fatti prospettive antitetiche ai principi di fondo. Tutto ciò implica che nella formulazione di concetti e nella prassi ermeneutica si dovrà guardare all’unità dell’ordinamento, preoccupandosi non solo di dominare al materia dal punto di vista meramente tecnicistico e/o interno alla singola norma, ma di cogliere con consapevolezza le relazioni normative di valore intrasistematiche e la praticabilità di interazioni con altri sistemi di controllo sociale. Specificamente, deve trattarsi di opzioni che siano espressione dei principi dello stato sociale di diritto e ciò, in via di estrema sintesi, sta, in concreto, a significare l’impegno ad assicurare, rendendole effettive, garanzie di tipo sostanziale e formale, in combinazione tra loro.
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III. I principi fondamentali a cui facciamo riferimento, quelli che emergono dalla tradizione dello stato di diritto e dello stato sociale, sono posti a tutela sia dei diritti fondamentali della persona, che dell’interesse pubblico alla difesa sociale. La loro conformazione assiologica e funzionale, attualmente, non sembra sempre caratterizzare attività normativa e prassi giurisprudenziale; ed anche al livello dottrinale la posizione diffusamente unitaria di difesa delle garanzie fondamentali ha cominciato a sgretolarsi sotto l’urto della dottrina, aberrante, del diritto penale del nemico e delle sue varianti, più o meno, indegne per un ordinamento civile. In uno stato sociale di diritto, o meglio, in democrazia si è obbligati anche di fronte a forme di criminalità grave al rispetto dei principi di legalità, determinatezza/tassatività; di personalità della responsabilità penale; di proporzione e ragionevolezza; di sussidiarietà; di offensività; di materialità; di tutela della dignità umana; nonché di “naturalità” del giudice; di presunzione di non colpevolezza; di inviolabilità dei diritti della difesa; di soggezione alla legge; di obbligo della motivazione; di obbligatorietà dell’azione penale; di assunzione della prova in contraddittorio. Quanto alle finalità della pena, normativa e prassi giurisprudenziale vanno orientate alla funzione di integrazione sociale, comprensiva degli aspetti positivi della prevenzione speciale e generale in combinazione con i principi di proporzione e ragionevolezza, di sussidiarietà e di tutela della dignità. In riferimento alla fondamentale funzione preventiva dello strumento penale, si impongono, per quanto concerne le tecniche di normazione, soluzioni connotate da chiarezza, semplicità, funzionale coordinamento dei testi che, per altro verso, rilevano anche in rapporto alla tutela della libertà individuale e all’efficienza del controllo. Sotto il profilo assiologico-sostanziale vanno, infine, considerate anche le esigenze di coerenza del sistema: questa, al di là di pur significative prospettive di ordine epistemologico-formale, esprime, come si è già accennato, un notevole momento di garanzia e di aggregazione di consensi. I principi e le regole schematicamente riportati offrono i criteri utili alla definizione dei limiti, naturali, dei diritti fondamentali, quanto alle esigenze di controllo dei fatti socialmente dannosi. E’ in rapporto ad essi che vanno valutati i tratti dell’involuzione che ha coinvolto legislazione e prassi. La piena consapevolezza della dimensione funzionale che va riconosciuta ai principi sinteticamente riportati, non solo nell’ambito di indagini e ricostruzioni di tipo dottrinale, ma anche, e soprattutto in riferimento all’attività di normazione e al momento dell’applicazione giurisprudenziale, porta in primo piano il ruolo strumentale del diritto penale; quale delicatissimo instrumentum regni, esso rivela, infatti, chiaramente la sua dimensione politica, perseguendo finalità che riflettono immediatamente i veri obiettivi che lo Stato realizza ed intende realizzare. Il moderno stato democratico deve, però, limitarsi ad assicurare le condizioni ottimali per lo sviluppo della personalità dei singoli e per la pacifica convivenza in libertà. Ne deriva per il diritto penale che la sua finalità non può essere,
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diversamente da quella propria dello Stato, altra che quella di assicurare il singolo e la pacifica coesistenza tra i consociati, ma non di adottare qualsiasi mezzo ritenuto idoneo al suo perseguimento, altrimenti verrebbe in discussione uno dei due compiti fondamentali: la sicurezza del singolo. Ciò di cui si discute non è, dunque, la convenienza dello scopo, ma la conformità dei mezzi adoperati rispetto all’assetto fondamentale dell’ordinamento giuridico. In questa prospettiva l’intervento penale si giustifica, nella misura in cui si riesce ad armonizzare la sua necessità per il bene della società con il diritto, anch’esso da garantire, del soggetto al rispetto dell’autonomia e della dignità della sua persona: egli, quindi, non andrà mai considerato quale mezzo per la realizzazione di scopi altrui. In tal modo il soggetto adempie agli obblighi di responsabilità che sorgono dalla commissione del fatto di reato, nell’interesse della società di cui fa parte, senza per questo degradare da “persona a cosa”. Ai fini processuali, da quest’ordine d’idee derivano fondamentali conseguenze: innanzitutto, l’illegittimità di tecniche accusatorie fondate su teoremi e non su riscontri probatori; risultano, inoltre, ammissibili nell’ambito del processo penale, soltanto quelle dichiarazioni che siano reale espressione della libera volontà individuale. Ciò porta, in pratica, all’assoluta illegittimità dell’uso di mezzi o trattamenti insidiosi, tendenti a forzare la stessa: ogni pratica estorsiva di dichiarazioni non spontanee equivale, sul piano del rispetto dei principi, all’uso di mezzi illeciti quali minacce o violenze, anche se tutto questo possa oggettivamente risultare, in qualche modo, utile al soddisfacimento immediato dell’interesse pubblico. E la stessa assunzione delle prove dovrà essere caratterizzata dal contraddittorio, pubblico, tra accusa e difesa, davanti ad un giudice terzo. Così come la ricerca di “consensi” o “legittimazioni” esterni all’istituzione giudiziaria dà vita a vere e proprie distorsioni delle sue finalità, con grave pregiudizio dei diritti dell’individuo e di una corretta ed efficiente amministrazione della giustizia. Dal punto di vista delle funzioni della pena, risultano praticabili soltanto quegli interventi che, privilegiando la prospettiva del rispetto dei diritti fondamentali – e primo fra tutti quello della dignità dell’uomo – anche di chi abbia delinquito, si sforzino di offrire reali possibilità di reinserimento sociale o, comunque, di garantire la non (ulteriore) desocializzazione del soggetto. IV. L’esigenza secondo cui una condanna debba fondarsi su fatti reali e non su sospetti e/o presunzioni, è sostenibile solo in rapporto a norme che, dal punto di vista contenutistico, dell’oggetto del divieto, rappresentino condotte orientate alla realizzazione di eventi e non ‘fumisterie’ socio-antropologiche o, peggio, mere violazioni formali, lontane dalla realtà. Il passaggio deciso del legislatore ad un globalizzante, ‘onnivoro’ diritto penale esprime il segno più evidente della crisi, tanto grave quanto poco avvertita, di una cultura giuspenalistica della legalità, formale e dei contenuti; e, francamente, non può non destare preoccupazione il fatto
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che, contestualmente, è riscontrabile uno strano atteggiamento, abbastanza diffuso, della dottrina, che pare non accorgersi di come questa sua cultura stia andando perdendosi. Le leggi penali sono ormai, troppo spesso, divenute semplicemente delle “regole scritte”, dal contenuto casuale: esse, però, sono collegate – o comunque è possibile lo siano – anche ad una severa punizione, senza che, tuttavia, dal contenuto del divieto emerga una fondata giustificazione per quel trattamento sanzionatorio. E ciò, oltre a caratterizzarsi per un’evidente irragionevolezza, rende del tutto improbabile una coerente ricostruzione in termini dommatico-sistematici dei nuovi “prodotti” normativi. Lo stesso vale, anche per quelle fattispecie premiali emergenziali, extra ordinem. Infatti, gli sforzi concettuali per definire, ad esempio, i confini tra desistenza (non punibile) e recesso attivo (punibile) dal tenativo – ponte d’oro, ritorno alla legalità, mancata tipicità o meno e così via – perdono totalmente di significato, se si diffonde la “regola” in base alla quale qualsiasi postfatto da valutare positivamente, magari prevalentemente – se non esclusivamente – in termini di utilità processuale, può giovare fino alla non punibilità. Questa è la spia, forse più evidente, di come possa andare perduta la stessa dommatica, non intesa nel senso deteriore di mero esercizio tecnicistico, ma come stratificazione dei portati di una tradizione secolare di civiltà e con essa finisce per dissolversi una parte non secondaria delle garanzie. E’ significativo, in proposito, che ci si cominci a domandare se un diritto penale adeguato a “nuove esigenze” di intervento abbia ancora necessità di una parte generale: quest’ultima, non a caso, va considerata l’espressione più significativa e densa di valore civile dell’elaborazione dommatico-sistematica. Come è noto, la ricostruzione in termini generali ed astratti degli elementi del reato parte da lontano, dall’esperienza dei Pratici: dal singolo fatto – e gli archetipi possono essere considerati homicidium, furtum, crimen laesae majestatis – si astraevano elementi quali condotta, evento; si delineavano criteri d’imputazione oggettiva, per lo più di tipo causalistico – ma non mancavano spunti in senso normativo –; quindi, d’imputazione soggettiva, che normalmente erano rappresentati dagli elementi della volontà dolosa; talvolta si rimproverava anche la leggerezza della condotta, in termini di colpa: a parte il cosmo eterogeneo del versari in re illecita, l’imputazione preterintenzionale che, comunque, era da considerarsi almeno sul piano teorico, dei principi, eccezionale rispetto alla regola del dolo. Ebbene, a me pare che anche in rapporto a fenomeni socialmente dannosi di emersione “postmoderna” – si pensi solo a sofisticate aggressioni all’ambiente, pure nelle sue gravi implicazioni relative a vita ed integrità personale, o a micidiali forme di terrorismo – cosi come avveniva per i loro “antenati premoderni”, se si costruiscono norme che non delineano pensieri, ruoli, meri modi di essere, ma fatti veri e propri, è possibile “astrarre” una condotta, un evento, un titolo d’imputazione oggettiva, un disvalore personale e, quindi, affidare l’accertamento processuale della vicenda concreta a parametri probatori di sperimentata efficacia nella loro
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estrema semplicità. Ed anche per quel che riguarda più da vicino eventuali nuovi beni da tutelare, a ben riflettere, in molti casi, più che della considerazione di emergenti oggettività giuridiche, si tratta, in fondo, soltanto di enucleare diverse, magari molto più complesse, tecniche aggressive, ma pur sempre di “affidabili” beni tradizionali. E con questo non mi pare di cadere in un ontologismo fuori luogo, ma di richiamare all’attenzione tópoi di provata validità, attraverso i quali fondare un’affidabile struttura del reato: con essi si dovrà continuare a fare i conti, se non si vuole abbandonare il terreno delle garanzie. Pertanto, se la fenomenologia di eventuali fatti “nuovi” di reato è legata al concreto momento storico, ciò tuttavia, sul piano dommatico, della teoria del reato, non ne modifica la conformazione strutturale rispetto alle fattispecie “d’origine”. Ed invero, posto che i fenomeni di disagio sociale, che si vogliono prendere in considerazione dal punto di vista del diritto penale, siano riducibili a fatti, e come fatti siano descritti, quelli che possono mutare sono, allora, i termini della loro tipicizzazione, nonché i parametri di riferimento per il regime sanzionatorio. A questo punto, il problema diviene esclusivamente politico e – volendo soffermarci soltanto sull’aspetto oggettivo della fattispecie – riguarda il momento della condotta rispetto al quale il legislatore decide di intervenire: infatti, si può intervenire prima della stessa condotta – secondo lo schema della fattispecie “preventiva” o del “sospetto”, connessa alle misure di prevenzione; dopo la condotta ma poco prima dell’evento – fattispecie di pericolo concreto –; molto prima dell’evento – fattispecie di pericolo astratto –; dopo la verificazione dell’evento – fattispecie di danno. Ma tutto questo, è bene ribadirlo, non ha nulla a che fare con la struttura del fatto si tratta di una scelta politica in ordine alle concrete modalità di attivazione del singolo intervento normativo. Con ciò va anche detto che una tale scelta, in un contesto di democrazia, non è affatto assolutamente discrezionale per il legislatore, anzi se questi vuole restare all’interno dello stato di diritto è vincolato entro ben determinati margini di azione – che riguardano sia la struttura, che i contenuti dei fatti di reato, oltre che delle sanzioni – segnati dai principi fondamentali più su richiamati: essi sono posti a presidio di irrinunciabili garanzie, formali e sostanziali, della persona.
V. Una volta abbandonate prospettive irrazionalistiche e di mera repressione in rapporto ad “essenza” e funzioni del sistema penale, ai fini della tutela delle garanzie individuali, ma anche dell’efficienza del controllo di fatti socialmente dannosi, il legislatore deve scegliere tra intervento penale o extrapenale, tenendo presente che l’opzione del primo tipo è legittima soltanto se la sanzione penale è in grado di raggiungere gli scopi che essa può essere chiamata a perseguire, e non
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risultino disponibili altri, efficaci strumenti che meno incidano nella sfera dei diritti della persona. A ciò si aggiunga che l’opzione sussidiaria spinge alla ricerca ed alla sperimentazione di forme efficienti di controllo, alternative a quella penale, ridimensionando, così, pericolose illusioni panpenalistiche e/o pangiudizialiste, destinate il più delle volte a risolversi in sterili ed illiberali rigorismi di mera repressione. La valorizzazione di prospettive di reale efficienza tra i criteri guida dell’intervento penale comporta l’ulteriore, significativa implicazione dell’inesistenza di obblighi etici di criminalizzazione. Infatti, il privilegio di criteri pragmatici nel controllo di fatti socialmente dannosi reca necessariamente con sé l’abbandono di punti di vista eticizzanti, la cui considerazione risulta problematica, anche sotto il profilo della legittimità. “La giustizia penale è un male necessario, se essa supera i limiti della necessità resta soltanto il male” (Roxin, Radius 1966, III, 37), questa profonda verità – che sintetizza mirabilmente le aspirazioni ad un diritto penale laico, liberale, minimo, ma anche razionale ed efficiente – rappresenta in maniera impeccabile una realtà, normativa e culturale, che vede nel rispetto dell’uomo e delle sue prerogative di autonomia e dignità, in un contesto di solidarietà, la realizzazione di un comune, alto ideale di civiltà e di democrazia. Invero, una legislazione ed una prassi ispirate ad un eccesso di disinvolto empirismo, espressivo di una valorizzazione del pragmatismo (tecnicistico) di tipo postmoderno, poco attento al momento assiologico ispirato alla tutela dei diritti fondamentali, reca con sé il duplice rischio di creare confusione dal punto di vista dell’assetto ordinamentale, con il noto corollario dell’inefficienza, e, inoltre, di trascurare l’aspetto, essenziale, delle garanzie, con grave pregiudizio dei medesimi diritti fondamentali: esempi lampanti possono trarsi dalla velleitaria normativa antiterrorismo, o dalle prassi autoritarie in materia di libertà all’interno del processo. A noi sembra, invece, che il territorio in cui si mantengono pressanti le istanze della modernità, ancora da realizzare, è forse proprio quello dei rapporti giuridici con l’impegno a preservare dei valori di fondo, a costruire nuovi modelli di comportamento, a predisporre nuove modalità e procedure d’intervento, senza rinunciare a conquiste di tipo assiologico, come la fissazione e la difesa solenne dei diritti dell’uomo a cui la stessa civiltà nel suo complesso non può rinunciare. E’ questo il settore dove va cercato quel tanto di potenzialità, di esperienza positiva da recuperare e mantenere dal mondo della modernità. Dobbiamo pensare che molte potenzialità dell’esperienza “moderna”, molti dei suoi slanci – accanto anche a delle sconfitte – non sono mai stati attuati e, forse, neppure tentati. Certo, in questo momento sembra difficile l’elaborazione di progetti ad ampio respiro – essi, nel linguaggio comune, non senza le asprezze di toni quasi dispregiativi, appaiono più come utopie – quando la società vive tutta appiattita sul presente, priva di ogni senso del passato e, quel che è ancora più grave, del futuro. In tal modo, è lo stesso “principio di speranza” ad essere negato in premessa; ma ciò reca con sé un’implicazione inquietante: in definitiva, l’azione del legislatore viene
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ad essere ridotta al perseguimento di un interesse che, nella sua assoluta immediatezza, rischia irrimediabilmente di finire in un mero interesse di parte e, dunque, davvero bassissimo profilo. Ora assistiamo ad un inquietante rimescolamento generale di idee-guida, di valori, con una rapida crescita di superficiali fondamentalismi che non portano lontano. A ciò si abbina l’implosione dell’attività critica, che per l’esperienza giuspenalistica è, nei fatti, affidata ad un’incompresa – e talvolta anche poco comprensibile – attività dell’accademia, sicuramente poco visibile, racchiusa com’è, nella gran parte dei casi, nelle separatezze delle cittadelle universitarie. A tutto questo va posto rimedio: per cominciare ci si dovrà sforzare di sperimentare forme semplici di comunicazione tra scienza giuridica e legislatore; altrimenti, da un lato, si corre il rischio di isterilirsi in un narcisistico solipsismo, dall’altro, – e le conseguenze sono di ben altra rilevanza perché riguardano il legislatore e, quindi, i cittadini – di precipitare ancor di più in un pauroso dilettantismo (cripto) autoritario, a tutto danno della stessa democrazia. Nel momento attuale si impone alla scienza penalistica il compito di una progettazione di strategie di legittimo controllo sociale, ma anche quello di un’aggiornata verifica della legislazione penale, che sia in grado di evidenziarne la tensione in rapporto alle aspirazioni verso un intervento penale minimo, in grado di conciliare, attraverso la riduzione dell’area del penalmente rilevante, il rispetto delle garanzie individuali, con l’apertura ad efficienti strategie, extrapenali ed extragiuridiche, di gestione dei conflitti. Se, infatti, da un lato, appare senz’altro condivisibile l’idea di una conflittualità sociale affrancata dall’ipoteca del panpenalismo, non si può, dall’altro, nella progettazione di strategie alternative, perdere di vista il problema del confronto con provvedimenti normativi e prassi giurisprudenziali preoccupanti per le ragioni dell’individuo: il rischio è quello di abbandonare la realtà dell’esercizio quotidiano del potere punitivo statuale all’arbitrio di atti che, in quanto incompatibili con il rispetto delle garanzie individuali, aprono la porta all’autoritarismo. E ciò è quanto di meno abbiamo bisogno per affrontare gli inquietanti problemi che la postmodernità impone alle nostre esistenze.
Kafkas „Proceß“ – ein Strafprozess? Von Heinz Müller-Dietz „Alles, was man erfindet, ist wahr.“1
I. Vorbemerkung Der hochgeschätzte Jubilar – dem der Verfasser dieses kleinen Beitrags ebenso wie andere Kollegen viel zu verdanken hat – hat sich in seinem wissenschaftlichen Werk in einem Umfang, einer Hingabe und mit einer Intensität mit dem Strafprozess (-recht) und seiner Reform, also in einer Weise auseinandergesetzt, die geradezu beispielhaft erscheint. Die Vielzahl seiner ebenso anregenden wie eindringlichen Publikationen über diesen für die Strafrechtsverwirklichung so elementaren Themenkomplex kann hier nicht wiedergegeben, geschweige denn gewürdigt werden.2 Der Bedeutung des strafprozessualen Werks von Jürgen Wolter erschiene eigentlich in einer ihm zu seinem 70. Geburtstag gewidmeten Festschrift ein thematisch einschlägiger Beitrag angemessen. Dass hier nun einmal mehr versucht wird, sich dem zentralen Werk eines Autors zu nähern, der zu den „Schlüsselgestalten“ der literarischen Moderne zählt und bereits im Titel seines Romans „Der Proceß“ auf den Strafprozess anzuspielen scheint, hat bekanntlich seinen Grund in langjähriger Auseinandersetzung mit dem komplexen Verhältnis der Literatur zum Recht.3 Dass dieses anspruchsvolle Vorhaben nur den Charakter eines essayistischen Versuchs haben kann, liegt für jeden, der sich mit dem fragmentarischen Jahrhundertroman Franz Kafkas auch nur lektürehalber beschäftigt hat, auf der Hand. Zumal man selbst bei einer mehr oder minder kursorischen Betrachtung nicht umhin kommt, den schwierigen Text – mit seiner verschie1 Gustave Flaubert, zit. nach dem Motto des Bandes: NeoAvantgarden. Hrsg. von Margot Dirscherl u. Sven Hanuschek, Bd. 2: Alltags-Surrealismus, Literatur, Theater, Film, 2012. 2 Vgl. nur aus der Fülle einschlägiger Beiträge Jürgen Wolters aus neuerer Zeit: Alternativen zum Regierungsentwurf 2007 zur Neuregelung der Ermittlungsmaßnahmen, GA 2007, 183; Menschenwürde, Kernbereich privater Lebensgestaltung und Recht auf Leben, FS Küper, 2007, S. 707; Wider das systemlose Abwägungs-Strafprozessrecht, FS Roxin 2011, Bd. 2, S. 1245. 3 Vgl. etwa Müller-Dietz, Grenzüberschreitungen. Beiträge zur Beziehung zwischen Literatur und Recht, 1990; ders., Recht und Kriminalität im literarischen Widerschein, 1999 (künftig: Widerschein); ders., Recht und Kriminalität in literarischen Spiegelungen, 2007 (künftig: Spiegelungen).
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dentlich schwer verständlichen und nachvollziehbaren Handlung – zumindest zu einigen neueren Interpretationsansätzen in Beziehung zu setzen.
II. Text und Strafprozess In Kafkas rätselhaft erscheinendem Roman gibt es unter den vielen deutungsbedürftigen Statements und Passagen eine Stelle, die die mit diesem Beitrag aufgeworfene Frage mit aller Klarheit zu beantworten scheint. Der Protagonist Josef K., der sich keiner Schuld bewusst ist – was er immer wieder betont (z. B. S. 81, 96, 101, 138) –,4 und deshalb in einen ihm selbst unerklärlichen Proceß verstrickt, mit ihm gleichsam überzogen worden ist, muss seinem Onkel über Anlass, Art und Bedeutung des Verfahrens Rede und Antwort stehen. Der Onkel, der um den guten Ruf der Familie besorgt ist (S. 59 f.), hat durch einen Brief seiner Tochter Erna voller Bestürzung erfahren, dass gegen seinen Neffen ein Prozess unbekannter Provenienz anhängig ist (S. 58). Er hat ihn deshalb aufgesucht, um Näheres über diesen Prozess in Erfahrung zu bringen und ihm – nicht zuletzt im Interesse der Familie – seine Hilfe anzubieten. Auf seine Frage hin, ob es sich dabei nicht etwa um einen Strafprozess handle, bejaht Josef K. kategorisch diese Annahme mit einer scheinbar jeglichen Zweifel ausschließenden Entschiedenheit (S. 59). Schon deshalb könnte der Gedanke naheliegen, dass der Autor mit seinem Roman auf den Strafprozess angespielt, ja ihn vielleicht sogar in den Mittelpunkt seiner literarischen Darstellung gerückt hat. Dies gilt ungeachtet des Umstandes, dass Aussagen oder Behauptungen des Protagonisten eines Romans natürlich nicht – jedenfalls nicht ohne weiteres – als eine Selbstinterpretation des Verfassers verstanden werden können. Und erst recht trifft dies auf ein Werk zu, das aufgrund seiner geradezu imaginativen und suggestiven Schilderung eines fast ebenso imaginär wie real erscheinenden Strafprozesses eine Vielzahl unterschiedlicher Deutungen sowohl unter literatur- als auch unter rechtswissenschaftlichem Vorzeichen erfahren hat. Bereits eine kursorische Lektüre könnte die Frage nahe legen, ob Kafkas Roman nicht an den Anfang einer Ahnenreihe literarischer Texte gehört, die den Umgang totalitärer Regimes und Diktaturen mit ihren Gegnern und Opfern im 20. Jahrhundert zumindest metaphorisch und Zeitgeschichte vorwegnehmend zu vergegenwärtigen suchen – wie es ja Walter Müller-Seidel in kongenialer Weise am Beispiel von Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“ getan hat.5 Dass sich da Einwände schon von der Art 4 Seitenangaben im Text ohne spezielle Quellenangabe beziehen sich auf Kafkas Roman, wie er der folgenden Ausgabe zugrunde liegt: Franz Kafka, Der Proceß. Roman (1925). Mit Kommentaren von Detlef Kremer u. Jörg Tenckhoff, 2006. 5 Müller-Seidel, Die Deportation des Menschen 1986, wo ja auf S. 146 ff. von „vorausweisenden Zusammenhängen“ die Rede ist (zu diesem Werk Müller-Dietz, Widerschein, S. 64 ff.). Auch Thomas Anz begreift in seiner Biografie Kafkas (Franz Kafka, 1989) neben der Erzählung „In der Strafkolonie“ den Roman „Der Proceß“ – jenseits autobiografischer Erfahrungen – als literarischen Ausdruck von „Machtapparate(n) der Moderne“ (S. 111 ff.).
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der Darstellung und Gestaltung der Figuren und des Handlungsablaufs her aufdrängen, lässt sich jedenfalls schon a priori nicht abweisen. Indes hat Kafka die Schilderung des gegen den Protagonisten und im Zentrum des Geschehens stehenden Josef K. gerichteten Verfahrens mit verschiedenen Ingredienzien ausgestattet, die auf einen Strafprozess zu verweisen scheinen – mögen auch etliche Vorgänge überaus befremdlich wirken. Der Roman setzt mit der – für den Betroffenen schlechterdings unverständlichen – Verhaftung des Josef K. ein – ohne dass ihm ein Grund dafür genannt würde oder auch nur genannt werden könnte (S. 6). Das wird an den Fragen deutlich, die den Protagonisten während dieses Vorgangs bewegen: „K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte ihn in seiner Wohnung zu überfallen?“ (S. 5) Ebenso unverständlich – keineswegs nur für ihn, sondern auch für den Leser – erscheinen die (gerichtlichen) Untersuchungen gegen K., die sich daran anschließen. Sie werden freilich immer wieder durch Einschübe unterbrochen werden, die von Begegnungen des Protagonisten mit Frauen und anderen Personen handeln und ihm vorgeblich bei seiner Verteidigung zur Seite stehen. Das ganze beklemmende, sich immer mehr zuspitzende düstere Geschehen mündet schließlich in die Tötung (Hinrichtung?) des Josef K. In den nachgelassenen Fragmenten ist auch ein Kapitel der Beziehung des Protagonisten zu Staatsanwalt Hasterer gewidmet.6 Die Versatzstücke eines Strafprozesses sind sowohl von den handelnden Personen wie vom Geschehen her nicht zu übersehen. Da ist vom Untersuchungsrichter, von Advokaten die Rede, die Strafverteidigungen wahrnehmen, von Gerichten, die über Angeklagte befinden, ob sie sie nun verurteilen oder freisprechen, vom Gerichtsdiener, von Schuld und Unschuld Angeklagter. Sitzungssäle und Kanzleien samt deren Ausstattung werden thematisiert. Das alles könnte in der Tat auf die Darstellung eines Strafprozesses verweisen.
III. Problematisierungen des Strafprozesses durch das Romangeschehen Doch der Eindruck einer Ähnlichkeit oder Analogie weicht alsbald der Vorstellung, einem befremdlichen, mit „normalen“ juristischen Kategorien nicht zu fassenden Geschehen beizuwohnen, sobald es um die Beziehungen der am „Proceß“ Beteiligten und von ihm Betroffenen sowie um die Schilderung von Verfahrensablauf und -gestaltung geht. Besonders deutlich tritt dieser Eindruck an den „Belehrungen“ zutage, die der vom Onkel des K. als Strafverteidiger in Aussicht genommene Advokat und der mit „Prozessabläufen“ anscheinend vertraute Gerichtsmaler Titorelli dem Protagonisten hinsichtlich der Ausgestaltung des „Verfahrens“ und der Möglichkeiten und Grenzen der Verteidigung zuteil werden lassen. Gewiss mag da Manches an die Rechtslage und Prozesspraxis der österreichisch-ungarischen Doppel6
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monarchie erinnern,7 in deren Endphase (1914 – 1916) das freilich nicht abgeschlossene Werk entstanden ist.8 Petra Buck-Heeb hat sich in ihrer Darstellung von Persönlichkeit und Wirken Kafkas sogar „in vielen Punkten“ an die „Constitutio Criminalis Carolinae von 1532“ erinnert gefühlt, zu dem sie ihre Analyse denn auch in Beziehung gesetzt hat.9 Doch fällt Vieles in der Schilderung der Romanhandlung und der Personen aus dem Rahmen der keineswegs nur in rechtlicher Hinsicht überaus reformbedürftigen zeitgenössischen Epoche heraus. Das beginnt beispielsweise damit, dass Josef K. bei seiner Verhaftung nichts über den Gegenstand des Anklagevorwurfs mitgeteilt wird, dass er von vornherein, ohne dass eine Anklage erhoben worden wäre, als „Angeklagter“ figuriert, dass er trotz seiner Verhaftung in seiner „persönlichen Lebensweise nicht gehindert“ sei (S. 12), dass es sich – dem Protagonisten zufolge – „gar nicht um einen Proceß vor dem gewöhnlichen Gericht“ handelt (S. 60), dass „das Verfahren nicht öffentlich sei“, dass das Verfahren „im allgemeinen nicht nur vor Öffentlichkeit“, sondern auch vor dem Angeklagten geheim sei (S. 74), dass infolgedessen auch „die Schriften des Gerichtes, vor allem die Anklageschrift dem Angeklagten und seiner Verteidigung unzugänglich“ seien und dass „unter diesen Verhältnissen die Verteidigung in einer sehr ungünstigen und schwierigen Lage“ sei (S. 73) – wie der Advokat Josef K. „belehrt“, um dann mit dem Hinweis fortzufahren: „Die Verteidigung ist nämlich durch das Gesetz nicht eigentlich gestattet, sondern nur geduldet und selbst darüber, ob aus der betreffenden Gesetzesstelle wenigstens Duldung herausgelesen werden soll, besteht Streit. Es gibt daher strenggenommen gar keine vom Gericht anerkannten Advokaten, alle die vor diesem Gericht auftreten, sind im Grunde nur Winkeladvokaten.“ (S. 73) „Man will die Verteidigung möglichst ausschalten, alles soll auf den Angeklagten selbst gestellt sein.“ In den „persönlichen Beziehungen“ „mit höhern Beamten“ liege „der Hauptwert der Verteidigung“ (S. 74).“ Schon der vielzitierte Einleitungssatz des Romans verneint schlicht, dass Josef K. „etwas Böses getan hätte“ (S. 3) Es bleibt unklar, worin denn eigentlich seine „Schuld“ besteht, von der durchgängig im Roman die Rede ist und die der Protagonist lange Zeit in Abrede stellt, um sich auf seine absolute „Unschuld“ zu berufen. Gewiss, Kafkas Text „verarbeitet den Mythos von Schuld und Gericht, dessen traditionelle Wurzeln in der chassidischen Überlieferung (des Ostjudentums) liegen“. Danach ist der Einzelne „einem andauernden Gerichtstag ausgesetzt; seine gesamte Existenz steht im Bann von Anklagen und Vorwürfen, gegen die er sich unter Berufung auf sein frommes Handeln zu verteidigen hat“. Doch wäre es – wie Peter André 7 Vgl. z. B. Janko Ferk, Recht ist ein „Prozeß“. Über Kafkas Rechtsphilosophie, 2006, S. 62 ff. 8 Zur Datierung der Texte Kafkas Malcolm Pasley/Klaus Wagenbach, in: Kafka-Symposion, 1969, S. 43 ff. Vgl. auch Joachim Unseld, Franz Kafka. Ein Schriftstellerleben. Die Geschichte seiner Veröffentlichungen, 1984. 9 Buck-Heeb, Der Dichter Dr. jur. Franz Kafka, in: Michael Kilian (Hrsg.), Jenseits von Bologna – Jurisprudentia literarisch. Von Woyzeck bis Weimar, von Hoffmann bis Luhmann, 2006, S. 223 ff. (250 ff.).
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Alt in seiner tiefer schürfenden Analyse dargetan hat – „falsch, in der Umsetzung der jüdischen Gerichtserzählungen den archimedischen Punkt von Kafkas Roman zu sehen“.10 Über die Rolle des Rechts und der Richter in dieser Art von „Proceß“ erfährt Josef K. vom Maler nicht minder Befremdliches. Danach gebe es drei Möglichkeiten der „Befreiung“ vom „Proceß“: „nämlich die wirkliche Freisprechung, die scheinbare Freisprechung und die Verschleppung“. Die „wirkliche Freisprechung“ will der Maler freilich nie erlebt haben (S. 99). „Die untersten Richter“ haben seinen Worten zufolge „nicht das Recht endgiltig freizusprechen, dieses Recht hat nur das oberste […] für uns alle ganz unerreichbare Gericht“ (S. 102). Im Falle der für Josef K. erreichbaren „scheinbaren Freisprechung“ schwebe über ihm immer noch das Damoklesschwert eines neuen „Processes“. Selbst ein zweiter Freispruch sei nicht endgültig: „dem zweiten Freispruch folgt die dritte Verhaftung, dem dritten Freispruch die vierte Verhaftung und so fort.“ (S. 103) Ganz in das Bild eines Verfahrens, aus dem es für den davon Betroffenen keinen Ausweg mehr gibt, passen die negativen Erfahrungen des Kaufmanns Block mit Richtern und Advokaten. Er sei seit über fünf Jahren in seinen „Proceß“ verstrickt und vermöge ein Ende nicht abzusehen (S. 112 ff.). Das sind nur einige wenige Beispiele für das Absonderliche und Befremdliche, die den „Proceß“ gegen Josef K. kennzeichnen. Indessen bedarf es keiner detaillierten Aufschlüsselung aller „Abweichungen“ des Handlungsablaufs und Verhaltens der Figuren von einem wie immer gearteten Strafverfahren, um die Zweifel oder Vorbehalte gegenüber der Annahme zu bestärken, dass es Kafka um eine vielleicht satirische, namentlich rechtskritische Darstellung eines Strafprozesses seiner Zeit gegangen sei.11 Dies gilt auch dann, wenn man in Rechnung stellt, dass sein Werk fragmentarischen Charakter hat, das – wie auch die Nachlasskapitel zeigen –12 im Falle seiner Vollendung weiteren Modifizierungen und Konkretisierungen zugänglich gewesen ist. Insofern stellt auch die Behauptung des Protagonisten gegenüber seinem Onkel, er sei in einen „Strafproceß“ verwickelt, offensichtlich eine jener zahlreichen Erklärungen oder Behauptungen dar, von denen das ganze Romangeschehen durchzogen ist, ohne dass eine letzte Gewähr für ihre Richtigkeit gegeben ist. Könnte man diese Feststellung für bare Münze nehmen, deren Echtheit zumindest durch den Ablauf der Handlung verbürgt ist, könnte man denn auch die Akten über jenem Problem schließen, das wie so manche anderen eine Vielzahl von Interpretationen ausgelöst hat. In10
Alt, Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie, 2. Aufl. 2008, S. 390. Freilich glaubt Theodore Ziolkowski, Kafkas „Der Prozeß“ und die Krise des modernen Rechts, in: Ulrich Mölk (Hrsg.), Literatur und Recht. Literarische Rechtsfälle von der Antike bis zur Gegenwart. 1996, S. 325 ff. (338 ff.), den Roman in einem rechts- und reformkritischen Sinne deuten zu können und zu sollen. 12 Kafka, „Der Proceß“ (Fn. 4): Über Fräulein Bürstner (S. 153 ff.), K.s Beziehungen zum Staatsanwalt Hasterer (S. 159 ff.), über Elsa (S. 164 f.), seine Auseinandersetzungen mit dem Direktor-Stellvertreter seiner Bank (S. 166 ff.), das Gerichtsgebäude (S. 169 ff.) und die Fahrt des Protagonisten zu seiner Mutter (S. 172 ff.). 11
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dessen kann schon aufgrund der Vielzahl von Ansätzen, die sich daran versucht oder erprobt haben, ohne in der Lage gewesen zu sein, damit ein allgemein konsentiertes Deutungsmuster präsentieren zu können, davon mitnichten die Rede sein.
IV. Zum Stand der Diskussion Eigentlich scheint es einem unmöglichen Unterfangen zu gleichen, nach einer Vielzahl von Interpretationsansätzen verschiedenster Couleur, Blickrichtung und Schwerpunktsetzung sich erneut mit Kafkas „Proceß“-Roman in einer Weise auseinanderzusetzen, die einem zentralen Nerv des darin geschilderten Geschehens gilt. Allein schon Überblicke, wie sie etwa der österreichische Jurist und Schriftsteller Janko Ferk im Jahre 2006 über einschlägige, unter verschiedenen wissenschaftlichen Vorzeichen stehenden Untersuchungen gegeben hat, lassen das Schwergewicht ahnen, das jeder Interpret des außergewöhnlichen, aus dem herkömmlichen Rahmen fallenden Romans auf sich lädt.13 Die autobiografischen, religiösen, philosophischen, zeitgeschichtlichen, psychoanalytischen, aber auch rechtswissenschaftlichen, insbesondere strafrechtlichen und rechtsphilosophischen Deutungsmuster sind inzwischen Legion. In einer Analyse der allein schon bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts erschienenen Beiträge der Kafka-Forschung hat etwa Michael Müller in einem 1994 dem Schriftsteller gewidmeten Sammelband unter dem bezeichnenden Titel „So viele Meinungen! Ausdruck der Verzweiflung?“ auf die kaum noch überschaubare Fülle von Untersuchungen zum Gesamtwerk, nicht zuletzt jedoch zu jenem ebenso vieldiskutierten, ja fast schon überinterpretierten Roman hingewiesen14. 13
Ferk (Fn. 7), S. 3 ff. Vgl. Müller-Dietz, ZRG GA 2008, 897 f. Müller, Zur Kafka-Forschung, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Franz Kafka. Text und Kritik. Sonderband, 1994, S. 8 ff.; ders., Franz Kafka: Der Proceß, 1993, S. 66 ff. Vgl. z. B. aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Wilhelm Emrich, Franz Kafka, 2. Aufl. 1960, S. 259 ff.; Hildegard Emmel, Das Gericht in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, 1963, S. 12 ff.; Robert Welsh Jordan, Das Gesetz, die Anklage und K.s Prozess, Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 24 (1980), S. 332 ff.; Peter Beicken, Kafkas ,Prozeß‘ und seine Richter, FS Sokel, 1983, S. 343 ff.; Hans Helmut Hiebel, Die Zeichen des Gesetzes. Recht und Macht bei Franz Kafka, 1983, S. 180 ff.; Ulf Abraham, Der verhörte Held. Recht und Schuld bei Franz Kafka, 1985; Ralf R. Nicolai, Kafkas „Proceß“. Motive und Gestalten, 1986; Anz (Fn. 5); Christian Eschweiler, Der verborgene Hintergrund in Kafkas ,Der Proceß‘, 1990; Josef Vogl, Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik, 1990, S. 64 ff., 150 ff., 179 ff.; Pietro Citati, Franz Kafka. Verwandlungen eines Dichters, 1990, S. 135 ff.; Wulf Kellerwesel, Kafkas „Proceß“ – eine sprachphilosophische Deutung, 1990; Elsbeth Schmidhäuser, Die Verhaftung des Josef K., Zum Verständnis von Kafkas Roman „Der Proceß“, NJW 1991, 1455 ff.; dies., Kafka über Kafka. „Der Proceß“ – gelesen und gesehen, 2000; Claus Hebell, Rechtstheoretische und geistesgeschichtliche Voraussetzungen für das Werk Franz Kafka, analysiert an seinem Werk „Der Prozess“, 1993; Klaus Kleinschmidt, Augenblick und Irritation: Figuren der Zeit in Kafkas „Proceß“, 1994; Detlef Kremer, Die endlose Schrift. Franz Kafka und Robert Musil, in: Rolf Grimminger/Juri Murasov/Jörn Stückrath (Hg.), Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, 1995, S. 426 ff.; ders., „Das Gesetz will nichts von Dir“. Gesetz, Hermeneutik und Eros in Kafkas Proceß, in: Kafka, Der Proceß 14
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Michael Müller hat denn auch konstatiert: „Die hermeneutische Problematik in Kafkas Werken ist […] immer stärker in den Blickpunkt der Forschung gerückt; die Darstellung des dialektischen Verhältnisses zwischen Erkenntnisdrang und Erkenntnisverweigerung wird als ein zentrales ,Thema‘ Kafkas angesehen.“15 Im selben Band hat Klaus Jeziorkowski seine Studie zu diesem überaus schwierigen Text – der freilich manchen Interpreten keine größeren Schwierigkeiten zu bereiten scheint – mit dem Einbekenntnis beendet: „Daß das Verstehen des Schriftzusammenhangs nicht endgültig gelingt, ist die uns überlebende Scham.“16 Das wird noch dadurch unterstrichen, dass Theo Elm bereits 1977 „rund 11 000 Experten-Meinungen“ registriert hat, „die sich – Charakteristikum der Kafka-Literatur – allesamt den Anspruch der Kompetenz streitig machen“.17
V. Zu verschiedenen Interpretationsansätzen Kommentare und Statements dieser und ähnlicher Couleur ziehen sich wie ein roter Faden durch literaturwissenschaftliche Beiträge, die sich mit dem „Proceß“, wohl einem der vieldeutigsten und komplexesten Romane des 20. Jahrhunderts, beschäftigen. Das beginnt freilich schon bei der Frage nach dem methodischen, namentlich sprachanalytischen Zugang zum Text. Bis zu einem erheblichen Grad präformieren denn auch die verschiedenen Voraussetzungen, von denen Interpretationen ausgehen, zugleich deren Befund oder Ergebnis. Besonders klar lässt sich das an einer Gegenüberstellung rechts- und literaturwissenschaftlicher Ansätze beobachten. Eberhard Schmidhäuser hat sich etwa – den juristischen Gepflogenheiten folgend – ausschließlich am Text Kafkas orientiert – jedenfalls soweit er nach der kritischen (Fn. 4), S. 183 ff.; Klaus Jeziorkowski, „Bei dieser Sinnlosigkeit des Ganzen“. Zu Franz Kafkas Roman „Der Proceß“, in: Arnold, S. 200 ff.; Dagmar Fischer, Kafkas Proceß-Prosa. Eine textimmanente Interpretation, 1996; Ziolkowski (Fn. 11); Friedrich Nemec, Der Prozess, in: Ernst Fischer (Hrsg.), Hauptwerke der österreichischen Literatur, 1997, S. 352 ff.; Alt (Fn. 10). Aus rechtswissenschaftlicher Sicht vgl. etwa Eberhard Schmidhäuser, Kafkas „Der Prozeß“. Ein Versuch aus der Sicht des Juristen, in: Literatur und Recht (Fn. 11), S. 341 ff.; Jörg Tenckhoff, Leiden am Recht. Franz Kafka, Dichter und Jurist, JZ 2000, 1143 ff. (1150 f.); ders., Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 2 (2000/2001), S. 645 ff. (666 ff.); ders., in: Kafka, Der Proceß (Fn. 4), S. 223 ff.; Klaus Lüderssen, Die düstere Poesie des Paradoxen im Recht. Kafkas Roman „Der Proceß“ und verwandte Texte, in: ders., Produktive Spiegelungen. Recht in Literatur, Theater und Film, Bd. II, 2007, S. 141 ff. = Jahrbuch für Juristische Zeitgeschichte 2005/2006, S. 379 ff.; Buck-Heeb (Fn. 9); Ferk (Fn. 7); ders., Lauter(e) Urteile. Franz Kafka, sein Lehrer Hans Gross und deren Richter, in: Gerhard Dienes/Ralf Rother (Hrsg.), Die Gesetze des Vaters, 2003, S. 82 ff. 15 Müller, Zur Kafka-Forschung (Fn. 14), S. 39. 16 Jeziorkowski (Fn. 14), S. 217. 17 Elm, Die unveränderliche Schrift und die verzweifelten Meinungen. Zur Deutungsproblematik des Romans „Der Proceß“, in: Türen zur Transzendenz. Internationales KafkaSymposium 1. – 11. 12. 1977 in der Evang. Akademie Hofgeismar, 1978, S. 31.
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Ausgabe Malcolm Pasleys18 zugrunde gelegt werden kann.19 An dieser strengen exegetischen Theorie und Praxis hat sich auch Elsbeth Schmidhäuser in ihrer eindringlichen, dem Konzept Friedrich Beißners20 folgenden Studie orientiert, die die Figur des Josef K. als Widerspiegelung der persönlichen Problematik des Dichters deutet.21 Demgegenüber haben literaturwissenschaftliche Deutungen – wie z. B. diejenige Ritchie Robertsons –22 darüber hinaus auch die komplizierte Entstehungsgeschichte herangezogen, die bekanntlich keineswegs zu einem endgültigen Abschluss des Werkes geführt hat. Dass Kafka selbst mit seinem Roman in der jetzt vorliegenden kritischen Fassung – von der auch gesondert veröffentlichten Türhüter-Legende einmal abgesehen – nicht zufrieden gewesen ist, ist hinreichend belegt. Dafür sprechen auch die fragmentarischen Ergänzungen einzelner Kapitel, die der kritischen Ausgabe beigefügt sind.23 Schon an dieser Gegenüberstellung wird deutlich, dass die häufige Verwendung von Rechtsbegriffen – die insgesamt für Kafka-Texte charakteristisch ist – leicht zu Fehl- oder Missdeutungen Anlass geben kann. So liegt die Gefahr nahe, aus dem vielfachen Gebrauch solcher Begriffe in einem freilich kritischen, ein durchgängiges Reformbedürfnis reklamierenden Sinne auf den strafprozessualen Charakter des „Proceß“-Romans zu schließen. Eberhard Schmidhäuser, der das Geschehen insgesamt als einen Krankheitsprozess gedeutet hat, ist jedenfalls dieser Gefahr nicht erlegen.24 Das gilt insoweit gleichermaßen für Elsbeth Schmidhäusers Untersuchung, die im „Proceß“ „einen Verfolgungswahn, einen paranoischen Krankheitsprozeß aus der subjektiven Sicht des betroffenen Josef K.“ erblickt.25 Wohl aber hat der Literaturwissenschaftler Theodore Ziolkowski aus dem Roman vorrangig eine nachhaltige Kritik am – fraglos reformbedürftigen – zeitgenössischen österreichischen Strafprozess herausgelesen.26 Hat er doch den „Proceß“ des Schülers des Grazer Kriminalisten Hans Gross27 gleichsam als überaus kritische Auseinandersetzung Kafkas mit dem zeitgenössischen österreichischen Strafprozess(recht) gedeutet. Der Roman stelle „die Ungerechtigkeiten eines bis zum Äußersten getrie18 Pasley, Nachbemerkung, in: Franz Kafka, Der Verschollene (Amerika), Der Proceß, Das Schloß. Die Romane, 1997, S. 603 ff.; ders. auch in: Kafka, Der Proceß (Fn. 4), S. 175 ff. 19 Eb. Schmidhäuser (Fn. 14). 20 Beißner, Der Erzähler Franz Kafka, 1952, zit. nach Beißner, Der Erzähler Franz Kafka und andere Vorträge, 1983. 21 E. Schmidhäuser, Kafka über Kafka (Fn. 14), S. 10. 22 Robertson, Der Proceß, in: Michael Müller (Hrsg.), Franz Kafka: Romane und Erzählungen, 1994, S. 98 ff. 23 Vgl. Fn. 12 und 18. 24 Dass er damit womöglich anderen Interpretationsproblemen den Weg bereitet hat, steht auf einem anderen Blatt. 25 E. Schmidhäuser, Kafka über Kafka (Fn. 14), S. 221. 26 Ziolkowski (Fn. 11). Vgl. auch Ferk (Fn. 7). 27 Müller-Seidel (Fn. 5), S. 50 ff.; Ferk, Recht ist ein „Prozess“ (Fn. 7), S. 57 ff.; ders., in: Die Gesetze des Vaters (Fn. 14), S. 82 ff.
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benen subjektiven Gesetzes dar: eines Systems, in dem die Vorverhandlung alle anderen Stadien des Gerichtsverfahrens verdrängt hat.“28 Dem Text hat Ziolkowski „einen weiteren Prozeß“ entnommen: „nämlich den ständigen Prozeß der Evolution, der die Geschichte des Rechts seit seinen frühen Anfängen charakterisiert.“29 Dieses reformkritische Verständnis des Romans ist – soweit ersichtlich – in späteren Interpretationen nicht mit vergleichbarer Entschiedenheit oder gar Ausschließlichkeit wieder aufgenommen oder rezipiert worden – wenngleich dem Werk des juristisch geschulten, versierten und tätigen Autors30 durchaus Züge oder Partikel kritischer Sicht und Darstellung des zeitgenössischen österreichischen Strafprozesses und -prozessrechts attestiert worden sind und wohl werden konnten.31 Dies spiegelt aber mitnichten den heutigen Stand literatur- und rechtswissenschaftlicher Deutungen wider.32 Versuche, Kafkas Roman zur zeitgenössischen Rechts- und Prozesswirklichkeit – etwa der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie – in Beziehung zu setzen, haben das Werk von seinem substanziellen Gehalt her nicht auszuschöpfen vermocht. Vielmehr haben sie eher den Kern der Darstellung verfehlt. Dies hat nicht zuletzt Claus Hebell in seiner einschlägigen rechtstheoretisch und geistesgeschichtlich angelegten Untersuchung von 1993 dargelegt.33 In ähnlicher Weise hat denn auch der Germanist Wulf Segebrecht in seinem Beitrag „Über poetische Gerechtigkeit“ konstatiert: „Daß der Roman solche justizkritischen Intentionen besitzt, ist unstrittig; daß er es ausschließlich darauf abgesehen hat, muß jedoch bezweifelt werden.“34 Derartige Erkenntnisse und Erfahrungen haben mir namentlich bei der Rezension von Elsbeth Schmidhäusers Studie, die den Roman aus psychoanalytischer Sicht in den Blick genommen hat,35 vor Augen gestanden.36 Damit zeigte sich zugleich, dass meine ursprüngliche, in einem Beitrag über den Beschuldigten von 1981 zum Ausdruck gebrachte Sichtweise, die an die Metaphorik einer Strafverfolgung unter den Bedingungen eines totalitären Staates angeknüpft hat, allenfalls einen Aspekt unter mehreren anderen in einem komplexen Geflecht von Sinnzuweisungen und Verständnissen des Textes verkörpert hat.
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Ziolkowski (Fn. 11), S. 339. Ziolkowski (Fn. 11), S. 340. 30 Vgl. nur Franz Kafka, Amtliche Schriften, Mit einem Essay von Klaus Hermsdorf, 1984. 31 Z. B. von Ferk (Fn. 7), S. 62 ff. 32 Vgl. z. B. Wulf Segebrecht, Über „Poetische Gerechtigkeit“. Mit einer Anwendung auf Kafkas Roman „Der Proceß“, in: Karl Richter/Jörg Schönert/Michael Titzmann (Hrsg.), Die Literatur und die Wissenschaften 1770 – 1930, 1997, S. 49 ff. (58 ff.); Peter Schneider, Gesetz, Deutung, Übertragung, Institution, in: Psyche 53 (1999), S. 52 ff. (57); Tenckhoff, Jahrbuch (Fn. 14), S. 666 ff.; Lüderssen (Fn. 14), S. 145 f.; Alt (Fn. 10), S. 388 ff., 397 ff., 403 ff. 33 Vgl. Hebell (Fn. 14). Dazu Müller-Dietz, JZ 1994, 780 f. 34 Segebrecht (Fn. 32), S. 60. 35 E. Schmidhäuser, Kafka über Kafka (Fn. 14). 36 Müller-Dietz, GA 2003, 410 ff. 29
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Meine eigenen Versuche, mich einem interpretatorischen Verständnis des „Proceß“-Romans zu nähern, hatten bisher eher peripheren Charakter. Sie setzten 1981 mit einer Studie zur „Stellung des Beschuldigten im Strafprozeß“ ein.37 Damals hatte ich Kafkas Roman als Darstellung eines Strafverfahrens begriffen, „das auf Willkür, Gewalt und Korruption beruht“, also als ein „negatives Gegenmodell zu einem rechtsstaatlichen Verfahren“.38 Dabei haben offensichtlich Erinnerungen an den Missbrauch des Strafprozesses im „Dritten Reich“ und im SED-Staat für terroristische Zwecke und für die Machtbehauptung der Diktatur eine Rolle gespielt.39 Auf die Parallelen zu Walter Müller-Seidels Deutung von Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“ habe ich bereits hingewiesen.40 Später folgten verschiedene Besprechungen von Monografien, die Kafkas Werk im Kontext von Schuld, Macht und Recht deuteten. In den Blick genommen habe ich rezensionshalber Hans Helmut Hiebels germanistische Habilitationsschrift „Das Zeichen des Gesetzes“ von 1983, die im Gesamtwerk Kafkas, namentlich aber im „Proceß“-Roman, die philosophischen und psychoanalytischen Grundlagen und Hintergründe der „überreichen juristischen Metaphorik“41 aufgespürt und analysiert hat.42 In dieser Rezension habe ich die vom Verfasser des besprochenen Werkes hervorgekehrten Schwierigkeiten zu verdeutlichen gesucht, die vom Schriftsteller apostrophierten Schuldgefühle, Urteils- und Strafängste als plane Rechts- und Gesellschaftskritik zu identifizieren und zu verstehen. Auch beim Studium der Monografie Ulf Abrahams „Der verhörte Held“43 ist mir die Problematik einer Einordnung des „Proceß“-Romans in den Kontext zeitgenössischer literarischer Auseinandersetzungen mit einer reformbedürftigen Rechtswelt deutlich geworden.44 Im Ganzen also haben seither zunehmend andere, teils psychologisch, teils psychoanalytisch, biografisch oder religiös inspirierte Deutungsansätze das Heft in die Hand bekommen. Namentlich psychoanalytisch, von Freud’schen Konzepten angeregte Deutungen sollten sich in der Folgezeit Gehör zu verschaffen suchen.45 Beispielhaft dafür erscheint etwa Peter Schneiders Analyse, der die Welt des Josef K. als „Universum des Zwangsneurotikers“ begriffen hat, „der ausweglos in die Paradoxie geraten ist, sich in einem Kampf gegen die Schuld immer nur noch tiefer in die Schuld zu verstricken“.46 An Freuds Konzept des „Verbrechens aus Schuldbe-
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Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177 (1183 ff.). Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177 (1185). 39 Anklänge an diese Problematik auch bei Lüderssen (Fn. 14), S. 143. 40 Vgl. Müller-Seidel (Fn. 5), S. 88 ff., 146 ff. 41 Hiebel (Fn. 14), S. 18. 42 Hiebel (Fn. 14), S. 180 ff. Vgl. Müller-Dietz, JZ 1985, 127 f. 43 Abraham (Fn. 14). 44 Müller-Dietz, JZ 1986, 814 f. 45 Vgl. namentlich E. Schmidhäuser, Kafka über Kafka (Fn. 14). 46 Peter Schneider (Fn. 32), S. 57. 38
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wußtsein“ (1915)47 hat denn auch Jörg Tenckhoff bei seiner Deutung des „Proceß“Romans angeküpft: „Ein präexistentes Schuldgefühl peinigt den Dichter, der seine Not auf die Helden seiner Werke überträgt, die ihrerseits vergeblich versuchen, vor ihrem inneren Gericht Aufklärung über ihre Schuld zu erhalten, und letztlich Erlösung nur dadurch finden, daß sie Strafe erleiden, also schuldig sein müssen.“48 Freilich hat Tenckhoff – der insoweit in Übereinstimmung mit neueren Interpretationsansätzen das „Leiden am Recht“ als Quelle des Romans zurückgewiesen hat – aus dem Werk auch „ein peinigendes Schuldgefühl hinsichtlich der eigenen Existenz als Bürokrat“ gleichfalls als „ein Auslöser und gleichzeitig wesentlicher Inhalt“ herausgelesen.49 Die Problematik etlicher, auch neuerer Interpretationsansätze besteht offenkundig darin, die Vielzahl verschiedener Einflüsse religiöser, philosophischer, juristischer und psychoanalytischer Provenienz, die fraglos der Darstellung des Romangeschehens entnommen werden können, in konzeptionell einlinige, den Text auf ein bestimmtes Verständnis festlegende Deutungen zurückzuführen. Solche Interpretationen haben zwar den Vorzug der Vereinfachung für sich, werden aber immer wieder mit der Problematik von Konstruktionen konfrontiert, absonderliche, gegenläufig und befremdlich, nicht zuletzt unterschiedlich erscheinende Handlungsabläufe doch auf einen Nenner zu bringen – wenn sie sie nicht einfach aussparen. Der Pluralismus der Einflüsse, die der Roman meist verfremdet widerspiegelt, ist ja nicht zu übersehen. Er hat ja nicht zuletzt zu der teils relativierenden, teils resignativen Sicht beigetragen, die der Vielzahl von Interpretationsansätzen jeweils ihr Daseinsrecht zugesteht und dem Leser oder Interpreten die Entscheidung für einen von ihnen überlässt. In diese Richtung weist etwa Segebrechts Statement, der Deutung und Verstehen des Werks „in die Zuständigkeit und in die Verfügungsgewalt des Interpretierenden verlegt“ sieht. Dieser „kann den Roman dementsprechend als ein bis zur Unerträglichkeit realistisches Bild der Unrechtsverhältnisse im 20. Jahrhundert lesen, aber auch als Phantasieprodukt eines Ausgesetzten, als Bewußtseinsprotokoll eines in seiner Existenz Erschütterten, aber auch als verschlüsselte Autobiographie des Verfassers selbst, als Parabel für eine undurchschaubare und unsichere Welt. Die Deutungsmöglichkeiten sind unbeendbar; sie können nur abgebrochen werden.“50 Dass ein solcher „Ausweg“ als unbefriedigend empfunden werden kann – wenn nicht gar muss –, liegt auf der Hand.
47 Vgl. Franz Alexander/Hugo Staub, Der Verbrecher und Richter (1929), in: Alexander Mitscherlich (Hrsg.), Psychoanalyse und Justiz, 1971, S. 203 ff. (286 ff.); Hans Joachim Schneider, Theorien der Kriminalität, in: ders. (Hrsg.), Internat. Handbuch der Kriminologie, Bd. 1, 2007, S. 125 ff. (136). 48 Tenckhoff, Leiden am Recht (Fn. 14), JZ 2000, 1143 (1151). 49 Tenckhoff, Leiden am Recht (Fn. 14), JZ 2000, 1143 (1152). 50 Segebrecht (Fn. 32), S. 66 f.
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VI. „Der Proceß“ als Widerspiegelung inneren Erlebens des Josef K. Inzwischen zeichnen sich neuere Interpretationsansätze ab, die eine Art Integration der verschiedenen Einflüsse und Einflussfaktoren in Kafkas Roman anstreben. Wobei vor allem Freud’schen Analysen der Rolle des Unbewussten im subjektiven Schulderleben des Josef K. zentrales Gewicht zukommt oder zugewiesen wird. Das gilt namentlich für solche Deutungen, die das Gesamtwerk des Schriftstellers als Basis- und Hintergrundfolie in den Blick nehmen. Denn es sind ja schon längst sprachliche und sachliche Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Texten – ob Romane oder Erzählungen – des eigenwilligen Autors deutlich geworden, die auf innere Zusammenhänge der von ihm geschilderten oder inszenierten (Bilder-)Welt verweisen. Auf solcher Grundlage könnte es lohnend erscheinen, die Romanstruktur auf eine eigenständige Weltsicht zurückzuführen, die Begriffen und Sichtweisen bestimmter kultureller Erscheinungen – etwa der Religion, der Philosophie und des Rechts – ebenso wie biografische Erfahrungen und Erlebnisse lediglich als Fermente oder Versatzstücke für die Darstellung nutzt. In diese Richtung weist namentlich das Konzept Peter André Alts, der im Rahmen seiner Deutung des Romans vom inneren Erleben des Josef K., seinem Unbewussten ausgehend immer wieder Querverbindungen zu anderen Texten Kafkas zieht, um daraus dessen in der Schilderung des Geschehens zutage tretende, vom kommunen Verständnis abweichende Weltsicht zum Ausdruck zu bringen.51 Wenn es auch in solchem Kontext auf subjektive Auffassungen nicht entscheidend ankommt – oder doch ankommen sollte –, so muss ich doch einräumen, dass mich die Analyse dieses Literaturwissenschaftlers von allen neueren Ansätzen am meisten überzeugt hat. Das beginnt bereits bei Grundbegriffen, von denen der Roman lebt. Die „Rhetorik der Schuld“52 durchzieht wie ein roter Faden den Text. Aber sie hat hier eine andere Bedeutung, als ihr vielfach zugrundegelegt wird. Sie entspringt letztlich einem im Unbewussten von Josef K. wurzelnden Schuldgefühl, dessen der Protagonist während des ganzen Geschehens nicht Herr werden kann. „Da sich die Kategorien der Schuld und der Strafe bei Kafka neu definiert finden, können sie auch nicht nach einem religiösen oder juristischen Vorverständnis bewertet werden. Schon im Urteil tritt zutage, daß konventionelle Rechtsbegriffe in Kafkas Welt keine Geltung haben. Statt seine erzählerischen Konstruktionen immer wieder auf die nominell existierenden Rechtsordnungen in Geschichte und Gegenwart zu beziehen, sollte man sie aus ihrer internen Systematik zu verstehen suchen. Kafka hat die Kategorien des normativen Wissens in seine fiktiven Realitätsmodelle eingeschlossen, wo sie einen rein imaginären Wirkungsraum gewinnen. Jeder Versuch, sie juristisch dingfest zu machen, religiös zu transzendieren oder auf ein realhistorisches Substrat wie den Tota-
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Alt (Fn. 10), vor allem das dem Roman selbst gewidmete 11. Kap. (S. 375 – 419). Alt (Fn. 10), S. 388.
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litarismus des 20. Jahrhunderts zu beziehen, verfehlt daher ihre Bedeutung.“53 Der der Gestaltung des Prozesses und dem Handeln des Gerichts anhaftende totalitäre Zug kann dementsprechend nicht als Kritik an einer wie immer Grundvorstellungen des Rechts und der Gerechtigkeit zuwiderlaufenden „Rechtsordnung“ verstanden werden. „Zu den eindrucksvollsten Merkmalen des Proceß-Romans gehört seine Kunst, die Bilder einer subjektiven Strafphantasie so zu verknüpfen, daß sie einen objektiven Charakter annehmen. K.s Schuld ist zunächst ein Schuldgefühl, das seine Entsprechung in den Aktivitäten der Rechtsbehörden findet. Diese wiederum zeigen zwar durch die fehlende Trennung von judikativer, legislativer und exekutiver Macht einen totalitären Zug, jedoch sollte man der Versuchung widerstehen, sie aus diesem Grund als literarisches Zeugnis einer Kritik an undemokratischen Rechtsbegriffen aufzufassen. K.s Geschichte ist der Traum von der Schuld – ein Angsttraum, der sich in den imaginären Räumen einer befremdlichen juristischen Ordnung als Widerschein psychischer Zustände abspielt. Man kann den Roman folglich als Reflexion dieser Schuld, zugleich aber auch als unheimliche Beschreibung eines Rechtsapparates lesen, den sich das individuelle Schuldbewußtsein selbst vorstellt.“54 Gleichermaßen widerspricht Alt aber auch einer metaphysischen Deutung des Romangeschehens, wie sie Martin Buber mit seinem Rekurs auf Existenzschuld zugrunde gelegt hat.55 Trifft diese Deutung des Romans zu, dann erlangen die in anderen – etwa juristischen und religiösen – kulturellen Kontexten verwendeten Begriffe eine eigenständige, nur aus der Logik der Welt Kafkas heraus verständliche Relevanz. Das Wirken des Gerichts und seiner Organe „lassen sich allein aus der internen Struktur des Romans begreifen“.56 Was im Zuge seines Prozesses K. widerfährt, spiegelt demnach nichts als seine subjektiven Schuldgefühle und Angstträume wider. „Schon die äußeren Umstände von K.s Verhaftung zeigen, daß man es mit einer Strafphantasie zu tun hat, unter deren Gesetz das Geschehen mit mechanischer Folgerichtigkeit abrollt.“ „Das Ich des Helden bildet den zentralen Schauplatz des Geschehens, insofern allein seine inneren Kräfte das Gericht herbeizwingen.“57 „Der Rechtsbegriff, den der Roman benutzt, besitzt eine metaphorische Bedeutung, die seine normative – verallgemeinerbare – Bedeutung ausschließt.“58 „K. steht vor dem Gerichtshof des eigenen Ichs, das den aufsteigenden Inhalten des zuvor verdrängten Unbewußten einen im Verlauf des Romans immer schwächer werdenden Widerstand entgegensetzt. Sein Prozeß ist ein Vorgang der Selbstanklage, dem er unmöglich zu entkommen vermag. K. kann dem Gericht nicht ausweichen, weil es mit 53
Alt (Fn. 10), S. 390. Alt (Fn. 10), S. 391. 55 Alt (Fn. 10), S. 394. 56 Alt (Fn. 10), S. 391. 57 Alt (Fn. 10), S. 392. 58 Alt (Fn. 10), S. 394.
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ihm selbst identisch ist.“59 Insoweit stimmt Alts Sicht mit derjenigen Elsbeth Schmidhäusers überein, die als „K.s Richter, den er nie gesehen hat“, ihn selbst begreift.60 Einmal mehr stimmt Alts Analyse mit der Sicht Elsbeth Schmidhäusers darin überein, dass das im Roman gezeichnete und von K. wahrgenommene Frauenbild in vielfacher Hinsicht dem von Oskar Weininger entworfenen61 entspricht.62 E. Schmidhäuser weist – wie etwa Detlef Kremer63 – der Sexualität eine bedeutsame Rolle im Werk zu.64 Diese Sichtweise teilt insofern auch Alt, der dem problematischen Verhältnis K.s zu Frauen einen eigenen Abschnitt gewidmet hat.65 Seine Interpretation weicht jedoch hinsichtlich der Auslegung der vielfach sexuell aufgeladenen Szenen mit Frauen, die sich K. geradezu aufdrängen, in entscheidender Weise von E. Schmidhäusers Deutung ab. Hat sie doch aus einigen wenigen Passagen – die etwa die Beziehung zu Staatsanwalt Hasterer zum Gegenstand haben –66 „homoerotische Gefühlsäußerungen“ des Protagonisten herausgelesen, in denen sie die von K. im Roman apostrophierte „Schuld“ erblickt.67 „K.s Richter ist vor dem Hintergrund der strengen juridischen Sexualmoral zu sehen, deren Verpönung der Homosexualität religiöse Wurzeln hat.“68 Von einer solchen sexuellen Orientierung ist bei Alt mitnichten die Rede. Er zieht dessen heterosexuellen, auf das weibliche Geschlecht gerichteten Sexualtrieb, der durch die dominierende Rolle und das Frauenbild des Mannes im spätbürgerlichen Zeitalter genährt wird, mit keinem Wort in Frage. Danach erblickt die den männlichen Blick bestimmende Sicht in den Frauen Verfügungsobjekte, die dem Begehren des Mannes unterworfen sind. Dementsprechend zeigt der Roman „in den Klischeebildern seiner Frauenfiguren die Obsessionen und Verwerfungen des männlichen Wissens über weibliche Sexualität“.69 Ebenso wie „die Wahrheit der Sexualität, von der Kafka im Proceß erzählt“, Alt zufolge darin beruht, „daß sie zum Komplex des Unbewußten gehört, dessen Landschaften der Roman ausbreitet“,70 spiegelt er die „symbolische Macht“ der Bürokratie wider, die der Schriftsteller im Zuge seiner beruflichen Erfahrungen kennengelernt hat. „Sie stellt das selbständige Beziehungsgeflecht dar, in dem sich K. unrettbar 59
Alt (Fn. 10), S. 395. E. Schmidhäuser (Fn. 14), S. 222. 61 Weininger, Geschlecht und Charakter, 1903. Vgl. auch zum vielschichtigen Verhältnis von Karl Kraus zu Weiningers Frauenbild (Kehraus, Die Fackel Nr. 229, S. 1 ff. [14]; dazu Reinhard Merkel, Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus, 1998, S. 364). 62 E. Schmidhäuser (Fn. 14), S. 261 ff. (263); Alt (Fn. 10), S. 399. 63 Kremer, Kafka. Die Erotik des Schreibens, 1989, S. 106 ff., ist sogar so weit gegangen, den „Proceß“ als „erotisches Zwangsuniversum“ zu charakterisieren. 64 E. Schmidhäuser (Fn. 14), S. 222 f. 65 Alt (Fn. 10), S. 397 – 402. 66 Vgl. Fn. 6 u. 12. 67 E. Schmidhäuser (Fn. 14), S. 222 ff. 68 E. Schmidhäuser (Fn. 14), S. 222. 69 Alt (Fn. 10), S. 399. 70 Alt (Fn. 10), S. 401. 60
Kafkas „Proceß“ – ein Strafprozess?
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zu verfangen scheint.“71 „Die Anonymisierung des Verwaltungsakts impliziert den Entzug persönlicher Verantwortung und die Auslöschung der Individualität, die in den amtlichen Ordnern wie eine Nummer verschwindet.“72 Auch hier figuriert das objektive Geschehen als Widerspiegelung des subjektiven Erlebens K.s. Dessen „Seelenlandschaft“ prägt den Prozess im Ganzen. K. befindet sich in der „fatale (n) Lage des Angeklagten, der dem Prozeß so wenig entrinnen kann wie dem eigenen Unbewußten“.73 Selbst die Türhüter-Legende – mit der sich Kafka von sämtlichen Fragmenten seines Romans noch am meisten hat identifizieren können und die ja auch eine besonders reiche, vielseitige Sekundärliteratur nach sich gezogen hat – begreift Alt keineswegs als eine „Parabel oder ein Gleichnis“, sondern vielmehr als einen Rekurs auf eine „Überlieferungstradition“, die sich der Autor für die Zwecke seiner Darstellung zunutze gemacht hat.74 In ihr spiegelt sich demnach wiederum die für Kafkas Werk im Ganzen charakteristische „Schwierigkeit jeder hermeneutischen Erfassung mehrsinniger Texte, Weil keine Interpretation ihre exegetische Autorität nachzuweisen vermag, kann der Streit über die Legende nicht entschieden werden. Kafka hat hier hellsichtig und ironisch zugleich einen Kommentar zur Wirkungsgeschichte seiner eigenen Texte geliefert.“75 Wie auch andere Passagen des Romans deutet Alt die Legende nicht in einem religiösen Sinne, sondern erblickt in ihr eine Geschichte, die – Harold Bloom folgend –76 „die Sinnsuche des Menschen als einen unabschließbaren Prozeß ohne klar umrissenes Ziel ausweist“.77 Auf Bloom verweist ja auch Alts erhellende Feststellung: „Die Psychoanalyse zeigt der Moderne, wie Harold Bloom formuliert hat, die Landkarte der Seele, Kafka wird aber durch seine Texte demonstrieren, daß ihre Kenntnis nichts zu unserer Rettung beiträgt.“78 Die Türhüter-Legende figuriert dementsprechend einmal mehr als Ausdruck der in Irrtümern und Selbsttäuschungen befangenen Vorstellungswelt K.s und nicht als Demonstration einer objektiven Macht, der der Protagonist ausgeliefert ist: „Sowohl das Gesetz als auch die Macht besitzen keine objektive Geltung, sondern einzig den Charakter subjektiver Bestimmungen, welche die seelische Struktur des Individuums spiegeln.“79
71
Alt (Fn. 10), S. 403. Alt (Fn. 10), S. 404. Einmal mehr lassen hier Thesen Michel Foucaults (Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France [1975 – 76], 1999) grüßen! 73 Alt (Fn. 10), S. 406. 74 Alt (Fn. 10), S. 408. Der Türhüter-Geschichte hat Alt gleichfalls einen ganzen Abschnitt gewidmet (S. 408 – 415). 75 Alt (Fn. 10), S. 409. 76 Bloom, Kafka, Freud, Scholem, 1990. 77 Alt (Fn. 10), S. 410. 78 Alt (Fn. 10), S. 312. 79 Alt (Fn. 10), S. 414. 72
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Wie andere Interpreten begreift Alt in seiner Analyse den Proceß-Roman auch als Ausdruck der Schreibkrise, in die Kafka nach Fertigstellung eines Teils seines Werkes geraten ist. Bekanntlich hat der Schriftsteller sich im Oktober 1914 nicht mehr in der Lage gesehen, an seinem schwierigen Projekt weiterzuarbeiten. Er hat sich dann nach der Unterbrechung erneut aufzuraffen vermocht, ohne sein Werk freilich abschließen zu können: „Bis zum 20. Januar 1915 schreibt Kafka nochmals achtzig Seiten, dann läßt er das Manuskript in der Schublade liegen. Es bleibt ein Fragment, das Anfang und Ende aufweist: schon in seiner Struktur ein paradoxes Gebilde.“80 Kafka beschreibt in seinem Werk nicht nur einen Protagonisten, der an sich selbst scheitert.81 Vielmehr verleiht er mit der im Ablauf des Prozesses zutage tretenden Katastrophe auch seiner eigenen Problematik sprachlich Gestalt, die sich in eben seinen Schreibhemmungen manifestiert. K.s Prozess erscheint in der Darstellung Alts „nicht zuletzt wie das literarische Projekt“ „als ein Produkt der unbegreifbaren, im Moment der Fixierung schon entgleitenden Ängste des Unbewußten. Die Arbeit am Manuskript folgt jener paradoxen Dynamik der Unverfügbarkeit.“82 Ja, man ist als Leser und Interpret des Kafka’schen Romans sogar versucht, den Faden dieses problematischen Zusammenhangs weiterzuspinnen, indem man sich selbst in die Rolle dessen versetzt fühlt, der seine besonderen hermeneutischen Schwierigkeiten hat und auch nachhaltig empfindet, dem Werk in angemessener Weise gerecht zu werden.
80
Alt (Fn. 10), S. 388. Alt (Fn. 10), S. 417 ff. 82 Alt (Fn. 10), S. 407. 81
Das „Rechtsgut“ – ein obsoleter Begriff? Von Hans-Ullrich Paeffgen Die nachfolgenden Zeilen seien dem frühen Weggefährten in Bonn, Herausgeber und Mitautor des Systematischen Kommentars, Co-Vorsitzenden des Arbeitskreises für Strafprozeß- und Polizeirecht in Mannheim in alter, freundschaftlicher Verbundenheit gewidmet:
I. Problemaufriß Verbreitet gehört es heute zum gepflogenen, um nicht zu sagen: gepflegten, Publikations-Stil, den Begriff des „Rechtsguts“ sei es zu marginalisieren, sei es gar zu ridikülisieren – und jedenfalls mit Aplomb auf den Kehrichthaufen der Dogmatikgeschichte zu fegen.1 Beträchtlichen Schub hat diese Einstellung durch ein Judikat des BVerfG erhalten, das schon aus anderen Gründen einen besonderen Tiefpunkt in dessen Judikatur darstellt, den sog. Inzest-Beschluß.2 Die folgenden Zeilen möchten versuchen, dem – in Grenzen – entgegenzutreten.3 1
Appel, Verfassung und Strafe (1998), S. 342 ff.; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 139 ff., 147 und passim. (Tendenziell aber auch Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrecht – zur Dogmatik „moderner“ Gefährdungsdelikte [2000], S. 249 (253) und passim.) – Nur wenige erwähnen die Pikanterie, daß die lustvolle Berufung von BVerfGE 120, 224 (242) (= NJW 2008, 1137 [1138 Rn. 39]) auf jene beiden Autoren eigentlich eher selbstreferentiell war, da diese eigentlich ganz wesentlich die Rechtsprechung des BVerfG gesichtet und systematisch zu strukturieren versucht hatten; richtig aber Greco, ZIS 2008, 234 (235 Fn. 2). – §§ ohne Kennzeichnung sind solche des StGB. 2 BVerfGE 120, 224 ff. (= JR 2008, 469, = NJW 2008, 1137, = NStZ 2008, 614) (im Folgenden zitiert nach amtlicher Sammlung und NJW), in dem sich das Gericht nicht zu schade war, eine gutachtliche Äußerung des MPI entgegen ihrem vorsichtigen Wortlaut im Sinne der Mehrheitsmeinung umzudeuten: Die Plausibilität der Annahme von familien- und sozialschädlichen Wirkungen des Geschwisterinzests seien durch das Gutachten des MPI belegt, (hier u. im Folgenden belegt durch die NJW-Fundstelle: NJW 2008, 1137, hier: S. 1139, Rn. 44, S. 1140 Rn. 49). Diese Aussage ist eine nachdenklich stimmende Tatsachen-Aufbauschung, wie man sie dem höchsten deutschen Gericht bisher nicht zugetraut hätte. Bezeichnenderweise ist die von der Mehrheit herausgestrichene Eugenik als Schutzgut (treffend dagegen Hassemer, S. 1143 Rn. 82 ff.) vorgeblich selbst dann noch hinreichende LegitimationsGrundlage für eine solche Norm, wenn sich die Zeugungsunfähigkeit eines der Beteiligten (und sei es durch Sterilisation künstlich herbeigeführt) herausstellt, dagegen mit allem Recht (und nur geringer Ironie, wo platter Hohn angebracht gewesen wäre): Hassemer, a.a.O., S. 1145 Rn. 112. Vgl. etwa die sehr viel vorsichtigeren Worte im MPI-Gutachten: „Die heutigen medizinisch-genetischen Erkenntnisse verweisen darauf, dass die Wahrscheinlichkeit des Auftretens genetischer Erkrankungen bei inzestuösen Verbindungen im Vergleich zu
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1. Begonnen hat das sich intensivierende Dahinsiechen eines einstigen, wenn auch in seiner Bedeutung und seinem Inhalt hochumstrittenen Zentralbegriffs4 der (namentlich: Strafrechts-)Dogmatik wohl mit Amelungs fulminanter Doktorarbeit „Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft“.5 Einen kardinalen Schlag gegen diese Doktrin dürfte künftighin das vorerwähnte BVerfG-Judikat darstellen.6 In alnicht-inzestuösen Verbindungen erhöht ist“, H.-J. Albrecht/Sieber, Stellungnahme zu dem Fragenkatalog des Bundesverfassungsgerichts (http://www.mpicc.de/de/data/pdf/05-08-in zest_gutachten.pdf), S. 116; vgl. dort auch S. 117 a.E. Nachdrücklich gegen diese FaktenKlitterung: Paeffgen, Prozessuale Zwischenlösungen bei der Vorratsdatenspeicherung?, Schenke-FS (2011), S. 427 (435 in Fn. 40). Allgemein krit. jetzt auch Roxin, StV 2009, 544 ff. – Zu zahlreichen weiteren Stimmen zu diesem Judikat weiter unten. 3 Freilich sei nicht verholen, daß sich das Thema nach wie vor erheblicher Aufmerksamkeit erfreut; – ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit seien aus jüngerer Zeit nur erwähnt: Anastasopulou, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter (2005); Bottke, Lampe-FS (2003), S. 463 ff.; K. Günther, in: Neumann/Prittwitz (Hrsg.), „Personale Rechtsgutslehre“ und „Opferorientierung im Strafrecht“ (2007), S. 15 ff.; Hassemer, Androulakis-FS (2004), S. 207 ff.; Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht (2002); ders., GA 2002, 21 ff.; ders., in: Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers (Hrsg.) (im Folgenden: H./v.H./W.), Die Rechtsgutstheorie (2003), S. 119 ff.; Herzog, in: Neumann/Prittwitz (Hrsg.), Kritik und Rechtfertigung des Strafrechts (2005), S.117 ff.; Hesel, Untersuchungen zur Dogmatik und den Erscheinungsformen „modernen“ Strafrechts (2004); v. Hirsch, Fairness, Verbrechen und Strafe: Strafrechtstheoretische Abhandlungen (2005); ders., Eser-FS (2005), S. 189 ff.; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten (2005); Jakobs, Seiji-Saito-FS (2003), S. 18 ff.; Klimpel, Bevormundung oder Freiheitsschutz? (2003); Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht (2005); Müssig, Schutz abstrakter Rechtsgüter und abstrakter Rechtsgüterschutz (1994); Neumann, in: Neumann/Prittwitz (Hrsg.), „Personale Rechtsgutslehre“ und „Opferorientierung im Strafrecht“ (2007), S. 85 ff.; Newig, Symbolische Umweltgesetzgebung (2003); Prittwitz, in: Neumann/ Prittwitz (Hrsg.), Kritik (2005), S. 131 ff.; Roxin, Schünemann-Symposion (2005), S. 135 ff. 4 Birnbaum, Über das Erforderniß einer Rechtsverletzung zum Begriffe des Verbrechens (1834), S. 177: „… daß es zum Wesen der Staatsgewalt gehöre, allen im Staate lebenden Menschen auf gleichmäßige Weise den Genuss gewisser Güter zu gewährleisten, welche den Menschen von der Natur gegeben oder eben das Resultat ihrer gesellschaftlichen Entwicklung und des bürgerlichen Vereines sind.“ Er führt mit jener Schrift die Begrifflichkeit bahnbrechend ein, definiert ihn aber nicht wirklich (so auch Amelung Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft [1972], S. 45). Zu Birnbaum und seinem Guts-Begriff vgl. auch E.-M. Lohse, Johann Michael Franz Birnbaum (1792 – 1877) als Strafrechtslehrer (Diss. Freiburg, 1966), S.176 ff. – Pointiert i. S. d. heute geführten Diskussion hat dann wohl erstmalig Binding diesen Terminus verwandt: Binding, HdB Strafrecht I (1885), S. 169; ders., Normen I2 (1890), S. 353 f. 5 Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972). S. 344 ff. und passim (der dem Rechtsgut aber noch eine gewisse Bedeutsamkeit in seiner Konzeption beließ, S. 394 f. und passim); Jakobs, AT2 (1991), 2/12 ff.; Tiedemann, Tatbestandsfunktion im Nebenstrafrecht (1969), S. 117 mit Fn. 17; aus jüngerer Zeit etwa: Hörnle, Verhalten (2005); Krauß, Hassemer-FS (2009), S. 423 (437); Weigend, in: LK12 (2007), Einl. Rn. 7 f.; Naucke, Strafrecht10 (2002), § 6 Rn. 62 ff. Vgl. ferner Frisch, in: H./v. H./W., Die Rechtsgutstheorie (2003), S. 215 ff. 6 Nicht ohne Delikatesse ist dabei der dissonante „Zusammenklang“ von den Rn. 35 („Das Strafrecht wird als ,ultima ratio‘ des Rechtsgüterschutzes eingesetzt, wenn ein bestimmtes Verhalten über sein Verbotensein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung besonders dring-
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lerjüngster Zeit hat Gärditz nicht nur das sich an Anachronismen und Metaphysischem festklammernde und das Öffentliche, namentlich das Verfassungs-Recht und dessen Dogmatik schnöde vernachlässigende Strafrecht7 in seiner konzeptionellen Selbstgenügsamkeit scharf gerügt,8 er hat überdies Doktrinen, die in der Strafe einen Ausgleich für begangenes Unrecht sehen wollen, als metaphysisch und, weil mit vorgrundgesetzlichen Argumenten fundiert, als unvereinbar mit dem grundgesetzlichen Demokratieprinzip bezeichnet.9 In die Milch der vermeintlich frommen (namentlich: öffentlich-rechtlichen) Denkungsart10 möchte ich hier doch etwas Wasser gießen: Dies soll – angesichts der exuberanten Streitigkeiten, die um diesen Begriff möglich (und geführt worden) sind, auf einer konkretisierenden Ebene geschehen, nachdem ein paar allgemeine Worte zu Aspekten des Konzept-Modells vorangeschickt wurden:
II. Konzeptionelles 1. a) Angesichts knappen Raumes sei zunächst einmal eine Prämisse an den Anfang gestellt, die verbreitet, wenngleich nicht unumstritten, zu der Aufgabe von Strafnormen – und in deren Konkretisierung durch Rechtsgüter – vertreten wird: Strafrechtlich sanktionierte Normen helfen dadurch, Bedingungen menschlichen Lelich ist“) und Rn. 39 („Strafnormen unterliegen von Verfassungs wegen keinen darüber hinausgehenden, strengeren Anforderungen hinsichtlich der mit ihnen verfolgten Zwecke. Insbesondere lassen sich solche nicht aus der strafrechtlichen Rechtsgutslehre ableiten“) des Beschlusses. Darauf hat u. a. schon Noltenius, ZJS 2009, 15 (17), hingewiesen. 7 I.d.T. ist dort die Idee, daß im Strafrecht der Schutz von Rechtsgütern notwendige Voraussetzung ist, immer noch verbreitete Sicht: Jäger, Schüler-Springorum-FS (1993), S. 229 (234); Jescheck/Weigend, AT5 (1986), § 1 III 1 (S. 7); Roxin AT-I4 (2006), § 2 Rn. 1, 50; SKStGB7/Rudolphi (36. EL 2001), Vor § 1 Rn. 2 ff.; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung (1997), S. 361. Allerdings sind das häufig Namen von alten – und nicht selten schon gestorbenen – Strafrechtlern. Aber, das Folgende soll belegen, daß das Alte nicht notwendig etwas Obsoletes ist. Und gelegentlich lugen auch in neuerer Literatur aus den sich breitmachenden Monokulturen dogmatische Verfeuerbarkeits-Züchtungen Aussagen hervor und lassen Reminiszenzen an eine positivere Sicht auf die Rechtgutslehre anklingen, wie etwa M. Heinrich, Roxin-FS I (2011), S. 131 ff. 8 Gärditz, Der Staat 49 (2010), S. 331 ff.; so schon Appel, Verfassung und Strafe (1998), S. 198 ff., 381 ff. und passim; Lagodny, Strafrecht (1996), S. 147 und passim. Nur scheinbar ähnl. schon Hassemer, in: H./v.H./W., Die Rechtsgutstheorie (2003), S. 57 (58). – Zahlreiche der u. a. von Gärditz erhobenen Vorwürfe werden auch von mir geteilt. Hier ist leider nicht genügend Raum, um die verbleibenden Unterschiede, bis auf die nachfolgend erörterten, zu explizieren. Zu einigen Punkten, in denen er über das Ziel seiner – tendenziell berechtigten – Kritik hinausschießt, vgl. aber schon Zaczyk, Der Staat 50 (2011), S. 295 ff., – namentlich zu der – nicht nur von Gärditz gebilligten, sondern in der modernen Strafrechtsdogmatik prominent vertretenen – extrem funktionalistischen Sicht von Strafrecht. 9 Diese Sicht wurde hiernach ausdrücklich geteilt von Stuckenberg: Stuckenberg, GA 2011, 653 (654 ff.) (Festheft für Müller-Dietz). 10 Frei nach Schiller, Wilhelm Tell, 4. Aufzug, 3. Szene.
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bens aufrechtzuerhalten, daß sie über Stabilisierung von Erwartungserwartungen zur Erhaltung der konkret verfaßten Gesellschaft beitragen.11 Wegen der Sanktionsschärfe sollten sie aber auch – schon um die Differenz zu anderen, auch sanktionsbewehrten Ver- oder Geboten zu rechtfertigen, aber auch aus ihren verfassungsrechtlichen Einbindungen heraus – voraussetzen, daß sie nur erheblich sozialschädliches Tun verbieten.12 Die Norm läßt sich so losgelöst von der positivistischen Sicht Bindings verstehen. aa) Binding hatte, wohl als erster in dieser Klarheit, die gesetzgeberische Entscheidung für ausschließlich maßgeblich gehalten: Rechtsgut war nach ihm, was nach Ansicht des Gesetzgebers als Bedingung für ein gesundes Gemeinleben von Wert ist.13 Das ist auch heute gewißlich ein Ankerpunkt jedweder Analyse: Denn ohne eine solche Entscheidung des Gesetzgebers gibt es unter der Herrschaft von Art. 103 II GG keine Strafnorm. Das mit der Deliktsmaterie umschriebene Verhalten ist das negative Gegenstück zu den mit dem Ver-(Ge-)bot angestrebten positiven „Zuständen“, den „Daseins- und Entfaltungsbedingungen“,14 die hier vorläufig weiterhin als „Rechtsgüter“ bezeichnet sein mögen. Deswegen halten manche den Begriff auch für wenig erkenntnisfördernd, weil er kongruent mit dem gesetzgeberischen Motiv für die Schaffung der Norm sei, allenfalls noch angereichert um ein paar nachträgliche Korrektur- und Konkretisierungs-Einsichten, die sog. ratio legis.15 11 So, die sehr abstrakte Aussage später noch weiter herunterbrechend, Amelung, Rechtsgüterschutz oder Schutz der Gesellschaft (1972), S. 370 (Amelung spricht sich für eine – freiheitsrechtlich-gefilterte [u.a. durch den Rechtsguts-Begriff] – Theorie der Sozialschädlichkeit aus, Amelung Rechtsgüterschutz S. 344 ff., 394 f. aus) (vgl. zur Kritik etwa Hassemer, ZStW 87 (1975) 146 ff.). Partiell ähnl.: Müssig, Schutz (1994) S. 58 ff, 63 ff., 71 ff., 152 ff., – wie Amelung in Anlehnung an Luhmanns systemtheoretische Überlegungen. 12 So auch Amelung, ebenda, freilich nur unter Betonung der grundgesetzlichen Bindungen. Auf diesen kruzialen Punkt des Sozialschädlichkeits-Erfordernisses wird unten, bei Fn. 80, zurückzukommen sein. – Ähnl. Kindhäuser, Gefährdung als Straftat (1989), S. 159: Der Schutzbereich von strafbewehrten Normen muß erhebliches Gewicht für die Gesellschaft haben. 13 Binding, HdB Strafrecht I (1885), S. 169; ders., Normen I2 (1890), S. 353 f. – In der Sache ähnl.: Grünhut, Frank-FG (1930), S. 1 (8 f.); Honig, Einwilligung des Verletzten (1919), S. 94. 14 Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten (1988), S. 77 ff.; in der Sache ähnl. Roxin, AT-I4 (2006), § 2 Rn. 9. Dabei braucht nicht zu der Technik der Schutzgewähr Stellung genommen werden. Wenn etwa Kindhäuser, Gefährdung als Straftat (1989), S. 225, 288 (294) und passim, bei den abstrakten Gefährdungsdelikten den sorgenfreien Verfügbarkeit über Güter gewährleistet sieht, so setzt auch diese – plausible – Sicht voraus, daß eben Güter (mittelbares) Schutzsubstrat sind. Gegen dessen Konzeption allerdings wiederum, allgemein: Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge (1991), S. 41 ff.; Hirsch, Tiedemann-FS (2008), S. 145 (161 f.); Müssig, Rechtsgüterschutz (1993), S. 201 ff.; Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts usw. (2000), S. 295 f.; Zieschang, Die Gefährdungsdelikte (1998), S. 351 ff. 15 Amelung, Rechtsgüterschutz (1972), S. 394; Bockelmann, Radbruch-GS (1968), S. 252 (257, Fn. 22); Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973), S. 23 f.; Stratenwerth, Lenckner-FS (1998), S. 377 (388 ff.). So – als wichtiger auslegungsmethodischer Zusatz-Aspekt – auch Paeffgen, BGH-FG IV (2000), 695 (702 f.).
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bb) Grundsätzlich anders gehen diesen Fragenkreis andere an: Nach Ansicht von Jakobs und anderen wird durch das Strafrecht das Normvertrauen stabilisiert.16 Doch bleibt – wenn man nicht zugleich auf die Inhalte schaut – dunkel, was die Straf-Normen von solchen des OWiG, des Polizeirechts – oder auch des Schadensersatzrechts – unterscheidet. Denn alle diese Rechtsschöpfungen arbeiten mit Sanktionen – als Reaktion auf die Verletzung von Verhaltens- oder sonstigen Zuständigkeitsnormen –, mit stets dem nämlichen Ziel, das Verhalten der Normadressate zu beeinflussen. Ähnlich elastisch geht Stratenwerth vor, indem er das Strafrecht im allgemeinen auf letztlich nicht weiter erklärbare17 Verhaltensregeln gründet.18 Doch eine solche extreme Freiheit steht, wie das Folgende hoffentlich belegen wird, dem Gesetzgeber normativ nicht zu Gebote.19 Denn wäre es anders, so hinderte ihn nichts daran, 16
Jakobs, AT2 2/1 ff.; ders., Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck (2004), S. 5 ff. In solcher Argumentation schwingt schnell (nicht nur im politischen Bereich) der hochproblematische Schluß vom Sein auf das Sollen mit, der in der Philosophie deswegen sogar als naturalistischer Fehlschluß gegeißelt wird: Grundlegend hierzu schon Hume (A Treatise of Human Nature [Buch III, Teil I, Kapitel I]; deswegen im angelsächsischen Raum auch als Humes Gesetz bezeichnet) und Kant, Kritik der reinen Vernunft 2, B 576 f., A 548 f. (Weischedel ed. Bd. VII [1974], S. 496 [499]); der dortigen Kritik zust. u. a.: Höffe, Politische Gerechtigkeit (1987), S. 102 ff.; Hoerster, Zum Problem der Ableitung eines Sollens aus dem Sein in der analytischen Philosophie, ARSP 40 (1969), 11 ff.; Klug, Die Reine Rechtslehre von Hans Kelsen und die formallogische Rechtfertigung der Kritik an dem Pseudoschluß vom Sein auf das Sollen, in: Engel/Métall, Law, State and International Legal Order (1964), S. 154 ff.; Lippold, Reine Rechtslehre und Strafrechtsdoktrin (1989), S. 45 ff.; George Edward Moore (1903), in: Bayertz, Evolution und Ethik (1993), S. 81 ff.; Opalek/Wolenski, ARSP 73 (1987), 373 ff.; Patzig, in: Daeke/Bresch, Gut und Böse in der Evolution (1995), S. 85 ff.; Radbruch, Rechtsphilosophie5 (1956), S. 99; Stratenwerth, Leitprinzipien der Strafrechtsreform (1970), S. 21 f.; Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrecht usw. (2000), S. 239; v. Wright, in: Bulygin/Gardies/Niiniluoto, Man, Law and Modern Forms of Life (1985), S. 263 ff.– Abl. (aber nicht durchschlagend): MacIntyre, Der Verlust der Tugend (1995), S. 75 ff.; Searle, How to Derive „Ought“ from „Is“, Philosophical Review, 73 (1964), 43 ff. 18 Stratenwerth, in: H./v. H./W., Die Rechtsgutstheorie (2003), S. 255, 257; ders., in: v. Hirsch/Seelmann/Wohlers (Hrsg.), Mediating Principles (2006), S. 157 ff.; Stratenwerth/ Kuhlen, AT6 (2011), § 2 Rn. 5 (8): jede menschliche Gruppe brauche „kulturell geprägte Verhaltensnormen …, bei denen es nicht um … ,Güter‘ geht.“ – Gegen ihn Roxin, AT I4 (2006), § 2 Rn. 117 ff. (aus dem Lager der „Rechtsguts“-Befürworter), aber auch Wohlers, in: H./v. H./W., Die Rechtsgutstheorie (2003), S. 284 (aus dem Lager der „Rechtsgut“-Skeptiker). – Auf den von Stratenwerth, ZStW 105 (1993), 679 (692), schon früher verfolgten Gedanken, das Strafrecht müsse auch „zukunftsbezogene Verhaltensnormen“ erfassen – ohne einen „Rückbezug auf individuelle Interessen“, wird im Folgenden nur en passant eingegangen werden können. 19 Sie steht, normativ betrachtet, nicht einmal mehr der Mutter aller Parlamente, dem britischen Unterhaus zu Gebote (trotz des Verfassungsaxiom: „Parliament alone ,makes the laws of the land‘“), das sich immer wieder in die Fesseln der EMRK geschlagen sieht. Vgl. aber auch die Parlamentsentschließung, entgegen mehreren EGMR-Judikaten Strafgefangenen kein Wahlrecht zu konzedieren, und dazu die erhellende Titelzeile der Daily Mail v. 11. 2. 2011: James Chapman, „Day we stood up to Europe“ (http://www.dailymail.co.uk/news/arti cle-1355640/Prisoners-vote-MPs-reject-European-courts-ruling.html). Vgl. EGMR – Hirst/GB U. v. 24. 7. 2001 Nr. 40787/98; – Blackstock/GB U. v. 21. 6. 2005 Nr. 59512/00; – Hirst/GB (Nr. 2) U. v. 30. 5. 2004 Nr. 74025/01 (= MR Newsletter 2004, 73 = ÖJZ 2005, 195) – und die 17
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schlichte Ungehörigkeiten, Verstöße gegen Verkehrsregeln etc. mit Kriminalstrafe zu überziehen, außer daß dies wegen des zu treibenden Verfolgungsaufwandes umständlich, wegen der Vielzahl der Vorbestraften unpraktisch oder – wohlmöglich – der überbelegten Gefängnisse wegen zu teuer wäre.20 cc) Andere halten grundsätzlich – mit unterschiedlicher Deutung – an der Sinnhaftigkeit des Kriteriums „Rechtsgut“ als Voraussetzung für eine etwaige Verstraftatbestandlichung fest und entnehmen dem Topos ein systemkritisches Potential,21 bzw. verlangen (funktional äquivalent, aber mit einer vernunftphilosophischen Grundierung) eine Rechtsverhältnis-Verletzung.22 Aus dieser Axiomatik werden freilich auch recht unterschiedliche Schlüsse gezogen, was hier aber z. T. vernachlässigt bleiben muß. dd) Schließlich gibt es eine neuere Strömung, die zwar von der vorstehenden Variante cc) ausgeht, aber auch Straftatbestände anerkennt, die kein „Rechtsgut“ schützen, freilich mit der Einschränkung, dies nur in eng begrenzten Fällen zulassen zu wollen.23 Resolution des Ministerrates – Hirst a. Blackstock/GB R. v. 15. 9. 2010 Nr. 40787/98 u. 59512/ 00. 20 Selbst die ökonomistische Idee, mit den Strafgeldern die notorisch klammen Staatskassen aufzufüllen, bliebe problematisch, da dies auch mittels des OWi-Rechtes ginge, aber zusätzliche erhebliche Personalkosten verursachte, – und in der Zielerreichung vielleicht sogar vergeblich wäre, – wegen der strafprozessualen Schutzbarrieren. – Krit. gegenüber dem Rechtsguts-Ansatz aber auch: Naucke, Strafrecht10 (2002), § 6 Rn. 67 ff.; ähnl. wie Jakobs, AT2, 2/10 ff., 24 f.; zust. insoweit Lagodny, Strafrecht (1996), S. 155 f. Naucke differenziert aber immerhin bei der Ausdeutung des Straftatbestandes zwischen einem Unrechts-Verständnis als Willens- und einem solchen der Freiheitsvergewaltigung und als sozialschädlich, etwa Strafrecht10 (2002), § 6 Rn. 65. 21 Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973) (vgl. zur Kritik etwa Amelung, ZStW 87 [1975], 132 ff.) und Hassemer, in: NK1, Vor § 1 Rn. 243 ff., 291 ff. [vgl. aber jetzt Hassemer/Neumann, in: NK4 (2013) Vor § 1 Rn. 108 ff.]); Hassemer, in: Hefendehl/ v. Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie (2003), S. 57 ff.: Straftatbestände, die keinen speziellen Rechtsgüterschutz zum Gegenstand haben, seien illegitim; Marx, Zur Definition des Begriffs „Rechtsgut“ (1972); Roxin, AT I4 (2006), § 2 Rn. 12, 92 ff.; Rudolphi in: Rudolphi u. a. (Hrsg.), SK6 (26. Lfg. Juni 1997), Vor § 1 Rn. 2 ff.; Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder28 (2010), vor § 13 Rn. 9 f. – In der Sache schreibt diese Sicht in Teilen den Gedanken v. Liszts fort, Zweck allen Strafrechts sei nur der Schutz menschlicher Lebensinteressen, v. Liszt, Lb.21/22 (1919), S. 4; ders., ZStW 6 (1986), 663 ff.; ders., ZStW 6 (1986), 133 f., allerdings mit der problematischen (und hier thematischen) Konnotation, daß jene Güter des Menschen vom Recht vorgefunden würden. In der Sache ähnl.: Rudolphi, in: SK, StGB, vor § 1, Rn. 3; ders., Honig-FS (1970), S. 151 (158). Vgl. zu den Sittlichkeitsdelikten speziell: Jäger, Strafgesetzgebung und Rechtsgüterschutz bei Sittlichkeitsdelikten (1957), S. 83 ff. 22 E. A. Wolff, in: Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik/Bedingungen der Strafrechtsreform (1987), S. 137 ff.; ders., ZStW 97 (1985), 786; Köhler, AT (1997), S. 22 ff.; Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 194 ff. 23 Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter (2002), S. 52 ff.; ders., GA 2007, 1 (6 ff.); in gewissem Umfang auch Hörnle, in: H./v. H./W., Die Rechtsgutstheorie (2003), S. 268 (277 ff.); dies., Verhalten (2006), S. 87 ff., 340 ff. und passim; Wohlers, Deliktstypen (2000), S. 305 ff.
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ee) Hier soll ein gleichfalls partiell vermittelnder,24 z. T. aber anders akzentuierender Standpunkt eingenommen werden: „Rechtsgüter“ sind gesellschaftlich positiv bewertete Gegebenheiten in der Person des und im Verhältnis zwischen den Menschen, die zu schützen der Gesetzgeber für so wichtig hält, daß er sie mittels des Strafrecht gewährleisten will (materiale Dimension des „Rechtsguts“-Begriffs). Der Gesetzgeber ist aber nicht völlig frei, derartige Normen zu erlassen.25 Er bleibt nicht nur eingebunden in die Vorgaben der Verfassung – und der dortigen Idee von Recht, – er ist – in Grenzen – auch eingebunden in eine von ihm einmal eingeschlagene Konzeption (Dogmatik) des Argumentierens. Systemische Binnenrationaliät ist also eine wesentliche Voraussetzung für die Anerkennung als „Rechtsgut“, eine formal-materielle Zusatzbedingung: Neben ihrer Rückgründbarkeit in den Verfassungsrahmen ist ihre Einpassungstauglichkeit in das bisherige methodologische Gesamt zu verlangen.26 ff) Mir will darüber hinaus scheinen, daß der Gesetzgeber noch einer weiteren Bindung unterliegt. Es gibt eine materiale Struktur, der er modellhaft, jedenfalls im Ideal, genügen muß. Dazu hat uns die deutsche Aufklärungsphilosophie bahnbrechende Gedanken an die Hand gegeben.27 Zentral für das, was bei der Beurteilung als (strafwürdige) Rechts-Beeinträchtigung herangezogen werden muß, bleibt dabei die materialisierende Komponente, die namentlich funktionalistische Sichtweisen ausblendet: Die Autonomie des einzelnen besteht in der ursprünglichen Beziehung zum anderen Menschen, in einem wechselseitigen Anerkennungsverhältnis. Diese ist auch eine Rechtsbeziehung und erzeugt, durch die Verantwortlichkeit des je einzelnen für 24
Wie oben bereits (vor aa)) angedeutet. Vgl. Badura, Prot. Strafrechts-Sonderausschuß VI. WP (1970), S. 1091 ff.; Sax, JZ 1976, 9 (10 f.). 26 Deswegen ist die apologetische Sicht von Kubiciel, ZIS 2012, 282 (283/4 Fn 19), es gebe für den Rechtsguts-Gedanken einen – legitimen – innersystematischen und einen nicht legitimierbaren systemkritischen Rechtsgutsbegriff mehr als verkürzend. 27 Vgl. zum einen Kant, Kritik der reinen Vernunft B (2. Aufl.), S. 472 ff./A (1. Aufl.), S. 444 ff., indem er die Autonomie (Freiheit) des je einzelnen als Entität des menschlichen Daseins aufgezeigt hat, die sich folglich auch in der Begründung von Recht wiederfindet, und von Fichte, Grundlage des Naturrechts, § 3, III/39 ff. (Lauth/Jacob [Hrsg.] Akademie Ausgabe I/3 [1796/1966], S. 347 ff.), indem dieser zeigte, daß sich jene Autonomie als Bewußtsein der Person von sich selbst und sich selbst Setzenden nur vorstellen lasse, indem dem einen jeweils andere vernünftige Wesen (Personen) gegenüberstünden, die sich gleichfalls als autonom verstünden. Durch diese Beziehung wechselseitiger Anerkennung wird auch ein Rechtsverhältnis begründet („Das endliche Vernunftwesen kann sich nicht noch andere endliche Vernunftwesen außer sich annehmen, ohne sich zu setzen, als stehend mit denselben in einem bestimmten Verhältnisse, welche man das Rechtsverhältnis nennt“, S. 41). Vgl. zu den Strukturfragen ausführl. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit (1982), S. 169 ff.; Zaczyk, Unrecht (1989), S. 128 ff. – Das Zusammenleben derjenigen, die sich in Freiheit verwirklichen wollen, ohne den je anderen in dem nämlichen Wunsch und Verhalten zu behindern, bedarf des Staates (der rechtlich verfaßten Gemeinschaft), vgl. Kant, Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, § 44 A (1. Aufl.), S. 163, 164 u. B (2. Aufl.), S. 193, 194 (Weischedel Bd. 7, S. 430). 25
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sein jeweiliges Verhalten, eine (Mit-)Verantwortlichkeit für das soziale Geschehen, die sozialen Strukturen und letztlich den Staat. Die letzteren untergliedern sich in Teilbereiche konkreter Freiheit, die von den einzelnen – eben i. R. d. Anerkennungsverhältnisses – begründet werden. Durch den Staat werden diese Elemente dann erst zu „Rechtsgütern“. Denn der Staat transformiert jene Anerkennungsverhältnisse in rechtlich strukturierte (verfaßte) und durch die Gemeinschaft garantierte Gleicheitsund Friedensverhältnisse. Ihre Bezugspunkte sind der je andere (unmittelbar) als Person, die (bürgerliche) Gesellschaft und schließlich der Staat. Alle diese Bezugs-Ebenen fließen folglich aus der Autonomie des einzelnen als Folge von dessen tatsächlichem Verhalten. Gerade deshalb, weil man sie als Ausfluß seines Selbstbewußtseins deuten kann (und muß), besteht zwischen Rechtsgütern28 und dem Verhalten der Bürger ein wechselseitiges Konstitutionsverhältnis, – ist umgekehrt ein solches aber auch erforderlich.29 Modellhaft ist strafwürdiges Unrecht das schwerwiegende Verletzen des Rechtsverhältnisses, welch letzteres aus der menschlichen Existenz jeweils als eines Vernunftwesens resultiert und für dessen Dasein als ein Vernunftwesen notwendig ist.30 Jenes Unrecht verneint – damit – zugleich die allgemeine Geltung des Rechts, jedenfalls für den Akteur. Die Einschränkung (bis zur Vernichtung) der konkreten Freiheit des einen durch das Verhalten des anderen Menschen vergewaltigt die Garantieposition von jenem (und dessen Vertrauen in die Unverbrüchlichkeit von Recht),31 erweitert faktisch die Freiheitssphäre des Norm-Ignorierenden. Infolgedessen bedarf es der staatlichen Wiederherstellung „des Rechts als Recht“,32 28 …, die, soweit es um Individualgüter geht, als Daseinselemente der Freiheit zu verstehen sind, die in einem Prozeß entstehen, der aus wechselseitiger Anerkennung als Person – mit deren Lebensrealia (einschließlich Freiheit und Eigentum; zu letzterem Kant, Metaphysik der Sitten A/B S. 55 ff. [Weischedel Bd. 7, S. 353 ff.]) – entstehen; Zaczyk, Unrecht (1989), S. 165 ff. 29 Vgl. dazu E. A. Wolff, in: Hassemer, Strafrechtspolitik (1987), S. 137 (154 ff., 182 ff. und passim); Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre Fichtes (1981), S. 63 ff., 93 ff.; ders., Unrecht (1989), S. 47, 128 ff. (181 ff.) und passim. 30 In gewisser Weise steht in Parallele zu dem je anderen auch die Gesellschaft und der Staat – und deren/dessen Rechtsgüter; dazu sogleich. 31 Und bezieht zugleich die Möglichkeit ein, das jeweilige Handlungsunrecht mit in die Beurteilung des strafrechtlichen Unrechts dadurch ein, daß man die Art jener Freiheitsbeschneidung und die sich darin äußernden Überhebung über den an sich normativ Gleichen als graduierbare Form der Verletzung des Anerkennungsverhältnisses einstuft. Den Mangel an Berücksichtigung verschiedenartigen Handlungsunrechts rügt Naucke, Strafrecht10 (2002), § 6 Rn. 68 ff. (etwa unter Rekurs auf die Mordmerkmale), daher an der hier vertretenen Position m. E. zu Unrecht. 32 Als „Verletzung des Rechts als Recht“ bezeichnet Hegel das „Verbrechen“, Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Moldenhauer/Michel (Hrsg.) Werkausgabe Suhrkamp Bd. 7 [1975]), § 95 (S. 181), § 97 (S. 185). Vgl. dazu u. a. Seelmann, ARSP 79 (1983), S. 228 ff.; vgl. auch Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 26 ff. – Immerhin hatte Feuerbach mit seiner Konzeption, für Strafrechts-Normen dürften nur die Verletzung der Subjektivität der Rechtsperson zum Gegenstand haben, der hier geteilten Sicht den Weg gewiesen (Feuerbach, Anti-Hobbes [1797], S. 9 ff.; vgl. auch ders., Lb14 [1847]§ 22, § 33), was dann durch Birnbaum alsbald verdunkelt wurde; zu diesem jetzt noch einmal Wohlers, GA 2012, 600 ff.
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weil der einzelne i. d. R. zu schwach ist, jenen Status quo ante im Geltungsstand des Rechts selbst wiederherzustellen. Soweit es um Rechtsgüter der Gesellschaft und des Staates geht, liegt dem das nämliche Modell zugrunde, nur daß sich das Anerkennungsverhältnis auf eine Vielheit von Personen erweitert und damit auch eine eigene (zusätzliche) Dimension bekommt: Innerhalb der Gesellschaft finden sich zahlreiche Interaktionsbeziehungen zwischen Personen, die sich vom einzelnen in gewissem Umfang lösen, aber letztlich, weil sie zu seiner Fortexistenz notwendig sind, seiner Anerkennung in einem abstrakteren, mediatisierten Sinne bedürfen, und gleichzeitig stets auch noch eine Selbstkonstitution des einzelnen enthalten. Ihre Schutzwürdigkeit verlangt eine grundsätzliche Anerkennung im Bewußtsein des einzelnen als vernünftig.33 Dieser Anerkennung bedarf es auf der nächsten Abstraktionsstufe nur in einem mediatisierten Sinn, daß die je einzelnen das Allgemeine wollen. Damit löst sich diese Anerkennungsebene von individuellen Fehlvorstellungen und dem Unterschreiten des für vernünftig zu Haltenden. Dadurch, daß sich die „Vernünftigen“ zusammentun und gemäß der Maxime des kategorischen Imperativs sich – zunächst nur subjektiv – selbst bestimmen, verobjektivieren sich diese Anerkennungsverhältnisse im Staat durch das Denkmodell des Gesellschaftsvertrages:34 Darunter ist ein „ständig sich neu vollziehender und bestätigender Wille aller“ zu verstehen, diese konkrete Ordnung anzuerkennen.35 Andererseits garantiert erst diese Ebene des Staates „allgemeine Freiheit“, wozu der einzelne und selbst eine größere Zahl von einzelnen nie imstande wären.36 Erst im Recht wird das Allgemeine zu bestimmten und zu bestimmenden Lebenskonkreta – als Vorhandensein von Freiheit auf der Stufe ihrer Allgemeinheit. Oder kurz: „Konstitution des Rechts als Dasein der Freiheit auf der Stufe der Allgemeinheit“ i. R. v. wechselseitigen Anerkennungsverhältnissen.37 Das Strafrecht knüpft an den Zustand an, den Zivil- und Öffentliches Recht vorstrukturiert haben, und richtet sich gegen massive Beeinträchtigungen von allgemein (gemeinschaftlich) anerkannter Freiheit und damit individueller Selbständigkeit.38 Mit der Intensität des solchermaßen charakterisierten Unrechts korrespondiert die Intensität der Sanktionsschärfe. 33
Sie ist lediglich gelöst von einem unmittelbaren Gegenüber – und hochgehoben auf eine Wechselbeziehung einer Vielheit. Aber es bleibt eine Begründungsleistung, die immer noch eine Selbstkonstitution enthält. 34 Also selbstredend nicht als empirisch-historisch aufzeigbares Phänomen, vgl. schon Kant, Metaphysik § 52, A 210/B 240 (Weischedel Bd. 7, S. 462). 35 Zaczyk, Unrecht (1989), S. 184. 36 Fichte, Naturrecht, § 17 (Lauth/Jacob [Hrsg.] Akademie Ausgabe I/3 [1796/1966], S. 191 ff., 201 ff.); Kant, Metaphysik § 45, A 165 /B 195 (Weischedel Bd. 7, S. 431 f.), wo dieser die Gewaltenteilung in Analogie zum „praktischen Vernunftschluß“ ableitet (dazu auch E. A. Wolff, in: Hassemer [Hrsg.], Strafrechtspolitik [1987], S. 137 [208]); Hegel, Grundlinien, Bd. 7 [Fn. 31], S. 406 ff.), §§ 260 f. Vgl. insoweit auch dezidiert: Zaczyk, Unrecht (1989), S. 181 ff. 37 Zaczyk, Unrecht (1989), S. 130 ff.; ähnlich M. Köhler, in: K. Schmidt, Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung? (1994) S. 61 (65 ff.). 38 Hegel, Grundlinien, Bd. 7 (Fn. 31), §§ 85, 95 ff. (S. 174, 181 ff.), Köhler, AT (1997), S. 33. Vgl. auch Zaczyk, Unrecht (1989), S. 186 ff.
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Als Folge dieser Einsichten sollte an jenem materiellen Indikator für die Verletzung von Anerkennungsverhältnissen, dem Erfordernis der Sozialschädlichkeit, unbedingt festgehalten werden. Aber selbst wenn man jener vorstehend skizzierten – wahrhaft materialen, und eben nicht metaphysischen Rechtfertigung von Rechtsbindung – und dann im Speziellen auch Befugnis zur Statuierung von Strafnormen – nicht folgen wollte, ließe der vorbenannten Aspekt (sub f)) noch soviel an Bindung zurück, daß er einen Rationalitätsgewinn verspräche, würde er nur regelmäßig und durchgängig beachtet.39 gg) Ein Einwand gegen jene Zusatzbedingung (sub ee)) liegt freilich nahe, sofern man sich nicht doch zu einer Sicht, wie sub ff) skizziert, bekennen mag: Dogmatik sei ein Kunstgebilde der Wissenschaft und Praxis, mit der lediglich die Normen handhabbar gemacht würden, und daher durch v. Kirchmanns gern zitierten „Federstrich des Gesetzgebers“ leicht zur Makulatur gemacht! Doch erscheint das nur insoweit richtig, als der Gesetzgeber selbstverständlich Kernbausteine der bisher anerkannten Dogmatik entfernen oder neue einfügen könnte.40 Er täte dies aber eben nicht im „luftleeren“ Raum, gleichsam wie ein Künstler, der sich vor und während des Schöpfungsaktes immer noch überlegen kann, ob er gegenständlich oder abstrakt, avantgardistisch oder akademisch vorgeht. Er kreiert die Norm in ein Gesamt von Vorhandenem hinein, wozu auch eine gewisse Selbstbindung41 durch eigenes Vorverhalten gehört.42 Er könnte eben – wegen der Ratio39 Darin zeigt sich letztlich – und damit wird der Weg doch wieder zurück zur grundlegenden Konzeption geschlagen –, daß der Staat partikuläre Interessen und „Allgemeinheit“ im vorerwähnten Sinne zu scheiden vermag. Natürlich hat der Staat die tatsächliche Macht, zunächst einmal für seine intendierten wie seine gesetzten Regelungen „Allgemeinheit“ zu behaupten. Aber parlamentarischer Entscheidungsprozeß, (verfassungs-)gerichtliche Kontrolle und Fach- und allgemeine Öffentlichkeit bieten eine Chance dazu, daß à la longue doch nur wirklich Rechtsgüterschutz verfolgende Tatbestände übrigbleiben. Doch setzt dieser Optimismus voraus, daß irgendwann einmal jene „Verbrechensbekämpfungs-“ (d. h. Kreuzzugs-) Mentalität der rechtspolitisch herrschenden „Klasse“ auch wieder ein Ende findet. 40 Exemplarisch: Er könnte die unbewußte Fahrlässigkeit oder den untauglichen Versuch aus der Strafbarkeit herausnehmen – oder den Vorsatz anders als die heute h.M. definieren. Er könnte, aber wohl nur in Grenzen, die Strafmündigkeit herabsetzen. Ob er sie freilich auf die in England traditionellen 10 Jahre herabsenken dürfte (vgl. dazu Crofts, ZStW 111 [1999], 728 ff.), erscheint vor dem Hintergrund des kontinentalen (deutschen) Verständnisses von Schuld und Schuldfähigkeit schon wieder zweifelhaft. – Wahrscheinl. a.A.: Appel, Verfassung (1998), S. 518 ff. 41 So stünde es nach der hier in Zweifel gezogenen Ansicht von der „plena potestas“ dem Gesetzgeber ebenso frei, nicht nur neue Rechtsgüter zu schaffen, sondern auch die Haftungsregeln beliebig auszuweiten oder einzuschränken, etwa eine Strict-liability-Haftung einzuführen i. S. v. Morissette vs. United States, 342 U.S. 246, 72 S.Ct. 240, 96 L.Ed. 288 (1952) (dort freilich beschränkt auf Delikte, die das gesellschaftliche Leben gefährden) – oder, als ein anderes Beispiel: Unrechtspräsumtionen, die der Gesetzgeber lange Zeit im Gesetz mitgeschleift hat, etwa bei § 259 a.F. StGB, zu reaktivieren. – Beides ginge m. E. jedoch nicht, bzw. nicht ohne daß das BVerfG zum Schuldgrundsatz seine bisherige Judikatur (etwa: BVerfGE 6, 389 [439] [= NJW 1957, 865]; 20, 323 [331] [= NJW 1967, 195]) über den Haufen würfe (etwa: BVerfGE 95, 96 [141] [= NJW 1997, 929 (932)]).
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nalitäts-Bedingung – nicht alles umstürzen und neu anordnen, etwa Fahrlässigkeit dem Vorsatz gleichsetzen oder gar schärfer bestrafen. Eine radikale Ausweitung von abstrakten Gefährdungsdelikten mit beträchtlichen Strafrahmen verböte sich aus dem nämlichen Grund der mangelnden System-Adäquität/-Rationalität;43 eine behutsame Ergänzung derartiger Tatbestands-Typen mit moderatem Strafmaß44 (bei intersubjektiv plausibel gemachter Chance, ein, im obigen Sinne legitimierbares, „Rechtsgut“ zu schützen45) erscheint hingegen jederzeit möglich. Diese Selbstbindung ist freilich nur dadurch eine „Bindung“, weil – und soweit – über das gesetzgeberische Agieren potentiell das BVerfG wacht.46 Die Wiedereinführung der Strafbarkeit von homosexuellen Akten zwischen erwachsenen Männern wäre, nach der hier abgelehnten Sicht, ohne weiteres möglich, wenn sich dafür nur eine Mehrheit im Parlament fände. Genau das erscheint mir – material – zweifelhaft, und zwar unabhängig von der Breite der allfälligen parlamentarischen Zustimmung47 oder auch von der in der Bevölkerung.48 Die Einsichten in die Existenz 42 So könnte er zwar die derzeitigen Strafrahmen-Stufen: 12, 1, 2, 3, 5, 10 und 15 Jahre Freiheitsentzug, erweitern, dürfte es aber aus Gründen innersystemischer Stringenz nicht punktuell tun, sondern müßte bei dieser neuen System-Ausdifferenzierung das Gesamt der Straftatbestände durchmustern, – wenn er denn mit Anspruch auf Binnenrationalität handeln wollte. Dies ist aber, entgegen den Ausführungen des Inzest-Beschlusses nicht in das Belieben des Gesetzgebers gestellt, sondern folgt aus dem, was das BVerfG auch einmal selbst postuliert hat, daß zwischen Rechtsvoraussetzungs- und Rechtsfolgenseite eine plausibilisierbare Beziehung bestehen muß, BVerfGE 45, 187 (228). Damals hatte es noch „höchste Anforderungen an die Gerechtigkeit“ gefordert, die in der Relation Tat/Strafe geboten seien. Alles andere wäre Willkür! So hatten einmal die Dissenter im ersten Abtreibungsurteil – sehr zu recht – ausdrücklich betont, daß die Entscheidung dafür, daß bestraft werden soll, der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedürfe (Rupp-v. Brünneck und Simon, BVerfGE 39, 1, 68 ff. [74]). – Ebensowenig könnte der Gesetzgeber jetzt auf einmal das zeitige Strafmaß auf 30 oder auch nur 20 Jahre heraufsetzen, ohne seine eigenen Prämissen zu verletzen (und die des BVerfG, BVerfGE 45, 187 ff. [= NJW 1977, 1525]; 72, 105 ff. [= NJW 1986, 2241]; 86, 288 ff. [= JZ 1992, 1188]; vgl. dazu auch Bock/Mährlein, ZRP 1997, 376 ff.). 43 Weswegen die neuen Tatbestände der §§ 89a, b, 91 StGB (als Strafnormen) schlechterdings verfehlt – und m. E. (z. T.) verfassungswidrig sind, vgl. Paeffgen, in: NK4 (2013), § 89a Rn. 1 ff., § 89b Rn. 3, § 91 Rn. 5. 44 Tendenziell ähnl: Kindhäuser, Gefährdung als Straftat (1989), S. 343 f. 45 Gerade in diesem Punkt liegen, wie sogleich sich noch zeigen wird, materielle und methodische Schwierigkeiten, vgl. u., bei Fn. 80 ff. 46 Wenn es das denn auch materiell, und nicht nur formal täte, wie es in dem nachfolgend angesprochenen Inzest-Beschluß m. E. leider nur der Fall ist. 47 Gleichwohl sympathisiere ich – aus Gründen einer Art „Legitimation durch Verfahren“ (Luhmann, Legitimation durch Verfahren [1969; 6 2001]) – mit dem Vorschlag Schünemanns, daß für die Neuschaffung von Tatbeständen eine 2/3-Mehrheit im Parlament erforderlich sein sollte, um dem Bestrafungswahn von knappen Mehrheiten einen systemischen Riegel vorzuschieben. (Das müßte naheliegenderweise nicht gelten, wenn es um die Reduktion oder Abschaffung von Tatbeständen ginge.). 48 So wird man die – namentlich nach scheußlichen Verbrechen – immer wieder aufflammende verbreitete Zustimmung zur Wiedereinführung der Todesstrafe als durch Art. 1 I GG auch für den verfassungsändernden Gesetzgeber ausgeschlossen ansehen dürfen, vgl. BVerf-
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von abweichendem Verhalten, die zu einer Umbewertung der strafrechtlichen Bedeutung im 1. StrRRefG49 geführt hatten, sind bisher nicht widerlegt. Eine Parlaments-Mehrheit dürfte aus diesem Grund nicht, fundamentalistischen oder neo-konservativen Geisteshaltungen frönend, deren erneute Vertatbestandlichung promulgieren. b) In Wirklichkeit steht also hinter der Breviloquenz des Schlagwortes „Rechtsgut“ nicht nur die Tatsache, daß das berufene Organ Gesetzgeber im gehörigen Verfahren (verfassungs-formale Komponente) durch Schaffung eines Straftatbestandes50 zu erkennen gegeben hat, daß es die Verhaltenschance/soziale Interaktion/ menschliche Gegebenheit, gegen die sich die Verbotsmaterie richtet, für schützenswert und also für einen Wert (ein Gut) des Rechts hält ([verfassungs-]materiale Komponente). Vielmehr steht es für den gesamten – komplexen – Vorgang aus Argumentationslast, einem deren Anforderungen genügenden Plausibilisieren, in was die Sozialschädlichkeit des zu inkriminierenden Verhaltens besteht und warum es zu ihrer Unterbindung der staatlichen Intervention gerade qua Straftatbestand bedarf (systemische Rationalitäts-Komponente).51 Dieser Diskurs ist ein – bedingt – doppelter52: zum einen derjenige im Parlament, zum anderen – ggf. (unter der Voraussetzung einer Verfassungsbeschwerde oder einer abstrakten oder konkreten Normenkontrolle) – mit dem BVerfG.53 GE 18, 112 (116) (= NJW 1964, 1783); Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I6 (2010) Art. 102 Rn. 32 f.; Kunig, in: v.Münch/Kunig GG-I6 (2012), Art. 102 Rn. 18; Sax, in: Bettermann/ Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte III/2 (1959), S. 909 (963); Scholz, in: Maunz/Dürig (63. Lfg., 2011), Art. 102 Rn. 31 (mit Rücktrittsvorbehalt bei Fn. 21); Tettinger, JZ 1978, 128 (132). Relativierend: Geck, in: BK (Zweitbearbeitung, 1967), Art. 102 Anm. II 2; Herzog, Todesstrafe, in: Evangelisches Staatslexikon3 (1975), Sp. 3614 f.; Degenhart, in: Sachs, GG6 (2011), Art. 102 Rn. 12. 49 Erstes Gesetz zur Reform des Strafrechts (1. StrRG), v. 25. 6. 1969 (BGBl. I S. 645), in Kraft getreten am 1. 9. 1969, z. T. am 1. 4. 1970. 50 Dabei wird hier nur über das strafrechtliche Rechtsgut gehandelt. Selbstverständlich gibt es in anderen Rechtsgebieten auch „Rechtsgüter“, die der Gesetzgeber dadurch ausgezeichnet hat, daß er ihnen einen besonderen rechtlichen Schutz hat angedeihen lassen; exemplarisch: den Besitz i. S. d. § 854 BGB, dessen berechtigter Inhaber sich der Befugnis zur Besitzwehr und Besitzkehr erfreut, § 859 I, II BGB. Die Frage, welches Rechtsgut der Gesetzgeber mit welcher Schutzbarriere ausstattet, ist ein weiterer, hier immer nur am Rande berührter Aspekt der „Guts“-Prädikatisierung. 51 Deswegen erscheint mir das Axiom von Rudolphi nach wie vor beherzigenswert: „Berechtigt ist eine Strafnorm nur dann, wenn sie zur Wahrung der Lebensbedingungen einer auf der Freiheit der Person aufbauenden Gesellschaft notwendig und damit für jedermann als vernünftig einsehbar ist.“, Rudolphi, Honig-FS (1970), S. 151 (159). Wenn Amelung, Rechtsgüterschutz (1978), S. 192 und passim, dagegen auf einen soziologischen Ansatz rekurriert, der sich an den Organisationsprobleme im menschlichen Zusammenleben orientiert (S. 192 Fn. 87), so gefällt das dem Öffentlichrechtler, läßt aber den Parlamentarier und dem sonstigen, nach Sach- und Methodengerechtigkeit Suchenden orientierungslos. 52 Das ist idealtypisch formuliert. In der Lebenswirklichkeit kann sich der Diskurs öfter wiederholen, was die wiederholte Befassung des BVerfG mit den diversen Anläufen zu einer Abtreibungs-Vertatbestandlichung belegen mag.
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Allerdings hatte ich schon anderweitig formuliert54 : „Wenn man aber in einer Zeit der endgültigen Gewissheitsverluste die Argumentation nicht (mehr) auf vorfindbare Güter stützen kann, bleibt die Festlegung dessen, was bei Strafe zu verhinderndes Verhalten ist, weitgehend eine gesetzgeberische Dezision. Sie wird gemildert dadurch, dass der Gesetzgeber die Entscheidung in dem Bewusstsein fällen muss, sie könnte auf den Prüfstand des BVerfG gelangen. Deswegen bedarf die Positivierung des Rekurses auf das verfassungsrechtlich Zulässige und Vertretbare und hierzu eines gewissen Maßes an intersubjektiv vermittelbarer Notwendigkeit, dass die Norm einen bei Strafe zu schützenden Verhaltens-Befehl aussprechen müsse. – Als – ernüchterndes – Fazit bleibt deshalb, dass die Statuierung eines derartigen Urteils, ein Verhalten sei zum einen sozial-dysfunktional und dies in einem besonders schwer erträglichen Maße, und gerade deswegen bei (Kriminal-) Strafe als nicht-sein-sollend zu vertatbestandlichen, weitestgehend von der politischen Einschätzung des Gesetzgebers abhängt. Materiell strafrechtswidrig ist, was der Gesetzgeber dafür hält und was folglich – ganz formal – daran zu erkennen ist, dass es mit einer strafrechtlichen Sanktion i. S. d. §§ 38 ff. bewehrt ist (vorbehaltlich der verfassungsgerichtlichen Nachschau, ob er es auch – verfassungsrechtlich – für materiell strafrechtswidrig halten durfte). Daher kann es nicht verwundern, dass das BVerfG in seiner neuen Inzest-Entscheidung die Rechtsgutslehre – wie es Hassemer in seiner abweichenden Meinung ausdrückt – ,nur mit spitzen Fingern‘ anfasste und ihr ausdrücklich eine verfassungsrechtliche Fundierung verweigerte,55 wobei anzumerken ist, dass es auch zuvor diese Lehre nicht wirklich rezipiert und sich vielmehr auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz focussiert hat“.56 53 Der Diskurs in und mit der Wissenschaft bleibt hier ausgeblendet. Er findet allenfalls auf der Ebene von Tagungen statt, wo man aber zumeist munter an einander vorbeiredet. Das BVerfG nimmt Literaturstimmen nur sehr selektiv wahr, andere Obergerichte eher noch weniger. – Der Gesetzgeber behandelt Stellungnahmen aus der Wissenschaft nur als Feigenblatt, das, i. R. v. sog. Sachverständigen-Anhörungen, vor die Blöße weitgehenden Desinteresses gebunden wird, was sich daran zeigt, daß sie meist dann erst stattfinden, wenn im Ministerium und den Regierungsparteien die „Pakete schon geschnürt“ sind. – Das ist anderes, wenn es um wirtschaftlich belangreiche Fragen geht: Dann läßt man gerne die betroffenen Verbände das Gesetz selbst formulieren (vgl. BT-Drs. 16/3395 v. 13. 11. 2006, http://dipbt.bundestag.de/ dip21/btd/16/033/1603395.pdf) oder leiht sich Lohnschreiber aus einschlägig versierten Kanzleien aus (vgl. etwa, befürwortend, Rainer Hank, FAZ v. 15. 8. 2009 [http://www.faz.net/ aktuell/wirtschaft/pro-die-gesetze-macht-das-parlament-11190808.html]). 54 Paeffgen, in: NK3 (2010), vor § 32 Rn. 12. 55 Siehe BVerfGE 120, 224 (241 ff.) (= NJW 2008, 1137 [1138 Rn. 39] [m. krit. Bespr. Hörnle, NJW 2008, 2085 ff.]; [m. abl. Bespr. Zabel, JR 2008, 453 ff.] = NStZ 2008, 614 [m. krit. Anm. Ziethen, NStZ 2008, 617 f.]) (Inzest): „Das BVerfG hat lediglich darüber zu wachen, dass die Strafvorschrift materiell in Einklang mit den Bestimmungen der Verfassung steht und den ungeschriebenen Verfassungsgrundsätzen sowie Grundentscheidungen des Grundgesetzes entspricht (…). Strafnormen unterliegen von Verfassungs wegen keinen darüber hinausgehenden, strengeren Anforderungen hinsichtlich der mit ihnen verfolgten Zwecke. Insbesondere lassen sich solche nicht aus der strafrechtlichen Rechtsgutslehre ableiten. (…) Diese Befugnis, eine Auswahl der strafrechtlich zu schützenden Güter zu treffen, kann nicht unter Berufung auf angeblich vorfindliche oder durch Instanzen jenseits des Gesetzgebers ,anerkannte‘ Rechtsgüter eingeengt werden. Sie findet ihre Grenze vielmehr – auf dem Gebiet des Strafrechts wie anderswo – nur in der Verfassung selbst, wenn und soweit diese die Verfolgung eines bestimmten Zwecks von vornherein ausschließt. Welchen Beitrag das Konzept des Rechtsgüterschutzes für die Rechtspolitik und für die Dogmatik des Strafrechts
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Über diese – zugegebenermaßen etwas resignative – Sicht möchte ich doch inzwischen hinausgehen und mindestens das oben bereits angesprochenen RationalitätsMoment und das der System-Kohärenz (sub ee)) zu stärken suchen, wenn sich denn die Gedanken nach ff) als weiterhin nicht allgemein vermittelbar erweisen sollten. c) Was aber, wenn diese Kontrollinstanz des BVerfG versagt?57 Qui custodiet ipsos custod(ient)es?58 Da bleibt freilich in einer rechtsstaatlich verfaßten Demokratie59 nur die Hoffnung auf „bessere“ Einsicht in einem späteren Judikat. In der grundund menschenrechtlich doppelt eingebundenen Bundesrepublik gesellt sich als letzte Ausflucht noch der Gang zum Straßburger EGMR hinzu. Doch verschiebt sich das Problem – notwendigerweise – damit lediglich um maximal zwei weitere Instanzen. Wenn auch (äußerstenfalls) die dortige Große Kammer sich den Angriffen etwa aus der Wissenschaft verschlösse, bliebe es bei dem Status quo ante – der Hoffnung auf ein überholendes Judikat – oder, noch unwahrscheinlicher – eine überholende Gesetzgebung. d) aa) Noch zu einigen weiteren Begleitaspekten in der angerissenen Diskussion: Es erscheint wissenschaftsmethodisch trivial, daß „Rechtsgüter“ keine konkreten Entitäten sind (anders als der 50 E-Schein, der mir gerade gestohlen wurde), sondern Begriffssubstrate, die sich z. T. an in der Allgemeinsprache bekannte Sach- und Sachverhalts-Bezeichnungen anlehnen, teils von jener abweichend definiert werden.60 Nicht minder trivial ist, daß alles, was das Recht in sein Begriffsarsenal aufnimmt, dadurch mindestens ein Zusatz-, wenn nicht gar ein – jedenfalls für die Rechtsanwenleisten können mag, ist hier nicht zu beurteilen (…); jedenfalls stellt es keine inhaltlichen Maßstäbe bereit, die zwangsläufig in das Verfassungsrecht zu übernehmen wären, dessen Aufgabe es ist, dem Gesetzgeber äußerste Grenzen seiner Regelungsgewalt zu setzen.“ – Kritisch zu dieser Entscheidung, aber auch zur Dissent-Position Hassemers: Greco, ZIS 2008, 235 (237 f). Weiterhin abl.: Krauß, Hassemer-FS (2009), S. 423 (426 ff.); Roxin, Hassemer-FS (2010), S. 573 (581 f.); ders., StV 2009, 544 ff.; G. Steinberg, Rüping-FS (2008), S. 91 (103 ff.). 56 Vgl die Nachweise bei Roxin, AT-14 (2006), § 2 Rn. 7 ff., 86 ff.; Schünemann, in: H./v. H./W., Die Rechtsgutstheorie (2003), S. 133 (142 ff.). – Daß das BVerfG dies auch schon einmal anders gesehen hat, sei freilich nicht übersehen: BVerfGE 96, 10 (25) (= NVwZ 1997, 1109 [1111]): „Das Strafrecht wird als ,ultima ratio‘ des Rechtsgüterschuztes eingesetzt …“; s. auch BVerfG (Vorprüfungsausschuß) NJW 1984, 967: „anerkennenswertes Interesse an weiterer Strafverfolgung, die allgemein dem verfassungsrechtlichen Rechtsgüterschutz dient“. 57 Wie das sogleich für den Inzest-Fall dargetan werden soll. 58 Wer bewacht die Wächter?, Juvenal, Satiren (Satura VI, Zeilen 347 – 348). 59 …, d. h. u. a., in einem auf eine notfalls justizförmige Durchsetzung des richtigen (zu gelten habenden) Rechts vertrauenden Staat der Mehrheits-Herrschaft, … 60 Es versteht sich nahezu von selbst, daß es sich dabei nicht um Schauobjekte in einer Vitrine handelt, sondern begriffliche Bezeichnungen für soziale Phänomene, die den Rechtssubjekten für ihr eigenes Leben wie für die Interaktion mit anderen Rechtsgenossen wichtig sind, seien es tatsächlich wahrnehmbare Gegenstände und Personen in der Umgebung, seien es geistige Entitäten wie eben etwa zwischenmenschliche Beziehungen – bis hin auf diejenige Abstraktionsebene des Staates oder gar supranationaler Einrichtungen gehoben.
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dung – Primär-Prädikat bzgl. des Begriffsgehaltes erhält: Wie alles, was König Midas anfaßte, zu Gold wurde, wird alles, was in rechtliche Begrifflichkeit gefaßt wird, zu Juristischem.61 Es mag also der Laie aus „unwiderleglicher“ Gewißheit das uneheliche Kind als mit seinem Erzeuger „verwandt“ ansehen, – wenn das Gesetz anderes aussagt,62 so gilt diese (materiale) Fiktion als maßgeblich – grundsätzlich. Sie gölte freilich nicht im Strafrecht, – etwa i. R. d. des (nachfolgend noch näher behandelten) Inzest-Verbotes des § 173. Denn wir leben, soweit es um die Jurisprudenz geht, nicht in einer beliebig konzipierbaren Sphäre. Während sich Mathematiker gedanklich in 5- oder noch mehr dimensionalen Räumen bewegen mögen, sind Juristen in mancher Beziehung63 an irdische Gegebenheiten „gebunden“. Dies gilt namentlich insoweit, als die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse über die Gegebenheiten von „Welt“ nicht vernachlässigt werden dürfen. Wenn die Weltwahrnehmung der maßgeblichen Gestalter der Gesellschaft (also namentlich die der Rechtsschöpfer) sich auf die Existenz außerirdischer Wesen und Dämonen erstreckt, wird man in der Befassung des Rechts mit Hexen und ähnlichem (und dem etwaigen Strafbar-Stellen von deren vorgeblichem „Verhalten“) nichts Verwunderliches sehen dürfen.64 Ebensowenig wird man in dem Entleeren des Nachtgeschirrs auf die Straße etwas Sozialschädliches erblicken dürfen, solange nicht für zumindest einen beachtlichen Teil der – etwa: medizinischen – Fachdisziplin klar geworden ist, daß die mangelnde Hygiene, die fehlende Kanalisation und Klärung von Abwasser u. ä.m. ein idealer Nährboden nicht nur für Ungeziefer, Ratten u. ä., sondern auch unmittelbar für Krankheiten und Seuchen bildet.65 Das mag die Abhängigkeit solcher Sozialschädlichkeits-Urteile von der rechtlichen, sozialen, religiös-weltanschaulichen usw. Verfaßtheit des jeweiligen Staates, den entsprechenden Einschätzungen seiner Bürger und den zeitgenössischen wissenschaftlichen Einsichten von „Welt“ belegen. Andererseits läßt sich die Abhängigkeit der Wahrnehmung unbezweifelbarer „Rechtsguts“-Beeinträchtigungen vom politischen „Klima“ (sprich: herrschenden Machtverhältnissen66) – und nicht nur den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingun61
Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960), S. 282. § 1589 II BGB a.F. (bis zum 1. 7. 1970), geändert durch das NEhelG v. 19. 8. 1969, BGBl. I, S. 1243. Das gilt selbstredend nur für den Fall der Verfassungsgskonformität derartiger Fiktionen, – woran man aber die längste Zeit im benannten Fall keine Zweifel hatte. 63 In Abhängigkeit von der Funktion und der Struktur des jeweiligen Rechtsbereiches. Während jene erwähnte Fiktion etwa für das zukunftsgerichtete Erbrecht maßgeblich war, galt sie für das EheR „natürlich“ nicht, vgl. Lauterbach, in: Palandt BGB28 (1969), § 4 EheG Rn. 4. 64 Exemplarisch: Schormann, Der Krieg gegen die Hexen (1991), passim, für das Kurfürstentum Köln (1626 – 1631). – Das Phänomen als rechtserheblich anzuerkennen, hindert allerdings nicht, die grauenvollen Exzesse unter dem Tarnmantel des Rechts als solche zu geißeln. 65 Erst dann ist eine Bedrohungslage für die „Rechtsgüter“ „Gesundheit“ und „Leben“ notorisch. Hinzukommen muß dann freilich noch ein Rechtsrahmen, der dem Staat auferlegt, gegen derartige Gefährdung (mittels Strafe) vorzugehen. 66 Darein verwoben: Weltanschauungen und Ideologien. 62
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gen – schwerlich bestreiten: Exemplarisch, wenn etwa in New York bis in die 30er Jahre des vorigen (!) Jahrhunderts die Kanalisation nur in den Vierteln der Reichen gebaut wurde und die Einwohner von Barren Island sich mit der ersten Müllkippe New Yorks, der weltweit größte Deponie für Industrieabfälle, konfrontiert sahen. Dieser Industriemüll wurde noch mit Hilfe von Säure „abgebaut“, was zu giftigen Ausdünstungen führte, die selbst noch bei den wohlhabenden Grund-Eignern auf der anderen Seite der Bucht Krankheiten und Erstickungstode auslösten, geschweige denn bei den „Insel“-Bewohnern.67 – Oder, warum in die Ferne schweifen: Wenn man mittels Unmengen von, mit giftigen Substanzen angereichertem, Wasser, was mit Hochdruck in die Erde gepreßt wird, versucht, Gas aus dem tiefen Erdschichten zu gewinnen, sogen. Fracking („Hydraulic Fracturing“68), so begibt man sich, zwecks Energiegewinnung auf ein Terrain hochgradiger Umwelt- und sogar unmittelbarer Gesundheitsgefährdung.69 Die Bilder aus den USA, in denen Leute das vermeintliche „Trinkwasser“ aus dem Wasserhahn mittels Feuerzeuges zu eine Stichflamme entzünden können (wegen des in ihm mitgeführten Methans), wo radioaktives Wasser aus den Hähnen kommt (weil durch die unterirdischen Explosionen Radioaktivität in die Grundwasserreservoirs gelangt), haben in Deutschland politisch – außer bei den unmittelbar von solchen Verfahren Betroffenen – kaum einen „Hund hinterm Ofen hervorgelockt“, – wo Rechtswissenschaft, Justiz, Gesetzgebung und Politik doch sonst nicht müde werden, vom „anthropozentrischen Weltbild“ und davon zu brabbeln, daß die menschliche Gesundheit und das Leben über allem stehen müsse – auch über wirtschaftlichen Interessen. Mehr noch: Derartiges vorzubereiten, kann in Deutschland heimlich geschehen, dank eines „bemoosten“ Bergrechts, – und das in einem Land, in dem sich derselbe Gesetzgeber sogar, durch die Brüsseler Freunde angestachelt, nicht entblödet hatte, Vorschriften in Bezug auf den Krümmungsgrad der Gurken zu erlassen.70 67 Dazu etwa: Kleine Abfallgeschichte(n) (5/5), Arte Fr, 2. 12. 2011, 19:30; Aufruf: 04. 01. 2012, http://videos.arte.tv/de/videos/kleine_abfallgeschichte_n_5_5_-4290782.html. 68 Von engl.: to fracture „brechen“, aufbrechen“. 69 Vgl. etwa zur Einführung: Frauke Steffens, Zeit_online 13. 08. 2010; http://www.zeit.de/ wirtschaft/2010-08/unkonventionelles-erdgas (Aufruf am 04. 01. 2012); Lisa Sumi, OUR DRINKING WATER AT RISK – What EPA and the Oil And Gas Industry Don’t Want Us to Know About Hydraulic Fracturing, http://www.earthworksaction.org/files/publications/Drink ingWaterAtRisk.pdf?pubs/DrinkingWaterAtRisk.pdf (April, 2005. Oil and Gas Accountability Project; Aufruf am 04. 01. 2012); ferner: „Bedenklich: Gasförderung durch Fracking“ – ZDF.umwelt vom 11. 09. 2011, http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/1435016/Be denklich%3A+Gasf%C3%B6rderung+durch+Fracking#/beitrag/video/1435016/BedenklichGasfoerderung-durch-Fracking. – Informativ auch: Werner Zittel, Kurzstudie „Unkonventionelles Erdgas“, 18. 05. 2010, http://www.energiekrise.de/news/gazette/2010/shale_gas_15_Mai 2010final.pdf (Aufruf am 04. 01. 2012). Vgl. ferner: Claus Peter Müller, FAZ 06. 09. 2012, http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/umstrittene-gasfoerderung-lodernde-feuerbaelle-ausdem-wasserhahn-11881520.html. Zur Sinnhaftigkeit erhellend: Nils-Viktor Sorge, Schiefergas made in Germany, Spiegel v. 6. 2. 2013, http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/fra cking-schiefergas-das-maerchen-von-der-deutschen-erdgas-bonanza-a-881378.html. 70 Gemäß der Gurkenverordnung (1677/88/EWG v. 15. 06. 1988; zuvor schon: die 1964 erlassene Verordnung Nr. 183/64): Gurken durften nur über eine maximale Krümmung von
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Oder: als weiteres Beispiel dafür, wie „Umweltschutz“ in Deutschland wirklich verstanden wird, trotz Art. 20a GG und jenes ubiquitären Gefasels von den „höchsten“ Rechtsgütern: Selbst die erhebliche Belastung der Umwelt durch antibiotika-resistente Keime in der Luft und den Böden in der Umgebung von Viehmastgroßbetrieben, etwa im Münsterland oder dem Oldenburgischen, hindert – dank neuer gesetzgeberischer Großzügigkeit – nicht, daß immer weitere Erweiterungen genehmigt werden,71 – von der Klimabelastung durch Methan ausscheidenden GroßviehBeständen und der Grundwasser-Verseuchung infolge von Nitrat-(landläufig: „Gülle“-)Ausbringung72 oder der massenhaften Erzeugung von medikamenten-resistenten Keimen durch massenhafte Antibiotikagaben in der Massenhaltungs-Tiermast.73 Oder, als letztes Beispiel: Wie, wenn auf staatlichen Zuruf Menschen, die in ihrem Leben von der Norm abweichen – oder in bedrückende Umstände getrieben werden –, als geisteskrank, gemeingefährlich, der Fortpflanzung unwürdig klassifiziert – und deshalb zwangssterilisiert werden?74 Dabei rede ich hier nicht von grauer noch von brauner Vorzeit, sondern von Ereignissen in den USA, die bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts reichten: „Rechtsgut“ war hier die Eugenik, weil man (durchaus wissenschaftlich beraten) vermeinte, soziale Probleme wie Armut und Kriminalität seien vererblich; davor sollte die „anglo-amerikanische Rasse“ geschützt werden. zehn Millimetern auf zehn Zentimeter verfügen. Diese Regelung ging zwar auf den Wunsch des Handels zurück, weil sich solche Gurken platzsparender verpacken ließen. Aber erst die servilen „Markt“-Knechte in der Brüsseler Bürokratie haben – im Verbund mit den nationalen (Lobby-)Interessenwahren in den Ministerien – derartiger juristischer Feinheitsbläserei zum normativen Rang verholfen. Leider wurde dieses Prachtexemplar geistigen Ringens zum 1. 7. 2009 wieder außer Kraft gesetzt. Vgl. http://www.europarl.europa.eu/brussels/website/media/ Basis/Miszellen/Pdf/Gurke.pdf. 71 Vgl. nur die bezeichnend abgehobenen Beantwortung einer generellen diesbezüglichen Anfrage von der Partei Bündnis 90/Die Grünen durch den Parl. StaatsSek. Peter Bleser, Az. 325 – 00202/0149 v. 1. 9. 2011, wohl inhaltsgleich mit BT-Drs. 17/6908 v. 05. 09. 2011. 72 Dazu nur der Hinweis, dass 37 % des Methans (23 mal höheres Treibhauspotenzial als CO2) und 65 % aller Stickoxyde (296 mal höheres Treibhauspotenzial als CO2) aus der globalen Viehhaltung stammen (http://www.fao.org/newsroom/en/news/2006/1000448/index. html), – bzw., etwa, zur Nitratwert-Belastung: Oda Lambrecht, Die Spur der Schweine (http:// www.ndr.de/regional/niedersachsen/oldenburg/schweine149.html). 73 Multiresistente Keime/Landwirte sind oft Überträger, Radio Bremen v. 17. 2. 2012 (http://www.radiobremen.de/wissen/themen/multiresistente-keime100.html); Europa-Vergleich Deutschland führt bei Antibiotika-Einsatz in der Tiermast, SP 26. 09. 2012, http://www.spie gel.de/wirtschaft/service/deutschland-ist-spitzenreiter-bei-antibiotika-einsatz-in-tiermast-a858092.html. 74 Vgl. etwa Marc Pitzke, Zwangssterilisation in den USA Die verdrängte Schande, SP 05. 01. 2012 (http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,806709,00.html). – Auch wenn dies nicht i. R. v. (unmittelbarer) strafrechtlicher Straftat-Bekämpfung, sondern ordnungsbehördlich-gesundheitspolizeilicher Zielvorgabe geschah, wird man den Fall hier anführen dürfen: Denn grundsätzlich gilt für die Erschaffung von Eingriffs-Tatbeständen auch in anderen Gebieten des Öffentlichen Rechts strukturell Ähnliches bzgl. der je zu gewährleistenden Schutzgüter.
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Sage niemand, das sei – dank GG und BVerfG – „kein Thema“ in Deutschland. Sub specie Eugenik sicherlich derzeit nicht, vor dem Hintergrund unserer grausigen Vergangenheit. Sub specie gesetzgeberische Freiheit, „Rechtsgüter“ zu kreieren, ist dieser letztgenannte Fall, wie sich zeigen wird, nicht weit von dem Inzestfall des § 173 StGB entfernt.75 bb) Andererseits: Während verbreitet zwischen Individual- und Sozialrechtsgütern76 unterschieden wird, erscheint mir diese Differenz etwas vordergründig-phänomenologisch: Die Aufnahme von solchen, bisweilen auch „Interessen“ genanten,77 für den Menschen belangreichen Substraten in den Katalog einer, durch Straftatbestände flankierend gesicherten, Schutz-Materie wird durch die Tatsache, daß die jeweiligen Rechtsgutsobjekte sinnlich wahrnehmbar oder nur geistige Entitäten sind, nur peripher78 berührt.79 75 Gemeint ist dabei der die §§ 174, 176 ff. überschießende Schutzbereich, – damit gar nicht erst der Eindruck entsteht, hier würde einer neuen Libertinage das Wort geredet. – Vgl. i. ü. u., Text in und nach Fn. 160. 76 … oder solchen zum Schutz der Allgemeinheit … Zur Ableitung überindividueller Rechtsgüter vgl. etwa: Amelung, in: H../v. H./W., Die Rechtsgutstheorie (2003), S. 155 (171 ff); Hefendehl, Rechtsgüter im Strafrecht (2002), S. 139 ff.; Hörnle, Verhalten (2005) S. 89 ff. und passim; Roxin, AT-I4 (2006), § 58 Rn. § 2 Rn. 37 ff., 43 ff, 75 ff.; Schünemann, in: Kühne/ Miyazawa (Hrsg.), Alte Strafrechtsstrukturen und neue gesellschaftliche Herausforderungen in Japan und Deutschland (2000), S. 15 ff. (26, 28); ders., in: H./v.H./W., Die Rechtsgutstheorie (2003), S. 133 (149). Ausführlich dazu, aus einem demokratietheoretischen Ansatz: Gärditz, Der Staat 49 (2010), S. 331 ff. 77 v. Liszt, ZStW 6 (1886), 663 (673 f [675]) (dort auch die scharfe Kritik: Der Rechtsgutsbegriff sei ein „Proteus, der alle Gestalten annimmt; ein Wort, das heute das und morgen wieder etwas ganz anderes bedeutet, ein Blankett, dem jeder den Inhalt geben kann, der ihm gerade passt.“ Ähnlich die Philippika gegen den Begriff „Interesse“, während der Hochzeit der NS-Rechtsideologie, von Welzel, ZStW 58 (1939), 491 [516]; vgl. demgegenüber aber dessen Betonung des Güterschutzes im Lb11 [1989] § 1 [S. 7]); ders., Der Zweckgedanke im Strafrecht (1982); so auch Hassemer, in: NK1 (1995), Vor § 1 Rn. 287 (tendenziell zust.: Hassemer/ Neumann, in: NK4 (2013), Vor § 1 Rn. 108 ff.; 131 ff.); Jescheck/Weigend, AT5, § 26 I 1 (S. 256). – Die verschiedentlich gegen diese Begrifflichkeit ins Feld geführten Argumente (etwa schon von Binding, Normen I [1890], S. 354 f.; aber auch, explizit, etwa Stratenwerth, Lenckner-FS [1998], S. 377 [379 f.]), Rechtsgüter könnten allenfalls „Gegenstände von Interessen“ sein, scheint mir rabulistisch, jedenfalls allenfalls eine Definitionsfrage. Denn der Begriff ist traditionell im (Zivil-)Recht besetzt – und zwar mit der Definition des „Interesses“ beim Schadensersatz: „id quod inter est“, dasjenige, was als Differenz zwischen der Vermögenslage des Geschädigten vor und nach dem schädigenden Ereignis liegt. Das aber offenbart m. E. hinreichend, daß das „Interesse“ nicht nur die innersubjektive Tendenz (das Angestrebte), sondern – gleichzeitig – auch der (verobjektivierbare) Gegenstand dieser Strebung ist. 78 Einmal auf der Konstitutions-Ebene, vgl. dazu o., sub ff) (bei Fn. 26), zum anderen i. R. d. der Unrechts-Restriktion qua Einverständnis oder Einwilligung. 79 Deswegen scheint mir der Vorhalt Amelungs (in: H./v. H./W., Die Rechtsgutstheorie (2003), S. 155 (167)) gegen Roxin, AT-I3 (1997), § 2 Rn. 34 (in der Sache differenzierend und verbal die Unterscheidung aufgebend: Roxin, AT-I4 [2006], § 2 Rn. 2 ff.), und dessen Trennung zwischen „Rechtsgut“ und „Handlungsobjekt“, in der Sache überpointiert: Weil das Rechtsgut „Leben“ jeden menschlichen Träger dieses Gutes (unter dem Sammelbegriff [„Klassenbegriff“, Amelung] des Destinatärs dieses Gutes) schützt, ist nicht bloß eine Idee
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2. Soweit zum Begrifflichen. Doch zurück zur materialen Dimension: Nun wurde und wird gerade das Erfordernis der Sozialschädlichkeit80 vielfältig in Zweifel gezogen.81 Wenn man Normen wie §§ 166, 169, 189 StGB oder § 17 TierSchG sieht, mag man allerdings diese Skepsis teilen, ob jenes Erfordernis wirklich ein Essentiale von Straftatbeständen ist.82 Das BVerfG hat in dieser Frage eine Position eingenommen, die man als pragmatisch einstufen kann, die aber doch eher „schillernd“ (,bedarfsgerecht‘, am Zeitgeist orientiert) ist: Problemlos vermochte es die Bekämpfung reiner Unmoral mittels des § 175 a.F. als verfassungskonform einzustufen,83 wie es dann andererseits wiederum verlangt hat, das Strafrecht nur auf den Schutz solcher Verhaltensweisen zu beschränken, die für das elementare Zu-
geschützt, und nur mittelbar ein Handlungsobjekt, sondern jeder, der dieser BegünstigtenKlasse unterfällt. Dennoch bleibt das Rechtsgut eine geistige Entität, weil – ein Objekt des geistigen Konstrukts Recht. Daß das so ist, belegt die Rechtsgeschichte bis in die Jüngstvergangenheit: Sklaven waren im Römischen Recht „Sachen“ (res) und unterlagen dem diesbezüglichen Recht (mit Besonderheiten, wie der Entlassung aus dem Status durch die manumissio), die Juden in der NS-Zeit wurden durch Recht und Rechtspraxis noch weit schlimmer behandelt („Untermenschen“). 80 An dem freilich auch mancher Kritiker des Rechtsguts-Begriffs festhält, etwa Amelung, Rechtsgüterschutz oder Schutz der Gesellschaft (1972), S. 368 ff. – Einzuräumen ist, daß dies freilich nur eine Problem-Einschränkung enthält – und daß sich an diese axiomatische Stufe zahlreiche definitorische und materiale Probleme anschließen. Wenn man es dann mit einer Störung des sozialen Systems bewenden läßt (so Amelung, Rechtsgüterschutz (1972), S. 385 ff.), hat man nicht allzu viel hinzugewonnen (auch wenn er über den Aspekt der Generalisierung, über liberale und dogmatische Grenzen noch gewisse Restriktionen einbaut, S. 387 ff.). 81 Methodisch bewußt gemacht haben das freilich vor allem Anstöße aus der anglo-amerikanischen Diskussion, etwa der Auseinandersetzung von Hort, Mill, Stephens und Lord Devlin (auf deren Nicht-Beachtung im deutschsprachigen Raum krit. Hoerster, ZStW 82 (1970), 538 ff. hingewiesen hat) und Feinberg, The Moral Limits of the Criminal Law, Bd. 2 (1985), S. 1 ff., der neben dem von ihm noch einmal systematisch entfalteten, sich an J. St. Mill anlehnenden „harm-principle“ (Schädigungs-Prinzip, The Moral Limits of the Criminal Law, Bd. 1 [1984], S. 36 ff. und passim) auch Fälle, die das sog. „offense-principle“ (Belästigungs-Prinzip), in denen er „disliked state of minds“ (als unangenehm empfundene Gemütszustände, Bd. 2, S. 3 ff.) betreffen, für zureichende Legitimatoren für staatliche Strafgewalt ausweist (vgl. hierzu auch Seher, Liberalismus und Strafe (2000)). – Mit anderem Ansatz, ebenfalls krit. gegenüber jenem Erfordernis: Jakobs, AT2, 2/22 ff. (der aber i. E. den Filter der Sozialschädlichkeit für unabdingbar hält [Rn. 25, mit Hinweis auf Montenbruck, Abwägung und Umwertung (1989), S. 76 ff.). – Es sei nicht übergangen, daß auch etwa bei Hassemer, Theorie (1973), S. 130 ff., 160 ff., ursprünglich einmal tiefenpsychologisch motivierte Bedrohungsängste oder Tabuvorstellungen ausreichende Legitimatoren für strafrechtliche Schutzbereiche sein durften. 82 So sieht Amelung, Rechtsgüterschutz (1972). S. 346, im (strafrechtlichen) Tier- oder Sittlichkeitsschutz einen Kulturnormenschutz zwecks Vermeidung unkontrollierter Selbsthilfe. I. E. ähnl. Hassemer, Theorie (1973), S. 130 ff., 160 ff. – Eine differenzierende Einschätzung bietet Hörnle, in: H./v. H./W., Die Rechtsgutstheorie (2003), S. 268 ff.; dies., Verhalten (2006), S. 340 ff., (zu § 166), oder, exemplarisch, zu § 167 bzw. § 168: S. 357 ff.; 367 ff. 83 BVerfGE 6, 389 (433 f., 437) (= NJW 1957, 865).
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sammenleben von Menschen gewichtig und daher notwendig ist.84 Frühzeitig hatte es die Maxime ausgegeben, daß keine Rede davon sein könne, „daß … Strafvorschriften, weil sie sich nicht gegen die konkrete Gefährdung eines Rechtsguts richten, schlechthin verfassungswidrig sind“.85 Hinzu kommt, daß das BVerfG, je nach Bedarf, dem Gesetzgeber in den Fällen der abstrakten Gefährdungsdelikte einen extrem weiten Freiraum zugutehält.86 Namentlich eine schüttere empirische Basis für die gesetzgeberische Gefahren-(Sozialschädlichkeits-)Einschätzung wird großzügig hingenommen. So war selbst Frau Graßhof dezidiert87 der Meinung, daß, solange die Willkürgrenze nicht (gleichsam schreiend offensichtlich) überschritten sei, gerichtlicherseits auch keine diesbezüglichen Tatsachenfeststellungen erforderlich seien. Diese Auffassung impliziert letztlich eine bereichsweise Selbstabdankung des Gerichtes.88 Sie ist auch dann nicht recht verständlich, wenn man – mit der h.M. (und zu Recht) – unterstellt, daß der Gesetzgeber nur einem sehr viel grobmaschigeren Verhältnismäßigkeitsgebot unterworfen ist als etwa die auch an einfache Gesetze gebundene Verwaltung.89 Es geht hier immerhin um die schärfste Sanktion, die das 84 Sog. „gewichtige, elementare Gemeinschaftsgüter“, so, o. ä., BVerfGE 90, 145 (201 – Dissent Graßhof); 45, 187(253); 51, 60 (74 f.); 88, 203 (257); vgl., in der Prädikatisierung wohlwollender, ausführl., mit weiteren Nw., Vogel, StV 1996, 110 ff.; krit., wie hier, Amelung, in: H./v. H./W., Die Rechtsgutstheorie (2003), S. 155 (169 Fn. 62). – Speziell zu dem Cannabis-Urt. (BVerfGE 90, 145 ff.) sehr krit. Paeffgen, BGH-FG IV (2000), S. 695 (706 ff.). Ebenso Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrecht usw. (2000), S. 187 ff., 190 ff. Vgl. auch Schünemann, in: H./v. H./W., Die Rechtsgutstheorie (2003), S. 133 (134 f.). 85 BVerfGE 28, 175 (Fall Porst/Verfassungsmäßigkeit des § 100e StGB a.F.); Herv. v. Verf. 86 Sowohl die Senatsmehrheit des BVerfG, BVerfGE 90, 183 und passim (= NJW 1994, 1577 = StV 1994, 295) (Cannabis), als auch die Dissenterin, Frau Graßhof. – Insofern war der Aufwand, den das Gericht in re § 173 StGB betrieb, durchaus staunenswert. Das nützt nur nichts, wenn man dessen Ergebnisse nur selektiv wahrnimmt, vgl. o., Fn. 2. 87 In ihrem schon strenger als die tragende Meinung argumentierenden Dissent: BVerfGE 90, 145 (202) (= NJW 1994, 1577 [1586]). A.A.: Dissent Sommer, BVerfGE 90, 145 (216, 221) (= NJW 1994, 1577 [1588 f.]). 88 Daß dies nur nach Senats-Gusto geschieht, ist wiederum ein Rationalitätsproblem innerhalb der Verfassungsgerichts-Judikatur. Vgl. demgegenüber den empirischen Aufwand, den man diesbezüglich in Sachen § 218 betrieb. Ähnlich dann später der EGMR – Stübing/D, Urt. v. 12. 4. 2012, 43547/08 (= BeckRS 2012, 13105 = NLMR 2/2012, 119). 89 Sogen. weiter gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum, vgl. dazu nur BVerfGE 50, 290 (332 f.) (= NJW 1979, 699) (Verfassungsmäßigkeit des Mitbestimmungsgesetzes); 77, 84 (106) (= NJW 1988, 1195) (Arbeitnehmerüberlassung). – Zu der extremen Weite des gesetzgeberischen Gestaltungs-Spielraums bei der Konstitution von strafbewehrten Rechtsgütern vgl. Lagodny, Strafrecht (1996), S. 173 ff. Ebenso Appel, Verfassung (1998), S. 182 ff., 387 ff. und passim, der aber das Verhältnismäßigkeits-Prinzip wenigstens wieder stärker in sein Recht gesetzt sehen möchte (S. 576 ff.). Das Mißliche ist nur, daß dies selbst keinerlei Maßstäbe bereitstellt (s. o.). – In der Sache ebenso – eher resignierend – auch Amelung, Rechtsgüterschutz (1972), S. 394. – Zu der Kritik etwa Lagodnys, Strafrecht (1996), S. 147 und passim, an der angebl. mangelnden Erheblichkeit des Rechtsguts-Aspekts für die Begründung und den Umfang der Verhaltensnorm ebenfalls krit. Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat (1998), S. 163 ff.; Sternberg-Lieben, in: H./v. H. /W., Die Rechtsgutstheorie (2003), S. 65 (67 ff. und Fn. 7), – gerade sub specie des von jenem so hoch geschätzten Verhältnismäßigkeits-Grundsatzes (Angemessenheit/Übermaßverbot). Diesen Aspekt des
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Recht zur Verfügung stellt.90 In diesen Fällen ist die Darlegungslast des Gesetzgebers wahrlich schärfer zu fassen.91 Daß es etwa in re Cannabis unter verschiedenen gleich effektiven (besser wohl: gleich ineffektiven) Mitteln keines geben sollte, das weniger einschneidend wirkte, bedürfte doch der verfassungsrechtlichen Plausibilisierung. Sich darauf zurückzuziehen, zu sagen, es genüge, wenn der Gesetzgeber der Auffassung sei, mit dem Jugendschutz liege ein schützenswertes Gut vor, um eine vertiefende verfassungsgerichtliche Kontrolle auszubremsen, erscheint hoch problematisch, – um das mindeste zu sagen.92 Übermaßverbotes bei der In-Dienst-Nahme des Rechtsguts-Begriffs betont auch Hassemer, ebenda, S. 57 (59 f.). Vgl. auch Neumann, in: v. Hirsch/Seelmann/Wohlers (Hrsg.), Mediating Principles (2006), S. 128. 90 Abschätzig gegenüber dem Ultima-ratio-Argument: Appel, Verfassung (1998), S. 404 ff., der es sich aber mit der Erweiterung der Vergleichsbasis (für einen ,Normtreuen‘ sei die Pönalisierung allemal weniger einschneidend als weitstreuende verwaltungsrechtliche [Ersatz-]Kontrollmaßnahmen) leicht macht, wobei er noch inzident voraussetzt, man könne die ,Normtreuen‘ irgendwie erkennen. Die Herablassung gegenüber dem Bemühen vieler Strafrechtler, sich um materielle Kriterien zur Legitimation von Strafrecht zu bemühen (S. 388 mit Fn. 314 und passim), ist – bei aller zuzugestehender Kritikwürdigkeit der verfassungsrechtlich unterbelichteten Strafrechtsdoktrin – durchaus unangebracht, – auch wenn man weiterhin die Relativität von Recht und die faktisch große Gestaltungsmacht des Gesetzgebers anerkennt. Die These von der objektiven Wertordnung der Verfassung entsprang nicht strafrechtlichem Denken, – und das Bemühen, den Verhältnismäßigkeits-Satz zur Limitation und Legitimation von Recht heranzuziehen [dafür auch Appel, a.a.O., S. 390, 514 ff., 576 ff.], setzt genau die gerügte Methodik voraus – nur mit methodisch „weicheren“ Kriterien und ausgefransteren Begriffs-Rändern (etwa: Im ganzen GG steht nichts von Schuld, trotzdem hat die h.M., und auch Appel, a.a.O., S. 109 ff., 514 ff., keine Schwierigkeit, mit eben der beanstandeten „Technik“ diesen Topos zum Strafrechts-Essentiale zu erheben). – Daß ein gewisses Maß an (relativer) Starrheit dem Strafrecht eigen sein muß, ergibt sich nicht nur wegen der Sanktionsschärfe und des damit verbundenen Unwert-Urteils, sondern auch deshalb, weil – oft von Verfassungs wegen – der punitiven Strafrechts-Umsetzung besondere formale Barrieren und Sicherheits-Garantien für den Beschuldigten entgegengestellt werden. 91 Früher hieß es dazu einmal, der Gesetzgeber müsse „die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen ausgeschöpft haben“, um die „Auswirkungen seiner Regelung so zuverlässig wie möglich abschätzen zu können“, BVerfGE 50, 290 (333 f.); 86, 90 ff.; ähnl. Pestalozza, NJW 1981, 2081 (2083, bei und in Fn. 14); Schwerdtfeger, H.-P. Ipsen-FS (1977), S. 175 ff. – Demgegenüber großzügig bzgl. gesetzgeberischer Wirklichkeits-Resistenz: Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip (1986) S. 372, u. Schlaich/Korioth, BVerfG8 (2010), Rn. 496 ff., 503, und schon Schlaich, BVerfG4 (1997), Rn. 496 ff. 92 Paeffgen, BGH-FG IV (2000), S. 795 (805 ff.). Das BVerfG ging in seinem CannabisBeschluß von diffusen Hypothesen zur Empirie aus, BVerfGE 90, 145, nachdem es sich mit den Werken von Geschwinde, Quensel und Täschner befaßt hatte (krit. Böllinger, KJ 94, 410 f.). Ob damit wirklich das erreichbare Bild vom Stand der medizinisch-naturwissenschaftlichen Problemeinsicht eingeholt wurde, ließ sich angesichts der zahlreichen medizinischen und psychologischen Stimmen durchaus anzweifeln. (Vgl. demgegenüber LG Lübeck StV 1992, 168.) Vor allem aber wirkten die Feststellungen des Gerichts schon in sich offen widersprüchlich: Zunächst führte es eine Reihe von Stimmen an, die die Folgenlosigkeit mittleren Cannabis-Konsums annehmen, und stufte – unter Berufung auf einen ausgewiesenen Liberalisierungsgegner, Täschner, NStZ 1993, 323 ff., – das Suchtpotential als sehr gering ein (BVerfGE 90, 179 f.). Ja, es schloß sogar die angebliche „Schrittmacherfunktion“ von Haschisch für harte Drogen aus. Nach all dem klang die – begründungslos bleibende – These
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3. Da Normen wie § 175 a.F. oder § 173 nach Gründung der Bundesrepublik den auf uns gekommenen Normbestand bildeten, spricht in der Rechtspraxis selbstverständlich der äußere Schein für deren Legitimität. Sobald aber im politischen wie im prozessualen Diskurs die Rüge der mangelnden Rechtfertigungsfähigkeit erhoben wird, müssen die vorstehend angedeuteten und nachfolgend noch weiter ausgeführten Prüfungsschritte durchlaufen werden. a) Es gilt dabei aber, die Dinge genau zu benennen und das Scheidbare zu unterscheiden, also, wie stets in einer Geisteswissenschaft93 : zu analysieren. Selbst wenn es einer Geisteswissenschaft an der Möglichkeit in aller Regel gebricht, eindeutige Ergebnisse zu erzielen (was aber auch in den meisten Naturwissenschaften keineswegs der Regelfall ist), so hindert das nicht, um mit den Worten Melanchthons zu sprechen,94 die Sache selbst, nicht aber nur ihre Schatten zu ergründen.95 Dies ge-
etwas überraschend, man könne gleichwohl immer noch feststellen, es seien zwar geringe, aber eben doch unmittelbare Gesundheitsschäden nachgewiesen und es bestünden „nicht unbeträchtliche Gefahren und Risiken“ (die sich durch die Tautologie wohlmöglich noch verstärken), E 90, 181 ff. Die so „erarbeitete“ Grundlage für die weite gesetzgeberische Einschätzungsprärogative bildete dann den Ansatzpunkt für die eigene Nichtintervention. – Nun ist das BVerfG zwar an keine Beweislast-Regeln gebunden und erhebt die Beweise von Amts wegen nach eigenem pflichtgemäßen Ermessen, § 26 I BVerfGG, Ossenbühl, BVerfG-FS I (1976), S. 474 (475); ebenso Kluth, NJW 1999, 3513 ff.; Pestalozza, VerfProzR3 (1991), § 2 Rn. 49) – In dem Verfahren zum Verbot des Nachnahmeversandes von Tieren hat man allerdings die Tatsachengrundlage noch weit akribischer erhoben – und die vom Gesetzgeber zugrunde gelegten „Fakten“ als schlicht falsch aufgedeckt, BVerfGE 36, 59 ff. Ein Schelm, wer Arges dabei denkt! 93 Zu der Frage, ob die Jurisprudenz eine „Wissenschaft“ ist, jüngst wieder kontrovers: abl.: Fischer, Rissing-van-Saan-FS (2011), S. 143 (163 f.) („Kunstlehre“); ähnl. Kiesow, JZ 2010, 585 ff. (S. 588: „Mit Jhering wurde die Wissenschaft vom Recht endgültig zur Farce“, od. S. 591: „Die Disziplin, die immer noch, nur noch, Rechtswissenschaft heißt, sollte ihr altes Talent, ihre Kunstfertigkeit ebenso ernst nehmen, ihr schöpferisches Potential entfalten, gerade in ihren reflexiven Teilen, den Grundlagen des Rechts. Die Frage der Wissenschaftlichkeit dieser Reflexion kann dann getrost vergessen werden.“), (http://www.unilu.ch/files/artikelkiesow-rechtswissenschaft—was-ist-da.pdf) einerseits und Schünemann, GA 2011, 445 ff., tendenziell ähnl. Krüper, ZJS 2011, 198 (199 und passim) (,Wahrheitssuche‘) andererseits. – In der Vorlesung pflegte ich darauf hinzuweisen, daß das „Kind“ nicht umsonst bei den sprachlich noch sehr begriffsbewußten und distinktionsmächtigen Römern (und seither) als eine „Prudentia“, also ein System von Klugheitsregeln, und nicht etwa als „Scientia“ angesehen wurde. Das schließt freilich keineswegs aus, Axiome der Logik zu beherzigen – und sich um Analytik, Rationalität, Offenlegung der Argumentations-Linien – und Redlichkeit hierbei – zu bemühen. Gerade das ist, entgegen Kiesow u. a., nicht nur ein Element von „wissenschaftlichem Arbeiten“, sondern auch von Klugheit! 94 Melanchthon, Wittenberger Universitätsrede von 1518: De corrigendis adolescentiae studis 1518, in: Nürnberger (Hrsg.), Melanchthons Werke, Bd. 3, Humanistische Schriften2 (1969), S. 38: „Iungendae Graecae litterae Latinis, ut philosophus, theologos, historicos, oratores, poetas lecturus, quaqua te vortas, rem ipsam assequre, non umbram rerum, velut Ixion cum Iunone congressurus nubem incidit“. (Ixion, König der Lapithen in Thessalien und Stammvater der Kentauren, wurde als Strafe wegen eines Frevels gegen Juno in der Unterwelt auf ein rotierendes Feuerrad geflochten.)
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währleistet einen weiteren Wesenszug der Wissenschaft, nämlich das Nachvollziehbar-Machen des Forschungsprozesses und damit die Überprüfbarkeit der Schlüssigkeit des Gedankengangs, seiner Prämissen und seiner Folgen durch andere Wissenschaftler. Das ist nun auch in der Juris-Prudentia ohne weiteres möglich, wenngleich, namentlich – aber nicht nur – in der Jurisdiktion, keineswegs üblich. b) Als Palladium gegen einen Deutung von „Rechtsgütern“ als Substrate mit Schutzrichtung auf den Menschen werden traditionellerweise der Tierschutz und der Umweltschutz96 angeführt. Man könnte den Streit – und damit das Argument – als überholt einstufen, seit sich sogar der Verfassungsgesetzgeber bemüßigt gefühlt hat, diese Schutzgüter im GG zu proklamieren: Art. 20a GG. In der Sache galt und gilt es freilich, zu differenzieren: Die Umwelt hatte stets einen – kaum noch als mittelbar zu bezeichnenden – Bezug auf Leben, Gesundheit,97 Eigentum und (Aufenthalts-)Freiheit des Menschen98. Bei dem Tierschutz stand eigentlich die gefühlsmäßige Bindung des Menschen an das Tier im Vordergrund: Während viele ihre (i. d. R.: eigenen) Hunde oder Katzen mit einer nicht selten Menschenliebe übersteigenden Zuwendung behandeln, hindert(e) sie nichts, im großen Stil Singvögel als Eßdelikatessen einfangen zu lassen und zu verspeisen, Tiere in Massentierhaltung unter elenden Bedingungen aufzüchten und, als weitere Folge dieser Haltungsart, mit Antibiotika vollpumpen zu lassen,99 – weil’s Essen dann so schön billig ist (obwohl dies sogar die Gesundheit der dieses Fleisch verzehrenden Menschen durch Antibiotika-Resistenz in große Gefahr bringt). Unbestreitbar leidet jeder, der auch nur einen Rest Empathie aufzubringen vermag, wenn man von z. T. widerwärtigen Tiermißhandlungen lesen muß. Die kleine Reminiszenz an das, was 95
Richtig: Krüper, Die Sache, nicht die Schatten – Der Fall zu Guttenberg, die Jurisprudenz als Wissenschaft und die Anforderungen an juristische Prüfungsarbeiten, ZJS 2011, 198 (199). 96 Das betont auch, mit vielen anderen, Appel, Verfassung (1998), S. 572 ff. 97 Vgl. dazu nur das Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung zum Klimawandel, http://www.bpb.de/themen/3U108W,0,0,Klimawandel.html. 98 BT-Drs. 8/2382, S. 9 f; Bloy, ZStW 100 (1988), 485 (487, 496 ff.); Lackner/Kühl, StGB27 (2010) Vor § 324 Rn. 7; LK11-Steindorf (1992), Vor § 324 Rn 12 ff.; NK4-Ransiek (2013), Vor § 324 Rn. 7; Rengier, BT II12 (2011), § 47 Rn. 10; ders., NJW 1990, 2506 ff.; Rogall, JZ-GD 1980, 101 (104); ders., Uni-Köln-FS (199), S. 505 (509); Schönke/Schröder28/Heine (2010) Vor § 324 Rn. 8, alle m.w.N. – Daß nach verbreiteter Sicht das „Verletzungs“-Paradigma hier in einer atypisch-ausgedünnten Form auftreten können soll, ändert daran nichts: Für die Berechtigung von Kumulations- oder Summationsdelikten: BT-Drs. 8/1382, S. 14; BGH NuR 2004, 66; OLG Stuttgart NJW 1977, 1406 (1407); Kloepfer/Vierhaus, Umweltstrafrecht2 (2002), Rn. 91 f.; Kuhlen, WuV 1991, 183 (195); ders., ZStW 105 (1993), 697 (698, 711 ff.); LK11-Steindorf (1992), § 324 Rn. 31; Schönke/Schröder28/Heine (2010), § 324 Rn. 10; SK6Horn (51. Lfg., 2001), § 324 Rn. 4. Gegen diese Sicht immer: MK-Schmitz, Vor § 324 Rn. 20; Rogall, Uni.-Köln-FS, S. 505 (520); krit. auch NK4-Ransiek (2013), § 324 Rn. 13. Bei § 356 ebenfalls für jene Lesart: Erb, Parteiverrat – Rechtsgut und Einwilligung im Tatbestand des § 356 (2005), S. 79 ff., 191 ff.; Mennicke, ZStW 112 (2000), 834 (847 ff., 853 ff.); NK4Kuhlen (2013), § 356 Rn. 6; tendenziell ähnl.: Loos, Welzel-FS (1974), 879 (888 ff.). 99 Mit – bisher – verschämter Billigung von Staat und EU!
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der Staat – unter dem Zeichen des Tierschutzes – z. T. legal, z. T. halblegal geschehen läßt, mag nur belegen, daß die Überzeugungskraft jenes Kronzeugen für eine jenseits der Sozialschädlichkeit angesiedelte Vertatbestandlichung von – demokratisch legitimiertem – Unrecht nicht so sonderlich eindrucksvoll ist. c) Vielmehr dürfte es nach dem Vorstehenden einleuchten, daß den Anforderungen des Rechts (in der Form des Rechtsguts-Gedankens im vorgestellten Sinn) nicht Genüge getan wäre, wenn der Gesetzgeber etwa den reibungsfreien Ablauf von Schulstunden oder die Ordnung und die Gesittetheit auf dem Pausenhof – als im allgemeinen Interesse liegend, und damit als, strafrechtlich zu bewehrende, „Rechtsgüter“ – ausflaggen wollte. Man mag darüber räsonieren können/wollen, ob und in welchem Umfang damit überhaupt Allgemeininteressen angesprochen sind. Vor dem Hintergrund unserer Verfassung – und des Gesamtsystems unserer Strafrechts-Normen – wäre, derartiges zu vertatbestandlichen, ein Unterschreiten des Sozialschädlichkeits-Minimums – und damit nach der hier eingenommenen Position – methoden- und damit rechtswidrig!100 4. Sehen wir uns demgegenüber einmal die Dogmatik des vermeintlichen VorbildBereichs, des Öffentlichen Rechts, zur Grundrechts-Exegese genauer an: Verbreitet wird auf der ersten Erörterungsstufe nach dem „legitimen Zweck“, sodann nach dem „Schutzbereich“ („Normbereich“101 o. ä.) eines allfällig betroffenen Grundrechts gefragt.102 Damit ist die Frage-Tendenz formuliert, der „Bereich des potentiellen Grundrechtsschutzes (,was‘ und ,wogegen‘)“, nicht aber das „Wieweit“ „des im Einzelfall effektiven Schutzes“.103 Dies wird zumeist erst bei der Eingriffs-Frage, und dort bei der Erforderlichkeitsstufe, thematisiert, in der nach gleicheffizienten, aber
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A.A. unsere texanischen Freunde, die auch schon auf kleinere Schulvergehen die Keule des Strafrechts herabfallen lassen, in Fällen sog. „Class C Misdemeanors“, – geringfügige Vergehen, deren Begehung mit Geldbußen, Sozialdienst oder sogar Freiheitsentzug geahndet werden können (im Falle der Nicht-Beitreibbarkeit von Bußgeldern rücken die Betroffenen („Täter“) dann mit Erreichen des 17. Lebensjahres ins Gefängnis ein); die Akteure solcher Unterrichts-Störungen etc. gelten zudem schon als vorbestraft, vgl. Chris McGreal, Benimm dich, oder ich schieße!, Spiegel v. 03. 02. 2012 (http://www.spiegel.de/schulspiegel/ausland/ 0,1518,812885-3,00.html. 101 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts20 (1995) , Rn. 46, 69. 102 BVerfGE 35, 202 (219 f.) (= NJW 1973, 1226) betreffs Art. 2 I i. V. m. 1 I GG; BVerfGE 80, 137 (154 f.); (= NJW 1989, 2525) (Verbot des Reitens auf Privatwegen), betreffs Art. 2 I GG; BVerfGE 86, 1 (9) (= NJW 1992, 2073), betreffs Art. 5 I GG; vgl. ferner: Jarass/ Pieroth, GG10 (2009) Vorb. v. Art. 1 Rn. 19 ff.; v. Münch, in: v. Münch/Kunig, GG-I5 (2000), Vorb. Art. 1 – 19 Rn. 48 ff. (weniger selbstgewiß: v. Münch/Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG-I6 [2012], Vorb. Art. 1 – 19 Rn. 48 ff.); Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik (1977), S. 152; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I6 (2010), Art. 1 Rn. 264; krit., ohne die Nomenklatur aufzugeben: Pieroth/Schlink, Grundrechte27 (2011) Rn. 244; die Redeweise in räumlichen Kategorien abl.: Ipsen, StaatsR II13 (2010), Rn. 130. 103 Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik (1977), S. 152; zust. v. Münch, in: v. Münch/Kunig, GG-I5 (2000), Vorb. v. Art. 1 – 19 Rn. 48 ff.; nur tendenziell ähnl. v. Münch/ Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG-I6 (2012), Vorb. Art. 1 – 19 Rn. 48 ff.
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weniger einschneidenden Alternativen gefragt wird.104 Was dafür einschlägig ist, wird mittels Auslegung ermittelt.105 Daß es aber vorgrundgesetzliche „Werte“ nicht geben könne, die die Verfassung – und dann auch das Strafrecht106 – zu schützen habe, daß dies gar ein absolutistisches, demokratiefeindliches Denken sei,107 das scheint mir alles andere als plausibel.108 Umgekehrt wird eher ein Schuh draus. Das scheinen mir jedenfalls die Ausführungen der Mehrheit im Inzest-Beschluß109 schlagend zu belegen: Dadurch, daß man sittliche Auffassungen aus vorgrundgesetzlicher Zeit als perennierend darstellt und sie mit ein paar nicht fallerheblichen denkbaren Störungs-Konstellationen garniert, 104 Statt vieler exemplarisch: Graßhof in ihrem Dissent: BVerfGE 90, 145 (202 f.) (= NJW 1994, 1577 [1585 ff.]). Vgl. auch Lagodny, Strafrecht (1996), S. 275 ff.; krit. gegenüber den diesbezüglichen strafrechtlichen Bemühungen etwa Appel, Verfassung (1998), S. 340 ff., 356, 416 f. und passim. 105 Exemplarisch detailliert: BVerfGE 62, 213 (224 ff.) (= NJW 1985, 261). Vgl. ferner Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203 (229); Volkmann, JZ 2005, 261 (267). – Dabei kann, selbstredend, gar nicht in Abrede gestellt werden, daß jenseits des von Verfassung Zugelassenen gar kein Strafrecht existieren kann (s. schon o., nach Fn. 13). Das folgt schon aus Art. 103 II GG, d. h. (u. a.) daß auch noch so sozialschädliches Verhalten ihm nicht unterfällt, solange es nicht, qua schulgerechter Subsumtion, unter einen gesetzlichen Straftatbestand gefaßt werden kann. Erst danach fangen aber die hier interessierenden Fragen an: Kann eine schon verfassungskonform erlassene oder zu erlassende Norm vor dem umschriebenen Anforderungsprofil standhalten? 106 Das doch schon vor dem 24. 5. 1949 (Tag des In-Kraft-Tretens des GG) existierte – und längere Zeit unverändert fortgalt. Es erhielt damit zwar einen neuen Geltungsgrund, – war aber doch in Wortlaut (und Anwendung) das nämliche Recht wie vorher (und schützte die nämlichen Rechtsgüter). 107 So Gärditz, Der Staat 49 (2010), S. 331 (349 ff.). – Die Quellen können sehr wohl vorkonstitutionell sein, wie aus dem Schutz der Menschenwürde in Art. 1 GG offensichtlich wird, – einem Topos, der hellenistisch-römisch-christliche (vgl. etwa: Cicero, De officiis I, 106), aber auch aufklärerische Wurzeln hat. Dies war – jedenfalls für Dürig – noch eine bare Selbstverständlichkeit, vgl. Maunz/Dürig (1958) Art. 1 Rn. 1 ff. – Allerdings muß eingeräumt werden, daß dies manche Öffentlichrechtler heute ganz anders sehen: vgl. etwa: Herdegen, in: Maunz/Dürig (63. EL 2011), Art. 1 Rn. 19: „Die im Parlamentarischen Rat herrschende Vorstellung, das Grundgesetz übernehme mit der Menschenwürdeklausel ,deklaratorisch‘ einen Staat und Verfassung vorgeordneten Anspruch ins positive Recht, hat noch beachtliche Suggestionskraft. […] Für die staatsrechtliche Betrachtung sind jedoch allein die (unantastbare) Verankerung im Verfassungstext und die Exegese der Menschenwürde als Begriff des positiven Rechts maßgebend“; vgl. aber jetzt auch Rn. 20: „Selbstverständlich gehört der Rückgriff auf den geistesgeschichtlichen Kontext einer Norm seit jeher zum methodischen Arsenal des positiven Rechts. Schon deshalb wird auch die staatsrechtliche Deutung den Diskurs mit anderen Disziplinen wie Philosophie und Theologie pflegen. Die Vereinnahmung geistesgeschichtlicher Entwicklungslinien einschließlich des christlichen Menschenbildes oder des aufklärerischen Erbes für überpositive, naturrechtliche Deutungsmuster (die ohnehin mit einem überzeitlichen und interkulturell begründbaren Gewissheitsanspruch arbeiten müssen) verdunkelt diesen klaren Befund.“ 108 Daß es für die Gesellschaft belangreiche vorpositive Strukturentscheidungen gibt, anerkennt auch Amelung: Amelung, Rechtsgüterschutz (1972), S. 368. 109 BVerfGE 120, 224 ff. (= NJW 2008, 1137 ff.).
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hat man – aus dem (vorgeblich: juristisch) Nichtbelangreichen, vulgo: Nichts – schon eine Grundrechtsschranke und Eingriffs-Rechtfertigung errichtet. 5. Man wird in der geforderten „wissenschaftlichen“ Diskussion110 sicher kein Vorgehen à la Popper erwarten dürfen, demzufolge die je eigenen Hypothesen ausnahmslos mit dem Ziel nachkontrolliert werden müßten, sie zu falsifizieren.111 Aber es wäre schon ein gewisser Fortschritt in der Diskussions-Kultur, wenn man den befehdeten Ansatz nicht kleiner machte, als er ist. Das bewahrte die eigene Position nicht selten davor, die Qualität eines „Scheinriesens“ (Herrn Tur Tur) anzunehmen, wie ihn sich Michael Ende so wunderbar ausgedacht hat:112 Je näher man an ihn herankommt, desto kleiner wird er.113 Ebenso nobel wie letztlich analyse-schärfend wäre es, wenn man sich mit Empathie in die jeweils zu befehdende Position hineinzudenken bemühte, um ihre Stärken herauszuarbeiten.114 Das gölte zunächst einmal in der 110 … und erst recht nicht in etwaigen Urteilsgründen eines Ober- oder Verfassungsgerichts … 111 Popper, Logik der Forschung11 (2005), S. XX und passim: „Wann immer wir nämlich glauben, die Lösung eines Problems gefunden zu haben, sollten wir unsere Lösung nicht verteidigen, sondern mit allen Mitteln versuchen, sie selbst umzustoßen.“ Daß Popper die Konzeption auf empirischen Wissenschaften beschränkt hat, wird dabei ebenso wenig übersehen, wie die Tatsache, daß selbst dort das Resultat zweifelhaft ist, wenn man nicht die Kriterien für die Falsifikation scharf zu umreißen vermag. Immerhin dürfte es selbst in den von Popper gut überschauten Naturwissenschaften keine „Theorie“ geben, die ausnahmslos und durchgängig Geltung beanspruchen könnte, vgl. etwa Feyerabend, Wider den Methodenzwang (1976) S. 91 ff. Besonders virulent derzeit die Widersprüche zwischen Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie und der Quantenphysik im Bereich der Erläuterungen zur Entstehung des Weltalls, vgl. dazu etwa Ball, Quantum gravity: Back to the future, Nature Bd. 427 (2004), S. 482 ff.; Fleischhack, Quantengravitation: Keine Experimente, aber Mathematik (http://www.mpg.de/436645/forschungsSchwerpunkt1). 112 Michael Ende, Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (1960). 113 Das ist keineswegs ein Phänomen, das sich auf die juristische Fachdiskussion beschränkt. Es tritt in einigen anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen ähnlich, wenn nicht gar noch stärker zutage. Exemplarisch seien hier etwa die Schulenstreitigkeiten innerhalb der Psychologie und mit der Tiefenpsychologie genannt (überblickshaft: Konrad, Der sogenannte Schulenstreit [1995]; vertiefter, aber einschränkend: Wyss, Die tiefenpsychologischen Schulen von ihren Anfängen bis zur Gegenwart5 [1977]). – Ein traurig stimmendes Musterbeispiel aus der Geschichtswissenschaft war die hoch-polemische, textklitternde Attacke von Habermas gegen Ernst Nolte im sog. Historikerstreit; vgl. aus der Flut der Veröffentlichungen etwa: Ernst Reinhard Piper (Hrsg.), „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung (1987); Imanuel Geiss, Die Habermas-Kontroverse. Ein deutscher Streit (1988); Reinhard Kühnl (Hrsg.), Vergangenheit, die nicht vergeht. Die „Historiker-Debatte“. Dokumentation, Darstellung und Kritik (1987); Landeszentrale für Politische Bildung Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Streitfall deutsche Geschichte. Geschichts- und Gegenwartsbewußtsein in den 80er Jahren (1988). – Jüngst tentativ ähnlich der Angriff von Hans-Ulrich Wehler (Götz Alys neuer Irrweg, FAZ 12. 12. 2011 [http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/holocaust-forschung-goetz-alys-neuer-irrweg-11560118. html]) auf Götz Aly (dessen Erwiderung: Wehler in der Sackgasse, FAZ v. 20. 12. 2011 (http:// www.faz.net/aktuell/feuilleton/holocaust-forschung-wehler-in-der-sackgasse-11573268.html). 114 Dafür wird man die Arbeit Amelungs (Fn. 4) durchaus als exemplarisch heranziehen dürfen, auch wenn sie zu einem anderen Resultat als hier vertreten gelangt.
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Inner-„Wissenschaftlichen-“Diskussion. Das erhöhte zwar den Kraftaufwand für die dialektischen Anstrengungen, die Gegenposition niederzuringen, – würde aber nicht selten die Schwäche der eigenen Argumentation freilegen. Allein, derartiges zu erwarten ist wahrscheinlich doch zu idealistisch, – obschon bei akribischer Diskussion der Fürs und Wider vielleicht auch die Chance stiege, von der Rechtsprechung (wieder[?]) ernstgenommen zu werden.115 Es geht also nicht um die Rechtstatsache, daß ausschließlich der Gesetzgeber die Rechtsmacht hat, Rechtsgüter zu kreieren, sondern um die Frage, welches Maß an Freiheit er dabei hat. Diese erscheint – in dem kardinalen Rahmen der Verfassung und wegen dieses Rahmens – geringer, als manche, namentlich Verfassungsrechtler, annehmen. Das Gesamt der vorhandenen Rechtsgüter, der diesbezüglichen Dogmatik und der Möglichkeit, sie auf „Wertentscheidungen“ der Verfassung rückgründen zu können, macht das aus, was man mit dem dürren Begriff der Maßgeblichkeit von Rechtsgüter-Verletzungen für die Schaffung und Auslegung von Straftatbeständen heranzuziehen hat. Anders gewendet: Wenn der Gesetzgeber, letztlich im Dialog mit dem BVerfG, und vor dem prüfenden Blick der Fachöffentlichkeit, dartun kann, - daß in dem zu inkriminierenden ein konturierbares und gewichtiges sozialschädliches Verhalten liegt, - dessen „Schutzgegenstand“ („Rechtsgut“) sich in den systematischen Kontext des vorhandenen Norm- und Dogmatikbestandes rational, d. h. ohne belangreiche Spannungen, eingliedern läßt, also nicht bloß keiner Verfassungsnorm ausdrücklich oder tendenziell widerspricht, und - in einer den Anforderungen des Art. 103 II GG genügenden Form positiviert wurde, dann, aber auch nur dann ist eine rechtswirksame Strafnorm geschaffen. Es mag vielleicht zu optimistisch sein, wenn man – wie Hassemer – der Rechtsguts-Doktrin zuschreibt, sie vermöge „dem Strafgesetzgeber ein plausibles und verwendungsfähiges Kriterium seiner Entscheidungen an die Hand zu geben und zugleich einen externen Prüfungsmaßstab für die Gerechtigkeit dieser Entscheidungen zu entwickeln“.116 Aber, angemessen gehandhabt, birgt sie doch erhebliches Poten115
Für die das Vorstehende – cum grano salis (wegen des im Vordergrund stehenden Auftrags zur methoden- und sachgerechten Einzelfall-Entscheidung) – gleichfalls gölte. – Mit Recht krit. gegenüber der Miß- bis Verachtung selbst der gehobenen Judikative gegenüber den Bemühungen jedenfalls von Teilen der Literatur um Vertiefung und Problemdurchdringung: Schünemann, GA 2011, 445 (45); dort (S. 460) auch mit dem beherzigenswerten Vorschlag, den Bundesrichtern Assistenten zur Seite zu stellen, um die Entscheidungen doch etwas in Auseinandersetzung mit dem in der wissenschaftlichen Diskussion Erreichten zu entfalten. Freilich führt das BVerfG immer wieder mal vor Augen, daß auch das kein Remedium sein muß. 116 NK1-Hassemer (1995) Vor § 1 Rn. 261; so auch NK4-Hassemer/Neumann (2013) Vor § 1 Rn. 115.
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tial, in die Gewinnung von methodisch nachvollziehbaren „Begrünungen“ Struktur zu bringen.
III. Exemplifizierung 1. Wenden wir uns also endlich der Veranschaulichung – und zu diesem Behufe zunächst dem Inzest-Beschluß des BVerfG117 – zu: a) Das BVerfG hat viel Wasser auf die Mühlen der „Rechtsguts“-Kritiker gelenkt, indem es in jener ominösen Entscheidung diesen Begriff glaubte marginalisieren zu können. Es meinte, daß die strafrechtliche Rechtsgutslehre zu keiner von Verfassungs wegen zu beachtenden Beschränkung des gesetzgeberischen Ermessens (recte: Gestaltungsfreiheit118) führen könne.119 Das ist insoweit trivial, als es außerhalb des Verfassungsrahmens keine rechtlich belangreichen Schutzgüter geben kann. Es ist ferner insoweit trivial, als der Gesetzgeber sich strafbewehrte Tatbestände für solche – empirisch beobachtbaren – Sachverhalte ausdenken kann, die ihm so sozialschädlich erscheinen, daß er sie hinreichend glaubt, nur noch mit dem „scharfen Schwert des Strafrechts“ unterbinden bzw. zumindest eindämmen zu können. Exemplarisch dafür mag das sog. Umweltstrafrecht stehen, das der Gesetzgeber Ende der 70er Jahren schuf.120 Damit wollte man die Umwelt, ganzheitlicher betrachtet, als – auch strafrechtlich – schutzwürdiges Substrat betonen, anders als es in der zuvor höchst selektiven Weise geschah, etwa durch vereinzelte Vorschriften im Wasserrecht o. ä.121
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BVerfGE 120, 224 ff. (= NJW 2008, 1137 ff.). Ob dieser Anrufung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit ein argumentativer Selbststand zukommt, wird von manchen (nicht ohne Grund) in Zweifel gezogen, Gusy, EuGRZ 1982, 93 (96); Schlaich/Korioth, BVerfG8 (2010), Rn. 531; noch schärfer Hesse, Mahrenholz-FS (1994), S. 541 (542): „deus ex machina“ und „Leerformel“. 119 BVerfGE 120, 224 (242) (= NJW 2008, 1137 [1138 Rn. 39]), – unter Verweis auf Lagodny, Strafrecht (1996), S. 143 ff., 536; Appel, Verfassung (1998), S. 390; ders., KritV 1999, 278 (286 ff.); Hörnle, Verhalten (2005), S. 11 f.; Müller-Dietz, Zipf-GS (1999), S. 123 (132); a.A. Roxin, AT I4 (2006), § 2 Rn. 27, 86 ff. m.w.N. 120 1. Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität (UKG, 18. Strafrechtsänderungsgesetz) v. 28. 3. 1980, BGBl. I, 373. 121 Auf die bis heute (in der Sache) nicht abgeebbte, eher vordergründig endgültig entschiedene Diskussion über das „eigentliche“ Substrat des Umweltrechts, Stichwort „anthropozentrisches“ Verständnis (BT-Drs. 8/2382, S. 9 f.; Bloy, ZStW 100 [1988], 487; Frisch, in: Leipold [Hrsg.], Umweltschutz und Recht in Deutschland und Japan [2000], S. 361 (380); Hohmann, Das Rechtsgut der Umweltdelikte (1991), S. 188 [189]; Lackner/Kühl, StGB27 [2010], Vor § 324 Rn. 7; LK11-Steindorf [1997], Vor § 324 Rn. 12 ff.; Rengier, BT II12 [2011], § 47 Rn. 10; Rudolphi, NStZ 1984, 193 [197]; Schönke/Schröder28-Heine [2010], Vorb. § 324 Rn. 8 ) vs. Verständnis vom „Schutz der Umwelt um ihrer selbst willen“/„ökozentrische“ (etwa: Franzheim/Pfohl, UmweltstrR2 [2001], Rn. 5 f.; Kloepfer/Vierhaus, UmweltstrR2 [2002] Rn. 16 („anthropo-ökologischer Ansatz“); Leimbacher, Die Rechte der Natur [1988], S. 38 ff.; LK11-Steindorf [1997] Vor § 324 Rn. 13), sei nur kurz hingewiesen. Krit. zu diesem 118
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b) Auf der anderen Seite fragt sich der interessierte Laie, woher diese ganzen wunderbaren Karfunkel kommen, die die Verfassungsrechtler, und namentlich das BVerfG, in staunenswerter Selbstgewißheit in das Geschmeide ihrer Auslegung einfügen? Wozu noch groß den Verhältnismäßigkeitssatz bemühen, wenn der Gesetzgeber doch ohnehin nahezu jeden Gemeinschaftsbelang als Legitimierungsgrund für den Erlaß von Strafgesetzen ausreichen lassen darf?122 Und was die dubios-belanglosen „vor-grundgesetzlichen“ Schutzgüter anlangt, so gab es doch auch vor 1949/1933123 so etwas wie Rechts-Interessen o. ä. Auf diese Sichtweisen rekurrierten die Mütter und Väter des GGs.124 Und auch, wenn im HChEntw125 noch ein paar „Rechte“ mehr aufgeführt waren, wird man doch schwerlich leugnen können, daß diese „Rechte“ eine teils traditionelle, teils durch die Schrecknisse der NS-Zeit geänderte, „geläuterte“, Deutung erfuhren. Zu ersterem nur exemplarisch: Trotz der plakativen Festlegung der Gleichberechtigung von Mann und Frau in Art. 3 II GG dauerte es,126 bis die Ehefrauen aus dem Schatten des § 1354 BGB a.F.127 heraustraten mit der dortigen Munt-(Mundium-)Gewalt des Ehemannes und noch ein weiteres Jahrzehnt, bis bei Erziehungsdifferenzen auch der durch das GleichberechtigungsG 1958 eingeführte Stichentscheid des Ehemannes, § 1628 I BGB, abgeschafft wurde.128 Wie auch immer man die Phänomene betiteln mag, die Gegenstand einer gesetzgeberischen Überlegung werden, mittels Straftatbeständen gegen ihre Beeinträchtigung oder Gefährdung einzuschreiten, der Gesetzgeber muß im parlamentarischen
Streit Kuhlen, ZStW 105, 697 (703 ff.) (mit weiteren Abschichtungen); NK4-Ransiek (2013), Vor § 324 Rn. 7 ff. 122 So Appel, Verfassung (1998), S. 204, 390 und ständig. 123 Um nicht mißverstanden (eher: bewußt mißgedeutet) zu werden, füge ich dem Jahr der Gründung der Bundesrepublik und dem In-Kraft-Treten des GG das Jahr der „Machtergreifung“ zu, weil es mir nicht um die „Rechtsguts“-Kreationen aus der unseligen Nazi-Zeit geht. 124 Vgl. dazu die Protokolle des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee des Parlamentarischen Rates, vgl. etwa Deutscher Bundestag und Bundesarchiv (Hrsg.): Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. I: Vorgeschichte (1975), S. 112 ff., Akten und Protokolle, Bd. II: Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee (1981), S. 328; Deutscher Bundestag und Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle. 14 Bände, 1986 – 2009. 125 Vgl. http://www.verfassungen.de/de/de49/chiemseerentwurf48.htm. 126 BVerfGE 3, 225 (247) (= NJW 1954, 65): Norm trat aufgrund des Art. 3 II GG i. V. m. Art. 117 I GG mit Ablauf des 31. 3. 1953 außer Kraft und wurde aufgehoben durch G. v. 18. 6. 1957 (BGBl. I S. 609). Vgl. Dethloff, Familienrecht29 (2009), § 1 Rn. 27 f. 127 Immerhin hatte der Verfassungs-Gesetzgeber mit Art. 117 I GG a.F. dem einfachen Gesetzgeber eine Nachbesserungsfrist des herkömmlichen Familienrechts bis zum 31. 3. 1953 gelassen, – die dieser (man ist geneigt zu sagen: angesichts des damalig vorherrschenden Rollenverständnisses: natürlich) nicht genutzt hatte. Nachsichtig mit dieser Unterlassung: BVerfGE 3, 225 ff. (= NJW 1954, 65 ff.) 128 BVerfGE 10, 59 ff. (= FamRZ 1959, 418 ff. = NJW 1959, 1483 ff.).
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Prozeß – und spätestens vor dem BVerfG – dartun (können), daß das inkriminierte Verhalten gesteigert sozialschädlich ist.129 Gerade das stellt das Gericht aber in Abrede: „Es ist aber grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, den Bereich strafbaren Handelns verbindlich festzulegen. Er ist bei der Entscheidung, ob er ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz ihm wesentlich erscheint, gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen und wie er dies gegebenenfalls tun will, grundsätzlich frei.“130 Fraglos legt – wie gesagt – der Gesetzgeber fest, was ihm schützenswert erscheint und in welchem Umfang und wie (zivil-, verwaltungs-, ordnungswidrigkeiten- oder gar strafrechtlich) er es schützen will. Wer sollte es sonst können in einem gewaltengeteilten demokratischen Rechtsstaat kontinental-europäischer Prägung?131 Doch ist er insoweit auch „frei“? Wahrscheinlich jeder würde sich empören, wollte eine parlamentarische Mehrheit – angesichts der kolossalen Defizite der kommunalen Verkehrsbetriebe – § 265a StGB mit einem Jahr Mindestfreiheitsstrafe – oder auch nur mit einer Mindestgeldstrafe von 5.000,– E – ahnden.132 Und auch wenn man auf See und vor (dem Bundesverfassungs-)Gericht in Gottes Hand ist, traue ich mir die Prognose zu, daß ein von einer, neu aufgekommenen, extrem laizistischen Partei initiiertes strafbewehrtes Verbot, jedwede religiöse Symbole (Kreuz, Halbmond, Davidsstern) in der Öffentlichkeit zu tragen, vor dem BVerfG keinen Bestand hätte. Warum ist das so? Weil die Verletzung des – fraglos Schutz verdienenden – Vermögens von Dienstleistungsautomaten, Beförderungsleistungserbringern etc. evident nicht so sozialschädlich ist, daß er eine so exponierte Sanktionsmöglichkeit rechtfertigen könnte. Oder, im zweiten Beispiel, weil die negative Religionsfreiheit133 schwerlich ein Schutzgut ist, das – unterhalb der Nötigungsschwelle – bei Strafe geschützt werden müßte.134 129 O-Ton BVerfGE 120, 224 (239 f.) (= NJW 2008, 1137 Rn. 35): Es dürfe das Strafrecht nur als „ultima ratio des Rechtsgüterschutzes“ fungieren; das Verhalten müsse für ein geordnetes Zusammenleben unerträglich sein; dabei komme dem Übermaßverbot besondere Bedeutung zu. 130 BVerfGE 120, 224 (239 f.) (= NJW 2008, 1137 [1138, Rn. 35]), unter Verweis auf sich selbst (BVerfGE 50, 142 [162] [= NJW 1979, 1445]; zur Grenzziehung zwischen kriminellem Unrecht und Ordnungsunrecht BVerfGE 27, 18 [30] [= NJW 1969, 1619]; 80, 182 [186] m.w.Nw.; 96, 10 [26] [= NVwZ 1997, 1109]). 131 Exemplarisch: Einfache Steuerhinterziehung ist in Deutschland ein Straftatbestand (§ 370 AO; vgl. auch, seit dem 1. 1. 2011, den Abgabenbetrug in Österreich, § 31 FinStrG), in der Schweiz sogen. bloßes „Verwaltungsunrecht“, in Deutschland aber gleichfalls ein Straftatbestand ist (§ 264a, aber auch § 263 StGB, vgl. Reich, in: Wabnitz/Janovsky, Hdb Wirtschafts- u. SteuerStrR3 [2007] 5. Kap. Rn. 78). 132 Dabei ist es erst gut 150 Jahre her, daß in England auf Pferdediebstahl die Todesstrafe stand. 133 Also die Freiheit, nicht mit religiösen Riten, Symbolen etc. anderer konfrontiert (und, nach eigener Einschätzung, belästigt) zu werden. 134 Selbst in Frankreich, das sich in seinem Art. 1 Verf 1958 zu einer u. a. „laizistischen“ Republik erklärt und das mit dem Burka-Verbot in Westeuropa den Vorreiter gegeben hat
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Beide, Gesetzgeber und BVerfG, müßten also diese Prüfung auch mit offenen Sinnen anstellen und sich einer seriösen, rational nachverfolgbaren Argumentation befleißigen.135 Daß dies bzgl. des § 173-Verfahrens immer geschehen wäre, wird man füglich bezweifeln dürfen: c) Bei der Schutzbereichsbestimmung der sexuellen Selbstbestimmung i. R. d. Art. 2 I i. V. m. Art. 1 I GG wirft das Gericht freilich in der Mehrheits-Begründung für das Inzest-Judikat sofort den Hinweis auf die Vorbehalte hinterher,136 unter denen dieses Recht stehe: „Der Einzelne muss, soweit nicht in den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung eingegriffen wird, staatliche Maßnahmen hinnehmen, die im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit oder im Hinblick auf grundrechtlich geschützte Interessen Dritter unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots ergriffen werden.“ Es fängt mit dem – mit der Tagebuch-Entscheidung „auf Kiel gelegten“137 und leider wohl nicht mehr korrigierbaren138 – Verständnis des allgemeinen Persönlich(Belgien und die Niederlande sind schon gefolgt), ist das untersagte Verhalten „nur“ mit einer Geldbuße bewehrter OWiG-Tatbestand. Bezeichnend aber, welche „Rechtsgüter“ – in Zeiten des Wahlkampfes – aus dem Hut gezaubert werden können: Jetzt sollte in Frankreich das Leugnen des Genozids an den Armeniern sogar unter Kriminalstrafe gestellt werden, vgl. krit. dazu: Moritz Schuller, Geschichte als Dogma, Der Tagesspiegel v. 25. 01. 2012 (http://www. tagesspiegel.de/meinung/genozid-leugnungsgesetz-in-frankreich-geschichte-als-dogma/6106 266.html), sehr krit. auch Reinhard Merkel , Monstrum und Beute, FAZ v. 26. 1. 2012 (http:// www.faz.net/aktuell/politik/gastbeitrag-monstrum-und-beute-11624250.html). Vgl. schon seinerzeit krit. zu dem, generell Entsprechendes vorschlagenden, EU-Rahmenbeschluß den warnenden Aufruf europäischer Historiker, Marc Zitzmann, Wider die „Staatswahrheit“, NZZ.Online v. 27. 1. 2012 (http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/wider_die_staatswahr heit_1.1149155.html); dazu auch: Timothy Garton Ash, The freedom of historical debate is under attack by the memory police, The Guardian 16. 10. 2008 (http://www.guardian.co.uk/ commentisfree/2008/oct/16/humanrights). 135 Daß es daran vor allem in der Mehrheitsmeinung an allen Ecken fehlte, sei exemplarisch nur an dem „Argument“ aufgespießt, Inzestkinder hätten „große Schwierigkeiten …, ihren Platz im Familiengefüge zu finden“, (BVerfGE 120, 224 [245] [= NJW 2008, 1137 Rn. 45]). Das ist evident – praktisch wie theoretisch – nur in Fällen von generationenübergreifendem Inzest denkbar, und daher im konkreten Streitfall ein – Nicht-Argument(!). Krit. auch schon Hörnle, NJW 2008, 2085 (2086). Wenn dies – sinnigerweise – auch noch in Auseinandersetzung mit der Rüge mangelnder sozialwissenschaftlicher Belegbarkeit spezifischer Wirkungen des Geschwisterinzestes (Dippel, NStZ 1994, 182 [183] und LK11-Dippel (2003), § 173 Rn. 7, 13, 15 m.w.N. [ebenso LK12-Dippel (2010), § 173 Rn. 7, 13 ff.; Hörnle, Verhalten [2005], S. 454) abgesondert wird, mit dem unerläuterten Caveat, daß die Deszendenten-Erkenntnisse genauso für Geschwisterinzest gölten, so werden die gängigen Rationalitäts-Anforderungen an die Urteilsbegründung weit unterschritten. 136 BVerfGE 120, 224 ff. (= NJW 2008, 1137) (m. krit. Bespr. Hörnle, NJW 2008, 2085 ff.; m. abl. Bespr. Zabel, JR 2008, 453 ff.; m. krit. Anm. Ziethen, NStZ 2008, 617 ff.; zust. aber etwa: Hilgendorf, NK 2010, 125 ff. In concreto BVerfGE 120, 224 (238 f.) (= NJW 2008, 1137 Rn. 32 f.). 137 BVerfGE 80, 367 ff. (anders allerdings die den Beschluß nicht tragende Hälfte der Richter (BVerfGE 80, 367 [380]), die eine Kernbereichsverletzung bejahten); zum Urt. krit. Amelung, NJW 1990, 1753 ff. So dann auch wieder in der Cannabis-Entscheidung, BVerfGE
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keitsrechts an, das u. a. den Intim- und Sexualbereich des Menschen als Teil seiner Privatsphäre schütze, der aber lediglich in einem „Bereich“ als unantastbar gewährleistet zu betrachten sei, den man – mit Köhler139 – nur auf den Bereich der Gedankenwelt begrenzt verstehen kann.140 Daß man den Bereich der (einverständlichen) Sexualität zwischen erwachsenen, vollverantwortlichen Menschen aus dem Bereich der „höchstpersönlichen Privatsphäre“ herausdefinieren kann, zeigt, auf welche kunstvollen Höhenflüge die „schöne neue Welt“ öffentlich-rechtlichen Argumentierens141 uns noch zu hoffen berechtigt. Das BVerfG sieht § 173 StGB142 durch mehrere Aspekte als (nicht nur möglicherweise) legitimiert an: Familie, sexuelle Selbstbestimmung, Gesundheitsgefahren 90, 145 ff. – und seither ständig, so auch hier, BVerfGE 120, 224 (238). – Nur als Momentum feierlichen Gedenkens sei daran erinnert, daß das BVerfG das auch schon einmal anders gesehen hatte: BVerfGE 34, 258 ff. (= JZ 1973, 504 [m. krit., aber zust. Anm. Arzt]): Jenseits des aus Art. 19 II und 1 I GG abgeleiteten absolut geschützten Kernbereichs des Persönlichkeitsrechts dürften Eingriffe ,im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit‘ und unter prononcierter ,Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes‘ erfolgen (BVerfGE 34, 238 [245 f.] unter Bezug auf BVerfGE 6, 32 [41]). – Demgegenüber ist in dem heute, von BVerfGE 80, 367 breitest ausgeweiteten ,Abwägungsbereich‘ dann auszutarieren, ob den öffentlichen Interessen (namentlich dem an einer wirksamen Strafverfolgung) oder dem Persönlichkeitsschutz des einzelnen der Vorrang zukomme. (BVerfGE 34, 238 [248]; diese Sicht wurde hernach in der [strafrechtlichen] Literatur – in unglücklicher Äquivokation zu BVerfGE 7, 377 – unter dem Stichwort „Dreistufentheorie“ übernommen und gebilligt, vgl. Geppert, JZ 1988, 471 [473]; Gössel, NJW 1981, 651 [655]; ders., JZ 1984, 361; Otto, Kleinknecht-FS [1985], S. 319 [320]; in der Sache ebenso: Gropp, StV 1989, 216 [220 m.w.N.]; Meyer-Goßner55, Einl Rn. 56a). – Zur insgesamt ernüchternden Bilanz der Tragweite des VerhältnismäßigkeitsSatzes in der BVerfG-Judikatur vgl. die Bestandsaufnahme bei Appel, Verfassung (1998), S. 171 ff. 138 Vgl. aber immerhin jetzt BGHSt 57, 71 ff (Unverwertbarkeit von Selbstgesprächen). 139 Köhler, ZStW 107 (1995), 10 (30 f.); vgl. auch Geis, JZ 1991, 112 (115 ff.). Ähnl. auch Greco, ZIS 2008, 234 (238: Reduktion des unantastbaren Kernbereich zu einem praktischen Nichts, denn – wie oben wiederholt geltend gemacht wurde – kann jede auch noch so private Handlung indirekte Folgen für anderen haben.); zust. Noltenius, ZIS 2009, 15 (16 Fn. 3). 140 Ähnl. auch Greco, ZIS 2008, 234 (238: Reduktion des unantastbaren Kernbereichs zu einem praktischen Nichts, denn – wie oben wiederholt geltend gemacht wurde – kann jede auch noch so private Handlung indirekte Folgen für anderen haben); ebenso Noltenius, ZIS 2008, 140 (141). – Man wird jene damalige Mehrheitssicht schwerlich als Errungenschaft bezeichnen können, denn jenes abwägungsfeste ,forum internum‘ war nach damaligem (und ist nach dem derzeitigen Stand der Technik immer noch) technisch ohnehin unerreichbar. – Vgl. jetzt aber die verdienstliche Emanzipation von dieser merkwürdigen Sicht in BGHSt v. 22. 2. 2012, – 2 StR 509/10 (BeckRS 2012, 04721) (Unverwertbarkeit von Selbstgesprächen). 141 Hatte nicht dasselbe Gericht einmal gemeint: Zur Entfaltung der Persönlichkeit in jenem Kernbereich „gehört die Möglichkeit, innere Vorgänge wie Empfindungen und Gefühle sowie Überlegungen, Ansichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art zum Ausdruck zu bringen, und zwar ohne Angst, daß staatliche Stellen dies überwachen. Vom Schutz umfaßt sind auch Gefühlsäußerungen, Äußerungen des unbewußten Erlebens sowie Ausdrucksformen der Sexualität“ (BVerfGE 109, 279 [313] [= NJW 2004, 999 (1002)]) (Abhörurteil)? 142 Zur grundsätzlichen Kritik an der Existenzberechtigung dieser Norm vgl. Al-Zand/Siebenhüner, KritV 2006, 68 (74); Fischer59, § 173 Rn. 3 ff.; Herzberg, GA 1991, 145 (184);
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und Erbgesundheit.143 Nun erscheint es mir außer Frage, daß sexuelle Kontakte bis hin zu Beischlaf oder beischlafähnlichen Handlungen zwischen Eltern, Großeltern sowie Onkel und Tanten einerseits und den Kindern, Enkelkindern bzw. Nichten und Neffen zu einer „Beeinträchtigung der in einer Familie strukturgebenden Zuordnungen144“ führen können.145 Aber der Tatbestand erfaßt nur die die Familienangehörigen auf- und absteigender Linie i. S. d. § 1589 S. 1 BGB146 und er erfaßt nur den Beischlaf selbst. Schon andere haben darauf hingewiesen, daß gerade die letzterwähnte Beschränkung den engsten Familienkreis gerade nicht von Sexualkontakten freihält.147 Wieso denn, zumindest, die sexuellen Übergriffe, die nicht mit einem Eindringen in den Körper des anderen verbunden sind, für eine, das Schutzgut ernstnehmende Tatbestands-Fassung nicht hinreichen – oder – ebensowenig – jedenfalls der Beischlaf von namentlich den ,guten‘ Onkeln mit Nichten oder Neffen, ist nicht nachvollziehbar,148 – wenn denn das Schutzgut die „sexuelle Selbstbestimmung“ oder ein sexualfreies Interaktionsbeziehungs-Geflecht („Familie“) zwischen den Generationen wäre. Wieso andererseits die Relation von Geschwistern, zumal wenn sie frühzeitig getrennt wurden, überhaupt unter den Oberbegriff „Familie“ gefaßt werden dürfen, wird in dem Entscheid i. ü. mit keinem Wort erläutert.149 Hörnle, Verhalten (2005), S. 454 ff.; Jung, Leferenz-FS (1983), S. 311 (320 f.); Schönke/ Schröder28/Bosch, § 173 Rn. 1; knapp auch Stratenwerth, Lenckner-FS (1998), S. 377 (390). 143 BVerfGE 120, 224 (239 ff.) (= NJW 2008, 1137 Rn. 33 ff.). 144 Was immer sich hinter der kryptischen Formulierung verbergen mag. Ich verstehe darunter, daß die Kinder und Jugendlichen in ihrem Bedürfnis nach Vertrauen-Können, u. a. auch danach, wenigstens in der eigenen Familie vor sexuellen Belästigungen und Übergriffen durch Familienangehörige geschützt zu sein, enttäuscht und in ihrer Persönlichkeits-Werdung empfindlich gestört werden können. Ähnliche Phänomene lassen sich in – meist emotional nicht ganz, bisweilen aber durchaus vergleichbar oder gar noch intensiver ausgeprägten – seelischemotionalen Bindungen zu Geistlichen oder Lehrern beobachten, wie die erschütternden Vorgänge um den Mißbrauch durch katholische oder evangelische Priester oder an dem Vorzeigeobjekt Odenwaldschule belegen. Vgl. dazu etwa nur, andeutungsweise: Sexueller Missbrauch durch Priester, Der Spiegel v. 09. 07. 2011 (http://www.spiegel.de/panorama/gesell schaft/0,1518,773423,00.html); Christiane Heil, Missbrauch durch Priester Die Hölle von St. Philomena, FAZ 04. 05. 2010 (http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/missbrauchdurch-priester-die-hoelle-von-st-philomena-1981620.html); zur Odenwaldschule, vgl. http:// www.faz.net/themenarchiv/2.1199/. 145 BVerfGE 120, (245) (= NJW 2008, 1137 Rn. 45). 146 Also keine Adoptivkinder, obwohl sie sonst den natürlichen Kindern rechtlich gleichstehen. 147 Fischer59, § 173 Rn. 3a; Hörnle, NJW 2008, 2085 (2086). 148 Hier würde man dann auch die Fälle des Mißbrauchs von Adoptiv-, Pflege- und Stiefkindern einordnen müssen. 149 Krit. insoweit mit Recht auch schon Hörnle, NJW 2008, 2085 (2086). – Ebensowenig spricht die so auf Familienschutz fixierte Senatsmehrheit den Umstand an, daß mit der UrteilsBilligung in eine – bis dato – intakte „Familie“ hinein interveniert wird. Ist vielleicht für vom christlichen Weltbild (und der dort so gern berufenen Barmherzigkeit) beseelte Richter eine inzestuöse „Familie“ gar keine „im Rechtssinne“. Daß es für jene gezeigte Rigidität an dem mangelnden Trauschein („eheähnliche Beziehung“) gelegen hätte, läßt sich nicht recht vorstellen, – schließlich läßt § 1307 BGB solche „Ehen“ ja gar nicht zu. – Allerdings hatte das
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Nun hat das BVerfG nicht für ein Gleichmaß an Bestrafung bei ähnlich liegenden sozial dysfunktionalen Verhaltensweisen zu sorgen.150 Aber ein so selektiver Schutz desavouiert den Anspruch auf Rationalität, den der Gesetzgeber in einer Demokratie erheben sollte – und nach dem hier Vorgestellten erheben muß.151 Würde jemand bei beginnendem Regen Zeltbahnen verteilen, die im Wesentlichen aus Löchern bestünden, so käme wohl niemand auf die Idee, zu sagen, er habe die solchermaßen Bedachten vor dem Regen zu „schützen“ gesucht. Sich dann hinter die Position zurückzuziehen, der Gesetzgeber habe insoweit weitestes Ermessen, heißt, die eigenen Annahmen in Wirklichkeit Lügen strafen. Besonders pikant: Entstammten die Beschwerdeführer Schichten, die finanziell so gestellt wären wie die Verfassungsrichter, und hätten sie ihre Kinder durch In-vitro-Fertilisation gezeugt, so wären sie – „natürlich“ – straflos geblieben! Und das, obwohl die von der Senatsmehrheit perhorreszierten Gesichtspunkte152 auf sie gleichermaßen zugetroffen hätten, – wenn sie denn überhaupt zuträfen! Das gleiche gilt für die unterschiedslose Gleichbehandlung von Geschwisterinzest in denjenigen Fällen, in denen Abhängigkeiten, Altersunterschiede oder physisches Kraft-Gefälle ausgenutzt werden, mit solchen, in denen sich beide aus echter oder jedenfalls als solche empfundener Zuneigung begegnen, ganz zu schweigen von Konstellationen, in denen beide gar nicht mehr im selben Familien-Verband lebten, ja anfangs von ihrer abstammungsmäßig engen Verwandtschaft gar nichts wußten. Obwohl das MPI-Gutachten gerade diesbezüglich empirische Belege für eugenische Gefahren mit äußerster Zurückhaltung unterbreitet, erschleicht sich das BVerfG mit einem evidenten Taschenspielertrick die Unbeachtlichkeit dieses Aspektes.153 Gericht jenes „Abstandsgebot“ zur (standesamtlichen) Ehe schon einmal als entsprechend rechtlich prägend eingestuft, – wenn auch bei der Gewährung von Arbeitslosenhilfe, BVerfGE 87, 234 ff. (= NJW 1993, 643 ff.). 150 In dem Kontext beruft es sich gern, so auch hier, auf seine nur eingeschränkte Prüfungsbefugnis, BVerfGE 120, 224 (240) (= BVerfG NJW 2008, 1137 Rn. 36), von Hassemer, Rn. 78, noch einmal aufgegriffen: „Das Gericht prüft nicht, ob der Gesetzgeber im Einzelnen die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden hat; es wacht aber darüber, dass die Entscheidung des Gesetzgebers materiell im Einklang mit der verfassungsrechtlichen Wertordnung steht und auch den ungeschriebenen Verfassungsgrundsätzen und Grundentscheidungen des Grundgesetzes entspricht (vgl. BVerfGE 27, 18 [30] [= NJW 1969, 1619]; BVerfGE 37, 201 [212] [= NJW 1974, 1860]).“ (Das sah man – tendenziell – auch schon einmal anders, so etwa bei der Abtreibung, BVerfGE 39, 1 ff. [= NJW 1975, 573 ff.].) 151 Insoweit zutr. Hassemer, in: BVerfGE 120, 224 (261 ff.) (= NJW 2008, 1137 Rn. 92 ff.). 152 U.a.: „Beeinträchtigung der in einer Familie strukturgebenden Zuordnungen“, „institutionelles Abhängigkeitsverhältnis“. – Zu der Bedenklichkeit des eugenischen Aspektes, den das BVerfG für belangreich hält (BVerfGE 120, 224 [247]) (= NJW 2008, 1137 [1140 Rn. 49]), vgl. noch einmal ausdrücklich abl.: Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik (GfH) v. 29. 4. 2008 (http://www.gfhev.de/de/startseite_news/2008_GfH_Stel lungnahme_Inzestverbot.pdf). 153 BVerfGE 120, 224 (246) (= NJW 2008, 1137 [1139/40 Rn. 48]): Dem VerwandtenBeischlaf komme aber auch jedenfalls dann eine selbstständige Bedeutung zu, wenn sich der Mißbrauch eines Kindes über dessen 18. Lebensjahr hinaus erstrecke, „beispielsweise in einer
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Eine besonders eindrucksvolle Argumentationsfigur bemüht die Mehrheit noch mit der Sentenz der kulturhistorisch begründeten, nach wie vor wirkkräftigen gesellschaftlichen Überzeugungen von der Strafwürdigkeit des Inzestes, wie sie auch im internationalen Vergleich festzustellen“ seien.154 Würde die Senatsmehrheit auch eine etwaige Wiedereinführung einer Strafbarkeit von Zauberei und Hexerei, an die nicht nur belangreiche Teile der Bevölkerung glauben, sondern die auch im internationalen Vergleich verbreitet pönalisiert oder per Lynch- oder sonstiger Privatjustiz „geahndet“ wird,155 mit dieser Begründung halten? Vor allem aber: Es ging in concreto überhaupt nicht um die Strafwürdigkeit des Inzestes in seiner Gänze,156 – Situation, in der es nach Eintritt der Volljährigkeit eines langjährigen Missbrauchs- oder Vergewaltigungsopfers zu weiteren sexuellen Handlungen kommt und das Opfer auf Grund von Abhängigkeiten, die ihre Wurzel in der bestehenden familiären Beziehung haben, seine Ablehnung des nach wie vor unerwünschten Beischlafs nicht so deutlich zu erkennen gibt, daß eine Bestrafung des Täters wegen sexueller Nötigung (§ 177 StGB) in Betracht käme“ (was alles nicht falleinschlägig ist); abl.: Hassemer, NJW 2008, 1142 Rn. 90; berechtigt deutlich: Hörnle, NJW 2008, 2085 (2087) – unter zutr. Verweis darauf, daß auch bei § 182 I Nr. 1 der Umstand, daß ein(e) Jugendliche(r) in die Prostitution „hineingeschlittert“ ist, trotz faktisch möglicherweise nachwirkender Verstrickungen nichts an der Straflosigkeit der Freier ändert. – Wären die Verfassungsrichter nicht in einem zumeist deutlich fortgeschrittenen Alter, könnte man in der Begründung ein erschreckendes Beispiel für die mangelnde Beherrschung der sog. „preußischen“ Relationstechnik sehen. Aber man muß darin keine Veranschaulichung für den „süddeutschen“ Examenstypus sehen, der sich, mit seinem ausschließlichen Klausurexamen, bedenklicherweise nunmehr in ganz Deutschland durchgesetzt hat. Die Dinge dürften vordergründiger liegen: Weil man keine wirklichen Argumente hatte, schlug man auf „Pappkameraden“ (nicht fallerhebliche Situationen, nicht fallerhebliche Argumente) ein. Während aber der Argumentations-Modus: viele schwache Argumente mögen in ihrer Summe dann doch ein durchschlagendes Gewicht haben, sich einer verbreiteten Anerkennung erfreut, folgt die Begründung hier dem Grundsatz: viele nichteinschlägige „Aspekte“ tragen ein Resultat auch – kraft Mehrheit. 154 BVerfGE 120, 224 (248) (= NJW 2008, 1137 [1140 Rn. 50]). Auch insoweit, wie hier, krit. Hörnle, NJW 2008, 2085 (2088) 155 Vgl. etwa Louise Hunt, Why is child abuse tied to witchcraft on the rise?, The Guardian v. 18. 1. 2012 (http://www.guardian.co.uk/society/2012/jan/18/child-abuse-witchcraft-exorcismrise), betreffs Großbritannien; Felix Mponda, Malawis Gefängnisse sind voll mit Hexen, N24 v. 22. 06. 2011 (http://www.n24.de/news/newsitem_6993495.html), bzgl. Malawi; Peter Mühlbauer, Hexenverfolgung nimmt zu, heise online Telepolis v. 31. 1. 2012 (http://www.heise.de/ tp/artikel/36/36321/1.html), Afrika betreffend. 156 Immerhin kurz erwähnt sei doch der – verfassungsgerichtlich vielleicht als Marginalie zu behandelnde – Umstand, daß das Gros der diesen Tatbestand behandelnden Stimmen in Deutschland dessen generelle Abschaffung fordert: Al-Zand/Siebenhüner, KJ 2006, 68 ff.; Baumann u. a., AE StGB (1986), S. 59; Ellbogen, ZRP 2006, 190 f.; Fischer59 (2012), § 173 Rn. 2; Frister, AT5 (2012), 2/29 ff.; Hörnle, Verhalten (2005), S. 452 ff.; Jäger, in: Beiträge zur Sexualforschung Bd. 12 (1957), S. 67 (,Atavismus‘); Jung, Leferenz-FS (1983), S. 301 ff.; Karst, Die Entkriminalisierung des § 173 StGB, (2009), S. 199 ff., 237 ff.; Klöpper, Das Verhältnis von § 173 StGB zu Art. 6 Abs. 1 GG (1995), S. 47 ff., 131 ff.; LK12-Dippel (2010), § 173 Rn. 4 ff., 16; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT-29 (2005), § 63 Rn. 86; MK-Ritscher (2005), § 173 Rn. 2 ff.; Roxin, AT I4 (2006), § 2 Rn. 43 f.; Schönke/Schröder27-Lenckner (2006), § 173 Rn. 1; Schönke/Schröder28/Lenckner/Bosch (2010), § 173 Rn. 1; SK7-Horn/ Wolters (2002), § 173 Rn. 2; Stratenwerth, Hinderling-FS (1976), S. 301 (306). Mit großen
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sondern einzig und allein um seine ausnahmslose Erstreckung auch auf diesen extrem besonderen, aber auch tragischen Fall!157 Für das BVerfG kommt es zudem vorgeblich auf den Streit in der Strafrechtslehre, ob Strafnormen, die allein auf dem Schutz von Moralvorstellungen beruhen, illegitim seien, – anders als Normen, die Rechtsgüter schützen sollen, – in concreto gar nicht an, weil sich das Inzestverbot „in der Zusammenfassung nachvollziehbarer Strafzwecke vor dem Hintergrund einer kulturhistorisch begründeten, nach wie vor wirkkräftigen gesellschaftlichen Überzeugung von der Strafwürdigkeit des Inzestes, wie sie auch im internationalen Vergleich festzustellen ist“, rechtfertigen lasse.158 Der eben noch dahingestellte Aspekt hindert das Gericht folglich nicht, ihn als einen weiteren Grund für die Unterfütterung der Strafbarkeits-Rechtfertigung einzustellen. Besonders eindrucksvoll159 muß der Hinweis der Senatsmehrheit erscheinen,160 daß das Inzestverbot nur ein „eng umgrenztes Verhalten zum Gegenstand“ habe „und die Möglichkeiten intimer Kommunikation nur punktuell“ verkürze. Denn, nach der, vom Senat wohl geteilten, h.M.161 ist nur der „Beischlaf“ untersagt. 162 Bedenken auch: Stratenwerth, Lenckner-FS (1998), S. 377 (390) („fragwürdiger“ Tatbestand). – Grundsätzlich die Berechtigung der Norm akzeptierend aber etwa NK4-Frommel (2013) § 173 Rn. 6 f., sowie der Schweizer Schubarth in verschiedenen Abhandlungen, Schubarth, Grünwald-FS (1999), S. 641 ff.; ders., Strafloser Inzest?, Weltwoche v. 1410.2010, S. 20; ders., Dencker-FS (2012), S. 801 ff. 157 Giftig auch Krauß, Hassemer-FS (2009), S. 423 (432), der die Verletzung des Übermaßverbotes nicht nur rügt, sondern auch die verquere Argumentation der Senatsmehrheit aufspießt, daß die Norm wegen ihrer geringen tatsächlichen Bedeutung – verhältnismäßig sei (nachdem sie gerade noch etwas von „ultima ratio“ abgesondert hatte). 158 BVerfGE 120, 224 (239 f.) (= NJW 2008, 1137 [1138, Rn. 35]). Krit. insoweit schon Greco, ZIS 2008, 234 (235). – Die vorgeblich mangelnde Orientierungserheblichkeit des Rechtsguts-Begriffs und seines jeweiligen Verständnisses hindern BVerfGE 128, 326 (374) (= NStZ 2011, 1931 [1937, Rn. 101]) aber nicht, wie selbstverständlich (und mit dem StGB) davon auszugehen, daß es sich bei der Sicherungsverwahrung um eine strafrechtliche Sanktion handele, und fortzufahren: „Nach der Konzeption, die dem zweispurigen Sanktionensystem des Strafgesetzbuchs zugrunde liegt, dient der Freiheitsentzug des Sicherungsverwahrten nicht der Vergeltung zurückliegender Rechtsgutsverletzungen, sondern der Verhinderung zukünftiger Straftaten, deren Eintritt sich zwar sorgfältig, aber regelmäßig nicht sicher prognostizieren lässt“. 159 Sowohl im Hinblick auf die Schlüssigkeit der Argumentation sub specie der sozialen Schutzbedürftigkeit des vom Gericht sonst so gerne hochgehaltenen Verfassungs-Rechtsguts „Ehe“ („Bewahrung der familiären Ordnung“) als auch sub specie des Verständnisses des Terminus „Selbstverwirklichung“ von Eheleuten. 160 BVerfGE 120, 224 (242 f.) (= NJW 2008, 1137 [1138/9 Rn. 40]). Abl., wie hier, insoweit auch Cornils, ZIS 2009, 85 (89). 161 LK12-Dippel (2009), § 173 Rn. 26; NK4-Frommel (2013) § 173 Rn. 14; Schönke/Schrö28 der /Lenckner/Bosch (2010), § 173 Rn. 3. 162 Da Anal- und Oral-Verkehr nach dieser Sicht tatbestands-unschädlich (erst recht[?] rechtsguts-unschädlich) sind, entpuppt sich die nur beiläufig angezogene und als eine unter zahlreichen weiteren Eingriffs-Rechtfertigungen herangezogene Eugenik unter der Hand als belangreiches Argument der Senatsmehrheit. Dazu sogleich.
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Der eugenische Aspekt, den die Mehrheit für einen weiteren Legitimations-Aspekt hält,163 ist nun gleich in doppelter Hinsicht vitiös: Ein Verhalten, das Strafgrund sein soll, im soweit gezogenen Vorfeld zur allfälligen Gefahren-Konkretisierung, nähert sich mit zügigen Schritten dem wahren Gesinnungsstrafrecht.164 Die genetische Gesundheit noch nicht erzeugter Kinder ist wahrlich ein schönes Beispiel für eine ihre Mitglieder „behütende“ Gesellschaft,165 gerade auch wenn man sieht, wie ausgeprägt der Schutz für bereits existieren Kinder in allen deutschen Gauen gepflegt wird.166 Wäre dies ein ernstzunehmender strafbegründender Topos, müßte unser Gesetzgeber – getreu der Pflicht zur Verstraftatbestandlichung von das Rechtsgut „Leben“ bedrohenden Verhaltensweisen167 – das Rauchen sowie den Konsum von Rauschmitteln und Drogen während der Schwangerschaft bei Strafe verbieten, aber auch das Arbeiten in der Nähe von Schadstoffe emittierenden Anlagen. Doch in Wirklichkeit interessiert der herausgestellte Gesichtspunkt den Gesetzgeber – wie auch das BVerfG – gar nicht, wie sich schon daran zeigen läßt, daß – sub specie § 173 – auch sterilisierte oder sonst zeugungsunfähige Geschwister unter diese Norm fallen. Daß die Eugenik überhaupt ein extrem fragwürdiger Gesichtspunkt für eine Tatbestandslegitimation ist, ist schon anderweitig moniert worden: Denn dieser Topos erlaubte es auch, wäre er denn belangreich,168 Personen mit Gendefekten oder Erbkrankheiten oder älteren heterosexuellen Partnern169 Geschlechtsbeziehungen zu untersagen. 163
BVerfGE 120, 224 (247 f.) (= NJW 2008, 1137 [1140 Rn. 49]) und passim. Vgl. dazu auch gleich die zweite Beispielsgruppe der §§ 81a, b, 91 StGB n.F. 165 Mit Recht krit. der Dissent von Hassemer, BVerfGE 120, 224 (258 f.) (= NJW 2008, 1137 [1143 Rn. 83]); Cornils, ZIS 2009, 85 (88); Noltenius, ZIS 2009, 15, (19); Zabel, JR 2008, 453 (456). 166 Vgl. dazu, u. a., o., bei Fn. 72 (Stichwort „resistente Bakterien, Keime, Viren“). – Auch die sich mehrende Zahl von tödlichen Kindesmißhandlungen – unter den Augen der, freilich notorisch schwachbrüstig besetzten, Jugendämter – sollte einen nachdenklich stimmen, was die Schutzbedürftigkeit von Nondum-Concepti anlangt. Oder, in Österreich: Dort wurden mutmaßlich bis in die sechziger Jahre Kinder in Heimen für medizinische Versuche mißbraucht, indem ihnen eine Malaria-Therapie gegen psychische Erkrankungen, das Tiermedikament Epiphysan gegen „sexuelle Übererregung“ verabfolgt wurde oder Aufmüpfige mit Röntgenstrahlen ruhiggestellt worden sein sollen, vgl. Cathrin Kahlweit, Röntgenstrahlen zur Beruhigung, SZ 14. 2. 2012 (http://www.sueddeutsche.de/panorama/skandal-um-oesterreichi sche-kinderheime-roentgenstrahlen-zur-beruhigung-1.1284162). 167 BVerfGE 39, 1 ff. (= NJW 1975, 573 ff.) (Abtreibungsurteil). 168 Der historischen Dimension dieses Einwandes entzieht sich die Mehrheit mit einer petitio principii: „Die ergänzende Heranziehung dieses Gesichtspunkts zur Rechtfertigung der Strafbarkeit des Inzests ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil er historisch für die Entrechtung von Menschen mit Erbkrankheiten und Behinderungen missbraucht worden ist“, BVerfGE 120, 224 (247 f.) (= NJW 2008, 1137 [1138/9 Rn. 49]). Treffend dagegen schon Hassemer, BVerfGE 120, 224 (258 ff.) (= NJW 2008, 1137 [1143 Rn. 82 ff.]). – Aber selbst wenn man von der Eugenik wegwollte, und das „Schutzinteresse“ in den Bereich der Gesamtheit der Krankenversicherten und ihres Versichertenvermögens verschöbe, offenbarte dies die Schwachbrüstigkeit des Gedankens. 169 Z.B. das um 50 % höhere Risiko, Kinder mit Autismus in die Welt zu setzen, bei Frauen über 40 als bei Frauen zwischen 25 bis 29 Jahren, Janie F. Shelton et al., Independent and 164
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Nicht anders als bizarr ist es zu nennen, wenn die Senatsmehrheit glaubte, den Schutz der „sexuellen Selbstbestimmung“ in diesem Kontext ins Feld führen zu können.170 Jedenfalls solange keine die Selbstbestimmungsfähigkeit beeinträchtigenden Aspekte aufscheinen, ist der einvernehmliche Geschlechtsverkehr unter Erwachsenen unter keinem ernstzunehmenden Gesichtspunkt als der Selbstbestimmung widerstreitend vorstellbar.171 Auf der gleichen Ebene der vermeintlichen persuasiven Ergebnis-Erlistung liegt es, wenn, sub specie „Erforderlichkeit“ dem „Opfer“172 als Folge der „Durchführung eines Strafverfahrens“ ein positiver Einfluß in Aussicht gestellt wird, „etwa durch die öffentliche Anerkennung als Opfer, die Verminderung von Schuldgefühlen, die Stärkung des Selbstwertgefühls oder die Herbeiführung einer moralischen Zufriedenheit über ein gerechtes Urteil“.173 Nachgerade erschütternd ist die nichtssagende174 Manier, in der eine (bis zu den juristischen Interventionen) – nach landläufigen Kriterien – „intakte“ Familie mit den strafrechtlichen Hammerschlägen zerlegt wurde, und das BVerfG gleichwohl eine verfassungserhebliche Beeinträchtigung von Art. 6 GG und dessen Schutzbereich nicht zu erkennen vermochte.175 c) Das BVerfG wählt gegenüber dem hier Befürworteten einen etwas anderen Zugang: Es vertraut ganz auf die erkenntnisleitende Funktion des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Das ist alter Brauch,176 und es sei auch nicht bestritten, daß das BVerfG dependent contributions of advanced maternal and paternal ages to autism risk, Autism Research 3 (2010), 30 ff. (http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/aur.116/pdf). Oder etwa: Die biologische Uhr des Mannes, Der Spiegel v. 6. 6. 2006 (http://www.spiegel.de/wissenschaft/ mensch/0,1518,419789,00.html). 170 BVerfGE 120, 224 (252) (= NJW 2008, 1137 [11409 Rn. 61]). 171 So schon Marx , Die Definition des Begriffs Rechtsgut (1972), S. 86; zust. jetzt wieder Karst, Entkriminalisierung (2009), S 162. 172 Welches ist das „Opfer“, – beim Inzest unter erwachsenen Geschwistern, die sich in Liebe zu einander hingezogen fühlten? 173 BVerfGE 120, 224 (247 f.) (= NJW 2008, 1137 [1141 Rn. 59]). In den Ohren der plötzlich mit ihren drei Kindern allein dastehenden Mutter, die durch staatliche Hypokrisie im Gewande des Rechts um ihren Lebenspartner gebracht wird, müssen gerade solche Ausführungen wie eine zynische Verhöhnung klingen. 174 … und damit geradezu heuchlerisch wirkende … 175 BVerfGE 120, 224 (253) (= NJW 2008, 1137 [1941 Rn. 64]). 176 Vgl. die vorbildliche Definition der Begriffe in BVerfGE 30, 292 (316). Ausführlich zu den, nicht nur terminologischen, Differenzen um diesen Begriff etwa v. Arnauld, JZ 2000, 276 ff.; Grabitz, AöR 98 (1973), 568 ff.; Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht (1961), passim; Schlink, Abwägung im Verfasssungsrecht (1976), S. 15 f, 48 ff., 143 ff.; Hirschberg, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (1981); vgl. auch Kirchhof, Gleichmaß und Übermaß, Lerche-FS (1993), S. 133 ff.; Ossenbühl, Lerche-FS (1993), S. 153 ff.; Stern, Lerche-FS (1993), S. 165 ff.; zusammenfassend und konkretisierend: Paeffgen, U-Haft (1986), S. 165 ff.; vgl. auch B. Remmert, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Grundlage des Übermaßverbotes (1995). – Vgl. aber auch die nicht ohne Grund sehr kritischen, wenn bisweilen auch etwas überpointierenden Ausführungen von Eb. Schmidt, NJW 1969, 1137 (1141 ff.); tendenziell insoweit zust. Kühne, StrPR8 (2010) Rn. 287 f. Vgl. auch Hassemers Bedenken gegen
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damit manches segensreiche Resultat erzielt hat. Da auch dem BVerfG klar sein dürfte, daß dieser Grundsatz – ausschließlich – ein heuristisches Prinzip ist, erliegt er wohl eher dem vergiftenden Charme der Handhabung dieser Maxime im Sinn eines „(nearly) anything goes!“ Allein, man kann nur etwas ins Verhältnis setzen, was man zuvor – irgendwie – bemessen hat; und das gleiche gilt selbstverständlich für die Bezugsgröße.177 Dann ist man aber – quelle surprise – genau bei dem Problem des „Rechtsguts“ und den o. a. Anforderungen.
IV. Schluß Es sei nicht bestritten, daß diese vorgeschlagene Sicht an sog. „weiche“ Kriterien anknüpft, die sowohl dem Parlament, wie – im allfälligen Nachgang – dem BVerfG ein starkes Maß an Selbstdisziplin abnötigen. Der einfachere Weg ist sicher derjenige, alles beim Alten zu lassen und, je nach Bedarf, ein wenig mit dem „Alleskleber“ des Öffentlichen Rechts, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz,178 herumzukleistern179 oder zumindest, mit den oben sub 2. c) die überbordende Tendenz, Abwägungsdogmatik statt Rechtsanwendung zu betreiben, KritV 1988, 336 (343). Positiver aber zum Verhältnismäßigkeits-Satz ders., in: v. Hirsch/ Seelmann/Wohlers (Hrsg.), Mediating Principles (2006), S. 121 ff. 177 Um nicht gleich in die Ecke der heulenden Schakale abgeschoben zu werden, die freilich den Forttrott (nicht notwendig: Fortschritt) der Karawane nicht zu hindern vermögen, sei ein anerkannt Großer des Faches zitiert: „Die gesetzlichen Definitionen, z. B. § 100, würden sinnlos sein, wenn die definierten Begriffe nicht als Elemente anderer Bestimmungen und schließlich erlassener Gebote vorkommen würden. Gleiches gilt aber für alle Rechtsaussagen. Vgl. Rechtsgewinnung, S. 35 Anm. 3“, Ph. Heck, AcP 112 (1914), S. 1 (15, Fn. 36, unter Verweis auf sein: Das Problem der Rechtsgewinnung [1912]). – Zu der von Lagodny, Strafrecht (1996), S. 347 f., befürworteten doppelten Verhältnismäßigkeits-Prüfung (sowohl bzgl. der Verhaltens- wie der Sanktionsnorm) krit. Böse, in: H./v.H./W., Rechtsgutstheorie (2003), S. 89 (94 f.); Hefendehl, Rechtsgüter (2002), S. 90 ff.; Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat (1998), S. 50 f., 164 f. 178 Wobei ich dessen Möglichkeiten auch nicht unterschätze, wie ich glaube, im Rahmen meiner Habilitationsschrift (Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des U-Haftrechts [1986], S. 165 ff.) gezeigt zu haben (nur, damit man mich in einer Zeit, in der kaum noch Zeit zum Lesen bleibt, – nicht vorschnell den [zugegebenermaßen zahlreichen] Strafrechts-Autoren zugesellt, die das Öffentliche Recht tatsächlich geflissentlich ignorieren). Abgewogen auch Neumann, in: v. Hirsch/Seelmann/Wohlers (Hrsg.), Mediating Principles (2006), S. 128 ff. 179 Die ganze Methodenstrenge, die weite Teile des deutschen Öffentlichen Rechts beherrscht, belegt der Titel eines Beitrags von M. Baldus: Der Kernbereich privater Lebensgestaltung – absolut geschützt, aber abwägungsoffen, JZ 2008, 218 ff. – Ernster-kritisch hierzu schon Noltenius, ZIS 2009, 15, (16 Fn. 5). – Dazu, daß man beim BVerfG auch schon einmal methodisch anspruchsvoller war, vgl. nur BVerfGE 20, 323 (331) (hier auf das Rechtsstaatsprinzip gestützt); 25, 269 (285 ff.) (gestützt auf Art. 1 I und Art. 2 I GG); 45, 187 (259 f.) (bei der Kombination aus Rechtsstaatsprinzip und Art. 1 I und Art. 2 I GG); 54, 100 (108); 91, 1 (27); 95, 96 (131 f.); 109, 133 (171); 110, 1 (13); 117, 71 (89); Hörnle, Tiedemann-FS (2008), S. 325 ff.; H.A. Wolff, AöR 124 (1999), 55 ff.
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Hans-Ullrich Paeffgen
aufgeführten Stimmen, den beiden Hauptprotagonisten, Gesetzgeber und BVerfG, ein bißchen mehr an Begründungslast für die Norm-Legitimation zuzuschieben. Auch wenn man – angesichts unseres Wahlrechts – derzeit nicht davon ausgehen muß, daß radikale Positionen in einem breiten Maße in der Politik die Oberhand gewinnen können, so bedarf es doch nur ähnlicher Ereignisse wie des 11. Septembers 2001, um auch bei uns den Gesetzgeber durchdrehen zu lassen.180 Unser EU-Nachbar Ungarn führt uns dies (bezeichnender-, obschon zugleich glücklicherweise, ohne einen solchen, wahrhaft erschütternden, Anlaß, aber vor dem Hintergrund eines kardinalen Versagens der alten politischen „Elite“) gerade vor Augen, was eine verfassungsänderungsfähige Parlamentsmehrheit – als Ausfluß der Demokratie – für demokratiefeindliche Aktivitäten181 an den Tag legen kann.182 Auf dem Weg zu einem „Sicherungsrecht“ zur „gesamten Hand von Strafverfolgung, Polizei und Nachrichtendienst“183 mag all das Vorstehende wenig dogmatisch nachhaltig Sperrendes bringen.184 Aber man sollte auch nicht mutwillig auf Topoi verzichten, die eine Abschichtung zwischen den Rechtsbereichen zu unterfüttern helfen können, wie eben dem Erfordernis, daß strafrechtliche Normen dem Schutz der Freiheit in interpersonalen Anerkennungsverhältnissen zu dienen – oder anderenfalls keine Daseinsberechtigung haben. Jedenfalls erscheint der verbreitete Vorwurf, 180 Immerhin hat eben dieser, demokratisch legitimierte, Gesetzgeber auf der schiefen Ebene hin zum „Feind“-Strafrecht (dazu, neben vielen anderen: Paeffgen, Amelung-FS [2009], S. 81 ff.) schon erhebliche Fahrt aufgenommen, als er jene gloriösen Tatbestände der §§ 89a, b, 91 n.F. ins StGB (dazu o. schon, Fn. 42) promulgierte. – Einen Ausblick auf die Morgenröte der Dogmatik nach dem Siegeszug des angezogenen öffentlich-rechtlichen Denkens bietet etwa Heintzen als Sachverständigen in der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses: Der Entwurf sei „erforderlich, weil sein Nichterlass zwar milder, aber nicht gleich wirksam wäre“ (http://webarchiv.bundestag.de/archive/2009/0605/ausschuesse/a06/anhoerungen/51_Staats gef__hrdene_Gewalttaten/04_Stellungnahmen/Stellungnahme_Heintzen.pdf, S. 3). 181 Vgl. etwa Till Mayer, Das System Órban raubt Ungarn die Seele, Spiegel v. 18. 3. 2012, http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,820826,00.html. Bezeichnenderweise, während ganz Europa sich darin überschlägt, den sich verzockt habenden Banken und Hedgefonds Hunderte von Milliarden nachzuwerfen, – und deswegen solche „Petitessen“ nicht wahrzunehmen, geschweige denn wirklich ernst zu nehmen vermag, – außer daß die EU daran Anstoß nimmt, daß die Ungarische Notenbank ihre Unabhängigkeit zu verlieren droht, vgl. etwa: EUKommission geht gegen Ungarn vor, Die Zeit v. 17. 1. 2012 (http://www.zeit.de/politik/ausland/ 2012-01/ungarn-verfassungsreform-eu). 182 Vgl. dazu etwa nur: Philipp Oehmke, Rechtskultur, Der Spiegel v. 12. 12. 2011 (http:// www.spiegel.de/spiegel/print/d-82995610.html); György Konrád, ZENSUR / Eine neuartige Diktatur / György Konrád über das ungarische Mediengesetz, Der Spiegel v. 10. 1. 2011 (http:// www.spiegel.de/spiegel/print/d-76229510.html). Mit vornehm zurückhaltendem Tadel für die ungarischen Zustände, aber bei gleichzeitigem Blick auf die auch in anderen europäischen Staaten (incl. Deutschland) gefährdete Medienfreiheit; Cornils, M.Schröder-FS (2012) S. 125 ff. Vgl. aber immerhin jetzt: EuGH, Urteil vom 06. 11. 2012 – C-286/12. 183 Vor dem ich noch vor einigen Jahren gewarnt hatte, Paeffgen, Amelung-FS (2009), S. 81 (123). 184 Mißbilligend gegenüber diversen dogmatischen Bemühungen in Deutschland leider auch Lagodny, Amelung-FS (2009), S. 51 ff. (der mit der „übertriebenen“ „Vergrundsätzlichung“ in der deutschen Strafrechtsdogmatik ,abrechnet‘).
Das „Rechtsgut“ – ein obsoleter Begriff?
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der Rechtsgutsbegriff sei unterkomplex, solange dürftig gegründet, solange er aus dem Munde derer kommt, die den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hypostasieren, wenn nicht gar hypertrophieren. Vielleicht aber brauchen wir das alles bald nicht mehr – in Zeiten, in denen der staatliche Strafanspruch in kleinen Zirkeln ausverhandelt wird, § 257c StPO (wenn sich der Beschuldigte nur einen tüchtigen – oder zumindest klebrigen – Verteidiger leisten kann)185 – und in denen bildungsaverse Bildungs- und Rechtspolitiker (und Universitäten) unsere jungen Rechtsadepten durch ein Turbo-Studium hetzen – mit stumpfsinnigem Klausuren-Schreiben und sachwidrigem Belohnen des SchnellStudierens, ohne daß jenen viel Zeit zum Nachdenken über dessen Inhalte bleibt.186 Wenn es dann letztlich nur noch um die Abwehr von Störungen irgendwelcher Belange von gewisser öffentlicher Erheblichkeit geht,187 sollten wir überlegen, ob man nicht jenen, scheint’s, zunehmend überflüssiger werdenden Zweig der „Ordentlichen Gerichtsbarkeit“ gänzlich ein-, und alles dem Regime des Verwaltungsrechts unterstellt. Die dortigen Protagonisten (und nicht nur deren universitären Fachvertreter) berühmen sich ja ohnehin, intelligenter mit dem Proportionalitäts-Prinzip umgehen zu können.188
185
Eschelbach, Beck-Online-Kommentar StPO (Stand 15. 10. 2011), § 257c Rn. 1 ff.; Fischer, NStZ 2007, 433 ff.; ders., StraFo 2009, 177 ff.; ders., StGB59 (2012), § 46 Rn. 114 ff.; Harms, Nehm-FS (2006), S. 289 ff.; KMR-v. Heintschel-Heinegg (56. Lfg. 2009), § 257c Rn. 1; LR26-Stuckenberg (2013), § 257c Rn. 1 ff.; Schünemann, GA 2006, 378 (379 f.); SKStPO/Paeffgen (2011), § 202a Rn. 1 ff.; Tolksdorf, DIE WELT v. 31. 01. 2009, Heft 26/2009, S. 2 oder FAZ NET v. 30. 1. 2009 (unter http://www.faz.net/s/RubD5CB2DA481C04D05AA471 FA88471AEF0/Doc~EB1088EDA70134E7AACCCB46D6AA49956~ATpl~Ecommon~Scon tent.html). 186 Schlagend: Zaczyk, Rechtswissenschaft oder McLaw, Bonner Rechtsjournal (Sonderheft) 2008, 1 ff. (http://www.bonner-rechtsjournal.de/fileadmin/pdf/Sonderausgabe1-2008.pdf). Vgl. ferner Paeffgen, Zu den Fragwürdigkeiten des kommerziellen Repetitoriums, Bonner Rechtsjourna 2008, 26 ff., http://www.bonner-rechtsjournal.de/fileadmin/pdf/Artikel/012008/ BRJ_01_2008_Paeffgen_Repetitorium.pdf. 187 Das belegt leider auch das Judikat des EGMR in re Stübing: EGMR – Stübing/D, Urt. v. 12. 4. 2012, 43547/08 (= BeckRS 2012, 13105 = NLMR 2/2012, 119), das leider gleichfalls im Vordergründig-Floskelhaften verbleibt. Es ist davon geprägt, nach den heftigeren Rencontres mit dem BVerfG in der jüngeren Zeit (z. B. Sicherungsverwahrung), daß der EGMR es sorgsam vermied, tiefer in die Sache einzusteigen, indem er sich auf den margin of appreceation zurückzog. Milder Tadel insoweit auch von Jung, GA 2012, 617 ff.; dem EGMR zust. aber Kubiciel, ZIS 2012, 282 ff. 188 Nur am Rande sei vermerkt, daß sich auch in einem anderen dogmatisch, scheint’s, zurückgeblieben Gebiet, dem des Zivilrechts, gelegentlich Stimmen äußern, die vermeinen, dem Gedanken des Rechtsgüterschutzes noch etwas Sinnhaftes entnehmen zu können, vgl. etwa Thomas M. J. Möllers, Rechtsgüterschutz im Umwelt- und Haftungsrecht (1996).
Zur Bedeutung ethisch-wissenschaftlicher Erörterungen über Gefühle für das Strafrecht Von Maria Fernanda Palma1
I. Der Stellenwert der Gefühle in den bedeutenden Erzählungen über den Sinn des Menschseins 1. Es gibt ein Strafrecht, das die Gefühle2 in den Mittelpunkt der Verantwortlichkeit rückt und eben diese Verantwortlichkeit sowie deren Minderung bzw. Steigerung von selbigen abhängig macht, und es gibt ein Strafrecht, welches den konkreten Menschen durch die Unterstellung einer Rationalität ersetzt – durch einen Homunculus, wie Ronald de Sousa anregte3 –, für welches das „du sollst“ im Sinne einer strikt kantianischen4 Logik ausreichend für die Anerkennung des „du kannst“ ist, anstatt umgekehrt das „Sollen“ vom „Können“ abhängig zu machen. Doch stehen wir hierbei keineswegs vor einem faktischen Gegensatz von strafrechtlichen Ideologien, der etwa eine klare Grenze zwischen zwei antagonistischen Feldern beschreibt und einen Streit zwischen verschiedenen Denkschulen auslöst. 1
Aus dem Portugiesischen übersetzt von André Hölzer. Der in diesem Beitrag behandelte Begriff stimmt zum einen überein mit dem cartesianischen Begriff der Emotion (aus dem lat. ex motu), durch den eine psychisch-physiologische Kraft zum Ausdruck gebracht wird, welche einer Handlung Vorschub leistet, die vom Einzelnen nicht vollständig rational kontrolliert werden kann (bzw. „Gemütsbewegungen und Leidenschaften im engeren Sinn“ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, 1974, S. 22); zum anderen fällt er zusammen mit einem eher auf das Selbstbewusstsein Bezug nehmenden Begriff, welcher in den romanischen Sprachen sich aus dem lateinischen ,sensus‘ ableitet (sentimento, sentiment usw.) und im Englischen als ,feeling‘, aber eben auch ,sentiment‘ erscheint. Mit der Verwendung des Ausdrucks ,Gefühl‘ sollen hier beide Sinngebungen umfasst werden, auch wenn im Allgemeinen der Vorstellung eines bewussten Erlebens der Vorzug gegeben wird. Doch wird in der Konzeption der Wirklichkeit selbst, die bezeichnet werden soll, bisweilen eine Gemütsbewegung herausgestellt, während in anderen Fällen das, was man fühlt und was bewusst ist, hervorgehoben wird. Zu diesen begrifflichen und terminologischen Fragestellungen in der Geschichte der Philosophie im Allgemeinen, vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie (1974) und die dort zitierte Bibliografie. 3 Vgl. de Sousa, in: Rorty (Hrsg.), The Identities of Person, 1969, S. 217 ff. 4 „[…] und gleichwohl kann es keine Not geben, welche, was Unrecht ist, gesetzmäßig machte“, s. Kant, Werke in zehn Bänden (hrsg. v. Weischedel): Band 7, Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie (darin: Metaphysik der Sitten, Anhang zu der Einleitung in die Rechtslehre, II. Das Notrecht), 1975, S. 343. 2
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Maria Fernanda Palma
Tatsächlich besteht keine zugestandene, aktive Auseinandersetzung zu dieser Sache, ja das Fehlen einer zentralen Rolle der Gefühle innerhalb der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist geradezu friedvoll, sei es nun aus Gründen pragmatischer und prozessualer Natur, sei es aus Gründen kriminalpolitischer Wirksamkeit oder aus Gründen einer Ethik der Verantwortlichkeit mit normativer Ausrichtung. Eher stehen geschichtlich einzuordnende Weltanschauungen zur Debatte, die implizit Entwürfe strafrechtlicher Verantwortlichkeit durchdringen. Wie dem auch sei, eine Gegenüberstellung zwischen einem Strafrecht der Gefühle und einem Strafrecht, das selbige ignoriert oder zurückweist, kommt durchaus in Betracht. Eine solche Gegenüberstellung zieht Nutzen aus der Suche nach Ähnlichkeiten in den großen ästhetischen Strömungen, wie der Klassik und der Romantik, welche den Gefühlen unterschiedliche Rollen zum Begreifen der Person beimessen, und sie entweder anpreisen oder gering schätzen. Auch wenn fest steht, dass es in der Geschichte des Strafrechtes keine derartigen Untergliederungen gibt, so ist die Analogie zwischen diesen verschiedenen Weltanschauungen – die es in Literatur und Musik ermöglichen, Werke und Schaffer einer bestimmten historischen Epoche einander zuzuordnen – und den möglichen Grundkonzeptionen der strafrechtlichen Verantwortung doch attraktiv. Im Grunde ist uns daran gelegen zu erörtern, wie das Strafrecht in seinem Geltungsbereich Antwort auf die Grundfrage finden kann, was eine Person ist und was sie sein kann. In den Konzeptionen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit spiegelt sich ebenso ein ästhetischer Aufbau wider. Tatsächlich kann sich ein ethisches System nur dann durchsetzen, wenn ihm ein emotionaler Beitritt zu Grunde liegt, worin es sich den ästhetischen Kriterien annähert.5 Beispielsweise kann nicht Kantianer sein, wer (vernunftbestimmt) will, sondern nur, wer sich dazu (affektiv) hingezogen fühlt. Und auch das Gegenteil kann behauptet werden, d. h. jedwede Ästhetik ist mehr oder wenig offen mit einer Begründung gegenüber den Anderen verknüpft, die zumindest formale Kriterien einer Ethik aufweist. 2. Doch ist es überhaupt nutzbringend für die Entwicklung rechtlicher Vorstellungen, von einem romantischen oder klassischen Strafrecht zu sprechen? Eine solche Beurteilung macht im hier dargestellten Zusammenhang von dem Moment an Sinn, da man die Anpreisung der Gefühle in der Romantik und ihre Unterordnung unter die Vernunft in der Klassik in Betracht zieht. Wie auch Klassik und Moderne, so äußerte sich die Romantik in einer Suche nach Antworten auf die überragenden spirituellen Fragestellungen, über den Sinn des Lebens und die Geschichte. Es handelt sich, um die Worte von Jean-François Lyotard aufzugreifen,6 um eine Art von Metaerzählungen, die dem Schicksal des Menschen den Verleih von Sinn zu rechtfertigen suchten, ausgehend von einem umfassenden synthetischen Diskurs über das, was der Mensch ist. 5 6
Vgl. Williams, Ethics and the Limits of Philosophy. London, 1985, S. 174 ff. Vgl. Lyotard, Das postmoderne Wissen (hrsg. v. P. Engelmann), Wien, 2012.
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Auf diese Weise sollte es möglich sein zu verstehen, wie jene Metaerzählungen sich historisch betrachtet auf dem strafrechtlichen Gebiet ausbreiteten, und bis zu welchem Ausmaß sie sich heute in den Systemen der Zurechnung von Verantwortlichkeit in Bezug auf den Stellenwert von Gefühlen widerspiegeln. Das Ziel der hier vorliegenden analytischen Betrachtung erhebt nicht den Anspruch, a priori ein exakt umrissenes Ergebnis zu erreichen – etwa, eine gewisse Vorstellung von Verantwortlichkeit zu begründen –, vielmehr wird ein eigener Handlungsablauf verfolgt werden.
II. Was sind Gefühle? 3. Bevor der Frage der möglichen Existenz eines romantischen Strafrechtes nachgegangen werden soll – was sich damit begründen lässt, dass die Romantik Gefühle anpreist, was es erlaubt, Parallelen zum strafrechtlichen Denken zu ziehen –, muss die Bedeutung des Wortes, welches zentraler Punkt dieser Betrachtung ist, erklärt werden: wovon spricht man eigentlich genau, wenn von Gefühlen die Rede ist? Und was kann im Strafrecht ein angemessener Sinn für diesen Ausdruck sein? Wie bereits Augustinus von der Zeit sagte, wenn niemand danach fragt, was sie ist, dann weiß man es, will man sie jedoch erklären , wird die Antwort schwierig.7 Was hingegen hier erzielt werden soll ist nun keineswegs der angemessenste Sinn des Begriffes „Gefühl“, sondern schlicht, einer Auslegung Substanz zu geben, mit welcher die Begriffe der Verantwortung umgehen können. Martha Nussbaumführt die Gegensätzlichkeit einer mechanistischen und einer evaluativen Gefühlskonzeption an.8 Entsprechend ersterer wären Gefühle Gemütsbewegungen, die die Menschen zur Handlung antreiben, ohne auf rationale Kriterien zurückzugreifen, außerhalb des Einflusses der kulturell determinierten Antworten; sie seien Bestandteile der angeborenen, menschlichen Ausstattung, die von Disziplinen wie Psychologie und Physiologie untersucht werden. Umgangssprachlich entsprächen Gefühle dem Zustand, außer sich zu sein, einer instinktiven, nicht rationalen Kraft zu gehorchen. Der evaluativen Konzeption zufolge sind Gefühle Teil der Erfahrung des Wertes eines Gegenstandes für das Wohlbefinden des Individuums; sie sind von einem bewertenden Urteil über den Gegenstand abhängig und von einem Austausch zwischen dem Individuum und seinem sozialen und kulturellen Umfeld. Aus diesem letzteren Blickpunkt seien nach Aristoteles die Gefühle dem Charakter der Person inhärent, und passten sich den jeweils sich darbietenden Situationen an.9 Die weise Person hat Furcht vor ihrem Tod, Ehrfurcht vor Kalamitäten und ist 7
Augustinus, Confessiones, Lib. XI, 14, 17. Vgl. Nussbaum/Kahan, Columbia Law Review 96(1996), S. 269 ff. 9 Vgl. Aristoteles, Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 3. Nikomachische Ethik (nach d. Übers. von Eugen Rolfes), 1995, S. 106 – 121 (fünftes Buch, Kap. 6 – 10). 8
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wütend gegenüber Angriffen gegen sich selbst oder gegen die, die er liebt. Letztlich sind Gefühle Urteile, die Situationen einschätzen und eine adaptive Rolle in der Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Realität innehaben. 4. Nun könnte man denken, dass eine der beiden angeführten Konzeptionen den Belangen des Rechts angemessener sei als die andere, und eine der beiden auszuwählen ist – so wie Martha Nussbaum es tat, die der evaluativen Konzeption Vorzug gab.10 Nicht zuletzt neigt die mechanistische Konzeption dazu, die unter einem emotivem Zustand handelnden Personen aus der Verantwortung zu ziehen, welcher Natur dieser Zustand auch sein mag, wenn man seine Nicht-Zentralität in Betracht zieht. Auf diese Weise stellt die mechanistische Konzeption den Glauben an die Gültigkeit und Anwendbarkeit des Rechtes in Frage. Dennoch schließen sich beide Konzeptionen nicht notwendigerweise gegenseitig aus, und eine allumfassende Auswahl einer der beiden ist nicht erforderlich. Tatsächlich zieht Martha Nussbaum die evaluative Konzeption vor, weil sie der Meinung ist, nur diese sei aus zwei prinzipiellen Gründen philosophisch wahrhaftig: sie ermöglicht die Differenzierung von Gefühlen und gibt ihrer Existenz Grundlage.11 So ließe sich, aus mechanistischer Sicht, nicht erklären, weswegen man in einem Fall Furcht hat und im anderen wütend ist. Doch erklärt auch die evaluative Konzeption nicht die Auswirkung der Gefühle auf das Verhalten, und unterscheidet nicht zwischen Urteilen und Gedankengängen oder anderen mentalen Zuständen, und löst ebenso wenig die Frage der Kontrolle, es sei denn, man greift auf eine Illusion des Könnens zurück. Die mechanistische Konzeption zielt auf den Kernpunkt der Gefühle als ein Typ einer Verhaltensäußerung und erkennt, allem voran, die entscheidende Frage nach der strafrechtlichen Verantwortung an. Dabei geht es darum, ob es eine Selbstbeherrschung gibt, welche gleichzeitig eine Verantwortung rechtfertigt, die auf der Möglichkeit einer Verhaltensalternative fußt, oder ob die Zuschreibung von Verantwortung noch andere für das Rechtswesen relevante Faktoren oder Kriterien einbeziehen muss, vor allen Dingen in Bezug auf die Wiedergutmachung von durch das Verbrechen verursachten Schäden. Hier soll die Ansicht vertreten werden, dass die mechanistische Konzeption nicht schlicht und einfach verdrängt werden kann, insofern mit ihr eine Möglichkeit besteht, strafrechtliche Verantwortung zu begründen, oder anders, sie bezieht sich auf die Frage nach der Freiheit. Die evaluative Konzeption und die bewertende Funktion der Gefühle setzen voraus, dass diese Frage im Vorhinein geklärt ist. Die auf Aristoteles zurückgehende Betrachtung der Gefühle als eine Bewertung von Situationen in Abhängigkeit von einem Lebensprojekt begründet lediglich das Bestehen und die Abstufung von Verantwortung gemäß rechtlicher Kriterien, insoweit als das
10 11
Vgl. Nussbaum/Kahan (Fn. 8) und Nussbaum, Upheavals of Thought, 2008, S. 19 ff. Vgl. Nussbaum/Kahan (Fn. 8), S. 350 ff.
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Problem der Fähigkeit, aus eigener Macht und Anstrengung für sich selbst zu antworten, schon geklärt ist. Daher kann, aus einer Sicht mit mechanistischer Ausrichtung, nicht auf wissenschaftliche Untersuchungen hinsichtlich des Funktionierens von Geist, Körper und, letzten Endes, der Person in Situationen, die als Gefühlszustände identifiziert werden können, verzichtet werden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu bestimmen, bis zu welchen Ausmaß derlei Zustände das Verhalten beeinflussen können – ob sie Ursache sind oder nur eine akzessorische Wahrnehmung des Bewusstseins dessen, was gelebt wird. 5. Diese Fragen haben nur Gültigkeit, insofern – von der sozialen Sprache selbst im Sinne Wittgensteins12 ausgehend – von der sich zunächst stellenden Frage, was eigentlich gemeint ist, wenn von Furcht, Schmerz oder Wut die Sprache ist, Bewusstsein erlangt wird. Für das Verständnis oder zur Kommunikation ist von Belang herauszufinden, ob auf ein intimes, spezifisches Erleben eines Individuums Bezug genommen wird, oder lediglich auf einen deutenden, im Einklang mit bestehenden Codes der sozialen Sprache gültigen Bericht. Wann immer gewisse soziale Rahmenbedingungen und bestimmte Verhaltensantworten gegeben sind, sollte es also Gültigkeit haben, zur Interpretation von Verhalten bestimmte Gefühle anzuführen. Auf diese Weise macht es Sinn, aus der Perspektive der sozialen Sprache von Zorn zu sprechen, wenn eine Person auf einen Angriff auf ihre Ehre antwortet, so wie es auch Sinn macht, im Falle von Shakespears Othello von Eifersucht zu sprechen, oder ebenso von Verzweiflung und Wut bei Euripides’ Medea. Nach dieser Hypothese wären Gefühle nur die Handlungen interpretierende Kriterien, über die die einzelne Person nicht frei verfügen könnte. Die Gefühle wären nicht von einem spezifischen, auf eine bestimmte Art erfahrenen Erleben abhängig, sondern von der zu Verfügung stehenden Grammatik, die kulturell errichtet ist und jeder Person wie eine ihr zugeordnete Rolle auferlegt wird. Nicht nur relativiert sich aus dieser letzteren Perspektive die Zweiteilung zwischen der mechanistischen und der evaluativen Konzeption, sondern die Möglichkeit, dass die Gefühle eine gewisse Bedeutung für die strafrechtliche Verantwortung haben, gibt uns auch eine neue Ausrichtung auf ein Modell der Schuldzuschreibung13, in dem diese Verantwortung sich in ein soziales Kriterium des Verstehens der Wirklichkeit verwandelt, wobei jeder Einzelne grundsätzlich diesem sozialen Kriterium verbunden ist. Tatsächlich ist aus dieser Sicht jeder Einzelne dem die Allgemeinheit betreffenden Sinn seiner Handlungen verbunden, ohne dass er sich einer von seinem inneren Universum, seiner Originalität und seines spezifischen Lebensprojektes bewerteten Auslegung entgegenstellen könne.
12
Vgl. Wittgenstein, Werkausgabe Bd. 1, Philosophische Untersuchungen, 1984. Zum Sinn der Schuldzuschreibung, vgl. Günther, Schuld und kommunikative Freiheit, 2005, passim. 13
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Die Sprachordnung und die Ordnung des gemeinen Sinnes steckten so die Grenzen einer Welt ab, in der keine Geheimnisse, verborgenen Paläste14 und neue Gerechtigkeitsbegriffe (die die ulpianische Formel des „suum cuique tribuere“ auf weniger förmliche Weise umsetzen) zu entdecken sind. Einer Welt, in der die Gefühle Ausdruck von verbindlichen Rollen auf einer einzigen Bühne wären, zu der keine Alternative besteht. Wäre das Erkennen der Gefühle eines jeden nur eine Frage der Sprachlogik, so könnte die Bedeutung dieser Gefühle in der Erörterung der Verantwortung von einer naturalistischen Analyse der Wissenschaft absehen und die wertende Perspektive nach Art des Sozialdeterminismus auf eine Identifizierung des kulturellen Gebrauchs und Kontexts reduzieren. Dennoch legt uns die Betrachtung der übergeordneten Strömungen, wie der Romantik im Gegensatz zur Klassik, oder das Herangehen der Moderne und anderer zeitgenössischer ästhetischer Konstruktionen einen andersgearteten Entwurf des Menschen nahe, der es nicht erlaubt, die Frage der Gefühle, der Freiheit und der Verantwortung auf dieser konventionellen oder grammatischen Stufe einzuschließen. Wenn etwa Picasso behauptet, dass er die Dinge selbst malt, deren Bedeutung jedoch im Unterbewusstsein zu finden ist, so richtet er sich überraschenderweise an unsere überlieferten Konzeptionen der Verantwortung. Die Bedeutung unserer Taten bestünde in der Komplexität unseres gesamten Wesens und nicht allein in den konventionellen Formen, mit denen die Sprache den unmittelbaren Sinn des Verhaltens definiert. Indem sie unser Spiegelbild vor der Welt hergeben, werden die Gefühle zu einer Quelle des Wissens über uns selbst, und möglicherweise Stoff einer ethischen Bewertung.
III. „Romantisches Strafrecht“ und „antiromantisches Strafrecht“: Geschichtliche Betrachtungen der Kriterien von Gerechtigkeit und Gefühlen 6. Nachdem der Begriff des Gefühls in der philosophischen Diskussion geklärt ist, kann uns beim Unterfangen, zu Schlussfolgerungen über gefühlsbezogene Gesichtspunkte zu gelangen, die in strafrechtlicher Hinsicht von Interesse sind, eine – insbesondere auf künstlerischem Gebiet angebrachte – Gegenüberstellung einer romantischen Denkweise und einer klassischen bzw. allgemein nicht romantischen Denkweise hilfreich sein.15 In der Kunst gab die Romantik einer Auflehnung und einem Aufruf hin zu einer natürlichen, vor-sozialen und vor-ethischen Realität Ausdruck, deren der Einzelne habhaft werden würde, gleichsam eine Rückkehr zu sich selbst, einschließlich einer Annäherung an die nationalen Ursprünge einer allzu ritualisierten Kultur.16 Parallel dazu verzeichnete man im Strafrecht gegen Ende des 14 S. die These 5.6 in den Logisch-Philosophischen Abhandlungen von Wittgenstein: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ (Wittgenstein [Fn. 12]). 15 Vgl. Fletcher, Romantics at War: Glory and Guilt in the Age of Terrorism, 2002, passim. 16 Allgemein zur Romantik, vgl. Berlin, The Roots of Romanticism, 2001.
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19. Jahrhunderts eine Tendenz dazu, den Ausschluss der Verantwortung dem subjektiven Zustand des moralischen Zwanges zuzuschreiben und die Schwäche der menschlichen Natur zu einem Kriterium des Schuldausschlusses zu machen.17 Dadurch, dass in der Romantik der Gegenstand, den man als Gefühl bezeichnet, in den Mittelpunkt gerückt wird, unterliegt er einer Konditionierung. Die Gefühle sind nun nicht so sehr unkontrollierte und wertlose Impulse eines zugrunde liegenden Wesens, welches dem „Ich“ nicht zugänglich ist, sondern Ausdruck eines authentischen „Ichs“. Einem „Ich“ mit Instinkten und natürlichen Tendenzen, das nicht durch die Kultur zurechtgewiesen und durch die universalistische Sicht der Vernunft gebändigt ist, und welches noch nicht durch Konventionen mit der Ethik in Übereinstimmung gesetzt wurde oder in dem die Authentizität die einzig mögliche ethische Stellung wäre. Die Gefühle sind weder notwendigerweise edel noch ist ihr Wert grundlegend für irgendeine ethische Perspektive, insofern als sie die persönliche Identität zum Ausdruck bringen oder die geschichtliche Identität eines Volkes – für sich ein Wert –, die in Spannung steht mit den Fesseln der Klassik oder des Liberalismus. Die Gefühle, die den Einzelnen dazu bringen, sich in Form einer Rückkehr zur Vergangenheit und nicht selten auf dem Weg der Abkehr von der Gesellschaft, wie der Held von Emily Brontë, Heathcliff18, gegen den status quo aufzulehnen, geben Zeugnis von einem allumfassenden Wunsch, einer existentiellen Unruhe (somit Auslegungen jüngeren Datums vorwegnehmend) des unvollkommenen Wesens in seiner „bloßen“ Rationalität bzw. seiner Rationalität des Homunculus. 7. Verunmöglicht diese Weltanschauung das zur Verantwortung ziehende Urteil, macht den aus Leidenschaft oder gefühlsmotiviert handelnden Kriminellen unschuldig und schwächt die Grundlagen aller und jeder Anschuldigung? Die Antwort hierauf ist, wie zu sehen sein wird, nicht notwendigerweise bejahend, denn die Anschauung der Romantik selbst ändert den Verantwortungsbegriff.19 Seine Voraussetzungen sind kein Hindernis dafür, dass man sich zu verantworten hat, ändern hingegen die Rahmenbedingungen hierfür. Die Verantwortung kann nach dem romantischen Modell als ein Urteil über eine gewisse Kohärenz und Authentizität, als ein Urteil über der Vereinigung oder Distanzierung jedes Einzelnen von einer menschliche Ordnung konzipiert werden. Heathcliff war bereit dazu, jeden umzubringen, um Cathy für sich zu besitzen. Sein Beweggrund war die unmenschliche Erniedrigung, die ihm in seiner Jugend widerfahren war, die unnatürliche Ordnung, die ihn von seiner Leidenschaft entfernte. Er hätte nicht im Sinn gehabt, seine förmliche Verantwortung gegenüber der etablierten Ordnung zu verneinen, vielmehr hätte es in seinem Sinne gestanden, angesichts 17
Vgl. Palma, Maria Fernanda: O estado de necessidade justificante no Código Penal de 1982, Sonderdruck Boletim da Faculdade de Direito da Universidade de Coimbra, 1985, passim. 18 Vgl. Camus, Der Mensch in der Revolte, 2006. 19 Vgl. Fletcher, The Yale Law Journal, Vol. 111 (2002), S. 1499 ff.
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der beherrschenden Vorurteile einen Grund vorzuweisen, in dem sich der Wert aller Menschen als Gleiche widerspiegelte, wovon er nur ein lebendiges Beispiel sei. Wenn Julien Sorel, Protagonist in Stendhals „Le Rouge et le Noir“, seine Ex-Geliebte umzubringen versuchte, die ihn tatkräftig als Opportunisten angeprangert hatte und ihm so die Heirat verunmöglichte, welche ihm den sozialen Aufstieg ermöglicht hätte, so kommt dies der Revolte einer Klasse gleich. Dass er zum Tode verurteilt wird, wird nicht über das Verbrechen her gerechtfertigt, sondern über eine Klassenjustiz.20 Und schließlich findet sich in Jean Valjean, dem Held aus Victor Hugos „Les Misérables“, der Glanzpunkt des Kampfes gegen eine ungerechte gesellschaftliche Ordnung und ein Repressionen ausübendes Recht, das Verurteilte stigmatisiert und ihre gesellschaftliche Wiedereingliederung nicht zulässt. In der Ethik der Romantik ist die unnatürliche traditionelle Ordnung Hauptverantwortliche für das Verbrechen. Tatsächlich bricht das Verbrechen motiviert durch Leidenschaft und die Kluft, die zwischen sozialer und natürlicher Ordnung besteht, aus. 8. Die logischen Konsequenzen eines romantischen Verantwortungsbegriffes theoretisierend, avancierte Fletcher21 mit der Vorstellung, dass dieser Konzeption nach das Individuum nicht Träger einer dem Klassizismus und dem politischen Liberalismus eigenen universalen Rationalität sei, sondern eher Resultat einer nationalen Kultur und Geschichte darstelle, wobei seine Handlung sich nach den mentalen Rahmenbedingungen der spezifischen Identität orientiert. Es sei hier Savigny angeführt – für den der Geist eines Volkes Rechtsquelle ist –, der anführt, dass an der Stelle des Universalrechts das positive nationale Recht entstehen würde. Doch würde eine solche geschichtliche und kulturelle Konditionierung die Bedingungen einer vollkommen freien Entscheidung verändern und so einen Austausch zwischen gesellschaftlicher und individueller Verantwortung zu Tage bringen, die eine Abschwächung letzterer zur Folge haben sollte. Dem von einer romantischen Auslegung inspirierten Strafrecht nach bestehe eine Art Paradox in der Verknüpfung zwischen dem Kult der individuellen Spezifität und der Verherrlichung der Beziehung jedes Einzelnen mit der Geschichte und Kultur seines Volkes, was seine Einstellung, seine Handlungsweise und seine Leidenschaften sowie Gefühle konditionieren würde. Die Echtheit eines Jeden, vom romantischen Ideal unterstrichen und hochgehalten, würde so zu einer abgemilderten Verantwortung, anstelle eines Kriteriums einer auf der Freiheit der Handlung basierenden Verantwortung. Die romantische Vorstellung steht so im Gegensatz zum klassischen und liberalen Mythos vom vollkommen freien und verantwortlichen Menschen, insofern sie das Individuum auf eine Erweiterung der Natur und auf ein Ergebnis der Geschichte zurückführt. Dem bedürftigen, 20 21
Vgl. Camus (Fn. 18). Vgl. Fletcher (Fn. 19).
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sündhaften, aufgebrachten und, wie etwa Jean Valjean, hin und wieder edlen Menschen, nichtsdestotrotz er kriminell ist in einer vorhergehenden Phase seines Lebens. Der romantische Held durchlebt bisweilen den Konflikt zwischen Leidenschaft und Übereinkünften, wie dies etwa der Fall ist bei Madalena in „Frei Luís de Sousa“22, die sich dem Widerspruch zwischen der Verpflichtung der Vergangenheit und Tradition gegenüber einerseits und der Liebe andererseits ausgesetzt sieht. Er ist nicht ein in der Entscheidung zwischen Gut und Böse freies und rationales Subjekt, vielmehr trägt er eine unüberwindbare geschichtliche, kulturelle und natürliche Dimension in sich. Die Verantwortung kann niemals alleine vom Individuum aus verstanden werden, eben da sie eine gesellschaftliche und historische Dimension aufweist. Der Stellenwert der Gefühle und Leidenschaften muss im gemeinschaftlichen Sinne der Verhaltensweisen verstanden werden, wobei der Einzelne Interpret der kollektiven Bewegungen und Weltanschauungen ist. 9. Dieser Auffassung, die die Gefühle sowohl im Hinblick auf ihre „Mechanizität“ und Natürlichkeit als auch bezüglich der über verschiedene Situationen gefällten Werturteile betrachtet, steht offensichtlich die klassische Auffassung gegenüber, welche mit dem Liberalismus in Verbindung gesetzt werden kann. Nach dieser Auffassung wird eine universelle individuelle Rationalität vorausgesetzt. Einer kantianischen Analyse gemäß bestimmt das auf alle anwendbare allgemeine Sollen tatsächlich die Fähigkeit eines jeden Einzelnen abhängig von seiner rationalen Verfassung; der egoistische Individualismus und der Wunschtrieb stehen der Vernunft entgegen, denn sie verhindern die vernunftmäßige Kooperation zwischen den Einzelnen. Daher haben individuelle Gefühle keinen besonderen Platz in der Beziehung zwischen den Einzelnen, welche das Recht begründet.23 Wenn man von einer universellen Rationalität und einem Subjekt, welches zum freien und verantwortlichen Handeln befähigt ist, ausgeht, so stehen in Wahrheit zwei Gründe einer Bewertung der Gefühle bei der strafrechtlichen Verantwortung im Wege. Ersterer ergibt sich aus der Annahme, dass jeder Einzelne die rationale Struktur anerkennt, womit die nicht rationalen Besonderheiten zu negativen und kontrollierbaren Aspekten werden, welche zu ihrer wahren Natur im Widerspruch stehen. Der zweite, weitaus radikalere Grund fußt auf dem grundsätzlichen Zweifel über die Möglichkeit eines rein individuellen oder privaten Fühlens. Wie später Wittgenstein24 unter verschiedenen Voraussetzungen der universellen Rationalität der Klassiker bekräftigen würde, gibt es keine rein private Sprache, die Gemütszustände und erlebte Gefühle identifiziert; selbige würden nicht als solche in ihrer Identität außerhalb dieser Sprache bestehen. Wenn man einen Schritt weiter 22
Es handelt sich hier um ein bekanntes Drama von Almeida Garrett, der als Vorreiter und Hauptvertreter der Romantik in Portugal gilt. 23 Dieser Beziehungsaspekt begründet sowohl in der kantianischen als auch in der hegelianischen Tradition das Recht; vgl. Seelmann, Rechtsphilosophie, 1994, S. 52 ff. 24 Vgl. Wittgenstein (Fn. 12), §§ 243 – 315.
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geht, so legt diese Annahme nahe, dass individuelle Gefühle eher schlichte Auslegungen von Verhalten der Handelnden vermittels der gesellschaftlichen Sprache sind, wobei der Wert der Verantwortung durch eben diese Sprache bestimmt wird. Hass hat niemals eine positive Bewertung, und das gleiche gilt im Allgemeinen für die Wut. Doch die Angst kann schon einen die Verantwortung mindernden Wert aufweisen, ebenso wie Mitleid und Liebe. Dennoch werden dies nicht wahrhaftig vom Gewissen des einzelnen Handelnden erlebte Zustände sein, vielmehr eine Interpretation seines Verhaltens in einer durch die gesellschaftliche Sprache vorgenommenen äußeren Beschreibung, die ihre Bewertungskriterien schon in sich trägt. Für solche nicht der Romantik zugehörigen Sichtweisen, die – vereinfacht gesagt und ohne im geschichtlichen Rahmen verankert zu sein – sowohl dem klassischen Modell des Menschen als einem von universeller Rationalität durchsetzten Wesen entsprechen wie auch der Wittgenstein’schen Analyse von Sprache und Handlung, wären Gefühle als erlebte, wahrgenommene und bewusste Zustände in Wahrheit bedeutungslos. 10. Der Bezug auf Wittgenstein führt uns übrigens zu einer schon verschiedenen, radikal antimetaphysischen Struktur, in der die Allgemeingültigkeit der Vernunft sich im Zusammenhang mit kulturell identifizierten und differenzierten Sprachspielen zerfällt. Nicht vom Sprachinhalt hängt eine rationale Universalität ab, sondern von der Sprache, welcher auch immer ihr Inhalt sei. Auch auf diesem Wege wird die Starrheit des klassischen Modells überwunden, und man gelangt zu einer Fragmentierung der Rationalität, abhängig von kulturellen und situationsbedingten Zusammenhängen. So gesehen können die Gefühle, als sprachliche Auslegungen von Verhalten aufgefasst, nicht vom Handelnden abhängig sein. Sie sind verbindliche Bedeutung bestimmter Verhaltensweisen. Wenn die universelle Rationalität immer die Kontrolle der Gefühle voraussetzt, und diese somit nicht die Verantwortung ausschließen, so kommt es der fragmentierten und auf die Sprache reduzierten Rationalität auf die Gefühle als Zeichen eines Codes an. Ein solcher Code erlaubt es, die Bedeutungen der Handlungen und ihren Wert für eine von der Sprache abhängige gesellschaftliche Logik, welche die Sprache als ein Instrument der Bewertung und Kontrolle der Handelnden benutzt, zu unterscheiden. Hass und Mitleid können zugeordnet werden, sie entsprechen einer Sichtweise, in der der Handelnde sich selbst in Anderen wiedererkennt. Die Handelnden müssen akzeptieren, dass die Umgangssprache ihre Erfahrungen auf eine gewisse, der Logik dieser Sprache entsprechenden Weise beschreibt. Othello kann nicht abstreiten, dass das Gefühl, das er erlebt, die Eifersucht ist, denn sein Bewusstsein wendet die Umgangssprache an, die – entsprechend der Voraussetzungen der Situation – diesen Ausdruck seinem Tun zuschreiben muss. In diesem Zusammenhang kann die Strafverantwortung die verschiedenen Gefühle als Kriterien zur Bewertung von Verhaltensweisen einbeziehen, entsprechend gesellschaftlicher Übereinkommen. Doch sind derart gestaltete Gefühle nichts weiter als Masken, in denen ein purer Sozialde-
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terminismus zum Vorschein kommt, und die eine vollkommen unzugängliche innere Welt hinter sich verbergen. Somit ist es auch hier, wie bereits angeführt, nicht gerechtfertigt, von einer autonomen rechtlichen Bewertung von Gefühlen zu sprechen.
IV. Einbindung der Gefühle in die ästhetischen Metaerzählungen und die Hinterfragung der Verantwortungsbegriffe durch die Wissenschaft 11. Die Rolle der Gefühle als Gegenstand der Ethik, der einer Bewertung unterliegt, zieht sich wie ein roter Faden durch die Themen der grundlegenden Metaerzählungen, wie der Romantik. Die Wertschätzung, die einer unbewussten Welt in der Kunst und unbekannten Aspekten des Menschen, die durch die Kunst aufgezeigt werden können, entgegengebracht wird, sind in Schöpfungen wie dem Symbolismus und dem Surrealismus gegenwärtig. Diese Konzeptionen legen Vorstellungen von Verantwortung nahe, in dem die Gefühle auf verschiedene Weise agieren können, jedoch niemals vernachlässigbares menschliches Material sind. Die Fragen zur Rolle der Gefühle, die sich heutzutage der Wissenschaft stellen, nehmen Ausgang von Überzeugungen, die von den Metaerzählungen der Romantik und des Klassizismus hervorgebracht wurden. Ausgehend von der Überzeugung, dass die Gefühle die Antriebskraft der Handlung sind, wird von den Neurowissenschaften mit der ihr eigenen Methodologie diskutiert, ob sie treibende Kraft des freiwilligen Verhaltens sind25. Anders gesagt, die wissenschaftlichen Disziplinen, welche die Rolle des Bewusstseins und der Gefühle im Verhalten zu bestimmen bestrebt sind, haben – wenn auch bisweilen nicht offen zugestanden – einen durch die großen kulturellen Synthesen vorbestimmten Forschungsgegenstand. Die Wissenschaft versucht herauszufinden, ob menschliches Verhalten effektiv durch Bewusstseinszustände bestimmt wird, denn diese Anordnung ist zentrale Überzeugung der Kultur und der Geschichte der menschlichen Gesellschaften, was es ermöglicht, die Geschichte der Einzelnen zu berichten und ihr einen Sinn beizumessen, abgesehen davon, dass dies Grundlage der Konzeptionen ethischer und rechtlicher Verantwortung bildet. Doch ist das Bewusstsein nach wissenschaftlicher Anschauung nichts mehr als eine übergeordnete biologische Funktion des Gehirns.26 Es kann ihm, wie Searle27 anführt, kein mysteriöser Ort zugeschrieben werden, wie dies etwa der cartesianische Dualismus von Körper und Geist voraussetzte, und sein mutmaßliches Wirken auf 25 Vgl. zu diesem Thema Libet, in: Kane (Hrsg.), The Oxford Handbook of Free Will, 2002, S. 551 ff. 26 Vgl. Searle, Intentionality: An Essay in the Philosophy of Mind, 1983, S. 270 f. 27 Vgl. Searle (Fn. 26), S. 270 f.
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den Körper bedeute lediglich, dass neuronale Strukturen auf den Körper wirken. Die Art, wie diese Strukturen auf den Körper wirken, steht mit dem ihm eigenen Bewusstseinszustand im Zusammenhang, so Searle; Bewusstsein sei eine Eigenschaft des Gehirnes, so wie die Festigkeit eine Eigenschaft eines Tisches ist.28 Es trifft zu, dass sich in diesem wissenschaftlichen Diskurs auch das Problem stellt, herauszufinden, ob es möglich ist, die zwischen den angeführten Phänomenen, wie Bewusstsein und Handlung, bestehende Beziehung als kausal bezeichnen zu können. Verschiedene Untersuchungen scheinen eine solche Beziehung in Frage zu stellen, indem aufgezeigt wird, dass die Bewusstseinsphänomene den Verhaltensreaktionen nicht vorausgehen.29 Die Hypothese, dass die als freiwillig bezeichneten Verhalten von neuronalen Impulsen ausgelöst werden, die den vom Handelnden erlebten Bewusstseinszuständen vorausgehen, ruft Zweifel daran hervor, ob Bewusstseinsmomente die Handlung determinieren oder nur ein begleitendes Ereignis sind. Doch die aus verschiedenen anderen Studien hervorgehende Hypothese, dass das Bewusstsein gleichsam ein Vetorecht innehat, mildert die Ansicht, dass die Selbstkontrolle reine Illusion ist. So weist etwa Benjamin Libet30 auf Untersuchungen hin, in denen ein Moment indeterministischer Natur erkannt wird, in dem der Handelnde den Gang der schon eingeleiteten Ereignisse unbewusst, ohne seinem Kommando zu gehorchen, geändert werden kann. Beispielsweise wurde in den untersuchten Fällen nachgewiesen, dass der zerebrale Prozess, der die freiwillige Handlung vorbereitet, 400 Millisekunden vor der Erscheinung des bewussten Willens beginnt, und es kann ein noch größeres Zeitintervall angenommen werden. Libet nimmt an, dass der Prozess, der momentan im Gehirn beginnt, wahrscheinlich noch vorher seinen Ausgang in einem unbekannten Areal nimmt, welches den Cortex aktiviert. Die neurowissenschaftliche Herangehensweise hinterfragt unweigerlich unsere traditionellen Ansichten über die Verantwortung, die aus kulturellen, ethischen und ästhetischen Konzeptionen hervorgeht. Die Ausführungen Searles sind in diesem Sinne sehr aussagekräftig. Die Wissenschaft behandelt das Verhalten von Neuronen; Ethik sowie Recht untersuchen unser Verständnis der gesellschaftlichen und individuellen Verhaltensweisen, ausgehend von der Auflösung von Problemen, die sich in der individuellen und gesellschaftlichen Geschichte stellen. 12. Aus einem anderen Blickpunkt ist Karl Jaspers Untersuchung, die er in seinem Aufsatz über Genie und Wahnsinn31 durchführte, geeignet, einen Beitrag zum Erkennen von Beziehungen zwischen den geltenden gesellschaftlichen rationalen Rahmenbedingungen und der individuellen Kreativität zu leisten. In dem von ihm betrachteten Fall ist es unmöglich, künstlerisches Genie zu verstehen, ohne auf den Wahnsinn Bezug zu nehmen. Der Wahnsinn bringt das künstlerische Genie 28
Vgl. Searle (Fn. 26), S. 271. Vgl. Walter, in: Kane (Hrsg.), The Oxford Handbook of Free Will, 2002, S. 565 ff. 30 Vgl. Libet (Fn. 25), S. 555. 31 Vgl. Jaspers, Strindberg und van Gogh: Versuch einer pathographischen Analyse unter vergleichender Heranziehung von Swedenborg und van Gogh, 1922. 29
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nicht hervor, aber reguliert es auf andere Weise und entwickelt in einem Maße, die im Rahmen der Normalität nicht erreichbar sind. Was bei Jaspers Untersuchung von besonderem Interesse ist, ist die Perspektive, dass eine jede Epoche die ihr zusagenden Formen unter den verfügbaren psychischkausalen Bedingungen auswählt. So sei im Mittelalter etwa die Hysterie im Verband mit dem Mystizismus aufgegriffen worden, und zu Jaspers Zeiten ist wohl der Schizophrenie der Vorzug gegeben worden. Damit bestünden kollektive und geschichtlich konditionierte rationale Rahmenbedingungen, aber auch, so Jaspers, Wahnsinn, der ein geeignetes Terrain zur Verwirklichung gewisser außerordentliche Potentialitäten böte. So würde die Spezifität des Ichs auch im Wahnzustand ihre vollständige Schöpferkraft aufrechterhalten. Meiner persönlichen Auslegung nach bestehe eine Dialektik zwischen der geschichtlich herausgebildeten kollektiven Rationalität und der individuellen psychischen Kondition, die sich ihr anpasst. Andererseits entwickelte die individuelle psychische Kondition spezifische Potentialitäten, welche sich der Rationalität der übergeordneten geschichtlichen Konzeptionen – den Meta-Erzählungen über den Sinn des Lebens und des Einzelnen – anpasst, und Kenntnis vom Tiefgründigsten des menschlichen Wesens erlangen kann. Damit könnte selbst eine psychisch kranke kreative Person ihre schöpferische Originalität entfalten. Auf gewisse Weise hinterfragt auch die von den Neurowissenschaften unternommene Erforschung der Kausalbeziehung zwischen Bewusstsein und der freiwilligen Tat, oder zwischen den emotionalen Zuständen und der Handlung, die Metanarrativen über den Sinn der Person und der Gesellschaft, ebenso wie die Suche nach der Begründung dessen, was vorhanden ist und was man ist, was über das autopoietische Funktionieren des sozialen Systems hinausgeht. Trägt aber die besessene Suche nach sich selbst in der neurowissenschaftlichen Dimension zu einer Erneuerung der Denkweise über Verantwortung bei? Und hebt sie die Rolle der Gefühle in dieser Denkweise hervor oder relativiert sie? Hassemer weist auf die Möglichkeit eines unilateralen Einflusses der Neurowissenschaften im rechtlichen Denken hin und auf die Rückbesinnung auf die positive Schule, unter der Vorherrschaft einschränkender Thesen, die eine autoritäre Spezialprävention begründen, worin keine Hoffnung auf eine Regenerierung des kriminellen Menschen besteht. Trotzdem gesteht er zu, dass die Neurowissenschaften in der Untersuchung von konkreten Situationen und Fällen auf dem Gebiet des Schuldausschlusses fruchtbare Ergebnisse ermöglichten.32 Die Hinweise Hassemers sind als Warnung zu verstehen. Sie zeigen den Fehler auf, der darin besteht, die Neurowissenschaften automatisch auf das Gebiet des Rechts zu übertragen, ohne einen Dialog zwischen verschiedenen Systemen herzustellen und den kulturellen Rahmen der Neurowissenschaft selbst zu untersuchen. So ist es, angesichts der Eventualität, dass die neurowissenschaftlichen Beschreibungen 32
Vgl. Hassemer, InDret 2 (2011), S. 15 ff.
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zu einem Bewusstsein als Epiphänomen führen, ohne jegliche Kontrolle auf das Verhalten des Handlungssubjekts, angemessen zu hinterfragen, ob die Beschreibung etwas zu tun hat mit der Identifikation der kulturellen und sozialen Erfahrung der Freiheit, die den zeitgenössischen Ansichten der Verantwortung zu Grunde liegen. In der romantischen Betrachtungsweise, oder in den nachfolgenden künstlerischen Formulierungen, die der Identifikation des in sich selbst Seins jenseits dessen, was unmittelbar vom Bewusstsein erfasst werden kann, nachspüren, befindet sich das, was jeder in sich selbst ist und über sich selbst und über seine Fähigkeiten erfahren kann, jenseits einer Diskussion zwischen radikalem Determinismus und der absoluten Freiheit, der sich Untersuchungen des menschlichen Verhaltens durch die Neurowissenschaften ausgesetzt sehen. Auch wenn Bewusstsein und seine emotionalen Erfahrungen lediglich einem kleinen Teil dessen, was wir sind, entsprechen, so besteht die grundlegende Frage nach der Freiheit und der Verantwortung in der Fähigkeit, das von uns an den Tag gelegte Verhalten entsprechend des von uns hervorgebrachten Wunsches – als Wunschmaschine, wie Gilles Deleuze uns klassifiziert33 – zu akzeptieren und anzuerkennen. Die Herausforderung, die in der Denkweise über die Verantwortung liegt, besteht, auf der Ebene des Dialoges der Systeme – Philosophie, Kunst, Wissenschaft –, in der Entdeckung der Grenzen zwischen der Wunschmaschine – die sich selbst vorantreibt, sich jedoch fortwährend modifizieren wird, weil sie ein kritisches System in sich trägt oder eine kritische Regulation, die neue Ziele setzt – und dem Triebwerk, das nicht dazu fähig ist, neue Informationen aufzunehmen und sich abhängig von einer externen Kontrolle an neue Situationen anzupassen, und so zum Opfer und nicht Urheber seiner Antriebe wird. Die Untersuchung der künstlerischen Schöpfung, die teils unbewusst, jedoch zutiefst intentional ist, belegt, dass über das Werk das Authentischste des Menschen erreicht werden kann und auch verwirklicht wird, wenn auch ohne unmittelbares Bewusstsein, wonach man strebt. Und gerade in dieser Authentizität, die anerkannt und kommuniziert werden kann, findet sich der Sitz des grundlegendsten aller Terrains der Verantwortung – sei es kollektive Verantwortung, sei es individuelle Verantwortung –, in dem jeder Einzelne die individuellen psychischen Bedingungen, die ihm zu seiner Zeit gegeben sind, bewältigt. Die Grundlage und das Ausmaß der individuellen Verantwortung setzen Bedingungen für einen kritischen Dialog zwischen dem Handelnden und der allgemeinen Rationalität seiner Zeit voraus. Der Anspruch auf vollkommene Verantwortung der Person für ihre Handlungen ist als Ausgangspunkt, rationale Offenkundigkeit oder sozialem Postulat nicht zu rechtfertigen. Eher begründet sich so ein Vorhaben persönlicher Entwicklung und Erwerb von Erkenntnis und Selbstbeherrschung. Eine Strafverantwortung, die sich nicht an eine Fiktion vom Menschen richten will, wird nicht umhin können, Kriterien zur Differenzierung zwischen von den Han33
Vgl. Deleuze/Guattari, Anti-Ödipus, 2010.
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delnden im Zusammenhang ihres totalen Ichs emotional erlebten und interpretierten Situationen und ihrer Beziehung mit den kollektiven Werten zu konzipieren. Die Bewertung von Gefühlen ist weitaus komplexer als die Umgangssprache oder der spezifische kulturelle Kontext. Das Ausmaß der kritischen Selbstbeherrschung muss nicht nur für die Entscheidung über die personelle Verantwortung in Betracht gezogen werden, sondern sollte auch in den konkreten Folgen der Verantwortung des Handelnden bei der Strafzumessung in Betrachtung gezogen werden.
Variationen zu dem gesamten Strafrechtssystem Von Ramon Ragués* Einer der wichtigsten Beiträge von Jürgen Wolter in der Diskussion seiner Zeit wird höchstwahrscheinlich seine Mitwirkung an der Entwicklung der Idee des gesamten Strafrechtssystems sein. Hierbei handelt es sich um ein vollständiges theoretisches System, das das materielle Strafrecht, die Strafzumessung und das Strafprozessrecht umfasst. Zusammen mit anderen Kollegen der Universität Pompeu Fabra hatte ich im Jahr 2004 die Möglichkeit, an der Übersetzung des Werkes Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem ins Spanische mitzuarbeiten, welches Gegenstand intensiver Seminarstunden war.1 In einem Land wie Spanien von einem „gesamten Strafrecht“ zu sprechen, wo eine strenge Trennung zwischen Strafrechtlern und Prozessrechtlern besteht, wobei nur Letzteren die Lehre und Forschung über den Strafprozess vorbehalten ist, war damals so gut wie revolutionär. Unter anderem dank der Beiträge des hier Geehrten hat sich die Idee, dass die Strafrechtler sich für den Strafprozess interessieren können und sollen, in der spanischen wissenschaftlichen Diskussion ausgebreitet. Die vorliegende Arbeit skizziert eine Reihe von Überlegungen zu der Idee des gesamten Strafrechtssystems. Auf den ersten Seiten wird festgelegt, welche spezifische Rolle dem Strafprozess in besagtem System zukommt und wie dieser mit der Strafe in Zusammenhang steht (I.); danach sollen aus dieser Rolle einige konkretere Ideen zu bestimmten Aspekten der prozessualen Tätigkeit abgeleitet werden, wie die Anforderungen zur Eröffnung oder Aufrechterhaltung eines Verfahrens (II.), die Beweistheorie (III.) oder einige Zwangsmittel (IV.); und schließlich werden einige Überlegungen zu der Beziehung zwischen dem materiellen Strafrecht und dem Strafprozessrecht angestellt (V.). Wegen des mir zur Verfügung stehenden beschränkten Platzes versuche ich nicht, eine vollständige Theorie darzulegen, sondern nur einige Überlegungen anzustellen, die die bemerkenswerte Leistungsfähigkeit dieser Idee des gesamten Strafrechtssystems zeigen.
*
Übersetzung von Anna Richter, München. Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem, 1996, auf Spanisch unter folgendem Titel veröffentlicht: El sistema integral del Derecho penal – Delito, determinación de la pena y proceso penal, 2004. 1
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I. Die Funktion des Prozesses im gesamten Strafrechtssystem Es wurde viel darüber diskutiert, welche Funktion das Strafrecht, die Strafrechtsnormen und ihre Rechtsfolgen erfüllen sollen. Sehr viel weniger Seiten wurden hingegen der Untersuchung der spezifischen Funktion des Strafprozesses gewidmet.2 Dies kann sicherlich dadurch erklärt werden, dass viele Autoren im Prozess ein bloßes Instrument zur Anwendung des materiellen Rechts und insbesondere der Strafe gesehen haben.3 Von dieser Perspektive aus würde der Beitrag der Sanktion zu den Zielen des Strafrechts die vorherige prozessuale Aktivität legitimieren. Eine solche Betrachtungsweise wirft jedoch einige Zweifel und insbesondere folgende Frage auf: Wenn der Prozess durch die später auferlegte Strafe legitimiert wird, dann müssen alle diejenigen Verfahren, die ohne irgendeine Sanktion enden, als dysfunktional und wahrscheinlich illegitim angesehen werden, da sie eine Reihe von Grundrechtseinschränkungen und finanzielle Kosten hervorrufen, ohne auf effektive Weise zu einem Ziel beizutragen, das sie legitimieren könnte. Die offensichtlichen Schwierigkeiten, diese Schlussfolgerung zu akzeptieren, laden dazu ein, für den Prozess eine eigene Funktion zu suchen, die dessen Legitimität nicht von der endgültigen Auferlegung einer Sanktion abhängig macht. Oft wird die Straftat mit der Idee der sozialen Störung in Zusammenhang gebracht. Von einem chronologischen Gesichtspunkt aus ist jedoch nicht die Straftat störend – welche juristisch gesprochen erst als solche existiert, wenn ein Urteil dies erklärt –, sondern die notitia criminis, das heißt, die Information über die mögliche Begehung einer Straftat.4 Der Prozess widmet sich hauptsächlich der Überprüfung der besagten Information und seine aufklärende Tätigkeit kann auf zwei verschiedene Arten enden: einerseits, indem die Realität der notitia criminis und die Notwendigkeit, auf die Tat mit einer Strafe zu reagieren, bestätigt wird; und andererseits, indem die Richtigkeit der besagten Information abgelehnt wird und deutlich gemacht wird, dass keinerlei Bestrafung nötig ist. Dieser letztere Fall zeigt ganz klar, wie der Prozess mit seiner aufklärenden Tätigkeit dazu beitragen kann, dass das Strafrecht ohne die Notwendigkeit, am Ende eine Strafe aufzuerlegen, seine befriedende Funktion erfüllt: Wenn die Polizei zum Beispiel entdeckt, dass mehrere scheinbare Serienmorde in Wahrheit verschiedene, nicht miteinander verbundene
2 Unter diesen Arbeiten sind die Folgenden zu zitieren: Stock, in: FS Mezger, 1954, S. 429 ff.; Schmidhäuser, in: FS Schmidt, 1961, S. 511 ff.; Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, 1986, S. 173 ff.; Murmann, GA 2004, S. 65 ff.; Rieß, JR 2006, S. 269 ff. 3 Vgl. die zutreffenden Hinweise bei Weigend (Fn. 2), S. 191; Murmann (Fn. 2), S. 65 und Rieß (Fn. 2), S. 270. 4 In diesem Sinne Krauß, in: Müller-Dietz (Hrsg.), Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, 1971, S. 167; Weigend (Fn. 2), S. 185; Pastor, in: Lascano (Hrsg.), Nuevas formulaciones en las Ciencias Penales. Homenaje al Profesor Claus Roxin, 2001, S. 793; Volk, Grundkurs StPO, 4. Aufl. 2005, S. 139; Freund, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem, S. 45: „am Anfang steht nicht – wie man vielleicht meinen könnte – die Tat, sondern der (bloße) Verdacht“.
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Suizide sind, entsteht ganz klar ein Effekt der sozialen Beruhigung, ohne dass irgendeine Strafe auferlegt wird.5 Natürlich kann die aufklärende Tätigkeit nicht immer erfolgreich enden, in manchen Fällen, weil man nicht aufdecken kann, was wirklich geschehen ist (man weiß zum Beispiel, dass eine Person aus dem zehnten Stock gefallen ist, aber es kann nicht geklärt werden, ob sie gesprungen ist oder gestoßen wurde), in anderen Fällen, weil zwar das tatsächliche Bestehen einer strafbaren Tat erkannt wird, aber es nicht möglich ist festzustellen, wer der Verantwortliche dafür ist (man weiß, dass das Opfer gestoßen wurde, aber nicht, von wem). In diesen Fällen ist es weniger offensichtlich, wie die tatsächlich durchgeführte Tätigkeit – mit ihren Kosten und möglichen Einschränkungen von Rechten – zu dem Frieden stiftenden Ziel des Strafrechts beiträgt. Jedoch stellt auch sie einen solchen Beitrag dar: Die bloße Tatsache, dass der Staat angesichts der Nachricht von einer vermuteten Straftat reagiert und versucht, die Tatsachen aufzuklären, erzeugt einen beruhigenden Effekt, den es nicht gäbe, wenn die Reaktion auf die notitia criminis in absoluter Passivität bestünde.6 Daher darf der Beitrag des Prozesses zum Frieden stiftenden Effekt des Strafrechts nicht an einem konkreten Fall gemessen werden, sondern an der Gesamtheit all derjenigen Fälle, bei denen man Kenntnis von der vermutlichen Begehung einer strafbaren Handlung hat. In einem Land, in welchem die Rechtspflege in der Regel angemessen auf die Begehung einer Straftat reagiert und einen bedeutenden Prozentsatz von Fällen löst, können einige Irrtumsfälle oder Fälle von polizeilicher oder gerichtlicher Ineffizienz nur schwer das Vertrauen der Bürger in den Staat auf irreversible Art untergraben und sie dazu bringen, Selbstschutzmaßnahmen zu ergreifen. Für ein beunruhigendes Misstrauen muss eine permanente Unfähigkeit des Strafrechtssystems festgestellt werden, zufriedenstellend auf die Strafanzeigen der Bürger zu reagieren. Ein Großteil der Elemente des Strafprozesses trägt zu dieser aufklärenden Funktion bei, insbesondere die Elemente, die mit den Ermittlungshandlungen und der Beweisaufnahme im Hauptverfahren zusammenhängen; aber auch andere, wie die Untersuchungshaft, wenn diese angeordnet wird, um die Gefahr der Beweisvernichtung zu beseitigen. Jedoch gibt es auch andere prozessuale Elemente, die überhaupt nicht zur Aufklärung des Geschehens beizutragen scheinen: Dies ist zum Beispiel bei Maßnahmen wie der Anordnung der Untersuchungshaft zur Vermeidung des Fluchtrisikos der Fall. Mit letzteren Institutionen soll vielmehr für den Fall, dass die notitia criminis schlussendlich bestätigt wird, garantiert werden, dass während des für die Entfaltung der aufklärenden Tätigkeit des Prozesses notwendigen Zeitraums nicht die Erwartung enttäuscht wird, eine Strafe aufzuerlegen.
5
Weigend (Fn. 2), S. 213. Vgl. hierzu Lesch, Strafprozessrecht, 2. Aufl. 2001, S. 2; ders, in: FS Volk, 2009, S. 314; Freund, Normative Probleme der „Tatsachenfeststellung“, 1987, S. 59. 6
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Diese unterschiedliche Funktion verpflichtet uns zu der Nuancierung, dass der Prozess auf zwei verschiedene Arten zu den Zielen des Strafrechts beiträgt: Wie ein Teil der Lehre bemerkt, besteht einerseits ein direkter und eigener Beitrag, der mit der aufklärenden Tätigkeit verbunden ist;7 aber andererseits besteht auch ein indirekter, der Strafe und deren Zwecken untergeordneter Beitrag, der bestimmte Maßnahmen rechtfertigt, deren Existenz von einer ausschließlich auf die aufklärende Tätigkeit konzentrierten Perspektive nicht erklärt werden kann. Vor diesem Hintergrund lässt sich sagen, dass die Mission des Strafprozesses darin besteht, auf zwei Arten zu der Erreichung des höchsten Ziels des Strafrechtssystems in seiner Gesamtheit – die Bewahrung des Zusammenlebens und eines bestimmten Gesellschaftsmodells – beizutragen: indem die notitia criminis aufgeklärt wird und die Auferlegung der Strafe und ihre Folgen gewährleistet werden, falls das Vorliegen einer Straftat und die daraus folgende Notwendigkeit der Sanktion bestätigt werden.
II. Die Verurteilungserwartung Die Feststellung, dass ein Strafverfahren legitimerweise zur Funktion des Strafrechts beitragen kann, ohne dass es hierzu notwendig wäre, dass es mit der tatsächlichen Auferlegung einer Strafe endet, kann zu dem Gedanken führen, dass die aufklärende Tätigkeit des Prozesses sich völlig unabhängig von dem materiellen Recht und dessen Zielen entwickelt. Wie im Folgenden dargelegt wird, entspricht dies jedoch überhaupt nicht der Wirklichkeit: Die notitia gibt zur Eröffnung und Aufrechterhaltung des jeweiligen Verfahrens, das heißt, des Gegenstands der aufklärenden Tätigkeit, Anlass. Es darf aber nicht übersehen werden, dass sie hierbei in jedem Moment der Beachtung des criminis bedarf. Gerade dies ermöglicht es, einem konkreten Verfahren den Charakter des Strafverfahrens zuzuschreiben und es von anderen menschlichen Tätigkeiten zu unterscheiden, die auch das Ziel haben, bestimmte Tatsachen aufzuklären. Aus der vorhergehenden Feststellung lässt sich die Forderung ableiten, dass nur in den Fällen strafrechtliche Ermittlungen eröffnet und weitergeführt werden, in denen die Möglichkeit erkannt wird, dass schließlich eine Strafe auferlegt wird, das heißt, wenn eine Verurteilungserwartung besteht. Da besagte Erwartung die Daseinsberechtigung für jedes prozessuale Handeln ist, verpflichtet ihre Enttäuschung zu der Beendigung des Prozesses, wobei die Beendigung vorläufig oder endgültig sein kann, je nachdem, ob man angesichts des möglichen Auftauchens neuer Indizien erwarten kann oder eben nicht erwarten kann, dass die enttäuschte Erwartung in der Zukunft wieder Gültigkeit erlangen kann.
7 Die Idee, dass der Zweck des Prozesses die Wiederherstellung des Rechtsfriedens durch die Aufklärung der Tat ist, wird mit unterschiedlichen Nuancierungen von verschiedenen Autoren geteilt, wie Schmidhäuser (Fn. 2), S. 522 oder Weigend (Fn. 2), S. 215.
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Diese Feststellung steht dem im vorherigen Abschnitt Vertretenen nicht entgegen, da sogar diejenigen Verfahren, die nicht mit einer Verurteilung enden, als nützlich und rechtmäßig angesehen werden können. Auch wenn man ex post nicht immer eine Notwendigkeit zu Bestrafen feststellen wird (zum Beispiel in denjenigen Fällen, in denen die aufklärende Tätigkeit die strafrechtliche Irrelevanz der Tat feststellt), schließt dies also nicht aus, dass die Reaktion ex ante notwendig war. Im Grunde genommen legitimiert gerade diese Notwendigkeit die Beeinträchtigungen, die das Verfahren für den Beschuldigten mit sich bringt. Diese Legitimierungsmöglichkeit verschwindet jedoch, wenn schon ex ante als sicher angesehen werden kann, dass es unmöglich ist, den Prozess durch die Auferlegung einer Strafe zu beenden. Diese Verurteilungserwartung muss sich sowohl auf rechtliche als auch auf Indizien- oder Beweisgrundlagen stützen. 1. Vom ersten Standpunkt aus bedeutet dies, dass die Tat, die Gegenstand der Aufklärung ist, immer strafrechtliche Relevanz haben muss, wobei diese als die Möglichkeit der Subsumtion unter einen oder mehrere Straftatbestände verstanden wird. Während des Ermittlungsverfahrens wird gewöhnlich nicht mit einer einzigen faktischen Hypothese, sondern mit mehreren gleichzeitig gearbeitet. Zur Erfüllung des Erfordernisses der Verurteilungserwartung ist es in diesem Verfahrensabschnitt ausreichend, dass einige von ihnen strafrechtliche Relevanz haben. Die Möglichkeit, die Verurteilungserwartung auf mehrere Hypothesen zu stützen, besteht bis zum Moment der Anklage fort, wobei es problemlos möglich ist, dass die Anträge der Anklage gleichzeitig mehrere Vorwürfe als alternative Schlussfolgerungen beinhalten. In diesem Sinne muss betont werden, dass die Beurteilung der Tatbestandsmäßigkeit während des Ermittlungsverfahrens von derjenigen abweicht, die der Richter oder das Gericht im Urteil durchführt: Während im ersten Fall die Feststellung ausreicht, dass die möglicherweise begangenen Taten unter irgendeinen Straftatbestand subsumiert werden können, wird von dem Richter verlangt, dass er die Taten konkretisiert und erklärt, welcher konkrete Straftatbestand tatsächlich verwirklicht wurde. Aus dieser ersten Anforderung folgt die absolute Unrechtmäßigkeit der sogenannten inquisitio generalis, das heißt, die Eröffnung eines Verfahrens nicht zur Untersuchung konkreter Taten, von denen man Kenntnis erlangt hat, sondern um allgemein zu ermitteln, welche möglichen Straftaten ein Bürger begangen haben kann. 2. Die Verurteilungserwartung muss sich auch auf eine Indizien- oder Beweisgrundlage stützen: Man muss aufgrund des Ergebnisses der Ermittlungshandlungen vernünftigerweise darauf vertrauen können, die untersuchte Tat im Moment des Hauptverfahrens beweisen zu können. Diese Forderung muss im Laufe des Verfahrens immer wieder angepasst werden: Für den Beginn eines Ermittlungsverfahrens ist es ausreichend, dass die notitia criminis, so wie sie in der jeweiligen Strafanzeige beschrieben wird, eine Mindestwahrscheinlichkeit aufweist; für die
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Entscheidung, das Ermittlungsverfahren zu beenden und das Hauptverfahren zu eröffnen, ist es hingegen erforderlich, dass eine Beweismenge erreicht wurde, die quantitativ und qualitativ den Gedanken erlaubt, dass es im Moment des Hauptverfahrens möglich sein wird, die Unschuldsvermutung des Beschuldigten zu widerlegen. Aus diesem – rechtlichen und auf die Beweise gerichteten – Doppelaspekt der Verurteilungserwartung lassen sich wichtige praktische Konsequenzen für Zweifelsfälle ziehen: a) Gerade, weil man rechtmäßigerweise kein Verfahren eröffnen oder weiterführen kann, wenn die ermittelten Taten keinerlei strafrechtliche Relevanz haben, kann die Untersuchung einer Tat zum Beweis der Unschuld einer Person nicht zu den Funktionen des Prozesses zählen.8 In jedem Fall hat der Beschuldigte, abgesehen von dem konkreten, irrtümlicherweise gegen ihn geführten Verfahren, andere rechtliche Mittel zur Erlangung der Wiedergutmachung der Schäden, die ihm durch eine ungerechtfertige Prozessführung zugefügt werden könnten. b) Besagte Feststellung gilt auch für diejenigen Strafprozesse, die nur zur „Entdeckung der Wahrheit“, aber ohne eine ernsthafte Verurteilungserwartung eröffnet werden.9 Es wird nicht negiert, dass die Anerkennung der Realität bestimmter Tatsachen durch den Staat den Erfolg von politischen Übergangsprozessen erleichtern kann, jedoch sollte diese faktische Rekonstruktion ohne Verurteilungserwartung nicht mittels des Strafprozesses, sondern auf anderen Wegen durchgeführt werden. c) Die Eröffnung oder Weiterführung eines Verfahrens hat auch keinen Sinn, wenn das Strafrecht wegen der seit der Begehung der vermuteten Straftat vergangenen Zeit nicht mehr in der Lage ist, seine Funktion zu erfüllen. Um dies zu verhindern, sehen die Strafrechtssysteme die Figur der Verjährung vor, die zur Verfahrenseinstellung verpflichtet, wenn seit der Begehung des strafrechtlichen Verstoßes eine bestimmte Zeitspanne vergangen ist und die Tat ihren störenden Charakter verloren hat, sodass jegliche strafende Reaktion unangemessen wird.10 d) Schließlich darf ein Strafverfahren auch nicht eröffnet oder weitergeführt werden, wenn der Beschuldigte seine Tauglichkeit als Subjekt einer zukünftigen Strafe verliert. Dies geschieht zum Beispiel in den Fällen, in denen während des Verfahrens bei dem Beschuldigten irgendeine Art von geistiger Verwirrung oder eine Krankheit beobachtet wird, die den späteren Strafvollzug garantiert unmöglich
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In diesem Sinne Murmann (Fn. 2), S. 77. Pastor, in: FS Volk, 2009, S. 556 ff. 10 Hierzu Ragués i Vallès, La prescripción penal: fundamento y aplicación, 2004, S. 41 ff. m.w.N. 9
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machen wird.11 Das Vorhergehende gilt noch viel mehr, wenn der einzige mögliche Verantwortliche verstorben ist.12 Das Verschwinden der rechtlichen Verurteilungserwartung muss in jedem Fall die Beendigung des Prozesses zur Folge haben, unabhängig von seinen Entstehungsgründen oder dem Verfahrensabschnitt, in welchem es eintritt. In diesem Sinne kann die – von den spanischen Gerichten oft vertretene, wenn auch bei unzähligen Gelegenheiten durch ihre eigene Praxis widerlegte – Behauptung nicht geteilt werden, dass die Feststellung des Fehlens bestimmter Merkmale der Verbrechenslehre (der subjektive Tatbestand, bestimmte Schuldmerkmale, wie zum Beispiel die Kenntnis von der Rechtswidrigkeit, etc.) notwendigerweise die Durchführung eines Hauptverfahrens und eines Gerichtsurteils erfordert. Wenn schon in einer anfänglichen Phase des Verfahrens keinerlei Aussicht darauf besteht, dass solche Merkmale in der Zukunft existieren können, dann muss das Verfahren unverzüglich beendet werden.13
III. Aufklärende Funktion und Beweiswürdigung Damit der Prozess seinen Beitrag zu den Zielen des Strafrechts leisten kann, muss er notwendigerweise seine aufklärende Tätigkeit angemessen ausüben. Hieraus können interessante Überlegungen für einige Bereiche des Prozessrechts und insbesondere für die beweisrechtlichen Gebiete abgeleitet werden. Schon auf den ersten Blick ist offensichtlich, dass die Tatsachen zur korrekten Erfüllung besagter Funktion nicht auf jedwede Weise rekonstruiert werden können, sondern nur mit Rückgriff auf Beweismittel, deren Anwendung zu Ergebnissen führt, die von den Bürgern als eine korrekte Rekonstruktion des Geschehenen wahrgenommen werden. Dass die vom Richter angewandten Beweismittel von der Allgemeinheit als verlässlich angesehen werden, bedeutet jedoch nicht notwendigerweise, dass sie wissenschaftlich oder philosophisch gesehen eine absolute Verlässlichkeit erbringen.14 Dies bedeutet, dass im
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Zur Rechtfertigung seines Arguments fügt Murmann (Fn. 2), S. 77, hinzu: „… die Verdachtsklärung dient danach der Wiederherstellung des Rechts, ist aber nicht bereits ihrerseits Zweck des Verfahrens“. In demselben Sinn Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 27. Aufl. 2012, § 21 Rn. 14. Anderer Ansicht zum Beispiel Herzog, in: Política Criminal 5 (2008), abrufbar unter: http://www.politicacriminal.cl/n_05/d_1_5.pdf, S. 3 ff. 12 Angesichts des von dem Richter Baltasar Garzón initiierten Verfahrens zur Untersuchung bestimmter Straftaten der Franco-Ära wurde diese Frage in Spanien intensiv diskutiert, als offenkundig wurde, dass die Verantwortlichen bereits verstorben waren (vgl. das Urteil des spanischen Tribunal Supremo, 101/2012 v. 27. 02. 2012, welcher schließlich erklärte: „Das Recht, die historische Wahrheit zu kennen, ist nicht Teil des Strafprozesses.“). 13 Oder, falls dies möglich ist, zu dem bloßen Zweck der Auferlegung einer Sicherungsmaßnahme weitergeführt werden. 14 Erb, in: FS Rieß, 2002, S. 77; Freund (Fn. 6), S. 1; Volk (Fn. 4), S. 6 und 288; Framarino dei Malatesta, Lógica de las pruebas en material criminal, 3. Aufl. 1912 (Übersetzung ins
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Strafprozess nicht absolut garantiert werden kann, dass die Rekonstruktion der Tatsachen immer dem tatsächlich Stattgefundenen entspricht, sondern nur, dass besagte Rekonstruktion die einzige vernünftige Hypothese des Geschehenen ist. Die Möglichkeit, das Fehlerrisiko zu legitimieren, das bei einer auf die Idee der Vernünftigkeit gestützten, prozessualen Festlegung der Tatsachen zwangsläufig angenommen wird, hat in den letzten Jahren in der Strafrechtswissenschaft zu einer interessanten Debatte geführt. Es ist jedenfalls kaum fraglich, dass ein Verzicht auf das Strafrecht, um überhaupt kein – nicht einmal das allerunbedeutendste – Risiko einer fehlerhaften Verurteilung auf sich zu nehmen, für das friedliche Zusammenleben viel mehr Nach- als Vorteile mit sich bringen würde.15 Wenn dieses friedliche Zusammenleben auf jeden Fall bewahrt werden soll, muss die zwangsläufige Annahme einer unvermeidbaren Fehlergrenze akzeptiert werden. Und auch wenn diese in einem Einzelfall nicht festgelegt werden kann, so muss doch mit allen möglichen Mitteln versucht werden, sie zu verringern. Hieraus können folgende konkretere Forderungen abgeleitet werden: 1. Wenn wissenschaftliche Disziplinen, die großes soziales Vertrauen bezüglich der Gültigkeit ihrer Ergebnisse genießen, sich einheitlich über bestimmte Fragen mit beweisrechtlicher Tragweite geäußert haben, dann ist der Richter verpflichtet, dem Diktat besagter Wissenschaften zu folgen.16 Dies erklärt sich dadurch, dass die Akzeptanz der Gültigkeit solcher Kriterien Teil der im jeweiligen Moment gültigen sozialen Vernünftigkeit ist. Wenn keine wissenschaftliche Aussage besteht, muss der Richter auf die Regeln der Allgemeinerfahrung zurückgreifen, jedoch nur, wenn diese eindeutig gesellschaftlich anerkannt sind. In dem Maße, wie die zwar manchmal schwer präzisierbare Vernünftigkeit einer bestimmten Beweiswürdigung ein intersubjektives Kriterium ist, das dargelegt und überprüft werden kann, besteht überhaupt kein Hinderungsgrund dafür, dass die Strafrechtswissenschaft – wie es in der Tat in der Rechtsprechung manchmal schon geschieht17 – Standards für die Vernünftigkeit der Beweiswürdigung diskutiert und konkretisiert, die allgemein festlegen, ob der für ein bestimmtes Beweismittel übernommene Spielraum für Zweifel als akzeptabel angesehen werden kann oder nicht. 2. Für eine legitime Verurteilung ist es ebenfalls notwendig, dass als Ergebnis der Anwendung der verlässlichen Maßnahmen zur Tatsachenrekonstruktion nur eine vernünftige Hypothese zu dem Geschehenen fortbesteht und dass diese – aufgrund der notwendigen Verurteilungserwartung – strafrechtliche Relevanz hat. In Spanische von S. Carrejo und J. Guerrero), 4. Aufl. 1995, S. 43: „Gewissheit ist im Kriminalbereich nicht mehr als Wahrscheinlichkeit, weil immer eine Fehlergrenze bestehen bleibt“. 15 Vgl. in diesem Sinne die Arbeiten von Hoyer, ZStW 105 (1993), S. 523 ff. und Stein, in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, 1995, S. 233 ff. 16 Roxin/Schünemann (Fn. 11), § 45 Rn. 14 und Volk (Fn. 4), S. 290, die sich auf die Rechtsprechung stützen. 17 Vgl. Stein (Fn. 15), S. 253.
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diesem Sinne erweist sich die von Autoren wie Freund vorgeschlagene Methode zum Ausschluss alternativer Hypothesen als sehr angemessen: Die faktische Hypothese, die zur Verurteilung führt, ist nur dann entscheidend, wenn der Richter vorher alle anderen faktischen Hypothesen als unvernünftig ausgeschlossen hat, die zur Ablehnung der strafrechtlichen Relevanz der Tat führen.18 In diesem Ausschlussprozess der alternativen Hypothesen muss dem Beschuldigten – wie es in der Tat bereits in der großen Mehrheit der prozessualen Systeme gemacht wird – die Möglichkeit gewährt werden, die Beweise beizubringen, die er für seine Verteidigung als sachdienlich ansieht und in zweiter Instanz die Vernünftigkeit der zu seiner Verurteilung vorgebrachten Argumente zu hinterfragen. Dies setzt die Pflicht des erstinstanzlichen Richters voraus, die Bewertung der Tatsachen zu begründen. 3. Schließlich muss das Verfahrenssystem für diejenigen Fälle über Revisionsmechanismen verfügen, in denen a posteriori das tatsächliche Bestehen eines Fehlers bei der Tatsachenfeststellung bemerkt wird, um die negativen Wirkungen zu verhindern – oder zumindest so weit wie möglich zu verringern –, die diese Fehler sowohl für die Rechte der betroffenen Person als auch für die allgemeine Wahrnehmung des korrekten Funktionierens des Prozesses haben. Wenn diese Prämissen auf die Debatte übertragen werden, welche Art von „Wahrheit“ mit dem Strafverfahren rekonstruiert werden kann – falls diese Debatte überhaupt Sinn hat, was Autoren wie Taruffo19 diskutieren – muss aufgezeigt werden, dass die faktische Rekonstruktion von den Bürgern als „materielle Wahrheit“ wahrgenommen werden können muss, insofern als alle vernünftigen alternativen Erklärungen ausgeschlossen wurden, auch wenn von dem Standpunkt der theoretischen Spekulation aus vielleicht davon gesprochen werden muss, dass nur eine „prozessuale Wahrheit“ erreicht wurde, da vertreten werden kann, dass von einem wissenschaftlichen oder philosophischen Standpunkt aus immer ein (unbestimmtes) Fehlerrisiko bei der Verurteilung angenommen wird.20 In jedem Fall sind die bloßen subjektivistischen Überzeugungsansätze, die schon auf theoretischer Ebene die endgültige Lösung des Falles von rein emotionalen Faktoren abhängig machen, überhaupt nicht akzeptabel: Dass solche Faktoren in der Praxis zwangsläufig auftreten – auch wenn dies bei der Begründung der Entscheidungen gewöhnlich nicht anerkannt wird –, bedeutet nicht, dass die Strafrechtswissenschaft nicht versuchen muss, diese so weit wie möglich zu reduzieren, indem sie von dem 18
Freund (Fn. 6), S. 22 f.; vgl. ebenfalls Volk, in: FS Salger, 1995, S. 415. Taruffo, La prueba de los hechos (Übersetzung ins Spanische von J. Ferrer Beltrán), 2002, S. 11. Eine Zusammenfassung der gebräuchlichsten Argumente zur Ablehnung der Unterscheidung zwischen verschiedenen Wahrheitsklassen findet sich bei Ferrer Beltrán, Prueba y verdad en el Derecho, 2002, S. 71. 20 Wie Volk, Wahrheit und materielles Recht im Strafprozess, 1980, S. 11, feststellt, ist es zur Stabilisierung des Vertrauens des Bürgers nicht ausreichend, zu behaupten, dass es wahrscheinlich ist, dass jemand eine bestimmte Tat begangen hat, sondern es sind „autoritative Wahrsprüche“ notwendig, die sich darauf stützen müssen, was als wahr erklärt wird. 19
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Richter verlangt, dass er seine Entscheidung durch Argumente begründet, die intersubjektiv akzeptiert werden können.21 Dass es manchmal kompliziert ist, einen gewissen Konsens über die angemessenste Antwort auf eine bestimmte rechtliche Frage zu erreichen, ist nicht ausschließlich ein Problem der Beweistheorie, sondern ein allgemeines Problem der Rechtswissenschaft. In anderen Bereichen des Strafrechts gibt sich angesichts dieser unvermeidbaren Realität niemand mit bloßen subjektiven Eindrücken darüber zufrieden, was die angemessenste Lösung für einen Fall ist.
IV. Die Sicherungsfunktion Neben dem Beitrag zur Verwirklichung des Ziels des Strafrechts durch die Ausübung seiner aufklärenden Funktion erfüllt der Prozess, wie bereits dargestellt wurde, eine zweite, nicht weniger wichtige Funktion: die sogenannte Sicherungsfunktion. Bei ihr kann man tatsächlich von einer echten Unterordnung des Zwecks des Prozesses unter den Zweck der Strafe sprechen, und zwar in dem Sinne, dass das Hauptziel der prozessualen Elemente, die die Sicherungsfunktion ausüben, darin besteht, die Wirkungen einer möglichen zukünftigen Sanktion zu garantieren. Die angemessene Aufklärung der notitia criminis erfordert je nach der Schwierigkeit der Ermittlungen und den Mitteln der Rechtspflege eine mehr oder weniger lange Zeitspanne. Während dieses Zeitraumes besteht die Gefahr, dass die präventiven Wirkungen, die die zukünftige Strafe erfüllen muss, scheitern. Daher verfügt der Prozess über Mechanismen, die diese Wirkung zu verhindern suchen. Auf Spanisch werden diese Figuren „medidas cautelares“ („Sicherungsmaßnahmen“) genannt, was wahrscheinlich ausdruckstärker ist als der deutsche Begriff Zwangsmittel, welcher auch bestimmte aufklärende Maßnahmen umfasst.22 Bezüglich dieser Maßnahmen muss aufgezeigt werden, dass ihr Zweck nicht, wie manchmal behauptet wird, darin bestehen kann, nur die korrekte Beendigung des Prozesses sicherzustellen, sondern besagte Beendigung als ein Mittel zu garantieren, das es ermöglicht, dass die Strafe ihre präventiven Wirkungen entfaltet, falls es zu einer Verurteilung kommt.23 Der Anspruch, die Zwangsmaßnahmen nicht mit den 21 Wie Ferrer Beltrán (Fn. 19), S. 75, richtig erklärt, führt das Verständnis, dass der Beweis einer Tat der Überzeugung des Richters über deren Stattfinden entspreche, „zu einer irrationalen Auffassung des Beweises“. Mit ähnlichen Worten Muñoz Conde, La búsqueda de la verdad en el proceso penal, 3. Aufl. 2007, S. 116. Dennoch wurden in den letzten Jahren Arbeiten veröffentlicht, die die Notwendigkeit der richterlichen Überzeugung mit Argumenten wie der Unmöglichkeit einer absolut objektiven Beweiswürdigung oder deren garantistischer Dimension hervorheben: vgl. hierzu Frister, in: FS Grünwald, 1999, S. 169 ff. oder Erb (Fn. 14), S. 77 ff. 22 In Spanien ist die Unterscheidung auch nicht völlig klar, da die zur Vermeidung der Zerstörung von Beweisen angeordnete Untersuchungshaft als „medida cautelar“ angesehen wird, obwohl diese ganz klar mit der Aufklärungsfunktion assoziiert wird. 23 Dies ist zum Beispiel die Ansicht des spanischen Verfassungsgerichts, Urteil 29/2001 v. 29.1., in welchem Folgendes behauptet wird: „Die Untersuchungshaft ist ein durch die Not-
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Unreinheiten, die angeblich von der Strafe und der Prävention ausgehen, zu „verschmutzen“, ist möglicherweise ein zweifelhafter Ausgangspunkt. Jedoch sollte die Benutzung der Maßnahmen zur Bewahrung der Wirkungen der zukünftigen Strafe nicht damit verwechselt werden, besagten Maßnahmen unrechtmäßigerweise die der Sanktion eigenen Zwecke zuzuschreiben: Die Untersuchungshaft wird nicht zur Abschreckung angeordnet oder um das Vertrauen der Bürger in das Recht zu bestätigen, sondern um zu verhindern, dass die zukünftige Strafe ihre Abschreckungs- und Bestätigungswirkung verliert. Gerade aus diesen Gründen kann auf diesem Gebiet die Forderung vorherrschen, der Richter müsse immer die für die Rechte der betroffenen Person am wenigsten schwerwiegende Maßnahme wählen. Die Tatsache, dass der Gesetzgeber – ebenso wie der Richter – dem Prozess legitimerweise keine präventive Funktion zuweisen kann – indem er zum Beispiel die Abschreckungswirkung der Strafe vorwegnimmt – hindert jedoch nicht daran, den unvermeidbar materiell unangenehmen Charakter dieser Maßnahmen und die Notwendigkeit anzuerkennen, dass eine solche Einschränkung beachtet werden muss, wenn diese über die der prozessualen Tätigkeit inhärenten Beschränkungen hinausgeht. Dies muss zum Beispiel dadurch verwirklicht werden, dass die in Untersuchungshaft verbrachte Zeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird oder auch dadurch, dass bei der Strafzumessung andere unangenehme Aspekte des Prozesses beachtet werden, die nicht notwendigerweise mit Zwangsmaßnahmen verbunden sind, wie der ungerechtfertigte Unsicherheitszeitraum, den der Beschuldigte bei ungerechtfertigten prozessualen Verzögerungen ertragen muss, oder die der Rechtspflege zuzuschreibenden negativen Beeinträchtigungen seines Ansehens in den Fällen, in denen zum Beispiel Informationen an die Massenmedien durchsickern. Von allen Fällen, in denen das Risiko besteht, dass der Zweck der Strafe scheitert, kann die Sicherungsfunktion am deutlichsten auf legitime Weise zu einer Einschränkung der Grundrechte führen, wenn eine Fluchtgefahr des Beschuldigten gegeben ist und daher die Gefahr besteht, dass die präventiven Wirkungen der Strafe völlig zunichtegemacht werden, da ihre wirksame Auferlegung nach Bestätigung der notitia criminis nicht mehr möglich sein wird. In diesem Fall ist es offensichtlich, dass nur die Notwendigkeit, die Strafe aufzuerlegen, die möglichen Einschränkungen von Rechten legitimieren kann. Es ist nämlich schwer vertretbar, wird aber trotzdem manchmal getan, dass dem Beschuldigten seine Freiheit entzogen werden müsse, nur damit er im Moment des Hauptverfahrens sein Verteidigungsrecht ausüben könne. Diese Fluchtgefahrfälle – in denen das Risiko besteht, dass der Zweck der aufzuerlegenden Strafe völlig scheitert – müssen von denjenigen unterschieden werden, in denen Gründe für die Annahme bestehen, dass die Strafe in der Zeitspanne zwischen der Tatbegehung und der Strafverhängung einen Teil ihrer präventiven Fähigkeit verwendigkeit der Sicherung der Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung gerechtfertigtes Zwangsmittel; diese Rechtfertigungsgrundlage, die die Demarkationslinie zu anderen Arten des bedingten Freiheitsentzuges zieht, bedingt ihrerseits deren Rechtsordnung.“
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lieren, auch wenn sie weiterhin tatsächlich auferlegt werden kann. In diesen Fällen besteht also nicht die Gefahr des völligen Scheiterns. Daher muss hier für die Legitimierung des Ergreifens von Maßnahmen das Bedürfnis bestehen, andere, besonders wichtige, persönliche oder kollektive Interessen zu wahren. Hierbei reicht es nicht aus, sich allgemein auf die Notwendigkeit zu berufen, die der Strafe zugesprochene positiv- oder negativgeneralpräventive Wirkung sicherzustellen, da diese Wirkung nicht von dem jeweiligen Einzelfall abhängt. Dies kann dann der Fall sein, wenn eine erhebliche Gefahr besteht, dass der Täter zwischen dem Moment der Tatbegehung und der Vollstreckung der Strafe wieder eine schwere Straftat gegen die wichtigsten persönlichen Interessen (Leben, körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung oder Fortbewegungsfreiheit) desselben oder eines anderen Opfers begeht.24 Entgegen dem, was manchmal gesagt wird, erfüllt das Zwangsmittel in diesem Fall nicht nur die (für manche illegitime) Funktion der Verhinderung neuer Straftaten, sondern man versucht mit ihm auch zu verhindern, dass die schlussendlich auferlegte Strafe einen Teil ihrer Fähigkeit verliert, das Vertrauen der Bürger in den Schutz, den ihnen das Recht gewährt, zu bestätigen. Aus Sicht der Generalprävention ist es offensichtlich, dass die schlussendlich auferlegte Strafe wenig nützt, wenn zum Beispiel das Opfer in einem Verfahren wegen geschlechtsspezifischer Gewalt vor der Hauptverhandlung durch den Beschuldigten getötet wurde, weil Letzterer während des Ermittlungsverfahrens in Freiheit verblieb, obwohl seine Gefährlichkeit allgemein bekannt war. Jedoch wird diese Rechtfertigung nur in denjenigen Fällen erfüllt, in denen die grundlegendsten Interessen potenzieller Opfer gefährdet sind, nicht aber immer dann, wenn eine Rückfallgefahr bezüglich irgendeiner beliebigen Straftat besteht. Ein anderer, sicherlich zweifelhafterer Fall als der vorherige, kann vorliegen, wenn das Fehlen einer Reaktion auf eine einzige Straftat die merkliche Gefahr verursacht, schwere soziale Unruhen hervorzurufen, die den sozialen Frieden oder sogar die Integrität des vermeintlich Verantwortlichen selbst gefährden. Wenn man akzeptiert, dass es in solchen Fällen legitim ist, Zwangsmittel zu ergreifen, um zu verhindern, dass in der Zeitspanne zwischen der Tat und ihrer Bestrafung die Wirkung der Letzteren zunichtegemacht wird, dann muss ganz besonders rigoros die Feststellung eines tatsächlichen und sehr schwerwiegenden Risikos gefordert werden. Hierfür reicht eine bloße soziale Empörung oder ein Medienalarm angesichts bestimmter Straftaten oder Personen, die als Gewohnheitstäter Straftaten begehen, welche nicht die grundlegendsten Interessen anderer gefährden, nicht aus.25 24 Laut einer verbreiteten Meinung in der Lehre hat die Untersuchungshaft in diesen Fällen eine präventiv-polizeiliche Funktion; vgl. zum Beispiel Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 55. Aufl. 2012, § 112a Rn. 1; in Italien: Ferrajoli, Diritto e ragione, 8. Aufl. 2004, S. 567. 25 Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte billigt es, dass bestimmte Motive der öffentlichen Ordnung die Untersuchungshaft legitimieren können, wie es im französischen Recht geschieht. So wird zum Beispiel im Urteil in der Sache Letellier (v. 26. 6. 1991) wortwörtlich behauptet: „Der Gerichtshof akzeptiert, dass bestimmte Straftaten aufgrund ihrer besonderen Schwere und der öffentlichen Reaktion, die sie hervorrufen, eine
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Kurz gesagt: Die Funktion der sichernden Zwangsmittel besteht darin, das Zunichtemachen der Präventivwirkung der zukünftigen Strafe zu verhindern zu suchen, was nicht mit einer Vorwegnahme der Sanktion verwechselt werden darf. Es ist daher problemlos möglich, diese Zwangsmittel mit den Wirkungen der Strafe zu verbinden, ohne die Unschuldsvermutung der beschuldigten Person zu verletzen.
V. Die Grenzen zwischen Strafbarkeit und Verfolgbarkeit In den vorhergehenden Abschnitten wurde untersucht, wie der Prozess materiell mit anderen Elementen des Strafrechtssystems in Zusammenhang steht. Nun sind einige Ideen zu skizzieren, auf welche Weise die prozessualen Normen sich in das normative Flechtwerk dieses Systems einfügen. Traditionell wurde diese Frage bei der Unterscheidung zwischen den Kategorien der (materiellen) Strafbarkeit und der (prozessualen) Verfolgbarkeit untersucht, deren Abgrenzung sich als eine der kompliziertesten Fragen für die Strafrechtswissenschaft herausgestellt hat. Wie einige Autoren gezeigt haben, kristallisieren sich in der sogenannten Sanktionsnorm Bewertungen heraus, die im Wesentlichen mit der Notwendigkeit, eine bestimmte Verletzung der Verhaltensnorm zu bestrafen, zusammenhängen. Jedoch erfolgen diese Bewertungen offensichtlich nicht nur innerhalb der Kategorie der Strafbarkeit, sondern auch bei einigen Merkmalen, die traditionellerweise auf dem Gebiet der Verfolgbarkeit verortet werden, wie zum Beispiel die notwendige Erstattung einer Anzeige für die Verfolgung bestimmter Straftaten oder Figuren mit zweifelhafter Natur, wie die Verjährung.26 Dies erklärt zweifellos die Schwierigkeiten einer klaren Abgrenzung. Um dieses Dilemma zu überwinden, könnte man vielleicht annehmen, dass die Strafbarkeit und die Verfolgbarkeit in Wirklichkeit keine aneinander angrenzenden Gebiete zwischen dem materiellen und dem prozessualen Recht sind, sondern dass die Verfolgbarkeit – und die Prozessnormen in ihrer Gesamtheit, deren Erfüllung für die tatsächliche Bestrafung einer Straftat notwendig ist – als Voraussetzung der Straf-
soziale Unordnung ermöglichen können, die imstande ist, zumindest während einer gewissen Zeit einen dem Hauptverfahren vorausgehenden Freiheitsentzug zu rechtfertigen“ (§ 51). In demselben Beschluss (§ 52) fordert der Gerichtshof, dass für die Anordnung der Untersuchungshaft aus diesem Grund zwei Belege existieren müssen, die das Bestehen der besagten Gefahr bestätigen können. Diese Rechtsprechung wurde in dem Urteil der Fälle Tomasi (v. 27. 8. 1992) und Bouchet (v. 20. 3. 2001) wiederholt. 26 Vgl. hierzu Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Band I: Grundlagen. Der Aufbau der Verbrechenslehre, 4. Aufl. 2006, § 23 Rn. 1 ff. und 53 ff.; Freund (Fn. 4), S. 54, bezeichnet die Unterscheidung zwischen Strafbarkeit und Verfolgbarkeit als „vordergründige Wortklauberei“. Frisch spricht in Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem, S. 155, nuancierter von fließenden Grenzen.
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barkeit angesehen werden muss.27 In dem Moment der Entscheidung darüber, ob ein bestimmtes, konkretes Verhalten strafbar ist, muss der Richter so nicht nur die materiellen, sondern auch – gemäß dem Recht auf einen Prozess nach den gesetzlich festgelegten Verfahrensregeln – die prozessualen Vorschriften beachten. Und nur wenn er positiv feststellen kann, dass beide Gruppen von Vorschriften beachtet wurden, kann er behaupten, dass die konkrete Tat tatsächlich strafbar ist. Wie Wolfgang Frisch erklärt: „Was eine Straftat ausmacht, [kann] nicht ohne den Blick auf prozessuale Institute bestimmt werden“.28 Dies bedeutet nicht, dass eine absolute Unterordnung des prozessualen Subsystems unter das materielle System vertreten wird. Es handelt sich vielmehr um zwei unterschiedliche normative Subsysteme, die gerade die Strafbarkeit als Verbindungspunkt haben.29 In diesem Sinne wäre die Strafbarkeit weder materiell noch prozessual, sondern die Kategorie des Strafrechtssystems, in welcher das Materielle und das Prozessuale zusammenfließen und die Verbrechenslehre – als ideale Konstruktion – Kontakt mit der Wirklichkeit der konkret verfolgten Tat und den Umständen ihrer Verfolgung aufnimmt. Sobald festgestellt wurde, dass eine bestimmte Tat – materiell und prozessual gesehen – strafbar ist, treten zwei andere wichtige Elemente des Strafrechtssystems auf: die Regeln der Strafzumessung und der Strafvollstreckung. Als Folge des Vorhergehenden sollte das Verbot der negativen Rückwirkung für alle diejenigen Gesetzesvorschriften gelten, die sowohl die Strafbarkeit als auch die sogenannte Verfolgbarkeit festlegen und allgemein für alle diejenigen Verfügungen, denen ein nachteiliger Charakter zugesprochen werden kann, da sie die Bestrafungsmöglichkeiten einer bestimmten Tat erweitern oder dem Staat ihre Sanktion erleichtern.30 Die Schlüsselfrage für die Diskussion, ob ein solches Verbot angewandt werden soll oder nicht, liegt daher nicht darin, ob eine Figur prozessual oder materiell ist, sondern darin, ob aus ihrer Anwendung nachteilige Wirkungen vorhergesagt werden können. Wie bereits vorweggenommen wurde, ist es hier nicht möglich, eine vollständige Theorie des gesamten Strafrechtssystems zu entwickeln. Jedoch sollten die vorhergehenden Seiten die bedeutende Leistungsfähigkeit gezeigt haben, die dieser Gedanke für die Lösung klassischer Dilemmas der Strafrechtswissenschaft haben kann. 27 In diesem Sinne Pastor (Fn. 4), S. 807: „Nicht nur die sogenannten Prozessvoraussetzungen, sondern alle prozessualen Regeln sind Bestandteile einer objektiven Strafbarkeitsbedingung: dem fairen Verfahren“. 28 Frisch (Fn. 26), S. 154; Freund (Fn. 4), S. 44. 29 Freund (Fn. 4) erklärt auf S. 57: Die Idee des gesamten Strafrechtssystems „führt nicht etwa zu einer Nivellierung der sachlichen Unterschiede innerhalb einzelner Subsysteme. Es bewirkt ganz im Gegenteil, daß jedem einzelnen Subsystem der – beschränkte – Stellenwert zugeordnet wird, der ihm im gesamten System allenfalls gebührt“. 30 Jakobs, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Die Grundlagen und die Zurechnungslehre, 2. Aufl. 1993, S. 68: Entscheidend ist, ob der Staat seine Strafbefugnis erweitert oder nicht. Zu seiner Zeit wurde diese Schlussfolgerung unter anderem auch von Carnelutti, Cuestiones sobre el proceso penal (Übersetzung ins Spanische von S. Sentís Melendo), 1950, S. 359, vertreten.
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Auch wenn über ihre konkrete Entwicklung nicht immer Übereinstimmung bestehen mag, bedeutet die bloße Tatsache ihrer Existenz, dass über ein machtvolles Untersuchungsinstrument verfügt wird. Schon allein aus diesem Grund muss denjenigen, die sie vorgeschlagen haben, und unter ihnen und insbesondere heute, Jürgen Wolter, gedankt werden.
Zur Rolle und Reichweite des Strafrechts bei Katastrophen Von Rudolf Rengier
I. Einführung Sucht man in strafrechtlichen Kommentaren und Lehrbüchern in den Stichwortverzeichnissen nach dem Begriff „Katastrophe“, so findet man nichts.1 Die Frage, welche Rolle das Strafrecht bei Katastrophen spielt, scheint also bisher jedenfalls unter dem Oberbegriff der Katastrophe wenig behandelt worden zu sein. Von einem Gebiet des Katastrophenstrafrechts kann schon gar nicht die Rede sein. Anders liegt es demgegenüber im öffentlichen Recht. Dort ist, freilich auch erst in den letzten Jahren, das Katastrophen- oder Katastrophenschutzrecht stärker in den Mittelpunkt gerückt.2 Soweit dabei das Verwaltungsrecht im Zentrum steht, spricht man auch von einem Katastrophenverwaltungsrecht. Man unterscheidet im öffentlichen Recht verschiedene Phasen des Katastrophenschutzes und setzt sich ebenfalls mit der Frage auseinander, was unter dem Begriff der Katastrophe zu verstehen ist. Nach allem liegt es nahe, sich dem Thema vom öffentlichen Recht her zu nähern.3
II. Begriff der Katastrophe Der Begriff der Katastrophe ist vielschichtig. Es gibt Unglücke, die bloß für eine einzelne Person eine Katastrophe sein können, so wenn jemand einen geliebten Menschen oder sein gesamtes Hab und Gut verliert oder schwer erkrankt. Um solche in1 Der Beitrag ist aus einem Vortrag hervorgegangen, den Verf. am 3. Juli 2012 im Rahmen des 5. Trilateralen deutsch-japanisch-koreanischen Seminars gehalten hat. Das Generalthema hatte „Die Rolle des Rechts bei der Bewältigung von Katastrophen“ zum Gegenstand. 2 Dabei spielt das Forschungszentrum Katastrophenrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin eine führende Rolle. Siehe die von Kloepfer herausgegebenen „Schriften zum Katastrophenrecht“: Katastrophenrecht: Grundlagen und Perspektiven, 2008; Hochwasserschutz, 2009; Schutz kritischer Infrastrukturen, 2010; Pandemien als Herausforderung für die Rechtsordnung, 2011; Hochrisikoanlagen, 2012. 3 Zum Folgenden insbesondere Stober/Eisenmenger, NVwZ 2005, 121 ff.; Kloepfer, VerwArch 2007, 163 ff.; ders., in: Sellner-Festschrift, 2011, S. 391 ff. Siehe weiter die Beiträge von Kloepfer, S. 9 ff., Stober, S. 43 ff. und Eckardt, S. 61 ff., alle in Kloepfer (Hrsg.), Katastrophenrecht (Fn. 2).
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dividuelle Katastrophen geht es hier nicht. Mein Gegenstand sind Katastrophen im Bereich des Katastrophenschutzes und der Katastrophenmedizin. Nach einer verbreiteten Definition ist eine Katastrophe ein Geschehen, das Leben oder Gesundheit zahlreicher Menschen, die Umwelt, erhebliche Sachwerte oder die lebensnotwendige Versorgung der Bevölkerung in ungewöhnlichem Maße gefährdet oder schädigt.4 Es handelt sich also um Großschadensereignisse, die eine große Zahl von Personen betreffen und/oder besonders große Schäden anrichten. Die Katastrophenschutzgesetze der deutschen Bundesländer greifen diese Definition auf und verknüpfen sie in der Regel mit der Notwendigkeit, dass zur Bekämpfung der Katastrophe die einheitliche Leitung durch die Katastrophenschutzbehörde geboten erscheint (so etwa § 1 Abs. 2 des Landeskatastrophenschutzgesetzes von Baden-Württemberg). Von den Katastrophenarten sind an erster Stelle Naturkatastrophen aller Arten zu nennen, z. B. Hochwasser, Schnee- und Schlammlawinen, Erdbeben, Tsunamis, Stürme und Unwetter, Seuchen. Von solchen (primär) natürlich verursachten Katastrophen kann man (primär) menschlich verursachte Katastrophen unterscheiden. Hier lassen sich gravierende Verkehrsunfälle einordnen (Flugzeugabstürze, Gefahrgutunfälle, Zug- und Bergbahnunglücke), ferner Brände von Gebäuden sowie Unfälle im Zusammenhang mit dem Betrieb von Anlagen (Kernkraftwerke, chemische Fabriken, Bergwerke, Sporthallen und andere Bauten).
III. Katastrophenverwaltungsrecht Aus der verwaltungsrechtlichen Perspektive stellt sich die Frage, mit welchen Mitteln (1) drohende Katastrophen verhütet werden können bzw. zumindest ihr Ausmaß verringert werden kann, und (2) eingetretene Katastrophen zu bekämpfen sind. Daran anknüpfend lassen sich folgende Bereiche des Katastrophenschutzes unterscheiden:5 1. Die Katastrophenverhütung: Die Katastrophenverhütung kann zum einen darauf abzielen, schon den Eintritt der Katastrophe zu vermeiden. Bei Naturkatastrophen ist dies naturgemäß schwierig, aber nicht völlig ausgeschlossen, wenn man insbesondere an den Hochwasserschutz denkt. Einfacher sieht es bei den von Menschen ausgehenden Katastrophen aus. Hier können hohe Sicherheitsstandards dazu beitra-
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Wörterbuch des Zivil- und Katastrophenschutzes (www.kfv-heilbronn.de/dokumente). Kloepfer, in: Sellner-Festschrift (Fn. 3), S. 401 ff.; ders., VerwArch 2007, 190 ff.
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gen, dass Katastrophen wie der Brand eines Hochhauses oder der Einsturz einer Brücke erst gar nicht eintreten. Wo sich – wie namentlich bei Naturkatastrophen – der Ausbruch nicht verhindern lässt, können gefährdete Gebiete erfasst und Maßnahmen ergriffen werden, welche die Folgen von Naturkatastrophen einschränken. Typische Beispiele stellen Ansiedlungs- und Bauverbote in hochwasser- oder erdbebengefährdeten Gebieten dar. Ebenso hierher gehören Auflagen, in Erdbebengebieten Bauten gegen Erdstöße zu schützen. 2. Die Katastrophenvorsorge: Bei der Katastrophenvorsorge geht es um die Vorbereitung der Katastrophenbekämpfung. Typische Vorbereitungsmaßnahmen sind: Erstellung und Fortschreibung von Katastrophenschutz- und Notfallplänen; Ausund Fortbildung der Einsatzkräfte; Anschaffung und Wartung von Einsatzmaterial (z. B. Feuerwehren); Alarmeinrichtungen; Durchführung von Katastrophenschutzübungen. 3. Die Katastrophenbekämpfung: Ist die Katastrophe ausgebrochen, so stellt sich die Aufgabe, ihre Folgen zu minimieren. Verletzte müssen geborgen und gerettet werden. Möglicherweise müssen Menschen zu ihrem Schutz evakuiert werden. Einsturzgefährdete Bauten sind zu sichern (usw.). Die erwähnten drei Ebenen des Katastrophenverwaltungsrechts öffnen den Blick für die Fragen des Katastrophenstrafrechts. Denn wenn auf den Ebenen des Verwaltungsrechts erforderliche Maßnahmen nicht ergriffen werden und deshalb eine Katastrophe nicht verhindert oder ihr Ausmaß nicht eingeschränkt werden kann, stellt sich von alleine die Frage, wer für derartige Versäumnisse und dadurch ausgelöste katastrophale Folgen (Tote, Verletzte, Umweltschäden) strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann.6 Auf der Suche nach den in Katastrophenfällen möglicherweise einschlägigen Straftatbeständen stößt man selbstverständlich auf die gemeingefährlichen Straftaten des 28. Abschnitts (§§ 306 ff. StGB) und die Umweltdelikte des 29. Abschnitts (§§ 324 ff. StGB). Sieht man genauer hin und ruft sich die verwaltungsrechtlichen Anknüpfungspunkte in Erinnerung (Katastrophenverhütung, -vorsorge und -bekämpfung), gelangt man zur Einsicht, dass katastrophale Folgen verursachende Versäumnisse auf den verwaltungsrechtlichen Ebenen strafrechtlich kaum einmal zu Vorsatztatbeständen, sondern in der Regel nur zu einer Fahrlässigkeitshaftung führen werden. Diesbezüglich findet man zwar auch in den §§ 306 ff., 324 ff. StGB Fahrlässigkeitstatbestände, doch wird deren etwaige Verwirklichung typischerweise verhältnismäßig wenig öffentliche Aufmerksamkeit erregen. Es sind die oft vielen Toten und (schwer) verletzten Opfer, die den Ruf nach dem Strafrecht laut werden lassen. Damit stehen letztlich die §§ 222, 229 StGB und die Fahrlässigkeitslehre im Mittel6 Zum Folgenden ergänzend Schall, in: Kloepfer (Hrsg.), Hochrisikoanlagen (Fn. 2), S. 145 ff. Die strafrechtliche Arbeit von Dönicke, Strafrechtliche Aspekte der Katastrophenmedizin, 1987, greift andere Fragen auf.
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punkt des Katastrophenstrafrechts. Dies soll im Folgenden anhand einiger Katastrophenfälle beleuchtet werden.
IV. Diskussion von Katastrophenfällen aus strafrechtlicher Sicht 1. Tohuku-Erdbeben, Tsunamiwelle und die Katastrophe von Fukushima (2011) Die von einem Erdbeben ausgelöste gewaltige Tsunamiwelle, welche zu der Katastrophe von Fukushima7 geführt hat, war als solche gewiss ein Naturereignis, für dessen Folgen, insbesondere die Tötung vieler tausender Menschen, grundsätzlich niemand zur Verantwortung gezogen werden kann. Etwas anderes könnte für die Schäden gelten, die von dem von der Tsunamiwelle getroffenen Kernkraftwerk ausgegangen sind. Ich denke insbesondere an die Verseuchung des Meerwassers und an die körperlichen Verletzungen von Menschen durch die ausgetretene Radioaktivität. Dabei beurteile ich das Geschehen aus der Perspektive des deutschen Strafrechts und maße mir nicht an, die Ergebnisse auf das japanische Strafrecht zu übertragen. Wenn das Kernkraftwerk an dieser Stelle überhaupt nicht oder nur mit strengeren Sicherheitsstandards hätte gebaut werden dürfen, der Bau aber genehmigt worden ist, könnte man an eine Strafbarkeit der Amtsträger denken, die für die Erteilung der Genehmigung verantwortlich sind. Denn wenn die Genehmigung im Lichte des Umweltverwaltungsrechts rechtswidrig ist, kommt sie nach h.M. grundsätzlich als Anknüpfungspunkt für fahrlässiges Verhalten in Betracht.8 Die Rechtswidrigkeit der Genehmigung könnte sich daraus ergeben, dass beim Fukushima-Kernkraftwerk die bauliche Vorsorge gegen Wellen unzureichend war und erst 2007 eine knapp 6 Meter hohe Schutzmauer errichtet wurde. An der gleichen Küste hatte es schon 1896 und 1933 schwere Erdbeben mit hohen Tsunamiwellen gegeben.9 Die Wellen von 1896 waren bis zu 23 Meter hoch und forderten 27.000 Todesopfer. Die Tsunamiwellen von 1933 waren sogar bis zu 29 Meter hoch; es gab 3.000 Todesopfer. Die Tsunamiwellen von 2011 sollen zum Teil bis zu 38 Meter hoch gewesen sein, am Kraftwerk erreichten sie eine Höhe von ungefähr 13 bis 15 Metern.
7 Zur Dokumentation siehe in Wikipedia die Artikel: „Chronologie der Katastrophe in Japan von 2011“, „Kernkraftwerk Fukushima Daiichi“, „Nuklearkatastophe von Fukushima“ und „Tohuku-Erdbeben 2011“. 8 Vgl. Lackner/Kühl, 27. Aufl. 2011, vor § 324 Rn. 9; Rengier, Strafrecht BT II, 14. Aufl. 2013, § 47 Rn. 24; Eisele, Strafrecht BT I, 2. Aufl. 2012, Rn. 1288; einschränkend Heine, in: Schönke/Schröder, 28. Aufl. 2010, vor § 324 Rn. 30; Saliger, Umweltstrafrecht, 2012, Rn. 184 ff. 9 Siehe den Artikel „Liste von Erdbeben“ in Wikipedia.
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Ob die Genehmigung rechtswidrig ist und daher ihre Erteilung eine Sorgfaltspflicht verletzt, richtet sich nach den verwaltungsrechtlichen Vorgaben. Nach dem deutschen Atomgesetz ist – beziehungsweise war10 – die Erteilung der Genehmigung unter anderem davon abhängig, dass die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen ist (§ 7 Abs. 2 Nr. 3 Atomgesetz). Das ist eine recht allgemeine Klausel, in der man nur schwer eine Antwort auf die Frage findet, inwieweit man bei der Genehmigungserteilung die Gefahren von Naturkatastrophen berücksichtigen muss, von denen die letzte, nämlich der Tsunami von 1933, einige Jahrzehnte zurückliegt (Fukushima ging 1971 in Betrieb). Andere Umweltverwaltungsgesetze äußern sich etwas konkreter als das Atomgesetz. Man wird diese gesetzlichen Regelungen zumindest als Auslegungsmaßstab heranziehen können. So gehört es nach § 3 Abs. 2 Nr. 3 der Störfall-Verordnung (oder: 12. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes) zu den Pflichten des Betreibers einer gefährlichen Anlage, „umgebungsbedingte Gefahrenquellen, wie Erdbeben oder Hochwasser, zu berücksichtigen, es sei denn, dass diese Gefahrenquellen oder Eingriffe als Störfallursachen vernünftigerweise ausgeschlossen werden können.“ In dieser Vorschrift sind Naturkatastrophen (Erdbeben, Hochwasser) ausdrücklich erwähnt. Aber bei welchen zeitlichen Abständen Naturkatastrophen „vernünftigerweise“ ausgeschlossen werden können, sagt die Vorschrift auch nicht. Doch scheint mit Blick auf das Kernkraftwerk Fukushima folgende Annahme nahe zu liegen: Wenn dieses Kraftwerk ab 1971 in Betrieb genommen worden ist, muss es in den 1960er Jahren, also etwa 30 Jahre nach der Tsunami-Katastrophe von 1933 genehmigt worden sein. Die Katastrophe von 1896 lag aus der Sicht der Genehmigungsbehörde etwa 70 Jahre zurück. Im Rückblick auf diese beiden Katastrophen musste mit einer weiteren Katastrophe im Zeitraum von 30 bis 40 Jahren gerechnet werden. Da Kernkraftwerke eine vergleichbar lange Laufzeit haben, spricht aus der Perspektive des deutschen Rechts vieles dafür, dass der Bau des Kernkraftwerks Fukushima an dieser Stelle nicht hätte genehmigt werden dürfen – oder allenfalls mit strengeren Auflagen.11 Unter diesem Blickwinkel könnten im Lichte des deutschen Strafrechts die für die fehlerhafte Genehmigung verantwortlichen Beamten wegen fahrlässiger Körperverletzung und fahrlässiger Gewässerverunreinigung bestraft werden. Entsprechendes gilt für alle Personen (Betreiber, Manager, Arbeiter), die bei der Bekämpfung der Fukushima-Katastrophe Fehler gemacht und dadurch nachweisbar Radioaktivität freigesetzt haben, die Personen geschädigt und/oder das Meer verunreinigt hat.
10 Es spielt im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle, dass in Deutschland nach dem im Anschluss an die Katastrophe von Fukushima beschlossenen Atomausstieg der Bau neuer Kernkraftwerke nicht mehr genehmigt wird. 11 So auch die Bewertung von Pamme, in: Kloepfer (Hrsg.), Hochrisikoanlagen (Fn. 2), S. 54 f. und Schall (Fn. 6), S. 149 in Fn. 11.
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Was die auch beim Betrieb gefährlicher Anlagen zu berücksichtigenden Hochwasserrisiken und die zeitlichen Intervalle betrifft, innerhalb der solche Risiken vernünftigerweise ausgeschlossen werden können, hat der deutsche Gesetzgeber nach dem Oderhochwasser von 1997 und dem Elbhochwasser von 2002 zunächst im Jahre 2005 den vorbeugenden Hochwasserschutz verbessert. Wenig später hat der europäische Gesetzgeber eine Hochwasserrisikomanagementrichtlinie erlassen, die der deutsche Gesetzgeber inzwischen in den § 72 ff. des deutschen Wasserhaushaltsgesetzes (WHG) umgesetzt hat. Danach sieht die Rechtslage wie folgt aus: § 74 Abs. 2 WHG unterscheidet drei Arten von hochwassergefährdeten Gebieten, nämlich solche, bei denen mit Hochwasser mit niedriger, mit mittlerer und mit hoher Wahrscheinlichkeit zu rechnen ist. Von einer mittleren Wahrscheinlichkeit geht das Gesetz aus, wenn das Hochwasserereignis in Intervallen von über 100 Jahren eintritt. Bei Intervallen, die unter 100 Jahren liegen, wird eine hohe Wahrscheinlichkeit zugrunde gelegt. Gebiete, in denen ein Hochwasserereignis statistisch einmal in 100 Jahren zu erwarten ist, gelten als Überschwemmungsgebiete und sind durch Rechtsverordnung festzusetzen (§ 76 WHG). In Überschwemmungsgebieten dürfen nach § 78 WHG grundsätzlich keine neuen Baugebiete ausgewiesen oder bauliche Anlagen errichtet werden. Übertragen auf die Verhältnisse rund um das Kernkraftwerk Fukushima würde dies bedeuten, dass wegen der Tsunamiwellen von 1896 und 1933 sowohl aus der Perspektive der 1960er Jahre als auch aus der heutigen Perspektive von einem Überschwemmungsgebiet ausgegangen werden müsste, in dem ein Kraftwerk nicht gebaut werden darf. Im Ergebnis kann festgehalten werden: Nach der europäischen Rechtslage könnte ein Kernkraftwerk an dem Ort des Fukushima-Kernkraftwerks allenfalls dann errichtet werden, wenn es vor sehr hohen Tsunamiwellen geschützt werden könnte. Die geschilderte gesetzliche Konkretisierung der Hochwasserrisiken kann dazu führen, dass wegen der Änderung der Rechtslage eine für den Betrieb einer gefährlichen Anlage erteilte Genehmigung nachträglich rechtswidrig wird. Aus umweltstrafrechtlicher Sicht führt dies zu der klassischen Fragestellung, ob der zuständige Amtsträger, der die nachträglich rechtswidrig gewordene Genehmigung pflichtwidrig nicht widerruft, eine Garantenstellung innehat und daher an sein Unterlassen strafrechtliche Konsequenzen geknüpft werden können. Die herrschende Meinung bejaht dies zu Recht.12 Bildet man also den hypothetischen Fall, dass der Betrieb eines Kernkraftwerks wie das von Fukushima pflichtwidrig nicht untersagt wird und dann eine Tsunami-Katastrophe wie die von 2011 Radioaktivität freisetzt, kann sich der zuständige Amtsträger wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen und fahrlässiger Gewässerverunreinigung durch Unterlassen strafbar machen.
12 Vgl. Lackner/Kühl (Fn. 8), vor § 324 Rn. 11; Rengier, BT II (Fn. 8), § 47 Rn. 27 ff.; Eisele, BT I (Fn. 8), Rn. 1301; Heine (Fn. 8), vor § 324 Rn. 36 ff.; Saliger (Fn. 8), Rn. 206 f.
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2. Die Schlammlawine von Tyrnauz Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte 2008 den folgenden Fall zu entscheiden:13 Durch die 25.000 Einwohner zählende Stadt Tyrnauz in der russischen Republik Kabardino-Balkarien fließen zwei Flüsse, die regelmäßig Schlammlawinen verursachen. Daher haben die Behörden zum Schutz der Bevölkerung unter anderem einen 160 Meter breiten Schutzdamm errichtet, der allerdings im August 1999 von einer Geröll- und Schlammlawine schwer beschädigt wurde. Das für die Wetterüberwachung zuständige Institut machte die Regierung auf die Notwendigkeit einer sofortigen Reparatur sowie die Installation eines Frühwarnsystems aufmerksam und wies auf das erhöhte Risiko einer Schlammlawine im Sommer 2000 hin. Am 18. und 19. Juli 2000 wurde die Stadt von zwei schweren Schlamm- und Gerölllawinen getroffen. Acht Personen kamen ums Leben, viele wurden verletzt. Die Personenschäden hätten vermieden werden können, wenn die Regierung gebotene und mögliche Schutzmaßnahmen ergriffen hätte. Da Hinterbliebene und Betroffene mit ihren Schadensersatzklagen vor russischen Gerichten keinen Erfolg hatten, wandten sie sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der Gerichtshof leitet aus Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) die positive Verpflichtung der Staaten ab, angemessene Schritte zum Schutz des Lebens der seiner Jurisdiktion unterworfenen Personen zu unternehmen.14 Die Vorschrift lautet: „Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt.“ Die daraus abgeleitete Verpflichtung umfasst in erster Linie die Pflicht zur Schaffung rechtlicher und administrativer Rahmenbedingungen, die wirksame Abhilfe gegen Bedrohungen des Lebens schaffen. Ferner besteht eine positive Verpflichtung, die Öffentlichkeit über lebensbedrohende Notfälle zu informieren. Im Ergebnis stellt der Gerichtshof fest, dass die russischen Behörden ihre Pflichten zum Schutz der Bevölkerung vor Katastrophen verletzt und dadurch die Personenschäden verursacht haben. Der Gerichtshof machte von der Möglichkeit Gebrauch, den verletzten Parteien eine gerechte Entschädigung gemäß Art. 41 EMRK zuzusprechen. In unserem Zusammenhang interessieren besonders die sich stellenden strafrechtlichen Fragen nach einer Haftung von Behördenvertretern wegen fahrlässiger Körperverletzung beziehungsweise fahrlässiger Tötung durch Unterlassen. Eine solche Unterlassungsstrafbarkeit, die ich wiederum aus deutscher Sicht beurteile, setzt die Existenz einer Garantenstellung voraus. Man könnte auf den Gedanken kommen, in der Schutzpflicht, die der Europäische Gerichtshof aus Art. 2 EMRK ableitet, zugleich eine strafrechtlich relevante Garantenstellung zu sehen. Aber man kann 13
Urteil vom 20. 3. 2008, Kammer I, Budayeva gegen Russland, Bsw. Nr. 15.339/02 (Newsletter Menschenrechte 2008/2, S. 73 ff.). 14 Monographisch zur Thematik Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, 2002; Stahl, Schutzpflichten im Völkerrecht – Ansatz einer Dogmatik, 2012.
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nicht Handlungspflichten, die sich aus öffentlich-rechtlicher Sicht nach dem Verfassungs- oder Völkerrecht ergeben, ohne weiteres mit strafrechtlichen Garantenstellungen gleichsetzen. Zudem könnte man mit dem Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz) in Konflikt geraten, wenn man aus einer so allgemeinen Norm wie der des Art. 2 EMRK („Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt“) strafrechtlich gebotene Handlungspflichten ableitet. Vielmehr müssen die anerkannten typischen Entstehungsgründe herangezogen werden: Insoweit bietet es sich erstens an, an den Gedanken der Überwachungsgarantenstellung kraft Sachherrschaft und die Verkehrssicherungspflichten anzuknüpfen.15 Jeder Eigentümer und Besitzer hat die seinem Herrschaftsbereich unterstehenden beweglichen und unbeweglichen Sachen so zu überwachen und zu unterhalten, dass von ihnen keine Gefahren ausgehen. Zweitens ist auf die Beschützergarantenstellung der Ordnungsbehörden hinzuweisen.16 Sie sind verpflichtet, alle Personen und Güter vor Gefahren zu schützen, deren Beseitigung in ihren Zuständigkeitsbereich fällt. In Deutschland ergeben sich die Zuständigkeiten in Katastrophenfällen aus den Katastrophenschutzgesetzen der Bundesländer. Örtlich zuständig ist grundsätzlich die Katastrophenschutzbehörde, in deren Bezirk eine Maßnahme durchzuführen ist, also z. B. eine bestimmte Stadt. Da der Katastrophenschutz zu den Weisungsaufgaben gehört, können auch Aufsichtsbehörden verantwortlich sein. Die höchste Aufsichtsbehörde für den Katastrophenschutz ist in Baden-Württemberg das Innenministerium der Landesregierung. 3. Die Lawinenkatastrophe von Galtür (1999) Am 23. Februar 1999 ereignete sich in Galtür (Tirol/Österreich) eine Lawinenkatastrophe, die 38 Bewohner und Touristen (darunter 21 Deutsche) in den Tod riss.17 Im damaligen Februar schneite es extrem viel; es gab sechsmal so viel Schnee wie gewöhnlich in diesem Monat. Wegen der großen allgemeinen Lawinengefahr wurde die Straße in das Tal, in dem Galtür liegt, bereits seit über zwei Wochen nahezu durchgehend gesperrt. Galtür war von der Außenwelt mehr oder weniger abgeschnitten und wurde zum Teil aus der Luft versorgt. Überall im Tal gingen Lawinen ab, freilich (noch) ohne die Ortschaft zu gefährden. Am 23. Februar gegen 16 Uhr lösten sich aber in 2700 Meter Höhe die Schneemassen und brausten als Lawine mit 400 Meter Breite ins Tal und in den Ort Galtür hinein.
15 Vgl. Stree/Bosch, in: Schönke/Schröder (Fn. 8), § 13 Rn. 43; Roxin, Strafrecht AT II, 2003, § 32 Rn. 107 ff.; Rengier, Strafrecht AT, 4. Aufl. 2012, § 50 Rn. 45 ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 42. Aufl. 2012, Rn. 722 f. 16 Vgl. Stree/Bosch (Fn. 15), § 13 Rn. 31a; Roxin, AT II (Fn. 15), § 32 Rn. 77 ff., 85 ff.; Rengier, AT (Fn. 15), § 50 Rn. 34 ff.; Wessels/Beulke, AT (Fn. 15), Rn. 721. 17 Zur Dokumentation siehe etwa in Wikipedia den Artikel „Lawinenkatastrophe von Galtür“ mit den Links am Ende (insbesondere Nr. 3, 14 und 15).
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Mit dem Argument, dass man in den Bergen mit Naturereignissen immer rechnen müsse, hatte die Staatsanwaltschaft Innsbruck zunächst Forderungen nach strafrechtlichen Ermittlungen abgewiegelt. Erst nach mehreren Strafanzeigen aus Deutschland wurde die Behörde aktiv. Die Anklagebehörde untersuchte nun, ob Bauauflagen eingehalten worden waren und die Gemeinde Galtür nicht rechtzeitig Evakuierungsmaßnahmen ergriffen hatte. Ein Zeuge sagte aus, er habe sich gewundert, dass die Straße vom Ortszentrum ins Skigebiet gesperrt gewesen, aber eine im Sperrgebiet liegende Pension nicht evakuiert worden sei. Das Haus sei von der Lawine völlig zerstört worden. Weiter wurden Vorwürfe laut, die Verantwortlichen hätten auf Warnungen vor der außergewöhnlichen Schneesituation mit Beschwichtigungen reagiert. Die Strafanzeigen richteten sich gegen den Chef der Tiroler Landesregierung, gegen den Chef der Bezirksregierung, gegen den Bürgermeister von Galtür und gegen jedes einzelne Mitglied der 17-köpfigen Lawinenkommission des Ortes. Nach zweijährigen Ermittlungen stellte die Staatsanwaltschaft Innsbruck die Ermittlungsverfahren ein. Sie stützte sich im Wesentlichen auf ein Gutachten eines schweizerischen Lawinenforschungsinstituts. Aus dem Gutachten, so die Argumentation, gehe hervor, dass die Katastrophe in einer flächenhaft so katastrophalen Größe nicht vorhersehbar gewesen sei. Es habe zwar Versäumnisse gegeben, diese seien jedoch strafrechtlich nicht einer individuellen Person zurechenbar. Evakuierungsmaßnahmen hätten nicht getroffen werden müssen. Auf der anderen Seite sollen sich die schweizerischen Gutachter über die Einstellung gewundert haben. Ihrer Ansicht nach belege ihr Gutachten, dass zahlreiche Sicherheitsmaßnahmen nicht getroffen worden seien. Aus strafrechtlicher Sicht müssen sich diese Ansichten gar nicht widersprechen. Denn um einer als Garanten verantwortlichen Person eine fahrlässige Tötung durch Unterlassen vorwerfen zu können, muss dieser Person nicht nur ein individuelles Fehlverhalten nachgewiesen, sondern es muss darüber hinaus festgestellt werden, dass im Falle ihres pflichtgemäßen Handelns die tödliche Folge nicht eingetreten wäre. Und genau da ergeben sich die Zurechnungsprobleme. Je mehr verantwortliche Personen in Betracht kommen, je mehr Zuständigkeiten es gibt, je mehr Gremien in den Entscheidungsprozess einbezogen sind, desto schwieriger wird der Nachweis, dass der Tod eines bestimmten Lawinenopfers der pflichtwidrigen Passivität einer ganz bestimmten Person zugeordnet werden kann. Im nächsten und letzten Beispiel, das ich aufgreifen möchte, werde ich die angedeuteten – mit den Fragen der hypothetischen Kausalität zusammenhängenden – Zurechnungsprobleme näher erörtern. Dieser Fall wird die Grenzen des Fahrlässigkeitsdelikts bei zu katastrophalen Folgen führenden pflichtwidrigen Verhaltensweisen noch deutlicher hervortreten lassen.
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4. Einsturz der Eissporthalle von Bad Reichenhall (2006) Am 2. Januar 2006 stürzte das schneebedeckte Dach der – seit 1973 von der Stadt betriebenen – Eissporthalle in Bad Reichenhall ein und begrub 21 Personen, darunter 12 Kinder, unter sich. 15 Personen starben.18 Der Fall liefert ein durchaus erschreckendes Beispiel dafür, dass trotz einer Fülle von Versäumnissen und trotz der Beteiligung vieler Personen lediglich eine wegen fahrlässiger Tötung verurteilt werden konnte. Das Unglück verursacht haben Fehler bei der Planung, beim Bau, der Instandhaltung und der Überwachung des Bauwerks. Ein Mangel lag darin, dass es keine von einem Prüfingenieur abgenommene Statikberechnung gab, jedenfalls eine solche nicht auffindbar war. Außerdem wählte der vom Generalunternehmer beauftrage Zimmerermeister einen falschen Leim aus, der allenfalls in einem trockenen Umgebungsklima verwendbar gewesen wäre, aber nicht in einer feuchten Eishalle. So lösten sich die Klebeverbindungen und waren für den Einsturz des Daches mit ursächlich. Das Dach befand sich außerdem in einem schlechten Zustand, es war undicht und es regnete in die Halle hinein. Renovierungsanstriche gab es nicht. Wassereinbrüche wurden nicht dauerhaft beseitigt. Noch mehr Feuchtigkeit staute sich in der Halle, als die Stadt die ursprünglich nach zwei Seiten offene Halle komplett verglaste und damit die Belüftung verschlechterte. Anfang 2000 beauftragte die Gemeinde einen Bauingenieur damit, den Sanierungsbedarf der Halle zu untersuchen. Der Gutachter bescheinigte im Ergebnis, dass sich die Tragkonstruktion in einem allgemein als gut zu bezeichnenden Zustand befinde. Unter Hinweis auf dieses Gutachten wehrten die Vertreter der Stadt Vorwürfe ab, sie hätten die Mangelhaftigkeit der Dachkonstruktion erkennen können. Der Gutachter hatte sich allerdings die Dachkonstruktion überhaupt nicht näher angesehen. Er bestritt im Übrigen, dass sich sein Auftrag darauf erstreckt habe. Die Vertreter der Stadt behaupteten das Gegenteil. Fest steht, dass der Auftrag an den Gutachter mit 3.000 E schlecht bezahlt war und man daher kaum von einem umfassenden Gutachtenauftrag ausgehen konnte. Im Ergebnis wurden von neun Beschuldigten fünf angeklagt. Ein Angeklagter, der zu diesem Zeitpunkt 74-jährige Zimmerermeister, starb kurz vor Prozessbeginn, gegen einen anderen, den Leiter des städtischen Hochbauamts in der Bauphase, wurde das Verfahren krankheitsbedingt abgetrennt. Von den verbliebenen drei Angeklagten verurteilte das LG Traunstein einen wegen fahrlässiger Tötung, zwei sprach es frei. Bei dem Verurteilten handelt es sich um einen Bauingenieur, der für die Planung, Herstellung und Montage der Dachkonstruktion verantwortlich war. Er räumte Fehler ein. Das Gericht stellte fest, dass seine Pflichtverletzungen, namentlich die 18 Zur Dokumentation des Falles: BGH NJW 2010, 1087; LG Traunstein Urteil vom 18. 11. 2008 – 2 KLs JS 865/06 (abrufbar in juris und BeckRS 2009, 86563); www.anstageslicht.de/ reichenhall; Der Spiegel 14/2006, S. 54 ff.; 30/2006, S. 38; 20/2007, S. 18; Spiegel Online 20. 7. 2006; 28. 1. 2008; 18. 11. 2008; 15. 9. 2011; 27. 10. 2011; Süddeutsche Zeitung vom 21. 7. 2006 (auch in: Der Bausachverständige 6/2006, S. 7); Stübinger, ZIS 2011, 603 ff.; ders., Legal Tribune Online 27. 10. 2011.
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„Konstruktion entgegen der bauaufsichtlichen Zulassung, mangelhafte statische Berechnung und sorgfaltswidrige Überwachung des Herstellungsvorgangs […] für den Einsturz kausal“ waren. Bei einem der freigesprochenen Angeklagten handelt es sich um den Gutachter. Dessen Freispruch hat der Bundesgerichtshof zwar aufgehoben, die zweite Tatsacheninstanz hat ihn aber wieder bestätigt. Dem Gutachter wurde vorgeworfen, er habe es pflichtwidrig unterlassen, die Träger des Daches umfassend aus nächster Nähe zu betrachten. Daher habe er Risse und weitere Schäden nicht entdeckt und folglich den Verantwortlichen der Stadt nicht gemeldet. Freilich blieb zwischen dem Gutachter und der Stadt bis zum Schluss umstritten, ob sich der Auftrag überhaupt auf eine so intensive Untersuchung des Daches erstreckt hatte. Ferner kam dem Täter nach dem Grundsatz in dubio pro reo zugute, dass selbst dann, wenn er die Mängel entdeckt und der Stadtverwaltung gemeldet hätte, nicht angenommen werden konnte, dass die Stadtverwaltung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf die Beseitigung der Mängel hingewirkt hätte. Denn die zuständigen Amtsträger hatten schon vor der Beauftragung des Gutachters auf zahlreiche frühere Hinweise zum schlechten Zustand des Gebäudes – insbesondere der Schwimmhalle, die durch einen Mitteltrakt mit der Eissporthalle verbunden war – nicht reagiert; daher konnte das Gericht nicht feststellen, dass die Stadt auf Warnhinweise des Gutachters hin Sanierungsmaßnahmen in die Wege geleitet hätte. Dem Freispruch des Gutachters liegt die zum Teil so genannte „Vermeidbarkeitstheorie“ der Rechtsprechung und h. M. zugrunde, wonach ein pflichtwidriges Unterlassen nur dann kausal ist, wenn das hinzugedachte pflichtgemäße Verhalten den Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert hätte. Daran anknüpfend ist, sofern das pflichtgemäße Verhalten in der Unterrichtung einer zur Erfolgsabwendung verpflichteten Person besteht, der Erstunterlassungstäter nur strafbar, wenn die zu unterrichtende Person auch in erfolgsabwendender Weise eingegriffen hätte. Umgekehrt betrachtet: Der erste unterlassende Garant muss freigesprochen werden, wenn der zweite als unterrichtete Person mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nichts getan hätte oder dies nach dem Grundsatz in dubio pro reo nicht ausgeschlossen werden kann.19 Der Einsturz des Daches der Eissporthalle von Bad Reichenhall und die dazu ergangene BGH-Entscheidung haben die Diskussion wiederbelebt. Die im Rahmen dieser Debatte überwiegenden kritischen Stimmen stellen die Kausalitätsgrundsätze der h. M. in Frage und suchen, um das sich mehr oder weniger aufdrängende Strafbarkeitsbedürfnis zu befriedigen, nach Wegen, die dem aufklärungspflichtigen Unterlassungstäter die Möglichkeit nehmen, sich unter Hinweis auf eine mögliche 19 Zu diesem Standpunkt siehe nur BGHSt 37, 106, 126 ff.; BGH NJW 2000, 2754, 2757; 2008, 1897, 1899; 2010, 1087, 1091 f.; Weigend, in: LK-StGB, 12. Aufl. 2007, § 13 Rn. 72; Rengier, AT (Fn. 15), § 49 Rn. 13 ff.; Wessels/Beulke, AT (Fn. 15), Rn. 711 f.; Kühl, Strafrecht AT, 7. Aufl. 2012, § 18 Rn. 36 ff.; Lackner/Kühl (Fn. 15), vor § 13 Rn. 12; Ransiek, Unternehmensstrafrecht, 1996, S. 16 ff.; Schünemann, Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979, S. 39.
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pflichtwidrige Passivität des Aufklärungsadressaten zu entlasten.20 Sehen wir uns die Kritik näher an: Puppe hat schon 1980 das Beispiel in die Diskussion eingeführt, dass eine Mutter als Nichtschwimmerin es unterlässt, den Bademeister zu alarmieren, der in der Lage wäre, ihr ertrinkendes Kind zu retten; freilich hätte dieser, wäre er informiert worden, das Kind ertrinken lassen, um sich Unterhaltszahlungen zu entziehen. Die Frage, so führt Puppe aus, ob der Bademeister das Kind gerettet hätte, lasse sich nicht nach Kausalgesetzen beweisen, sondern nur nach Wahrscheinlichkeitsgesetzen beantworten. Man könne zwar statt der fehlenden Kausalgesetze Wahrscheinlichkeitsgesetze aufstellen und das wahrscheinlichste Verhalten unterstellen. „Dieses Vorgehen wäre aber bei menschlichem Verhalten unzweckmäßig, es würde zu dem Ergebnis führen, dass weder die Mutter noch der Bademeister für den Erfolg zur Verantwortung gezogen werden könnten. Aber die Mutter ist rechtlich verpflichtet, dem Bademeister die Möglichkeit zu verschaffen, das Kind zu retten, unabhängig davon, mit welcher Wahrscheinlichkeit für diesen Fall normgemäßes Verhalten von ihm zu erwarten ist. Um der Effektivität der Normen willen ist es also sinnvoll, nicht das wahrscheinlichste Verhalten zu unterstellen, sondern das normgemäße“. So betrachtet sei die Unterlassung der Benachrichtigung des Bademeisters notwendiger Bestandteil der Kausalerklärung des Todes des Kindes, denn nach den Rechtsnormen hätte der Bademeister es retten müssen, sobald er die Gefahr erkannt hätte.21 In ihrer jüngsten Stellungnahme formuliert Puppe: Die faktische Erfahrung, dass einzuschaltende Dritte immer wieder pflichtwidrig nicht erfolgsabwendend tätig würden, dürfe bei der Prüfung der Kausalität der Unterlassung keine Rolle spielen. „Die Berücksichtigung eines solchen Erfahrungssatzes liefe darauf hinaus, dass sich der, der seine Pflicht tatsächlich verletzt hat, mit der fiktiven Pflichtverletzung eines anderen entlasten könnte […] Um dies zu verhindern, müssen wir außer den Naturgesetzen auch noch andere Gesetze, nämlich juristische, als Grundlage einer kausalen Erklärung heranziehen. Wir müssen bei einer Kausalerklärung von der Regel ausgehen, dass andere Beteiligte ihre Pflichten erfüllen, solange sie sie nicht tatsächlich verletzt haben.“22 Puppe hat mit ihrer Ansicht im Schrifttum einigen Beifall erfahren.23 Auch Roxin hat ihr in einer aktuellen ausführlicheren Auseinandersetzung mit der Problematik im Ausgangspunkt weitgehend zugestimmt24 und ihrer Auffassung zudem beschei20
Auf dieser Linie Puppe, Strafrecht AT im Spiegel der Rechtsprechung, 2. Aufl. 2011, § 28 Rn. 11 ff.; dies., JR 2010, 355 ff.; Kahrs, NStZ 2011, 14 ff.; Roxin, in: AchenbachFestschrift, 2011, S. 409 ff., 421 ff.; Greco, ZIS 2011, 674 ff., 688 ff. 21 Puppe, ZStW 92 (1980), 906 f. 22 Puppe, AT (Fn. 20), § 2 Rn. 33 f. 23 Kahlo, GA 1987, 66 ff., 76 ff.; Sofos, Mehrfachkausalität bei Tun und Unterlassen, 1999, S. 234 ff.; Altenhain, NStZ 2001, 190 f.; Lindemann, ZJS 2008, 407 f.; Stree/Bosch (Fn. 15), § 13 Rn. 62; Frister, Strafrecht AT, 5. Aufl. 2011, 9/30, 22/22; Kahrs, NStZ 2011, 14 ff. (freilich ohne Puppe zu zitieren). 24 Roxin (Fn. 20), S. 409 ff., 427 f.
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nigt, „zu vernünftigen Ergebnissen“ zu kommen. Er äußert aber doch „Unbehagen, wenn hier mit einer reinen Unterstellung gearbeitet wird. Dass das Recht von einer Befolgung seiner Regeln auszugehen hat, ist eine normative Forderung, die nichts über die Realität einer Befolgung aussagt. Beweisfragen sind aber empirischer, nicht normativer Art.“25 Roxin führt sein Unbehagen nicht näher aus, doch fällt es nicht schwer, dieses zu präzisieren. Wer im Strafrecht mit Unterstellungen26 und Fiktionen27 arbeitet, muss mit dem Einwand rechnen, die Pönalisierung laufe auf eine Verdachtsstrafe hinaus und/oder verletze den Grundsatz in dubio pro reo. Beispielhaft verdeutlicht: Im Lichte der Lehre Puppes wird die Rabenmutter, die den Bademeister nicht alarmiert, wegen vollendeten Totschlags bzw. Mordes durch Unterlassen völlig unabhängig davon bestraft, wie sich der Bademeister (möglicherweise) verhalten hätte. Anders soll es nur dann liegen, wenn der Bademeister den Unfall schon von sich aus bemerkt und bereits beschlossen hatte, das Kind nicht zu retten.28 Im Fall der Eissporthalle von Bad Reichenhall macht sich nach dieser Lehre der Gutachter, wenn man davon ausgeht, dass er Untersuchungs- und Aufklärungspflichten verletzt hat, einer fahrlässigen Tötung durch Unterlassung schuldig. Dabei soll es überhaupt keine Rolle spielen, dass der Gutachter zur Erfolgsabwendung auf das pflichtgemäße Verhalten anderer Personen angewiesen war. Zudem ist es in derartigen Konstellationen gut möglich, dass die Verhinderung des Erfolges vom pflichtgemäßen Verhalten mehrerer Personen abhängt (z. B. Sachbearbeiter, Abteilungsleiter, Bürgermeister, Gemeinderat). All diese hypothetischen Fakten sollen ausgeblendet bleiben und durch die Pflicht, sich juristisch korrekt zu verhalten, ersetzt werden. Ignoriert wird, dass faktisch betrachtet die Gesetzestreue keineswegs selbstverständlich ist. Das Unbehagen rührt von der Annahme her, beim Unterlassungsdelikt dürfe in der Kausalitätskette hypothetisches menschliches Verhalten keine Rolle spielen. Roxin stellt die dahinter steckende These von der Unbeweisbarkeit hypothetischen menschlichen Verhaltens in Frage und veranschaulicht dies anhand der Beispiele, dass ein Streckenwärter die Zerstörung eines Gleises nicht meldet oder Eltern nicht aufgefordert werden, zur Rettung ihres Kindes tätig zu werden. Für Roxin ist es selbstverständlich, dass man hier in vielen Fällen mit Sicherheit von der Pflichterfüllung durch die anzusprechenden Garanten ausgehen – und deshalb ohne Unterstellungen auskommen – kann.29 Puppe freilich lässt diesen Beweis nicht zu und erreicht dasselbe Ergebnis, indem sie das pflichtgemäße Verhalten nach juristischen Regeln unterstellt. Aber es ist schon merkwürdig, mit juristischen Normen zu arbeiten, wenn das Wahrscheinlichkeitsgesetz nach den Regeln der Beweiswürdigung festgestellt 25
Roxin (Fn. 20), S. 429. Siehe nur Puppe, AT (Fn. 20), § 2 Rn. 37, § 28 Rn. 17; Puppe, in: NK-StGB, 3. Aufl. 2010, vor § 13 Rn. 134. 27 Kahrs, NStZ 2011, 18. 28 Puppe, ZStW 92 (1980), 907. 29 Roxin (Fn. 20), S. 428. 26
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werden kann. Puppe leugnet ja nicht, dass sich die aufzuklärenden Garanten entgegen ihren juristischen Pflichten normwidrig verhalten können. Sie will derartiges Verhalten allerdings nur dann in die Kausalitätsbetrachtung einfließen lassen, wenn der Bademeister, die Eltern, der Amtsträger usw. schon vor der unterlassenen Benachrichtigung entschlossen waren, nicht in rettender Weise tätig zu werden. Räumt man indes einmal die Relevanz menschlichen Fehlverhaltens für hypothetische Kausalverläufe beim Unterlassungsdelikt ein, so leuchtet es nicht ein, nur den einen Fall der Entschlossenheit für relevant zu halten und all die anderen gleichsam im Vorfeld liegenden Konstellationen mit einem mehr oder weniger wahrscheinlichen Fehlverhalten – zu Lasten des Erstunterlassenden – generell als unbeachtlich anzusehen.30 Die Einwände werden noch deutlicher, wenn man eine weitere Fallgruppe einbezieht, innerhalb der die vorstehende Debatte bisher kaum Beachtung gefunden hat. Gemeint sind die Betriebsbeauftragten (Umweltschutzbeauftragte, Compliance-Beauftragte), deren Garantenstellung und Handlungspflichten sich darauf beschränken, von ihnen festgestelltes, strafrechtlich bedeutsames Verhalten der Unternehmungsleitung melden zu müssen. Diesbezüglich wird immer wieder zu Recht betont, ein bloß unterrichtungspflichtiger (z. B. Gewässerschutz-)Beauftragter sei etwa wegen Gewässerverunreinigung nur strafbar, wenn feststehe, dass der pflichtwidrig nicht informierte, allein zur Erfolgsabwendung fähige Betriebsinhaber die Gefahrenquelle auch beseitigt hätte.31 Hier im Bereich betriebsbedingter Straftaten hat man es wohl verhältnismäßig oft mit Konstellationen zu tun, in denen aus verschiedenen Gründen die Einhaltung der juristischen Regeln nicht selbstverständlich ist. Klammert man, was die Bekämpfung von strafrechtsrelevanten Verstößen betrifft, die etwaige Passivität der Betriebsleitung aus dem hypothetischen Kausalzusammenhang aus, zeigt sich die den Beauftragten belastende Wirkung deutlich. So würde nach der von Puppe angeführten Meinungsgruppe der Beauftragte, der pflichtwidrig eine Meldung unterlässt, aus dem Erfolgsdelikt bestraft, auch wenn seine Meldung bei der Betriebsleitung (möglicherweise) auf taube Ohren gestoßen und deshalb die Gewässerverunreinigung, die gesundheitsschädliche Produktion, der gefährliche Betrieb (usw.) fortgesetzt worden wäre. Auf diese Weise mag man gewisse Strafbarkeitsbedürfnisse befriedigen können. Der Preis dafür liegt in der Umwandlung von Erfolgsdelikten in Gefährdungsdelikte, ein Preis, der dem gesetzgeberischen Grundgedanken der Erfolgsdelikte widerspricht. 30
Vgl. auch Kuhlen, JR 2004, 228. Rudolphi, in: Lackner-Festschrift, 1987, S. 880; Michalke, Umweltstrafsachen, 2. Aufl. 2000, Rn. 80; Kuhlen, in: Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung und Beteiligungsverhältnisse bei Straftaten in bürokratischen Organisationen des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft, S. 89; Böse, NStZ 2003, 641; Schmitz, in: MünchKomm-StGB, 2006, vor § 324 Rn. 124. Ferner Ransiek, in: NK-StGB, 3. Aufl. 2010, § 324 Rn. 67, bei dem allein sich in Fn. 186 ein kurzer Hinweis auf die abweichende Ansicht von Puppe, ZStW 92 (1980), 906 f. findet; freilich spricht sie den Betriebsbeauftragten nicht konkret an, auch nicht, soweit ersichtlich, in späteren Veröffentlichungen (vgl. Puppe, AT, Fn. 20, § 2 Rn. 27 ff., 35 ff.; § 28 Rn. 11 ff.; § 30). 31
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Der Einwand, Erfolgsdelikte in Gefährdungstatbestände umzufunktionieren, ist alt und insbesondere gegen die Risikoerhöhungstheorie, die auf der Unterlassungsebene in Form der Risikoverminderungstheorie ebenfalls vertreten wird,32 erhoben worden.33 Selbst Roxin sieht mit Blick auf die Konstellation des nicht informierten zweiten Garanten in der Risikoverminderungstheorie keine unanfechtbare Lösung34 und unterbreitet daher einen weiteren Vorschlag, der ohne Unterstellungen und Risikoüberlegungen eine Kausalität begründen soll: „Der Gedankengang“ so schreibt er, „ist einfach: Die Untätigkeit des Garanten ist eine Bedingung für die Untätigkeit des zu informierenden Mittelmannes. Denn weil er über die Gefahr nicht oder nicht hinreichend unterrichtet war, konnte er keine geeigneten Maßnahmen zu ihrer Abwendung treffen. Seine aus der Unkenntnis der Situation resultierende Untätigkeit wiederum ist eine Bedingung für die Nichtabwendung des Erfolges; denn sein Eingreifen hätte den Erfolg verhindert.“ Dass der Mittelsmann möglicherweise untätig geblieben wäre, sei ein hypothetischer Kausalverlauf, auf den es angesichts des realen Geschehens nicht ankomme.35 Indes liefert auch dieser Vorschlag keine überzeugende Begründung. Da man es bei der Frage nach der Unterlassungskausalität stets mit hypothetischen Kausalverläufen zu tun hat, leuchtet es nicht ein, im Rahmen eines realen Geschehens einen bestimmten denkbaren Verlauf auszuklammern.36 Dass der Mittelsmann durch „sein Eingreifen den Erfolg […] verhindert“ hätte, stelIt gleichermaßen eine hypothetische Annahme dar. Der Sache nach bewegt sich Roxin auf der gleichen Linie wie Puppe. Während sie bezüglich der Unterlassungskausalität rechtmäßiges Verhalten des zweiten Garanten unterstellt, ergänzt Roxin den Kausalverlauf um ein faktisches, erfolgsverhinderndes Eingreifen der Zweitperson. Auch Greco hat sich mit der Fallgruppe der „aufeinander folgenden Unterlassungen“, wie er sie nennt und wie sie auch dem Eissporthallen-Fall zugrunde liegt, auseinandergesetzt.37 Er wendet sich zwar mit ähnlichen Erwägungen gegen die Gedankengänge von Roxin und Puppe,38 tritt freilich für die Risikoverminderungslehre ein, so dass sich im Vergleich mit den kritisierten Stimmen die Ergebnisse, namentlich die Strafbarkeit des Gutachters im Eissporthallen-Fall, weitgehend decken. Dabei bemüht sich Greco gar nicht, den Einwand, mit Risikoüberlegungen Erfolgsdelikte in Gefährdungsdelikte umzuwandeln, aus dem Weg zu räumen. Vielmehr heißt es bei ihm: „Für die Risikoverminderungslehre sprechen zwar weder normtheoretische 32
Zuletzt ausführlich Greco, ZIS 2011, 674 ff. Siehe nur Weigend, in: LK-StGB (Fn. 19), § 13 Rn. 72; Lindemann, ZJS 2008, 408; Rengier, AT (Fn. 15), § 49 Rn. 16 ff., § 52 Rn. 34 f.; Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2003, § 15 Rn. 24; Ransiek (Fn. 19), S. 18 f.; Schünemann, StV 1985, 232 f. 34 Roxin (Fn. 20), S. 430 f. 35 Roxin (Fn. 20), S. 431. 36 Vgl. Greco, ZIS 2011, 690. 37 Greco, ZIS 2011, 688 ff. 38 Greco, ZIS 2011, 690 f. 33
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oder ontologische Argumente noch eine Vielzahl geltend gemachter dogmatischer Überlegungen. Dennoch ist diese Lehre kriminalpolitisch vernünftig, solange Fahrlässigkeitsdelikte fast ausschließlich als Verletzungsdelikte konzipiert werden.“39 Deutlicher kann man eigentlich kaum sagen, dass der Autor Kriminalpolitik macht und entgegen der Intention des Gesetzgebers den Verletzungsdelikten Gefährdungssachverhalte subsumiert.
V. Schluss Im Ergebnis erweist sich das Fahrlässigkeitserfolgsdelikt, wenn es um die strafrechtliche Aufarbeitung von Katastrophen geht, immer wieder als eine verhältnismäßig stumpfe Waffe. Denn Katastrophen haben oft viele Ursachen und viele Verursacher. Nach dem Grundsatz in dubio pro reo bleibt dann am Ende unter Umständen nur die Feststellung, dass eine oder mehrere beteiligte Personen zwar ihre Pflichten verletzt haben, aber nicht nachzuweisen ist, dass im Falle ihres pflichtgemäßen Verhaltens die Katastrophe nicht ausgelöst worden wäre. Insbesondere für die Angehörigen der Opfer und die überlebenden Opfer von Katastrophen kann das schwer zu ertragen sein. Ob dies dem Strafrecht schadet, ist hier nicht weiter zu diskutieren. Jedenfalls de lege lata sind Vorschläge abzulehnen, die insbesondere in der Konstellation der aufeinander folgenden Unterlassungen von Garanten zu einer Aufweichung des Erfolgscharakters von Verletzungsdelikten wie den §§ 222, 229 StGB führen. Auf einem anderen Blatt steht, inwieweit nach den Regeln der Beweiswürdigung von einem pflichtgemäßen erfolgsabwendenden Verhalten des hypothetisch korrekt aufgeklärten zweiten Garanten ausgegangen werden darf.40 De lege ferenda könnte erwogen werden, eine Vorschrift zu schaffen, die den Erstunterlassenden für den Eintritt eines tatbestandsmäßigen Erfolges auch dann bestraft, wenn die gebotene Unterrichtung des Zweitunterlassenden den Erfolgseintritt wesentlich erschwert hätte.41 Dem Jubilar Jürgen Wolter, dem diese Zeilen in herzlicher Verbundenheit und in bester Erinnerung an viele gemeinsame Begegnungen und Diskussionen gewidmet sind, wünsche ich noch viele Jahre ertragreicher Schaffenskraft und guter Gesundheit.
39 40
691.
Greco, ZIS 2011, 678. Vgl. BGHSt 37, 106, 127; Ransiek (Fn. 19), S. 19 ff.; zu weitgehend Greco, ZIS 2011,
41 In Anlehnung an Roxin, Strafrecht AT II, 2003, § 31 Rn. 63, der wiederum verallgemeinernd einen Vorschlag von Schünemann (Fn. 19), S. 206 ff., 268 aufgreift; ergänzend Schünemann, StV 1985, 233.
Die Strafbewehrung rechtswidriger Verwaltungsakte Von Wolf-Rüdiger Schenke
I. Einführung Das wissenschaftliche Interesse von Jürgen Wolter beschränkt sich seit jeher nicht nur auf rein strafrechtliche und strafprozessuale Fragen, sondern reicht hierüber weit hinaus. Von daher gilt seine besondere Aufmerksamkeit auch anderen Bereichen des Rechts, insbesondere wenn diese Beziehungspunkte zum Strafrecht wie auch zum Strafprozessrecht aufweisen. Deutlich wurde dies nicht zuletzt in dem von ihm gemeinsam mit dem Verfasser gegründeten Institut für deutsches und internationales Strafprozessrecht und Polizeirecht, das sich vornehmlich mit Grenzfragen im Bereich von Strafprozessrecht und Polizeirecht beschäftigte. Dabei galt es modernen Fragestellungen in diesem Grenzbereich zu untersuchen1 und den Versuch zu unternehmen, neue Wege zu deren Lösung aufzuzeigen. Im Rahmen dieser ganz wesentlich durch Jürgen Wolter getragenen Institutsarbeit erhielt der Verfasser nicht nur zahlreiche Anregungen für seine eigenen Arbeiten. Es vertiefte sich zugleich die schon vorher bestehende besondere freundschaftliche Verbundenheit mit dem Jubilar. Eine Problematik im Grenzbereich von Verwaltungsrecht und Strafrecht, die Vertreter beider Disziplinen schon seit langem beschäftigt, stellt sich bei der Strafbewehrung von Verwaltungsakten. Der Verfasser hat sich damit schon vor über vier Jahrzehnten als junger wissenschaftlicher Assistent in einem Aufsatz beschäftigt.2 Seitdem sind unzählige neue Stellungnahmen abgegeben worden.3 Beflügelt wurde die 1 Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, vorgelegt vom Arbeitskreis Strafprozessrecht und Polizeirecht (ASP), 2002; Wolter/ Schenke/Hilger/Ruthig/Zöller, Alternativentwurf Europol und Europäischer Datenschutz, 2008. 2 Schenke, JR 1970, 449 ff. 3 Arnhold, Die Strafbewehrung rechtswidriger Verwaltungsakte, 1978; ders, JZ 1977, 789 ff.; Berg, WiVerw 1982, 169 ff.; Breuer, JZ 1994, 1077 (1084); Gerhards, NJW 1978, 86 ff.; Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Stand 2012, § 33 AWG, Rdnr. 5a; Gornik, Die Strafbarkeit von Zuwiderhandlungen gegen rechtswidrige Verwaltungsakte, 1971; Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen. Dargestellt am Problem der Bindung des Strafrichters an Zivil- und Verwaltungsgerichtsurteile sowie an Verwaltungsakte, 1984, S. 210 ff.; Horn, NJW 1981, 1 (2).; Kuhlen, WiVerw. 1992, 217 (266);
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Diskussion vor allem durch die Novellierung des Umweltstrafrechts in den §§ 324 ff. StGB.4 Sie hat der Problematik zweifellos eine besondere Brisanz und Aktualität verliehen. Aber auch in anderen Bereichen des Rechts bedient sich der Gesetzgeber häufig der Straf- oder Bußgeldbewehrung von Verwaltungsakten.5 Grund hierfür ist u. a., dass diese häufig ein weit wirksameres Mittel zur Durchsetzung von Verwaltungsakten ist als die Verwaltungsvollstreckung. Im Vordergrund des Interesses an strafbewehrten Verwaltungsakten steht die Beantwortung der Frage, welche strafrechtlichen Folgen die Gewährung vorläufigen wie auch nachträglichen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes gegen einen strafbewehrten Verwaltungsakt hat. Lange Zeit schien die Praxis die Antwort auf diese Frage – ungeachtet kritischer Stimmen im rechtswissenschaftlichen Schrifttum – endgültig gefunden zu haben. Sie orientierte sich durchwegs an der Rechtsprechung des BGH, der schon Ende der 1960er Jahre in seinem Beschluss vom 23. 7. 1968 eine richtungweisende Weichenstellung vorgenommen hatte.6
Odenthal, NStZ 1991, 448 ff.; Mohrbotter, JZ 1971, 213 (216); Rudolphi, NStZ 1984, 193 (197); Rengier, ZStW 101 (1989), 874 (891); Schall, NJW 1990, 1263 ff.; M. Schröder, Verwaltungsrecht als Vorgabe für Zivil- und Strafrecht, VVDStRl Bd. 50 (1991), S. 196 (221 ff.); Stern, in: FS Lange, 1976, S. 859 ff.; Winkelbauer, Zur Verwaltungsakzessorietät des Umweltstrafrechts, 1985; ders.; DÖV 1988, 723 ff.; Wüterich, NStZ 1987, 106 ff.; schon früher Janicki, JZ 1968, 94 ff.; P. Krause, JuS 1970, 221 ff.; D. Lorenz, DVBl 1970, 165 ff. Für die Rechtsprechung in Anknüpfung an BGHSt 23, 86 ff. = NJW 1969, 2023 ff. später ebenso BGH, NJW 1982, 189 ff.; BayObLG, wistra 1994, 314; OLG Hamburg, NJW 1980, 1007 f.; OLG Hamm, NJW 1980, 1476; OLG Karlsruhe, NJW 1978, 116 f.; 1988, 1604; OLG Stuttgart, NJW 1988, 262; teilweise abweichend OLG Frankfurt, StV 1988, 301 f. Auch das BVerfG hat sich wiederholt mit der Problematik befasst, vgl. BVerfGE 22, 21 ff.; BVerfG, NJW 1990, 37 ff.; 1993, 581 ff.; Beschl. v. 12. 3. 1998 – 1 BvR 2195/96, 1 BvR 2198/96 juris, Rdnr. 13; NVwZ 2007, 1180 (1181). 4 S. hierzu z. B. Breuer, NJW 1988, 2072 ff.; Dahs/Redeker, DVBl. 1988, 803 ff.; Frisch, Verwaltungsakzessorietät und Tatbestandsverständnis im Umweltstrafrecht, 1993, Heim, NJW 1990, 2425 (2430); Heine/Meimberg, Empfehlen sich Änderungen im strafrechtlichen Umweltschutz, insbesondere in Verbindung mit dem Verwaltungsrecht? Gutachten D zum 57. Deutschen Juristentag, 1988; Kemme, Das Tatbestandsmerkmal der Verletzung Verwaltungsrechtlicher Pflichten in den Umweltstraftatbeständen des StGB, 2007; Kindhäuser/Neumann/ Paeffgen-Ransiek, StGB Bd. II, 3. Aufl. 2010, § 324a, Rdnr. 17a; Kuhlen, WiVerw 1991, 183 (189 ff.); 1992, 217 (263 ff.); Paeffgen, in: Festschrift für Stree und Wessels, 1993, S. 587 ff.; Schall, NJW 1990, 1263 (1265); Schmitz, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl. 2011, vor § 324, Rdnrn. 80 f. m.w.N.; Schönke/Schröder-Heine, Strafgesetzbuch, 28. Aufl. 2010, Vorbemerkungen zu den §§ 324 ff. StGB, Rdnrn. 16a ff.; SK StGB-Schall, 8. Aufl. 2012, vor § 324, Rdnr. 71; Tiedemann/Kindhäuser, NStZ 1988, 337. 5 Im Folgenden soll der Begriff des strafbewehrten Verwaltungsakts der Kürze halber sowohl für den Fall der Bewehrung eines Verwaltungsakts mit einer Kriminalstrafe wie auch für den Fall seiner Bewehrung mit einer Geldbuße benutzt werden. Das rechtfertigt sich auch deshalb, weil sich bei beiden die hier behandelte Problematik grundsätzlich in derselben Weise stellt und zu lösen ist (vgl. BGH, NJW 1969, 2026; OLG Hamm, NJW 1980, 1476). Soweit sich hier Unterschiede ergeben, wird dies im Text vermerkt. 6 BGH, NJW 1969, 2023; 1982, 189.
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Nach dieser Entscheidung, die eine ständige Rechtsprechung des BGH und der ihm folgenden Oberlandesgerichte begründete7, soll die spätere verwaltungsgerichtliche Aufhebung eines rechtswidrigen strafbewehrten Verwaltungsakts nichts an der Strafbarkeit einer zuvorigen Zuwiderhandlung gegen den Verwaltungsakt ändern. Seit den 1990er Jahren wird diese Auffassung aber selbst in der Rechtsprechung nicht mehr uneingeschränkt aufrechterhalten. In einem Beschluss vom 1. 12. 1992 hat das BVerfG8 in Verbindung mit der Auflösung einer öffentlichen Versammlung, deren Nichtbeachtung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 VersG eine Ordnungswidrigkeit darstellt, die Ansicht vertreten, dass diese Bewehrung nur dann gelte, wenn die Auflösung rechtmäßig erfolgt sei. Obwohl der Wortlaut des § 29 Abs. 1 Nr. 2 VersG keine Anhaltspunkte für eine solche Restriktion bietet, schiede demzufolge die Sanktionierung einer rechtswidrigen Auflösungsverfügung nicht erst dann aus, wenn diese aufgrund eines gegen sie eingelegten förmlichen Rechtsbehelfs (rückwirkend) aufgehoben wird. Freilich erscheint durchaus zweifelhaft, ob diese verfassungsgerichtliche Rechtsprechung dergestalt verallgemeinert werden kann, dass – wie dies im rechtswissenschaftlichen Schrifttum9 schon früher vielfach vertreten wurde – eine strafrechtliche Sanktionierung grundsätzlich nur bei rechtmäßigen Verwaltungsakten zulässig ist. Gegen diese Ansicht spricht nicht nur, dass die Begründung des BVerfG wesentlich darauf abhebt10, dass es sich bei einer Auflösungsverfügung um einen auf alsbaldige Befolgung angelegten Verwaltungsakt handele. Bei ihm schiede eine nachträgliche gerichtliche Aufhebung aus, weswegen verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 29 Abs. 1 Nr. 2 VersG nur dadurch ausräumbar seien, dass er nur auf rechtmäßige Auflösungsverfügungen anwendbar sei. Unverkennbar ist zudem, dass das Gericht in diesem Zusammenhang Art. 8 GG – wie auch in seiner sonstigen Rechtsprechung11 – einen besonderen Stellenwert einräumte12 und sich hiervon wesentlich leiten ließ. Gegen eine Generalisierung spricht schließlich vor allem, dass das BVerfG13 im Einklang mit seiner früheren Rechtsprechung14 selbst betonte, dass es dem Gesetzgeber 7
S. etwa BGH, NJW 1982, 189; OLG Hamburg, NJW 1980, 1008; OLG Karlsruhe, NJW 1978, 117; OLG Stuttgart, NJW 1989, 1872; ebenso im Schrifttum Heim, NJW 1990, 1265; Horn, NJW 1981, 2; Odenthal, NStZ 1991, 420; Rengier, ZStW 101 (1989), 891; Rudolphi, NStZ 1984, 197; Schall, NJW 1990, 1265. 8 BVerfG, NJW 1993, 581 ff. 9 So z. B. Arnhold, Die Strafbewehrung rechtswidriger Verwaltungsakte, S. 63 ff.; Berg, WiVerw 1982, 182; Schmitz in: Münchener Kommentar zum StGB, Vor §§ 324 ff., Rdnr. 81 m.w.N. 10 BVerfG, NJW 1993, 582. 11 BVerfGE 69, 315 (343 ff.) = NJW 1985, 2395. 12 BVerfG, NJW 1993, 582: „Die Versammlungsfreiheit besitzt […] für die Persönlichkeitsentfaltung des einzelnen und für die demokratische Grundordnung wesentliche Bedeutung.“; s. dazu auch Schenke, Der Schutzbereich des Art. 8 GG, in: Festschrift für Riedel, 2013. 13 BVerfG, NJW 1993, 581. 14 BVerfGE 75, 329 (346) = NJW 1987, 3175; 80, 244 (256) = NJW 1990, 37.
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grundsätzlich nicht verwehrt sei, auch die Zuwiderhandlung gegen sofort vollziehbare rechtswidrige Verwaltungsakte unter Strafe zu stellen.15 Ungeachtet später noch aufzuzeigender dogmatischer Schwächen (dazu III. 2. b]) kommt der Entscheidung des BVerfG vom 1. 12. 1992 aber jedenfalls insofern wegweisende Bedeutung zu, als sie deutlich macht, dass die Sanktionierung von Verstößen gegen rechtswidrige Verwaltungsakte durch die Verhängung von Geldbußen und Strafen keineswegs so unproblematisch ist, wie es nach einer jahrzehntelangen strafgerichtlichen Rechtsprechung zunächst den Anschein gehabt haben mag. Diesbezügliche Bedenken werden noch dadurch verstärkt, dass inzwischen auch die oberlandesgerichtliche Rechtsprechung anerkennt, dass eine uneingeschränkte strafrechtliche Sanktionierung nationaler Verwaltungsakte, die gegen höherrangiges Gemeinschaftsrecht verstoßen, wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts ernsten Bedenken ausgesetzt ist.16 Das provoziert zwangsläufig die Frage, ob nicht aus dem Vorrang nationalen Verfassungsrechts ebensolche Bedenken abzuleiten sind. All dies mag es rechtfertigen, dass der Verfasser über vier Jahrzehnte nach seiner ersten Befassung mit der Problematik das „Verfahren wiederaufnimmt“. Anders als in der früheren Stellungnahme soll nunmehr nicht nur der Frage nachgegangen werden, welche Konsequenzen der Erfolg einer späteren verwaltungsgerichtlichen Klage für die Strafbewehrung des angefochtenen Verwaltungsakts hat. Erörtert werden sollen vielmehr auch die hiermit eng verzahnten Probleme des vorläufigen Rechtsschutzes, die gleichfalls diskussionsbedürftig erscheinen.
II. Vorläufiger Rechtsschutz und Strafbewehrung Die Frage nach der Reichweite einer Strafbewehrung von Verwaltungsakten stellt sich bereits im Zusammenhang mit dem vorläufigen Rechtsschutz. Hier ist zu klären, welche Konsequenzen es hat, wenn derjenige, der einem strafbewehrten Verwaltungsakt zuwiderhandelt, Widerspruch oder Anfechtungsklage erhebt, wodurch bei nicht sofort vollziehbaren Verwaltungsakt gemäß § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung eintritt. Scheidet hier die straf- und ordnungswidrigkeitsrechtliche Bewehrung ganz oder zumindest temporär aus und spielt es hierbei eine Rolle, ob der Verstoß vor oder nach dem Ergreifen förmlicher Rechtsbehelfe erfolgte? Entsprechende Fragen wirft es auf, wenn die Ausgangs- oder Widerspruchsbehörde die Vollziehung des Verwaltungsakts gem. § 80 Abs. 4 VwGO aussetzt oder das Gericht die aufschiebende Wirkung gem. § 80 Abs. 5 VwGO anordnet oder wiederherstellt. Da die aufschiebende Wirkung grundsätzlich unabhängig von der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts eintritt, besteht insoweit nicht nur bezüglich rechtswidriger, sondern auch hinsichtlich rechtmäßiger Verwaltungsakte Klärungsbedarf. 15
BVerfG, NJW 1993, 582. OLG Karlsruhe, InfAuslR 2007, 118 m.w.N.; s. auch VGH Mannheim EZAR NF 93 Nr. 8. 16
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1. Der Standpunkt des BGH: Strafbewehrung setzt sofortige Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts gem. § 80 Abs. 2 VwGO voraus In seiner Entscheidung vom 23. 7. 1969, die die Zuwiderhandlung gegen ein Verkehrszeichen betraf, entschärfte der BGH die sich hier stellende Grundsatzproblematik von vorneherein durch ein obiter dictum.17 Danach soll die Strafbewehrung eines Verwaltungsakts stets voraussetzen, dass dieser gem. § 80 Abs. 2 S. 1 Nrn. 1 – 4 sofort vollziehbar ist.18 Folgt man dieser Ansicht, kann sich das Problem, welche strafrechtlichen Konsequenzen die Zuwiderhandlung gegen einen suspendierten bzw. ausgesetzten Verwaltungsakt hat, erst gar nicht stellen. Die Strafbarkeit scheidet vielmehr unabhängig davon aus, ob gegen den noch nicht bestandskräftigen Verwaltungsakt mit Widerspruch und Anfechtungsklage vorgegangen wurde. Auch spielt es keine Rolle, ob der Verwaltungsakt rechtswidrig oder rechtmäßig ist. 2. Kritik Diese Ansicht des BGH, die seitdem die strafgerichtliche Praxis beherrscht19, erscheint freilich dogmatisch bedenklich. Die Befolgungspflicht besteht nämlich völlig unabhängig davon, ob der Verwaltungsakt sofort vollziehbar ist. Auch wenn er nicht sofort vollziehbar ist, ist er voll wirksam und zu beachten. Seiner sofortigen Vollziehbarkeit kommt nur insoweit Bedeutung zu, als diese nach den einschlägigen Vollstreckungsgesetzen regelmäßig Voraussetzung für seine Vollstreckbarkeit ist. Bezüglich der Strafbarkeit einer Zuwiderhandlung gegen einen Verwaltungsakt enthalten die Vollstreckungsgesetze aber keine Regelungen. Strafbarkeit und Vollstreckbarkeit sind vielmehr – obschon sie partiell ähnliche Funktionen erfüllen – strikt zu trennen. Deshalb scheidet auch eine analoge Anwendung der Vollstreckungsvoraussetzungen auf die Strafbarkeit aus. Das gilt umso mehr als die Gesetzgebungskompetenzen für das Vollstreckungsrecht einerseits, für die Normierung der Strafbewehrung eines Verwaltungsakts andererseits durchaus differieren können. Auch der BGH20 musste deshalb bezeichnenderweise anerkennen, dass ein strafbewehrter Verwaltungsakt, solange er nicht mit aufschiebender Wirkung angefochten worden ist, den Betroffenen verpflichtet und von den Verwaltungsbehörden vollzogen werden kann. Er meinte jedoch, dass dies für die strafrechtliche Beurteilung 17
Die sofortige Vollziehbarkeit eines Verkehrszeichens ergibt sich nach heute ganz h.M. aus einer Analogie zu § 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (BGH, NJW 1969, 2024; Schenke, Polizeiund Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2011, Rdnr. 714). 18 BGH, NJW 1969, 2025; ebenso OLG Hamm, MDR 1979, 516; NJW 1980, 1476 und schon früher BayObLGSt 1962, 26 (30), im Schrifttum z. B. Odenthal, NStZ 1991, 419; Kuhlen, WiVerw 1992, 265 f.; Wüterich, NStZ 1987, 107. 19 Vgl. z. B. OLG Hamm, NJW 1980, 1476; OLG Hamburg, NJW 1980, 1007, OLG Karlsruhe, NJW 1978, 116. 20 BGH, NJW 1969, 2025.
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nicht in gleichem Umfang gelten könne. Als Begründung hierfür führte er aus: „Eine Übelsfolge als strafrechtliche Gegenwirkung gegen einen Zuwiderhandlung gebührt billiger Weise nur demjenigen, der den Vollzug des gegen ihn gerichteten Verwaltungsakts ohne die Möglichkeit hemmender Rechtsbehelfe zunächst hinnehmen muß, dessen Zuwiderhandlung sich also als Ungehorsam gegen eine vollziehbare Verwaltungsanordnung darstellt. Die Zuwiderhandlung gegen eine Anordnung für den Einzelfall kann deshalb erst und nur bestraft werden, wenn sie ohne Rücksicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels vollziehbar ist“.21 Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, vermögen diese nicht näher spezifizierten Billigkeitsüberwägungen jedoch nicht zu überzeugen. Die Ansicht des BGH führt nicht nur zu einer schwerlich überzeugenden Differenzierung zwischen verwaltungsrechtlicher und strafrechtlicher Wirksamkeit eines Verwaltungsakts. Sie erscheint bei näherer Hinsicht vielmehr ihrerseits als unbillig. Der BGH vermag dies lediglich deshalb nicht zu erkennen, weil er sich bei seinen diesbezüglichen Bewertungen von der – wie unter IV. noch zu zeigen sein wird – unrichtigen Prämisse leiten lässt, dass die Strafbarkeit der Zuwiderhandlung gegen einen rechtswidrigen Verwaltungsakt durch dessen spätere rückwirkende gerichtliche Aufhebung niemals berührt werde.22 Zwar ist es dem Gesetzgeber sicher grundsätzlich möglich, die Strafbarkeit der Zuwiderhandlung gegen einen Verwaltungsakt an dessen sofortige Vollziehbarkeit zu knüpfen.23 Unterlässt er das aber, so spricht dies dafür, dass die Zuwiderhandlung gegen einen noch nicht bestandskräftigen Verwaltungsakt selbst dann strafbar sein soll, wenn es noch an dessen sofortiger Vollziehbarkeit fehlt. Gerade die zahlreichen Vorschriften, welche – teilweise wohl unter dem Einfluss der BGH-Rechtsprechung – die Strafbarkeit einer Zuwiderhandlung gegen einen Verwaltungsakt ausdrücklich an dessen Vollziehbarkeit knüpfen24, legen es nahe, im Wege eines Umkehrschlusses zu folgern, dass dort, wo die Strafbarkeit nach den einschlägigen gesetzlichen Regelungen nicht ausdrücklich an die sofortige Vollziehbarkeit gebunden 21 BGH, NJW 1969, 2025; dieser Argumentation uneingeschränkt folgend z. B. OLG Hamm, NJW 1980, 1476; kritisch zu Recht Berg, WiVerw 1982, 177 f.; Finkelnburg, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, 6. Aufl. 2011, Rdnr. 633. 22 BGH, NJW 1969, 2023 (2025 f.). 23 S. z. B. Art. 4 BayLStVG: „Zuwiderhandlungen gegen Anordnungen der Verwaltungsbehörden für den Einzelfall können nach diesem Gesetz mit Strafe oder Geldbuße nur geahndet werden, wenn die Anordnung nicht mehr mit ordentlichen Rechtsmitteln angegriffen werden kann oder ihre Vollziehung angeordnet ist.“ Weitaus die meisten Vorschriften, die die Straf- oder Geldbußbewehrung von Verwaltungsakten regeln, binden diese an die sofortige Vollziehbarkeit der Verwaltungsakte, vgl. etwa § 29 Abs. 1 Nr. 1 VersG, § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG, § 146 Abs. 1 GewO, § 62 Abs. 1 Nrn. 2, 3, 5 – 7 BImSchG; § 64 Abs. 3 Nr. 1 BWLBO. 24 Solche Fälle sind selten, aber nicht ausgeschlossen. So ist z. B. eine Auflösungsanordnung gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 VersG nicht an deren sofortige Vollziehbarkeit gebunden. Soweit die Anordnung allerdings – wie dies meist zutreffen wird (so auch im Fall BVerfG, NJW 1993, 581) – durch Vollzugsbeamte der Polizei ausgesprochen wird, ergibt sich die sofortige Vollziehbarkeit bereits aus § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VwGO und bedarf es keiner Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit gem. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO.
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ist, die Strafbewehrung eines nicht bestandskräftigen Verwaltungsakts selbst dann zu bejahen, wenn dieser nicht mit förmlichen Rechtsbehelfen (Widerspruch und Anfechtungsklage) angegriffen wird und deshalb keine aufschiebende Wirkung nach § 80 VwGO eintritt. Ginge man hingegen mit dem BGH davon aus, dass die Strafbewehrung eines Verwaltungsakts stets dessen sofortige Vollziehbarkeit voraussetzte, so wäre es unverständlich, dass der Gesetzgeber nur in bestimmten Fällen die Strafbarkeit ausdrücklich an die Vollziehbarkeit knüpft. Entsprechende Regelungen wären sinnlos und überflüssig. Jedenfalls fehlte es an einem einsichtigen Grund dafür, weshalb der Gesetzgeber in anderen Fällen die sofortige Vollziehbarkeit eines noch nicht bestandskräftigen Verwaltungsakts gerade nicht als eine Voraussetzung für die Strafbarkeit einer Zuwiderhandlung benennt und damit zugleich den – unter Zugrundelegung der Auffassung des BGH – verkehrten Eindruck erweckt, die Strafbewehrung setze keinen gem. § 80 Abs. 2 VwGO sofort vollziehbaren Verwaltungsakt voraus. Ist der noch nicht vollziehbare strafbewehrte Verwaltungsakt rechtmäßig, wird er aber nicht angefochten, so ist auch unter teleologischen Gesichtspunkten nicht einzusehen, weshalb hier von der Strafbarkeit einer Zuwiderhandlung abzusehen sein soll. Es erscheint jedenfalls widersprüchlich, dass der Betroffene den Verwaltungsakt missachtet, sich gleichzeitig aber nicht der Mühe unterzieht, ihn mit förmlichen Rechtsbehelfen anzugreifen, weil er diesen keine Erfolgsaussichten beimisst. Bedenkt man, dass der Eintritt des Suspensiveffekts sonst von dem tatsächlichen Einlegen von Widerspruch bzw. Anfechtungsklage und nicht nur von der Möglichkeit solcher Rechtsbehelfe abhängt, so leuchtet nicht ein, weshalb in Bezug auf die strafrechtlichen Folgen einer Zuwiderhandlung etwas anderes gelten soll.25 Das gilt umso mehr, als sich der Betroffene durch die vorherige Einlegung förmlicher Rechtsbehelfe dem Risiko der Bestrafung wegen einer späteren Zuwiderhandlung gegen einen noch nicht bestandskräftigen Verwaltungsakt generell zu entziehen vermag. Der dann gem. § 80 VwGO eintretende Suspensiveffekt schließt nicht nur nach Auffassung der Vertreter der Wirksamkeitshemmungstheorie während der Dauer der aufschiebenden Wirkung eine Bestrafung aus. Dasselbe wird auch von den Anhängern der Vollziehbarkeitshemmungstheorie angenommen, da diese – wie durch Art. 19 Abs. 4 GG geboten – den Begriff der Vollziehung sehr extensiv interpretieren.26 Damit ist es auch nach dieser Theorie der öffentlichen Hand untersagt, bei einem suspendierten Verwaltungsakt nachteilige Folgen an dessen Existenz 25
A.A. aber Kuhlen, WiVerw. 1992, 267 mit der wenig überzeugenden Begründung, andernfalls würde man der Sache nach jemand dafür bestrafen, dass er auf die Einlegung eines aufschiebend wirkenden Rechtsmittels verzichtet. Dass die Nichtergreifung von Rechtsmitteln für durch einen rechtswidrigen Hoheitsakt Betroffene gravierende Nachteile mit sich bringen kann, ist aber unserem Recht durchaus geläufig. Das gilt auch im Strafrecht. So wird z. B. derjenige, der gegen eine zu Unrecht erfolgte strafgerichtliche Verurteilung keine Rechtsmittel einlegt, hierfür „bestraft“. 26 S. zu diesen Theorien und ihrer Bedeutung Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 19. Aufl. 2013, § 80, Rdnrn. 23 f.
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zu knüpfen. Zwar gilt der Suspensiveffekt nach beiden Theorien prinzipiell nur solange, wie der Verwaltungsakt noch nicht bestandskräftig ist. Er entfällt damit rückwirkend, wenn die gegen den Verwaltungsakt erhobene Anfechtungsklage wegen dessen Rechtmäßigkeit erfolglos bleibt. Diese Rückwirkung vermag aber nicht die Straflosigkeit einer erst nach Herbeiführung des Suspensiveffekts erfolgten Zuwiderhandlung gegen den Verwaltungsakt in Frage zu stellen. Eine nachträgliche rückwirkende Begründung der Strafbarkeit erweckte nämlich im Hinblick auf den dem Art. 103 Abs. 2 GG zugrunde liegenden Rechtsgedanken durchschlagende verfassungsrechtliche Bedenken, weil dem Betroffenen jedenfalls im Moment des Zuwiderhandelns gegen den Verwaltungsakt kein Vorwurf zu machen war, wenn er den schon eingetretenen Suspensiveffekt ausnutzte. Deshalb darf sein Verhalten nicht nachträglich bestraft werden. Wäre man in diesem Punkt anderer Ansicht, so wäre überdies die durch Art. 19 Abs. 4 GG garantierte Effektivität des Rechtsschutzes nicht mehr gewährleistet, da der Betroffene, der sich im „Tatzeitpunkt“ an der aufschiebenden Wirkung eines von ihm eingelegten förmlichen Rechtsbehelfs orientierte, sich bei dessen späterer Erfolglosigkeit nunmehr strafbar machte.27 Dies hinderte ihn regelmäßig an der Ausnutzung des Suspensiveffekts. Aus entsprechenden Gründen scheidet die Strafbarkeit auch dort aus, wo ein zunächst sofort vollziehbarer Verwaltungsakt durch das Gericht gem. § 80 Abs. 5 VwGO bzw. durch die Verwaltung gem. § 80 Abs. 4 VwGO ausgesetzt wurde und die Zuwiderhandlung erst nach Aussetzung des Verwaltungsakts erfolgte. Zweifelhaft kann lediglich sein, wie die Fälle zu behandeln sind, bei denen die Zuwiderhandlung schon vor der Einlegung förmlicher Rechtsbehelfe gegen einen strafbewehrten rechtmäßigen Verwaltungsakt erfolgte. Hier hat sich der Betroffene – anders als bei der zuvor behandelten Fallkonstellation – zunächst strafbar gemacht. Dies rechtfertigt es trotz der später eintretenden Rückwirkung des Suspensiveffekts von einem strafbaren Verhalten auszugehen, wenn der eingelegte förmliche Rechtsbehelf in der Hauptsache später keinen Erfolg hat und die aufschiebende Wirkung nunmehr rückwirkend entfällt.28 In einem solchen Fall bestehen gegenüber der Strafbarkeit – wie schon an dem vom BGH29 in diesem Zusammenhang erwähnten § 2 Abs. 3 StGB deutlich wird – weder unter dem Aspekt des Art. 103 Abs. 2 GG noch unter dem des Art. 19 Abs. 4 GG durchschlagende verfassungsrechtliche Bedenken (s. auch unten IV. 9.). Dem Betroffenen war es hier bei der Zuwiderhandlung gegen den Verwaltungsakt bekannt, dass er sich bei dessen Rechtmäßigkeit strafbar macht und dass selbst ein später eintretender Suspensiveffekt unter der auflösenden Bedingung der Erfolglosigkeit des Rechtsbehelfs in der Hauptsache steht. Ein beson27
Vgl. auch Finkelnburg, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, 6. Aufl. 2011, Rdnr. 633; Odenthal, NStZ 1991, 418 (419). 28 So auch Finkelnburg, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, Rdnr. 633. 29 BGH, NJW 1969, 2025.
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derer Vertrauensschutz erscheint deshalb hier genauso wenig angebracht wie bei der Zuwiderhandlung gegen einen sofort vollziehbaren rechtmäßigen Verwaltungsakt, bei dem auch der BGH von einer Strafbarkeit ausgeht. Schwierigkeiten ergeben sich allerdings dann, wenn der erst nach der Zuwiderhandlung angefochtene strafbewehrte Verwaltungsakt rechtwidrig war und deshalb später rückwirkend aufgehoben wird. Hier müsste der BGH – wenn er nicht an der Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts als Voraussetzung für die Strafbarkeit einer Zuwiderhandlung festhielte – von der Strafbarkeit ausgehen, da er einen rückwirkenden Wegfall der Strafbarkeit ablehnt. Der BGH vermag diese unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten in der Tat höchst bedenkliche Konsequenz seiner Konzeption einzig dadurch abzumildern, dass er die Strafbarkeit der Zuwiderhandlung gegen einen nicht sofort vollziehbaren Verwaltungsakt generell verneint. Damit löst er sich aber – wie gezeigt – nicht nur vom Tatbestand der Strafrechtsnormen, die die Strafbarkeit eben gerade nicht an die sofortige Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts knüpfen, und sieht sich zu einer unter systematischen Gesichtspunkten nicht überzeugenden Differenzierung zwischen verwaltungsrechtlicher und strafrechtlicher Wirksamkeit eines Verwaltungsakts genötigt. Er schießt zudem unter teleologischen Gesichtspunkten über das Ziel hinaus, wenn er die Zuwiderhandlung gegen einen nicht bestandskräftigen Verwaltungsakt auch dort allgemein für straflos ansieht, wo dieser gar nicht angegriffen wird. Da sich später zeigen wird (s. unter IV.), dass die Strafbarkeit der Zuwiderhandlung gegen einen rechtswidrigen Verwaltungsakt dann nicht mehr besteht, wenn dieser verwaltungsgerichtlich aufgehoben wird, entfällt damit zugleich der Grund für die Rechtsprechung des BGH. Es gilt dann dasselbe wie bei der Zuwiderhandlung gegen einen sofort vollziehbaren rechtswidrigen Verwaltungsakt, dessen spätere Aufhebung zur Strafbefreiung führt.
III. Die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts als Strafbarkeitsvoraussetzung? 1. Allgemeine Koppelung der Strafbewehrung an die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts? Die Problematik der Strafbarkeit einer Zuwiderhandlung gegen rechtswidrige Verwaltungsakte würde erheblich entschärft, wenn der Gesetzgeber die Strafbarkeit ausdrücklich an die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten knüpfte. Solche Fälle kommen aber kaum vor. Selbst die Regelung des § 113 StGB bietet hierfür kein Beispiel. Zwar entfällt nach § 113 Abs. 3 StGB die Strafbarkeit des Widerstands gegen Vollstreckungsmaßnahmen dann, wenn eine solche Diensthandlung nicht rechtmäßig ist. Der Begriff „rechtmäßig“ wird aber hier durch die ganz h.M. sehr weit interpretiert30, so dass selbst materiell rechtswidrige Vollstreckungsmaßnahmen als recht30 S. z. B. Schönke/Schröder-Eser, StGB, 28. Aufl. 2010, § 113, Rdnrn. 21 ff. m. eingeh. Nachw.; vgl. auch BVerfG, NVwZ 2007, 1180, wonach es grundsätzlich nicht zu beanstanden
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mäßig i. S. des § 113 Abs. 3 StGB anzusehen sind. Zudem befasst sich § 113 Abs. 3 StGB nicht mit der Nichtbefolgung von Verwaltungsakten, sondern hat den aktiven Widerstand gegen deren Vollstreckung zum Gegenstand (s. auch unter IV. 11.). Lässt sich gesetzlichen Regelungen ausdrücklich oder jedenfalls unter Zugrundelegung der einschlägigen Interpretationstopoi eindeutig entnehmen, dass die Strafbarkeit der Zuwiderhandlung an die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts gebunden ist, haben die Strafgerichte über die für die Strafbarkeit bedeutsame (Vor-)Frage der Rechtmäßigkeit zu befinden. Einer Anrufung der Verwaltungsgerichte bedarf es insoweit nicht. Schwierigkeiten können sich hier lediglich dann einstellen, wenn der Betroffene zur Beseitigung der verwaltungsrechtlichen Folgen eines rechtswidrigen Verwaltungsakts gegen diesen klagt und die Verwaltungsgerichte – anders als die Strafgerichte – davon ausgehen, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig ist und ihn deshalb aufheben.31 Hier dürfte aber – wie unter IV. noch zu zeigen sein wird – die Strafbarkeit der Zuwiderhandlung wegen der rückwirkenden Aufhebung des Verwaltungsakts entfallen. Ist das Strafurteil bereits rechtskräftig, kommt ein Wiederaufnahmeverfahren in Betracht.32 Wenn dem Gesetz keine besonderen Anhaltspunkte dafür zu entnehmen sind, dass der strafbewehrte Verwaltungsakt rechtmäßig sein muss, spricht schon der Wortlaut der einschlägigen Vorschriften dafür, dass es nur auf die Wirksamkeit, nicht hingegen auf dessen Rechtmäßigkeit ankommt. Auch ein rechtswidriger Verwaltungsakt ist prinzipiell rechtswirksam und deshalb zu befolgen. Anderes gilt nach Maßgabe des § 44 Abs. 1 VwVfG – vorbehaltlich spezieller gesetzlicher Regelungen – nur bei schwerer und evidenter Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsakts. Fehlt es hieran, sind die Strafgerichte aber im Einklang mit sonst allgemein anerkannten Grundsätzen wegen der Tatbestandswirkung, die einem rechtswidrigen Verwaltungsakt zukommt, daran gehindert, den Verwaltungsakt als nicht wirksam zu behandeln. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn die Strafbewehrung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts aus verfassungsrechtlichen Gründen generell ausgeschlossen wäre.33 Das erscheint aber schon deshalb problematisch, weil eine so weitreichende Einschränkung der Strafbarkeit unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit schwerwiegende Bedenken provozieren müsste.34 Das gilt umso mehr, als ist, dass die Fachgerichte im Rahmen des § 113 Abs. 3 StGB von einem eingeschränkten Rechtmäßigkeitsmaßstab ausgehen und nicht verlangen, dass alle Anforderungen, die in dem jeweiligen in Bezug genommenen Rechtsgebiet an die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung gestellt werden, erfüllt sein müssen. 31 Wie in einem solchen Fall zu verfahren ist, lässt BVerfG, NJW 1993, 581 offen. 32 Vgl. BVerfGE 22, 27; s. dazu auch unten IV. 7. 33 So z. B. Arnhold, Die Strafbewehrung rechtswidriger Verwaltungsakte, S. 63 ff.; Berg, WiVerw. 1982, 182; Janicki, JZ 1968, 96; Mohrbotter, JZ 1971, 216; grundsätzlich auch Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 24 ff. 34 Ebenso z. B. Schönke/Schröder-Heine, StGB, Vorbem. zu den §§ 324 ff., Rdnrn. 16c; Breuer, AöR Bd. 115 (1990), 448 ff., ders., JZ 1994, 1083 f.; Frisch, Verwaltungsakzesso-
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sich eine unter rechtsstaatlichen und hier insbesondere unter grundrechtlichen Gesichtspunkten befriedigende Lösung, welche die Strafbarkeit einer Zuwiderhandlung gegen einen rechtswidrigen Verwaltungsakt einschränkt und dadurch den Interessen Betroffener Rechnung trägt, bereits auf eine andere Weise erreichen lässt, die systemgerecht ist und mit der verwaltungsrechtliche Fehlerfolgenlehre im Einklang steht. Damit zusammenhängend wäre es z. B. widersprüchlich, in den Fällen, in denen ein Verwaltungsakt trotz seiner Rechtswidrigkeit gerichtlich nicht aufgehoben werden darf (so z. B. nach § 46 VwVfG) und deshalb zu befolgen ist, seine strafrechtliche Sanktionierung generell auszuschließen (s. unten IV. 8.).35 Sieht man die Strafgerichte als durch einen rechtswidrigen, aber wirksamen Verwaltungsakt zunächst gebunden an, so weist eine solche Lösung den zusätzlichen Vorteil auf, dass hierdurch die Kompetenzverteilung zwischen Verwaltungsgerichtsbarkeit und Strafgerichtsbarkeit gewahrt bleibt, wie sie mit der Tatbestandswirkung von Verwaltungsakten sonst bezweckt wird. Damit wird zugleich sichergestellt, dass die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten den sachnäheren und insoweit kompetenteren Verwaltungsgerichten reserviert bleibt, und eine divergierende inzidente Beurteilung der Rechtmäßigkeit strafbewehrter Verwaltungsakte durch die Strafgerichte vermieden wird. Hiermit Hand in Hand gehend, werden zudem die Schwierigkeiten vermieden, die sich dann ergeben müssen, wenn die Verwaltungsgerichte anders als die Strafgerichte von der Rechtswidrigkeit eines angefochtenen strafbewehrten Verwaltungsakts ausgehen und diesen wegen einer durch ihn begründeten subjektiven Rechtsverletzung des Klägers aufheben. In einem solchen Fall vermag es schon prima facie schwerlich zu überzeugen, wenn der Verwaltungsakt rückwirkend aufgehoben wird und damit zugleich seine unmittelbaren verwaltungsrechtlichen Folgen beseitigt werden, die für die Betroffenen im Regelfall weit gravierenderen strafrechtlichen Folgen aber trotz der verwaltungsgerichtliche Entscheidung fortbestehen sollen. 2. Begrenzte Koppelung der Strafbewehrung an die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts? Die gravierenden und dogmatisch wenig befriedigenden Konsequenzen, welche eine allgemeine Bindung der Strafbewehrung von Verwaltungsakten an deren Rechtmäßigkeit zur Folge haben muss, führen sowohl im Schrifttum wie auch in der Rechtsprechung mitunter dazu, das Junktim zwischen Strafbewehrung und Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts auf bestimmte Fallkonstellationen zu beschränken. rietät und Tatbestandsverständnis des Umweltrechts, S. 69 ff.; Rogall, GA 1995, 315; Rühl, JuS 1999, 526; M. Schröder, DÖV 1990, 1057. 35 Aus diesem Grund sieht sich etwa Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 281 hier genötigt, die Strafbarkeit einer Zuwiderhandlung zu befürworten, obschon er die Strafbarkeit einer Zuwiderhandlung sonst von der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts abhängig macht.
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a) Differenzierung nach dem Zweck der Strafbewehrung Ob die Strafbarkeit an die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts gebunden ist, soll nach einer im Schrifttum von namhaften Autoren vertretenen Ansicht36 nach dem Zweck zu entscheiden sein, den der jeweilige Strafbestand verfolgt. Maßgebend sei, ob der Verwaltungsakt den Schutz eines „materiellen Allgemein- oder Sachinteresses“ bezwecke oder er nur ein – unabhängig von seinem Inhalt bestehendes – „formelles Ordnungsinteresse“ verfolge.37 Im ersteren Fall führe die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts zur Straflosigkeit einer Zuwiderhandlung, während im zweiten Fall die Rechtswidrigkeit ohne Einfluss auf die Strafbarkeit einer Zuwiderhandlung bleibe. Als Beispiel für die zweite Fallgruppe wird die durch ein Verkehrszeichen getroffene Anordnung genannt.38 Diese Differenzierung erscheint freilich problematisch, da materielles Allgemein- oder Sachinteresse und formelles Ordnungsinteresse häufig nicht zu trennen sind, ja typischerweise nebeneinander bestehen. Insbesondere dienen Verwaltungsakte fast immer in mehr oder weniger starkem Umfang auch Ordnungsinteressen. Ebenso steht das Ordnungsinteresse in der Regel zugleich im Dienste eines Sachinteresses.39 Deutlich wird dies gerade an Verkehrszeichen. Sie schützen nicht nur – wie auch Lorenz40 anerkennt – ein formelles Ordnungsinteresse, sondern bezwecken auch die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs sowie – hiermit zusammenhängend – in mehr oder weniger starkem Umfang den Schutz andere Rechtsgüter wie Leben und Gesundheit von Verkehrsteilnehmern. Ohnehin besteht gerade im Verkehrsrecht keine Notwendigkeit, rechtswidrige Verkehrszeichen mit Strafe zu bewehren. Wenn durch deren Nichtbeachtung nämlich der Straßenverkehrs sowie speziell die Sicherheit von Verkehrsteilnehmern gefährdet werden, ergibt sich bereits aus dem bußgeldbewehrten Gebot der Rücksichtnahme im Straßenverkehr (§§ 1, 49 Abs. 1 Nr. 1 StVO) die Sanktionierung einer solchen Verhaltens.41 Das gilt z. B. für Geschwindigkeitsbeschränkungen oder – als ein extremes Beispiel – für eine Einbahnstraßenregelung. Wenn dagegen die Missachtung eines Verkehrszeichen nicht zur Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer führt – wie dies z. B. bei einem Parkverbot meist der Fall sein wird – gibt es keinen einsichtigen Grund, 36
Lorenz, DVBl. 1971, 165 ff. So Lorenz, DVBl. 1971, 170 und dem folgend z. B. Finkelnburg, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, Rdnr. 633. 38 Lorenz, DVBl. 1971, 171. 39 Insoweit zutreffend Arnhold, JZ 1977, 790, wonach alle Strafbewehrungen jeweils das vom Verwaltungsakt verfolgte Sachinteresse schützen wollen. Wenn er hiervon bei verkehrsregelnden Verwaltungsakten eine Ausnahme machen will, überzeugt das allerdings – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – nicht. 40 Lorenz, DVBl. 1971, 171. 41 Schenke, JR 1970, 454; ebenso Berg, WiVerw 1982, 186; Haaf, Die Fernwirkungen gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 286 m.w.N.; Stern, FS Lange, S. 874. Das würde selbst dann gelten, wenn die mit dem Verkehrszeichen getroffene Regelung nichtig wäre. 37
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warum noch eine Geldbuße verhängt werden sollte, nachdem die durch das Verkehrszeichen getroffene Regelung als rechtswidrig gerichtlich aufgehoben worden ist. In Ausnahmefällen kann es vorkommen, dass durch die frühere Nichtbeachtung rechtswidriger Verwaltungsakte – ungeachtet einer späteren verwaltungsgerichtlichen Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit – rechtlich geschützte Interessen Dritter in erheblicher Weise beeinträchtigt werden. Das kommt dann in Betracht, wenn bei diesen Dritten ein berechtigtes Vertrauen auf die Befolgung des Verwaltungsakts anzuerkennen ist und deren Interessen nicht bereits – wie bei §§ 1, 49 Abs. 1 Nr. 1 StVO – auf andere Weise ausreichend geschützt werden. Dann mag es dem Gesetzgeber unbenommen bleiben, es stets und uneingeschränkt bei der Strafbarkeit der früheren Zuwiderhandlung gegen den rechtswidrigen Verwaltungsakt zu belassen. Freilich muss dies dann schon im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG unmissverständlich zum Ausdruck gebracht werden.42 Zudem muss eine entsprechende Regelung dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz standhalten, was nur in ganz besonders gelagerten Fällen zutreffen wird. Es ist lediglich dann zu bejahen, wenn das Interesse, den rechtswidrigen Verwaltungsakts mittels einer uneingeschränkten Strafdrohung durchzusetzen, auch unter Berücksichtigung des gesetzgeberischen Dispositionsspielraums höher einzustufen ist als das grundrechtlich geschützte Interesse der Adressaten des Verwaltungsakts am rückwirkenden Entfallen strafrechtlicher Sanktionen. Trifft dies zu, werden allerdings regelmäßig bereits die rückwirkende Aufhebung des rechtswidrigen Verwaltungsakts und die Beseitigung seiner bisherigen verwaltungsrechtlichen Vollzugsfolgen ausscheiden. Dann ergeben sich schon deshalb keine durchschlagenden Bedenken gegen die strafrechtliche Sanktionierung der im Verwaltungsakt statuierten Verhaltenspflichten, weil diese im Zeitpunkt der Zuwiderhandlung nach wie vor uneingeschränkt (fort-)bestanden. Fälle dieser Art kommen aber keineswegs nur dort in Betracht, wo der Verwaltungsakt einem formalen Ordnungsinteresse dient. Der Gesetzgeber kann die (ganze oder teilweise) Aufhebung rechtswidriger Verwaltungsakte unter Beachtung strenger verfassungsrechtlicher Vorgaben vielmehr selbst dann ausschließen, wenn diese dem Schutz von Allgemeininteressen oder sonstigen Sachinteressen dienen. Auch hier bleibt es bei der uneingeschränkten strafrechtlicher Sanktionierung des Verstoßes gegen rechtswidrige Verwaltungsakte. Das wird an dem später zu erörternden Beispiel des § 46 VwVfG noch deutlich zu machen sein (s. unten IV. 8.). Die dargestellte differenzierende Auffassung begegnet schließlich unter dem Aspekt der Rechtssicherheit gravierenden Bedenken. Sie gründen sich darauf, dass der Betroffenen mit der Aufgabe überfordert wären, auch nur einigermaßen präzise zwischen Normen, die primär materielle Allgemein- und Sachinteressen schützen wollen und solchen Vorschriften, welche primär einem formalen Ordnungsinteresse dienen, abzugrenzen. Die hier bestehende Unsicherheit wiegt besonders schwer, weil dem Prinzip der Rechtssicherheit und dem darin enthaltenen Gebot der Rechtsklar42
Insoweit liegt eine Anknüpfung an BVerfG, NJW 1993, 582 nahe.
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heit gerade bei Straf- und Ordnungswidrigkeitstatbeständen ein hoher Stellenwert einzuräumen ist. Sie lässt sich deshalb nicht mit der ratio des Art. 103 Abs. 2 GG in Einklang bringen.43 Das Anliegen der dargestellten Auffassung, zumindest einer undifferenzierten Strafbewehrung rechtswidriger Verwaltungsakte entgegenzuwirken, ist daher zwar verständlich. Dies kann jedoch nicht von der rechtsstaatlichen Forderung dispensieren, praktikable Leitlinien zu liefern, an denen der Bürger sein Verhalten orientieren kann, um sich nicht strafbar zu machen. b) Die Rechtsprechung des BVerfG zur Strafbewehrung der rechtswidrigen Auflösung einer Versammlung Die Strafbewehrung alleine an die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts anzuknüpfen könnte – wenn überhaupt – allenfalls noch in den Fällen in Betracht gezogen werden, in denen sich der Sanktionsspielraum des Gesetzgebers aus verfassungsrechtlichen Gründen so verengt, dass es zwingend ausgeschlossen ist, den Verstoßes gegen einen rechtwidrigen Verwaltungsakt auch ohne dessen Aufhebung straf- bzw. ordnungswidrigkeitsrechtlich zu sanktionieren. Hier könnte eine Sanktionsnorm verfassungskonform dahingehend restriktiv auszulegen sein, dass sie sich nur auf rechtmäßige Verwaltungsakte bezieht. Davon ging das BVerfG in dem bereits genannten Fall des Verstoßes gegen eine rechtswidrige Auflösungsanordnung aus. Das BVerfG nahm an, dass der betreffende Ordnungswidrigkeitstatbestand (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 VersG) verfassungskonform so auszulegen sei, dass er sich nur auf rechtmäßige Auflösungen beziehe. Es begründete dies damit, dass nur so der durch Art. 8 GG gebotene wirksame Schutz gegen rechtswidrige Auflösungen gewährleistet sei.44 Sonst bliebe den Versammlungsteilnehmern nämlich lediglich die Möglichkeit, die Rechtswidrigkeit und gegebenenfalls Verfassungswidrigkeit der Auflösung nachträglich feststellen zu lassen. Auf diese Weise lasse sich aber der Grundrechtsverstoß, der in der rechtswidrigen Auflösung liege, nicht mehr heilen. Nach Auffassung des BVerfG bedürfe es ferner keiner Entscheidung, ob der Strafbzw. Bußgeldrichter eine verwaltungsgerichtliche Klärung der Rechtmäßigkeit der Auflösung abwarten müsse, falls sie beantragt wird, und ob er an deren Ergebnis gebunden sei. Dem Betroffenen sei nämlich nicht zuzumuten alleine im Hinblick auf das möglicherweise folgende Bußgeldverfahren eine verwaltungsgerichtliche Klage zu erheben. Deshalb habe der Strafrichter selbst die Rechtmäßigkeit der Auflösungsverfügung festzustellen, weil anders die Anforderungen des Art. 8 GG nicht zu erfüllen wären. Eine Auslegung, nach der auch der Verstoß gegen eine rechtswidrige Auflösungsverfügung zu ahnden sei, verletze außerdem Art. 103 Abs. 2 GG. Zwar sei es dem Gesetzgeber nicht von vorneherein verwehrt, Widersetzlichkeit gegen hoheitliche Anordnungen zu sanktionieren, ohne dass es auf deren Rechtmäßigkeit ankäme. Eine solche gesetzgeberische Entscheidung sei jedoch § 29 Abs. 1 Nr. 2 VersG 43 44
Insoweit in der Tat zutreffend BVerfG, NJW 1993, 582. Vgl. näher BVerfG, NJW 1993, 582.
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auch unter Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien nicht unzweideutig zu entnehmen. Der Anwendungsbereich dieser Norm dürfe deswegen nicht im Wege der Auslegung auf Verstöße gegen rechtswidrige Auflösungen ausgedehnt werden. Er müsse vielmehr auf Verstöße gegen rechtmäßige Auflösungsverfügungen beschränkt werden.45 Einer näheren Prüfung hält diese Ansicht des BVerfG freilich nicht Stand. Es erscheint bereits zweifelhaft, ob sich diese Interpretation des § 29 Abs. 1 Nr. 2 VersG noch im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung hält. Der Wortlaut der Vorschrift enthält nämlich keinen Hinweis darauf, dass sie sich nur auf rechtmäßige Auflösungsverfügungen bezieht. Ebenso wenig bieten Systematik, Teleologie und Entstehungsgeschichte der Norm irgendwelche Anhaltspunkte für eine solche Restriktion. Zutreffend ist zwar, dass die uneingeschränkte ordnungswidrigkeitsrechtliche Sanktionierung eines Zuwiderhandelns gegen eine rechtswidrige Auflösung mit Art. 8 GG unvereinbar wäre. Das BVerfG verkennt aber, dass sich die Verletzung des Art. 8 GG möglicherweise auch ohne ein Junktim zwischen der Strafbewehrung und der Rechtmäßigkeit der Auflösungsverfügung vermeiden lässt. Die rechtswidrige Auflösungsverfügung könnte nämlich durch die Betroffenen angefochten und durch die Widerspruchsbehörde bzw. das Verwaltungsgericht rückwirkend aufgehoben werden. Diese Lösung hätte gerade unter der Zugrundelegung der vorherigen Rechtsprechung des BVerfG durchaus nahe gelegen. Es hat nämlich bereits früher anerkannt,46 dass durch die spätere Aufhebung eines strafbewehrten Verwaltungsakts die Strafbarkeit der Zuwiderhandlung entfällt und danach die Möglichkeit besteht, das strafgerichtliche Verfahren wiederaufzunehmen, wenn bereits eine rechtskräftige Verurteilung erfolgt ist.47 Das BVerfG verbaut sich eine solche Lösung allerdings von vorneherein durch die – von ihm nicht näher begründete – Annahme, dass die Verwaltungsgerichte nachträglich nur noch die Rechtswidrigkeit einer Auflösungsverfügung feststellen könnten. Diese Annahme wäre lediglich dann verständlich, wenn man unterstellte, dass sich die Auflösungsverfügung nach Beendigung der Versammlung erledigt hat. Dann schiede eine verwaltungsgerichtliche Aufhebung in der Tat aus, und es käme nur noch die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Auflösungsverfügung analog § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO in Betracht. Diese Annahme ist aber falsch, wenn die nach § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO gebotene rückwirkende Aufhebung der Auflösungsverfügung dazu führt, dass dadurch ihre ordnungswidrigkeitsrechtliche Sanktionierung entfällt48, wie dies nach zutreffender Auffassung der Fall ist (dazu unten IV.). Die Aufhebung der Auflösung ist dann nämlich nicht sinnlos, wie es für einen erle-
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BVerfG, NJW 1993, 582. BVerfGE 22, 27. 47 BVerfGE 22, 27. 48 Bei Nichtbeachtung eines strafbewehrten Verwaltungsakts hat sich dieser Verwaltungsakt nicht erledigt, s. Kopp/Schenke, VwGO, § 113, Rdnr. 102. 46
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digten Verwaltungsakt charakteristisch wäre.49 Sie bildet vielmehr eine notwendige Voraussetzung für die Aufhebung der Strafbarkeit des Klägers. Das ergibt sich als zwingende Folge der Tatbestandswirkung eines strafbewehrten Verwaltungsakts und der damit verbundenen Kompetenzverteilung zwischen Straf- und Verwaltungsgerichten. Ein solcher verwaltungsprozessualer „Umweg“ ist deshalb hier wie bei allen Straftatbeständen unumgänglich, die an das Bestehen eines wirksamen Verwaltungsakts anknüpfen und diesem damit Tatbestandswirkung beimessen. Auch das BVerfG kommt an dieser Erkenntnis in den Fällen, in denen es eine Strafbewehrung rechtswidriger Verwaltungsakte – anders als bei § 29 Abs. 1 Nr. 2 VersG – für möglich erachtet, nicht vorbei. Dem Betroffenen kann auch durchaus zugemutet werden, eine solche Anfechtungsklage zu erheben, um auf diese Weise Straffreiheit zu erlangen. Die Unzumutbarkeit einer Klage ließe sich allenfalls dann begründen, wenn mit einer verwaltungsgerichtlichen Klage nur noch die Rechtswidrigkeit der (erledigten) Auflösungsverfügung festgestellt werden könnte, wie es das BVerfG annimmt. Eine solche Feststellung führte nämlich nicht zur Aufhebung der Auflösungsverfügung und könnte damit an einer Strafbewehrung nichts mehr ändern, die an die Wirksamkeit der Auflösungsverfügung geknüpft wäre. Die Feststellung würde aber selbst dann nicht weiterhelfen, wenn die Strafbarkeit nicht an die Wirksamkeit der Auflösung, sondern nur an deren Rechtmäßigkeit gebunden wäre, denn über diese Frage könnten auch – im Einklang mit sonst allgemein anerkannten Grundsätzen – die ordentlichen Gerichte inzidenter selbst befinden. Der „Umweg“ über eine Klage gegen eine rechtswidrige Auflösungsverfügung erweist sich zudem ohnehin als unumgänglich, wenn wegen der Nichtbeachtung der Verfügung ein Platzverweis erlassen und zwangsweise durchgesetzt wurde. In diesem Fall kann sich der Betroffene nämlich nach ganz herrschender, auch von der Rechtsprechung50 geteilter Auffassung nicht ohne die Anfechtung der rechtswidrigen Auflösungsverfügung gegen den sich anschließenden Platzverweis sowie dessen Vollstreckung und die Auferlegung hiermit verbundener Vollstreckungskosten erfolgreich wehren. Dies folgt daraus, dass das Vorliegen einer wirksamen Auflösungsverfügung Voraussetzung für den rechtmäßigen Erlass eines Platzverweises ist51 und dessen Wirksamkeit (nicht Rechtmäßigkeit) wiederum Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit einer Verwaltungsvollstreckung52 und eine hiermit verbundene Vollstreckungskostenpflicht des Betroffenen ist. Auch die Vollstreckung des Platzverweises ist nach heute ganz h.M. im Einklang mit allgemeinen vollstreckungsrechtlichen Grundsätzen nicht an dessen Rechtmäßigkeit, sondern nur an dessen
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S. dazu Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 13. Aufl. 2012, Rdnr. 313 m.w.N. BVerwG, NVwZ 2009, 122; vgl. hierzu näher Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2011, Rdnrn. 512 und 542. 51 Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 375. 52 Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 540 m.w.N. 50
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Wirksamkeit geknüpft. Sie entfällt deshalb erst dann, wenn der rechtswidrige Platzverweis mit Erfolg angefochten und aufgehoben wird.53 Aus dem vorher Gesagten ergibt sich zugleich, dass auch der Ansicht des BVerfG, nach der eine Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 VersG auf rechtswidrige Verwaltungsakte zusätzlich mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar sei, nicht gefolgt werden kann. Weder die grammatische noch die systematische, teleologische und genetische Interpretation der Bestimmung bieten Anhaltspunkte dafür, dass sich § 29 Abs. 1 Nr. 2 VersG nur auf rechtmäßige Auflösungsverfügungen beschränkt. Diesbezügliche Bedenken schlagen jedenfalls dann nicht durch, wenn Einwände, die auf Art. 8 GG gestützte Einwände werden, sich ebenfalls als nicht gerechtfertigt erweisen, da ihnen bereits auf andere systemgerechte Weise Rechnung getragen werden kann (dazu IV.). Das BVerfG hat selbst betont,54 dass es dem Gesetzgeber nicht von vorneherein verwehrt ist, Widersetzlichkeit gegen hoheitliche Anordnungen unter Strafe oder Geldbuße zu stellen, ohne dass es für deren Verhängung auf die Rechtmäßigkeit der Anordnung ankäme.55 So ist das BVerfG in seinem Beschluss vom 15. 6. 1989, auf den es in seiner Entscheidung zu § 29 Abs. 1 Nr. 2 VersG ausdrücklich Bezug nimmt, von der Verfassungsmäßigkeit des § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG ausgegangen, obschon sich die dortige Strafbewehrung auch nach Auffassung des BVerfG auf rechtswidrige Vereinsverbote bezieht, obwohl dies im Wortlaut des § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG nicht noch zusätzlich besonders hervorgehoben wird.
IV. Der Ausschluss der Strafbarkeit bei rückwirkender Aufhebung des strafbewehrten Verwaltungsakts 1. Keine Strafbewehrung nichtiger Verwaltungsakte Nach dem vorher Ausgeführten bleibt es damit in den Fällen, in welchen die Strafbewehrung tatbestandsmäßig an die Zuwiderhandlung gegen einen Verwaltungsakt anknüpft, grundsätzlich dabei, dass dies auch dann gilt, wenn ein (noch) wirksamer Verwaltungsakt rechtswidrig ist. Einigkeit besteht dabei allerdings darin, dass die Strafbarkeit ausgeschlossen ist, wenn der rechtswidrige Verwaltungsakt ausnahms-
53 Dass die der Durchsetzung einer Auflösungsverfügung dienende Vollstreckung eines Platzverweises zunächst rechtmäßig sein, nachträglich aber wegen der Aufhebung des Platzverweises rechtswidrig werden kann, spricht das BVerfG merkwürdigerweise nicht an. Vielmehr geht es undifferenziert davon aus, dass Vollstreckungsakte trotz Rechtswidrigkeit des vollstreckten Verwaltungsakts rechtmäßig sind, und sieht hierin – zu Unrecht – einen wichtigen Unterschied gegenüber der strafrechtlichen Sanktionierung rechtswidriger Verwaltungsakte. Dabei hätte gerade die heute weitgehend unumstrittene Lösung der Vollstreckungsproblematik bei der Bewältigung der Strafbarkeitsproblematik wesentliche Hilfestellung leisten können. 54 BVerfGE 80, 256. 55 BVerfG, NJW 1993, 582.
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weise nichtig ist.56 Einem nichtigen Verwaltungsakt braucht der Betroffene keine Folge zu leisten. Deshalb fehlt es an einem vernünftigen Grund, seine Nichtbeachtung zu sanktionieren. 2. Die rückwirkende Aufhebung des Verwaltungsakts Schon dies bildet aber ein gewichtiges Indiz dafür, von der Straflosigkeit der Zuwiderhandlung57 gleichermaßen dann auszugehen, wenn die Regelungswirkung eines angefochtenen rechtswidrigen Verwaltungsakt aus Gründen der Rechtssicherheit wie auch aus funktionell-rechtlichen Erwägungen durch die Verwaltungsgerichte zwar gem. § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO erst nachträglich, aber dann mit Wirkung ex tunc58 aufgehoben wird und der Verwaltungsakt dann aufgrund dieser gesetzlichen Fiktion als von Anfang an unwirksam zu behandeln ist.59 Beide Male fehlt es dann – anders als bei einem nicht angefochtenen oder sogar schon bestandskräftigen Verwaltungsakt – an einer rechtsverbindlichen Regelung, deren Nichtbeachtung den Gesetzgeber zu einer Straf- bzw. Bußgeldbewehrung legitimiert. Die Auffassung des BayObLG60, dass die verwaltungsgerichtliche Aufhebung eines Verwaltungsakts selbst im Verwaltungsrecht keine Rückwirkung habe, wird heute von niemandem mehr vertreten. Diese verfehlte Auffassung war aber für das BayObLG ein wesentlicher Grund dafür, auch eine strafrechtliche Rückwirkung der verwaltungsgerichtlichen Aufhebungsentscheidung abzulehnen. Der BGH schloss sich in seiner Entscheidung vom 23. 7. 1969, die auf Vorlage des BayObLG erging, jenem im Ergebnis 56 BGHSt 23, 91; OLG Hamburg, NJW 1980, 1007; Berg, WiVerw 1982, 171; Lorenz, DVBl. 1970, 166; Odenthal, NStZ 1981, 419. 57 Für die Straflosigkeit der Zuwiderhandlung gegen einen später aufgehobenen rechtswidrigen Verwaltungsakt neben Schenke, JR 1970, 449 ff.; auch Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht, Besonderer Teil, 2. Aufl. 2009, § 41, Rdnr. 27; Ensenbach, Probleme der Verwaltungsakzessorietät im Umweltstrafrecht, 1989, S. 85 ff.; Heine/Meimberg, Gutachten D zum 57. Deutschen Juristentag, S. 50; Michalke, Umweltstrafsachen, 2. Aufl. 2000, S. 203; Schönke/Schröder-Heine, StGB, Vorbem. Zu den §§ 324 ff. StGB, Rdnrn. 16a ff.; M. Schröder, VVDStRL Bd. 50 (1991), S. 221 ff.; Stern, FS Lange, S. 859 ff.; Wüterich, NStZ 1987, 108; a.A. aber die ganz h.M. im Anschluss an BGH, NJW 1969, 2023 ff. z. B. Breuer, NJW 1988, 2072 ff.; JZ 1994, 1084; Horn, NJW 1981, 2; Kemme, Das Tatbestandsmerkmal des Verletzung von verwaltungsrechtlichen Pflichten in den Umweltstraftatbeständen des StGB, 2007, S. 404; Kuhlen, WiVerw. 1992, 266; Odenthal, NStZ 1991, 448 ff.; Rengier, ZStW 101 (1989), 891; Rudolphi, NStZ 1984, 197; SK StGB-Schall, 8. Aufl. 2012, vor § 324, Rdnr. 71 m. eingeh. Nachw. 58 S. hierzu für die heute ganz h.M. z. B. Kopp/Schenke, VwGO, § 113, Rdnr. 8. 59 Dasselbe gilt dann, wenn der rechtswidrige Verwaltungsakt bereits im Rahmen des Widerspruchsverfahrens oder außerhalb desselben durch die Verwaltung von Amts wegen aufgehoben und damit dem Anspruch des Verletzten auf rückwirkende Rücknahme des Verwaltungsakts Rechnung getragen wird (zu diesem Anspruch s. näher Baumeister, Der Beseitigungsanspruch als Fehlerfolge des rechtswidrigen Verwaltungsakts, 2006; Schenke, in: FS Maurer, 2001, S. 723 ff.). 60 BayObLG, VRS 35, 195, 195 (201).
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an, ohne sich von dieser unhaltbaren Begründung zu distanzieren.61 Allein dies sollte schon ein Grund für den BGH sein, seinen Standpunkt nochmals zu überdenken. 3. Teleologische und verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber einer Strafbarkeit Das gilt umso mehr, als auch unter teleologischen Gesichtspunkten nicht einzusehen ist, welchen Zweck die nachträgliche strafrechtliche Sanktionierung eines durch den Verwaltungsakt geforderten Verhaltens haben soll, das – wie durch eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung bestätigt – jedenfalls verwaltungsrechtlich nicht zu beanstanden war. Eine strafrechtliche bzw. bußgeldrechtliche Sanktionierung vermeintlicher verwaltungsrechtlicher Pflichten, die tatsächlich nicht bestehen, verfehlt den instrumentellen Charakter, der einer Bewehrung verwaltungsrechtlicher Pflichten zukommt. Sie ist zudem – hiermit eng zusammenhängend – auch unter dem verfassungsrechtlichen Aspekt des Übermaßverbots und hier speziell im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit rechtlich nicht zu halten. Da die gerichtliche Aufhebung des Verwaltungsakts auch das darin enthaltene Verhaltensgebot rückwirkend beseitigt, entfällt mit der Aufhebung zugleich der Grund für eine Bestrafung. Der rechtsstaatliche Grundsatz der Rechtssicherheit kommt nunmehr nicht mehr zum Tragen und vermag die Strafbarkeit einer Zuwiderhandlung gegen den Verwaltungsakt nicht mehr länger zu legitimieren. Das gilt selbst dann, wenn der strafbewehrte Verwaltungsakt nur eine bereits kraft Gesetzes bestehende Pflicht konkretisiert und insoweit nur deklaratorischen Charakter aufweist. Wenn die Zuwiderhandlung gegen gesetzlich statuierte Verhaltenspflichten als solche noch nicht strafbar ist, sondern die Strafbarkeit nach der gesetzlichen Regelung erst an die Zuwiderhandlung gegen eine durch den Verwaltungsakt bestätigte Verhaltenspflicht anknüpft, kann das Fortbestehen gesetzlicher Pflichten nichts am Wegfall einer Sanktionierung ändern, die an das Bestehen eines wirksamen Verwaltungsakts gebunden ist. 4. Die verfassungsrechtliche Fundierung verwaltungsund strafrechtlicher Folgenbeseitigung Dass die Strafbewehrung eines später rückwirkend aufgehobenen Verwaltungsakts verfehlt ist, wird auch daran deutlich, dass die verwaltungsgerichtlichen Aufhebung des strafbewehrten Verwaltungsakts nach heute unumstrittener Auffassung zur Folge hat, dass Vollstreckungsakte, die vorher wegen einer Zuwiderhandlung gegen den Verwaltungsakt vorgenommen wurden, rückwirkend rechtswidrig werden und deshalb – soweit sie sich noch nicht erledigt haben – aufzuheben sind.62 Wenn der Verwaltungsakt bereits vor seiner Aufhebung vollzogen wurde, besteht überdies 61 62
Kritisch hierzu schon Schenke, JR 1970, 451. Dazu eingehend Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnrn. 539 ff.
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ein verfassungsrechtlich garantierter, aus den Grundrechten ableitbarer Anspruch auf Beseitigung der unmittelbaren Vollzugsfolgen.63 Es kann dann aber nicht angehen, dass die strafrechtlichen Folgen der Zuwiderhandlung, die für den Betroffenen in der Regel weit gravierender sind, bestehen bleiben, die verwaltungsrechtlichen Folgen dagegen nicht. Ein solches Ergebnis wäre im Übrigen auch damit unvereinbar, dass demjenigen, der durch einen rechtswidrigen Verwaltungsakt verletzt wird, nach heute h.M.64 ein grundrechtlich fundierter Anspruch auf Beseitigung (Rücknahme) des Verwaltungsakts zusteht. Dieser Anspruch würde weitgehend entwertet, wenn der Betroffen trotz der späteren rückwirkenden Aufhebung des Verwaltungsakts gezwungen wäre, dem Verwaltungsakt zunächst Folge zu leisten, um sich nicht strafbar zu machen. Der Sache nach bedeutete dies jedenfalls nichts anderes, als dass der aufgehobene Verwaltungsakt für den Betroffenen als in der Vergangenheit nach wie vor verbindlich angesehen würde. Das Argument, eine „strafrechtliche Folgenbeseitigung“ sei nach der verwaltungsgerichtlichen Aufhebung eines strafbewehrten Verwaltungsakts ausgeschlossen, weil die Strafe nicht die unmittelbare Vollzugsfolge des Verwaltungsakts sei65, überzeugt nicht, weil die strafrechtliche Sanktionierung eines Verwaltungsakts sogar noch eine unmittelbarere Verbindung mit dem aufgehobenen Verwaltungsakt aufweist als selbständige Vollzugsakte. Unhaltbar ist insbesondere der in diesem Zusammenhang gebrachte Einwand66, eine Anknüpfung an das Institut der verwaltungsrechtlichen Folgenbeseitigung scheide schon deshalb aus, weil das Zuwiderhandeln gegen eine bestehende Gehorsamspflicht nicht etwa durch die rechtswidrige Maßnahme der Behörde bedingt sei, sondern die Behörde ja gerade erwarte, dass auch rechtswidrigen Anordnungen nicht zuwidergehandelt werde, solange diese wirksam sind. In der „Logik“ dieser Argumentation, die auf einer Verkennung der ratio des Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruchs beruht, wäre selbst für den in § 113 Abs. 1 S. 2 VwGO ausdrücklich anerkannten verwaltungsrechtlichen Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch kein Raum mehr. Auch hier erwartet die Behörde nämlich, dass ihrem rechtswidrigen Verwaltungsakt Folge geleistet wird. Erst wenn dieser durch das Verwaltungsgericht rückwirkend aufgehoben wird, entsteht ein durchsetzbarer Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch, der oftmals durch einen Amtshaftungsanspruch gem. § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG flankiert wird.67 63
S. hierzu mit eingehenden Nachweisen Kopp/Schenke, VwGO, § 113, Rdnr. 81. Eingehend Baumeister, Der Beseitigungsanspruch als Fehlerfolge des rechtswidrigen Verwaltungsakts, passim; ders., in: FS Schenke, 2011, S. 601 ff.; s. schon früher Schenke, in: FS Maurer, 725 ff. 65 So z. B. Arnhold, Die Strafbewehrung rechtswidriger Verwaltungsakte, S. 33 f.; Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 229. 66 Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 229. 67 S. zu dem – sich nach der Rechtsprechung des BGH ergebenden – merkwürdigen Ergebnis, dass dem Betroffenen wegen des rechtswidrigen Erlasses des später aufgehobenen Verwaltungsakts zwar unbestreitbar Vollzugsfolgenbeseitigungsansprüche und – bei schuldhaftem Verhalten der Amtswalter – sogar Schadensersatzansprüche gem. § 839 BGB i. V. m. 64
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Zudem besteht unbestrittenermaßen ein Anspruch auf Aufhebung der der Durchsetzung des strafbewehrten Verwaltungsakts dienenden (noch nicht erledigten) Vollstreckungsmaßnahmen, obwohl dieser Anspruch über eine verwaltungsrechtliche Vollzugsfolgenbeseitigung hinausreicht und deshalb bezeichnenderweise nicht über § 113 Abs. 1 S. 2 VwGO, sondern über § 113 Abs. 4 VwGO geltend zu machen ist.68 Weshalb dann die Strafbewehrung, welche ähnliche Funktionen wie die Verwaltungsvollstreckung erfüllt, durch die verwaltungsgerichtliche Aufhebung nicht berührt werden soll, ist nicht einsichtig. Allerdings wird auf der verfassungsrechtlichen Ebene noch nicht entschieden, auf welche Weise die Straflosigkeit der Zuwiderhandlung gegen einen später aufgehobenen rechtswidrigen Verwaltungsakt rechtsdogmatisch zu bewerkstelligen ist. Neben einem nachträglichen Tatbestandsausschluss kämen auch ein nachträglicher Ausschluss der Rechtswidrigkeit sowie ein außerhalb der Tatbestands-, Rechtswidrigkeits- und Schuldebene anzusiedelnder, auf das Fehlen der Strafbedürftigkeit abhebender Strafaufhebungsgrund zur Realisierung der „strafrechtlichen Folgenbeseitigung“ in Betracht.69 Von Bedeutung ist diese Einordnung für die Frage, welche Konsequenzen ein Irrtum des Betroffenen bezüglich der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts und dessen Aufhebbarkeit nach sich zieht. Sie kann hier nicht näher erörtert werden. Deshalb sei nur vermerkt, dass die Befürwortung eines Strafaufhebungsgrunds in erster Linie auf der Annahme beruht, dass ein Irrtum über dessen Vorliegen unbeachtlich wäre und dies die Effizienz strafbewehrter Verwaltungsakte – anders als bei Annahme eines Tatbestandsirrtums70 – erhöhte. Gegen die Bejahung eines Strafaufhebungsgrunds spricht allerdings nicht nur der Wegfall der durch die Verwaltung begründeten strafbewehrten Pflicht, sondern auch der Umstand, dass es hier nicht nur – wie es für einen Strafaufhebungsgrund typisch ist – an einem Strafbedürfnis mangelt. Es fehlt vielmehr bereits an der Strafwürdigkeit. Deren Fehlen ist aber im Einklang mit sonst allgemein anerkannten Grundsätzen überzeugender bereits auf der den Strafaufhebungsgründen vorgelagerten Ebene der Rechtswidrigkeit anzusiedeln, weshalb dann ein diesbezüglicher Irrtum als Verbotsirrtum zu qualifizieren ist (s. unten IV. 9.)71 Art. 34 GG zustehen, er zugleich aber wegen Nichtbefolgung des Verwaltungsakts nach wie vor strafbar sein soll, kritisch Schenke, JR 1970, 452. 68 Vgl. hierzu Kopp/Schenke, VwGO, § 113, Rdnr. 174. 69 Zur Abgrenzung dieser verschiedenen dogmatischen Ansätze Roxin, JuS 1988, 425 ff.; Wolter, GA 1996, 207 ff.; s. auch Bloy, Die dogmatische Bedeutung der Strafausschließungsund Strafaufhebungsgründe, 1976. 70 Nach Schönke/Schröder-Lenckner/Sternberg-Lieben, StGB, Vorbem. zu den §§ 32 ff., Rdnr. 130 wären hier Strafbarkeitslücken „im Hinblick auf § 16 StGB geradezu vorprogrammiert“. Sie sprechen sich deshalb für einen Strafaufhebungsgrund aus; ebenso Heine/Meimberg, Gutachten D zum 57. Deutschen Juristentag, S. 50; M. Schröder, VVDStRL Bd. 50, S. 224; Wüterich, NStZ 1987, 108. 71 Geht man davon aus, dass es sich bei dem Irrtum über die Gültigkeit (Wirksamkeit) der ein Verbot statuierenden Strafrechtsnorm um einen Verbotsirrtum handelt (s. z. B. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 25, Rdnr. 25 f.), so drängt es sich auf,
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5. Wertungswidersprüche bei Annahme fortdauernder Strafbarkeit Lediglich die verwaltungsrechtlichen Folgen des aufgehobenen Verwaltungsakts zu beseitigen, die strafrechtlichen Folgen aber auszuklammern, implizierte zudem unter dem Aspekt des Gleichheitssatzes schwerwiegende Bedenken. Es wäre damit unvereinbar, dass das Recht sonst die Beseitigung strafrechtlichen Folgen rechtswidrigen hoheitlichen Handelns gegenüber der Beseitigung seiner verwaltungsrechtlicher Folgen privilegiert. Deutlich wird dies an § 79 BVerfGG. Danach ist selbst bei rechtskräftigen Strafurteilen, die auf einer vom BVerfG für nichtig erklärten Norm oder auf der Auslegung einer Norm beruhen, die vom BVerfG für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist, die Wiederaufnahme des Verfahrens nach den Vorschriften der StPO zulässig (§ 79 Abs. 1 BVerfGG). Nicht durch die Nichtig- oder Unvereinbarkeitserklärung der Norm oder ihrer Auslegung gem. § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG berührt werden dagegen sonstige nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer solchen Norm oder Auslegung beruhen, also z. B. auch verwaltungsgerichtliche Entscheidungen und bestandskräftige Verwaltungsakte. Lediglich die Vollstreckung aus einer solchen Entscheidung ist nach § 79 Abs. 2 S. 2 BVerfGG unzulässig. Entsprechendes folgt aus § 183 VwGO i. V. m. dem auf Strafurteile analog anwendbaren § 79 Abs. 2 BVerfGG72 für den Fall, dass das Verfassungsgericht eines Landes die Nichtigkeit von Landesrecht feststellt oder Vorschriften des Landesrechts für nichtig erklärt. Nach § 47 Abs. 5 S. 2 VwGO i. V. m. § 79 Abs. 2 BVerfGG gilt dies auch für eine oberverwaltungsgerichtlichen Normenkontrollentscheidung, welche die Unwirksamkeit einer landesrechtlichen untergesetzlichen Vorschrift feststellt. § 79 BVerfGG und die §§ 183, 47 Abs. 5 S. 2 VwGO enthalten insoweit einen allgemeinen Rechtsgedanken, der die h.M. veranlasst, § 183 VwGO analog auf den Fall anzuwenden, dass ein bestandskräftiger Verwaltungsakt auf einer durch ein Landesverfassungsgericht für nichtig erklärten Norm beruht.73 Unter diesen Umständen implizierte es einen schwerwiegenden Wertungswiderspruch, der mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht in Einklang zu bringen wäre, wenn bei der Aufhebung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts zwar dessen verwaltungsrechtliche Folgen beseitigt würden, nicht hingegen dessen strafrechtlichen Folgen, die den Betroffenen ungleich stärker belasten. Das gilt umso mehr, als der verwaltungsrechtliche sofortige Vollzug eines rechtswidrigen strafbewehrten Verwaltungsakts durch die Situationsgebundenheit des Verwaltungshandelns sein spezifisches Geprädasselbe auch dann anzunehmen, wenn der das Verbot statuierende strafbewehrte Verwaltungsakt wegen seiner Nichtigkeit oder wegen seiner rückwirkenden gerichtlichen Aufhebung unwirksam ist. die Irrtumsproblematik stellt sich im Übrigen in verschärfter Weise, wenn die Strafbewehrung an die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts gebunden ist (selbst hier für die Bejahung eines Verbotsirrtums Arnhold, Die Strafbewehrung rechtswidriger Verwaltungsakts, S. 161 f. m.w.N.). 72 Kopp/Schenke, VwGO, § 183, Rdnr. 2 m.w.N. 73 Kopp/Schenke, VwGO, § 183, Rdnr. 5; eingehend Gerhard, Die Rechtsfolgen prinzipaler Normenkontrollen für Verwaltungsakte, 2008, S. 132 ff.
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ge erfährt, während sich die Frage der Verhängung einer Strafe immer erst ex post stellt74 und damit ausreichende Zeit für eine verbindliche Klärung der Rechtmäßigkeit bleibt. 6. Die Lösung strukturell vergleichbarer Probleme Die Straflosigkeit der Zuwiderhandlung gegen einen erst später aufgehobenen strafbewehrten Verwaltungsakt steht auch im Einklang mit dem Standpunkt, den die h.M. zu strukturell vergleichbaren Problemen einnimmt. So ist nach h.M. ein Ordnungsbeschluss, der wegen Zuwiderhandlung gegen einen Unterlassungstitel gem. § 890 ZPO erging, dann aufzuheben, wenn der Unterlassungstitel nachträglich kassiert wird, weil seine Voraussetzungen von Anfang an nicht vorlagen.75 Dasselbe wird vom BGH76 dann befürwortet, wenn ein Unterlassungstitel, dem der Vollstreckungsschuldner vorher zuwidergehandelt hat, nachträglich auf Grund einer beiderseitigen Erledigungserklärung der Parteien entfällt. Bedenkt man, dass die in § 890 ZPO vorgesehene Sanktion nach herrschender, durch das BVerfG77 bestätigter Auffassung nicht nur Zwangsmittel, sondern auch Sühne für eine begangene Zuwiderhandlung ist, so legt dies gleichfalls nahe, bei nachträglichem Wegfall eines strafbewehrten Verwaltungsakts die Strafbarkeit entfallen zu lassen.78 Zusätzliche Argumente für die Straflosigkeit der Zuwiderhandlung gegen einen später aufgehobenen rechtswidrigen Verwaltungsakt ergeben sich aus der heute allgemein akzeptierten Lösung einer anderen, strukturell vergleichbaren Problematik. Sie betrifft die in § 142 PatentG normierte Strafbarkeit bestimmter Patentrechtsverletzungen.79 Hier entspricht es der ganz herrschenden, schon durch das RG80 geteilten Auffassung, dass die nachträgliche Nichtigerklärung81 einer Patents (§ 22 PatentG), die zu dessen Erlöschen mit Wirkung ex tunc führt, zugleich die Straflosigkeit eines früheren Verstoßes gegen § 142 PatentG bewirkt.82 Ist der Betroffene wegen dieses
74 Auf die insoweit bestehenden unterschiedlichen Perspektiven verweist – insoweit durchaus zutreffend – auch BVerfG, NJW 1993, 582, das allerdings übersieht, dass dem nicht nur durch die Koppelung der Strafbarkeit mit der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts Rechnung getragen werden kann. 75 KG, NJW-RR 2004, 68; Thomas/Putzo-Seiler, ZPO, 33. Aufl. 2013, § 890 Rdnr. 35; Zöller-Stöber, ZPO, 29. Aufl., 2011, § 890 Rdnr. 9a und 25. 76 BGH, NJW 2004, 506 (508). 77 BVerfG, NJW-RR 2007, 860. 78 Vgl. auch Krause, JuS 1970, 221 (224). 79 S. hierzu schon früher Schenke, JR 1970, 453. 80 RGSt 14, 261; 30, 187. 81 Anders als die Nichtigkeitsklage des § 43 VwGO kommt der Nichtigkeitsklage des § 22 PatentG gestaltende Wirkung zu; vgl. Benkard-Rogge, PatentG, 10. Aufl. 2006, § 22, Rdnr. 3. 82 Benkard-Rogge/Grabinski, PatentG, § 142 Rdnr. 3; Busse, PatentG, 5. Aufl. 1999, § 142, Rdnr. 14.
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Verstoßes bereits rechtskräftig verurteilt, so kann er im Wege eines Wiederaufnahmeverfahrens gem. § 359 Nr. 5 StPO die Aufhebung des Urteils erreichen.83 7. Gewährleistung des durch Art. 19 Abs. 4 GG garantierten Rechtsschutzes Die hier vertretene Lösung gewährleistet auch den durch Art. 19 Abs. 4 GG garantierten effektiven Rechtsschutz. Das hat das BVerfG84 schon frühzeitig erkannt. Es führte in einem Beschluss des 2. Senats vom 23. 5. 1967, der zu der nach § 6 StVG a.F. strafbewehrten Vorladung zum Verkehrsunterricht erging, aus, dass es rechtsstaatlichen Grundsätzen und insbesondere Art. 19 Abs. 4 GG widerspräche, wenn die gerichtliche Nachprüfung der Rechtswidrigkeit der Vorladung schlechthin ausgeschlossen wäre. Dies treffe aber nicht zu, da die Vorladung zum Verkehrsunterricht im Verwaltungsrechtsweg in vollem Umfang nachprüfbar sei. Werde eine Vorladung im Verwaltungsrechtsweg aufgehoben, nachdem das Strafverfahren bereits abgeschlossen worden war, sei die Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 359 StPO möglich. Das BVerfG erkennt damit an, dass ein effektiver Rechtsschutz gegen einen strafbewehrten rechtswidrigen Verwaltungsakt nicht möglich wäre, wenn der Betroffene keine Möglichkeit besäße, durch Anfechtung des Verwaltungsakts die Strafbarkeit einer früheren Zuwiderhandlung zu beseitigen. Dem ist insbesondere in Bezug auf solche Verwaltungsakte beizupflichten, die typischerweise auf ein alsbaldiges, zeitlich eng eingegrenztes Verhalten gerichtet sind. Selbst die Möglichkeit eines vorbeugenden85 und vorläufigen86 Rechtsschutzes, die zur Sicherung eines effektiven Rechtsschutzes hier verfassungsrechtlich geboten ist, würde dem Betroffenen bei straf- und bußgeldbewehrten Verwaltungsakten wie der Auflösung einer Versammlung in der Regel nicht weiterhelfen. Er sähe sich deshalb gezwungen, einen strafbewehrten Verwaltungsakt trotz seiner Rechtswidrigkeit zu befolgen, da er sonst immer eine Straftat bzw. Ordnungswidrigkeit beginge. Das BVerfG erkennt in der Entscheidung vom 23. 5. 1967 auch zutreffend, dass es unter dem Aspekt des Art. 19 Abs. 4 GG nicht zu beanstanden ist, dass wegen der Tatbestandswirkung strafbewehrter Verwaltungsakte nicht die Strafgerichte, sondern die sachnäheren Verwaltungsgerichte über deren Rechtmäßigkeit zu befinden haben. Soweit die ordentlichen Gerichte ein anhängiges Strafverfahren nicht bereits analog § 262 StPO aussetzen87, sondern ein Strafurteil ergeht und rechtskräftig wird, verweist das BVerfG zu Recht auf die Möglichkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens 83
Benkard-Rogge/Grabinski, PatentG, § 22, Rdnr. 3. BVerfGE 22, 27. 85 S. hierzu Schenke, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Drittbearbeitung), 2009, Art. 19 Abs. 4, Rdnrn. 647 ff., speziell Rdnr. 653. 86 Schenke, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Drittbearbeitung), Art. 19 Abs. 4 GG, Rdnrn. 671 ff. 87 Zu der diesbezüglichen Pflicht s. unten IV. 10. 84
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gem. § 359 StPO. Einschlägig ist dabei § 359 Nr. 5 StPO, da die gerichtliche Aufhebung des strafbewehrten Verwaltungsakts eine neue Tatsache begründet, auf Grund derer eine Freisprechung zu erfolgen hat. Die Zweifel, die im Schrifttum gegenüber dem Vorliegen einer „neuen Tatsache“ geäußert werden, sind nicht berechtigt. So überzeugt das Argument nicht, die Tatsachen, die letztlich zur Aufhebung des rechtswidrigen Verwaltungsakts im Verwaltungsgerichtsverfahren führen, seien „dem Strafrichter […] meist nicht ,neu‘ i. S. des § 359 Ziff. 5 StPO, denn der Angeklagte [werde] sich in diesen Fällen regelmäßig bereits im Strafverfahren auf die Rechtswidrigkeit des strafbewehrten Verwaltungsakts berufen und auf die von ihm gleichzeitig betriebene verwaltungsgerichtliche Anfechtung verweisen“.88 Das geht schlicht daran vorbei, dass der Strafrichter, solange der Verwaltungsakt nicht aufgehoben worden war, daran gehindert war, den Zuwiderhandelnden freizusprechen. Auch der Umstand, dass nach § 85 Abs. 2 Nr. 1 OWiG eine Wiederaufnahme eines Ordnungswidrigkeitsverfahrens nicht zulässig ist, wenn gegen den Betroffenen lediglich eine Geldbuße bis zu zweihundertfünfzig Euro festgesetzt wurde, bietet keinen durchschlagenden Einwand89 gegen die hier vertretene Lösung, sondern zeigt nur, dass bei bußgeldbewehrten Verwaltungsakten zusätzliche zwingende Gründe für die gebotene Aussetzung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens (s. auch unten IV. 10.) bestehen. 8. Zweifelsfälle: Unaufhebbare und nachträglich geheilte rechtswidrig erlassene Verwaltungsakte sowie sonstige nachträglich rechtmäßig oder rechtswidrig werdende Verwaltungsakte Ob der Verwaltungsakt wegen eines materiellen oder eines formellen Fehlers aufgehoben wurde, spielt für das Entfallen der Strafbarkeit keine Rolle.90 Die mitunter vertretene Ansicht, die Aufhebung des Verwaltungsakts wegen eines nur formellen Fehlers habe keinen Einfluss auf die Strafbarkeit einer zuvor begangenen Zuwiderhandlung, überzeugt nicht. Die strafbewehrte Pflicht entfällt mit der Aufhebung des Verwaltungsakts, unabhängig von den hierfür maßgeblichen Gründen. Damit bleibt für eine Bestrafung kein Raum mehr.91 Allerdings führt keineswegs jeder Verfahrens88
So Haaf, Die Fernwirkungen gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 259. So aber unter Bezugnahme auf den früheren § 58 Abs. 2 OWiG, der eine dem heutigen § 85 Abs. 2 Nr. 1 OWiG entsprechende Regelung enthielt, Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 259. 90 A.A. aber Schönke/Schröder-Heine, Vorbem. zu den §§ 324 ff., Rdnr. 22, wonach ein Strafaufhebungsgrund nur dann anzunehmen ist, wenn die Anfechtung aus materiellen Gründen erfolgreich ist. 91 Dass ein Folgenbeseitigungsanspruch dann nicht mehr besteht, wenn der durch einen rechtswidrigen Verwaltungsakt zunächst geschaffene rechtswidrige Zustand später legalisiert wird (Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 30, Rdnr. 15), beruht auf dem Grundsatz „dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est“, vermag damit aber einen „strafrechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch“ nicht in Frage zu stellen. 89
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fehler, der einem Verwaltungsakt anhaftet, zu dessen Aufhebung. Handelt es sich um einen der in § 46 VwVfG genannten Verfahrensfehler, so ist der Verwaltungsakt trotz einer durch ihn begründeten Rechtsverletzung92 nicht aufzuheben. Die strafbewehrte Pflicht zu seiner Befolgung besteht deshalb fort.93 Fraglich kann nur sein, welche strafrechtlichen Konsequenzen eine Heilung von Verwaltungsfehlern gem. § 45 VwVfG hat, die nach der Zuwiderhandlung erfolgte. Eine solche Heilung ist bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines gerichtlichen Verfahrens möglich. Für eine diesbezügliche Stellungnahme muss zunächst geklärt werden, welche verwaltungsrechtlichen Folgen die Heilung eines Verfahrensfehlers hat. Das wird unterschiedlich beurteilt. Teilweise nimmt man an, die Heilung führe dazu, dass der Verwaltungsakt von Anfang an als rechtmäßig gelte. Richtigerweise und im Einklang mit der wohl h.M. dürfte die Heilung aber erst von dem Moment an eintreten, in dem der Verfahrensfehler, der einem Verwaltungsakt anhaftete (z. B. das Unterlassen einer Anhörung oder einer gebotenen Begründung), behoben wird. Die Heilung wirkt damit nicht ex tunc, sondern ex nunc.94 Dies bedeutet aber, dass der Verwaltungsakt bis zum Zeitpunkt der Heilung rechtswidrig war. Er kann deshalb mit dem Ziel angefochten werden, ihn für den Zeitraum bis zur Heilung aufzuheben.95 Das Rechtsschutzbedürfnis für eine solche Klage ergibt sich daraus, dass die Aufhebung des Verwaltungsakts Voraussetzung dafür ist, dass eine frühere Zuwiderhandlung straflos wird. Entsprechende Probleme können sich auch bei materiell fehlerhaften Verwaltungsakten ergeben, wenn die Fehlerhaftigkeit erst nach der Zuwiderhandlung behoben wird, so z. B., wenn ein ermessensfehlerhafter Verwaltungsakt noch während des gerichtlichen Verfahrens gem. § 114 S. 2 VwGO ergänzt wird. Auch hier führt die Ergänzung richtigerweise zu einer Heilung nicht mit Wirkung ex tunc, sondern nur mit Wirkung ex nunc.96 Deshalb muss es hier gleichermaßen möglich sein, den Verwaltungsakt für den Zeitraum bis zu seiner Ergänzung aufzuheben, da nur auf diese Weise die Bestrafung der früheren Zuwiderhandlung ausgeschlossen werden kann.97 92
S. hierzu näher Schenke, DÖV 1986, 305 ff. So im Ergebnis auch Haaf, Die Fernwirkungen gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 281. 94 Eingehend hierzu Schenke, VerwArch. Bd. 97 (2006), 592 (604 ff.); Schoch, Jura 2007, 28 (32) sowie Kopp/Schenke, VwGO, § 113, Rdnr. 59; a.A. (Heilung mit Wirkung ex tunc) Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 7. Aufl. 2008, § 45, Rdnr. 21. 95 Eine solche Klage, mit der die Aufhebung des Verwaltungsakts begehrt wird, scheitert allerdings – wie oben gezeigt – dann, wenn der geheilte Verfahrensfehler ohnehin nach § 46 VwVfG unbeachtlich war. 96 Dazu näher Kopp/Schenke, VwGO, § 113, Rdnrn. 61 und 70. 97 Vgl. demgegenüber aber Schönke/Schröder-Heine, Vorbem. zu den §§ 324 ff. Rdnr. 22: „Zweifelhaft sind hingegen die Fälle, bei denen ein belastender Verwaltungsakt mit der von der Behörde gegebenen Begründung nicht haltbar, mit einer anderen jedoch im Rahmen eines Ermessensspielraums liegen würde. Hier dürfte dem Täter ein Strafaufhebungsgrund versagt bleiben.“ 93
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Nicht berührt wird die Strafbarkeit der Zuwiderhandlung gegen einen materiell rechtswidrigen Verwaltungsakt hingegen in dem umgekehrten Fall, bei dem der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Zuwiderhandlung noch rechtmäßig war, später aber wegen einer Veränderung der Sach- oder Rechtslage mit Wirkung für die Zukunft rechtswidrig wird.98 Bedeutsam werden kann dies vor allem bei Verwaltungsakten mit Dauerwirkung. Hier ist eine verwaltungsgerichtliche Aufhebung des Verwaltungsakts erst von dem Zeitpunkt der Veränderung an möglich. Es bleibt deshalb bei der Strafbarkeit. 9. Die Unbedenklichkeit einer nachträglichen Strafausschließung Gegen eine Strafausschließung, die mit der Aufhebung des Verwaltungsakts verbunden ist, wird immer wieder eingewandt, dass „eine nachträgliche Veränderung der normativen Handlungsgrundlage durch Begründung oder Aufhebung von Verhaltenspflichten […] ausgeschlossen“ sei.99 Dem ist jedoch nicht zu folgen. Das wird bereits daran deutlich, dass – wie schon erwähnt – die verwaltungsrechtliche Verhaltenspflicht, die durch den rechtswidrigen strafbewehrten Verwaltungsakt begründet wird, nach einhelliger Meinung mit dessen rückwirkender Aufhebung nachträglich entfällt. Richtig ist allerdings, dass eine nachträgliche rückwirkende Begründung von Verhaltenspflichten unter dem Aspekt der Rechtssicherheit rechtlich bedenklich ist. Geht es um eine strafrechtliche Sanktionierung, ist sie im Hinblick auf den Rechtsgedanken, der Art. 103 Abs. 2 GG zugrunde liegt, sogar generell ausgeschlossen. Gegenüber einer begünstigenden rückwirkenden Aufhebung der Strafbarkeit greifen diese Bedenken aber nicht durch. Nachträgliche Strafausschließungsgründe100 in Gestalt von Strafaufhebungsgründen sind dem Strafrecht auch sonst bekannt. Man denke nur an den straflosen Rücktritt vom Versuch einer strafbaren Handlung (§ 24 StGB) oder an § 306e Abs. 2 StGB, nach dem bei einer fahrlässigen Brandstiftung (§ 306d StGB) die Strafbarkeit entfällt, wenn der Täter freiwillig den Brand löscht, bevor ein erheblicher Schaden entstanden ist.101 § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG, der eine Strafaufhebung nach der verfassungsgerichtlichen Nichtigerklärung einer Norm selbst dann zulässt, wenn ein rechtskräftiges Strafurteils vorliegt und der – wie schon angesprochen – analog auch auf landesverfassungsgerichtliche und oberverwaltungsgerichtliche Nichtigerklärungen anwendbar ist, bestätigt dies ebenfalls. Wenn ein Gesetz, das bei Beendigung der Tat galt, vor der Entscheidung geändert 98
Dazu eingehend Kopp/Schenke, VwGO, § 113, Rdnrn. 42 ff. So aber Lorenz, DVBl 1970, 169 und dem folgend Berg, WiVerw 1982, 169 (179 ff.); OLG Hamburg, NJW 1980, 1007, 1108; Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 239 f.; Winkelbauer, Zur Verwaltungsakzessorietät des Umweltstrafrechts, 1985, S. 44; OLG Frankfurt, StV 1988, 301 (302). 100 Zu Strafausschließungsgründen Wolter, FS Pötz/GA, 1993, 269; ders., GA 1996, 207; s. auch Roxin, JuS 1988, 425. 101 Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2006, § 23, Rdnr. 4. 99
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wird und die Tat nach dem neuen Gesetz nicht mehr strafbar ist, so entfällt die Strafbarkeit zudem nach § 2 Abs. 3 StGB.102 Weshalb ein solcher Strafaufhebungsgrund bei nachträglicher rückwirkender Aufhebung des strafbewehrten Verwaltungsakts grundsätzlich ausgeschlossen sein soll, ist nicht einsichtig.103 Das gilt umso mehr, als der verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ebenso wie der grundrechtlich fundierte Anspruch auf rückwirkende Beseitigung eines rechtsverletzenden Verwaltungsakts zusätzlich für einen solchen „strafrechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch“ sprechen.104 Letzterer wird bei nachträglichem Wegfall eines früher nicht befolgten Unterlassungstitels (§ 890 ZPO) sogar in der Rechtsprechung des BGH105 anerkannt. Auch die mit Wirkung ex tunc erfolgte Nichtigerklärung eines Patents führt nach ganz h.M. zur Straflosigkeit einer früheren, zunächst nach § 142 PatentG strafbaren Patentverletzung (s. oben III. 6.). Dabei spielt es in diesem Zusammenhang auch keine entscheidende Rolle, ob man eine Strafausschließung damit begründet, dass die Zuwiderhandlung wegen der nachträglichen rückwirkenden Aufhebung des strafbewehrten Hoheitsakts nicht tatbestandsmäßig bzw. rechtmäßig sei, oder ob man sie darauf stützt, dass es hier nur an der Strafbedürftigkeit der Zuwiderhandlung fehle und sie damit außerhalb der Tatbestands-, Rechtswidrigkeits- und Schuldebene ansiedelt (s. hierzu auch oben IV. 4.). 10. Keine Bedenken unter dem Aspekt der Verjährung Unter dem Aspekt der Verjährung ergeben sich ebenfalls keine durchschlagenden Einwände gegen eine nachträgliche Strafaufhebung.106 Wenn der Betroffene einem wirksamen, aber noch nicht bestandskräftigen Verwaltungsakt zuwidergehandelt hat, so hat das Strafgericht bei einer inzwischen erfolgten Anfechtung des Verwaltungsakts das Strafverfahren analog § 262 StPO solange auszusetzen, bis die Frage des Fortbestands des Verwaltungsakts geklärt ist.107 Der Betroffene ist also nicht gehalten, sich erst in einem Wiederaufnahmeverfahren gem. § 359 Nr. 5 StPO gegen seine Bestrafung zu wehren und sich damit zunächst dem Makel einer Bestrafung auszusetzen. Besteht aber eine Verpflichtung zu einer gerichtlichen Aussetzung des Straf-
102 Dazu, dass § 2 Abs. 3 StGB auch auf den Fall der nachträglichen Aufhebung des Strafgesetzes als milderes Gesetz anwendbar ist, s. Schmitz, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl. 2011, § 2 Rdnr. 8 und 27; vgl. auch BGH, NJW 1969, 2025. 103 Dazu, dass sich Strafaufhebungsgründe im Übrigen auch aus einer zivilrechtlichen Rückwirkung, z. B. aus der Anfechtung einer Übereignung ergeben können, s. Fischer, StGB, 59. Aufl. 2011, vor § 32, Rdnr. 17b. 104 S. neben Schenke, JR 1970, 449 (451) auch Stern, FS Lange, S. 862. 105 BGH, NJW 2004, 506. 106 Nicht überzeugend daher die auf eine zu befürchtende Verjährung gestützte Argumentation von Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 230. 107 Gerhards, NJW 1978, 89; Schenke, JR 1970, 454; Wüterich, NStZ 1987, 108; vgl. auch BayObLG, NJW 1968, 1848.
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verfahrens (s. auch oben IV. 7.), wird hierdurch nach h.M. die Verjährung ausgeschlossen.108 11. Vereinbarkeit mit § 113 StGB Die hier vertretene Lösung ist schließlich auch mit § 113 StGB vereinbar. Die einfachgesetzliche Vorschrift des § 113 StGB wäre ohnehin nicht in der Lage, die verfassungsrechtlich gebotene Straflosigkeit der Zuwiderhandlung gegen einen später aufgehobenen rechtswidrigen Verwaltungsakt in Frage zu stellen. Darüber hinaus berührt diese Straflosigkeit – entgegen einer gelegentlich geäußerten Behauptung109 – die Strafbarkeit eines Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in keiner Weise. Wenn der Betroffene gegenüber einem Vollstreckungsbeamten mit Gewalt oder Drohung mit Gewalt Widerstand leistet oder ihn tätlich angreift, so ändert eine spätere verwaltungsgerichtliche Aufhebung des Verwaltungsakts nichts an einer nach § 113 StGB begründeten Strafbarkeit.110 Die Nichtbefolgung eines Verwaltungsakts ist nicht mit dem aktiven Widerstandsleisten gleichzusetzen, welches § 113 StGB unter Strafe stellt. Zudem ist die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung i. S. des § 113 Abs. 3 StGB, die sich auf Vollstreckungsmaßnahmen bezieht, von der der Rechtmäßigkeit des vollstreckten Verwaltungsakts zu trennen. Überdies interpretiert die ganz h.M. den Terminus „rechtmäßige Diensthandlung“ sehr weit. Auch wenn ein Vollstreckungsakt wegen der gerichtlichen Aufhebung des strafbewehrten Verwaltungsakts nachträglich rückwirkend rechtswidrig wird, stellt er deshalb dennoch eine rechtmäßige Diensthandlung i. S. des § 113 StGB dar. Wenn man insoweit anderer Ansicht wäre, böte § 113 StGB im Übrigen sogar ein zusätzliches Argument für die Straflosigkeit der Zuwiderhandlung gegen einen später aufgehobenen rechtswidrigen Verwaltungsakt. Wäre nämlich selbst der aktive Widerstand gegen eine rechtswidrige Amtshandlung wegen § 113 Abs. 3 StGB nicht strafbar, so bestünden erst recht keine Bedenken gegenüber einem „passiven Widerstand“ Betroffener durch Nichtbefolgung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts, der später gerichtlich aufgehoben wird. Letzterer berührt die staatliche Autorität weit weniger. 12. Konsequenzen bei Versäumung der Anfechtungsfristen Probleme könnten sich allerdings noch daraus ergeben, dass den Zuwiderhandelnden im Hinblick auf die Rechtsprechung des BGH in der Regel nicht bekannt sein 108
Schlüchter/Velten, in: SK StPO, § 262, Rdnr. 26 m.w.N. So etwa bei Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 9. Aufl. 1988, § 80, Rdnr. 53b. 110 Nicht überzeugend daher Eyermann/Föhler, Verwaltungsgerichtsordnung, § 80 Rdnr. 53b, die der Ansicht waren, die hier vertretene Lösung habe die untragbare Konsequenz, dass ein Widerstand gegen die Staatsgewalt zur Durchsetzung eines sofort vollziehbaren Verwaltungsakts ebenfalls straffrei bleiben müsse, wenn der Verwaltungsakt nachträglich durch die Verwaltungsgerichte aufgehoben wird. Richtig hingegen Paeffgen, in: Kindhäuser/ Neumann/Paeffgen, Strafgesetzbuch, 3. Aufl. 2010, § 113, Rdnr. 46. 109
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wird, dass zur Aufhebung ihrer Strafbarkeit der strafbewehrte Verwaltungsakt angefochten werden muss. Entschärft wird diese Problematik freilich meist schon dadurch, dass die Verwaltung in der Regel bemüht sein wird, einen strafbewehrten Verwaltungsakt, der vom Betroffenen nicht beachtet wird, im Wege der Verwaltungsvollstreckung durchzusetzen, und ein Schutz gegen Vollstreckungsmaßnahmen nach heute ganz h.M. nur durch Anfechtung des zugrunde liegenden Verwaltungsakts möglich ist.111 Der Erfolg einer solchen Klage führt dann zugleich zur Straflosigkeit der Zuwiderhandlung. Dasselbe gilt, wenn der rechtswidrige Verwaltungsakt vollzogen wurde und der Betroffene ihn zur Durchsetzung eines verwaltungsrechtlichen Folgenbeseitigungsanspruchs (§ 113 Abs. 1 S. 2) anficht. Wenn der Verwaltungsakt nicht vollstreckt wurde und der Betroffene die fristgerechte Ergreifung förmlicher Rechtsbehelfs versäumte, weswegen der Verwaltungsakt bestandskräftig wurde, käme bei einer unterstellten Änderung der Rechtsprechung in der hier befürworteten Richtung immer noch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht. Auch ohne diese bietet sich in diesem Fall eine Verpflichtungsklage an, die auf Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsakts zu richten wäre. Jedenfalls im Hinblick auf die gravierenden strafrechtlichen Folgen, welche die Zuwiderhandlung gegen einen Verwaltungsakt ohne dessen Aufhebung zur Folge hätte, dürfte ein sonst nach Eintritt der formellen Bestandskraft des Verwaltungsakts bestehendes Rücknahmeermessen gem. § 48 Abs. 1 S. 2 VwVfG bis zur Etablierung einer neuen, von der bisherigen Judikatur abweichenden Rechtsprechung auf „Null“ reduziert sein. Bei Erfolg einer solchen Klage kann bei inzwischen eingetretener Rechtskraft des Strafurteils oder eines Bußgeldbescheids ein Wiederaufnahmeverfahren nach § 359 Nr. 5 StPO bzw. § 85 OWiG i. V. m. § 359 Nr. 5 StPO betrieben werden (s. oben IV. 7.).112 13. Keine Gefährdung der Effizienz strafbewehrter Verwaltungsakte Die hier befürwortete Lösung stellt die Effizienz strafbewehrter Verwaltungsakte nicht ernstlich in Frage. In den Fällen, in denen ein strafbewehrter Verwaltungsakt nicht sofort vollziehbar ist und durch die Betroffenen nicht angegriffen wird, wird seine wirksame Durchsetzung sogar dadurch gefördert, dass sich der Zuwiderhandelnde nach der hier befürworteten Konzeption – anders als nach der BGH-Recht111 BVerwG, NVwZ 2009, 122; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnrn. 512 und 542 m.w.N. 112 Soweit sich die Rechtswidrigkeit des strafbewehrten Verwaltungsakts für die Strafgerichte aufdrängt, wäre bei einer Änderung der strafgerichtlichen Rechtsprechung im Übrigen erwägbar, das Strafgericht unter dem Aspekt der prozessualen Fürsorgepflicht als verpflichtet anzusehen, den Angeklagten auf die Möglichkeit einer Anfechtung des Verwaltungsakts und eine auf diese Weise herbeizuführende Straflosigkeit hinzuweisen. Machte dieser von dieser Möglichkeit Gebrauch, wäre das Verfahren analog § 262 StPO auszusetzen. Andernfalls schieden nach Eintritt der Bestandskraft sowohl eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wie auch eine Verpflichtungsklage grundsätzlich aus.
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sprechung – strafbar macht. Dies gilt unabhängig von der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts. Das mag zwar aus der Warte desjenigen, der durch einen rechtswidrigen Verwaltungsakt betroffen ist, zunächst befremden. Es ist aber nicht zu beanstanden, weil dem Betroffenen die Möglichkeit offensteht, sich der Bestrafung durch Anfechtung des Verwaltungsakts zu entziehen. Handelt der Betroffene einem nicht sofort vollziehbaren strafbewehrten Verwaltungsakt zuwider, ohne diesen anzufechten, wird ohnehin meist von dessen Rechtmäßigkeit auszugehen sein. Selbst bei Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts vermag sich der Betroffene der Bestrafung zu entziehen, wenn er vor der Zuwiderhandlung Widerspruch bzw. Anfechtungsklage erhoben hat. Unbefriedigende Konsequenzen könnte die hier vertretene Auffassung allenfalls dann haben, wenn der rechtmäßige Verwaltungsakt sofort vollziehbar ist, der Betroffene aber fälschlich von der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts ausgeht und ihm deshalb in der Annahme zuwiderhandelt, er werde später verwaltungsgerichtlich aufgehoben. Allerdings werden Fälle dieser Art selten sein. Der Betroffene wird sich nämlich dem Verwaltungsakt häufig selbst dann nicht widersetzen, wenn er der Ansicht ist, der Verwaltungsakt sei rechtswidrig, weil das Damoklesschwert der Strafe über ihm schwebt und er sich nicht dem Risiko einer eventuellen Bestrafung aussetzen will.113 Das dürfte selbst dann gelten, wenn man bei einem Irrtum über die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts von einem Tatbestandsirrtum ausginge. Erst recht gilt dies aber dann, wenn man einen solchen Irrtum richtigerweise als einen Verbotsirrtum gem. § 17 StGB qualifiziert. Dieser ändert bei seiner Vermeidbarkeit nämlich nichts am Vorliegen einer strafbaren Handlung und könnte allenfalls zu einer Strafmilderung gem. §§ 17 S. 2, 49 StGB führen. Er ermöglicht damit eine flexiblere Lösung, als sie bei einem Irrtum über einen Strafaufhebungsgrund erzielt werden könnte (s. dazu oben IV. 4.). Bei Zuwiderhandlungen gegen einen sofort vollziehbaren Verwaltungsakt bleibt es der Behörde im Übrigen ohnehin unbenommen, den Verwaltungsakt im Wege der Verwaltungsvollstreckung zwangsweise durchzusetzen. Deshalb sind auch aus diesem Grund keine nennenswerten Effizienzverluste zu befürchten.
V. Resümee Die hier befürwortete Lösung trägt den verfassungsrechtlichen Bedenken Rechnung, welche speziell unter dem Aspekt der Grundrechte und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip gegen eine uneingeschränkte straf- und ordnungsrechtliche Sanktionierung rechtswidriger Verwaltungsakte bestehen und die auch das BVerfG114 in seinem Beschluss vom 1. 12. 1992 ausdrücklich anerkannt hat. Indem sie – insoweit abweichend vom BVerfG – die Straflosigkeit stets an die gerichtliche Aufhebung des Verwaltungsakts bindet, wird sie aber zugleich dem rechtsstaatlichen Grundsatz der 113 114
So z. B. auch Wüterich, NStZ 1987, 108. BVerfG, NJW 1993, 581 ff.
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Rechtssicherheit gerecht und respektiert die Kompetenzverteilung innerhalb der Gerichtsbarkeiten, wie sie in der Logik der Tatbestandswirkung von Verwaltungsakten geboten ist. Sie fügt sich nahtlos in das Rechtsschutzsystem ein und korrespondiert uneingeschränkt mit den Vorgaben des Verwaltungsprozessrechts und des materiellen Verwaltungsrechts. Es besteht kein Anlass, diese Vorgaben in Bezug auf die Strafbarkeit zu modifizieren, zumal dadurch die Effizienz strafbewehrter Verwaltungsakte nicht in Frage gestellt wird. Bedenkt man, dass die Straflosigkeit des Ungehorsams gegen fehlerhafte hoheitliche Regelungen bereits in der Literatur des 19. Jahrhunderts allgemein angenommen wurde115, so sollte es in der grundgesetzlich geprägten Verfassungslandschaft nicht schwer fallen, von der Straflosigkeit eines Zuwiderhandelns gegen solche Regelungen jedenfalls dann auszugehen, wenn jene durch die inzwischen voll etablierten Verwaltungsgerichte wegen ihrer Fehlerhaftigkeit aufgehoben wurden.116
115 So Erichsen, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Grundlagen der Lehre vom fehlerhaften belastenden Verwaltungsakt und seiner Aufhebung im Prozess, 1971, S. 200 m.w.N.; s. z. B. Robert v. Mohl, Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg, Erster Teil, 1829, S. 280: „Allerdings ist es die Pflicht des Gerichts denjenigen, welcher einem wirklich verfassungswidrigen Befehl nicht gehorcht, von aller Strafe freizusprechen.“ (zit. nach Wüterich, NStZ 1987, 108). 116 S. dazu auch Wüterich, NStZ 1987, 108.
Der Siegeszug der Gefahr im Strafrecht Von Friedrich-Christian Schroeder Ein langes Gespräch auf einer Wanderung anlässlich des Strafrechtslehrertages in Bern 1983 führte zur Feststellung einer wissenschaftlichen und menschlichen Sympathie, die bis heute anhält. Ihr Ausdruck sollen auch die folgenden Zeilen sein.
I. Entstehung Es gibt wohl kaum einen Begriff im Strafrecht, der eine derartige Karriere gemacht hat wie der Begriff der Gefahr, und an ihr hat in neuerer Zeit der Jubilar wesentlich mitgewirkt. Ursprünglich war der Begriff in seinem heutigen Inhalt in der deutschen Sprache unbekannt; das Wort hatte eine andere Bedeutung. Im germanischen Recht bedeutete „fara“ Hinterlist; das „Ungefährwerk“ war eine unabsichtliche Tat.1 Noch in der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 bedeutet das Wort „geuerlich“2 „vorsätzlich“ (Art. 159 u. ö. 3). Allerdings verlangte Art. 140, dass bei der Notwehr der Angegriffene „an [= ohne] ferlichkeyt oder verletzung seines leibs“, nicht entweichen könne, was offensichtlich „Gefährdung“ bedeutet. Auch in den folgenden Strafgesetzbüchern, dem Codex Juris Bavarici Criminalis von 1751 und der österreichischen Constitutio Criminalis Theresiana von 1768, findet sich der Begriff „gefährlich“ nur als Voraussetzung des Angriffs bei der Notwehr. Das preußische Allgemeine Landrecht von 1791 schafft dann erstmals einen eigenen Abschnitt „Von Beschädigungen mit gemeiner Gefahr“, der neben einer allgemeinen Strafschärfung bei Gefährdung mehrerer Bürger die gefährliche Gebäudebeschädigung, die Vernichtung von Lebensmitteln, die Verbreitung von Viehseuchen, die Vergiftung von Wiesen, die Erpressung durch Androhung gemeinschädlicher Unternehmen, die Brandstiftung und die Verursachung von Überschwemmungen umfasst (II. Teil, 20. Titel, 17. Abschnitt). 1
His, Geschichte des deutschen Strafrechts bis zur Karolina, 1928, S. 9. S. a. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 23. Aufl. 1999, S. 305. 2 Der Buchstabe „u“ bedeutet am Silbenanfang meistens „f“. 3 Die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. (Carolina), hrsg. und erl. von Friedrich-Christian Schroeder, 2000.
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In die Wissenschaft fand diese Innovation erst langsam Eingang, dann aber umso ungebändigter. Die Lehrbücher zu Beginn des 19. Jahrhunderts benutzen den Begriff der Gefahr zur Einordnung großer Bereiche des Besonderen Teils. So gliedert Grolman die Straftaten in die drei Gruppen „Verbrechen gegen die Rechte einzelner Individuen“, „Gemeingefährliche Verbrechen“ (unter welche er Landfriedensbruch, Beleidigung der Religion, Brandstiftung, Münz- und Weinfälschung sowie Bankrott rechnet) und Verbrechen gegen den Staat.4 Feuerbach unterscheidet innerhalb der Privatverbrechen Verbrechen gegen ursprüngliche und gegen erworbene Rechte, unter letzteren „Individuellgefährliche Verletzung des Rechts auf Sachen“ (darunter Diebstahl!), „Gemeingefährliche Verletzung des Rechts an Sachen“ und „Individuellgefährliche Verletzung des Rechts an Verträgen“ (darunter Ehebruch und Polygamie!).5 In dem von ihm entworfenen bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 übernimmt Feuerbach im wesentlichen die Vorschriften des preußischen Allgemeinen Landrechts über die gemeingefährlichen Beschädigungen, allerdings versteckt unter der Überschrift „Von der Beschädigung des Eigenthums“ im 2. Buch „Verbrechen“ mit dem Hinweis, dass diese „wenn mit gemeiner Gefahr verbunden“ auch nach dem 3. Buch als Vergehen bestraft werde (Art. 244). Allgemein wurde für die Vornahme gefährlicher Handlungen bei Erfolgseintritt eine Bestrafung wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts angeordnet (Art. 64). Aufgrund seiner psychologischen Zwangstheorie führte Feuerbach den Entschuldigungsgrund der Bedrohung mit einer Gefahr für das Leben ein (Art. 121). Hieraus entwickelte sich eine immer stärkere Bedeutung der Gefahr für die Strafbefreiung.
II. Die wissenschaftliche Entwicklung Eine erste wissenschaftliche Darstellung des Gefährdungsdelikts legte 1825 der sächsische Justizrat Christoph Carl Stübel vor.6 Sie ging jedoch auf das bestehende positive Recht überhaupt nicht ein und schlug stattdessen de lege ferenda ein allgemeines Gefährdungsdelikt vor, das mit Gefängnisstrafe bis zu zwei Jahren, in geringfügigen Fällen bis zu drei Monaten bedroht werden sollte. Mit diesem Vorschlag verfielen auch seine bemerkenswerten Ausführungen zum Begriff der Gefahr der Nichtbeachtung. Wesentlich mehr Erfolg hatte Karl Binding. Im ersten Band seiner „Normen“ unterschied er „drei Arten der Zweckverfolgung durch die Normen“, nämlich Verän4
Criminalrechts-Wissenschaft, 4. Aufl., 1825. Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 11. Aufl. 1832, S. 143 ff. 6 Über gefährliche Handlungen, als für sich bestehende Verbrechen, zur Berichtigung der Lehre von verschuldeten Verbrechen, nebst Vorschlägen zur gesetzlichen Bestimmung über die Bestrafung der ersteren, Neues Archiv des Criminalrechts, 8. Bd., S. 236 – 323. 5
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derungsverbote, Gefährdungsverbote und Ungehorsamsverbote.7 Binding baute seine Lehre vom Gefährdungsdelikt in den folgenden Auflagen des Werkes zu einer systematischen Darstellung aus.8 Binding war es auch, der in die Dogmatik den Begriff des „maßvollen“ oder „statthaften Risikos“ einführte,9 das später als „erlaubtes Risiko“ eine große Bedeutung im Rahmen der Fahrlässigkeit oder als eigenständiger Rechtfertigungsgrund erhielt.10 Übrigens wählte Binding diesen Begriff, der später eine solche Karriere in der Strafrechtsdogmatik machte, um auch die Verletzung einzubeziehen.11 Unter Berufung auf Feuerbachs knappe Bemerkung in seinem Lehrbuch, dass die Versuchshandlung mit der beabsichtigten Straftat in ursächlichem Zusammenhange stehen und objektiv gefährlich sein müsse,12 wurde die objektive Gefährlichkeit zum Strafgrund und zum entscheidenden Merkmal des Versuchs. Mit dieser Begründung behandelte v. Rohland in der ersten Monographie zur Gefahr im Strafrecht (1886) im letzten ihrer vier Abschnitte den Versuch.13 V. Hippel verwies in seinem Lehrbuch von 1930 für den Begriff der Gefahr auf seine Darstellung des Versuchs.14 In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts gab es noch einmal einen Rückschlag, in dem unter dem Einfluss der kausalen Betrachtungsweise die objektive Existenz der Gefahr geleugnet wurde, da bei Nichteintritt der Gefahr keine Gefahr vorgelegen habe und diese somit nur ein subjektives Urteil gewesen sei15. Diese Auffassung bildete den Gegenstand langwieriger Auseinandersetzungen16, konnte sich aber nicht durchsetzen. Gegen den Widerstand von Koryphäen wie Binding17 und Beling18 setzten sich die Figuren der abstrakten Gefährdungsdelikte und der abstrakten Gefahr immer mehr durch.
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Die Normen und ihre Übertretung, 1. Bd., 1872, S. 38 ff., 187 ff. Zuletzt 3. Aufl. 1916, S. 368 – 397. 9 Die Normen, Bd. IV, 1919, S. 432 ff. 10 S. u. a. Kienapfel, Das erlaubte Risiko im Strafrecht, 1966; Preuß, Untersuchungen zum erlaubten Risiko im Strafrecht, 1974. 11 AaO (Fn. 8) S. 434 („der Begriff der Gefährdung darf nur für eine einzelne Stufe dessen, worauf es hier ankommt, zur Verwendung gelangen“). 12 Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, ab der 4. Aufl. 1808 bis zur 14. Aufl. 1847, § 42. 13 S. 66 ff. 14 Deutsches Strafrecht. 2. Bd. Das Verbrechen. Allgemeine Lehren, S. 102, 147, 403 ff. 15 Hertz, Das Unrecht und die allgemeinen Lehren des Strafrechts, Bd. I, 1880, S. 73 ff.; Finger, Der Begriff der Gefahr und seine Anwendung im Strafrecht, 1889, S. 17 f.; v. Buri, Beiträge zur Theorie des Strafrechts und zum Strafgesetzbuch, 1894, S. 368 ff. 16 Hierzu Demuth, Der normative Gefahrbegriff, 1980, S. 60 ff. 17 Die Normen und ihre Übertretung, 3. Aufl., 1. Bd., 1916, S. 380 ff. 18 Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 217. 8
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III. Adäquanztheorie und Gefahrbegriff Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts entwickelte der Physiologe v. Kries gegen die Ausweitung der Kausalität auf alle Bedingungen für den Erfolg seine Theorie der „adäquaten Verursachung“. Neben der Verursachung im konkreten Fall nach der conditio sine qua non gebe es auch das Verhältnis, dass Handlungen von einer gewissen Art verletzende Erfolge regelmäßig herbeiführten, dazu geeignet seien. Grundlage sei die Theorie der Möglichkeit. Gewisse Handlungen vermehrten die Möglichkeit eines verletzenden Erfolges.19 V. Kries wies darauf hin, dass auch der Begriff der Gefahr auf dem der Möglichkeit beruhe, die Gefahr könne als die objektive Möglichkeit eines schädigenden Ereignisses definiert werden.20 V. Hippel erkannte, dass die Theorie der adäquaten Verursachung noch viel weiter greife als eine Einschränkung der Kausalität; sie biete zugleich die Grundlage für die Erklärung und Feststellung des im Strafrecht hoch wichtigen Gefahrbegriffs. Nach ihr habe dieser Begriff einen objektiv feststellbaren Inhalt und bedeute nicht, wie bei v. Buri, lediglich den Ausdruck subjektiver Ungewissheit im Einzelfall.21 In der Tat sollte diese Theorie interessante Weiterentwicklungen zur Folge haben. Die wachsende Bedeutung des Begriffs der Gefahr lässt sich auch sehr deutlich an den Lehrbüchern des Strafrechts bzw. ihren Auflagen ablesen. Während die Lehrbücher zunächst nur im Rahmen der Unterscheidung von Verletzungs- und Gefährdungsdelikten kurze Hinweise auf den Gefahrbegriff enthielten,22 wurden dem Gefahrbegriff zunehmend eigene Abschnitte gewidmet, sei es im Rahmen des Erfolgs,23 sei es im Rahmen des Kausalzusammenhanges.24
IV. Das Delikt als Begründung und Verwirklichung von Gefahr 1912 legte Max Ludwig Müller dar, dass die Verbotsnormen nicht die Verursachung eines Erfolgs, sondern nur ein Verhalten verbieten könnten, dass die Möglichkeit des in der Verbotsnorm bezeichneten Erfolgs erhöhe. Er bezog v. Kries’ Hinweis auf die Gefahr in den Verbotsverstoß ein und bezeichnete diesen als Begründung der Gefahr der Verwirklichung des Erfolgs; für ein „schuldhaftes Verursachen“ verlangte
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Zusammenfassend: ZStW Bd. 9 (1889), S. 528 ff. AaO (Fn. 14), S. 533 f. 21 AaO (Fn. 13), S. 146 f. 22 V. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 2. Aufl. 1884, § 26 II 2 (S. 101); Allfeld/ Meyer, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 8. Aufl. 1922, S. 100; Gerland, Deutsches Reichs Strafrecht, 2. Aufl. 1932, S. 108. 23 V. Liszt (Anm. 17), 21./22. Aufl. 1919, § 28 II 3 (S. 118), in der 26. Aufl. 1932 noch zu einem eigenen Unterabschnitt (III) aufgewertet! 24 Mezger, Strafrecht, 22. Aufl. 1933, § 15 VI (S. 128 f.). 20
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er eine „Verwirklichung der Gefahr, derentwillen das Verhalten rechtsnormwidrig war“.25 Dieser Gedanke wurde 19 Jahre später von Engisch aufgegriffen und auf den Erfolgseintritt bei nicht fahrlässigem Alternativverhalten und auf Schockschäden ausgedehnt. Bei den erfolgsqualifizierten Delikten sprach er von der Verwirklichung der dem Grunddelikt innewohnenden Gefahr. Wenn die Verwendung eines gefährlichen Narkosemittels ein „erlaubtes Risiko“ gewesen sei, dürfe die Verwendung eines ex ante gefährlicheren Mittels, wenn es den Erfolgseintritt nicht wesentlich beschleunigt hätte, nicht zur Strafbarkeit führen.26 Der Berliner Kammergerichtsrat und Privatdozent Karl Klee hatte in verschiedenen Schriften, vor allem in seiner Abhandlung „Erfolgs- oder Willensstrafe?“ von 191627, ebenfalls die Auffassung vertreten, die Rechtsnormen könnten nicht Erfolge verbieten. Unter der unzutreffenden Bezeichnung „Willensstrafrecht“ verlangte er die Unterstrafestellung der Gefährdung von Rechtsgütern.28 Dies führte dazu, dass er in die erste Kommission für die Schaffung eines nationalsozialistischen Strafrechts berufen wurde. Die Denkschrift des Preußischen Justizministers „Nationalsozialistisches Strafrecht“ von 1933 erhob die Forderung: „Gefährdungs-, nicht Verletzungsstrafrecht“. Der Rechtsgüterschutz werde am wirksamsten dadurch gestaltet, dass die Tatbestände der strafbaren Handlungen nicht als Verletzungs-, sondern als Gefährdungstatbestände ausgebaut würden. Nicht der verletzende Erfolg, sondern das gefährliche Verhalten des Täters habe den Ausgangspunkt zu bilden; dies entspreche auch dem Wesen der menschlichen Handlung: Der Mensch könne nur in der Weise tätig werden, dass er Möglichkeiten (Wahrscheinlichkeiten) eines verletzenden Erfolges setze. Die Denkschrift forderte daher die Schaffung von Unternehmens-, Eignungs- und Gefährdungstatbeständen.29 In der Folgezeit ging die nationalsozialistische Rechtspolitik und Gesetzgebung allerdings zu einem Willensstrafrecht über.30 Auch in der Lehre wurde es still um das Gefährdungsstrafrecht. Welzels „finale Handlungslehre“ begann sich durchzusetzen; auch Engisch schlug einen „Ausbau“ des finalen Handlungsbegriffs zu einem „objektiv-finalen Handlungsbegriff“ dahingehend vor, dass die Handlung an Stelle der vom Täter bezweckten oder für ihn vermeidbaren das willkürliche Bewirken objektiv bezweckbarer Folgen umfasse.31
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Die Bedeutung des Kausalzusammenhanges im Straf- und Schadensersatzrecht, S. 22 ff. Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 61 ff. 27 Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. X, S. 184 ff., 314 ff. 28 Hierzu Telp, Ausmerzung und Verrat, 1999, S. 147 ff.; Hartl, Das nationalsozialistische Willensstrafrecht, 2000, S. 60 ff. 29 S. 123 f. 30 Telp (Fußn. 28), S. 148 ff.; Hartl (Fußn. 28), S. 82 ff. 31 Probleme der Strafrechtserneuerung, 1944, 141 ff., 160 ff. 26
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1962 griff Roxin für das Problem des Erfolgseintritts auch bei nichtfahrlässigem Alternativverhalten auf den Gedanken der Gefahrverwirklichung und Engischs Vergleich mit dem erlaubten Risiko zurück. Dabei radikalisierte er diese Konstruktion dahingehend, dass bei jeder Erhöhung der Gefahr des Erfolgseintritts eine Pflichtwidrigkeit und damit Fahrlässigkeit zu bejahen sei. Er bezeichnete diese Lösung wirkungsvoll als „Prinzip der Risikoerhöhung“.32 Diese Lehre fand zahlreiche Anhänger, allerdings auch Widerspruch, weil sie die Fahrlässigkeitsdelikts in Gefährdungsdelikte verwandelte.33 1969 verlangte Jescheck in seinem Lehrbuch des Strafrechts neben der Kausalität eine „objektive Zurechnung“; diese erfordere u. a. die Setzung einer genügend gefährlichen Bedingung für den Erfolg und die Verwirklichung der spezifischen Gefahr, die in der Handlung angelegt gewesen sei.34 1970 ersetzte Schmidhäuser das Erfordernis des Kausalzusammenhanges völlig durch das der „objektiven Zurechnung“. Diese sei der Niederschlag der Gefährlichkeit der Handlung, die Realisierung der durch die Handlung geschaffenen Gefahr im Erfolg.35 Kurz darauf sah Roxin die Grundlage der objektiven Zurechnung in der „Schaffung eines rechtlich relevanten Risikos“.36 Roxin fächerte das „Risikoprinzip“ auf in die Risikoverringerung37, die Schaffung oder Nichtschaffung eines rechtlich relevanten Risikos, die Steigerung oder Nichtsteigerung eines erlaubten Risikos und die Nichtverletzung des Schutzbereichs der Norm als „Risikoabnahme“. Binding hatte den Begriff des „Risikos“ an Stelle desjenigen der Gefährdung eingeführt, um das „Wagnis“, die Einkalkulierung von Schäden außerhalb des Ziels der Handlung zu bezeichnen.38 In diesem Sinn39 und im Sinne der Möglichkeit eines Schadens ohne aktuelle Gefahr wird das Wort auch üblicher Weise gebraucht. Bei Roxin ist das Risiko dagegen weit gehend ein Synonym für Gefahr; seine „Risikoschaffung“ deckt sich mit der „Gefahrsbegründung“ bei M. L. Müller (s. o.). Dieser unkonventionelle Sprachgebrauch tat der Akzeptanz der neuen Lehre aber keinen Abbruch; im Gegenteil scheint sie durch die innovative Formulierung eher befördert worden zu sein. 1975 brachte Roxins Schüler Rudolphi in dem von ihm begründeten „Systematischen Kommentar zum Strafgesetzbuch“ ein umfassendes System der objektiven Zu32
ZStW, 74. Bd., S. 411 ff. Schroeder, in: Strafgesetzbuch – Leipziger Kommentar, 11. Aufl. 1994, § 16 Rn. 189 ff. m. Nachw. Dagegen Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981, S. 35. 34 Lehrbuch des Strafrechts. Allg. Teil, S. 193 f. 35 Strafrecht. Allg. Teil. Lehrbuch, S. 182 ff. 36 Festschrift für Richard M. Honig, 1970, S. 133 ff. 37 Dazu näher Schroeder, in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, Symp. f. B. Schünemann, 2005, S. 151 ff. 38 Die Normen und ihre Übertretung,. IV. Bd., 1919, S. 434. 39 Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1993, S. 33 f. 33
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rechnung, das auf der Gefahrschaffung, der Risikoverringerung und dem Risikozusammenhangs aufbaute.40 In der 18. Auflage des verbreiteten Kommentars zum Strafgesetzbuch von Schönke/Schröder übernahm Theodor Lenckner weitgehend den Aufbau der Zurechnung auf der Schaffung, Nichtschaffung und Verringerung des Risikos.41 Andere folgten in der Sache mit konventionellen Formulierungen.42 1981 unternahm es Jürgen Wolter, die den Zurechnungsprinzipien der rechtlich missbilligten Risikoschaffung, des rechtlich relevanten Risikozusammenhanges, der Risikoerhöhung, der Risikoverringerung und der Risikoabnahme zu Grunde liegenden Wertmaßstäbe zu ermitteln und ihnen anhand der wichtigsten Erscheinungsformen der Straftat Konturen zu verleihen; er bezeichnete das deutsche Strafrecht als „durch und durch ein Risikostrafrecht“43. 1983/84 erklärte er auch die aberratio ictus zu einer Frage der objektiven Zurechnung von Risiko.44 Roxin hat seine auf das Risiko gestützte Dogmatik in seinem großen Lehrbuch „Strafrecht. Allgemeiner Teil“ (1992, 1994, 1997, 2006) weiter entwickelt und ausgebaut. Die „objektive Zurechnung“ wurde nunmehr definiert als Verwirklichung einer vom Täter geschaffenen, nicht durch ein erlaubtes Risiko gedeckten Gefahr innerhalb der Reichweite des Tatbestandes.45 Sie gliedert sich auf in die Schaffung eines unerlaubten Risikos mit den Untergruppen der Risikoverringerung, der fehlenden Gefahrschaffung, der Gefahrschaffung bei hypothetischen Kausalverläufen und dem erlaubten Risiko und die Verwirklichung des unerlaubten Risikos mit den Unterfällen der fehlenden Gefahrverwirklichung, der fehlenden Verwirklichung des unerlaubten Risikos, der Nichtverletzung des Schutzzwecks der Norm und des rechtmäßigen Alternativverhaltens mit Risikoerhöhung und die Überschreitung der Reichweite des Tatbestandes. Damit werden zahlreiche Einzelprobleme des Strafrechts mithilfe des Risiko- bzw. Gefährdungsgedankens gelöst und wird umgekehrt das System der Straftat weitgehend auf den Risiko- bzw. Gefährdungsgedanken gestützt. Diese systematische Ausformung führte zu einer weiteren Ausbreitung dieser Lehre, die hier nicht näher dargestellt zu werden braucht.46 Damit ist nach der Kausalität über die Finalität die Gefahr bzw. das Risiko zum Grundelement der Zurechnung geworden. 40
Bd. I, Vor § 1, Rdn. 57 ff. Vorbemerkungen zu den §§ 13 ff., Rdn. 95 ff. 42 Otto, in: Festschrift für Reinhart Maurach, 1972, S. 91 ff.; Maurach/Zipf, Lehrbuch des Strafrechts. Allg. Tl. 5. Aufl. 1977, S. 267 ff. 43 Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, S. 39. 44 Wolter, Festschr. f. Leferenz, 1983, S. 543 ff., 552; ders., in: Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, hrsg. von B. Schünemann, 1984, S. 103 ff., 131. 45 4. Aufl., 2006, § 11, Rn. 49. 46 Nachw. bei Schroeder, Der Blitz als Mordinstrument, 2009, S. 62 ff.; Roxin (Fußn. 50), § 11 Rn. 50 f. 41
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V. Ausbreitung der Gefahr in der Gesetzgebung Auch in der Gesetzgebung fand der Begriff der Gefahr immer stärkere Verbreitung. Bei den „Gemeingefährlichen Straftaten“ wurde das Erfordernis der „gemeinen Gefahr“ 1964 auf jede Gefahr für Leib oder Leben eines anderen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert erweitert; sie wurden damit zu „Allgemeinen Gefährdungsstraftaten“.47 Außerdem nahmen diese Straftaten in Folge der modernen technischen Entwicklung (Atomenergie, Luftverkehr, Telekommunikation) laufend zu. Auch die neu entstehenden „Straftaten gegen die Umwelt“48 enthalten zahlreiche Gefährdungsdelikte. 1975 wurde in das deutsche Strafgesetzbuch eine Bestimmung aufgenommen, die die Abwendung einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr zu Gunsten wesentlich überwiegender Interessen für nicht rechtswidrig erklärt (§ 34 StGB).49
VI. Weiterentwicklung des Gefahrbegriffs in der Wissenschaft Auch die wissenschaftliche Erforschung des Gefahrbegriffs selbst hat immer mehr zugenommen. Die erste grundlegende Untersuchung seit längerer Zeit lieferte Horn 1973. Dabei definierte er die Gefahr reichlich kompliziert als „Sachverhalt, der als Ursache für eine Rechtsgutsverletzung bestimmter Art bereits erfahren worden ist, von dem aber niemand jemals erklären könnte, warum die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts im konkreten Falle ausbleiben musste“.50 Schünemann51 und Demuth52 plädierten für einen „normativen Gefahrbegriff“ dahingehend, dass normale Maßnahmen für die Entschärfung der Situation nicht mehr ausreichten und zu außergewöhnlichen Mitteln gegriffen werden müsse.53 1989 veröffentlichte Kindhäuser eine rechtstheoretische Untersuchung zur Dogmatik der Gefährdungsdelikte54, 1998 unternahm Zieschang eine neue Differenzierung der Gefährdungsdelikte.55 Prittwitz stellte den Einzug des Risikogedankens in das Strafrecht, die „Risikodogmatik“, in den Kontext der „Risikogesellschaft“.56
47 Näher Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht. Besonderer Teil, Tlbd. 2. Straftaten gegen Gemeinschaftswerte, 10. Aufl. 2012, § 50 Rn. 2 ff. 48 Zuerst im Nebenstrafrecht, seit dem 18. Strafrechtsergänzungsgesetz 1980 in §§ 324 – 330d StGB. 49 Schon seit 1927 (RGSt 61, 242) von der Rechtsprechung anerkannt. 50 Konkrete Gefährdungsdelikte, S. 212. Kritisch Schünemann, JA, 1975, 787 ff., 795 f. 51 AaO (Fn. 50), 796 f. 52 Der normative Gefahrbegriff, 1980, S. 205. 53 Dazu Schroeder, JZ 2011, 187 ff. 54 Gefährdung als Straftat. 55 Die Gefährdungsdelikte. 56 Strafrecht und Risiko, 1993.
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Auch die so genannten abstrakten Gefährdungsdelikte erfuhren eine eingehende wissenschaftliche Behandlung und Weiterentwicklung.57 Auch hierzu hat der Jubilar wesentliche Beiträge geleistet.58 Die vorstehenden Ausführungen dürften hinreichend bestätigen, dass es kaum einen anderen Begriff im Strafrecht gibt, der eine solche Karriere hinter sich hat wie der Begriff der Gefahr. Jürgen Wolter hat wesentlich dazu beigetragen.
VII. Die Frage nach den Ursachen Fragt man nach den tieferen Ursachen für diese Entwicklung, so hat sicher die objektive Zunahme von Gefahren durch die industrielle Entwicklung und den technischen Fortschritt (Sprengstoffe, Straßenverkehr, Atomindustrie, chemische Industrie mit ihrer gewaltigen Umweltbelastung) eine wichtige Rolle gespielt, vor allem in der Gesetzgebung. In der Dogmatik wirkte sich die zunehmende Erkenntnis der Wirkungsweise und der Funktion der Strafrechtsnormen aus. Daneben spiegelt sich aber auch in dem Siegeszug des Gefahrbegriffs im Strafrecht ein Wandel des zu Grunde liegenden Menschenbildes wider: an die Stelle des sich als Kausalfaktor begreifenden, dann des seinen Willen verwirklichenden Menschen ist der Mensch als Gefahrenpotenzial getreten.
57 Schroeder, Nuevas tendencias en los delitos de peligro abstracto, Revista de Derecho Penal, Buenos Aires, 2007 – 2, S. 119 ff. 58 AaO (Fn. 42), S. 319 ff., 328 ff.
Rechtstheorie im Strafprozessrecht Intradisziplinärer Stolper- oder Baustein? Von Lorenz Schulz
I. „Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtstheorie“ ist die Bezeichnung des Lehrstuhls, den der Jubilar, dem dieser Beitrag in Herzlichkeit gewidmet ist, an der Universität Mannheim für die längste Zeit seines akademischen Schaffens innehatte. Die Bezeichnung steht nicht nur für die klassische Nähe des Strafrechts zur Rechtsphilosophie und Rechtstheorie. Sie steht für eine Akzentuierung im langen und umfänglichen Schaffen des Jubilars, das vom materiellen Strafrecht über das Scharnier der Wahlfeststellung zum verfassungsorientierten Strafprozessrecht findet und in Zukunft eine rechtstheoretische Abrundung erfahren mag. Diese Abrundung liegt nicht fern, da die vormals als Naturrecht und seit dem späten 19. Jahrhundert als allgemeine Rechtslehre oder Rechtstheorie auftretende Rechtsphilosophie nach den nationalstaatlichen Kodifikationen im 19. Jahrhundert und den zahlreichen Kodifikationen europarechtlicher sowie zuletzt völkerstrafrechtlicher Art inzwischen als nationales Verfassungsrecht und zunehmend als supra- und internationalen Verfassungsrecht jenseits des Staates auftritt.1 Wenn also gerade der Jubilar dafür eingetreten ist, Strafrecht als angewandtes Verfassungsrecht zu behandeln, scheint die Befassung mit der Rechtstheorie nahe zu liegen. Schon an der Schnittstelle von Verfassungsrecht und Strafrecht, das im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland als fait accompli vorausgesetzt wird, lassen sich erste rechtstheoretische Probleme beobachten, die als Stolpersteine wahrgenommen werden können. Eine Konkordanz des Rechtssystems versucht man gemeinhin im Wege einer verfassungskonformen Auslegung zu erreichen. Wegen einer spezifischen Positivität der Verfassung sieht man in der Regel davon ab, sie im Rahmen der klassischen canones der Auslegung in der systematischen Auslegung zu situieren, sondern schaltet sie diesen canones einfach nach, so dass ihr methodologischer Gehalt schon deshalb anfechtbar geblieben ist. Dass die ebenso nachgeschaltete, eu1 Für einen Überblick siehe Kadelbach/Günther (Hrsg.), Recht ohne Staat? Zur Normativität nichtstaatlicher Rechtsetzung, 2011; für eine international viel diskutierte Konzeption systemtheoretischer Provenienz s. Teubner, Constitutional Fragments: Societal Constitutionalism and Globalization, 2012.
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roparechtskonforme Auslegung diesen Umstand gleichfalls bloßlegt, sei am Rande vermerkt. In gewissem Kontrast dazu steht der bereits europarechtlich beobachtbare Umstand, dass die spezifischen Herausforderungen der durch die Globalisierung vorangetriebenen Europäisierung und Internationalisierung für die beteiligten Rechtssysteme Übersetzungs- und Abstimmungsprobleme schaffen und damit eine Renaissance der Rechtstheorie bewirken dürften. So scheint, wenn sich denn die Rechtstheorie nicht im Verfassungsrecht erschöpft, dem künftigen Schaffen des Jubilars ein weiteres Feld geebnet. Ad multos annos.
II. Noch unter dem Vorsitz von Winfried Hassemer hat der 2. Senat des BVerfG in einer Leitentscheidung dem Begriff „Gefahr im Verzug“2 den vormals eingeräumten Beurteilungsspielraum entzogen.3 Der Senat begründet dies vornehmlich mit dem Grundrechtsschutz und der Wahrung der Gewaltenteilung.4 Er geht dabei empirisch davon aus, dass mit der Annahme von „Gefahr im Verzug“ durch Staatsanwaltschaft und Polizei der für die Durchsuchung vorgesehene Richtervorbehalt systematisch unterlaufen wird.5 Weil die Wohnung als elementarer Lebensraum des Einzelnen durch Art. 13 GG besonders geschützt ist, folge aus Art. 19 Abs. 4 GG die Pflicht, „dafür Sorge zu tragen, dass der Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung praktisch wirksam wird.“6 Daraus werden nicht nur institutionelle und prozedurale Vorkehrungen abgeleitet, sondern auch argumentative. Dem Votum für eine volle Nachprüfbarkeit des Merkmals „Gefahr im Verzug“ entspricht, dass das Gericht Annahmen, die „lediglich auf kriminalistisch gestützte Alltagserfahrung“ aufruhen, nicht mehr für ausreichend erachtet, sondern auf einem Tatsachenbezug insistiert.7 Da zu befürchten steht, dass die Entscheidung faktisch kaum zu einem substantiellen 2 BVerfGE 103, 142 (= NJW 2001, 1121); für das Schrifttum s. nur die Anm. von Amelung, NStZ 2001, 337 und Fezer, in: FS Rieß, 2002, 93. 3 Die Entscheidung betrifft selbst die Wohnungsdurchsuchung; für die Beschlagnahme s. Wohlers im SK-StPO, 4. Aufl., § 98 Rn. 35 m.w.N. Wegweisend ist die Entscheidung auch im Hinblick auf den Begriff des Tatverdachts, dessen Feststellung bis auf das diagnostische Element weitgehend der Feststellung einer Gefahr ähnelt; für die zunehmend geforderte Aufgabe des Beurteilungsspielraums beim Verdachtsbegriff s. Schulz, Normiertes Misstrauen, 2001, passim; ders., StraFo 2003, 298. 4 Ein Spielraum der Entscheidung auf Seiten der Behörde schwäche den Schutz der Grundrechte und führe zur Letztentscheidungsbefugnis der Behörde zu Lasten der Rechtsprechung; BVerfGE 103, 155 f. 5 „Neigung zu exzessiver und zum Teil missbräuchlicher Anwendung der Eilkompetenz durch die Strafverfolgungsbehörden“; vgl. Backes/Gusy, Wer kontrolliert die Telefonüberwachung? Eine empirische Untersuchung zum Richtervorbehalt bei der Telefonüberwachung, 2003; monographisch Nelles, Kompetenzen und Ausnahmekompetenzen in der Strafprozessordnung, 1980. 6 BVerfG NJW 2001, 1122. 7 Leitsatz 1b.
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Wandel in der „Diensthermeneutik“ der mit der Entscheidung beauftragten Akteure führt,8 sondern viel mehr zu einer weiteren gesetzgeberischen Abkehr vom Richtervorbehalt, bleibt der operational entscheidende Ausgangspunkt festzuhalten: die Erhöhung der Kontrolldichte. Mit dieser Leitentscheidung wird für das Strafprozessrecht eine Judikatur nachgeholt, die das BVerfG in den frühen neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts für das Verwaltungsrecht begründet hat.9 In den Nachkriegsjahren hatte dort Bachof die gemäßigte Lehre vom Beurteilungsspielraum eingeführt10 und damit die Verwaltungsjudikatur geprägt.11 Der Gesetzlichkeit im Verwaltungsrecht entspricht die Vermutung gegen einen Beurteilungsspielraum, so dass dieser nur unter spezifischen Voraussetzungen eingeräumt werden kann. Dem schon in der klassischen Verwaltungsrechtslehre angelegten, von Bachof nur um den Beurteilungsspielraum als Sonderfall angereicherten Ausgangspunkt nach lassen unbestimmte Rechtsbegriffe im Gegensatz zur Vertretbarkeitslehre nur eine Entscheidung zu.12 Die Trichotomie von unbestimmtem Rechtsbegriff, unbestimmtem Rechtsbegriff mit Beurteilungsspielraum und Ermessensbegriff wird nach Bachof naturgemäß unterschiedlich akzentuiert.13 Die zunehmende Bedeutung von Prognoseentscheidungen in der Risikogesellschaft, die seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu beobachten ist, rückten diese in die Mitte der Diskussion und führten zur Renaissance des Beurteilungsspielraums.14 Das konditionale Schema, so wurde nun betont, sei austauschbar, 8 Wenn in der Entscheidung ausdrücklich ausgeführt wird, dass der Richter die ex ante ergangene Entscheidung hinnehmen dürfe, wenn sie denn nach damaligem Kenntnisstand „nahe liegend oder jedenfalls plausibel“ war, und wenn der Richter im anderen Fall seine ex post ergehende Entscheidung der Lage nicht „an die Stelle der Einschätzung des handelnden Beamten setzen“ dürfe, wird damit nicht die Diensthermeneutik geadelt, vielmehr die Annahme bestätigt, dass die damalige Entscheidung ex ante richtig oder falsch war. 9 In der Entscheidung selbst entspricht dem, dass § 19 Abs. 4 GG anwendbar sei, weil die Staatsanwaltschaft trotz ihrer funktionalen Eingliederung in die Justiz sachlich der Exekutive angehöre. Dem korrespondiert weiterhin die Annahme, dass die gerichtliche Überprüfung über die materiell-rechtliche Bindung der Exekutive nicht hinausgehen könne; BVerfGE 103, 156 mit Hinweis auf BVerfGE 88, 40, 56. 10 Bachof, JZ 1955, 97 (anlässlich BVerwG JZ 1954, 575 zum Begriff der „Interessen des öffentlichen Verkehrs“ in § 9 I PersBefG). 11 Zunächst in BVerwGE 21, 184, 186: Bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe könne es „nur eine richtige Entscheidung“ geben. Zur Vertretbarkeit als Denkform grundsätzlich vgl. neben Neumann, Wahrheit im Recht. Zu Problematik und Legitimität einer fragwürdigen Denkform, 2004, 53 ff. und Schulz (Fn. 3), 223 ff. auch Gröschner, Dialogik und Jurisprudenz, 1982, 179 ff. und Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, 578 ff. 12 Bachof, JZ 1955, 101. 13 Bachof, VVDStRL 34, 1976, 276; Ule, VVDStRL 34, 1976, 310; Bachof folgend Erichsen, DVBl 1985, 22 und Schmidt, AöR 96, 1971, 349: „Pendelschläge“. 14 Für die Renaissance stehen die Stellungnahmen bei den Staatsrechtslehrertagungen. Bereits früh von Ossenbühl, DÖV 1972, 401 prognostiziert, findet sie vor allem auf der Tagung von 1975 Ausdruck. Sie prägte auch noch das von Götz/Klein/Starck herausgegebene Göttinger Symposium „Die öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung und richterlicher Kontrolle“, 1985.
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weil sich Rechtsnormen mit gleichem Regelungsinhalt sowohl als Ermessens- als auch als gebundene Tatbestände formulieren lassen. Demnach lasse sich die Frage der Kontrolldichte funktional äquivalent für den Tatbestand wie für die Rechtsfolge stellen.15 Trotz wiederholter Anfechtungen blieb die Lehre vom Beurteilungsspielraum herrschend.16 So knüpfte das BVerwG bei Prognoseentscheidungen und weiterhin bei beamten- und öffentlich-rechtlichen Eignungsbeurteilungen und Prüfungsentscheidungen an die mit dem Beurteilungsspielraum verknüpfte VertretbarkeitsDogmatik an.17 War diese Judikatur bereits im Schrifttum nie unumstritten geblieben, wurde sie schließlich vom BVerfG in einer Reihe von Entscheidungen zu Beginn der neunziger Jahre revidiert.18 Das Argument unvermeidbarer Wertung bei der Subsumtion und das Argument der Komplexität des Sachverhalts verlieren dabei an Gewicht. Neu an der Argumentation ist nicht der Bezug zu Art. 19 Abs. 4 GG,19 sondern die Anknüpfung an die betroffenen (materiellen) Grundrechte. Demnach hat dem Grundrechtseingriff eine angemessene Kontrolle zu entsprechen. In der „Mutzenbacher“-Entscheidung wurde das Ausmaß der Überprüfbarkeit aus dem Grundrecht des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG hergeleitet und in der Folge der Gesetzgeber verpflichtet, die Zusammensetzung der Gremien der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften zu präzisieren.20 Durch den Grundrechtsbezug wurde der Beurteilungsspielraum der Bundesprüfstelle mit spezifischen, auch für den Gesetzgeber maßgeblichen Grenzen versehen.21 Wo die Kontrolldichte möglich, jedoch funktional nicht begründbar ist, gilt zwar die Korrespondenz von Eingriffsintensität und Kontrolldichte (je stärker der Eingriff, desto intensiver die Nachprüfbarkeit),22 doch kann die niedrige Kontrolldichte durch prozedurale Kautelen kompensiert werden. Das zeigt der Fall der Prüfungsentscheidung, bei der mehr als eine nur vertretbare Entscheidung
15 So Scholz, VVDStRL 34, 1976, 166 ff und Schmidt-Aßmann, VVDStRL 34, 1976, 252 f.; zust. Bachof, VVDStRL 34, 1976, 275 ff. 16 Das zeigte auch die Potsdamer Staatsrechtslehrertagung von 1998, wo die Kontrolldichte unter dem Stichwort Optimierungsgebot erörtert wurde; das Votum Würtenbergers für eine starke Exekutive und eine schwache Kontrolle wurde in der Diskussion überwiegend zurückgewiesen. 17 Vgl. nur Schmidt-Aßmann, VVDStRL 34, 1976, 258 m.w.N. 18 Vgl. „Mutzenbacher“ (BVerfGE 83, 130 - Indizierung nach GjS), die Prüfungsentscheidungen (BVerfGE 84, 34 und 59) und die Entscheidung zum „besonderen pädagogischen Interesse“ bei der Zulassung privater Grundschulen (BVerfGE 88, 40). 19 Knüpft man abstrakt an Art. 19 Abs. 4 GG an, könnte der Gesetzgeber die Aufgaben von Verwaltung und Gericht zugunsten der Verwaltung verteilen, d. h. im Fall „Mutzenbacher“ sich auf ein pluralistisch zusammengesetztes Sachverständigengremium beschränken, dem ein Beurteilungsspielraum zuerkannt wird. 20 BVerfGE 83, 130, 151 ff. 21 Das BVerwG tat sich schwer damit und folgte dem BVerfG nur bedingt, weil es den Spielraum durch die Unterscheidung von einer Abwägungskontrolle und einer mit einem Beurteilungsspielraum verbundenen Abwägungsentscheidung zu wahren versuchte; BVerwG JZ 1993, 790; abl. Geis, JZ 1993, 793 f. 22 Vgl. nur Schuppert, DVBl 1988, 1193 f.
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aufgegeben und auch möglich ist.23 Da die Prüfung in ihrer konkreten Gestalt aber nicht wiederholbar ist und mit der Kontrolle die Funktionalität der Rechtsprechung berührt wird, bedürfe es einer spezifischen Ausgestaltung des Verfahrens. Der Grundrechtsschutz durch Verfahren müsse der Eingriffsintensität und der Komplexität der Verwaltungsentscheidung angemessen sein. Die Grundrechte setzen so, ihrer Schutz- oder Teilhabefunktion entsprechend, Maßstäbe auch für die Gestaltung staatlicher Verfahren.
III. Rechtstheoretisch mag man das Votum gegen den Beurteilungsspielraum nicht nur als Votum für eine stärkere Kontrolle der vollziehenden durch die rechtsprechende Gewalt (und innerhalb der Judikative namentlich für eine Stärkung des Instanzenzugs) bewerten, sondern auch materiell als Votum für die Figur der einzig richtigen Entscheidung.24 Wenn nämlich eine Entscheidung mehr als nur vertretbar sein soll, dann muss sie als die richtige, ja als die einzig richtige begriffen werden.25 Gewiss ist damit eine „fragwürdige“ Konzeption angesprochen,26 die man wegen nicht geringer Schwierigkeiten gerne vor die Tür der Dogmatik setzen würde. Im Strafrecht ist man an die These der Punktstrafe erinnert, die für nicht wenige ein Dummy ist, der in der Dogmatik der Strafzumessung seit einer Generation reflexartig „abgewatscht“ wird und durch den damit verbundenen drastischen Reputationsverlust in der Diskussion zu den Absprachen im Strafrecht nicht wieder aufgegriffen wurde. Dabei drängt sich die – im Ergebnis anfechtbare – Vorstellung eines Punktes bei der Rede von festen Unter- und Obergrenzen zunächst auf, was eine wenigstens rhetorische Befassung mit der Figur der Punktstrafe nahe legt. Lehrreich ist die Rede vom Punkt am Beispiel der Zumessung der Strafe überdies dafür, dass sie sich durch eine verfehlte Ontologisierung allzu leicht selbst in Verruf bringt.27 Die weiteren Überlegungen gehen deshalb von der Frage aus, ob diese Figur angesichts mancher Intuitionen der Praxis und der Ablehnung in Theorie28 und Praxis29 23
Herdegen, JZ 1991, 7501. So Schulz, ZIS 2007, 355; s. a. Neumann, in: FS Hassemer, 2010, 145 („eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung der vollständigen Überprüfbarkeit“). 25 Neumann, in: FS Hassemer, 149. 26 Neumann (Fn. 11), passim. 27 Kaufmann war es ursprünglich um die Scheidung von Erkenntnistheorie und Ontologie gegangen. Später legte er die These der Punktstrafe als „substanzontologisch“ ad acta. 28 S. zuletzt Bäcker, Begründen und Entscheiden. Kritik der Alexyschen Diskurstheorie, 2008, 307 ff., der aus dem kaum bestreitbaren Umstand, dass vielfach auch begründetermaßen unterschiedliche Entscheidungen vertreten werden können, auf die Unmöglichkeit jeglicher einzig richtigen Entscheidung (kurz)schließt und der dem entsprechend ethisch für Aufrichtigkeit plädiert; für eine gewisse Abschwächung siehe die 2. Aufl. 2012, 332 ff. 29 Die Ablehnung in der Praxis ist erstaunlich, sofern ein Verzicht auf die Figur selbst für die Strafverteidigung nicht nur dogmatische, sondern auch strategische Nachteile bewirkt, weil im Fall eines Fehlurteils nur noch die mangelnde Vertretbarkeit gerügt werden kann. 24
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schlicht ein Stolperstein und damit ad acta zu legen ist oder ein Ansatz, der jedenfalls des Fragens würdig ist. Wenn es bei „Gefahr im Verzug“ der Senat vermieden hat, sich über die maßgeblichen Aspekte des Grundrechtsschutzes und der Gewaltenteilung hinaus auf rechtstheoretisches Gebiet zu begeben, könnte das daran gelegen haben, dass der Senatsvorsitzende und Berichterstatter ein Anhänger der klassischen juristischen Hermeneutik ist. Dieser geht es um transzendentaltheoretische Voraussetzungen des Verstehens, nicht um eine methodologisch nachvollziehbare Auskunft bei einem nachvollziehbaren und damit überprüfbaren Ergebnis. Aus den Entscheidungsgründen lässt sich für diese Vermutung erwartungsgemäß nichts gewinnen. Und sie mag dahinstehen, wenn der Rekurs auf Gewaltenteilung und Grundrechte selbstgenügsam sein soll.
IV. Die Gewaltenteilung, oft auch die Verteilung von Funktion oder Kompetenz genannt, ist nicht nur nach dem Verständnis des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 3, 79 Abs. 3 GG) ein ehernes Element des Rechtsstaates.30 Rechtsvergleichend erweist sich, dass die Bedeutung einzelner Gewalten unterschiedlich akzentuiert wird und die hohe Bedeutung der Kontrolldichte auf Seiten der Rechtsprechung eher selten, wenn nicht singulär ist - und damit im europarechtlichen Streit der Rechtsordnungen tendenziell ins Hintertreffen gerät. Spätestens im Gefolge der gescheiterten Revolution von 1848 rückte in der deutschen Diskussion der Gewaltenteilung die Idee des Rechtsstaats ins Zentrum. Diese Idee wurde zum funktionalen Ersatz für die unerreichte parlamentarisch eingebettete Volkssouveränität. Damit war die Einrichtung systematischer gerichtlicher Kontrolle des staatlichen Handelns der Verwaltung verknüpft, die einherging mit dem Votum für umfassende Legalität, d. h. von Gesetzen, die von der Volksvertretung (mit) beschlossen und vom Monarchen sanktioniert werden. Demgegenüber sprach man in Frankreich der Justiz im Gefüge der Gewalten die geringste Bedeutung zu. Die angelsächsische „rule of law“ wiederum, mit der sich der deutsche Begriff des Rechtsstaats nur notdürftig übersetzen lässt, ließ eine gerichtliche Überprüfung ohne Gesetz zu. In Deutschland hingegen wurde das Gesetz zum Mittel der Rationalisierung staatlichen Handelns. Nicht erst das Grundgesetz, sondern bereits die Weimarer Verfassung eröffnete den Weg des Grundrechtsschutzes durch Gerichte. Ihm wuchs eine objektive Komponente zu, die in der späteren Rede von einer „objektiven Werteordnung“ oder, nüchterner, in der spezifisch deutschen These einer Schutzfunktion der Grundrechte mündete.31 Das Eintreten der deutschen Rechtsordnung für eine im internationalen Vergleich eminente grundrechtliche Durchdringung der gesamten Rechtsordnung und für eine flankierende Kontrollfunktion des BVerfG wurde 30
Der Vorzug der deutschen Rede von Teilung oder Verteilung von Gewalt (im Unterschied zu „power“ und „pouvoir“) liegt darin, dass zumindest das historische Bewusstsein von der ambivalenten Gewalt, die vom Staat ausgehen kann, stärker gesichert wird. 31 Ausgehend von der „Lüth“-Entscheidung des BVerfG; vgl. BVerfGE 7, 198.
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zum Vorbild der post-autoritären oder post-totalitären Demokratien in Spanien, Polen, Ungarn und Südafrika. Wenn man diese Entwicklung befürwortet, muss man sich bewusst bleiben, dass sie demokratietheoretisch anfechtbar ist.32 So unterschiedlich der Rechtsvergleich ausfällt, es besteht Einigkeit darin, dass für eine funktionierende Teilung der Gewalt zumindest eine Dreiheit vorauszusetzen ist, die man als Legislative, Exekutive und Judikative identifiziert. Das ist, da vormals in der europäischen Tradition viele Jahrhunderte der laute Kampf der zwei Schwerter den Ton angab, überraschend. Noch bei Montesquieu findet man die gegenwärtige, triadische Differenzierung kaum.33 Der Durchbruch zur Dreigliederung mag sich dem kommunikationstheoretischen Umstand verdanken, dass die Dreiheit eine Grundstruktur für gelingende Kommunikation liefert.34 Die Teilung der Gewalt wäre nämlich als Trennung der Gewalten missverstanden. Die allenthalben erkennbare Verrechtlichung verdankt sich nicht der kommunikativen Isolierung der Gewalten, sondern einer Auffassung, wonach das Ineinandergreifen der Gewalten die kommunikative Kraft des Rechts folgenreich umsetzt. Der Teilung der Gewalt ist zwar immer auch mit der Mäßigung der Staatsmacht die Abwehrfunktion eigen, die bereits in der Antike in der Bändigung der Tyrannis zu greifen ist.35 Sie liefert aber, vermutlich in der Hauptsache, ein Strukturmodell der Rechtserzeugung. Nicht Hemmung und Beschränkung allein, sondern Konstituierung und Balancierung sind demnach der „Dreiklang grundgesetzlicher Gewaltenteilung“36. Mit dieser Formulierung verbindet sich die Betonung der Funktionalität der Aufteilung der Gewalten. Geht es nach dem BVerfG, soll die Dreigliederung garantieren, „dass staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen“ und „auf eine Mäßigung der Staatsgewalt insgesamt hinwirken“37. Die Forderung nach optimaler Richtigkeit („möglichst richtig“) demonstriert, dass nicht der Rückgriff auf die Gewaltenteilung per se, sondern auf ein spezifisches, an Richtigkeit ausgerichtetes Verständnis der Gewaltenteilung jene Kontrolldichte begründet, die zur Aufgabe des Beurteilungsspielraums führt, mithin die mit dem Anspruch der Richtigkeit befasste Rechtstheorie kein Stolper-, sondern ein Baustein dieser Judikatur ist. Offen bleibt damit, ob dafür nicht der Rekurs auf die geläufige Figur eines Optimierungsgebots genügt.
32 S. Böckenförde, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 2. Aufl. 1992, 159 ff; siehe auch Haller, in: Haller/Günther/Neumann (Hrsg.), Menschenrechte und Volkssouveränität in Europa. Gerichte als Vormund der Demokratie?, 2011. 33 Vgl. Ogorek, RJ 2, 1983, 288 f. 34 S. Schulz, in: Seelmann (Hrsg.), Subjekt und Kulturalität II, 2011, 241 ff. 35 Stolleis, in: ders. (Hrsg.), Staat und Staatsraison in der frühen Neuzeit, 1990, 167. 36 Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland I, 1987, 1012. 37 BVerfGE 68, 1, 86; s. a. 95, 1, 15; 98, 218, 251 f.
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V. Der Grundrechtsschutz steht, wie ausgeführt, am Beginn der vertretbarkeitsfeindlichen Rechtsprechung des BVerfG, die zur grundsätzlichen Aufgabe des Beurteilungsspielraums führt. In gleicher Weise dient er der Begründung in der Entscheidung zum Merkmal „Gefahr im Verzug“. Auch beim Grundrechtsschutz erweist es sich, dass die Rechtstheorie im Ergebnis nicht Stolper-, sondern Baustein ist. Die Grundrechtsperspektive gibt in der rechtstheoretischen Diskussion zur Figur der einzig richtigen Entscheidung (one right answer) den Ton an. Das zeigt die Auffassung von Ronald Dworkin, der die Figur in dem Aufsatzband „Taking Rights Seriously“ (1977) eingeführt und in der 1978 erschienenen Abhandlung „Is There Really No Right Answer in Hard Cases?“ vertieft hat.38 Nach ihm ist die (normative) Beschreibung des Rechtssystems durch den Rechtspositivismus seines Lehrers H.L.R. Hart unzureichend, 39 auch wenn sie (deskriptiv) als soziologische Beschreibung zutreffen mag. Entscheidungen sind nach Dworkin auch in schwierigen Fällen (hard cases) gebunden, ein Ermessen wird nicht zugestanden (no-discretion thesis40). Von der deutschen Dogmatik weicht Dworkin zweifach ab. Er differenziert das Ermessen nicht nach Rechtsfolgen und Tatbestand und schreibt zudem die Ermessensthese allgemein dem Rechtspositivismus zu, was selbst im anglo-amerikanischen Recht Missverständnisse provoziert. Für die Figur der „one right answer“ unterscheidet Dworkin Regel und Prinzip.41 Die Frage der einzig richtigen Antwort tritt auf, wenn Regeln konfligieren, weil erst Regeln Ja-Nein-Entscheidungen erlauben. Sie sind konkret und anwendungsbezogen, bestimmt durch eine situative Wenn-Komponente. Beim Regelkonflikt werden zur Lösung des Konflikts entweder Ausnahmen eingeführt42 oder einer Regel wird die Geltung versagt.43 Prinzipien (Grundsätze) sind demgegenüber interpretationsbedürftig und können nach ihrem Gewicht (weight) mehr oder weniger erfüllt sein, im Kollisionsfall werden sie abgewogen. Prinzipien können zu Ausnahmen von Regeln führen oder sie im Extremfall aufheben (over-ruling). Prinzipien sind so nur dann absolut, wenn sie auf der 38 Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, 84; vgl. die monographischen Darstellungen von Bittner, Recht als interpretative Praxis. Zu Ronald Dworkins allgemeiner Theorie des Rechts, 1988, 215 ff. und Heinold, Die Prinzipientheorie bei Ronald Dworkin und Robert Alexy, 2011. 39 Dworkin (Fn. 38), 17. Nach Hart gibt es, wie schon bei Kelsen, nicht eine richtige Lösung, sondern nur mehrere vertretbare Lösungen. 40 Das Wort bedeutet im Englischen zugleich „Urteilskraft“ und „Klugheit“. Zur Bedeutung im amerikanischen Verwaltungsrecht s. Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, 1997, 166 ff. 41 Dworkin (Fn. 38), 22 ff. 42 Dworkin (Fn. 38), 25. 43 Der Begriff der Geltung wird ausschließlich auf Regeln bezogen, Prinzipien können nicht gelten, Dworkin (Fn. 38), 41. Das relativ lückenhafte Recht des angloamerikanischen Fallrechts, vor dessen Hintergrund so unterschieden wird, führt zu zwei Tendenzen. Es erfordert prinzipiengeleitetes Denken und führt zu einer Vielzahl von Regeln.
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Ebene von Regeln zur Ja-Nein-Entscheidung führen. Aufgrund der These subjektiver Rechte (rights thesis) verknüpft Dworkin die einzig richtige Entscheidung und das gebundene Entscheiden. Wo subjektive Rechte auf dem Spiel stehen, ist die Entscheidung an ihnen auszurichten. Dem Entscheider kommt ein Ermessen nur zu, wo diese Rechte nicht auf dem Spiel stehen. Wenn er auch in solchen Fällen an der einzig richtigen Entscheidung festhält, fällt die Begründung schwach aus, weil dafür nicht auf den Grundrechtsschutz (rights thesis) zurückgegriffen werden kann.44 Während dies für das deutsche Rechtssystem wenig überraschend klingt und die Unterscheidung von Regel und Prinzip vor allem durch die Rezeption von Robert Alexy45 relative Anerkennung in Dogmatik und Rechtstheorie gefunden hat,46 ist die These Dworkins für das anglo-amerikanische Rechtssystem schon in seinen vorgestellten Komponenten eine Herausforderung und auf eher geringe Akzeptanz gestoßen. Dieser Umstand findet in der mangelnden Rezeption Dworkins in der Dogmatik der „sentencing guidelines“ Ausdruck, der man im ersten Zugriff ein Votum für die Figur der einzig richtigen Entscheidung unterstellen möchte und in der man diese Figur doch nicht findet. In der deutschen Dogmatik und in der Rechtstheorie ist dem Ansatz Dworkins in erster Linie die Ontologisierung sowohl der Individualrechte als auch der ihnen komplementären Figur der einzig richtigen Entscheidung entgegengehalten worden.47 Sofern sie jedenfalls in seiner späteren Monographie „Law’s Empire“ (1986) nicht mehr dingfest gemacht werden kann, weil es dort Dworkin um die „Integrität“ des interpretierenden Richters geht,48 mag sie dahingestellt bleiben zugunsten der hier entscheidenden Frage, ob die Figur der einzig richtigen Entscheidung ein schlichter Stolperstein der Dogmatik ist oder ein nützlicher Baustein.49 Für die Antwort ist daran zu erinnern, dass mit Dworkins Votum der Einspruch gegen das Abwägungsparadigma einhergeht, das jedenfalls in der Rechtsprechung des BGH zum Strafprozessrecht den Ton angibt und in der in der jüngeren Vergangenheit zunehmenden Berufung auf eine Gesamtschau oder Gesamtbetrachtung Ausdruck findet. Methodologisch zugespitzt, mag man dieser Abwägungsjurisprudenz entgegenhalten, dass Abwägung solange keine Methode ist, als nicht Kriterien dafür statuiert werden, welche 44
Bittner (Fn. 38), 242 Fn. 29. „Der für die Unterscheidung von Regeln und Prinzipien entscheidende Punkt ist, dass Prinzipien Normen sind, die gebieten, dass etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maß realisiert wird. Prinzipien sind demnach Optimierungsgebote … Demgegenüber sind Regeln Normen, die stets nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden können.“ Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, 75 f. 46 Das betrifft insbesondere die Deutung von Prinzipien als Optimierungsgebote. 47 Entgegen der herrschenden Lesart kritisch zur (vorgeblichen) Ontologisierung s. Osterkamp, Juristische Gerechtigkeit, 2004, 73 Fn. 45 mit Hinweis auf Dworkin (Fn. 38), 216 („I intend no such metaphysics“). Die damit zusammenhängende These eines Bruchs im Werk vom Dworkin bleibt hier gleichfalls dahin gestellt; s. Wesche/Zanetti (Hrsg.), Dworkin. Un débat – in der Diskussion – debating Dworkin, 1999. 48 S. zuletzt Herbst, JZ 2012, 895. 49 Beispielhaft für die Kritik auch aus rechtstheoretischer Sicht Koller, Theorie des Rechts, 2. Aufl. 1997, 181 („ohne jeden Nutzen“). 45
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Gehalte in den Prozess der Abwägung einzustellen sind.50 Deshalb könnte sich die These der einzig richtigen Entscheidung auch als Ausgangspunkt für eine Methodologie des Strafprozessrechts eignen, die nicht eine Abwägungsjurisprudenz adelt, in der z. B. bei der Beweisverwertung der Grundrechtsschutz unter die Räder des Anspruchs der Wahrheit im Strafverfahren gerät.51 Dworkins These wurde in der deutschen Rechtstheorie vor allem von Robert Alexy und Jürgen Habermas aufgegriffen, der wiederum rechtstheoretisch auf Alexy sowie zunehmend auf die Studien von Klaus Günther zurückgegriffen hat. Während Habermas die juristische Argumentation zunächst als strategisch verstandene Interaktion der kooperativen Wahrheitssuche im Diskurs kontradiktorisch gegenüberstellte,52 knüpfte er dann an Alexys „Theorie der juristischen Argumentation“ (1978) an, um das juristische Argumentieren als „Sonderfall“ des praktischen Diskurses zu begreifen.53 Wiederum ein Jahrzehnt später betonte er in Abkehr von der Sonderfallthese die Institutionalisierung von Kommunikation,54 um mit Günther einen forensischen Raum „für das freie Prozessieren von Gründen in Anwendungsdiskursen“ zu gewährleisten.55 Weiterhin geht es aber Habermas darum, die entscheidungsdeterminierende Potenz vernünftigen Argumentierens zu heben. Dazu gehört die Forderung, den argumentativen Prozess mit institutionalisierten Verfahren zu verschränken.56 Diese Verschränkung spiegelt die einzig richtige Entscheidung. Mit ihr zielt Habermas auf eine Gültigkeit von Aussagen für uns, die über die Gewährleistung von Bedingungen der Akzeptabilität hinaus geht, d. h. in den Worten eines Justizpraktikers verlangt, dass eine erstinstanzliche Entscheidung nicht nur revisionssicher, sondern auch richtig ist:57 „Normative Geltungsansprüche werden für interper50 Vgl. zuletzt Rückert/Seinicke (Hrsg.), Methodik des Zivilrechts. Von Savigny bis Teubner, 2012, 31. 51 In der insoweit am weitesten fortgeschrittenen Kommentierung von Lüderssen/Jahn in der Vorbemerkung zum Kommentar von Löwe/Rosenberg, in der der Grundrechtsschutz zu den Ausgangspunkten einer verfassungskonformen Methodologie des Strafverfahrens gehört, spielt die hier erörterte Figur keine Rolle. Dessen ungeachtet ist diese Vorbemerkung der bislang einzige Versuch von Bedeutung, eine auf das Strafrecht gemünzte Methodologie zu formulieren. 52 „Der Diskurs ist keine Institution, er ist die Gegeninstitution schlechthin.“ Habermas, in: Habermas/Luhmann (Hrsg.), Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, 1971, 142 ff., 202. 53 Habermas, Eine Theorie des kommunikativen Handelns, 1981, 62. Als „Mittel der Eristik“ ist ihr aufgegeben, „intersubjektive Überzeugungen kraft besserer Argumente herauszubilden“; zur Rekonstruktion der Entwicklungsstufen bei Habermas s. Neumann, in: Krawitz/Preyer (Hrsg.), Rechtstheorie 27, 1996, 415 ff. 54 Zur Auseinandersetzung Habermas, Faktizität und Geltung, 4. Aufl. 1994, 281 ff. mit Replik von Alexy, Ratio Juris, 1999, 374. 55 Habermas (Fn. 54), 289. 56 Habermas (Fn. 54), 288 ff. 57 Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, 1996, 342 (Anhang zu „Faktizität und Geltung“: Replik auf Beiträge zu einem Symposium der Cardozo Law School).
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sonale Beziehungen einer sozialen Welt erhoben, die nicht in derselben Weise von ,unserem Zutun‘ unabhängig ist wie die objektive Welt. Die diskursive Behandlung ist aber insofern ,wahrheitsanalog‘, als sich die Beteiligten im praktischen Diskurs am Ziel einer gebotenen, erlaubten oder verbotenen – ,einzig richtigen Antwort‘ – orientieren.“ Und weiter: „Im Falle eines normativen Geltungsanspruches begründet das diskursiv erzielte Einverständnis die Anerkennungswürdigkeit der entsprechenden Norm – und trägt insofern selbst zur Erfüllung der Gültigkeitsbedingungen bei. Während rationale Akzeptabilität die Wahrheit einer Aussage nur anzeigt, leistet sie zur Gültigkeit von Normen einen konstruktiven Beitrag.“58 Wenn gleichwohl Abstriche am konsensualen Verfahren gebilligt werden, so ist dies dem Zeitfaktor in realen (forensischen) Diskursen geschuldet. Er führe die Gemeinschaft der Erkenntnissubjekte dazu, „sich mit rationaler Akzeptabilität als einem hinreichenden Beleg für Wahrheit zufriedenzugeben“.59 Die Pointe liegt darin, dass Richtigkeit oder Wahrheit ein unverfügbarer Anspruch des Erkennens ist, eben weil sich die Kriterien der rationalen Akzeptanz ändern und je nach Erkenntnissituation differieren.60 Die Analogie zur Wahrheit in Tatsachenfragen führt im normativen Bereich nun nicht dazu, dort in gleicher Weise Objektivität einzufordern. Als bestehe keine vergleichbare Realität, auf die wir uns beziehen können, wird der Objektivierung dort eine hermeneutische Grenze gesetzt.61 Die wahrheitsanaloge Unbedingtheit wird bei der Richtigkeit kompensiert durch die „Orientierung an der immer weitergehenden Inklusion fremder Ansprüche und Personen“, zuletzt an „ebenso unverfügbaren pragmatischen Voraussetzungen der Argumentationspraxis“62, die im Recht in dynamischer Gesetzgebung umzusetzen sind. Freilich muss die „Lebenswelt“, für die im Strafrecht vor allem das Kriminaljustizsystem steht, dafür herhalten, den aufgerissenen Abgrund zwischen „objektiver“ und „sozialer“ Welt zu überbrücken, den Platz für die einheitliche Wirklichkeit einzunehmen. Gewiss wären die Absprachen im Strafverfahren ein willkommener Lackmustest für diese Konzeption und es fällt schwer, hier mit mehr oder weniger „Habermas-freundlichen“ Verfechtern der Absprachepraxis (Klaus Lüderssen, Matthias Jahn) und ihrer Legalisierung durch den Gesetzgeber die Verständigung im Strafrecht strukturell als kooperative Wahrheitssuche vorzustellen. Es möchte scheinen, dass die Figur der einzig richtigen Entscheidung im Strafverfahren nur eine zweifelhafte Rolle spielen kann, solange das trotz der Ab58
Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, 1999, 264 Fn. 51. Habermas (Fn. 58), 260. 60 In der Folge von Peirce drückt Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, 514, diesen Sachverhalt so aus: „Genau genommen ist aber selbst der hypothetische Konsens nicht das Kriterium der Wahrheit, sondern Folge dessen, dass Realität und Meinung übereinstimmen. Mit anderen Worten: Die Realität ist und bleibt das Kriterium (im Sinne von Maßstab) der Wahrheit“. 61 „Ein solcher rechtfertigungstranszendenter Bezugspunkt fehlt der Richtigkeit von moralischen Urteilen und Normen. Der Begriff der ,normativen Richtigkeit‘ geht in rationaler Behauptbarkeit unter idealen Bedingungen auf; ihm fehlt die ontologische Konnotation des Bezugs zu Gegenständen, von denen wir Tatsachen behaupten“; Habermas (Fn. 58), 56. 62 Habermas (Fn. 58), 56 f. 59
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sprachen weiterhin leitende Prinzip der Inquisition ontologisierend verstanden wird, als ginge es im Strafverfahren darum, eine vorgefundene (einzig richtige) Entscheidung aufzudecken, ohne die dialektische Struktur der Feststellung von Wahrheit zu berücksichtigen. Stellt man die Figur der einzig richtigen Entscheidung nicht als ontologische Feststellung, sondern als eine dem juristischem Denken wohlvertraute regulative Idee vor, bleibt zunächst offen, ob es die einzig richtige Entscheidung tatsächlich geben kann. Es ist gerade die Pointe dieser Auffassung, dass die Frage offen bleibt und damit im pragmatischen, prozedural-institutionellen Kontext liegt.63 Deutlich wird das grundrechtsschützende Potential der Rechtsfigur dann, wenn es um die Kontrolldichte bei Grundrechtseingriffen geht und wenn damit die Kontrolle im Instanzenzug grundgelegt wird. Daher soll nach Neumann der Entscheider so verfahren, „als ob in jedem Fall nur eine Entscheidung richtig wäre“.64 Spricht man beim Richter, nicht zuletzt auch beim Berufungs- und Revisionsrichter65, von „als-ob“, sei diese Rede identisch damit, von einer Fiktion zu sprechen.66 In dieser funktional-institutionellen Perspektive führt die Figur zum heilsamen Befund eines insgesamt intakten Rechtswesens: „Die Frage nach der Funktion von Wahrheit im Recht beantwortet sich in dem Befund ihrer Funktionalisierung.“67 Damit wird die Figur nicht mehr theoretisch, sondern praktisch begründet („umgestellt“).68 Die Theorie tritt nur noch dann auf, wenn der institutionelle Kontext es gebietet.69 Schließlich trägt die Figur nicht-essentialistisch verstanden auch Früchte im materiellen Strafrecht beim Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB), soweit sie dafür herangezogen werden kann, vor rückwirkenden Rechtsprechungsänderungen zu schützen.70 Dem hat das BVerfG in seiner Leitentscheidung vom 10. Juni 2010 prinzipiell Rechnung getragen.71 Darin fordert das BVerfG Präzisierung „nach Möglichkeit“, womit es das Bestimmtheitsgebot als Optimierungsgebot
63 Peczenik, in: Essays in Legal Theory in Honor of K. Makkonen, Oikeustiede Jurisprudentia 16, 1983, 252 ff. 64 Neumann (Fn. 11), 40. 65 Neumann (Fn. 11), 61; zur Frage der Revisibilität s. a. ders., in: FS Hassemer, 2010, 153 ff. 66 Neumann (Fn. 11), 63 a.E. 67 Neumann (Fn. 11), 58. 68 Neumann (Fn. 11), 41. 69 Neumann (Fn. 11), 54. Damit scheint auch die Frage erledigt, ob der juristische Diskurs als „Sonderfall“ des allgemein-praktischen Diskurses interpretiert werden kann; abl. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, 83 ff. Ihr liegt nämlich die Auffassung zugrunde, dass in der richterlichen Entscheidung „eher eine Aufgabe der theoretischen als der praktischen Vernunft“ gesehen wird (1999, 26 Fn. 52). 70 S. 60 ff. 71 S. Schulz, in: FS Roxin, 2011, 305 ff.
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versteht.72 Die optimale Präzisierung soll, was sich als ein Präzisierungskontinuum vorstellen lässt, in einem funktional-arbeitsteiligen Zusammenwirken von Gesetzgeber und Rechtsprechung erreicht werden. Die damit erreichte Effektivität der Kontrolle bleibt aber im Hinblick auf die nicht weiter entfaltete Rede von verfassungsrechtlichen „Anforderungen“, die über den Vertrauensschutz hinausgehen, aufklärungsbedürftig.73 Der konkludente Hinweis des BVerfG darauf, dass der Vertrauensschutz nur ein beschränktes Schutzniveau garantiert, lässt sich als Votum für eine Zurechnung objektiver Art im Verfahrensrecht begreifen. Geläufig ist, dass der Vertrauensschutz eine Subjektivierung mit sich bringt, die einem angemessenen Grundrechtsschutz entgegenstehen kann. Die Ausgestaltung dieser „Anforderungen“ ist eine der künftigen Proben auf die Nützlichkeit der Figur der einzig richtigen Entscheidung im Rahmen der Grundlegung von objektiven Maßstäben der Zurechnung im Strafverfahrensrecht. Fraglich ist, ob ein deflationäres Verständnis der Figur, in dem sie nicht mehr als eine Fiktion markiert,74 dafür nützlich genug ist oder ob man ihr nicht ein höheres Maß an regulativer Kraft, d. h. ein konstitutives Potential zusprechen muss, das gerade in der Ausbildung starker prozeduraler Kautelen für den Grundrechtsschutz zu heben ist.75 Der philosophisch nahe liegende Rekurs auf eine „illocutionary force“ in der Sprechakttheorie von Searle führt nicht weiter, weil bei Searle mit diesem Begriff abseits der Normativität des Rechtssystems eine sprechakttheoretische Skalierung zwischen Vermutung und eingeschworener Behauptung angesprochen ist, die der normativ gesteuerten Implementierung in einem konkreten Rechtssystem bedürfte. Der späte Searle76 liefert dafür mit der Unterscheidung von natürlichen und institutionellen Tatsachen einen Ansatz zur Lösung, der an dieser Stelle nicht entfaltet werden kann.
72 S. nur Kuhlen, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen 2006, S. 3 Fn. 19, mit Verweis auf Alexys Konzeption. 73 „Gerade in Fallkonstellationen, in denen der Normadressat nach dem gesetzlichen Tatbestand nur noch die Möglichkeit einer Bestrafung erkennen kann und in denen sich erst aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen lässt (vgl. BVerfGE 26, 41 43; 45, 363, 371 f.), trifft die Rechtsprechung eine besondere Verpflichtung, an der Erkennbarkeit der Voraussetzungen der Strafbarkeit mitzuwirken. Sie kann sich auch in über die allgemeinen Grundsätze des Vertrauensschutzes (vgl. dazu BVerfGE 74, 129, 155 f.; 122, 248, 277 f.) hinausgehenden Anforderungen an die Ausgestaltung von Rechtsprechungsänderungen niederschlagen.“ (E Rn. 81). 74 S. dafür auch Herbst, JZ 2012, 899. 75 Dann wird aus einer Rede von der einzig richtigen Entscheidung als regulativer Idee, in der das kritische Potential zu verblassen droht (s. nur die Subjektivierung bei Herbst, JZ 2012, 900) das scheinbare Paradox einer konstitutiv-regulativen Idee, vgl. Schulz (Fn. 3), 244 f. 76 Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, 1997 (The Construction of Social Reality, 1995); hierzu Schulz (Fn. 3), Teil II passim.
Über die philosophischen Wurzeln der Trennung zwischen Unrecht und Schuld Von Paulo de Sousa Mendes1
I. Einführung Die Trennung von Unrecht und Schuld innerhalb des Systems der Verbrechenslehre in voneinander unabhängige Elemente vollzog sich im deutschen Sprachraum vor etwa 130 Jahren im Gefolge einer Umwälzung, der durch Franz von Liszt Vorschub geleistet wurde.2 Gemeinhin wird diese Neuerung noch heute so herausgestellt, als sei sie die größte Errungenschaft aller Zeiten auf dem Gebiet der Strafrechtslehre.3 Jedenfalls ist sie Schlüssel des anhaltenden Erfolges, den die deutsche Strafrechtslehre in so vielen anderen Ländern erlangt hat. Gewiss wurden dem Zeitgeschmack nicht mehr zusagende Aspekte des von von Liszt begründeten wissenschaftlichen Verbrechenssystems wiederholt angegriffen, doch gingen solcherlei Kritiken von einer Akzeptanz der Gültigkeit des Systems im Ganzen aus (d. h. es handelte sich um interne Kritiken), und die Fortschritte kamen erwartungsgemäß nicht über nahezu logische Umstellungen der Verbrechensmerkmale innerhalb der beiden von ihm geschaffenen Kategorien hinaus. Alles in allem stellt sich von Liszts System in seinem Kern gefestigter denn je dar, zumal die Trennung zwischen Unrecht und Schuld heute den Anschein erweckt, in Stein gemeißelt zu sein4. Von Liszts Erben haben zu keiner Zeit die im Utilitarismus gründenden, ethischen und politischen Wurzeln der Trennung zwischen Unrecht und Schuld im Hinblick auf die entsprechenden ideologischen Ziele durchforstet, zumal allzu gerne der Utilitarismus verinnerlicht wurde und man nicht bereit war, Fundamente und Anwendungen des hier zur Debatte stehenden Verbrechenssystems zu kritisieren. 1 Aus dem Portugiesischen übersetzt von André Hölzer. Für die kritische Durchsicht des Textes sei Prof. Dr. Kai Ambos herzlichst gedankt. 2 Ersichtlich wird dies schon in der 1. Aufl. seines Lehrbuches von 1881. Im Weiteren zitiert in seiner 2. Aufl.: v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 1884. 3 Nach den Worten von Welzel sei dies der bedeutendste dogmatische Fortschritt der letzten zwei oder drei Generationen gewesen (vgl. Welzel, JuS 1966, 421 ff.). 4 Zur gegenwärtigen Diskussion über die Trennung von Unrecht und Schuld, vgl. Greco, GA 2009, S. 636 ff.
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Kaum jemand fand sich, der dieses Verbrechenssystem von außen einer kritischen Betrachtung, d. h. einer externen Kritik, hätte unterziehen wollen; die dem Denken von Liszts und seiner Nachfolger feindselig eingestellten Stimmen sind mangels ausreichender Anhänger in Vergessenheit geraten.5 Es soll hier nun eine externe Kritik an dem von von Liszt begründeten Verbrechenssystem geübt und der ihm zugrunde liegende Utilitarismus aufgezeigt werden, um so eine Rückbesinnung auf das an sich schuldhafte Unrecht als zentrale Kategorie der strafrechtlichen Verantwortung zu erleichtern. Es sei daran erinnert, dass von Liszt die Unterscheidung zwischen Unrecht und Schuld weitgehend bei Rudolf von Jhering aufgefunden hatte.6
II. Die Entdeckung des objektiven Unrechts im Privatrecht Jhering führte im Jahre 18677 den Begriff des objektiven Unrechts im Privatrecht ein, anlässlich einer an Adolf Merkel gerichteten Kritik8, wobei von Merkel zum ersten Mal die Vorstellung der Einheit von Unrecht und Schuld als System entwickelt worden war.9 Merkels Auffassung nach konnte das Wesentliche des Unrechts nur die Zurechenbarkeit sein, war doch die Rechtsordnung die Gesamtheit aller Gebote und Verbote, die sich mittels Imperativen an den Willen des schuldfähigen Subjektes richten. Andernfalls zielten Imperative nicht darauf ab, die Verletzung des Gegenstandes eines subjektiven Rechts zu verhindern (sei sie das Ergebnis von Zufall oder Geistesverwirrung oder sei sie von einsichtsfähigen Menschen verursacht), sondern die Verletzung des subjektiven Rechts selbst (als Anspruch auf Respekt gegenüber den Anderen), der nur durch den denkenden, wollenden und sich selbst als verantwortlich vorstellenden Menschen angegriffen werden kann.10 Merkels These wurde sogleich von Jhering bestritten. Dieser argumentierte, im Privatrecht sei ein Begriff des schuldlosen bzw. objektiven Unrechts vonnöten, um gewisse rechtliche Sachverhalte umfassend zu klären, insbesondere mit Blick auf den Besitzer guten Glaubens einer fremden Sache, dessen Schuldlosigkeit nicht 5 Beispielsweise der Hegelianer H. Mayer, Das Strafrecht des Deutschen Volkes, 1936, passim. 6 Vgl. Baratta, in: Wieacker/Wollschläger (Hrsg.), Jherings Erbe, 1970, S. 18 ff. 7 Vgl. v. Jhering, Das Schuldmoment im römischen Privatrecht – Eine Festschrift (1867), neuerlich in: Vermischte Schriften juristischen Inhalts, 1968 (Faksimile der Aufl. Leipzig [Breitkopf und Härtel], 1879), S. 159 ff. 8 Vgl. Merkel, Zur Lehre von den Grundeinteilungen des Unrechts und seiner Rechtsfolgen, Kriminalistische Abhandlungen, Bd. I, 1971 (Faksimile der Aufl. Leipzig [Breitkopf und Härtel], 1867), S. 41 ff. 9 Zielinski zufolge habe Merkel auf diese Weise die Kontroverse entfacht, die den wahren Anfang der modernen strafrechtlichen Dogmatik markiert (vgl. Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, 1973, S. 17 – 18). 10 Vgl. Merkel (Fn. 8), S. 46 f.
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im Widerspruch zur Absicht des rechtmäßigen Eigentümers steht, allein auf Grundlage der Ungerechtigkeit des sachlichen Zustandes, seine Sache wieder in eigenen Besitz zu bringen.11 Der Begriff des objektiven Unrechtes löste den vorliegenden Interessenskonflikt gleichgewichtig, erlaubte er doch die reivindicatio gegen den Besitzer guten Glaubens, womit das Interesse des Eigentümers an der Aufhebung des beunruhigenden Zustandes an seinem absoluten Recht erfüllt wurde, gleichzeitig aber als Gegenleistung das Schuldprinzip respektierte, was den Besitzer guten Glaubens von jeglicher Wiedergutmachung freistellte.12 Der Begriff des objektiven Unrechts, der die Feststellung der sich nur auf die Verwirklichung der rechtswidrigen Tat beziehenden rechtlichen Konsequenzen erlaubt, unabhängig von der Schuld des Handelnden, übte somit im Privatrecht eine unerlässliche Funktion aus, wohl wissend, dass der Wert der Begriffe allein in ihrer Funktionsfähigkeit liegt. Der Begriff des objektiven Unrechts war alles andere als trivial: „Leicht ist es, das Unrecht zu erkennen, wo das Delikt an seiner Wiege sitzt, wo schon die Form seiner Begehung, der böse Blick und die geballte Faust des Thäters es als solches kennzeichnet; das einfache sittliche Gefühl im Menschen reicht aus, um ihm das Urtheil zu sprechen. Aber das Erkenntniß über das objective Unrecht ist ungleich schwerer, denn letzteres hat nichts Verletzendes, es ist frei von aller Schuld, ja es verträgt sich mit der festen Ueberzeugung des eignen Rechts; um ihm das Urtheil zu sprechen, dazu bedarf es der vollen Klarheit über Inhalt und Ausdehnung des verletzten Rechts“13. Denjenigen, die meinten, dass das schuldlose bzw. objektive Unrecht das Schreckgespenst der gegen das Recht wirkenden Natur freiließe, entgegnete Jhering, dass dieser Begriff nicht in eine rein physische Zerstörung von Gütern ausartete (beispielsweise der Hagel, der das Kornfeld zerstört), denn er schloss immer eine Verletzung eines Rechts ein. Die Verletzung eines Rechts als solche schlösse den Schuldaspekt aus, enthob jedoch keineswegs der Anknüpfung an den menschlichen Willen. Jhering zufolge sollte man nur dann vom objektiven Unrecht sprechen, wenn ein Wille – auch wenn er nicht schuldbehaftet ist – einem fremden Recht gegenüberstünde. 1. Die Definition der Rechte im Privatrecht „Rechte sind rechtlich geschützte Interessen“, so schrieb Jhering in den letzten von ihm abgefassten Seiten von Geist des römischen Rechts (III. Teil, 1. Abt., 2. Abschn., §§. 60 – 61)14, womit er klar und deutlich die Wendung seines Denkens hin zu 11
Vgl. v. Jhering (Fn. 7), S. 160. Vgl. v. Jhering (Fn. 7), S. 210. 13 V. Jhering (Fn. 7), S. 195. 14 Vgl. v. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Bd. III, 1, 4. Aufl. 1888, S. 339 u. 351. Vgl. zu diesem Belang Pasini, in: Wieacker/ Wollschläger (Hrsg.), Jherings Erbe, 1970, S. 176 ff.; vgl. ebenso Villey, in: Wieacker/Wollschläger (Hrsg.), Jherings Erbe, 1970, S. 217 ff. 12
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einer pragmatischen Rechtswissenschaft ankündigte. Seine Abhandlung zum römischen Recht, welche er nunmehr als unverbesserlich mit Formfehlern der „Begriffsjurisprudenz“ belastet ansah, blieb indessen unvollständig. Als Verletzung eines rechtlich geschützten Interesses hat das Unrecht objektiv zu sein, gerade weil es mit der Substanz der Rechte in Beziehung steht, und diese Rechte sind letztendlich nicht subjektiv (d. h. sie sind keine Eigenschaften von Einzelnen), sondern objektiv, gleichsam nicht körperliche Sachen – Güter –, welche der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dienen. Jhering zeigte sich hier als Romanist von seiner besten Seite, indem er seine Wurzeln direkt auf die Texte des Corpus iuris civilis zurückführte und die gesamte moderne Romanistik (Savigny, Puchta und Windscheid), welche aus der Höhe ihres „Begriffshimmels“ debattierte, zurückwies.15 Jhering zufolge waren die Rechte, obschon sie objektiv waren, mit der Vorstellung eines Subjektes als ihrem Destinatär (d. h. Adressaten)16 untrennbar verbunden. Klar wird, dass damit nicht eine Subjektivierung der Rechte einherging, sondern dass die Rechte den Einzelnen als ein Zwecksubjekt17 betreffen: „Subject des Rechts ist derjenige, dem der Nutzen desselben vom Gesetz zugedacht ist“18. Und derjenige ist es, dem das Gesetz folgerichtig die Mittel zum Schutz seiner Interessen zugesteht: „[D]as Interesse und der Selbstschutz desselben liegen vor“19. Wie das? Wesentlich sind die Maßnahmen, die die Rechtsordnung dem Subjekt zur Verfügung stellt, um gegen die Verletzung seiner Interessen anzugehen (z. B. das Klagerecht20). Jhering offenbart hier – erneut – seine romanistische Gesinnung, zumal er wie die Römer die Rechte auf den Prozess zurückführte. Seine Perspektive macht klar, warum das Unrecht, obwohl es objektiv ist, niemals mit den von Naturgewalt verursachten Schäden zu verwechseln ist, denn die Verteidigung eines Rechts ist nicht etwa über einfache physische Gegenmaßnahmen (z. B. die Wiederherstellung einer durch ein Hochwasser niedergerissenen Mauer), sondern vor allem über rechtliche Gegenmaßnahmen (z. B. die Klage) gewährleistet.21 Letztere richten sich erklärtermaßen an jemanden, der für die Verletzung des rechtlich geschützten Interesses verantwortlich ist, und es ist weithin anerkannt, dass man gegen Naturgewalten nicht rechtlich vorgeht. 2. Die mühelose Anpassung des Utilitarismus ans Privatrecht Die gerechte Lösung von Interessenskonflikten war immer schon das Anliegen des Privatrechts, dessen paradigmatische Ausprägung heute das Zivilrecht ist. Hier muss wohl nicht an die von Ulpian gegebene Definition von Privatrecht erinnert 15
Ein Himmel, der letztlich eher einer Begriffshölle glich, vgl. Villey (Fn. 14), S. 340 ff. Vgl. v. Jhering (Fn. 14), S. 336 u. 340. 17 Villey (Fn. 14), S. 222. 18 V. Jhering (Fn. 14), S. 336. 19 V. Jhering (Fn. 14), S. 360. 20 Vgl. v. Jhering (Fn. 14), S. 339, 344, 346 u. 351 ff. 21 Vgl. v. Jhering (Fn. 7), S. 161. 16
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werden22, die vollständig wird, wenn man ergänzt, dass Nutzen das ist, was im Interesse der Personen liegt. Doch geriet diese Ausrichtung des Privatrechtes in den Hintergrund aufgrund des in der Rechtsphilosophie – und somit auf der Ebene der den Rechtssystemen zugrunde liegenden Verständniskategorien – anhaltenden Erfolges des (im Stile von Kant) formalen aprioristischen Begriffes des subjektiven Rechts als der Macht des moralischen (oder, auf das Subjekt anspielend, freien) Willens, in Übereinstimmung mit den vom Verstand gesetzten Zielen, und dem Begriff des subjektiven (an sich schuldhaften) Unrechts als die willkürliche (d. h. ursprünglich freie) Verletzung des subjektiven Rechts des Anderen.23 Jhering bemerkte vor allen anderen, dass die Idee eines moralischen Willens, der von einem bösartigen Willen erdrückt werde, hinsichtlich der Darstellung des zivilrechtlichen Unrechts übertrieben war. Es überrascht nicht weiter, dass Jhering eine scharfsinnige Wahrnehmung der Harmonie oder Disharmonie der Begriffe in Bezug auf die Institutionen des Rechts hatte. Seinen tiefgreifenden theoretischen Kenntnissen des Privatrechts und seiner unermüdlichen Suche nach dem Geist des römischen Rechts in den aufeinanderfolgenden Phasen der europäischen Rechtssysteme ist es geschuldet, dass Jhering letzten Endes eine Aversion gegenüber formalen aprioristischen Begriffen entwickelte – wie etwa jener abstrakten Definition des Unrechts –, die dann starrsinnig auf rechtliche Situationen angewendet wird, bei denen man von vornherein wusste, dass eine solche Definition niemals passen würde. Jhering vervollkommnete hingegen die Reflexion ausgehend vom Bedeutungsinhalt des Rechts und der entsprechenden Rechtseinrichtungen, was konkrete Begriffe in bester hegelianischer Dialektik hervorbrachte, wie etwa die operative Definition des schuldlosen und objektiven Unrechts im Zivilrecht. Die dialektische Methode zeigt, dass unter den vielen modernen Philosophen, die das Recht studierten, Hegel bis heute der einzige gewesen ist, der erkannte, dass das Privatrecht im Zivilprozess sich auf den Konflikt bezieht, in dem die Parteien lediglich unmittelbar ihre eigenen Interessen sehen, ohne dazu im Stande zu sein, von den betreffenden individuellen Willen abzusehen, um so das konkret im Recht an sich zur Debatte stehende Gute als Ausdruck des allgemeinen Willens einzubeziehen, auch wenn beide Parteien eigentlich den vom Recht gewährten Schutz anstreben.24 Hegel zufolge zeigte sich der Interessenkonflikt in den verschiedenen den Parteien zukommenden Ansprüchen (z. B. Besitz vs. Eigentum), und die Rechtswidrigkeit, die der Position einer der beiden Parteien innewohnte, ergab sich letztlich aus der schlichten Unhaltbarkeit eines der streitgegenständlichen Ansprüche. Weiterhin war nach Hegel das Unrecht im Privatrecht (bzw. das gleich22 „Privates Recht ist, was den Nutzen Einzelner angeht“, s. D. 1.1.1.2 (ULPIANUS libro primo institutionum). 23 Vgl. ebenso Villey, Les origines de la notion de droit subjectif, 1953, sowie ders., Kant dans l’histoire du droit, 1958, neuerlich in: ders., Leçons d’histoire de la philosophie du droit, 1962, S. 221 ff. u. 251 ff. 24 Vgl. Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818 – 1831 (hrsg. u. komm. in 6 Bd. von Karl-Heinz Ilting), Bd. 2 (Rechtsphilosophie von 1820, veröffentlicht gemeinsam mit den handgeschriebenen Notizen Hegels von 1821 – 1825), 1974, S. 332 – 334. Zur Vertiefung, vgl. Knowles, Hegel and the Philosophy of Right, 2002, S. 33 ff., 141 u. 143.
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bedeutende bürgerliche Unrecht) in Anbetracht dessen ein unbefangenes Unrecht.25 Jhering verglich seinerseits den Begriff des ansonsten objektiven schuldlosen Unrechts mit dem hegelianischen Begriff des unbefangenen Unrechts.26 Doch sollte man in Jhering nicht einen Epigonen Hegels sehen, denn er übernahm die komplexe Definition des unbefangenen Unrechts nicht deckungsgleich. Weniger noch akzeptierte er die natürlichen Verknüpfungen dieser Definition mit der gesamten hegelianischen Rechtsphilosophie. So kommt es, dass Jhering alles in allem guten Grund hatte, sich als Entdecker des Begriffs des schuldlosen und objektiven Unrechts im Zivilrecht anzusehen. Die Definition der Rechte und des schuldlosen und objektiven Unrechts im Zivilrecht waren somit den romanistischen Neigungen Jherings nicht fremd, doch begründet seine Ausrichtung diese Definitionen nicht allein. Wie sonst versteht man, dass der Begriff des schuldlosen und objektiven Unrechts im Denken des frühen Jhering noch nicht vorkam, obwohl er immer schon wie kein anderer die Texte des römischen Rechts untersucht hatte, kamen sie doch seiner „naturhistorischen Methode“ entgegen.27 Letzten Endes waren die Definition der Rechte und des schuldlosen und objektiven Unrechts im Zivilrecht ein folgerichtiges Ergebnis der Wendung Jherings hin zu einer pragmatischen und wirklichkeitsnahen Rechtsprechung, die ihr Augenmerk den individuellen Interessen schenkte, die sich in der Gesellschaft einander gegenüberstanden. Die Abkehr Jherings von einer logisch-konzeptuellen Rechtswissenschaft und seine ab 1858 – 59 zu verzeichnende Zuwendung zu einer teleologischen und pragmatischen Rechtswissenschaft waren vom Werk Benthams28 beeinflusst. Benthams Denken spiegelte die modernen Begriffe von Politik und Gesellschaft wider: die vom politischen Realismus (Machiavelli) entsakralisiserte Welt, die vernunftmäßig vorgestellte Welt der „Utopia“ (More), die Gemeinschaft der gebändigten Gewalt, erzielt um den Preis der Unterordnung aller unter die absolute Herrschaft des von den Einzelnen ursprünglich anerkannten Staates, um so die Angst aller vor allen auszutreiben (Hobbes), und, allem voran, die auf einem gemeinsamen Interesse an der Erhaltung äußerer Güter errichtete menschliche Gesellschaft 25 Die Zuschreibung eines objektiven Charakters zum unbefangenen Recht erscheint in Molina Fernandez, Antijuridicidad penal y sistema del delito, 2001, S. 192, Fn. 20, S. 195 u. 199. 26 Wie man bei Jhering (Fn. 7), S. 159 f. (Hegel, Die Philosophie des Rechts, § 82 ff. zitierend) sehen kann. 27 Man lese diesbezüglich die ersten vierzig Seiten von v. Jhering, Geist des römischen Rechts, Bd. I, 4. Aufl. 1878. 28 Die Bedeutung des Werks von Bentham – vermittels des Werkes des als dessen Übersetzer und Publizist tätigen Friedrich Eduard Beneke – in der Ausprägung des Denkens Jherings war dergestalt, dass es seine Wendung hin zu einer teleologischen und pragmatischen Methode im Recht selbst konditionierte. Diese Methode sollte dann als Ausgangspunkt für die Begründung der „Interessenjurisprudenz“ von Heck dienen (vgl. Coing, ARSP 54 [1968], 75).
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(Hume). Bentham reiht sich so ein in die von Genealogie des Bruches mit der klassischen, von Aristoteles zu Augustinus reichenden Tradition der Politik als Tugendmodell. Machiavelli, More, Hobbes und Hume interessierten sich weniger für die Tugenden, die die Verwirklichung der Menschen im Staat (pólis oder civitas) gewährleisteten, sondern alleine für die materiellen Konditionen des menschlichen Überlebens und möglicherweise einer von der moralischen Vervollkommnung losgelösten Verbesserung des menschlichen Lebens. Die modernen Autoren gingen folglich von einer schlichten praktischen Notwendigkeit der Beherrschung der Gefahren für die Menschen aus. Im Zuge der Untersuchung der Mechanik der angeborenen Wünsche, die die Menschen gegeneinander bringen, begründeten sie so nach und nach eine wissenschaftliche Sozialphilosophie mit der Bestrebung, die richtige politische und soziale Organisation hervorzubringen. Auch Bentham trachtete danach, empirisch die Interessen zu interpretieren, die das Verhalten aller Menschen bestimmten, und darauf geht die Errichtung seines Mottos sowohl der Moralität wie auch der öffentlichen Politik zurück: das Prinzip der Utilität, welches die Maximisierung des Wohlergehens oder der Glücklichkeit (das Wohl und die Abwesenheit von Schmerz) vorsah. Leicht mag man im Utilitätsprinzip den unmittelbaren Ursprung der von Jhering vorgeschlagenen Definitionen von Rechten und schuldlosem und objektivem Unrecht sehen. Das Verständnis der Rechte war verbunden mit konsequentialistischen Bewertungen (ob eine bestimmte Sache als ein Mittel zur Erzielung eines guten Ergebnisess taugt) und hedonistischen Bewertungen (ob nur das gut ist, was Lust macht oder Schmerz ausschaltet), welche darauf setzten, als moralisches und politisches Ziel höchstmögliches Wohl für alle hervorzubringen. Das Verständnis des schuldlosen und objektiven Unrechts war seinerseits auf negative Weise verbunden mit den gleichen konsequentialistischen und hedonistischen Bewertungen. Alles in allem sind dies die Merkmale (aller Versionen) des Utilitarismus. 3. Der Jheringsche Utilitarismus Obengesagtes reicht jedoch nicht aus, um Jhering zu einem soliden Benthamianer zu machen.29 Die Frage nach den Fundamenten des Utilitarismus führt notwendigerweise zur Entdeckung der problematischen Natur des Übergangs vom individuellem zum allgemeinen Interesse. Jhering selbst war daher prädestiniert dafür, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen und musste sogar alleine eine Lösung dafür auf-
29 Wohl war er ein überzeugter Anhänger Benthams, der sich aber auf die Schnelle bekehren ließ: er kannte lediglich die deutsche Übersetzung des „Traités de législation civile et pénale“, die Beneke auf der Grundlage der von Dumont herausgegebenen Ausgabe übersetzt hat (die einzige ausdrücklich von Jhering angeführte Schrift Benthams, vgl. v. Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. II, 5. Aufl. 1916, S. 133). Es ist wenig wahrscheinlich, dass Jhering ein Auge auf irgendeines der ethischen Schriften Benthams geworfen hatte, schon allein, weil von keinem eine deutsche Übersetzung existierte.
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finden. Jhering widmete beide Bände von „Der Zweck im Recht“30 der Erklärung der Art und Weise, wie die menschliche Natur mit ihren von Habgier geprägten Interessen mit dem Leben in Gesellschaft vereinbar sei und sogar kollektive Werke hervorbringt oder Institutionen ins Leben ruft.31 Er gab dem Interessensbegriff ein soziologisches Substrat, indem er persönliche Interessen abhängig von Kategorien von Gruppeninteresse zusammenfasste: die Individuen jeder einzelnen Berufsklasse, lokalen Gemeinschaft oder sozialen Klasse, die im körperschaftlichen, Gemeindeoder Klasseninteresse vereint sind (ein zwar kollektives, jedoch niemals verallgemeinerbares Interesse). Auf anthropologischer Ebene unterband Jhering somit den anorganischen Gegensatz eines jeden gegen jeden mittels der Entdeckung von sozialen Kräften. In dieser Hinsicht war Jhering ein Spiegel seiner Zeit: der Epoche des Triumphes des Kapitalismus im Fahrwasser des Klassenkampfes.32 Das Phänomen der Massenbewegungen, die Dialektik Revolution vs. Konterrevolution, das fortwährende Prosperieren des Kapitalismus gegenüber der zum Himmel schreienden Misere der Arbeiterklassen, all dies sind Faktoren, die wohl die energische methodologische Absicht bedingt haben, mit der Jhering es vorzog, im gesellschaftlichen Sturzbach einzutauchen, anstatt (wie Bentham) das Augenmerk auf die Interessen einzelner Individuen zu richten. Auf den ersten Blick sollte die Einbeziehung des Einzelnen in die Gruppe die empirische Begründung des Altruismus erleichtern, gerade weil dort aus der Sicht des Einzelnen sich sein eigenes Interesse mit dem der anderen verbindet und alle von der Synergie des Kollektivs profitieren. Doch ist die Verteidigung des Gruppeninteresses weit von einem unparteilichen Altruismus entfernt. Das Gruppeninteresse ist geradezu Grund für soziale Konflikte, denn es führt zur Herausbildung sozialer Organismen, die sich vehement fremden Interessen entgegenstellen. Dem veränderlichen Kräfteverhältnis zwischen den sozialen Organismens ist es geschuldet, dass die verschiedenen Interessen ungleich befriedigt werden (der aus dem Konflikt dieser Organismen resultierende Gleichgewichtspunkt entspricht wohl selten der höchstmöglichen Befriedigung der Interessen Aller, oder auch nur dem höchstmöglichen Wohle für die größtmögliche Anzahl). Worin bestand nun in der Praxis die als gesellschaftlicher Utilitarismus bekannte soziologische Doktrin Jherings33 ? Auf seine ihm eige30 Das Werk, das er selbst als Endergebnis seiner gesamten wissenschaftlichen Karriere ansah, auch wenn er es nicht zu Ende führen konnte (vgl. Losano, in: Wieacker/Wollschläger [Hrsg.], Jherings Erbe, 1970, S. 267, 272 u. 280). 31 Vgl. v. Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. I. sowie Bd. II, passim. 32 Seit der Revolution 1848 in Paris, die sich über einen Großteil Europas, einschließlich Berlin und Wien ausbreitete, schlossen sich den revolutionären bourgeoisen Ideologen die Arbeiterklassen an, die diese gemäßigten, liberalen Revolutionen in regelrecht gesellschaftliche Revolutionen verwandeln wollten. Trotz ihrer raschen Unterdrückung läuteten sie das definitive Ende des Feudalismus ein und erzwangen den raschen Fortschritt des industriellen Kapitalismus. Die Furcht vor der Revolution bestimmte von nun an das bürgerliche Denken, denn der Dampftopf der sich gegenüberstehenden sozialen Interessen trat vor aller Augen, jedesmal wenn er bei dem Auflauf von Massen auf den Straßen überzukochen anfing. 33 Vgl. v. Jhering (Fn. 29), S. 165.
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ne arglose Art, Widersprüche aufzulösen34, war für ihn jede geschichtlich gegebene Gesellschaft einfach aufgrund der Tatsache ihrer Existenz Beweis dafür, dass sie fähig dazu war, die bestmögliche Antwort auf die Anforderungen der kontrastierenden sozialen Kräfte zu geben (zumindest bis zum Eintritt der nächsten Revolution). Jhering glaubte nun, dass die geschichtlich gegebene Gesellschaft über ihre eigenen Erfordernisse an Glück entschied. Oder anders, sie entschied über den Anteil von Glück (d. h. Befriedigung von Interessen), die jeder Person abhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen, dominanten oder unterlegenen, Gruppe zugestanden wurde. Es ist daher verständlich, dass Jhering von marxistischen Autoren als ein Sprecher der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts angesehen wird.35 Die sozialen Strukturen konnten nichts anderes als Spiegelbild des Kräfteverhältnisses zwischen den sozialen Rivalen sein (Jhering wand in diesem Hinblick darstellende darwinistische Modelle auf die Gesellschaftswissenschaften an). Insbesondere wäre das Recht, in der konkreten Verfassung seiner rechtlichen Vorschläge, Reflex der dominanten Interessen innerhalb der Gesellschaft. Es verwundert nicht, dass Jhering, obwohl er das Recht auf den Boden des reellen Lebens brachte, vorgeworfen wird, er habe das Recht vollständig relativiert und so seine ethische Substanz zerstört.36 Die soziologisierende Begründung des Rechts machte aus dem Gesetzgeber eine Art Marionette der triumphierenden Interessen, jemanden, der keine Eigenständigkeit besaß, um aus Gründen der Gerechtigkeit Gesetze zu erlassen, sondern der schlicht dem Willen der sozialen Akteure gehorchte, gerade so als ob dieser Wille motivierenden Kausalfaktoren seiner gesetzgeberischen Absichten entspreche, wobei sie auch die jeweilige Gelegenheit und den jeweiligen Inhalt bedingt37. Das Recht, das aus dem vorherrschenden gesellschaftlichen Willen hervorgeht, nahm seinerseits auf alle Personen über ,Norm‘ und ,Zwang‘ Einfluss, um auf diese Weise die endlose Reproduktion der ,Lebensbedingungen der Gesellschaft‘ zu gewährleisten – eben die Bedingungen, ohne die der vorherrschende gesellschaftliche Willen zum Niedergang verurteilt wäre.38 Eingestandenermaßen war die Gewährleistung der Lebensbedingungen der Gesellschaft – welche diese auch waren – durch die maximale gesellschaftliche Steigerung der Furcht vor rechtlichen Sanktionen etwas, was stark nach den Ideen Benthams klang: die Person als egoistische Kreatur, die sich nur dann fremdem Interesse unterordnete, wenn aus ihrer Sicht der Preis einer Verletzung desselben zu hoch wäre. 34
Die Kritik stammt von Helfer, in: Wieacker/Wollschläger (Hrsg.), Jherings Erbe, 1970, S. 84. 35 Beispielsweise Sellnow, zitiert in Helfer (Fn. 34), S. 84 f. 36 Vgl. E. Wolf, Grosse Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl. 1963, S. 645 ff. 37 Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 46 f. 38 V. Jhering (Fn. 31), S. 399 u. schon zuvor S. 249 u. 345.
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„Der Zweck ist der Schöpfer des ganzen Rechts“: so lautete das von Jhering ausgewälte klanghafte Motto, um die Essenz des Werkes „Der Zweck im Recht“ zu beschreiben.39 Was war nun also der Zweck, von dem ausgehend der Inhalt und folgerichtig die wahre gesellschaftliche Nützlichkeit des Rechts bestimmt wurde? Erik Wolf bezichtigte Jhering des vollständigen Fehlens konzeptueller Klarheit bezüglich des Sinnes von ,Zweck‘ als Schlüsselbegriff im Recht.40 Wohl zutreffend ist es, dass Jhering eigentümlicherweise mangelnden Einblick im Gebrauch des kulturellen Erbes an den Tag legte, doch war der vorherrschende Sinn von ,Zweck‘ in seinem Diskurs die Vorstellung von praktischen Motiven (d. h. gesellschaftlichen Interessen), die die Rechtsnorm vorzeichneten41. An dieser Stelle bleibt nur zu sagen, dass die von Jhering vertretene, soziologische Theorie der Rechtsentstehung in einer doch etwas einfallslosen legalistischen Konzeption der Rechtsquellen aufgeht, anstatt dem Juristen die Möglichkeit zu eröffnen, direkt auf die gesellschaftlichen Interessen zu blicken, die dem Willen des Gesetzgebers zu Grunde lagen, geschweige denn, die vitalen Interessen, die miteinander im Widerstreit stehen, (wertneutralen Kriterien gemäß) einzuschätzen: „der Staat [ist] die alleinige Quelle des Rechts“42. So kann gesagt werden – um Larenz zu paraphrasieren – dass Jhering nicht über das legalistische Glaubensbekenntnis seiner Zeit hinausging.43 Zu schade, dass die dogmatische Wissenschaft des Rechts letztlich auf eine völlig unkritische Auslegung der Quellen beschränkt blieb! 4. Die Widerstandsfähigkeit des Verständnisses vom schuldhaften Unrecht im Strafrecht Was das strafrechtliche Unrecht anbelangt, so hielt es Jhering ausdrücklich für ein subjektives Unrecht.44 Jhering unterließ hier den Vergleich des subjektiven Unrechts mit den Hegelschen Erklärungen zu den Varianten des Unrechts. Hegel zufolge unterteilte sich das Unrecht in drei Formen: das unbefangene Unrecht, der Betrug und das Verbrechen.45 Doch ist die Gegenüberstellung von Betrug und Verbrechen rein willkürlicher Natur, gerade weil sie keiner der Trennlinien zwischen den verschiedenen Zweigen des Rechts entspricht. Diese Unterscheidung erklärt sich nur aus der magischen Anziehungskraft von Trichotomien auf Hegel.46 Verwundert über diese Gegenüberstel39
Vgl. v. Jhering (Fn. 31), S. 339 ff. E. Wolf (Fn. 36), S. 651. 41 Larenz (Fn. 37), S. 46. 42 V. Jhering (Fn. 31), S. 249. 43 Vgl. Larenz (Fn. 36), S. 47. 44 Vgl. v. Jhering (Fn. 7), S. 159. 45 Vgl. Knowles (Fn. 24), S. 141 ff. Vgl. auch Mohr, in: Siep (Hrsg.), G. W. F. Hegel – Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1997, S. 98 ff. 46 In diesem Sinne v. Jhering (Fn. 7), S. 159 f. Vgl. ebenso Knowles (Fn. 24), S. 142. 40
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lung von Betrug und Verbrechen, wandte Jhering sich von Hegels Erklärungen hierzu ab. Fasst man allerdings den Betrug als eine Art Verbrechen auf, so sind subjektives Unrecht und Verbrechen Begriffe, die sogar einiges gemeinsam haben können. Als Zivilrechtler sah Jhering keinerlei Notwendigkeit, viele Worte zum Begriff des subjektiven Unrechts im Strafrecht zu verlieren. Erste Vermutung: das subjektive Unrecht ist ein verbrecherischer Wille, der den Willen des Opfers nötigt und folgerichtig das Rechtssystem verletzt, welches aus dem allgemeinen Willen der Gemeinschaft entstand. In diesem Fall entspräche das subjektive Unrecht der von Hegel gegebenen Definition von Verbrechen.47 Auch ohne den Autor der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ beim Namen zu nennen, gab sich Jhering hegelianischer als jemals zuvor! Möglicherweise folgte er hier einfach der hegelianischen Schule, die die strafrechtliche Dogmatik im deutschsprachigen Raum des 19. Jahrhunderts beherrschte.48 Zweite Vermutung: die Subjektivität verläuft sich, in einem rein psychologischen Sinn, im Vorsatz, welcher zu den von den Sinnen fassbaren Aspekten der Unrechtstat hinzukommt. Mag sich Jhering, der Jurist ohne Seinesgleichen, mit einer solch armseligen Ansicht begnügt haben?49 Alles in allem war sich Jhering gewiss: bürgerliches und strafrechtliches Unrecht sind zu unterscheiden! Hielt Jhering nun die im Strafrecht behandelten Situationen angesichts materialistischer und utilitaristischer Schlagwörter (z. B. Interessen, äußere Güter, Schäden usw.) für unerklärbar? Erlag Jhering der spiritualistischen Anschauung, derzufolge es andere Kriterien zur Bewertung menschlicher Angelegenheiten gab, die über die einfache Einbeziehung von vitalen Interessen und Notwendigkeiten der Menschen hinausgehen? Sah er das Strafrecht als vom anderen Recht sowohl in seinen Grundlagen als auch in seinen Zielsetzungen unabhängig an? Wäre Jhering wirklich der hegelianischen Strafrechtsdogmatik gefolgt, dann sollten die Antworten auf diese Fragen zu bejahen sein, doch haben wir hier schon allzu viele Vermutungen angestellt, so rational sie auch sein mögen. Um Missverständnisse zu vermeiden: Jhering hat niemals versichert, dass das Strafrecht eigenständig sei! Später sollte Jhering – der Jurist der ständigen intellektuellen Revolution – gar das Gegenteil behaupten: „Verbrechen ist die von seiten der Gesetzgebung konstatierte, 47 Die Anspielung auf den ,bösen Blick‘ und die ,geballte Faust‘ des Verbrechers deuteten tatsächlich auf eine Definition des subjektiven Unrechts als eine Zwangsausübung auf die Freiheitssphäre des Anderen hin, insofern die Grausamkeit und drohenden Manieren des Agressors seinen Willen offenbaren, seinem Opfer Böses anzutun. 48 Vgl. Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965, S. 294. 49 Die von Jhering gegebenen Erklärungen zum Beispiel des Verbrechens des Diebstahls sind nicht dazu angetan, die Zweifel daran auszuräumen, ob der subjektive Charakter des strafrechtlichen Unrechts der Zwangsausübung auf die Freiheitssphäre des Opfers seitens des Diebes gleichkäme oder ob er sich auf den Vorsatz und die Absicht der Aneignung einer fremden Sache beschränkt. Man lese nur aus erster Hand seine Worte: „Die Klage gegen den Dieb […] beruht wesentlich auf dem Vorwurf der Rechtskränkung d. h. bewußter, wissentlicher Verletzung unseres Rechts, das Moment subjectiver Verschuldung ist ihr unerläßlich, es gibt keinen Diebstahl ohne Absicht“ (v. Jhering [Fn. 7], S. 159).
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nur durch Strafe abzuwehrende Gefährdung der Lebensbedingungen der Gesellschaft“50. Erinnert man daran, dass diese Lebensbedingungen die vorherrschenden Interessen in der Gesellschaft waren, so wäre das strafrechtliche Unrecht gleich dem zivilrechtlichen Unrecht, und das Strafrecht wäre lediglich ein Instrument zur Verteidigung dieser Interessen, das der Gesetzgeber unterstützend in Bezug auf andere Zweige des Rechts gebrauchen würde. Jhering führte so seine pragmatische Wendung bis zum Äußersten, doch letztlich überließ er die Angelegenheit den strafrechtlichen Kollegen, insbesondere von Liszt.51
III. Die Objektivierung des Unrechts im Strafrecht Von Liszt gab der Objektivierung des Unrechts im Strafrecht Vortrieb. Was war der Inhalt dieses schuldlosen und objektiven Unrechts? Die sogenannte materielle Rechtswidrigkeit bestand in einer Verletzung oder Gefährdung von Rechtsgütern52. Was waren die Rechtsgüter? Von Liszts Vorstellung zufolge waren es die berühmten rechtlich geschützten Interessen. Von Liszt gab somit eine Erklärung vom Bösen des Verbrechens gemäß dem Utilitarismus.53 50
Vgl. v. Jhering (Fn. 31), S. 382. In einem vom 22. 2. 1882 datierenden persönlichen Brief teilte Jhering von Liszt ausdrücklich mit, dass er seine Richtlinien und wesentlichen Konzeptionen auch im Bereich des Strafrechts ausgeführt zu sehen wünschte (apud Radbruch, Elegantiae Juris Criminalis, 1959, S. 215 m. Fn. 19). Radbruch persiflierte, indem er sagte, dass Jhering somit von Liszt zum Statthalter der Provinz des Strafrechts berief. 52 V. Liszt (Fn. 2), S. 94, auch S. 100 ff. 53 Von Liszt war ein heftiger Gegner der von Binding vorgeschlagenen Definition der Rechtsgüter. Ihmzufolge waren die Rechtsgüter die vitalen Interessen der Menschen bzw. der Gesellschaft, die der Gesetzgeber beschützte, und nicht die vom Gesetzgeber aus seinem Elfenbeinturm heraus eigenmächtig anerkannten Güter: „Bindings Rechtsgutsbegriff ist ein Scheinbegriff, d. h. ein Wort ohne Inhalt“ (vgl. v. Liszt, Rechtsgut und Handlungsbegriff im Bindingschen Handbuche, 1886, neuerlich in: ders., Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. I [1875 – 1891], 1970 [Faksimilie der Ausg. Berlin/J. Guttentag, 1905], S. 224). Trotz dieses kämpferischen Tones war der hier von von Liszt gegen Binding gerichtete Angriff reiner Augenschein. Führte man von Liszts Sichtweise bis zur letzten Konsequenz, so hätte man die Möglichkeit, indem man die besagten individuellen und gesellschaftlichen Interessen in den Fokus nimmt, die Bewertung selbiger seitens des Gesetzgebers zu kritisieren. Andererseits sollten Inhalt und Ausmaß des Unrechts direkt aus der gesellschaftlichen Realität bemessen werden, just aus dem Grunde, dass zur Verletzung neigende Interessen schon vor und unabhängig von dem Recht bestehen. Tatsächlich begründete von Liszt die Unterscheidung zwischen materieller und formaler Rechtswidrigkeit, wobei erstere auf der gesellschaftlichen Wirklichkeit fusst und zweitere auf dem positiven Recht. Scheinbar waren dies bedeutende Unterschiede in Bezug auf Bindings Denken, bei dem die Grundlage und das Maß der Rechtsgüter die Rechtsnormen waren und die Rechtswidrigkeit immer rein formal war. Doch verschwanden diese Unterschiede binnen kürzester Zeit: „[a]uch Liszt definiert letzten Endes das Rechtsgut effektiv als ein rechtlich geschütztes Interesse. Bis hin zu dem Punkt, dass der Vorzug, welcher der soziologischen und naturalistischen Ausrichtung und auf diesem Wege der materiellen Rechtswidrigkeit gewährt wurde, in jedem Falle der formalen Rechtswidrig51
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Alessandro Baratta beschrieb eindeutig die Einflüsse, denen von Liszt bei der Definition des Inhaltes des schuldlosen und objektiven Unrechts im Strafrecht ausgesetzt war. Es sei zitiert: „Was den Begriff der materiellen Rechtswidrigkeit, als Verletzung grundlegendster Interessen oder Lebensbedingungen der Gesellschaft verstanden, betrifft, so ist hier der Einfluß Jherings nicht direkt und nicht ausschließlich gewesen, darum aber nicht weniger wichtig. Tatsächlich förderte Jhering mit dem Begriff vom Verbrechen als Verletzung der Lebensbedingungen der Gesellschaft die Gedankenentwicklung, durch die die individualistisch-liberale Rechtsideologie überwunden wurde und die soziale Epoche im Strafrecht begann. Im Sinne jener gründlichen Wendung wirkte Jhering besonders durch den der sozialen Ethik gegebenen Vorrang vor der individuellen Moral und durch die Vorstellung der Gesellschaft als Zwecksubjekt des ethischen und juristischen Lebens sowie durch die daraus folgende Rückführung der Theorie des Rechtsgutes aus der individualistisch-liberalen Dimension in ihre ursprüngliche, schon in der naturrechtlichen Schule begründeten sozialethischen Dimension. Entscheidend für diese Umwandlung der Strafrechtswissenschaft, deren Ausdruck die materielle Theorie der Rechtswidrigkeit war, ist aber nicht nur das Wirken Jherings allein gewesen, sondern das wissenschaftliche Zusammenspiel während seiner Wiener Zeit mit Georg Jellinek und Wahlberg, deren Strafrechtsdenken ebenfalls sozial-ethisch ausgerichtet war“54.
Von 1868 bis 1872 war Jhering in Wien tätig, wo Wahlberg bereits seine Theorie vom Recht als soziale Moralität vorgestellt hatte.55 Seinerseits war Wahlberg wechselseitig von der naturalistischen und sozial-utilitaristischen Konzeption des Rechts, wie sie durch Jhering (Der Zweck im Recht, I/1877) bekräftigt wurde, beeinflusst. Wahlbergs ethisch-soziales Denken steht sicherlich am Ursprung des Begriffs der materiellen Rechtswidrigkeit, insofern sie auf Jellinek, von Liszt und sogar Merkel ausstrahlte. Der materielle Verbrechensbegriff mit entschieden ethisch-sozialem Sinn, wie er von Jellinek56 verteidigt wurde, waren von Wahlberg und Jhering inspiriert. Dasselbe sei gesagt bezüglich der Konzeptionen von Liszts, der von 1869 bis 1873 in Wien studierte.57
IV. Die Einheit der Rechtsordnung Die Objektivierung des Unrechts im Strafrecht führte zur Herausbildung eines den verschiedenen Zweigen des Rechts, insbesondere dem Zivilrecht und dem Strafrecht, gemeinsamen Begriffes. Von Liszt zufolge unterschied sich das strafrechtliche Unkeit den Weg zu räumen habe“ (Costa Andrade, Consentimento e acordo em direito penal, 2004, S. 71; eigene Übers.). 54 Baratta (Fn. 6), S. 19 – 20. 55 Vgl. Wahlberg, Das Princip der Individualisierung in der Strafrechtspflege, 1869, passim. 56 Vgl. Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, 1967 (Wiederaufl. in Faksimile der Ausg. Wien, 1878), S. 56 ff. u. passim. 57 Vgl. Baratta (Fn. 6), S. 19 f.
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recht auf keinster Weise durch irgendwelche inhärenten Merkmale vom zivilrechtlichen Unrecht. Seinen strafrechtlichen Charakter verdankte es alleine dem Umstand, dass es ein mit Strafe geahndetes Unrecht war. Die Strafbarkeit war somit die differentia der Straftat innerhalb des genus der Zuwiderhandlungen. Die Einheit der Rechtsordnung58 war Aushängeschild des vereinheitlichten Begriffes der materiellen Rechtswidrigkeit. Die Einheit der Rechtsordnung bestand in einer inneren Einheit der Materien des privaten und des öffentlichen Rechts, zumal diese Materien sich auf die Interessen rechtlich geschützter Einzelner zusammenfassen ließen.
V. Der Grundsatz der Subsidiarität des Strafrechts Die Androhung von Strafe ist für von Liszt nichts weiter als Ergebnis eines historischen und politischen Prozesses.59 Von Liszt war ein gründlicher Kenner der Geschichte der Rechtsdogmatik. Sein Allgemeinwissen auf diesem Gebiet bot ihm unzählige Beispiele der sich über die Jahrhunderte hinweg vollziehenden Wandlung der ideologischen Muster der Kriminalisierung menschlichen Verhaltens, etwa die erst spät erfogelnde Verwandlung der delicti privati des klassischen römischen Rechts (das furtum, die rapina, das damnum und die iniuriae) in öffentliche. Die Versuchung war groß zu denken, dass diese Veränderungen sich geschichtlich gesehen aus der Notwendigkeit eines verstärkten Schutzes bestimmter Rechtsgüter ereignet hätten. Die Strafe ist das schwerste Geschütz, das der Gesetzgeber aus dem Arsenal der rechtlichen Sanktionen auffahren kann. Die Androhung der Strafe sollte daher strengen Kriterien der gesellschaftlichen Opportunität und Wirksamkeit gehorchen: dem Grundsatz der Subsidiarität des Strafrechts. Der Grundsatz der Subsidiarität des Strafrechts darf nicht verwechselt werden mit dem Grundsatz der maximalen Strafbeschränkung humanistischer und liberaler Ausprägung, auch wenn beide Grundsätze hin und wieder zu vergleichbaren gesetzgeberischen Ergebnissen führen können. Doch ist zu beachten, dass aus dem Utilitarismus nicht notwendigerweise Menschlichkeit resultiert, bestenfalls indirekt, insofern als Unmenschlichkeit der Effizienz im Wege steht.60 So lässt sich erklären, dass der Utilitarismus mit der Laizisierung und der Liberalisierung des Strafrechts, die schon von Pufendorf und Thomasius ihren Ausgang genommen hatten, Schritt halten konnte. Der Kampf, den die Naturrechtler zugunsten der religiösen und moralischen Toleranz ausübten, wurde von nun an als Akzeptanz des Relativismus der Wertvorstellungen Einzelner neu aufgefasst. Anders ge58
Die Einheit der Rechtsordnung ist eine Formel, von der Juristen verschiedener Zeitalter mit den unterschiedlichsten Sinngebungen Gebrauch machten (vgl. Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, 1995, S. 21 ff. u. passim). 59 Vgl. v. Liszt (Fn. 2), S. 95 f. 60 Vgl. Moberly, The Ethics of Punishment, 1968, S. 56.
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sagt, was einem Anderen kein Leiden verursacht und jemandem selbst Wohl bringt, kann kein Verbrechen sein. Beispiele hierfür sind Hexerei sowie andere Angriffe an die Religion, wie auch von Erwachsenen freien Willens bekannte sexuelle Praktiken. Doch wenn jedwede Strafe ein Übel war, so war die Frage nach ihrer Anwendung immer und ausschließlich eine Frage der Berechnung ihrer positiven Ergebnisse, wie schwer auch immer die Taten waren, die der Gesetzgeber zu verhindern trachtete. So erklärt sich, dass der Utilitarismus sich von den liberalen Tendenzen entfernt hat und gegenwärtig keinerlei Grenzen für die Ausdehnung des Bereiches des Strafbaren anerkennt. Es verwundert denn keineswegs, dass die Utilitaristen von heute den Gebrauch des Strafrechts für alle möglichen Ziele des Social Engineering einfordern.
VI. Der präventive Strafzweck Jede Art von rechtlichen Sanktionen übt eine präventive Funktion aus. Die Frage ist nur zu wissen, ob die Strafen die Prävention als primäres oder gar exklusives Ziel haben. Schon Hobbes verknüpfte rein präventive Zielsetzungen mit den Strafen.61 Beccaria und Bentham verteidigten genau dasselbe. Bentham sagte, dass die Strafe, die notwendigerweise für den Verurteilten ein Übel ist, nur dann hinnehmbar sei, wenn sie größeres Übel für andere Menschen verhindern würde.62 Bentham zufolge verwirklichten die Strafen ihre präventive Funktion über eine allgemeine Einschüchterung, insofern als jede Bestrafung als Warnung an potentielle Verbrecher diente, für die Ausübung von Verbrechen die gleiche unangenehme Behandlung zu erfahren. Die Strafe übte also ihre präventive Funktion aus, indem sie die Angst im Geiste der Menschen einflößte. Auf dieser Linie fügt sich auch Paul Johann Anselm Feuerbach ein.63 In Bezug auf die Effektivierung der präventiven Aufgabe, die den Kriminalstrafen zugeordnet wurde, stellte Feuerbach seine psychologische Zwangstheorie vor.64 Verglichen mit Beccaria und Bentham65 bestand die einzige Originalität Feuerbachs in der Unterscheidung, die er zwischen der vom beständigen peinlichen Recht ausgehenden allgemeinen Einschüchterung und jener Einschüchterung, die von einer diskreten Bestrafung der verurteilten Verbrecher ausgeht, traf: mehr als nur eine Handvoll ver61 Hobbes, De cive, or, The Citizen, 1982 (nach der Ausg. London: Printed by J. G. for R. Royston, at the Angel in Ivie-lane, 1651), S. 49 (Kap. III, Paragraph 11). 62 Man ziehe die Erklärung der utilitaristischen Theorie der Strafzwecke in Moberly (Fn. 60), S. 43 ff. zu Rate. 63 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden Peinlichen Rechts, 1996 (Faksimile der Aufl. Giessen/Georg Friedrich Heyer v. 1801), S. 16, Abs. 23, ohne Hervorhebungen. 64 Vgl. Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2009, S. 34 ff. 65 In den aufeinanderfolgenden Ausgaben des Lehrbuches sollte Feuerbach Benthams Traités de législation civile et pénale (von Dumont org. Ausg. Paris, 1820 sowie die dt. Übers. von Beneke in 2 Bd., 1830) zitieren.
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urteilter Verbrecher zu bestrafen, zielte das peinliche Recht darauf ab, potentielle Verbrecher davon abzuhalten, ihre Taten auszuüben. Letztlich hätte der Gesetzgeber nichts sehnlicher gewünscht, als dass die Anwendung des Strafrechts unnötig würde, wobei er darauf setzte, dass das Recht selbst in hohem Maße von Verbrechen abzuhalten im Stande ist.66 Von Liszts Denken, das vor Kennzeichen des Utilitarismus67 nur strotzte, vervollständigte die moderne Genealogie der Strafe als äußerstes Mittel zur Verteidigung von Rechtsgütern: die naturwissenschaftliche Definition der Konditionen des menschlichen Wohls, die Herstellung eben dieser Konditionen gemäß Strategien des Social Engineering und die Auffassung der Menschen als physisch-biologische Einheiten, die über die Manipulation ihrer äußeren Umstände (z. B. das Recht) kontrolliert werden könnten. Das Recht, aufgefasst als Instrument zur sozialen Organisation und Kontrolle, beinhaltete selbstverständlich das Strafrecht. Die berühmt gewordene Kriminalpolitik, durch von Liszt begründet68, war im Grunde das sozialtechnische Programm, welches vom Gesetzgeber ins Leben gerufen werden müsste.69 Der gleichsam berühmte Zweckgedanke von von Liszt war nichts weiter als die Zuschreibung der präventiven Ziele auf die Strafen, was zu der vermeintlichen gesellschaftlichen Nutzlosigkeit der Strafe im Kontrast stand, so man sie als Erwiderung vorausgegangener Schuld betrachtete. Anders als Feuerbach blieb der Name von Liszts jedoch mit der Theorie der Spezialprävention verknüpft: die Aufgabe der Strafe war es, der Ausübung zukünftiger Verbrechen durch einen jeden konkret zur Strafe gebrachten Übeltäter entgegenzuwirken. Von Liszt beschrieb die differenzierte Behandlung der Verbrecher in Übereinstimmung mit den Tätertypen, namentlich: die Ausschaltung des Gewohnheitstäters, die Einschüchterung des Gelegenheittäters und die Verbesserung des korrekturfähigen Verbrechers, d. h. die berühmte Vorstellung der Resozialisation, die so sehr dazu beitrug, von Liszts Ruhm als Liberaler70 und Humanist zu zementieren.71 Der Unterschied zwischen der Feuerbach’schen Ge66 Vgl. Moberly (Fn. 60), S. 61 ff. Es sei nebenbei angemerkt, dass die Demotivierung der Verbrechen durch das Strafrecht in hohem Maße illusorisch ist, denn den meisten Menschen ist das Gesetz nicht geläufig. 67 Von Liszt gestand zu, dass der Einfluss von Bentham ausging (vgl. v. Liszt [Fn. 2], S. 17). 68 Vgl. v. Liszt, Kriminalpolitische Aufgaben (1889 – 1892), neuerlich in: ders. (Fn. 53), S. 291. Vgl. auch v. Liszt, Ueber den Einfluss der soziologischen und anthropologischen Forschungen auf die Grundbegriffe des Strafrechts, 1893, sowie ders., Die psychologischen Grundlagen der Kriminalpolitik, 1896, beide neuerlich in: ders., Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. II (1892 – 1904), 1970 (Faksimile der Ausg. Berlin/J. Guttentag, 1905), S. 75 ff. u. S. 170 ff. 69 S. v. Liszt (Fn. 53), S. 292. 70 Genauer betrachtet musste der Utilitarismus von von Liszt jedoch notwendigerweise mit seinem Liberalismus in Konflikt treten. 71 Man lese das sogenannte Marburger Programm (1882), d. h. v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht – 1883, 3. Aufl. 1968, passim. Vgl. auch ders., Die deterministischen Gegner der Zweckstrafe, 1893, neuerlich in: ders., Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. II (1892 – 1904), 1970, S. 25 ff.
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neralprävention und der Liszt’schen Spezialprävention war jedoch vernachlässigbar. Er war lediglich Frage verschiedener gnosiologischer Stile, die beide zeitlich eingrenzbar sind, die demselben Willen Kraft verliehen, das Strafrecht als einen Hebel der sozialen Kontrolle einzusetzen: die negative Allgemeinprävention gründete auf einer rationalistischen Argumentation, die letztlich völlig losgelöst war von jeglicher empirischer Bestätigung, wohingegen die Spezialprävention sich auf Kenntnisse berief, die über die Natur- und Sozialwissenschaften (Kriminalanthropologie und Kriminalsoziologie) gewonnen wurden, deren Methoden und Ergebnisse – dies sei nebenbei bemerkt – aus heutiger Sicht zu belächeln sind oder gar erschreckend erscheinen. Das Strafrecht ist das Recht der Strafen. Diese Behauptung mutet tautologisch an, ist es aber nicht. Als ob das Strafrecht aus nichts weiter bestünde als der gesetzlichen Strafandrohung und der konkreten Ausübung der Strafen. Das ist das Ergebnis des Triumphes des Utilitarismus im Strafrecht. Niemand wird die Notwendigkeit der Anwendung von Strafen verneinen. Was in Frage gestellt wird, ist eher der Triumph der Strafkultur über die Kultur des Strafverfahrens. Von unserer Seite aus wird der Kultur des Strafverfahrens, welche die moralische Verantwortung der Menschen, die letztlich Grundlage der konnektiven Gerechtigkeit72 ist, der Vorzug gegeben.
VII. Schlussbetrachtungen 1.
Die demokratische und liberale Gesellschaft ist eine Gemeinschaft in Form einer Gruppe von Menschen, denen eine signifikative Menge an Vorstellungen gemeinsam ist.
2.
Das Strafrecht ist eine Struktur positiver Freiheit, dessen Aufgabe es ist, die essentiellen Bedingungen der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit voranzutreiben, im Rahmen einer demokratischen und liberalen Gesellschaft, wobei in diesen Bedingungen die negativen Freiheiten eingeschlossen sind.73
3.
Der Zweck des Strafrechts ist nicht mit den Zwecken der Strafen zu verwechseln, unabhängig von der gerade nachgegangenen Theorie der Strafzwecke.
4.
Das Strafrecht wird über das Strafverfahren angewendet.
5.
Ziel des Strafverfahrens ist die konnektive Gerechtigkeit, wobei die konkrete Ausübung der Strafe lediglich eine nebensächliche Konsequenz der Verhandlung ist. Im Rahmen einer Verhandlung jemanden zur Verantwortung zu ziehen ist eine vorzügliche Art, das kulturelle Gedächtnis zu bereichern und eventuell 72
Der Begriff der konnektiven Gerechtigkeit (iustitita connectiva) ist entwickelt worden von Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 3. Aufl. 2000, S. 232 ff. 73 Benjamin Constant behandelte zwei Freiheiten, die antike Freiheit im Gegensatz zur modernen, liberalen Freiheit. Isaiah Berlin sollte später die Freiheit der Alten als ,positive Freiheit’ (positive freedom) und die moderne Freiheit als ,negative Freiheit’ (negative freedom) beschreiben (vgl. Berlin, in: Hardy [Hrsg.], Liberty, 2002, S. 169, 173, Fn. 1 u. S. 178).
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zu revidieren, insofern die Argumente des Verfahrensstreits zur Aufdeckung neuer Perspektiven auf Probleme der gesellschaftlichen Moralität Beitrag leisten können. 6.
Der Einzelne wird im Verfahren zur Verantwortung gezogen.74
7.
Die Verbrechenstheorie hat sich dem Zweck des Strafverfahrens anzupassen.75
8.
Unrecht und Schuld können im Strafverfahren nicht getrennt behandelt werden.
9.
Strafrechtliche Haftung kann nicht gleichzeitig auf der objektiven Ungerechtigkeit der Tat und der an den Tag gelegten ungerechten subjektiven Gesinnung beruhen. In Wahrheit berufen beide Sichtweisen sich zu ihrer Begründung auf einander entgegengesetzte Ethiken: auf der einen Seite den Konsequentialismus76 (und insbesondere den Utilitarismus), der die Tatsachen gemäß der Eigenschaft der Ergebnisse als gewiss oder wahrscheinlich bewertet, und auf der anderen Seite eine die Tatsachen als Art der Externalisierung der Einstellung des Menschen betrachtende Ethik: sei es die geistige Einstellung in Bezug auf die Pflicht – Normativismus77 – oder sei es eher die charakterliche Einstellung, Gutes oder Schlechtes zu tun – eine Tugendethik78 aristotelischen Ursprungs, welche gegenwärtig in der Hand der neo-aristotelischen Strömungen eine Renaissance erfahren hat79, insbesondere durch die Kommunitaristen80 und die liberalen Pluralisten81.
74 „Nach der heute herrschenden Ansicht hat der Richter nur die einzelne, den Gegenstand der Anklage bildende Tat zu beurteilen, die Tat herausgerissen aus dem Leben des Täters, die auf den Isolierschemel der logisch-juristischen Abstraktion gestellte Tat“ (s. v. Liszt [Fn. 68], S. 57). Am Ende wäre der Angeklagte nur ein weiteres Verfahrenssubjekt, das von außen – selbstverständlich danach trachtend, die Schlussentscheidung mitzubestimmen – die Tat betrachtet, die Gegenstand des Strafverfahrens ist, nur weil er es ist, der die Strafe erleiden wird, falls seine Verteidigung nicht geschickt genug ist. Drohte nicht diese unbequeme Aussicht auf Bestrafung, so beliefe sich das ganze Verfahren auf nichts mehr als eine Unterhaltung unter Gleichen, den Angeklagten miteinbezogen, über ein Thema, mit dem keiner etwas direkt zu tun hat. Doch kann von Liszt hier nicht richtig liegen: der Angeklagte hat mit der Tat, die er begangen hat, sehr wohl zu tun, und deswegen wird er als Mensch zur Verantwortung gezogen. 75 Im von Jürgen Wolter, dem hier gebührend Würdigung ausgesprochen sein soll, geprägten Gedankengang, wonach ein integriertes Strafrechtssystem von Nöten ist, in dem innerhalb der Verbrechenstheorie das Strafverfahren und die Bestimmung der Strafe vereint sind (vgl. Wolter, in: ders./Freund [Hrsg.], Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem, 1996, S. 3, 25 f. u. 39 ff.). Im angelsächsischen Raum kann ein integriertes Strafrechtssystem betrachtet werden in Duff, Answering for Crime, 2007, S. 175 ff. 76 Vgl. Anscombe, Modern Moral Philosophy, in: Philosophy 33 (1958), ders., in: Crisp/ Slote (Hrsg.), Virtue Ethics, 2000, S. 37. 77 Vgl. Anscombe (Fn. 76), S. 31. 78 Vgl. Gauthier/Jolif, Introduction, in: L’éthique à Nicomaque, Bd. I.1, 2. Aufl. 1970, S. 17 f. 79 Die Liste zeitgenössischer neo-aristotelischer Autoren findet kein Ende: vgl. für einen Rundblick Gutschker, Aristotelische Diskurse, 2002, passim. 80 Referenzautor ist MacIntyre, After Virtue, 2. Aufl. 2000, passim. Wichtig auch ders., Whose Justice? Which Rationality?, 1988, passim.
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10. Es ist dringend notwendig, das Strafrecht gemäß neuer kommunitaristischer und liberaler pluralistischen Strömungen zu überdenken.
81
Vgl. Galston, The Practice of Liberal Pluralism, 2005, S. 11 ff.
II. Allgemeiner Teil des Strafrechts
Zur Funktion der subjektiven Tatseite Von Manuel Cancio Meliá Jürgen Wolter hat in seinem wissenschaftlichen Werk bevorzugt die ein System begründenden, grundlegenden Kategorien der Strafrechtswissenschaft und -dogmatik bearbeitet.1 Der verehrte Jubilar sticht unter den deutschen Strafrechtlern auch deshalb hervor, weil er stets ein besonderes Augenmerk auf die internationale Dimension strafrechtsdogmatischer Fragen gerichtet hat und richtet. Deshalb mag es angehen, wenn ein Beitrag zu einem zu Ehren von Wolter herausgegebenen Band versucht, eine in den westlichen Rechtsordnungen grundlegende strafrechtliche Zurechnungskategorie zu hinterfragen.
I. Einführung 1. Für ein besseres Verständnis der hiesigen Ausführungen mag es nützlich sein, dass gleich zu Beginn unterstrichen wird, dass es bei den hier angestellten Überlegungen grundsätzlich um (einen Versuch der) Beschreibung, nicht um Bewertung der dargestellten Sachverhalte gehen soll. Weiterhin ist auch vorab darauf hinzuweisen, dass vorliegende Darstellung über weite Strecken nicht dem Anspruch an einen wissenschaftlichen Text gerecht wird, der Verfasser habe den von ihm bearbeiteten Stoff hinlänglich zu beherrschen. Anders formuliert: Es wird hier – teilweise – dilettiert. In diesem Zusammenhang mag vielleicht beruhigend wirken, dass es genügend Beispiele gibt, wie hierdurch – durch Dilettantismus – historisch sehr Bedeutendes für die Disziplin, in die das Dilettantische hineingetragen wird, geleistet worden ist; dann können vielleicht auch die hiesigen, anspruchslosen und kurzen Ausflüge in andere Gebiete unter Umständen nützlich sein.2 Schließlich sollten einige terminologische Fragen geklärt werden, um dadurch das Verständnis der vorliegenden Ausführungen zu erleichtern zu versuchen: „objektiv“ und „subjektiv“ bedeuten ganz traditionell jeweils „äußeres Geschehen“ und „in der Person des Täter liegende Merkmale“; „objektive Zurechnung“, bezieht sich, ebenfalls ganz traditionell, auf die Lehre gleichen Namens im objektiven Tatbestand; „subjektive Zurechnung“ bezeichnet – in der jetzt praktizierten Form unseres kontinentaleuropäischen Systems – Vorsatz 1
Wobei auch hervorzuheben ist, dass bei Wolter diese systematische Berufung auch das Strafprozessrecht umfasst; vgl. nur Wolter, in: ders./Freund, Straftat, Strafzumessung und Strafprozess im gesamten Strafrechtssystem, 1996, S. 1 ff. 2 Vgl. nur die diesbezüglichen Überlegungen (und auch Kautelen) in der berühmten „Vorbemerkung“ Webers zu seinen Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie, Band I, 4. Aufl. 1947, S. 12 ff.
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und Fahrlässigkeit; „Schuld“ diejenige Stufe der Zurechnung, die auch in der herkömmlichen Literatur so genannt wird. Erst im Verlauf der Darlegung wird deutlich werden, dass nach hiesiger Ansicht diese Terminologie nicht immer richtiges Verständnis des Bezeichneten impliziert. 2. Die „radikale“ – d. h., bei den Wurzeln ansetzende – „Frage“3 nach dem Sinn oder der Funktion subjektiver Zurechnung überhaupt wird in der Strafrechtswissenschaft erstaunlich selten gestellt.4 Diese Frage nach der Bedeutung der subjektiven Tatseite soll sektoriell bezüglich der Verhaltenssteuerung („Vermeidbarkeit“, im Folgenden: subjektive Zurechnung; „Schuld“ soll, wie noch auszuführen sein wird, ausgeklammert werden), angegangen werden; eigentlich geht es dabei nicht um die subjektive Zurechnung selbst – um deren inhaltlich-dogmatische Ausgestaltung – sondern um die davor liegende Frage, warum es diese überhaupt als Element strafrechtlicher Zurechnung gibt und was aus der Antwort auf diese Frage vielleicht für diese inhaltlich-dogmatische Ausgestaltung der subjektiven Zurechnung zu lernen ist. Davor soll dargelegt werden, warum die Formulierung dieser Frage sinnvoll erscheinen kann. 3. Eine Aufteilung des Verbrechensbegriffs in objektive und subjektive Elemente stellt einen der wichtigsten und traditionsreichsten Ansätze zur theoretischen (und auch falllösungstechnischen) Erfassung der Straftat dar.5 Aus der Perspektive der Rechtsgrundsätze scheint das Schuldprinzip6, das – ganz grob formuliert – bestimmte in der Person des Täters bei der Tat liegende Merkmale zur Voraussetzung jeder Strafe macht, fest etabliert zu sein. Auch was das konkrete, mit diesem Grundsatz verbundene Erfordernis einer bestimmten subjektiven Zurechnung angeht, scheint es sich um gesichertes Territorium zu handeln: „Keine Strafe ohne Vorsatz oder Fahrlässigkeit“ (Art. 5 des span. Código penal), das scheint klar zu sein. 4. Im Folgenden sollen zunächst (II.) einige Punkte kurz angesprochen werden, die die vorstehend konstatierte Sicherheit wohl etwas in Frage zu stellen vermögen, ja förmlich vor dem Hintegrund unseres Verständisses von subjektiver Zurechnung als paradox erscheinen: Einige (über das „normale“ Maß an Diskussion wohl hinausgehende) Unsicherheiten in der deutsch geprägten kontinentaleuropäischen Straftatdogmatik (II.1.); einige ebenfalls verunsichernde rechtsvergleichende Befunde (II.2.); ein für das hiesige Thema relevantes Charakteristikum moderner Kriminalisierungsphäno3
Jakobs, ZStW 101 (1989), S. 518. So Jakobs, ZStW 101 (1989), S. 518; Bleckmann, Strafrechtsdogmatik – wissenschaftstheoretisch, soziologisch, historisch, 2002, S. 6. 5 Hinzu kommt, dass es sich hierbei wohl – vermutlich auf der Grundlage von vor der Kodifikationsbewegung wurzelnden geschichtlichen Entwicklungsstrukturen – um die in verschiedenen Rechtsordnungen am weitesten verbreitete Aufteilung des Verbrechensbegriffs handelt, insbesondere auch vertreten in den französisch (élément légal–élément moral) oder angelsächsisch (actus reus–mens rea) orientierten Rechtsordnungen, denen die Erarbeitung eines theoretischen Verbrechenssystems weitgehend fremd ist. Zur Relevanz des Themas im Zusammenhang mit dem Prozess europaweiter Strafrechtsangleichung auch unten im Text (II.2.). 6 Vgl. nur Jakobs, Das Schuldprinzip, 1993, S. 8 f., passim. 4
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mene (II.3.), und schließlich einige kursorische Andeutungen zu aus heutiger Perspektive recht verblüffenden geschichtlichen Tatsachen (II.4.). Diese Themen sollen nicht – was im vorliegenden Rahmen gar nicht möglich wäre – in sich selbst behandelt werden, sondern eine andere Fragestellung vorbereiten. Denn diese Feststellungen rechtfertigen aus hiesiger Perspektive wohl die Formulierung der allgemeinen Frage nach der Funktion einer subjektiven Tatseite (III.). Dazu wird zunächst (III.1.) versucht werden, einen bestimmten Ansatz zum Sinn subjektiver Zurechnung nachzuzeichnen, danach die dogmatische Bedeutung dieser Erklärung angesprochen (III.2.) und schließlich auch Hypothesen bezüglich der Konsequenzen für das Strafrechtssystem bei Abweichungen vom Grundmodell ganz kurz umrissen werden (III.3.).
II. Vier Paradoxa als Indikatoren für Klärungsbedarf Als einigendes Band der nachfolgend anzusprechenden Problemkreise ist das Auftreten großer Fragwürdigkeiten, die nach kurzem Kratzen unter der Oberfläche der Sicherheit der festen Etablierung eines Grundsatzes subjektiver Zurechnung auftauchen, auszumachen. Diese Fragen sollen hier unbefangen, d. h. – zunächst – von strafrechtswissenschaftlicher Technik so unbelastet wie möglich angesprochen werden, wobei es sich über den gemeinsamen Bezugspunkt hinaus um verschiedenste Themenkreise handelt. Diese Überlegungen zu Dogmatik, Rechtsvergleichung, neuen Kriminalisierungsbereichen und zur Entwicklungsgeschichte von Zurechnungssystemen sollen aufzeigen – hierin liegt der gemeinsame Bezugspunkt –, dass die tradierten Begrifflichkeiten in der Strafrechtsdogmatik bezüglich der subjektiven Zurechnung den tatsächlichen Funktionsmodus dieser Zurechnungsstufe nicht (mehr ganz) zu erklären vermögen, so dass es angebracht scheinen muss, durch eine Hinterfragung der Kategorie als solcher eine neue Entwicklung zu versuchen. 1. Paradoxon: Dogmatik: Die „Krise“ der subjektiven Tatseite in der (deutsch geprägten) Strafrechtsdogmatik Es kann behauptet werden, dass in letzter Zeit von einer zunehmenden Konfusion und Desorientierung der Lehre – nicht ohne Auswirkungen auf die Praxis – in Bezug auf den Stellenwert und auf die systematische Bedeutung und Lozierung der subjektiven Elemente der Straftat (subjektive Zurechnung und Schuld) im Verbrechensbegriff die Rede sein kann.7 Diese Behauptung sei ganz kurz bezüglich dreier Hauptbereiche erläutert:
7 Bezeichnend ist der Titel eines Taiwanesich-Deutsch-Spanischen Symposiums: „Die Verwirrung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven – ein gordischer Knoten in der Strafrechtsdogmatik“ (Chengchi Law Review 50 [1994]).
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a) Vorsatz und Fahrlässigkeit als dogmatische Begriffe 1. Der Verlauf der Diskussion um Vorsatz und Fahrlässigkeit im letzten Jahrhundert kann – natürlich stark vereinfacht – mit Hilfe von folgenden zwei Grundlinien skizziert werden: Einerseits – auf der theoretisch-dogmatischen Seite8 – ging es vor allem um die Überwindung einer Konzeption („Kausalismus“), nach der diese Elemente als Schuldmerkmale reine psychische Beziehungen zu objektiv definiertem Unrecht ausdrücken sollten; vielmehr sollte eine Verankerung dieser subjektiven Elemente – und vor allem des Vorsatzes – als gleichberechtigter Inhalt des Unrechts erreicht werden („Finalismus“). Der Vorsatz ist als Resultat dieser Entwicklung kein nachrangiges, konstatierbares psychisches Faktum auf der rein subjektiven Seite, sondern eine Verhaltenssteuerungsmodalität, die in den Kern des Unrechtsbegriffs eindringt und als Herzstück der der Rechtsordnung vorgegebenen sachlogischen Struktur des Handlungsbegriffs sogar eine Art Primat in der Verbrechensstruktur beansprucht. Diese Entwicklung fand ihren vorläufigen Abschluss in Versuchen – die aber bislang nicht mehrheitsfähig waren –, auch bei der Fahrlässigkeit individuelle Elemente schon im Unrecht zu identifizieren.9 Parallel dazu fand andererseits auf der Gesetzgebungsseite eine Entwicklung statt, die unter dem Motto der Jagd nach Relikten von versari in re illicita, also von Restbeständen von rein objektiver Verantwortung im Strafrecht stand. Bezüglich der Lage in Spanien lässt sich zum Beispiel sagen, dass in Zusammenhang mit der politischen Umwälzung nach 1975 – 1977 dieser Prozess im wesentlichen im Jahre 1983 mit der damaligen Reform abgeschlossen und mit dem neuen Strafgesetzbuch von 1995 – aus dem alle Fälle von erfolgsqualifizierten Delikten verschwinden – abgerundet wurde.10 Der Grundsatz subjektiver Haftung – positiviert im spanischen Strafgesetzbuch in Art. 5 und 10 – scheint also sowohl theoretisch fundiert als auch in die Gesetzgebungswirklichkeit transponiert; die subjektive Tatseite als Element des Unrechts etabliert.
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Vgl. zum folgenden nur die unterschiedlich orientierten Darstellungen Jakobs’, Der strafrechtliche Handlungsbegriff, 1992, passim, und Mir Puigs, in: GS Armin Kaufmann, 1989, S. 253 ff. 9 Hier sind zu nennen einerseits die Vertreter des sog. individuellen Fahrlässigkeitsbegriffs, hauptsächlich Stratenwerth und Jakobs und in Spanien Zugaldía Espinar (vgl. nur die kritischen Darstellungen bei Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, Die Grundlagen. Der Aufbau der Verbrechenslehre, 4. Aufl. 2006, 24/46 ff. und Mir Puig, Derecho penal, Parte General, 9. Aufl. 2011, 11/38 ff.), andererseits Struensees Versuche zu einer „Vervorsatzlichung“ der Fahrlässigkeit (vgl. nur Struensee, GA 1987, S. 97 ff.; ders., JZ 1987, S. 53 ff.; in der spanischen Lehre nur Cuello Contreras, Culpabilidad e imprudencia, 1990, S. 180 ff.; Serrano González de Murillo, Teoría del delito imprudente, 1991, S. 88 ff., 109, 110 f., 118 ff.); s. auch Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981, S. 42 ff., 153 ff. 10 Vgl. hierzu für alle Rodríguez Mourullo, in: ders. u. a. (Hrsg.), Comentarios al Código penal, 1997, S. 38 f., 53 ff.
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2. Dieser Bestand ist aber nicht gesichert: Sowohl auf der theoretischen Seite als auch auf dem Gebiet der Rechtsanwendung (und -schöpfung; siehe unten II. 2.) ist festzustellen, dass diese scheinbar gefestigte Lage langsam auf quasi unterschwellige Art und Weise in Veränderung begriffen ist. Einerseits ist ganz eindeutig das Motto – wiederum: stark verkürzt – neuerer Studien zum Vorsatzbegriff das der Normativierung, also weg von der Feststellung von subjektiven, individuellen Elementen (insbesondere: das sog. „voluntative“ Vorsatzelement) und hin zur Konzeption der Fahrlässigkeit, aber auch des Vorsatzes als Zurechnungsfiguren, bei denen eine gewisse Haltung extern zugeschrieben wird.11 Der Weg ist dabei folgender: Zuerst wird der Wille aus dem traditionellen Vorsatzverständnis wegdefiniert, so dass es nur noch um Kenntnis gehen soll; dann wird auch diese als Zuschreibung begriffen. Andererseits ist auch festzustellen, dass diese Entwicklungslinie in der Praxis nicht folgenlos geblieben ist. Aus der spanischen Rechtsprechung sei nur der sog. Rapsölfall hervorgehoben, in dem der Oberste Gerichtshof – es ging um eine Lebensmittelvergiftung durch informell vertriebenes Speiseöl, durch die mehrere Hundert Menschen ihr Leben verloren – Vorsatz in einem Fall bejahte, in dem von einer traditionelleren theoretischen Grundlage aus zweifellos Fahrlässigkeit angenommen worden wäre.12 b) Die Normativierung des objektiven Tatbestandes, die Lehre von der objektiven Zurechnung und die subjektive Tatseite 1. Die vielleicht erfolgreichste Entwicklung in der allgemeinen Lehre von der Straftat in den letzten 30 Jahren liegt in der Theorie der objektiven Zurechnung.13 Nach dieser Lehre14 – die mittlerweile, ausgehend von Deutschland, ihren Eingang in die spanische Lehre und Rechtsprechung, aber auch Beachtung in Lateinamerika, Portugal und Italien gefunden hat15 – reicht schon zum Vorliegen des objektiven Tatbestandes 11 Grundlegend Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, passim, und hierzu nur Küper, GA 1987, S. 479 ff.; anders – und auch teilweise über das geltende Recht hinausgehend – Jakobs, ZStW 101 (1989), S. 116 ff.; zur Kritik vgl. nur Schünemann, Chengchi Law Review 50 (1994), S. 266 ff.; in der spanischen Lehre in dieser Richtung einschlägig die grundlegende Arbeit von Ragués i Vallès, El dolo y su prueba en el proceso penal, 1999, passim, was den Vorsatzbegriff angeht, S. 25 ff., und grundlegende Darstellung in allgemeinem Bezug zur subjektiven Zurechnung bei Müssig, Mord und Totschlag – Vorüberlegungen zu einem Differenzierungsansatz im Bereich des Tötungsunrechts, 2005, S. 177 ff. 12 Vgl. die deutsche Zusammenfassung in BGH, NStZ 1984, S. 37 ff. 13 Schünemann setzt sie an Relevanz der Kausalismus-Finalismus-Diskussion gleich, GA 1998, S. 207. 14 Wiederum: Unter größtmöglicher Vereinfachung der verschiedenen Ansätze. 15 Vgl. grundlegend Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988; siehe auch zum Beispiel Roxin, AT I4, 11/39 ff.; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil. Die Grundlagen und die Zurechnungslehre, 2. Aufl. 1991, 7/4 ff.; ders., La imputación objetiva en Derecho penal, (erstmals) 1996, passim; Wolter, Objektive und personale Zurechnung (Fn. 9), S. 177 ff., 330 ff.; auch zur spanischen Literatur und Rechtsprechung vgl. nur Cancio
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ein extern-kausales Verhalten nicht aus; vielmehr muss objektiv ein Verhalten vorliegen, dem normativ-allgemein deliktische (tatbestandserfüllende) Bedeutung zugeschrieben wird (in der herkömmlichen Terminologie: Schaffung eines rechtlich unerlaubten Risikos und – bei Erfolgsdelikten – Verwirklichung dieser Gefahr im eingetretenen Erfolg). Aus diesem Grundgedanken ist eine Fülle von konkreten dogmatischen Falllösungsvorschlägen hervorgegangen. 2. Die grundlegenden Ansätze der (vor allem finalistisch orientierten) kritischen Stimmen bezüglich dieser Lehre von der objektiven Zurechnung haben stets eben dieses Selbstverständnis dieser Theorie als „objektiv“ zum Schwachpunkt erklärt16 d. h., eine illegitime Vereinnahmung von zur subjektiven Tatseite gehörenden Elementen durch diese Lehre festgestellt. In der Tat kann eine etwas nähere Betrachtung der Inhalte der Lehre von der objektiven Zurechnung einiges Erstaunen hervorrufen. Die Inhalte der Lehre von der objektiven Zurechnung („Schaffung eines Risikos“, „Reichweite des Tatbestandes“, „erlaubtes Risiko“, „Verantwortungsbereich des Opfers“ u.s.f.) sind in Wirklichkeit eine Generalisierung der Tatbestandsinhalte. Diese Inhalte sollen definitionsgemäß „objektiv“ sein. Aber: Aus welcher Perspektive werden diese beurteilt? Die Antwort ist: ex ante für das Verhalten17 (und ex post für den Erfolg). Und wie wird diese Ex-ante-Perspektive formuliert? Hier beginnen die Probleme: Nach herkömmlicher Auffassung soll diese Beurteilung aus der Perspektive einer zu dem entsprechenden Verkehrskreis gehörenden Maßstabsperson stattfinden. Der konkrete Täter entspricht aber natürlich öfter nicht diesem Idealbild. Subjektiv kann er in zwei Richtungen von ihm abweichen. Es kann geschehen, dass er mehr weiß. Die Maßstabsperson weiß nicht, dass derjenige, den er zu schlagen im Begriff ist, Bluter ist; der konkrete Täter weiß es. Er kann auch weniger wissen. Der autofahrende Tourist aus der Karibik weiß nicht, wie angesichts des Glatteises finnischer Straßen zu bremsen ist; die (nordisch optimierte) Maßstabsperson wohl. Nach herrschender Lehre ist das Problem durch Generalisierung nach unten und Individualisierung nach oben18 zu lösen: Unter dem Maßstab liegende Kenntnisse werden nicht berücksichtigt (das Verhalten ist tatbestandsmäßig), über dem Maßstab liegende Kenntnisse wohl (das Verhalten ist also ebenfalls tatbestandsMeliá, Conducta de la víctima e imputación objetiva, 2. Aufl. 2001, S. 55 ff., 378 ff.; ders., Líneas básicas de la teoría de la imputación objetiva, 2001, passim. 16 Aus der älteren Literatur sind zu nennen insbesondere die einschlägigen Arbeiten von Armin Kaufmann, Hirsch, Struensee und Küper; im spanischen Sprachraum verschiedene Beiträge Sancinettis und jüngst die umfangreiche Monographie von Rueda Martín; zu diesem Themenkreis nur Roxin, GS Armin Kaufmann, 1989, S. 237 ff.; Frisch, Tipo penal e imputación objetiva, 1995, S. 63 ff.; Jakobs, GS Armin Kaufmann, S. 271 ff., ders., in: FS Hirsch, 1999, S. 55 ff. und Lesch, Der Verbrechensbegriff. Grundlagen einer funktionalen Revision, 1999, S. 255 ff.; zusammenfassend Frisch, in: FS Roxin, 2001, S. 213 ff., 219 ff.; im spanischen Sprachraum zu dieser Thematik eingehend Cancio Meliá, Líneas básicas, S. 52 ff., 68 ff., alle mit den entsprechenden Nachweisen. 17 Vgl. nur Roxin, AT I4, 11/35; Jakobs, AT2, 7/32 mit Fn. 52. 18 Vgl. nur Roxin, AT I4, 24/51; NK-Puppe, Rn. 145 vor § 13; Mir Puig, El Derecho penal en el Estado social y democrático de derecho, 1994, S. 234 f.
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mäßig).19 Gehen wir von dem Beispiel des „Sonderwissens“ (also über dem Standard der Maßstabsperson) bei der Vorsatztat aus, so scheint, dass eine Entscheidung über die objektive Tatbestandsmäßigkeit von einem psychischen Faktum abhängig gemacht wird (es handelt sich um Tötung, weil der Neffe weiß, dass im Flugzeug, in dem er seinen Erbonkel auf Weltreise schickt, eine Bombe tickt). Warum dann objektive Zurechnung? Auch in der anderen Richtung (geringere Kenntnisse als die Maßstabsperson) ist hier Inkonsistenz gerügt worden. In diesem Zusammenhang ist von verschiedenen Autoren – und zwar nicht (nur) von Finalisten – darauf hingewiesen worden, dass dieses Verfahren strukturell falsch sei: Was für einen Sinn kann es haben, hier zunächst ein „objektives“ Urteil über die Tatbestandsmäßigkeit zu fällen, wenn bei individueller Unvermeidbarkeit20 trotzdem keine Zurechnung stattfinden kann?21 Schon mit dieser bruchstückhaften Skizze kann als ausgemacht gelten, dass in diesem besonders entwickelten (und auch international besonders salonfähigen) Bereich der Straftatlehre, der Theorie der objektiven Zurechnung, eine bemerkenswerte Fragmentierung und Unklarheit der Diskussion in einem wesentlichen Punkt festzustellen ist. c) Die Funktionalisierung des Schuldbegriffs Schließlich ist als weiterer Prüfstein der Entwicklung von subjektiv gefärbten Elementen im Straftatbegriff natürlich auch der Schuldbegriff zu nennen. Die hauptsächliche Entwicklung schon vor dem zweiten Weltkrieg war der „normative Schuldbegriff“, der ein psychisch orientiertes Verständnis der Schuldelemente ablöste. In den letzten Jahren hat aber eine neue Linie eingesetzt, nach der Schuld nicht nur nicht psychisch zu bestimmen sein soll, sondern überhaupt nicht ohne Bezug auf eine Straftheorie.22 Der radikalste Ansatz in diese Richtung stammt von Jakobs: Werden gesellschaftliche Wirkungen der Strafe – positive Generalprävention: die Strafe als Bestätigung der Normgeltung und der Identität der Gesellschaft – als Strafzweck ausge19
Anders (soweit ersichtlich) nur – für „Sonderwissen“ – Jakobs, AT2, 7/49 ff. Womit die Verbindungslinie zu der vorhin angeführten individuellen Fahrlässigkeitsbestimmung gezogen ist. 21 Vgl. jüngst die Übereinstimmung – aus verschiedenen Perspektiven – in diesem Punkt der Ansichten Burkhardts, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem, 1996, S. 103 ff., 109 ff.; Jakobs’ (unter zumindest anscheinend teilweiser Modifikation seiner Position in AT2, 7/47 ff.), in: FS Hirsch, S. 55 ff., 57, 58 ff., 62 f.; auch Schünemanns, GA 1998, S. 217 (unter Reformulierung seiner früheren Position, vgl. a.a.O. Fn. 42). Gegen diese Rüge an der Systematik der h. M. vgl. für alle die Replik Frischs, in: Wolter/Freund, Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem, S. 194; vgl. auch Cancio Meliá, Líneas básicas, S. 68 ff. und früher die Stellungnahmen zu dieser Problematik bei Wolter, in: Gimbernat/Schünemann/Wolter (Hrsg.), Internationale Dogmatik der objektiven Zurechnung und der Unterlassungsdelikte, 1995, S. 3; Roxin, in: GS Armin Kaufmann, S. 250 f.; ders., Chengchi Law Review 50 (1994), S. 247. 22 Vgl. nur die Darstellungen bei Roxin, AT I4, 19/1 ff.; Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Aufl. 1976; Schünemann, GA 1986, S. 293 ff. 20
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macht, so kann der das Strafrechtssystem leitende Begriff – die Schuld – nicht ohne diesen Bezug zum Strafzweck definiert werden. Schuld wird also ohne jede Verbindung auf faktisches Anders-Handeln-Können rein normativ definiert.23 Dass dieser letzte Schritt eine bis heute nicht endende Diskussion mit scheinbar nicht zu versöhnenden Fronten hervorgerufen hat,24 ist so bekannt, dass diese hier nicht zu skizziert werden braucht. Für die Belange des hiesigen Themas bedeutet diese fundamentale Kontroverse schon – da sie sich auf den Grundbegriff des Strafrechtssystem bezieht – eine Bestätigung der eingangs vorgeschlagenen Diagnose: Über die Frage, was an Subjektivem in welchem systematischen Rahmen in den Verbrechensbegriff einzufließen hat, besteht eine enorme Konfusion. Trotzdem (oder gerade deswegen) sollen die herkömmlicherweise zur Schuld gezählten Inhalte aus der hier durchzuführenden Betrachtung ausgeklammert werden: Sie sind in unserer Tradition (und auf besonders radikale Art und Weise bei oben angesprochenem Verständnis von positiver Generalprävention)25 so innig mit der Frage nach dem Strafzweck verbunden, dass sie die Perspektive der hiesigen Überlegungen darlegungstechnisch zu weit verschieben würden – zudem soll hier auch gezeigt werden, dass aus dogmatischer Perspektive durchaus eine Unterscheidung zwischen subjektiver Zurechnung und Schuld getroffen werden kann und soll.26 d) Zwischenergebnis Jedenfalls bleibt festzuhalten, dass es scheint, als ob allgemein eine bestimmte Begrifflichkeit der dogmatischen Inhalte vorausgesetzt wird – das Objektive als in der Außenwelt (außerhalb menschlichen Bewußtseins), sinnenfälliges Geschehen, das Subjektive als psychische Lagen und Prozesse –, die mit der in Wirklichkeit praktizierten Zurechnung nicht übereinstimmt; denn sonst wäre das Ausmaß, die Grundsätzlichkeit der geführten Debatten nicht zu verstehen.
23 Vgl. nur Jakobs, Schuld und Prävention, 1976; ders., Das Schuldprinzip, passim; ders., Die staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, 2004; ders., System der strafrechtlichen Zurechnung, 2012, S. 59 ff. und die Diskussion der Rezeption – insbesondere im spanischen Sprachraum – bei Peñaranda Ramos/Suárez González/Cancio Meliá, Un nuevo sistema del Derecho penal. Consideraciones sobre la teoría de la imputación de Günther Jakobs, 1999, passim, und Cancio Meliá/Feijoo Sánchez, in: Jakobs (Hrsg.), La pena estatal: significado y finalidad, 2006, S. 15 ff. 24 Vgl. bezüglich der Kritik für alle Schünemann, Chengchi Law Review 50 (1994), S. 275 ff. 25 Ebenfalls im Anschluß an Jakobs vertreten bei Cancio Meliá, in: Jakobs/Cancio Meliá (Hrsg.), Conferencias sobre temas penales (Obligación jurídica. Injerencia. Dominio del hecho. Dogmática y política criminal), 2000, S. 121 ff., 139 ff. 26 Vgl. unten III. 2.
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2. Paradoxon: Neuere Entwicklungen in der Strafgesetzgebung a) Die gesetzgeberische Tätigkeit in den Ländern unseres Umfeldes hat in den letzten Jahren einen wahren „Ring“ von Straftatbeständen um das nun „klassisch“ anmutende Kernstrafrecht gelegt.27 Verschiedene kriminalpolitische Begrifflichkeiten sind hierzu sektorial gebildet worden: symbolisches Strafrecht, Punitivismus, Feindstrafrecht28. b) Bezüglich der hier anzugehenden subjektiven Tatseite sei zum Ring dieser neuen Kriminalisierungsbereiche nur folgende – allgemein bekannte – Feststellung getroffen: Das bei den „herkömmlichen“ Straftaten (insbesondere bei den Erfolgsdelikten, die persönliche Güter betreffen) klare Stufenverhältnis zwischen den Zurechnungsmodalitäten Vorsatz und Fahrlässigkeit besteht so nicht. An seine Stelle treten einerseits für bestimmte Regelungsbereiche teilweise ein Kontinuum (der Strafrahmen für fahrlässige Begehung schließt direkt an den Strafrahmen für Vorsatz an) oder sogar eine Angleichung zwischen beiden Verhaltenssteuerungsmodalitäten. So kann zum Beispiel im spanischen Strafgesetzbuch die Höchststrafe für eine fahrlässige Straftat gegen die Umwelt – Art. 331 CP – mit der Mindeststrafe für eine vorsätzliche Straftat gegen die Umwelt übereinstimmen, während bei der Tötung zwischen der Höchststrafe für fahrlässige Tötung und der Mindeststrafe für Totschlag sechs Jahre Freiheitsstrafe liegen (Art. 138 und 142 CP). Andererseits ist bei anderen „neuartigen“ Straftaten, insbesondere auf dem Gebiet des sogenannten Feind„strafrechts“, eine wahrhaftige Hypostasierung des Subjektiven festzustellen: Bestimmte – vorerst nicht zu klassifizierende29 – innere Attitüden gehören begrifflich zum Kern dieser Delikte, die ohne diese gar nicht denkbar erscheinen; so zum Beispiel, wenn Art. 510 CP von „rassistischen Motiven“ spricht. c) Diese Modifizierungen gegenüber den Verhältnissen im Kernstrafrecht fordern ebenfalls die Frage heraus: Warum wird subjektive Zurechnung vorgenommen, was 27 Müssig, Desmaterialización del bien jurídico y de la política criminal. Sobre las perspectivas y los fundamentos de una teoría del bien jurídico crítica hacia el sistema, 2001, S. 11. 28 Vgl. nur die Arbeiten in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995; Silva Sánchez, La expansión del Derecho penal. Aspectos de la política criminal en las sociedades postindustriales, 3. Aufl. 2011, passim; Cancio Meliá, in: Jakobs/Cancio Meliá (Hrsg.), Conferencias sobre temas penales, S. 121 ff.; v. a. zur Dogmatik der neuen Kriminalisierungsformen nur Jakobs, ZStW 97 (1985), S. 751 ff.; Kindhäuser, Gefährdung als Straftat. Rechtstheoretische Untersuchungen zur Dogmatik der abstrakten und konkreten Gefährdungsdelikte, 1989, passim. Was das sog. Feindstrafrecht angeht, vgl. zum Begriff nur Jakobs, ZStW 97 (1985), S. 753 ff.; ders. HRRS 3/2004; ders., Staatliche Strafe, S. 40 ff.; ders., in: Cancio Meliá/Gómez-Jara Díez (Hrsg.), Derecho penal del enemigo. El discurso penal de la exclusión, 2006, Bd. 2, S. 93 ff. Die durch Jakobs ausgelöste Diskussion ist seit 2000 so angeschwollen (bis hin zu eigener Website und eigenem Wikipediaeintrag!), dass sie, wenn man zudem die verschiedenen Sprachen berücksichtigt, in der sie geführt wird, vollständig unübersichtlich geworden ist. S. zuletzt z. B. Vormbaum/Asholt (Hrsg.), Kritik des Feindstrafrechts, 2009. 29 Vgl. auch unten im Text III. 2.
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ist ihr Sinn, wenn sie innerhalb ein und desselben Strafrechts sich nach Regelungsbereichen so unterscheiden kann? Jedenfalls könnte sich auch hier – wie in verschiedenen Bereichen der Dogmatik – bewahrheiten, dass es für die strafrechtliche Theorie ratsam scheint, sich bis zu einem gewissen Punkt vom Blut (d. h. von den herkömmlichen Verletzungsdelikten) zu lösen, um das Ganze Strafrechtssystem mit wacheren Augen sehen zu können. Auch hier scheint es aber offensichtlich, wiederum, dass nicht klar ist, was mit der subjektiven Zurechnung gemeint sein kann. 3. Paradoxon: Rechtsvergleichung: einige bemerkenswerte Phänomene in anderen westlichen Rechtskreisen und die Strafrechtsharmonisierung in der Europäischen Union a) Dass die skizzierte Problematik – die Unsicherheiten der Abgrenzung zwischen Objektivem und Subjektivem – als rein dogmatische Fragestellung auch in dem von der deutschen Strafrechtswissenschaft geleiteten Diskussionsbereich (zu dem zu zählen sind: Spanien, Italien, Portugal, in Lateinamerika und hauptsächlich über die spanische Diskussion vermittelt vor allem Argentinien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Perú)30 und darüber hinaus von größter Relevanz ist und schon lange war, bedarf eigentlich keiner weiteren Erklärung. Im spanischen Fall ist zum Beispiel zumindest seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts ein stetiger Fluss der geistigen Strömungen der deutschen Strafrechtswissenschaft in die spanische Diskussion festzustellen. In diesem Sinne ist die skizzierte Problematik kein ausschließlich „deutsches“ oder „spanisches“ Thema, sondern ein gemeinsames. b) Neu ist aber, dass solcherart grundlegende Fragestellungen schon in der Gegenwart auch im Zusammenhang mit dem (auch strafrechtlich) nolens volens stattfindenden Prozess europäischer Einigung relevant werden. Dem Harmonisierungsprozess der europäischen Strafrechtsordnungen, insbesondere aus der Perspektive eines dogmatischen Zurechnungssystems deutscher Prägung, kann natürlich mit mehr oder weniger kriminalpolitischem Optimismus31 oder Pessimismus32, d. h. bezüglich des eher repressiven oder eher garantieorientierten Charak30 Was die wissenschaftliche Produktion angeht; auf der Gesetzgebungsseite ist festzuhalten (was unter deutschen Strafrechtlern merkwürdigerweise nicht allgemein bekannt zu sein scheint), dass zum Beispiel der AT der Strafgesetzbücher Boliviens und Paraguays maßgeblich (wie die Festschreibung von finalistischen Partikularlösungen z. B. bei der Versuchstrafbarkeit oder bei der Irrtumslehre jedem kundigen Leser sofort aufzeigt) auf deutsche Autoren (jeweils Stratenwerth und Schöne) zurückgeht. 31 Als Vertreter dieser Haltung können zum Beispiel Tiedemann, in: FS Lenckner, 1998, S. 433 f. oder Sieber, JZ 1997, S. 369 ff., 378 ff., genannt werden. 32 Auf dieser Linie zum Beispiel Silva Sánchez, La expansión, S. 64 ff.; eindringlich Weigend bei Zieschang, ZStW 110 (1998), S. 524 f. Vgl. ebenfalls aus einer sehr kritischen Perspektive den Beitrag von Köhler, in: FS Mangakis, 1999, S. 751 ff.; vgl. auch die kritische Haltung Esers, in: FS Kaiser, 1998, S. 1525 f.; vgl. auch Cancio Meliá, in: Tiedemann (Hrsg.),
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ters der entstehenden Regelungen begegnet werden. Woran aber (wohl) niemand zweifelt ist, dass diese Entwicklung unvermeidbar ist.33 Konsens besteht auch darüber, dass der Allgemeine Teil in die Harmonisierung einzubeziehen ist;34 es wird sogar darauf hingewiesen, dass gerade der Allgemeine Teil derjenige Sektor des Strafrechts ist, in dem es am einfachsten sein wird, gemeinsame europäische Regelungen zu schaffen, da er „auf ganz besondere Weise ein gemeineuropäisches Erbe“ darstelle,35 d. h. einen Bereich, der weniger mit nationalen Partikularlösungen behaftet sei, die eher bei den einzelnen Deliktstypen im Besonderen Teil zum Ausdruck kommen sollen. Nun ist aber allgemein bekannt, dass die Verständigung zwischen diesen verschiedenen europäischen Rechtsordnungen und -wissenschaften sehr schwierig ist; und gerade die Bedeutung der subjektiven Tatseite ist angesichts von diametral gegenläufigen Entwicklungen und Lagen in diesem Bereich in den verschiedenen innereuropäischen Rechtskreisen ein sehr wichtiges Thema. Die dogmatisch orientierte Strafrechtswissenschaft täte gut daran, an einer Klärung des Diskussionsstandes zu einer so zentralen Frage zu arbeiten, um so der Skepsis begegnen zu können, der ihr in einem gemeineuropäischen Kontext entgegenschlagen wird, in dem hochabstrakte philosophisch-systematische Überlegungen deutscher Prägung besonders intensive Vorbehalte aus den Reihen der Vertreter von „pragmatisch“ orientierten Rechtsordungen hervorrufen werden.36 c) Bei dieser Lage scheint es angebracht, den Harmonisierungsprozess nicht aus der Perspektive einer bestimmten (nationalen) wissenschaftlichen Methodologie anzugehen, auch nicht mechanistisch als Basteln kleinster gemeinsamer Nenner auf der Grundlage der verschiedenen positiven staatlichen Rechtsordnungen zu verstehen, Wirtschaftstrafrecht in der Europäischen Union. Rechtsdogmatik – Rechtvergleich – Rechtspolitik (Freiburg-Symposium), 2002, S. 169 ff., 183. 33 Natürlich vorausgesetzt, dass der Einigungsprozess nicht unterbrochen wird. Vgl. in diesem Sinne, für alle Sieber, in: Delmas-Marty (Hrsg.), Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union, 1998, S. 3; Silva Sánchez, La expansión, S. 64. 34 Insoweit auch Silva Sánchez, La expansión, S. 72 f. 35 Tiedemann, La armonización del Derecho penal en los Estados miembros de la Unión Europea, 1998, S. 20; ders., in: Arroyo Zapatero/Tiedemann (Hrsg.), Estudios de Derecho penal económico, 1994, S. 243; vgl. auch die Untersuchung materieller Übereinstimmungen bei Fragen des Allgemeinen Teils in den europäischen Strafrechtsordnungen bei Bacigalupo, Revista de Ciencias Penales, vol. 2 n8 1 (1999), S. 9 ff., 13 ff.; vgl. hierzu auch Muñoz Conde, Revista Penal n8 5 (2000), S. 44 ff.; die Notwendigkeit einer Harmonisierung gerade auf dem Gebiet der allgemeinen Regeln wird – wenn auch aus einer kritischen Perspektive – von Eser, in: FS Kaiser, S. 1525, unterstrichen. 36 Vgl. zum Beispiel die Charakterisierung der „empiristischen Konzeption“ bei Köhler, in: FS Mangakis, S. 751 f.; eine andere Frage ist es, dass es gerade für jene Rechtssysteme, die komplexe dogmatische Konstruktionen hervorgebracht haben, von großem Nutzen sein kann – um Abstraktionsexzesse und bloßes l’art pour l’art festzustellen –, konkrete Probleme und Lösungen mit denjenigen „einfacherer“ Rechtssysteme abzugleichen; vgl. Eser, in: FS Kaiser, S. 1516 f.; vgl. im spanischen Sprachraum ebenfalls in diesem Sinne Muñoz Conde, Revista Penal 5 (2000), S. 45 f.
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sondern es ausgehend von gemeinsamen Grundüberzeugungen, von gemeinsamen Rechtsprinzipien zu versuchen.37 In der Tat scheint ein solcher gemeinsamer Rechtsgrundsatz in dem hier interessierenden Bereich zu bestehen: Die Voraussetzung der subjektiven Zurechenbarkeit scheint offensichtlich zum „Kernbestand der modernen europäischen Strafrechtstradition“38 zu gehören. Doch dieser Schein trügt. Schon daran, dass es als notwendig erachtet wurde, in den AT-Vorschriften eines von einer von Tiedemann koordinierten Gruppe von (vorwiegend kontinental-)europäischen Strafrechtlern vorgestellten Entwurfs eines gemeineuropäischen Strafgesetzbuchembryos eine sehr ausführliche Reglementierung der Inhalte subjektiver Tatelemente39 festzuschreiben40 – und diese mit einem Exorzismus objektiver Haftung41 einzuleiten42 – sieht man, dass es mit der konkreten Durchschlagskraft dieses gemeineuropäischen Grundsatzes nicht sehr gut bestellt ist. Hier ist an mehrere Institute aus anderen Rechtskreisen zu denken. Zunächst ist die französische Figur der „responsabilité matérielle“ zu nennen, die – wenn auch auf den Bereich der (zum Strafrecht gehörenden) Übertretungen begrenzt, und infolgedessen ohne Freiheitsstrafen – Fälle strafrechtlicher Haftung kennt, bei denen keine Art von Verhaltenssteuerung Voraussetzung ist.43 Weiterhin gehören natürlich die 37 Vgl. Cancio Meliá, in: Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftstrafrecht in der Europäischen Union. Rechtsdogmatik – Rechtvergleich – Rechtspolitik, S. 172 ff. m.w.N. 38 Vgl. Vogel, in: Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftstrafrecht in der Europäischen Union. Rechtsdogmatik – Rechtvergleich – Rechtspolitik, S. 125. 39 Im Gegensatz zur überwiegenden Lösung im kontinentaleuropäischen Raum (vgl. nur die Übersicht bei Vogel, in: Tiedemann [Hrsg.], Wirtschaftstrafrecht in der Europäischen Union. Rechtsdogmatik – Rechtvergleich – Rechtspolitik, S. 127 ff.) und auch zur deutschen Strafrechtsreform, die trotz der entsprechenden Legaldefinitionen in den Entwürfen auf eine solche Bestimmung auf dankenswerte Weise (so NK-Puppe § 15 Rn. 15 f.) verzichtet hat. 40 Art. 4 – 7 „Europa-Delikte“: „Voraussetzungen und Ausschluß der subjektiven Zurechnung“, in: Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftstrafrecht in der Europäischen Union. Rechtsdogmatik – Rechtvergleich – Rechtspolitik, S. 455 ff.; siehe die Begründung dieser Option durch Vogel (dem Verfasser der betreffenden Vorschriften), in: Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftstrafrecht in der Europäischen Union. Rechtsdogmatik – Rechtvergleich – Rechtspolitik, S. 136. 41 Dass eine allgemeine Tendenz – (natürlich) ebenfalls mit der Wirkung intensiverer Kriminalisierung – zur Subjektivierung (tendenziell: gesinnungsorientiert) festzustellen ist, bleibt hier außer Betracht; vgl. nur Huber/Restle, in: Eser/Huber (Hrsg.), Strafrechtsentwicklung in Europa, 1994, S. 1845 ff., und die (einigermaßen erstaunlichen) rechtsvergleichenden Befunde zur Versuchsstrafbarkeit bei Cancio Meliá, in: Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftstrafrecht in der Europäischen Union. Rechtsdogmatik – Rechtvergleich – Rechtspolitik, S. 175 ff. 42 Art. 4.1: „Die strafrechtliche Verantwortlichkeit setzt ein subjektives Tatelement voraus; eine ganz oder teilweise objektive strafrechtliche Verantwortlichkeit ist ausgeschlossen. Das subjektive Tatelement ist dem Täter nachzuweisen; jedoch ist es zulässig, aus objektiven Umständen hieraus zu schließen“ (Tiedemann [Hrsg.], Wirtschaftstrafrecht in der Europäischen Union. Rechtsdogmatik – Rechtvergleich – Rechtspolitik, S. 455). 43 Vgl. nur die Darstellung bei Merlé/Vitu, Traité de Droit criminel, tome I, Problèmes généraux de la science criminelle. Droit pénal général, 7. Aufl. 1997, S. 744 ff.
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„absolute“ und „strict liability“ des englischen Strafrechts in diesen Zusammenhang: Straftaten, bei denen entweder nicht einmal der Willensimpuls (voluntariness) (bei absolute liability; wenn auch sehr selten) oder aber die deliktische subjektive Tatseite (mens rea) (bei strict liability) nachgewiesen zu werden brauchen.44 Schließlich ist auch an das Institut der „wilful ignorance“ aus dem Strafrecht der Vereinigten Staaten zu denken, das in bestimmten Fällen die Ersetzung von „knowledge“ als Straftatelement durch eben diese „gewollte Unkenntnis“ möglich macht.45 Es scheint offensichtlich, dass das Bestehen solcher Phänomene in politisch und kulturell sehr nahestehenden Ländern Reflexionsbedarf anzeigt. Und zwar nicht nur pragmatisch, angesichts der Implikationen für eine Strafrechtsangleichung im Rahmen der Europäischen Union, sondern auch auf der nach der hiesigen Fragestellung interessierenden grundsätzlichen Ebene: Wie kommt es, dass sich in Rechtssystemen, die in unserem engeren Kulturkreis liegen, ein so andersartiges Verständnis vom Grundsatz subjektiver Haftung entwickelt hat? Dies müsste auch zur Reflexion der Konstruktion subjektiver Zurechnung nach kontinentaleuropäischer Tradition beitragen. In diesem Zusammenhang scheint es auch nicht möglich, die vorhin angeführten strafrechtlichen Phänomene zu „verharmlosen“, d. h. die Bedeutung der Unterschiede herunterzuspielen. Zwei Ansätze in diese Richtung kommen spontan ins Spiel: Einerseits der Gedanke, dass es sich hierbei nicht um wirkliche strafrechtliche Tatbestände handelt, da es hier materiell eher um unseren Ordnungswidrigkeiten ähnliche Sachverhalte oder allenfalls um abgeschwächte abstrakte Gefährdungsdelikte gehe.46 Dies mag auf die französische responsabilité matérielle teilweise zutreffen – aber auch hier stellt sich die Frage, ob denn nicht strafrechtliche Haftung eben Haftung vor Strafgerichten ist, mit den gesellschaftlichen Implikationen eben einer „Strafe“; auch ohne großen positivistischen Überschwang scheint der Rekurs auf die Unterscheidung zwischen mala prohibita und mala in se nicht zeitgemäß und eher ein Ehrenrettungsversuch. Und für die beiden genannten angelsächsischen Institute ver44 Zur Unterscheidung beider Figuren vgl. z. B. Smith/Hogan, Criminal Law, 9. Aufl.1999, S. 97 ff., 112 f.; Allen, Criminal Law, 5. Aufl. 1999, S. 95 f.; zur strict liability vgl. z. B. die Darstellung von Ashworth, Principles of Criminal Law, 3. Aufl. 1999, S. 167 ff.; anhand von Leitfällen bei Dine/Gobert, Cases and Materials on Criminal Law, 3. Aufl. 2000, S. 184 ff.; vgl. auch Piña Rochefort, La estructura de la teoría del delito en el ámbito jurídico del „Common Law“, 2002, S. 72 ff.; Hörster, Die strict liability des englischen Strafrechts, 2009. 45 Eine sehr eingehende Bearbeitung dieser Figur findet sich bei Charlow, 70 Tex. L. Rev. (1992), S. 1351 ff.; vgl. zur Rezeption in der span. Rechsprechung nur Ragués i Vallès, La ignorancia deliberada en Derecho penal, 2007. 46 Vgl. z. B. Merlé/Vitu, Traité de Droit criminel, tome I, S. 747: „les incriminations contraventionelles sont toujours établies dans une perspective de police, au sens administratif du terme“; Spencer, in: Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftstrafrecht in der Europäischen Union. Rechtsdogmatik – Rechtvergleich – Rechtspolitik, S. 437: „The classic area in which strict liability is imposed is what are often referred to as ,public welfare offences‘ or ,regulatory offences‘ … or in other words, where it is matter of malum prohibitum rather than malum in se.“
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mag diese Argumentation schon gar nicht zu überzeugen. Wenn noch in diesem Jahrtausend das englische House of Lords darüber zu befinden hatte, ob bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger die Kenntnis des tatbestandlich relevanten Alters nachzuweisen ist, oder ob es sich hier um strict liability handelt, so dass dies nicht notwendig ist,47 wenn in den USA Straftaten wie die Einführung von Betäubungsmitteln von der Figur der wilful ignorance betroffen sind48 und in England davon ausgegangen wird – abgesehen von den common law-Figuren ist das Parlament bei der gesetzgeberischen Kennzeichnung nicht immer sehr präzise49 –, dass von den 7200 einzelnen Straftaten über die Hälfte solcher von strict liability sind,50 dann kann es sich offensichtlich nicht um bloße Bagatelldelikte handeln. Andererseits kann das (kontinentaleuropäische) Erstaunen als Fata Morgana zu entlarven versucht werden, indem man darauf hinweist, dass es sich bei den genannten Instituten nicht um materiellrechtliche Fälle objektiver Haftung gehe, sondern um Beweisführungs- und Beweislastregeln.51 Hier kann natürlich nicht auf die Abgrenzung von materiellem Strafrecht und Beweisrecht eingegangen werden. Aber wenn der die Monographie Ragués’ tragende Ansatz – die Vorsatzbestimmung hängt mit den entsprechenden beweisrechtlichen Regeln untrennbar zusammen – in diesem Zusammenhang etwas gezeigt hat, dann, dass die Konstruktion dogmatischer Begriffe ohne eine zumindest teilweise Operationalisierung zu ihrer Anwendung gar nicht denkbar ist.52 d) Festzuhalten bleibt auch hier, dass bei aller möglichen Relativierung der materiellen Unterschiede – bei der Verarbeitung von Fällen – doch tiefgreifende Unterschiede vorzufinden sind, die wiederum die Frage nach der Funktion von subjektiver Zurechnung herausfordern, da die Beantwortung vielleicht zum Verständnis der Unterschiede etwas beizutragen vermag.
47 Vgl. B. (A Minor) Appellant v. Director of Public Prosecutions Respondent (2000) 2 A.C. 428 (es ging um einen Fall, bei dem der Verurteilte – ein fünfzehn Jahre alter Junge – ein 13-jähriges Mädchen – das relevante Alter liegt bei 14 Jahren – in einem Bus mehrmals zur Vornahme von Oralverkehr an seiner Person aufgefordert hatte [Sachverhaltsende; nichts weiter geschah: Das englische Strafrecht läßt sich an Exotik nicht überbieten]); und R. v. K. (2002) 1 Cr. App. R. 13. 48 Vgl. die Fallstudie bei Charlow, 70 Tex. L. Rev. (1992), S. 1418 ff. 49 Zu diesen Schwierigkeiten der Bestimmung, ob denn eine bestimmte Straftat im Sinne von strict liability zu verstehen ist, vgl. Piña Rochefort, La estructura, S. 75 ff. 50 Allen, Elliot and Wood’s Cases and Materials on Criminal Law, 2001, S. 184. 51 Spencer, in: Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftstrafrecht in der Europäischen Union. Rechtsdogmatik – Rechtvergleich – Rechtspolitik, S. 439, argumentiert, der Grund für die massive Einführung von strict liability offences liege in der Antwort des Parlaments auf die – im Vergleich zum kontinentaleuropäischen Bereich – sehr restriktive, garantieorientierte Praxis britischer Gerichte auf dem Gebiet des Beweisrechts im Strafprozeß. 52 Vgl. Ragués i Vallès, El dolo, S. 18 und 357 ff.; zu ähnlichem Ergebnis zum hiesigen Thema kommen auch Merlé/Vitu, Traité de Droit criminel, tome I, S. 746 f.: die Qualifizierung der contravention matérielle als Fall einer Vermutung ändert nichts in der Sache.
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4. Paradoxon: Evolution von Zurechnungssystemen a) Bei der Betrachtung grundlegender gesellschaftlicher Tatsachen neigt man intuitiv dazu, sie als zu jeder menschlichen Sozialform gehörig, als „anthropologische Konstante“ anzusehen. Die Existenz subjektiver Zurechnung, das Kriterium der (in üblicher Terminologie) sogenannten Vermeidbarkeit als entscheidendes gesellschaftliches Muster, ist eine solche, tief im Alltagsleben heutiger Lebensformen verankerte, gesellschaftliche Tatsache.53 b) Es ist aber allgemein bekannt, dass das Vorhandensein subjektiver Zurechnung in unserem heutigen Sinne keineswegs eine geschichtliche Konstante ist. Vielmehr sind ganz andere Zurechnungsformen54 empirisch belegt. Erstens kann es um bloße Assoziation eines zuzurechnenden Geschehnisses aufgrund von aus der Perspektive unseres Zurechnungsmodells absurden Kriterien zu einem bestimmten Menschen gehen; zum Beispiel, bei bestimmten Aborigines in Australien: Derjenige, der zuerst in der Richtung angetroffen wird, in der die erste Ameise über das frische Grab eines Getöteten geht, muss wegen dieser Tötung sein Leben lassen.55 Oder: Der Donnergott Chono der Guayaki im Osten Paraguays tötet ein kleines Kind durch Blitzschlag; der Onkel des Kindes rächt es, indem er ein anderes – aufgrund der Verwandtschaftsverhältnisse bestimmtes – kleines Kind aus dem Stamm tötet; ohne jeden Vorwurf wird das von allen, auch von den Eltern hingenommen – es kann höchstens geschehen, dass der (Totem-)„Onkel“ des nunmehr getöteten Kindes ein anderes – ihm vielleicht persönlich besonders liebes – Kind tötet, töten muss.56 Zweitens kann auch einer der an der Kausierung beteiligten Menschen – auch bei völliger Unvermeidbarkeit – für einen Schaden verantwortlich gemacht werden (Erfolgshaftung) – hier bietet die antike Sagenwelt oder das Alltagsleben – das heißt: Zurechnungsformen außerrechtlicher Art – viele Beispiele: Man denke jeweils an Oedipus oder an die „Entschuldigung“, um die man täglich wegen Unvermeidbarem bittet, und, wohl etwas
53 Vgl. nur Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl. 1990, S. 212 ff., 217 ff. m.w.N.; siehe auch Jakobs, in: Witter (Hrsg.), Der psychiatrische Sachverständige im Strafrecht, 1987, S. 271 (273). 54 S. die bei Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts , S. 217, wiedergegebene Klassifizierung. 55 Beispiel aus der bekannten Studie Fauconnets, „Warum es die Institution ,Verantwortlichkeit‘ gibt“ (Auszug aus: La responsabilité, 1920), dt. Fassung in: Lüderssen/Sack, Seminar: Abweichendes Verhalten II. Die gesellschaftliche Reaktion auf Kriminalität 1, 1975, S. 293 ff., 302; in dieser Arbeit wurde die – wirkmächtige – These aufgestellt, die Modalitäten von Zurechnung (Fauconnet meint dies mit „responsabilité“) seien durch und durch gesellschaftlich bedingt – „frei schwebend“, a.a.O. S. 308 –; siehe hierzu nur Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention. Studien zu einer Theorie der gesellschaftlichen Funktion des Strafrechts, 1998, S. 170 ff. 56 Vgl. die Darstellung von Clastres, Crónica de los indios guayaquís, 1998, S. 175 ff. (franz. Originalfassung Chronique des indiens guayaki, 1972).
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weniger alltäglich, an das Geschehen in Max Frischs „Homo faber“57. Drittens kommt es auch vor, dass auch Naturelementen „strafend“ (wie auch bis in neuere Zeiten gewissen Tieren) zugerechnet wird – man denke nur an die Auspeitschung des Meeres am Bosphorus durch den Perserkönig Xerxes, nachdem starker Wellengang das Übersetzen seiner Armee – auf dem Wege zu der Schlacht am Thermopylenpass – zuerst verunmöglicht hatte. Es handelt sich hierbei um Zuschreibungen, bei denen eine subjektive Zurechnung im heutigen Strafrechtsverständis nicht vorgenommen wird. c) Was kann das für das hiesige Thema bedeuten? Vielleicht Erkenntnisgewinn durch Vergleich: Ein Versuch der Nachzeichnung der Gründe dieser Entwicklungen bis hin zur Lage in modernen Strafrechtssystemen könnte Einsichten zum heutigen Verständnis subjektiver Zurechnung bringen. Dieser Gedankengang hat aber zur Voraussetzung, dass alle diese für uns exotischen Zurechnungsspielarten in einem Zusammenhang stehen, d. h. dass sie eine zumindest partiell übereinstimmende Funktion erfüll(t)en. Hiermit ist also die Diskussion um den Universalcharakter der Strafe angesprochen, die auch in der Gegenwart noch weiterhin kontrovers geführt wird.58 Das dabei leitende Interesse ist ein anderes als das hiesige: Es geht darum, ob es menschliche Gesellschaften ohne Strafe gibt, eine Frage, deren Beantwortung für die Möglichkeit von Abolition von Strafrecht für wichtig erachtet wird. Natürlich soll hier diese Diskussion nicht nachgezeichnet werden, aber es lässt sich sagen, dass auf der einen Seite – auch seitens der herkömmlichen strafrechtswissenschaftlichen Literatur59 – relativ unreflektiert davon ausgegangen wird, dass – wobei aber eher an staatlich organisierte Gesellschaften gedacht wird – in der Tat Strafe eine Art anthropologische Konstante darstellt, während auf der anderen Seite – eher bei Kriminologen – vor allem unter Einbezug von nicht-staatlich organisierten Gesellschaften das Gegenteil behauptet wird, also dass menschliches Zusammenleben ohne Strafe möglich sei.60 Ohne sich anzumaßen, diese Frage hier beantworten zu wollen, sei folgende Hypothese gewagt: Es scheint richtig – insoweit – die Frage auf einer höheren Abstraktionsstufe zu stellen: Das heißt die Beschränkung auf die Gesellschaftsform der „staatlich organisierten Gesellschaften“ wird der Grundsätzlichkeit der Frage 57 Der Protagonist Walter Faber verliebt sich in seine eigene Tochter – von deren Existenz er nichts weiß –, verkehrt geschlechtlich mit ihr, sie stirbt wegen eines Schlangengbisses in seinem Beisein – alles unvermeidbar; Faber fühlt natürlich trotzdem die entsprechende „Schuld“ – wie wohl jeder nachvollziehen können werden wird. 58 Vgl. nur die Kontroverse zwischen Höffe – der nicht nur die These der Universalität der Strafe, sondern sogar der Machbarkeit eines universell-interkulturell gültigen Weltstrafrechts vertritt! – und Scheerer – auf der „klassischen“ Abolitionslinie –, beide in: Eser/Hassemer/ Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende. Rückbesinnung und Ausblick, 2000, jeweils S. 307 ff. und 345 ff. 59 Siehe zum Beispiel Stratenwerth, AT4, 2000, 1/3. 60 Vgl. nur Scheerer, a.a.O. S. 345 ff., 347 ff. mit den entsprechenden Nachweisen; einschlägig sind hier die Arbeiten von Malinowski (Crime and Custom in Savage Society, 1926) oder von Christie (Conflicts as property, BritJCrim 17 [1977], S. 1 ff.).
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nicht gerecht.61 Und die Antwort auf die Frage nach der Universalität der Strafe ist gerade aus dieser Perspektive zu bejahen, wie nachfolgend darzustellen sein wird. Damit wäre auch die Frage sinnvoll und eventuell für die hiesige Fragestellung gewinnbringend: Warum ist der Zurechnungsmodus „subjektive Zurechnung“, so wie wir ihn kennen, nicht universal? Wie ist die subjektive Zurechnung entstanden? Die Antwort hat folgende Überlegung zur Voraussetzung: Geschichtlich findet dieser Prozess durch die „Entzauberung der Welt“ statt62, d. h. durch den Verlust der Sinnhaftigkeit der Welt, die danach ein schlichtes Dasein ist und deshalb durch menschliches Verhalten veränderbar wird. E contrario Kelsen63 kann dies auch dahingehend formuliert werden, dass insbesondere auf drastische Art und Weise gerade jene Zurechnungsphänomene, die uns besonders exotisch vorkommen – diejenigen der „Assoziation“ von Geschehen und Reaktion –, sich aus dieser Perspektive auch gut als Zurechnungsphänomene verstehen lassen, wenn man sieht, dass der Sinnverlust einen Ausschluss der Umwelt aus der gesellschaftlichen Sphäre darstellt: Die „Entzauberung der Welt“ ist eine „Entsozialisierung“ der Welt. Oder: Betrachtet aus der Perspektive der soziologischen Unterscheidung zwischen kognitiven und normativen Erwartungen:64 Die „Entzauberung“ stellt eine Verschiebung der Grenze zwischen kognitiven und normativen Erwartungen dar; natürliche Abläufe werden nicht mehr als mit normativen Erwartungen verstehbar, sondern als durch menschliche Handlungen veränderbar erlebt.65 Deshalb ist – wie vorhin angekündigt – bei genügend formalisiertem „Straf“begriff66 die Universalitätsthese richtig, auch bezüglich nicht-staatlich organisierter Gesellschaf61 Insoweit scheint die z. B. von Scheerer, a.a.O. S. 347 f. geforderte Fragestellung zutreffend – auf einem anderen Blatt steht aber, gerade im Zusammenhang mit den von dieser Partei der Diskussion verfolgten Zielen, ob es denn wirklich sinnvoll erscheint, Entwicklungsalternativen für die heutige Gesellschaft aus vorstaatlichen (!) Evolutionsstadien gewinnen zu wollen, und ob dies nicht notwendig in eine Privatisierung (vgl. ganz eindeutig bei Scheerer, a.a.O. S. 354) mündet, in der Gewalt (aus jener Perspektive: als Instrument von „Herrschaft“, vgl. Scheerer, a.a.O. S. 349) nur entformalisiert, nicht aber reduziert oder eliminiert wird (s. hierzu aus der Perspektive der Figur des Opfers die kritische Stellungnahme bei Cancio Meliá, Conducta de la víctima, S. 229 ff. m.w.N.). 62 Vgl. Jakobs, Schuldprinzip, S. 10 ff.; ders., in: Neumann/Schulz (Hrsg.), Verantwortung in Recht und Moral, S. 67; ders., System, S. 20 f.; Lesch, JA 1994, S. 597. 63 Denn nach Kelsen soll gerade für die „primitive (d. h., nicht entzauberte, MCM) Naturauffassung“ die „,Natur‘ ein Stück Gesellschaft“ sein; vgl. sein vergleichsweise wenig beachtetes Werk Vergeltung und Kausalität (1941), Neudruck 1982, Titel zu § 16, vgl. S. 26 ff., 46 ff. mit zahlreichen Beispielen. 64 Vgl. nur Luhmann, Rechtssoziologie, 1987, S. 40 ff.; ders., Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 131 ff. 65 Zur Tatsache, dass diese Grenze keine „natürliche“ ist, vgl. nur Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 133 f.; Jakobs, AT2, 1/4 Fn. 6; Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention, S. 58 f. 66 Das heißt: gegenüber Scheerer, a.a.O. – er scheint einen Strafbegriff mit notwendig „starker“ Übelszufügung zugrundezulegen –: „Strafe“ definiert nur als Manifestation der Norm, wobei diese auf Kosten des Täters erfolgt, nicht unbedingt aber in Form einer wirklich „intensiven“ Schadenszufügung (was, beiläufig, auch die – soweit ersichtlich, noch nicht endgültig beantwortete – Frage aufwirft – und gerade aus der Perspektive positiver General-
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ten. Denn gerade das vorhin genannte Phänomen der – aus unserer Perspektive – Verrückung der Grenzen zwischen kognitiven und normativen Erwartungen (Erwartungen sind weitgehend normativ, Natur hat weitgehend einen Sinn) zeigt auf, dass es immer Reaktionen auf Normverletzung auf Kosten des Verantwortlichen gegeben hat. d) Das vorläufige Fazit heißt also: die Zurechnungsform subjektive Zurechnung entsteht aus dem Erleben der Welt als bloß seiende, als durch menschliches planendes Verhalten veränderbare. Das Fehlen des Interpretationsschemas „Planbarkeit“ erklärt, warum Zurechnung durch Assoziation, Erfolgshaftung oder Zurechnung zu Naturelementen gesellschaftlich sinnvoll geschehen konnten.67 Hiermit ist ein Schritt zum Nachweis der Berechtigung der Frage nach der Funktion subjektiver Zurechnung getan: Diese ist keine anthropologische Konstante, sondern geschichtlich entstanden; die Gründe dieser Entwicklung können vielleicht Einblicke in die gegenwärtige Funktion geben. Ganz kurz angemerkt sei nur, dass dieser strafrechtsspezifische Befund sich mit gewissen außerrechtlichen Einsichten der Gesellschaftstheorien deckt: „Individualität“ oder „Individuierung“ als gesellschaftlich vermittelter Prozess.68
III. Ansätze zur Rekonstruktion der Grundlagen einer Dogmatik der subjektiven Zurechnung Ein Ausgangspunkt ist zunächst zu benennen: Für einen Erklärungsansatz, wonach es im Strafrecht nur um einen psychisch-faktischen Widerspruch zur Norm seitens des Täters gehen soll, dessen Verhalten direkt durch einen Normimperativ gesteuert werden soll, stellt sich die Frage nach der Funktion subjektiver Zurechnung im hiesigen Sinne nicht, kann sich ohne Preisgabe des Ansatzes gar nicht stellen, da eine Antwort schon in der Definition des Verbrechens als individuell-psychische Normzuwiderhandlung impliziert ist. Es sei zunächst erlaubt, diese Art von Strafrechtsverständnis vollständig aus der Betrachtung auszuklammern.69 Es soll jetzt der Versuch gemacht werden, für die Grundlagen der – keineswegs geklärten, wie oben in II. 1. aufgezeigt – Dogmatik der subjektiven Zurechung vielleicht prävention handelt es sich um eine sehr wichtige Frage –, warum denn gerade ein bestimmter, von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlicher Übelscharakter zum Strafbegriff gehört). 67 Genauer: die unterschiedliche Ausdehnung des Interpretationsschemas „Planbarkeit“, denn es ist ja offensichtlich, dass es für Menschen aller Zeitalter immer einen Mindestbereich an Natur gegeben haben muß, der als planbar verstanden wurde – sonst wäre es ja nicht zum Faustkeil gekommen. 68 Vgl. zur Sozialphilosophie nur die Darlegungen Habermas’, in: ders., Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, 1992, S. 187 ff.; zur geschichtlichen Aufarbeitung z. B. van Dülmen, in: ders. (Hrsg.), Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis Gegenwart, 2001, S. 1: Individualisierung „ist häufig keine freiwillige Entwicklung, sondern dank moderner Vorgegebenheit ein zwangsläufiger Prozeß“. 69 Vgl. z. B. die Analyse Müssigs, Schutz abstrakter Rechtsgüter und abstrakter Rechtsgüterschutz, 1994, S. 34 ff.; vgl. aber unten III. 3.
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Einsichten aus den vorstehend angesprochenen, aus der Perspektive der gesicherten Etablierung von subjektiver Zurechnung paradoxen Phänomenen zu gewinnen. Zunächst wird es unternommen, aus der Perspektive der – oben II. 4. umrissenen – gesellschaftsevolutionären Genese von subjektiver Haftung einen Blick auf die Funktion subjektiver Zurechnung zu werfen (III. 1.). Danach wird gefragt, ob dogmatisch eine analytische Eigenständigkeit dieser Zurechnungsstruktur festzustellen ist (III. 2.). Schließlich soll die strafrechtsystematische Bedeutung von festzustellenden Unterschieden in der Gestaltung von subjektiver Zurechnung – wie sie in II. 2. und II. 3. skizziert worden sind – das Thema sein (III. 3.). 1. Subjektive Zurechnung als dezentrale Organisation a) Subjektive Zurechnung entsteht – wie oben II. 4. skizziert –, weil sich das Weltbild der Menschen in modernen Gesellschaften ändert. So gesehen ist es also ein objektives, ein geschichtliches, ein gesellschaftliches Phänomen, das diese Zurechnungsstruktur entstehen lässt. Das Bild eines Imperativs passt hier aus dieser Warte von Anfang an nicht. Hier soll denn auch einer ganz anderen Perspektive nachgegangen werden, die gerade auf der entgegengesetzten Seite angesiedelt ist, und vor allem von Jakobs entwickelt worden ist: Psychische Fakten bedeuten per se schlicht nichts, denn das Erfordernis subjektiver Zurechnung muss strafrechtssystematisch immanent als Zurechnungsstruktur zu erklären sein.70 Vor diesem Hintergrund lautet die Hauptthese, zu der gelangt werden wird: Subjektive Zurechnung ist eine zugeschriebene „Selbstverwaltung“71; ein Modus „dezentraler Organisation“72, eine objektive Zurechnungsstruktur. Man kann bei der Frage nach der Funktion der subjektiven Tatseite – auch hierin im Anschluss an Jakobs73 – vielleicht am plakativsten beim Übergang von der Zurechnungsform „Erfolgshaftung“ zur Zurechnung im heutigen Sinne ansetzen. Jakobs führt aus, dass auch Erfolgszurechnung keine bloße Verursachungshaftung darstellt, da nicht alle Verursacher als zuständig erachtet werden, sondern eben eine der kausalen Handlungen als entscheidend isoliert wird.74 Ein solches Modell der (aus unserer Perspektive Zufalls-)Zurechnung sei aber kein leistungsfähiger Ansatz, wenn damit eine Gesellschaft funktionieren soll, zu deren Identität kein Glaube an göttliche oder natur70 Vgl. zum Folgenden Jakobs, in: Neumann/Schulz (Hrsg.), Verantwortung in Recht und Moral, S. 57 ff., 68 f.; vgl. auch – teilweise mit anderen Akzenten – Müssig, Mord und Totschlag, S. 171 ff. 71 Jakobs, in: Neumann/Schulz (Hrsg.), Verantwortung in Recht und Moral, S. 68. 72 Müssig, Mord und Totschlag, S. 171. 73 Ausführliche Darstellung, Jakobs, in: Witter (Hrsg.), Der psychiatrische Sachverständige im Strafrecht, S. 271 ff.; vgl. auch ders., AT2, 6/24 und ders., Das Schuldprinzip, S. 7 ff. 74 Jakobs, in: Witter (Hrsg.), Der psychiatrische Sachverständige im Strafrecht, S. 272 f.; ders., Das Schuldprinzip, S. 11 f.; parallel dazu lässt sich sagen, dass auch die Formen der Zurechnung durch Assoziation keine Zufallshaftung in strengem Sinne sind: auch hier gibt es – sogar sehr komplexe – Regeln.
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mythische Ordnung gehört, in der vielmehr Menschen dicht in Arbeitsteilung ineinander verschachtelt sind und deshalb gegenseitig Fähigkeitsgrenzen anerkennen müssen.75 Das ist die Folge des oben skizzierten Prozesses der „Entzauberung der Welt“. Warum geschieht aber in der modernen Welt nicht das Gegenteil, d. h. warum folgt nicht dem sturen Blick auf die Verhaltensfolgen und nur auf die Verhaltensfolgen, der der Erfolgshaftung eigen ist, ein Blick nur auf bestimmte Standards, die aus einer sektorialen sozialen Rolle bestimmt werden? Diese radikale Standardisierung wäre – so Jakobs – nicht durchzuführen, weil sie stringent zu einer rein „objektiv“, d. h. nach bestimmten Rollenmaßstäben festgelegten Haftung führen würde, die auch den expressiven Gehalt der Strafe ausschließlich auf die Rolle, in der der Normbruch stattgefunden hat, beschränken würde; und es soll (bei heutigem Strafrecht) gerade Aufgabe dieser Zurechnung sein, „eine möglichst umfassende Distanzierung vom Täter zu ermöglichen“.76 Nach Jakobs erklärt sich deshalb das Bestehen von subjektiver Zurechnung, das sogenannte Kriterium der Vermeidbarkeit, strafrechtsintern aus der Notwendigkeit, verschiedene Partialrollen bei der Zurechnung zu überspringen, denn das „Versagen beruht bei individueller Vorwerfbarkeit nicht nur auf den Identitätsmerkmalen eines Rollenträgers, sondern betrifft auch den Teil des Subjekts, der bei verschiedenen Rollen die Einheit des Täters stiftet, also die rollenunabhängigen Identitätsmerkmale“.77 Nun könnte man denken, hier sei eine Art letzter Kern des Individuums endlich zum Vorschein gekommen, eben dieses Subjekt, was den ganzen verschiedenen Partialmasken, den Rollen, eine Art Substrat verleiht. Doch das würde natürlich der Stringenz des Ansatzes zuwiderlaufen. Die „rollenunabhängigen Identitätsmerkmale“, die die Einheit des Subjekts stiften, fassen sich in einer Rolle – oder: ohne sprachlichen Bezug auf den Täter: in einer Zurechnungsstruktur, zusammen – der des Planenden: im Bereich des hier – nach herkömmlicher dogmatischen Unterteilung – interessierenden Unrechts, des durch die Normen bestimmten Unrechtsinhalte, deren Vermeidung es zu leisten gilt.78 Dieser Gedankengang vermag deutlich zu machen, warum auch die heute schon vorhandene, freilich nicht so radikale Form von Standardisierung (denn in diesem Bereich besteht die Standardisierung in der Festschreibung eines bestimmten Verhaltens als Standard, ohne dass der Täter einen Bezug zu den Folgen herzustellen hat; hierbei bleibt aber eine – wenn auch verkürzte – nur auf die Abweichung vom von der Norm gebotenen Standard bezogene, subjektive Deliktseite bestehen), d. h. die abstrakten Gefährdungsdelikte, nicht vollends die Zurechnungsalternative voller „Dezentralisierung“ ablöst: in einer nicht vollständig anonymisierten Gesellschaft – in 75 Vgl. Jakobs, in: Witter (Hrsg.), Der psychiatrische Sachverständige im Strafrecht, S. 272 f.; ders., Das Schuldprinzip, S. 11 f. 76 Jakobs, in: Witter (Hrsg.), Der psychiatrische Sachverständige im Strafrecht, S. 275. 77 Jakobs, AT2, 6/24; s. auch ders., in: Witter (Hrsg.), Der psychiatrische Sachverständige im Strafrecht, S. 274 f., 284. 78 Bekanntlich ist die inhaltliche Bewertung von Nicht-Vermeiden auf dem Gebiet der Antriebssteuerung anders; vgl. nur Jakobs, Das Schuldprinzip, S. 12 ff.
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einer Gesellschaft mit notwendigen Freiräumen zur Ausgestaltung von sozialen Kontakten – kann sich strafrechtliche Normierung nicht ausschließlich über die Festlegung von sektorialen Verhaltensstandards abspielen. Die individuelle Zurechnung entspringt aus dieser Perspektive also nicht dem Strafrechtssystem externen Vorgaben, sondern ist – wie vorhin angekündigt – eine Frage der Zurechnung. Als ein abschließendes, triviales, nicht sehr aussagekräftiges, aber vielleicht doch bezeichnendes Beispiel dafür, wie intensiv der strafrechtswissenschaftliche Diskurs bestimmten Denktraditionen verhaftet sein kann, die außerhalb der Disziplin jedes Konsenses entbehren, sei Folgendes erwähnt: Wie oben II. 1. a) 2. kurz in Erinnerung gerufen, dreht sich eine immer noch nicht abgeschlossene dogmatische Diskussion in Sachen Vorsatzbegriff um die Frage, ob dieser – als zu beweisende, reell existierende psychische Elemente – nur bestimmte Kenntnis oder aber Kenntnis und Willen in Bezug auf die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes zu beinhalten habe. Nun liest man in einem gängigen, einfachen Werk zur deutschen Sprache,79 anlässlich einer einleitenden grundlegenden Erläuterung des Begriffes der Sprache, dass „… Laute bzw. Lautkombinationen … Träger von Bedeutungen [sind], die einem gewissen Ausschnitt der realen Wirklichkeit zugeordnet sind (Baum, Haus) oder sich auf eine ideelle Wirklichkeit (Wille, Struktur) beziehen“.80 Es ist also für einen Sprachwissenschaftler anscheinend einfach selbstverständlich, dass „Wille“ nicht zu den „erfahrbaren“ Tatsachen gehört – nicht aber für Strafrechtler. b) Aus dieser Einsicht in den Charakter subjektiver Zurechnung als Zurechnungsstruktur lassen sich einige erste mögliche Rückkopplungen allgemeiner Art auf die dogmatische Ausgestaltung der entsprechenden Inhalte als Hypothesen formulieren: 1. Fahrlässigkeit, aber auch Vorsatz sind als objektive Zurechnungsstrukturen begrifflich nicht an psychische Fakten gebunden. Deshalb ist eine – wie auch immer zu bestimmende – „Normativierung“ (wenn man denn vom Bild einer psychischen Lage ausgeht) möglich und richtet sich nach der Funktion dieser Zurechnungsstruktur.81 Dies mag bei Betrachtung der positivrechtlichen Lage in § 16 StGB oder in Art. 14.1 des spanischen Código penal etwas – der Terminus sei erlaubt – schnoddrig wirken; doch angesichts der doch eindeutig differierenden Standards in Sachen Bestimmtsheitsgebot im Allgemeinen im Vergleich zum Besonderen Teil scheint diese Überlegung nicht so schwer zu wiegen (was heißt denn schon „kennen“ oder „Irrtum“ losgelöst vom Regelungszusammenhang?) – ganz abgesehen davon, dass die alltägliche Praxis der Gerichte nicht anders ist. 2. Dann ist aber ein „Umweg über das Beweisrecht“, wie ihn jüngst Ragués vorgeschlagen hat, unnötig, weil nicht radikal genug: Es muss um dieselben Strukturen in materiellem Recht und Beweisrecht gehen. 79
König, Atlas Deutsche Sprache, 13. Aufl. 2001, S. 11. Hervorhebungen im Original. 81 Ansätze hierzu anschließend im Text III. 2. 80
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3. Dann ist aber auch die Rede Jakobs’ von den Elementen subjektiver Zurechnung als „Indikatoren“ für das Vorliegen des Defizits mangelnder Rechtstreue zumindest terminologisch missverständlich: das vorgeblich „Indizierende“ – die Fakten – ist außerhalb der Zurechnung.
2. Eigenständige dogmatische Funktion der subjektiven Zurechnung? a) Ist der in obigem Sinne objektive Charakter subjektiver Zurechnung herausgestellt, ist aber damit noch nichts zur dogmatischen Funktion als Straftatstufe gesagt. Wie vorhin ausgeführt, ist der Sinngehalt der subjektiven Zurechnung in der Planbarkeit der Welt, in deren Veränderbarkeit durch planvolles menschliches Verhalten zu sehen. Dies, wie gesagt, als äußere Zuschreibung, als Zurechnungsstruktur eben. Dieser Gehalt der subjektiven Zurechnung ergibt nur einen Sinn, weil weder die (natürliche) Welt als normativ ansprechbar, noch der Handelnde als auf eine durch und durch objektiv bestimmte Rolle festgelegt erlebt werden: dezentrale Organisation. b) Bezieht man dies auf den stufenspezifischen Adressaten, kann sich folgendes Bild ergeben, bei dem der Zurechnungsgehalt mit dem „Aufsteigen“ in der Straftatlehre immer kontextreicher wird: In der objektiven Zurechnung findet die Bestimmung des tatbestandsmäßigen Verhaltens aus der Perspektive eines Täters in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext statt, als Rollenträger; in der subjektiven Zurechnung wird das Verhalten als Geplantes oder Planbares zugeschrieben, der Täter wird als autonomer Verwalter, als Planender gesehen (beide Stufen ergeben zusammen also das Unrecht); in der Schuld schließlich geht es um den Täter als um für sein rechtliches Verhalten Zuständigen, anders formuliert: als für die Beschaffung von Rechtstreue zuständige Person. Wird nun die Frage gestellt, ob der subjektiven Zurechnung in diesem Zusammenhang eine eigenständige Bedeutung zukommt – wobei aber nicht vergessen werden soll, dass zumindest klar ist, dass das Unrecht nicht komplett ist ohne das Zusammenspielen beider erstgenannter Gesichtspunkte, objektive Zurechnung und subjektive Zurechnung –, eine Fragestellung, die sektoriell die Möglichkeit der Unterscheidung von Unrecht und Schuld anschneidet,82 so kommt spontan der Begriff des Tatprinzips bzw. seiner dogmatischen Bedeutung ins Spiel. Das Tatprinzip wird in der herkömmlichen Lehre als jener „genuin liberale“ Grundsatz verstanden, nach dem strafrechtliche Haftung für bloße Gedanken ausgeschlossen sein soll, als Absage an ein Gesinnungsstrafrecht.83 Denkt man den entsprechenden Inhalt konsequent zu Ende – wie von Jakobs
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Die entscheidenden Gesichspunkte wären: Unrecht als Hilfsbegriff von Schuld, Jakobs, Der strafrechtliche Handlungsbegriff. Kleine Studie, 1992; keine Unterscheidung möglich: Lesch, Verbrechensbegriff, S. 190 ff., 203 ff., 274 f., 276 ff.; ein anderer Ansatz, der die Unterscheidung für möglich hält: Müssig, Mord und Totschlag, S. 136 ff., 150 ff. 83 Vgl. z. B. Stratenwerth, AT4, 2/25 ff.; etwas eingehender Hirsch, in: FS Lüderssen, 2002, S. 253 ff.
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geleistet84 –, so wird klar, dass in einer modernen Gesellschaft – dies als Nachzeichnung der tatsächlichen Zurechnungsstrukturen – die dem Bürger zugesprochene Internsphäre nicht auf neuronale Impulse beschränkt bleibt – etwas mehr als die Gedanken sind frei. Für die hiesige Frage bedeutet die Existenz einer normativ definierten Internsphäre, da ihr Vorhandensein mit dem Bild der dezentralen Organisation untrennbar verbunden ist, dass nicht jede beliebige Form von Zurechnung in den Zusammenhang der Struktur (zumindest der leitenden Struktur) subjektiver Zurechnung passt. Insbesondere die dem sogenannten Feindstrafrecht85 öfter eigenen subjektiven Elemente, die sich nicht als wirkliche Unrechts- oder Schuldstrukturen verstehen lassen, gehören in einen anderen Zusammenhang als der subjektiven Zurechnung als Planbarkeit.86 c) Weiterhin lässt sich die Hypothese formulieren – die hier nur benannt werden soll –, dass bei (dogmatischer) Eigenständigkeit der Funktion von subjektiver Zurechnung (noch einmal: im Gegensatz zur Schuld: hier Beherrschung der Welt, da Rechtlichkeit) ein Versuch der Übertragung – von Jakobs über den Begriff der Tatsachenblindheit in die Diskussion gebracht87 – der Regeln für die Zurechnung von Norm (un)treue (§ 17 StGB) auf die Regeln der Zurechnung von Planung (§ 16 StGB) – wie oben ausgeführt, unabhängig von der Diktion des positiven Rechts – vielleicht lege ferenda erstrebenswert erscheint, aber nicht der gängigen Zurechnungspraxis entspricht – vielleicht ließe sich das Problem auch eher aus der Perspektive der – nicht immer, oder nicht mehr immer, wie vorhin (II. 2.) angeführt, so deutlichen – Stufung von Fahrlässigkeit und Vorsatz angehen.
3. Analytische Leistungen des Begriffs subjektiver Zurechnung bei verschiedenen Ausprägungen? Jetzt soll abschließend kurz versucht werden, aus der Perspektive des hier nachgezeichneten (Grund-)Modells subjektiver Zurechnung Unterschiede der Funktion von Strafrecht bei „objektivierenden“ Systemen oder Regelungszusammenhängen anzusprechen (da ja auch innerhalb ein und desselben Rechtssystems verschiedene Ansätze 84 Entscheidende Passage in Jakobs, ZStW 97 (1985), S. 761; ein Ansatz – die Normativierung des Tatprinzips und dementsprechend des Begriffes der Privatsphäre, der soweit ersichtlich keine große Berücksichtigung in der deutschen Diskussion gefunden hat, wie sich zum Beispiel aus der Tatsache ergibt, dass er in der in der vorangehenden Fußnote zitierten Arbeit von Hirsch nicht thematisiert wird. 85 Vgl. nur Jakobs, in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, S. 47 ff.; ders., ZStW 97 (1985), S. 753 ff.; ders., AT2, 2/25 c. 86 Zu diesem „anderen Zusammenhang“ vgl. anschließend im Text III. 3. Eine andere Sache ist, dass aus der Perspektive der positiven Generalprävention als Strafzwecklehre gute Gründe dagegen sprechen, das sogenannte Feind„strafrecht“ als Strafrecht in engerem Sinne zu betrachten: Durch die Etikettierung als „Feind“, durch die Sonderbehandlung, wird auf die normative Welt des „Feindes“ eingegangen – wobei doch Strafe diese desavouieren soll! Vgl. Cancio Meliá, ZStW 117 (2005), S. 267 ff. 87 Vgl. nur Jakobs, AT2, 8/5a.
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subjektiver Zurechnung koexistieren – auch der Engländer braucht bei vorsätzlicher Tötung seinen Vorsatz). Es geht hier also um den Sinn der subjektiven Tatseite als solcher. Ganz allgemein kann dies aus der Perspektive der Frage angegangen werden, welche die leitende Funktion von Recht ist: Verhaltenssteuerung (oder, wie noch zu sehen sein wird: algemeiner formuliert: das Hervorrufen bestimmter faktischer gesellschaftlicher Folgen) oder Erwartungsstabilisierung.88 In diesem Zusammenhang denkt man spontan zunächst an folgende Beziehungen: Wenn es um die Relation der Begriffspaare Verhaltenssteuerung-Erwartungsstabilisierung und subjektive Zurechnung als Planbarkeitssubjektive Zurechnung in eingeschränktem Sinne geht, scheint es, dass die Verhaltenssteuerung besser zu einer „vollen“ subjektiven Zurechnung passt, während Erwartungsstabilisierung auch ohne subjektive Zurechnung als Planbarkeit zu leisten sein kann. Doch ist die „volle“ subjektive Zurechnung als grundlegende objektive Zurechnungsstruktur „enttarnt“, kann auch die Paarung Erwartungssicherung durch subjektive Zurechnung als passend verstanden werden. Die Ausgangsfrage – ob es im (Straf)recht nur um Erwartungsstabilisierung oder auch, sekundär, um Verhaltenssteuerung geht –, braucht hier nicht entschieden zu werden, denn die vorliegend interessierende Frage – angesichts der oben unter II. 2. und II. 3. angesprochenen offensichtlichen Differenzen in der Ausgestaltung von subjektiver Zurechnung – liegt etwas anders: ob ein Strafrechtssystem eher auf Normativität, d. h. „kontrafaktische, enttäuschungsfeste Stabilisierung bestimmter Verhaltenserwartungen“ als Leitfunktion89 und – natürlich damit zusammenhängend – auf eine „binäre Schematisierung“ auf Recht und Unrecht90, strafrechtlich gewendet, auf Schuld-nicht Schuld, gerichtet ist, oder stattdessen auf andere Elemente, allgemein auf das Erreichen bestimmter gesellschaftlicher Folgen fokussiert zu sein (auf den hier interessierenden Bereich gewendet: Strafe als Stigmatisierung durch bloßen Tabubruch, mit den entsprechenden sozialpsychologischen Folgen: es sei erinnert an das Beispiel im Zusammenhang mit Irrtum und Alter bei geschlechtlicher Betätigung mit Minderjährigen aus der englischen Rechtsprechung, oben II. 3. c); oder bloße Abschreckung durch stückweise Erfolgshaftung bei Drogendelikten – es sei an das entsprechende Beispiel aus den USA oben a.a.O. erinnert), die in den Begriff der Sozialplanung oder Instrumentalisierung 88 Vgl. hierzu die Verhaltenssteuerungsfunktion verneinend Lesch, Verbrechensbegriff, S. 203; Müssig, Schutz abstrakter Rechtsgüter, S. 137 ff.; bejahend aber zum Beispiel – aus einem ähnlichen theoretischen Zusammenhang heraus – Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention, S. 64 f.: Erwartungsstabilisierung kann nicht vollständig von der Steuerung von Verhalten abgekoppelt werden, da keine Erwartungen zu stabilisieren sind, die ständig von der Wirklichkeit konterkariert werden deshalb sei Verhaltenssteuerung eine zweitrangige, abgeleitete Funktion – auch Jakobs, AT2, 1/16 spricht von einem „Mindestmaß an kognitiver Untermauerung der Normen“, das Voraussetzung ihrer Geltung sei; s. zur Weiterentwicklung dieses Gedankens Jakobs, Staatliche Strafe, S. 28 ff.; im spanischen Schrifttum Peñaranda Ramos, DOXA 23 (2000), S. 289 ff., 313 ff. 89 Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, 1999, S. 78. 90 Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, S. 78.
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passen können – eine Addition von Funktionen, die der Notwendigkeit einer analytischen Trennung91 zwischen Konfliktregulierung (durch Erwartungsstabilisierung) und Gesellschaftsveränderung oder -manipulation (hier: durch „Kriminalpolitik“) zuwiderläuft.92 Aus Luhmanns Perspektive ist hier die Zeitdimension entscheidend: Normativität ist retrospektiv, Steuerung prospektiv93 ; die moderne Verzeitlichung von Recht bringe das Zusammenleben dieser beider Funktionen in einem Instrument, der Norm, aber durcheinander. Die Steigerung von Zukunftsmöglichkeiten in komplexen Gesellschaften mache Normativität schwieriger;94 ob dies richtig ist, sei hier dahingestellt (zum Beispiel: ob Normativität in diesem Sinne nur retrospektiv ist, ist eine Definitionsfrage, denn immerhin soll ja die Erwartung für die Zukunft beibehalten werden; von der Strafzwecktheorie her kann man das an dem – die Formulierung sei im hiesigen Zusammenhang erlaubt – „doppelten Jakobs“ weiterspinnen: hier „Einübung in Rechtstreue“95 als Element der Theorie, da bloßes „Umfeld“ der Theorie.96 Wichtig ist aber, dass zwischen Steuerung, Planung sozialer Ereignisse durch Normen97 und Stabilisierung unterschieden wird. In diesem Sinne passt denn auch der Bezug auf den zeitlichen Aspekt. Und entscheidend ist denn auch jedenfalls die Beziehung zwischen Verhaltenssteuerung und Erwartungssicherung, d. h. welcher denn der Vorrang gebührt. Deutlich wird jedenfalls, dass das Fazit Luhmanns: Es ist im Bereich der Dogmatik – auch vor allem wenn man die vergleichende Perspektive zur schärferen Konturierung als Hilfsmittel nimmt – eine Konfusion zwischen Verschiedenem festzustellen, auf die nicht mit hinreichender Differenzierung reagiert wird,98 auch für das hier interessierende Problem einschlägig ist.99 Diese Grundüberlegung der Analyse Luh-
91 Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, S. 86 f. 92 Vgl. den Ansatz Müssigs zu den abstrakten Gefährdungsdelikten, Schutz abstrakter Rechtsgüter, S. 197 ff. 93 Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, S. 73 f. 94 Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, S. 80 ff., 90 f. 95 Jakobs, AT2, 1/15. 96 Jakobs, ZStW 107 (1995), S. 844 f. 97 Siehe die Bezugnahmen Luhmanns auf social engineering, Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, S. 86 ff. 98 Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, S. 90 f. 99 Dies gilt nicht für alle Aspekte der Luhmannschen Konstruktion: Seine Sorge, der Drang nach Spezialprävention könne die Normativität in Frage stellen (Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, S. 79), wirkt wohl aus spezifisch strafrechtswissenschaftlichen Perspektive, angesichts der in der Zwischenzeit eingetretenen, einem Zusammenbruch nahekommenden Disakkreditierung des Resozialisierungsgedankens, als ein eindrucksvolles Beispiel der Zeitgebundenheit von auf Gesellschaft
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manns dürfte auch auf die im der hiesigen Frage vorliegenden, nicht reflektierte, durch Ausdifferenzierung getragene Konfusion von verschiedenen Modellen anwendbar sein. Der erste Schritt wäre also eine Differenzierung verschiedener Funktionen der unterschiedlichen Modelle subjektiver Zurechnung in der Dogmatik – ganz abgesehen von der Bewertung dieser unterschiedlichen Modelle.
bezogenen Analysen (die Arbeit Luhmanns geht auf einen Vortrag aus dem Jahre 1973 zurück).
Kann die Mitgliedschaft in einem Rockerclub eine Notwehreinschränkung begründen? Von Armin Engländer
I. Einleitung Kaum eine BGH-Entscheidung der jüngeren Vergangenheit ist in der veröffentlichten Meinung auf mehr Unverständnis gestoßen und hat mehr Empörung verursacht als das Urteil des 2. Strafsenats im sog. „Hells Angels-Fall“.1 „BGH lässt Polizisten-Killer laufen“ titelte die Bild-Zeitung. Eine Ermunterung von „Schwerstkriminellen in ihrem asozialen Tun“ sah der Innenminister des Landes Rheinland-Pfalz Lewentz; er als Bürger und Dienstherr könne das Urteil nur „mit absolutem Unverständnis“ zur Kenntnis nehmen. Und der rheinland-pfälzische Landesvorsitzende der DPolG Kasel warf dem BGH vor, die Entscheidung räume „Menschen, die im Rockermilieu leben […] einen Freibrief zum Schießen“ ein. Was war passiert? Der Angeklagte, ein Mitglied des Rockerclubs „Hells Angels“, hatte einen Beamten des SEK, das sich zum Zwecke einer Haussuchung früh morgens durch das Aufbrechen der Haustür heimlich Zutritt zu seiner Wohnung verschaffen wollte, durch die geschlossene Haustür erschossen – allerdings in der irrtümlichen Annahme, bei den Personen vor der Tür handele es sich um Mitglieder des rivalisierenden Rockerclubs „Bandidos“, die ihm nach dem Leben trachten. Vom LG Koblenz wurde er wegen dieser Tat nach § 212 StGB verurteilt. Auf seine Revision hin hob der BGH das Urteil auf und sprach ihn vom Vorwurf des Tötungsdelikts frei, weil er sich in einem nicht vermeidbaren Erlaubnistatumstandsirrtum befunden habe. Zugrunde lag dem die rechtliche Bewertung, dass die Tat des Angeklagten aus Notwehr gerechtfertigt gewesen wäre, wenn seine irrige Vorstellung vom Angriff der Bandidos auf sein Leben tatsächlich zugetroffen hätte. Zwar stellt der lebensgefährliche Schusswaffeneinsatz als Verteidigungshandlung lediglich die ultima ratio dar.2 Daher muss ein Verteidiger, sofern er nach den Umständen des Einzelfalls – der sog. konkreten Kampflage – über die Möglichkeit verfügt und dies den Abwehrerfolg nicht gefährdet, abgestuft vorgehen, also den Schusswaffengebrauch zunächst andro1
BGH NStZ 2012, 272. So der BGH in st. Rspr.; vgl. nur BGHSt 26, 146; BGH NStZ 2006, 153. Näher zur Bedeutung des ultima-ratio-Gedankens MüKo-Erb, StGB, 2. Aufl. 2011, § 32 Rn. 166. 2
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hen, dann einen Warnschuss abgeben und schließlich auf nicht lebenswichtige Körperregionen zielen, selbst wenn so der Angriff u. U. nicht sofort beendet wird. Nicht einzulassen braucht er sich allerdings auf eine Auseinandersetzung mit ungewissem Ausgang. Ist ein abgestuftes Vorgehen in der konkreten Kampflage mit der nicht bloß geringen Gefahr verbunden, dass das mildere Mittel fehlschlägt und keine rechtzeitige Gelegenheit zum Einsatz des stärkeren bleibt, darf der Verteidiger deshalb das Mittel sofort so einsetzen, dass der Angriff sicher abgewehrt wird.3 Dem entsprechend hat der BGH anders als das LG die – hypothetische – Erforderlichkeit des sofortigen Schusswaffengebrauchs bejaht, da nach der Vorstellung des Angeklagten das Eindringen mehrerer bewaffneter Angreifer unmittelbar bevorstand und ein Warnschuss für ihn zudem die Gefahr begründet hätte, nun seinerseits durch die geschlossene Tür beschossen zu werden. Im Schrifttum ist diese Beurteilung der Erforderlichkeit weitestgehend auf Zustimmung gestoßen.4 Eine Reihe von Autoren bemängelt allerdings, der 2. Strafsenat habe es versäumt, eine sog. sozialethische Einschränkung des Notwehrrechts zu erwägen.5 Die Berechtigung dieses Vorwurfs soll im Folgenden näher untersucht werden.6 Denn unabhängig von der Frage, welche Auswirkungen die Annahme einer sozialethischen Notwehrschranke auf die rechtliche Beurteilung des konkreten Falles im Ergebnis gehabt hätte,7 erscheint prinzipiell klärungsbedürftig, ob ein Angegriffener in vergleichbaren Konstellationen über das volle oder nur ein eingeschränktes Notwehrrecht verfügt.
II. Die sozialethischen Einschränkungen des Notwehrrechts Vorab einige allgemeine Bemerkungen zu den Notwehrschranken: Grundsätzlich besteht mittlerweile Einigkeit darüber, dass das Abstellen allein auf die Erforderlichkeit der Tat zur Abwendung des gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs in § 32 Abs. 2 StGB, das dem deutschen Notwehrrecht seine besondere Schärfe ver-
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BGH NJW 2001, 3201; NStZ 2005, 86. Engländer, NStZ 2012, 275; Erb, JR 2012, 207 f.; Hecker, JuS 2012, 266; van Rienen, ZIS 2012, 380 ff.; Rotsch, ZJS 2012, 115; zweifelnd Basten, Die Polizei 2012, 153 f. 5 Basten, Die Polizei 2012, 154; Burchard, HRRS 2012, 451 f.; Jäger, JA 2012, 230; G. Merkel, FAZ v. 19. 4. 2012, S. 6. 6 Nicht näher behandelt wird hier die Frage, inwieweit trotz einer Rechtfertigung gem. § 32 StGB eine Strafbarkeit des Angegriffenen nach den Grundsätzen der actio illicita in causa in Betracht kommt. Dies erwägend G. Merkel, FAZ v. 19. 4. 2012, S. 6. Dagegen zu Recht Voigt/Hoffmann-Holland, NStZ 2012, 365 f. 7 Dafür, dass die Tat des Angeklagten im Ergebnis auch bei eingeschränktem Notwehrrecht gerechtfertigt gewesen wäre, wenn die irrige Vorstellung vom Angriff der Bandidos zugetroffen hätte, G. Merkel, FAZ v. 19. 4. 2012, S. 6; Voigt/Hoffmann-Holland, NStZ 2012, 365; dagegen Basten, Die Polizei 2012, 154; Jäger, JA 2012, 230; zweifelnd Burchard, HRRS 2012, 452. 4
Mitgliedschaft in einem Rockerclub begründet Notwehreinschränkung?
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leiht,8 in bestimmten Sachverhaltskonstellationen nicht angemessen ist und deshalb gewisser Korrekturen bedarf.9 Diese firmieren üblicherweise unter dem Begriff der sozialethischen Einschränkungen der Notwehr.10 Trotz der weitgehenden Übereinstimmung im Ausgangspunkt hat sich allerdings Roxins vor etwas mehr als dreißig Jahren geäußerte Prognose, der Zeitpunkt für die Erzielung eines Konsenses über die Grenzen des Notwehrrechts sei nicht fern,11 als zu optimistisch erwiesen. Nach wie vor befindet sich die Diskussion über die sozialethischen Notwehreinschränkungen in vollem Gang; ein Ende ist nicht absehbar. Im Streit stehen dabei gleich mehrere Punkte. In aller Kürze: Debattiert wird zunächst über den im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG erforderlichen gesetzlichen Anknüpfungspunkt.12 Während die h.M. hier den Begriff der Gebotenheit in Abs. 1 von § 32 StGB heranziehen möchte,13 bestreitet eine a.A., dass damit den Anforderungen des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebots genüge getan ist.14 Das kann hier nicht weiter vertieft werden.15 Des Weiteren ist umstritten, auf welche Weise sich Notwehreinschränkungen begründen lassen. Prinzipiell kommen zwei Wege in Betracht. Restriktionen des Notwehrrechts können zum einen aus internen Schranken folgen, d. h. Schranken, die im Normzweck der Notwehr selbst angelegt sind, und zum anderen aus externen Schranken, d. h. Schranken, die sich aus anderen Regeln und Prinzipien der Gesamtrechtsordnung wie der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG oder dem in Art. 20 Abs. 1 GG verankerten Solidaritätsprinzip ergeben. Die h.M. beansprucht allerdings, sämtliche Notwehreinschränkungen als Resultat interner Schranken zu begründen.16 Zugrunde liegt dem ein dualistisches Notwehrverständnis. Danach bezweckt die 8 Krit. dazu Bülte, GA 2011, 145 ff.; Koriath, in: FS Müller-Dietz, 2001, S. 361 ff.; zum internationalen Vergleich s. LK-Rönnau/Hohn, StGB, 12. Aufl. 2006, § 32 Rn. 6 ff. 9 Tendenziell für ein ausnahmslos nur an der Erforderlichkeit ausgerichtetes Notwehrrecht allerdings noch Hruschka, ZStW 115 (2003), 222 f. 10 Kritisch zu dieser Bezeichnung Koriath, in: FS Müller-Dietz, S. 381 f.; zur Verteidigung s. Kühl, JRuE 2003, S. 240 ff. 11 Roxin, ZStW 93 (1981), 69. 12 Art. 103 Abs. 2 GG gilt auch für Rechtfertigungsgründe. Die täterbelastende Reduktion eines kodifizierten Rechtfertigungsgrundes gegen seinen Wortlaut verstößt daher gegen das Gesetzlichkeitsprinzip. BVerfGE 95, 131 f.; BGHSt 42, 161; Erb, ZStW 108 (1996), 271 ff.; a.A. Günther, in: FS Grünwald, 1999, S. 213 ff. 13 BGHSt 39, 377; BSG JZ 2000, 97; Fischer, StGB, 60. Aufl. 2013, § 32 Rn. 36; Kühl, AT, 7. Aufl. 2012, § 7 Rn. 163; Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 15 Rn. 55 ff.; Wessels/Beulke, AT, 42. Aufl. 2012, Rn. 342. Dafür spricht immerhin die Genese der Notwehrvorschrift. Der Gesetzgeber des 2. StrRG hat das Wort „geboten“ in § 32 Abs. 1 bewusst beibehalten, um sozialethische Einschränkungen der Notwehr zu ermöglichen; vgl. BT-Drucks. V/4095, S. 14. 14 Erb, ZStW 108 (1996), 295; van Rienen, Die „sozialethischen“ Einschränkungen des Notwehrrechts, 2009, S. 167 ff.; von Scherenberg, Die sozialethischen Einschränkungen der Notwehr, 2009, S. 72 ff.; zweifelnd auch Loos, in: FS Deutsch, 1999, S. 245. 15 Ausf. Engländer, Grund und Grenzen der Nothilfe, 2008, S. 303 ff. 16 Bitzilekis, Die neue Tendenz zur Einschränkung des Notwehrrechts, 1984, S. 107 f.; Kühl (Fn. 13), § 7 Rn. 164; Roxin (Fn. 13), § 15 Rn. 57; Schönke/Schröder-Perron, StGB, 28. Aufl. 2010, § 32 Rn. 43, 47.
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Notwehr nicht nur den Schutz der Individualrechtsgüter des Angegriffenen, sondern zugleich die Bewährung (=Verteidigung) der Rechtsordnung.17 Über den Topos der Rechtsbewährung werden dann alle Regeln und Prinzipien der Gesamtrechtsordnung in die Notwehrvorschrift integriert und so als interne Schranken rekonstruiert; eine Angriffsabwehr, die sich mit diesen Regeln und Prinzipien nicht vereinbaren lässt, diene nicht der Verteidigung der Rechtsordnung und sei damit vom Zweck der Notwehr nicht gedeckt. Freilich sieht sich die dualistische Notwehrkonzeption, was hier indes ebenfalls nicht weiter vertieft werden kann, durchschlagenden Einwänden ausgesetzt.18 Wieder verstärkt Zuspruch erfahren deshalb seit einiger Zeit individualistische Konzeptionen, denen zufolge die Notwehr allein die Verteidigung der durch den Angriff bedrohten Individualrechtsgüter bezweckt.19 Da nach diesen Ansätzen der Gedanke der Rechtsbewährung für das Notwehrrecht keine Rolle spielt, verstehen sie gegenläufige Regeln und Prinzipien der Gesamtrechtsordnung nicht als interne, sondern als externe Notwehrschranken.20 Schließlich wird neben dem Begründungsweg auch kontrovers erörtert, in welchen Fällen Notwehreinschränkungen bestehen und wie diese konkret ausgestaltet sind. Als klassische – wenn auch keineswegs unumstrittene – Fallgruppen gelten die extreme Unverhältnismäßigkeit des Verteidigungsmittels,21 der Angriff im Zustand fehlender oder verminderter Schuld,22 das Bestehen enger persönlicher Beziehungen zwischen Angreifer und Angegriffenem23 und der provozierte Angriff24. Ferner bejaht die h.M. Notwehrschranken inzwischen auch in den sog. Rettungsfolter-
17 BGHSt 24, 359; 48, 212; AnwK-Hauck, StGB, 2010, § 32 Rn. 1; Kühl (Fn. 13), § 7 Rn. 6 ff.; Roxin (Fn. 13), § 15 Rn. 1 ff.; Schönke/Schröder-Perron (Fn. 16), § 32 Rn. 1 f.; ausf. Kaspar, RW 2013, 40 ff.; van Rienen (Fn. 14), S. 138 ff. 18 Näher dazu Engländer (Fn. 15), S. 7 ff.; zur Auseinandersetzung mit der Kritik aus (modifiziert-)dualistischer Sicht s. Kaspar, RW 2013, 40 ff. 19 MüKo-Erb, § 32 Rn. 18; Frister, GA 1988, 299 ff.; Lesch, in: FS Dahs, 2005, S. 88 f.; Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, 2012, S. 237 ff.; Renzikowski, Notstand und Notwehr, 1994, S. 221 ff., S. 275; ausf. – auch zu den unterschiedlichen Begründungsansätzen im Einzelnen – Engländer (Fn. 15), S. 38 ff. 20 Umstritten ist zwischen den Vertretern einer individualistischen Notwehrkonzeption, ob Notwehreinschränkungen sich allesamt nur durch externe Schranken begründen lassen oder zumindest zum Teil aus internen Schranken resultieren. Für ersteres etwa Koch, ZStW 104 (1992), 797 f.; Renzikowski (Fn. 19), S. 301; für letzteres bspw. Matt/Renzikowski-Engländer, StGB, 2013, § 32 Rn. 43. 21 LK-Rönnau/Hohn (Fn. 8), § 32 Rn. 230 f.; Matt/Renzikowski-Engländer (Fn. 20), § 32 Rn. 44; Schönke/Schröder-Perron (Fn. 16), § 32 Rn. 50; a.A. Renzikowski (Fn. 19), S. 312, S. 315 f.; van Rienen (Fn. 14), S. 221 ff. 22 Kühl (Fn. 13), § 7 Rn. 192 ff.; MüKo-Erb (Fn. 2), § 32 Rn. 209 ff.; krit. van Rienen (Fn. 14), S. 246 ff. 23 BGH NJW 1969, 802; BGH NJW 1975, 62 (erheblich enger allerdings BGH JZ 1984, 529; BGH JZ 2003, 51); Kühl (Fn. 13), § 7 Rn. 202 ff.; Roxin (Fn. 13), § 15 Rn. 93 ff.; a.A. van Rienen (Fn. 14), S. 270 ff.; von Scherenberg (Fn. 14), S. 167 ff. 24 S. dazu sogleich unten III.
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Konstellationen,25 bei der Verteidigung gegen Schweigegelderpressungen mit der Androhung einer Enthüllung kompromittierender Tatsachen (Chantage),26 bei der Nothilfe gegen tatbestandslose Schwangerschaftsabbrüche i.S. von § 218a StGB27 und in den Fällen der aufgedrängten Nothilfe (soweit hier nicht bereits die Erforderlichkeit fehlt).28 Und ein Teil des Schrifttums befürwortet darüber hinaus noch ein Verbot der tödlichen Notwehr zur Verteidigung von Sachgütern.29 Zur Begründung einer sozialethischen Notwehreinschränkung in der hier erörterten Konstellation eines Angriffs im Kontext von Auseinandersetzungen im Rockermilieu stehen ihren Befürwortern zwei Wege offen. Entweder zeigen sie auf, dass die Voraussetzungen einer bereits anerkannten Notwehrschranke vorliegen. Oder sie leiten aus dem Normzweck der Notwehr oder anderen Regeln und Prinzipien der Gesamtrechtsordnung eine weitere, neue Notwehrschranke ab. In der Auseinandersetzung mit dem „Hells Angels-Urteil“ des 2. Strafsenats werden beide Wege beschritten.
III. Notwehreinschränkung wegen Notwehrprovokation? Zunächst zu den Versuchen, die Notwehreinschränkung auf eine bereits anerkannte Schranke zu stützen: Die meisten Befürworter einer Restriktion des Notwehrrechts bei Auseinandersetzungen im Rockermilieu führen hier die Grundsätze der Notwehrprovokation (genauer: der Angriffsprovokation) an.30 Nach diesen muss im Falle eines provozierten Angriffs der angegriffene Provokateur – soweit möglich – zunächst ausweichen oder sich mit Schutzwehr zu behelfen versuchen, bevor er zu maßvoller Trutzwehr übergehen darf, wobei er ggf. auch leichtere Beeinträchtigungen hinzunehmen hat. Dabei ist seine Pflicht zur Zurückhaltung umso größer, je 25 EGMR NJW 2010, 3145; BVerfG NJW 2005, 656; LG Frankfurt NJW 2005, 692; Norouzi, JA 2005, 306 ff.; Perron, in: FS Weber, 2004, S. 143 ff.; Roxin, in: FS Nehm, 2006, S. 205 ff.; a.A. Erb, NStZ 2005, 593 ff.; R. Merkel, in: FS Jakobs, 2007, S. 375 ff. Gegen eine Notwehreinschränkung bei Privatpersonen Engländer (Fn. 15), S. 331 ff.; a.A. Perron, in: FS Weber, S. 152 ff. 26 BGHSt 48, 212; Schönke/Schröder-Perron (Fn. 16), § 32 Rn. 18; Wessels/Beulke, AT (Fn. 13), Rn. 348a; krit. zur Notwendigkeit einer eigenständigen Fallgruppe Matt/Renzikowski-Engländer (Fn. 20), § 32 Rn. 60. Ausf. zum Ganzen Kaspar, GA 2007, 36 ff.; Kroß, Notwehr gegen Schweigegelderpressung, 2004. 27 Fischer (Fn. 13), § 218a Rn. 4; Satzger, JuS 1997, 802 f.; diff. Lesch, Notwehrrecht und Beratungsschutz, 2000, S. 64 ff. 28 Engländer (Fn. 15), S. 99 ff., S. 305 f.; Heller, Die aufgedrängte Nothilfe, 2004, S. 152 f. 29 Frister, GA 1985, 553 ff.; Lührmann, Tötungsrecht zur Eigentumsverteidigung?, 1999, S. 258 ff.; a.A. die h.M., etwa AnwK-Hauck (Fn. 17), § 32 Rn. 22; Engländer (Fn. 15), S. 352 ff.; Fischer (Fn. 13), § 32 Rn. 40. Für eine Einschränkung de lege ferenda Bülte GA 2011, 145 ff. 30 Basten, Die Polizei 2012, 154; Burchard, HRRS 2012, 450; Jäger, JA 2012, 230; Voigt/ Hoffmann-Holland, NStZ 2012, 363 ff.
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schwerer die Provokation wiegt.31 Hat der Provokateur den Angreifer zielgerichtet zu seinem Angriff gereizt, um ihn dann unter dem Deckmantel der Notwehr verletzen zu können (Absichtsprovokation), will ein Teil des Schrifttums das Notwehrrecht sogar vollständig entfallen lassen.32 Diese Grundsätze sollen nun auch Anwendung finden, wenn der Angriff als Teil eines länger andauernden Konflikts im Rockermilieu die Reaktion auf vorangegangene Feindseligkeiten der anderen Seite bildet. So hatte der Angeklagte sich im „Hells Angels-Fall“ vorgestellt, dass es sich bei dem vermeintlichen Angriff der Bandidos auf sein Leben um eine Racheaktion für die Tötung eines Bandidos durch andere Mitglieder der Hells Angels ein knappes halbes Jahr zuvor handelte, an der er freilich nicht beteiligt war. Fraglich ist allerdings, ob dies genügt, um eine Angriffsprovokation bejahen zu können. Zwei Bedingungen müssten hierfür erfüllt sein. Erforderlich ist erstens ein Vorverhalten, das aufgrund seines provozierenden Charakters beim Angreifer das Angriffsmotiv erzeugt. Und zweitens bedarf es eines sog. Provokationszusammenhangs,33 d. h. der konkrete Angriff muss auch als adäquate, also aus Sicht eines Dritten nachvollziehbare Reaktion auf das provozierende Vorverhalten erscheinen.34 Nur unter diesen Voraussetzungen ist es gerechtfertigt, dem Angegriffenen eine Mitverantwortung für den Angriff zuzuschreiben und deshalb sein Notwehrrecht zu beschränken. 1. Das Provokationsverhalten Zur ersten Bedingung: Wann ein Vorverhalten als provozierend gilt, ist umstritten. Der Rechtsprechung zufolge braucht die Handlung nicht rechtswidrig zu sein; es soll ausreichen, dass sie sozialethisch zu missbilligen ist – zumindest sofern ihre Moralwidrigkeit einen gewissen Schweregrad aufweist.35 Die wohl h.L. fordert hingegen
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BGHSt 24, 359; 26, 145 f.; 39, 379; BGH NStZ 2002, 426 f.; LK-Rönnau/Hohn (Fn. 8), § 32 Rn. 254 ff.; Schönke/Schröder-Perron (Fn. 16), § 32 Rn. 58 ff. Allerdings bleibt eine sofortige lebensgefährliche Trutzwehr zulässig, wenn sie die einzige Möglichkeit darstellt, einen möglicherweise tödlichen Angriff abzuwehren; BGH NJW 2001, 1076. 32 Roxin (Fn. 13), § 15 Rn. 65; Wessels/Beulke (Fn. 13), Rn. 348; a.A. Grünewald ZStW 122 (2010), 84 f.; MüKo-Erb (Fn. 2), Rn. 225 ff. Die Rspr. ist uneinheitlich: Für einen vollständigen Notwehrausschluss BGH NJW 1983, 2267; BGH JZ 2001, 665; lediglich für eine Einschränkung BGHSt 24, 359; 42, 100. 33 Zu dieser Bezeichnung vgl. Zaczyk, JuS 2004, 754. 34 BGH NStZ 2009, 626; NStZ-RR 2011, 75; Grünewald, ZStW 122 (2010), 83 f.; Roxin (Fn. 13), § 15 Rn. 73; Schönke/Schröder-Perron (Fn. 16), § 32 Rn. 59. 35 Das ist dem BGH zufolge etwa der Fall, wenn sich im angriffsauslösenden Handeln des Provokateurs eine Geringschätzung des Provozierten ausdrückt, die einer schweren Beleidigung gleichkommt; BGHSt 42, 101. Dem BGH zustimmend Fischer (Fn. 13), § 32 Rn. 44; Wessels/Beulke (Fn. 13), Rn. 348.
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eine Rechtswidrigkeit des Vorverhaltens.36 Für letzteres spricht, dass es axiologisch ungereimt erscheint, ein ungeachtet seiner moralischen Kritikwürdigkeit rechtlich erlaubtes Tun oder Unterlassen so zu behandeln, als sei es rechtlich verboten. Unabhängig von dieser Kontroverse stellt eine Handlung aber jedenfalls dann keine Provokation dar, wenn sie weder rechtlich noch sozialethisch beanstandet werden kann. Ein für sich nicht zu missbilligendes Verhalten führt nicht allein deshalb zu einer Notwehreinschränkung, weil der Handelnde weiß oder wissen kann, dass ein anderer dadurch womöglich zu einem rechtswidrigen Angriff veranlasst wird.37 Unproblematisch zu bejahen ist nach diesen Grundsätzen ein Provokationsverhalten, wenn der Angegriffene an den rechtswidrigen (oder – folgt man der Rechtsprechung – mindestens sozialethisch zu missbilligenden) Feindseligkeiten beteiligt war, die dann zu dem Angriff auf ihn führen. Wie verhält es sich aber, wenn – so wie im „Hells Angels-Fall“ – eine solche Beteiligung fehlt?38 Die bloße Mitgliedschaft in einem Rockerclub als solche reicht jedenfalls für die Bejahung einer Provokation nicht aus.39 Jäger erwägt allerdings, sie zum Anknüpfungspunkt für eine Zurechnung des Provokationsverhaltens der anderen Mitglieder des Rockerclubs zu machen.40 Das bedeutete, dass auch derjenige, der an der Provokation in keiner Weise beteiligt ist, gleichwohl als Provokateur gälte, weil ihm allein aufgrund seiner Clubmitgliedschaft das provozierende Tun seiner Clubkameraden zugerechnet würde. Konkret: Der Angeklagte im „Hells Angels-Fall“ müsste sich so behandeln lassen, als hätte er selbst als Täter oder Teilnehmer an der den Angriff auf ihn auslösenden Tötung des Mitglieds der Bandidos mitgewirkt. Eine solche Zurechnung ist indes mit den anerkannten Zurechnungskriterien nicht in Einklang zu bringen.41 Nach diesen muss eine Person das Verhalten eines Dritten nur gegen sich gelten lassen, wenn sie dafür eine Mitverantwortung trifft. Das ist aber lediglich dann der Fall, wenn sie entweder durch eigenes Tun in vorwerfbarer (d. h. vorsätzlicher oder fahrlässiger) Weise die Gefahr der entsprechenden Handlung des Dritten mit geschaffen hat – z. B. durch Erbringung eines wesentlichen Tatbeitrags, Anstiftung oder Hilfeleistung – oder dafür einzustehen hat, dass der Dritte die Handlung unterlässt. Liegen diese Voraussetzungen – so wie im „Hells Angels-Fall“ – nicht vor, scheidet eine Zurechnung des Verhaltens Dritter dagegen grds. aus.
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Engländer (Fn. 15), S. 328 ff., S. 369 f.; Grünewald, ZStW 122 (2010), 79 ff.; Lesch, in: FS Dahs, S. 105; LK-Rönnau/Hohn (Fn. 8), § 32 Rn. 253, 255; Roxin (Fn. 13), § 15 Rn. 65, 73. 37 BGHSt 27, 336; BGH NStZ 2011, 83; NStZ-RR 2011, 75. 38 Dass Basten, Die Polizei 2012, 150, ohne jeden Anhaltspunkt in den Sachverhaltsfeststellungen eine solche Beteiligung einfach vermutet („feindselige[n] Aktionen…, an denen der Angeklagte mitgewirkt haben mag“), stellt eine eklatante Missachtung der Unschuldsvermutung dar. 39 Insoweit zutreffend Voigt/Hoffmann-Holland, NStZ 2012, 364. 40 Jäger, JA 2012, 230. 41 Abl. auch van Rienen, ZIS 2012, 382.
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Anders als Jäger setzt Burchard an. Er sieht als möglichen Anknüpfungspunkt für eine Angriffsprovokation das Nicht-Herbeiholen staatlicher Hilfe im Vorfeld der Notwehrlage trotz der Erwartung eines Angriffs auf sich. Denn durch dieses Unterlassen habe der Angegriffene den Angriff auf sich in vorwerfbarer Weise mitverursacht, ihn also provoziert.42 Dem ist jedoch zu widersprechen. Zunächst erscheint schon fragwürdig, inwieweit die Nicht-Inanspruchnahme hoheitlichen Schutzes rechtswidrig oder zumindest sozialethisch vorwerfbar ist.43 Burchard postuliert hier wenig überzeugend eine entsprechende Obliegenheit, die freilich nur Kriminelle, nicht aber den unbescholtenen Bürger treffen soll.44 Selbst wenn man aber an dieser Stelle eine solche Obliegenheit einmal probehalber unterstellt, schafft der Angegriffene durch ihre Nichtbefolgung jedenfalls keinen Anreiz für den Angriff auf sich. Der Angreifer wird nicht durch die Nicht-Inanspruchnahme staatlicher Hilfe seitens des Angegriffenen zu seinem Angriff motiviert; seinen Angriffsentschluss fasst er ganz unabhängig davon. Allenfalls kann man sagen, dass es der Angegriffene mit dem Versäumnis, sich unter staatlichen Schutz zu begeben, unterlässt, beim Angreifer ein Motiv für den Verzicht auf seinen Angriff zu erzeugen. Indes trifft den Angegriffenen keine Pflicht, den Angreifer von seinem Angriff abzuhalten; er hat nicht dafür einzustehen, dass dieser nicht angreift. Die Verantwortung für den Entschluss zum Angriff trägt – ungeachtet der später noch zu klärenden Frage, ob die vorherige Passivität des Angegriffenen womöglich aus anderen Gründen sein Notwehrrecht einschränkt – allein der Angreifer. Eine Angriffsprovokation stellt das Nicht-Herbeiholen staatlicher Hilfe im Vorfeld der Notwehrlage folglich nicht dar.45 2. Der Provokationszusammenhang Als angriffsauslösendes Vorverhalten bleibt somit nur das Handeln der anderen Mitglieder des Rockerclubs, das dem Nicht-Beteiligten jedoch nach dem zuvor Gesagten nicht zugerechnet werden kann. Aber selbst wenn man die Zurechenbarkeit probehalber unterstellt, bedürfte es für eine Notwehreinschränkung noch des Provokationszusammenhangs. Der provozierte Angriff muss, wie bereits erwähnt, als eine aus Sicht eines Dritten nachvollziehbare Reaktion auf das provozierende Vorverhalten erscheinen. Nur unter dieser Bedingung ist es gerechtfertigt, dem Provokateur eine Rücksichtnahmepflicht zugunsten des Angreifers aufzuerlegen. Das setzt dreierlei voraus: Erstens muss der Angriff Ausdruck einer im Hinblick auf das provozierende Vorverhalten verständlichen Gefühlsregung sein.46 Daran fehlt es bei maßlosen Überreaktionen – etwa, wenn auf eine harmlose Beleidigung hin der Beleidigte auf 42
Burchard, HRRS 2012, 450. S. dazu auch Sengbusch, Die Subsidiarität der Notwehr, 2008, S. 292 ff. 44 Burchard, HRRS 2012, 451. 45 Ebenso i.E. Sengbusch (Fn. 43), S. 289 ff. 46 Näher zum Erfordernis einer nachvollziehbaren Gemütserregung Engländer (Fn. 15), S. 368 f., sowie – wenn auch mit etwas anders gelagerter Begründung – Retzko, Die Angriffsverursachung bei der Notwehr, 2001, S. 147 ff. 43
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den Beleidiger sofort mit dem Messer losgeht und ihn zu töten versucht. Zweitens scheidet der Provokationszusammenhang aus, wenn der Angreifer trotz des provozierenden Vorverhaltens kühlen Kopf behält oder der Affekt bereits wieder abgeklungen ist.47 In diesem Fall resultiert der Angriff nicht aus einer nachvollziehbaren Gemütserregung, sondern allein aus anderen Motiven. Verstreicht zwischen Provokation und Angriff eine gewisse Zeit, ist deshalb eine Angriffsprovokation regelmäßig zu verneinen.48 Und drittens liegen die Gründe für eine Restriktion der Verteidigungsbefugnis nicht vor, wenn der Angreifer die vorangegangene Provokation des Angegriffenen seinerseits provoziert hat (sog. provozierte Provokation), da dann infolge seines eigenen Verschuldens etwaige Gefühle der Empörung oder Verärgerung nicht berechtigt sind.49 Nun wird in den hier erörterten Fällen zwischen der Provokation und dem Angriff auf das nicht an ihr beteiligte Clubmitglied normalerweise ein längerer Zeitraum verstreichen. So lag in dem „Hells Angels-Fall“ die nach der Vorstellung des Angeklagten angriffsauslösende Tötung des Bandidos-Mitglieds bereits ein knappes halbes Jahr zurück. Der Schlussfolgerung, dass damit die Voraussetzungen des Provokationszusammenhangs nicht erfüllt sind, treten allerdings Voigt und Hoffmann-Holland entgegen.50 Sie wollen den erforderlichen zeitlichen Konnex durch die Annahme einer Dauerprovokation begründen. In länger anhaltenden Konflikten entstehe nämlich ein spezifisches Reiz-Reaktions-Schema. Dieses zeichne sich dadurch aus, dass ähnlich wie bei der Dauergefahr51 durch das provozierende Vorverhalten eine andauernde Provokationslage geschaffen werde, in der jederzeit mit einem Angriff gerechnet werden müsse, auch wenn dieser noch einige Zeit auf sich warten lasse. Dass der Provozierte nicht in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu dem die Dauerprovokation erzeugenden Vorverhalten angreife, schließe den Provokationszusammenhang daher nicht aus. Dem ist indes nicht zuzustimmen. Es mag zutreffen, dass gerade bei anhaltenden Konflikten das provozierende Vorverhalten des einen bei dem jeweils anderen rein faktisch ein fortdauerndes Revanchebedürfnis weckt, welches dann auch über einen längeren Zeitraum handlungswirksam werden kann. Dieser motivationspsychologische Zusammenhang allein trägt jedoch nicht die normative Bewertung des Angriffs als nachvollziehbare Reaktion. Denn grds. fordert die Rechtsgemeinschaft von einem Provozierten, dass er der Provokation widersteht.52 Aus einer inter47
So auch Retzko (Fn. 46), S. 157. Einen „engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang“ zwischen Provokation und Angriff fordert die Rspr.; vgl. BGH NStZ 2011, 83; NStZ-RR 2011, 75. 49 Ebenso i.E. MüKo-Erb (Fn. 2), § 32 Rn. 232; Schönke/Schröder-Perron (Fn. 16), § 32 Rn. 59. 50 Voigt/Hoffmann-Holland, NStZ 2012, 364 f. 51 Zur Dauergefahr im Kontext des § 34 StGB s. Matt/Renzikowski-Engländer (Fn. 20), § 34 Rn. 15. 52 Aus diesem Grund gegen jede Notwehreinschränkung in den Provokationsfällen Loos, in: FS Deutsch, S. 240 f.; Renzikowski (Fn. 19), S. 302. 48
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subjektiven Perspektive verständlich (wenn auch natürlich nicht gerechtfertigt) erscheint der Angriff daher lediglich so lange, wie sich in ihm eine angesichts der emotionalen Verfasstheit des Menschen nachvollziehbare spontane Gefühlsregung wie Empörung oder Entrüstung ausdrückt. Ist dagegen die erste Phase der Gefühlsaufwallung verstrichen, erwarten wir, dass ein jeder bei seinen Handlungsentschlüssen seine Emotionen im Zaum hält und ihnen nicht mehr einfach nachgibt. Entschließt sich der Provozierte gleichwohl zu einem Angriff, kann der Provokateur dafür nicht mehr mitverantwortlich gemacht werden. Vielmehr fällt dieses Verhalten dann allein in den Verantwortungsbereich des Angreifers und verdient aus Sicht eines Dritten kein Verständnis mehr. Dieser Bewertung des Geschehens unter Verantwortungsgesichtspunkten trägt die Figur der Dauerprovokation nicht hinreichend Rechnung; sie ist daher abzulehnen. Als Zwischenfazit lässt sich somit festhalten: War der Angegriffene an den angriffsauslösenden Feindseligkeiten nicht beteiligt, fehlt schon ein zurechenbares Provokationsverhalten. Zudem besteht – selbst wenn man ein solches kontrafaktisch unterstellt – im Regelfall auch kein Provokationszusammenhang. Eine Notwehreinschränkung wegen provozierten Angriffs muss deshalb verneint werden.
IV. Notwehreinschränkung wegen Abwehrprovokation? Neben der Angriffsprovokation als Grund für eine Notwehreinschränkung bringt Burchard noch den Gedanken der sog. Abwehrprovokation ins Spiel. Mit diesem Begriff werden im Schrifttum Konstellationen bezeichnet, in denen der Angegriffene eine für den Angreifer hochgradig gefährliche Verteidigung „provoziert“, indem er entweder bewusst eine frühzeitige mildere Verteidigungsmöglichkeit ungenutzt verstreichen lässt oder sich in Erwartung eines etwaigen Angriffs mit einem besonders scharfen Abwehrmittel „überrüstet“, obwohl er im Hinblick auf die spätere Kampflage auch ein ebenso effektives, aber weniger gefährliches Mittel wählen könnte, das ihm in der konkreten Notwehrlage dann jedoch nicht zur Verfügung steht.53 Die frühzeitige mildere Abwehrmöglichkeit, die der Angegriffene bewusst ignoriert, sieht Burchard hier wiederum in der Inanspruchnahme staatlichen Schutzes im Vorfeld der Notwehrlage, durch die der ab- und vorhersehbare Angriff ohne Schaden für den Angreifer bereits im Entstehen hätte verhindert werden können.54 Nun lehnt die h.M. allerdings eine Notwehreinschränkung wegen „Abwehrprovokation“ ab. Da die Verantwortung für das Entstehen der Konfliktlage ausschließlich beim Angreifer liegt, hat er die aus einer erforderlichen Verteidigung resultierenden
53 Küpper, JA 2001, 440; in der Rspr. hier für eine Notwehreinschränkung OLG Stuttgart NJW 1992, 851. 54 Burchard, HRRS 2012, 450 f.
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Risiken zu tragen.55 Und auch eine Pflicht, vorab staatliche Hilfe herbeizurufen, wird von der h.M. bei der Notwehr grds. verneint.56 Den Angegriffenen trifft keine rechtliche Zuständigkeit, zum Wohle des Angreifers den Angriff auf sich schon vorab zu unterbinden oder jedenfalls die Verfügbarkeit milderer staatlicher Gefahrenabwehr zu gewährleisten.57 Von diesen Grundsätzen will Burchard allerdings eine Ausnahme machen, die er aus dem Rechtsbewährungsgedanken im Zusammenspiel mit dem staatlichen Gewaltmonopol abzuleiten beansprucht.58 Ihm zufolge besteht bei Auseinandersetzungen im Rockermilieu die Besonderheit, dass die Beteiligten es gerade darauf anlegen, ihre Konflikte unter Umgehung rechtlich kanalisierter Verfahren und Ausschaltung staatlicher Organe auszutragen. Räume man vor diesem Hintergrund einem Rocker ein uneingeschränktes Notwehrrecht ein, führe das im Ergebnis zu einer Unterminierung des staatlichen Gewaltmonopols und der Etablierung einer durch Rechtsbruch und Gewalt geprägten Subkultur. Damit werde aber das Recht als staatliche Friedensordnung gerade nicht bewährt; im Unterschied zu einer Notwehr durch einen „unbescholtenen Bürger“ fehle hier folglich das Rechtsbewährungsinteresse. Zur Sicherung des staatlichen Gewaltmonopols sei es deshalb geboten, dem Rocker die Obliegenheit aufzuerlegen, staatlichen Schutz in Anspruch zu nehmen, wenn er über konkrete Hinweise auf ab- und vorhersehbare Angriffe durch kriminelle Gegner verfüge. Komme er dieser Obliegenheit nicht nach, könne er sich nur auf ein eingeschränktes Notwehrrecht berufen, das ihn zunächst zum Ausweichen und zur Schutzwehr verpflichte. Ganz ähnlich, wenn auch knapper, argumentiert Jäger, der die Notwehreinschränkung mit der Vermeidung von Selbstjustiz begründet.59 Auch diese Argumentation dringt jedoch nicht durch. Zunächst: Der Grundsatz des staatlichen Gewaltmonopols impliziert zwar eine Unterlassungspflicht des einzelnen. Er muss darauf verzichten, zur Verteidigung seiner Güter selbst Gewalt anzuwenden, soweit die zuständigen staatlichen Stellen zu seinem Schutz bereit stehen.60 Aus dem staatlichen Gewaltmonopol folgt aber keine Handlungspflicht. Es begründet keine Zuständigkeit des einzelnen, den staatlichen Schutz für bevorstehende Konfliktsituationen auch sicherzustellen.61 Dass er dies unterlässt, kann ihm daher nicht als Unterminierung des staatlichen Gewaltmonopols vorgeworfen werden. 55
BGH NJW 1980, 2263 f.; Fischer (Fn. 13), § 32 Rn. 43; LK-Rönnau/Hohn (Fn. 8), § 32 Rn. 190. 56 BGH VRS 30, 282; Lesch, FS Dahs, S. 81 (S. 112); MüKo-Erb (Fn. 2), § 32 Rn. 141; Roxin (Fn. 13), § 15 Rn. 50. 57 Lesch, StV 1993, 582. 58 Burchard, HRRS 2012, 449 ff. 59 Jäger, JA 2012, 230. 60 Zur Reichweite der Nachrangigkeit privater Notwehr gegenüber staatlicher Gefahrenabwehr im einzelnen Engländer (Fn. 15), S. 164 ff. 61 Zutreffend Sengbusch (Fn. 43), S. 288 f. Dagegen lässt sich auch die Anzeigepflicht des § 138 StGB nicht anführen. Diese dient nicht dem Schutz des Gewaltmonopols; vielmehr handelt es sich bei ihr um eine Solidarpflicht zugunsten des Bedrohten. Der Bedrohte selbst ist
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Weiterhin: Auch bei Auseinandersetzungen im Rockermilieu liegt die Verantwortung für die Erschütterung der staatlichen Friedensordnung allein beim jeweiligen rechtswidrig Angreifenden und (so lange kein Fall der Angriffsprovokation vorliegt) nicht beim Angegriffenen. Gewalttätige Konflikte und die Entstehung einer von Gewalt und Rechtsbruch gekennzeichneten Subkultur sind daher durch eine konsequente Ahndung rechtswidriger Angriffe zu bekämpfen und nicht durch eine Beschneidung des Selbstverteidigungsrechts. Nur weil er demselben Rockermilieu angehört, kann der Angegriffene für die illegale Gewaltausübung der Angreifer nicht in Mithaftung genommen werden. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn der Angegriffene an anderer Stelle selbst – mit dem Angriff auf ihn allerdings in keinem Zusammenhang stehende – Straftaten verübt hat. Diese sind selbstverständlich strafrechtlich zu verfolgen. Sie führen aber nicht dazu, dass ihm eine Mitverantwortung für den aktuellen Konflikt und die daraus resultierende Bedrohung der staatlichen Friedensordnung zugewiesen werden kann. Eine Notwehreinschränkung wegen Abwehrprovokation ist nach alledem abzulehnen.
V. Notwehreinschränkung wegen unrechtlicher Lebensführung? Merkel schließlich möchte die Notwehreinschränkung mit der „unrechtlichen Lebensführung“ des Angegriffenen begründen. Durch seine aktive Mitgliedschaft in einem Rockerclub habe er sich für ein besonders gewalttätiges Leben in einer „rechtsfernen Parallelwelt“ entschieden, in der die Akteure auf die Stärke ihrer Gewaltmittel und nicht auf das Recht vertrauten. Damit führe er Notwehrsituationen mit Risiken für sich und andere geradezu leichtfertig herbei. Das Notwehrrecht diene außerdem nicht der Regulierung von Konflikten in einer Welt, in der das Faustrecht des Stärkeren statt des Rechts aller gelte. Und überdies drohe ohne Notwehreinschränkung die Gefahr eines Freibriefs zum straffreien Töten: Akteure, die aufgrund ihres Agierens in der „rechtsfernen Parallelwelt“ stets mit lebensbedrohlichen Angriffen rechneten, könnten jeden mutmaßlichen Angreifer sofort mit tödlichen Waffen niederstrecken, da es ihnen immer offen stünde, sich zumindest auf einen Erlaubnistatumstandsirrtum zu berufen.62 Auch diese feindstrafrechtlich63 anmutende Begründung für eine Notwehreinschränkung vermag indes nicht zu überzeugen. Problematisch ist schon die hohe Un-
daher auch zur Anzeige nicht verpflichtet und scheidet deshalb als tauglicher Täter aus. Näher dazu Sengbusch (Fn. 43), S. 282 ff. 62 G. Merkel, FAZ v. 19. 4. 2012, S. 6. Daneben postuliert G. Merkel eine Notwehreinschränkung beim Einsatz unbefugt mitgeführter Verteidigungsmittel. Zu Recht gegen eine solche Restriktion MüKo-Erb (Fn. 2), § 32 Rn. 138, 236. 63 Allgemein zum Feindstrafrecht Jakobs, HRRS 2004, 88 ff. (affirmativ); Bung, in: Uwer/ Organisationsbüro (Hrsg.), Bitte bewahren Sie Ruhe, 2006, S. 249 ff.; Greco, GA 2006, 96 ff.; Hörnle, GA 2006, 80 ff.; Sinn, ZIS 2006, 107 ff. (allesamt kritisch).
Mitgliedschaft in einem Rockerclub begründet Notwehreinschränkung?
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bestimmtheit des Kriteriums der „unrechtlichen Lebensführung“.64 Ferner reicht es bei § 32 StGB im Unterschied zu § 34 StGB nicht aus, dass sich der Angegriffene aus freien Stücken in eine Gefahrensituation begeben hat, um ihm eine Mitverantwortung für die Notlage zuzuweisen.65 So lange er den Angriff nicht provoziert hat, ist – wie bereits dargelegt – ausschließlich der Angreifer für das Entstehen der Notwehrlage verantwortlich. Dann gibt es aber keinen Grund, den Angegriffenen diesem gegenüber zu einer erhöhten Rücksichtnahme zu verpflichten.66 Des Weiteren erscheint auch Merkels Behauptung reichlich übertrieben, ein uneingeschränktes Notwehrrecht stelle dem Rocker eine Art Freibrief zum straffreien Töten vermeintlicher Angreifer aus und gefährde damit Unschuldige. Ein Erlaubnistatumstandsirrtum führt nur dann zur Straflosigkeit, wenn der Täter ihn nicht vermeiden konnte. In der Praxis ist eine solche Unvermeidbarkeit indes zumeist zu verneinen. Im „Hells Angels-Fall“ verhielt es sich nur aufgrund besonderer Umstände – dem polizeitaktisch unklugen und in der gewählten Form rechtlich nicht zulässigen Vorgehen der Polizei67 – ausnahmsweise anders. Das lässt sich freilich kaum verallgemeinern. Und schließlich ist zu erinnern: Die Rechtsordnung gilt auch in sog. Parallelwelten. Das bedeutet: Wer eine Straftat begeht, ist nach dem StGB zu bestrafen. Es bedeutet aber auch: Wer rechtswidrig angegriffen wird, ohne dies provoziert zu haben, darf sich gemäß dem Notwehrrecht verteidigen. Damit wird nicht ein Faustrecht des Stärkeren durchgesetzt, sondern der Angegriffene schützt seinen ihm zustehenden Rechtsraum.
VI. Fazit Zu Recht hat der 2. Strafsenat im „Hells Angels-Fall“ keine Notwehreinschränkung erwogen. Weder lag eine Angriffsprovokation vor, noch lässt sich eine Restriktion der Notwehr auf die Figur der Abwehrprovokation oder den Gedanken einer „unrechtlichen Lebensführung“ stützen. Die in der Überschrift gestellte Frage ist daher zu verneinen. Die Mitgliedschaft in einem Rockerclub eignet sich nicht als Anknüpfungspunkt für eine Notwehreinschränkung.
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Zu Recht kritisch van Rienen, ZIS 2012, 384. Bei § 34 StGB ist das Sich-selbst-in-Gefahr-Begeben für die Notstandsbefugnis deshalb bedeutsam, weil es hier im Unterschied zu § 32 StGB um Eingriffe in die Rechtsgüter eines anderen geht, der für die Notstandslage gerade keine Verantwortung trägt und von dem ein Solidaropfer abverlangt wird. Die volle Solidarität seiner Mitmenschen verdient aber grundsätzlich nur derjenige, der ohne eigenes Verschulden in Not geraten ist. Näher zum Ganzen Matt/Renzikowski-Engländer (Fn. 20), § 34 Rn. 36 f. 66 In dieselbe Richtung van Rienen, ZIS 2012, 384. 67 Näher dazu Engländer, NStZ 2012, 275; Erb, JA 2012, 208 f.; Mandla, StV 2012, 334 f.; Rotsch, ZJS 2012, 112 f. 65
„Probabilistischer Kausalbegriff und richterliche Wertungsentscheidung“ Von Patricia Esquinas Valverde
I. Einführung: Der Begriff der Risikoerhöhungslehre Roxins und seine Anwendung auf die Fallkonstellation der „alternativen Kausalität“ Heutzutage erklären wir als Strafrechtsdozenten unseren Studenten die allgemeine Theorie des Verbrechens in Anlehnung an die objektive Zurechnungslehre. Ihr Begründer und Hauptvertreter ist Claus Roxin, dessen Risikoerhöhungstheorie vor fünfzig Jahren formuliert, seitdem immer wieder angewendet (unter anderen auch von unserem Jubilar, Jürgen Wolter1) und ebenso viel diskutiert worden ist. Sein ,,Risikoprinzip“ – die ursprüngliche Fassung der erwähnten Lehre – lautet grundsätzlich wie folgt: ,,Ein vom Handelnden verursachter Erfolg ist dem objektiven Tatbestand nur dann zuzurechnen, wenn das Verhalten des Täters eine nicht durch ein erlaubtes Risiko gedeckte Gefahr für das Handlungsobjekt geschaffen und diese Gefahr sich auch im konkreten Erfolg verwirklicht hat“.2 Dabei sollte man logischerweise die erste Voraussetzung (Schaffung eines unerlaubten Risikos für das geschützte Rechtsgut) aus der Perspektive eines objektiven Dritten ex ante, die zweite dagegen (Verwirklichung des einzelnen Risikos im Erfolg) aus einer Perspektive ex post im Lichte des konkreten Falles beurteilen. Was die spezifische Anwendung der Risikoerhöhungslehre angeht und insbesondere unserem Forschungsbelang hier entspricht, gibt es eine bestimmte Fallgruppe, deren Erklärung manche Schwierigkeiten verursacht und zwar die Konstellation der alternativen Kausalität, die sog. Mehrfachkausalität. Hier folgt ein sehr bekanntes Beispiel dafür, der Radfahrer-Fall3: Der Lastwagenfahrer L überholt den schwer betrunkenen Radfahrer R mit einem Seitenabstand von 0,75 m statt der vorgeschriebenen 1,50 m; R gerät unter den Lastzug und erleidet eine letale Hirnquetschung; auch 1
S. seine Habilitationsschrift über „Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem“, 1981. 2 S. Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1: Grundlagen – Der Aufbau der Verbrechenslehre, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 47. 3 S. statt vieler Puppe, Die Erfolgszurechnung im Strafrecht, 2000, S. 95 ff.
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bei ordnungsgemäßem Abstand wäre der Unfall möglicherweise nicht zu vermeiden gewesen. Dieser Fall sowie andere ähnliche Sachverhalte wie der Kind-Fall4 stellen Beispiele der alternativen Kausalität mehrerer Sorgfaltspflichtverletzungen dar (auch Fälle eines „überbedingten Erfolgs“ genannt). Hier schaffen zwei oder mehrere Täter unabhängig voneinander eine Bedingung (d. h. ein rechtswidriges Verhalten), wobei jede einzelne vermutlich jeweils ausgereicht hätte, den Erfolg herbeizuführen. Dementsprechend lässt sich hier hypothetisch sagen, dass auch bei einem gesetzmäßigen Verhalten, z. B. seitens des LKW-Fahrers, das unglückliche Ergebnis aufgrund der Wirkung anderer riskanter Faktoren jedenfalls eingetreten wäre, d. h. in diesem Fall aufgrund der tatsächlich rechtswidrigen Handlung des Opfers. Wenn das der Fall ist, dann heißt es auch, dass jeder riskante Faktor, der in der Situation vorhanden war, eine für das Eintreten des Erfolgs eingeschätzte Wahrscheinlichkeit von 100 % bedeuten würde. In dieser Situation wäre es dann unfair, einem der unsorgfältig Handelnden den Erfolg zuzurechnen.5 Mit anderen Worten: Im einzelnen Fall gibt es (formell gesehen) keine Risikosteigerung und daher auch keine Zurechnung des Erfolgs für den Täter, wenn im konkreten Sachverhalt z. B. die Selbstgefährdung des Opfers allein schon eine Erfolgswahrscheinlichkeit von 100 % bewirkt. Deswegen meint Roxin in diesem wie auch in ähnlichen Fällen, dass eine Handlung, die ein erlaubtes Risiko nicht steigert, wie eine erlaubte Handlung bewertet werden muss, denn der Erfolg wäre unter den konkreten Umständen so oder so eingetreten.6 Dieses Beispiel ordnete Roxin für die Fälle der Fahrlässigkeit unter dem Begriff des „rechtmäßigen Alternativverhaltens“ ein. Der Radfahrer-Fall war in dieser Konstellation der „Mehrfachkausalität“ tatsächlich ein besonders komplizierter Fall, denn dort ließ sich nicht beweisen, ob das vom Opfer eingebrachte Risiko sich auch (kumulative Kausalität) oder anstatt des Risikos des Lastwagenfahrers (direkte Kausalität) im konkreten Fall im Erfolg verwirklicht hatte. Der BGH konnte also nicht den von jeder der beiden Verhaltensweisen herbeigeführten Risikograd genau feststellen, sodass der Fahrer nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ freigesprochen wurde. Wie kann man also solche Fälle der doppelten oder alternativen Kausalität, z. B. den erwähnten Radfahrer-Fall, erklären?
4 Der von Selbstmordabsicht getriebene A (oder ein unvorsichtiges Kind) wirft sich plötzlich und völlig unerwartet unter die Reifen des zu schnell fahrenden B; s. Roxin (Fn. 2), § 11 Rn. 75; Puppe (Fn. 3), S. 83 ff. 5 S. dazu Roxin (Fn. 2), § 11 Rn. 74, 88 u. 89. 6 Ibidem; s. auch Koriath, Kausalität und objektive Zurechnung, 2007, S. 90 in fine; ausführlich Küper, in: FS Lackner, 1987, S. 247 (275 ff.); a.A. Martínez Escamilla, in: Internationale Dogmatik der objektiven Zurechnung und der Unterlassungsdelikte, 1995, S. 37 (43 f., 46).
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1. Nach Puppes Ansicht (im Gegensatz zur Vermeidbarkeitstheorie)7 muss jeder gegen die Sorgfaltspflicht Handelnde strafrechtlich haften, dessen Verhalten ein 100 %iges Risiko verursacht. Und das gilt auch für die Fälle, in denen sich mehrere per se schon ausreichend gefährliche Handlungen in ihrer Wirkung (hypothetisch) gegenseitig ausschließen würden, weil jede einzelne ihrerseits schon ein 100 %iges Risiko darstellt (alternative Kausalität).8 Außerdem müsse jeder „Teilnehmer“ auch dann für den Erfolg verantwortlich sein, sobald sein eigenes Risiko mehr als nur 0 % beträgt.9 Nichtsdestotrotz meint Puppe auch, dass eine schlichte Risikoerhöhung für die Erfolgszurechnung im konkreten Fall nicht ausreichen soll. Vielmehr sei bei den Fahrlässigkeitsdelikten darzulegen, dass gerade der Verstoß des Täters gegen die Sorgfaltspflicht für den Erfolg ursächlich, kausal gewesen sei.10 Von daher sei eine derartige Fallerklärung gemäß Wahrscheinlichkeitsregeln erst dann vollkommen, wenn sie alle Teile vereine, die den dazugehörigen allgemeinen Wahrscheinlichkeitsgesetzen zufolge die Möglichkeit des Erfolgseintritts beeinflussen würden.11 Immerhin gesteht Puppe zu, dass in jener Konstellation der Mehrfachkausalität von Sorgfaltspflichtverletzungen der Kausalverlauf aufgrund seiner Abhängigkeit von menschlichen Fähigkeiten nicht vollkommen determinierbar ist. Tatsächlich ließen sich solche Fälle Puppe zufolge grundsätzlich weder anhand normativer noch anhand empirischer Maßstäbe lösen, sodass es hier nur zwei mögliche Auswege gebe: Entweder solle man von vornherein auf jegliche Erfolgszurechnung verzichten, oder man müsse sich diesbezüglich mit einer Risikoerhöhung zufriedengeben. Und so könne man den Beitrag, den dieser Täter „zu der Fallerklärung gemäß Wahrscheinlichkeitsregeln“ geleistet habe, als ausreichende Ursache für den Erfolg genügen lassen.12 2. Gemäß Jakobs wiederum soll der Erfolg in Mehrfachkausalitätsfällen nur demjenigen Risiko zugerechnet werden, das in der Situation erstmals vollkommen wird, das also zuerst einen Wahrscheinlichkeitsgrad von 100 % erreicht.13 Das hieße auch 7
Diese Theorie verlangt für die Erfolgszurechnung eine 100 %ige Wahrscheinlichkeit, dass der Täter durch ein ordnungsgemäßes Verhalten die Verwirklichung des Erfolgs hätte vermeiden können (= 100 %ige Risikoerhöhung seitens des Täters, keine Risikoerhöhung seitens des Opfers oder anderer Beteiligter). 8 Puppe (Fn. 3), S. 8, 90, 99 in fine, 100; dies., in: FS Roxin, 2001, S. 287 (292). Ähnlich Ranft, NJW 1984, 1425 (1430). Ausgesprochen dagegen Röh, Die kausale Erklärung überbedingter Erfolge im Strafrecht, 1995, S. 30 f. 9 Puppe (Fn. 3), S. 90 in fine ff., 100 f., dagegen Jäger, Examens-Repetitorium, Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2011, S. 28 ff.: Anstatt der Risikoerhöhungslehre müsse im Bereich der doppelten Kausalität die herrschende Vermeidbarkeitstheorie angewendet werden. 10 Puppe (Fn. 3), S. 93 f.; a.A. Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1993, Kap. 7 Rn. 101. 11 So Puppe (Fn. 8), S. 287 (305). 12 Puppe (Fn. 3), S. 95; dies. (Fn. 8), S. 305. S. auch Rolinski, in: FS Miyazawa, 1995, S. 483 (494 f.). 13 Ähnlich s. Hoyer, in: FS Rudolphi, 2004, S. 95 (104 f.); dagegen Röh (Fn. 8), S. 42 f.
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umgekehrt, dass der Täter, dessen Risiko sich wahrhaftig im Erfolg konkretisiert hätte, sich grundsätzlich nicht mehr deswegen befreien könne, weil er etwa (hypothetisch) durch sein rechtswidriges Verhalten das Rechtsgut gegen andere potenzielle Gefahrenquellen gleichzeitig geschützt hätte14 (d. h. unter Umständen ein Fall der Mehrfachkausalität).15 3. Nach Meinung von Koriath können in Fällen der Mehrfachkausalität verschiedener Sorgfaltspflichtverletzungen weder die Conditio-sine-qua-non-Formel (C.s.q.n.) noch die Risikoerhöhungslehre Roxins etwas zu einer richtigen Falllösung beisteuern. Die „Hinwegdenk-Methode“ der Äquivalenztheorie („was wäre der Fall, wenn …“), an die sich das Risikoprinzip Roxins auch knüpfe, sei im Endeffekt nur eine Frage nach der empirischen (durch die fiktive) Kausalität. Wenn es sich um ein Beispiel wie den Radfahrer-Fall handele, funktioniere jene Formel nicht mehr,16 weil sie zwischen den Gewichten der jeweiligen Kausalfaktoren im Einzelnen nicht mehr differenzieren könne, so dass alle gleichwertig seien. So glaubt Koriath, solche Fälle ließen sich unbedingt nur anhand einer Gewichtigung oder Abwägung erklären. Aber worin kann eine solche Gewichtigung bestehen, wie kann eine solche Abwägung lauten? Auf die Antwort dieser Frage geht Koriath direkt nicht ein.17 4. In Bezug auf den Radfahrer-Fall kommt Röh in gewisser Weise zu einem ähnlichen Schluss wie Koriath. Er meint, nachdem die h.L. in diesem Fall von einer kausalen Bedeutung des Täterverhaltens für den Tod des Radfahrers ausgehe, bleibt es nun für diese Lehre unerfindlich, worin der Inhalt der sog. „Risikoverwirklichung“ genau besteht. Nach Röh ist dieser Befund bislang keiner Theorie zur objektiven Zurechnung gelungen. Er selbst findet diesen Misserfolg nicht erstaunlich, da es eine Risikoverwirklichung jenseits der Kategorie der Kausalität nicht gebe und es sei verfehlt, überhaupt zusätzlich zur Kausalität nach so etwas zu suchen.18 Röh hält den Radfahrer-Fall für ein Beispiel der „positiven Erfolgsüberbedingung der ersten Ordnung“ (gleich: „Ursachenkomplex“), weil jede einzelne der dem Erfolg vorausgegangenen Handlungen hier ein perfektes Erfolgsrisiko beinhaltet.19 Dabei hätten sowohl der Fahrer als auch der Radfahrer ein so hohes Risiko verursacht, nämlich ein Risiko von 100 %, dass jedes für sich allein genügt hätte, den Erfolg zu bewirken. Beide stellen also eine hinreichende Bedingung für den Erfolg dar.20 Röh geht in diesen Fällen davon aus, dass es sich hier um ein normatives Problem und nicht um ein Problem dahingehend handele, ob man die Ereignisse von einem 14 S. Jakobs (Fn. 10), Kap. 7 Rn. 83a, 7/93; Roxin (Fn. 2), § 11 Rn. 23 f., 59; a.M. . Armin Kaufmann, in: FS Schmidt, 1961, S. 200 (229), zitiert von Roxin (Fn. 2) § 11 Rn. 64. 15 S. Jakobs (Fn. 10), Kap. 7 Rn. 83, 98, 100 u. 102; s. auch ders., La imputación objetiva en derecho penal (übersetzt von Cancio Meliá), 1998, S. 114 ff. 16 Dazu Puppe (Fn. 8), S. 288 f., 291, 294 f.; dies. (Fn. 3), S. 95 ff. 17 S. Koriath (Fn. 6), S. 89 ff., 93 ff., 151 f. 18 S. Röh (Fn. 8), S. 22 f. 19 Ibidem, S. 145 ff., 150. 20 S. Röh (Fn. 8), S. 151.
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naturalistischen Gesichtspunkt aus richtig oder falsch interpretiert hat. Schließlich komme es also darauf an, mit Hilfe zusätzlicher Regeln eines der aufgetretenen Risiken als strafrechtlich maßgeblich zu definieren.21 Diese normativen Kriterien hat er aber nicht genau erwähnt.22 5. Volk beschäftigt sich seinerseits mit dem von ihm genannten Plausibilitätsprinzip, laut dessen man für den Kausalzusammenhang zwischen einer Handlung und einem Erfolg „genügen lässt, dass ein bestimmter Faktor wahrscheinlich zum Schaden für das Rechtsgut führt“. Volk zufolge funktioniere ein solches Prinzip in Fällen der „Mitverursachung“ allerdings nicht, denn man könne nicht mehr lediglich anhand von Wahrscheinlichkeiten entscheiden, welche der Alternativursachen der „in Betracht kommenden“ Faktoren den Erfolg wirklich verursacht hat23 bzw. ob sich alle Faktoren gegenseitig verstärkt oder ausgeschlossen haben.24
II. Der probabilistische Kausalbegriff und die „notwendige Wertungsentscheidung“ des Rechtsanwenders Wie sollten sich also diese Fälle der alternativen Kausalität lösen, im Augenblick der Kausalität oder etwa im Augenblick der objektiven Zurechnung? Wie wir schon gesehen haben, basiert eine denkbare Lösung dieser Fälle offensichtlich immer auf Wahrscheinlichkeitsaussagen über den Erfolgseintritt (Risikograde). Was bedeutet nun dieser Begriff der probabilistischen Kausalität und inwieweit kann sie zu einer Erklärung solcher Fälle beitragen? 21
Ibidem, S. 147 ff. Hingegen äußert sich Krümpelmann, in: FS-Jescheck, 1985, S. 313 (331 f.) entscheidend für den Freispruch des LKW-Fahrers. Er erklärt seinen Begriff der „normativen Korrespondenz“ der Fahrerpflicht und ihres Zwecks mit dem voraussehbaren (ex ante) und auf typischer Gefährdetheit beruhenden Schutzanspruch des Radfahrers. In diesem Fall steigere die Trunkenheit des Radfahrers den Risikograd über das Maß dessen, was als typisches Risiko von Fehlreaktionen und Ausschlagbewegungen von Radfahrern zu betrachten sei. Weil der Fahrer diese eines weiteren Schutzraumes bedürftige Trunkenheit des Radfahrers nicht erkennen könnte und in der Tat auch nicht erkannt hätte, korrespondiere die konkrete Gefährdetheit nicht mehr mit dem Zweck der Pflicht. Diese Pflicht hätte nur die Aufgabe, die mit dem Überholen von Radfahrern in der Regel verbundene Gefahr zu bewältigen, wozu das Einhalten eines Abstands von 1 bis 1,5 Metern ausgereicht hätte. Dementsprechend dürfe der Todeserfolg dem LKW-Fahrer nicht zugerechnet werden, und das auch nicht, wenn der Erfolg bei einem pflichtgemäßen Verhalten seinerseits ausgeblieben wäre. Denn die Vermeidung des Unfalls wäre nur ein Schutzreflex der Normbeachtung gewesen, und dieser Reflex könne als solche keine Zurechnung begründen. Krümpelmann entscheidet sich aber mit diesem Begriff „der normativen Korrespondenz“ für eine ausschließliche ex ante Perspektive, die nicht mehr auf die notwendige Frage danach achtet, welches Verhalten sich unter den verursachten Risiken ex post im Erfolg verwirklicht hat. Dazu kritisch Röh (Fn. 8), S. 39. 23 S. Volk, NStZ 1996, 105 (109 m. Fn. 37). 24 S. Volk, NStZ 1996, 105 (109). 22
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Gerade im Bereich der besonders komplizierten Fälle – darunter auch derjenige, in denen keine Natur- bzw. Kausalgesetze wissenschaftlich nachzuweisen sind – haben manche Autoren diese probabilistische oder statistische Auffassung der Kausalität vertreten.25 In dieser Richtung bewegte sich erstmals Knauer, der einen sog. gemischt probabilistisch-wertenden Kausalbegriff formuliert. Er erklärt, dass die probabilistischen Kausalfolgerungen nicht unsicherer „als die meist gar nicht existenten Naturgesetzlichkeiten (sein müssen), weil sie eben immer auf der Basis des jeweils exakt fundierten Standes der beurteilenden Naturwissenschaft stehen.“26 Aufgabe des Rechtsanwenders sei „hier allerdings noch eine Wertungsentscheidung bei der Feststellung (zu treffen), welcher Grad an Wahrscheinlichkeit für die Bejahung des Kausalzusammenhanges ausreicht.“27 Knauer basiert seinen „probabilistisch-wertenden Kausalbegriff“ grundsätzlich darauf, dass jede Bedingung zwei Merkmale aufweisen muss, um als die echte Ursache eines Erfolgs eingestuft zu werden: Zuerst muss sie einen Intensivierungseffekt zeigen, d. h. sie muss aus einer ex ante Betrachtung das Risiko eines Erfolgseintritts erhöht haben. Dies wird mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsgesetzen festgestellt.28 Zweitens muss die Bedingung auch einen sog. Übernahmeeffekt an den Tag legen, und zwar sich tatsächlich anstatt anderer Bedingungen aus einer ex post Perspektive als Ergebnis realisiert haben. Vorliegend bedeutet dies, dass der Richter nachträglich aus mehreren in Frage kommenden Risikofaktoren (z. B. im Radfahrerfall zwischen dem verunglückten Radfahrer und dem LKW-Fahrer) in erster Linie denjenigen herausarbeiten muss, der das Zustandekommen des Erfolgs veranlasst hat, um so reine Scheinursachen zurückzuweisen.29 Schließlich meint Knauer, der von ihm vertretene Kausalbegriff impliziere eine Radikalisierung der Roxin’schen Risikoerhöhungstheorie, indem er das Wahrscheinlichkeitsurteil (und damit eine wertende Entscheidung) bereits in die Kausalität vorverlege.30 Von daher seien „die Grenzen zur objektiven Zurechnung fließend. Eine Trennung zwischen rein naturalistischer Kausalität und rein wertender objektiver Zurechnung ist danach nicht möglich.“ Knauer bestreitet, dass der Kausalbegriff rein naturalistisch verankerbar sei, weil Kausalität im vorstrafrechtlichen Sinne 25
S. statt vieler Rolinski, in: FS Miyazawa, S. 483 (494 f.). S. darüber auch Rolinski, in: FS Miyazawa, S. 483 (494 f.); ähnlich s. Pérez-Barberá, ZStW 114 (2002), S. 600 (616 ff., 625 ff., 628 f. m. Fn. 110; s. auch Bunge, La Causalidad, El principio de causalidad en la ciencia moderna, 1997, S. 446 ff.; Roxin, in: FS Achenbach, 2011, S. 409 (415). 27 Knauer, Die Kollegialentscheidung im Strafrecht – zugleich ein Beitrag zum Verhältnis von Kausalität und Mittäterschaft, 2001, S. 111. 28 Knauer (Fn. 27), S. 111 ff., 115 ff., vgl. auch Fn. 520; s. auch Pérez-Barberá (Fn. 26), S. 629 ff., 632. 29 Knauer (Fn. 27), S. 109 ff., 112 f., Fn. 495 u. 497. Hier bezieht er sich auf die Lehre von Suppes, Problems of causal analysis in the social sciences, in: Epistemologia V, Special Issue, 1992, S. 240 f. Ähnlich Rolinski in: FS Miyazawa, S. 483 (491). 30 S. Knauer (Fn. 27), S. 115, 117. 26
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einer normativen Wertung nicht entzogen werden könne.31 Welche Kriterien aber diese „Wertungsentscheidung“ zum Inhalt haben soll, erläutert Knauer indes nicht. Nicht weit entfernt vom Standpunkt Knauers sind Hilgendorf und Rolinski, wenn sie sich davon überzeugt zeigen, dass man tatsächlich, wenn auch unausgesprochen, statistische Gesetze in juristischen Kausalerklärungen weiterhin verwenden kann.32 Dabei ist Hilgendorf der Auffassung, für solche Erklärungen müsse der Wahrscheinlichkeitsgrad grundsätzlich nicht festgestellt werden. Vielmehr könne der Rechtsanwender diesbezüglich sein Alltagsverständnis gesetzmäßiger Zusammenhänge zugrunde legen.33 Ähnlich stellt Rolinski fest, „dass Gewissheit nichts weiter als eine ,intersubjektive hochgradige Wahrscheinlichkeit‘ meint.“34 Dabei führe der Richter nur eine Abwägung zwischen mehreren Wahrscheinlichkeitsgraden durch, obwohl er nicht offenkundig sage, dass ihm die ausgesuchte Lösung einfach wahrscheinlicher als andere vorkomme.35 Selbstverständlich dürfe sich das Gericht in besonders komplizierten Fällen in seinem Urteil nicht (nur) auf seine „richterliche Gewissheit“ berufen und müsse auf Sachverständige zurückgreifen, die anhand der Naturwissenschaften feststellen, mit welcher Wahrscheinlichkeit Schaden zu erwarten sei.36 Nach Rolinski solle sich das moderne Strafrecht im Ergebnis mit der Aufgabe auseinandersetzen, jene Bedingungszusammenhänge, die nicht mehr durch eine deterministische Kausalitätserklärung erfassbar seien (z. B. der diskutierte RadfahrerFall), offen als Wahrscheinlichkeitsaussagen über die Wirklichkeit zu begreifen. Nur auf diese Weise seien solche Zusammenhänge einer strafrechtlichen Zurechnung zugänglich.37
III. Probabilistischer Kausalbegriff, wissenschaftliche Ungewissheit und richterliche Überzeugung Wie pflegen aber die Gerichte in diesen komplizierten Fällen zu entscheiden, die einer wissenschaftlichen Erklärung nicht zugänglich sind? Knauer kommentiert nämlich insoweit die Rechtsprechung des BGH, der der Auffassung ist, das Gericht dürfe sein Urteil auf ein von den Naturwissenschaften umstrittenes oder einfach nicht völlig geklärtes Kausalgesetz stützen. Dementsprechend solle dem Richter erlaubt sein, über einen subjektiven Entscheidungsspielraum zu verfügen. Auch könne er 31
Knauer (Fn. 27), S. 115; s. auch Jakobs, in: FS Miyazawa, 1995, S. 419 (421). S. Hilgendorf, Jura 1995, S. 514 ff.; Rolinski, in: FS Miyazawa, S. 483 (495 ff.). 33 Hilgendorf, Jura 1995, 514 (521). 34 Rolinski, in: FS Miyazawa, S. 483 (496). 35 Hilgendorf, Jura 1995, 514 (521 f.). 36 Hilgendorf, Jura 1995, 514 (521); Rolinski, in: FS Miyazawa, S. 483 (497 f.); ebenso Volk, NStZ 1996, 105 (110); Maiwald, Kausalität und Strafrecht, 1980, S. 102 ff., 105. 37 S. Rolinski, in: FS Miyazawa, S. 483 (493, 500); Hilgendorf, Jura 1995, 514 (522); Puppe, GA 2010, 551 (560); s. auch einige Fälle des spanischen Tribunal Supremo: Urteile v. 23. 4. 1992 – „Rapsöl-Fall“ – und v. 25. 10. 2002. 32
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„in dubio pro reo“ einen kausalen Zusammenhang im Einzelfall verneinen. Knauer macht hier kritisch darauf aufmerksam, dass der BGH in solchen Fällen38 keine Kausalitätslehre erläutert, sondern dass seine Entscheidungen einfach auf seiner eigenmächtigen, „freien Beweiswürdigung“ basieren. Nach Knauer könne das sowohl dem „in dubio pro reo“-Prinzip selbst, wie auch der Gesetzesbindung des Richters und dem Schuldprinzip widersprechen.39 Ferner habe sich der BGH in solchen Fällen nicht mit der Frage beschäftigt, wie Ersatz- oder Scheinursachen ausgeschlossen werden können, d. h. wie die Entscheidung über den Übernahmeeffekt oder die „Risikoverwirklichung“ getroffen werden kann: im Radfahrer-Fall zu entscheiden, ob sich das vom Radfahrer oder das vom Fahrer geschaffene Risiko ggf. im Erfolg verwirklicht hat. Knauer meint, „mit einer rein intuitiven Methode („es wird schon nichts anderes der Grund dafür sein“), wie sie augenscheinlich der BGH wählt, kann dies jedenfalls nicht erfolgen“40. Aber Knauer selbst spricht von „der Undurchführbarkeit des Ausschlussverfahrens“41, geht also ebenso wenig auf die Frage ein, auf welche Maßstäbe sich der Richter bei seiner Entscheidungsaufgabe stützen darf. Ebenfalls skeptisch gegenüber dieser Rechtsprechung des BGH äußert sich Volk. Er geht, genauso wie Knauer, von der Undurchführbarkeit des Ausschlussverfahrens aus (i. e. die Widerlegung der Kausalität aller sonst in Betracht kommenden Ursachen), sodass der BGH sich hier für den Kausalitätsbeweis mit Plausibilität (Wahrscheinlichkeit) begnügen muss. Insoweit scheine diese Verfahrensweise zwar teilweise „zu funktionieren und pragmatisch brauchbar zu sein“, meint Volk. Jedoch sei an ihr zu kritisieren, dass jene Formel die Anforderungen an Begriff und Beweis von Kausalität senkt, sodass die Erfolgsdelikte weiter werden und ihr Unterschied zu den Tätigkeitsdelikten verblasst.42 Letztendlich hat Volk nichts dagegen, dass der Richter sich über das Bestehen eines Kausalzusammenhangs im konkreten Fall anhand einer hohen, wissenschaftlich bewiesenen Wahrscheinlichkeit überzeugt. Aber das darf nicht allein anhand einer Plausibilität, nicht allein anhand eines Ausschlussverfahrens vorkommen, d. h. dieses prozessual-pragmatische Ausschlussverfahren 38 Es handelt sich hier um Produkthaftungs-Fälle wie der Lederspray- (BGHSt 37, 106), der Contergan- (LG Aachen, Urt. v. 18. 12. 1970), oder der Holzschutzmittel-Fall (BGHSt 41, 206). 39 Knauer (Fn. 27), S. 101 ff. 40 So Knauer (Fn. 27), S. 101 f.: Alle anderen in Frage kommenden Ursachen auszuschließen, um sich dann für die allein wirkliche Ursache zu entscheiden ist schier unmöglich, und der BGH konnte das z. B. im Lederspray-Fall tatsächlich nicht, obwohl er sich dies selbst zugemutet hatte. Vergleichbares gilt im Holzschutzmittel-Fall, bezüglich dessen Knauer formuliert: „Gänzlich widersprüchlich ist es aber, wenn der Senat den Ausschluss möglicher anderen Ursachen nach einer Gesamtbewertung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und anderer Indizientatsache vornehmen will, diese Ursachen dann aber nicht einmal erörtert werden“. 41 Knauer (Fn. 27), S. 100 f. 42 Das gleiche wird übrigens dem Risikoprinzip Roxins vorgeworfen.
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darf einen naturwissenschaftlichen Nachweis hinsichtlich der Wirkungsweise einer Ursache nicht ersetzen.43 Wenn wir in diesem die These Maiwalds untersuchen, dann können wir feststellen, dass er seine Meinung im Hinblick auf diese Rechtsprechung des BGH und im Allgemeinen auf die probabilistische Kausalität mit der Zeit erheblich geändert hat. 1980 hat er die Entscheidung des BGH im Contergan-Fall entschlossen abgelehnt.44 Damals hat er sich mit dem richterlichen „Grundsatz der freien Beweiswürdigung“ (§ 261 StPO) beschäftigt und gemeint, das Überzeugungsbild des Richters müsse jenseits der unvermeidbaren Gefühls-Komponenten vor allem objektiv rational sein. Dazu müsse der Richter in seinem Urteil die gesicherten Erkenntnisse der Fachwissenschaften zugrunde legen, sodass hier sein eigenes „Fürwahrhalten“ keine Geltung mehr habe. Sollten allerdings zu einer bestimmten Frage keine allgemein anerkannten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse bestehen, so fehle es an einer Grundlage, von der aus der Richter eine für das Publikum überzeugende, eine Frieden stiftende Entscheidung treffen könne. Dementsprechend müsse er den Beschuldigten in solchen Fällen nach dem „in dubio pro reo“-Prinzip freisprechen – ganz im Gegensatz zum Urteil des BGH im Contergan-Fall.45 Im Jahr 2007 beurteilt Maiwald diese Rechtsprechung ganz anders. Nun ist Maiwald mit dem BGH der Meinung, der Richter müsse sich angesichts seines mangelnden Wissens über alle Ansatzbedingungen und Zwischenstufen, die von den Ursachen zum Ergebnis führen, schlicht damit abfinden, einen Gewissheitsgrad über die Ursache im konkreten Sachverhalt zu erlangen, der es ihm erlaube, alle anderen vom Betroffenen abweichenden Kausalitätszusammenhänge vernunftgemäß auszuschließen. Deswegen könne eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Annahme eines Kausalzusammenhangs ausreichen, wenn der Richter anhand dieser Information zur prozessualen Gewissheit kommen kann, d. h. wenn er damit auf einen Bedingungszusammenhang zwischen einer Handlung und einem Erfolg mit einem hohen Grad an rationaler Glaubwürdigkeit oder Plausibilität schließen kann.46 Eigentlich handelt sich um ein bekanntes Problem zu wissen, ob diese rationale Glaubwürdigkeit oder eine richterliche subjektive Überzeugung anhand der Alltagserfahrung bessere, richtigere Entscheidungen als die empirisch und wissenschaftlich gesicherte Aussage im Bereich des Strafrechts liefern kann.47 Auch Kühne hat sich mit dieser Frage beschäftigt und ist zu dem einleuchtenden Schluss gekommen, dass „auch die empirisch-wissenschaftliche Informationsgewinnung nicht frei von Subjektivismen ist.“48 Kühne zufolge sei eine nicht unerhebliche Subjektivität bei Wahrnehmung und Bewertung sowohl der bloßen Erfahrung wie auch dem empirischen 43
Volk, NStZ 1996, 105 (108 ff.). BGH JZ 1971, 507 (511). 45 S. Maiwald (Fn. 36), S. 98 ff., 102 ff., 108 ff. 46 S. Maiwald, in: FS Küper, 2007, S. 329 (339, 345). 47 Rolinski, in: FS Miyazawa, S. 483 (497 f.). 48 Rolinski, in: FS Miyazawa, S. 483 (497). 44
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Wissen eigen, nur dass der empirische Ansatz versuche, Zufälligkeiten und Wahrnehmungsverzerrungen möglichst zu vermeiden. Jedenfalls sei also die bloße Erfahrung demgegenüber nicht grundsätzlich von minderer Qualität oder Richtigkeit, solange sie aber nicht ohne Berücksichtigung ihrer Singularität und Subjektivität verallgemeinert werde.49 Also müssen Erfahrung und Empirie als sich ergänzende Kategorien gesehen und differenzierend miteinander versöhnt werden.50 Ferner meint Rolinski, dieses Thema sei bisher vor allem als ein „Beweisproblem“ diskutiert worden.51 Allerdings haben wir schon gesehen, dass dieses Problem auch eine entscheidende Wirkung auf den materiell-rechtlichen Kausalitätsbegriff ausübt.
IV. Die conditio sine qua non und die richterliche „praktische Vernunft“ Bezüglich der Bedeutung der erfahrungsbasierten Folgerungen und sogar der Intuition im Bereich der strafrechtlichen Kausalität liegt es nahe, sich mit einigen Autoren zu beschäftigen, die sich gerade über die conditio sine qua non als geeignete Lösung für die schwierigsten Fälle äußern. Wie kann man einen Kausalverlauf als „erwiesen“ ansehen, wenn das allgemeine Kausalgesetz, das diesen Verlauf erklären soll, nicht ausfindig gemacht worden ist? Nach Puppe erbringt die „Wegdenkens“Methode in solchen Fällen die beste Leistung, weil sie uns eine zufriedenstellende Antwort verschafft, indem sie ein Kausalgesetz für den konkreten Fall mutmaßt. Folglich solle man keineswegs auf einen solchen „großen praktischen Vorzug“, auf einen solchen „geistigen Komfort“ verzichten.52 Aber Puppe meint das alles nur ironisch und deutet in Wirklichkeit an, die Conditio sine qua non-Theorie trage weder etwas zur empirischen Erklärung des Sachverhalts bei, noch sei sie logisch zutreffend.53 Hier handele es sich um eine leere Theorie, die den Rechtsanwendern ausschließlich dazu diene, ihre Entschlüsse rechtfertigen zu können. Doch wie Puppe spöttisch bemerkt, „wehe Dir, wenn Du die Frage zu stellen wagst, was denn der Satz bedeutet, (…) (oder) wie man im Einzelfall zu dem Ergebnis kommen soll, dass der Erfolg entfiele, wenn man sich die Handlung hinweg denkt. Dann verliert die Formel ihre Kraft, das schöne Bild der Sicherheit und Einheit der Kausalität zerstiebt, und alle Probleme sind wieder da“.54 Insofern geht Puppe offensichtlich davon aus, diese Formel verberge nur einen intuitiven Weg, den 49 Ähnlich s. Toepel, Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1992, S. 96. 50 S. Kühne, Kriminalistik 1993, 223 ff. 51 Rolinski, in: FS Miyazawa, S. 483 (496). 52 S. Puppe, GA 2010, 551 (564 f., 569 und passim). 53 S. Koriath (Fn. 6), S. 111; Hoyer, in: FS Rudolphi, 2004, S. 95 (96 f.); ders., GA 1996, 160 (162); Engisch, Vom Weltbild des Juristen, 1950, S. 132 f. 54 S. Puppe, GA 2010, 551 (565 in fine, 569 f.).
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Fall zu lösen. Dass wir diese Formel nicht als Kausalitätslehre bezeichnen dürfen, liegt auf der Hand. Dass wir aber bis jetzt über nichts Besseres verfügen, ist ebenso offensichtlich. Ferner bleibt noch offen, ob und wie man das Vorgehen der Richter auf einer sichereren Grundlage aufbauen kann. Viel positiver gegenüber der Conditio sine qua non-Formel zeigt sich Toepel, der sie „keinen entscheidenden Einwänden aussetzt“. Auch er spricht von den Vorteilen dieser Formel, da sie im Gegensatz zu anderen Methoden mit dem alltäglichen Sprachgebrauch übereinstimme und deswegen auch in nicht vollständig determinierten Bereichen die Feststellung von Kausalverläufen erlaube. In der Tat denkt Toepel, die Conditio sine qua non-Formel „brauche sich nicht einmal vor einer Beurteilung durch die moderne Wissenschaftstheorie zu scheuen“, weil diese Formel „eine adäquate Wiedergabe der Bedeutung von Kausalaussagen darstelle.“55 Ebenso positiv äußert sich Frisch. Seiner Meinung nach „erfülle sie die Anforderungen der Rechtspraxis geradezu musterhaft“, weil sie „rechtspraktisch leichter umzusetzen sei und doch den Anforderungen der praktischen Vernunft genüge.“56 Ferner meint Frisch, manchmal sei es in Kausalitätsfragen angemessen, anstelle von wissenschaftlichen Kausalgesetzen zu der praktischen Vernunft zu greifen. In dieser Hinsicht werde man den Ursachenzusammenhang auch dort normativ bejahen können, wo trotz des Mangels an einem wissenschaftlich anerkannten Kausalgesetz, „die Qualität eines Verhaltens als Bedingung des Erfolgseintritts im zu beurteilenden Fall durch andere, für die praktische Vernunft einsichtige und ausreichende Verfahren belegt werden kann.“ Nach Frisch57 sorgt die Rechtsprechung mit dieser Erweiterung des Begriffes „Ursache“ dafür, „dass die praktische Rechtsanwendung im Einklang mit Einsichten der praktischen Vernunft bleiben kann“, sodass das Recht seine Akzeptanzfähigkeit nicht verlieren wird.58 Roxin ist im Jahr 2011 zu einer teilweise gegenüber den vorher erwähnten Auffassungen ähnlichen Schlussfolgerung gelangt. Wenn auch spezifisch in Bezug auf das Problem der „psychisch vermittelten Kausalität“, setzt er sich für eine „gesetzesfreie Bedingungstheorie“ ein. Roxin macht darauf aufmerksam, dass die Kausalität des vom Anstifter, geistigen Beteiligten usw. auf den Täter ausgeübten Einflusses für den eingetretenen Erfolg selten bezweifelt wird, dass ein naturgesetzlicher Zusammenhang zwischen dieser Einflussnahme und dem Erfolg sogar „möglicherweise, ja sehr wahrscheinlich besteht.“59. Trotzdem lässt sich dieser Nexus nicht durch deterministische Naturgesetze beweisen. Dementsprechend gehe es im Allgemeinen „bei der juristischen Kausalitätsprüfung“ nicht darum, einen naturgesetzlichen Zusammenhang wissenschaftlich nachzuweisen. Eher genüge es im Strafrecht, hinterher festzustellen, dass eine bestimmte Handlung den Erfolg „hervorgerufen 55
Toepel (Fn. 49), S. 61 f., 93, 95 f. Frisch, in: FS Maiwald, 2010, S. 239 (253 f. m. Fn. 78). 57 Ahnlich Toepel (Fn. 49), S. 95. 58 Frisch, in: FS Maiwald, S. 239 (257 f.). 59 S. Roxin, in: FS Achenbach, S. 409 (414). 56
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hat. Es gebe also notwendige Bedingungen eines Erfolges, die nicht auf Gesetzen beruhen und dennoch ebenso sicher beweisbar seien wie kausal determinierte Erfolge.“60 Diese Darstellung ist so auszulegen, dass der Richter dazu berechtigt ist, seinen Entschluss über das Bestehen einer notwendigen Bedingung für den Erfolg ohne Rückgriff auf ein allgemeines Kausalgesetz im Nachhinein (ex post) und auf der Basis von Erfahrungssätzen und meistens anhand von der Conditio sine qua non-Formel zu treffen.61
V. Fazit Aus den verschiedenen exponierten Thesen kann man mehrere Schlüsse ziehen: 1. Es gibt in der Tat manche Fälle (z. B. die Fälle „Radfahrer“, „Contergan“, „Holzschutzmittel“), die sich nur anhand eines probabilistischen Kausalbegriffs lösen lassen. Dabei kann man nicht mehr auf allgemeingültige, kausale (Natur-)Gesetze zurückgreifen, denn im einschlägigen Sachverhalt ist die kausale Verbindung zwischen Handlung und Erfolg wesentlich nicht mehr durch diese Gesetze zu erklären.62 2. In Hinsicht auf die heutigen oft technisch/wissenschaftlich unergründlichen Konstellationen kann man bei der Feststellung des Kausalzusammenhangs zwischen Handlung und Erfolg häufig eine letztliche Bewertung durch den Richter nicht entbehren. Diese Fälle sollten also auf folgende Weise gelöst werden: Man stellt zuerst angesichts des vom Täter verursachten Risikos den Wahrscheinlichkeitsgrad eines Erfolgseintritts fest (ex ante ermittelte statistische Kausalität) und bewertet danach, welcher von den zusammentreffenden Risikofaktoren sich schließlich als Ergebnis materialisiert hat.63 D.h. man prüft ex ante den Intensivierungseffekt der Täterhandlung und stellt ex post ihren Übernahmeeffekt fest bzw. ob die vom Täter hinzugefügte Risikoerhöhung sich auch als Erfolg verwirklicht hat.64 Die von Knauer vorgeschlagene „normative Bewertung“, die zum Kausalitätsbegriff gehört, besteht gerade in dieser nachträglichen Feststellung der „Verwirklichung des Risikos im Erfolg“ (andere Autoren haben hier vom „Ausschlussverfahren“, von der „absolut sicheren 60
Roxin, in: FS Achenbach, S. 409 (416, 418). In dieser Hinsicht Roxin, in: FS Achenbach, S. 409 (418 in fine). 62 Dazu statt vieler Pérez-Barberá (Fn. 26), S. 600 ff., 629 ff.; vgl. auch Jäger, in: FSMaiwald, 2010, S. 345 (353). 63 Gleichfalls zu dem maßgeblichen ex post-Urteil bei den Verletzungsdelikten Wolter (Fn. 1), S. 69 ff: „Kausalität und Rechtsgutsverletzung als bloße Haftungsvoraussetzungen sind allein ex post tatsächlich feststellbar.“ Nichtsdestotrotz besteht Wolter bei der objektiven Zurechnung eines Verletzungserfolgs – eines „sekundären Erfolgsunrechts“ – auf eine „unbedeutende normative Korrektur“ der „tatsächlichen ex post-Betrachtung“ (vor allem im Fall einer objektiv unvorhersehbaren Abweichung vom Kausalverlauf). Diese Korrektur wird nach Wolter anhand einer ex ante-Betrachtung stattfinden, damit die Strafe ihre generalpräventiven Aufgaben erfüllen kann; ibidem, S. 73 f. 64 Knauer (Fn. 27), S. 111 ff. 61
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statistischen Relevanz“ eines Faktors in Bezug auf den Erfolg oder von der „Beschreibung des wirklichen Sachverhalts“ gesprochen).65 Diese Bewertung wird schon im Augenblick des Kausalitätsurteils und nicht erst im Augenblick der „objektiven Zurechnung“ vorgenommen. 3. Nun lautet die weitere Frage, mit welchen Maßstäben man den einzelnen Faktor identifizieren soll, der sich in diesen Fällen der Mehrfach- oder der probabilistischen Kausalität unter den mehreren in Frage kommenden tatsächlich im Ergebnis realisiert hat. Die bisherigen Versuche, eine effiziente und ex post betrachtende Suchmethode für diesen entscheidenden Risikofaktor zu bestimmen, waren bislang nicht erfolgreich: Es geht um die Grenze der wissenschaftlichen und damit der rechtlichen Beweisführung! Und dabei ergibt sich aus einer genauen Analyse die Folgerung, dass eine solche Bewertung ex post im Endeffekt nur mit Hilfe „der praktischen Vernunft“, der richterlichen (gesunden) Lebenserfahrung oder der oft beschimpften Conditio sine qua non-Formel, als eine Art des intuitiven Denktricks seitens des Richters erfolgen kann. Dem Richter bleibt also nichts anderes als die praktische Vernunft, um seine Entscheidung in den Grenzbereichen der juristischen Begründung zu treffen.66 Unter diesem Gesichtspunkt kann man erneut prüfen, was gewisse richterliche Urteile eigentlich mit der Formulierung meinen, „in diesem Fall müssen wir davon ausgehen, dass trotz des Mangels an wissenschaftlicher Gewissheit oder an einer bestimmten Gesetzmäßigkeit der Kausalzusammenhang zwischen Täterhandlung und Erfolg tatsächlich besteht etc.“67 Hier meint man nämlich, dieser notwendige „Verwirklichungszusammenhang“ ex post zwischen Handlung und Erfolg wird über Wahrscheinlichkeitsaussagen hinaus nicht anhand einer gerade fehlenden Gesetzmäßigkeit, sondern anhand des freien aber besonnenen, richterlichen Ermessens festgestellt.68 Eine solche Argumentationsweise hat zwar früher reichlich Kritik hervorgerufen, gehört aber heute zur vorherrschenden Lehre.69 Ein derartiger Rückgriff auf die Vernunft, auf die Erfahrung braucht aber nicht abgelehnt zu werden, sondern verdient eher Zustimmung als eine rationelle und wünschenswerte Lösung.70 Diese Methode gilt auch für die alternative Kausalität: Der Richter müsste dort mit Hilfe der Fachexperten den Risikograd von jedem Beteiligten festgestellt haben und eines unter diesen Risiken anhand seiner praktischen Vernunft für die maßgebliche Bedin-
65
S. jeweils Volk, NStZ 1996, 105 (108); Pérez-Barberá (Fn. 26), S. 628 ff; Roxin (Fn. 2), § 11 Rn. 74. 66 Ähnlich Koriath (Fn. 6), S. 151 für die Fälle der Mehrfachkausalität. 67 Dazu s. LG Aachen JZ 1971, 511. 68 Dementsprechend kann man prinzipiell auch im Fall eines niedrigen Risikoerhöhungsgrads einen Determinationszusammenhang zwischen der Handlung und dem Erfolg intuitiv erkennen, solange „kein Beweis existiert, der die Irrelevanz des Antezedenten im Hinblick auf den Konsequenten bestätigt“; s. Pérez-Barberá (Fn. 26), S. 628 f. Fn. 110; ähnlich Roxin, in: FS Achenbach, S. 409 (415). 69 In dieser Richtung Puppe, GA 2010, 551 (570). 70 Frisch, in: FS Maiwald, S. 239 (257 ff.).
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gung erklärt haben (oder er könnte auch „in dubio pro reo“ entschieden haben, wie es im Radfahrer-Fall geschehen ist). 4. Letztendlich schaffen es also auch einige normative Kriterien (eine erfahrungsbasierte richterliche Wertungsentscheidung) wie diese bis ins Kausalitätsurteil, was daran zweifeln lässt, dass man auf diese Weise zwischen einem rein empirischen Kausalitäts- und einem rein normativen Zurechnungszusammenhang weiterhin unterscheiden kann und muss.71 Schließlich kann es sehr wohl sein, dass in gewissen „kausalen“ Konstellationen – darunter der alternativen Kausalität – eine solche Unterscheidung keinen Sinn mehr macht, weil man beide Elemente zusammen bzw. gleichzeitig untersuchen soll.72 D.h. es muss ganz konkret schon im Bereich der Kausalität die Rede von der „Verwirklichung eines Risikos im Erfolg“ sein – ein Argument, das ansonsten immer dem Bereich „objektiver Zurechnung“ zugeschrieben wird.73 Nach der hier vertretenen Ansicht könnte es manchmal sogar geschehen
71 S. dazu Hoyer, in: FS Rudolphi, 2004, S. 95 (96, 103, 105): „die Kausalitätsprüfung solle konsequent auf die Risikoerhöhungslehre beschränkt werden“; Knauer (Fn. 27), S. 115; Otto, NJW 1980, S. 417 ff.: das Risikoerhöhungsprinzip solle den herkömmlichen Kausalitätsgrundsatz (die Conditio sine qua non-Formel) als einziges Zurechnungskriterium bei den Erfolgsdelikten ersetzen; Pérez-Barberá (Fn. 26), S. 631. 72 Dazu Knauer (Fn. 27), S. 115; auch interessant ist die Meinung Kindhäusers, in: FS Maiwald, 2010, S. 397 (398); s. auch Koriath (Fn. 6), S. 149; Puppe (Fn. 3), S. 92 f.: Der erste Schritt der Erfolgszurechnung bestehe in der kausalen Beziehung zwischen Täterverhalten und Erfolgseintritt, sodass die Fälle oft zuerst bei der Kausalität, im faktisch vorliegenden Kausalverlauf und nicht erst bei der objektiven Zurechnung gelöst werden sollten. Auch könnte man sich fragen, ob die Risikoerhöhungslehre Roxins eigentlich eine Lehre der objektiven Zurechnung oder eher eine Lehre der Kausalität ist; dazu Koriath (Fn. 6), S. 82 ff; dagegen Jäger (Fn. 62), S. 350 ff.; und Roxin, in: FS Miyazawa, S. 510; ders. (Fn. 2), § 11 Rn. 38, 55 u. 98: Es stimme nicht, dass die Anwendung der Risikoerhöhungslehre den Rückgriff auf die Bedingungstheorie, die Bestimmung der Kausalität überflüssig mache. Immerhin aber „bedürfen diese Fragen noch weiterer dogmatischer Klärung“. 73 Diesbezüglich sollte man sich die These von Jäger (Fn. 62), S. 354 f., 363 f. vergegenwärtigen. Er ist der Ansicht, auch in Fällen der alternativen Kausalität gehörten alle alternativen Ursachen zum Geschehenverlauf, zum historischen Ereignis, denn sie seien notwendige Bedingungen des Erfolgs. Dazu lässt sich jedoch argumentieren, im Strafrecht werden dem Täter keine Ereignisse oder kein gesamter Verlauf zugerechnet, sondern nur Erfolge! Deswegen stellt sich die Frage, welcher Handlung (welcher Ursache) wir den Erfolg zurechnen sollen. Und darauf kann man nur auf folgende Weise antworten: indem man im Sachverhalt die faktische, empirische Kausalität erforscht. Dementsprechend wird vorliegend die Ansicht vertreten, dass in Fällen der alternativen Kausalität – und vielleicht in vielen anderen – kein Unterschied mehr zwischen Kausalität und objektiver Zurechnung besteht. Ferner gibt Jäger, ibidem, S. 363 f. selbst zu, „obwohl also Kausalität weit in die Vergangenheit zurückreichen kann, wird man bei der Ermittlung dieser Kausalität nur solche Ereignisse im Vorfeld des historischen Erfolgseintritts in die Überlegungen einbeziehen, die sinnvoll rechtlich zugerechnet werden können. Dies ändert aber freilich nichts daran, dass auch andere Ereignisse als kausal zu bezeichnen sind.“ Und weiter (Fn. 70): „Der Unterschied zwischen Begleitumstand und echtem Kausalfaktor kann nur normativ festgestellt werden.“ Damit gibt er aber implizit zu erkennen, dass einige unter den Kausalfaktoren echte, andere jedoch unechte sind. D.h. nicht alle sind wirklich kausal im Hinblick auf den Erfolgseintritt. Und das beinhaltet
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(eben im Radfahrer-Fall), dass jene „erste“ Entscheidung auf der Kausalitätsebene zum Zweck einer Fallerklärung genügen würde,74 sodass jeder weitere Gedanke im Hinblick auf die „objektive Zurechnung“ überflüssig wäre (wenn auch nicht in Bezug auf die „subjektive Zurechnung“).75 Vielleicht passiert das ja auch gerade deswegen, weil diese richterliche Bewertung eigentlich in der „objektiven Zurechnung“ besteht. 5. Lassen sich solche Fälle der doppelten Kausalität, z. B. der Radfahrer-Fall lösen, ohne auf hypothetische Überlegungen zurückzugreifen? Einige Autoren, die sich kritisch über die Risikoerhöhungstheorie äußern, vertreten diese Ansicht, und anstatt sich mit einer hypothetischen Umformulierung des Falles zu beschäftigen, beobachten sie lieber den wirklichen, faktischen Sachverhalt und rechnen den Erfolg dementsprechend der für ihn tatsächlich kausalen Handlung zu.76 Doch seinerseits rechtfertigt Roxin selbst, dass in seiner These das reale mit dem „hypothetischen Verhalten aus einer normativen, „naturalistisch-statistischen“ Betrachtungsweise verglichen wird. Dabei ginge es nicht um eine wirklich bereitstehende, sondern nur um eine zu Vergleichszwecken erdachte hypothetische Kausalität, die der Gewinnung eines normativen Gefahrerhöhungsurteils diene.“77 Hier wird zu überprüfen sein, ob sich die Frage nach der Kausalität im wirklichen Sachverhalt ohne Berufung auf hypothetische Überlegungen überhaupt beantworten lässt. Nach hier vertretender Auffassung ist das verstandesmäßig unmöglich, da jede Frage nach dem Risiko (i.S. von Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts) im Wesentlichen auch eine Frage nach einem hypothetischen Kausalverlauf ist. Es würden daher hypothetische Erwägungen schon immer angewendet, wenn man sich für die Feststellung des Verursachungszusammenhangs auf die Conditio sine qua nonFormel78 oder auf das Risikoprinzip bzw. auf Wahrscheinlichkeitsaussagen stützt. 6. Bei den Fahrlässigkeitsdelikten sollte sich der Rechtsanwender im Fall von verschiedenen gravierenden Sorgfaltspflichtverletzungen dafür entscheiden, den Erfolg jedem der Beteiligten als Täter seines eigenen fahrlässigen Tatbestandes zuzurechnen. Falls diese Pflichtverstöße von unterschiedlicher Bedeutung in Hinsicht auf die Erfolgsverursachung sind, dürfte der Richter auch unter ihnen zwischen grober und leichter Fahrlässigkeit unterscheiden. Anders wäre der Fall, wenn im konkreten Sachverhalt klar feststünde, dass der Erfolg nur mit einem der Risikofaktoren in Verschon eine wertende, normative Betrachtung, was einen Widerspruch in der These Jägers bedeutet: empirische Kausalität und wertende Betrachtung gehören eigentlich zusammen. 74 S. hierzu Röh (Fn. 8), S. 22 f. 75 Koriath (Fn. 6), S. 148 ff. und Kindhäuser, in: FS Maiwald, S. 397 ff. verzichten in ihren Thesen auf den klassischen Ansatz der „objektiven Zurechnung“. Ihrer Meinung nach soll man den Fall anhand der empirischen Untersuchung des Kausalzusammenhanges und der Überprüfung des Tätervorsatzes (d. h. seiner ,,Tatherrschaft“) lösen. 76 S. statt vieler Koriath (Fn. 6), S. 88, 90 in fine; Puppe (Fn. 3), S. 8; Jakobs (Fn. 10), Kap. 7 Rn. 86, 93 u. 94; ders. (Fn. 15), S. 116; Küper, in: FS Lackner, S. 247 (S. 254 ff.). 77 S. Roxin, (Fn. 2), § 11 Rn. 63, 75 u. 94; s. auch Hoyer, in: FS Rudolphi, S. 95. 78 S. Jäger (Fn. 62), S. 348.
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bindung stände, denn dann würde das Ergebnis nur diesem Faktor zugerechnet werden. Ansonsten würde auch eine Verantwortung oder Beteiligung des Opfers am Erfolgseintritt die Verantwortung des Täters/der Täter vermindern bzw. aufheben.79 Kurzum: Es hängt am Ende nicht so sehr davon ab, wer welchen Risikograd in der Situation verursacht hat, sondern eher davon, dass jeder Beteiligte durch seine Pflichtverletzung eine geradezu hohe Wahrscheinlichkeit (d. h.: Risikoerhöhung) des Erfolgseintritts verursacht hat. Des Weiteren muss man aus einer ex post Betrachtung davon ausgehen können, dass sich jedes Risiko im Erfolg verwirklicht hat und dabei kein anderes größeres Risiko dem ersten gegenüber überwiegt.
79 S. als Beispiel für diese Rechtsprechung das Urteil des spanischen Tribunal Supremo v. 16. 7. 2002.
Strafbarkeit juristischer Personen und Zurechnung Von Wolfgang Frisch Fragen der strafrechtlichen Zurechnung nehmen im wissenschaftlichen Werk Jürgen Wolters, des langjährigen Weggefährten und Freundes, einen herausragenden Platz ein.1 Sie zum Gegenstand eines Beitrags in einer ihm gewidmeten Festschrift zu machen, lag daher nahe – umso mehr, als sie auch den Autor dieses Beitrags viel beschäftigt haben. Freilich sollen hier nicht noch einmal jene Fragen der objektiven und subjektiven Zurechnung aufgeworfen werden, über die Jürgen Wolter und ich in der gemeinsamen Bonner Zeit, in Heidelberg und in Mannheim in vielen persönlichen Gesprächen und später vor allem literarisch diskutiert haben. Der Beitrag versucht, diese bisherige Diskussion um ein Themenfeld zu erweitern, das üblicherweise unter einem anderen Stichwort behandelt wird, tatsächlich aber außerordentlich viel mit Zurechnung zu tun hat: die Frage der Strafbarkeit von juristischen Personen und Verbänden2. Eine Untersuchung dieser Frage scheint mir in eine Jürgen Wolter gewidmete Festschrift umso mehr zu passen, als sie noch ein zweites am Werk des Jubilars orientiertes Adäquitätskriterium erfüllt – sie behandelt ein Thema von hoher kriminalpolitischer Aktualität und Relevanz.
I. Meinungen, Argumente und Trends 1. Meinungen und Argumente Die hohe kriminalpolitische Aktualität und Relevanz lässt sich leicht belegen: Über die Sinnhaftigkeit, Gebotenheit und Problematik der Bestrafung von Verbän1 Vgl. insbes. Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981; ders., in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 103; ders., GA 1991, 531; ders., FS F.-C. Schroeder, 2002, S. 431. 2 Vgl. dazu für Deutschland z. B. Hirsch, Die Frage der Straffähigkeit von Personenverbänden, 1993; Tiedemann, in: Schoch/Stoll/Tiedemann (Hrsg.), Freiburger Begegnung, Dialog mit den Richtern des Bundesgerichtshofs, 1996, S. 30; Jakobs, FS Lüderssen, 2002, S. 559; Schünemann, FS Tiedemann, 2008, S. 429; Kudlich, in: Kuhlen u. a. (Hrsg.), Compliance und Strafrecht, 2013, S. 209; für Spanien und Südamerika z. B. Robles Planas, InDret 2/2006, 1 ff.; Pastor Muñoz, InDret 2/2006, 1 ff.; Robles Planas, InDret 2/2009, 2 ff.; van Weezel, Polít. crim. Vol. 5 N8 9 (Julio 2010), Art. 3, 114 ff.; Hernández Basualto, Polít. crim. Vol. 5 (Julio 2010), Art. 5, 207 ff.; weit. Nachw. in den nachfolgenden Fn.
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den und juristischen Personen wird seit Jahren in ganz Europa, ja weltweit, intensiv und kontrovers diskutiert.3 Die Befürworter einer solchen Strafbarkeit berufen sich vor allem auf unabweisbare kriminalpolitische Bedürfnisse. Nur der über die natürliche Person hinausgehende strafende Zugriff gewährleiste gegenüber bestimmten Formen der Kriminalität ein effizientes Strafrecht.4 Aber auch Gerechtigkeitspostulate werden angeführt: Wenn das Verschulden natürlicher Personen gering ist oder natürliche Personen als Schuldige kaum ausfindig zu machen sind, gravierende Rechtsgutsbeeinträchtigungen sich aber auf organisatorische Mängel im Bereich der juristischen Person zurückführen lassen,5 müsse es möglich sein, solcher Schuld Rechnung zu tragen.6 Zur Begründung der im Kern vor allem geforderten Strafbarkeitserweiterung taucht dabei immer wieder der Begriff der Zurechnung auf.7
3 Vgl. neben den Nachw. in Fn. 2 für Deutschland noch Schünemann, Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979; H.-J. Schroth, Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, 1993; Heine, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, 1995; v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe, 1998; Bosch, Organisationsverschulden in Unternehmen, 2002; Maihold, Strafe für fremde Schuld, 2005, S. 16 ff.; Engelhart, Sanktionierung von Unternehmen und Compliance, 2. Aufl. 2012, S. 319 ff.; für Spanien Bacigalupo Saggese, La responsabilidad penal de las personas jurídicas, 1998; Gómez-Jara Díez, La culpabilidad penal de la empresa, 2005; Nieto Martín, La responsabilidad penal de las personas jurídicas: Un modelo legislativo, 2008; Zugaldía Espinar, La responsabilidad penal de empresas, fundaciones y asociaciones, 2008; weit. umfassende Nachw. bei Freund, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2011, Vor §§ 13 ff. Rn. 151 a.E.; Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar StGB, 12. Aufl. 2007, Vor § 25 (IV.). 4 Vgl. etwa Heine (Fn. 3), S. 75 ff.; siehe ferner Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz und Unternehmensstrafe, 1994, S. 149 ff., 164 ff.; zu insoweit nicht hinreichend befriedigten Präventionsbedürfnissen auch Schünemann (Fn. 3), Vor § 25 Rn. 21 f.; ders., Unternehmenskriminalität (Fn. 3), S. 56 ff.; ders., in: Schünemann/Suárez González (Hrsg.), Bausteine des europäischen Wirtschaftsstrafrechts, 1994, S. 265 (271 ff.), der freilich Folgerungen in Richtung auf ein Maßregelmodell zieht (z. B. Unternehmenskriminalität S. 235 ff.). 5 „Organisierte Unverantwortlichkeit“, vgl. etwa Schünemann, Unternehmenskriminalität (Fn. 3), S. 34; Heine (Fn. 3), S. 34; ders., ÖJZ 55 (2000), 871 (874, 876) und Seelmann, FS N. Schmid, 2001, S. 169, 171 f. 6 Vgl. dafür z. B. Alwart, ZStW 105 (1993), 752 (757, 767 f., 769 ff.); Heine (Fn. 3), S. 33 ff., 41 f., 44 ff., 53 f., 196 f., 198 f., 294 ff., 308; ders., ÖJZ 55 (2000), 871 (874); im Sinne einer auf solche Situationen zugeschnittenen „Verbandsgeldbuße“ auch Schünemann, Unternehmenskriminalität (Fn. 3), S. 232 ff., insbes. S. 254; s. auch ders. (Fn. 4), S. 265 (287 f.). 7 Im Sinne einer solchen Zurechnung für bestimmte Nebenfolgen, aber auch die „Haftung“ für Geldstrafen und Kosten aus der deutschen Rechtsprechung z. B. BGHSt 5, 28 (30 ff.); aus der Literatur z. B. H.-J. Schroth (Fn. 3), S. 179, 188 (Handlung) und S. 206 ff. (Schuld); Ehrhardt (Fn. 4), S. 177, 186 ff., 194 f.; möglicherweise auch Hirsch (Fn. 2), der auf S. 10 allerdings von „eigenem Handeln durch einen anderen“ spricht; ders., ZStW 107 (1995), 285 (288 ff.); bei Ehrhardt (Fn. 4), S. 44 auch weit. Vertreter der Zurechnungslösung; krit. gegenüber dieser Zurechnungslösung („Repräsentationsmodell“) in jüngster Zeit Schünemann, FS Tiedemann, S. 429 (431 f.) m.w.N.; Gómez-Jara Díez (Fn. 3), S. 141 f.; Nieto Martín (Fn. 3), S. 120 ff.
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Die Kritiker solcher Forderungen und Konzepte rügen deren Unvereinbarkeit mit Grundprinzipien des Strafrechts und Grundkategorien der Straftat. Schon das Handlungserfordernis sei nicht erfüllt, denn sich Ziele setzen und diese steuernd verwirklichen könne nur die natürliche Person.8 Vor allem aber sei es nicht möglich, gegenüber juristischen Personen und Verbänden jenen sozialethisch fundierten Vorwurf zu erheben, der im Schuldspruch und der Bestrafung liege. Denn zu einer Entscheidung zwischen Gut und Böse, zwischen Recht und Unrecht, sei allein die natürliche, nicht aber die juristische Person befähigt.9 Die insoweit bestehenden Defizite ließen sich auch nicht durch Zurechnungserwägungen beheben. 2. Trends und ihre Aussagekraft Sieht man auf die internationale Entwicklung im Bereich der Kriminalgesetzgebung, so kann man nicht umhin festzustellen, dass diese Kritik offenbar mehr und mehr ihre Wirkkraft verliert. Nur so lässt sich erklären, dass der Kreis der Staaten, die eine Strafbarkeit juristischer Personen vorsehen, immer größer und der jener Staaten, die eine solche Strafbarkeit (noch) nicht kennen, immer kleiner wird.10 Nach der Einführung der Strafbarkeit juristischer Personen auch in Frankreich, der Schweiz und in Spanien11 steht Deutschland mit seiner Ablehnung einer solchen Strafbarkeit und der Beschränkung der Sanktionen gegenüber juristischen Personen 8 Vgl. dafür z. B. Freund (Fn. 3), Vor §§ 13 ff. Rn. 149 f.; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 225 ff.; Alwart, ZStW 105 (1993), 752 (756 f.); Gracia Martín, in: Mir Puig/Luzón Peña (Hrsg.), Responsabilidad penal de las empresas y sus órganos y responsabilidad por el producto, 1996, S. 35 (63 ff., 67 f.); weit. Nachw. bei Ehrhardt (Fn. 4), S. 42 f. und H.-J. Schroth (Fn. 3), S. 174 ff. 9 Vgl. Jescheck/Weigend (Fn. 8), S. 227 f.; Jakobs, FS Lüderssen, 2002, S. 559 (568 ff.); aus der spanischen Diskussion z. B. Silva Sánchez, in: García Cavero (Hrsg.), La responsabilidad penal de las personas jurídicas, órganos y representantes, 2002, S. 170 ff.; Feijoo Sánchez, in: Arroyo Jiménez/Nieto Martín (Hrsg.), Autorregulación y sanciones, 2009, S. 200 (238); Robles Planas, La Ley N8 7705, 2011, 1 (3) = (deutsche Übersetzung) ZIS 2012, 347 (349); eingeh. Zusammenstellung der Vertreter dieser Auffassung bei H.-J. Schroth (Fn. 3), S. 194 ff. und Gómez-Jara Díez, ZStW 119 (2007), 290 Fn. 1; gegen diese Argumentation aber z. B. Hirsch (Fn. 2), S. 12 ff.; unter Berufung auf einen verbreiteten Sprachgebrauch ihm zustimmend Tiedemann (Fn. 2), S. 30 (48 ff.). 10 Siehe etwa für Spanien die Art. 31bis des Código Penal; für Frankreich Art. 121 – 2 Code Pénal; für Italien die gesetzesvertretende Verordnung (decreto legislativo) 231/2001; eingeh. Überblick über weitere einschlägige Regelungen bei Sieber/Cornils (Hrsg.), Nationales Strafrecht in rechtsvergleichender Darstellung, Allgemeiner Teil, Band 4: Tatbeteiligung – Straftaten in Unternehmen, Verbänden und anderen Kollektiven, 2010; siehe auch Heine, ÖJZ 55 (2000), 871 ff. und Schünemann (Fn. 3), Vor § 25 Rn. 20. 11 Dazu eingehend Bacigalupo Saggese, La Ley N8 7541, 2011, 1 ff.; Robles Planas, La Ley N8 7705, 2011, 1 ff. = (deutsche Übersetzung) ZIS 2012, 347 ff.; Díez Ripollés, InDret 1/ 2012, 1 ff. sowie Feijoo Sánchez, in: Díaz-Maroto y Villarejo (Hrsg.), Estudios sobre las reformas del Código Penal operadas por las LO 5/2010 y 3/2011, 2011, S. 65 ff.; ders., in: Bajo Fernández/Gómez-Jara Díez/Feijoo Sánchez (Hrsg.), Tratado de Responsabilidad Penal de las Personas Jurídicas, 2012, S. 49 ff., 65 ff., 91 ff.; aus der deutschsprachigen Literatur Carbonell Mateu, ZStW 123 (2011), 331 ff.
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auf Geldbußen (§ 30 OWiG) sowie die Maßnahmen des Verfalls und der Einziehung (§§ 73 Abs. 3 und § 75 StGB) in Europa inzwischen fast allein. Natürlich bedeutet ein konstatierbarer internationaler Trend noch nicht, dass das, was im Trend liegt, richtig sein muss. Das gilt ganz besonders, wenn – wie im Falle der Entscheidung für die Strafbarkeit juristischer Personen – international auch politische Erwartungen im Spiel sind. Aber eine gewisse Aussagekraft haben derartige Trends schon. Sie zeigen, dass die Argumente, die von einer Wissenschaft gegen die im Trend liegenden gesetzgeberischen Entscheidungen angeführt werden, nicht stark genug waren oder sind, den Gesetzgeber zu überzeugen. Das kann verschiedene Gründe haben. Die Argumente können zu doktrinär erscheinen oder zu voraussetzungsreich sein, um den Gesetzgeber zu erreichen. Es kann aber auch sein, dass sie zu wenig auf das zugeschnitten sind, wogegen sie sich wenden, oder dass sie die Zugkraft des Abgelehnten für den Gesetzgeber verkennen – und so versäumen, mit der nötigen Intensität an der richtigen Stelle zu argumentieren. Die folgenden Darlegungen werden zeigen, dass dies zum Teil so ist. Unabhängig davon machen derartige Trends und die offenbar schwindende Kraft der gegen sie gerichteten Argumente aber doch jedenfalls deutlich, dass gewisse Positionen und die für und gegen sie streitenden Argumente der Überprüfung bedürfen – und sei es auch nur, um sich ihrer Richtigkeit zu vergewissern und das Argumentationspotential zu verbessern.
II. Zur Zusatzbestrafung der juristischen Person aufgrund einer Zurechnung der Straftaten natürlicher Personen Dass am Siegeszug der Idee von der Strafbarkeit auch juristischer Personen der Zustand der Kritik dieser Idee nicht ganz unschuldig ist, wird alsbald deutlich, wenn man die Kritik mit jenem Konzept der Strafbarkeit der juristischen Person konfrontiert, das in den gesetzgeberischen Bemühungen weltweit ganz im Vordergrund steht. Es handelt sich insoweit nicht um die – seltenen – Fälle, in denen eine natürliche Person als Schuldiger nicht bestraft werden kann12 und daher eine isolierte Strafbarkeit der juristischen Person interessiert – so dass nun eine Strafbarkeit der juristischen Person konstruiert werden müsste (und bekämpft werden könnte). Es geht vielmehr darum, in Fällen, in denen eine natürliche Person strafbar ist, zur Erhöhung der Effizienz des Strafrechts zusätzlich auch noch die juristische Person zu bestrafen, für die oder in deren Aufgabenfeld oder zu deren Gunsten die natürliche Person tätig geworden ist.13 12 Z.B. wegen Schuldunfähigkeit der natürlichen Person, vgl. die Fälle bei Nieto Martín (Fn. 3), S. 165; Zugaldía Espinar (Fn. 3), S. 145 f. 13 Vgl. dafür z. B. Hirsch (Fn. 2), S. 10, 26 f.; Ehrhardt (Fn. 4), S. 149 ff., 164 ff., 175 ff., insbes. S. 221 ff. (Anknüpfungstat); Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 6. Abschnitt, Rn. 44 f.
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1. Verfehlung des Objekts durch die Kritik – Notwendige Umakzentuierungen Dieses Modell der Zusatzbestrafung der juristischen Person ist gegen die üblichen Einwände mangelnder Handlungsfähigkeit und mangelnder Schuld (bzw. Schuldfähigkeit) der juristischen Person weitgehend gefeit. Es bemüht sich ja überhaupt nicht darum, eine eigene Strafbarkeit der juristischen Person zu konstruieren und nach deren Schuld zu fragen. Ihm genügt die Straftat einer natürlichen Person mit bestimmtem Status (oder gewissen sonstigen Voraussetzungen) – diese Straftat wird nach konventionellen Regeln bestimmt. Ist das geschehen, so wird einfach auch die juristische Person belastet oder – wie es heißt – „bestraft“. Man wird dabei nicht einmal sagen können, dass eine solche Belastung ungerecht sei – auch sonstige gravierende Folgen von Fehlentscheidungen ihrer Organe muss die juristische Person ja hinnehmen (so wie sie von günstigen Entscheidungen profitiert). Selbst dass diese Folge „Strafe“ heißt, bewegt sich – insbesondere auch international – im konventionellen definitorischen Rahmen14 und ist schwerer angreifbar als die Kritik meint. Denn um ein intendiertes Übel wegen einer Straftat – wie eine der klassischen Definitionen der Strafe lautet15 – geht es bei solchem Vorgehen auch gegen die juristische Person durchaus. Das eigentlich Problematische und Begründungsbedürftige dieses Modells einer Bestrafung der juristischen Person liegt darin, dass nach dieser Konzeption eine Person (nämlich die juristische Person) bestraft wird, die die Straftat tatsächlich sicher nicht begangen hat. Denn verwirklicht worden ist die Straftat, auch der darin enthaltene Abfall vom Recht,16 allemal durch die natürliche Person. Dementsprechend muss eine Kritik, die hoffen kann, den Gesetzgeber zu überzeugen, an eben dieser Stelle ansetzen. Sie darf nicht länger so tun, als würden Straftaten der juristischen Person konstruiert, die meist gar nicht konstruiert werden, und Fehler dieser Konstruktion beanstanden. Sie muss vielmehr rügen, dass es nicht angeht, Rechtspersonen mit Strafe zu belegen, die die zu bestrafende Tat gar nicht begangen haben. Wenn ihr daraufhin entgegengehalten wird, dass den juristischen Personen die Straftat der natürlichen Person ja doch zuzurechnen sei17 und die juristische Person deshalb mit Strafe belegt werde, muss sie diese Zurechnung infrage stellen und versuchen, deren Problematik oder Unhaltbarkeit aufzuzeigen. Dabei sollte ihr bewusst sein, dass gerade an dieser Stelle ein erheblicher Argumentations- und Verdeutlichungsaufwand geleistet werden muss. 14 Vgl. etwa den Strafbegriff des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR): Der Gerichtshof legt den Begriff „autonom“ i.S. einer „Maßnahme“, die „nach Verurteilung wegen einer Straftat auferlegt worden ist“ aus, EGMR, Urteil vom 17. 12. 2009, 19359/04 – M. gegen Deutschland, NJW 2010, 2495 (2497 f., Rn 120 m.w.N.). 15 Vgl. Hugo Grotius, De iure belli ac pacis, 2. Buch, 20. Kap., I. 1.: „… ein Übel, das man erleidet, weil man ein Übel getan hat.“ 16 Als das „Kernstück des Handlungsunrechts“, zutr. Wolter (Fn. 1), S. 152 f. m.w.N. 17 Vgl. die Nachweise oben Fn. 7.
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Dieser Argumentationsaufwand ergibt sich zum einen daraus, dass es Zurechnung ja auch im Strafrecht selbst gibt – und zwar durchaus in dem Sinne, dass der, dem man das Verhalten anderer zurechnet, mit Strafe belegt wird und dies legitim erscheint. Eine überzeugende Widerlegung des Zurechnungsarguments muss dementsprechend – erstens – aufzeigen, dass bei der Bestrafung der juristischen Person Zurechnungen vorgenommen werden, die sich jedenfalls nicht auf anerkannte strafrechtliche Zurechnungsfiguren und Zurechnungsprinzipien berufen können. Freilich kann sich eine durchschlagende Kritik hierauf nicht beschränken. Sie muss vielmehr – zweitens – auch der Frage nachgehen, welche Art von Zurechnung im Zusammenhang der Bestrafung der juristischen Person das Denken des Gesetzgebers bestimmt, und hinterfragen, ob solche Zurechnung für das Strafrecht, oder genauer: für die Belegung einer (auch juristischen) Person mit Strafe, ausreichen kann. 2. Unvereinbarkeit der Zurechnungslösung mit den Figuren und Prinzipien strafrechtlicher Zurechnung Dass sich Personen das Verhalten anderer so zurechnen lassen müssen, als ob sie es selbst verwirklicht hätten, ist dem Strafrecht nicht fremd. a) Solche Zurechnung findet unter natürlichen Personen seit langem über die Figuren der mittelbaren Täterschaft und der Mittäterschaft statt. Für eine solche Verhaltenszurechnung gibt es tragfähige Gründe. In den Fällen der mittelbaren Täterschaft bedient sich eine verantwortliche Person einer anderen nicht verantwortlichen oder in ihrer Verantwortlichkeit deutlich eingeschränkten Person zur Verwirklichung tatbestandsmäßigen Unrechts – dass sie unter solchen Umständen als die für das Gesamtgeschehen verantwortliche angesehen und das fremde Verhalten ihr (wie eigenes Verhalten) zugerechnet wird, leuchtet unmittelbar ein. Ebenso erscheint es einsichtig, dass Personen, die entsprechend ihrem gemeinsamen Plan mit im Wesentlichen gleich gewichtigen Tatanteilen arbeitsteilig eine Straftat begangen haben, für diese gemeinsam verantwortlich gemacht werden können (und müssen) – und ihnen insoweit zwangsläufig auch die von ihnen gewollten, wenn auch nicht selbst und eigenhändig ausgeführten Tatbeiträge der anderen zugerechnet werden (müssen).18 Von einem vergleichbaren Verhältnis oder Sachverhalt kann zwischen der juristischen Person und ihren die Straftat begehenden Leitungsorganen oder Vertretern nicht die Rede sein: Die juristische Person beherrscht nicht etwa als eigentlich verantwortliche Person ein Geschehen, das sie über eine nicht verantwortliche oder durch deutliche Verantwortungsdefizite charakterisierte Person (den Vertreter usw.) verwirklicht. Ebenso wäre es blanke Fiktion, die vom Vertreter begangene Straftat als arbeitsteilige, einem gemeinsamen Entschluss entsprechende Verwirklichung tatbestandsmäßigen Unrechts durch gemeinsames Agieren der juristischen 18 „Müssen“ deshalb, weil sonst bei Begehung einer Tat mit gleichen Anteilen der Beteiligten überhaupt niemand Täter wäre.
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und der natürlichen Person zu bezeichnen.19 Kurz: Mit den herkömmlichen Modellen und Figuren der strafrechtlichen Zurechnung fremden strafbaren Verhaltens lässt sich eine Zurechnung der Straftat der natürlichen Person (des Vertreters usw.) zur juristischen Person nicht begründen. b) Der Gedanke, man könne der juristischen Person die Straftat eines ihrer Vertreter (oder vielleicht auch eines sonstigen Beschäftigten) zurechnen und so deren eigene Strafbarkeit begründen, findet freilich nicht nur in den herkömmlichen strafrechtlichen Zurechnungsfiguren keine Stütze. Er missachtet offensichtlich auch wichtige Prinzipien und Grenzen der strafrechtlichen Zurechnung und verkennt die Tiefenstruktur dieser Zurechnung.20 Voraussetzung dafür, dass man einer Rechtsperson im Strafrecht fremdes Handeln als (wie von ihr) selbst verwirklichtes Handeln zurechnen kann, sind stets gewisse von der Person selbst erfüllte subjektive Bedingungen.21 Bei den Vorsatzdelikten, auf die wir uns hier beschränken müssen, ist dies der auf das fremde Handeln gerichtete Vorsatz.22 Dieser subjektive Befund und ebenso gewisse Absichten sind niemals Gegenstand der strafrechtlichen Zurechnung, sondern deren Grundlage und zugleich deren Begrenzung.23 Sie müssen von der Person, der das Handeln Dritter zugerechnet werden soll, selbst erfüllt sein – nur dann lassen sich die diesen subjektiven Befunden entsprechenden Verhaltensweisen Dritter dieser Person (unter weiteren Voraussetzungen) in den Grenzen des Subjektiven als von ihr Gewolltes und daher auch zu Verantwortendes, also als (auch) ihr Werk, zurechnen. Es ist unübersehbar, dass die Zurechnung der Straftat eines Vertreters oder Beschäftigten der juristischen Person zur juristischen Person diesen Anforderungen nicht gerecht wird: Hier wird nicht auf der Basis vorhandener subjektiver Befunde diesem Subjektiven korrespondierendes Objektives zugerechnet (weil gewisse weitere Zurechnungsvoraussetzungen erfüllt sind). Hier muss vielmehr auch schon das Subjektive selbst zugerechnet werden, weil sonst wegen des Fehlens der subjektiven Seite der Straftat eine solche nicht vorliegt. Und zugerechnet wird nicht auf der Grundlage eines subjektiven Befunds jener Rechtsperson, der zugerechnet werden 19 Zutreffend Hirsch (Fn. 2), S. 10; Schünemann, FS Tiedemann, S. 429 (433); van Weezel, Polít. crim. Vol. 5 N8 9 (Julio 2010), 114 (130). 20 Vgl. erg. zum Folgenden noch Schünemann, Unternehmenskriminalität (Fn. 3), S. 234 f.; v. Freier (Fn. 3), S. 95 ff., 179 f.; Jakobs, FS Lüderssen, S. 559 (570 ff.); Schünemann, FS Tiedemann, S. 429 (431 f.); Seelmann, FS N. Schmid, S. 169 (176 ff.); zusammenfassend Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band I, 4. Aufl. 2006, § 8 Rn. 63; aus der spanischen Lit. zuletzt nochmals Robles Planas, La Ley N8 7705, 2011, 1 ff. 21 Übereinstimmend Wolter, Objektive und personale Zurechnung (Fn. 1), S. 18 ff., 41, 150 ff.; ders., in: Schünemann (Fn. 1), S. 103 (104, 109 ff.). 22 S. dazu Köhler, FS H.-J. Hirsch, 1999, S. 65 (74 f.); Wolter, Objektive und personale Zurechnung (Fn. 1), S. 152 f.; dort S. 153 f. und S. 42 f. auch zum entsprechenden subjektiven Befund im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte (eigene Fähigkeit der Person, die Rechtsgutsbeeinträchtigung [bei Orientierung am Recht] zu vermeiden). 23 Sachlich übereinstimmend Freund (Fn. 3), Vor §§ 13 ff. Rn. 149.
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soll, sondern einer objektiven Beziehung zwischen dem Handelnden und dieser Person – weil man etwas anderes als Zurechnungsgrundlage gar nicht hat. Es muss also etwas zugerechnet werden, was im Strafrecht niemals Gegenstand, sondern selbst Grundlage der Zurechnung ist, und es soll auf einer Grundlage zugerechnet werden, die vielleicht im Kontext anderer (z. B. zivilrechtlicher) Zurechnungen und deshalb eintretender Rechtsfolgen genügt, nicht aber für die Verhängung der Strafe als sozialethischen Vorwurf oder Tadel einer Person, den diese wegen einer begangenen Tat verdient. Eine krassere Verletzung der Tiefenstruktur strafrechtlicher Zurechnung kann man sich kaum vorstellen. c) Gemessen an der Verletzung so elementarer Prinzipien der strafrechtlichen Zurechnung fällt es schon fast nicht mehr ins Gewicht, dass auch weitere Grundsätze der strafrechtlichen Zurechnung verletzt, wer der juristischen Person die Straftat (z. B. den Betrug oder die Geldwäsche) eines ihrer Vertreter oder Beschäftigten wie eine von ihr selbst begangene Straftat zurechnet. Nur skizzenhaft: Was der juristischen Person selbst (allenfalls) angelastet werden könnte, ist doch, dass sie durch ihre Existenz, durch bestimmte Strukturen (einschließlich insoweit gegebener Defizite) und durch fehlende Vorkehrungen die Begehung der Straftat der natürlichen Person(en) ermöglicht oder erleichtert hat – vielleicht auch: dass sie (durch strukturelle Defizite) dafür Anreize geschaffen hat. Der Beitrag der juristischen Person erschöpft sich damit – in klassischen Unrechtskategorien – in Teilnahmeunrecht (womit freilich noch nicht gesagt ist, dass sich dessen weitere Voraussetzungen wirklich begründen ließen24). Für den Teilnehmer ist aber nun ziemlich einhellig anerkannt, dass ihm das von ihm geförderte (oder vielleicht sogar veranlasste) Unrecht des eigentlichen Täters nicht als eigene Straftat zugerechnet (und er nicht für diese Tat bestraft) wird25 – das ist bekanntlich der wesentliche Unterschied zwischen täterschaftlicher Tatbegehung und Teilnahme an fremder Tat. Die Zurechnungslösung lässt also nicht nur eine tragfähige, sich in anerkannte Begründungsfiguren und in die Grundlage der strafrechtlichen Zurechnung einpassende Begründung für die Zurechnung vermissen; sie steht auch in Widerspruch zu anerkannten Sachverhalten der Nichtzurechnung unter natürlichen Personen. Warum das, was insoweit gilt, im Verhältnis zwischen natürlicher und juristischer Person anders sein soll, ist bisher nicht einsichtig gemacht worden.
24 Die Bedenken beginnen damit, dass Anknüpfungspunkt der Strafbarkeit, auch der Teilnehmerstrafbarkeit, üblicherweise Handlungen sind, nicht dagegen die Existenz einer Person oder ein an ihr von anderen geschaffener Zustand (vgl. Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 322 f.; Robles Planas, La Ley N8 7705, 2011, 1 [3] = [deutsche Übersetzung] ZIS 2012, 347 [351]; Schünemann [Fn. 3], Vor § 25 Rn. 26); aber auch die Erfüllung sonstiger Teilnahmevoraussetzungen (subjektive Tatseite, Schuld) bleibt im Dunkeln. 25 Vgl. dazu z. B. Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band II, Besondere Erscheinungsformen der Straftat, 2003, § 26, insb. Rn. 11 ff.; Jakobs (Fn. 13), 22. Abschnitt, Rn. 1 ff.; Bloy, Die Beteiligungsform als Zurechnungstypus im Strafrecht, 1985, S. 172 ff., 252 ff.
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d) Natürlich bleibt die Frage, wie es angesichts so klarer Abweichungen von den wohlfundierten Regeln anerkannter Zurechnung fremden Verhaltens im Strafrecht möglich ist, dass es Vielen, auch an der Gesetzgebung Beteiligten, für die Zurechnung des Verhaltens bestimmter natürlicher Personen zur juristischen Person (und deren Bestrafung) genügt, dass die delinquierende natürliche Person in Bezug auf die juristische Person eine bestimmte Funktion hat – etwa deren Vertreter ist. Die Antwort ist einfach: Wir haben es hier mit einer offenbar nicht leicht zu durchschauenden Begriffsvertauschung oder Begriffsvermengung (partiell möglicherweise auch einem Begründungstrick) zu tun. 3. Vermengungen von strafrechtlicher (Strafe legitimierender) und außerstrafrechtlicher Zurechnung a) Zurechnung gibt es nicht nur in dem spezifischen Sinn, dass fremdes strafbares Verhalten einer Person so zugerechnet wird, als habe diese es selbst begangen, sodass es deshalb gerechtfertigt erscheint, auch diese Person zu bestrafen und mit Strafe zu tadeln. Zurechnung ist ein Grundbegriff des Rechts. Zugerechnet wird in den verschiedensten Kontexten des Rechts26 (und weit über das Recht hinaus27), um den Eintritt von Rechtsfolgen, die an bestimmte Voraussetzungen geknüpft sind, bei einer Person zu rechtfertigen, die diese Voraussetzungen nicht selbst erfüllt. Die Zurechnung des Verhaltens einer anderen Person, das die Voraussetzungen für den Eintritt der Rechtsfolge direkt erfüllt (oder auch die Zurechnung des Wissens eines anderen), bildet dann die Legitimationsgrundlage dafür, die jeweiligen Rechtsfolgen (auch) bei der Person eintreten zu lassen, die die Voraussetzungen selbst nicht aufweist. Solche Zurechnungen finden z. B. im Zivilrecht statt, wenn dort das Wissen einer Person einer anderen im Kontext der Begründung oder des Wegfalls von Anfechtungsrechten zugerechnet wird oder wenn sich eine Person das Verhalten einer anderen im Rahmen der Begründung von Schadensersatzansprüchen zurechnen lassen muss und daher für den Schaden (mit)haftet.28 Zurechnungen finden sich nicht weniger im öffentlichen Recht, wenn sich hier z. B. Personen das Verhalten oder Wissen 26 Vgl. etwa Hardwig, Die Zurechnung, 1957; Hruschka, Strukturen der Zurechnung, 1976; Kelsen, in: Klecatsky u. a. (Hrsg.), Die Wiener Rechtstheoretische Schule, 1968, S. 663; Koriath, Grundlagen strafrechtlicher Zurechnung, 1994; zur Zurechnung im Zivilrecht z. B. M. Baum, Die Wissenszurechnung, 1999; Deutsch, FS Honig, 1970, S. 33; Larenz, Hegels Zurechnungslehre und der Begriff der objektiven Zurechnung, 1927; zur Zurechnung im öffentlichen Recht z. B. Hollands, Gefahrenzurechnung im Polizeirecht, 2005; Reinhardt, Wissen und Wissenszurechnung im öffentlichen Recht, 2010. 27 Vgl. etwa Kaufmann/Renzikowski (Hrsg.), Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung, 2005; Köhler, FS H.-J. Hirsch, S. 65; Loening, Die Zurechnungslehre des Aristoteles, 1903; Seebaß, in: Wolters/Carrier (Hrsg.), Homo Sapiens und Homo Faber, 2005, S. 359; s. auch den Artikel „Zurechnung“, in: R. Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 1904. 28 So auch Jakobs, FS Lüderssen, S. 559 (572 ff.): „Mithaftung“.
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Dritter, deren sie sich zur Erfüllung bestimmter Pflichten oder Obliegenheiten bedienen, zurechnen lassen müssen. Und sie sind selbstverständlich auch im Verhältnis zwischen natürlichen und juristischen Personen in dem Sinne vorstellbar, dass eine juristische Person sich das Verhalten ihrer Organe oder Beschäftigten mit der Folge des Eintritts bestimmter Rechtswirkungen zurechnen lassen muss, es also bei ihr zu bestimmten Rechtsfolgen oder Rechtswirkungen kommt.29 b) Die Voraussetzungen, bei deren Gegebensein eine solche Zurechnung möglich erscheint, sind weder beliebig noch in Bezug auf die unterschiedlichsten Rechtsfolgen gleich. Sie hängen entscheidend von der Art der Rechtsfolgen oder Rechtswirkungen ab, die bei der Person, der zugerechnet wird, eintreten sollen. Stets muss es so sein, dass es nach Rechtsprinzipien gerecht ist, diese Rechtsfolge bei der Person, der das Verhalten anderer zugerechnet wird, eintreten zu lassen – deshalb wird dann zugerechnet. Im Zivilrecht und im öffentlichen Recht erscheint dafür häufig ausreichend, dass der, dessen Verhalten zugerechnet werden soll, im Verhältnis zu dem, dem zugerechnet wird, eine bestimmte Funktion erfüllt – sein Vertreter ist oder für ihn in bestimmten Angelegenheiten (z. B. zur Erfüllung von Pflichten oder Obliegenheiten) tätig wird. Dahinter steht der Gedanke, dass der, der sich zur Erfüllung seiner Pflichten oder zur Erledigung seiner Geschäfte anderer bedient und so seine Freiheit erweitert,30 sich auch etwaige Rechtsfolgen auslösendes Wissen dieser Personen oder die Nichterfüllung der eigenen Pflichten durch diese zurechnen lassen muss und für die Verletzung von Schädigungsverboten durch diese prinzipiell einzustehen hat. Hier genügen also aus rechtsprinzipiellen Erwägungen für den Eintritt bestimmter Rechtswirkungen und die dies ermöglichende Zurechnung in der Regel andere und deutlich geringere Voraussetzungen als dann, wenn es – wie im Strafrecht – darum geht, einer Person das Verhalten einer anderen als eigenes zuzurechnen und sie dafür schuldig zu sprechen und mit der Strafe zu tadeln. Letzteres ist, am deutlichsten bei den Vorsatztaten, nur möglich und gerecht, wenn man einer Person das Verhalten einer anderen Person trotz des Fehlens eines entsprechenden eigenen Verhaltens gleichwohl als ihr Werk oder als ihre Missachtung des Rechts vorhalten kann. Das setzt unabdingbar bestimmte subjektive Befunde bei dem zu Tadelnden selbst voraus; diese Befunde können nicht einfach von anderen abgezogen und ebenfalls zugerechnet werden. c) Vor diesem Hintergrund ist leicht ersichtlich, welcher Begriffsvertauschung all die erliegen (oder mit welcher Begriffsvertauschung sie arbeiten!), die der juristischen Person die Straftat ihres Vertreters (oder eines sonst in einer qualifizierten Beziehung zur juristischen Person Stehenden) zurechnen und auch die juristische Per29 In diesem Sinne auch Jakobs, FS Lüderssen, S. 559 (572 ff.); Robles Planas, La Ley N8 7705, 2011, 1 (4 ff.) = (deutsche Übersetzung) ZIS 2012, 347 (353 f.); aus der deutschen Rechtsprechung z. B. BGHSt 5, 28 (32). 30 Oder den Vorteil einer Verwaltung durch andere hat; so Jakobs, FS Lüderssen, S. 559 (572 f.).
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son für diese Straftat bestrafen wollen: Die so Argumentierenden bemühen zwar den strafrechtlichen Begriff der Zurechnung, um zu begründen, warum sich die juristische Person, die die Straftat nicht begangen hat, gleichwohl bestrafen lassen muss. Sie halten sich dann aber nicht mehr an die sachadäquaten und gerechtigkeitsorientierten Regeln der strafrechtlichen Zurechnung, sondern wechseln schlicht auf andere Regeln über, die zur Begründung ganz anderer Rechtsfolgen entwickelt worden sind31 und zwar insoweit, nicht aber für die Rechtsfolge der Strafe, sachgerecht sind. 4. Gründe der Begriffsvertauschung – Nivellierungen des Begriffs der Strafe Stark begünstigt wird dieser Zugriff auf die zivilrechtlichen Zurechnungsvoraussetzungen zunächst dadurch, dass die zivilrechtliche Zurechnung und ihre Voraussetzungen auch Juristen im Allgemeinen vertrauter sind als die Voraussetzungen, Begrenzungen und die Tiefenstruktur der strafrechtlichen Zurechnung. Man findet deshalb wohl nichts Problematisches daran, die erstgenannten Regeln im Falle der juristischen Person auch auf das Strafrecht zu erstrecken.32 Zusätzlich erleichtert wird die Übertragung dieser Regeln auf das Strafrecht durch die Art der strafrechtlichen Rechtsfolge, die (als Strafe) gerade bei der juristischen Person praktisch ausschließlich eintritt: die Belastung mit einer Geldstrafe. Da Belastungen des Vermögens der juristischen Person durch die Pflicht zur Zahlung bestimmter Geldsummen ja auch sonst – z. B. bei Schadensersatz, Kompensationen, Konventionalstrafen – unter Zugrundelegung der zivilrechtlichen Zurechnungsvoraussetzungen festgelegt werden, liegt es für Viele offenbar nahe, diese Voraussetzungen auch auf die ähnlich erscheinende Belegung mit einer Geldstrafe zu übertragen.33 Bedenken dagegen können erst aufkommen, wenn man hinreichend deutlich sieht und beachtet (!), dass auch in der Geldstrafe mehr steckt als nur die Belastung mit der Pflicht zur Zahlung eines Geldbetrags – nämlich ein Schuldspruch und ein gravierender Tadel. Diese Vorstellung ist offenbar vielfach nicht präsent – oder wird für vernachlässigenswert erachtet.
31 Sehr deutlich wird diese Vermengung von strafrechtlicher Zurechnung, die die Verhängung von Strafe legitimieren soll, und zivilrechtlicher Zurechnung in der Entscheidung BGHSt 5, 28 (30 f.), wo die hier interessierende „strafrechtliche Haftung“ (so BGH a.a.O.) mit der bürgerlich-rechtlichen Haftung des nichtrechtsfähigen Vereins für den Schaden verglichen wird, den der Vorstand des Vereins einem Dritten durch „eine in Ausführung der ihm zustehenden Verpflichtungen begangene, zum Schadensersatz verpflichtende Handlung … zufügt“ (§ 31 BGB); s. auch Kudlich (Fn. 2), S. 209 (211); s. ferner BVerfGE 20, 323 ff. im Bertelsmann-Lesering-Beschluss. 32 Vgl. auch dafür beispielhaft die Argumentation der Entscheidung BGHSt 5, 28 (31). 33 Vgl. nochmals BGHSt 5, 28 (31 f.: Ähnlichkeit von strafrechtlicher und zivilrechtlicher „Haftung“ in Bezug auf Geldstrafe und Kosten).
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Freilich – solange man an diesem Verständnis der Strafe festhält, wie dies im deutschen Recht mit Nachdruck auch das Bundesverfassungsgericht tut,34 muss einer solchen Verwässerung der strafrechtlichen Zurechnung mit Nachdruck entgegengetreten werden.
5. Gegenüber juristischen Personen mögliche Maßnahmen All das heißt nicht, dass im Falle der Begehung von Straftaten durch die Vertreter einer juristischen Person oder durch für diese sonst tätig werdende Personen gegen die juristische Person nicht Maßnahmen ergriffen und bestimmte Rechtsfolgen verhängt werden könnten. Selbstverständlich ist die juristische Person für die von ihren Vertretern und Erfüllungsgehilfen verursachten Schäden – im Blick auf die insoweit in Anspruch genommene Freiheit – kompensationspflichtig. Dazu gehören auch sozialpsychologische Schäden, die der Gemeinschaft Aufwendungen zu ihrer Behebung abverlangen, welche als zu diesem Zweck auferlegte Bußen oder Ausgleichszahlungen pauschaliert festgesetzt werden können.35 Vor allem aber ist es möglich, die juristische Person mit – unter Umständen sehr erheblichen – Zahlungspflichten zu belasten, wenn solche Straftaten ein Organisationsdefizit im Bereich der juristischen Person belegen, durch das diese sich als eine latente Rechtsgutsgefährdung erweist.36 Maßnahmen dieser Art haben den Zweck, die juristische Person kostenpflichtig an die Einhaltung der Bedingungen (straftatenfreie Betätigung) zu erinnern, unter denen ihre Betätigung allein akzeptiert werden kann; zugleich soll die Belastung mit zum Teil erheblichen Kosten die Einhaltung des rechtlich erwarteten Organisationssolls erzwingen.37 Um Maßnahmen dieser Art geht es z. B. auch in § 30 des deutschen OWiG, wonach die juristische Person bei Straftaten ihrer Organe (unter bestimmten weiteren Voraussetzungen) mit einer Geldbuße belegt werden kann. Für die Auslegung des „Kann“ ist dabei maßgebend, welche konkrete Ratio des Einstehenmüssens man zugrunde legt: ob man die juristische Person für Straftaten ihrer Organe grundsätzlich 34 Vgl. zuletzt etwa BVerfGE 128, 326 (376) = NJW 2011, 1931 (1937 f.); s. weiter z. B. BGHSt 2, 194 (200); 18, 87 (94); 20, 264 (266); Roxin (Fn. 20), § 3 Rn. 46; eingehende weit. Nachw. bei Kühl, FS Eser, 2005, S. 149 (156 ff.). 35 Zur Kompensationspflichtigkeit der juristischen Person für sozialpsychologische Folgen des Handelns ihrer Organe in Ausübung der ihr zuerkannten Handlungsfreiheit übereinstimmend Jakobs, FS Lüderssen, S. 559 (571 f.). 36 Vgl. auch Tiedemann, NJW 1988, 1169 ff. (1172 f.): Haftung für Organisationsmängel; Heine (Fn. 3), S. 249; ähnlich schon Schünemann, Unternehmenskriminalität (Fn. 3), S. 240 ff., 249 ff., der zwar zur Legitimation der Sanktionierung auf die Figur eines Rechtsgüternotstandes zurückgreift, die Angemessenheit der Maßnahme aber vor allem mit Organisationsdefiziten begründet; aus der spanischen Literatur ähnlich Robles Planas, Pena La Ley N8 7705, 2011, 1 (5 f.). 37 Vgl. auch Stratenwerth, FS R. Schmitt, 1992, S. 295 (302 ff.: „Maßregeln mit generalpräventivem Ziel“); R. Schmitt, Strafrechtliche Maßnahmen gegen Verbände, 1958, S. 130, 178 ff.: „objektive Sicherungsmaßregeln“.
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einstehen lassen will oder z. B. nur, wenn die Straftaten etwas mit Organisationsdefiziten im Bereich der juristischen Person zu tun haben und bei ordnungsgemäßer Organisation vermieden worden wären.38 Auch die praktisch bedeutsame Erstreckung der Verfalls- und Einziehungsmöglichkeiten auf juristische Personen bei Begehung von Straftaten durch ihre Vertreter (§§ 73 Abs. 3, 75 StGB)39 ist vor diesem Hintergrund zu sehen und prinzipiell nicht zu beanstanden. 6. Zwischenergebnis: Unhaltbarkeit der Zurechnungslösungen Wir können damit i.S. eines Zwischenergebnisses zusammenfassen: Um der juristischen Person Straftaten der für sie tätigen natürlichen Personen (mit der Folge legitimer Bestrafung auch der juristischen Person) zuzurechnen, reicht es nicht aus, dass diese Personen für die juristische Person tätig werden und in Bezug auf die juristische Person eine bestimmte Funktion wahrnehmen. Derartige Sachverhalte genügen nur für Zurechnungen, die der Legitimation schlichter Zahlungspflichten, von Rechtsverlusten oder der Ergreifung von sicherungs- und ordnungsrechtlichen Maßnahmen gegen die juristische Person dienen. Für eine strafrechtliche Zurechnung, das heißt eine Zurechnung, die es rechtfertigen soll, denjenigen, der nicht selbst gehandelt hat, einer von einem anderen begangenen Straftat schuldig zu sprechen und für deren Begehung zu tadeln, ist anderes erforderlich: Dafür muss der, dem zugerechnet wird, vor allem auch bestimmte subjektive Voraussetzungen erfüllen, die die juristische Person nicht erfüllt. Da die juristische Person diese Voraussetzungen ohne Fiktion auch gar nicht erfüllen kann, muss der Versuch, die Strafbarkeit der juristischen Person im Wege einer schlichten Zurechnung der Straftaten natürlicher Personen zu begründen, als gescheitert angesehen werden; er beruht auf Begriffsvertauschungen. Was damit als Alternative für eine (wirkliche) Bestrafung der juristischen Person allein noch bleibt, ist der Versuch, eine Strafbarkeit der juristischen Person eigenständig und das heißt: über die Begehung einer Straftat durch die juristische Person selbst zu begründen.
III. Zur Konstruktion und zur Problematik einer eigenständigen Straftat (Strafbarkeit) der juristischen Person Versuche, so etwas wie eine eigene Straftat der juristischen Person – mit eigenem Unrecht und eigener Schuld der juristischen Person – zu konstruieren, hat es in der 38
Siehe zur Ratio des § 30 OWiG und zur Problematik näher Rogall, in: Senge u. a. (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 3. Aufl. 2006, § 30 Rn. 1 ff. und Engelhart (Fn. 3), S. 373 ff. 39 Dazu eingehend Engelhart (Fn. 3), S. 337 ff. m.w.N.
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jüngsten Vergangenheit in Deutschland und insbesondere auch in der spanischsprachigen Literatur mehrfach gegeben.40 Zwar mögen solche Versuche auf den ersten Blick eher noch weniger erfolgversprechend erscheinen als die Versuche, die Strafbarkeit juristischer Personen über Zurechnungsmodelle zu fundieren. Denn anders als die Zurechnungslösungen werden die Bemühungen, eine eigene Straftat der juristischen Person aufzuweisen, ja offenbar schon von den traditionellen Einwänden, die juristische Person könne nicht (in strafrechtlich relevanter Weise) handeln, sie sei weder handlungs- noch schuldfähig, voll getroffen. Indessen sollte man die denkbaren und entworfenen Konstruktionen nicht verwerfen, bevor man sich mit ihnen eingehend befasst hat. Dies umso mehr, als ja keineswegs ausgeschlossen ist, dass die Durchschlagskraft der traditionellen Argumente gegen eine Strafbarkeit der juristischen Person überschätzt wird. 1. Grundpfeiler einer eigenen Straftat der juristischen Person a) Eine solche Überschätzung liegt – zumindest auf den ersten Blick – in der Tat nahe, soweit es um das Erfordernis einer Handlung bzw. eines strafrechtlich relevanten Verhaltens geht. Der zum Teil erhobene Einwand, die juristische Person könne noch nicht einmal wirklich handeln, weil sie nicht in der Lage sei, eine Kausalkette (steuernd) in Gang zu setzen,41 mag zwar der Annahme eines Handelns i.S. eines positiven Tuns entgegenstehen und daher in einem ganz auf das positive Tun konzentrierten Strafrecht von hoher Durchschlagskraft sein. In einem Strafrecht, das als strafrechtlich relevantes Verhalten auch das Unterlassen kennt und diesem erhebliche Bedeutung beimisst, ist seine Kraft, ein strafrechtlich relevantes Verhalten der juristischen Person zu widerlegen, – zumindest auf den ersten Blick – deutlich geringer. Denn unterlassen i.S. eines Nichteingreifens in von anderen angestoßene Geschehensverläufe scheint auch die juristische Person zu können, und allein um ein Unterlassen dürfte es bei etwaigen Straftaten juristischer Personen letztlich strukturell auch gehen.42 Ganz deutlich ist dies z. B. in den Fällen, in denen die juristische Person Sicherungs- oder Produktbeobachtungs- und Rückrufpflichten treffen und die juristische Person derartige – durch ihre Organe oder Beschäftigten zu erfüllenden – Pflichten nicht erfüllt. Doch auch wenn die Organe oder Beschäftigten insoweit tätig werden, aber unzureichend vorsorgen, liegt darin aus der Perspektive der juristischen Person ein Unterlassen. Um ein solches geht es für die juristische Person 40
Vgl. etwa Heine (Fn. 3), S. 256 ff.; Hirsch (Fn. 2), passim; Lampe, ZStW 106 (1994), 683 (697 ff., 707 ff.); Engelhart (Fn. 3), S. 658 ff.; aus der spanischen Literatur zunächst Bacigalupo Saggese (Fn. 3), insbes. S. 101 ff., 351 ff.; danach vor allem Gómez-Jara Díez (Fn. 3), S. 150 ff., insbes. 201 ff., 248 ff.; ders., ZStW 119 (2007), 290 ff.; Nieto Martín (Fn. 3), S. 102 ff., 127 ff. und insbes. 145 ff.; Zugaldía Espinar (Fn. 3), S. 142 ff., 151 ff., 160 ff. 41 Vgl. die Nachweise oben Fn. 8. 42 Ebenso Tiedemann, NJW 1988, 1169 ff. (1172); Schünemann (Fn. 4), S. 265 (274 ff.); letztlich auch Engelhart (Fn. 3), S. 674; aus der spanischen Literatur Feijoo Sánchez, in: DíazMaroto y Villarejo (Hrsg.), Estudios (Fn. 11), S. 65 ff. (82).
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letztlich sogar dann, wenn Organe oder Beschäftigte des Unternehmens sich einer Straftat durch positives Tun (z. B. eines Betrugs oder einer Geldwäsche) schuldig machen: Die juristische Person als Normadressat kann hier allenfalls die sie treffende Pflicht, für die Verhinderung der Straftaten der bei ihr beschäftigten natürlichen Personen zu sorgen, verletzt haben. Indessen räumt der Rekurs auf das Unterlassen als Verhaltensform einer etwaigen Straftat der juristischen Person den Einwand mangelnder Handlungsfähigkeit dieser Person nicht vollständig aus. Denn auch von einem Unterlassen und (insbesondere) einer darin liegenden Pflichtverletzung kann man nur sprechen, wenn der, der nicht gehandelt hat, eine Handlungsalternative hatte, also die rechtlich erwartete Handlung hätte vornehmen können. Das kann die juristische Person aber nicht selbst, sondern nur über für sie handelnde natürliche Personen (ihre Organe oder die von diesen Beauftragten). Von einem pflichtwidrigen Unterlassen der juristischen Person kann man daher nur sprechen, wenn man diese (mediatisierte) Möglichkeit als für strafrechtlich relevantes Unterlassen ausreichend anerkennt.43 b) Lässt man sich darauf vorerst – probeweise – ein, so bleibt die Frage nach der Schuld der juristischen Person. Auch hier sind manche gegen die Strafbarkeit juristischer Personen traditionell erhobene Einwände nicht so gewichtig, wie sie glauben machen wollen. Das gilt etwa für das gegen die Möglichkeit einer Schuld der juristischen Person bisweilen angeführte sittliche oder sozialethische Moment der Schuld. Denn um sittliche Schuld und die Fähigkeit zu sittlicher Entscheidung geht es im Strafrecht nicht; dieses begnügt sich mit rechtlicher Schuld.44 Und die sozialethische Komponente des strafrechtlichen Schuldurteils hat nicht unbedingt mit Qualitäten des Normadressaten zu tun, sondern folgt daraus, dass die verletzten Normen sozialethisch fundiert sind – woran sich nichts ändert, wenn der Normadressat im Einzelfall eine (am Sozialleben teilnehmende) juristische Person ist. Das eigentliche Problem liegt vielmehr darin, dass Schuld im herkömmlichen Sinn untrennbar mit der Fähigkeit einer Person verknüpft erscheint, sich als Normadressat für das Recht zu entscheiden.45 Diese Fähigkeit besitzt nun zwar – jedenfalls nach herkömmlichem Verständnis – die natürliche Person;46 der juristischen Person dagegen fehlt eine solche Fähigkeit – zumindest i.S. einer eigenen (natürlichen) Fä43 In diesem Sinne z. B. Hirsch (Fn. 2), S. 10 („Form des eigenen Handelns durch einen anderen“); Kudlich (Fn. 2), S. 209 (211 f.); H.-J. Schroth (Fn. 3), S. 177 („abgeleitete Handlungsfähigkeit“); auch Engelhart (Fn. 3), S. 667 f. 44 Dazu statt Vieler Jescheck/Weigend (Fn. 8), S. 418 ff. m.w.N. 45 Vgl. etwa BGHSt 2, 194 (200); BVerfGE 128, 326 (376). 46 Auf die gegenwärtig intensiv geführte Diskussion über die berechtigte Annahme einer solchen Fähigkeit kann hier nicht näher eingegangen werden; s. dazu eingehend Frisch, Zur Zukunft des Schuldstrafrechts, 2013; teilweise vorveröffentlicht in spanischer Fassung unter Frisch, in: Cancio Meliá/Feijoo Sánchez (Hrsg.), Derecho Penal de la culpabilidad y neurociencias, 2012, S. 19 ff.
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higkeit.47 Ausgleichen lässt sich dieses Defizit nur, wenn man zur Begründung der Schuld der juristischen Person wiederum mittelbare oder vermittelte Fähigkeiten ausreichen lässt. Denn in einem mittelbaren oder übertragenen Sinn verfügt letztlich auch die juristische Person über die Fähigkeit zur Normbefolgung: So wie sie ihre Verpflichtungen durch ihre Organe (und die von diesen eingesetzten Personen) erfüllen kann und erfüllt, so ist sie über die Normbefolgungsfähigkeit ihrer Organe auch fähig, Recht von Unrecht zu unterscheiden und sich bei ihrem Verhalten am Recht zu orientieren. Nur weil das so ist, weil also eine (mittelbare) Gewähr für die Einhaltung des Rechts auch bei der juristischen Person besteht, kann man dieser ja auch Rechte zuerkennen, bei deren Wahrnehmung es zur Beeinträchtigung fremder Güter kommen kann (oder die eine solche Beeinträchtigung faktisch ermöglichen). Es liegt aus normativen Gründen nahe, diesen für die Anerkennung juristischer Personen und die Zulassung ihrer Tätigkeit bedeutsamen Sachverhalt auch bei der Frage zu berücksichtigen, ob und inwieweit juristische Personen für die zu Güterbeeinträchtigungen führende Nichterfüllung von Pflichten verantwortlich gemacht, getadelt oder mit einer strafenden Sanktion belegt werden dürfen.48 Bei Berücksichtigung dessen wäre ein Tadel zwar unangebracht und ungerecht, soweit die juristische Person das von der (strafrechtlich bewehrten) Norm abweichende Verhalten mit Hilfe der bei ihrer Anerkennung vorausgesetzten, für die Normeinhaltung zuständigen (und hierzu prinzipiell fähigen) Instanzen, also ihrer natürlichen Organwalter, nicht vermeiden konnte.49 Dagegen erschiene es naheliegend, die juristische Person für die Nichterfüllung der sie treffenden Pflichten (z. B. einer Verkehrssicherungsoder einer Rückrufpflicht) zu tadeln und zu strafen, wenn die zuständigen Organe das der juristischen Person vom Recht Abverlangte hätten erkennen und damit für rechtskonformes Verhalten (Pflichterfüllung) der juristischen Person hätten sorgen können. Der Vorwurf, der der juristischen Person in diesem Fall gemacht würde, wäre freilich komplexer als der gegenüber der natürlichen Person erhobene: Der juristischen Person würde vorgeworfen, ihre rechtlichen Pflichten nicht erfüllt zu haben, obwohl ihr das vermöge ihrer für die Normbefolgung zuständigen Organe möglich gewesen wäre. Allerdings wäre auch dieser Vorwurf in gewissen Fällen 47
So schon Jescheck, ZStW 65 (1953), 210 (213); Schünemann (Fn. 4), S. 265 (282); in der Sache übereinstimmend Jakobs, FS Lüderssen, S. 559 (568 f.): „Fehlen der Fähigkeit einer Stellungnahme zur Norm“. 48 Auf dieser Linie z. B. H.-J. Schroth (Fn. 3), S. 202; Hirsch (Fn. 2), S. 14 („Willensfreiheit und Selbstbestimmung“ durch die für den Personenverband handelnden Menschen); Kudlich (Fn. 2), S. 209 (213 f.); Engelhart (Fn. 3), S. 672 f. – Ob demgegenüber der vor allem von Gómez-Jara Díez (s. insbes. [Fn. 3], S. 201 ff. und ZStW 119 [2007], 290 ff.) zur Begründung schuldhaften Unrechts in die Diskussion eingebrachte Gedanke des Unternehmens als autopoietisches System eine überzeugende oder auch nur konstruktiv transparente Begründung des Unrechts und der Schuld der juristischen Person ermöglicht, erscheint mir zweifelhaft (zur Kritik vgl. z. B. Robles Planas, La Ley N8 7705, 2011, 1 [2 ff.] = [deutsche Übersetzung] ZIS 2012, 347 [349]; Schünemann, FS Tiedemann, S. 429 [437 f.]). S. erg. noch unten 3. 49 In diesem Sinne ausdrücklich auch Hirsch (Fn. 2), S. 26; auf der Basis seiner inzwischen aufgegebenen Auffassung wohl auch Jakobs (Fn. 13), 6. Abschnitt, Rn. 45.
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nur möglich, wenn man die vermittelte Normbefolgungsfähigkeit der juristischen Person extensional mit der entsprechenden Fähigkeit ihrer Organe selbst gleichsetzt, also deliktische Festlegungen der Organe – aus normativen Gründen – nicht als Fortfall oder Beeinträchtigung der Normbefolgungsfähigkeit der juristischen Person anerkennt (was sie rein faktisch freilich sind).50 c) Das verschuldete Unrecht, für das die juristische Person auf der Basis dieser Grundannahmen zum strafrechtlich relevanten Verhalten (Unterlassen) und zur Schuld der juristischen Person verantwortlich gemacht werden könnte, wäre nicht die Straftat selbst, die von einem ihrer Beschäftigten begangen worden ist – auch nicht, wenn die Straftat, z. B. ein Betrug oder eine Geldwäsche, von einem ihrer Organe verwirklicht worden ist. Als eigenes Unrecht vorgeworfen werden könnte der juristischen Person allein, dass sie in ihrem Bereich (durch ihre Organe) nicht die Vorkehrungen getroffen hat, die von einer juristischen Person rechtlich erwartet werden, um Straftaten im Zusammenhang mit ihrer Betätigung zu verhindern – und dass es dadurch zu solchen Straftaten gekommen ist.51 Zu diesen rechtlich erwarteten Vorkehrungen gehören z. B. nicht nur Organisationsstrukturen und Richtlinien, die die Nichtbeeinträchtigung fremder Güter gewährleisten, sowie Anforderungen an die Auswahl und Überwachung des Personals.52 Auch in Bezug auf die Organe selbst, durch die die juristische Person ihre Pflichten zu erfüllen hat, ist zu gewährleisten, dass es nicht zu Straftaten bzw. zu den schon erwähnten faktischen Beeinträchtigungen der Normbefolgungsfähigkeit kommt. Hierzu bedarf es nicht nur sachgerechter Kontrollen bei der Auswahl der agierenden Organe, entsprechender Überprüfungen und der Statuierung von Darlegungs- und 50 In der Sache geschieht das auch seitens jener Vertreter eines eigenen verschuldeten Unrechts der juristischen Person, die gegenüber derartigen Festlegungen über Figuren wie die „actio libera in causa“ (Tiedemann, NJW 1988, 1169 [1172 f.]; s. auch Heine [Fn. 3], S. 265 f., 288), eine Art „Charakterschuld“ (Lampe, ZStW 106 [1994], 683 [722 ff.]) oder eine „Betriebsführungsschuld“ (Heine [Fn. 3], S. 166 ff.) zu einer Straftat der juristischen Person zu gelangen versuchen. 51 I.S. einer solchen mangelhaften (die begangene Straftat der natürlichen Person ermöglichenden) Organisation oder Ausdifferenzierung als entscheidendem Fehlverhalten der juristischen Person z. B. Tiedemann, NJW 1988, 1169 (1172); Heine (Fn. 3), S. 256 ff., ders., ÖJZ 55 (2000), 871 (880); Engelhart (Fn. 3), S. 673; Hernández Basualto, Polít. crim. Vol. 5 (Julio 2010), Art. 5, 207 ff. (216 ff.); Nieto Martín (Fn. 3), S. 145 ff., 160, 332 f.; Gómez-Jara Díez (Fn. 3), S. 201 ff., 248 ff.; ders., ZStW 119 (2007), 290 (322 ff.); gegen eine solche Sicht aber wohl Carbonell Mateu, ZStW 123 (2011), 331 (338 f. und mehrfach). – Nicht überzeugend ist es freilich, wenn die an den Organisationsmangel anknüpfenden Autoren in diesem Mangel die Schuld der juristischen Person sehen (z. B. Tiedemann, a.a.O.; Gómez-Jara Díez, a.a.O.). Denn worin sollte dann das (insbesondere eigene) Unrecht der juristischen Person liegen? Bei Annahme der Möglichkeit einer eigenen Straftat der juristischen Person würde das (die Straftat ermöglichende) Organisationsdefizit der juristischen Person vielmehr deren spezifisches Unrecht bezeichnen (so zutreffend Feijoo Sánchez, in: Díaz-Maroto y Villarejo [Hrsg.], Estudios (Fn. 11), S. 65 [83 ff., 104 ff.] mit Ausführungen zur Schuld S. 106 ff.). 52 Vgl. dazu auch Theile, ZIS 9 (2008), 406 ff.; Heine (Fn. 3), S. 265 f., 281 f., 283 ff.; krit. Hefendehl, JZ 2006, 119 ff.
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Beratungspflichten, sondern auch prozeduraler Sicherungen, qualifizierter Mehrheitserfordernisse bei möglicherweise rechtlich problematischen Entscheidungen usw. Sachlich läge das der juristischen Person damit möglicherweise als eigenes Unrecht anlastbare Verhalten dabei nicht nur vor, wenn die je geforderten Vorkehrungen ganz unterblieben oder unzureichend getroffen worden sind. Auch Fehlentwicklungen und die Schaffung von Strukturen, die die Begehung von Straftaten erleichtern oder sogar dazu anreizen,53 würden sich normativ als Nichterfüllung des rechtlich Erwarteten darstellen – sie wären nur ein besonders qualifizierter Fall solchen Unrechts. Andererseits würde es an solchem eigenen Unrecht der juristischen Person fehlen, wenn diese über ihre Organe all das getan hat, was von ihr zur Vermeidung von Straftaten auf ihrem Tätigkeitsfeld zutreffenderweise zu fordern ist. Das gilt auch dann, wenn es sich um die Straftat einer als Organ zu qualifizierenden natürlichen Person handelt, die durch die rechtlich geforderten Vorkehrungen nicht zu verhindern war.54 Hier liegt eine zutreffende (Folge-)Einsicht jener gesetzlichen Lösungen, die die Einrichtung angemessener Compliance-Programme i.S. eines Ausschlusses der Strafbarkeit der juristischen Person berücksichtigen.55 Zugleich unterscheidet sich ein um die Erfassung des eigenen vorwerfbaren Unrechts der juristischen Person bemühter Ansatz hier von jenen Lösungen, die der juristischen Person die Straftat der natürlichen Person einfach direkt zurechnen oder sie für diese nach den Grundsätzen der vicarious oder strict liability stets einstehen lassen.56 Ein weiterer wesentlicher Unterschied zu den Zurechnungslösungen liegt im Inhalt des Vorwurfs und der Bestrafung. Der juristischen Person würde auf der Basis des vorstehend Gesagten nicht einfach die Tat vorgeworfen, die die natürliche Person (als Organ) begangen hat und die ihr nach den Zurechnungslösungen zugerechnet wird, z. B. ein Betrug oder eine Geldwäsche. Das ihr etwa vorwerfbare Unrecht erschöpfte sich vielmehr in den zuletzt genannten Fällen darin, durch unzureichende Vorkehrungen eine Straftat ermöglicht oder nicht verhindert zu haben, die sich bei 53
S. dazu Heine (Fn. 3), S. 256 ff., 265 f.; ders., ÖJZ 55 (2000), 871 (880); Schünemann, Unternehmenskriminalität (Fn. 3), S. 22, 253; Engelhart (Fn. 3), S. 673: „defizitäres Unternehmensklima“; Carbonell Mateu, ZStW 123 (2011), 331 (338 f.): „Perfekt organisierte Strukturen, um durch die Begehung von Delikten Vorteile zu erlangen …“. 54 Vgl. auch (im Kontext außerstrafrechtlicher Sanktionen) Robles Planas, La Ley N8 7705, 2011, 1 (6) = (deutsche Übersetzung) ZIS 2012, 347 (355); (im Kontext strafrechtlicher Sanktionen) Gómez-Jara Díez, ZStW 119 (2007), 290 (322); s. auch Dannecker, GA 2001, 101 (112). 55 Vgl. dazu näher Engelhart (Fn. 3), S. 595, 655 f.; Nieto Martin, in: Kuhlen u. a. (Hrsg.), Compliance (Fn. 2), S. 27 (36 ff.); Hernández Basualto, Polít. crim. Vol. 5 (Julio 2010), Art. 5, 207 ff. (218 f.); s. ferner z. B. Gómez-Jara Díez (Fn. 3), S. 75, 248 ff.; Nieto Martín (Fn. 3), S. 148 f.; Feijoo Sánchez, in: Díaz-Maroto y Villarejo (Hrsg.), Estudios (Fn. 11), S. 65 (68 ff.). 56 Vgl. dazu z. B. Brickey, Corporate Criminal Liability, 3 vols. (2nd ed.) USA 1992 – 1994, Bd. 1, S. 172 f.; Ehrhardt (Fn. 4), S. 92 ff.; Engelhart (Fn. 3), S. 64 f., 66 ff. m.w.N.; Heine (Fn. 3), S. 871 (876 f.).
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Wahrnehmung der von ihr zu erbringenden Maßnahmen hätte verhindern lassen. Das ist der Sache nach sekundäres, akzessorisches Unrecht, das strukturell am ehesten dem Unrecht der Teilnahme, vielleicht auch des täterschaftlichen Unterlassens entspricht.57 De lege lata würde es sich im Bereich der meist verhaltensgebundenen Vermögensdelikte regelmäßig nur über die Teilnahme und hier vor allem die Beihilfe fassen lassen; eine Unterlassungstäterschaft käme, wenn überhaupt, allenfalls in Bezug auf einige Allgemeindelikte in Betracht. d) Die vorstehenden Bemerkungen vermitteln ein ungefähres Bild von dem, was im Bereich der juristischen Person als eigene Straftat der juristischen Person in Betracht kommen könnte. Natürlich ist das Bild nicht vollständig. Vor allem die subjektive Tatseite und hier wieder insbesondere die Anforderungen an den Vorsatz (wessen Vorsatz ist erforderlich bzw. genügend?) bedürften weiterer Konkretisierung. Sich diesen Fragen zuzuwenden, ist indessen erst sinnvoll, wenn das, was bisher im Groben als etwaige eigene, die Bestrafung der juristischen Person möglicherweise legitimierende Straftat skizziert wurde, wirklich dazu taugt, der juristischen Person selbst einen die Verhängung von Strafe rechtfertigenden Vorwurf zu machen. Eben das wird man bezweifeln müssen. 2. Kritische Überlegungen zur Konstruktion einer eigenen Straftat der juristischen Person: Verschleierte objektive Zurechnungen Die Konstruktion einer eigenen Straftat der juristischen Person geht nicht nur bis an die Grenzen des normativen Konstrukts und muss selbst insoweit zum Teil noch zu Fiktionen greifen,58 wenn sie über das Unterlassen der Verhinderung fremder Taten trotz mittelbarer Handlungs- und Normbefolgungsfähigkeiten eine Straftat zu belegen versucht. Die so konstruierte „eigene Straftat“ der juristischen Person ist in Wahrheit auch gar nicht so eigenständig, wie es ihre Verfechter und die gezielte Entwicklung ihrer Kategorien aus der Perspektive der juristischen Person glauben machen möchten. Auch hier wird vielmehr kräftig zugerechnet – und die juristische Person letztlich doch allein wegen des Verhaltens und der Schuld natürlicher Personen bestraft. a) Die – verdeckten – Zurechnungen beginnen im Bereich des Unrechts. Dieses ist zwar formal selbständig bestimmt: Die juristische Person hat gewisse sie treffende Pflichten (zur Abwendung bestimmter Gefahren, zum Rückruf von Produkten, zur Unterbindung von Straftaten ihrer Leitungsorgane) offenbar nicht erfüllt. Aber die Feststellung der Erfüllung oder Nichterfüllung der Pflicht ist ohne Zurechnungserwägungen letztlich nicht denkbar: Die naturalistisch handlungsunfähige juristische Person kann die etwa erforderlichen Vorkehrungen und sichernden Prozeduren gar nicht selbst schaffen; sie ist (auch) dafür auf Aktionen der für sie tätigen Personen 57 58
Siehe dazu auch schon oben II. 2. c). Vgl. oben 1. b), a.E.
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(insbesondere ihrer Organe) angewiesen. Nur wenn man der juristischen Person die entsprechenden Handlungen ihrer Organe zurechnet, lässt sich damit sagen, dass sie ihre Pflicht erfüllt hat;59 nur wenn man davon ausgeht, dass die juristische Person über Organe und sonstige natürliche Personen Pflichten erfüllen kann, ihr solches Verhalten also zugerechnet wird, kann man andererseits im Unterbleiben solcher Handlungen eine Nichterfüllung der Pflicht gerade auch durch die juristische Person sehen. Auch in einem eigenständig umschriebenen Unrecht der juristischen Person finden also Zurechnungen statt – und: wird die juristische Person, wenn man sie bestraft, damit eben doch für das Fehlverhalten Dritter (natürlicher Personen) bestraft.60 Zu zusätzlichen Zurechnungen kommt es im Rahmen der Schuld: Hier wird der juristischen Person nicht nur das normwidrige Verhalten der Organe als eigene Nichterfüllung von Pflichten zugerechnet. Unter dem Mantel einer vermittelten eigenen Normbefolgungsfähigkeit61 (und unter kontrafaktischer Ausblendung faktischer Einschränkungen und Aufhebungen der eigenen faktischen Normbefolgungsfähigkeit durch Festlegungen der Organe) wird der juristischen Person hier zugleich die Normbefolgungsfähigkeit der Organe als eigene und die zugeschriebene Nichterfüllung der Pflicht so auch als schuldhafte Nichterfüllung von Pflichten zugerechnet. Auch der Versuch, die Strafbarkeit der juristischen Personen nicht einfach im Wege der direkten Zurechnung der Straftaten natürlicher Personen zu begründen, sondern das denkbare eigenständige Unrecht und die Schuld der juristischen Person herauszuarbeiten, kommt also letztlich ohne Zurechnungserwägungen nicht aus. Die Zurechnung erfolgt nur nicht so offen und unverblümt wie in den Modellen der direkten Zurechnung (oben II.). Sie findet – verkappt – innerhalb scheinbar spezifisch auf die juristische Person zugeschnittener Unrechts- und Schuldkategorien statt. Aber das ändert nichts daran, dass der juristischen Person hier doch das schuldhafte Verhalten anderer (natürlicher) Personen zugerechnet wird – im Ergebnis nicht anders als in den Modellen direkter, unverblümter Gesamtzurechnung.62 b) Für eine solche Zurechnung fehlt es hier genauso an einer überzeugenden Begründbarkeit über spezifisch strafrechtliche Zurechnungsregeln wie bei der direkten Zurechnung. Im Grunde fehlt es – wiederum – schon an der Minimalvoraussetzung der Zurechnung fremden Verhaltens als eigene Straftat: dass dieses nämlich dem Willen dessen entspricht, dem es als eigene Tat zugerechnet werden soll. Schon das ist im Verhältnis zwischen juristischer Person und dem Verhalten ihrer Organe eine blanke Fiktion, die eines korrespondierenden naturalistischen Substrats ent59 Vielleicht nicht einmal das, vgl. Jakobs, FS Lüderssen, S. 559 (565): „Pflicht der juristischen Person wird (nur) obsolet“. 60 Ebenso Robles Planas, La Ley N8 7705, 2011, 1 (4 f.) = (deutsche Übersetzung) ZIS 2012, 347 (353). 61 Zu deren Konstruktion oben 1. b). 62 Zutreffend Robles Planas, La Ley N8 7705, 2011, 1 (3: „variante refinada“) = (deutsche Übersetzung) ZIS 2012, 347 (350); dekuvrierend Engelhart (Fn. 3), S. 672: „ist dem Unternehmen der gleiche Vorwurf der mangelnden Rechtstreue zuzuschreiben“.
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behrt. In Wahrheit ist das Einzige, was sich für eine Zurechnung anführen lässt, wieder das objektive Datum, dass die delinquierende natürliche Person in Bezug auf die juristische Person eine bestimmte Stellung innehat (und in ihrem Aufgabenbereich z. B. als Vertreter tätig oder nicht tätig geworden ist).63 Das rechtfertigt es nun zwar, gegenüber der juristischen Person wegen des Verhaltens ihres Vertreters ein Zurückbleiben hinter dem Organisationssoll festzustellen und sie deshalb mit Rechtsfolgen zu belegen, die diesen Zustand beanstanden und die Einhaltung des Organisationssolls erzwingen (oder, wenn das nicht erreichbar ist, die juristische Person auflösen).64 Für die Annahme einer eigenen Straftat der juristischen Person, also eines Verhaltens, durch das sich die juristische Person selbst für das Unrecht entschieden hat, im wahren Sinne des Wortes etwas „kann“ und deshalb schuldig gesprochen und mit Strafe getadelt werden darf, ist es jedoch (im Hinblick auf die dafür geltenden Regeln) nicht ausreichend. Zusammengefasst und zugleich i.S. einer Konsequenz: Solange man Strafe mit Vorwurf (Tadel) und Schuld, und zwar mit eigener Schuld, verbindet, geht es nicht an, Belastungen der juristischen Person wegen der Straftaten ihrer Organe (oder Beschäftigten) als Akte der Bestrafung der juristischen Person auszugeben oder zu bezeichnen.65 Es geht nicht um Akte des Strafens für eigenes schuldhaftes Unrecht der juristischen Person, sondern um Einstehenmüssen für verschuldetes Unrecht anderer. Für solches Einstehenmüssen gibt es gute Gründe.66 Sie präzise herauszuarbeiten, auf adäquate Begriffe zu bringen und die Grenzen ihrer Tragfähigkeit aufzuzeigen, ist die eigentliche Aufgabe einer überzeugenden Dogmatik des Umgangs mit juristischen Personen – der Versuch, diese Begründung über den Gedanken der Bestrafung der juristischen Personen wegen einer Straftat zu leisten, ist ein Irrweg. 3. Rettungsversuche: Das Junktim „Freiheit/Verantwortlichkeit“ und die autopoietischen Systeme Hieran vermögen auch die Ansätze nichts zu ändern, die eine Bestrafung der juristischen Person damit begründen, dass die der juristischen Person zuerkannte Freiheit mit der Verantwortlichkeit für die Folgen der beanspruchten Freiheit verbunden
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Weshalb die Kritik an der Theorie von der eigenen Schuld der juristischen Person mit Recht von einer ohne wirkliche Schuld bloß „objektiv“ begründeten Verantwortlichkeit spricht; vgl. z. B. Robles Planas, La Ley N8 7705, 2011, 1 (5) = (deutsche Übersetzung) ZIS 2012, 347 (353); Freund (Fn. 3), Vor §§ 13 ff. Rn. 150: „Fehlende eigene personale Fehlleistung“. 64 Oben II. 5. 65 Jedenfalls solange man Strafe i.S. eines gegenüber der bestraften Person ausgesprochenen Tadels wegen eines für diese (selbst) vermeidbaren eigenen Fehlverhaltens versteht! 66 Siehe oben II. 3. b) und 5.
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sei67 oder die den Charakter von Unternehmen als autopoietische Systeme zur Konstruktion einer eigenen Schuld der juristischen Person (des Unternehmens) heranziehen68. Mit Hilfe des Junktims „Inanspruchnahme von Freiheit/Verantwortlichkeit für die Folgen“ lässt sich zwar das Einstehenmüssen (auch) der juristischen Person für die durch die Freiheitsbeanspruchung (an den Gütern anderer oder an Allgemeingütern) entstandenen Folgen legitimieren – also von Schäden an den Gütern Dritter oder Gefährdungen der Normgeltung durch die Taten der Organe69. Dass die juristische Person wegen der Taten ihrer Organe oder im Zusammenhang mit diesen im Blick auf Organisationsmängel bestraft werden darf, ergibt sich daraus indessen keineswegs. Strafe ist nicht einfach Kompensation von oder Einstehenmüssen für negative Folgen der Freiheitsausübung. Sie ist nach einem in vielen Staaten verbreiteten Verständnis (vor allem) auch sozialethischer Vorwurf (Tadel) wegen eines bestimmten Verhaltens.70 Dieser Tadel ist zwar gegenüber jenen natürlichen Personen möglich, die als Organe (oder sonst Beauftragte) deliktisch gehandelt haben – ihnen kann man vorhalten, dass sie zu anderem Entscheiden und Handeln fähig waren und dies von ihnen erwartet wurde. Gegenüber Personen, die selbst nicht entschieden haben und ohne Fiktion auch gar nicht (und damit auch nicht anders) entscheiden können, ist ein in diese Richtung zielender Vorwurf oder Tadel indessen unbegründet und sinnlos. Die mangelnde Tauglichkeit, Adressat eines Tadels wegen einer vom Adressaten vermeidbaren Fehlentscheidung zu sein, lässt sich, wie gezeigt, auch durch die Konstruktion mittelbarer Fähigkeiten nicht beheben – diese laufen allesamt darauf hinaus, Personen letztlich für fremde Schuld zu tadeln.71 Die fehlende spezifische Qualität als tauglicher Adressat eines Tadels wegen einer eigenen Missachtung des Rechts erhält die juristische Person auch nicht dadurch, dass man ihr oder dem Unternehmen die Eigenschaft eines autopoietischen, selbstreferenziellen Systems zuerkennt.72 Solche Selbstreferenzialität ist, ungeachtet vor67 Vgl. etwa Gómez-Jara Díez, ZStW 119 (2007), 290 (325 f.); ders. (Fn. 3), S. 278 ff.; Bottke, wistra 1997, 241 (253). 68 Vgl. insbes. Gómez-Jara Díez, ZStW 119 (2007), 290 (302 ff., 306 ff., 327 ff.); ders. (Fn. 3), S. 115 ff., 201 ff., 248 ff. 69 Auch für sozialpsychologische Folgen des Handels der Organe in Ausübung der der juristischen Person zuerkannten Handlungsfreiheit hat diese einzustehen (übereinstimmend Jakobs, FS Lüderssen, S. 559 [571 f.]) – und taugt damit als Adressat von Sanktionen, die sich darin erschöpfen, diese Folgen zu kompensieren, wie z. B. zu diesem Zweck auferlegte Bußen oder Ausgleichszahlungen (oben II. 5.). 70 Vgl. dazu für Deutschland z. B. BGHSt 2, 194 (200); 18, 87 (94); 20, 264 (266); s. auch BVerfGE 128, 326 (376) = NJW 2011, 1931 (1937 f.); Roxin (Fn. 20), § 3 Rn. 46; eingehende weit. Nachw. bei Kühl, FS Eser, S. 149 (156 ff.). 71 Dass es darum auch bei der Verbandsstrafe und der Bestrafung juristischer Personen geht, ist – historisch überzeugend eingebettet – in der Untersuchung von Maihold (Fn. 3), S. 16 ff. und passim herausgearbeitet. 72 Wie dies z. B. Gómez-Jara Díez (Fn. 3), S. 201 ff., 248 ff.; ders., ZStW 119 (2007), 290 (302 ff., 306 ff., 327 f.); Heine (Fn. 3), S. 79 und Engelhart (Fn. 3), S. 667 f. tun.
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dergründiger Parallelen,73 als bloß soziologisches Faktum letztlich etwas durchaus anderes als die für die Erhebung eines Tadels erforderliche Fähigkeit der zu tadelnden Person, Sinngehalte zu begreifen und sich selbst für das Richtige zu entscheiden.74 Sie schließt diese Fähigkeit auch nicht etwa einfach ein – jedenfalls sind die Anhänger solcher Ansätze den Beweis dafür bislang schuldig geblieben75 (und sie haben andererseits auch nicht schlüssig belegt, dass und warum Selbstreferenzialität als solche für die Legitimation des Straftadels genügen soll76). Auch wenn man (bestimmte77) juristische Personen als selbstreferenzielle und von natürlichen Personen unabhängige Entitäten im sozialen Raum anerkennt, ändert dies deshalb nichts daran, dass nicht sie als solche, sondern nur die für sie tätig werdenden natürlichen Personen zur Umsetzung des Rechts oder zu dessen Missachtung fähig sind und für Letzteres getadelt werden können.
IV. Weitere Bedenken: Die fehlende Erforderlichkeit wirklicher Bestrafung der juristischen Person Die bisherigen Bemerkungen haben sich auf die dogmatisch-konstruktiven Bedenken konzentriert, die gegen eine eigene Strafbarkeit der juristischen Person sprechen. Es bleibt zu ergänzen, dass gegen eine Strafbarkeit der juristischen Person auch kriminalpolitische und in Deutschland möglicherweise sogar verfassungsrechtliche Bedenken bestehen – jedenfalls wenn man Strafe ausdrücklich (auch) als sozialethischen Vorwurf wegen eines Fehlverhaltens versteht, für das der Betroffene etwas kann.78 Gegenüber der juristischen Person fehlt es nicht nur an der Adäquität dieser Reaktion, sondern auch an ihrer Erforderlichkeit.79 Skizzenhaft: Was gegenüber der juristischen Person im Falle von Straftaten ihrer Organe unbedenklich angeordnet werden kann, sind Zwangs- und Beugemaßnahmen, die sie 73
Etwa auf der Ebene der Kommunikation oder der „Selbstbestimmung“ im Wege der Verarbeitung von Information usw. 74 Ebenso Jakobs, FS Lüderssen, S. 559 (570 f.); Schünemann (Fn. 3), Vor § 25 Rn. 26; Robles Planas, La Ley N8 7705, 2011, 1 (2 f.) = (deutsche Übersetzung) ZIS 2012, 347 (349). 75 Vermutlich bewusst, weil das Ziel der Ansätze ja gerade darin besteht, sich von der Sichtweise (und den Prämissen) des Individualstrafrechts zu lösen und einen gemeinsamen auf die Selbstreferenzialität gegründeten Schuldbegriff zu entwerfen. 76 Gómez-Jara Díez geht in seinen straftheoretischen Überlegungen nur auf die „Bestätigung der Normgeltung“ (ZStW 119 [2007], 290 [332]) bzw. „el restablicimiento comunicativo de la vigencia de la norma“ ein [Fn. 3], S. 298 f.). 77 Zu den insoweit zu erfüllenden Voraussetzungen Gómez-Jara Díez, ZStW 119 (2007), 290 (312 ff., insbes. 314 ff.). 78 Vgl. nochmals die Nachweise oben Fn. 70. 79 Schünemann, FS Tiedemann, S. 429 (445 f.) bezweifelt darüber hinaus schon die Geeignetheit der Strafe als Reaktion.
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zur Einhaltung der Bedingungen anhalten, unter denen allein sie akzeptiert werden kann, nämlich der straftatenfreien Erledigung ihrer Geschäfte und Aufgaben. Hierzu können nach dem Maß des Erforderlichen und in den Grenzen der Verhältnismäßigkeit auch sehr hohe Geldzahlungen auferlegt werden; wenn sie nicht ausreichen, um die von der juristischen Person ausgehenden Gefahren zu beheben, kommt als Maßnahme der Gefahrenabwehr oder -beseitigung grundsätzlich sogar die Auflösung der juristischen Person in Betracht. Es fehlt bislang jeder überzeugende Nachweis dafür, dass eine angemessene Bestrafung der Leitungsorgane der juristischen Person in Verbindung mit der Ausschöpfung dieser präventiv und repressiv wirkenden Zwangsmaßnahmen nicht ausreicht, um zu verhindern, dass juristische Personen sich zu einer Gefahrenquelle für Rechtsgüter entwickeln – so dass es deshalb des Einsatzes der Strafe bedürfte. Ebenso wenig lässt sich sagen, dass der Zugriff auf die Strafe eine bessere Lösung des Problems der von der Tätigkeit juristischer Personen ausgehenden Gefahr von Straftaten verspräche als die Bestrafung der natürlichen Person (des Leitungsorgans) in Verbindung mit der Belastung der juristischen Person mit Zwangs- und Beugemitteln, die sie zur Einhaltung der Bedingungen ihres Tätigwerdens (straftatenfreies Verhalten ihrer Organe) und des dafür notwendigen Organisationssolls drängen. Das Einzige, was die Strafe (als ein Übel) von solchen präventiv-beugend wirkenden Maßnahmen (und Übeln) unterscheidet, ist ja der sozialethische Bezug, d. h. der Tadel wegen der Verletzung sozialethisch fundierter Pflichten. Dass dieser Tadel mehr brächte, wenn er nicht nur gegenüber der deliktisch handelnden natürlichen Person (dem Leitungsorgan), sondern auch gegenüber der juristischen Person selbst erhoben würde, ist eine blanke Fiktion.80 Das gilt umso mehr, als er insoweit (von vielen) als verfehlt empfunden würde: Die sozialethisch fundierten Pflichten haben durch ihr deliktisches Handeln allein die als Leitungsorgane agierenden natürlichen Personen verletzt.81 In Richtung auf die juristische Person lässt sich nur sagen, dass sie durch das Verhalten ihrer Organe hinter ihren Zulassungsbedingungen und ihrem Organisationssoll zurückgeblieben ist und sich dafür eine Belastung gefallen lassen muss, die für die Zukunft die Einhaltung des Organisationssolls gewährleistet (und allgemein mit Nachdruck zeigt, dass die Einhaltung des Organisationssolls durchgesetzt wird). Die vorstehenden Überlegungen zeigen zugleich, dass hinter dem Streit über die (Berechtigung der) Strafbarkeit der juristischen Person zu einem erheblichen Teil auch Unterschiede im Verständnis des Begriffs der Strafe stehen dürften:82 Wer mit der Strafe nichts weiter als die Vorstellung eines (als Übel) präventiv und repressiv wirkenden Mittels versteht, wie dies vor allem in utilitaristisch geprägten Rechts80 Ebenso Iñigo Ortiz de Urbina Gimeno, in: Kuhlen u. a. (Hrsg.), Compliance (Fn. 2), S. 227 (237). 81 Zutreffend Robles Planas, La Ley N8 7705, 2011, 1 (5) = (deutsche Übersetzung) ZIS 2012, 347 (353). 82 Sachlich übereinstimmend Schünemann, FS Tiedemann, S. 429 (436). S. auch Heine (Fn. 3), S. 262 ff., der parallel dazu zwischen verschiedenen Schuldbegriffen unterscheidet.
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kulturen der Fall ist, wird in der Regel keine Bedenken dagegen haben, die Strafe auch gegenüber juristischen Personen einzusetzen.83 Dies muss nur zweckmäßig und mit Gründen fundierbar sein, die den Ansprüchen utilitaristischer Plausibilität genügen. Anders, wenn man die Strafe als Reaktion auf ein Geschehen begreift, für das der Bestrafte mit der Strafe persönlich verantwortlich gemacht und getadelt wird, weil er für dieses selbst etwas kann. Wer ein solch qualifiziertes Bild von der Strafe und ihrem Anknüpfungspunkt, der Straftat, hat (und dies vielleicht sogar verfassungsrechtlich festgeschrieben sieht84), kann in der Erstreckung der Strafbarkeit auf die zur Erfassung des Richtigen selbst nicht unmittelbar fähige juristische Person nur eine – nicht nur kriminalpolitisch, sondern auch verfassungsrechtlich bedenkliche – Verwässerung der Strafe und eine Aufweichung fundamentaler Prinzipien des Strafrechts sehen. Mit diesen skizzenhaften Bemerkungen zur Relevanz auch des Strafbegriffs für die Frage der Strafbarkeit von juristischen Personen oder Verbänden muss es hier sein Bewenden haben. Ich widme diese Überlegungen – mit den besten Wünschen zum 70. Geburtstag – Jürgen Wolter in freundschaftlicher Verbundenheit und der Hoffnung auf noch viele Jahre fruchtbarer Zusammenarbeit.
83 Das macht letztlich auch der, der von verschiedenen Schuld- und Strafbegriffen im Individualstrafrecht und beim Vorgehen gegenüber juristischen Personen spricht – wie z. B. Heine (Fn. 3), S. 262 ff. und der Sache nach auch Silva Sánchez, Die Expansion des Strafrechts, 2003, S. 47, 83, 85 ff. 84 Vgl. BVerfGE 128, 326 (376), wo Strafe und Schuld ausdrücklich mit dem im Grundgesetz „angelegten Menschenbild des zu freier Selbstbestimmung befähigten Menschen“ verknüpft werden.
Der Begriff „Verwirklichung des Tatbestandes“ in § 22 StGB Von Helmut Frister
I. Einführung Jürgen Wolter hat sich in seinem breit gefächerten wissenschaftlichen Werk mehrfach mit der Lehre vom Versuch befasst. Deshalb hoffe ich, dass ein Beitrag auf sein Interesse stoßen wird, der sich der Abgrenzung zwischen Vorbereitung und Versuch auf eine nach dem Wortlaut des Gesetzes naheliegende, aber in der Diskussion gleichwohl eher unübliche1 Weise nähert. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die These, dass die Schwierigkeiten der in § 22 StGB formulierten Abgrenzung von Versuch und Vorbereitung nicht nur auf der kaum aufzulösenden Unschärfe des Begriffs des „unmittelbaren Ansetzens“ beruhen, sondern zu einem ganz wesentlichen Teil darauf, dass der Bezugspunkt dieses Ansetzens bei der praktisch wichtigsten Gruppe der Erfolgsdelikte unklar bleibt, weil nicht präzise bestimmt wird, was das Gesetz in § 22 StGB unter „Verwirklichung des Tatbestandes“ versteht.2 Die Auslegung dieses Begriffs steht bei den Erfolgsdelikten zunächst vor der Frage, ob mit ihm nur das den Tatbestand verwirklichende Verhalten bezeichnet oder der Eintritt des tatbestandlichen Erfolges mit umfasst sein soll (dazu unter II.). Darüber hinaus stellt sich das Problem, wie das den Tatbestand verwirklichende Verhalten bei den Erfolgsdelikten zu bestimmen ist. Da auch typische Vorbereitungshandlungen in vielen Fällen für den späteren Erfolgseintritt ursächlich sind, ist bei Delikten, die die tatbestandliche Handlung nur als Verursachung eines bestimmten Erfolges beschreiben, schon die grundsätzliche Unterscheidung von Ausführungsund Vorbereitungshandlungen klärungsbedürftig (dazu unter III. 1.). Vor allem aber stellt sich bei Erfolgsdelikten die Frage, ob schon das Handeln oder erst das spätere Unterlassen den Tatbestand verwirklicht, wenn der Täter nach seiner Vorstellung von der Tat nach Abschluss der zur Herbeiführung des Erfolgs notwendigen Hand1 Ein methodisch ähnlicher Ansatz findet sich bei Murmann, Versuchsunrecht und Rücktritt (1999), S. 12 ff. 2 Weil reine Erfolgsdelikte keine bestimmte Tathandlung beschreiben, wird in der Literatur sogar bezweifelt, dass sich bei diesen Delikten dem Tatbestand über die Abgrenzung von Versuch und Vorbereitung überhaupt etwas „Deutliches entnehmen“ lasse (Roxin, Strafrecht AT Bd. 2 [2003], 29/109). Dies ist jedoch – wie ich in diesem Beitrag zu zeigen hoffe – eine zu pessimistische Einschätzung.
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lungen noch immer die Möglichkeit hat, den Erfolg sicher abzuwenden (dazu unter III. 2. u. 3.).
II. Maßgeblichkeit des tatbestandsmäßigen Verhaltens Die erste Frage wird in der Literatur nur selten explizit thematisiert. Dies mag daran liegen, dass ihre Beantwortung bereits durch den sprachlichen Zusammenhang, in dem der Begriff „Verwirklichung des Tatbestandes“ in § 22 StGB verwendet wird, vorgegeben zu sein scheint. Da man nur zur Herbeiführung, nicht aber zum Eintritt eines Erfolges „ansetzen“ kann, ist bei einer Auslegung nach dem Wortsinn unter „Verwirklichung des Tatbestandes“ in § 22 StGB nur das tatbestandsmäßige Verhalten zu verstehen. Dementsprechend interpretieren die Autoren, die die Frage explizit thematisieren, den Begriff überwiegend in diesem Sinne,3 und auch den meisten Formeln zur Abgrenzung von Vorbereitung und Versuch liegt zumindest implizit ein solches Begriffsverständnis zugrunde. Dies gilt etwa für die weit verbreitete Formulierung, ein unmittelbares Ansetzen zur Verwirklichung des Tatbestandes sei anzunehmen, sobald der Täter Handlungen vorgenommen habe, die „ohne Zwischenakte in die Tatbestandshandlung (Hervorhebung des Verf.) unmittelbar einmünden sollen“.4 1. Tendenzen zur Einbeziehung des Erfolgseintritts Im Widerspruch zu der Interpretation des Begriffs „Verwirklichung des Tatbestandes“ als tatbestandsmäßiges Verhalten nehmen Rechtsprechung und Literatur jedoch bei mittelbaren, zeitlich gestreckten Kausalverläufen zum Teil selbst dann kein unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung an, wenn der Täter sein auf die Herbeiführung des Erfolges gerichtetes Verhalten schon vollständig vorgenommen hat. Das Paradebeispiel für derartige Fallkonstellationen ist die mittelbare Täterschaft, bei der die Frage als Streit über die für den Versuchsbeginn maßgebliche Handlung5 diskutiert wird. Die Rechtsprechung lässt das Verhalten des mittelbaren Täters nur dann für den Versuchsbeginn ausreichen, wenn schon zum Zeitpunkt der Vornahme dieses Verhaltens das geschützte Rechtsgut nach der Vorstellung des Täters unmittelbar gefährdet ist.6 Dies setze voraus, dass der mittelbare Täter bei der Entlassung des Tatmittlers aus seinem Herrschaftsbereich in der Vorstellung handele, dieser werde die Tat nunmehr „in unmittelbarem Anschluss“7 ausführen. Wenn der Tatmittler erst nach einer „gewissen Zeitspanne oder zu einem bestimmten späteren 3
Vgl. etwa Kühl, Strafrecht AT (7. Aufl. 2012), 15/46; Murmann, Grundkurs Strafrecht (2011), 28/34 mit Fn. 128; Frister, Strafrecht AT (5. Aufl. 2011), Kap. 23 Rn. 28; explizit a.A. dagegen LK/Hillenkamp (12. Aufl. 2006), § 22 Rn. 96 f. 4 Fischer, Strafgesetzbuch (60. Aufl. 2013), § 22 Rn. 10 mit zahlreichen Nachweisen. 5 Vgl. zu diesem Streit etwa die Darstellung bei Roxin (Fn. 2), 29/226 ff. 6 BGHSt 4, 370 (373); 30, 363 (365); 40, 257 (268); 43, 177 (180) m.w.N. 7 So die Formulierung in BGHSt 30, 363 (365).
Der Begriff „Verwirklichung des Tatbestandes“ in § 22 StGB
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Zeitpunkt“8 tätig werden solle, beginne der Versuch erst, wenn der Tatmittler seinerseits zur Tat unmittelbar ansetze. Diese für die mittelbare Täterschaft entwickelten Grundsätze hat der Bundesgerichtshof auch auf Fälle übertragen, in denen der Eintritt des tatbestandlichen Erfolges von einer Mitwirkungshandlung des Opfers abhängt.9 Auch hier liege ein Versuch erst vor, wenn nach dem Tatplan eine konkrete, unmittelbare Gefährdung des geschützten Rechtsguts eintritt. Sei der Täter nicht sicher, ob das Opfer eine noch notwendige Mitwirkungshandlung vornehmen werde,10 so beginne der Versuch deshalb erst, wenn das Opfer am Ort des Geschehens erscheine und Anstalten treffe, die erwartete selbstschädigende Handlung vorzunehmen. Dem Einwand, dass damit – entgegen § 22 StGB – nicht mehr der Täter, sondern das Opfer zur Tat ansetze, begegnet der Bundesgerichtshof mit dem Hinweis, dass es ohne die Mitwirkung des Opfers nicht an dem Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung, sondern an der für einen Versuch ebenfalls zu fordernden „Unmittelbarkeit des Angriffs“ fehle.11 Mit der Aufnahme des Merkmals der Unmittelbarkeit habe sich der Gesetzgeber dazu bekannt, dass die Strafbarkeit des Versuchs erst einsetze, wenn das geschützte Rechtsgut nach dem Tatplan des Täters unmittelbar gefährdet sei.12 Die Rechtsprechung hat von Anfang an betont, dass sie ihre Grundsätze zum Versuchsbeginn bei der mittelbaren Täterschaft nicht aus strukturellen Besonderheiten gegenüber der unmittelbaren Täterschaft, sondern aus den allgemeinen Regeln über die Abgrenzung von Vorbereitung und Versuch ableite.13 Dementsprechend stellt der Bundesgerichtshof auch bei der Übertragung dieser Grundsätze auf die Fälle notwendiger Opfermitwirkung zwar die Parallele zur mittelbaren Täterschaft heraus, argumentiert aber letztlich mit Überlegungen, die für mittelbare und unmittelbare Täterschaft in gleicher Weise Geltung beanspruchen. Im Ergebnis leitet er aus dem Merkmal „unmittelbar“ das Erfordernis eines zumindest nach der Vorstellung des Täters eintretenden Gefährdungserfolgs ab. Der Versuch eines Erfolgsdelikts setze mehr als das (unmittelbare) Ansetzen zum tatbestandsmäßigen Verhalten voraus. Er beginne erst, wenn nach der Vorstellung des Täters aufgrund seines Verhaltens die Tatbestandsverwirklichung unmittelbar bevorstehe.
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So die Formulierung in BGHSt 40, 257 (269). BGHSt 43, 177 (180 ff.). 10 Auffällig ist, dass der Bundesgerichtshof der zeitlichen Nähe des Opferverhaltens hier keine Bedeutung zuzumessen scheint. Wenn der Täter sicher ist, dass sein Opfer die notwendige Mitwirkungshandlung vornehmen wird, soll der Versuch offenbar auch dann bereits mit dem Abschluss des Täterverhaltens beginnen, wenn die Mitwirkungshandlung des Opfers nach dem Tatplan nicht in unmittelbarem Anschluss, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen soll (BGHSt 43, 177 [180 f.]). Mit den zu den klassischen Fällen der mittelbaren Täterschaft entwickelten Grundsätzen der Rechtsprechung wäre dies schwerlich vereinbar. 11 BGHSt 43, 177 (182). 12 BGHSt 43, 177 (181). 13 BGHSt 4, 370 (373); 40, 257 (268). 9
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Der dieser Rechtsprechung zugrundeliegende Gedanke ist von Herzberg verallgemeinert und auf die Formel gebracht worden, dass nicht nur das vollendete, sondern auch das versuchte Erfolgsdelikt den Eintritt eines von dem tatbestandlichen Verhalten abzuhebenden tatbestandlichen Erfolgs voraussetze.14 Versuchsverhalten sei das Ansetzen zum tatbestandlichen Verhalten, Versuchserfolg die unmittelbare Gefahr der Verwirklichung dieses Tatbestands.15 Gemäß § 22 StGB sei das Vorliegen beider Voraussetzungen nach der Vorstellung des Täters zu beurteilen, so dass ein Versuch vorliege, sobald der Täter nach seiner Vorstellung von der Tat durch das Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung eine unmittelbare Gefahr der Tatbestandsverwirklichung verursacht habe.16 Solange es nach seiner Vorstellung noch nicht zu einer solch unmittelbaren Gefährdung gekommen sei, liege noch kein Versuch vor. Selbst die komplette Vornahme des tatbestandlichen Verhaltens reiche beim versuchten Erfolgsdelikt zur Erfüllung der Voraussetzungen des § 22 StGB nicht aus.17 2. Kritik an einer Einbeziehung des Erfolgseintritts a) Der entgegenstehende Wortlaut des § 22 StGB Die Abschichtung eines vom Versuchsverhalten zu unterscheidenden Versuchserfolgs formuliert die der dargestellten Rechtsprechung zugrundeliegenden Überlegungen konsequent aus und gibt damit dieser Rechtsprechung eine allgemeine dogmatische Form. Dies ändert aber nichts daran, dass das Erfordernis eines derartigen Versuchserfolgs – wie eingangs bereits angedeutet – mit dem Wortlaut des Gesetzes schwerlich vereinbar ist. § 22 StGB spricht weder von einem „unmittelbaren Angriff“ noch von einer „unmittelbaren Gefahr“ oder von einem „unmittelbaren Bevorstehen“, sondern von einem „unmittelbaren Ansetzen“ zur Tatbestandsverwirklichung.18 Das Wort „unmittelbar“ ist also ein Adverb, das grammatikalisch keinen von dem tatbestandlichen Verhalten abzuhebenden Gefährdungserfolg beschreibt, sondern zur Beschreibung des für einen Versuch erforderlichen Verhaltens gehört. Es bringt zum Ausdruck, dass der Versuch erst mit Verhaltensweisen beginnt, die nach der Vorstellung des Täters dem tatbestandlichen Verhalten unmittelbar vorgelagert sind.19 Herzberg selbst führt aus, dass das Wort „unmittelbar“ „streng grammatikalisch betrachtet“ in diesem Sinne zu verstehen sei, wendet gegen dieses Verständnis jedoch ein, dass das Merkmal der Unmittelbarkeit damit einer eigenständigen Bedeutung 14 Herzberg, in: FS Roxin (2001), S. 749 (761 f.); Herzberg/Putzke, in: FS Szwarc (2009), S. 205 (218). 15 Herzberg (Fn. 14), S. 749 (763 ff.); ders./Putzke (Fn. 14), S. 205 (218). 16 Herzberg (Fn. 14), S. 749 (763 ff.); ders./Putzke (Fn. 14), S. 205 (220). 17 Herzberg, in: FS Roxin (2001), S. 749 (766); ders./Putzke (Fn. 14), S. 205 (220). 18 Vgl. dazu bereits Roxin, in: FS Maurach (1972), S. 213 ff.; Streng, ZStW 109 (1997), S. 862 (876); ders. GS Zipf (1999), S. 325 (333 u. 336). 19 Frister (Fn. 3), Kap. 23 Rn. 36.
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beraubt würde. Die Notwendigkeit der Annäherung an das tatbestandsmäßige Verhalten komme bereits im Begriff des Ansetzens selbst zum Ausdruck, so dass „unmittelbar ansetzen“ ein Pleonasmus sei. Man dürfe unterstellen, dass der Gesetzgeber nichts Überflüssiges sage und deshalb davon ausgehen, dass er nicht die Unmittelbarkeit des Ansetzens, sondern das „unmittelbare Bevorstehen der Tatbestandsverwirklichung“ gemeint habe.20 Jedoch ist die Phase des Ansetzens zu einer Handlung durch den allgemeinen Sprachgebrauch nicht so präzise abgegrenzt, dass der Zusatz „unmittelbar“ keine begrenzende Funktion mehr haben könnte. Durch diesen Zusatz wird zumindest klargestellt, dass das Gesetz die Phase des Ansetzens eng verstanden wissen will, so dass das Merkmal „unmittelbar“ auch bei grammatikalisch korrektem Verständnis eine sinnvolle Funktion behält. Deshalb spricht der Wortlaut des § 22 StGB dagegen, neben dem unmittelbaren Ansetzen zum tatbestandsmäßigen Verhalten auch ein unmittelbares Bevorstehen des Erfolgseintritts zu verlangen. b) Unvereinbarkeit mit dem Grundgedanken der Versuchsstrafbarkeit Ungeachtet dessen könnte das Erfordernis eines unmittelbar bevorstehenden Erfolgseintritts aus dem Grundgedanken der Versuchsstrafbarkeit21 abzuleiten sein. Eine solche Ableitung wäre ohne konstruktive Probleme möglich, wenn § 22 StGB nur den tauglichen Versuch mit Strafe bedrohen, dem Gesetz also eine rein objektive Versuchsauffassung zugrunde liegen würde. Eine objektive Versuchsauffassung kann ohne innere Widersprüche annehmen, dass selbst die komplette Vornahme des tatbestandlichen Verhaltens erst dann das Unrecht des Versuchs begründet, wenn sich der Verstoß gegen die Verhaltensnorm in einem bestimmten, durch diese Norm zu vermeidenden objektiven Geschehen manifestiert hat. Zwar kann dieses objektive Geschehen beim Versuch nicht schon der tatbestandliche Erfolg selbst, wohl aber die konkrete Gefahr seines Eintritts sein, so dass eine objektive Versuchstheorie den Versuch ohne innere Widersprüche als ein konkretes Gefährdungsdelikt22 verstehen kann, bei dem der notwendige Gefahrerfolg erst eintritt, wenn die Verwirklichung des objektiven Tatbestands des vollendeten Delikts unmittelbar bevorsteht. Der gesetzlichen Regelung des Versuchs liegt jedoch bekanntermaßen gerade keine rein objektive Versuchsauffassung zugrunde. Sowohl mit der in § 22 StGB enthaltenen Formulierung „nach seiner Vorstellung von der Tat“ als auch mit der Regelung des § 23 Abs. 3 StGB bringt das Gesetz zum Ausdruck, dass der untaugliche Versuch im Grundsatz strafbar sein soll, so dass eine objektive Gefahr der Tatbe-
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MK/Herzberg (1. Aufl. 2003), § 22 Rn. 145. Vgl. für eine ausführliche Darstellung der verschiedenen Theorien zum Strafgrund des Versuchs Roxin (Fn. 2), 29/9 ff. 22 Vgl. für eine explizite Einordnung des Versuchs als konkretes Gefährdungsdelikts etwa MK/Herzberg (Fn. 20), § 22 Rn. 143. 21
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standsverwirklichung de lege lata zwar als bedeutsamer,23 aber nicht als notwendiger Teil des Versuchsunrechts begriffen werden kann.24 Deshalb wollen – wie oben dargestellt – sowohl die Rechtsprechung als auch Herzberg das Vorliegen des über das unmittelbare Ansetzen zum tatbestandsmäßigen Verhalten hinaus geforderten Versuchserfolgs auch nicht objektiv, sondern auf der Grundlage der Vorstellung des Täters beurteilen. Dem liegt die Annahme zugrunde, eine subjektive Versuchsbestimmung könne im Prinzip genau wie eine objektive den Versuch als ein konkretes Gefährdungsdelikt verstehen, sofern sie nur den zu verursachenden Gefahrerfolg ebenfalls subjektiv bestimmt, es also ausreichen lässt, dass die Verwirklichung des objektiven Tatbestands des vollendeten Delikts nach der Vorstellung des Täters unmittelbar bevorsteht. Diese sowohl in der Rechtsprechung als auch bei Herzberg als selbstverständlich vorausgesetzte Annahme hält jedoch der kritischen Überprüfung nicht stand. Da nur das Handlungsunrecht subjektiv geprägt ist und dieses mit dem Abschluss des tatbestandlichen Verhaltens bereits vollständig vorliegt,25 muss eine subjektive Bestimmung des Versuchs die komplette Vornahme dieses Verhaltens für das Unrecht des Versuchs notwendigerweise als ausreichend erachten. Dementsprechend kann sie die grundsätzliche Straflosigkeit von Vorbereitungshandlungen nur darauf zurückführen, dass es vor Versuchsbeginn noch an einem strafwürdigen Verstoß gegen die Verhaltensnorm fehlt,26 nicht aber damit erklären, dass sich ein bereits kompletter Verhaltensnormverstoß im weiteren Ablauf des Geschehens nach der Vorstellung des Täters noch nicht hinreichend manifestiert hat. Ob und inwieweit sich das weitere Geschehen entsprechend den Vorstellungen des Täters entwickelt, ist nur für die Zurechnung objektiv eingetretener Unrechtsfolgen,27 nicht aber für das Gewicht des subjektiven Unrechts von Bedeutung. Dies wird anhand des keine objektive Unrechtskomponente enthaltenden untauglichen Versuchs besonders deutlich. Als Beispiel stelle man sich vor, dass der Täter sein Opfer mit einem objektiv völlig harmlosen Erreger infiziert, der nach seiner Vorstellung bei Begehung der Tat drei Monate später unabwendbar28 zum Ausbruch 23 Dazu noch immer grundlegend Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem (1981), S. 109 ff. 24 Roxin (Fn. 2), 29/12. 25 Vgl. Wolter (Fn. 23), S. 173 f. 26 Vgl. dazu etwa Struensee, GS Armin Kaufmann (1989), S. 523 ff.; Stein, GA 2010, 129 ff. 27 Vgl. etwa Wolter (Fn. 23), S. 119 ff.; Frister (Fn. 3), Kap. 11 Rn. 43 ff. beide m.w.N. 28 Die Unabwendbarkeit ist notwendig, um die Frage eines von dem tatbestandlichen Verhalten abzuhebenden Versuchserfolgs nicht mit dem Problem der Bestimmung des tatbestandlichen Verhaltens selbst zu vermengen. Ob und inwieweit eine nach der Vornahme der Handlung noch bestehende Erfolgsabwendungsmöglichkeit der Annahme eines Versuchs entgegensteht, hängt nicht von der Anerkennung eines von dem tatbestandlichen Verhalten abzuschichtenden Versuchserfolgs, sondern von der unter III. 2. und 3. zu erörternden Frage ab, ob in solchen Fällen schon die Handlung oder erst das nachfolgende Unterlassen der
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einer tödlichen Krankheit führen wird. Wenn nach Ablauf der drei Monate der Tod des Opfers nach dieser Vorstellung unmittelbar bevorsteht, erhöht sich weder der nicht vorhandene objektive noch der subjektive Unrechtsgehalt der Tat. Letzterer erschöpft sich darin, dass der Täter sein Opfer mit dem nach seiner Vorstellung tödlichen Erreger infiziert hat, und besteht unabhängig davon, ob sich die Vorstellung des Täters nur wegen der Harmlosigkeit des Erregers oder im weiteren Verlauf des Geschehens bereits aus anderen Gründen nicht realisiert. Ob das Opfer vor Ablauf der drei Monate bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt oder den Ablauf der drei Monate wegen der Harmlosigkeit des Erregers bei bester Gesundheit erlebt, ist für das subjektive Unrecht des untauglichen Versuchs ohne Bedeutung. Wenn aber das Erfordernis eines über das unmittelbare Ansetzen zum tatbestandlichen Verhalten hinausgehenden Versuchserfolgs beim untauglichen Versuch keinen Sinn ergibt, dann kann ein solcher Versuchserfolg im Ergebnis auch für den tauglichen Versuch nicht verlangt werden. Wandelt man das oben gebildete Beispiel dahingehend ab, dass der Erreger objektiv tödliche Wirkung haben kann, so kommt es zwar für das Unrecht der Tat durchaus darauf an, ob das Opfer schon vor Ablauf der drei Monate bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist oder nach Ausbruch der Krankheit mit dem Tode ringt. Aber die im zweiten Fall aus dem eingetretenen Gefahrerfolg resultierende Steigerung des objektiven Unrechtsgehalts der Tat29 kann für deren Strafbarkeit schon deshalb nicht konstitutiv sein, weil der Versuch sogar dann strafbar ist, wenn der Erreger völlig harmlos ist und der Versuch damit gar keinen objektiven Unrechtsgehalt hat. Stirbt das Opfer in dem gebildeten Beispiel vor Ablauf der drei Monate bei einem Verkehrsunfall, so wäre es völlig widersinnig, den Täter zu bestrafen, wenn der Versuch untauglich, also der Erreger objektiv harmlos war, nicht aber, wenn er tauglich, also der Erreger objektiv gefährlich war. 3. Zwischenergebnis und Konsequenzen für die mittelbare Täterschaft Im Ergebnis ist es deshalb mit der Wertentscheidung des Gesetzes für die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs generell nicht zu vereinbaren, für den Versuchsbeginn den Eintritt eines von dem tatbestandsmäßigen Verhalten abzuhebenden Versuchserfolgs zu verlangen. Da die fiktive Realisierung einer nur nach der Vorstellung des Täters bestehenden Gefahr für den objektiven und subjektiven Unrechtsgehalt einer Straftat ohne Bedeutung ist, kann der Versuch nach geltendem Recht auch dann nicht in der beschriebenen Weise als konkretes Gefährdungsdelikt gedeutet werden, wenn der zu verursachende Gefahrerfolg nach der Vorstellung des Täters bestimmt wird. Der Grundgedanke der Versuchsstrafbarkeit bestätigt damit das sich aus dem Wortlaut des Gesetzes ergebende Auslegungsergebnis, dass der Begriff Erfolgsabwendung das tatbestandliche Verhalten ist, zu dem der Täter gemäß § 22 StGB nach seiner Vorstellung von der Tat unmittelbar ansetzen muss. 29 Vgl. zu dieser Wolter (Fn. 23), S. 109 ff.
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„Verwirklichung des Tatbestands“ in § 22 StGB nur das tatbestandliche Verhalten bezeichnet. Wenn der Täter nach seiner Vorstellung von der Tat zu diesem Verhalten unmittelbar ansetzt, beginnt der Versuch auch dann, wenn der tatbestandliche Erfolg erst zu einem späteren, noch nicht unmittelbar bevorstehenden Zeitpunkt eintreten soll. Dementsprechend vermag auch die Rechtsprechung zum Versuchsbeginn bei der mittelbaren Täterschaft nicht zu überzeugen. Weil es für den Beginn des Versuchs nur auf das unmittelbare Ansetzen zum tatbestandsmäßigen Verhalten und nicht auf das unmittelbare Bevorstehen der Tatbestandsverwirklichung ankommt, gibt es keinen Grund, den Versuchsbeginn bei der mittelbaren Täterschaft davon abhängig zu machen, ob der Tatmittler die Tat „in unmittelbarem Anschluss“ an seine Entlassung aus dem Herrschaftsbereich des mittelbaren Täters oder erst nach einer „gewissen Zeitspanne oder zu einem bestimmten späteres Zeitpunkt“ ausführen soll. Vielmehr kann es – weil auch der mittelbare Täter den Tatbestand stets in eigener Person erfüllt30 – für den Versuchsbeginn in allen Fällen nur darauf ankommen, dass der mittelbare Täter zu seinem eigenen tatbestandsmäßigen Verhalten unmittelbar ansetzt. Ob dieses Verhalten schon in der ersten Einwirkung auf den Tatmittler oder erst in dessen Entlassung aus dem eigenen Herrschaftsbereich liegt, hängt von der nunmehr zu erörternden Frage ab, wie das den Tatbestand verwirklichende Verhalten als Bezugspunkt des unmittelbaren Ansetzens bei den Erfolgsdelikten zu bestimmen ist.
III. Das tatbestandsmäßige Verhalten beim Erfolgsdelikt 1. Das Erfordernis des Verwirklichungsbewusstseins Anders als bei den Tätigkeitsdelikten lässt sich der Bezugspunkt des unmittelbaren Ansetzens bei den Erfolgsdelikten nicht allein der Deliktsbeschreibung des Besonderen Teils entnehmen.31 Liest man die Deliktsbeschreibung eines Erfolgsdelikts in die Regelung des § 22 StGB hinein, so erhält man die Aussage, der Täter begehe einen Versuch, wenn er zu einer Handlung unmittelbar ansetzt, die nach seiner Vorstellung von der Tat den späteren tatbestandlichen Erfolg verursacht. Eine solche Begriffsbestimmung des Versuchs ist jedoch für die Abgrenzung zwischen Vorbereitung und Versuch insofern untauglich, als notwendige Vorbereitungshandlungen für den späteren Erfolg ebenfalls ursächlich sind. Wer z. B. die Schusswaffe für einen geplanten Mord erwirbt, nimmt ohne Zweifel eine Handlung vor, die nach seiner Vorstellung von der Tat für den späteren Tod des Opfers ursächlich werden wird, ohne dass deshalb das unmittelbare Ansetzen zum Erwerb der Schusswaffe bereits als versuchter Mord angesehen werden könnte. 30
Anders als einem Mittäter werden dem mittelbaren Täter nicht fremde Handlungen als eigene zugerechnet; vgl. dazu Hardtung, NZV 1997, 97 (103); Frister (Fn. 3), Kap. 25 Rn. 8 ff. beide m.w.N. 31 Vgl. dazu bereits Frister (Fn. 3), Kap. 23 Rn. 26 f.
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Auf den ersten Blick liegt es nahe, die Untauglichkeit der Deliktsbeschreibung der Erfolgsdelikte als Bezugspunkt für das unmittelbare Ansetzen auf die fehlende Berücksichtigung der ungeschriebenen Voraussetzungen der objektiven Zurechnung zurückzuführen. Aber auch wenn man diese Voraussetzungen einbezieht und das unmittelbare Ansetzen zu einer Handlung verlangt, die nach der Vorstellung des Täters den späteren tatbestandlichen Erfolg auf rechtlich missbilligte Art und Weise verursacht,32 erhält man keine zur Abgrenzung von Versuch und Vorbereitung taugliche Begriffsbestimmung. Wie das Beispiel des Erwerbs der Schusswaffe zeigt, sind auch notwendige Vorbereitungshandlungen vielfach schon wegen der durch sie begründeten Gefahr des späteren Erfolgseintritts rechtlich missbilligt, so dass das Kriterium der rechtlichen Missbilligung nicht dazu geeignet ist, den Bezugspunkt für das unmittelbare Ansetzen zu bestimmen. Dieser Bezugspunkt ergibt sich bei den Erfolgsdelikten erst aus der Überlegung, dass der spezifische Handlungsunwert eines vorsätzlichen Delikts nicht nur den auf die zukünftige Verwirklichung des jeweiligen Tatbestands gerichteten Vorsatz, sondern auch das Bewusstsein voraussetzt, diesen Vorsatz gegenwärtig zu verwirklichen.33 An diesem Verwirklichungsbewusstsein fehlt es anerkanntermaßen zumindest solange, wie der Täter in der Vorstellung handelt, sein gegenwärtiges Verhalten könne den tatbestandlichen Erfolg nur verursachen, wenn er in Zukunft im verantwortlichen Zustand34 weitere auf die Herbeiführung dieses Erfolgs gerichtete Handlungen vornimmt, zu denen er mit seinem gegenwärtigen Verhalten noch nicht unmittelbar angesetzt hat. Dementsprechend beginnt der Versuch nach im Ergebnis wohl allgemeiner Auffassung frühestens in dem Zeitpunkt, in dem der Täter zu einer Handlung unmittelbar ansetzt, die nach seiner Vorstellung von der Tat geeignet ist, den tatbestandlichen Erfolg ohne weitere eigene Handlungen herbeizuführen. 2. Verwirklichungsbewusstsein bei verbleibender Abwendungsmöglichkeit Keine Einigkeit besteht jedoch darüber, ob damit der Bezugspunkt des unmittelbaren Ansetzens bereits vollständig beschrieben oder zusätzlich zu berücksichtigen ist, inwieweit der Täter sein Handeln wieder rückgängig machen, d. h. den tatbestandlichen Erfolg nach der Vornahme einer zu dessen Herbeiführung hinreichenden Handlung noch sicher abwenden kann. Die Frage wird heute zumeist als Problem des Beginns der Ausführung beim beendeten Versuch35 diskutiert. Während die früher herrschende Auffassung es als selbstverständlich ansah, dass ein Täter, der bereits alle nach seiner Vorstellung zur Tatbestandsverwirklichung erforderlichen Handlun32
Vgl. etwa Murmann (Fn. 1), S. 13 ff. Vgl. dazu Frister (Fn. 3), Kap. 11 Rn. 9 ff. 34 Vgl. zu dieser für die actio libera in causa wichtigen Einschränkung Frister (Fn. 3), Kap. 18 Rn. 23. 35 Vgl. etwa Roxin (Fn. 2), 29/192 ff. 33
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gen vorgenommen hat, zuvor zur Verwirklichung des Tatbestands unmittelbar angesetzt hat,36 verneint die von Roxin begründete heute herrschende Meinung das unmittelbare Ansetzen, wenn ein vom Täter bereits vollständig in Gang gesetzter Kausalverlauf seinen Herrschaftsbereich noch nicht verlassen hat und deshalb von ihm ohne weiteres wieder abgebrochen werden kann.37 Der Gedanke Roxins ist in der neueren Literatur38 dahingehend verallgemeinert worden, dass der Täter nur dann mit dem erforderlichen Verwirklichungsbewusstsein handele, wenn sein Verhalten nicht nur ohne weiteres eigenes Handeln, sondern auch ohne weiteres eigenes Unterlassen dazu geeignet ist, den tatbestandlichen Erfolg herbeizuführen. Habe er bei einer zur Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolgs hinreichenden Handlung die Vorstellung, den Erfolg durch geeignete Maßnahmen noch sicher abwenden zu können, so treffe er noch keine das Unrecht eines vorsätzlichen Delikts begründende Entscheidung für die Begehung der Tat. Diese Entscheidung erfolge in einem solchen Fall erst mit dem unmittelbaren Ansetzen zum Unterlassen der gebotenen Maßnahmen zur Abwendung des Erfolgs, so dass der Täter erst zu diesem Zeitpunkt und damit konsequenterweise auch nicht wegen eines Begehungs-, sondern wegen eines Unterlassungsversuchs strafbar sei. Diese Verallgemeinerung ist einerseits konsequent, führt aber andererseits zu Ergebnissen, die kaum akzeptabel erscheinen.39 Wer auf der Tribüne eines Fußballstadions drei Tage vor einem Bundesligaspiel eine auf den Zeitpunkt des Spiels eingestellte tödliche Zeitbombe deponiert, kann den Tod der Zuschauer zumindest durch einen rechtzeitigen Anruf bei der Polizei objektiv und in aller Regel auch nach seiner Vorstellung noch sicher abwenden. Er hätte also durch sein Handeln noch keinen Mordversuch begangen, sondern lediglich einen Mord durch Unterlassen vorbereitet, zu dessen Ausführung er erst dann unmittelbar ansetzt, wenn er den Anruf bei der Polizei unterlässt. Wird er schon beim Deponieren der Bombe erwischt oder ist er zu der Zeit, zu der er bei der Polizei hätte anrufen müssen, unbeabsichtigt vor dem Fernseher eingeschlafen, wäre er damit nicht einmal wegen versuchten bzw. vollendeten Mordes durch Unterlassen strafbar, selbst wenn er von Anfang an fest entschlossen war, die Bombe ohne Warnung explodieren zu lassen. Dieses nur schwer akzeptable Ergebnis macht deutlich, dass die Anforderungen an das Verwirklichungsbewusstsein überspannt werden, wenn man verlangt, dass das Handeln des Täters den Erfolg auch ohne anschließendes Unterlassen gebotener Erfolgsabwendungsmaßnahmen herbeiführen kann. Das Verwirklichungsbewusstsein fehlt, solange der Handelnde die Vorstellung hat, dass der tatbestandliche Erfolg erst aufgrund einer von ihm noch zu treffenden weiteren Entscheidung für das tatbe36
Vgl. etwa LK-Busch (9. Aufl. 1970), § 43 Rn. 43a m.w.N. Grundlegend Roxin (Fn. 18), S. 213 (215 ff.); ders. (Fn. 2), 29/205 ff.; Jakobs, Strafrecht AT (2. Aufl. 1991), Kap. 25 Rn. 73 ff.; SK-StGB/Rudolphi, § 22 Rn. 19 jeweils m.w.N. 38 Vgl. Murmann (Fn. 1), S. 16 ff.; Stein, GA 2010, 129 (141); und auch noch Frister (Fn. 3), Kap. 23 Rn. 31 f.; ähnlich Streng, GS Zipf (1999), S. 325 (343 f.). 39 Vgl. dazu die eingehende Kritik von Herzberg (Fn. 14), S. 749 (759 ff.). 37
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standliche Unrecht eintreten kann. Aus der Kenntnis einer noch bestehenden Möglichkeit zur sicheren Abwendung des tatbestandlichen Erfolgs ergibt sich eine solche Vorstellung jedoch deshalb nicht, weil eine solche Abwendungsmöglichkeit ohne eine erneute Entscheidung für das tatbestandliche Unrecht verloren gehen kann. Dazu bedarf es nicht einmal einer Veränderung der objektiven Umstände. Schon wenn der Handelnde nicht mehr an das tatbestandliche Geschehen denkt, tritt der Erfolg ohne eine weitere Entscheidung für das tatbestandliche Unrecht ein.40 Insofern ist es ein grundlegender Unterschied, ob der Täter zur Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolgs noch weitere Handlungen vornehmen muss oder ob er lediglich noch die Möglichkeit hat, diesen Erfolg durch weitere Handlungen abzuwenden. Weil im letztgenannten Fall der Erfolg schon dann eintritt, wenn der Täter sich in der Folgezeit gedanklich mit dem Geschehen gar nicht mehr befasst, d. h. weder eine weitere Entscheidung für noch eine weitere Entscheidung gegen das tatbestandliche Unrecht trifft, muss er sich das unmittelbare Ansetzen zu der letzten nach seiner Vorstellung von der Tat zur Herbeiführung des Erfolgs erforderlichen Handlung grundsätzlich als endgültige Entscheidung zurechnen lassen. Die bloße Vorstellung einer noch bestehenden sicheren Abwendungsmöglichkeit hindert das Vorliegen eines Versuchs jedenfalls dann nicht, wenn der Täter bei seinem unmittelbaren Ansetzen zur letzten erforderlichen Handlung bereits unbedingt zur Tat entschlossen war und es dementsprechend gar nicht in Erwägung gezogen hat, von der noch bestehenden Abwendungsmöglichkeit Gebrauch zu machen. Dies gilt auch, wenn der vom Täter in Gang gesetzte Kausalverlauf dessen Herrschaftsbereich noch nicht verlassen hat und deshalb von ihm ohne Schwierigkeiten wieder abgebrochen werden kann. Hat der Täter etwa – wie in dem in mannigfachen Variationen erörterten Schulfall – für seine erst in zwei Wochen aus dem Urlaub zurückerwartete Ehefrau in der gemeinsamen Wohnung vergiftete Pralinen bereitgestellt, die er vor deren Erscheinen problemlos wieder wegräumen kann, so bedarf es ebenfalls nicht notwendigerweise einer weiteren Entscheidung, um den Tod der Ehefrau herbeizuführen. Auch in einem solchen Fall kann der Täter z. B. durch eine überraschende schlechte Nachricht abgelenkt oder aus irgendeinem Grunde objektiv daran gehindert werden, die Pralinen wegzuräumen. Insofern ist es – selbst wenn der Täter eingriffsfähig am Ort verweilen will – entgegen Jakobs41 eben doch ein Unterschied, ob er ein vergiftetes Getränk griffbereit zur Selbstbedienung hinstellt oder sich lediglich zur Verfügung hält, um es bei Erscheinen seines Opfers sofort zu servieren. Nur im ersten Fall kann der tatbestandliche Erfolg auch ohne eine weitere Entscheidung des Täters für das tatbestandliche Unrecht eintreten.
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Vgl. dazu bereits Herzberg (Fn. 14), S. 749 (759 ff.). Jakobs (Fn. 37), Kap 25 Rn. 72; zustimmend Roxin (Fn. 2), 29/207.
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3. Das Korrektiv des unbedingten Tatentschlusses Sofern der Täter eingriffsfähig am Ort verweilen will, liegt es allerdings nahe, dass er sich noch nicht entschieden hat, ob er von einer noch bestehenden Abwendungsmöglichkeit Gebrauch machen soll oder nicht. Dies führt zu der Frage, ob der Tatbestand des Versuchs in derartigen Fällen nicht auch ohne die im Grunde paradoxe Behauptung, ein bereits beendeter Versuch könne noch eine bloße Vorbereitungshandlung sein, aufgrund des Erfordernisses eines unbedingten Tatentschlusses zu verneinen sein kann. Der Vorschlag einer derartigen Lösung ist nicht neu, sondern fand sich früher an prominenter Stelle im Kommentar von Tröndle, nach dessen Auffassung die letzte nach der Vorstellung des Täters zur Tatbestandsverwirklichung erforderliche Handlung stets als Ausführungshandlung zu qualifizieren war, es aber an dem für den Tatbestand des Versuchs erforderlichen Tatentschluss fehlte, wenn der Täter sich bei der Vornahme dieser Handlung noch vorbehalten hatte, die Gefahr rechtzeitig zu beseitigen.42 In der Literatur ist dieser Auffassung vor allem mit dem Argument begegnet worden, die Erwägung, eine bereits geschaffene Gefahr rechtzeitig zu beseitigen, schließe als bloßer „Rücktrittsvorbehalt“ das Vorliegen eines hinreichenden Tatentschlusses nicht aus.43 Die Unbeachtlichkeit eines solchen Vorbehalts ergebe sich „unwiderleglich“ aus der gesetzlichen Rücktrittsregelung, weil deren Anwendung einen den Tatentschluss enthaltenden Versuch voraussetze.44 Diese Argumentation wäre jedoch nur überzeugend, wenn die gesetzliche Rücktrittsregelung bei Beachtlichkeit eines Vorbehalts rechtzeitiger Erfolgsabwendung für den Tatentschluss keinen oder zumindest keinen sinnvollen Anwendungsbereich mehr hätte. Davon kann jedoch keine Rede sein. Auch wenn es bei einem Vorbehalt rechtzeitiger Erfolgsabwendung bereits am unbedingten Tatentschluss fehlt, bleibt § 24 StGB in allen Fällen anwendbar, in denen der Täter bei der Versuchshandlung keinen solchen Vorbehalt hatte und sich dann nachträglich zur Abwendung des Erfolgs entschließt. Genau solche Fälle einer Umkehr des Täters, d. h. eines der „ursprünglichen Intention gegenläufigen Verhaltens“45 aber sollen mit der Rücktrittsregelung erfasst werden. Wenn der Täter sich die Abwendung des Erfolgs von Anfang an vorbehalten hat, fehlt es dagegen gerade an der für den Rücktritt charakteristischen46 Umkehr des Täters. Dieser revidiert in einem solchen Fall mit der Abwendung des Erfolgs keine bereits getroffene Entscheidung, sondern er trifft erst die Entscheidung, die er sich zuvor noch offengehalten hat. Deshalb ist es mit der gesetzlichen Rücktrittsregelung nicht nur vereinbar, sondern aufgrund des systematischen Zusammenhangs von Ver42
Tröndle/Fischer (50. Aufl. 2000), § 22 Rn. 19. Roxin (Fn. 2), 29/210; ähnlich SK-StGB/Rudolphi, § 22 Rn. 5, beide m.w.N. 44 Roxin (Fn. 2), 29/87. 45 So die Formulierung bei Roxin (Fn. 2), 30/34. 46 Vgl. dazu Jäger, Der Rücktritt vom Versuch als zurechenbare Gefährdungsumkehr (1996), S. 65 ff. 43
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such und Rücktritt sogar geboten, in derartigen Fällen das Vorliegen eines unbedingten Tatentschlusses zu verneinen. Wenn der Täter bei seiner letzten zur Erfolgsherbeiführung erforderlichen Handlung noch unsicher ist, ob er eine nach dieser Handlung verbleibende Möglichkeit zur sicheren Abwendung des tatbestandlichen Erfolgs ergreifen soll, dann hat er – anders als bei der bloßen Kenntnis einer solchen Möglichkeit – noch keine Entscheidung für das tatbestandliche Unrecht getroffen und deshalb den für die Verwirklichung des Versuchstatbestands notwendigen unbedingten Tatentschluss noch nicht gefasst. Die in einem solchen Fall ohnehin geringere47 Gefahr eines unwillkürlichen Verlustes der Abwendungsmöglichkeit rechtfertigt es zwar, den Täter an einer bereits getroffenen Entscheidung festzuhalten, vermag aber eine noch nicht getroffene Entscheidung nicht zu ersetzen. Auch der weitere gegen die von Tröndle vorgeschlagene Lösung erhobene Einwand, ein Vorbehalt der Abwendung des Erfolgs entziehe sich als rein innerer Vorgang forensischer Feststellung und meist sogar der Reflexion des Täters,48 hält kritischer Überprüfung nicht stand. So wie Vorsatz und unbedingter Tatentschluss im Strafprozess generell aus äußeren Umständen erschlossen oder – wenn man so will – zugeschrieben werden, so lässt sich prinzipiell auch aus äußeren Umständen erschließen oder zuschreiben, dass der Täter sich die Abwendung des Erfolgs nicht mehr vorbehalten hat. Maßgeblich ist, ob sich aus dem situativen Kontext Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Entscheidung für die letzte zur Erfolgsherbeiführung erforderliche Handlung zumindest auch durch die Vorstellung motiviert war, den Erfolg noch sicher abwenden zu können. Hat die Möglichkeit späterer Erfolgsabwendung im Entscheidungsprozess des Täters ersichtlich keine Rolle gespielt, so ist von einem unbedingten Tatentschluss auszugehen. 4. Zwischenergebnis und Konsequenzen für die mittelbare Täterschaft Im Ergebnis ermöglicht es das Erfordernis des unbedingten Tatentschlusses, in den Fällen verbleibender Abwendungsmöglichkeit ohne dogmatische Brüche zu einer sachgerechten Begrenzung der Versuchsstrafbarkeit zu gelangen. Zwar überschreitet ein Täter mit dem unmittelbaren Ansetzen zu der letzten nach seiner Vorstellung zur Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolgs erforderlichen Handlung entsprechend der früher herrschenden Meinung im Grundsatz auch dann die Grenze zwischen Vorbereitung und Versuch, wenn er noch die Möglichkeit hat, den tatbestandlichen Erfolg sicher abzuwenden. Jedoch fehlt ihm der für einen Versuch erforderliche unbedingte Tatentschluss, wenn er im Zeitpunkt seines Handelns noch ernsthaft erwägt, von der verbleibenden Möglichkeit zur sicheren Abwendung des Erfolgs 47
Ein Täter, der sich die Abwendung des Erfolgs noch vorbehalten hat, wird die Abwendungsmöglichkeit in der Regel nicht bereits dadurch verlieren, dass er sich gedanklich mit dem Geschehen nicht mehr befasst. 48 Roxin (Fn. 2), 29/210.
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Gebrauch zu machen. In einem solchen Fall besteht der Versuch deshalb erst in dem unmittelbaren Ansetzen zum Unterlassen der gebotenen Maßnahmen zur Abwendung des Erfolgs. Dementsprechend ist der Täter dann nicht wegen eines Begehungs-, sondern wegen eines Unterlassungsversuchs strafbar. Nach diesen Grundsätzen ist auch über den Versuchsbeginn bei der mittelbaren Täterschaft zu entscheiden. Der Versuch mittelbarer Täterschaft beginnt zwar nicht notwendigerweise mit der ersten Einwirkung auf das Werkzeug, wohl aber dann, wenn der mittelbare Täter zu der letzten Instruktion seines Werkzeugs unmittelbar ansetzt, die nach seiner Vorstellung von der Tat zur Herbeiführung des Erfolgs erforderlich ist. Dies gilt im Grundsatz auch dann, wenn der mittelbare Täter die Instruktion wieder zurücknehmen und den tatbestandlichen Erfolg dadurch sicher abwenden könnte. Hat er sich allerdings eine solche Rücknahme vorbehalten, d. h. sein Werkzeug vorsorglich instruiert, um später zu entscheiden, ob er es mit dieser Instruktion aus seinem Einflussbereich entlässt, so liegt noch kein unbedingter Tatentschluss und damit auch noch kein Versuch vor. Sofern in einem solchen Fall keine erneute Instruktion mehr stattfindet, kommt auch bei der mittelbaren Täterschaft nur ein Unterlassungsversuch in Betracht, der dann beginnt, wenn der mittelbare Täter sein Werkzeug aus seinem Einflussbereich entlässt.
IV. Ergebnis Ich hoffe, mit den vorstehenden Überlegungen gezeigt zu haben, dass die Abgrenzung zwischen Vorbereitung und Versuch auch bei den keine bestimmte Tathandlung beschreibenden reinen Erfolgsdelikten dadurch systematisiert werden kann, dass man den gesetzlichen Bezugspunkt des unmittelbaren Ansetzens in § 22 StGB exakt bestimmt. Der Begriff „Verwirklichung des Tatbestands“ bezeichnet bei den Erfolgsdelikten eine Handlung, die geeignet ist, den tatbestandlichen Erfolg ohne weitere Handlungen des Täters herbeizuführen. Wer nach seiner Vorstellung von der Tat zu einer solchen Handlung unmittelbar ansetzt, überschreitet grundsätzlich auch dann die Grenze zum Versuch, wenn er die Vorstellung hat, dass der Eintritt des Erfolgs noch nicht unmittelbar bevorsteht und auch nach Vornahme dieser Handlung noch sicher abgewendet werden könnte. Jedoch fehlt es an dem für den Versuch erforderlichen unbedingten Tatentschluss, wenn der Täter sich im Zeitpunkt des unmittelbaren Ansetzens die Erfolgsabwendung vorbehalten hat.
Strafrechtliche Gleichbehandlung der Mitwirkung an einer Selbstgefährdung und der einverständlichen Fremdgefährdung?* Von Enrique Gimbernat Ordeig
I. Das Teilnahmeargument 1. Obgleich in Spanien – anders als in Deutschland – die vorsätzliche Teilnahme am Suizid strafbar ist,1 kann man aus ihrer Regelung im Código Penal (CP) ebenso wie im deutschen Recht folgern,2 dass die Teilnahme an einer Selbstgefährdung straflos ist. Genau wie § 15 StGB bestimmt Art. 12 CP, dass „fahrlässiges Tun und Unterlassen nur dann strafbar ist, wenn das Gesetz es ausdrücklich anordnet“. Nach Art. 138 CP begeht einen Totschlag „wer einen anderen tötet“, wobei Art. 142 CP die fahrlässige Tötung unter Strafe stellt. Bei der Teilnahme am Suizid aber wird nicht ein anderer getötet, sondern nur ein anderer dazu veranlasst oder ihm dabei geholfen, sich selbst zu töten. Die Selbsttötung ist jedoch ein Verhalten, bei dem anders als beim Totschlag dieselbe Person als Täter und Opfer fungiert. Und da der CP keine Vorschrift kennt, die die fahrlässige Teilnahme am Suizid unter Strafe stellt, ist letzteres Verhalten in Spanien tatbestandslos. Wenn aber die fahrlässige Teilnahme an einem „vorsätzlichen“ Suizid sowohl in Deutschland (in Deutschland sogar auch die vorsätzliche Teilnahme) als auch in Spanien straflos ist, so muss in beiden Ländern erst recht auch die Teilnahme an einer Selbstgefährdung mit Todesfolge (an einem „fahrlässigen“ Suizid) straflos bleiben.3
* Für die Durchsicht des deutschen Textes danke ich meiner Schülerin Staatsanwältin Dr. Mirja Feldmann, Stuttgart. 1 Ausführlich und rechtsvergleichend über die verschiedenen Regelungen in beiden Rechten Feldmann, Die Strafbarkeit der Mitwirkungshandlungen am Suizid. Ein Vergleich der Rechtslage in Deutschland und in Spanien unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung in beiden Ländern mit rechtspolitischer Ausrichtung, 2009. 2 Vgl. nur Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 107. 3 Bei diesen Sachverhalten muss in dem Sinne differenziert werden, dass einerseits die Teilnahme an einer Selbstgefährdung in Bezug auf die – meist tatbestandslose – Selbstgefährdung vorsätzlich ist, und dass andererseits – und gleichzeitig – in Bezug auf den Letzterfolg der Selbsttötung oder -verletzung diese Teilnahme einen fahrlässigen Beitrag zu diesem Erfolg darstellt.
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Die Straflosigkeit der Teilnahme an einer Selbstgefährdung mit Körperverletzungsfolge lässt sich ähnlich begründen. Da die Teilnahme an einer vorsätzlichen Selbstverletzung weder im StGB noch im CP strafbewehrt ist (anders als in Bezug auf die Teilnahme am tatbestandslosen Verhalten des Suizids enthält der spanische CP keine Sondervorschrift, die die Teilnahme an der – ebenfalls tatbestandlosen – Selbstverletzung inkriminiert), folgt daraus, dass die Teilnahme an einer Selbstgefährdung mit Körperverletzungsfolge erst recht nicht strafbar ist. 2. Gegen dieses in Deutschland von Roxin4 und anderen Autoren vorgebrachte A-maiore-ad-minus-Argument ist eingewandt worden, dass „die Beihilfe oder auch Anstiftung zur vorsätzlichen Selbstverletzung […] nicht deshalb straflos [ist], weil sie nur eine Beteiligung und keine Täterschaft ist, sondern deshalb, weil die Quasitäterschaft des Rechtsgutsträgers eine rechtsgültige Disposition über das Rechtsgutsobjekt dahin darstellt, dass an dessen Erhaltung kein Interesse mehr besteht. Damit hört seine Verletzung auf, einen Erfolgsunwert darzustellen. Die Verletzung eines eigenen Rechtsgutsobjekts durch Selbstgefährdung ist demgegenüber im vorliegenden Zusammenhang nicht ein Minus, sondern ein Maius, weil die Selbstgefährdung per se noch keine Aufgabe des Interesses am Erhalt des Rechtsgutsobjekts darstellt […] deshalb fehlt es bei der Teilnahme an fremder Selbstgefährdung jedenfalls nicht am Erfolgsunwert. Also folgt aus der Straflosigkeit der Teilnahme an fremder, quasi vorsätzlicher Selbstverletzung nichts für die Straflosigkeit der Teilnahme an fremder Selbstgefährdung“.5 Mit diesem Argument soll begründet werden, dass, da beide Sachverhalte (z. B. Teilnahme an einer vorsätzlichen Selbsttötung einerseits, Teilnahme an einer „fahrlässigen“ Selbsttötung andererseits) heterogen seien, weil im ersten Fall das Opfer sich selbst töten wolle, während es im zweiten darauf vertraue, dass der Tod sich 4 Zuerst in FS Gallas, 1973, S. 246. Im gleichen Sinne etwa Schünemann, NStZ 1981, S. 350; Stree, JuS 1985, S. 180 f.; Radtke/Hoffmann, GA 2007, S. 203. Differenzierend Herzberg, JA 1985, S. 270 ff. Weitere Hinweise bei Puppe, Strafrecht AT I, 2002, § 6 Rn. 3, Anm. 219. 5 NK-StGB/Puppe, 8. Aufl. 2005 ff., vor § 13 Rn. 184. Siehe auch dies. (Fn. 4), § 6 Rn. 3 und 4, m.w.N. in Anm. 220; dies., GA 2009, S. 489 f. Im gleichen Sinne und mit ähnlicher Begründung lehnen das A-maiore-ad-minus-Argument ab: Geppert, ZStW 83 (1971), S. 975; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 159; Torío, FS Fernández-Albor, 1989, S. 720; Fiedler, Zur Strafbarkeit der einverständlichen Selbstgefährdung, 1990, S. 69, 70, 72, 75 und 194; Mir, ADPCP 1991, S. 266 ff.; Weber, FS Spendel, 1992, S. 376 f.; Zaczyk, Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverantwortung des Verletzten, 1993, S. 51, 53; García Álvarez, RDPC 1999, S. 410 f.; Degener, „Die Lehre vom Schutzzweck der Norm“ und die strafgesetzlichen Erfolgsdelikte, 2001, S. 342; Cancio, RDPC 1998, S. 5 ff.; ders., Conducta de la víctima e imputación objetiva, 2. Aufl. 2001, S. 41 ff., 164 ff., 193 ff.; Hellmann, FS Roxin, 2001, S. 282; MK-StGB/Freund, 2003, vor §§13 ff. Rn. 383; MK-StGB/ Duttge, 2003, § 15 Rn. 150; ders., FS Otto, 2007, S. 240 f.; Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 319 ff. und passim; ders., Grundkurs Strafrecht, 2011, § 23 Rn. 73 f.; Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, 27. Aufl. 2006, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 92; Renzikowski, HRRS 2009, S. 348; Furukawa, GA 2010, S. 176; Herzberg, FS Puppe, 2011, S. 499 ff.; Radtke, FS Puppe, 2011, S. 836 ff.
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nicht ereigne, von der Straflosigkeit der Teilnahme am Selbstmord nicht auf die Straflosigkeit der Teilnahme an einer Selbstgefährdung mit Todesfolge geschlossen werden könne. 3. Aber dieses Argument schlägt nicht durch,6 denn obgleich in beiden Fällen (bspw. Teilnahme an einem Suizid und Teilnahme an einer Selbstgefährdung mit Todesfolge) das Verhalten des sich selbst tötenden Opfers tatbestandslos ist, wiegt die Teilnahme doch im ersten Fall „schwerer“ als im zweiten. Dies ergibt sich daraus, dass bei Verwendung strafrechtlicher Kategorien die beiden tatbestandslosen Verhaltensweisen, zu denen die Teilnehmer Beiträge leisten – vorsätzliche Selbsttötung im ersten (Selbstmord) versus fahrlässige Selbsttötung („fahrlässiger“ Suizid) im zweiten Fall – gerade nicht gleich schwer wiegen. Wenn das aber so ist, wenn die Teilnahme am Suizid, obgleich bei ihr der Mitwirkende den (sicheren) Tod des Opfers beabsichtigt, straflos ist (in Spanien tritt Straflosigkeit erst bei der fahrlässigen Teilnahme am Suizid ein), dann muss ein weniger schwerwiegendes Verhalten, wie es die Teilnahme an einer Selbstgefährdung mit Todesfolge ist, bei der der Tod für den Mitwirkenden lediglich als möglich vorhersehbar ist, erst recht straflos sein. Das andere Argument, das gegen den Erst-Recht-Schluss vorgebracht wird,7 nämlich dass man damit bei den Fahrlässigkeitsdelikten den Einheitstäterbegriff durch den restriktiven Täterbegriff ersetzen würde, überzeugt ebenfalls nicht. Zwar gilt für die Fahrlässigkeit das allgemeine Prinzip, dass jedes sorgfaltswidrige Setzen einer Erfolgsbedingung die Täterschaft begründet. Aber wenn bei den vorsätzlichen Tötungsdelikten der Gesetzgeber ausnahmsweise eine bestimmte Bedingung des Todeserfolges – nämlich die von einem Selbsttötungsteilnehmer gesetzte – von der Strafbarkeit ausschließt, so muss für das gleiche Verhalten bei bloßem Fahrlässigkeitsvorwurf und damit geringerer Schwere erst recht das Gleiche gelten: Das fahrlässige Setzen der Bedingung für den Tod des Opfers durch Selbstgefährdung, das im Falle einer vorsätzlichen Selbsttötung eine Teilnahme darstellen würde, muss ebenfalls und ausnahmsweise straflos bleiben.
II. Die von der herrschenden Lehre vorgenommene Gleichbehandlung der Mitwirkung an einer Selbstgefährdung und der Fremdgefährdung als jeweils straflos 1. Im Gegensatz zur deutschen Rechtsprechung, die eine Straflosigkeit des Mitwirkenden nur bei Teilnahme an einer Selbstgefährdung, nicht aber bei Fremdgefähr6
Siehe schon Gimbernat, Imputación objetiva y conducta de la víctima, 2007, S. 17 ff. Vgl. etwa Zaczyk (Fn. 5), S. 48; Cancio, ZStW 111 (1999), S. 369; Murmann, Die Selbstverantwortung (Fn. 5), S. 321; ders., FS Puppe, 2011, S. 772; Duttge (Fn. 5), S. 241; Puppe, GA 2009, S. 492 f.; dies., Strafrecht AT, 2. Aufl. 2011, § 6 Rn. 6; Renzikowski (Fn. 5) S. 348; Furukawa (Fn. 5), S. 175; Stratenwerth, FS Puppe, 2011, S. 1019; Radtke (Fn. 5), S. 837. 7
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dung bejaht8, vertritt die herrschende Lehre9 die Auffassung, dass der Dritte weder bei einer täterschaftlichen Fremdgefährdung noch bei Teilnahme an einer Selbstgefährdung strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden darf. Doch diese Auffassung ist abzulehnen; denn während die Straflosigkeit der Teilnahme an einer Selbstgefährdung – wie oben unter I. gerade gezeigt – mit dem Erst-Recht-Schluss sehr wohl zu begründen ist, lässt sich kein vernünftiges Argument zugunsten der Straflosigkeit der Fremdgefährdung anführen. 2. Ein Blick auf die Vorsatzdelikte ergibt, dass die Strafgesetzbücher insoweit sehr wohl zwischen einverständlicher Fremdverletzung und Teilnahme an einer freiverantwortlichen Selbstverletzung unterscheiden:10 Während sich im ersten Fall der Mitwirkende in der Regel strafbar macht, ist die vorsätzliche Teilnahme an einer vorsätzlichen Selbstverletzung (fast) nie strafbar. In Bezug auf das deutsche und das spa8 Siehe etwa LG Kempten NJW 1989, S. 2069 („Nach Auffassung der Kammer handelt es sich im vorliegenden Fall [Aids-Übertragung durch Geschlechtsverkehr] nach dem Beweisergebnis lediglich um eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung der Zeugin, an der der Angekl. teilgenommen hat, nicht aber um eine möglicherweise strafbare Fremdgefährdung“). Eine kritische Darstellung dieser Meinung der deutschen Rechtsprechung bei Roxin (Fn. 2), § 11 Rn. 126 ff. m.w.N. Auch die spanische Rechtsprechung unterscheidet neuerdings zwischen strafloser Teilnahme an einer Selbstgefährdung und strafbarer Fremdgefährdung (siehe etwa das Urteil des Tribunal Supremo [TS, Obersten Gerichtshofes] vom 6. 6. 2011). 9 Vgl. etwa Otto, Jura 1984, S. 540; ders., FS Tröndle, 1989, S. 170 ff.; ders., AT, 7. Aufl. 2004, § 6 Rn. 62; Frisch (Fn. 5), S. 116, 149; Fiedler (Fn. 5), S. 158 ff., 169 ff., 187, 193; Mir, ADPCP 1991, S. 267; Walther, Eigenverantwortlichkeit und strafrechtliche Zurechnung, 1991, S. 230 f., 241, 248; Portilla, CPC 1991, S. 712, 726, 729; Zaczyk (Fn. 5), S. 64, 65; Jakobs, Estudios de Derecho penal 1997, S. 411 f.; SK-StGB/Rudolphi, Loseblattausgabe, 26. Lfg. (Juni 1997), vor § 1 Rn. 81 a; Cancio, RDPC 1998, S. 73 f., 84 f.; ders., ZStW 111 (1999), S. 370, 315 ff.; ders., Conducta de la víctima (Fn. 5), S. 46, 47, 213 ff., 284 ff., 383 f.; García Álvarez, La puesta en peligro de la vida y/o integridad física asumida voluntariamente por su titular, 1999, S. 518 ff.; dies., RDPC 1999, S. 419; Feijoo, RDPC 2000, S. 289, 290; Hellmann (Fn. 5), S. 273, 285; Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 5), Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 101 f.; Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 5), § 15 Rn. 171; NK-StGB/Puppe (Fn. 5), vor § 13 Rn. 192; dies., GA 2009, passim; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 36. Aufl. 2006, § 6 Rn. 190 f.; Beulke, FS Otto, 2007, S. 215 ff.; Frister, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2008, Kap. 15 Rn. 18 ff.; Stratenwerth (Fn. 7), S. 1022; Radtke (Fn. 5), S. 842 f., 846 f. Murmann, FS Puppe, 2011, meint auch, dass sowohl bei der einverständlichen Selbstwie Fremdgefährdung Straflosigkeit eintreten muss (S. 777 f.), wenngleich er „die Differenzierung [für] sachgerecht“ hält (S. 786), weil der Wirksamkeit der Einwilligung bei Fremdgefährdung strengere Maßstäbe gesetzt werden müssen: Bei Fremdgefährdung bestehe „ein gesteigertes Risiko, dass die Einwilligung nicht dem ,wahren‘ Willen des Opfers entspricht“ (S. 787), was im Sachverhalt von BGHSt 53, 55 ff., allerdings nicht der Fall war, weil „ihm [dem Getöteten] nicht nur die Risiken bekannt [waren], sondern es muss angenommen werden, dass er eine bewusste Wertentscheidung zugunsten der Eingehung dieser Risiken getroffen hatte[…], so dass die Einwilligung danach wirksam [war]“, was zu einem Freispruch beider Fahrer hätte führen müssen (S. 788). 10 Vgl. Roxin, FS Gallas 1973, S. 250: „Schon das geschriebene Recht zeigt in den §§ 216, 226 a StGB, dass der Gesetzgeber zwischen der straflosen Selbstschädigung (bzw. Selbstgefährdung) und der Fremdschädigung mit Einwilligung des Verletzten einen Unterschied macht“.
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nische StGB lässt sich feststellen, dass die vorsätzlichen Fremdverletzungen der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB, Art. 143.3 CP) und der Körperverletzung mit Einwilligung des Opfers (in Deutschland nur bei Verstoß gegen die guten Sitten: § 228 StGB; in Spanien ausnahmslos: Art. 155 CP) inkriminiert sind, hingegen die Teilnahme am Suizid (in Spanien erst bei Fahrlässigkeit) genau wie diejenige an einer Selbstverletzung nicht strafbewehrt ist. Wenn aber die Strafgesetzbücher die vorsätzlichen Fremdverletzungen einerseits und die vorsätzlichen Mitwirkungen an Selbstverletzungen andererseits – eben auf Grund ihres evident verschiedenen Schweregrades – einem unterschiedlichen strafrechtlichen Regime unterwerfen (prinzipielle Strafbarkeit im ersten, prinzipielle Straflosigkeit im zweiten Fall), so ist nicht einzusehen, warum bei den fahrlässigen Beiträgen zu einer Verletzung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit diese Wertunterschiede eingeebnet werden sollten, mit dem – von der h. L. vertretenen –11 Ergebnis, dass insoweit – abweichend von der Rechtslage bei den Vorsatzdelikten – sowohl die einverständliche Fremdgefährdung als auch die Mitwirkung an einer Selbstgefährdung straflos ist. Dies ist umso mehr deswegen nicht einzusehen, als bei den vorsätzlichen Fremdverletzungen die Eingehung des Risikos seitens des Opfers die Strafbarkeit des Täters unberührt lässt: Ein Totschlag liegt unabhängig davon vor, ob der Täter einen ihm bis dann unbekannten Dritten auf der Straße erschießt oder ob er als Ehemann seine Frau tötet; in letzterem Fall spielt es keine Rolle für die Einstufung des Verhaltens als Totschlag, dass die Ehefrau insoweit ein Todesrisiko eingegangen war, als sie sich trotz mehrfach von ihrem Mann ihr gegenüber geäußerter ernst zu nehmender Drohungen, sie zu töten, nicht davon hatte abhalten lassen, weiter mit diesem – den sie so liebte, dass sie sich eine Existenz ohne ihn einfach nicht vorstellen konnte – im selben Hause zu leben. Daraus folgt dann aber, dass, wenn das Eingehen eines Risikos durch das Opfer bei vorsätzlichen Fremdverletzungen nicht der Anwendbarkeit des entsprechenden Tatbestandes entgegensteht, auch nicht einzusehen ist, weshalb dies bei der einverständlichen Fremdgefährdung, bei der vorhersehbar ist, dass sie den Tod oder eine Körperverletzung nach sich ziehen kann, etwas anderes gelten soll (Straflosigkeit statt Strafbarkeit des Verhaltens des Täters). 3. Die Gleichbehandlung von Selbst- und Fremdgefährdung i. S. der Straflosigkeit wird von der h.L. hauptsächlich mit dem sog. „Selbstverantwortungsprinzip“ begründet, aus dem sich seinerseits auch das sog. „Selbstschutzprinzip“12 ergeben soll. Aus diesem „Selbstverantwortungsprinzip“13, das aus verfassungsrechtlichen Erwägungen (Art. 2 Abs. 1 GG) hergeleitet werden können soll, soll folgen, dass, wer sich selbst in Gefahr begebe oder damit einverstanden sei, dass ein anderer ihn einem 11
Oben Fn. 9. Vgl. etwa Puppe, GA 2009, S. 494; Radtke (Fn. 5), S. 837. 13 Siehe etwa Cancio, ZStW 111 (1999), S. 373; Frister (Fn. 9), Kap. 10 Rn. 15; Renzikowski (Fn. 5), S. 348; Radtke (Fn. 5), S. 836. Eingehend zum Selbstverantwortungsprinzip: Frisch (Fn. 5), S. 240 ff. und passim; Walther (Fn. 9), Zaczyk (Fn. 5), Murmann, Die Selbstverantwortung (Fn. 5). 12
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Risiko aussetze, auch selbst für die daraus entstehenden Schäden – seinen Tod oder eine Verletzung seiner körperlichen Unversehrtheit – verantwortlich sein müsse. Dagegen ist jedoch zum einen einzuwenden,14 dass selbst bei grundsätzlicher Anerkennung des sich angeblich aus der Verfassung ergebenden „Selbstverantwortungsprinzips“, mit dessen Hilfe die Zuständigkeit des Opfers bejaht wird, damit noch nicht die Frage nach der strafrechtlichen Verantwortung beantwortet wäre; denn es wäre noch zu prüfen, ob es nicht ein anderes Prinzip gibt, das die „Zuständigkeit“ des Teilnehmers an einer Selbstgefährdung und des Täters einer einverständlichen Fremdgefährdung begründet. Und dieses andere Prinzip existiert sehr wohl. Die Rede ist von demjenigen strafrechtlichen Grundsatz, nach dem es verboten ist, vorsätzlich oder fahrlässig den Tod oder die Körperverletzung eines anderen zu verursachen. Da es nun aber außer Frage steht, dass der Teilnehmer einer Selbstgefährdung oder der Täter einer Fremdgefährdung den Tod oder die Körperverletzung des Opfers mindestens fahrlässig bedingt (= verursacht) hat, entsteht ein unauflösbarer Konflikt zwischen letzterem Zuständigkeitskriterium und dem vorhergenannten der Opferzuständigkeit: In den beiden hier behandelten Fallgestaltungen sind dann nämlich alle Beteiligten, d. h. sowohl diejenigen, die als Teilnehmer den tatbestandlichen Erfolg der Selbstgefährdung herbeiführen bzw. diejenigen, die als Täter einen anderen mit dessen Einwilligung verletzen, als auch die jeweiligen Geschädigten, die sich freiwillig in die Gefahrenlage begeben, für den sich ergebenden Schädigungserfolg verantwortlich; letztere – die Geschädigten – auf Grund des vermeintlichen „Selbstverantwortungsprinzips“, erstere auf Grund des unstrittig existenten strafrechtlichen Verbots, vorsätzlich oder fahrlässig fremde Rechtsgüter zu verletzen (Teilnehmer und Täter einer Fremdverletzung). Zum anderen ist gegen das „Selbstverantwortungsprinzip“ – nach dem immer dann, wenn das Opfer das Risiko einer Verletzung eingeht, ihm allein (bei Verantwortungsbefreiung etwaiger Dritter) die eingetretenen tatbestandlichen Erfolge zugerechnet werden – einzuwenden, dass dieses Prinzip in Bezug auf die meisten europäischen Strafgesetzbücher, nämlich für die, die die Teilnahme am Suizid als strafbares Verhalten ansehen,15 keine Geltung beanspruchen kann.16 Denn der spanische Código Penal bestimmt – ebenso wie die Strafgesetzbücher der in Fn. 15 genannten Länder – nicht im Sinne einer Ausnahme, sondern i. S. einer absoluten Regel, dass die Anstiftung und die „notwendige Beihilfe“ (cooperación necesaria) zum Suizid einer freiverantwortlichen Person (bei fehlender Freiverantwortlichkeit des Suizidenten hätten wir es mit einem Totschlag oder einem Mord in mittelbarer Täterschaft zu tun) selbst bei einem Höchstmaß an Freiverantwortlichkeit des Suizids für den daran Mitwirkenden strafbar sind (Art. 143.1 und 2. CP). Ebenso ordnet der CP 14
Vgl. schon Gimbernat, GdS Ruiz Antón, 2004, S. 441 ff.; ders. (Fn. 6), S. 72 ff. Außer in Spanien wird die Teilnahme am Selbstmord auch im Vereinigten Königreich, in Österreich, Ungarn, Portugal, Polen, Kroatien, Italien, Griechenland, Dänemark und Norwegen bestraft (vgl. die Nachweise bei Feldmann [Fn. 1], S. 630). 16 Dazu inwieweit dieses Argument auch für das deutsche Recht anwendbar ist, sogleich. 15
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die Strafbarkeit desjenigen an, der eine selbstverantwortliche Person auf deren Verlangen hin tötet (Art. 143.3 CP). Und was die vorsätzlichen Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit betrifft, so ist nach dem CP zwar nicht die bloße Teilnahme an einer Selbstverletzung strafbar, durchaus aber die täterschaftliche Körperverletzung, auch wenn sie mit Einwilligung eines freiverantwortlichen Subjekts erfolgt (Art. 155 CP), ohne dass dabei das vermeintlich existente Selbstverantwortungsprinzip die Anwendbarkeit des Art. 155 CP irgendwie auszuschließen vermag.17 Daraus folgt nicht nur, dass das Selbstverantwortungsprinzip (mit dem man die Zurechnung des Erfolgseintritts gegenüber dem das Risiko der Erfolgsherbeiführung übernehmenden Opfer und die Nichtzurechnung gegenüber dem mitwirkenden Dritten begründen will) vom Código Penal – und von den anderen ähnliche Regelungen enthaltenden europäischen Strafgesetzbüchern – nicht anerkannt wird. Es ist vielmehr so, dass bei allen vorsätzlichen Straftaten gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit – mit Ausnahme der Teilnahme an einer Selbstverletzung – die Tatsache, dass das Opfer selbst ein Risiko eingegangen ist, vom Gesetzgeber durchaus in Rechnung gestellt worden ist, nämlich um eindeutig anzuordnen, dass das selbstverantwortliche Verhalten des Opfers die strafrechtliche Verantwortung Dritter eben gerade nicht ausschließt. Aber die vorangegangenen Erwägungen gelten nicht nur für die Rechtslage in den Ländern, deren Strafgesetzbücher einen Tatbestand der Teilnahme am Suizid enthalten, sondern auch für die Rechtslage in Ländern wie Deutschland, dessen Gesetze keinen derartigen Tatbestand kennt. Denn erstens ist in Deutschland eben nicht ausnahmslos jedes vorsätzliche Verhalten, wenn nur das Opfer selbst das Risiko der Verletzung seiner Rechtsgüter übernimmt, auf Grund des angeblichen Selbstverantwortungsprinzips sowie der sog. „Selbstschutzpflicht“ straflos. Dies zeigt sich an der Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen und der Körperverletzung mit Einwilligung des Opfers, wenn die Tat trotz Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt. Daher lässt sich keineswegs sagen, dass es sich beim Selbstverantwortungsprinzip (und der sich daraus ergebenden Selbstschutzpflicht des Opfers) um einen fest im StGB verankerten Grundsatz handelt, aus dem dann Schlüsse für die einverständliche Fremdgefährdung und die Mitwirkung an einer Selbstgefährdung gezogen werden könnten. Und zweitens ist darauf hinzuweisen, dass man die Straflosigkeit der Suizidteilnahme zwar für eine plausible – wenngleich umstrittene – rechtspolitische Entscheidung halten kann, andererseits aber keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Pönalisierung der Teilnahme am Suizid bestehen würden, wie sowohl der jüngste deutsche Gesetzentwurf zeigt, der die „gewerbsmäßige Suizidhilfe“ inkriminieren will,18 als auch die Rechtsprechung des EGMR,19 nach der die Strafbarkeit der Teilnahme am Suizid nicht unvereinbar mit Art. 2 EMRK ist. 17 Gemäß Art. 156 CP wirkt die Einwilligung bei Organtransplantationen inter vivos, Sterilisierungen sowie transsexuellen chirurgischen Eingriffen strafbefreiend. 18 Es gibt sogar einen Änderungsantrag einer Gruppe Abgeordneter um die rheinlandpfälzische CDU-Vorsitzende Julia Klöckner, der noch weiter geht und auch die Strafbarkeit der „wiederholten, organisierten Sterbehilfe“ befürwortet (vgl. Der Spiegel 49/2012, S. 15).
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III. Die Gleichstellung der Mitwirkung an einer Selbstgefährdung und der täterschaftlichen Fremdgefährdung im Sinne der Straflosigkeit beider auf Grund soziologischer Erwägungen 1. Die Mittel der juristischen Methodenlehre, mit denen die Lehre von der objektiven Zurechnung ihre Ergebnisse zu erreichen sucht (teleologische Auslegung zur Ermittlung des Schutzzwecks der Norm, Anwendung des Arguments a maiore ad minus bei der Teilnahme an einer Selbstgefährdung)20, sind von einem Teil der Strafrechtsdogmatik durch andere soziologische (Luhmann’sche21) Kriterien ersetzt worden und haben der Lehre der objektiven Zurechnung keinen guten Dienst erwiesen. Jakobs22 gilt als Hauptvertreter dieser soziologischen Denkrichtung. Was die einverständliche Fremdgefährdung und die Mitwirkung an einer Selbstgefährdung betrifft, so überträgt Jakobs das von ihm für die Begehung durch Unterlassen aufgestellte Kriterium der Organisationszuständigkeit23 (Garantenstellung des Bademeisters in Bezug auf die Badegäste, des Chirurgen in Bezug auf den von ihm zu operierenden Patienten, des Schrankenwärters zur Vermeidung von Unfällen an dem von ihm zu beaufsichtigenden Bahnübergang usw.) auf diese Fälle, indem er bei solchen Fällen der Eingehung eines Risikos durch das Opfer (ungeachtet dessen, ob es sich um eine einverständliche Fremdgefährdung oder eine Mitwirkung an einer Selbstgefährdung handelt) die „Zuständigkeit des Opfers hinsichtlich seiner Verletzung“24 annimmt, da dieses in beiden Fällen „seine Verletzung organisiert“25 habe und deshalb auf Grund der zwischen ihm und dem Dritten bestehenden Rollenverteilung selbst dafür haften müsse. Bei Anwendung seiner soziologischen Lehre auf den Fall der Übertragung von HIV26 meint Jakobs, dass der HI-Virusträger nicht nur dann nicht haftet, wenn der bis dahin gesunde Geschlechtspartner die Krankheit des mit HIV-Infizierten kannte, 19 Im Fall Pretty v. UK vom 29. 4. 2002 (deutsche Übersetzung in NJW 2002, S. 285 ff.) Dazu eingehend Feldmann (Fn. 1), S. 629 ff. 20 Zur Bestimmung der objektiven Zurechnung bei atypischen Kausalverläufen ebenfalls mit Hilfe rein juristischer Kriterien vgl. Gimbernat, FS Imme Roxin, 2012, S. 137 ff. 21 Vgl. etwa Luhmann, Rechtssoziologie I, 1972, S. 85 ff. 22 Die folgende Kritik an den Thesen von Jakobs soll freilich nicht seine großen Verdienste um die Weiterentwicklung der Strafrechtswissenschaft in Abrede stellen. 23 Vgl. Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 29/28 ff. Das andere Kriterium, das einen Unterlassenden zu einem Garanten mache, sei das der institutionellen Zuständigkeit, wobei diese Zweiteilung von Jakobs der Garantenstellungen der Sache nach mit der von Armin Kaufmann (vgl. Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 283) begründeten Funktionenlehre übereinstimmt. 24 Jakobs (Fn. 9), S. 411. 25 Jakobs (Fn. 9), S. 410. Vgl. auch in gleichem Sinne Cancio, ZStW 111 (1999), S. 379 ff. Siehe auch Müssig, FS Rudolphi, 2004, S. 135 ff. 26 Es bedarf hier keiner Entscheidung, ob es sich bei der Aids-Übertragung um eine Teilnahme an einer Selbstgefährdung – so die h. L. – oder aber eine einverständliche Fremdgefährdung handelt (Nachweise bei Gimbernat, FS Frisch, 2013 [im Druck], Anm. 20).
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sondern auch dann nicht, wenn er diese Krankheit hätte erkennen können, wie dies z. B. der Fall ist, wenn der später Infizierte sich auf Geschlechtsverkehr mit einer zu einer Risikogruppe gehörenden (etwa die Prostitution ausübende oder heroinabhängige) Person eingelassen habe. Zur Begründung seiner These führt Jakobs an, dass in diesen Fällen die Verletzung des Opfers nicht auf ein Unglück, sondern auf „die Verletzung seiner Selbstschutzpflicht“27 zurückzuführen sei: „Wer Geschlechtsverkehr mit einer drogenabhängigen Person oder Prostituierten ausübt, handelt bezüglich der Aids-Übertragung auf eigene Gefahr“28, denn „es liegt bereits dann eine Handlung auf eigene Gefahr vor, wenn [das Opfer] bestimmte Umstände kennt, die aus Sicht einer sorgfältigen Person auf eine überdurchschnittlich hohe Wahrscheinlichkeit für das Vorhandensein einer solchen Krankheit hinweisen“. Maßgeblich komme es nämlich darauf an, zu bestimmen, ob das Opfer sich in der Opferrolle befunden habe oder in der Rolle dessen, der die Beziehung gestalte, d. h. der auf eigene Gefahr handele29 : in letzterem Fall „hat der Verletzte selbst gegen seine Schutzpflichten verstoßen“30. 2. Gegen die Anwendung soziologischer Maßstäbe zur Lösung von Fragen der objektiven Zurechnung ist einzuwenden, dass, während bei den unechten Unterlassungsdelikten die Organisationszuständigkeit einer Person (auf Grund außerstrafrechtlicher [meistens verwaltungsrechtlicher] Normen, vertraglicher Pflichten oder der Regeln der Kunst eines bestimmten Berufes) durchaus ein Kriterium zur Konturierung des Inhaltes der jeweiligen Zuständigkeit liefert, dies bei der sog. Opferrolle (bei der Opferzuständigkeit) gerade nicht der Fall ist.
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Jakobs, La imputación objetiva en Derecho penal (spanische Übersetzung von Cancio der – soweit ersichtlich – in Deutschland unveröffentlichten Arbeit), S. 110. 28 Jakobs (Fn. 27), S. 111. Vgl. auch ders. (Fn. 23), 7/129. Jakobs folgen Cancio, RDPC 1998, S. 87; ders., ZStW 111 (1999), S. 378 f.; ders., Conducta de la víctima (Fn. 5), S. 290 f., 372 f. m. Anm. 516; Gómez Rivero, La imputación de los resultados producidos a largo plazo. Especial referencia a la problemática del SIDA, 1998, S. 174 ff.; García Álvarez, La puesta en peligro (Fn. 9), S. 291 f. Dagegen mit Recht: BGHSt 36, 1, 18; Herzberg, Problemas jurídico penales del SIDA, 1993, S. 131; Puppe, AT (Fn. 4), § 6 Rn. 21, m.w.N. in Anm. 238 über die Autoren, die die These von Jakobs ablehnen; Roxin (Fn. 2) § 11 Rn. 133 Anm. 280. 29 Jakobs (Fn. 27), S. 174; in S. 175 ff., bezieht sich Jakobs auf die Verletzung der Selbstschutzpflichten seitens des Opfers. Vgl. auch Jakobs (Fn. 9), S. 405: „Wenn eine Selbstverletzung eintritt bei demjenigen, dem die Krankheit bekannt ist, im Fall, dass beide Partner bei Kenntnis der Infizierung mit dem Geschlechtsverkehr einverstanden sind, dann muss auch eine Selbstverletzung vorliegen, wenn eine Geschlechtspartner die Krankheit des Anderen zwar nicht kennt, aber nur deshalb, weil er damit nicht rechnet, mit dem, was er seiner Zuständigkeit nach rechnen musste. Besonders bei gehaltenen Sexualbeziehungen mit einer einer evidentermassen gehörenden Risikogruppe Person, weil sie sich z. B. prostituiert, ist der gesunde Partner dafür zuständig […] auf die hygienischen Umstände aufzupassen“. 30 Jakobs (Fn. 27), S. 112. Zur sog. Opferzuständigkeit und „[das Entstehen des] Opfers für eigene Organisationen“, vgl. auch Jakobs, Die strafrechtliche Zurechnung von Tun und Unterlassen, 1966, S. 19 ff., 27, 32, 42 f.; ders., FS Hirsch, 1999, S. 58 f.
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Beim unechten Unterlassungsdelikt, wo es darum geht, welche Pflichten (Zuständigkeiten, Rollen) dem möglichen Garanten auferlegt werden, ist das Kriterium der Organisationszuständigkeit kein inhaltsloser, sondern ein klar konturierter Begriff, der es ermöglicht, im Wege der Subsumtion festzustellen, ob eine bestimmte Person dafür zuständig gewesen ist, einen bestimmten Gefahrenherd innerhalb des erlaubten Risikos zu halten.31 So ist im Rahmen der „Organisation“ des Zugverkehrs der Schrankenwärter rechtlich dafür „zuständig“, die Bahnschranken bei Herannahen eines Zuges herunterzulassen. Dies hat zur Konsequenz, dass er bei Nichterfüllung der ihm auferlegten „Pflicht zum Schutz des Lebens und der körperlichen Integrität der am Verkehr beteiligten Personen sowie des fremden Eigentums“ (Unterlassen des Herunterlassens der Schranke) für die daraus entstandenen Personen- und Sachschäden zur Verantwortung gezogen werden muss. Genauso kommt innerhalb der „Organisation“ des Luftverkehrs dem Fluglotsen die „Rolle“ zu („Pflicht zum Schutz der am Luftverkehr beteiligten Personen“), den Piloten vor dem Landen zu warnen, wenn sich beispielsweise auf der Landebahn ein Hindernis befindet. Der Fluglotse haftet dann für Schäden, die infolgedessen entstehen, dass er es entgegen seiner rechtlichen „Zuständigkeit“ unterlassen hat, den Piloten auf das Vorhandensein des Hindernisses hinzuweisen. Schließlich kommt, um ein letztes Beispiel zu nennen, dem Anästhesisten bei der „Organisation“ eines chirurgischen Eingriffs die „Rolle“ zu, die Vitalfunktionen des Patienten ständig zu überwachen; missachtet der Anästhesist seine – in der lex artis gründende – rechtliche „Zuständigkeit“ (etwa indem er den Monitor nicht ausreichend im Blick behält) und erleidet der Patient infolgedessen den Hirntod, so haftet der gegen seine „Pflicht zum Schutz des Lebens des Patienten“ verstoßende Anästhesist für dessen Tod. In der Tat handelt es sich also z. B. beim Luft- und Zugverkehr sowie bei chirurgischen Operationen um Tätigkeitsfelder, die „organisiert“ werden, und innerhalb dieser „Organisationen“ gibt es auch bestimmte Personen, die kraft außerstrafrechtlicher Normen, vertraglicher Pflichten oder Regeln der Kunst eine im Voraus bestimmte Rolle haben, eine Rolle, die es erlaubt, relativ sicher festzustellen, welches die jeweilige Zuständigkeit der Person ist und ob diese sich ihrem Verantwortungsbereich gemäß verhalten hat oder nicht. Aber der Maßstab der „Organisationszuständigkeit“, der bei den unechten Unterlassungsdelikten zur Feststellung, ob eine Person – und wenn ja, in welchem Umfang – Garant ist, von großen Nutzen ist, lässt sich nicht sinnvoll als Zurechnungskriterium auf die Fälle der einverständlichen Fremdgefährdung und der Mitwirkung an einer Selbstgefährdung übertragen. Denn welche außerstrafrechtliche Norm, welcher Vertrag oder welche der lex artis zugehörende Regel legt fest, a) welche vorgegebene Zuständigkeit derjenige hat, der einen anderen herausfordert und ihm die Bezahlung einer Flasche Whisky verspricht, wenn letzterer sich im Gegenzug dazu be31 Zur Gleichwertigkeit zwischen Handlungsdelikt und (unechter) Unterlassung siehe Gimbernat, ZStW 111 (1999), S. 307 ff.
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reit erklärt, diese vollständig auszutrinken, und b) welche Zuständigkeit andererseits der so Herausgeforderte hat, der infolge dessen, dass er sich auf das Spiel einlässt und tatsächlich eine solch enorme Menge an Alkohol zu sich nimmt, an einer akuten Alkoholvergiftung stirbt?32 Selbstverständlich werden chirurgische Eingriffe oder der Luft- und Zugverkehr organisiert, aber kann man ernstlich sagen, dass, wenn bei einem von einer anderen Person verursachten Brand eines Gebäudes, sich ein Mitbürger zur Rettung eines Kindes vor den Flammen in das brennende Gebäude begibt und sich hierbei verletzt, es sich um die Organisation einer Selbstverletzung handelt, mit Hilfe derer dann bestimmt werden könnte, welche Zuständigkeit dem Brandstifter und welche dem heldenhaften Mitbürger zukommt? Schließlich: Dass in Deutschland, aber auch in Spanien – in eklatantem Widerspruch zu dem anerkannten Grundsatz der Unwirksamkeit der Einwilligung bei überlegenem Wissen des Täters über das vom Opfer eingegangene Risiko33 – dennoch die Ansicht vertreten werden kann,34 dass eine Einwilligung auch bei Vorhandensein von überlegenem Wissen des Täters gegenüber dem Opfer wirksam sein könne (Geschlechtsverkehr mit einer zu einer Risikogruppe gehörenden Person, von der der gesunde Partner nicht weiß, sie selbst aber wohl, dass sie HI-Virusträger ist), zeigt in welchem Maße die Einführung fließender soziologischer Kriterien die richtige Lösung juristischer Probleme trüben kann. Da es sich bei diesen angeblich dem Opfer und/oder dem Teilnehmer an einer Selbstgefährdung bzw. dem Täter einer Fremdgefährdung zukommenden „Zuständigkeiten“ – anders als bei den unechten Unterlassungsdelikten – um Zuständigkeiten handelt, die jedes im Voraus bekannten Inhaltes entbehren, schlägt die hier abgelehnte soziologische Betrachtungsweise schließlich vor, diese „Lücke“ mit Hilfe des bereits oben erwähnten und abgelehnten35 sog. „Selbstverantwortungs-“ und „Selbstschutzprinzips“ zu schließen.
32 So der dem Beschluss des Landgerichts Córdoba vom 26. 9. 1995 zugrundeliegende Sachverhalt: siehe sogleich unten IV. 33 Vgl. BGH NStZ 1884, S. 410 f.; BGHSt 36, 1 ff.; 53, 55; LG Kempten NJW 1989, S. 2068 ff.; BayObLG NJW 1990, S. 131 f.; AG Hamburg NJW 1989, S. 2071 f. Im gleichen Sinne die spanische Rechtsprechung, siehe z. B. die Urteile des TS vom 4. 5. 1985 und 6. 6. 2011. Für die Wissenschaft vgl. nur: Schünemann, NStZ 1982, S. 63; ders., in: Die Rechtsprobleme von AIDS, Schünemann/Pfeiffer (Hrsg.), 1988, S. 492; ders., GA 1999, S. 222; Stree, JuS 1985, S. 183; Bottke, in: Die Rechtsprobleme von AIDS, Schünemann/Pfeiffer (Hrsg.), S. 187; Otto, FS Tröndle, 1989, S. 174 m.w.N.; ders., Jura 1992, S. 98; Portilla, CPC 1991, S. 731; Walther (Fn. 9), S. 240; Frisch, NStZ 1992, S. 66; Zaczyk (Fn. 5), S. 58 f.; Roxin, Chengchi Law Review 1994, S. 233; ders. (Fn. 2), § 11 Rn. 133 und § 13 Rn. 98 f. m.w.N.; Wessels/Beulke, (Fn. 9), § 6 Rn. 187; Hellmann (Fn. 9), S. 284; Puppe (Fn. 4), § 6 Rn. 20 ff.; MK-StGB/Schlehofer, vor §§ 32 ff. Rn. 143; Beulke, FS Otto, 2007, S. 207; Duttge (Fn. 5), S. 245 f.; Kühl, AT, 6. Aufl. 2008, § 4 Rn. 89 f.; Renzikowski (Fn. 5), S. 349; Radtke (Fn. 5), S. 837 f. 34 Angaben oben Fn. 25. 35 Siehe oben II. 3.
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IV. Ergebnis Nach allem ist daher daran festzuhalten, dass die einverständliche Fremdgefährdung stets strafbar ist, während die Teilnahme an einer freiverantwortlichen Selbstgefährdung straflos bleiben muss.36 Dieses Ergebnis folgt aus dem überzeugenden Teilnahmeargument (oben I. 1.) und daraus, dass die gegen dieses Argument vorgebrachten Einwände alles andere als schlüssig sind (oben I. 2. und 3.). Die abweichenden Ansichten, nach denen die einverständliche Fremdgefährdung der Teilnahme an einer Selbstgefährdung gleichgestellt und daher als straflos erachtet werden sollte, sind abzulehnen. Denn erstens ist nicht einzusehen, weshalb der Unterschied, den die Strafgesetzbücher bei vorsätzlichen Delikten zwischen (im Prinzip strafbarer) Fremdverletzung und (im Prinzip strafloser) Teilnahme an einer Selbstverletzung machen, sich nicht auch beim fahrlässigen Setzen einer Bedingung zur fahrlässigen Selbstverletzung und bei der fahrlässigen Verursachung einer Fremdverletzung widerspiegeln können 36
Eine solche unterschiedliche Behandlung dieser beiden Arten der Eingehung eines Risikos durch das Opfer wird auch in der deutschen Strafrechtswissenschaft vereinzelt vertreten: vgl. etwa Döllig GA 1984, S. 80 f.; Stree, JuS 1985, S. 183; Herzberg JA 1985, S. 272; ders. (Fn. 5), S. 513 f.; Duttge (Fn. 5), S. 241 ff. (zu den verschiedenen Maßstäbe, die Murmanns Meinung nach für die Einwilligung aufgestellt werden müssen, je nachdem, ob es sich um eine Selbst- oder um eine Fremdgefährdung handelt, Murmann, FS Puppe, 2011, S. 786 und oben Fn. 9). Auch die deutsche Rechtsprechung vertritt dies seit BGHSt 32, 262, NStZ 1984, S. 410 f. und BGH NStZ 1985, S. 319 ff. (dazu m.w.N. Roxin [Fn. 2], § 11 Rn. 126 ff.), wenngleich sich der BGH (BGHSt 53, 55) neuerdings Roxins Meinung angeschlossen hat, wonach die einverständliche Fremdgefährdung dann straflos sei, wenn sie einer Teilnahme an einer Selbstgefährdung gleichstehe. Differenzierend Roxin (Fn. 2), § 11 Rn. 123 ff.; ders., La polémica en torno a la heteropuesta en peligro consentida (von Cancio ins Spanische übersetztes Manuskript des von Roxin im Juli 2012 in der Universidad Autónoma de Madrid gehaltenen Vortrags, S. 12 ff.), der aufgrund unsicherer, schwer konkretisierbarer Kriterien danach unterscheidet, ob die einverständliche Fremdgefährdung – wie dies etwa beim Memel-Fall anzunehmen sei – einer Selbstgefährdung gleichsteht: Sei dies der Fall, dann könne dem Fremdgefährdenden der Erfolg nicht zugerechnet werden; stehe dagegen die Fremdgefährdung der Selbstgefährdung nicht gleich, dann hätten wir es mit einem strafbaren Verhalten zu tun; siehe auch ders., FS Gallas, 1973, S. 252; ders., JZ 2009, S. 399). Roxin folgen Schünemann, JA 1975, S. 273; BGHSt 53, 55 (w.N. bei Roxin, La polémica, S. 15 ff.) Gegen diese Differenzierung Roxins bei der einverständlichen Fremdgefährdung hat sich u. a. Stratenwerth (Fn. 7), S. 1021, ausgesprochen: „Nirgendwo findet sich eine Begründung dafür, weshalb es auf diesen Umstand [Roxin meint, dass wenn bei der Fremdgefährdung diese Gefährdung ,auf die Initiative‘ des Betroffenen stattfand, dann steht die Fremd- der Selbstgefährdung gleich und muss daher straflos bleiben] ankommen soll. Es geht schließlich um das Verhalten urteilsfähiger, erwachsener Menschen zueinander, die sich ganz einfach aus freien Stücken zu einem gefährlichen Unternehmen zusammenfinden können. Auch bleibt ungeklärt, wie sich jene Frage zum Kriterium der Beherrschung des Geschehens verhalten soll. Beim Urteil über die Wirksamkeit einer Einwilligung in die Verletzung spielt sie bekanntlich keine Rolle. Unter diesen Umständen aber kann eine Entscheidung danach, wer wen wie intensiv beeinflusst hat, nur eine des tatrichterlichen Ermessens sein – und damit eines Maßes an Unsicherheit, das nach Roxins eigenen Worten ,mit dem Bestimmtheitsgrundsatz kaum zu vereinbaren ist‘“.
Strafrechtliche Gleichbehandlung der Mitwirkung an einer Selbstgefährdung?
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soll. Und zweitens ist bisher nicht überzeugend dargelegt worden, wie das Selbstverantwortungs- und das Selbstschutzprinzip, mit denen man die Gleichbehandlung beider Sachverhalte im Sinne der Straflosigkeit begründen will, aus der strafgesetzlichen Regelung hergeleitet werden soll – denn aus dieser ergibt sich vielmehr gerade die Nicht-Geltung derartiger Prinzipien (oben II. 2.) –, wobei die Strafbarkeit der „vorsätzlichen“ Teilnahme an einer „vorsätzlichen“ Selbsttötung oder Selbstverletzung sowohl mit den verschiedenen europäischen Verfassungen als auch mit Art. 2 EMRK vereinbar ist (oben II. 3.). Schließlich ist speziell gegenüber der soziologischen ebenfalls die Straflosigkeit beider Sachverhalte befürwortenden Betrachtungsweise einzuwenden, dass es sich bei der zur Begründung dieses Ergebnisses angeführten Opferzuständigkeit um einen völlig konturenlosen, aus der Luft gegriffenen Begriff handelt, mit dem nichts anzufangen ist (oben III.). Die hier vertretene, zwischen der strafbaren Fremdgefährdung einerseits und der straflosen Teilnahme an einer Selbstgefährdung andererseits differenzierende Meinung wird nicht nur von den deutschen, sondern auch – wenn auch nicht immer völlig frei von Widersprüchen – von den spanischen Gerichten vertreten. So hat die Audiencia Provincial (Landgericht) Córdoba in ihrem Beschluss vom 26. September 1995 eine Strafbarkeit aus fahrlässiger Tötung in einem Fall einer Teilnahme an einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung mit Todesfolge verneint, dem folgende Feststellungen zugrundelagen: Der Angeklagte hatte einem anderen versprochen, ihm eine Flasche Whisky zu bezahlen, wenn dieser – das spätere Opfer – sich bereit erklären würde, die Flasche Whisky vollständig auszutrinken. Der andere ließ sich darauf ein und starb wenige Minuten nachdem er bereits einen Großteil des Whiskys zu sich genommen hatte an einer akuten Alkoholvergiftung. Umgekehrt verurteilte das TS mit Urteil vom 17. Juni 1990 den Angeklagten in einem Fall der einverständlichen Fremdgefährdung mit Todesfolge wegen fahrlässiger Tötung. Nach den Feststellungen hatte das spätere Opfer hier dem Angeklagten vorgeschlagen, auf eine Flasche, die es in der Hand hielt, zu schießen, und gehofft, dass der Angeklagte auch nur die Flasche treffen würde. Letzterer schoss allerdings daneben und traf statt der Flasche das Opfer tödlich am Kopf. Unabhängig davon, ob man – wie ich es vertrete – die Behandlung der Problematik der Teilnahme an einer Selbstgefährdung und der Fremdgefährdung bei der Lehre der objektiven Zurechnung oder beim tatbestandsmäßigen Verhalten37 oder aber bei der Tatbestandsreichweite verortet,38 besteht innerhalb dieser unterschiedlichen Auffassungen insoweit Übereinstimmung, als sie diese Problematik jedenfalls auf Tatbestandsebene mit Hilfe normativer Erwägungen behandeln wollen. Diesen Beitrag widme ich meinem Freund Jürgen Wolter, einem herausragenden Strafrechtler, der sich seit den Anfängen seiner wissenschaftlichen Laufbahn stets besonders gerne der Lehre von der objektiven Zurechnung gewidmet und entschei37 So Frisch (Fn. 5), S. 8 f., 198; ders., NStZ 1992, S. 5, 67; ders., Tipo penal e imputación objetiva, 1995, S. 128, 133 ff.; ders., FS Roxin 2001, S. 232 f. 38 So Roxin (Fn. 2), § 11 Rn. 106 ff.
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dende Beiträge zu deren Fortentwicklung und Verfestigung geliefert hat.39 Ich wünsche ihm noch viele gesunde und glückliche Lebensjahre und weiterhin große Schaffenskraft.
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Nämlich in folgenden Schriften: Wolter, ZStW 89 (1977), S. 649 ff.; ders., GA 1977, S. 257 ff.; ders., Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981; ders., in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 103 ff.; ders., GA 1991, S. 531 ff.; ders., FS Pötz, 1993, S. 269 ff.; ders., in: Gimbernat/Schünemann/Wolter (Hrsg.), Omisión e imputación objetiva en Derecho penal, 1994, S. 65 ff. [= Gimbernat/Schünemann/Wolter (Hrsg.), Internationale Dogmatik der objektiven Zurechnung und der Unterlassungsdelikte, 1995, S. 3 ff.]; ders., FS Schroeder, 2006, S. 431 ff.
Überlegungen zu Strafgrund und Wesen des Versuchs Von Karl Heinz Gössel
A. Vorüberlegungen Bekanntlich durchläuft auch die Straftat mehrere ineinander übergehende Handlungsstufen oder -stadien: Vorstellung eines kriminellen Verhaltens und die Entscheidung dazu, Planung, Vorbereitung, Beginn, Durchführung, Vollendung, Beendigung.1 Während die ersten Stadien bis zur Planung unbestritten straflos sind, können Vorbereitung und Versuch durchaus strafbar sein, was sich indessen deshalb nur im Hinblick auf den einzelnen Tatbestand ermitteln2 lässt, weil darüber allein die gesetzliche Beschreibung eines Verhaltens als strafbar in einem Tatbestand entscheidet. Damit stellt sich schon eine erste, für Vorbereitung und Versuch gleichermaßen bedeutsame Frage, der hier aufgrund einer schon aus Raumgründen notwendigen thematischen Beschränkung nur für den Versuch nachgegangen werden kann und soll, soweit der Zusammenhang beider Verbrechensstadien nicht eine Betrachtung auch der Vorbereitung nötig machen sollte: Was ist der Grund für die Strafbarkeit des Versuchs? Den Strafgrund des Versuchs suchen insbesondere objektive, subjektive, vermittelnde objektiv-subjektive Theorien, eine Eindruckstheorie, eine dualistische und auch eine normative, entscheidend auf den Verstoß gegen eine Norm (oder ein zwischen den Rechtssubjekten bestehenden Anerkennungsverhältnisses) abstellende Theorien zu ergründen. Will man aber den Grund eines Gegenstandes erkennen, so muss zuvor dieser Gegenstand selbst bekannt sein. Deshalb ist mit der Frage nach dem Strafgrund des Versuchs die Frage nach dem Gegenstand des Versuchs selbst zu verbinden: Was ist Versuch, und was ist der Grund für die Strafbarkeit des Versuchs? Diese Fragen weisen auf eine Verknüpfung zwischen möglicher Strafe (als 1 Vgl. dazu z. B. LK-Hillenkamp, 12. Aufl. 2010, Vor § 22 Rn. 1 f.; NK-Zaczyk, 3. Aufl. 2010, § 22 Rn. 2; SK-Rudolphi, 6. Aufl. 1993, Vor § 22 Rn. 1; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, Vor § 49; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 25/2; Otto, Grundkurs Strafrecht, Allgemeine Strafrechtslehre, 7. Aufl. 2004, § 18 Rn. 1 ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 42. Aufl. 2012, Rn. 590; Lackner/Kühl, 27. Aufl. 2011, Vor § 22 Rn. 1; Kühl, FS Roxin 2001, S. 666. Einer Mindermeinung, die im Gegensatz dazu das Versuchsdelikt als eigenständigen Rechtsbegriff verstehen will, kann nicht gefolgt werden; Näheres dazu bei Gössel, FS Szwarc 2009, S. 193, 203. 2 BGHSt 9, 62, 63.
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Strafbarkeit) und Versuch hin, eine Verknüpfung, welche den Versuch als Voraussetzung der Strafbarkeit und damit zugleich der Strafe derart anerkennt, dass Versuch Strafe begründen kann. Damit freilich ist zugleich die allgemeine Frage nach dem Grund der Strafe selbst gestellt.
B. Der Versuch als Grund der Strafe In seiner Dissertation über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde aus dem Jahre 1891 hat Schopenhauer bekanntlich nachhaltig daran erinnert, dass jeglicher Gegenstand in mehrfacher Weise gegründet sein kann. Davon ausgehend,3 lassen sich unter zusätzlicher Berücksichtigung der Untersuchungen von Laun4 und Spendel5 fünf verschiedene Gründe der Strafe oder sonstiger strafrechtlich bedeutsamer Gegenstände ausmachen: Real- und Erkenntnisgrund, Rechts- und Verpflichtungsgrund, schließlich Final- oder Zweckgrund.6
I. Die möglichen Gründe der Strafe Ist unter dem Finalgrund der Strafe das Ziel zu verstehen, zu dessen zukünftiger Erreichung die Strafe eingesetzt wird, so hat der Rechtsgrund der Strafe das Recht des Staates zur Verhängung und Vollstreckung von Strafen zum Gegenstand. Verpflichtungs- oder auch Sollensgrund der Strafe ist jener Gegenstand, demzufolge Strafe sein soll. Real- und Erkenntnisgrund existieren nur hinsichtlich bestimmt gearteter Gegenstände. Real gegründet sein kann nur ein Gegenstand, der auch real existiert: Ein erst geplantes, aber noch nicht gebautes Haus existiert noch nicht real und kann deshalb auch nicht real gegründet sein. Entsprechend wirkt der Erkenntnisgrund allein im Reich der Begriffe als ein Satz, durch den ein anderer erkannt wird – aus den im Erkenntnisgrund gegebenen Prämissen folgt notwendig ein bestimmter Schluss.7 Der Erkenntnisgrund wird deshalb auch als „Ursache des Erkennens“, als logischer Grund eines Erkenntnisurteils bezeichnet.8
3 Auf eine Erörterung des Satzes im Grunde muss hier verzichtet werden, vgl. dazu Bendszeit, in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 3, 1974, Stichwort: Grund. 4 Laun, Der Satz vom Grunde, 2. Aufl. 1956. 5 Spendel, FS Rittler 1957, S. 39. 6 Vgl. dazu Gössel, FS Pfeiffer 1988, S. 3. 7 Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, 1891, 8. Kapitel, § 49. 8 Specht, in: Ritter (Fn. 3), Band 1, 1971, Stichwort: causa cognoscendi.
Überlegungen zu Strafgrund und Wesen des Versuchs
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II. Die möglichen Gründe für die Strafbarkeit des Versuchs Diese Überlegungen zum Grund der Strafe sind auch für die Problematik des Strafgrundes des Versuchs von Bedeutung: Mit der Suche nach dem „Strafgrund“ des Versuchs soll der Grund der Versuchsstrafbarkeit ermittelt, also jener Gegenstand gefunden werden, der der Grund dafür ist, dass der Versuch Strafe zur Folge hat. 1. Dass der Versuch unmöglich Zweckgrund der Strafe sein kann, ist leicht einzusehen: Wer solches behaupten wollte, müsste fordern, die Strafe zu dem Zweck zu verhängen, Versuch, also ein strafbares Verhalten, zu erreichen. Dagegen ist der Verpflichtungsgrund leicht zu ermitteln, und zwar im Gesetz selbst: § 23 Abs. 1 StGB verknüpft den Versuch mit der Strafe. Der Erkenntnisgrund der Versuchsstrafbarkeit ist im strafrichterlichen Urteil zu finden, welches selbst ein Urteil enthält: Das Urteil, dass eine Straftat vorliegt und eine bestimmte Folge haben soll. 2. Nach §§ 1, 12 StGB sollen Taten mit Strafe verknüpft werden: Die wirklichen sozialen Tatsachen etwa des Freiheitsentzugs oder der Geldleistung werden real jedenfalls auch durch die reale Tatsache des Verhaltens begründet, welches das Gesetz als Straftat ansieht. Der in §§ 1, 12 StGB normierte Sollensgrund der Strafe bestimmt damit zugleich auch deren Realgrund.9 Wie das reale Verhalten bei einer vollendeten Straftat Realgrund der Strafe ist, so auch bei einer versuchten:10 Auch die versuchte Straftat ist eine Straftat11 – indessen: Welches reale Verhalten ist Gegenstand des Versuchs?
C. Die Bedeutung der sog. Rechtsgrundtheorien Diese Frage führt zu der weiteren nach der Bedeutung der Rechtsgrundtheorien: Machen sie Aussagen über das den Gegenstand des Versuchs bildende reale Verhalten als Realgrund der Versuchsstrafe, oder geben sie eine hier noch ausstehende Antwort auf die Frage nach dem Rechtsgrund der Versuchsstrafe:12 welches Recht hat der Staat, an den Versuch die Strafe als Rechtsfolge zu knüpfen? Oder befassen sie sich mit einem anderen Gegenstand?
9 Daneben tritt allerdings zudem die Gefährlichkeit des Täters (nicht: die der Tat) als weiterer möglicher Realgrund, jedoch nur in den Fällen, in denen das Gesetz selbst (als Sollensgrund) die Gefährlichkeit zum Realgrund der Strafe bestimmt, was beim Versuch nicht der Fall ist (Gössel, FS Pfeiffer, S. 9 ff.). 10 Für Einheitlichkeit des Strafgrundes beim versuchten und beim vollendeten Delikt MKHerzberg/Hoffmann-Holland, 2. Auflage 2011, § 22 Rn. 12; NK-Zaczyk (Fn. 1), § 22 Rn. 7; Jakobs (Fn. 1), 25/15. 11 Schmidhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, Studienbuch, 2. Aufl. 1975, 11/15. 12 So z. B. SK-Rudolphi (Fn. 1), Vor § 22 Rn. 11; Jescheck/Weigend (Fn. 1), § 49 II. 1.; Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2003, § 26 Rn. 14.
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I. Rechtsgrundtheorien und Realgrund 1. Der handelnd herbeigeführten Gefährdung eines Rechtsguts und dem betätigten rechtsfeindlichen Willen oder beiden Ereignissen in ihrem Zusammentreffen können eine reale Existenz ebenso wenig abgesprochen werden wie dem durch die versuchte Tat hervorgerufenen rechtserschütternden Eindruck; nichts anderes gilt für das der Norm widersprechende Verhalten (Normbruch), es sei tatbestandsnah13 oder nicht, für den Bruch eines zwischen den Rechtssubjekten bestehenden Anerkennungsverhältnisses14 und auch für die auf den Handlungsunwert abstellende dualistische Theorie:15 Alle diese realen Geschehnisse werden diesen Theorien zufolge vom Strafrecht normativ als Versuch erfasst und unter Strafe gestellt. Die Rechtsgrundtheorien machen also Aussagen über den Realgrund der Versuchsstrafbarkeit und bestimmen damit den Versuch als einen real existierenden Gegenstand, der von einem Gesetz normativ erfasst wird, sich also gegen eine ausschließlich normative Bestimmung16 wendet – und antworten damit gerade nicht auf die Frage, warum der Staat berechtigt ist, die Rechtsgutsgefährdung etc. mit Strafe zu verknüpfen, und scheiden damit als Lehren vom Rechtsgrund der Versuchsstrafbarkeit aus.17 2. Entbehren die sog. Strafgrundtheorien damit auch irgendwelcher Aussagen zum Rechtsgrund der Strafbarkeit des Versuchs, so bemühen sie sich aber dennoch darum darzulegen, warum der Versuch strafbar sein solle: Indem sie etwa auf die objektive Gefährdung eines Rechtsguts abstellen, einen rechtsfeindlichen Willen oder auf die Erzeugung eines rechtserschütternden Eindrucks, so versuchen sie, die Strafwürdigkeit des Versuchs als Grund der Entscheidung des Gesetzgebers über die Strafbarkeit des Versuchs zu rechtfertigen, zu kritisieren oder gar zu widerlegen. Die sog. Rechtsgrundtheorien dürften daher (neben ihren Aussagen zum Realgrund des Versuchs) zudem die Strafwürdigkeit als einen Grund für die gesetzliche Regelung der Versuchsstrafbarkeit zum Gegenstand haben, als einen Grund für den Sollens- oder Verpflichtungsgrund der Versuchsstrafbarkeit also (o. B. I.). Die Strafwürdigkeit erweist sich damit als ein Motiv für die gesetzgeberische Entscheidung, wobei hier dahingestellt bleiben kann, welchem der genannten Gründe eines Gegenstandes (hier: des Versuchs) die gesetzgeberischen Motive zugeordnet werden können. Sobald diese Motive zu einem realen Gesetz geführt haben, entscheidet allein dieses darüber, welche Arten eines bestimmten Gegenstandes (nur taugliche oder auch untaugliche und irreale Versuche) in welchem Umfang (vgl. § 23 Abs. 1 StGB) auch hinsichtlich ihrer zeitlichen Dauer (etwa: Versuchsbeginn und -ende) von diesem Gesetz erfasst wird. Die gesetz-
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Jakobs (Fn. 1), 25/21. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1987, S. 128 ff., 326, s. dazu u. D. IV. 3. c). 15 Schmidhäuser (Fn. 11), 11/16 und 5/38 ff. 16 So aber etwa Jakobs (Fn. 1), Vorwort S. VII; dagegen Gössel, FS Küper 2007, S. 83, wie hier auch Polaino Navarrete, FS Gössel 2002, S. 157, 168. 17 Anders aber Jescheck/Weigend (Fn. 1), § 49 II. und Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 2, 7. Aufl. 1989, § 40 Rn. 40. 14
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geberischen Motive können vom Zeitpunkt der Gesetzeswerdung nur noch insofern bedeutsam sein, als sie im Gesetz selbst zum Ausdruck gekommen sind.
II. Rechtsgrund und Gesetz Damit zeigt sich, dass sowohl Theorien über das Wesen des Versuchs, verstanden als inhaltliche Bestimmung des Realgrundes der Versuchsstrafe, als auch die gesetzgeberischen Motive für die Einführung oder Beibehaltung der Versuchsstrafbarkeit eine gewisse Bedeutsamkeit besitzen: Stets ist zu klären, ob und inwieweit die Wesensbestimmung des Versuchs oder die gesetzgeberischen Motive für die Versuchsstrafbarkeit in die je in Betracht kommenden Gesetzesbestimmungen eingegangen sind, so insbes. bei den Fragen nach der Bestimmung des Versuchsbeginns (Abgrenzung zwischen Vorbereitung und Versuch) und nach der Strafbarkeit des sog. untauglichen Versuchs. Deshalb muss auch hier auf die sog. Rechtsgrundtheorien eingegangen werden, wenn es auch, was vorweg bemerkt werden soll, fragwürdig erscheint, ob Rechtsgrundtheorien und Gesetzesmotive für die beiden letztgenannten Fragen von Bedeutung sind.
D. Strafgrundtheorien und die Problematik der Abgrenzung des Versuches von der Vorbereitung Wie unter A. dargelegt, lassen sich die einzelnen Verbrechensstadien nur in Abhängigkeit von der Struktur des jeweiligen Tatbestandes voneinander abgrenzen. Dies gilt insbesondere für die Abgrenzung von Vorbereitung und Versuch: Die jeweilige tatbestandliche Fassung entscheidet darüber, ob ein bestimmtes, der Vollendung vorausgehendes Verhalten als „Ansetzen“ zur Tatbestandsverwirklichung nach § 22 StGB qualifiziert werden kann, oder ob diese Zone noch nicht erreicht ist.18 Und hier werden die oben erwähnten (B. I.) Lehren zum Realgrund der Versuchsstrafbarkeit als bedeutsam angesehen: Das versuchsbegründende „Ansetzen“ ist schon Teil des die Versuchsstrafbarkeit real begründenden Geschehens und muss folglich alle dessen Merkmale aufweisen, insbes. also diejenigen, welche der jeweiligen Theorie zufolge den Realgrund der Versuchsstrafbarkeit kennzeichnen: der rechtserschütternde Eindruck, die Rechtsgutsgefährdung oder (allein oder zusammen mit der Gefährdung) der betätigte rechtsfeindliche Wille, der (tatbestandsnahe) Bruch einer Norm (oder eines Anerkennungsverhältnisses zwischen den Rechtssubjekten) oder ein bestimmter Handlungsunwert.
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Vgl. z. B. OLG Bamberg NStZ 1982, 247.
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I. Die objektive Theorie Im Hinblick auf den bei allen Stadien der Straftat gleichen Vorsatz suchte die objektive Theorie den Versuch von vorhergehenden Stadien allein im objektiven Bereich abzugrenzen.19 Deshalb erblickte sie den Strafgrund (hier als Realgrund verstanden, o. C. I.) des Versuchs in der abstrakten (= ältere oder abstrakt-objektive Theorie) oder konkreten (= jüngere oder konkret-objektive Theorie) Gefährdung des in der tatbestandlich beschriebenen Rechtsgutsbeeinträchtigung genannten Tatobjekts. Dementsprechend waren auch Vorbereitung und Versuch voneinander abzugrenzen: Versuch war nur die (abstrakte oder konkrete) Gefährdung, so dass alle diejenigen Handlungen dem strafbaren Versuchsbereich zu entziehen waren, die noch keine solche Gefährdung darstellten. Weil jegliche Gefährdung aber, so die treffende Kritik von Jakobs20, schon mit dem Tatentschluss selbst entsteht und überdies stufenlos quantifizierbar ist, ermöglicht sie ihrer Unbestimmtheit wegen eine unerträgliche Vorverlagerung der Strafbarkeit auf nicht strafwürdige Verhaltensweisen und ist deshalb abzulehnen; im Übrigen wird sie heute auch nicht mehr vertreten.
II. Die subjektive Theorie 1. Gerade umgekehrt zur objektiven Theorie geht die subjektive Theorie von der fehlenden Abgrenzungsmöglichkeit des Versuchs im objektiven Bereich aus und sieht deshalb den betätigten rechtsfeindlichen Willen als Strafgrund (= Realgrund, s. o. C. I.) des Versuchs an.21 Allerdings hatte die Rspr. damit kaum jemals die bloße Vorstellung des Täters i. S. eines reinen Gesinnungsstrafrechts22 bestraft, sondern in der Betätigung des verbrecherischen Willens stets eine irgendwie geartete objektiv bemerkbare Verwirklichung der Tätervorstellung verlangt.23 Indessen hat die Rspr. an das Vorliegen dieses Elements derart geringe Anforderungen gestellt, dass dies der Sache nach auf eine Preisgabe objektiver Elemente hinauslief. Besonders weitgehend war die Subjektivierung beim Raub. Hier genügte bloßes Auflauern,24 wenn auch nur am in Aussicht genommenen Tatort,25 um Versuch zu be19
Jescheck/Weigend (Fn. 1), § 49 II. 1. Jakobs (Fn. 1), 25/57. 21 Vgl. z. B. RGSt 1, 439, 441: der verbrecherische Wille; BGHSt 11, 268, 271: Auflehnung gegen die rechtlich geschützte Ordnung; LK-Hillenkamp (Fn 1), Vor § 22 Rn. 60 ff; Lackner/Kühl (Fn. 1), § 22 Rn. 11; vgl. auch die Nachw. bei Jescheck/Weigend (Fn. 1), § 49 II. 2. 22 Vgl. die insoweit berechtigte Kritik bei Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 12), § 26 Rn. 17. 23 So verlangte schon RGSt 1, 439, 441, dass der verbrecherische Wille in Erscheinung tritt, und RGSt 68, 339, 340 verlangte neben der verbrecherischen Absicht die Ausführung einer bestimmten Handlung in ebendieser Absicht. 24 BGH bei Dallinger, MDR 1966, 725. 25 BGH bei Dallinger, MDR 1973, 728 und ferner 900. 20
Überlegungen zu Strafgrund und Wesen des Versuchs
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jahen, z. B. in dem berüchtigten „Pfeffertütenfall“: Die Täter erwarteten vergeblich den Kassenboten angriffsbereit mit einer Pfeffertüte, deren Inhalt dem Opfer in die Augen gestreut werden sollte,26 desgleichen die bloße Anknüpfung von Scheinverhandlungen mit dem Opfer,27 ebenso das Läuten an der verschlossenen Wohnungstür.28 2. Dieser von der Rspr. eingeschlagene Weg zeigt, dass der extreme Subjektivismus das Gesetz sprengt. Zwar ist nicht zu verkennen, dass gewichtige kriminalpolitische Gründe diese Entwicklung beeinflusst haben, wie der, zum Schutz der Opfer „die Grenzen zwischen Vorbereitung und Versuch weit vorzuverlegen“29. Gleichwohl ist das Gesetz zu respektieren, und gerade das hat die extrem subjektive Auffassung nicht getan: Sie missachtete die vom Tatbestand gezogenen Grenzen: Auch im Falle des Versuches ist nicht etwa die Bestrafung allein der bösen Absicht gestattet, sondern nur der sich tatbestandserheblich betätigende verbrecherische Willen. 3. Damit kann der subjektiven Theorie wegen der damit verbundenen ausufernden und kaum noch beherrschbaren Vorverlagerung der Strafbarkeit heute nicht mehr zugestimmt werden. Mit der Betätigung eines verbrecherischen Willens stellte sie zu Recht zwar auch auf die objektive Rechtsgutsbeeinträchtigung ab, war aber nicht in der Lage, nichtstrafwürdige Betätigungsweisen eines verbrecherischen Entschlusses aus der Strafbarkeitszone auszuschließen:30 Schon vor dem Übergang zu straflosen Vorbereitungshandlungen31 betätigt seinen Mordentschluss auch, wer nur einen Spaziergang macht, um in der Bewegung an der frischen Luft seinen vorher gefassten Plan zum Mord in allen Einzelheiten genau zu überlegen, ebenso wie derjenige, der den in Gedanken bereits fertiggestellten Mordplan schriftlich niederlegt und überarbeitet. Erst recht nicht zugestimmt werden kann jenen Formen der subjektiven Theorie, welche die Versuchsstrafbarkeit in der Gefährlichkeit des Täters32 oder in der Notwendigkeit eines Willensstrafrechts33 begründet sehen: Diese sog. Tätertheorie missachtet die rechtsstaatlich notwendige Tatgebundenheit der Strafe (Tatstrafrecht34, Art. 103 Abs. 2 GG). 4. Ebenso wenig kann indessen der den subjektiven Ausgangspunkt gänzlich verwerfenden Auffassung von Hruschka zugestimmt werden, welcher die subjektive 26
BGH NJW 1952, 514 mit abl. Anm. Mezger. RGSt 69, 327. 28 OLG Frankfurt HESt 2, 306; BGHSt 26, 201, 203 mit abl. Anm. Gössel, JR 1976, 249. 29 BGHSt 6, 302, 304. 30 Vgl. dazu auch Hirsch, FS Roxin, S. 711 ff. 31 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 29 Rn. 36. 32 V. Liszt, Lb, 21./22. Aufl. 1919, § 46 I. 3.; abl. Waiblinger, ZStW 69 (1957). 189, 190; vgl. dazu auch LK-Hillenkamp (Fn. 1), Vor § 22 Rn. 66 ff. 33 Vgl. dazu die (angesichts der damaligen NS-Diktatur verständliche) vorsichtige Stellungnahme bei Olshausen, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 12. Aufl. 1942, Vorbem. 3 b zu § 43. 34 Treffend Roxin (Fn. 31), § 29 Rn. 42. 27
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Theorie deshalb für verfehlt hält, weil die Zurechnung eines bestimmten Verhaltens durch einen Zurechnenden als Versuch nicht an die Auffassung des Handelnden gebunden werden könne.35 Indessen ist die Rechtsordnung nicht gehindert, ein bestimmtes, nur aus der Sicht des Handelnden für fremde Rechtsgüter gefährliches und auch objektiv betätigtes Verhalten als strafbar zuzurechnen.
III. Objektiv-subjektive Abgrenzungstheorien Vermittelnde Auffassungen haben von jeher in der Verbindung subjektiver und objektiver Elemente den Strafgrund des Versuchs gefunden:36 Das gilt im Grunde schon für die oben erwähnte (II.) subjektive Theorie, die mit der Betätigung des rechtsfeindlichen Willens theoretisch ebenfalls ein objektives Element verlangte wie auch die sog. Eindruckstheorie, derzufolge als Versuch derjenige betätigte rechtsfeindliche Wille anzusehen ist, der geeignet ist, das Vertrauen der Rechtsgenossen in die Geltung der Rechtsordnung zu erschüttern,37 also neben objektiven und subjektiven Faktoren zudem eine davon auf die Allgemeinheit ausgehende Wirkung in die Bestimmung des Versuchs mit aufnimmt.38 Auch die dualistische Theorie (IV. 2.) erblickt den Handlungsunwert in einer Verbindung objektiver und subjektiver Faktoren39 wie ebenso die normative Theorie vom Strafgrund des Versuchs als „Expressiv-Werden eines Normbruchs“40. Wer sonst auf den Normbruch (oder den Bruch eines zwischen den Subjekten bestehenden Anerkennungsverhältnisses, s. dazu u. IV. 3.) als Wesenselement des Versuchs abstellt, kann diesen zwar schon darin erblicken, dass der Täter den Entschluss zur Begehung eines Verbrechens fasst,41 also allein in einem subjektiven Element, jedoch geschieht dies nicht: Auch die Vertreter der Normbruchslehren (oder vom Bruch eines Anerkennungsverhältnisses) verlangen 35
Strukturen der Zurechnung 1976, 58 ff. Vgl. z. B. Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 17. Aufl. 1926, § 43, Anm. II. 2. 37 Wohl noch überwiegende Meinung, so z. B. Schönke/Schröder/Eser, 27. Aufl. 2006, Vor § 22 Rn. 22; Jescheck/Weigend (Fn. 1), § 49 II. 3; Wessels/Beulke (Fn. 1), Rn. 594; Gropp, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2005, § 9 Rn. 48 f.; Niepoth, Der untaugliche Versuch beim unechten Unterlassungsdelikt, 1994, S. 136; Papageorgiou-Gonatas, Wo liegt die Grenze zwischen Vorbereitung und Versuch, 1988, S. 202 ff., 209 ff.; für das österreichische Recht Burgstaller öJBI. 1976, 122; so wohl auch SK-Rudolphi (Fn. 1), Vor § 22 Rn. 14a. 38 Roxin (FS Nishihara 1998, S. 158 ff. und ders. [Fn. 31], § 29 Rn. 10 ff.) unterscheidet diese Theorie (von ihm als Vereinigungstheorie bezeichnet) von einer gleichsam „nackten“ Eindruckstheorie (so AT II 29/46 ff.), die nur auf die Erschütterung des Vertrauens der Allgemeinheit, abstellt, indessen aber nicht vertreten wird. 39 Schmidhäuser (Fn. 11), 11/16; Alwart, Strafwürdiges Versuchen 1982, S. 158 f. 40 Jakobs (Fn. 1), 25/21, 24 ff. und 55 ff. 41 Treffend der Hinweis von Sancinetti, Subjektive Unrechtsbegründung und Rücktritt vom Versuch, 1995, S. 53 auf Matthäus 5, 28: „Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen“. 36
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zusätzlich ein objektives Element mindestens in Form der Gefährdung (s. allerdings o. I. zur Kritik dieses Merkmals).
IV. Die Untauglichkeit der Strafgrundtheorien für die Abgrenzungsproblematik Damit dürfte sich ein allgemein anerkanntes Zwischenergebnis festhalten lassen: Wie jede Straftat, so verlangt auch die versuchte Straftat ein Verhalten, das subjektive wie objektive Faktoren, welcher Art auch immer, in sich vereint. Weitere Erkenntnisse dürften diese Theorien indessen nicht bieten können: Sie sind nicht in der Lage, das Überschreiten der Schwelle zum strafbaren Versuch überzeugend aufzuzeigen und zu begründen. 1. Für die objektive Theorie wurde dies bereits o. I. aufgezeigt. Auch die subjektiven Theorien führen nicht weiter: Sie verlangen zwar das objektive Element der Betätigung eines verbrecherischen Willens, können diese Betätigung aber nicht ausreichend präzise bestimmen:42 Schon straflosen Vorbereitungshandlungen vorhergehendes Verhalten lässt sich als Betätigung auffassen, wie etwa die schriftliche Niederlegung eines potentiellen Mordplanes. Entsprechendes gilt für die Eindruckstheorie:43 Sie stellt ebenfalls auf das unklare Element der Willensbetätigung ab,44 kann zudem nicht angeben, worin der rechtserschütternde Eindruck konkret besteht45 und überdies erscheint bisher ungeklärt, ob die versuchte Straftat durchgehend einen rechtserschütternden Eindruck erzielt.46 Soweit die subjektiven Theorien das objektive Element der Betätigung in der Herbeiführung einer Rechtsgutsgefährdung (zur Kritik s. o. I.) erblicken,47 steht ihnen schon der Wortlaut des Gesetzes entgegen, der eine solche Gefährdung zur Versuchsstrafbarkeit nicht verlangt. 2. Die dualistische Versuchstheorie unterscheidet zwischen zwei Versuchsarten: den intentionalen und den gefährlichen Versuchen.48 Beim intentionalen Versuch handelt der Täter zielgerichtet49; der gefährliche Versuch richtet sich „bei Betätigung ir-
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Zutr. Rath, JuS 1998, 1006, 1008. Anders noch Maurach/Gössel/Zipf (Fn. 17), § 40 Rn. 40 ff., 45 ff. 44 Vgl. dazu beispielhaft Hirsch, FS Roxin, S. 716. 45 LK-Hillenkamp (Fn. 1), Vor § 22 Rn. 78 ff.; Kratzsch, Verhaltenssteuerung und Organisation im Strafrecht, 1985, S. 436. 46 Vgl. dazu auch Rath, JuS 1998, 1006, 1008; mit Recht krit. zur Eindruckstheorie Murmann, Versuchsunrecht und Rücktritt, 1999, S. 4 f. 47 Vgl. z. B. Otto (Fn. 1), § 18 Rn. 3; Gropp (Fn. 37), § 9 Rn. 49. 48 Schmidhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, Lb., 15/12 und ders. (Fn. 11) 15/16; Alwart (Fn. 39), S. 158 ff. 49 Schmidhäuser Lb. (Fn. 48), 15/12 und Stub. (Fn. 11), 11/34; vgl. auch Alwart (Fn. 39), 163: „zweckorientiertes Handeln“. 43
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gendeines Willens“50 „objektiv auf Verwirklichung des vollen … Unrechtsgehalts“51. Dieser Lehre ist schon entgegenzuhalten, dass sie den untauglichen und ungefährlichen Versuch nur bei zielgerichtet absichtlichem Verhalten für strafbar hält: eine mit dem Gesetz nicht vereinbare Auffassung.52 3. Für die Normbruchstheorien und die Anerkennungstheorie gilt Ähnliches: Eine praktisch brauchbare Bestimmung der Überschreitung der Schwelle zum strafbaren Versuch erlauben sie nicht (o. III.). Das gilt unabhängig davon, ob sie den Versuch als normwidrige Rechtsgutsbeeinträchtigung charakterisiert sehen oder ohne Rücksicht darauf als Expressiv-Werden eines Normbruchs. a) Die von Hirsch vorgeschlagene Konkretisierung des rechtsgutsbeeinträchtigenden normwidrigen Versuchsverhaltens auf „den Beginn einer wirklichen, nämlich die konkrete Möglichkeit“ der Tatbestandsverwirklichung „beinhaltende(n) Handlung“53, dürfte nicht weiterführen, auch dann nicht, wenn diese Möglichkeit dahingehend präzisiert wird, dass „das konkrete Risiko der Verwirklichung“ einer „tatbestandsmäßigen Handlung“ aus der Sicht eines „verständigen Dritten“ vorliegen muss, „der den Tatplan kennt“54 : Diese Einschränkung ist mit dem Gesetz nicht vereinbar, weil §§ 22, 23 StGB den Versuch unabhängig vom Vorliegen eines derartigen Risikos unter Strafe stellen.55 Dem Versuch einer Konkretisierung des Versuchsbeginns durch Kratzsch auf die Wahrscheinlichkeit einer Rechtsgutsverletzung56 ist schon die fehlende Präzision dieses Merkmals entgegenzuhalten wie aber zudem, dass das Gesetz ein solches Merkmal zur Strafbarkeit nicht verlangt. Ganz ähnlich dürfte auch der normative Ansatz von Köhler mit dem Gesetz nicht vereinbar sein, der darauf abstellt, dass die Möglichkeit einer Rechtsgutsverletzung „nach einer objektiven Prognose ex ante“ naheliegen muss.57 Auch Roxins Vereinigungstheorie vom Versuch als „tatbestandsnahe Gefährdung oder tatbestandsnaher, rechtserschütternder Normbruch“58 leidet entscheidend darunter, dass das Gesetz eine solche Gefährdung ebenso wenig verlangt wie das von ihm als Strafgrund angegebene „general- oder spezialpräventive Strafbedürfnis“59.
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Schmidhäuser (Fn. 11), 11/11. Schmidhäuser (Fn. 11), 11/29. 52 Zutr. SK-Rudolphi (Fn. 1), Vor § 22 Rn. 14; Roxin (Fn. 31), § 29 Rn. 51. 53 So Hirsch, FS Roxin, S. 717. 54 Hirsch, FS Roxin, S. 727. 55 So zutr. Roxin (Fn. 31), § 29 Rn. 57; Jakobs (Fn. 1), 25/57, i. Erg. so auch Herzberg, GA 2001, 260 ff. 56 Kratzsch, JA 1983, 578, 581; ebenso Verhaltenssteuerung 437. 57 Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997, 451 ff. 58 Roxin, FS Nishihara, S. 158 und ders. (Fn. 31), § 29 Rn. 10. 59 So Roxin (Fn. 31), § 29 Rn. 10; dagegen LK-Hillenkamp (Fn. 1), Vor § 22 Rn. 84 f. 51
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b) Jakobs findet den Strafgrund des Versuchs im tatbestandsnahen „ExpressivWerden eines Normbruchs“60, leitet aber daraus mit Recht keine den Versuchsbeginn konkretisierenden Konsequenzen61 für das Überschreiten der Strafbarkeitsschwelle zum Versuch ab,62 wie es Jakobs’ Schüler Vehling tut, der den Versuchsbeginn auf den Zeitpunkt konkretisieren will, in welchem der Täter durch Überschreiten seiner ihm durch gesellschaftskonstituierende Normen zugewiesenen Rolle „ein rechtlich missbilligtes Risiko gesetzt hat“ und dieses „Risiko die intendierte Tatbestandsverwirklichung indiziert“63 – jedoch deshalb zu Unrecht, weil dem schon Jakobs’ überzeugende Feststellung entgegensteht: „ein Abstellen auf die Gefahr ist aber nicht des Gesetzeswortlauts, sondern auch des Kriteriums selbst wegen verfehlt: Die Gefahr ist stufenlos quantifizierbar und beginnt mit der Fassung des Tatentschlusses“64 – für das von Vehling benutzte Risikokriterium gilt dies erst recht, auch wenn man das Risiko als ein der Gefahrschaffung vor- oder nachgelagertes Stadium verstehen sollte. Im Übrigen ist Jakobs entgegenzuhalten, dass er mit seiner die Rechtsgutsbeeinträchtigung verwerfenden Auffassung und dem Normbruch als alleinigem Strafbarkeitskriterium65 den inhaltlichen Gegenstand der Norm verfehlt, also „die positive ,Substanz‘ im Unrecht“, ohne die „über Unrecht keine inhaltliche Aussage gemacht werden“ kann.66 c) Zaczyk sieht „auf der Grundlage der Einsichten Kants und Fichtes … das Dasein der Rechtsperson … bedingt … durch eine Leistung praktischer Vernunft des Einzelnen in seinem Verhältnis zum Anderen“ und erblickt deshalb den „Grund des Rechts“ in einem „Anerkennungsverhältnis zwischen den Einzelnen“. Unrecht ist deshalb die Verletzung dieses Anerkennungsverhältnisses als „verwirklichte Unterdrückung konkreter begegnender, von der Rechtsgemeinschaft anerkannter Freiheit“67 – und „Versuch“ stellt sich grundsätzlich „als Übergang eines der Konstituenten des jeweils be-
60 Jakobs (Fn. 1), 25/21, ähnlich auch dessen Schüler Rey-Sanfiz, Die Begriffsbestimmung des Versuchs und ihre Auswirkung auf den Versuchsbeginn, 2006, S. 141 ff. 61 Mit der „Tatbestandsnähe“ wird lediglich eine Eigenschaft des Versuchs bezeichnet, aber kein brauchbares Merkmal für den Beginn des Versuchs festgelegt. Im Übrigen hat bereits Roxin (Fn. 31), § 29 Rn. 45 im Anschluss an Weigend zutr. darauf hingewiesen, dass Jakobs dieses Merkmal insofern widersprüchlich verwendet, als er eine Rechtsgutsbeeinträchtigung als Merkmal jeder Straftat ablehnt, obwohl doch erst diese erlaubt, das Merkmal der Tatbestandsnähe zu verwenden. 62 Vgl. nur Jakobs (Fn. 1), 25/55 ff., 25/63. 63 Vehling, Die Abgrenzung von Vorbereitung und Versuch, 1991, S. 141; ähnlich ReySanfiz (Fn. 60), S. 292, 336. 64 Jakobs (Fn. 1), 25/57. 65 Jakobs, Das Selbstverständnis der Strafrechtswissenschaft vor den Herausforderungen der Gegenwart, Kommentar, in: Eser et al. (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 49. 66 Rath, JuS 1998, 1006, 1008. 67 Zaczyk (Fn. 14), S. 128 ff., 326.
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troffenen Rechtsguts von der Anerkennung zur Verletzung dar“68. Diese Lehre erscheint indessen lediglich als eine spezielle Form einer Normbruchstheorie und ist folglich den gleichen Einwendungen ausgesetzt: weder erlauben sie eine Bestimmung des Versuchsbeginns noch sind sie mit dem Gesetz vereinbar.69 Im Übrigen spricht gegen sie, dass ihre „Verwurzelungen … in vor der Gesetzesentscheidung unbeachtete ,Glaubensfragen‘“ führen,70 von denen strafrechtliche Institute nicht abhängig gemacht werden sollten.
E. Inhaltliche Bestimmung des Versuchs I. § 22 StGB als Ausgangspunkt 1. Ob die Strafgrundtheorien von der jetzigen oder früheren Fassung der gesetzlichen Bestimmungen über den Versuch geleitet waren oder sind,71 mag dahinstehen: Sie erscheinen samt und sonders ungeeignet zu einer auch nur überwiegend anerkannten Bestimmung des Versuchsbeginns. Deshalb soll hier versucht werden, den Versuch in enger Bindung an die jetzige Gesetzesfassung zu bestimmen.72 2. Nach § 22 StGB versucht eine Straftat derjenige, der nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt. Damit allerdings ist lediglich der Beginn des Versuchs gesetzlich bestimmt worden, nicht aber der Versuch selbst.73 Jedoch erlaubt die gesetzliche Bestimmung des Versuchsbeginns einmal eine grobe inhaltliche Bestimmung, zum anderen eine Positionsbestimmung des Versuchs. Mit dem Merkmal der Vorstellung des Täters von seiner Tat benennt § 22 StGB das subjektive Element des Versuchs, mit dem des unmittelbaren Ansetzens ein objektives Element. Das objektive Merkmal „Ansetzen“ beschreibt in seiner Bezogenheit auf den Tatbestand zudem die Position des Versuchs im Ablauf des gesamten deliktischen Geschehens: Versuch ist derjenige Teil einer für strafbar erklärten normwidrigen Rechtsgutsbeeinträchtigung, der zwischen Vorbereitung und Vollendung liegt (oben A.) und nach §§ 1, 12, 23 StGB die Straftat, die den Realgrund der realen Versuchsstrafe ausmacht – wie die vollendete Straftat denjenigen der realen Vollendungsstrafe. 68 Zaczyk (Fn. 14), S. 231 ff., 327; ähnlich Murmann (Fn. 46), S. 5; Rath, JuS 1998, 1006, 1008. 69 LK-Hillenkamp (Fn. 1), Vor § 22 Rn. 88 f. 70 LK-Hillenkamp (Fn. 1), Vor § 22 Rn. 78. 71 Vgl. LK-Hillenkamp (Fn. 1), Vor § 22 Rn. 77 ff. 72 Wohl ebenso verfahren z. B. MK-Herzberg/Hoffmann-Holland (Fn. 10), § 22 Rn. 109 ff.; Kindhäuser, Strafgesetzbuch, Lehr- und Praxis Kommentar, 4. Aufl. 2010, § 22 Rn. 11 ff.; Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 12), § 26 Rn. 21 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2004, § 11 Rn. 22 ff.; Wessels/Beulke (Fn. 1), Rn. 595 ff. 73 LK-Hillenkamp (Fn. 1), § 22 Rn. 1; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 37), § 22 Rn. 1.
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II. Der Versuch als normwidrige Handlung 1. Das Strafrecht schützt Gegenstände oder Güter, die für den Bestand der Rechtsgemeinschaft als unabdingbar angesehen werden (Rechtsgüter): durch Verbote vor deren Beeinträchtigung (Gefährdung oder Verletzung) und durch Gebote zu deren Erhaltung. Ge- und Verbote unterfallen dem Oberbegriff Normen, die indessen nicht dem Strafgesetz gleichgesetzt werden können: Der Straftäter kann deshalb nicht gegen ein Strafgesetz verstoßen, weil eine Straftat nur der begeht, der genau das tut, was in einem Strafgesetz als strafbar beschrieben ist. Gleichwohl aber übertritt er die Rechtsordnung. Das setzt die Anerkennung selbständiger, von den Strafgesetzen unabhängiger Rechtssätze voraus: der Normen,74 die allein menschlichem Verhalten gelten und deshalb auch Verhaltensnormen genannt werden. Straftaten sind damit normwidrige Rechtsgutsbeeinträchtigungen – und deshalb kann mit dem Erreichen der oben (unter A.) benannten Verwirklichungsphasen der kriminellen Handlung erst dann die Grenze zur Strafbarkeit überschritten werden, wenn und soweit damit inhaltlich ein Rechtsgut normwidrig beeinträchtigt wird und zudem dieses Handlungsstadium wegen der von der Verfassung vorgeschriebenen gesetzlichen Bestimmtheit der Strafbarkeit (Art. 103 Abs. 2 GG) in einem Gesetz für strafbar erklärt wird. Auch wenn aber die einzelnen Tatbestände des Strafgesetzbuches nur vollständig verwirklichte Rechtsgutsbeeinträchtigungen erfassen, also solche im Stadium der Vollendung, so steht dies einer Strafbarkeit des vorhergehenden Stadium des Versuchs dann nicht entgegen, wenn eine gesetzliche Vorschrift die Ausdehnung der Vollendungsstrafbarkeit auf das Versuchsstadium vorschreibt, wie dies im deutschen Strafrecht durch § 23 Abs. 1 StGB geschehen ist. Diese Ausdehnung kann indessen nur dasselbe Rechtsgut betreffen, dessen Beeinträchtigung im Stadium der Vollendung schon von einem der gesetzlichen Tatbestände erfasst ist – und deshalb beeinträchtigt die vollständig verwirklichte Straftat dasselbe Rechtsgut (oder mehrere) wie die versuchte: Versuch und Vollendung verstoßen gegen dieselbe Verhaltensnorm.75 2. Das gilt auch für den Versuch von Erfolgsdelikten, bei denen die Rechtsfigur des Versuches für die Erfassung der Handlung immer noch Prüfstein und Bewährungsprobe der Verbrechenslehre bildet. Entscheidend ist, dass Handlung und Erfolg nicht wesensmäßig verbunden, sondern nur durch die Technik der Tatbestände zu einer juris74 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Band 1, 4. Aufl. 1922 (N I), S. 3 ff., zust. Giannidis, Theorie der Rechtsnorm auf der Grundlage der Strafrechtsdogmatik, 1979, S. 18; ebenso Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Aufl. 1992, § 19 Rn. 24; Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 12), § 8 Rn. 7; Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, 1954, S. 39, 45 f.; Vogel, Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1993, S. 28; a.A. Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 29; dagegen – und gegen andere, die Selbständigkeit der Verhaltensnormen oder aber eine Rechtsgutsbeeinträchtigung als Gegenstand der Verhaltensnormen verneinende Theorien – Gössel, FS Szwarc, S. 193, 196. 75 A. A. Kratzsch, Verhaltenssteuerung und Organisation im Strafrecht, 1985, S. 436, der von einem kybernetischen Ansatz aus wohl eine selbständige Versuchsnorm annehmen will, jedoch deshalb wenig überzeugend, weil die Existenz selbständiger Verhaltensnormen zum Schutze der einzelnen Stadien derselben Rechtsgutsbeeinträchtigung zu Unrecht offenbleibt.
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tischen Einheit zusammengeschlossen sind, dass also der tatbestandsmäßige Erfolg zwar Tatbestands-, aber nicht Handlungsbestandteil ist. Wäre es anders und wollte man – zwangsläufig unter Verzicht auf die Einbeziehung des Handlungswillens in den Handlungsbegriff – Handlung und Tatbestandsverwirklichung einander gleichsetzen, so würde sich insbes. bei den Erfolgsdelikten das befremdende Ergebnis bieten, dass der Versuch ein strafrechtliches Nichts, insbesondere keine Handlung wäre, denn es ist ja Begriffsmerkmal des Versuches, dass ihm der tatbestandsmäßige Erfolg fehlt. Das vom Streit um den finalen und kausalen Handlungsbegriff noch unberührte StGB hatte in unbewusster Selbstverständlichkeit den richtigen Weg beschritten, wenn es in § 43 a.F. die bloße Willensbetätigung als Handlung betrachtete und die „Vollendung“ (also den tatbestandsmäßigen Erfolg) von dieser abtrennte: Auch der (wesensmäßig stets erfolglose) Versuch wahrt damit seinen Charakter als Handlung.
III. Der Versuch als Tatbestandsmangel 1. Mit der Vorstellung des Täters von seiner Tat verlangt § 22 StGB zum Versuch ein über das objektive Tatgeschehen hinausgehendes subjektives Element: Neben dem Vorsatz zur Verwirklichung des objektiven Tatbestandes und dem sonstigen subjektiven Tatbestand zudem die Vorstellung des in § 22 StGB als unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung besonders genannten objektiven Versuchselementes. Deshalb ist der Versuch ein Tatbestandsmangel: Bei vollständig vorliegendem subjektivem Versuchsmerkmal ist der objektive Tatbestand nicht vollständig verwirklicht. Welches Merkmal des objektiven Tatbestandes fehlt und so zum Tatbestandsmangel führt, ist gleichgültig: Sämtliche Tatbestandsmerkmale sind gleichwertig. Versuch ist nicht nur beim Mangel am Objekt, sondern auch bei Mängeln in der Handlung und insbesondere auch bei untauglichem Subjekt gegeben sowie unabhängig davon, ob das jeweils fehlende Merkmal als normativ oder deskriptiv, als rechtlich oder tatsächlich76 bezeichnet werden kann.77 Dieser weithin anerkannten Auffassung78 wird vorgeworfen, sie schließe die Vollendung zu Unrecht aus dem Versuchsbegriff aus.79 Indessen überzeugt diese Kritik nicht. Sie beruht auf der überwiegend und mit Recht abgelehnten Auffassung von der Existenz eines selbständigen Versuchsdelikts (dagegen o. Fn. 1) und verkennt
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Weil jedes Tatbestandsmerkmal sowohl normativer als auch deskriptiver Natur ist – Näheres Gössel, FS Küper, S. 83, 88 ff. –, dürfte es auf diese Unterschiede nicht ankommen. 77 BGHSt 15, 210, 213; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 37), § 22 Rn. 6. 78 RGSt 42, 92, 93; LK-Hillenkamp (Fn. 1), Vor § 22 Rn. 12; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 37), § 22 Rn. 2; NK-Zaczyk (Fn. 1), § 22 Rn. 1; Wessels/Beulke (Fn. 1), Rn. 595; Lackner/Kühl (Fn. 1), § 22 Rn. 1; Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 189; Jakobs (Fn. 1), 25/24; Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 12) § 26 Rn. 2 und 4; Otto (Fn. 1), § 18 Rn. 15; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 72), § 11 Rn. 1; so wohl auch SK-Rudolphi (Fn. 1), § 22 Rn. 1. 79 MK-Herzberg/Hoffmann-Holland (Fn. 10), § 22 Rn. 102 ff.
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die Bezogenheit des Versuchs auf die Vollendung80 und dessen Natur als eines bloßen Durchgangsstadiums,81 das mit der Vollendung verlassen wird, nicht aber als eine selbständige Tat mit der Vollendung konkurrieren und hinter dieser zurücktreten kann.82 2. Der den Versuch kennzeichnende Mangel nur im objektiven Tatbestand hat zwei Konsequenzen: Einmal bedarf es zur Unterwerfung des Versuchs unter die Tatbestandswirkungen des besonderen Strafausdehnungsgrundes des § 23 Abs. 1 StGB83 (o. II. 1.]); zum anderen fehlt es umgekehrt am Versuch, wenn der Täter trotz Vornahme objektiv erfolgsgeeigneter Handlungen den tatbestandsmäßigen Erfolg nicht in seine Vorstellung aufgenommen hatte.
IV. Der Versuch als „umgekehrter Irrtum“? 1. Das Reichsgericht sah den Versuch dadurch charakterisiert, dass der Täter beim Versuch „irrtümlich ein in der Norm liegendes Tatbestandserfordernis für tatsächlich vorliegend erachtet“84. Von hier aus erscheint es verständlich, den Versuch als „Irrtum zuungunsten des Täters“ anzusehen und damit als umgekehrten Tatbestandsirrtum i. S. des § 16 Abs. 1 S. 1 StGB:85 Wie der Täter durch § 16 Abs. 1 S. 1 entlastet werde, so werde er durch § 22 StGB entsprechend belastet. 2. Das erscheint indessen schon deshalb als wenig überzeugend, weil der Täter in vielen Fällen noch während der vorsätzlichen Verwirklichung des objektiven Tatbestandes zutreffend erkennt, dass er sein Ziel nicht erreicht, die erstrebte Tatbestandsverwirklichung also nicht erreichen kann, ohne sich die Verwirklichung aller objektiven Tatbestandsmerkmale auch weiterhin irrig vorzustellen. Schon daraus folgt, dass der Umkehrschluss aus § 16 Abs. 1 StGB keineswegs denkgesetzlich zwingend ist.86 Im Übrigen, soweit sich der Täter tatsächlich irrig ein nicht vorliegendes objektives Tatbestandsmerkmal vorstellt, hat Puppe im Anschluss an Spendel87 und Herzberg88 treffend darauf aufmerksam gemacht, dass als entlastender Irrtum i. S. des § 16 StGB schon das Fehlen der richtigen Vorstellung angesehen wird, während ein zur Versuchsstrafbarkeit führender Irrtum nur im Vorliegen einer positiven Vorstellung bestehen kann. Aus der entlastenden Wirkung des Fehlens der Vorstellung über das Vorliegen der Merkmale des objektiven Tatbestandes folgt indessen nur, dass diese Vorstellung 80
So z. B. Hardtung, Jura 1996, 293. Wie hier auch Lackner/Kühl (Fn. 1), § 22 Rn. 1. 82 So aber MK-Herzberg/Hoffmann-Holland (Fn. 10), § 22 Rn. 102. 83 Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2005, § 15 Rn. 2 mit weit. Nachw. 84 RGSt 42, 92 ff. 85 S. dazu Maurach/Zipf (Fn. 17), § 23 Rn. 2. 86 I. Erg. ebenso schon Puppe, FS Lackner 1987, S. 143. 87 ZStW 69 (1957), 449 ff. 88 JuS 1980, 479.
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eine notwendige Voraussetzung der Strafbarkeit ist – mehr aber nicht, insbesondere nicht, dass diese Vorstellung auch hinreichende Strafbarkeitsvoraussetzung sei,89 ein Schluss der überdies zu einer verfassungsrechtlich verbotenen analogen Anwendung des jeweiligen Straftatbestandes führen würde.90 Insbesondere kann dieser Satz bei fehlerhafter Bewertung objektiver Tatbestandsmerkmale durch den Täter versagen, während er bei Fehlvorstellungen des Täters über den Normbefehl schon deswegen nicht zum Tragen kommt, weil dieser ein außerhalb der „Tatumstände“ i. S. des § 16 Abs. 1 StGB stehendes Verbrechensmerkmal ist. Aus einem Umkehrschluss aus § 16 StGB kann folglich Versuchsstrafbarkeit nicht hergeleitet werden.91
F. Fazit Überlegungen zu den Gründen der Strafbarkeit führen auch zum Realgrund der Strafbarkeit des Versuchs, der den Versuch als real existierenden Gegenstand erkennen lässt, normativ als Mangel des objektiven Tatbestandes einer strafbaren Handlung.
89 Endrulat, Der „Umgekehrte Rechtsirrtum“: Untauglicher Versuch oder Wahndelikt?, 1994, S. 346 ff., 359 ff. 90 Endrulat (Fn. 89), S. 531. 91 Wohl überwiegende Meinung, vgl. z. B. LK-Hillenkamp (Fn. 1), § 22 Rn. 180; Heidingsfelder, Der umgekehrte Subsumtionsirrtum, 1991, S. 111 f.; Puppe, FS Lackner, S. 215; a. A. Jescheck/Weigend (Fn. 1), § 50 II. 1.
Die aberratio ictus als Sonder- und Extremfall der Kausalabweichung Von Andreas Hoyer
I. Einführung Den Titel dieses Beitrags bildet ein Zitat: „Die aberratio ictus ist ein Sonder- und Extremfall der Kausalabweichung“ schreibt Jürgen Wolter in seinem Aufsatz „Objektive und personale Zurechnung zum Unrecht – zugleich ein Beitrag zur aberratio ictus“.1 Gegenüber sonstigen Kausalabweichungen, bei denen „lediglich die Art und Weise der Erfolgsherbeiführung bei einem vom Täter konkretisierten und identischen Tatopfer anders ausfällt als geplant“, zeichne sich die aberratio ictus dadurch aus, dass bei ihr „(zusätzlich) ein anderes als das vom Täter konkretisierte Opfer getroffen“ werde.2
II. Echte und unechte aberratio ictus Die Frage, ob trotz der aberratio ictus noch ein vollendetes vorsätzliches Delikt für den Täter in Betracht komme, beantwortet Wolter, indem er zunächst „echte“ und „unechte“ Fälle der aberratio ictus voneinander unterscheidet:3 In den Fällen einer „unechten“ aberratio ictus fehle es entweder schon an der „Schaffung eines zugleich objektiv und personal zurechenbaren wirklichen Risikos“ oder an einem „adäquaten objektiven Unrechtszusammenhang (Risikozusammenhang) zwischen Handlung und Erfolg“. Sei es bereits „ex ante objektiv erkennbar“, dass die Handlung keinesfalls das vom Täter konkretisierte Opfer X, stattdessen aber möglicherweise ein anderes Opfer Y verletzen könne, so liege gegenüber X lediglich ein „untauglicher Versuch“ vor, der nicht mit der „objektiv zurechenbaren Risiko- und Erfolgsverursachung“ an Y zu einem vollendeten Vorsatzdelikt verschmolzen werden könne.4 Sei es umgekehrt „für den objektiven Betrachter erst nachträglich erkennbar“, dass die Tathandlung keinesfalls das vom Täter konkretisierte Opfer X, stattdessen aber unerwartet ein anderes Opfer Y verletzen könne, so stelle sich der Erfolgseintritt an Y nicht als „konsequente, objektiv vorhersehbare Fortentwicklung des zurechen1
In: Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 123, 124. Wolter (Fn. 1), S. 123. 3 Wolter (Fn. 1), S. 125 ff. 4 Wolter (Fn. 1), S. 125. 2
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bar geschaffenen Risikos“ an X dar.5 In beiden genannten Fällen einer „unechten“ aberratio ictus fehle es schon an der „allgemeinen objektiven Zurechenbarkeit des wirklichen Risikoablaufs“6 – entweder mangels Schaffung oder mangels Verwirklichung des sog. „Planrisikos“ als eines sowohl objektiv vorhersehbaren als auch vom Täter subjektiv vorhergesehenen Erfolgsrisikos. Wenn es an dieser „allgemeinen objektiven Zurechenbarkeit“ fehle, sei aber „nicht einmal der objektive Unrechtstatbestand der vollendeten vorsätzlichen Tat […] gegeben“, so dass sich das „Problem, ob die Kausalabweichung wesentlich oder unwesentlich ist“, gar nicht erst stelle.7 Erst „mit der Befürwortung der allgemeinen objektiven Zurechenbarkeit“ seien die „echten“ Fälle der aberratio ictus erreicht, in denen nach der „besonderen objektiven Zurechenbarkeit der Abweichung selbst“, d. h. nach deren „Erheblichkeit oder Unerheblichkeit“, gefragt werden müsse.8 Wolter zufolge setzt diese „eigenständige, besonders eng gefasste Form der objektiven Zurechnung“ eine „zusätzliche Gleichwertigkeitsprüfung“9 im Hinblick darauf voraus, ob sich die „vom Täter bewusst geschaffene Gefahr“ (Planrisiko) im ex post betrachtet davon „abweichenden Risikoverlauf“ (Realrisiko) so widerspiegele, dass der „wirkliche Risikoverlauf“ normativ noch als „objektiv vorsatzgerecht“ bewertet werden könne.10 Wolter gesteht zu, dass mit dem Kriterium der „Vorsatzadäquanz“,11 d. h. der objektiven Gleichwertigkeit zwischen vorsätzlich geschaffenem und ex post verwirklichtem Risiko, lediglich das „leitende Prinzip“ für die darüber hinaus zu leistende Beurteilung von Kausalabweichungen auf ihre Erheblichkeit benannt sei.12 Zur Konkretisierung schlägt er insbesondere vor, objektive Gleichwertigkeit zwischen vorsätzlich an X geschaffenem und an Y realisiertem Risiko dann anzunehmen, „wenn dem Täter die Identität des konkretisierten Opfers von Vornherein letztlich gleichgültig ist“,13 so dass die subjektiv im Täter abgelaufene Vorsatzkonkretisierung gerade auf den X „angesichts des Täterplans objektiv unmotiviert erscheint und damit der Tatentschluss bezüglich des einen Opfers auch a limine den Vorsatz bezüglich eines anderen Opfers mitgetragen hätte“.14 Im Ergebnis erachtet Wolter Kausalabweichungen im Falle einer „echten“ aberratio ictus somit zwar regelmäßig für erheblich und gelangt dann (insoweit in Übereinstimmung mit der h.L.) zu einer „Idealkonkurrenz von (vorsätzlichem) Versuch 5
Wolter (Fn. 1), S. 126. Wolter, in: Gimbernat/Schünemann/Wolter, Internationale Dogmatik der objektiven Zurechnung und der Unterlassungsdelikte, 1995, S. 14, 16. 7 Wolter (Fn. 6), S. 17. 8 Wolter (Fn. 6), S. 16. 9 Wolter (Fn. 1), S. 124. 10 Wolter (Fn. 6), S. 18. 11 Wolter (Fn. 1), S. 115. 12 Wolter (Fn. 6), S. 18. 13 Wolter (Fn. 1), S. 124. 14 Wolter, in: Leferenz-Festschrift, 1983, S. 545, 551. 6
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und fahrlässiger Tat“.15 Bei objektiver Gleichwertigkeit zwischen planmäßig geschaffenem und tatsächlich verwirklichten Risiko könne eine „echte“ aberratio ictus aber ausnahmsweise auch ebenso unbeachtlich bleiben, wie es ein error in persona unter entsprechenden Umständen (unstreitig) wäre, nämlich jeweils einem ansonsten gegebenen vollendeten Vorsatzdelikt nicht entgegenstehen.
III. Abgrenzung zwischen aberratio ictus und error in persona Anders als (Wolter zufolge) eine „echte“ aberratio ictus bliebe ein error in persona aber auch dann noch stets unbeachtlich, wenn dem Täter die Identität des konkretisierten Opfers subjektiv keineswegs „letztlich gleichgültig ist“ – und objektiv angesichts seines Tatplans auch nicht gleichgültig sein kann. Anders auch als (Wolter zufolge) bei einer „unechten“ aberratio ictus wird das Gegebensein einer vollendeten Vorsatztat durch einen error in persona selbst dann nicht ausgeschlossen, wenn es für den objektiven Betrachter ex ante völlig unvorhersehbar war, dass anstelle des planmäßig zu gefährdenden Rechtsgutsträgers real eine andere Person durch die Tathandlung gefährdet und schließlich auch verletzt wird. Die Rechtsfolgen einer aberratio ictus sollen sich Wolter zufolge also offenbar nach anderen Regeln bestimmen als diejenigen eines error in persona, so dass sich die Frage nach der Abgrenzung dieser beiden Irrtumsfälle in ihren Voraussetzungen stellt. 1. Abgrenzung nach dem Zeitpunkt der Kausalabweichung Wolter meint, die aberratio ictus dadurch „klar von Grenzfällen des error in persona abschichten“ zu können, dass er danach differenziert, ob die „Abirrung noch in der strafrechtlich irrelevanten Vorbereitungsphase eintritt und ihren Abschluss findet“ (dann error in persona) oder ob sie dem Täter erst im Ausführungsstadium seiner Tat unterläuft (dann aberratio ictus).16 Tatsächlich lassen sich die Fälle einer aberratio ictus von denen eines error in persona nach dem Zeitpunkt der Abirrung „klar“ voneinander abschichten, nämlich in Anknüpfung an die Zäsur, die ein unmittelbares Ansetzen zur vorgestellten Tat i. S. d. § 22 StGB rechtlich bedeutet. Fraglich ist nur, ob diese Anknüpfung an die Reihenfolge von Abirrung und unmittelbarem Ansetzen auch normativ zu überzeugen vermag, indem ihretwegen (so die Formel des BGH, der Wolter ausdrücklich Beifall spendet)17 eine andere rechtlich-sittliche Bewertung der Tat angezeigt erscheint.
15
Wolter (Fn. 6), S. 18. Wolter (Fn. 1), S. 128. 17 Wolter (Fn. 1), S. 114; ders. (Fn. 6), S. 18; a.A. ders. noch in: ZStW 89 (1977), S. 649, 663: „… kaum mehr als eine Leerformel“. 16
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Setzt Täter T beispielsweise dadurch zur beabsichtigten Tötung des A an, dass er eine Bombe mit dem Zündmechanismus von dessen parkendem Auto verbindet, so unterliefe ihm ein unbeachtlicher error in persona, wenn A sein Fahrzeug kurz vor der Installation dieser Bombe (Versuchsbeginn) an einen Bekannten B verliehen hätte, dagegen eine beachtliche aberratio ictus, wenn dies kurz danach geschehen wäre. Obwohl der Versuch, den A zu töten, in der error in persona-Variante dieses Beispielsfalls von Anfang an untauglich war, begründete er mit dem Eintritt des Todeserfolgs an B ein vollendetes Vorsatzdelikt, während der (zunächst) taugliche Versuch, den A zu töten, in der aberratio ictus-Variante trotz desselben Erfolgs an B im Versuchsstadium steckenbliebe. Dass niemals ein untauglicher, sondern allenfalls ein tauglicher Versuch sich letztlich zu einer vollendeten Vorsatztat fortentwickeln kann, hat aber gerade Wolter wiederholt eindringlich betont: „Denn ein untauglicher Versuch lässt sich nicht mit einer objektiv zurechenbaren Risiko- und Erfolgsverursachung zu einem vollendeten Vorsatzdelikt verschmelzen“.18 „Die Vollendungstat mit ihrem Maximum an Strafe erfordert als Grundlegung den maximalen Versuch; und das ist der (beendete) taugliche“.19 Darüber hinaus irrt in zahlreichen unstreitig als error in persona zu klassifizierenden Fällen der Kausalverlauf keineswegs bereits im Vorbereitungsstadium ab, sondern genauso wie bei einer aberratio ictus erst im Ausführungsstadium, z. B. wenn Täter T an der Haustür des A klingelt, um ihn nach dem Öffnen der Tür sogleich zu erschießen, diese dann aber auf Geheiß des A von dessen Bekannten B geöffnet wird, den T im Halbdunkel mit A verwechselt und folglich tötet. Wenn aber schon in diesem eindeutig zu lösenden Beispielsfall ein unbeachtlicher error in persona anzunehmen ist, obwohl der Kausalverlauf erst im Ausführungsstadium (nach dem Klingeln an der Haustür) abirrt, dann lässt sich erst recht in den „Grenzfällen des error in persona“ nicht mehr „klar“ feststellen, ob wirklich der Zeitpunkt der Abirrung das entscheidende Abgrenzungskriterium zur aberratio ictus bildet. Wolter würde gegen diese Argumentation wohl einwenden, im Haustür-Fall fehle es nicht nur in der Vorbereitungsphase, sondern überhaupt an jeglicher Abirrung des Kausalverlaufs, denn: „Die Tatmittel im Ausführungsstadium […] nehmen gerade nicht einen planwidrigen Verlauf auf ein falsches, nicht konkretisiertes Opfer“.20 Also lasse sich die These aufrechterhalten, dass sämtliche Abirrungen des Kausalverlaufs im Ausführungsstadium der Tat, durch die „ein anderes als das vom Täter konkretisierte Opfer verletzt“ werde,21 als (regelmäßig beachtliche) aberratio ictus und jedenfalls nicht mehr bloß als (stets unbeachtlicher) error in persona einzustufen seien.
18
Wolter (Fn. 1), S. 125. Wolter (Fn. 1), S. 104. 20 Wolter (Fn. 1), S. 128. 21 Wolter (Fn. 1), S. 123.
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Innerhalb ihres Ausführungsstadiums ist die im Haustür-Fall begangene Tat allerdings zunächst in der Phase zwischen unmittelbarem Ansetzen (Klingeln an der Haustür) und Versuchsbeendigung (Abgabe des Schusses) durchaus planwidrig verlaufen, da sich im Verlaufe dieses unbeendeten Versuchs für den Täter unerwartet statt des A eine andere Person der Haustür näherte und sie öffnete. Die sich anschließende Phase zwischen Versuchsbeendigung (Abgabe des Schusses) und Erfolgseintritt (Tod des B) entwickelte sich immerhin insofern planwidrig, als der Täter mit seinem Schuss nicht den eigentlich vor ihm gewähnten A, sondern den B traf, aus seiner Sicht also das falsche Opfer. Wie in einer aberratio ictus-Konstellation kann es also auch im Falle eines error in persona zu einer Kausalabweichung im Ausführungsstadium kommen, aufgrund derer am Ende der Kausalkette „ein anderes Opfer getroffen“ wird, als es sich der Täter während seiner Ausführungshandlungen vorgestellt hat. 2. Abgrenzung nach dem Kriterium der sinnlichen Wahrnehmung Anders als in einer aberratio ictus-Konstellation ist es dem Täter in einem error in persona-(wie dem Haustür-)Fall aber immerhin gelungen, das von ihm per sinnlicher Wahrnehmung konkretisierte Opfer planmäßig zu verletzen, wenn es sich dabei auch nicht um das per geistiger Vorstellung konkretisierte vermeintliche Opfer handelte. Ebenfalls gemessen am Kriterium der sinnlichen Wahrnehmung hat der Täter also im Haustür-Fall das „richtige“, nämlich das mithilfe seiner sinnlichen Wahrnehmung konkretisierte Opfer getroffen und sein Tatplan ist (insoweit) aufgegangen. Regelmäßig geht der mit der Tathandlung verfolgte Täterplan aber weit darüber hinaus, lediglich das sinnlich wahrgenommene Objekt zu verletzen. Die geplante Verletzung des sinnlich wahrgenommenen Objekts stellt sich für den Täter vielmehr häufig nur als ein Zwischenerfolg auf dem Wege zu seinem Plan nach dadurch bedingten weiteren Erfolgen dar, nämlich seinen mit der Tat verfolgten Zielen. Hängt die Erreichung dieser Ziele nach dem Täterplan davon ab, dass sinnlich wahrgenommenes und geistig vorgestelltes Objekt (wie vom Täter angenommen) identisch sind, so ist der Täterplan bei einer tatsächlichen Personenverschiedenheit beider Objekte insoweit fehlgeschlagen. Wenn trotz dieses einerseits zu konstatierenden partiellen Planfehlschlags allgemein ein unbeachtlicher error in persona angenommen wird, dann soll dafür die andererseits festzustellende partielle Verwirklichung des Tatplans durch das erfolgreiche Verletzen der sinnlich wahrgenommenen Person für ein vollendetes Vorsatzdelikt anscheinend hinreichen. Dies gilt sogar unabhängig davon, ob das tatsächlich festzustellende personelle Auseinanderfallen von sinnlich wahrgenommenem und geistig damit identifiziertem Opfer für den individuellen Täter oder auch einen objektiven Beobachter aus der ex ante-Perspektive vorhersehbar war oder das Ergebnis eines gänzlich inadäquaten Kausalverlaufs bildete. Im Schrifttum wird aus diesem unstrittigen Befund teilweise die Schlussfolgerung abgeleitet, ausschließlich das Verfehlen des sinnlich wahrgenommenen zulasten eines stattdessen getroffenen anderen Opfers begründe eine aberratio ictus, während
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jedes Fehlgehen einer nur geistigen Vorstellung von der Person des Opfers als bloßer error in persona unbeachtlich bleibe.22 Als Fehlgehen einer nur geistigen Vorstellung von der Person des Opfers wird dabei sowohl der Fall eingestuft, dass es im Ausführungsstadium der Tat ohnehin an jeglicher sinnlichen Wahrnehmung des (deshalb allein geistig vorgestellten) vermeintlichen Tatopfers mangelt, als auch der Fall, dass der Täter mit der durchaus stattfindenden sinnlichen Wahrnehmung seines späteren Opfers bei der Tatausführung eine bestimmte geistige Vorstellung von dessen Person verbindet und lediglich diese sich dann als irrig erweist. Wolter geht auf diese Art der Abgrenzung zwischen aberratio ictus und error in persona argumentativ nicht näher ein, distanziert sich aber im Ergebnis vom „anfechtbaren Kriterium der sinnlichen Wahrnehmung des Angriffsobjekts“23 und bezeichnet jedenfalls ein alleiniges Abheben auf dieses Kriterium bei der Bestimmung ihrer Rechtsfolgen als „nicht überzeugend“.24 Tatsächlich erscheint jede Verabsolutierung des Kriteriums der sinnlichen Wahrnehmung zumindest vorschnell und begründungsbedürftig, ohne damit diesem Kriterium zugleich jegliche Bedeutung absprechen zu wollen. Unbestritten ist an den obigen Feststellungen zwar, dass immer dann, wenn dem Täter die Verletzung des bei seiner Ausführungshandlung sinnlich wahrgenommenen Angriffsobjekts glückt, allenfalls ein unerheblicher error in persona in Betracht kommt. Daraus folgt aber noch nicht, dass erstens immer und zweitens nur, wenn dem Täter die Verletzung des von ihm bei seiner Ausführungshandlung sinnlich wahrgenommenen Angriffsobjekts missglückt, ein erheblicher aberratio ictus zu verzeichnen ist. Die Konkretisierung (bzw. Individualisierung) eines bestimmten Angriffsobjekts kann vom Täter schließlich auch nach anderen Kriterien erfolgen als durch dessen sinnliche Wahrnehmung am Tatort und zur Tatzeit. Es ist daher nicht ohne Weiteres einsichtig, weshalb gerade und ausschließlich das Fehlschlagen einer nach dem Kriterium der sinnlichen Wahrnehmung vorgenommenen Opferkonkretisierung stets zu einer beachtlichen aberratio ictus führen sollte, während dies bei allen anderen Konkretisierungskriterien unter keinen Umständen so sein können soll. Der Gesetzeswortlaut gibt diese Ungleichbehandlung der denkbaren Konkretisierungskriterien jedenfalls nicht vor, sondern begnügt sich objektiv mit der Verletzung „einer anderen Person“ und subjektiv mit dem Vorsatz bezüglich der Verletzung „einer anderen Person“. Dass diese Verletzung, sofern sich der Vorsatz auf eine anhand des von ihr ausgelösten Sinneseindrucks individualisierte „andere Person“ bezieht, gerade bei dieser eingetreten sein muss, sofern sich der Vorsatz dagegen auf eine anhand sonstiger Merkmale individualisierte „andere Person“ bezieht, ebenso gut bei einem Dritten ohne diese Merkmale eintreten kann, versteht sich keineswegs von selbst. Weshalb beispielsweise sollte es sich als beachtliche Abirrung des Kausalverlaufs darstellen, wenn der Täter mit einer Handgranate auf den vor ihm stehen22
Prittwitz, GA 1983, S. 110, 128. Wolter (Fn. 1), S. 126. 24 Wolter (Fn. 1), S. 124.
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den A abzielt, dort stattdessen aber unerwartet den neben diesem stehenden Nachbarn B verletzt, während es sich um eine unbeachtliche Abirrung handelte, wenn derselbe Täter eine Briefbombe per Post an A versendet, diese stattdessen aber von dessen Nachbarn B entgegengenommen und versehentlich zur Explosion gebracht wird? Um die Fragwürdigkeit der These deutlich zu machen, dass eine Abirrung in Bezug auf das sinnlich wahrgenommene Angriffsobjekt erstens notwendig und zweitens hinreichend ist, um als beachtlich gelten zu können, soll noch einmal der obige Haustür-Fall herangezogen und erweitert werden: Der spätere Täter möge einen Ehebruch seiner Frau argwöhnen und den Plan fassen, die Identität des mutmaßlichen Verführers seiner Frau in Erfahrung zu bringen, um ihn zu erschießen. Im Adressbuch seiner Frau findet er den ihm unbekannten Namen eines Mannes sowie dessen Adresse und ist sich sicher, damit den gesuchten Ehebrecher ausfindig gemacht zu haben. Er begibt sich zu der angegebenen Adresse und beobachtet einen attraktiven Mann, der die dortige Haustür aufschließt und sich in die Wohnung begibt. Da er annimmt, es mit dem Träger des Namens aus dem Adressbuch seiner Frau zu tun zu haben, beschließt er, an der Haustür zu klingeln, um den beim Hineingehen beobachteten Mann nach dem Öffnen der Tür sogleich zu erschießen. Im Halbdunkel verwechselt er den beim Hineingehen beobachteten Mann jedoch mit einem anderen, in dessen Richtung er deswegen schießt. Aufgrund eines plötzlichen Ausweichens des ihm an der Tür gegenüberstehenden Mannes verfehlt er diesen jedoch und trifft eine dahinterstehende weitere Person tödlich. Hier bezog sich der Vorsatz des Täters T primär darauf, den Verführer seiner Frau zu töten, sekundär den Träger eines bestimmten Namens und Inhaber einer bestimmten Adresse, tertiär den attraktiven Mann mit dem Haustürschlüssel und quartär auf den an der Haustür erscheinenden Mann. Angenommen, bei dem Tötungsopfer handelte es sich weder um den Ehebrecher noch um den im Adressbuch vermerkten Namens- und Adresseninhaber noch um den attraktiven Mann mit dem Haustürschlüssel, so wäre der Plan des T, einen Menschen mit bestimmten ihn individualisierenden Merkmalen zu töten, gleich in dreierlei Hinsicht fehlgeschlagen, ohne dass dies (unstreitig) seine Strafbarkeit wegen vollendeten Vorsatzdelikts ausschließt. Allein der Fehlschlag des Täterplans (auch) hinsichtlich seines letztrangigen Individuationskriteriums aber soll eine erhebliche Abirrung begründen: der Fehlschlag des Planelements nämlich, gerade einen Menschen mit dem ihn individualisierenden Merkmal zu töten, dass er von T im Ausführungsstadium seiner Tat als Angriffsobjekt sinnlich wahrgenommen wurde. Mäße man die Erheblichkeit einer Abirrung daran, welche Bedeutung sie für den Eintritt des (End-)Erfolgs hat, um dessentwillen der Täter seinen ganzen Tatplan überhaupt entwickelt hat, so müsste eigentlich der Fehlschlag in Bezug auf sein primäres Individuationskriterium, dass es sich bei dem Tatopfer um den verruchten Ehebrecher handelt, sehr viel stärker ins Gewicht fallen als derjenige in Bezug auf sein davon nur über mehrere Zwischenschritte abgeleitetes Individuationskriterium, dass er sein Tatopfer als Angriffsobjekt sinnlich wahrgenommen hat.
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Stellt man sich auf den Standpunkt des von der Abirrung betroffenen wirklichen Tatopfers, so macht es ebenfalls keinen Unterschied, auf welcher Planungsebene dem Täter seine Opferindividuation misslungen ist, ob schon bei der vermeintlichen Entlarvung eines Ehebrechers, bei der Ermittlung von dessen Namen und Adresse oder erst nach dessen sinnlicher Wahrnehmung im Ausführungsstadium. Zwar mag es sein, dass eine sinnliche Wahrnehmung im Ausführungsstadium der Tat dem späteren Opfer bessere Aussichten darauf eröffnet, eine drohende Abirrung der Tat zu seinen Lasten doch noch zu vermeiden, da der Täter bis zuletzt die Kontrollmöglichkeit über seine Opferindividuation behält.25 Die mit der sinnlichen Wahrnehmung einhergehende Verbesserung der Aufklärungschancen ergibt sich aber für das sinnlich wahrgenommene Opfer eines error in persona ebenso wie für dasjenige einer aberratio ictus, so dass sich auch daraus keine Ungleichbehandlung beider Abirrungsformen herleiten lässt.
IV. Aberratio ictus als unerhebliche Kausalabweichung Weder von der Täter- noch von der Opferperspektive aus sind demnach Gründe dafür ersichtlich, den Fehlschlag einer Opferindividuation nach dem Kriterium der sinnlichen Wahrnehmung für stets beachtlich,26 den Fehlschlag einer Opferindividuation nach anderen Kriterien aber für stets unbeachtlich zu halten. Wenn dem Kriterium der sinnlichen Wahrnehmung des Angriffsobjekts rechtlich aber keine irgendwie hervorgehobene oder gar exzeptionelle Bedeutung gegenüber sonstigen Individuationskriterien zukommt, so ließe sich daraus schlussfolgern, das Abirren einer nach dem Kriterium der sinnlichen Wahrnehmung vorgenommenen Opferindividualisierung sei genauso unbeachtlich wie (anerkanntermaßen) das Abirren jeder an sonstigen Kriterien ausgerichteten Opferindividualisierung. Auf unseren HaustürFall bezogen hieße dies: Solange der tatsächlich eingetretene Erfolg dem Täter trotz der Kausalabweichung immerhin objektiv zugerechnet werden kann, bleibt die Abirrung unbeachtlich – ob der Täter sein Opfer nun irrig nach dem Kriterium individualisierte, dass es den fraglichen Ehebruch begangen hat, oder danach, dass er es bei seiner Tathandlung sinnlich in der Angriffsrichtung vor sich wahrnahm. Eine Minderheitsauffassung im Schrifttum lässt es dementsprechend für eine vollendete Vorsatztat ausreichen, „wenn das getroffene Objekt den gleichen Tatbestand erfüllt wie das vom Täter anvisierte und der Kausalverlauf adäquat (nicht abenteuerlich) war“.27 Dass der Kausalverlauf hin zu dem tatsächlich getroffenen Objekt adäquat war, ist aber schon notwendig, damit auch nur ein Fahrlässigkeitsdelikt zustande kommt:28 25
Darauf abstellend Prittwitz (Fn. 22), S. 128. So auch Wolter (Fn. 1), S. 124. 27 Puppe, GA 1981, S. 1, 20. 28 Wolter, GA 1977, S. 257, 258.
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Tritt der Erfolg aufgrund eines abenteuerlichen Kausalverlaufs an einem anderen als dem für den Täter erkennbaren Objekt ein, so kann er niemals im Sinne des Gesetzes „durch Fahrlässigkeit“ verursacht worden sein (vgl. §§ 222; 229 StGB). Denn dafür muss sich die erkennbare Gefährlichkeit der Tathandlung („Fahrlässigkeit“) im konkret eingetretenen Erfolg auch tatsächlich niedergeschlagen haben („durch“). Wenn aber die Fahrlässigkeit des Täters sich (auch) auf das konkret getroffene Objekt erstrecken muss, um ein vollendetes Fahrlässigkeitsdelikt zu begründen, dann muss sich der Vorsatz des Täters entsprechend (auch) auf das konkret getroffene Objekt erstrecken, um ein vollendetes Vorsatzdelikt zu begründen. Schon aus § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB folgt, dass sich der Vorsatz auf alle Umstände beziehen muss, die zum gesetzlichen Tatbestand (auch) des entsprechenden Fahrlässigkeitsdelikts gehören.29
V. Aberratio ictus als Fehlschlag sämtlicher Individuationskriterien Nimmt der Täter sein Angriffsobjekt sinnlich wahr, bevor er es planmäßig verletzt, so ergeben sich aus diesem Vorsatzerfordernis auch keine besonderen Schwierigkeiten, selbst wenn er bei seiner Ausführungshandlung einem error in persona unterlegen sein sollte. Denn der Vorsatz des Täters bezog sich hier auf eine Verletzung des sinnlich wahrgenommenen Angriffsobjekts und genau an seinem mithilfe dieser sinnlichen Wahrnehmung individualisierten Angriffsobjekt trat dann auch wirklich die zugefügte Verletzung ein. Problematisch sind nur die Fälle, in denen es entweder an jeglicher sinnlichen Wahrnehmung des Angriffsobjekts bei der Ausführung der Tathandlung fehlte oder letztlich ein anderes als das sinnlich wahrgenommene Angriffsobjekt von der Tathandlung betroffen wurde. Da eine Orientierung am Kriterium der sinnlichen Wahrnehmung – wie gezeigt – nicht die einzige tatsächlich mögliche und rechtlich beachtliche Form der Opferindividualisierung bildet, muss in derartigen Fällen darauf abgestellt werden, ob sich der Vorsatz des Täters gemessen an irgendeinem anderen durch den Täter angewendeten Individuationskriterium als der sinnlichen Wahrnehmung auch auf das tatsächlich getroffene Objekt erstreckte. Hätte der Täter beispielsweise im obigen Haustür-Fall zwar nicht das sinnlich wahrgenommene Angriffsobjekt in der Haustür getroffen (Fehlschlag des quartären Individuationskriteriums), stattdessen aber die Person, die entweder den Ehebruch wirklich begangen hat (primäres Individuationskriterium) oder mit ihrem Namen und ihrer Anschrift im Adressbuch der Ehefrau verzeichnet war (sekundäres Individuationskriterium) oder vom Täter vormals beim Betreten des Hauses beobachtet worden war (tertiäres Individuationskriterium), so wäre der Taterfolg ebenfalls an einem Objekt eingetreten, das der vom Täter vorgenommenen Opferindividualisie29 In diesem Sinne betont auch Wolter (Fn. 28), S. 264, dass beim Vorsatzdelikt „das Adäquanzprinzip als objektives Element des von § 16 angesprochenen gesetzlichen Unrechtstatbestandes der subjektiven Entsprechung bedarf“.
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rung entsprach. Um ein vollendetes Vorsatzdelikt begehen zu können, genügt es, dass der Täter gemessen an irgendeinem von ihm verwendeten Individuationskriterium mit seiner Tat „Erfolg“ hatte, ob dies nun für die sinnliche Wahrnehmung oder ein anderes Kriterium gilt. Aus der subjektiven Gleichwertigkeit der zur Opferindividuation verwendeten Kriterien folgt die objektive Gleichwertigkeit von geplantem und realem Geschehensablauf, auf die Wolter zur Beurteilung von aberratio ictus-Konstellationen entscheidend abstellt.30 Ein bestimmtes Individuationskriterium wird vom Täter verwendet, wenn das vollständige Erfülltsein dieses Kriteriums seiner Vorstellung nach hinreicht, um das so individualisierte Objekt als ein solches auszuzeichnen, an dem seinem Tatplan gemäß der Erfolg eintreten soll. Tritt der Erfolg dann tatsächlich auf objektiv zurechenbare Weise an einem tauglichen Tatobjekt ein, auf das ein derartiges vom Täter verwendetes Individuationskriterium zutrifft, so hat dieser ein vollendetes Vorsatzdelikt begangen. Dass etwaige andere vom Täter im Rahmen derselben Tat ebenfalls verwendete Individuationskriterien sich zugleich als unzutreffend erwiesen, konstituiert dann lediglich noch einen unerheblichen error in persona, so z. B. die Fehlvorstellung, bei dem sinnlich wahrgenommenen späteren Opfer handele es sich um den endlich ausfindig gemachten Ehebrecher, während tatsächlich ein Nachbar den Ehebruch verübt hat, oder auch umgekehrt die Fehlvorstellung, bei dem überführten Ehebrecher handele es sich um die sinnlich wahrgenommene Person, während tatsächlich ein stattdessen versehentlich getroffener Nachbar den Ehebruch verübt hatte. Erst wenn alle vom Täter verwendeten Individuationskriterien auf das tatsächliche Opfer nicht zutreffen, schließt die dann festzustellende aberratio ictus seine Strafbarkeit wegen vollendeten Vorsatzdelikts aus und es bleibt allenfalls bei einer Idealkonkurrenz von versuchtem und Fahrlässigkeitsdelikt. Kein zur Opferindividuation hinreichendes Kriterium ist erfüllt, wenn der Täter statt des sinnlich wahrgenommenen Ehebrechers schlicht einen anderen Mann mit seinem Schuss trifft, denn allein die Männlichkeit des wirklichen Opfers zeichnet dieses in den Augen des wirklichen Täters noch nicht als eine Person aus, an der seinem Tatplan entsprechend der Erfolg eintreten sollte. Jedes zur Opferindividuation hinreichende Kriterium ist auch fehlgeschlagen, wenn der Täter eine Briefbombe an den als Ehebrecher Entlarvten adressiert, stattdessen jedoch ein Dritter die Postsendung empfängt und/oder öffnet und/oder der explodierenden Bombe zum Opfer fällt. Wohl aber ist ein zur Opferindividuation hinreichendes Kriterium erfüllt, wenn der Täter eine Bombe so mit dem vermeintlichen Kfz des Ehebrechers verbindet, dass sie bei Betätigung des Zündmechanismus explodierte, und dann der wirkliche Halter beim Starten seines Fahrzeugs ums Leben kommt. Dasselbe gilt, wenn sich der Täter beim Telefonieren verwählt und nach beiderseitigem Abheben des Hörers unvermittelt, noch bevor sich der Inhaber des irrig angewählten Telefonanschlusses gemeldet hat, seine eigentlich für den Ehebrecher bestimmten Beleidigungen in den Hörer brüllt. 30
Wolter (Fn. 1), S. 129.
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Nur unter Bezugnahme darauf, dass mehrere Beteiligte an derselben Tat dabei durchaus unterschiedliche Kriterien zur Opferindividualisierung herangezogen haben können, lässt sich auch begründen, weshalb in einer Konstellation wie dem Rose-Rosahl-Fall der Haupttäter einen error in persona, der Anstifter aber eine aberratio ictus attestiert erhalten kann: Wenn nur der Haupttäter eine Opferindividualisierung nach dem Kriterium der sinnlichen Wahrnehmung des Angriffsobjekts vollzieht, während der Vorsatz des Anstifters abseits vom Tatort sich allein auf ein Opfer richtet, das äußerlich genau der durch ihn dem Haupttäter gelieferten Beschreibung entspricht, dann kann das vom Haupttäter verwendete Kriterium erfüllt sein, das vom Anstifter benutzte aber gleichzeitig fehlgehen.
VI. Fazit Die Ergebnisse, die bei Gleichbehandlung aller vom Täter im konkreten Einzelfall verwendeten Opferindividualisierungskriterien abzuleiten sind, können sich also durchaus von denen unterscheiden, die bei einem alleinigen Abstellen auf das Kriterium der sinnlichen Wahrnehmung des Angriffsobjekts zu verzeichnen wären. Wie nach dem letztgenannten ist aber auch nach dem erstgenannten Kriterium eine aberratio ictus stets beachtlich,31 d. h. sie schließt eine Strafbarkeit wegen vollendeten Vorsatzdelikts aus, falls diese nicht schon aus anderen Gründen – z. B. mangels objektiver Zurechenbarkeit des tatsächlich eingetretenen Erfolgs – entfällt.32 Nach dem oben Ausgeführten lässt sich die aberratio ictus als vollständiges Fehlgehen sämtlicher vom Täter vorgenommenen Opferindividuationen bezeichnen, während ihm beim error in persona diesbezüglich lediglich ein partieller Fehlschlag unterlaufen ist, aus der Gesamtmenge aller zur Opferindividuation verwendeten Kriterien also zwar nicht alle, aber doch jedenfalls eines planmäßig funktionierte. Angelehnt an eine oben zitierte Äußerung Jürgen Wolters lässt sich resümieren: Immer wenn der fehlgeschlagene „Tatentschluss bezüglich des einen Opfers“ angesichts eines weiteren vom Täter ebenfalls verwendeten Individuationskriteriums zugleich „den Vorsatz bezüglich eines anderen Opfers mitgetragen hätte“,33 dann genügt die mit der Beeinträchtigung des letzteren verbundene rudimentäre Planverwirklichung bereits für ein vollendetes Vorsatzdelikt. Erst der Umstand, dass dem Täter bei einer aberratio ictus selbst diese rudimentäre Planverwirklichung missglückt ist, macht sie – in Wolters Worten – tatsächlich zum „Sonder- und Extremfall der Kausalabweichung“.34
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A.A. Wolter (Fn. 1), S. 124. Wolter (Fn. 1), S. 125 spricht dann von einer „unechten aberratio ictus“. 33 Wolter (Fn. 1), S. 130; ders. (Fn. 14), S. 551. 34 Wolter (Fn. 1), S. 124.
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Handeln aus Gewissensgründen als Entschuldigungsgrund im Vergleich zur Strafbarkeit der Überzeugungstat* Von Diego-Manuel Luzón Peña Der vorliegende Beitrag befasst sich mit dem Handeln aus Gewissensgründen jenseits der rechtlichen Grenzen des Grundrechts der Gewissensfreiheit, also mit einem Thema, dessen Problematik und Folgerungen vor allem für das Strafrecht, aber auch in anderer rechtlicher, insbesondere in verfassungsrechtlicher Hinsicht von Bedeutung sind. Demnach erscheint es mir sehr gut geeignet zur Ehrung unseres Jubiliars, meines bewunderten und lieben Kollegen und Freundes Jürgen Wolter, der sich in seinem gesamten Werk so tiefgründig und erfolgreich der interdisziplinären Perspektive und allen Facetten der gesamten Strafrechtswissenschaft gewidmet hat.
I. Der nicht rechtfertigende Gewissenskonflikt als möglicher Entschuldigungsgrund wegen subjektiver Strafunzumutbarkeit Eine mögliche völlige oder wenigstens teilweise Entschuldigung beim Gewissenskonflikt kann selbstverständlich nur in den Fällen diskutiert werden, wo das Handeln aus Gewissensgründen oder die Verweigerung aus Gewissensgründen nicht von der Ausübung des etwa in Art. 4 GG oder in Art 16 CE (spanische Verfassung) anerkannten Grundrechts der Gewissensfreiheit1 gerechtfertigt ist, weil eine gesetzliche Regelung den entsprechenden Aspekt der Verweigerung aus Gewissengründen aufnimmt und entwickelt oder weil sie sich deutlich aus diesem Grundrecht und seinen durchdringenden Grundsätzen ableitet. Dies habe ich bereits an anderer Stelle ausführlich dargelegt.2 Wie ich dort begründet habe3, sind außer den gesetzlich * Übersetzung von cand. iur. Waleska Izeta, Universität zu Köln. Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen des von mir geleiteten, vom spanischen Wissenschaftsministerium (derzeit innerhalb des Ministeriums für Wirtschaft und Wettbewerb) finanzierten Forschungsprojekts DER2011 – 24011. 1 In Art. 4 GG wird sie als Freiheit des Glaubens, des Gewissens und Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses anerkannt, in der spanischen Verfassung ist sie im Grundrecht der ideologischen, religiösen und kulturellen Freiheit des Art. 16 Abs. 1 u. 2 CE mit eingeschlossen. 2 Vgl. eingehend dazu Luzón Peña, I. Roxin-FS, 2012, S. 757 ff.; ders., InDret 2012-4, 1 ff.
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ausdrücklich zugelassenen Fällen die Handlungen aus Gewissensgründen bei den Begehungsdelikten, die also Enthaltungspflichten verletzen, nicht gerechtfertigt; und bei der Verletzung von Handlungspflichten bei Unterlassungsdelikten werden nicht diejenigen gerechtfertigt, bei denen im Rahmen der Interessenabwägung das Interesse an der Verwirklichung der gebotenen Tätigkeit die Wahrnehmung der Gewissensfreiheit überwiegt.4 In allen diesen Fällen ist das Handeln, wenn es auch aus Sicht des Täters auf gewichtigen Gewissensgründen beruhen mag, rechtswidrig und bleibt verboten.5 Nun kann in solchen Fällen ein Gewissenskonflikt, wenn er extrem ist und unter zusätzlichen Umständen vonstattengeht, die ihn normativ verständlich machen, wegen subjektiver Strafunzumutbarkeit als einem konkreten, auf dem Grundsatz der individuellen strafrechtlichen Unzumutbarkeit beruhenden übergesetzlichen Entschuldigungsgrund6 das Verhalten entschuldigen. Wenn es keinen extremen Konflikt, sondern Gewissensgründe gibt, die allein einen erheblichen Motivationsdruck auf den Täter zur Nichteinhaltung der Norm ausüben, oder wenn trotz extremen Konflikts die vorliegenden Umstände diesen Konflikt nicht normativ verständlich machen, wird es nur verminderte Strafzumutbarkeit und daher eine nur teilweise Entschuldigung geben7.
1. Unerträglicher Motivationskonflikt als erste faktische Voraussetzung der Entschuldigung Die Gewissensgründe können manchmal dem Handelnden einen so starken inneren (psychischen, motivationsbedingten) Konflikt mit dem auch von dem Strafverbot (oder -gebot) entstammenden Druck auslösen, dass – auf der faktischen Ebene – seine normative Ansprechbarkeit vollkommen oder praktisch aufgehoben ist, d. h., dass vor dem unüberwindbaren Druck der individuellen ethischen Norm seines Gewissens die Möglichkeit der Bestimmung oder Motivation von der Rechtsnorm 3
Vgl. Luzón Peña, I. Roxin-FS, 2012, 760 ff.; ders., InDret 2012-4, 1 (3 ff.). Vgl. Luzón Peña, I. Roxin-FS, 2012, S. 760 ff. 5 Freilich muss man präzisieren, dass das Zurückgreifen auf die Entschuldigung nur dann notwendig ist, wenn es sich auch nicht um Fälle handelt, bei denen wegen Geringfügigkeit oder sozialer Toleranz schon die Straftatbestandsmäßigkeit, also das Strafunrecht, ausgeschlossen wird; dann ist das Gewissenshandeln rechtswidrig, aber nicht strafrechtlich verboten: vgl. Luzón Peña, I. Roxin-FS, 2012, S. 760 (762); InDret 2012-4, 5. 6 Oder, wenn man es vorzieht, als einem Entschuldigungsgrund in Analogie zu den gesetzlich anerkannten Entschuldigungsgründen. 7 Grundsätzlich mit dieser Fragestellung übereinstimmend, obwohl sie sie anders in den Erfordernissen und Einzelheiten entwickelt, Jericó Ojer, El conflicto de conciencia ante el Derecho Penal, Vorwort Díaz y García Conlledo, Madrid, La Ley, 2007, S. 437 f., 423 ff., 395 ff., die meint, dass es der Normalfall sei, dass der Gewissenskonflikt die subjektive Zumutbarkeit nur mindere und deshalb eine bloße Strafmilderung darstelle, und dass es allein ausnahmsweise vorkommen werde, dass ein solcher Konflikt wegen völliger subjektiver Unzumutbarkeit, vor allem aus unüberwindbarer Angst völlig entschuldige. 4
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abgeschafft oder am schwersten beeinträchtigt wird.8 Diese faktische Lage eines extremen, d. h. für den Täter unerträglichen Motivationskonflikts ist, wie es auch bei anderen Entschuldigungsgründen geschieht, die erste Voraussetzung, um einen Fall von subjektiver Strafunzumutbarkeit anerkennen zu können.9 Man muss anerkennen, dass es faktisch viel eher vorkommt, dass dieser extreme, subjektiv unerträgliche Gewissenskonflikt dann entsteht, wenn das strafbare Verhalten aus einem religiösen Gewissenskonflikt begangen wird, als nur aus Gründen ethischen Gewissens ohne religiöse Motivation. Denn in diesem zweiten Fall wird es seltener vorkommen, dass die Gründe des ethischen Gewissens, um sich der Rechtsnorm zu widersetzen, dem Handelnden nicht nur einen Druck (der gewiss die normale Möglichkeit der Determinierung durch die Norm mindern wird), sondern einen absoluten, psychisch unerträglichen Gewissenskonflikt schaffen. Wenn es dagegen das religiöse Gewissen ist, das dem Handelnden eine höchst schwere moralische Gewissenspflicht auferlegt, tritt für ihn eine unüberwindbare Kollision mit der entgegengesetzten Rechtspflicht ein, die das von der religiösen Pflicht Gebotene nicht zulässt. Wenn er die Rechtspflicht erfüllte, würde er deshalb ein für ihn viel wichtigeres und überwiegendes moralisch-religiöses Gebot missachten, was eine schwere Sünde bedeutete und sogar seine ewige Verurteilung mit sich bringen könnte: So geschieht es z. B. wenn die Zeugen Jehovas aufgrund ihrer eigentümlichen Auslegung des göttlichen Verbots des Umgangs mit Blut ihren minderjährigen Kinder sogar unter dem Risiko des Todes oder schwerer Körperverletzungen eine Blutoder Plasmatransfusion verweigern. Das ist ein (wenigstens bedingt) vorsätzliches, strafbares Verhalten der Eltern, nämlich Totschlag oder schwere Körperverletzung, eine vollendete Tat dann, wenn das Kind wegen der Nichtdurchführung der Intervention einen erheblichen Gesundheitsschaden erleidet oder sogar stirbt, oder wenigstens eine versuchte Tat, wenn die Eltern ihre Meinung schlussendlich nicht durchzusetzen vermögen und die Ärzte an dem minderjährigen Kind die Transfusion durchführen. Als weiteres Beispiel kann folgender Fall dienen: ein Mitglied einer religiösen Konfession, die in ihrem Glauben ein absolutes und ausnahmsloses Verbot anerkennt, an einem bestimmten Ruhetag nicht religiös bedingten Tätigkeiten vorzunehmen, weigert sich aus diesem Grund, eine Rettungshandlung oder einen dringenden Transfer eines Kranken oder Verunglückten, den er plötzlich hilflos findet, zum Krankenhaus vorzunehmen – was eine unterlassene Hilfeleistung ausmacht.
8 Dagegen ist die moderne deutschen Lehre mehrheitlich die Meinung, dass das Handeln aus Gewissensgründen wegen des Motivationsdrucks eine wichtige Beschränkung darstellt, aber nicht den Wegfall der Bestimmungsfähigkeit bewirke, was trotzdem in manchem einzelnen Fall zur Entschuldigung in einer Parallele zum entschuldigenden Notstand führen könne: vgl. ausführlich dazu Roxin, AT I, 4. Aufl., 2006, § 22/125 ff. 9 Wie ich an anderer Stelle (Luzón Peña, Lecciones de Derecho Penal, Parte General [PG], 2. Aufl. 2012, 28/23 f.) formuliert habe, bildet eine solche faktische Lage die erste allgemeine Voraussetzung bei den Entschuldigungsgründen aus individueller (Straf)Unzumutbarkeit.
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2. Nicht negative Bewertung des Motivationskonflikts als normative Voraussetzung der Entschuldigung: keine Wiederholungsgefahr Aber darüber hinaus erfordert die Anerkennung einer Lage subjektiver Strafunzumutbarkeit und der entsprechenden Entschuldigung hier genauso wie in anderen, auf einer solchen Unzumutbarkeit beruhenden Entschuldigungsgründen, dass dem die normative Bewertung nicht entgegensteht.10 In dem Fall eines unerträglichen Gewissenskonflikts, der die Begehung einer rechtswidrigen Straftat hervorruft, entspricht die Motivation dennoch etwas, das die Verfassung positiv bewertet, nämlich die religiöse Freiheit, die Freiheit des (ethischen) Gewissens und die des – religiösen oder nicht religiösen – Glaubens (obwohl die Verfassung dem Grenzen setzt: in der spanischen CE ist dies die Grenze der Achtung anderer Rechte, des Gesetzes und der öffentlichen Ordnung; gerade deshalb ist das Gewissenshandeln, das diese Grenzen überschreitet, rechtswidrig). Daher ist die normative Bewertung der Gewissensmotivierung prinzipiell nicht eindeutig negativ, nicht einmal beim Exzess. Jedoch bedarf es, damit normativ die Bewertung der Handlung strafrechtlich verständlich, begreiflich und daher entschuldbar ist, noch eine weiteren Voraussetzung: dass dieses Gewissenshandeln keine Gefahr mehrmaliger Wiederholung impliziert und sich darum nicht wiedersprüchlich zu den strafrechtlichen Präventionsbedürfnissen verhält11 (wie man sieht, fällt in diesem Fall der normative Maßstab mit dem Kriterium Roxins zusammen, die „Verantwortlichkeit“ dann auszuschließen, wenn eine Bestrafung weder general- noch spezialpräventiv notwendig ist12). So handelt es sich im Falle des Gewissenskonflikts für den Zeugen Jehovas, der sich der Transfusion für das gefährdete minderjährige Kind widersetzt, normalerweise um eine sehr schwer wiederholbare Ausnahmesituation für das Kind, weshalb eine Enschuldigung angenommen werden kann (freilich wäre diese Lösung dann diskutabler, wenn sich der Fall zum zweiten Mal ereignete). Dagegen kann im Beispiel des totalen Konflikts für denjenigen, dessen Religion ihm nicht einmal erlaubt, am Ruhetag Hilfeleistungen für Kranke oder Verunglückte vorzunehmen, diese Lage häufiger vorkommen, da eine solche Situation jeden Tag eintreten kann. Deshalb gibt es eine deutliche Wiederholungsgefahr und die präventive strafrechtliche Wertung steht einer Entschuldigung entgegen.13 10
Vgl. Luzón Peña (Fn. 9), 28/23 ff.: diese nicht negative normative Bewertung ist eine zweite Voraussetzung für Entschuldigungsgründe aus individueller (Straf)Unzumutbarkeit. 11 So Luzón Peña (Fn. 9), 28/62. 12 So wendet Roxin (Fn. 8), § 22/122 ff.) das Kriterium des Mangels an präventiven Bedürfnissen an, um das Gewissenshandeln als einen Verantwortlichkeitsausschließungsgrund, d. h. das in seiner Terminologie Gleichbedeutende mit einer Entschuldigungsgrund, zu berücksichtigen; aber er differenziert nicht mit der hier vertretenen Unterscheidung danach, ob es eine Wiederholungsgefahr gibt oder nicht. 13 Um ein letztes Beispiel zu nennen: im Falle der Weigerung, Steuern zu zahlen, weil der Täter vermeiden will, dass ein Teil davon für seinem Gewissen widerstreitende militärische Zwecke ausgegeben wird (vgl. Luzón, I. Roxin-FS, 2012, S. 760 [762]; ders., InDret 2012-4, 1
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3. Schuldmilderung bei Nichtvorliegen einer der beiden Voraussetzungen Es gibt Fälle, in denen diese doppelten Voraussetzungen nicht vorliegen: entweder weil das faktische Erfordernis der Unerträglichkeit eines extremen und subjektiv unüberwindbaren Konflikts fehlt, d. h. zwar ein Konflikt, aber kein extremer, unerträglicher besteht, oder weil zwar ein subjektiv unerträglicher Konflikt vorliegt, aber es wegen der Gefahr einer häufigen Wiederholung dieses Konflikts und daher auch eines rechtwidrigen Verhaltens eine negative Bewertung der Lage in präventiver Hinsicht gibt. Dann wird es keine umfassende Entschuldigung geben. Aber man muss das Gewissenshandeln als Schuldmilderung wegen der erheblichen Minderung der Motivationsfähigkeit und der entsprechenden Schwierigkeit für die subjektive Strafzumutbarkeit anerkennen.14 Im deutschen Recht, wo auf die Beweggründe und Ziele des Täters innerhalb des § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB abzustellen ist,15 kann diese Minderung der Motivationsfähigkeit und der positive Wert der Gewissensfreiheit zu einer begünstigenden, mildernden Behandlung in der Strafzumessung16, sogar zu einer analogen Anwendung des § 49 StGB mit der entsprechenden Strafrahmenverschiebung17 führen. Im spanischen Recht ist es möglich, einen solchen schuldmindernden Gewissenskonflikt als analogen Strafmilderungsrund gem. Art. 21 Abs. 7 CP im Wege der Analogie mit anderen in Art. 21 CP ausdrücklich vorgesehenen schuldmindernden Umständen anzuerkennen. Je nach dessen Intensität kann er sogar als ein Umstand qualifizierter Strafmilderung gem. Art. 66 Abs. 1, 2. CP mit der Folge einer Strafrahmenverschiebung angesehen werden.18
[5]), gibt es wahrscheinlich keinen absoluten, extremen Gewissenskonflikt. Aber selbst wenn es ein solcher wäre, gäbe es doch eine äußerst hohe Gefahr der Wiederholung, wenn der Täter jährlich seine Steuern zahlen muss; deshalb ist eine Entschuldigung nicht möglich. 14 So Luzón Peña (Fn. 9), 28/63. 15 Davon ausgehend Rönnau, Leipziger Kommentar (LK), 12. Aufl., Band II, 2006, vor § 32/373. 16 So Son, Die Problematik der Bestrafung des Gewissenstäter nach dem geltenden Recht, 1989, S. 191 ff.; Höcker, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und seine Auswirkungen im Strafrecht, 2000, S. 99; Rönnau (Fn. 15), vor § 32/374 f.: die begünstigende Strafzumessung folge aus dem von BVerfGE.23, 127 (134) anerkannten „Wohlwollensgebot“, das aus dem Grundrecht der Gewissensfreiheit hergeleitet wird. Auch Rudolphi, Die Bedeutung eines Gewissensentscheides für das Strafrecht, Welzel-FS, 1974, S. 630, wendet eine doppelte Schuldmilderung, mit sogar schuldausschließender Wirkung auf die Gewissenstat an; Roxin (Fn. 8), § 22/129 behauptet auch: die „Annahme einer schuldmindernden Motivationserschwerung ist sicher richtig“; er bezweifelt aber, dass es allgemein über die Strafmilderung hinaus gehen sollte. 17 In diesem Sinn Hirsch, Strafrecht und Überzeugungstäter, 1996, 26; Rönnau (Fn. 15), vor § 32/374. 18 Vgl. Luzón Peña (Fn. 9), 28/63.
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II. Der Überzeugungstäter (die Überzeugungstat): keine Entschuldigung und keine Schuldmilderung als Regel Der Fall des Überzeugungstäters beinhaltet dagegen andere charakteristische Merkmale. Mit Recht meint die herrschende Lehre, dass, mag auch diese Lage vorliegen, der bloße Umstand, dass der Täter ein Verbrechen aus Überzeugung begeht, dass er die Strafnorm nicht einhalten muss, ihn nicht zu entschuldigen vermag, wenn er keinem tiefen Gewissenskonflikt unterliegt. Es handelt sich denn auch um einen Täter, der das Verbot der Norm und die entsprechende Rechtswidrigkeit, sogar Strafrechtswidrigkeit seines Verhaltens kennt, der aber bewusst und willentlich dem Verbot nicht folgt, weil er es schon innerlich nicht respektiert und dessen Grundlage, die ihm zugrundeliegende Bewertung nicht teilt, sondern vom Gegenteil, also davon überzeugt ist, dass es richtig ist, so zu handeln und zur Erlangung der von einer bestimmten, der geltenden Rechtsnormen entgegengesetzten Ideologie verfolgten Ziele, ein oder mehrere, sogar schwere Verbrechen zu begehen. Normalerweise und abgesehen von extremen Fällen (etwa politischem, religiösem oder ideologischem Fanatismus) befindet sich ein solcher Mensch gar nicht in einem für sein ethisches Gewissen unüberwindbaren Konflikt, der in ihm einen subjektiv unerträglichen Motivationsdruck bewirkt, sondern in einer psychischen Lage von Ablehnung und Missachtung der geltenden Normen, sogar Strafrechtsnormen. Er ist davon überzeugt, dass er sie verletzen darf oder gar soll, um seine den Normen widerstreitenden Überzeugungen und Zwecke durchzusetzen.19 So ist es bei Terroristen oder bestimmten Anhängern krimineller religiöser Sekten, Fanatikern, Mitgliedern gewalttätiger Anarchisten-Gruppen, der Mafia, organisierten Verbrecherbanden usw. Erstens besteht doch psychisch und faktisch normative Ansprechbarkeit des Täters von der Norm, sowohl die Möglichkeit der Kenntnis und Verständnis der Norm als auch die Fähigkeit der Motivation und Determinierung durch die Drohung der Strafnorm: der Überzeugungstäter, mag er auch ein solcher sein, ist ja abschreckbar und fähig dazu, Furcht vor der Drohung der Strafvollziehung, besonders vor einer harten Strafe, zu empfinden. Darum versucht er zu vermeiden, festgenommen und bestraft zu werden. Zwar ist er der anderen Facette der Generalprävention, nämlich der sog. positiven Generalprävention bzw. der allgemeinen Überzeugung und Achtung der Norm, gerade deshalb nicht zugänglich, weil er nicht ihre Werte, sondern andere Gegenwerte teilt. Aber dies ist nicht entscheidend, denn es genügt nicht, um die Determinierbarkeit oder Motivierbarkeit der Strafnorm aus19 In diesem Sinne Jericó, El conflicto de conciencia, 2007, S. 76 f.; Luzón Peña (Fn. 9), 28/64. Aus denselben Gründen und mit gleichen Folgen zwischen Gewissenshandeln, bei dem eine Verantwortlichkeitsausschließung möglich ist, und der Überzeugungstat, die wenn auch mit mancher Rücksicht bei der Strafzumessung doch strafbar ist, unterscheidend, Roxin (Fn. 8), § 22/100 ff., 103. Aber es ist in der Lehre auch üblich, manchmal die Terminologie Überzeugungstat oder -täter unter Einbeziehung der Handlungen aus Gewissensgründen zu verwenden (freilich ist es demnach häufiger, für das Handeln aus Gewissensgründen eine günstigere Behandlung zu verteidigen): vgl. Cerezo, Curso de Derecho Penal, PG, III, 2001, 35 ff.; Derecho Penal, PG, 2008, 751 ff., mit weiteren Hinweisen.
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zuschließen. Freilich kann ausnahmsweise ein vollkommener Fanatiker wie ein suizidenter Terrorist keine Furcht vor der Strafe fühlen, also nicht abschreckbar sein, da er schon seinen eigenen Tod sucht, den er nicht fürchtet oder sogar wegen patriotischer Ideale – Guerrillakämpfer, Nachahmer des japanischen Kamikaze – oder aus der religiösen Überzeugung die Erlangung einer Belohnung im anderen Leben wünscht. Dennoch sollte diese Lage in vielen Fällen relativiert werden, da es sehr wohl sein kann, dass der suizidente Terrorist nicht fürchtet, während seiner Aktion von Polizisten oder Soldaten getötet zu werden, aber doch fürchten kann, lebendig gefangen genommen zu werden und eine lebenslange oder sehr lange und harte Strafe erleiden zu müssen. Aber zweitens geschieht es, dass sich in allen Fällen der Überzeugungsdelinquenz, sogar in dem Ausnahmefall der Nicht-Abschreckbarkeit, normative Erwägungen gegenüber der Entschuldigung und sogar der Schuldmilderung durchsetzen. Vom normativen strafrechtlichen Standpunkt her verdienen das Handeln und die Motivation der Überzeugungsverbrecher sowohl in präventiver Hinsicht als auch in der Gerechtigkeitsperspektive nicht nur eine negative Bewertung, sondern die möglichst negativste Bewertung, weil es bei ihnen um höchst gefährliche Handlungen, Gesinnungen und Attitüden der totalen Konfrontation mit der Rechtsordnung geht; deswegen kann man ihnen kein Verständnis, Begreifen und auch nicht die geringste Entschuldigung entgegenbringen. Allein in ganz extremen Ausnahmefällen kann die psychische Lage von Fanatismus eines gefährlichen Überzeugungsverbrechers so abnorm, etwa von einer echten Gehirnwäsche verursacht sein, dass sich der Täter in einer Lage vollständiger krankhafter seelischer Störung oder tiefgreifender Bewusstseinsstörung befindet; dann wäre seine Schuld doch wegen Zurechnungsunfähigkeit auszuschließen. Allerdings wären dann wegen seiner Gefährlichkeit die entsprechenden Sicherungsmaßregeln anzuwenden.
Zum Strafunrechtsausschluss Von Ricardo Robles Planas*
I. Strafunrechtsbegründung: Zurechnungsstrukturen und Stufen der Normkonkretisierung 1. Eine Systematisierung der Strafunrechtsausschlussgründe bedarf zuvor der Definition des Strafunrechts.1 Wenn man sich von dem Verständnis der Straftat als störendes Ereignis eines Zustands entfernt, d. h. als tatsächliche empirische Veränderung der Außenwelt, und diese stattdessen als Sinnausdruck einer Person versteht, die der Rechtsordnung widerspricht,2 dann kann die Bestimmung dessen, was Strafunrecht ist, nicht abseits der Person des Täters getroffen werden.3 Eine konsequente Entwicklung dieses Verständnisses müsste auf den ersten Blick zu einer Relativierung der Differenzierung zwischen Unrecht und Schuld führen.4 Diese Unterscheidung würde materiell keinen Sinn ergeben, da kein Unrecht unabhängig von der Schuld existieren würde, das in einem Verständnis der Straftat als Verstoß gegen eine Pflicht zur Achtung der Norm einen Platz hätte. Mit anderen Worten: All’ jene Veränderungen der äußeren Welt, die nicht auf die schuldhafte Verletzung der Norm zurückzuführen sind, können nicht als Sinnausdruck des Täters erklärt werden, sondern einfach als Ereignis oder Geschehnis, als casus oder letztlich als natürliches empirisches Phänomen, dem es per se an normativer Relevanz mangelt.5 * Übersetzung von Michael Juhas, Rechtsreferendar und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Prof. Dr. Helmut Satzger, Universität München. 1 Jedoch wird nicht das Unrecht zunächst bejaht um dieses später wieder zu verneinen, denn aus logischen Gründen können Strafunrechtsausschlussgründe nur so verstanden werden, dass sie bereits die Entstehung eines Strafunrechts verhindern (vgl. Rödig, in: FS Lange, 1976, S. 47 ff.). 2 S. z. B. Jakobs, System der strafrechtlichen Zurechnung, 2012, S. 22; Lesch, Der Verbrechensbegriff, 1999, S. 203 ff. 3 So Lesch (Fn. 2), S. 210. 4 So z. B. Freund, AT, 2. Aufl., 2009, 4/20; Jakobs, Der strafrechtliche Handlungsbegriff, 1992, S. 44; Lesch (Fn. 2), S. 1 ff.; Renzikowski, in: Alexy (Hrsg.) Juristische Grundlagenforschung (ARSP-Beiheft) 104, 2005, S. 133 ff.; Walter, Der Kern des Strafrechts, 2006, S. 116 ff.; Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, 2012, S. 259 ff. 5 Dass die interne Logik der sog. Duldungspflichten, der Voraussetzungen der Maßnahmen der Besserung und Sicherung und der Beteiligungslehre dieser Schlussfolgerung nicht entgegenstehen, wurde in der jüngeren Dogmatik kraftvoll begründet (s. statt aller Pawlik [Fn. 4], S. 259 ff. m.w.N.). Sogar das Argument des Verbotsirrtums verliert seine Überzeugungskraft
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Ebenso setzt die konsequente Entwicklung des vorherigen Unrechtsbegriffs die Einsicht voraus, dass nicht nur die fehlende Tatbestandsmäßigkeit und Rechtfertigungsgründe das Strafunrecht ausschließen, sondern auch alle die Gründe, die die subjektive Zurechnung im weitesten Sinne, über die Fälle der Schuldunfähigkeit hinausgehend, ausschließen: der unvermeidbare Tatbestandsirrtum, die Entschuldigungsgründe und der unvermeidbare Verbotsirrtum. Tatsächlich verbieten oder befehlen strafrechtliche Normen nicht die Veränderung des Zustands einer Sache, sondern – im Gegensatz zur Ansicht von Mezger6 – bestrafen die Verwirklichung eines Strafunrechts in Bezug auf den Gegenstand seiner Regulierung. Die Norm lautet: „Es ist verboten zu töten“. Aber was töten i. S. der Norm ist, kann nur abstrakt als „Verwirklichung des Strafunrechts des Tötens“ definiert werden. Es ist notwendig, die Norm anhand des Subjekts und der Umstände zu konkretisieren, um zu wissen, wann eine bestimmte Handlung ein Strafunrecht darstellt.7 Das Bestehen eines Strafunrechts, und damit die Verletzung einer Norm, kann nur unter Berücksichtigung von Kriterien festgestellt werden, die entscheiden, wann eine Person in einer bestimmten Situation gerechterweise strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann.8 2. Die Leitidee der individuellen Autonomie erhebt den Gedanken der Selbstbindung zum Prüfstein jeder legitimen Zurechnung von Verantwortung.9 Nur in dem wenn man annimmt, dass sich das Subjekt nur, wenn es sich der Norm bewusst wird, gegen diese stellen kann und nur in diesem Fall ist es möglich, von einem genuinen Strafunrecht zu sprechen. Meines Erachtens gilt dies ebenso für faktische Umstände, den sog. Tatbestandsirrtum. 6 Mezger, GS 89 (1924), S. 245. 7 Daher ist nach meinem Dafürhalten die Unterscheidung zwischen Verhaltensnormen und Zurechnungsregeln (s. z. B. Hruschka, Rechtstheorie 22 [1991], 450 ff.; Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 29 f.; Vogel, Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikte, 1993, S. 61 f.; Mañalich, Nötigung und Verantwortung, 2009, S. 75 f.) analytisch korrekt, aber materiell ohne Bedeutung. Tatsächlich ist ein Verständnis, nach dem die Norm definitiv in ihrer abstrakt-generellen Formulierung („es ist verboten, zu töten“) festgemacht wird, absurd und schädlich, denn niemand würde einem normativen System, das auf eine so simple Weise vorgeht, Glaubwürdigkeit zugestehen. Stattdessen gehen wir alle von der notwendigen Konkretisierung der Norm in der konkreten Situation, von ihrer Anpassung an die Umstände, in denen die Norm als Orientierung für Handlungen dienen muss, aus. Folglich entfaltet sich die Norm dynamisch in der praktischen Realität, sie modifiziert ihren Anspruch auf Gültigkeit abhängig von der Gesamtheit der Umstände. Hierzu gehören nicht nur rechtfertigende Umstände, sondern unbestreitbar auch der individuell-situationelle Kontext, dem der Täter gegenüber steht. Somit hält die Norm, die das Töten verbietet, nicht nur den auf Grund einer gerechtfertigten Handlung verursachten Tod nicht für „töten“, sondern auch den durch einen unvermeidbaren Verbotsirrtum, unvermeidbaren Tatbestandsirrtum oder den in einer Situation der Unzumutbarkeit verursachten Tod. Auch Pawlik geht im Wesentlichen gleich vor, abgesehen von den Begrifflichkeiten ([Fn. 4], S. 254 f.), denn er ordnet die Kriterien der Zurechnung der Verletzung der Norm Überlegungen der Zuständigkeitsbegründung unter (z. B. [Fn. 4], S. 302). 8 S. ähnlich Freund (Fn. 4), 2/23. 9 S. Pawlik (Fn. 4), S. 174 ff.
Zum Strafunrechtsausschluss
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Maße, in dem sich das Subjekt von selbst im Hinblick auf die Übrigen verpflichtet hat, ist es möglich, es wegen seiner störenden Handlung zur Rechenschaft zu ziehen. In einer Gesellschaft jedoch, die sich selbst auch als Gemeinschaft definiert, wird das Individuum nicht nur durch Taten gebunden, die eine Organisation der Welt i. e. S. ausdrücken, sondern auch durch seine Identifikation als Mitglied der Gemeinschaft. Letzteres verpflichtet das Individuum, auf irgendeine Weise zum Gemeinschaftsentwurf beizutragen: Ihm obliegen positive Pflichten. Deshalb ist es für seinen Schaden verantwortlich, auch wenn es sein Umfeld nicht selbst organisiert hat, eben weil es dieses entgegen seiner Verpflichtung als Mitglied der Gemeinschaft nicht verbessert hat.10 Es ist zwar richtig, dass eine organisierte Gemeinschaft positive Pflichten primär auf institutionelle Weise erfüllt, indem in erster Linie der Staat dazu berufen ist, für das Wohlergehen der Bürger zu sorgen. Wenn der Staat diesem Auftrag jedoch nicht nachkommen kann, geht diese Pflicht auf den Bürger über.11 3. Nichtsdestotrotz werden durch diese Beschreibung noch nicht der Inhalt und die Grenzen der Organisations- und Solidaritätspflichten umrissen, die ein Strafunrecht konstituieren können. Hierfür ist es unerlässlich, die Person des Täters und die konkreten Umstände der Situation einzuführen. Ein Strafrecht, das sich am Schuldprinzip orientiert, kann darauf nicht verzichten, um festzustellen, ob eine Handlung eine Straftat oder für die Norm unschädlich ist. Eine allgemeine systematische Theorie der Begründung und des Ausschlusses des Strafunrechts müsste daher die verschiedenen relevanten Konkretisierungsebenen der Norm absondern und dazu übergehen, auf jeder dieser Ebenen zu analysieren, ob eine Rechtsverletzung stattfindet. Die Norm wird auf der ersten Ebene abstrakt-generell umrissen, wobei auch die angemessenen Einschränkungen eingeführt werden, die von der Notwendigkeit, sozial zu interagieren, abgeleitet werden (erlaubtes Risiko). Daraufhin erhält sie ihre weiteren Umrisse durch Berücksichtigung des interpersonalen Zusammenhangs der Handlung, wo es wichtig ist, angesichts des Verhaltens der beteiligten Sphären, zu bestimmen, wer den konkreten Eingriff auf sich nehmen muss (der Täter oder das Opfer). Schließlich gewinnt auf einer dritten Konkretisierungsebene der situationelle und personelle Kontext an Bedeutung. Hier wird untersucht, ob besondere Gründe bestehen, damit das Verbot zurückweicht. Nur wenn sich die Norm in einer persönlichen Pflicht konkretisiert, lässt sich bekräftigen, dass die Verwirklichung der verbotenen Handlung oder die Nichtverwirklichung der angeordneten Handlung eine Verletzung mit einschließt und nur dann kann von einem Strafunrecht gesprochen werden. Im Folgenden werde ich mich nur mit einigen Aspekten dieses Konkretisierungsvorgangs der Norm auseinandersetzen: dem Strafunrechtsausschluss in konkreten intersubjektiven Situationen (die sog. Rechtfertigungsgründe) und dem Strafunrechtsausschluss in bestimmten individuellen Situationen (die sog. Fälle des entschuldigenden Notstands und der Unzumutbarkeit). 10
S. Jakobs (Fn. 2), 85 ff.; Sánchez-Vera, Pflichtdelikt und Beteiligung, 1999, S. 98 f. S. insbesondere Pawlik (Fn. 4), S. 186 ff.; s. auch Haas, Kausalität und Rechtsverletzung, 2000, S. 261 f.; Robles Planas, „Deberes de solidaridad“, InDret 1/2012, S. 2 f. 11
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Um Missverständnissen vorzubeugen ist es notwendig, deutlich zu machen, dass es sowohl auf intersubjektiver als auch auf individueller Ebene immer um einen Konflikt zwischen juristischen Sphären von Bürgern geht. Es ist nur so, dass auf intersubjektiver Ebene dieser Konflikt immer unter Rückgriff auf die Logik der symmetrischen Zuordnung von Pflichten gelöst wird: Dem Recht des einen entspricht eine Pflicht des anderen und umgekehrt. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, wird der Strafunrechtsausschluss immer fest in einer Theorie der Pflichten, Eingriffe und Verluste zu ertragen, verankert (die sog. Duldungspflichten), die sich die Bürger gegenseitig für Konfliktsituationen zuweisen. Darüber hinaus kann sich auch bei der individuellen Konkretisierung der Norm ein Konflikt zwischen der Sphäre des Täters und der Sphäre des Opfers des Eingriffs ergeben. Das Opfer wäre jedoch nicht in besonderer Weise verantwortlich für den Eingriff, der durch den Täter erfolgt, so dass es nicht möglich ist, diesen mit den strikt intersubjektiv verstandenen Begriffen wie Recht und Pflicht zu erklären. Dies verhindert nicht, dass das Recht eine Handlung des Täters, unter Berücksichtigung der konkreten individuellen Umstände, als nicht verboten ansieht, und diese Handlung folglich nicht als Strafunrecht bewertet. Von diesem weiteren Standpunkt aus betrachtet, liegt der Grund für den Strafunrechtsausschluss letztlich in der Bedeutung, die das Verhalten des Täters, unabhängig oder autonom von seiner primären intersubjektiven Rechtfertigung, für das (Straf-)Recht hat. So haben i. w. S. die Strafunrechtsausschlussgründe nicht etwa die Funktion, festzulegen, was Dritte dulden müssen, sondern festzustellen, ob diejenige Handlung, die a priori ein tatbestandliches Unwerturteil nach sich zieht, diesen Charakter als strafrechtlich missbilligtes Verhalten verliert.12 Selbstverständlich verzichtet diese zweite Sichtweise nicht auf die sog. Duldungspflichten, sondern verneint einfach deren Automatismus: Es existieren Situationen eines Strafunrechtsausschlusses mit und ohne Duldungspflichten.13
II. Strafunrechtsauschluss kraft Rechtfertigung 1. Sicher fällt in vielen Fällen die Feststellung, dass ein Verhalten einer Person, die in Not handelt, strafrechtlich korrekt war, mit einer Duldungspflicht des Betroffenen zusammen. Diese Pflicht kann zwei Gründe haben: die Verantwortlichkeit für den Notstand und die Solidarität. In beiden Fällen erfüllt die Duldungspflicht eine doppelte Funktion: Sie ist einerseits Rechtfertigungsgrund für den Eingriff in die Sphäre des Betroffenen, andererseits bestimmt sie das Maß des gerechtfertigten Einwirkens in diese Sphäre. Diesbezüglich gilt: Während die Verantwortlichkeit für die Notstandslage es erlauben würde, einen weitreichenden Eingriff in die Sphäre des Betroffenen zu rechtfertigen, erlaubt die Existenz einer Solidaritätspflicht nur die Rechtfertigung von sehr eingeschränkten Eingriffen. 12
So Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 425 mit Fn. 41. So der bekannte Ansatz von H. L. Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluss, 1983, passim; vgl. auch Freund (Fn. 4), 3/27 ff. 13
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2. Wenn die Grundlage der Duldungspflicht Ausdruck der Freiheit des Betroffenen im Verhältnis zur Gefahr ist, die dem droht, der sich in einer Notlage befindet, dann müssten sich daraus mindestens zwei Schlussfolgerungen ergeben, die bislang nicht gezogen wurden: Zum einen, dass diese Duldungspflichten abgestuft sind und zum anderen, dass deren Intensität strikt dem Grad der ausgeübten individuellen Freiheit im Verhältnis zur Gefahr entspricht, die dem droht, der sich in der Notstandslage befindet. Es ist befremdlich, eine entgegengesetzte Tendenz festzustellen: Die ganz herrschende Lehre bricht mit dieser Entsprechung und erlaubt die Rechtfertigung auf Grund einer Duldungspflicht der höchsten Intensität in Sachverhalten, in denen keine – echte – Verantwortung für die Gefahr besteht. In den Fällen des sog. defensiven Notstands, in denen nur eine rein kausale Beziehung zwischen der Gefahr und dem Duldungsverpflichteten besteht, wird die Rechtfertigung des im Notstand Handelnden sogar dann akzeptiert, wenn das gerettete Gut weniger wert ist als das verletzte (in Anwendung der allgemeinen Regeln, die in Sachverhalten des defensiven Notstands gelten).14 Demgegenüber erscheint es viel angemessener, dass nur dann, wenn die vorhergehende Handlung des Betroffenen als Angriff oder als einem Angriff nahekommend bewertet werden kann (d. h. als eine echte Verletzung organisatorischer Pflichten), diese Handlung eine Duldungspflicht von höchster Intensität begründet. Der Eingriff, den der Betroffene in seiner Sphäre erleidet, ist Ausdruck seiner eigenen organisatorischen Freiheit, was den Verlust von gleich- oder höherwertigen Rechtsgütern rechtfertigt, bis zur Grenze der Solidarität, die nun zu Gunsten des Betroffenen wirkt.15 In dem Maß, in dem die Ausübung der Freiheit abnimmt, verliert auch die Duldungspflicht an Intensität, so dass nur noch die Verletzung von Gütern möglich ist, die eindeutig von geringerer Bedeutung sind. Eigentlich wäre es angebracht, dies von jener intensiveren Duldungspflicht zu unterscheiden und diese in Fälle eines geringeren Ausdrucks von Freiheit oder in Situationen von besonderen positiven Rechten16 als „Kooperationspflicht“ zu bezeichnen und äußerstenfalls „Aufopferungspflicht“ in Fällen allgemeiner positiver Pflichten (Mindestsolidaritätspflicht) zu nennen. In keinem der beiden letzten Fälle kann sich dies in einer Pflicht niederschlagen, Verluste von existentieller Bedeutung hinzunehmen. 14
S. hierzu Coca Vila, InDret 1/2011, S. 1 ff. Die Befugnisse der Notwehr blieben für vorsätzliche und schuldhafte Angriffe vorbehalten; die des defensiven Notstands i. e. S. im Wesentlichen für die fahrlässigen und schuldlosen. 16 Diese Sachverhalte, die zwischen dem Aggressivnotstand und dem Defensivnotstand liegen, sind nicht genügend von der Lehre erforscht worden. Eine Ausnahme stellt Baldó Lavilla (Estado de necesidad y legítima defensa, 1994, S. 180 ff.) dar, wenn er die „speziellen Befugnisse des Aggressivnotstands“ in den Situationen, in denen die Handlung desjenigen, der sich in einer Lage des Aggressivnotstands befindet, auf einen Garanten fällt, der nicht die persönliche Fähigkeit hat, um seine Pflicht zu erfüllen. Hierzu wird vorgeschlagen, diese speziellen Befugnisse des Aggressivnotstands auf die Fälle zu erweitern, in denen es nicht möglich ist, dem Betroffenen die in der Notstandslage drohende Gefahr subjektiv und objektiv zuzurechnen, wenn diese Gefahr ihm aber nicht völlig fremd ist. 15
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Die Konkretisierung der gezeigten Extreme bedarf einer detaillierten Erklärung. Vorerst sei es ausreichend, anzumerken, dass der Defensivnotstand i. e. S. für jene Sachverhalte vorbehalten bleiben muss, in denen es möglich ist, wenigstens die Gefahr, die demjenigen droht, der sich in einer Notstandslage befindet, dem Betroffenen objektiv und subjektiv zuzurechnen.17 Wenn dies nicht der Fall ist, man aber dennoch von der Existenz einer „schwachen Organisation“ (Steigerung des noch erlaubten Risikos, besondere Risiken) sprechen kann, sind die Duldungspflichten höher als im Rahmen des Aggressivnotstands, aber niedriger als beim Defensivnotstand.18 Daher muss das gerettete Rechtsgut höherwertiger sein als das verletzte und es ist ausgeschlossen, dass eine Pflicht besteht, sein Leben zu opfern, wenn nicht eine echte Organisationsverantwortlichkeit besteht. Schließlich führt der Aggressivnotstand, wie bereits hervorgehoben wurde, nur zu minimalen Solidaritätspflichten. Andererseits haben diese Situationen wenig mit dem Gedanken der strafrechtlichen Rechtfertigung i. e. S. zu tun. Es geht vielmehr darum, dass sie den allgemeinen Prozessen von Verteilung und Zuweisung von Gütern in juristische Sphären entsprechen, Prozesse, die intersubjektiv anerkannt sind, durch den Betroffenen selbst in Gang gesetzt werden und unter bestimmten Umständen wirken. In solchen Prozessen (einschließlich der Solidarität) werden primär echte intersubjektive Freiheitsrechte definiert. Auf diese Definitionen projiziert das Strafrecht erst im Nachhinein seine Verhaltensnormen (oder projiziert sie, je nach Standpunkt, gerade nicht), so dass einerseits demjenigen, der sich in Not befindet, nicht verboten wird, eine Handlung auszuführen, während andererseits dem Betroffenen verboten wird, diese Handlung zu beschränken oder abzuwehren. Die Notstandshandlung stimmt damit mit der Verhaltensnorm überein i. S. d. intersubjektiven Verteilung von Gütern.19 Da es sich um eine primäre Zuweisung von Freiheit handelt, kann diese nur durchgeführt werden, wenn die allgemeinen Prinzipien der reziproken – intersubjektiven – Definition der Freiheit respektiert werden. Zu diesen gehört nach dem Gesagten auch, dass eine Duldungspflicht umso geringer ist, je geringer der Gebrauch der vorherigen Freiheit hinsichtlich der Notlage ist und dass über die objektiven und subjek17
S. hierzu Baldó Lavilla (Fn. 16), S. 136. Richtigerweise ist es daher ausgeschlossen, dass die Fälle des Fehlens einer Handlung im strafrechtlichen Sinn (fehlendes Bewusstsein, Reflexe und vis absoluta) einen Defensivnotstand begründen können. 18 Die Duldungspflicht kann über die bloße intersubjektive Solidaritätspflicht hinausgehend allgemein damit begründet werden, dass der „casus“ (Zufall) auch in gewisser Weise eine Angelegenheit des Betroffenen ist (Quasi-Organisator). Sicherlich ist die untere Grenze sehr diffus und problematisch. Trotz allem müssen jene Sachverhalte dem Aggressivnotstand untergeordnet werden, in denen sich die Gefahr zwar naturalistisch betrachtet in einem Organisationsbereich befindet, dies aber reiner Zufall ist in einer Situation, in der andere verantwortlich sind oder einfach nur Pech vorliegt (so auch Jakobs, Rechtszwang und Personalität, 2008, S. 22). Beispiel: Eine giftige Schlange überquert ein Grundstück und droht damit, jemanden der sich auf dem angrenzenden Grundstück befindet, zu beißen. Vom Eigentümer des ersten Grundstücks kann nicht mehr als die Erfüllung seiner Solidaritätspflicht verlangt werden. 19 Grundlegend hierzu Silva Sánchez, GA 2006, S. 382 ff.
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tiven Organisationspflichten hinausgehend eine absolute Grenze bei den Rechtsgütern der persönlichen Existenz besteht.
III. Strafunrechtsauschluss kraft Unzumutbarkeit 1. Grundlagen 1. Zugegebenermaßen berichtet die Rechtfertigungsdogmatik auf Grundlage der Duldungspflichten nicht über viele Fälle, in denen das Strafrecht das Verhalten einer Person, die sich in einer Notlage befindet, nicht als verboten ansehen kann. In der Tat hat seit Hälschner20, Binding21 und von Liszt22 über von Hippel23, Maihofer24 oder Arthur Kaufmann25 bis zur Konstruktion des Strafunrechtsausschlusses von Günther26, unter anderen, die Lehre die Notwendigkeit bekundet, aus dem Begriff des Strafunrechtsausschlusses bestimmte Sachverhalte herauszufiltern, in denen nicht behauptet werden kann, dass das Verhalten rechtmäßig ist, so dass es als „nicht rechtmäßig, aber unverboten“ angesehen wurde.27 Es verbleibt damit ein Bereich des nicht strafrechtlich Verbotenen, der nicht mit dem Gedanken der Entschuldigung, sondern mit dem Fehlen des spezifischen Unwerts zusammenhängt, welcher für jedes strafrechtliche Unrecht erforderlich ist.28 Diese Schlussfolgerung erscheint mir zwingend für alle die Sichtweisen, die sich in heutiger Zeit von der Auffassung des Strafunrechts als rein naturalistische Verletzung von Rechtsgütern entfernen und sich dem „ideellen“ Verständnis des Unrechts nähern, d. h. als Verletzung des Rechts als Recht, als durch die Infragestellung des Rechts charakterisiertes Unrecht.29 Sie müssten es immer dann ablehnen, dass in bestimmten Konfliktsituationen ohne Duldungspflichten ein Strafunrecht vorliegen kann, wenn das Verhalten des Bürgers angesichts des Konflikts sich nicht als Untreue gegenüber dem Recht äußert. 20
Hälschner, System des preußischen Strafrechts I, 1858, S. 271. Binding, Handbuch des Strafrechts, 1991 (Neudruck der Ausgabe 1885), S. 764 ff. 22 Von Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 2. Aufl., 1884, S. 133. 23 Von Hippel, Deutsches Strafrecht, Band 2, 1930, S. 234. 24 Maihofer, in: FS Rittler, 1957, S. 162. 25 Arthur, Kaufmann, in: FS Maurach, 1972, S. 327 ff. Zuletzt auch Koriath, Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003), S. 317 ff. 26 Günther (Fn. 13), passim; s. auch Armin Kaufmann, in: FS Klug, 1983, S. 291 f. 27 Binding (Fn. 21), S. 765. 28 So auch aktuell z. B. Köhler, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1997, S. 329 ff. Die bekannten Überlegungen von Günther (Fn. 13) über den Strafunrechtsausschluss orientieren sich allein an quantitativen Aspekten des Unrechts (was dazu führt, dass ein problematisches Maß an autonomer Analyse ohne eigenen materiellen Inhalt beansprucht wird, weswegen dies seit jeher weithin auf Kritik gestoßen ist), wobei vergessen wird, dass der Begriff der Straftat immer von der eigenen Qualität des Strafunrechts handelt, so dass eine weitere Ebene der Analyse nur Sinn hätte hinsichtlich einer rein erläuternden Wirkung. 29 S. z. B. Frisch, in: FS Müller-Dietz, 2003, S. 253. 21
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2. Trotz allem bleiben die Grundlagen dieser Form des Strafunrechtsausschlusses im Dunkeln. Allgemein muss bekräftigt werden, dass über ihnen der Begriff der Unzumutbarkeit schwebt. Obwohl dies ein außerordentlich vager Leitgedanke ist, der nicht auf die materielle Frage antwortet, sondern diese voraussetzt, schwebt der Gedanke der Unzumutbarkeit über der ganzen Struktur der Straftat als ein Merkmal, das bei seinem Vorliegen die strafrechtliche Verantwortlichkeit ausschließen müsste. Obwohl die h.M. dieses Merkmal in Rahmen der Schuld verortet, scheint es nicht so, dass die Situationen, in denen die Unzumutbarkeit wirkt, mit der Schuld im engeren Sinne zu tun haben, sondern mit den Schwierigkeiten des Rechts, auf bestimmte Konfliktsituationen eine gerechte Antwort zu geben. Was unter Unzumutbarkeit über die anderen Voraussetzungen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit hinaus zu verstehen ist, hängt von der Gestaltung dieser Voraussetzungen ab und insbesondere davon, ob bereits auf der Ebene des Unrechts gewisse Überlegungen bezogen auf den Begriff der Gerechtigkeit berücksichtigt werden müssen, die bislang mehrheitlich in dem Schuldurteil eingeschlossen wurden, also mit deren Essenz als individuelle Vorwerfbarkeit in Verbindung gebracht wurden. Von diesem Standpunkt der individuellen Vorwerfbarkeit aus betrachtet, ist es verständlich, dass die Lehre von der Unzumutbarkeit eine bescheidene Entwicklung in der Theorie der strafrechtlichen Verantwortlichkeit hatte und sich einer geringen Beliebtheit in der Praxis erfreute, da bislang nicht befriedigend erklärt worden ist, weshalb nach Feststellung des Vorliegens eines Strafunrechts bestimmte individuelle Umstände in der Lage sind, die strafrechtliche Verantwortlichkeit aus nicht streng psychologischen Ursachen oder Beweggründen auszuschließen, sondern aus objektiven Gründen, also solchen, die sich auf einen objektiven Konflikt zwischen Rechtsgütern beziehen, den der Gesetzgeber anerkennt und in seinen konkreten Grenzen unabhängig davon regelt, ob psychologische Motivationen betroffen sind. In der Tat können Vorschriften wie § 35 StGB als echte Fremdkörper in einem System der Zuweisung strafrechtlicher Verantwortlichkeit angesehen werden, da eine bestimmte Auslegung von dem Begriff der Unzumutbarkeit ausgehend dazu führen würde, sie als Klauseln einer extremen Individualisierung des Urteils über die Verantwortlichkeit anzusehen, was praktisch jede Strafe verhindern würde und dementsprechend die Auflösung des Strafrechts zur Folge hätte.30 In dem Maße, in dem die Bedeutung der Unzumutbarkeit objektiviert wird (und genau dies tut § 35 StGB), verschwindet diese Gefahr. Jedoch können sich die Faktoren der Objektivierung vom Einzelfall abhängig als willkürlich, unvollständig und zu weitgehend erweisen. So ist die Lage im StGB und daher rührt die bedeutende Auseinandersetzung in der Lehre hinsichtlich der Grundlage des § 35 StGB über die Sachverhalte, die von dieser Vorschrift erfasst sind und über jene, die, auch wenn sie nicht erfasst sind, durch einen übergesetzlichen Entschuldigungsgrund erfasst sein müssten.
30 So der grundlegende Einwand von Schaffstein, Die Nichtzumutbarkeit als allgemeiner übergesetzlicher Schuldausschließungsgrund, 1933, S. 60 ff.
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3. Meines Erachtens ist die Spannung, die sich im Rahmen der Unzumutbarkeit manifestiert, jene zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft.31 Die Behauptung Pufendorfs, „daß der Grund allem Natuerlichen Rechte dieser sey; daß ein jeder Mensch/ so viel an ihn ist/ sich dasjenige/ so zu geruhiger Erhaltung/ und Aufnahme der menschlichen Gesellschafft gereichet/ angelegen seyn lassen solle“32 könnte eine zu formelle und drakonische Maxime enthalten, wenn nicht berücksichtigt wird, was das Individuum der Gemeinschaft „schuldet“, oder besser gesagt, was die Gemeinschaft legitimerweise vom Individuum vom materiellen und ideellen Standpunkt der distributiven Gerechtigkeit aus betrachtet verlangen kann.33 Tatsächlich setzt diese Beziehung auf der Ebene der Zumutbarkeit zwingend einen materiellen Inhalt voraus, auf Grund dessen die Gesellschaft ein anderes Verhalten als das vom Täter gezeigte erwarten darf, also die Befolgung der Rechtsnorm. Generell lässt sich sagen: Je stärker die Verbindung zwischen Individuum und Gemeinschaft, desto höher sind deren Ansprüche gegenüber Ersterem. Wenn die Gemeinschaft ihm tatsächlich und vollständig die „Güter und Annehmlichkeiten des Gemeinlebens“34 verschafft hat, kann sie dem Individuum gegenüber auch höhere Ansprüche stellen, damit es ihre Vorschriften befolgt. Im Gegensatz dazu verliert eine Gemeinschaft, die nicht in der Lage ist, ihre Bürger materiell für eine bona vita auszustatten, ihre Argumentationskraft, um diesen zu verbieten, dass sie selbst dafür sorgen. Dies ist meiner Meinung nach die axiologische Grundlage der Unzumutbarkeit:35 Diese Kategorie setzt immer eine Art wechselseitiger gesellschaftlicher Verantwortlichkeit für die Konfliktsituation voraus, der sich der Täter stellt, so dass seine Reaktion aus psychologischer Sicht nicht nur verständlich wird, sondern auch einen normativen Anspruch auf distributive Gerechtigkeit ausdrückt. Folglich liegt das Problem schon in der Unfähigkeit der individuellen Norm, sich im Angesicht eines schweren Konflikts für den Bürger zur gerechten oder verdienten Lösung zu erheben: Der Staat würde widersprüchlich handeln,36 wenn er den Bürger bestrafen würde, der sich bis zum Zeitpunkt des Konflikts rechtstreu verhalten hat (d. h. seine Normen gewissenhaft geachtet hat, insbesondere jene, die das Entstehen 31 Zutreffend hat Schaffstein (Fn. 30) S. 60 ff., dieses Problem bemerkt, der jedoch jeden Wert des Gedankens der Zumutbarkeit abstreitet. 32 Pufendorf, in: Schmidt-Bieggemann (Hrsg.), Gesammelte Werke, Bd. 2. De officio (Hrsg. Hartung), 1997, Liber Primus, Caput III, § 9, S. 23: „His positis adparet, fundamentalem legem naturalem esse hanc: Cuilibet homini quantum in se colendam & servandam esse socialitatem“ (kursiv im Original). In letzter Zeit ähnlich Pawlik (Fn. 4), S. 280: Unrecht als Verletzung einer Mitwirkungspflicht gegenüber der Rechtsgemeinschaft. 33 Was vielleicht auch nicht im Ansatz Pawliks (Fn. 32) hinreichend berücksichtigt wird. 34 Der Ausdruck stammt von Nietzsche, in: Schlechta (Hrsg.), Werke in drei Bänden, 1954, II, S. 812, der, aus philosophischer Sicht, auch bemerkt, dass in materiellen Begriffen die Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft die Straftat definiert. 35 So bereits Robles Planas, in: Sánchez-Ostiz (Hrsg.), Casos que hicieron doctrina en Derecho penal, 2011, S. 126. 36 Mit ähnlichen Begriffen der Ansatz von Rödig (Fn. 1), S. 59 Fn. 44 und Köhler (Fn. 28), S. 331 (der sich jedenfalls sehr restriktiv zeigt).
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solcher Konflikte verhindern sollen), ohne ihm eine vorzugswürdige Handlungsalternative anzubieten, gegenüber der Lösung des Konflikts, die der Täter selbst letztlich gewählt hat: die Rettung existenzieller Interessen. So wird man von einem normativpersonalen Unrechtsbegriff ausgehend zugeben müssen, dass das formal der Norm widersprechende Verhalten materiell nicht gegen das Recht als solches verstößt, weil dieses seinen Wert nicht mit der üblichen Festigkeit demgegenüber beibehalten kann, der Rechtsnormen befolgt hat und sich dennoch in einer existentiellen Konfliktsituation befindet.37 2. Beispiele a) Über § 35 StGB § 35 StGB verankert die Maxime, dass keine strafrechtliche Verantwortlichkeit besteht für die Folgen der Abwehr existentieller Gefahren für einen selbst oder für Angehörige, sofern diese nicht hingenommen werden müssen. Diese Maxime weist darauf hin, dass das Verhalten im Falle einer existentiellen Krise nicht als Normbruch gewertet werden kann: Das Recht äußert keinen bindenden Verhaltensgrundsatz mehr, weil es nicht fähig ist, dem Täter Gründe für eine vorzugswürdige, alternative Lösung im Vergleich zur eigenen Rettung anzubieten. Anders ausgedrückt: Es ist „unverboten“38, sich selbst, also den eigenen Körper, als seinen Nächsten zu betrachten.39 Das Gegenteil wäre vielmehr ein (sozial) schlechtes Beispiel für die Verwaltung eigener Güter und stünde in diesem Maße im Widerspruch zu den Pflichten, die die Rechtsordnung an einen selbst stellt und die bislang vom Bürger erfüllt wurden. Nur wenn der Täter die Gefahr „verursacht“ hat oder sich in einer besonderen rechtlichen Beziehung befindet (was die Pflicht einschließt, auf institutionalisierte Verfahren zurückzugreifen), weist die Pflicht noch ihre anfängliche Kraft auf und das rechtsbrechende Verhalten ist strafwürdig.40 Mit anderen Worten: Wenn bei Bestehen des Kriteriums der distributiven Gerechtigkeit der Täter die Gefahr auf einen anderen lenkt, ist er nicht entschuldigt: Er muss diese hinnehmen. b) Die Fälle objektiver Güterkollision Wenn ein Dritter über die Rettung von existentiellen Gütern entscheidet, die objektiv kollidieren, ist § 35 StGB nicht anwendbar. Die Logik der Unzumutbarkeit 37
Natürlich leiten sich hieraus keine wechselseitigen Duldungspflichten ab. S. oben Fn. 27. 39 Dass es nicht der socialitas widerspricht, die Wahrung des eigenen Lebens dem Leben der Übrigen vorzuziehen, hat schon Pufendorf klar erkannt, s. Pufendorf (Fn. 32), Liber Primus, Caput V, § 4, S. 28: „De caetero tamen per legem naturae haud quidquam paecipi videtur, ut quivis cujuscus alterius vitam suae viate praeferat; sed caeteris paribus sibi quisque proximus esse permittitur“. 40 S. z. B. Jakobs, AT, 2. Aufl., 1991, 17/74, 20/13; MK-Müssig, 2. Aufl., 2011, § 35 Rn. 40, 58; Pawlik (Fn. 4), S. 356 f. 38
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kann allerdings zu einem übergesetzlichen Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit führen. Tatsächlich ist das Recht ratlos im Hinblick auf die Pflichten, die einem rechtstreuen Dritten obliegen, der sich im Angesicht von unlösbaren Kollisionen an das Recht wendet. Die einzige konsistente normative Botschaft ist die, die es verbietet, die Gefahr auf zuvor nicht Bedrohte abzulenken.41 Wenn sich aber alle in Lebensgefahr befinden, wird das Aufrechterhalten der Norm selbst widersprüchlich. Das Recht kann keine Alternative zur Handlung des Täters anbieten, um das Ziel zu erreichen, das beide verfolgen. Folglich kann die Maxime, die derjenige ausdrückt, der jemanden auf Kosten eines anderen rettet, nicht als strafwürdiges Unrecht gewertet werden.42 Das Gegenteil zu verlangen – et pereat mundus! –, wäre die Bestätigung eines Rechts, das nicht die Wohltat der Personen anstrebt. c) „Leinenfänger“-Fall Auch der „Leinenfänger“-Fall steht abseits des § 35 StGB und ist es dennoch von neuem wert, auf Grund der Unmöglichkeit, dass der Staat gerechte Lösungsmöglichkeiten für die Konfliktsituation anbieten kann, in die sich der Täter verwickelt sieht, unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit als Strafunrechtsausschlussgrund betrachtet zu werden.43 Da der Staat zu diesem geschichtlichen Zeitpunkt keine Alternative zum eigenen Lebensunterhalt anbot, bedeutete ein Arbeitsplatz viel mehr als heute: Er sicherte das Überleben. Ein Staat, der denen, die keine Arbeit haben, nicht das Überleben sichert, kann von ihnen in Anbetracht einer sicheren und unmittelbaren Gefahr, diese Arbeit zu verlieren, nicht verlangen, eine Handlung, die die körperliche Integrität der anderen möglicherweise, aber weder unmittelbar noch mit Sicherheit gefährdet, zu unterlassen.44 Glücklicherweise haben der Fortschritt des Sozialstaats und der institutionalisierten Konfliktlösungen hinsichtlich grundlegender Bedürfnisse der Bürger dazu geführt, dass es kaum unzumutbar sein dürfte, Gefahren für andere zu vermeiden, wenn Güter wie der Unterhalt für einen selbst oder für Nahestehende bedroht sind. Aber dies hängt erneut damit zusammen, dass ein Staat, der, soweit er eine Gemeinschaft sein soll, zwangsweise seine grundlegenden Normen des Zusammenlebens festsetzt, dies nicht auf widersprüchliche Weise tun kann, indem er den Respekt gegenüber seinen Normen beansprucht, ohne alternative Möglichkeiten zur Einhaltung anzubieten, die für die Adressaten nicht lebensschädigend sind. Mit diesen allgemeinen Überlegungen über den Strafunrechtsausschluss möchte ich den lieben und großen Professor Jürgen Wolter ehren, dem ich dankbar bin für 41
S. statt aller Roxin, AT I, 4. Aufl., 2006, 22/163; Jakobs (Fn. 40), 20/42. Folglich würden Fälle wie die der Ärzte zur Zeit des Nationalsozialismus oder der Abschuss von terroristischen Flugzeugen keine Strafe nach sich ziehen (so Robles Planas, in: Luzón Peña (Hrsg.), Derecho penal del Estado Social y Democrático de Derecho, 2010, S. 464 ff.). 43 Robles Planas (Fn. 35), S. 126. 44 So Köhler (Fn. 36), S. 340. 42
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seine fortwährende Sorge für die Weiterentwicklung des Dialogs zwischen deutschen und spanischen Strafrechtlern, wodurch er auf unersetzliche Art und Weise zum universellen Geist der Strafrechtsdogmatik beigetragen hat.
Täterschaft und Teilnahme in einem Wirtschaftsunternehmen Täterschaft kraft Organisationsherrschaft? Von Imme Roxin
I. Problemstellung Es besteht in Wissenschaft und Rechtsprechung weitgehend Einigkeit darüber, dass ein kriminalpolitisches Bedürfnis besteht, Leitungspersonen, die in ihrem Unternehmen kriminelle Handlungen anregen, fördern oder auch nur zulassen, als Täter zu bestrafen.1 Das bereitet nicht selten Schwierigkeiten. Es fehlt häufig an einer aktiven Mitwirkung der Unternehmensleitung an der eigentlichen Straftat, sodass die Annahme einer Mittäterschaft fraglich erscheint. Auch eine direkte Beeinflussung des unmittelbar Handelnden ist nicht immer leicht nachzuweisen, weswegen Anstiftung zweifelhaft ist. Hinzu kommt, dass die Anstiftung dem Gewicht des in der organisatorischen Leitung steckenden Tatbeitrags oft nicht gerecht wird.2 Außerdem kann man dem Vorgesetzten vielfach nur ein Geschehenlassen, also ein Unterlassen anlasten. Den in Wissenschaft und Rechtsprechung aufgezeigten Lösungswegen möchte ich anhand von praktischen Fällen nachgehen.
II. Mittelbare Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate im Unternehmen? 1. Einleitung Diese Rechtsfigur ist von Roxin 1963 am Beispiel der nationalsozialistischen Machthaber entwickelt worden.3 Sie sind Täter der von ihnen angeordneten Morde und nicht nur Anstifter. Der BGH hat sich dieser Auffassung 1994 in dem
1
Roxin, ZStrR Bd. 125 (2007) 1, 20; LK-Schünemann, 12. Aufl. 2007, § 25 Rn. 132. LK-Schünemann, § 25 Rn. 132. 3 Roxin, GA 1963, 193. 2
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Mauerschützen-Urteil angeschlossen.4 Er hat die Mitglieder des nationalen Verteidigungsrates der DDR, die die Tötung von Flüchtlingen an der innerdeutschen Grenze befohlen hatten, wegen Totschlags verurteilt. International ist die Lehre von Gerichten in Argentinien seit 1985 bei der Verurteilung von Mitgliedern der Militärjunta und unlängst in Peru im Fall Fujimori5 sowie vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag6 angewendet worden. Diktatorische Machthaber wurden als Täter der von ihnen angeordneten Verbrechen verurteilt. In allen diesen Fällen ging es um Verbrechen durch staatliche Machthaber. In seinem Mauerschützen-Urteil geht der BGH über den Bereich der Systemverbrechen hinaus. In einem obiter dictum hält er fest: „Auch das Problem der Verantwortlichkeit beim Betrieb wirtschaftlicher Unternehmen lässt sich so lösen.7“
Seither wird die mittelbare Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate von der deutschen Rechtsprechung auch auf Wirtschaftsunternehmen angewendet.8 Zu Recht? 2. Voraussetzungen der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate Nach der wohl überwiegenden Meinung in der Literatur gibt es vier Faktoren, die vorliegen müssen, damit man von einer mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate ausgehen kann:9 - Die Rechtsgelöstheit des den Befehlsgebern zu Gebote stehenden Machtapparates, - die Anordnungsgewalt der Befehlsgeber, - die Fungibilität der unmittelbar Ausführenden und - die wesentlich erhöhte Tatbereitschaft der unmittelbar Handelnden. Diese vier Faktoren sind im Einzelnen umstritten und werden teilweise modifiziert. Im Kern laufen aber alle im Detail abweichenden Meinungen auf diese Gesichtspunkte hinaus.
4
BGHSt 40, 218 ff. Vgl. Corte Suprema de Justicia de la Republica del Peru ZIS 2009, 622 ff. 6 Vgl. hierzu Roxin, GA 2012, S. 397 ff. 7 BGHSt 40, 218, 237. 8 BGHSt 43, 219; BGH NStZ 1998, 568; BGH StV 2000, 196; BGH wistra 2001, 57; BGHSt 48, 331; BGH wistra 2004, 264; BGH NStZ 2004, 559; BGHSt 49, 177; BGH NStZ 2004, 457 = JR 2004, 245 ff. m. Anm. Rotsch. 9 Roxin, ZIS 2009, 565. 5
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3. Übertragung der vier Faktoren auf Wirtschaftsunternehmen a) Überträgt man die vier Voraussetzungen auf ein Wirtschaftsunternehmen, so ergibt sich Folgendes: An der fehlenden Rechtsgelöstheit scheitert die Übertragbarkeit nicht in allen Fällen.10 Es gibt Rechtsprechungsbeispiele, die zeigen, dass auch ein Unternehmen, das formal auf dem Boden des Rechts steht, rechtsgelöst vorgehen kann.11 Ein Beispiel: Die zwei Angeklagten gründeten formell ordnungsgemäß eine GmbH. Sie hatten aber von allem Anfang an die Absicht, betrügerisch im Kapitalanlagenbereich tätig zu werden. Telefonverkäufer warben Anleger an mit dem Hinweis, ihr Geld werde gewinnbringend in einen Fonds investiert. Tatsächlich teilten sich die Angeklagten die eingehenden Gelder.12 In diesem Fall agierte die GmbH von Beginn an rechtsgelöst.13 Rechtsgelöstheit muss man auch dann annehmen, wenn ein Unternehmen zunächst reguläre Geschäfte betreibt, dann aber als Ganzes auf kriminelle Machenschaften umschwenkt. Ein Beispiel: Die Geschäftsführer einer mit Lkw handelnden GmbH stellten schon bald nach Aufnahme der Verkaufstätigkeit fest, dass ein regulärer Betrieb nicht möglich war. Sie beschlossen, einen betrügerischen Handel mit nicht vorhandenen Lkw zu betreiben. Die eingehenden Gelder teilten sie sich.14 Keine Rechtsgelöstheit kann man allerdings dann annehmen, wenn ein Unternehmen generell rechtstreu agiert und nur partiell strafbare Handlungen begangen werden. Trotz des Korruptionsskandals bei Siemens, MAN, Ferrostaal u. a. Unternehmen wird man schwerlich behaupten wollen, dass die Unternehmen rechtsgelöst agiert haben. An der Rechtsgelöstheit dürfte die Übertragbarkeit der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate auf Wirtschaftsunternehmen also nicht in jedem Fall scheitern. b) Probleme bereitet aber die zweite Voraussetzung der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit auf Wirtschaftsunternehmen, die Anordnungsgewalt. Moderne Wirtschaftsunternehmen sind geprägt durch das Prinzip der Arbeitsteilung. Komplexe Organisationsstrukturen sehen eine horizontale Verantwortungsverlagerung und eine vertikale Verantwortungsdelegation vor. Diese modernen Strukturen sind längst an die Stelle des klassischen hierarchischen Gliederungssystems ge10
A.A. MüKo-Joecks, 2. Aufl. 2011, § 25, Rn. 152. A.A. Schönke-Schröder/Heine, 28. Aufl. 2010, § 25 Rn. 25 b. 12 BGHSt 49, 177 ff. 13 A.A. Mittelsdorf, ZIS 2011, 123, 125. 14 BGH StV 2010, 364.
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treten.15 Die Anordnungsgewalt setzt aber gerade eine straff geführte Organisation voraus, die hierarchisch-linear geprägt ist.16 Bei horizontaler Verantwortungsverlagerung trifft die strafrechtliche Haftung im Allgemeinen nur denjenigen, in dessen Verantwortungsbereich die strafrechtlich relevante Handlung oder Unterlassung fällt.17 Dies hält der BGH in der LedersprayEntscheidung ausdrücklich fest. Zuständig für den Vertrieb der möglicherweise gesundheitsschädlichen Sprays war nur einer der vier Geschäftsführer. Dennoch hat der BGH alle Geschäftsführer, die in einer Sondersitzung vom Rückruf der Sprays abgesehen hatten, als Mittäter wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt. Denn, so der BGH, in Krisen- und Ausnahmesituationen, wo das Unternehmen als Ganzes betroffen ist, greife der Grundsatz der Gesamtverantwortung und Allzuständigkeit der gesamten Geschäftsleitung ein. Dies kann aber allenfalls eine Mittäterschaft begründen, die horizontal strukturiert ist.18 Eine Organisationsherrschaft kann es wegen fehlender Anordnungsgewalt auf dieser horizontalen Ebene nicht geben.19 Anordnungsgewalt der Unternehmensleitung ist aber auch bei der vertikalen Verantwortungsdelegation nicht vorhanden. In großen Unternehmen findet fast immer eine mehrstufige Aufgabendelegation statt. Auf den oberen Führungsebenen wird zur Aufgabenerledigung in eigener Verantwortung delegiert. Dies bedeutet eine Haftungserleichterung der Führungsspitze, weil die strafrechtliche Haftung, wie bei der horizontalen Geschäftsverteilung, an den von dem eigenverantwortlich Tätigen bearbeiteten Aufgabenbereich anknüpft. Dies ist auch in der deutschen Rechtsprechung anerkannt. Zwar trifft den delegierenden Vorgesetzten in diesem Fall eine besondere Sorgfalt bei der Auswahl der Beauftragten und auch eine Aufsichts- und Kontrollpflicht, deren Verletzung den Bußgeldtatbestand des § 130 OWiG erfüllen und erhebliche finanzielle Einbußen gem. §§ 30, 17 Abs. 4 OWiG für das Unternehmen zur Folge haben kann. Von einer Befehlshierarchie, wie sie gerade das Charakteristikum der Anordnungsgewalt in organisatorischen Machtapparaten ist, kann zwischen dem Delegierenden und dem eigenverantwortlich Tätigen aber gerade keine Rede sein. Auch bei organisatorischen Machtapparaten kann es freilich verschiedene Stufen einer Befehlshierarchie geben, bei der mehrere als Täter hintereinander handeln.20 Nur führen sie alle die rechtswidrigen Anordnungen der obersten rechtswidrig agierenden Spitze aus. Zu Recht weist Joecks zudem darauf hin, dass von Anordnungsgewalt nur dann gesprochen werden kann, wenn sich der unmittelbar Handelnde im Fall der Weige15
Vgl. hierzu Rotsch, NStZ 1998, 491, 494; Hefendehl, GA 2004, 575, 580. Schönke-Schröder/Heine, § 25 Rn. 25 b. 17 BGHSt 37, 106, 123. 18 Roxin, 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, 2000, 178, 197. 19 Vgl. hierzu auch BGH NStZ 2008, 89. 20 Roxin, Festgabe BGH, 2000, S. 177, 192 Anm. 40; BGH StV 2010, 663 Rn. 5; BGH StV 2010, 364 Rn. 4. 16
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rung vermeintlichen oder tatsächlichen Sanktionen ausgesetzt sieht.21 Daran fehlt es bei Wirtschaftsunternehmen, die auf dem Boden des Rechts stehen. Rechtliche Sanktionen gegen Mitarbeiter, die rechtswidrige Weisungen nicht befolgen, gibt es nicht. c) Neben der Anordnungsgewalt fehlt es in einem Wirtschaftsunternehmen aber auch an der Fungibilität der die Straftaten unmittelbar ausführenden Personen und an deren organisationstypischer Tatgeneigtheit.22 Diese Gesichtspunkte hängen unmittelbar mit der fehlenden Befehlshierarchie zusammen. In rechtsgelösten hierarchisch-linear strukturierten Organisationen kann sich die Führungsspitze darauf verlassen, dass die rechtswidrigen Anordnungen ausgeführt werden. Die Ausführenden sind beliebig austauschbar und vor allem ersetzbar, wenn einer sich weigert.23 Man kann aber schwerlich davon ausgehen, dass auch nur ein nennenswerter Teil der Angestellten in einem Wirtschaftsunternehmen bereit ist, auf Anordnung Straftaten zugunsten des Unternehmens zu begehen, so dass von einer Fungibilität und Tatgeneigtheit nicht gesprochen werden kann.24 Ergebnis Die mittelbare Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate ist nicht auf Wirtschaftsunternehmen übertragbar.25 4. Abweichende Begründung des BGH Wie begründet der Bundesgerichtshof seine eingangs referierte Auffassung, die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Unternehmensleitung lasse sich mit Hilfe der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate erfassen. Die Antwort lautet: Der BGH formt diese Art der mittelbaren Täterschaft um in eine andersartige Organisationsherrschaft. Eine derartige Organisationsherrschaft kann vorliegen, so der BGH, wenn ein Hintermann durch Organisationsstrukturen bestimmte Rahmenbedingungen ausnutzt, innerhalb derer sein Tatbeitrag regelhafte Abläufe
21 MüKo-Joecks, 2. Aufl. 2012, § 25 Rn. 151 f.; vgl. auch Wittig, WirtschaftsstrafR, 2. Aufl. 2011, § 6 Rn. 113; LK-Schünemann, § 25 Rn. 129. 22 M. Heinrich, Festschrift für Krey, 2010, 150, 164. 23 Vgl. Hefendehl, GA 2004, 575, 582. 24 Roxin, Strafrecht AT II, 2003, § 25 Rn. 130; Hefendehl a.a.O. 25 So die ganz herrschende Meinung in der Literatur; LK-Schünemann, § 25 Rn. 131; MüKo-Joecks, § 25 Rn. 152; Schönke-Schröder/Heine, § 25 Rn. 25b; Wittig, WirtschaftsstrafR, § 6 Rn. 112 ff.; Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch des Wirtschaftsstrafrechts 3. Aufl. 2012, 1. Teil Kap. 3 Rn. 30; SK-Hoyer, Stand: Oktober 2012, 136. Lief., § 25 Rn. 87 ff.; Graf/Jäger/Wittig (Hrsg.)-Bock, Wirtschafts- und SteuerstrafR, 2011, Rn. 59; Kühl, AT 7. Aufl. 2012, § 20 Rn. 73; Satzger/Schmitt/Widmaier (Hrsg.)-Murmann, Kommentar zum StGB, 2009, § 25 Rn. 28; Rissing-van Saan, FS für Tiedemann, 2008, 391, 402, 404; a.A. – dem BGH zustimmend – Hellmann/Beckemper, WirtschaftsstrafR 3. Aufl. 2010, Rn. 935; Wessels/Beulke, StrafR AT, 41. Aufl. 2011, Rn. 541.
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auslöst.26 Handelt der Hintermann in Kenntnis dieser Umstände, nutzt er auch die unbedingte Bereitschaft des unmittelbar Handelnden, den Tatbestand zu erfüllen aus, und will er den Erfolg und das Ergebnis seines Handelns, hat er die Tatherrschaft und ist mittelbarer Täter. Dabei ist es nach Auffassung des BGH unerheblich, ob der Tatmittler seinerseits bösgläubig handelte oder gutgläubig war.27 Der Hintermann ist in der Regel nur wegen einer Tat zu bestrafen, wenn sich sein Tatbeitrag in dem Entschluss, das Unternehmen auf strafbare Art und Weise zu führen, erschöpft. Dies gilt unabhängig davon, wie viele Taten die Tatmittler auf der Grundlage des Entschlusses ausführen. Dies ist freilich für den Schuldumfang und damit für die Höhe der Strafe maßgebend. Als Kriterium für die Verbindung der mehreren Taten zu einer Tat wird die Ausübung der Geschäftsleitung angesehen.28 Diese Konstruktion des BGH ist auf breiter Ebene von den Gerichten übernommen worden. Das ist verständlich. Zum einen trifft die Strafe nicht oder nicht nur den Angestellten, der die Straftat unmittelbar ausgeführt hat, sondern die eigentlich Verantwortlichen, nämlich die Unternehmensleitung. Zum anderen ergeben sich vielfältige Verfahrenserleichterungen dadurch, dass die Bös- oder Gutgläubigkeit der Tatmittler nicht nachgewiesen werden muss29 und auch auf die aktuelle Kenntnis der Geschäftsleitung von den einzelnen Straftaten verzichtet wird.30 In der Literatur ist die Auffassung des BGH ganz überwiegend auf Ablehnung gestoßen.31 Zusätzlich zu den von mir bereits vorgetragenen Gründen werden weitere Aspekte thematisiert: Die Organisationsstrukturen in einem Wirtschaftsunternehmen sind gerade nicht so beschaffen, dass die Unternehmensleitung „regelhafte Abläufe“ ausnutzen könnte. Auch teilt der BGH nicht mit, welcher Art die vom Hintermann ausgenutzten Organisationsstrukturen sein sollen, innerhalb derer sein Tatbeitrag „regelhafte Abläufe“ auslöst.32 Beide Begriffe sind viel zu unbestimmt,33 als dass mit ihrer Hilfe eine Steuerung des Geschehensablaufes durch den Hintermann angenommen werden könnte. Nur bei einer solchen Lenkung des Geschehens könnte man beim Hintermann aber von Tatherrschaft sprechen.
26
BGHSt 48, 331, 342; BGHSt 49, 147, 163; BGH wistra 2004, 341, 347. BGHSt 48, 331, 342; BGH wistra 1998, 147, 150. Diese Auffassung wird neuerdings eingeschränkt; vgl. BGH StV 2010, 363; StV 2010, 364. 28 BGH wistra 1998, 225; BGH wistra 1999, 179 f. 29 BGH wistra 1998, 147, 150; vgl. auch BGH StV 2000, 196; BGHSt 48, 331, 343; BGHSt 49, 177, 184; BGH wistra 2004, 264; vgl. Rotsch, NStZ 2005, 13 ff.; MüKo-Joecks, § 25 Rn. 141. 30 BGH wistra 1998, 148, 150. 31 M. Heinrich, Festschrift für Krey, 150, 154 m. w. N.; Roxin, ZStrR Bd. 125 (2007), 1, 20 m. w. N.; s. auch die Nachweise Anm. 25. 32 M. Heinrich, Festschrift für Krey, 150, 155. 33 Rotsch, NStZ 2005, 14, 18; Rissing-van Saan, FS für Tiedemann, 391, 404. 27
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Die Unbestimmtheit der Voraussetzungen hat zudem eine völlige Überdehnung der mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft zur Folge und letztlich ihre willkürliche Anwendung. Als Beispiel dafür soll eine weitere BGH-Entscheidung dienen: Zwei GmbH-Geschäftsführer hatten umweltgefährdende Abfälle zu entsorgen. Sie durften die Abfälle nur dafür zuständigen Abfallbeseitigungsanlagen überlassen. Aus finanziellen Gründen überließen sie die Abfälle jedoch an Unternehmen, die zu einer geordneten Abfallbeseitigung gerade nicht in der Lage waren.34 Der BGH hat in diesem Fall eine mittelbare Täterschaft kraft Organisationsherrschaft angenommen. Dabei ist evident, dass die Geschäftsführer keine Organisationsstrukturen ausnutzten, weil die zur Abfallbeseitigung herangezogenen Unternehmen gar nicht der Organisation des eigenen Unternehmens unterlagen.35 Entscheidend sei, so der BGH, ob der Hintermann nicht nur Tatinteresse, sondern auch vom Täterwillen getragene Tatherrschaft habe. Gerade diese ist in meinem Beispielsfall aber nicht vorhanden. Die Täter hatten in dem fremden Unternehmen, dem sie die Abfälle übertrugen, nichts zu sagen. Es lag in der Verantwortung des fremden Unternehmers, ob er die Abfälle übernahm oder nicht. Von einer hierarchischen Befehls- oder Anordnungsgewalt kann schlechterdings nicht die Rede sein. Den Entscheidungen des BGH lässt sich denn auch deutlich entnehmen, dass zwar verbal von Tatherrschaft gesprochen, in Wirklichkeit aber auf sie verzichtet wird. So heißt es in einer BGH-Entscheidung „es konnte keine konkrete Einwirkung oder auch nur aktuelle Kenntnis der faktischen Geschäftsführer in Bezug auf die einzelnen Warenbestellungen (durch die Angestellten) festgestellt werden.“36 Trotzdem hat der BGH die faktischen Geschäftsführer als mittelbare Täter kraft Organisationsherrschaft verurteilt. Ersichtlich verzichtet der BGH auf die Tatherrschaft der Leitungspersonen37 und lässt für deren Täterschaft ausreichen, dass sie den strafbaren Erfolg als Ergebnis ihres Handelns wollten. Letztlich liegt also eine Rückkehr zur subjektiven Theorie bei der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme vor.38 Die Kritik an der Rechtsfigur der mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft hat zu einer Klarstellung in der Rechtsprechung des BGH geführt. In einer neueren Entscheidung hatte der Angeklagte – Geschäftsführer einer GmbH – eine Organisation zur Einwerbung von Anlegergeldern aufgebaut und aufrechterhalten. Ziel war es, die Anlegergelder vertragswidrig nicht dem Börsenhandel zuzuführen, sondern für eigene und andere Zwecke zu verwenden.39 Wesentlicher 34
BGH NStZ 1997, 544. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Aufl. 2006, 618. 36 BGH wistra 1998, 148, 150. 37 Schönke-Schröder/Heine, § 25 Rn 25 b. 38 LK-Schünemann, § 25 Rn. 125; Schönke-Schröder/Heine, § 25 Rn. 26; Rotsch, ZStW 112 (2000), 561; Roxin, Strafrecht AT II, § 25 Rn. 135. 39 BGH StV 2010, 363. 35
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Inhalt der mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft war nach der bisherigen Rechtsprechung des BGH, dass sowohl auf den Nachweis der Bös- oder Gutgläubigkeit der Tatmittler wie die Kenntnis des Geschäftsführers von den einzelnen Taten verzichtet werden könne.40 In der neuen Entscheidung wird ausdrücklich verlangt, dass jeder schädigende Einzelakt festgestellt und ermittelt werden muss, ob die Vermittler bös- oder gutgläubig waren. Ersichtlich soll eine mittelbare Täterschaft nur bei gutgläubigen Tatmittlern angenommen werden. Das entspricht der herrschenden Lehre zur mittelbaren Täterschaft41 und bedeutet letztlich eine Abkehr von der Organisationsherrschaft.
III. Wie sind die Leiter eines Unternehmens sowie Personen mit Entscheidungs- und Kontrollbefugnissen zu bestrafen? Die Frage ist von mir bewusst nicht auf Leitungspersonen beschränkt worden. Wie ich bereits ausgeführt habe, können in einem modernen Unternehmen bei vertikaler Verantwortungsdelegation mehrere Ebenen eigenverantwortlicher Entscheidungsträger vorhanden sein. Bei ihnen stellt sich das Problem der strafrechtlichen Haftung für Straftaten weisungsgebundener Untergebener genauso wie für die Leitungspersonen an der Spitze des Unternehmens.42 Probleme bereitet dabei immer nur die strafrechtliche Verantwortung bei vertikaler Aufgabendelegation. Nur in diesen Fällen hat auch die Rechtsprechung die Notwendigkeit gesehen, auf die mittelbare Täterschaft kraft Organisationsherrschaft auszuweichen. Vom BGH ist in einer neuen Entscheidung ausdrücklich darauf hingewiesen worden. In dem entschiedenen Fall43 war der Angeklagte Geschäftsführer mehrerer vom Mitangeklagten gegründeter Firmen. Beide schlossen gemeinsam in betrügerischer Absicht mit vier Immobilieneigentümern Verträge ab, der Mitangeklagte allein darüber hinaus in zwei weiteren Fällen. Das Tatgericht hatte auch diese beiden Fälle kraft der Rechtsfigur der Organisationsherrschaft dem Geschäftsführer strafrechtlich zugerechnet. Das hat der BGH für unzutreffend angesehen, weil die Angeklagten auf gleicher Ebene als Geschäftsführer und Gesellschafter gehandelt hatten. Eine mittelbare Täterschaft kraft Organisationsherrschaft komme nur in den Fällen in Betracht, in denen der räumliche, zeitliche und hierarchische Abstand zwischen der Organisationsspitze und dem unmittelbar Handelnden gegen arbeitsteilige Mittäterschaft spreche.
40
BGH wistra 1998, 147, 148, 150; BGHSt 49, 177, 184; Nack, GA 2006, 342, 344 f. Roxin, Strafrecht AT II, § 25 Rn. 61. 42 BGH NStZ 2012, 142 ff. Rn. 13. 43 BGH wistra 2008, 57. 41
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Bei horizontaler Aufgabenteilung (Verantwortungsverlagerung) scheidet also auch nach der Auffassung des BGH eine mittelbare Täterschaft kraft Organisationsherrschaft aus.44 Wenn man, wie die ganz überwiegende Meinung, eine mittelbare Täterschaft kraft Organisationsherrschaft in Wirtschaftsunternehmen ablehnt, ist zu fragen, welche Rechtsform der Täterschaft oder Teilnahme man in diesen Fällen heranziehen kann. 1. Bestrafung wegen mittelbarer Täterschaft? Abgesehen von einer mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate, bei der eine mittelbare Täterschaft trotz eines voll verantwortlichen Tatmittlers vorliegt, kommt mittelbare Täterschaft z. B. in Betracht bei der Benutzung eines vorsatzlosen Tatmittlers. In den von mir geschilderten Rechtsprechungsbeispielen hatten die Gerichte offengelassen, ob sich die Tatmittler über die Strafbarkeit ihres Handelns im Klaren, also bösgläubig waren, oder nicht. Zu fragen ist, ob eine mittelbare Täterschaft in diesen Fällen nicht wenigstens dann in Betracht kommt, wenn die Tatmittler gutgläubig waren, also vorsatzlos gehandelt haben. Zur Beantwortung dieser Frage sei ein weiterer BGH-Fall geschildert: Eine im Holzverarbeitungsgewerbe tätige GmbH wurde zahlungsunfähig. Die beiden Gesellschafter, die zugleich faktische Geschäftsführer waren, erkannten das und beschlossen, dennoch die Firma fortzuführen. Vom formellen Geschäftsführer und zwei Angestellten wurden laufend weitere Bestellungen getätigt, die – wie den faktischen Geschäftsführern klar war – nur teilweise bezahlt werden konnten.45 Das Tatgericht hatte festgestellt, dass beide Angeklagten über die Geschäftsabläufe in der Firma genau informiert waren. Sie wussten daher zumindest nach Art und Umfang, welche regelmäßigen Bestellungen zur Aufrechterhaltung der Produktion trotz Zahlungsunfähigkeit erfolgen würden. In diesem Umfang wollten sie auch, dass Warenbestellungen durch die Angestellten getätigt würden, was nur durch Täuschung der Lieferanten über die Zahlungsfähigkeit erfolgen konnte. Es konnte vom Gericht aber keine konkrete Einwirkung oder auch nur aktuelle Kenntnis der Angeklagten in Bezug auf die einzelnen Warenbestellungen ermittelt werden. Das Gericht hat denn auch die vorwerfbare strafbare Handlung der Angeklagten in ihrem einmal gefassten Entschluss gesehen, den Geschäftsbetrieb trotz Zahlungsunfähigkeit fortzuführen und in der Ausnutzung der durch Organisationsstrukturen vorgegebenen regelhaften Abläufe, eben jene mittelbare Täterschaft kraft Organisationsherrschaft. Eine mittelbare Täterschaft unter Benutzung eines vorsatzlosen Werkzeugs ließ sich in der Tat nicht begründen. Dies hätte vorausgesetzt, dass die Ange-
44 45
S. auch MüKo-Joecks, § 25 Rn. 141; Mittelsdorf, ZIS 2011, 123, 125. BGH wistra 1998, 148.
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klagten jede schädigende Bestellung kannten und nur hinsichtlich der Täuschungshandlung sich eines vorsatzlosen Angestellten als Werkzeug bedienten.46 Selbst wenn man aber eine mittelbare Täterschaft mit einem vorsatzlosen Werkzeug bejahen würde, wären die Probleme hinsichtlich der Strafbarkeit von Leitungspersonen nicht gelöst. Es wären der Unternehmensspitze nur die Bestellungen als Betrug zuzurechnen, die durch gutgläubige Angestellte getätigt wurden, nicht aber diejenigen der bösgläubigen Besteller. 2. Bestrafung wegen Anstiftung? Anstelle der Rechtsfigur der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate hat in jüngerer Zeit die Annahme einer Anstiftung durch die Leitungspersonen statt einer mittelbaren Täterschaft Anhänger gefunden.47 Dies liegt nicht ganz fern, wenn ein voll verantwortlicher Tatmittler benutzt wird. Das ist in Wirtschaftsunternehmen jedoch keineswegs auch nur überwiegend der Fall. Es gibt Rechtsprechungsbeispiele, die ausdrücklich festhalten, dass die Tatmittler gutgläubig waren und von der Unternehmensspitze auch bewusst in ihrem guten Glauben bestärkt wurden. In der ganz überwiegenden Zahl von Urteilen haben die Gerichte offen gelassen, ob die Tatmittler gut- oder bösgläubig waren. Allenfalls dann, wenn die Tatmittler sich darüber im Klaren waren, dass sie an Straftaten mitwirkten, kann die Frage einer Anstiftung überhaupt diskutiert werden. Denn Anstiftung liegt nur vor, wenn eine Person zu einer vorsätzlichen rechtswidrigen Tat bestimmt wird. Anders als bei der mittelbaren Täterschaft reicht für die Anstiftung aus, dass der Anstifter die Tat oder die Taten, zu denen er den Tatentschluss hervorruft, im groben kennt. Die Frage ist nur, ob man vom Hervorrufen eines Tatentschlusses sprechen kann, wenn keinerlei Interaktion zwischen dem „Anstifter“ und der angestifteten Person stattgefunden hat. In allen zur Diskussion gestellten Rechtsprechungsbeispielen, in denen eine mittelbare Täterschaft kraft Organisationsherrschaft angenommen wurde, haben die Leitungspersonen so agiert, als führten sie ein Unternehmen auf rechtlicher Basis. Die Tatmittler mögen mit der Möglichkeit gerechnet haben, dass nicht alles mit rechten Dingen zuging und dies zum Erhalt ihres Arbeitsplatzes auch billigend in Kauf genommen haben, sodass sie bösgläubig waren. In keinem Fall ist diese Kenntnis und ihr Weiterhandeln aber auf eine konkrete Einwirkung der Unternehmensspitze bei einzelnen Tathandlungen zurück zu führen gewesen. Das aber ist Voraussetzung, damit von einer Anstiftung die Rede sein kann.48 Der 46
Vgl. Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht AT, 3. Aufl. 2010, Rn 241. Herzberg, in: K. Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung und Beteiligungsverhältnisse bei Straftaten in bürokratischen Organisationen des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft, 2000, 33 ff.; Rotsch, ZStW 112 (2000), 518 ff; ders., NStZ 2005, 13 ff; Zaczyk, GA 2006, 411 ff. 48 Mittelsdorf, ZIS 2011, 123, 125. 47
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BGH spricht in einer neueren Entscheidung von einem für die Anstiftung erforderlichen kommunikativen Akt zwischen Anstifter und Täter.49 Eine Anstiftung statt einer mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft kommt also nicht in Betracht. Dieses Ergebnis verwundert auch nicht. Der Anstifter und der Täter werden gleich bestraft. Wenn die Annahme einer Anstiftung möglich gewesen wäre, hätte es daher nahe gelegen, dass die Gerichte diese in ihre Erörterung wenigstens einbezogen hätten. Das ist aber in keinem Fall geschehen. 3. Bestrafung wegen Mittäterschaft? Es hat schon immer Stimmen in der Literatur gegeben, die die Rechtsfigur der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate für überflüssig hielten, weil Mittäterschaft zwischen dem Befehlsgeber und den Ausführenden anzunehmen sei. Ähnlich wie bei der Anstiftung ist das bei politischen und militärischen Machtapparaten nicht gänzlich fernliegend, weil der Ausführende selber Täter der Straftat ist. Wie meine Rechtsprechungsbeispiele gezeigt haben, ist die Situation in Wirtschaftsunternehmen aber eine völlig andere. Die Ausführenden nehmen berufstypische neutrale Handlungen vor, wenn sie z. B. Warenbestellungen aufgeben oder Kapitalanleger einwerben. Diese Handlungen machen die Ausführenden nicht zwangsläufig bösgläubig. Zur Bösgläubigkeit gehört zusätzliches Hintergrundwissen. Wie bei der Anstiftung kann mithin allenfalls im Fall der Bösgläubigkeit eine Mittäterschaft zwischen der Leitungsperson und dem Ausführenden überhaupt in Betracht kommen. Auch hier entfällt mithin die Möglichkeit einer Zurechnung der Straftaten zur Unternehmensspitze hinsichtlich der gutgläubigen Ausführenden. Ganz davon abgesehen, kommt Mittäterschaft aber auch zwischen der Unternehmensleitung und den bösgläubigen Ausführungspersonen nicht in Betracht. Mittäterschaft setzt einen gemeinsamen Tatentschluss und eine gemeinsame Tatausführung voraus. Nach der herrschenden Meinung in der Literatur ist für eine gemeinsame Tatausführung ein arbeitsteiliges Zusammenwirken im Ausführungsstadium der Tat erforderlich. Davon kann in den Wirtschaftsunternehmen wegen der Aufgabendelegation keine Rede sein. In allen vorgetragenen Rechtsprechungsbeispielen fassten die Leitungspersonen den Entschluss, Straftaten zu begehen. Die Ausführung überließen sie teils gut- teils bösgläubigen Untergebenen. Selbst wenn man aber für eine gemeinsame Tatausführung auch eine Tätigkeit im Vorbereitungsstadium, wie sie die planende Leitungsperson vornimmt, genügen lassen würde, kann Mittäterschaft nicht angenommen werden. Es fehlt der gemeinsame Tatentschluss zwischen der planenden und beschließenden Unternehmensführung und den ausführenden Angestell-
49
BGH NStZ 2009, 393.
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ten.50 Dieser ist nach absolut herrschender Meinung Voraussetzung jeder „gemeinschaftlichen Begehung im Sinne der Mittäterschaft“.51 Trotz der strukturellen Defizite und trotz des auch von ihm für essentiell gehaltenen gemeinsamen Tatentschlusses bejaht Schünemann eine Mittäterschaft. Der schwache „Einpassungsentschluss“ werde durch die enge organisatorische Verknüpfung der Tatbeiträge von Prinzipal und Ausführungsorgan kompensiert.52 Ähnlich argumentiert auch Tiedemann. Wegen Zugehörigkeit aller Beteiligten zu ein- und demselben Unternehmen kann nach seiner Meinung auf einen gemeinsamen Tatentschluss verzichtet werden.53 Das mag eine sachgerechte Lösung sein. Mit dem Gesetzeswortlaut des § 25 StGB, der von einer gemeinschaftlichen Tatbegehung spricht, stimmt dieser Vorschlag nicht überein. Eine Mittäterschaft muss daher abgelehnt werden.54 4. Täterschaft der Unternehmensleitung durch Unterlassen? Im Ergebnis kommt de lege lata also allenfalls eine Strafbarkeit der Unternehmensleitung wegen eines unechten Unterlassungsdelikts in Betracht. Die dafür notwendige Garantenstellung wird in der deutschen Literatur aus der Geschäftsherrenhaftung des Unternehmensführers hergeleitet.55 Der Unternehmensinhaber und das Leitungspersonal des Unternehmens hätten kraft ihrer Stellung die Pflicht, betriebsbezogene Rechtsgutsverletzungen zu verhindern.56 In zwei neueren Entscheidungen hat auch der BGH erklärt, aus der Stellung als Betriebsinhaber oder Vorgesetzter könne sich eine Garantenstellung zur Verhinderung von Straftaten nachgeordneter Mitarbeiter ergeben.57 Der BGH lässt allerdings offen, welche tatsächlichen Umstände für die Begründung im Einzelfall maßgebend sein können (Autoritätsstellung, Herrschaft über den Betrieb als Gefahrenquelle58, Fürsorgepflicht des Arbeitgebers59). In jedem Fall beschränke sich die Haftung auf betriebsbezogene Taten. Sie müssten einen inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit des Begehungstäters oder mit der Art des Betriebes aufweisen. 50
Hellmann/Beckemper, Wirtschaftsstrafrecht, Rn. 935. LK-Schünemann, § 25 Rn. 129; Rotsch, NStZ 2006, 491, 492; s. auch Rissing-van Saan, FS für Tiedemann, 391, 402. 52 LK-Schünemann, § 25 Rn. 132; ähnlich Muñoz Conde, FS für Roxin, 2011, 623. 53 Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht AT, Rn. 179 a. 54 A.A. Jacobs, NStZ 1995, 26, 27; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, S. 670; BGH StV 2010, 363. 55 LK-Schünemann, § 25 Rn. 132; vgl. ausführlich Schall, FS für Rudolphi, 2004, 267 ff. 56 Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 1. Teil Kap. 3 Rn. 31 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 57 BGHSt 54, 44, Rn. 23; BGH NStZ 2012, 142 ff. = JR 2012, 303 ff. m. Anm. Roxin. 58 BGH NStZ 2012, 142, Rn. 14. 59 BGH Beschl. v. 25. 06. 2009, 4 StR 610/08. 51
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Ganz davon abgesehen, dass die dogmatische Herleitung einer solchen Garantenstellung auch in der Literatur umstritten ist,60 ist gegen die Reduzierung einer möglichen Strafbarkeit der Unternehmensleitung auf ein unechtes Unterlassungsdelikt einzuwenden, das die Führungspersonen in der von mir diskutierten Fallgruppe mehr tun, als nur Straftaten ihrer Untergebenen nicht zu verhindern. Sie veranlassen sie, ohne dass sie als Anstifter zur Rechenschaft gezogen werden könnten (vgl. oben III. 2.). Das Gewicht ihres Tatbeitrages wird durch den Vorwurf bloßen Unterlassens nicht zutreffend erfasst.61 Hinzu kommt, dass vielfach eine Unterlassens-Strafbarkeit am Vorsatznachweis scheitern dürfte. Die Leitungsperson muss eine bestimmte strafbare Handlung eines bestimmten Mitarbeiters zumindest konkret für möglich halten und in Kauf nehmen.62 Das dürfte aber nur selten der Fall sein, wie sich auch am Beispiel des vom BGH entschiedenen Insolvenzfalles zeigt.63 Dies ist vermutlich der Grund, warum der BGH in diesen Fällen auf die mittelbare Täterschaft kraft Organisationsherrschaft ausweicht.64 Im Ergebnis hat sich gezeigt, dass die strafrechtliche Einstandspflicht von Leitungspersonen für kriminelle betriebliche Aktivitäten von Unternehmensmitarbeitern häufig schwierig zu begründen ist. 5. Lösungsvorschläge a) Es gibt inzwischen in Deutschland zahlreiche Gesetzesvorschläge, die die Problematik ohne dogmatische Verzerrung de lege ferenda lösen sollen. So schlägt z. B. Bottke65 eine Ergänzung des § 357 StGB vor, der bekanntlich einen Vorgesetzten bestraft, der seinen Untergebenen zu einer Straftat im Amt verleitet. Die Gesetzesvorschläge sind aber bei Vorsatzdelikten denselben praktischen Nachweisproblemen ausgesetzt wie die unechten Unterlassungsdelikte. b) Was man den Betriebsinhabern und den Leitungspersonen in der Regel vorwerfen kann, ist ein Organisationsverschulden. Das stellt der BGH zu Recht fest, nur mit der unzutreffenden Konsequenz einer strafrechtlichen Haftung wegen mittelbarer Täterschaft kraft Organisationsherrschaft. Das Organisationsverschulden fällt unter § 130 OWiG.66 § 130 OWiG ist zwar nur ein Bußgeldtatbestand, der aber unter generalpräventiven Aspekten viel wirkungsvoller sein kann als ein Strafverfah-
60 Vgl. ausführlich Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht AT, Rn. 181 ff.; siehe auch Wessels/ Beulke, Strafrecht AT, 41. Aufl. 2011, Rn. 724. 61 Rissing-van Saan, FS für Tiedemann, 403. 62 Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 1. Teil Kap. 3 Rn. 37. 63 BGH wistra 1998, 148. 64 S. hierzu Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht AT, Rn. 181. 65 W. Bottke, JuS 2002, 320 ff., 324. 66 Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht 1. Teil Kap. 3 Rn. 50; Wittig, Wirtschaftsstrafrecht, § 6 Rn. 140.
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ren, das, wie ausgeführt wurde, erhebliche rechtliche Probleme aufwirft mit der Folge, dass eine Verurteilung keineswegs sicher ist. Nach § 130 OWiG kann nicht nur gegen die Leitungspersonen eine erhebliche Geldbuße festgesetzt werden (bei Straftaten der Mitarbeiter bis zu E 1 Mio.). Über §§ 30, 17 Abs. 4 OWiG erfolgt, wie die Korruptionsgroßverfahren der jüngsten Vergangenheit gezeigt haben, eine Gewinnabschöpfung bei den betroffenen Unternehmen.67 Die Staatsanwaltschaft geht mit diesem Instrumentarium inzwischen souverän um. Das Unternehmen seinerseits verlangt den abgeschöpften Gewinn von den Leitungspersonen als Schadensersatz zurück. Darüber hinaus verlieren die Geschäftsführer, Vorstände und sonstigen Leitungspersonen ihren Arbeitsplatz. Das alles ist sowohl unter general- wie unter spezialpräventiven Gesichtspunkten m. E. sehr viel nachhaltiger, als ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren, das wegen der Beweisprobleme möglicherweise nicht mit einer Verurteilung endet. Der Ruf nach dem Strafrecht ist zwar immer der lauteste. Man sollte sich dadurch aber nicht den Blick auf andere, möglicherweise wirksamere Sanktionen verstellen lassen. Mit diesem Appell schließe ich meinen Beitrag für unseren langjährigen Freund Jürgen Wolter mit herzlichen Glückwünschen zu seinem 70. Geburtstag. Ich wünsche ihm Gesundheit und fortdauernde Schaffenskraft, damit er seine gewaltigen Aufgaben weiterhin so souverän meistern kann.
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Wittig, Wirtschaftsstrafrecht, § 6 Rn. 129.
Eine Dekonstruktion der Erfolgszurechnung Von Fernando Guanarteme Sánchez Lázaro
I. Einführung: Struktur des Zurechnungsurteils In seinem eindrucksvollen Werk „Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem“ erläutert Wolter das folgende Schulbeispiel: „A will B mit objektiv relativ harmlosen Stichwunden töten; die Polizei fertigt eine Strafanzeige wegen versuchten Totschlags; einige Tage nach ambulanter Behandlung stirbt B an einer Wundinfektion, weil die Tatwaffe mit einem exotischen Erreger verschmutzt war (Messerfall)“.1 Wolter zufolge ist hier nicht daran zu zweifeln, „daß – ex post betrachtet – A den Tod des B tatsächlich verursacht hat“. Sowohl der Verletzungserfolg als auch die Kausalität seien zu bejahen, obwohl sie „bei Begehung der Tat“ objektiv nicht voraussehbar waren: „Rechtsgutsverletzung und Verursachung als solche sind – […] – nur ex post feststellbar; sie sind als bloße Haftungsvoraussetzungen der Sanktionsnorm zugehörig“.2 Hinsichtlich der Frage, „ob diese ex post festgestellten Haftungsvoraussetzungen dem Täter auch objektiv zugerechnet werden können, d. h., ob Verletzungserfolg und Kausalität als auf strafrechtlich relevante Weise verwirklicht bewertet werden dürfen“,3 führt er wie folgt aus: „Die Strafe […] muß ihre plakative Wirkung für den Bürger verfehlen, wenn die Rechtsgutsverletzung ex ante ,bei Begehung der Tat‘ objektiv unvorhersehbar war und deshalb weder planbar noch wiederholbar ist. Dem Rechtsgenossen in der Situation des Täters kann der Tod des Opfers nur als unglücklicher Zufall und allgemeines Lebensrisiko erscheinen. Mit einer Ahndung der Rechtsgutsverletzung als solcher ließen sich deshalb schwerlich Rechtstreue einüben, Rechtsnormen langfristig internalisieren, (negative) Vorbildwirkungen erzeugen“.4 Aus diesen Gründen mangele es im Beispielsfall an der objektiven Zurechenbarkeit des Erfolgs: „Der spe-
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Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem (1981), S. 71. 2 Wolter (Fn. 1), S. 71; ebenso siehe ders., ZStW 89 (1977), S. 671; ders., GA 1993, S. 272; ders., Omisión e imputación objectiva en Derecho penal (1994), S. 74 f. 3 Wolter (Fn. 1), S. 71. 4 Wolter (Fn. 1), S. 72 f., 91; ebenso siehe ders., GA 1977, S. 257; ähnlich Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs (1988), S. 512; Schünemann, GA 1999, S. 207, 214 ff.; eingehend Rueda Martín, La teoía de la imputación objectiva del resultado en el delito doloso de acción (2001), S. 1 ff.
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zifische Infektionstod im Anschluß an das allgemeine Verletzungsrisiko durch die Schnittwunden ist objektiv nicht vorhersehbar und deshalb nicht zurechenbar“.5 Nach diesem Modell ist die Rechtsgutsverletzung Teil des strafrechtlichen Unrechts, wenn der Erfolg sich „nicht [als] Zufallsprodukt, sondern [als] adäquate und sozialinadäquate Fortentwicklung des geschaffenen Risikos“ darstellt.6 Dabei handelt es sich beim Erfolgsunrecht – anders als bei der Risikoschaffung – um strikt objektives Unrecht, welches nicht „vom Vorsatz und von der Schuld i. e. S. von Andershandelnkönnen begleitet zu sein“ braucht.7 1. Objektive Elemente der Erfolgszurechnung Demnach besteht die Zurechnung des Erfolgs aus einem Urteil über den objektiven Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg.8 Die Rechtsgutsverletzung muss „adäquate und sozialinadäquate Fortentwicklung des geschaffenen Risikos“ sein. Es geht also um die Zurechnung des Erfolgsunrechts. Entsprechend äußert sich Wolter: „Wenn die primäre Funktion des Strafrechts der Rechtsgüterschutz ist, wenn die Tatobjektsverletzung (bzw. -gefährdung) die konsequent fortentwickelte, objektiv vorhersehbare und auch zurechenbare (,handlungsadäquate‘) Realisierung des vom Täter rechtswidrig geschaffenen Risikos ist und wenn dieses Risiko unrechtsrelevant ist, dann spricht jedenfalls vieles dafür, auch das eigentlich ,Rechtsgutsverletzende‘ (bzw. ,Rechtsgutsgefährdende‘) als Unrecht zu betrachten“.9
5
Wolter (Fn. 1), S. 92; ebenso siehe S. 83, 331 ff., 343; im Allgemeinen, S. 72: „Verletzungserfolg und Kausalität […] sind objektiv nicht zurechenbar, sofern sie sich für den objektiven Beobachter ,bei Begehung der Tat‘ (ex ante) nicht als ernsthafte Möglichkeit abgezeichnet haben“. 6 Wolter (Fn. 1), S. 357. 7 Wolter (Fn. 1), S. 357; ebenso siehe S. 18 f., 42, 65; ders. ZStW 1977, S. 681 f., 703; ders., Estudios en honor de Claus Roxin (1991), S. 108, 116; ders., GA 1991, S. 548 f. Fn. 42; ders., GA 1993, S. 295 f.; ders., Omisión e imputación objetive en Derecho penal, S. 73 ff. 8 In diesem Sinne meint bereits Honig, in: Festgabe für Reinhard von Frank (1930), S. 174, 185, dass die objektive Zurechnung „nur ein Urteil über die vom objektiven Standpunkt aus zu beurteilende Möglichkeit eines teleologischen Zusammenhanges des Verhaltens mit dem Erfolg (…) ist“, d. h. „über die Erreichbarkeit oder Abwendbarkeit des Erfolges für jemanden, der in der in Betracht kommenden Situation steht“. Ebenso legt Larenz, Hegels Zurechnungslehre und der Begriff der objektiven Zurechnung (1927), S. 51, ausdrücklich dar, dass die Frage, was einem Subjekt als sein Werk zugerechnet werden kann, „lediglich ein Urteil über einen objektiven Zusammenhang ist. Dieses Urteil wollen wir die objektive Zurechnung nennen.“ Ebenso siehe Wolter, Omisión e imputación objetive en Derecho penal, S. 66. Zuletzt Rueda Martín, La teoía de la imputación objectiva del resultado en el delito doloso de acción, S. 81 ff., 353, 444 f. 9 Wolter (Fn. 1), S. 27; ebenso S. 24, 36 f., 83, 331, 334 f., 338; ders., GA 1977, S. 269.
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2. Das personale Element der Zurechnung Eine personale Zurechnung erfolgt daher ausschließlich auf der Ebene der Risikoschaffung, während die Risikoverwirklichung einen solchen Bezug nicht aufweist. So bemerkt Wolter: „Die Risikoschaffung ist die Domäne personaler Zurechnung; die Risikorealisierung ist das ausschließliche Feld objektiver Zurechnung. Dies bedeutet, daß Adäquanz (objektive Vorhersehbarkeit) und Sozialinadäquanz (rechtliche Mißbilligung) als die beiden die ,kausale Haftung‘ einschränkenden Unrechtsmerkmale bis zur Beendigung des tauglichen Versuchs (d. h. bis zur vollumfänglichen Risikoschaffung) auch von Vorsatz/Fahrlässigkeit und Schuld i. e. S. von Andershandelnkönnen umfaßt sein müssen“.10 Dadurch wird der Erfolg als „strikt objektives Merkmal ohne Vorsatz- und Schuldbezug i. e. S. von Andershandelnkönnen in das Unrecht der Straftat“11 integriert. 3. Gründe für eine personale Zurechnungslehre Die Beschränkung des personalen Bezugs ergibt sich nicht aus Zweckmäßigkeitserwägungen, sondern aus Gründen der behaupteten Notwendigkeit. In diesem Sinn spricht Wolter von der „zwangsläufig[en] […] Domäne der objektiven Zurechnung“.12 Eine solche Struktur leuchtet ein, wenn man die Zurechnung des Erfolgs als Unrechtsurteil betrachtet. Dabei geht es vornehmlich um die normativen Gründe, die die Einordnung der Rechtsgutsverletzung als Unrecht der Straftat ermöglichen.13 10
Wolter (Fn. 1), S. 358; ebenso siehe S. 19, 33 ff.: „Die objektive Erfolgszurechnung, um die sich die bisherige Diskussion weitgehend dreht, basiert auf einer personalen Verhaltensund Risikozurechnung“; S. 29: „Die Zurechnung der Tatobjektsverletzung (oder -gefährdung) muß stets (,handlungsadäquat‘) vermittelt sein durch die Zurechenbarkeit des Risikos, auf dem sie beruht“; ders., Estudiosen honor de Claus Roxin, S. 108, 116; ders., GA 1991, S. 548 f. Fn. 42; ders., GA 1993, S. 295 f.; ders., Omisión e imputación objetive en Derecho penal, S. 73 ff. 11 Wolter (Fn. 1), S. 27; ebenso siehe S. 19, 356 ff.; ders., GA 1993, S. 295 f. 12 Wolter (Fn. 1), S. 19, 49 f., 65 f.: „Das […] Erfolgsunrecht ist ein strikt ,objektives Unrechtsmerkmal‘, da ein Vorsatz- und Schuldbezug jenseits der (tauglichen) Versuchsbeendigung weder erforderlich noch im Einzelfall auch nur möglich ist“. 13 Vgl. Wolter (Fn. 1), S. 24 ff., 48 f.: „Mit der Erfolgszurechnung – soweit sie durch eine Risikozurechnung (,Gefährlichkeitszurechnung‘) vermittelt wird – kommt nun noch ein drittes (bewertungs-)normtheoretisches und unrechtsrelevantes Element und ein zweiter Aspekt der Generalprävention ins Spiel […]. Dieser Unwert des Erfolgs läßt sich dabei […] aus der den strafrechtlichen Erfolgstatbeständen immanenten Schutz- und Gewährleistungsnorm für den Rechtsgutsträger herleiten“; ebenso siehe, S. 73 f. Ähnlich weist Schünemann, GA 1999, S. 207, 214 ff., darauf hin, dass die Zurechnung des Erfolgs ein Urteil darüber voraussetzt, ob sich seine Betrachtung als Unrecht für Präventionszwecke eignet. Ebenso siehe Anarte Borrallo, Causalidad e imputación objetiva en Derecho Penal. Estructura, relaciones y perspectivas (2002), S. 247 f., 276 ff., 363 f.; Cerezo Mir, Curso de Derecho penal español. Parte general II. Teoría jurídica del delito, 6. Aufl. 1998, S. 106 f., 183 f.; Corcoy Bidasolo, El delito imprudente. Criterios de imputación del resultado (1989), S. 561 ff.; Feijóo Sánchez, Resultado lesivo e imprudencia (2001), S. 323 ff.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und
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So meint Wolter: „Das Erfolgsunrecht ist im wesentlichen die ,spezifische Beziehung zwischen Handlung und Erfolg‘ (,Risikozusammenhang‘)“.14 Dabei versucht er, durch die Benennung objektiv-normativer Kriterien tatbestandsmäßige Erfolge von bloßem Zufall abzugrenzen.15 Betrachtet man aber die Zurechnung des Erfolgs als Zurechnungsurteil, dann stellt sich die Frage, ob ein personaler Bezug über die vollumfängliche Risikoschaffung hinaus zu fordern ist. Schließlich handelt es sich um die Zurechnung des Erfolgsunrechts zu dem konkret Handelnden. Dabei erweist sich eine strikt objektive Betrachtung als unzureichend.16 Denn es handelt sich dann in erster Linie um ein Problem personaler Zurechnung. Daher scheinen weitere auf das Zurechnungssubjekt bezogene Argumente erforderlich, die erklären, auf welchen Gründen basierend die Zurechnung der Rechtsgutsverletzung zu diesem konkreten Handelnden angemessen ist; oder anders ausgedrückt: warum stellt die Rechtsgutsverletzung personales Unrecht des Zurechnungssubjekts dar. In diesem Kontext ist ebenso auf das Schuldprinzip hinzuweisen.17 So führt das Schuldprinzip stets dazu, einen personalen Bezug sowohl zum Handlungs- als auch zum Erfolgsunrecht zu finden und damit seinen Inhalt auf der Unrechtsebene in einem relativ möglichst hohen Maße zu realisieren.18 Dies folgt aus der Struktur des Prinzips als Optimierungsgebot.19 Zurechnung des Erfolgs, S. 512: „Das Leitprinzip für die Bewältigung dieser […] Aufgabe kann gedanklich nur die Ratio des Erfolgserfordernisses sein, also jener Sachgrund, der den Gesetzgeber dazu veranlaßt hat, die Strafe […] nicht schon bei Vorliegen eines tatbestandsmäßigen Verhaltens vorzusehen, sondern deren Einsatz an die zusätzliche Bedingung eines eingetretenen, mit dem Verhalten in bestimmtem Zusammenhang stehenden Erfolges zu knüpfen“; Gimbernat Ordeig, Estudios de Derecho penal, 3. Aufl. 1990, S. 212 ff.; Jescheck/ Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5 Aufl. 1996, S. 287 f.; Martínez Escamilla, La imputación objetiva del resultado (1992) S. 234, 259, 264, 268 ff.; Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2006, S. 390 ff.; Rueda Martín, La teoía de la imputación objectiva del resultado en el delito doloso de acción, S. 81 ff., 353, 444 f.; anders Hernández Plasencia, Imputación objetiva versus dominio del hecho (2002), S. 720 ff. 14 Wolter (Fn. 1), S. 36, 50: „adäquate und objektiv zurechenbare Realisierung des geschaffenen Risikos im Erfolg“; ebenso S. 28: „Nur die durch diesen objektiven Zweckzusammenhang vermittelte Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung erhebt den tatsächlichen Erfolg zum objektiven, zurechenbaren Erfolg und damit zum Erfolgsunwert“; vgl. S. 334 ff., 338, 343 ff. Ebenso siehe ders., GA 1977, S. 261. 15 Vgl. Wolter (Fn. 1), S. 24 f., 27, 36 f., 83. 16 Anders Wolter (Fn. 1), S. 65 f.; ders., GA 1991, S. 548 f. Fn. 42; ders.,GA 1993, S. 296 f.; ders., Omisión e imputación objetive en Derecho penal, S. 73 ff.; vgl. dazu im Allgemeinen ders., Estudios en honor de Claus Roxin, S. 108, 113 ff. 17 Anders Wolter (Fn. 1), S. 22. 18 Zuletzt Sánchez Lázaro, GA 2012, S. 92 ff. Negativ äußert auch Wolter (Fn. 1), S. 22, dass „angesichts des mit Verfassungsrang ausgestatteten Schuldprinzips die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit […] auf das Minimum schlechterdings nicht an Unrecht und Schuld zu bindender Merkmale zu beschränken sind“, was die graduelle Struktur dieses Prinzips zeigt; ebenso siehe Wolter (Fn. 1), S. 40 ff.
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II. Zu einer personalen Zurechnungslehre Den vorhergehenden Ausführungen unseres Jubilars kann in erheblichem Maße beigepflichtet werden. So ist Wolter zuzustimmen, wenn er die Rechtsgutsverletzung als Teil des Unrechts sieht: „Wenn die primäre Funktion des Strafrechts der Rechtsgüterschutz ist, wenn die Tatobjektsverletzung (bzw. -gefährdung) die konsequent fortentwickelte, objektiv vorhersehbare und auch zurechenbare (,handlungsadäquate‘) Realisierung des vom Täter rechtswidrig geschaffenen Risikos ist und wenn dieses Risiko unrechtsrelevant ist, dann spricht jedenfalls vieles dafür, auch das eigentlich ,Rechtsgutsverletzende‘ (bzw. ,Rechtsgutsgefährdende‘) als Unrecht zu betrachten“.20 Wenn die Zurechnung des Erfolgs als Unrechtsurteil betrachtet wird, dann handelt es sich in erster Linie um die normative Beziehung „zwischen Handlung und Erfolg (,Risikozusammenhang‘)“. Es geht um die normativen Kriterien, die das Unrecht begründen und es rechtfertigen, auch die Rechtsgutsverletzung in das Unrecht der Straftat zu integrieren und sie als Erfolgsunrecht zu betrachten. Fraglich ist jedoch, anhand welcher Kriterien die Zurechnung des Erfolgs zum Handelnden erfolgen soll. Zumindest erscheint eine rein objektive Betrachtung als ungenügend. Denn es handelt sich dann um ein Problem personaler Zurechnung. Denkbar ist daher die Hinzuziehung personenbezogener Merkmale, um die Zuweisung der Rechtsgutsverletzung zu ermöglichen. Bereits in früheren Beiträgen habe ich vorgeschlagen, die Lehre über die Zurechnung des Erfolgs durch die Einführung von Verbindungselementen zum Täter zu entwickeln.21 Solche Elemente vermögen, – neben dem objektiven – auch einen personalen Zusammenhang zwischen Zurechnungssubjekt und Rechtsgutsverletzung zu begründen und dadurch zu erklären, warum die Zurechnung des Erfolgsunrechts zu dem jeweiligen Handelnden angemessen ist. Dies hat zur Folge, dass sich die Lehre der Erfolgszurechnung den Zurechnungsvoraussetzungen bei der Mittäterschaft annähert. Beide Urteile betreffen die Unrechtszurechnung und beruhen auf ähnlichen materiellen Gegebenheiten. Dabei sollte danach unterschieden werden, ob das verwirklichte Risiko ausschließlich eigenen oder auch fremden Ursprungs ist. 1. Verwirklichung ausschließlich eigenen Risikos Die erstgenannte Konstellation bezieht diejenigen Fälle ein, in denen ein einziger Handelnder das unerlaubte, in der Rechtsgutsverletzung verwirklichte Risiko hervorgerufen hat. Sind Kausalität, Rechtsgutsverletzung und der objektive Risikozusammenhang bejaht worden, bedarf es im Anschluss daran der Feststellung, ob das un19 Vgl. Alexy, in: Gedächtnisschrift für Jürgen Sonnenschein (2003), S. 771 f.; eingehend ders., Teoría de los derechos fundamentales, 2 Aufl. 2007, S. 67 ff.; ebenso siehe Sánchez Lázaro, GA 2012, S. 92 ff. 20 Wolter (Fn. 1), S. 27. 21 Sánchez Lázaro, Anuario de derecho penal y ciencias penales (2005), S. 421 ff.; ders., Intervención delictiva e imprudencia (2004), S. 187 ff., 210 ff.
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erlaubte, in der Rechtsgutsverletzung verwirklichte Risiko im Ganzen vom Zurechnungssubjekt ausgeht. Der eigene Ursprung des in der Rechtsgutsverletzung verwirklichten Risikos stellt den ersten Ansatz für die Zuschreibung des Erfolgs als Unrecht zum Zurechnungssubjekt dar: Es handelt sich um die adäquaten Folgen seiner Handlung, die ihm daher zugerechnet werden können. Hierzu folgendes Beispiel: A vergiftet B und B stirbt durch das Gift.22 Die Zurechnung des Erfolgs zu A basiert auf der Feststellung, dass der Tod des B auf das durch A geschaffene Risiko zurückzuführen ist und nicht darauf, dass ein Dritter, ohne von A zu wissen, auf B in Tötungsabsicht geschossen hat.23 Es geht also darum, dass der Tod des B die Verwirklichung des von A unerlaubt geschaffenen Risikos darstellt: die Vergiftung des Opfers begründet hier die Haftung für die Handlung sowie für den dadurch verursachten Erfolg – den Gifttod des B. Daher darf die Rechtsgutsverletzung diesem zugerechnet werden. Es handelt sich also letztendlich um das Synallagma von Handlungsfreiheit und Folgenverantwortung. Dies gilt sowohl für den Vorsatz- als auch für den Fahrlässigkeitsbereich, denn hier geht es um den Ursprung des in der Rechtsgutsverletzung verwirklichten Risikos. Auf eine vorsätzliche oder fahrlässige Form des strafbaren Verhaltens kommt es insoweit nicht an: A entschließt sich, die zulässige Höchstgeschwindigkeit erheblich zu überschreiten, um sich nicht bei einem Termin zu verspäten. An einer Kreuzung kann er sein Auto wegen der hohen Geschwindigkeit nicht mehr beherrschen und fährt einen Radfahrer – den B – an, der sich verkehrsgerecht verhält. Der Radfahrer stirbt. Der personale Zusammenhang zwischen Zurechnungssubjekt und Rechtsgutsverletzung ergibt sich auch hier daraus, dass die Rechtsgutsverletzung die Verwirklichung des vom Zurechnungssubjekt geschaffenen unerlaubten Risikos ist, also, dass der B an dem Aufprall des Fahrers A tatsächlich gestorben ist. Daher ist diesem der Tod des B zuzurechnen. Diese Ausführungen gelten gleichermaßen für diejenigen Fälle der mittelbaren Täterschaft, in denen das Zurechnungssubjekt die Rechtsgutsverletzung durch einen Anderen verursacht, der einen verantwortungsausschließenden Defekt auf subjektiver Tatbestandsebene aufweist.24 Wenn A das Opfer nicht persönlich, sondern durch eine gutgläubige Krankenschwester vergiftet, dann stellt auch diese Rechtsgutsverletzung die Verwirklichung des vom Zurechnungssubjekt (hier A) geschaffenen, unerlaubten Risikos dar: Das Opfer ist auch hier am Gift des Täters A gestorben. Nichts anderes gilt, wenn A nur fahrlässiges Handeln vorzuwerfen ist. Die Rechtsgutsverletzung stellt auch diesmal die Verwirklichung des vom Zurechnungssubjekt (fahrlässig) geschaffenen, unerlaubten Risikos dar, so dass sie ihm zugerechnet werden kann.
22
Wolter (Fn. 1), S. 70. Wolter (Fn. 1), S. 70. 24 Vgl. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft (2006), S. 170 ff.
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2. Verwirklichung eigenen und fremden Risikos Verwirklicht sich in der Rechtsgutsverletzung nicht nur das vom Täter geschaffene unerlaubte Risiko, sondern tritt ein weiteres unerlaubtes Risiko, welches durch einen Dritten geschaffen wurde, hinzu, dann genügt das zufällige Zusammentreffen von Eigen- und Fremdrisiko nicht, um die Zurechnung des Erfolgs zum Zurechnungssubjekt zu rechtfertigen. Denn die Rechtsgutsverletzung erweist sich als Summe des persönlich geschaffenen Risikos und des fremden Risikos. Eine Zurechnung der Rechtsgutsverletzung kommt nur dann in Betracht, wenn dem Zurechnungssubjekt das von Seiten des Dritten geschaffene unerlaubte Risiko zugerechnet werden kann. Dazu seien zwei Beispiele genannt: A und B stechen jeweils mehrfach auf das Opfer ein, sodass dieses an den durch A und B zusammen versetzten Stichwunden stirbt; A bedroht die Hausbewohner mit einer Pistole, während B die Schränke ausräumt.25 In beiden Fällen beruht die Rechtsgutsverletzung auf einem (Gesamt-)Risiko, das von A und B gemeinsam unerlaubt geschaffen wurde: Sowohl der Tod des Opfers als auch die mit einem qualifzierten Nötigungsmittel begangene Wegnahme sind das Resultat der durch A und B geschaffenen Risiken. Die (gegenseitige) Zurechnung fremden Risikos beruht auf einem bewussten und planvollen Zusammenwirken von A und B, sodass dem A das von B geschaffene Risiko und dem B das von A geschaffene Risiko jeweils zugerechnet werden können. Auf dieser wechselseitigen Zurechnung beruht das Wesen der Mittäterschaft.26 Wenn A und B beschließen, das Opfer zusammen zu erstechen, und dieses an den durch A und B versetzten Stichwunden stirbt, erlauben die durch die herrschende Lehre in den Tatbestand der Mittäterschaft implementierten subjektiven (Wissens-)Elemente, dass das durch beide geschaffene Gesamtrisiko und die hierin mündende Rechtsgutsverletzung jedem Einzelnen zugerechnet werden können. Gerade die subjektive Verbindung zwischen den Handelnden ist es, die es erlaubt, „jeden einzelnen der Mittäter für das, was die anderen machen, haften zu lassen“.27 Auch in den Fällen kumulativer Risikoverwirklichung muss das von einem Dritten geschaffene Fremdrisiko, welches sich in der Rechtsgutsverletzung verwirklicht, ebenso vom Zurechnungssubjekt erfasst worden sein, damit der Erfolg diesem zurechenbar ist.
25
Roxin (Fn. 24), S. 274. Vgl. Sánchez Lázaro, Täterschaft beim Fahrlässigkeitsdelikt (2007), S. 52 ff. 27 Díaz y García Conlledo, La autoría en Drecho Penal (1991), S. 656. In Bezug auf die fahrlässige Mittäterschaft siehe etwa Hoyer, GA 2006, S. 298 ff.; in ähnlichem Sinne Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, S. 678; Mir Puig, Derecho penal. Parte general, 8. Aufl. 2008, S. 398; zu ausführlichen Nachweisen Sánchez Lázaro, Intervención delictiva e imprudencia, S. 188 f.; ders., Täterschaft beim Fahrlässigkeitsdelikt, S. 52 f. 26
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Bei dem oben genannten Beispiel des von A und B erstochenen Opfers muss also festgestellt werden, dass dieses gerade aufgrund der zugefügten Stichverletzungen und damit aufgrund des von A und B geschaffenen unerlaubten Risikos zu Tode gekommen ist und dass A und B auch jeweils als Zurechnungssubjekte mit diesem Erfolg rechnen konnten. Verstirbt das Opfer hingegen nachträglich im Rahmen der eigenhändigen nicht-sterilen Versorgung der Verletzungen an einer späteren Wundinfektion, so kann dem A dies nicht zugerechnet werden, weil er damit nicht zu rechnen brauchte. Nur die Verwirklichung des selbst geschaffenen Risikos und das durch die Handlungen anderer Personen, welche i. S. des § 25 Abs. 2 StGB gemeinsam mit dem Täter die Tat ausführen, geschaffene Risiko sind für die Zurechnung relevant. Dieses Modell ist in gewissem Umfang auf die Fälle mittelbarer Täterschaft übertragbar. Um ein Beispiel zu geben: A will den B vergiften. Er erfährt, dass auch C das gleiche Ziel, aber mit einer für sich allein unzureichenden Dosis verfolgt. Daraufhin misst er seine eigene Giftmenge so ab, dass der Tod des B erst durch das Zusammenwirken beider Mengen ermöglicht wird.28 Roxin beschreibt diese Konstellation als „Willensherrschaft kraft sinngestaltender Überdetermination“.29 Daraus ergäben sich eine Versuchsstrafbarkeit des C und eine Strafbarkeit des A wegen vollendeten Mordes in mittelbarer Täterschaft. Dass A der Erfolg zugerechnet wird, beruht darauf, dass das Risiko, welches sich im Tod des B niederschlägt, sich sowohl aus der Giftmenge, die A selbst in Kenntnis aller weiteren Umstände abmisst, als auch aus der Giftmenge des C zusammensetzt. Da C in Unkenntnis von A’s Beitrag nur eine nicht tödliche Giftdosis verabreicht hat, kann ihm das durch A zusätzlich geschaffene Risiko, welches zu der Rechtsgutsverletzung führt, nicht zugerechnet werden, es verbleibt damit für C nur die Versuchsstrafbarkeit, weil der notwendige Vorsatz gegeben ist.30 Das Wissenselement spielt ebenfalls bei den anderen Fällen vorsätzlicher mittelbarer Täterschaft eine Rolle. Der personale Zusammenhang zwischen Zurechnungssubjekt und Rechtsgutsverletzung wird durch die Mitwirkung des Hintermannes bei der Schaffung des Risikos durch den Vordermann deutlich: Will ein Schuldunfähiger ein Haus in die Luft sprengen und der Hintermann beschafft dafür die Bombe, dann ist dieser als Täter zu bestrafen.31 Die Zurechnung des Erfolgs zum Vordermann – dem Schuldunfähigen – lässt sich wie unter II.1. begründen. Die Erfolgszurechnung zum Hintermann folgt aus der Bereitstellung der Bombe für einen Unzurechnungsfähigen und dem Wissen um das geschaffene Risiko, welches sich im Erfolg realisiert. Das Wissenselement rechtfertigt es, dem Hintermann das Risiko, welches er selbst nicht geschaffen hat, dennoch zuzurechnen. Dies gilt entsprechend für die Fälle mittelbarer Täterschaft kraft Nötigung: A, B und C werden von einer Räuberbande in Gefangenschaft genommen, deren Anführer D dem B mit dem Tode droht, 28
Roxin (Fn. 24), S. 286. Roxin (Fn. 24), S. 286. 30 Vgl. Sánchez Lázaro, GA 2005, S. 700 ff. 31 Vgl. Roxin (Fn. 24), S. 236. 29
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wenn er nicht den A umbringt.32 Hier zeigt sich, dass die Handlung des Vordermanns die Zurechnung des Erfolgs zum Hintermann nicht ausschließt, denn das geschaffene Gesamtrisiko und dessen Verwirklichung als Rechtsgutsverletzung können dem D aufgrund seines Handelns und Wissens zugerechnet werden. Ebenso verhält es sich in den Fällen der fahrlässigen Mittäterschaft, soweit man diese Figur anerkennt. Häuft A Holzstücke im Wald an und B zündet diese an, dann sind beide als Mittäter zu bestrafen, wenn sie gemeinsam i. S. des § 25 Abs. 2 StGB handeln und C im Waldbrand ums Leben kommt. Der gemeinsame Tatentschluss bezieht sich zwar nicht auf den Erfolg, den Tod des C, denn weder A noch B will den C umbringen. Trotzdem ermöglicht die subjektive Verbindung zwischen den Handelnden, das geschaffene Gesamtrisiko zu erkennen und daher beiden dessen Verwirklichung als Rechtsgutsverletzung entsprechend zuzurechnen.33 Die Entwicklung der Mittäterschaft im Fahrlässigkeitsbereich ermöglicht auch eine normative Begründung dieses Zurechnungsurteils. In denjenigen gesellschaftlichen Bereichen – den sog. Mitverantwortlichkeitsbereichen, deren normative und/oder strukturelle Gestaltung normative Argumente liefert, um die gegenseitige Zurechnung zu begründen, wird der gemeinsame Tatentschluss durch Gründe normativen Charakters ersetzt.34 Fährt A auf der Überholspur mit 220 km/h, so dass er sein Fahrzeug kaum noch beherrscht, und zieht B, ohne den A zu beachten, sein Auto unerwartet auf die Überholspur, dann ist keine subjektive Verbindung zwischen den Handelnden erforderlich, um die als Rechtsgutsverletzung verwirklichten, unerlaubten Risiken dem A oder B zuzurechnen, wenn sie einen Unfall verursachen, bei dem eine dritte Person ums Leben kommt. Bei dieser anderen Erscheinungsform der Mittäterschaft geht es nicht mehr um das Wissen oder den gemeinsamen Tatenschluss, sondern um die normativen Verhältnisse zwischen den Beteiligten, die in diesem gesellschaftlichen Bereich handeln.35 Denn solche normativen Verhältnisse erlauben die Zurechnung fremden Risikos sowie seiner Verwirklichung als Rechtsgutsverletzung zum Zurechnungssubjekt. So wird zwischen beiden Fahrern – A und B – eine normative Verbindung durch ihre konkreten Positionen und gegenseitigen Pflichten zur Rücksichtnahme hergestellt und ermöglicht die Erfolgszurechnung nach dem dargelegten Modell. Es geht dann also darum festzustellen, ob die Rechtsgutsverletzung die Verwirklichung des individuell durch das Zurechnungssubjekt und durch den anderen Handelnden geschaffenen Risikos, mit dem er wegen seiner Teilnahme an dem konkreten Mitverantwortlichkeitsbereich pflichtgemäß hätte rechnen sollen, darstellt. Aber in Bezug auf diese anderen Erscheinungsformen der Mittäterschaft und Mitverantwortlichkeitsbereiche kann ich hier auf meine Ausführungen an anderer Stelle verweisen.36
32
Roxin (Fn. 24), S. 148 f. Vgl. Sánchez Lázaro (Fn. 26.), S. 44 ff. 34 Vgl. Sánchez Lázaro (Fn. 26.), S. 58 ff.; ders., Anuario de derecho penal y ciencias penales, S. 700, 708 ff.; ders., Intervención delictiva e imprudencia, S. 210 ff. 35 Vgl. Sánchez Lázaro (Fn. 26.), S. 60 ff.; ders., Anuario de derecho penal y ciencias penales, S. 700, 708 ff.; ders., Intervención delictiva e imprudencia, S. 210 ff. 36 Im Einzelnen siehe Sánchez Lázaro (Fn. 26.), S. 60 ff.; ders., Intervención delictiva e imprudencia, S. 210 ff. 33
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3. Das Problem der Nebentäterschaft bei der Erfolgszurechnung Nach dem dargestellten Modell besteht die Zurechnung des Erfolgs also aus zwei sich ergänzenden Urteilen: einem ersten objektiven Urteil, in dem nach normativen Kriterien beurteilt wird, ob die Rechtsgutsverletzung als Unrecht oder Zufall zu betrachten ist, und einem zweiten Urteil, in dem der Zusammenhang des in der Rechtsgutsverletzung realisierten Risikos zu dem Zurechnungssubjekt hergestellt wird. Mit dem ersten Urteil wird normativ das Unrecht begründet. Es rechtfertigt, die Rechtsgutsverletzung als (Erfolgs-)Unrecht der Tat einzuordnen. Insoweit ist Wolter zuzustimmen.37 Im zweiten Urteil geht es um die Gründe, welche es erlauben, das Unrecht dem Täter als sein personales Unrecht zuzurechnen. Dies ist dann der Fall, wenn die Rechtsgutsverletzung das verwirklichte, vom Zurechnungssubjekt selbst geschaffene unerlaubte Risiko darstellt oder dieses Risiko von verschiedenen Tätern, die normativ oder subjektiv miteinander verbunden sind, stammt. Daraus ergibt sich auch die Lösung für die Rechtsfigur der Nebentäterschaft als Erfolgszurechnungsproblem. a) Die vorsätzliche Nebentäterschaft Nach der herkömmlichen Auffassung liegt Nebentäterschaft vor, wenn mehrere Personen einen tatbestandsmäßigen Erfolg herbeiführen, ohne durch einen gemeinsamen Tatentschluss verbunden zu sein.38 Bei vorsätzlicher Begehung erfolgt die Lösung anhand der objektiven Bedeutung der Tatbeiträge: In den Fällen kumulativer Kausalität, in denen die Rechtsgutsverletzung erst durch das Zusammentreffen der Beiträge der Beteiligten möglich wird, wird in der Regel das Verhalten der Nebentäter als Versuch bewertet; in den Fällen alternativer Kausalität, in denen die Rechtsgutsverletzung schon allein durch den Beitrag jedes Täters eingetreten wäre, werden die Beteiligten grundsätzlich wegen Vollendung bestraft.39 Diese Lösung überzeugt nicht: Die Schädlichkeit der Handlung – d. h., ob die Rechtsgutsverletzung schon isoliert durch jeden einzelnen Beitrag oder erst durch das Zusammentreffen der einzelnen Beiträge der Beteiligten eintritt – betrifft in erster Linie das Handlungsunrecht. Die Problematik der Nebentäterschaft als Zurechnungsurteil stellt sich aber vornehmlich im Bereich des Erfolgsunrechts. Dies ist das Ergebnis des zufälligen Zusammenwirkens des Täters mit einem Dritten. Aus diesem Grund lässt sich die Nebentäterschaft negativ definieren: Die Nebentäter agieren, „ohne einander im Verhältnis der Mittäterschaft verbunden zu sein“.40 Die Nebentäterschaft zeichnet sich gleichermaßen dadurch aus, dass die „Rechtsgutsobjektsverletzung aufgrund des Zusammenwirkens der Beteiligten eingetreten 37
Wolter (Fn. 1), S. 27. Vgl. Murmann, Die Nebentäterschaft im Strafrecht (1993), S. 139. 39 Vgl. Murmann (Fn. 38), S. 187 ff.; anders siehe etwa Hoyer, in: Festschrift für Günther Jakobs (2007), S. 183 ff. 40 Vgl. Murmann (Fn. 38), S. 139. 38
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ist“.41 Dies bedeutet, dass die Rechtsgutsverletzung nicht nur die Verwirklichung des unerlaubten, vom Zurechnungssubjekt geschaffenen Risikos darstellt. Sie ist auch Verwirklichung fremden Risikos. Mangels gegenseitiger Verbundenheit können die in der Rechtsgutsverletzung verwirklichten Risiken nicht gegenseitig zugerechnet werden. Daher sind alle Fälle vorsätzlicher Nebentäterschaft als Versuch zu bestrafen. Der Erfolg im Ganzen ist keinem der Beteiligten zurechenbar. b) Die fahrlässige Nebentäterschaft Im Fahrlässigkeitsbereich führt diese Lösung zum Strafbarkeitsausschluss. Um ein Beispiel zu nennen: Jäger A und B schießen gleichzeitig, aber ohne Kenntnis voneinander, unvorsätzlich auf den Wanderer C, nachdem sie ein Geräusch im Wald gehört haben. C stirbt am Blutverlust infolge beider Schusswunden. Der Erfolg, der Tod des C, ist die Realisierung des von A und B jeweils geschaffenen Risikos. Jedoch darf das von A geschaffene Risiko dem B nicht zugerechnet werden, da A und B nicht mittäterschaftlich miteinander verbunden sind. Aus dem gleichen Grund scheitert eine Zurechnung des von B geschaffenen Risikos zu A. Die fahrlässig handelnden Nebentäter bleiben somit straflos.42 Dieser ersten Lösung liegt eine restriktive Interpretation der Erfolgsdelikte zugrunde, welche für die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes die vollständige Zurechnung des Erfolgsunrechts fordert.43 Die strafzweckbezogenen Einbußen,44 die sich aus der Straflosigkeit solcher Verhaltensweisen ergeben, streiten zwar für eine Reduktion der Zurechnungsvoraussetzungen im Fahrlässigkeitsbereich. Eine solche Reduktion der Zurechnungsvoraussetzungen lässt sich m. E. aber nicht ohne weiteres mit dem Schuldprinzip vereinbaren. Anzuknüpfen ist dabei an die Rechtsprechung des BVerfG: „Der Grundsatz ,keine Strafe ohne Schuld’ hat Verfassungsrang; er findet seine Grundlage im Gebot der Achtung der Menschenwürde sowie in Art. 2 Abs. 1 GG und im Rechtsstaatsprinzip […]. Aus diesem Grundsatz folgt für die Strafgerichte das Gebot schuldangemessenen Strafens im Einzelfall. Danach muss Strafe in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Maß der Schuld des Täters stehen“.45 Die Schwere der Tat orientiert sich aber in erster Linie am Ausmaß des Handlungs- und Erfolgsunrechts.46 In den oben beschriebenen Fällen ist das Erfolgsunrecht keinem der Risikoverursacher im Ganzen zuzurechnen. Da die Strafe aber in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der zurechenbaren Tat stehen muss, lässt 41
Vgl. Murmann (Fn. 38), S. 139. Vgl. Sánchez Lázaro, GA 2005, S. 700, 708 ff. 43 Vgl. Sánchez Lázaro, GA 2005, S. 700 ff. 44 Zum mehrdimensionalen Zweck des Strafrechts vgl. Wolter (Fn. 1), S. 24 f., 331. 45 Vgl. BVerfG v. 26. 2. 2008 (Akt.Z: 2 BvR 392/07). 46 Vgl. Wolter (Fn. 1), S. 25 ff. 42
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sich m. E. ein Verhältnis, das eine Strafe bereits rechtfertigt, noch nicht ausmachen. Mangels hinreichender Schwere der Tat würde eine Bestrafung des Nebentäters daher dem Schuldprinzip widersprechen. Der Verzicht auf eine Bestrafung läuft zwar in gewisser Hinsicht dem Präventionsgedanken als Strafzweck zuwider, da das Strafrecht auch „der Verhinderung von (objektiven) Gefahren“47 durch Androhung von Sanktionen dient. Dies ist aber hinzunehmen, da die Verwirklichung des Präventionsgedankens nicht zu Lasten des Schuldprinzips gehen darf. Die Beachtung des Schuldprinzips geht der Verwirklichung der Strafzwecke vor.48 Dabei ist festzuhalten, dass die Verwirklichung des Schuldprinzips nicht notwendigerweise mit Einschränkungen für den Präventionsgedanken einhergeht. Eine andere Lösung als die Straffreiheit befürwortet hingegen der spanische Oberste Gerichtshof. Die Verringerung des Unrechts kompensiert dieser auf der Ebene der Strafzumessung.49 Nach dieser Rechtsfolgenlösung ist für die Verwirklichung des Fahrlässigkeitsdelikts keine vollständige Zurechnung des Erfolgsunrechts zum Zurechnungssubjekt erforderlich. Es reicht aus, dass der Erfolg auch die Verwirklichung des vom Täter geschaffenen Risikos darstellt. Dem Umstand, dass sich auch Risiken fremden Ursprungs in der Rechtsgutsverletzung realisiert haben, sei durch eine Strafmilderung zu begegnen. Entsprechend weist auch das BVerfG darauf hin, dass die Beachtung des Schuldprinzips sich prinzipiell durch eine gerechte Relation der Strafe „zur Schwere der Tat und Schuld“ auszeichnet.50 Dies diene der Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. So meint auch Wolter, dass die Rationalisierung des Unrechts „vornehmlich der Vorbereitung und Grundlegung einer rationalen Strafzumessung“ zugute komme.51 Dieser Rechtsfolgenlösung ist zuzugestehen, dass die strafzweckbezogenen Einschränkungen auf präventiver Ebene verringert werden. Jedoch bringt die unterschiedliche Behandlung der Zurechnungsproblematik im Vorsatz- und Fahrlässigkeitsbereich systematische Unregelmäßigkeiten mit sich.
47
Vgl. Wolter (Fn. 1), S. 25. Vgl. BVerfG v. 26. 2. 2008 (Akt.Z: 2 BvR 392/07); BVerfG v. 18. 1. 2008 (Akt.Z: 2 BvR 313/07), m.w.N.; ebenso siehe STC 4. 10. 2010; STC 2. 11. 2004 beide m.w.N.; ausdrücklich auch STS 5. 7. 1991; ebenso siehe Mir Puig, Derecho penal. Parte general, S. 124; Urruela Mora, Imputabilidad penal y anomalía o alteración psíquica (2004), S. 72 f. 49 Im Fall von Mitwirkung des Opferverhaltens vgl. STS 18. 3. 2002; STS 19. 10. 2000; STS 16. 5. 1988; anders STS 16. 7. 2009. 50 Vgl. BVerfG v. 26. 2. 2008 (Akt.Z: 2 BvR 392/07). 51 Wolter (Fn. 1), S. 42. 48
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Das lässt sich wie folgt skizzieren: Lösung 1: Ausschluss der Zurechnung (II.3.a)) Pro
Contra
Schuldprinzip
Präventionsprinzip
Systematische Gründe
Lösung 2: Strafmilderung kraft Unrechtsminderung Pro
Contra
Schuldprinzip
Systematische Gründe
Präventionsprinzip Verhältnismäßigkeitsprinzip
Die strukturellen Unterschiede, die zwischen fahrlässigen und vorsätzlichen Erfolgsdelikten bestehen, schwächen die Bedeutung der entgegenstehenden systematischen Bedenken. Des Weiteren haben die Pro-Argumente der zweitgenannten Lösung erhebliches Gewicht, was dazu führt, dass ich meine bisher vertretene Meinung aufgebe und mich dem zweiten Lösungsmodell anschließen möchte.52 Die hier angesprochene Problematik lässt noch viel Raum für weitere Erwägungen.53 An dieser Stelle verbleibt mir nur noch, dem hochverehrten Kollegen Wolter zu seinem 70. Geburtstag ganz herzlich zu gratulieren und ihm abermals für den wesentlichen, vorbildlichen und großzügigen Dienst zu danken, den er der Strafrechtswissenschaft mit der Schriftleitung von Goltdammer’s Archiv für Strafrecht seit Jahren geleistet hat und – hoffentlich! – noch lange leisten wird.
52 53
Anders noch Sánchez Lázaro, GA 2005, S. 700 ff. Sánchez Lázaro, GA 2010, S. 369 ff.
Verwirklichung einer unerlaubten Gefahr bei „Risikoerhöhung“ Von Kurt Schmoller Schon in seiner Habilitationsschrift hat Jürgen Wolter die „Risikoerhöhungslehre“ befürwortet und dadurch prominent zu ihrer weiteren Verbreitung beigetragen.1 Deshalb würde ich mich freuen, falls die folgenden ergänzenden Überlegungen zu diesem Thema ebenfalls auf das Interesse des Jubilars stoßen.
I. Bestandsaufnahme 1. „Risikoerhöhungslehre“ und Gegenposition Allgemein anerkannt ist heute, dass ein kausal herbeigeführter Erfolg dem Täter dann als „sein Werk“ rechtlich angelastet werden kann, wenn sein Verhalten eine unerlaubte Gefahr derartiger Erfolge geschaffen hat (= rechtlich missbilligtes Risiko = sozial inadäquate Gefahr = objektive Sorgfaltswidrigkeit des Verhaltens) und wenn sich gerade diese unerlaubte Gefahr im konkret eingetretenen Erfolg verwirklicht (= realisiert = niedergeschlagen) hat. Fehlt eine dieser Voraussetzungen, etwa weil sich nicht die durch die Tathandlung geschaffene unerlaubte Gefahr, sondern eine andere Gefahr oder ein atypischer Zufall verwirklicht hat, ist der Erfolg der Tathandlung objektiv nicht zurechenbar und dem Täter deshalb nicht anzulasten. Die rechtliche Beurteilung des Täters erfolgt in diesem Fall so, als wäre der Erfolg nicht eingetreten. Die Verwirklichung eines unerlaubten Risikos wird (nahezu) einhellig dann verneint, wenn unter den besonderen Umständen des Einzelfalls ausnahmsweise auch ein rechtmäßiges (i. S. von sorgfaltsgemäßes) Verhalten des Täters – also ein Verhalten, das sich innerhalb des erlaubten Risikos hält und das häufig als „rechtmäßiges Alternativverhalten“ bezeichnet wird – gleichermaßen zum eingetretenen Erfolg geführt hätte.2 Erforderlich ist dabei freilich, dass das „rechtmäßige Alternativverhalten“ denselben Erfolg zum selben Zeitpunkt bewirkt hätte; insofern kommt es gerade auf den nach Art und Zeitpunkt konkretisierten Erfolg an. Wäre das Opfer z. B. bei 1
Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981, S. 334 ff. 2 Z. B. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil4, 2006, § 11 Rn. 74 und 88 m.w.N. („fast allgemein anerkannt“, „weitgehend geklärt“).
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„rechtmäßigem Alternativverhalten“ des Täters erst später gestorben oder weniger schwer verletzt worden, erscheint der konkrete (frühere) Tod bzw. die konkrete (schwerere) Körperverletzung doch als Verwirklichung der unerlaubten Gefahr und ist deshalb dem Täter anzulasten. Als Standardfall für eine Verneinung der Erfolgszurechnung aufgrund des Vergleichs mit einem „rechtmäßigen Alternativverhalten“ lässt sich die Verursachung eines Verkehrsunfalls durch überhöhte Geschwindigkeit anführen, wenn der Verkehrssachverständige zum Ergebnis gelangt, dass angesichts der konkreten Umstände der verursachte Erfolg gleichermaßen auch bei Einhaltung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit eingetreten wäre. Unterschiedliche Ansichten bestehen allerdings hinsichtlich jener – nicht seltenen – Fälle, in denen nachträglich nicht verlässlich festgestellt werden kann, ob ein „rechtmäßiges Alternativverhalten“ des Täters zu genau demselben Erfolg geführt hätte, dies aber immerhin möglich oder sogar wahrscheinlich war. So kann z. B. der Verkehrssachverständige zum Ergebnis gelangen, dass auch bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit möglicherweise, aber eben nicht sicher, dieselbe Unfallfolge eingetreten wäre. Zur rechtlichen Beurteilung derartiger Fälle, in denen sich die Auswirkungen „rechtmäßigen Alternativverhaltens“ nicht verlässlich klären lassen, werden zwei unterschiedliche Ansichten vertreten: Die „Risikoerhöhungslehre“3 geht davon aus, dass sich eine vom Täter geschaffene unerlaubte Gefahr schon dann in einem kausal herbeigeführten Erfolg verwirklicht hat, wenn sich bei nachträglicher Betrachtung des stattgefundenen Geschehens und des konkreten Erfolgs sagen lässt, dass das Risiko dieses Erfolgseintritts durch das unerlaubt gefährliche Verhalten des Täters (im Vergleich zu einem „rechtmäßigen Alternativverhalten“) zumindest deutlich erhöht worden ist. Dagegen habe sich die unerlaubte Gefahr (nur dann) nicht verwirklicht und könne der Erfolg deshalb nicht zugerechnet werden, wenn sich nachträglich ergibt, dass unter den konkreten Umständen das Risiko des Erfolgseintritts beim unerlaubt gefährlichen Täterverhalten letztlich nicht messbar höher war als bei einem „rechtmäßigen Alternativverhalten“. Für die Bejahung einer Verwirklichung des Risikos sei somit erforderlich, dass die in der Tathandlung ex ante angelegte unerlaubte erhöhte Gefährlichkeit auch noch bei einer Betrachtung ex post als Gefahrenerhöhung für den konkreten Erfolg weitergewirkt hat.4 Die Gegner der „Risikoerhöhungslehre“ machen indes geltend, dass auch eine ex post festgestellte Risikoerhöhung für den konkreten Erfolgseintritt noch nicht als eine „Verwirklichung“ dieser erhöhten Gefahr angesehen werden könne. Vielmehr habe sich die in einem unerlaubt gefährlichen Verhalten angelegte erhöhte Gefahr nur dann tatsächlich verwirklicht, wenn nachträglich verlässlich festgestellt werden kann, dass „rechtmäßiges Alternativverhalten“ den Erfolg vermieden hätte. Deshalb müsse für eine Anlastung des Erfolgs nachgewiesen werden, dass der Erfolg bei 3 Erstmals formuliert von Roxin, Pflichtwidrigkeit und Erfolg bei fahrlässigen Delikten, ZStW 74 (1962) S. 411 (S. 430 ff.). 4 Vgl. unten die Nachweise in Fn. 6 und 9 bis 12.
Verwirklichung einer unerlaubten Gefahr bei „Risikoerhöhung“
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„rechtmäßigem Alternativverhalten“ nicht (in dieser Art oder zu diesem Zeitpunkt) eingetreten wäre. Wenn dieser Nachweis nicht erbracht wird, weil der Verkehrssachverständige nicht eindeutig sagen kann, was bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit genau passiert wäre, müsste in dubio pro reo entschieden und deshalb die Zurechnung des Erfolgs verneint werden.5 Nach dieser Ansicht, die eine ex post bestätigte Risikoerhöhung nicht zur Anlastung des Erfolgs ausreichen lässt, gelangt man freilich vergleichsweise oft – in dubio pro reo – zu einer Verneinung der objektiven Zurechnung.
2. Unterschiede in Deutschland und Österreich Rechtsvergleichend erscheint interessant, dass die „Risikoerhöhungslehre“ in Deutschland und Österreich auf unterschiedliche Akzeptanz gestoßen ist. In Deutschland hat sie zwar eine wachsende Zahl sehr prominenter Anhänger gefunden,6 nach wie vor wird sie aber in einem Teil der führenden Kommentare und Lehrbücher abgelehnt.7 Auch in die deutsche Rechtsprechung hat die „Risikoerhöhungslehre“ bisher keinen Eingang gefunden. Der BGH hält konsequent an der von ihm schon früh eingenommenen abweichenden Position fest, dass ein Erfolg nur angelastet werden könne, wenn „rechtmäßiges Alternativverhalten“ diesen Erfolg sicher vermieden hätte. So formuliert der BGH etwa in einer neueren Entscheidung, die fahrlässige Tötung des infolge einer Operation verstorbenen Patienten könne dem Angeklagten „nur vorgeworfen werden, wenn der Patient im Falle der medikamentösen Behandlung oder Vorbehandlung seines Tumors den tatsächlichen Todeszeitpunkt mit Sicherheit überlebt hätte“. Da dies im konkreten Fall nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden konnte, hat der BGH die erstinstanzliche Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung aufgehoben.8 Anders stellt sich die Situation in Österreich dar: Obwohl die „Risikoerhöhungslehre“ zunächst in Deutschland entwickelt wurde, hat die österreichische Strafrechtsdogmatik sie rasch rezipiert. Heute wird sie, soweit ersichtlich, im österreichischen 5
Vgl. unten die Nachweise in Fn. 7 und 8. Z. B. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil5, 1996, S. 585 f. m.w.N. in Fn. 35; Roxin (Fn. 2), § 11 Rn. 88 ff. m.w.N. in Fn. 188; Rudolphi, SK-StGB6, 1997, Vor § 1 Rn. 66; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil I6, 2011, § 8 Rn. 36 f.; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil5, 2005, § 17 Rn. 52 ff.; Hoyer, SK-StGB7, 2004, Anh. zu § 16 Rn. 72 ff.; Wolter (Fn. 1). 7 Z. B. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil2, 1993, Abschn. 7 Rn. 103 m.w.N. in Fn. 154; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, Strafgesetzbuch Kommentar28, 2010, § 15 Rn. 177 ff. m.w.N.; Gropp, Strafrecht Allgemeiner Teil3, 2005, § 12 Rn. 54; Heinrich, Strafrecht – Allgemeiner Teil3, 2012, Rn. 892 und 1044 f.; Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil4, 2009, § 33 Rn. 38; Freund, Strafrecht Allgemeiner Teil2, 2009, § 2 Rn. 49; Krey/Esser, Deutsches Strafrecht Allgemeiner Teil5, 2012, Rn. 1359 f.; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil42, 2012, Rn. 199; Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil11, 2003, § 14 Rn. 86; Vogel, LK-StGB12, 2007, § 15 Rn. 198; T. Walter, LK-StGB12, 2007, vor § 13 Rn. 101. 8 BGH JR 1994, S. 514 mit Anm. Puppe. 6
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Schrifttum einhellig vertreten.9 Anders als in Deutschland hat sich auch die Rechtsprechung schon früh der „Risikoerhöhungslehre“ angeschlossen10 und sie seither konsequent zugrunde gelegt. So stellt der OGH etwa für die objektive Zurechnung der bei einem Verkehrsunfall verursachten schweren Körperverletzung darauf ab, „ob das Risiko … – ex post betrachtet – wesentlich … höher war“ als bei einer verkehrsgerechten Fahrweise; es komme also darauf an, ob „rechtmäßiges Verhalten des Angeklagten … eine ,reale Chance‘ eröffnet hätte, die tatbestandsmäßigen Erfolge … zu verhindern“.11 Wie in Österreich scheint sich auch in der Schweiz die „Risikoerhöhungslehre“ weitgehend durchzusetzen.12 Der eher seltene Fall einer diametral abweichenden Rechtsprechung in Deutschland und Österreich in einer so grundsätzlichen Frage und bei völlig identischer Ausgangsposition gibt Anlass, die Erfordernisse der „Verwirklichung einer Gefahr“ weiter zu hinterfragen. Ist also der Siegeszug der „Risikoerhöhungslehre“ in Österreich berechtigt oder verdient die verbleibende Skepsis im deutschen Schrifttum sowie die konsequente Ablehnung in der deutschen Rechtsprechung Zustimmung?
9 Burgstaller, in: Höpfel/Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zum StGB2, § 6 Rn. 74 ff. und § 80 Rn. 87 ff.; Fuchs, Strafrecht Allgemeiner Teil I8, 2012, Kap. 13 Rn. 52 ff.; Kienapfel/ Höpfel/Kert, Grundriss des Strafrechts Allgemeiner Teil14, 2012, Z 27 Rn. 16 f.; Kienapfel/ Schroll, Strafrecht Besonderer Teil I3, 2012, § 80 Rn. 93 ff.; Leukauf/Steininger, Kommentar zum Strafgesetzbuch3, 1992, § 80 Rn. 28 ff.; Moos, in: Höpfel/Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zum StGB2, § 75 Rn. 18; Triffterer, in: Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer (Hrsg.), Salzburger Kommentar zum StGB, § 6 Rn. 83 f.; ders, Österreichisches Strafrecht Allgemeiner Teil2, 1994, Kap. 8 Rn. 135 ff.; Bertel/Schwaighofer, Österreichisches Strafrecht Besonderer Teil I12, 2012, § 80 Rn. 16; Fabrizy, Strafgesetzbuch10, 2010, § 6 Rn. 9; ders, in: Höpfel/Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zum StGB2, § 12 Rn. 45 und 86; Hilf, in: Höpfel/Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zum StGB2, § 2 Rn. 65; Hilf/Schick, Fälle und Lösungsmuster zum materiellen Strafrecht5, 2008, S. 88; Hochmayr, Strafrecht und Strafprozessrecht. 12 Diplomprüfungsfälle mit Lösungen, 2007, S. 28 f.; Lewisch, Casebook Strafrecht7, 2007, S. 105 f.; Rainer, in: Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer (Hrsg.), Salzburger Kommentar zum StGB, § 159 Rn. 52; Schick, „Tea for two“ oder „Der Tod in der Drogenszene“, in: Kienapfel (Hrsg.), Fälle und Lösungen zum Strafrecht2, 1989, S. 49 (S. 53); Wach, 18 Fälle zur Übung Strafrecht, 2012, S. 44; Steininger, Strafrecht Allgemeiner Teil II, 2012, Kap. 17 Rn. 37 ff. (skeptisch noch: Allgemeiner Teil I, 2008, Kap. 9 Rn. 21 a.E.). – Bedenken nur bei Seiler, Strafrecht Allgemeiner Teil I2, 2011, § 3 Rn. 270. 10 OLG Wien ZVR 1975/276; ZVR 1980/48; ZVR 1981/134 (alle insb. im Anschluss an Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht, 1974, 139 ff.); OGH ÖJZ-LSK 1984/125. 11 OGH JBl 2000, S. 327 mit zustimmender Anm. Burgstaller. 12 Vgl. Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht Allgemeiner Teil I4, 2011, § 9 Rn. 42 m.w.N. in Fn. 57; Jenny, in: Niggli/Wiprächtiger (Hrsg.), Strafrecht I, Basler Kommentar2, 2007, Art. 12 Rn. 99 m.w.N.; Schubarth, Kommentar zum Schweizerischen Strafrecht Besonderer Teil 1, 1982, Art. 117 Rn. 49. – Bedenken dagegen bei Seelmann, Strafrecht Allgemeiner Teil4, 2009, S. 164 f.
Verwirklichung einer unerlaubten Gefahr bei „Risikoerhöhung“
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3. Präzisierung der Fragestellung Vorweg ist noch eine Klarstellung zum Begriff der „Risikoerhöhung“ zu treffen, die zwar nicht neu und, soweit ersichtlich, auch weitgehend anerkannt ist, die aber von den Vertretern der „Risikoerhöhungslehre“ manchmal zu wenig deutlich zum Ausdruck gebracht wird. Es geht um die Unterscheidung zwischen einer mit der Tathandlung verbundenen Risikoerhöhung ex ante (die die unerlaubte Gefährlichkeit der Tathandlung begründet und deshalb auf den Handlungszeitpunkt bezogen ist) und der für die Verwirklichung der Gefahr maßgebenden Risikoerhöhung ex post (die auf der Grundlage des gesamten nachträglichen Wissens vom tatsächlichen Geschehensablauf beurteilt wird). Mit jeder unerlaubt gefährlichen (= sozial inadäquaten = objektiv sorgfaltswidrigen) Handlung ist ex ante eine Risikoerhöhung gegenüber einer Handlung verbunden, die sich im Rahmen des erlaubten Risikos hält (= sozialadäquate = objektiv sorgfaltsgemäße Handlung).13 Diese ex-ante-Risikoerhöhung ist eine Eigenschaft der Tathandlung und gerade der Grund dafür, dass sie rechtlich verboten ist; als Eigenschaft der Handlung ist diese Gefährlichkeit durch den ihr nachfolgenden Geschehensablauf nicht mehr änderbar. Selbst wenn sich also nachträglich herausstellt, dass ein „rechtmäßiges Alternativverhalten“ unter den besonderen Umständen des Einzelfalls ausnahmsweise zum genau gleichen Erfolg geführt hätte (und der Erfolg deshalb nicht zugerechnet werden kann), bleibt doch aufrecht, dass die Tathandlung ex ante unerlaubt gefährlich und deshalb verboten war und dies für vergleichbare Tathandlungen auch künftig gilt. Die „Risikoerhöhungslehre“ tangiert dagegen generell nicht die Frage einer mit der Tathandlung ex ante verbundenen (unerlaubten) Risikoerhöhung und deshalb auch nicht die Frage, ob die Tathandlung verboten oder erlaubt war. Da die „Risikoerhöhungslehre“ allein eine Aussage über die spätere Verwirklichung der Gefahr machen will, ist sie nicht auf den Zeitpunkt der Tathandlung bezogen. Vielmehr berücksichtigt sie ex post zusätzlich alle zeitlich nach der Tathandlung eingetretenen oder bekannt gewordenen Umstände, auch wenn diese zum Handlungszeitpunkt noch überhaupt nicht absehbar waren und völlig überraschend auftraten.14 Nach der „Risikoerhöhungslehre“ hängt die Erfolgszurechnung letztlich davon ab, ob die zum Zeitpunkt der Tathandlung vorgenommene Einschätzung einer Risikoerhöhung auch aus nachträglicher Sicht noch aufrechterhalten werden kann. Zeigt hingegen die nachträgliche Betrachtung, dass aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls konkret doch keine Risikoerhöhung bezüglich des eingetretenen Erfolgs stattgefunden hat, ist eine Verwirklichung des Ausgangsrisikos zu verneinen. Beide Aspekte, nämlich einerseits die auf die Schaffung einer unerlaubten Gefahr bezogene Risikoerhöhung ex ante und andererseits die auf die spätere Verwirkli13
Z. B. Wolter (Fn. 1), S. 335. Diese ex-post-Betrachtung ist unter den Vertretern der „Risikoerhöhungstheorie“ (vgl. die Nachweise in Fn. 6 sowie 9 bis 12) grundsätzlich unbestritten. 14
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chung der Gefahr bezogene Risikoerhöhung ex post, sind strikt zu trennen. Insbesondere wirkt sich die nachträgliche Beurteilung, ob (i. S. der „Risikoerhöhungslehre“) eine Risikoerhöhung ex post und damit eine Verwirklichung der Gefahr (und Zurechnung des Erfolgs) zu bejahen oder zu verneinen ist, nicht „rückwirkend“ auf die Bewertung der Tathandlung aus: Eine Verneinung der Verwirklichung der Gefahr mangels einer ex post feststellbaren Risikoerhöhung ändert nichts daran, dass die vorangegangene unerlaubt gefährliche Tathandlung verboten war (und auch vergleichbare Handlungen künftig verboten bleiben). Aus diesem Grund erscheint es etwas irreführend, wenn zur Begründung der „Risikoerhöhungslehre“ teilweise angeführt wird, eine Risikoerhöhung soll deshalb für die Erfolgszurechnung ausreichen, weil auch risikoerhöhende Handlungen verboten bleiben müssen. Beispielsweise führt Roxin als Argument für die „Risikoerhöhungslehre“ an, der Gesetzgeber müsse „auch und gerade dort auf der Befolgung der Sorgfaltsnorm bestehen, wo ihre Einhaltung zwar die Chance der Rechtsgutsbewahrung deutlich erhöht, aber nicht mit absoluter Sicherheit gewährleistet“; denn würde man eine Risikoerhöhung für die Erfolgszurechnung nicht ausreichen lassen, würde das „den Verzicht auf jegliche Sorgfaltsanforderung gerade dort bedeuten, wo besonders große Sorgfalt geboten ist“.15 Ebenso problematisch formuliert Stratenwerth zur Begründung der „Risikoerhöhungslehre“, es sei nicht zu rechtfertigen, „daß Handlungen zur Rettung eines bedrohten Rechtsgutes nur dann geboten sein sollten, wenn der Rettungserfolg so gut wie sicher ist, aber nicht, wenn sie die Rettungschance ,nur‘ wesentlich erhöhen würden“.16 Und auch Wolter argumentiert bei der Begründung der „Risikoerhöhungslehre“, es sei „nicht einzusehen, daß Handlungen nur dann verboten sein sollen, wenn die rechtmäßige Verhaltensweise mit absoluter Sicherheit oder doch an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ungefährlich und erfolglos geblieben wäre“.17 Gegenüber diesen Stellungnahmen ist zu betonen, dass jene Anforderungen, die man an die Risikoverwirklichung stellt („Risikoerhöhungslehre“ oder deren Gegenposition), generell keinen Einfluss darauf haben, wie weit ex ante die Sorgfaltsgebote reichen. Eine Handlung, die ex ante risikoerhöhend wirkt und insoweit eine unerlaubte Gefahr schafft, ist und bleibt objektiv sorgfaltswidrig und deshalb verboten. Welche Anforderungen an die (spätere) Verwirklichung der Gefahr gestellt werden, betrifft einen anderen Aspekt und hat keinen Einfluss darauf, welche Handlungen zum Schutz des jeweiligen Rechtsguts verboten sind. Dass ein Erfolg letztlich –
15 Roxin (Fn. 2), § 11 Rn. 91. Ähnliche Formulierungen finden sich in Österreich bei Fuchs (Fn. 9), Kap. 13 Rn. 59 („Denn das Gesetz verlangt mit Recht auch und gerade dort die Befolgung einer Sorgfaltsnorm, wo ihre Einhaltung … die Chance der Rechtsgutsbewahrung deutlich erhöht“) und Leukauf/Steininger (Fn. 9), § 80 Rn. 28 („… weil die jeweils in Betracht kommenden Sorgfaltspflichten zwecks Vermeidung des Erfolgs auch dann beobachtet werden müssen, wenn nicht sicher ist, ob ihre Einhaltung dieses Ergebnis haben wird“). 16 Stratenwerth, Gallas-FS, 1973, S. 227 (S. 239). 17 Wolter (Fn. 1), S. 336.
Verwirklichung einer unerlaubten Gefahr bei „Risikoerhöhung“
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mit welcher Begründung auch immer – objektiv nicht zugerechnet werden kann, ändert generell nichts am Vorliegen einer unerlaubt gefährlichen Handlung.18 Bei den folgenden Überlegungen kann deshalb die Frage vollständig ausgeblendet werden, gegen welche Verhaltensweisen ein Rechtsgut zu schützen ist; denn dafür ist die Gefährlichkeit der Handlung ex ante maßgeblich. Vielmehr geht es allein darum, unter welchen Voraussetzungen ex post von der „Verwirklichung“ einer durch die Tathandlung geschaffenen unerlaubten Gefahr gesprochen werden kann. Auf diesen Aspekt sollte sich der Meinungsstreit um die „Risikoerhöhungslehre“ konzentrieren.
II. Überlegungen zur „Verwirklichung einer Gefahr“ 1. Kein wahrnehmbarer Vorgang Die Problematik besteht darin, dass nicht leicht zu erfassen ist, was genau mit der gängigen Formulierung gemeint ist, eine Gefahr habe sich in einem eingetretenen Erfolg – oder allgemeiner: eine gewisse Wahrscheinlichkeit habe sich in einem später eingetretenen Ereignis – „verwirklicht“ (= realisiert = niedergeschlagen). Die Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass diese „Verwirklichung“ nicht ein empirisch beobachtbarer und insofern unmittelbar wahrnehmbarer Vorgang ist. Einer empirischen Beobachtung zugänglich sind nur jene Umstände, aus denen die Wahrscheinlichkeit bzw. Gefahr eines späteren Ereignisses abgeleitet wird, ferner der tatsächliche Ablauf der miteinander kausal verbundenen Ereignisse, also der konkrete Weg der Erfolgsherbeiführung. Man kann daher zum einen jene Umstände erheben, die eine Wahrscheinlichkeit bzw. Gefahr begründen, zum anderen die Kausalkette beobachten, die letztlich zum eingetretenen Erfolg geführt hat. Ob aber der eingetretene Erfolg eine „Verwirklichung“ der ursprünglich vorliegenden Gefahr ist, lässt sich nicht empirisch wahrnehmen, sondern kann nur durch Bewertung entschieden werden. Folgendes Beispiel möge dies verdeutlichen: Wenn jemand einen Würfel wirft, auf dessen Seiten die Zahlen von „eins“ bis „sechs“ verzeichnet sind, lässt sich aufgrund dieser empirischen Beobachtung die Wahrscheinlichkeit, die Zahl „sechs“ zu würfeln, mit einem Sechstel (= 16,66 %) bestimmen. Wurde anschließend tatsächlich die Zahl „sechs“ gewürfelt, lässt sich nachträglich empirisch feststellen, wo und wie schnell der Würfel gerollt bzw. wo er zum Stillstand gekommen ist und welche Zahl er anzeigt. Der Umstand, dass sich offenkundig die ursprüngliche Wahrscheinlichkeit von einem Sechstel in dem konkreten Würfelvorgang „verwirklicht“ hat, lässt sich allerdings im Sachverhalt nirgends explizit ablesen. Es handelt sich vielmehr bei der Aussage, die Wahrscheinlichkeit von einem Sechstel habe sich „ver-
18 Zutreffend hervorgehoben von Küper, Lackner-FS, 1987, S. 255 f.; Kühl (Fn. 6), § 17 Rn. 55 f.
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wirklicht“, allein um eine gedankliche Verknüpfung zwischen der ursprünglich bestehenden Wahrscheinlichkeit und dem anschließend eingetretenen Ereignis. Die gedankliche Verknüpfung, die es ermöglicht, im beschriebenen Fall von einer „Verwirklichung“ der Wahrscheinlichkeit zu sprechen, vergleicht das Wahrscheinlichkeitsurteil mit dem anschließenden Geschehensablauf. Es wird geprüft, ob sich die Wahrscheinlichkeitsaussage genau auf solche Ereignisse bezogen hat, wie das durch den anschließenden Geschehensablauf eingetretene. Im Würfelbeispiel ist dies evident zu bejahen: Die Wahrscheinlichkeit in Höhe eines Sechstels, die Zahl „sechs“ zu würfeln, bezog sich auf den einfachen Wurf eines normal beschaffenen Würfels; genau ein solcher hat stattgefunden und zur gewürfelten Zahl „sechs“ geführt. Mehr als dass der konkrete Geschehensablauf zu jenen Abläufen gehört, auf die sich die ursprüngliche Wahrscheinlichkeitsaussage bezogen hat, ist nicht erforderlich, um von einer – empirisch nicht näher beobachtbaren – „Verwirklichung“ dieser Wahrscheinlichkeit zu sprechen.
2. „Verwirklichung“ als Relation zwischen Gefahr und Erfolg Das Phänomen der „Verwirklichung“ einer Gefahr (oder allgemeiner einer Wahrscheinlichkeit) erweist sich somit als eine (bloße) Relation zwischen Gefahr und Erfolg. Diese Relation lässt sich nicht im Sachverhalt „ablesen“, sondern ergibt sich aus der Bewertung, dass das ursprüngliche Gefahrenurteil sich auf Vorgänge wie den tatsächlich stattgefundenen erstreckt hat. Maßstab dieser Bewertung ist eine ex-postÜberprüfung des ursprünglich ex ante erstellten Gefahren- bzw. Wahrscheinlichkeitsurteils: Es muss der Frage nachgegangen werden, ob das ursprünglich ex ante getroffene Gefahren- bzw. Wahrscheinlichkeitsurteil hinsichtlich des Eintritts eines bestimmten Ereignisses nunmehr ex post – d. h. unter Einbeziehung des zum jeweiligen Ereignis führenden Kausalverlaufs sowie aller zusätzlich bekannt gewordenen Umstände – unverändert aufrechterhalten werden kann. Gelangt man danach ex post zum Ergebnis, dass die ursprünglich prognostizierte Wahrscheinlichkeit auch noch aus nachträglicher Sicht die Wahrscheinlichkeit des (mittlerweile eingetretenen) Erfolgs treffend wiedergegeben hat, lässt sich sagen, die ursprünglich prognostizierte Wahrscheinlichkeit habe sich „verwirklicht“. Sind hingegen ex post zusätzliche Umstände bekannt geworden, aufgrund deren nunmehr gesagt werden muss, dass die ursprüngliche Wahrscheinlichkeitsprognose (weil sie damals von anderen Voraussetzungen ausgegangen ist) aus nachträglicher Sicht nicht zutraf, so hat sich diese ursprüngliche Wahrscheinlichkeit nicht verwirklicht. Zur Verdeutlichung kann an das oben beschriebene Würfelbeispiel angeknüpft werden: Beträgt die Wahrscheinlichkeit, die Zahl „sechs“ zu würfeln, ex ante (also vor Beginn der Wurfvorgangs, beispielsweise vom Standpunkt eines Spielbeobachters) ein Sechstel und wird anschließend tatsächlich die Zahl „sechs“ gewürfelt, lässt sich für den Regelfall ebenso ex post sagen, dass die Wahrscheinlichkeit
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des konkreten Würfelergebnisses ein Sechstel betrug; damit hat sich die ursprünglich prognostizierte Wahrscheinlichkeit „verwirklicht“. Anders ist die Situation dagegen, wenn sich nachträglich z. B. herausstellt, dass der Würfel (entgegen der ex-ante-Erwartung des Spielbeobachters) nicht ordnungsgemäß geworfen, sondern bereits mit der Zahl „sechs“ auf der Oberseite nur auf dem Tisch verschoben wurde. In diesem Fall ist ex post gesehen die Wahrscheinlichkeit, dass der Würfel zuletzt die Zahl „sechs“ zeigt, mit nahezu 100 %19 zu veranschlagen. Bei diesem nachträglichen Wissen lässt sich nicht sagen, es habe sich die Ausgangswahrscheinlichkeit von „einem Sechstel“ verwirklicht, weil ex post eben eine ganz andere Wahrscheinlichkeit bestand. Dasselbe würde gelten, wenn sich nachträglich z. B. herausstellt, dass der Würfel (ex ante nicht erkennbar) durch unregelmäßige Gewichtsverteilung so manipuliert war, dass die Wahrscheinlichkeit, die Zahl „sechs“ zu erreichen, bei diesem Würfel höchstens 5 % (statt 16,66 %) betrug. Wenn anschließend tatsächlich die Zahl „sechs“ gewürfelt worden ist, lässt sich nachträglich ebenfalls nicht mehr sagen, es habe sich die ursprüngliche „Chance von einem Sechstel“ verwirklicht, denn es hat sich in Wahrheit eine andere Wahrscheinlichkeit (eben jene von ca. 5 %) verwirklicht. Für die Erfolgszurechnung im Strafrecht ist daraus die Konsequenz zu ziehen, dass es für die „Verwirklichung“ einer Gefahr in einem konkret eingetretenen Erfolg darauf ankommt, ob sich die ex ante abgegebene Gefahrenprognose auch nach dem ex post verfügbaren Wissen aufrechterhalten lässt. Allerdings besteht im Strafrecht die weitere Schwierigkeit, dass es nicht einfach um die Verwirklichung einer Gefahr, sondern um die Verwirklichung einer unerlaubten (erhöhten) Gefahr geht. Es sind deshalb noch zusätzliche Überlegungen erforderlich. 3. Verwirklichung einer „erhöhten“ Gefahr Oft werden Gefahren bis zu einem bestimmten Ausmaß von der Rechtsordnung toleriert; die Herbeiführung einer solchen „sozialadäquaten“ Gefahr ist dann erlaubt. Resultiert aus einer solchen Gefahr ein Erfolg, wird dieser dem Täter strafrechtlich nicht angelastet. Schafft jemand hingegen durch sein Verhalten eine das Ausmaß des rechtlich tolerierten Risikos übersteigende „erhöhte“ und daher unerlaubte Gefahr und tritt ein entsprechender Erfolg ein, so muss geprüft werden, ob der Erfolg als Verwirklichung der „erhöhten“ Gefahr angesehen werden kann. Erneut soll dabei auf das angesprochene Würfelbeispiel zurückgegriffen werden, wobei an die Stelle der „erhöhten Gefahr“ die „erhöhte Wahrscheinlichkeit“, eine bestimmte Zahl zu würfeln, tritt. Bei einem herkömmlichen Würfelvorgang beträgt die Wahrscheinlichkeit, die Zahl „sechs“ zu würfeln, wie gesagt ein Sechstel. Diese Wahrscheinlichkeit kann man dadurch maßgeblich erhöhen, dass man zwei Würfel gleichzeitig wirft. Die Wahrscheinlichkeit, dass am Ende des Würfelvorgangs min19 Allenfalls könnte es sein, dass der Würfel beim „Verschieben“ versehentlich umkippt, aber diese Wahrscheinlichkeit ist sehr gering.
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destens einer der beiden Würfel die Zahl „sechs“ aufweist, beträgt dann insgesamt fast ein Drittel (30,55 %20), ist also fast doppelt so hoch wie beim Wurf eines einzigen Würfels (16,66 %). Wenn nun nach einem gleichzeitigen Wurf der beiden Würfel tatsächlich (insgesamt einmal) die Zahl „sechs“ erzielt wird, kann man die Frage aufwerfen, ob sich in diesem konkreten Ergebnis jene erhöhte Wahrscheinlichkeit verwirklicht hat, die durch die Hinzunahme eines zweiten Würfels geschaffen wurde. Die Fragestellung erscheint in dieser Situation deshalb aufschlussreich, weil evidentermaßen praktisch nie geklärt werden kann, welches Ergebnis erzielt worden wäre, wenn die Person anstelle der beiden Würfel nur einen einzigen geworfen hätte (als „Alternativverhalten“ mit ursprünglicher Wahrscheinlichkeit). Deshalb lässt sich generell nicht feststellen, ob genau die Hinzunahme des zweiten Würfels dafür ausschlaggebend war, dass die Zahl „sechs“ erzielt wurde (oder ob dieses Ergebnis konkret auch mit einem Würfel erzielt worden wäre). Kann man also in dieser Situation sagen, es habe sich die erhöhte Wahrscheinlichkeit des Werfens zweier Würfel „verwirklicht“? In Wahrheit kommt es ohnehin nicht vorrangig auf einen Vergleich mit dem Wurf eines einzigen Würfels (der eben praktisch nicht durchzuführen ist) an. Vorstehend (unter 1. und 2.) wurde dargelegt, dass die „Verwirklichung“ einer Wahrscheinlichkeit im Allgemeinen anhand der Beurteilung zu messen ist, ob eine ex ante erstellte Wahrscheinlichkeitsprognose letztlich einer Nachprüfung ex post (unter Einbeziehung aller nachträglich bekannt gewordenen Umstände) standhält. Im Fall einer ex ante erhöhten Wahrscheinlichkeit (wie durch die Hinzunahme eines zweiten Würfels) kann deshalb von einer „Verwirklichung“ dieser erhöhten Wahrscheinlichkeit schon dann (und stets dann) gesprochen werden, wenn die Annahme einer entsprechend erhöhten Wahrscheinlichkeit auch ex post (unter Einbeziehung aller nachträglich bekannt gewordenen Umstände) aufrechtzuerhalten ist. Wenn also die Chance, durch gleichzeitiges Werfen zweier Würfel mindestens einmal die Zahl „sechs“ zu erreichen, ex ante fast ein Drittel beträgt, ist – nachdem tatsächlich die Zahl „sechs“ gewürfelt wurde – zu prüfen, ob sich die Wahrscheinlichkeit von fast einem Drittel auch ex post, unter Einbeziehung des konkreten Geschehensablaufs und aller nachträglich erkennbaren Umstände, bestätigt. Ist dies der Fall, so lässt sich schon daraus die Aussage ableiten, es habe sich die (erhöhte) Wahrscheinlichkeit von eben fast einem Drittel „verwirklicht“ (auf den Vergleich mit einem „Alternativverhalten“ kommt es dann gar nicht mehr an). Aus dem angeführten Beispiel wird deutlich, dass sich immer nur sagen lässt, eine Wahrscheinlichkeit bestimmten Ausmaßes habe sich verwirklicht oder eben nicht. Eine Aussage über „Wahrscheinlichkeits-Teile“ ist hingegen nicht möglich. Hat 20 Die Wahrscheinlichkeit von 30,55 % errechnet sich folgendermaßen: Insgesamt sind beim gleichzeitigen Wurf zweier Würfel 6 x 6 = 36 Ergebnisse möglich. Die Anzahl jener Ergebnisse, bei denen die Zahl „sechs“ nicht enthalten ist, beträgt dabei 5 x 5 = 25. Somit 25 beträgt die Wahrscheinlichkeit eines Würfelergebnisses ohne die Zahl „sechs“ 36; die Wahr25 11 scheinlichkeit eines Würfelergebnisses mit der Zahl „sechs“ ergibt sich dann als 1 – 36= 36 = 0,3055; in Prozenten: 30,55 %.
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sich z. B. eine Wahrscheinlichkeit von ca. 30 % verwirklicht, kann diese Aussage nur insgesamt getroffen werden. Es ergäbe hingegen keinen Sinn zu fragen und ist auch gar nicht beantwortbar, ob sich dabei die „unteren“ 16 % oder die „oberen“ 14 % dieser Wahrscheinlichkeit verwirklicht haben.21 Deshalb kann im Fall einer „erhöhten“ Wahrscheinlichkeit stets nur eine Aussage darüber getroffen werden, ob sich diese erhöhte Wahrscheinlichkeit als solche verwirklicht hat; dies ist eben schon dann der Fall, wenn die erhöhte Wahrscheinlichkeit auch aus nachträglicher Sicht bestanden hat. Wenn also jemand zwei Würfel gleichzeitig wirft und dabei mit mindestens einem Würfel die Zahl „sechs“ erzielt, hat sich darin im Regelfall die Ausgangswahrscheinlichkeit von fast einem Drittel tatsächlich „verwirklicht“. Dagegen hat sich bei einem gleichzeitigen Wurf zweier Würfel das durch den zweiten Würfel erhöhte Risiko, die Zahl „sechs“ zu würfeln, dann nicht verwirklicht, wenn bei einer ex-post-Betrachtung neue Umstände hervorkommen, die die erhöhte Wahrscheinlichkeit paralysieren, also die ex ante durch den zweiten Würfel erhöhte Wahrscheinlichkeit auf jene Wahrscheinlichkeit reduzieren, die auch beim Wurf eines einzigen Würfels gegeben wäre, somit auf ein Sechstel. Dies wäre z. B. gegeben, wenn beim Wurf einer der beiden Würfel unwiederbringlich in ein Kanalgitter fällt und der verbliebene zweite Würfel die Zahl „sechs“ aufweist. Denn dafür, dass bei einem Wurf von zwei Würfeln, bei denen einer während des Wurfs verloren geht, der verbleibende die Zahl „sechs“ erreicht, besteht wiederum genau die Wahrscheinlichkeit von einem Sechstel; nachträglich gesehen bestand somit im konkreten Fall keine höhere Wahrscheinlichkeit als beim Wurf mit einem einzigen Würfel. Gleiches würde etwa gelten, wenn ein Würfel beim Aufprall zerbricht oder wenn sich nachträglich herausstellt, dass beide Würfel (ex ante nicht erkennbar) durch eine unregelmäßige Gewichtsverteilung so manipuliert waren, dass die Wahrscheinlichkeit, die Zahl „sechs“ zu würfeln, auch beim gleichzeitigen Wurf beider Würfel unter einem Sechstel lag. In solchen Fällen, in denen das ex ante erstellte Wahrscheinlichkeitsurteil von fast einem Drittel ex post in eine Wahrscheinlichkeit von nicht mehr als einem Sechstel korrigiert werden muss, lässt sich nicht mehr sagen, es habe sich die durch die Hinzunahme eines zweiten Würfels erhöhte Wahrscheinlichkeit verwirklicht. Aus diesen Erkenntnissen zur Verwirklichung einer „erhöhten“ Wahrscheinlichkeit lassen sich Schlussfolgerungen für die rechtliche Beurteilung ziehen, unter welchen Voraussetzungen von der Verwirklichung einer „unerlaubten“ Gefahr gesprochen werden kann. 4. Verwirklichung einer „unerlaubten“ Gefahr – „Risikoerhöhungslehre“ Eine „unerlaubte“ Gefährlichkeit (des Verhaltens) meint eine gegenüber einer sozialadäquaten, rechtlich tolerierten Gefahr „erhöhte“ Gefahr, die von der Rechtsord21
Vgl. unterstützend dazu die Nachweise unten in Fn. 23.
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nung nicht mehr hingenommen, sondern eben als „unerlaubt“ bewertet wird. Bei der Frage, ob sich ein solches „unerlaubtes“ Risiko in einem konkreten Erfolg verwirklicht hat, lassen sich zwei Komponenten unterscheiden: Zum einen ist zu prüfen, ob das erhöhte Risiko gerade deshalb verboten war, um Erfolge der eingetretenen Art zu vermeiden. Dies betrifft den (hier nicht näher zu untersuchenden) Schutzzweck jener Rechtsvorschrift, aus der sich die Unerlaubtheit des Risikos ergibt. Zum andern geht es – unabhängig vom Schutzzweck des Verbots – um die (hier interessierende) Frage, ob sich gerade jenes „erhöhte“ Risiko, das Anlass für die normative Bewertung als unerlaubt war, verwirklicht hat, also um jenen Bereich, der traditionell durch den Vergleich mit einem „rechtmäßigen Alternativverhalten“ gekennzeichnet ist.22 Bei diesem zweiten Aspekt steht nicht die normative Bewertung als „unerlaubt“, sondern das gegenüber dem erlaubten Risiko statistisch „erhöhte“ Risiko im Vordergrund. Zu beurteilen ist insoweit also nicht primär die Verwirklichung des „unerlaubten“, sondern jene des (dieser Bewertung zugrundeliegenden) statistisch „erhöhten“ Risikos. Deshalb ist die Fragestellung insoweit strukturell nicht anders gelagert als allgemein jene nach der Verwirklichung einer „erhöhten“ Wahrscheinlichkeit, etwa im angeführten Würfelbeispiel. Im Beispiel des gleichzeitigen Wurfs zweier Würfel hat sich gezeigt: Die durch Hinzunahme des zweiten Würfels ex ante erhöhte Wahrscheinlichkeit, die Zahl „sechs“ zu erzielen, verwirklicht sich in einem solchen Ergebnis stets dann, wenn die erhöhte Wahrscheinlichkeit auch bei einer ex-post-Betrachtung (unter Einbeziehung des konkreten Geschehensablaufs und aller sonst nachträglich bekannt gewordenen Umstände) bestätigt wird, d. h. wenn auch aus nachträglicher Sicht gesagt werden kann, dass die Wahrscheinlichkeit, die Zahl „sechs“ zu würfeln, durch die Hinzunahme des zweiten Würfels entsprechend erhöht worden ist. Dagegen ist eine Verwirklichung der erhöhten Wahrscheinlichkeit dann zu verneinen, wenn nachträglich Umstände bekannt werden, die ex post belegen, dass die Wahrscheinlichkeit im Einzelfall (entgegen der ex-ante-Prognose) gar nicht höher war als beim Wurf eines einzigen Würfels. Legt man diese Maßstäbe auf die Verwirklichung einer unerlaubten Gefahr bei der rechtlichen Erfolgszurechnung um, so führen sie genau zur Risikoerhöhungslehre: Das ex ante erhöhte (und deshalb unerlaubte) Risiko verwirklicht sich dann im konkret eingetretenen Erfolg, wenn die Prognose eines erhöhten Risikos auch einer Überprüfung ex post (unter Einbeziehung des konkreten Geschehensablaufs und aller nachträglich bekannt gewordenen Umstände) standhält.23 Dagegen hat sich 22 Beide Aspekte werden besonders deutlich unterschieden von Wolter (Fn. 1), S. 334 ff. und S. 341 ff. 23 Es geht somit immer nur um die Verwirklichung des erhöhten (unerlaubten) Risikos. Da sich jeweils nur beurteilen lässt, ob sich ein tatsächlich geschaffenes Risiko insgesamt verwirklicht hat, wäre es nicht möglich, das geschaffene Risiko in einen erlaubten und einen unerlaubten Anteil aufzuspalten und danach zu fragen, ob sich der „unerlaubte Risikoanteil“ verwirklicht hat (vgl. schon oben bei Fn. 21); näher dazu Küper (Fn. 18), S. 247 (S. 254, 286);
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das erhöhte Risiko dann nicht verwirklicht, wenn sich ex post herausstellt, dass das unerlaubte Verhalten aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls zu gar keinem höheren Risiko des konkreten Erfolgseintritts geführt hat als ein entsprechendes erlaubtes Risiko. Im Ergebnis zeigt sich somit, dass das Phänomen „Verwirklichung einer Gefahr“ durch die „Risikoerhöhungslehre“ zutreffend erfasst wird. Der von der Gegenansicht eingenommene Standpunkt, dass von der „Verwirklichung“ einer unerlaubten Gefahr nur dann gesprochen werden könne, wenn „rechtmäßiges Alternativverhalten“ den Erfolg klar vermieden hätte, stellt dagegen an die „Verwirklichung“ eines Risikos zu hohe Anforderungen. Im Würfelbeispiel würde diese Ansicht zu dem wenig überzeugenden Ergebnis führen, dass sich die durch Hinzunahme eines zweiten Würfels erhöhte Wahrscheinlichkeit praktisch nie verwirklichen könnte, weil sich die Feststellung, dass beim Wurf eines einzigen Würfels die Zahl „sechs“ nicht erzielt worden wäre, tatsächlich in keinem Fall verlässlich treffen lässt. In Wahrheit ist jedoch letztlich nicht maßgebend, welches Geschehen sich hypothetisch bei einem gedachten „Alternativverhalten“ ereignet hätte (was i. d. R. schwer einschätzbar ist), sondern stets nur, ob sich eine ex ante erhöhte Gefährlichkeit auch noch unter Einbeziehung allen ex post verfügbaren Wissens als eine entsprechende Risikoerhöhung darstellt.24 Der Vergleich mit einem „rechtmäßigen Alternativverhalten“ ist nicht mehr als ein oft anschauliches gedankliches Hilfsmittel bei der Beurteilung der Frage, ob eine ex-ante-Wahrscheinlichkeit durch die nachträgliche ex-post-Betrachtung bestätigt wird.25 5. Vereinbarkeit mit „in dubio pro reo“ Einer der Haupteinwände gegen die Risikoerhöhungslehre, sie verstoße, indem sie auch bei Ungewissheit über die Folgen eines „rechtmäßigen Alternativverhaltens“ zur Erfolgszurechnung gelange, gegen den Grundsatz „in dubio pro reo“,26 erweist sich nach den vorstehenden Erörterungen als nicht tragfähig. Denn primär nachgewiesen werden muss im Strafverfahren nicht, was hypothetisch (im Fall rechtmäßigen Alternativverhaltens) geschehen wäre, sondern was tatsächlich geschehen ist. Aus dem Bereich des tatsächlichen Geschehens ist nachzuweisen, dass der Erfolg durch das Täterverhalten kausal bewirkt wurde und dass sich in ihm ein durch die Roxin (Fn. 2), § 11 Rn. 90; Rudolphi (Fn. 6), Vor § 1 Rn. 68; Wolter (Fn. 1), S. 338; Fuchs (Fn. 9), Kap. 13 Rn. 59. 24 Die Einsicht, dass letztlich nicht ein hypothetischer Geschehensablauf bei einem gedachten anderen Täterverhalten, sondern ein „Risikovergleich“ maßgebend ist, wird ausführlich begründet bei Küper (Fn. 18), S. 282 ff.; diesem folgend auch Kühl (Fn. 6), § 17 Rn. 56. 25 Ebenso Küper (Fn. 18), S. 283, der den Geschehensablauf bei einem „sorgfaltsgerechten Alternativverhalten“ als (bloße) „Perspektive“ bzw. die sich daraus ergebende „Unvermeidlichkeit des Schadens“ als „heuristisches Prinzip“ einordnet, das sich für den „Risikovergleich einsetzen“ lässt. 26 Vgl. die meisten der in Fn. 7 genannten Autoren. Ausdrücklich anders allerdings Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 7), § 15 Rn. 179/179a a.E.
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Tathandlung geschaffenes unerlaubtes Risiko „verwirklicht“ hat. Der Gegenstand des Nachweises hängt somit davon ab, was unter „Verwirklichung“ eines unerlaubten Risikos zu verstehen ist. Wenn für diese Verwirklichung letztlich gar nicht der hypothetische Geschehensablauf bei „rechtmäßigem Alternativverhalten“ relevant ist, sondern ob sich die exante-Prognose, nach der mit der Tathandlung ein höheres als das erlaubte Risiko verbunden war, durch eine ex-post-Betrachtung des konkret eingetretenen Erfolgs und aller nachträglich bekannt gewordenen Umstände bestätigen lässt, so ist auch nur dieser Inhalt Beweisgegenstand. Somit muss von vornherein kein anderer Inhalt bewiesen werden, als dass im Hinblick auf den eingetretenen Erfolg die ex-ante-Prognose eines erhöhten Risikos bei einer ex-post-Beurteilung aufrechterhalten werden kann. Ist dieser Nachweis einer „ex-post-Risikoerhöhung“ gelungen,27 so ist die erforderliche „Verwirklichung“ des vom Täter geschaffenen erhöhten (unerlaubten) ex-anteRisikos bewiesen. Ein Spielraum für einen Zweifel, der in dubio pro reo zu lösen wäre, bleibt dann nicht. Der Grundsatz „in dubio pro reo“ kann deshalb die Erfolgszurechnung bei nachgewiesener „ex-post-Risikoerhöhung“ nicht in Frage stellen.
III. Sonderprobleme Aufbauend auf diesen allgemeinen Ergebnissen zur „Verwirklichung einer Gefahr“ sollen im Folgenden noch Sonderprobleme erörtert werden, die nicht endgültig geklärt sind. 1. Gleichrangig „konkurrierende“ Risiken Schwierigkeiten bereitet die Beurteilung jener Fälle, in denen mehrere Personen je für sich unerlaubt riskante Verhaltensweisen gesetzt haben, die für einen gemeinsamen Erfolg kausal geworden sind, und sich herausstellt, dass schon eine einzige dieser unerlaubten Verhaltensweisen zur Herbeiführung des Erfolgs ausgereicht hätte.28 Es ergeben sich dabei ähnliche Probleme wie im Rahmen der Kausalitätsprüfung bezüglich der „Mehrfachkausalität“. Hinsichtlich der Kausalität ist heute allgemein anerkannt, dass diese auch bei „Mehrfachkausalität“ zu bejahen ist.29 Im Be-
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Vgl. dazu ergänzend unten III. 3. Näher zu diesem Fragenbereich insb. Burgstaller, Moos-FS, 1997, S. 55 ff.; Kindhäuser, GA 2012, S. 134 ff.; Puppe, Roxin-FS, 2001, S. 287 ff.; Jakobs (Fn. 7), Abschn. 7 Rn. 83a. 29 In derartigen Fällen führt zwar die „conditio sine qua non“-Formel in die Irre, weil der Erfolg eben auch ohne die einzelne Handlung (durch die jeweils andere) eingetreten wäre. Dies liegt aber daran, dass die „conditio sine qua non“-Formel letztlich eine andere logische Verknüpfung umschreibt („wenn nicht, dann nicht“) als die Kausalität („wenn, dann“). Nach der zutreffenden Formel von der „gesetzmäßigen Bedingung“ ist die Kausalität auch in den Fällen der Mehrfachkausalität zu bejahen. 28
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reich der objektiven Erfolgszurechnung stellen sich unter dem Aspekt des „rechtmäßigen Alternativverhaltens“ die Probleme analog.30 Abgesehen von dem weniger praxisnahen Standardbeispiel, dass mehrere Personen unabhängig voneinander dem Getränk des Opfers je eine tödliche Dosis Gift beimengen (wobei auch nur eine solche Dosis ebenso rasch zum Gifttod geführt hätte),31 lassen sich etwa folgende Beispiele anführen: Auf einer engen zweispurigen Straße fahren zwei einander entgegenkommende Autobusse vorschriftswidrig jeweils in der Mitte der beiden Fahrspuren, sodass es zu einer Frontalkollision kommt. Nachträglich wird festgestellt, dass es für eine Kollision mit vergleichbaren Folgen schon ausgereicht hätte, wenn nur einer der beiden Autobusse vorschriftswidrig in der Straßenmitte gefahren wäre, weil er auch mit einem vorschriftsgemäß rechtsfahrenden entgegenkommenden Autobus frontal (lediglich etwas seitlich versetzt) kollidiert wäre.32 Im Schrifttum findet sich ferner das Beispiel eines fehlerhaft gewarteten Aufzugs, dessen Seile nicht mehr in der Lage sind, das höchstzulässige Gesamtgewicht zu tragen, und der in der Folge abstürzt, nachdem er mit dem Dreifachen des höchstzulässigen Gewichts beladen wurde, also mit einem Gewicht, das er auch bei ordnungsgemäßer Wartung nicht tragen hätte können.33 Die Beurteilung, ob sich in derartigen Fällen das von einem Täter geschaffene unerlaubte Risiko im konkret eingetretenen Erfolg „verwirklicht“ hat, erscheint deshalb fraglich, weil man bei einem strikten Vergleich mit „rechtmäßigem Alternativverhalten“ zum Ergebnis käme, dass bei rechtmäßigem Verhalten eines der beiden Täter der Erfolg dennoch in gleicher Weise eingetreten wäre (weil ja das unerlaubte Verhalten des anderen Täters für die Erfolgsherbeiführung ausgereicht hätte). Dies gilt wechselseitig für beide Täter, sodass man zu dem wenig plausiblen Ergebnis gelangen würde, dass der eingetretene Erfolg (trotz doppelt unerlaubter Verursachung) keinem der beiden Täter zurechenbar wäre. Die Problematik stellt sich im Übrigen für die Vertreter der „Risikoerhöhungslehre“34 gleichermaßen wie für jene der abweichenden Ansicht, nach der eine bloße „Ri-
30 Burgstaller (Fn. 28), S. 65 und (Fn. 6), § 6 Rn. 77 spricht insofern von einem „normativen Analogon“ zur Doppelkausalität, Puppe (Fn. 28), S. 289 ff. von einer „Doppelkausalität von Sorgfaltspflichtwidrigkeiten“. 31 Für viele z. B. Kindhäuser (Fn. 28), S. 138. 32 Vgl. Burgstaller (Fn. 28), S. 56 (mit Verweis auf einen solchen Anlassfall: BG Leibnitz v. 15. 12. 1988, 3 U 315/88 bzw. LG Graz v. 30. 3. 1989, 1b Bl 34/89); Kindhäuser (Fn. 28), S. 147. – Anders als im vorstehend erwähnten Gift-Fall handelt es sich dabei allerdings auf der Ebene der Kausalität nicht um einen Fall der Mehrfachkausalität, weil es für eine Kollision nicht ausgereicht hätte, wenn ein Bus allein unterwegs gewesen wäre; nur durch das Zusammenwirken beider Busfahrten konnte es zur Kollision kommen; vgl. Burgstaller, a.a.O., S. 60. Die angesprochene Problematik entsteht hier deshalb allein im Bereich der Risikoverwirklichung (als Voraussetzung der objektiven Erfolgszurechnung). 33 Jakobs (Fn. 7), Abschn. 7 Rn. 83a. 34 Vgl. z. B. Burgstaller (Fn. 28).
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sikoerhöhung“ nicht zur Erfolgszurechnung ausreichen soll.35 Denn auch wenn man eine „Risikoerhöhung gegenüber rechtmäßigem Alternativverhalten“ für die Erfolgszurechnung ausreichen lässt, ergibt sich ex post, dass jede der beiden Verhaltensweisen das Risiko nicht einmal erhöht hat, weil der Erfolg auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten aufgrund des Verhaltens des anderen Täters mit Sicherheit ebenfalls eingetreten wäre; dieser Befund gilt ebenfalls wechselseitig für beide Täter.36 Eine angemessene Lösung wird indes durch die Einsicht erleichtert, dass es primär um die Frage geht, ob sich ein unerlaubtes Risiko „verwirklicht“ hat, und dass der Vergleich mit „rechtmäßigem Alternativverhalten“ dazu nur ein Hilfsmittel darstellt.37 Dieses Hilfsmittel passt allerdings nicht für jede Fallkonstellation: So wie bei Mehrfachkausalität das Hilfsmittel der „conditio sine qua non“-Formel in die Irre führt (weil nach ihr keine der zusammentreffenden Ursachen kausal wäre), gelangt man in den hier problematisierten Fällen mit dem Hilfsmittel eines Vergleichs mit „rechtmäßigem Alternativverhalten“ zu unstimmigen Ergebnissen. Es erweist sich deshalb als sinnvoll, in derartigen Fällen das Augenmerk direkt auf die Frage der „Risikoverwirklichung“ zu richten. Dabei geht es um den Sonderfall, dass zwei ex ante erhöhte Risiken in einer Weise miteinander „konkurrieren“, dass sich ex post im eingetretenen Erfolg ein (Gesamt-)Risiko verwirklicht hat, das letztlich nicht höher war als das von jedem einzelnen Täter für sich herbeigeführte (erhöhte) ex-ante-Risiko. Die Besonderheit besteht zudem darin, dass für beide ex-ante-Risiken genau dieselbe Situation vorliegt, sodass ihre Verwirklichung nicht unterschiedlich behandelt werden kann, d. h. es hat sich entweder keines der beiden erhöhten Risiken oder es haben sich beide erhöhten Risiken gleichermaßen „verwirklicht“. Das mögliche Ergebnis, es habe sich keines der beiden erhöhten Risiken verwirklicht, ist allerdings nicht plausibel, weil ja durch die unerlaubten Verhaltensweisen tatsächlich ein Erfolg herbeigeführt wurde, sich also wenigstens ein unerlaubtes Risiko verwirklicht haben muss. Zum Vergleich soll noch einmal auf ein allgemeines Würfelbeispiel zurückgegriffen werden: Angenommen, ein Spielteam aus zwei Spielern darf dann den ersten Spielzug setzen (= Teamziel), wenn es zuvor die Zahl „sechs“ würfelt; beide Spieler werfen dabei gleichzeitig je einen Würfel. Ex ante beträgt in dieser Konstellation die Wahrscheinlichkeit, das Teamziel zu erreichen, wie oben ausgeführt, 30,55 %.38 Zu dieser Wahrscheinlichkeit trägt jeder der beiden Teamspieler durch das Werfen seines Würfels denselben Anteil bei. Nun kann der Fall eintreten, dass (zufällig) beide Spieler die Zahl „sechs“ würfeln, das Teamziel also „mehr als erreicht“ wird. Dann kann man die Frage stellen, ob die Erreichung des Teamziels als Verwirklichung der durch den einzelnen Teamspieler geschaffenen Ausgangswahrscheinlichkeit angese35
Vgl. z. B. Jakobs (Fn. 28) und Kindhäuser (Fn. 28). Burgstaller (Fn. 28), S. 58; Puppe (Fn. 28), S. 291. 37 Oben II. 4. a.E. 38 Vgl. oben bei Fn. 20. 36
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hen werden kann. Daran könnte man für den einzelnen Spieler zweifeln, weil sich ja nachträglich herausgestellt hat, dass das Teamziel letztlich auch ohne sein Würfeln erreicht worden wäre (weil der andere Spieler ohnehin die Zahl „sechs“ gewürfelt hat). Allerdings gilt dies wechselseitig für jeden der beiden. Da man aber nicht sagen kann, es habe sich keine der von den beiden Spielern geschaffenen Ausgangswahrscheinlichkeiten verwirklicht, kann das Ergebnis nur lauten, dass sich beide Ausgangswahrscheinlichkeiten nebeneinander in der Erreichung des Teamziels niedergeschlagen haben. Überträgt man diese Erwägungen auf die Verwirklichung eines unerlaubten Risikos im Rahmen der Erfolgszurechnung, liegt nahe, auch in diesem Bereich die Möglichkeit anzuerkennen, dass sich mehrere gleichrangige „konkurrierende“ Risiken in ein und demselben Erfolg nebeneinander verwirklichen, sofern eine Verneinung der Verwirklichung für alle diese Risiken gleichermaßen gelten müsste und die Folge wäre, dass sich letztlich keines der mehreren unerlaubten Risiken verwirklicht hätte. Wenn also im Beispiel zwei Autobusfahrer durch vorschriftswidriges Fahren in der Mitte der Fahrbahn jeweils ein unerlaubtes Kollisionsrisiko geschaffen haben und die Kollision in der erwarteten Weise eintritt, so haben sich beide unerlaubten Risiken in gleicher Weise nebeneinander verwirklicht (auf das Hilfsmittel eines Vergleichs mit „rechtmäßigem Alternativverhalten“ ist dabei nicht zurückzugreifen, weil dieses im angesprochenen Sonderfall offenbar die „Verwirklichung des Risikos“ nicht treffend repräsentiert).39 Zur Abgrenzung sei allerdings noch einmal betont, dass die vorstehende Lösung wirklich auf Fälle beschränkt ist, in denen es um gleichrangige „konkurrierende“ Risiken bezüglich desselben Erfolgs geht.40 39 Zu einem übereinstimmenden Ergebnis gelangt Burgstaller (Fn. 28), S. 63 ff., der dafür eintritt, in solchen Fällen punktuell auf die Voraussetzung einer Risikoerhöhung gegenüber rechtmäßigem Alternativverhalten zu verzichten; ähnlich Puppe (Fn. 28), S. 295. Dieser Schritt fällt leichter, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es immer um die „Verwirklichung eines Risikos“ geht, der Vergleich mit rechtmäßigem Alternativverhalten dafür stets nur ein (eben nicht für alle Fälle passendes) Hilfsmittel darstellt. – Auch Kindhäuser (Fn. 28), S. 147 f. kommt zum selben Ergebnis, indem er zwischen einer „faktisch gegebenen Welt“ und einer „normativ geordneten Welt“ unterscheidet; innerhalb der zweiten sei es bei „alternativen Teilbedingungen“ eines Erfolgs „unzulässig, sich auf eine alternative Erfolgsverursachung durch eigenes oder fremdes rechtswidriges Verhalten zu berufen“. – Eine abweichende Lösung vertritt Jakobs (wie Fn. 7): Der Erfolg soll nur jenem Täter rechtlich angelastet werden, der als (zeitlich) erster das Risiko „perfekt setzt“. Im Aufzugbeispiel (vgl. oben Fn. 33) soll es darauf ankommen, ob zuerst die fehlerhafte Wartung des Aufzugs erfolgt ist oder ob zuerst der Auftrag zur Überladung des Aufzugs erteilt wurde. Plausibler erscheint aber, dass sich in beiden Fällen beide Risiken nebeneinander verwirklicht haben. Zu diesem Ergebnis gelangt Jakobs schließlich auch für den Fall der Gleichzeitigkeit der relevanten Verhaltensweisen. 40 Anders gelagert ist demgegenüber der vor allem im anglo-amerikanischen Rechtskreis diskutierte „Wüsten-Fall“: Das Opfer will eine Wüste durchqueren, zwei Personen wollen dies verhindern. Der erste Täter vergiftet die Wasservorräte in den Reservekanistern des Opfers, der zweite Täter bohrt später die Reservekanister an, sodass das (vergiftete) Wasser ausläuft und das Opfer letztlich mangels Wasservorrats verdurstet; vgl. z. B. Kindhäuser (Fn. 28),
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2. „Risikoausgleich“ Zu nicht ganz zufriedenstellenden Ergebnissen führt der Vergleich mit „rechtmäßigem Alternativverhalten“ auch in Fällen wie dem folgenden: Angenommen, ein Autofahrer überschreitet die zulässige Höchstgeschwindigkeit. Ein Betrunkener läuft unvorhersehbar auf die Fahrbahn, der Autofahrer kann nicht mehr rechtzeitig anhalten bzw. ausweichen, sodass es zur Kollision und einer schweren Verletzung des Betrunkenen kommt. In einer ersten Variante waren am Auto Reifen montiert, die nach Alter und Profiltiefe gerade noch zulässig waren. In einer zweiten Variante hat der Autofahrer kurz zuvor neue Reifen montiert, die eine besonders gute Bremsleistung ermöglichten. Stellt man nun in beiden Varianten einen Vergleich zu „rechtmäßigem Alternativverhalten“ – nämlich der Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit – an, so kann man zu einem paradox anmutenden Ergebnis gelangen: Der Verkehrssachverständige kann feststellen, dass der Autofahrer mit den deutlich schlechteren Reifen auch bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit nicht rechtzeitig anhalten bzw. ausweichen hätte können, sodass die Verletzung gleichermaßen eingetreten wäre. Diese wäre dem Autofahrer somit nicht anzulasten. Dagegen kann der Verkehrssachverständige in der zweiten Variante zum Ergebnis gelangen, dass der Autofahrer mit den neuwertigen Reifen bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit – eben aufgrund der hervorragenden Reifen – noch rechtzeitig anhalten bzw. ausweichen hätte können; „rechtmäßiges Alternativverhalten“ hätte insofern die Kollision vermieden. Die Verletzung des Betrunkenen wäre diesem Fahrer somit anzulasten. An diesem Ergebnis irritiert, dass der gewissenhaftere Autofahrer, der über-obligationsmäßig sehr gute Reifen gekauft und montiert hat, bei sonst gleicher Fahrweise für die Folgen des Verkehrsunfalls haftet, während jener Fahrer, der es bei den deutlich schlechteren (wenngleich noch zulässigen) alten Reifen beließ, nicht zur Verantwortung gezogen wird. Es ist nicht leicht, für die aufgezeigte Problematik eine überzeugende Lösung zu finden. Allerdings zeigt sich auch in diesen Fällen eine Schwäche des Vergleichs mit S. 143 m.N. aus der anglo-amerikanischen Literatur dort in Fn. 27). Hierbei haben nicht zwei Ursachen zu genau demselben Erfolg geführt; vielmehr ist die Wirkung des Vergiftens hypothetisch geblieben, weil die Vergiftung in keiner Weise dazu beigetragen hat, dass das Opfer verdurstet ist (für Bejahung der Kausalität dagegen Kindhäuser, a.a.O. S. 145). Kausal geworden ist deshalb allein das Anbohren der Reservekanister, weil dieses dafür maßgebend war, dass das Opfer genau zum betreffenden Zeitpunkt an Verdursten gestorben ist (ob der zweite Täter trinkbares oder vergiftetes Wasser auslaufen ließ, ändert an der Kausalität seiner Tathandlung für das Verdursten nichts). Allerdings muss im Bereich der objektiven Zurechnung (Risikoverwirklichung) berücksichtigt werden, dass unter den konkreten Umständen des Einzelfalls das Anbohren der Reservekanister das Leben des Opfers sogar verlängert hat (weil es bei Konsum des vergifteten Wassers früher gestorben wäre). Die mit der Beseitigung von Wasservorräten im Allgemeinen verbundene Gefahr (einer Lebensverkürzung) hat sich somit nicht verwirklicht, der Tod kann dem zweiten Täter nicht angelastet werden, weil er keine Lebensverkürzung bewirkt hat. Das Ergebnis, dass der erste Täter nicht kausal wurde und der zweite den von ihm kausal herbeigeführten Erfolg nicht zu verantworten hat (sodass beide „nur“ wegen versuchten Mords haften), mag überraschen, erscheint aber dogmatisch konsequent und letztlich auch wertungsmäßig angemessen.
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„rechtmäßigem Alternativverhalten“, weil nur ein hypothetischer Geschehensablauf, nicht jedoch die Risikosituation insgesamt ins Auge gefasst wird. Demgegenüber sollte auch hier berücksichtigt werden, dass das hypothetische „rechtmäßige Alternativverhalten“ nur ein Hilfsmittel zur Beurteilung darstellt, ob sich ein unerlaubtes Risiko „verwirklicht“ hat.41 Aus dieser Sicht kann der Vergleich mit „rechtmäßigem Alternativverhalten“ nämlich dort, wo dies geboten erscheint, durch korrigierende Überlegungen ergänzt werden. Es ist dann in Situationen wie dem Beispielsfall nicht ausgeschlossen, in die Bewertung, ob sich ein unerlaubtes Risiko „verwirklicht“ hat, etwa auch mit einzubeziehen, dass der Täter zuvor über-obligationsmäßige Sorgfaltsmaßnahmen getroffen hat, wenn man vermeiden will, dass sich diese letztlich gerade zu seinem Nachteil auswirken. Zwar ist nicht zu bezweifeln, dass der Täter bei einer ex ante Betrachtung trotz solcher zusätzlichen Sorgfaltsmaßnahmen jedenfalls eine unerlaubte Gefahr schafft (auch mit den besten Reifen, ABS, ESP etc. darf selbstverständlich die zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht überschritten werden). Bei der Beurteilung der „Risikoverwirklichung“ besteht allerdings mehr Flexibilität, weil bei der ex-post-Betrachtung berücksichtigt werden könnte, dass der Täter zusätzliche risikovermindernde Verhaltensweisen gesetzt hat, die im Einzelfall relevant geworden sind. Gerade wenn man der auch hier befürworteten „Risikoerhöhungslehre“ folgt, kann man in Rechnung stellen, wenn ein Täter aus nachträglicher Sicht zwar das Risiko einerseits (durch eine zu schnelle Fahrweise) erhöht, es aber andererseits durch über-obligationsmäßige Sicherheitsvorkehrungen (Montage neuer Reifen mit besonderer Bremsleistung) gleichzeitig auch verringert hat, sodass das Risiko im konkreten Fall (z. B. für den unvorhersehbar auf die Fahrbahn tretenden Betrunkenen) insgesamt ex post nicht höher war als ein (noch) erlaubtes Risiko (etwa Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, aber mit gerade noch zulässigen alten Reifen). Wird aufgrund einer solchen Zusatzüberlegung letztlich die Risikoverwirklichung im Einzelfall verneint, werden im Ergebnis beide geschilderten Varianten (neue oder gerade noch zulässige Reifen) gleich behandelt, eine im Ergebnis wohl wünschenswerte Lösung. Freilich muss man mit solchen – den Vergleich mit rechtmäßigem Alternativverhalten korrigierenden – Ergänzungen vorsichtig umgehen. Es ginge jedenfalls zu weit, stets auf einen Vergleich mit dem äußersten Bereich eines gerade noch erlaubten Risikos abzustellen (etwa auf einen ungeübten Autofahrer in einem alten Auto ohne ABS mit gerade noch zulässigen Reifen und einem Alkoholisierungsgrad knapp unter der zulässigen Promillegrenze). Vielmehr wird es im Regelfall bei einem Vergleich mit „rechtmäßigem Alternativverhalten“ (bei ansonsten unveränderten Umständen) bleiben. Korrekturen sind nur bei erheblichen über-obligationsmäßigen Leistungen zu erwägen, wenn diese unter den gegebenen Umständen das Risiko gegenüber einem Durchschnittsfall klar gemindert haben.
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Oben II. 4. a.E.
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3. In dubio pro reo bei zweifelhafter Risikoerhöhung? Zuletzt soll noch zu einer unter den Vertretern der „Risikoerhöhungslehre“ umstrittenen Frage Stellung genommen werden. Verbreitet wird – davon ausgehend, dass die „Risikoerhöhungslehre“ als solche nicht gegen den Grundsatz „in dubio pro reo“ verstößt (oben II. 5.) – die Ansicht vertreten, dass der Zweifelsgrundsatz immerhin dann anzuwenden sei, wenn im Einzelfall die erforderliche ex-post-Risikoerhöhung zweifelhaft bleibt.42 Andere Vertreter der „Risikoerhöhungslehre“ argumentieren dagegen, dass der Grundsatz in dubio pro reo insoweit generell nicht anwendbar sei, sondern allfällige Zweifel in die Risikobewertung einfließen müssten: Eine mögliche Gefahr sei letztlich ebenfalls eine Gefahr, lediglich geringeren Ausmaßes. Deshalb sei auch bei einer möglichen Risikoerhöhung letztlich das Risiko erhöht, wenngleich in geringerem Ausmaß.43 Für diese Ansicht spricht auf den ersten Blick, dass der Grundsatz „in dubio pro reo“ im Strafverfahren auch dort, wo es prozessual auf Verdachts- oder Wahrscheinlichkeitsaussagen ankommt, grundsätzlich nicht anwendbar ist, weil diesbezügliche Unsicherheiten eben die Verdachts- bzw. Wahrscheinlichkeitsaussage selbst beeinflussen und dann entweder ein hinreichender Verdacht bzw. die erforderliche Wahrscheinlichkeit vorliegt oder eben nicht.44 Das letzte Argument vernachlässigt allerdings einen erheblichen Unterschied: Bei der „Risikoerhöhungslehre“ geht es nicht um eine vom Gesetz verlangte Verdachts- oder Wahrscheinlichkeitsaussage, sondern letztlich um die materiell-rechtliche Frage, ob ein Erfolg (im rechtlichen Sinn) „herbeigeführt“ wurde, also ob sich in ihm ein unerlaubtes Risiko „verwirklicht“ hat. Wenn eine Voraussetzung der Erfolgsherbeiführung zweifelhaft bleibt, muss dies in dubio pro reo dazu führen, den Erfolg nicht anzulasten.45 Das Problem in Bezug auf die „Risikoerhöhungslehre“ besteht allerdings darin, dass eine Risikobeurteilung, auch wenn sie ex post erfolgt, stets voraussetzt, dass bestimmte Umstände ungeklärt sind, weil ansonsten an die Stelle des Risikos ohnehin Gewissheit träte. Die entscheidende Frage geht deshalb dahin, welche der ex post noch ungeklärten Umstände durch die Risikobeurteilung ersetzt werden und bei welchen andererseits infolge unzureichender Klärung eine Risikoerhöhung in dubio pro reo zu verneinen ist. Weiterführend erscheint der Vorschlag von Burgstaller, dass Zweifel am tatsächlichen Geschehensablauf in dubio pro reo zu lösen seien, während Zweifel hinsichtlich des hypothetischen Ablaufs bei „rechtmäßigem Alternativverhalten“ in die Risikobeurteilung einfließen sollen.46 Allerdings ist dieser Abgrenzung entgegengehalten worden, dass auch Zweifel über das hypothetische Geschehen ihren wahren Grund in (Detail-)Unklarheiten über den tatsäch-
42 Z. B. Burgstaller (Fn. 10), S. 143; Küper (Fn. 18), S. 283 f.; Rudolphi (Fn. 6), Vor § 1 Rn. 69; Stratenwerth (Fn. 16), 234 f.; Wolter (Fn. 1), S. 338 f. 43 Roxin (Fn. 2), § 11 Rn. 96; zustimmend Krümpelmann, GA 1984, S. 491 (S. 502). 44 Z. B. Schmoller, in: Fuchs/Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zur StPO, § 14 Rn. 63 m.N. 45 So schon Burgstaller (Fn. 10), S. 143 f. 46 Burgstaller (Fn. 10), S. 144 f.
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lichen Geschehensablauf haben können.47 Die ferner vorgeschlagene Unterscheidung zwischen grundsätzlich aufklärbaren und prinzipiell unaufklärbaren Umständen48 stößt auf den Einwand, dass sich die „prinzipielle“ Unaufklärbarkeit schwer abgrenzen lässt und auch mit dem Fortschritt der Wissenschaft ständig zurückgedrängt wird. Am ehesten überzeugt deshalb ein Blick auf den allgemeinen Anwendungsbereich des Grundsatzes in dubio pro reo: Dieser kommt generell nur dann zur Anwendung, wenn nachvollziehbare konkrete Hinweise auf den dem Beschuldigten günstigeren Sachverhalt bestehen. Für die „Risikoerhöhungslehre“ bedeutet dies: Die erforderliche ex-post-Risikoerhöhung ist (nur dann) in dubio pro reo zu verneinen, wenn sich im Strafverfahren konkrete Hinweise auf einen möglichen Ablauf des tatsächlichen Sachverhalts ergeben haben, bei dem nicht einmal eine Risikoerhöhung vorliegen würde, und diese Hinweise nicht entkräftet werden können. Besteht also z. B. aufgrund verschiedener Zeugenaussagen die konkrete Möglichkeit, dass der Fußgänger erst knapp vor dem herannahenden Auto die Fahrbahn betreten hat, oder ergeben sich z. B. aufgrund nachgewiesener Nässe und tiefer Temperaturen konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Fahrbahn vereist war, so sind diese Umstände, falls sie bei ihrem Vorliegen eine Risikoerhöhung entfallen ließen, in dubio pro reo zu unterstellen. Kann hingegen ein Umstand zwar nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, wird er aber nicht durch konkrete Hinweise nahegelegt, muss er nicht in dubio pro reo unterstellt werden: Hat z. B. ein Täter verbotener Weise ein nicht zugelassenes Medikament mit noch weitgehend unerforschten Wirkungen verabreicht, so zwingt die bloße Möglichkeit, dass dieses Medikament nicht schädlicher war als ein zugelassenes, nicht zur Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo. Solange keine konkreten Hinweise in diese Richtung bestehen, ist vielmehr auch ex post davon auszugehen, dass die Verabreichung des nicht zugelassenen Medikaments riskanter war als die eines zugelassenen.
IV. Zusammenfassung und Ausblick 1. Die „Risikoerhöhungslehre“ lastet dem Täter einen kausal herbeigeführten Erfolg schon dann an, wenn sein Verhalten ex ante eine unerlaubte Gefahr solcher Erfolge geschaffen hat und durch eine ex-post-Betrachtung (unter Einbeziehung des tatsächlichen Geschehensablaufs und aller nachträglich bekannt gewordenen Umstände) bestätigt wird, dass das unerlaubte Verhalten tatsächlich das Risiko des konkret eingetretenen Erfolgs erhöht hat. Nach der Gegenposition soll hingegen eine Erfolgszurechnung nur dann zulässig sein, wenn feststeht, dass „rechtmäßiges Alternativverhalten“ den Erfolg vermieden hätte; sofern ungewiss bleibt, ob „rechtmäßiges Alternativverhalten“ zum selben Erfolg geführt hätte, müsse deshalb die Erfolgszu47 48
Krümpelmann (Fn. 43), S. 497 ff. Stratenwerth (Fn. 16), S. 233.
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rechnung – ungeachtet einer feststellbaren Risikoerhöhung – in dubio pro reo verneint werden. Es ist bemerkenswert, dass die „Risikoerhöhungslehre“ in Deutschland nach wie vor in hohem Maß umstritten ist und insbesondere die Rechtsprechung der Gegenposition folgt, während sie sich in Österreich sowohl in der Rechtsprechung als auch im Schrifttum einhellig durchgesetzt hat. 2. Für eine Stellungnahme war es notwendig, das Phänomen der „Verwirklichung einer Gefahr“ zu hinterfragen und zu analysieren. Die Schwierigkeit besteht dabei darin, dass zwar die Determinanten eines Gefahrenurteils sowie der Ablauf des Kausalverlaufs empirisch wahrnehmbar sind, die „Verwirklichung einer Gefahr“ hingegen nicht empirisch beobachtet werden kann. Vielmehr handelt es sich bei der „Verwirklichung einer Gefahr“ – ebenso wie allgemein bei der „Verwirklichung einer Wahrscheinlichkeit“ – allein um eine gedankliche Verknüpfung zwischen einer Ausgangswahrscheinlichkeit und einem anschließend eingetretenen Ereignis. Allgemein ließ sich zeigen, dass sich eine Wahrscheinlichkeit dann „verwirklicht“ hat, wenn sich ergibt, dass die ursprünglich erstellte Wahrscheinlichkeitsprognose auch aus nachträglicher Sicht – unter Einbeziehung des konkreten Geschehensablaufs und aller bekannt gewordenen Umstände – die Wahrscheinlichkeit des konkreten Ereignisses zutreffend beschrieben hat. Ergibt hingegen die nachträgliche Überprüfung, dass die Ausgangswahrscheinlichkeit im Einzelfall aufgrund besonderer Umstände ausnahmsweise nicht zutraf, sodass für den eingetretenen Erfolg in Wahrheit eine andere (höhere oder niedrigere) Wahrscheinlichkeit bestand, so hat sich in diesem nicht die Ausgangswahrscheinlichkeit verwirklicht. Diese Überlegung wurde anhand von Würfelbeispielen (d. h. der Wahrscheinlichkeit, in einer bestimmten Situation eine bestimmte Zahl zu würfeln) näher erläutert. Letztlich führen diese allgemeinen Überlegungen zur „Verwirklichung einer Gefahr“ genau zur Risikoerhöhungslehre, weil es für die „Verwirklichung der Gefahr“ darauf ankommt, ob das durch die Handlung ex ante (unerlaubt) erhöhte Risiko sich auch ex post als ein entsprechend erhöhtes Risiko des konkreten Erfolgseintritts darstellt. Die „Risikoerhöhungslehre“ ist mit dem Grundsatz „in dubio pro reo“ vereinbar, weil nicht primär zu beweisen ist, dass ein hypothetisches „rechtmäßiges Alternativverhalten“ den Erfolg vermieden hätte, sondern dass sich die unerlaubte Gefahr im konkret eingetretenen Erfolg „verwirklicht“ hat. Dies ist eben stets der Fall, wenn sich die ex ante bestehende Risikoerhöhung bei einer ex-post-Betrachtung des konkreten Geschehensablaufs bestätigt (der Vergleich mit einem „rechtmäßigen Alternativverhalten“ ist dafür nur ein gedankliches Hilfsmittel). 3. In der Folge wurden Sonderprobleme erörtert, in denen sich gezeigt hat, dass der Vergleich mit „rechtmäßigem Alternativverhalten“ zwar nützliche Hilfestellungen liefert, aber nicht für jeden Fall passt. In den Fällen gleichrangiger „konkurrierender“ Risiken führt ein Vergleich mit „rechtmäßigem Alternativverhalten“ überhaupt in die Irre; stattdessen ist unmittelbar die „Verwirklichung des Risikos“ ins Auge zu fassen. In den Sonderfällen eines „Risikoausgleichs“ durch über-obligati-
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onsmäßige Sorgfaltsmaßnahmen ist der Vergleich mit „rechtmäßigem Alternativverhalten“ zumindest korrigierend zu ergänzen. Abschließend wurde zu den Fällen Stellung genommen, in denen die Risikoerhöhung ex post zweifelhaft bleibt. Liegen dem Zweifel konkrete Hinweise auf eine tatsächlich Geschehen zugrunde, nach dem keine Risikoerhöhung stattgefunden hätte, so muss ein solches Geschehen „in dubio pro reo“ unterstellt und deshalb im Zweifel die Risikoerhöhung verneint werden. 4. Auf der Basis der vorstehenden Erörterungen wäre zu wünschen, dass sich die „Risikoerhöhungslehre“, die in Österreich bereits einhellige Anerkennung gefunden hat, auch in Deutschland weiter durchsetzt und insbesondere von der Rechtsprechung übernommen wird. In diesem Wunsch weiß ich mich einig mit dem Jubilar Jürgen Wolter.
Der Kerngehalt des Gesetzlichkeitsprinzips Ein Beitrag zu den sozialethischen Beschränkungen des Notwehrrechts Von Arndt Sinn
I. Einleitung „Die Grundlage für ein gemeineuropäisches Strafrechtssystem ist die Menschenwürde, der Würdegehalt der Freiheits- und Gleichheitsrechte sowie der Kerngehalt des Gesetzlichkeitsprinzips“1. Prägnanter ist die Bindung staatlicher bzw. supranationaler Macht an fundamentale Prinzipien zum Zweck der Erhaltung und Errichtung eines freiheitlichen Strafrechts kaum zu formulieren. Jürgen Wolter leitet aus dieser Prämisse eine für die gegenwärtige Dogmatik zum Notwehrrecht weitreichende Schlussfolgerung ab: „Die sozialethische Begrenzung des Notwehrrechts verstößt im Kern gegen das Gesetzlichkeitsprinzip (…).“2 Das bedeutet nicht weniger als den Vorwurf, nicht nur das Gesetzlichkeitsprinzip zu überdehnen, sondern es „im Kern“ zu verletzen. Nun mangelt es nicht an Darstellungen zum Gesetzlichkeitsprinzip3 und deshalb soll auch nicht der Versuch unternommen werden, eine weitere hinzuzufügen. Vielmehr dringt dieser Beitrag zum Kern des Gesetzlichkeitsprinzip vor und legt seine Funktion im modernen Rechtsstaat frei: die Sicherstellung von Kommunikation zur Gewährleistung eines liberalen Strafrechts.
1 Wolter, in: Schünemann u. a. (Hrsg.), Bausteine des europäischen Strafrechts, 1995, S. 3 (5). 2 Wolter (Fn. 1), S. 5. 3 Vgl. bspw. Colombo Ciacchi, Fahrlässigkeit und Tatbestandsbestimmtheit, 2005; Krahl, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs zum Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht (Art. 103 Abs. 2 GG), 1986; Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977; Lemmel, Unbestimmte Strafbarkeitsvoraussetzungen im BT des Strafrechts und der Grundsatz nullum crimen sine lege, 1970; Schreiber, Gesetz und Richter, 1976; Schünemann, Nulla poena sine lege?, 1978 alle m.w.Nw.
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II. Die Konkretisierungen des Gesetzlichkeitsprinzips Das Gesetzlichkeitsprinzip ist in Art. 103 Abs. 2 GG und in § 1 StGB niedergelegt. Mit ihm sind Freiheit, Gewaltenteilung, Prävention und das Schuldprinzip verbunden.4 Aus der Formulierung, „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde“, folgen vier Ableitungen: die lex scripta, lex stricta, lex certa sowie die lex praevia. Hinsichtlich dieser Konkretisierungen entfaltet das Gesetzlichkeitsprinzip unterschiedlich starke Wirkungen.5 Das alles gehört zu den gesicherten Erkenntnissen. Mit ihnen ist man aber noch nicht zum Kern des Gesetzlichkeitsprinzips vorgedrungen.
III. Der Kerngehalt des Gesetzlichkeitsprinzips Um den Kern des Gesetzlichkeitsprinzips freizulegen, muss man seine Funktionen bestimmen. Diese sind Machtbändigung, Vorhersehbarkeit und Verhaltenssteuerung.6 Mit der Bändigung staatlicher Macht ist die Idee eines freiheitlichen Strafrechts verbunden. Durch die Auferlegung von Selbstbindungsmechanismen – und dazu gehört auch die Gewaltenteilung – löst die nun entstandene Vorhersehbarkeit staatlichen Zwangs die Willkür ab. Die Funktion des Gesetzlichkeitsprinzips zur Verhaltenssteuerung wird zum einen innerhalb der positiven Generalprävention und zum anderen im Rahmen des Schuldprinzips erfüllt. Die Sichtweise auf das Gesetzlichkeitsprinzip und den damit verbundenen Funktionen ist an die gesellschaftlichen Verhältnisse gekoppelt. Während der absolutistische Herrscher in der Epoche der Kodifikationen mit dem Gesetzlichkeitsprinzip die Durchsetzung des eigenen Willens, niedergeschrieben in Gesetze, verband und er den Richter daran binden wollte,7 um so seine eigene Macht zu sichern, war es das Anliegen der Aufklärung, das Prinzip gegen den Herrscher zu wenden, ihn zur Selbstbindung zu zwingen. Diese beiden Funktionen durchdringen im 18./ 19. Jahrhundert zwar einander.8 Allerdings ist mit ihnen stets ein Über-/Unterordnungsverhältnis zwischen den Adressaten des Gesetzlichkeitsprinzips und den sich darauf Berufenden verbunden, was sich aus den damaligen Machtverhältnissen ergab. Gleich, ob das Gesetzlichkeitsprinzip vom Herrscher kommend an den Richter adressiert war und die Gesetze mit einem Kommentierungsverbot9 belegt waren, oder 4 Vgl. statt vieler Gropp, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2005, § 2 Rn. 6; Roxin, Strafrecht AT 1, 4. Aufl. 2006, § 5 Rn. 18 ff.; krit. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 4/3. 5 Gropp (Fn. 4), § 2 Rn. 5. 6 Vgl. zu diesem Aspekt a. Schünemann (Fn. 3), S. 13 f. 7 Vgl. Gropp, Deliktstypen mit Sonderbeteiligung, 1992, S. 91 m.w.Nw. 8 Vgl. Roxin (Fn. 4), § 5 Fn. 12; Schreiber (Fn. 3), S. 81 f., 89 ff. 9 Vgl. dazu die Nw. bei Schröder, Gesetzesauslegung und Gesetzesumgehung, 1985, S. 20 Fn. 41.
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ob es umgekehrt an den Herrscher gerichtet war, um so die Freiheit der Bürger zu schützen, immer standen sich ungleiche Kontrahenten gegenüber, die einander misstrauten. Mit dem Gesetzlichkeitsprinzip wurde dementsprechend ein Machtkampf ausgetragen. Die Kontrahenten des Machtkampfes, und damit stößt man zum Kern des Gesetzlichkeitsprinzips vor, verbanden mit ihm eine ganz bestimmte und bisher noch nicht genügend herausgearbeitete Funktion: die Sicherung von Kommunikation. Um den Willen des Herrschers gegenüber den Richtern umfassend durchzusetzen, bedurfte es genauer Gesetze und einer Bindung daran. Nur wenn der Herrscher seinen Willen in Gesetzen mitteilt und der Richter ihn versteht, kann Kommunikation sichergestellt werden. Nicht anders verhält es sich, wenn man den Blick wendet und den Adressaten ändert. Der Herrscher lässt sich nur binden und seine Macht bändigen, wenn die Beschränkungen der Freiheit in genauen Gesetzen niedergelegt werden und ein System des Rechtsschutzes eine Überprüfung der Einhaltung der so geschaffenen Freiheitsbeschränkungen ermöglicht. Auch das ist Kommunikation. Im Kern geht es auch in Feuerbachs Theorie vom psychologischen Zwang um Kommunikation. Der von ihm stammende Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege“10 diente der Durchsetzung seines Theoriegebäudes. Eine Abschreckung des potentiellen Delinquenten ist ohne Kenntnis des Gesetzes nicht möglich. Feuerbachs Straftheorie ist hinreichend reflektiert11 worden, und ihr Zusammenhang mit dem Gesetzlichkeitsprinzip scheint zugunsten freiheitlicherer Straftheorien aufgelöst worden zu sein. Davon bleibt aber der Kern des Gesetzlichkeitsprinzips auch im Sinne von Feuerbach unberührt. Ein Strafrecht, das nicht verstanden wird, kann keine verhaltenssteuernden Effekte, wie auch immer man diese beschreiben will, haben. Insoweit ist es funktionslos. Dieser Kern des Gesetzlichkeitsprinzips – Sicherstellung von Kommunikation – ist bis heute erhalten geblieben. Allerdings ist er kaum sichtbar, weil er immer noch von der Hülle, die aus der Beschreibung von Über- und Unterordnungsverhältnissen besteht, verdeckt wird. Diese Hülle gilt es abzustreifen. Der moderne Staat mit einer festen parlamentarischen Demokratie hat die Macht, Recht zu setzen, gerade in die Hand seiner Bürger gegeben.12 Deshalb kann es – bei aller Vorsicht – auch nicht mehr um das archaische Verständnis von einer Bändigung der Macht gehen und auch nicht mehr allein um Misstrauen in die Entscheidungen des Machthabers. Es geht also nicht mehr um ein Stufenverhältnis von Mächtigen und Machtunterworfenen, sondern um Regelungen des Verhältnisses zwischen Gleichen. Um deren Rechte und Pflichten zu klären, werden Gesetze im parlamentarischen Prozess verabschiedet. Sollen sie befolgt werden, was im Interesse des Gesetzgebers liegt, weil er auch Bürger ist, so müssen diese verständlich sein. Der Bürger als Gleicher unter Gleichen muss sie verstehen können. Für das Strafrecht bedeu10
Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden Peinlichen Rechts, 1801, S. 18 ff. 11 Vgl. Lesch, Der Verbrechensbegriff, 1999, S. 44 ff. m.w.Nw. 12 Vgl. zum Zusammenhang von Macht und Recht Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten – Zurechnung und Freistellung durch Macht, 2007, S. 338 ff.
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tet dies aufgrund der hohen Eingriffsintensität, dass sie dem Gesetzlichkeitsprinzip unterworfen werden. Das Gesetzlichkeitsprinzip sichert im Kern also die Kommunikation unter Gleichen (der Bürger) über die Geltung strafrechtlicher Rechte und Pflichten. Der Grund, den Begriff Kommunikation in das Zentrum moderner Strafrechtsdogmatik vor dem Hintergrund des Gesetzlichkeitsprinzips zu stellen, ist folgender: Durch Kommunikation kann Verhalten gesteuert werden, und als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium sichert das Recht Anschlusskommunikation – also rechtmäßiges Verhalten.
IV. Kommunikation, Verhaltenssteuerung und Recht Der Begriff „Kommunikation“ wie auch die Kommunikationstheorie im Allgemeinen scheinen im Strafrecht keine Rolle zu spielen, denn Abhandlungen dazu sind kaum vorhanden.13 Dabei treten die Anknüpfungspunkte bei jeder Lektüre eines Rechtssatzes offen zutage. Im besonderen Maße gilt dies für das Gesetzlichkeitsprinzip. Kommunikation dient dem Anschluss weiterer Kommunikation. Im Zusammenhang mit dem Strafrecht bedeutet dies, dass aus der Kommunikation über verbotenes Verhalten die Einhaltung dieses Verbots folgen soll. Für den Fall eines Verstoßes teilt das Gesetz die entsprechende Reaktion mit. Aus der Gewährung eines Eingriffsrechts folgt die Gewährung dieser Freiheit auch für zukünftige gleiche Fälle. Stets geht es um die Sicherstellung der Unterscheidung von Recht und Unrecht, von strafbarem und straflosem Verhalten. Die Regeln, die zur Sicherstellung einer solchen Kommunikation gelten, sind weniger normativ als bisher angenommen. Im Kern geht es um nicht mehr als um Folgendes: Kommunikation besteht aus der Synthese der drei Selektionen Mitteilung, Information und Verstehen.14 Problematisch ist jedoch, dass Kommunikation im Allgemeinen und besonders in komplexen Situationen ein unwahrscheinliches Ereignis ist.15 Deshalb besteht die Aufgabe zu klären, wann Kommunikation wahrscheinlich wird. Die Erfolgswahrscheinlichkeit zu sichern übernehmen Kommunikationsmedien. Die Sprache übernimmt dabei die Aufgabe, die Unwahrscheinlichkeit des Verstehens zu minimieren, während Verbreitungsmedien die Unwahrscheinlichkeit, den Kommunikationsteilnehmer zu erreichen, reduzieren.16 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien übernehmen die Funktion, die Annahme von Kommunika13
Vgl. aber Ransiek, Gesetz und Lebenswirklichkeit, 1989, S. 27 ff., 94 ff., der sich dem Zusammenhang zwischen Strafe und Information sowie der Kommunikation kurz zuwendet. 14 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (in zwei Bänden), 1998, S. 190. 15 Luhmann (Fn. 14), S. 190; ders., Soziologische Aufklärung 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation, 1981, S. 25 ff. 16 Luhmann (Fn. 14), S. 202 ff.
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tion in Fällen, in denen die Ablehnung wahrscheinlich ist, erwartbar zu machen.17 Sie haben eine „Motivationsfunktion, indem sie die Annahme fremder Selektionsleistung nahe legen und für den Normalfall erwartbar machen“.18 Das Recht ist ein solches symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, das primär der Absicherung von Erwartungen gegen Enttäuschungen dient.19 Deshalb entgeht dieses Verständnis des Rechts als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium mit der Funktion, Anschlusskommunikation (Verhaltensteuerung) erwartbar zu machen, auch dem Einwand, dass Strafrecht keine Bestimmungsnorm sein könne. Selbstverständlich wirkt es auch, wenn der Täter von der Strafnorm keine Kenntnis hat. Es ist aber gerade der große Gewinn symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, an der Sicherstellung von erwartbarer Kommunikation anzuknüpfen und damit die Kausalität zwischen Motivationsnorm und Vermeideentschluss des Bürgers überwunden zu haben.20 Überträgt man dies auf das Gesetzlichkeitsprinzip, so wird dessen kommunikationssichernder Kern deutlich. Es liegt auf der Hand, dass der Gesetzgeber mit den strafrechtlichen Regelungen etwas mitteilen will. Die in der Mitteilung enthaltene Information legt er unter anderem in geschriebenen Tatbeständen, in Regelungen zu den Verwirklichungsstadien eines Delikts, zu Täterschaft und Teilnahme oder den Straffreistellungsgründen nieder. Der Inhalt der Information ist in der Regel21 an das Verbreitungsmedium „Schrift“ gebunden. Der Adressat der Regelung muss nun in der Lage sein, die enthaltenen Informationen zu verstehen. Ohne Verstehen ist Kommunikation unmöglich.22 Erst durch das Verstehen wird die Kommunikation erfolgreich und sichert Anschlusskommunikation – also rechtmäßiges Verhalten. Beim Zustandekommen eines kommunikativen Erfolges wird der darin enthaltene Sinn zur Prämisse weiteren Verhaltens in die weitere Kommunikation einbezogen, womit Kommunikation an Kommunikation anschließen kann. Darin liegt auch der Sinn der positiven Generalprävention: Durch die Strafe wird die Unverbrüchlichkeit des Rechts demonstriert, was Anschlusskommunikation – also Einübung in Normtreue – sichert. Das soll genügen, um den Zusammenhang von Strafrecht, Kommunikation und Verhaltenssteuerung nachzuweisen.23 Es sollte an dieser Stelle nur gezeigt werden, dass das Strafrecht durch und durch auf Kommunikation aufbaut und auf die Erwartbarkeit der Annahme von Kommunikation angewiesen ist, will man den verhaltenssteuernden Aspekt nicht aufgeben. 17
Luhmann (Fn. 14), S. 316. Luhmann, Macht, 2. Aufl., 1988, S. 7; vgl. dazu auch Sinn (Fn. 12), S. 96 m.w.Nw. 19 Luhmann (Fn. 14), S. 316. 20 Sinn (Fn. 12), S. 110. 21 Zu anderen Möglichkeiten, die Information zu verbreiten, vgl. Ransiek (Fn. 13), S. 27 ff. 22 Luhmann, Soziologische Aufklärung 6: Die Soziologie und der Mensch, 1995, S. 113 ff., 116 f. 23 Näher dazu Sinn (Fn. 12), S. 190 ff., 338 ff. 18
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Das Gesetzlichkeitsprinzip sichert mit der lex scripta die Verbreitung der Mitteilung und mit der lex certa und der lex stricta die Information und das Verstehen dieser. Die lex praevia bindet die Kommunikation an einen zeitlichen Kontext. Alles dient im Kern nur einem Zweck – der Sicherstellung von Kommunikation. Daraus folgt, dass ein Straftatbestand oder ein Rechtfertigungsgrund, der Kommunikation nicht gewährleistet, auch keine Anschlusskommunikation erwartbar werden lässt. Die Funktion des Rechts wird in diesen Fällen verfehlt. Die Vorschrift stellt einen Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip dar.
V. Die Geltung des Gesetzlichkeitsprinzips im Allgemeinen Teil des StGB Aus den vorangegangenen Überlegungen zum Kern des Gesetzlichkeitsprinzips folgt zwangsläufig, dass es auch für den Allgemeinen Teil des StGB Geltung beanspruchen muss und nicht nur Teilbereiche strafrechtlicher Regelungen beeinflusst. Die Zurücknahme von Kommunikation käme ihrer Verweigerung gleich, womit man sogar noch hinter die Interpretation des Gesetzlichkeitsprinzips als Regulator von Über-/Unterordnungsverhältnissen zurückfallen würde. Für die Anwendbarkeit des Gesetzlichkeitsprinzips ist es unerheblich, ob die Unbestimmtheit im Tatbestand zu finden ist bzw. der Richter ein Merkmal im Tatbestand über dessen Wortsinn ausdehnt, oder ob Unsicherheiten über die Verbotsmaterie bestehen, weil in einem Erlaubnissatz unbestimmte Formulierungen zu finden sind oder Merkmale eine Einschränkung außerhalb ihres Wortsinns erfahren.24 Der Erlaubnissatz ist der Gegentyp zum Tatbestandstypus.25 Auf das Unrecht bezogen haben Unsicherheiten im Wortlaut, die durch Auslegung nicht zu beseitigen sind, den gleichen Effekt: sie weiten die Strafbarkeit in nicht vorhersehbarer Art und Weise aus. Als gesichert kann heute aber nur gelten, dass jedenfalls dort, wo der Allgemeine Teil straferweiternde Vorschriften enthält, wie bei den Regelungen zum Versuch26, der Mittäterschaft27 und Teilnahme28, das Gesetzlichkeitsprinzip zu beachten ist.29 24
Ähnlich vgl. a. Krey (Fn. 3), S. 235; Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, 28. Aufl. 2010, § 1 Rn. 13; Schmitz, in: MüKo, 2. Aufl. 2011, § 1 Rn. 13. 25 Vgl. zum Typus Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache“, 1965, S. 37; vgl. auch ders., Über Gerechtigkeit, 1993, S. 192; zustimmend Hassemer, Tatbestand und Typus, 1968, S. 113. 26 Krey (Fn. 3), S. 228; Roxin (Fn. 4), § 5 Rn. 41. 27 Krey (Fn. 3), S. 228; Roxin (Fn. 4), § 5 Rn. 41. 28 Krey (Fn. 3), S. 228; Roxin (Fn. 4), § 5 Rn. 41. 29 Teilweise wird die Geltung für den AT in Frage gestellt: vgl. Hardwig, Pflichtirrtum, Vorsatz und Fahrlässigkeit, ZStW 78 (1966), S. 1 ff. (8 f.); vgl. a. Schünemann (Fn. 3), S. 38: „Die Variationsvorschriften des Allgemeinen Teils sind fast durchweg Experimentierklauseln
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Darüber hinaus und insbesondere in Bezug auf Rechtfertigungsgründe ist die Anwendbarkeitsfrage jedoch hinsichtlich seiner vier Konkretisierungen umstritten. Es werden allerdings Stimmen lauter, welche die Anwendung des Gesetzlichkeitsprinzips auf alle Voraussetzungen der Strafbarkeit fordern.30 Das Bundesverfassungsgericht hat bisher in Bezug auf Rechtfertigungsgründe nur entschieden, dass für diese nicht – wie für den Straftatbestand und die Strafandrohung – der strikte Gesetzesvorbehalt gilt. Vielmehr könnten strafrechtliche Rechtfertigungsgründe auch gewohnheitsrechtlich oder durch Rechtsprechung Geltung erlangen. Ein bei Begehung der Tat gesetzlich geregelter Rechtfertigungsgrund sei aber weiter anzuwenden, auch wenn dieser im Zeitpunkt des Strafverfahrens entfallen ist. Es hat offen gelassen, ob im Tatzeitpunkt anerkannte ungeschriebene Rechtfertigungsgründe nachträglich außer Acht gelassen werden können, oder ob auch das Vertrauen in den Fortbestand solcher Rechtfertigungsgründe von Art. 103 Abs. 2 GG erfasst wird.31 Vereinzelt wird behauptet, eine dem nullum-crimen-Grundsatz entsprechende Auslegung sei bei Rechtfertigungsgründen nicht an die Wortlautgrenze gebunden.32 Insbesondere wird die Geltung des Analogieverbotes, eine wesentliche Ausprägung des Gesetzlichkeitsprinzips, für Rechtfertigungsgründe abgelehnt.33 Der Grund dafür soll sein, dass Rechtfertigungsgründe keine spezielle Materie des Strafrechts sind und zur Aufrechterhaltung der Einheit der Rechtsordnung auch eine Einschränkung unabhängig von der Reichweite ihres äußeren Wortlautes notwendig sei.34 Das soll selbst dann gelten, wenn es um im StGB geregelte Rechtfertigungsgründe geht, weil diese, wie die Notwehr zeigt, auch gleichzeitig im BGB geregelt sein können.35 Es sei zu verhindern, dass bei notwendig erscheinender teleologischer Reduktion dem Zivilrechtler bzw. dem Öffentlichrechtler eine solche Rechtsfortbildung grundsätzlich erlaubt sei, während der Strafrichter jene Rechtsfortbildung nicht anerkennen dürfte.36 Der Strafrichter sei nur an den Gesetzeszweck (die gesetzlichen Regelungsprinin bonam partem, die deshalb verfassungsrechtlich unbedenklich sind.“ Einschränkend auch Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2009, 4/36; Rudolphi, in: Systematischer Kommentar, 6. Aufl. (1997), 26. Lfg., § 1 Rn. 18. 30 So Colombi Ciacchi (Fn. 3), S. 28; Dannecker, in: Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2007, § 1 Rn. 85; Duttge, Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts bei Fahrlässigkeitsdelikten, 2001, S. 162; Eser/Hecker (Fn. 24), § 1 Rn. 13; Schmitz (Fn. 24), § 1 Rn. 13; wohl auch Krahl (Fn. 3), S. 56 ff. 31 BVerfGE 95, 96 (132). 32 Roxin (Fn. 4), § 10 Rn. 20; vgl. a. ders., Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Aufl. 1973, S. 28 Fn. 63, wonach es eine nicht weiter überprüfte Prämisse sei, dass der nullumcrimen-Satz bei den Eingriffsrechten genau dieselbe Funktion habe wie bei den Tatbeständen im engeren Sinne. 33 Roxin (Fn. 4), § 5 Rn. 42. 34 Roxin (Fn. 4), § 5 Rn. 42; Krey (Fn. 3), S. 235 f.; krit. Hirsch, in: FS Tjong, 1985, S. 50 (60 f.). 35 Roxin (Fn. 4), § 5 Rn. 42. 36 Krey (Fn. 3), S. 235.
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zipien) gebunden.37 Es müsse ermöglicht werden, dass soziale Entwicklungen auf das tatbestandlich vergleichsweise „starre“ Strafrecht Einfluss ausüben können.38 Für den Bestimmtheitsgrundsatz sei darüber hinaus zu beachten, dass der Gesetzgeber in den Partien des Allgemeinen Teils absichtlich Lücken gelassen habe und deren Ausfüllung Wissenschaft und Rechtsprechung überlassen bliebe. Da der Verfassungsgeber dies wusste und daran nichts änderte, soll daraus eine „immanente (und sachlich wohlbegründete) Einschränkung des Gesetzlichkeitsprinzips“39 folgen. Dem ist mit Dürig entgegenzuhalten: „Ein Offenlassen von Streitfragen und ihr Überlassen an Lehre und Rechtsprechung ist in einer normalen Gesetzgebung oft sehr weise. In der spezifischen Strafgesetzgebung jedoch ist es ein unzulässiges Ausweichen vor der Stringenz des Art. 103 II (GG).“40 Die Verengung des Gesetzlichkeitsprinzips lässt sich mit dessen Kern nicht in Einklang bringen. Es ist schon fraglich, warum Machtbändigung, Vorhersehbarkeit und Verhaltenssteuerung im Zusammenhang mit Rechtfertigungsgründen zugunsten eines nicht einmal strafrechtsgenuinen Prinzips „Einheit der Rechtsordnung“ geopfert werden sollen.41 Wenn behauptet wird, bei dem Topos „Einheit der Rechtsordnung“ gehe es um einen „übergeordneten Gesichtspunkt“, so ist die Ordnung über ein Verfassungsprinzip begründungsbedürftig. Das Gesetzlichkeitsprinzip hat Verfassungsrang und gehört zu den mit Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG) ausgestatteten Pflichten42, während das Prinzip „Einheit der Rechtsordnung“ ein Ordnungsprinzip ist und auch ohne gegen das Grundgesetz zu verstoßen aufgegeben werden könnte. Die Entwicklungsgeschichte zum Prinzip „Einheit der Rechtsordnung“ zeigt sehr deutlich, dass es allein darum ging, vermeintliche Widersprüchlichkeiten zwischen unterschiedlichen Unrechtskonzeptionen auszuräumen.43 Wegbereiter für die heutige These von der „Einheit der Rechtsordnung“ war eine fast 150 Jahre zurückliegenden Diskussion zwischen Rudolf v. Jhering44 und Adolf Merkel45. Die diese Diskussion beherrschende Fragestellung lautete, ob es objektives 37
Roxin (Fn. 4), § 5 Rn. 42. Roxin (Fn. 4), § 10 Rn. 20. 39 Roxin (Fn. 4), § 5 Rn. 78. 40 Dürig, in: Maunz/Dürig, 1987, Art. 103 Abs. 2 Rn. 112 a.E. 41 Kritisch auch Schmitz (Fn. 24), § 1 Rn. 13. 42 Das Gesetzlichkeitsprinzip ist Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG), vgl. a. Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil Bd. 1, 8. Aufl. 1992, § 10 Rn. 8. 43 Näher dazu und m.w.Nw. Sinn (Fn. 12), S. 244 ff. sowie ders., in: FS des Fachbereichs Rechtswissenschaft zum 400jährigen Gründungsjubiläum der Justus-Liebig-Universität Gießen, 2007, S. 321 ff. 44 Insb. v. Jhering, Das Schuldmoment im römischen Privatrecht: Eine Festschrift (seinem hochverehrten Collegen Johann Michael Franz Birnbaum zur Feier seines 50-jährigen Professorenjubiläums am 24. Juni 1867), Gießen 1867. 45 Merkel, Kriminalistische Abhandlungen I, Zur Lehre von den Grundeintheilungen des Unrechts und seiner Rechtsfolgen, unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1867, Glashütte im Taunus 1971, S. 4 ff. 38
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Unrecht geben könne.46 Merkel, dessen Unrechtsverständnis auch die Schuldhaftigkeit beinhaltete, wandte sich gegen einen hegelianisch geprägten objektiven Unrechtsbegriff, der das „Recht als die objectiv daseiende Rechtsordnung“ und einem davon geschiedenen Zivilunrecht, welches die Verletzung eines besonderen oder subjektiven Rechts oder Rechtszustandes zum Inhalt hat.47 Da Merkel aber daran festhielt, dass es schuldloses Unrecht nicht geben könne, setzte ihm v. Jhering entgegen: „Wie sollen wir denn den Zustand des gutgläubigen Besitzers einer fremden Sache bezeichnen? Ein rechtmäßiger ist er nicht; also bleibt nichts übrig, als ihn einen unrechtmäßigen zu nennen.“48 Zwei Wege standen nun offen: Entweder folgte man der Unterscheidung von Straf- und Zivilunrecht oder man gab zugunsten der „Einheit der Rechtsordnung“ einen spezifisch strafrechtlichen Unrechtsbegriff auf, indem man aus ihm die Schuldhaftigkeit eliminiert. Die Strafrechtswissenschaft hat sich – nicht unwidersprochen49 – für den letzten Weg entschieden.50 Es mag richtig sein, dass den Rechtfertigungsgründen Ordnungsprinzipien zu Grunde liegen, auf denen die Einschränkungen eines Erlaubnissatzes beruhen müssen. Daraus mag sich auch eine Beschränkung richterlicher Rechtsfindung ergeben. Aber das alles hat nichts mit Vorhersehbarkeit zu tun. Die Beschränkung richterlicher Rechtsfortbildung als Ergebnis der Gewaltenteilung – also der Machtbändigung – führt nicht zur Transparenz des Regelungsinhalts des Erlaubnissatzes und damit zur Vorhersehbarkeit, in welchen Situationen man sich auf dieses Recht berufen kann.
VI. Zwischenergebnis Wie gesehen richtete sich der Fokus beim Gesetzlichkeitsprinzip stark auf dessen Hülle, also auf die Darstellung der Funktionen, die aus den gesellschaftlichen (Macht-)Verhältnissen folgten. Im Hintergrund blieb aber der unter der Hülle verborgene Kern: Sicherstellung von Kommunikation. Diese Funktion hat das Gesetzlichkeitsprinzip auch im Allgemeinen Teil des StGB zu erfüllen und insbesondere bei 46
Merkel (Fn. 45), S. 4 ff.; vgl. dazu auch Lesch (Fn. 11), S. 197 Anm. 140. Vgl. zum damaligen Meinungsstand Jellinek, Klassifikation des Unrechts, in: Ausgewählte Schriften und Reden, Bd. 1, 1911, S. 76 (92 ff.); Walther, Zur Beurteilung der „Theorie des heutigen Strafrechts“, in: KritV 1868, 321 (332 ff.). 47 „Unrecht im bürgerlichen Processe … (bedeutet), eine Verletzung des nur besondern Rechts (…), während (…) das Verbrechen (…), das Recht als solches bricht und angreift, zugleich mit der besondern Verletzung, in welcher die verbrecherische Handlung wirklich ist.“ So Abegg, Lehrbuch der Strafrechts-Wissenschaft, 1836, S. 4 f.; vgl. auch Berner, Ueber den Begriff des Verbrechens, ArchCrimNF Bd. 16 (1849), S. 442 (468). 48 V. Jhering (Fn. 44), S. 5. 49 Vgl. zu den Modellen von v. Jhering, Hälschner und Binding näher Sinn (Fn. 12), S. 249 ff. 50 Vgl. v. Liszt/Schmidt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 25. Aufl., 1927, S. 145 Fn. 3; vgl. zum Streit auch Lampe, Das personale Unrecht, 1967, S. 15 ff.; Lesch (Fn. 11), S. 195 ff.; Koriath, Grundlagen strafrechtlicher Zurechnung, 1994, S. 260 ff.
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den Rechtfertigungsgründen. Im Folgenden ist nun die These Jürgen Wolters51 wiederaufzunehmen und der Frage auf den Grund zu gehen, ob die Berücksichtigung sozialethischer Beschränkungen der Notwehr gegen diesen Kern verstoßen.
VII. Der Stand der Dogmatik zu den sozialethischen Begrenzungen des Notwehrrechts In der Rechtsprechung und Lehre sind verschiedene Fallgruppen anerkannt,52 in denen eine Begrenzung der Notwehr aus Gründen sozialethischer Maßstäbe notwendig erscheinen soll.53 Entwickelt wurden sie anlässlich von Situationen, in denen schuldunfähige Personen angreifen, in denen zwischen dem Schaden, der durch den Angriff droht und dem Schaden, der durch die Abwehr entstehen würde, ein krasses Missverhältnis besteht, bei Angriffen innerhalb persönlicher Nähebeziehungen und in Fällen der Notwehrprovokation. In der Rechtsprechung des BGH hat im letzten Jahrzehnt fast ausschließlich die letzte Fallgruppe eine Rolle gespielt.54 Diese Fallgruppen sind allerdings nicht abschließend. So hat der BGH bspw. erwogen, eine Einschränkung des Notwehrrechts jenseits der in der Rechtsprechung bislang anerkannten Fallgruppen für die Schweigegelderpressung („Chantage“) anzunehmen.55 Trotz immer wieder aufkeimender Kritik56 an der Methode, die sich nicht unmittelbar aus dem Wortlaut des § 32 StGB ergebenden Einschränkungen in die Notwehrvorschrift hinein zu interpretieren, hält die fast allgemeine Meinung in der Strafrechtswissenschaft57 daran fest. Die Gründe dafür sind schillernd. Zum einen wird, wie gesehen, die Geltung des Analogieverbots im Hinblick auf Rechtfertigungsgründe in Zweifel gezogen.58 Soweit dies nicht der Fall ist, sucht man im Wortlaut des § 32 StGB nach Anknüpfungsmöglichkeiten. Zum anderen scheint aber auch ein Perspektivwechsel vom Angegriffenen hin zum Angreifer ein Grund für die Aner51
Vgl. o. Fn. 2. Vgl. die Nw. bei Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2012, § 7 Rn. 170; Rosenau, SSW, 2009, § 32 Rn. 30 ff. 53 Ablehnend demgegenüber Erb, in: MüKo, 2. Aufl. 2012, § 32 Rn. 205 m.w.Nw.; ders., ZStW 108 (1996), S. 266 ff. (295 ff.); Hassemer, in: FS Bockelmann, 1979, S. 225 ff.; Kratzsch, Grenzen der Strafbarkeit im Notwehrrecht, 1968, S. 30 ff.; ders., GA 1971, S. 65 ff.; Marxen, Die „sozialethischen“ Grenzen der Notwehr, 1979, S. 27 ff.; Rönnau/Hohn, in: Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2006, § 32 Rn. 228; Schmitz (Fn. 24), § 1 Rn. 14; Wolter (Fn. 1), S. 5. 54 Vgl. bspw. BGH 4 StR 197/12; BGH NStZ-RR 2011, 74 und 305; NStZ 2011, 630; BGH 2 StR 118/10; BGH NStZ 2009, 332 und 626; BGH 2 StR 529/02; vgl. auch Puppe, in: Kudlich u. a. (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, 2012, S. 165 (171). 55 Vgl. BGH NJW 2003, 1955 (1960) mit zahlreichen Nw. 56 Vgl. insb. Erb (Fn. 53), § 32 Rn. 205; Engländer, Grund und Grenzen der Nothilfe, 2008, S. 298 ff. (312) beide m.w.Nw. 57 Kühl (Fn. 52), § 7 Rn. 164 m.w.Nw. 58 Roxin (Fn. 4), § 5 Rn. 42. 52
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kennung der Beschränkungen zu sein.59 Damit geht ein Verständnis des Notwehrrechts einher, das auch die Rechtsgüter des Angreifers zu schützen sucht.60 Im Zusammenhang mit dem Gesetzlichkeitsprinzip geht es nun nicht in erster Linie darum, die Begründung für die genannten Einschränkungen zu hinterfragen.61 Ohne Zweifel gibt es gute Gründe dafür, mangels Rechtsbewährung, zu akzeptierenden Individualschutzes oder aufgrund eines Appells an die Mindestsolidarität62 des Angegriffenen die Abwehrmöglichkeiten zu relativieren. Die entscheidende Frage ist vielmehr, ob diese Beschränkungen im Wortlaut des § 32 StGB so verankert sind, dass sie dem Kern des Gesetzlichkeitsprinzips nicht widersprechen. 1. Der durch die Notwehr zu lösende Konflikt Rechtfertigungsgründe schildern Machtverhältnisse. Die Notwehr beschreibt den deutlichsten Konflikt zwischen Recht und Unrecht und löst ihn zugunsten des Rechts – sog. Rechtsbewährung – auf. Hinzu tritt der Aspekt des Individualschutzes.63 Mit der Entwicklung des staatlichen Gewaltmonopols und der damit einhergehenden Abgabe personeller Macht musste ein Kompensationsmechanismus geschaffen werden. Da der Staat den Bürger nicht überall und zu jeder Zeit schützen kann, muss er ihm in bestimmt definierten Situationen das Recht zur Gewaltausübung zurückgeben. Luhmann hat die Verbindung zwischen Macht und Recht wie folgt beschrieben: „Wer in Situationen Recht hat, hat dann auch die Macht, Macht zu mobilisieren. Er ist nicht auf die ,Hilfe‘ der Umstehenden angewiesen (…), sondern verfügt über einen Klingeldraht zum Machthaber, den er nach vorweg bekannten Regeln betätigen kann. Das setzt die ,rechtsstaatliche‘ Code-Regel voraus, dass Recht ein notwendiger und – mindestens ebenso wichtig – ein hinreichender Grund für die Ausübung staatlicher Macht ist.“64 Das bedeutet auf § 32 StGB angewandt nichts anderes, als dass sich der Angreifer im Unrecht und der Angegriffene sich im Recht befinden. Dieser binäre Schematismus ist Teil der vom Gesetzlichkeitsprinzip sicherzustellenden Information an die Kontrahenten. Aufgrund dieser Reduzierung von Komplexität ist es möglich, dass Angreifer und Angegriffener sich ihrer Rollen in einer dynamischen Situation schnell bewusst werden können: der Angreifer als eine Person, in dessen Rechtsgüter massiv eingegriffen werden darf, und der Angegriffene, der sich seines Abwehrrechts gewiss sein kann. 59
„Merkwürdiger Rollentausch zwischen Täter und Opfer“ so Beulke, JR 1990, S. 380 ff. Kritisch dazu schon Binding, Handbuch des Strafrechts, 1885, S. 735 Anm. 17. 61 Vgl. dazu bspw. Jakobs (Fn. 4), 12/46 ff.; Kühl (Fn. 52), § 7 Rn. 164, 170 ff.; Marxen (Fn. 53), S. 21 ff.; Puppe (Fn. 54), S. 165 ff. 62 Jakobs (Fn. 4), 12/46 ff. 63 Vgl. zu den beiden Säulen des Notwehrrechts Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl. (1996), § 32 I 2; Rönnau/Hohn (Fn. 53), § 32 Rn. 66; Roxin (Fn. 4), § 15 Rn. 1 ff.; kritisch zum Dualismus Pawlik, ZStW 114 (2002), 259 ff. 64 Luhmann (Fn. 18), S. 48 f. 60
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2. Die sozialethischen Einschränkungen zwischen „Erforderlichkeit“ und „Gebotenheit“ Die fast allgemeine Meinung in der Strafrechtswissenschaft sucht die sozialethischen Einschränkungen im Wortlaut des § 32 StGB, was einen Vorwurf, gegen die lex scripta zu verstoßen, zwar ausräumt65, aber die Frage nach einer Verletzung der lex certa und stricta unbeantwortet lässt. Uneinigkeit besteht allein darüber, ob eine Anknüpfung in Abs. 1 an den Begriff „geboten“ oder in Abs. 2 an die Wendung „erforderlich“ möglich ist. In der Literatur66 wird überwiegend davon ausgegangen, dass die Fallgruppen zur Beschränkung des Notwehrrechts ihre Grundlage im Gesetzeswortlaut durch den Begriff „geboten“ gefunden haben, und auch die Rechtsprechung67 teilt diese Ansicht. Für diese Sichtweise scheint der gesetzgeberische Wille zu streiten, denn die Gesetzesbegründung zur Strafrechtsreform aus dem Jahr 1975 nimmt ausdrücklich auf die sozialethischen Einschränkungen Bezug: „Die Ausschussfassung unterscheidet sich von der im E 62 und im AE vorgeschlagenen Formulierung nur insoweit, als die Worte ,in Notwehr‘ durch den Relativsatz ,(Tat), die durch Notwehr geboten ist‘ ersetzt wurde. Mit dieser Änderung wird die im geltenden Recht getroffene Regelung wiederhergestellt. Nach der Ansicht des Ausschusses bedarf das Notwehrrecht aus sozial-ethischen Gründen einer Begrenzung, durch die Fälle ausgeschlossen werden, die keine Rechtfertigung verdienen. (…) Durch die Wiedereinführung des Erfordernisses des Gebotenseins soll die Möglichkeit eröffnet werden, in derartigen Fällen die Rechtfertigung zu verneinen.“68
Dem steht jedoch entgegen, dass sich auch der Wille des Gesetzgebers am Gesetzlichkeitsprinzip messen lassen muss. Der Wille (die zu verbreitende Information) bleibt unerfüllt und letztendlich unverstanden, wenn er sich nicht durch Auslegung innerhalb der Wortlautschranke nachweisen lässt. Da der Gesetzgeber bei § 32 StGB die Schriftform (Verbreitungsmedium) gewählt hat, gilt die lex certa. Erb betont zu Recht die Unbrauchbarkeit des Begriffs der „Gebotenheit“ als hinreichenden gesetzlichen Anknüpfungspunkt zur Beschränkung des Notwehrrechts.69 Die Formulierung in § 32 Abs. 1 StGB sagt über die Voraussetzungen der Notwehr nicht mehr aus, als dass der Täter eine Tat begangen haben muss. Ist diese Tat durch Notwehr geboten, so wird die Rechtsfolge der Notwehr („handelt nicht rechtswidrig“) beschrieben. Mit „geboten“ wird also nicht mehr ausgesagt, als dass etwas getan werden muss. Es handelt sich um einen hypothetischen Imperativ.70 In die Gebotenheit weitere Vorausset-
65
So Gropp (Fn. 4), § 6 Rn. 82. Vgl. Frister (Fn. 29), 16/25; Günther, in: Systematischer Kommentar,,7. Aufl. (1999), 31. Lfg., § 32 Rn. 102 f.; Kühl (Fn. 52), § 7 Rn. 163; Rosenau (Fn. 52), § 32 Rn. 30 ff.; vgl. a. Eser/Hecker (Fn. 24), § 1 Rn. 13: immanente Beschränkbarkeit. 67 Vgl. bspw. die Nw. o. Fn. 54. 68 BT-Drucks. 5/4095, S. 14. 69 Erb (Fn. 53), § 32 Rn. 205; zustimmend Rönnau/Hohn (Fn. 53), § 32 Rn. 228. 70 Erb (Fn. 53), § 32 Rn. 205. 66
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zungen hineinzulesen ist, wie Erb konstatiert, ein „willkürlich-beliebiger Umgang“71 mit Sprache.72 Die Gesetzesbegründung ist aber auch in sich widersprüchlich: „Der Verzicht auf die Gebotenheitsklausel könnte von der Rechtsprechung dahin missverstanden werden, dass der Gesetzgeber der sich im geltenden Recht abzeichnenden Tendenz des Ausschlusses solcher Fälle entgegentreten wolle. In einigen früheren Entwürfen ist die Lösung dieser Problematik entweder unter dem Gesichtspunkt der Güterabwägung oder der Angemessenheit versucht worden. Beide Regelungen würden indes den vom Angriff Bedrohten nicht selten überfordern.“73
Weshalb die Gebotenheitsklausel den Angegriffenen in „bedrängter Lage“74 nicht weniger überfordert, lässt die Begründung offen. Man könne auch nicht davon ausgehen, dass der vom Angriff bedrohte „angesichts des Verlustes oder der Gefährdung des eigenen Rechtsgutes noch zu einer leidenschaftslosen Abwägung in der Lage ist.“75 Weshalb er aber in einer solchen Lage leidenschaftslos die Fallgruppen sozialethischer Beschränkungen berücksichtigen kann, bleibt unklar. Nach anderer Ansicht ist an die Wendung „erforderlich“ in Abs. 2 anzuknüpfen. Damit wird versucht, die Einschränkungen über den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 20 GG) zu rechtfertigen. Erforderlich könne nur diejenige Verteidigung sein, die auch verhältnismäßig ist.76 Nach dieser Ansicht fungiert das Merkmal „geboten“ dann nur noch als „Erinnerungsposten“77 für eine Beachtung der Fallgruppen. Die Überlegungen zur Einbeziehung der Verhältnismäßigkeit in das Merkmal „erforderlich“ scheinen jedenfalls eine Berücksichtigung von Beschränkungen rechtfertigen zu können. Allerdings lehnt die Gesetzesbegründung zu § 32 StGB ausdrücklich die Verankerung der sozialethischen Beschränkungen im Merkmal der Erforderlichkeit ab: „(…) die Erforderlichkeit der Verteidigung bedeutet an sich nur, dass kein geeignetes milderes Mittel zur Verfügung stehen darf.“78
Interessant ist in diesem Zusammenhang weiter, dass der Gesetzgeber nahezu das Höchstmaß an forderbarer Steuerung des Verteidigungsverhaltens schon mit der Wahl des erforderlichen Verteidigungsmittels als erreicht ansehen will: 71
Erb (Fn. 53), § 32 Rn. 205. A.A. Eser/Hecker (Fn. 24), § 1 Rn. 13. 73 BT-Drucks. 5/4095, S. 14. 74 BT-Drucks. 5/4095, S. 14. 75 BT-Drucks. 5/4095, S. 14. 76 Vgl. Gropp (Fn. 4), § 6 Rn. 82; Lilie, in: FS Hirsch, 1999, S. 277 ff.; Lenckner, GA 1968, S. 1 ff. 77 Gropp (Fn. 4), § 6 Rn. 82. 78 BT-Drucks. 5/4095, S. 14. 72
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„Schon die Aufgabe, in bedrängter Lage die Entscheidung zu treffen, welches das „erforderliche“ Verteidigungsmittel ist, stellt an die richtige Steuerung des Verteidigungsverhaltens oft hohe Anforderungen. In vielen Fällen wird dem Angegriffenen deshalb gar nicht die Zeit bleiben, außer einer solchen Abwägung auch noch die der beiden widerstreitenden Rechtsgüter vorzunehmen.“79
Das bedeutet, dass jede weitere Voraussetzung rechtmäßiger Abwehr, insbesondere eine Güterabwägung, zur Überforderung des Angegriffenen führt und das Notwehrrecht entwerten würde. Die sozialethischen Einschränkungen bleiben aber hinter einer Güterabwägung nicht so weit zurück, dass sich ihre Berücksichtigung neben der „Erforderlichkeit“ rechtfertigen ließe. Jedenfalls bleibt der Gesetzgeber eine Begründung für die dann nicht bestehende Überforderung des Angegriffenen schuldig. Es ist nicht zu übersehen, dass der Wille des Gesetzgebers, die sozialethischen Schranken der Notwehr mit der Gebotenheit abzubilden, durch die Erwägungen zur Erforderlichkeit neutralisiert wird. Für die in das Merkmal der Erforderlichkeit auch Verhältnismäßigkeitserwägungen hineindeutende Ansicht bleibt aber das Problem, dass sich aus der Wendung „erforderlich“ nichts weiter entnehmen lässt als der Imperativ „Handle bei der Verteidigung verhältnismäßig!“. Das genügt aber noch nicht, um die mit den Fallgruppen verbundenen Informationen erkennbar und verstehbar zu verbreiten. Es wird nur ein völlig unbestimmter Begriff durch einen anderen ersetzt. Der Gesetzgeber hat bei § 34 StGB darauf verzichtet, die Interessenabwägung allein durch den Begriff „verhältnismäßig“ zu beschreiben, weil ihm das offenbar zu unbestimmt und zu wertungsoffen schien. Und selbst die Interessenabwägung hat dem Gesetzgeber nicht genügt, um hinreichende Einschränkungen des rechtfertigenden Notstandes zu beschreiben. Deshalb wird sie von einer Angemessenheitsklausel in Satz 2 flankiert. Freilich ist es nicht unumstritten, ob die Angemessenheitsklausel angesichts der Offenheit der Interessenabwägung eine Funktion hat. Das ändert aber nichts daran, dass eine Interessenabwägung bestimmter ist als der Begriff „verhältnismäßig“. Problematisch ist außerdem, den im Rahmen der Notwehr Angegriffenen an das Verhältnismäßigkeitsprinzip binden zu wollen. Dabei steht außer Frage, dass der Gesetzgeber selbstverständlich Einschränkungen formulieren könnte, die aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgen. Ob es allerdings möglich ist, den Angegriffenen unmittelbar an eine Pflicht, die sich an die staatliche Gewalt richtet, binden zu können, bedarf der Begründung. Im Strafrecht hat der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine konkretisierende Funktion. Indem die Legislative durch das aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip abgeleitete Übermaßverbot zur Verabschiedung maßvoller Strafnormen verpflichtet ist, konkretisiert sich in der Strafnorm die Verhältnismäßigkeit einer kriminalpolitischen Entscheidung. Für Gründe, die das Unrecht ausschließen, bedeutet dies nichts anderes. Auch die geschriebenen Rechtfertigungsgründe müssen vor dem Hintergrund der Gewährung von Freiheit auf Seite des Inanspruchnehmenden und Unfreiheit auf der Seite des von dem Rechtfertigungsgrund betrof79
BT-Drucks. 5/4095, S. 14.
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fenen Bürgers verhältnismäßig sein. Die kriminalpolitische Entscheidung, ein bestimmtes Verhalten als gerechtfertigt anzusehen, wird also über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Einbeziehung rechtfertigender Prinzipen verdichtet und so zur Rechtsnorm. In der Rechtsnorm konkretisiert sich also auch bei Rechtfertigungsgründen die Verhältnismäßigkeit. Paradigmatisch dafür ist die kriminalpolitische Entscheidung, die Beschneidung von Knaben unter bestimmten Voraussetzungen zu rechtfertigen. Niemand kam auf die Idee, in die Formulierung die Verhältnismäßigkeit oder gar nur die Erforderlichkeit aufzunehmen in der Art: § 1631d BGB Beschneidung des männlichen Kindes „Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese verhältnismäßig/erforderlich ist.“
Im Gegenteil, der Gesetzgeber hat sogar versucht, Einschränkungen zu formulieren: „(1) Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll. Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird.“80
Die Überlegung, weil § 32 StGB verhältnismäßig sein muss, könne man die Verhältnismäßigkeit in § 32 StGB hineinlesen oder der Regelung eine immanente Beschränkbarkeit81 entnehmen, überzeugt nicht. Auf diese Weise könnte man jede unbestimmte Norm „retten“. Das Gesetzlichkeitsprinzip verlöre so aber einen wesentlichen Adressaten – den Gesetzgeber, und es würde sich nur noch an den Richter wenden. Es wäre auch nicht mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung zu vereinbaren. Die Verhältnismäßigkeit der Norm hat der Gesetzgeber sicherzustellen und nicht der Richter. Letzterer hat für eine verhältnismäßige Rechtsanwendung im Rahmen verhältnismäßiger Normen Sorge zu tragen. Das Hineinlesen sozialethischer Beschränkungen des Notwehrrechts in § 32 StGB bedeutet nichts anderes, als die genannten kommunikationstheoretischen Grundlagen zu missachten und im Kern gegen das Gesetzlichkeitsprinzip zu verstoßen. Dem Wortlaut des § 32 StGB lässt sich keine hinreichend bestimmte Information über die einzelnen Fallgruppen entnehmen. Selbst wenn man aber anderer Meinung sein sollte, so kann der Rechtsunterworfene diese Information nicht insoweit verstehen, dass er sein Verhalten daran ausrichten könnte. Dafür sind die Fallgruppen zu komplex. Recht als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium hat aber die Aufgabe, gerade in komplizierten Situationen die Komplexität zu reduzieren. Dieser Grundsatz wird geradezu ins Gegenteil verkehrt. Mit den sozialethischen Beschränkungen wird Komplexität gesteigert, was zur Abnahme der Erwartbarkeit von 80 81
BGBl. I S. 2749. So Eser/Hecker (Fn. 24), § 1 Rn. 13.
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Kommunikation führen muss. Im Grunde hat das auch der Gesetzgeber mit seinen Erwägungen zum Merkmal der Erforderlichkeit anerkannt. 3. Problemverlagerung Nun könnte man den ganzen Einwänden gegen einen Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip dadurch entgehen, die Fallgruppen an andere und bestimmtere Merkmale in § 32 StGB zu knüpfen. Das führt nach Puppe dazu, dass ein Teil der Fälle aus dem Notwehrbereich ausgeschieden werden können, ohne gegen das Gesetzlichkeitsprinzip zu verstoßen.82 So könne man von einem Angriff nur dann sprechen, wenn der Täter fremde Rechtsgüter vorsätzlich verletze oder gefährde.83 Das soll auch für schuldlos handelnde Personen gelten. In beiden Fällen soll der Konflikt durch den defensiven Notstand gelöst werden. Dieser Verlagerung hin zu § 34 StGB ist grundsätzlich zuzustimmen, wenngleich der Begriff „Angriff“ diese Interpretation nicht in allen von Puppe genannten Fällen erzwingt. Auch der bewusst fahrlässig Handelnde reflektiert die Möglichkeit des Erfolgseintritts.84 Ihn nicht als Angreifer wahrzunehmen, erscheint problematisch. Außerdem fällt es schwer, sich vorzustellen, dass ein siebenjähriges Kind, das mit einem Schnellfeuergewehr um sich schießt, nicht angreift. Das alltagssprachliche Verständnis, auf das sich Puppe beruft, dürfte einer solchen Auslegung eher entgegenstehen. Vielmehr fehlt es in diesen Fällen an einem rechtswidrigen Angriff.85 Dass die h.L. diesen Schritt nicht gehen möchte, liegt allein daran, dass sie einem objektiven Rechtswidrigkeitsbegriff folgt, obwohl im gleichen Atemzug die Einschränkung der Notwehr über eine nicht hinreichende Tangierung des in der Notwehr verankerten Rechtsbewährungsprinzips gesucht wird. Im Kern wird also anerkannt, dass ein schuldlos um sich schießendes Kind das Recht nicht in Frage stellen kann, weshalb es auch richtig ist, dieses als Gefährder wahrzunehmen und deshalb den Konflikt im Rahmen des § 34 StGB zu lösen.86
VIII. Schluss „Die sozialethische Begrenzung des Notwehrrechts verstößt im Kern gegen das Gesetzlichkeitsprinzip (…).“87 Der These von Jürgen Wolter ist zuzustimmen. Der Kerngehalt des Gesetzlichkeitsprinzips ist die Sicherstellung von Kommunikation unter Gleichen zum Zweck der Erwartbarkeit einer Verhaltenssteuerung durch Straf82 Puppe (Fn. 54), S. 170 f., 171 ff. Die Fallgruppen „enge persönliche Näheverhältnisse“ und die „Notwehrprovokation“ werden abgelehnt. Die anderen Fallgruppen werden innerhalb anderer Merkmale des § 32 StGB diskutiert. 83 Puppe (Fn. 54), S. 169. 84 Vgl. Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 24), § 15 Rn. 203. 85 Vgl. dazu Sinn, GA 2003, S. 96 (103 ff.). 86 Vgl. Sinn (Fn. 85), S. 96 ff. 87 Wolter (Fn. 1), S. 5.
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recht. Es sichert mit der lex scripta die Verbreitung der Mitteilung und mit der lex certa und der lex stricta die Information und das Verstehen dieser. Die lex praevia bindet die Kommunikation an einen zeitlichen Kontext. Der Wortlaut des § 32 StGB kann zur Begründung sozialethischer Schranken nichts beitragen. Es fehlt also schon an einer Information an den Angegriffenen, dass sein Abwehrrecht durch Fallgruppen eingeschränkt sein soll. Der Wille des Gesetzgebers hat sich nicht im Gesetzeswortlaut materialisiert. Jedenfalls ist diese Information nicht zu verstehen, weil sie sich in einem unbestimmten Begriff verbirgt. Bezüglich der Einbeziehung sozialethischer Schranken aufgrund des gesetzgeberischen Willens ist § 32 StGB zu unbestimmt und verstößt gegen die lex certa. Im Bereich der Rechtsanwendung führt die Anerkennung von sozialethischen Schranken zu einem Verstoß gegen die lex stricta.
Vorsatz bei Gefährlichkeits-, Gefährdungsund Verletzungsdelikten Von Ulrich Stein
I. Seit dem Inkrafttreten des RStGB ist es ganz herrschende Meinung, dass man Gefährdungsvorsatz, genauer: Vorsatz sog. konkreter Gefährdung, haben kann, ohne zugleich (bezogen auf dasselbe Rechtsgutsobjekt) Verletzungsvorsatz zu haben.1 Auch Jürgen Wolter hat zunächst diese Auffassung vertreten,2 um dann in seiner grundlegenden Monografie über „Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem“ zur Gegenposition umzuschwenken,3 deren Anhänger stets deutlich in der Minderzahl waren und dies bis heute geblieben sind.4 Über die Richtigkeit einer Rechtsauffassung (sofern es 1
So bereits Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, 1898, S. 121, u. Bd. 4, 1919, S. 402; Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, 1930, S. 400 ff.; Frank, StGB, 18. Aufl. 1931, § 59 III. 1.; Rabl, Der Gefährdungsvorsatz, 1933, S. 40 ff., 60 ff. – Aus neuerer Zeit: Arzt, Gedächtnisschr. f. H. Schröder, 1978, S. 119 (142); Brehm, Zur Dogmatik des abstrakten Gefährdungsdelikts, 1973, S. 134 f.; Fischer, StGB, 60. Aufl. 2013, § 15 Rn. 10; Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 290 ff., 297 ff.; v. Hippel, ZStW 75 (1963), 443 (449); Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 6. Abschn. Rn. 79; Köhler, Die bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 285 ff.; Küper, NJW 1976, 543 (546); Küpper, ZStW 100 (1988), 758 (768 ff.); Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, § 15 Rn. 28; Puppe, in: NKStGB, 3. Aufl. 2010, § 15 Rn. 86; Radtke, NStZ 2000, 88 (89 f.); Schaffstein, Festschr. f. OLG Celle, 1961, S. 175 (180); Schünemann, Festschr. f. H.-J. Hirsch, 1999, S. 363 (375); Sternberg/Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. 2008, § 15 Rn. 98 a; Vogel, in: LK-StGB, 12. Aufl. 2007, § 15 Rn. 129 f.; Weigend, ZStW 93 (1981), 657 (671 f., 693 f.); Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 122 ff. – Ebenso die Rspr.: grundl. BGHSt 22, 67 (74 f.); daran anschließend BGHSt 26, 176 (182); 26, 244 (246); 36, 1 (15 f.); BGH, VRS 50 (1996), 94 (95); BGH, NStZ-RR 2008, 309 (310). 2 Wolter, Alternative und eindeutige Verurteilung auf mehrdeutiger Tatsachengrundlage im Strafrecht, 1972, S. 188 ff. 3 Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981, S. 209 ff.; ders., JuS 1981, 168 (171). 4 So bereits Klee, Der dolus indirectus als Grundform der vorsätzlichen Schuld, 1906, S. 27; Miricˇka, Die Formen der Strafschuld und ihre gesetzliche Regelung, 1903, S. 187. – Aus neuerer Zeit sodann: Binavince, Die vier Momente der Fahrlässigkeitsdelikte, 1969, S. 156; Horn, Konkrete Gefährdungsdelikte, 1973, S. 204 ff., 209 f.; Ostendorf, JuS 1982, 426 (431); Rudolphi/Stein, in: SK-StGB, 7. Aufl. (Stand: 125. Lfg. 2010), § 16 Rn. 12, 28; Schmidhäuser, JuS 1980, 241 (245 Fn. 33); ders., Festschr. f. Oehler, 1985, S. 135 (154);
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diese Kategorie dort überhaupt geben kann) oder auch nur über ihre Plausibilität besagt das Zahlenverhältnis ihrer Befürworter und Gegner bekanntlich bestenfalls wenig. Die folgenden Überlegungen sollen zeigen, dass es kein Zufall ist, wenn der Jubilar gerade in seiner ausgeprägt normentheoretisch konzipierten Abhandlung (auch) diese spezielle Frage aufgegriffen und sich – um es vorwegzunehmen: in zutreffender Weise – neu positioniert hat. Zugleich sollen allgemeine Zusammenhänge sichtbar werden, aus denen sich Regeln für weitere Deliktsarten ableiten lassen. Und nicht zuletzt sollte auch ein wenig deutlicher werden, weshalb die herrschende Meinung zur herrschenden geworden und dies geblieben ist.
II. Der Schlüssel zur richtigen Definition des Vorsatzes in Bezug auf die einzelnen Deliktsarten liegt im Zusammenspiel zwischen der Funktion des Vorsatzbegriffs und den Verhaltensnormen, die den Straftatbeständen zugrunde liegen. Gar nicht hilfreich, sondern eine fortdauernde Quelle von Missverständnissen ist die gesetzliche Formulierung in § 16 Abs. 1 S. 1 StGB. Weniger störend ist insoweit zwar die negative Fassung, die offen lässt, ob der Vorsatz über das „Kennen der zum gesetzlichen Tatbestand gehörenden Umstände“ hinaus noch weitere Voraussetzungen hat. Schon wesentlich unglücklicher gewählt ist der Ausdruck „kennen“, der sprachlich auf das (angebliche) Erfordernis einer Übereinstimmung zwischen Vorstellungsinhalt und Realität hindeutet – was beim Versuchsdelikt offenkundig nicht zutreffen kann, woraus zugleich folgt, dass diese Redeweise auch beim Vollendungsdelikt die Zusammenhänge verzerrt. Denn die Beschaffenheit der Realität vermag, wie ja das Versuchsdelikt zeigt, das Vorliegen oder Nichtvorliegen von Vorsatz nicht zu berühren. Deshalb muss beim Vollendungsdelikt die Kongruenz von Vorstellung und Realität ein anderer, eigenständiger Gesichtspunkt sein, für den zwar auch die Funktion des Vorsatzbegriffs eine Rolle spielt (schließlich geht es auch um die Vorstellung und damit um den Vorsatz), der jedoch darüber hinausreicht.5 Vor allem aber führt die Formulierung „Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören“ in die Irre. Nur ungenau ist sie insofern, als sich der gesetzliche Tatbestand nicht aus Umständen, sondern aus Merkmalen zusammensetzt und sich der Tätervorsatz sinnvollerweise nicht auf tätereigene Vorstellungen, Absichten usw. beziehen kann, also nur die objektiven Tatbestandsmerkmale gemeint sind.6 Tauscht man zugleich den ungenauen Ausdruck „kennen“ aus und wendet man die Definition ins Positive, lässt sich Schröder, Festschr. f. Sauer, 1949, S. 207 (243); Weber, in: Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht BT, 2. Aufl. 2009, § 35 Rn. 101; ders., Festschr. f. Eisenberg, 2009, S. 371 (372); Wolters, in: SK-StGB, 8. Aufl. (Stand: 127. Lfg. 2011), Vor § 306 Rn. 13 f.; letztlich auch Zielinski, in: AK-StGB, Bd. 1, 1990, §§ 15, 16 Rn. 81. 5 Treffend dazu Wolter, ZStW 89 (1977), 649 ff. 6 Darauf hat bereits Welzel in seinem Gutachten für die Große Strafrechtskommission hingewiesen: Materialien zur Strafrechtsreform, 1. Bd., 1954, S. 45 (46).
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die gesetzliche Vorsatzdefinition folgendermaßen umformulieren: Vorsätzlich handelt, wer sich bei Begehung der Tat Umstände vorstellt (und in Kauf nimmt7), die alle objektiven Merkmale des gesetzlichen Tatbestands verwirklichen würden. Diese Umformulierung lenkt den Blick auf denjenigen Punkt, der eine wesentliche Ursache für die traditionelle Fehljustierung der Vorsatzlehre sein dürfte: Der Vorsatz kann sich richtigerweise – worauf sogleich zurückzukommen sein wird – nur auf Umstände beziehen, die für die Verhaltensnorm relevant sind. Der gesetzliche Tatbestand aber beschreibt unmittelbar gar nicht die Verhaltens-, sondern nur die Sanktionsnorm, und die objektiven Merkmale der Sanktionsnorm sind (jedenfalls im Wesentlichen) nicht zugleich solche der Verhaltensnorm. Dem historischen Gesetzgeber sollte man diese aus heutiger Sicht misslungene Formulierung nicht als Kunstfehler anlasten. Er hat insoweit einer normentheoretischen Konzeption Ausdruck verliehen, die zur Entstehungszeit des RStGB, soweit ersichtlich, unangefochtener Konsens war:8 Verboten ist die Verursachung bestimmter (Verletzungs- oder Gefährdungs-)Erfolge und der Vorsatz ist eine der Schuldformen, kraft deren die Erfolgsverursachung als schuldhaft zugerechnet und daher bestraft werden kann. In der Großen Strafrechtskommission, die in den 1950er Jahren tagte und die wesentlichen Weichen für die seit 1975 geltende Neufassung stellte, hatte zwar schon die im Entstehen begriffene finalistische Lehre einen gewissen Einfluss, wie sich namentlich an § 22 StGB (striktes Anknüpfen an die Tätervorstellung mit der Konsequenz der Strafbarkeit auch des untauglichen Versuchs) zeigt. Wesentliches Anliegen dieser Lehre ist es, dass beim Vorsatzdelikt die Verhaltenspflichtverletzung in der Betätigung des auf Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolgs gerichteten Vorsatzes liegt. Mit der Hervorhebung der „Überdeterminierung des Kausalverlaufs“ als des wesentlichen und zugleich den Vorsatz ausmachenden Aspekts9 scheint sie sich aber den Blick darauf verstellt zu haben, dass erstens die Verhaltenspflichtwidrigkeit und damit der Vorsatzgegenstand sinnvollerweise nur in dem Risiko liegen kann, das das jeweilige Verhalten aufweist, dass zweitens der Bezugspunkt dieses Risikos – also der negativ bewertete Sachverhalt, dessen Vermeidung die Verhaltenspflicht dient – nicht oder jedenfalls nicht vollständig identisch sein muss mit demjenigen Sachverhalt, den das jeweilige tatbestandliche Erfolgsmerkmal beschreibt und dass schließlich eine ganz wesentliche Aufgabe darin besteht, das die Verhaltenspflichtwidrigkeit begründende Risiko nach Art und Größe zu beschreiben und es damit von der notwendigerweise vorhandenen Masse rechtlich erlaubter Risiken ab7 Damit wird eine der geläufigen Formulierungen der insgesamt h. M. aufgegriffen. Ob dieses Inkaufnehmen zum gesetzlichen Merkmal „kennen“ gehört oder ein zusätzliches, eigenständiges Erfordernis (die gesetzliche Vorsatzdefinition also unvollständig) ist, ist letztlich unerheblich. Siehe dazu unten III. 2. a). 8 Vgl. den Abriss der dogmengeschichtlichen Entwicklung (m. w. N.) bei Rudolphi/Stein (Fn. 4), § 15 Rn. 11 ff. 9 Auch in neuerer Zeit wird dies von Finalisten noch nachdrücklich hervorgehoben. Siehe z. B. – speziell zur Problematik des Gefährdungsvorsatzes – Küpper, ZStW 100 (1988), 758 (778) unter Berufung auf Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems, 4. Aufl. 1961, S. 1.
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zuschichten. Letzteres wurde zwar seit den 1960er Jahren durch die Entwicklung der sog. Lehre von der objektiven Zurechnung in Angriff genommen, allerdings auf der Grundlage eines wesentlich anderen normentheoretischen Ansatzes und dementsprechend auch mit ganz anderer dogmatisch-begrifflicher Lozierung: Ob ein Verhalten verboten ist, soll sich nach einem „objektiven“ Maßstab richten, nämlich den Erkenntnismöglichkeiten eines in den Adressatenhorizont versetzten „verständigen Betrachters“, und ihre straftatsystematische Heimat findet die so verstandene Verhaltenspflichtwidrigkeit in dem ungeschriebenen Tatbestands-Teilmerkmal „unerlaubte Gefährlichkeit des Verhaltens“, das wiederum zu dem umfassenderen objektiven Tatbestandsmerkmal „objektive Zurechenbarkeit des Erfolgs“ gehört.10 Eine Verbindung zum Vorsatzbegriff wurde zunächst offenbar nicht hergestellt. Daher verwundert es nicht, dass sich, obwohl auch Protagonisten dieser neuen Lehre auf die weitere Entstehungsgeschichte Einfluss nahmen,11 weder in der Fassung des Alternativ-Entwurfs 1966 noch in der endgültigen Gesetzesfassung eine den hier interessierenden Punkt betreffende wesentliche Änderung ergeben hat. Erst später begann sich die Erkenntnis zu verbreiten, dass sich konsequenterweise der Vorsatz auf die Umstände beziehen muss, die die unerlaubte Gefährlichkeit ausmachen, und zwar einschließlich des Gefährlichkeitsurteils als solchen (aber ohne das zum Unrechtsbewusstsein gehörende Unerlaubtheitsurteil), denn (jedenfalls auch) diese sind „Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören“.12 Zugleich ist damit sozusagen „nebenbei“ die ohne Rekurs auf die normentheoretischen Zusammenhänge nicht sinnvoll zu beantwortende Frage geklärt worden, welchen Grad die vorgestellte Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit des Vorliegens bzw. Zustandekommens der die objektive Tatbestandsmäßigkeit ausmachenden Umstände haben muss, damit diese Vorstellung Vorsatz ist. Zum Vorsatzgegenstand gehören also, anders formuliert, diejenigen Umstände, die die Verhaltenspflichtwidrigkeit (einschließlich der für diese relevanten Wahrscheinlichkeitsgrade) begründen. Umgekehrt machen nur diese Umstände den Vorsatzgegenstand aus, denn die Vorstellung eines verhaltenspflichtrelevanten Risikos ist logisch gesehen nichts anderes als die Vorstellung der tatbestandsrelevanten Möglichkeit eines Erfolgseintritts.13 Dieser letztgenannte Gedankenschritt drängt sich eigentlich auf, wird aber offenbar nicht allgemein vollzogen, sondern der Erfolgseintritt wird als zusätzlicher Vorsatzgegenstand benannt. Damit wird ein identischer Inhalt begrifflich doppelt erfasst, was wiederum zu Fehlschlüssen beitragen mag. Um von vornherein einem Missverständnis vorzubeugen: Die gesetzliche Regelung darf und soll nicht beiseitegeschoben und durch eine neue, von der Entscheidung des Gesetzgebers abweichende ersetzt werden. Selbstverständlich gilt erstens das Analogieverbot (Art. 103 Abs. 2 GG), mit dem aber keine Konflikte entstehen können. Die Kenntnis des verhaltenspflichtrelevanten Risikos ist stets Kenntnis 10 Zusammenfassende Darstellung bei Rudolphi, in: SK-StGB, 6. Aufl. (Stand: 26. Lfg. 1997), Vor § 1 Rn. 57 ff. 11 So war namentlich Roxin einer der Mitverfasser des Alternativ-Entwurfs. 12 Grundlegend war insofern die breit angelegte Monografie von Frisch (Fn. 1). 13 Zusammenfassend dazu Rudolphi/Stein (Fn. 4), § 16 Rn. 12a m. w. N.
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auch des Bezugspunkts dieses Risikos; dieser Bezugspunkt ist entweder identisch mit dem tatbestandlichen Erfolg, oder der tatbestandliche Erfolg ist – namentlich bei Gefährlichkeits- und konkreten Gefährdungsdelikten, wie sogleich noch zu erläutern sein wird – ein Zwischenstadium des Kausalverlaufs zwischen dem verhaltenspflichtwidrig-riskanten Verhalten und dem Bezugspunkt des Risikos, so dass auch dort die Risikokenntnis logisch zwingend zugleich Kenntnis des tatbestandlichen Erfolgs vermittelt. Es geht also nicht um eine Ausweitung der Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Tat, sondern um eine tendenzielle Einschränkung. Ebenso selbstverständlich ist zweitens, dass die Wertentscheidung des Gesetzgebers, die im Wortlaut von § 16 Abs. 1 S. 1 StGB ihren Ausdruck gefunden hat, ungeschmälert beachtet werden muss. Sie lässt sich ungefähr folgendermaßen skizzieren: Den Rechtsfolgen der Vorsatztatbestände soll unterworfen werden (mit der Konsequenz, dass er überhaupt nur dann strafbar oder, soweit Fahrlässigkeitstatbestände existieren, den jedenfalls in aller Regel und im Grundsatz strengeren Rechtsfolgen der Vorsatztatbestände ausgesetzt ist), wer „sehenden Auges“ hinsichtlich aller für den jeweiligen Tatbestand relevanten Umstände handelt. Natürlich ist dies zunächst einmal kaum mehr als eine bildhafte Paraphrasierung der gesetzlichen Formulierung, die in vielfacher Hinsicht der Konkretisierung bedarf. Um sowohl die Grundsatzfrage nach der prinzipiellen Berechtigung zur schärferen Bestrafung von Vorsatztaten als auch sämtliche Einzelfragen des Vorsatzbegriffs beantworten zu können, bedarf es vor allem einer grundsätzlichen Klärung des Zusammenhangs mit der Straflegitimations- und Strafzwecklehre, also einer Auseinandersetzung insbesondere mit der meist als selbstverständlich empfundenen These, die Vorsatztat begründe größere Tatschuld, weil sie leichter zu vermeiden sei, ferner mit der These, die vorsätzliche Begehung zeige eine größere individuelle Gefährlichkeit des Normadressaten als die fahrlässige und indiziere daher eine erhöhte Spezialpräventionsbedürftigkeit, und schließlich mit der These, die Vorsatztat habe eine größere negative Vorbildwirkung, die zu einer erhöhten Generalpräventionsbedürftigkeit führe.14 Für die hier verfolgte spezielle Fragestellung ist eine solche grundsätzliche Klärung jedoch nicht erforderlich. Nur auf bestimmte Teilaspekte wird im Folgenden zurückzukommen sein.
III. Das skizzierte Nebeneinander der Entstehung der geltenden gesetzlichen Vorsatzdefinition einerseits und des Erkenntnisfortschritts im Bereich der Normentheorie und der Vorsatzdogmatik andererseits lässt sich auf eine knappe Formel bringen: An der Neufassung ist fast zwanzig Jahre gearbeitet worden, aber trotzdem kam sie zu früh, um noch den grundsätzlichen Wandel der normentheoretischen und vorsatzdogmatischen Anschauungen, der längst begonnen hatte, berücksichtigen zu 14 Zu diesen verschiedenen Aspekten, von denen richtigerweise nur der letztgenannte, auf die Generalprävention bezogene Geltung beanspruchen kann, ausführl. Stein, Vorsatz- und Fahrlässigkeitsstraftaten, 1993 (unv. Online-Publ. 2009), S. 248 ff., 277 ff.; zusammenfassend Rudolphi/Stein (Fn. 4), § 15 Rn. 15 ff. m. w. N.
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können. Denn dieser Wandel war mit der Überwindung traditioneller, weitgehend aus dem „Alltagsverständnis“ geborener (und damit umso resistenterer) Denkgewohnheiten verbunden, er konnte sich nicht abrupt vollziehen, sondern bestenfalls schrittweise. Naturgemäß hat er bis heute nicht zu einem einheitlichen, vollständig konsentierten Ergebnis geführt, sondern zu einer Mehrzahl von Varianten, die teils mehr oder weniger starke inhaltliche Unterschiede aufweisen, teils aber auch nur insofern differieren, als sie mehr oder weniger weitgehend die alte, eigentlich nicht mehr passende und daher Missverständnisse produzierende Begrifflichkeit und Terminologie beibehalten bzw. durch eine neue, gegenstandsadäquatere ersetzt haben. Daher erscheint es sinnvoll, zunächst diejenigen zentralen Punkte zusammenfassend hervorzuheben, über die inzwischen zwar vielleicht kein begrifflicher und terminologischer, aber doch ein vollständiger oder zumindest weitestgehender inhaltlicher Konsens besteht. Dies ist einerseits notwendig, um offenzulegen, auf welchen Prämissen die folgenden Überlegungen basieren, und andererseits wird sich zeigen, dass sich bereits auf dieser Basis eine Lösung für die hier verfolgte spezielle Fragestellung finden lässt, ein Zurückgehen auf weitere, umstrittenere Grundsatzfragen insoweit also entbehrlich ist. Einigkeit dürfte darüber bestehen, dass die Verhaltensnormen jedenfalls Bestimmungsfunktion haben, d. h. sie sind die rechtlich verbindlichen Regeln, aus denen sich ergibt, ob ein bestimmtes Verhalten verboten ist oder nicht. Um diese Funktion erfüllen zu können, müssen sie bestimmten Konstitutionsprinzipien folgen: 1. Das erste Prinzip betrifft die Datenbasis, an welche die Regeln, die die Verhaltensnormen ausmachen, anknüpfen. Sämtliche relevanten Daten müssen dem Normadressaten in der räumlich-zeitlichen Verhaltenssituation zugänglich sein, sonst kann er die Verhaltenspflicht nicht befolgen. Üblicherweise ist in diesem Kontext von der Maßgeblichkeit der sog. Ex-ante-Perspektive die Rede. Damit ist der praktisch wichtigste Teilaspekt bezeichnet. Zumeist liegt der Sachverhalt, dessen Zustandekommen durch das Verhaltensverbot verhindert werden soll, in der Zukunft, so dass der verbotsbegründende Umstand eine Prognose über die Herbeiführung des zu verhindernden Sachverhalts durch das zu verbietende Verhalten ist. Zusätzlich oder stattdessen kann der zu verhindernde Sachverhalt in einer bestimmten objektiven Beschaffenheit des Verhaltens liegen, oder die Funktion des Verbots kann darin bestehen, das Zusammentreffen des Verhaltens und eines bestimmten gegenwärtigen Sachverhalts (Beispiel: eines bestimmten Mindestalters des Tatopfers) oder in der Vergangenheit liegenden Sachverhalts (Beispiel: des in der Vergangenheit liegenden Erfahrenhabens vom Vorhaben einer Straftat bei § 138 StGB) zu verhindern. Auch vergangene und gegenwärtige Umstände einschließlich bestimmter tatsächlicher Eigenschaften des eigenen Verhaltens sind ebenso wenig wie in der Zukunft liegende der unbeschränkten unmittelbaren Wahrnehmung durch den Normadressaten zugänglich, insofern kann allenfalls ein gradueller Unterschied bestehen.15 Zur Datenbasis kann 15 Grundlegend und treffend dazu Frisch (Fn. 1), S. 345 ff., der von „nichterfolgsbezogenen Risikovorstellungen“ spricht.
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daher immer nur die auf unmittelbar zugängliche Daten gestützte Wahrscheinlichkeit der Existenz bzw. Herbeiführung eines Sachverhalts gehören; die Prognose ist logisch ein Unterfall der Wahrscheinlichkeit. Da die Herbeiführung des Sachverhalts bzw. das Zusammentreffen von Sachverhalt und Verhalten von der Rechtsordnung als negativ bewertet wird, ist es terminologisch sinnvoll (und üblich), die verhaltenspflichtbegründende Wahrscheinlichkeit als Risiko zu bezeichnen. 2. Auch das zweite Konstitutionsprinzip betrifft die Datenbasis der Verhaltensnormen, und zwar das sog. Maßstabsproblem. Insoweit gehen zwar die Auffassungen in zwei verschiedene Richtungen auseinander,16 ohne dass dadurch aber die hier verfolgte spezielle Fragestellung berührt würde. a) Erblickt man die Funktion der Verhaltensnormen ausschließlich in der Bestimmungsfunktion, kann zur Datenbasis konsequenterweise nichts anderes als die im Verhaltenszeitpunkt vorhandenen Vorstellungen des Normadressaten sowie seine individuellen Erkenntnismöglichkeiten gehören. Die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Vorstellung mit der Realität ist dann für die Verhaltensnorm ebenso wenig relevant wie die nach anderem Maßstab – etwa anhand der Maßfigur des „verständigen Betrachters“ – festgestellten Erkenntnismöglichkeiten; diese können allenfalls für die Sanktionsnorm von Bedeutung sein. Wo nach dieser Konzeption die Grenze zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt verlaufen muss, liegt auf der Hand. Sind sämtliche Umstände, an die die Verhaltensnorm die Pflicht knüpft (oder anders formuliert: das komplette verhaltenspflichtbegründende Risiko) im Vorstellungsbild des Normadressaten vorhanden, dann ist sein Verhalten ein vorsätzliches. Nach sämtlichen Bewertungskriterien, die hierfür möglicherweise17 Geltung beanspruchen können, ist das Verhalten dann nämlich der strengeren Rechtsfolgen, die für eine Vorsatztat vorgesehen sind, i. S. der Straflegitimations- und Strafzwecklehre würdig und bedürftig: Wer sämtliche Umstände, aus denen sich die Verhaltenspflichtwidrigkeit ergibt, bereits in seinem Vorstellungsbild hat, für den ist die Pflichtbefolgung leichter (es bedarf nur noch der Schlussfolgerung auf die Pflicht als solche und der Aufbringung hinreichender Pflichtbefolgungsbereitschaft); seine Verhaltensentscheidung muss zwingend an einem Bewertungsmaßstab orientiert sein, der von dem rechtlich verbindlichen (nämlich dem der verletzten Verhaltensnorm zugrunde liegenden) orientiert sein, was eine erhöhte Spezialpräventionsbedürftigkeit indiziert; und schließlich hat die in dem Verhaltensvollzug liegende konkludente Aussage, es sei richtig, sich nach diesem, von der Rechtsordnung abweichenden Maßstab zu verhalten, eine stärkere negative Vorbildwirkung, die wiederum eine erhöhte Generalpräventionsbedürftigkeit indiziert. Zugleich trägt dieser Grundgedanke eine bestimmte weitere Konkretisierung des Vorsatzbegriffs, die nicht zuletzt auch aus rechtspraktischer Perspektive von ganz zentraler Bedeutung ist und die heute der Sache nach weitestgehend konsentiert 16 17
Zusammenfassend dazu Rudolphi/Stein (Fn. 4), § 15 Rn. 13 f. m. w. N. Siehe dazu bereits Fn. 14.
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wird.18 Sie lässt sich etwa folgendermaßen skizzieren: Die verhaltenspflichtrelevanten Umstände i. S. von § 16 Abs. 1 S. 1 StGB zu „kennen“ und damit vorsätzlich zu handeln bedeutet, diese Umstände so im Bewusstsein zu haben, dass sie zwangsläufig zur Grundlage der bewussten Entscheidung für oder gegen das Verhalten gehören, dass also diese Entscheidung mit der bewussten Stellungnahme verbunden ist, man wolle die Handlung trotz (oder, im Falle der Absicht: sogar wegen) dieser Umstände vornehmen bzw. unterlassen. Dies ist jedenfalls der übereinstimmende inhaltliche Kern zahlreicher variierender Formulierungen. Beispiele: Um vorsätzlich zu handeln, müsse man die Möglichkeit des Vorliegens der Umstände ernst nehmen, man müsse diese Möglichkeit auch für sich so sehen, man müsse sie auch i. S. eines eigenen gültigen Urteils kennen, man müsse das Vorliegen der Umstände in Kauf nehmen bzw. billigend in Kauf nehmen, oder negativ formuliert: Man dürfe nicht auf ihr Fehlen fest vertrauen. In der Sache macht es auch keinen Unterschied, ob man, wie es ganz überwiegend geschieht, einen zweigliedrigen, in eine „kognitive“ und eine „voluntative“ Komponente aufgeteilten Vorsatzbegriff verwendet, nur die kognitive Komponente dem gesetzlichen Merkmal „kennen“ zuweist und die voluntative Komponente methodisch als eine durch Interpretation des Gesamtregelungsgehalts des StGB gewonnene Komplettierung eines in § 16 Abs. 1 S. 1 StGB nur teilweise definierten Vorsatzbegriffs versteht, oder ob man den ganzen Vorsatzbegriff als Interpretation des gesetzlichen Merkmals „kennen“ einordnet, die gesetzliche Regelung mithin als insofern vollständig ansieht. In der Sache abweichende Auffassungen werden in neuerer Zeit nur sehr selten vertreten. Vereinzelt findet sich ein Rückgriff auf die sog. Billigungstheorie, die (jedenfalls für manche Konstellationen und in Bezug auf manche verhaltenspflichtrelevanten Umstände) eine positive oder zumindest neutrale Bewertung durch den Normadressaten verlangen.19 Auf dieser Basis erscheint eine bestimmte Art von Differenzierung zwischen Gefährdungs- und Verletzungsvorsatz denkbar, nämlich in der Weise, dass der Handelnde den Eintritt einer Gefährdungssituation für wünschenswert, die Realisierung derselben Gefährdung in einem Verletzungseintritt hingegen für nicht wünschenswert hält.20 Kaum häufiger vertreten wird die These, es komme nur auf das Kennen der Umstände in einem ganz weit verstandenen, rein kognitiven Sinne an, nicht aber auf das Ernstnehmen, Inkaufnehmen usw., so dass auch derjenige vorsätzlich handeln könne, der auf das Nichtvorliegen bzw. Nichtzustandekommen fest vertraue; im Gegenzug sollen beim Vorsatzdelikt aber strengere Anforderungen an Art und 18
Umfassende aktuelle Darstellung der verschiedenen Formulierungen einschließlich der inhaltlich abweichenden Thesen etwa bei Joecks, in: MK-StGB, Bd. 1, 2. Aufl. 2011, § 16 Rn. 30 ff.; Kühl, Strafrecht AT, § 5 Rn. 43 ff. 19 So mit unterschiedlichen Variationen etwa Haft, ZStW 88 (1976), 367 (372); Joecks (Fn. 18), § 16 Rn. 63; Philipps, Festschr. f. Roxin, 2001, S. 365 ff.; F.-C. Schroeder, in: LKStGB, 11. Aufl. 1992, § 16 Rn. 93; Schünemann, Festschr. f. H.-J. Hirsch, 1999, S. 363 (370 ff.); tendenziell auch Momsen, in: SSW-StGB, 2009, Rn. 53. 20 Ausdrückl. in diesem Sinne Schünemann, Festschr. f. H.-J. Hirsch, 1999, S. 363 (375): Der Gefährdungsvorsatz unterscheide sich vom Verletzungsvorsatz durch die „insgesamt schwächere Merkmalsausprägung“.
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Größe des Risikos als beim Fahrlässigkeitsdelikt zu stellen sein.21 Diese Grundposition bietet eigentlich tendenziell weniger Möglichkeiten für eine Differenzierung zwischen Gefährdungs- und Verletzungsvorsatz, denn jedenfalls muss der auf der Basis der herrschenden Meinung häufiger vorgeschlagene Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen kognitiver und voluntativer Vorsatzkomponente ausscheiden; trotzdem soll aber ein Gefährdungs- ohne Verletzungsvorsatz möglich sein.22 Für eine Auseinandersetzung mit diesen abweichenden Grundkonzeptionen ist hier kein Raum.23 Die folgenden Überlegungen basieren vielmehr auf den vorhin skizzierten Kernaussagen der heute absolut herrschenden Meinung, auf die im Übrigen auch die neuere Diskussion um den Gefährdungsvorsatz weitestgehend Bezug nimmt. b) Durchaus nicht herrschend ist freilich die These, die Funktion der Verhaltensnormen erschöpfe sich in ihrer Bestimmungsfunktion, sie knüpften daher ausschließlich an das Vorstellungsbild des konkreten Normadressaten und dessen individuelle Erkenntnismöglichkeiten an. Vielmehr hat sich seit den 1960er Jahren die sog. Lehre von der objektiven Zurechnung entwickelt und nach und nach durchgesetzt, die betont, die Verhaltensnormen hätten zugleich eine Bewertungsfunktion, und daher müssten als Datenbasis der Verhaltensnormen die Erkenntnismöglichkeiten eines „objektiven Beobachters“ (oder auch: „verständigen Betrachters“) fungieren, d. h. einer in die räumlich-zeitliche Verhaltenssituation des konkreten Normadressaten versetzte „Maßfigur“, die einem durchschnittlich befähigten Angehörigen des jeweiligen Verkehrskreises entspreche.24 Allerdings vermag die herrschende Meinung diesen Grundgedanken nicht in „reiner“ Form durchzuhalten. Insbesondere soll zusätzlich das tatsächliche vorhandene „Sonderwissen“ des konkreten Normadressaten relevant sein. Auf die Friktionen, die diese Konzeption zwangsläufig mit sich bringt, und vor allem die Schwierigkeiten, die für die Legitimation schon des Verbots und erst recht der Strafbarkeit des sog. untauglichen Versuchs entstehen, braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden. Denn was die Vorsatzdefinition anbetrifft, unterscheidet sich diese herrschende Meinung in nichts von der zuvor dargestellten normentheoretischen Gegenposition. Eines sollte jedoch nachdrücklich hervorgehoben werden: Verhaltenspflichtbegründend ist nach herrschender Meinung zwar das (im Grundsatz) aus der Perspektive eines „objektiven Beobachters“ bestehende Risiko. Daraus folgt jedoch nicht, dass diese Perspektive als solche zum Vorsatzgegenstand gehört. Vorsätzlich handelt also nicht nur derjenige und anderseits nicht jeder, der sich vorstellt, ein „objektiver Beobachter“ würde das Verhalten als riskant einstufen. Schon wegen der Relevanz des sog. Sonderwissens bliebe von jenem Grundsatz letztlich nichts mehr übrig, 21 So im Grundsatz übereinstimmend, in der Grenzziehung teilweise differierend Herzberg, JuS 1986, 249 (256 ff.); Puppe, Vorsatz und Zurechnung, 1992, S. 35 ff.; dies., ZStW 103 (1991), 1 (10 ff.); dies. (Fn. 1), § 15 Rn. 86; wohl auch Kindhäuser, Festschr. f. Eser, 2005, S. 345 (354). 22 So jedenfalls Puppe (Fn. 1), § 15 Rn. 86. 23 Insoweit sei verwiesen auf Stein (Fn. 14), S. 291 ff. 24 Näher dazu Frisch (Fn. 1), S. 128 ff. m. w. N.
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denn jede Vorstellung des Normadressaten, er beurteile die Sachlage zuverlässiger als ein „objektiver Beobachter“, würde ihn, soweit diese Vorstellung reicht, außer Kraft setzen. Andererseits ist die Relevanz des sog. Sonderwissens unverzichtbar. Wäre es unerheblich, würde die Rechtsordnung darauf verzichten, sich überdurchschnittliche Fähigkeiten des Normadressaten zunutze zu machen. Dies würde bedeuten, dass jeder bei seinen Verhaltensentscheidungen (nur) danach zu fragen hätte, wie ein „objektiver Beobachter“ – und d. h. im Wesentlichen: eine „Durchschnittsperson“ – das Risiko des in Betracht gezogenen Verhaltens einschätzen würde. Risiken, die mittels Sondererkenntnisfähigkeiten erkennbar bzw. als Sonderwissen präsent sind, dürften zulasten der Allgemeinheit eingegangen werden; andererseits müsste auf das Verhalten auch dann verzichtet werden, wenn es nur für eine Durchschnittsperson, nicht aber für den höher befähigten konkreten Normadressaten riskant erschiene. Daher handelt (soweit ersichtlich unbestritten) der und nur der vorsätzlich, der sich vorstellt, das Verhalten sei „tatsächlich“ riskant. 3. Drittens schließlich gehört zu den Konstitutionsprinzipien der Verhaltensnormen, dass sie ein komplexes Gefüge von Regeln enthalten, aus denen sich ergibt, welches nach Art und Größe individualisierte Risiko von Rechts wegen eingegangen werden darf und welches nicht.25 Für die hier verfolgte Fragestellung ist nicht dieses gesamte Regelungsgefüge, sondern nur ein bestimmtes, einzelnes Strukturprinzip von Bedeutung: Wie hat der Gesetzgeber den Bezugspunkt der Risiken ausgewählt, deren Eingehung verboten ist und die den Vorsatzgegenstand bilden? Hinter dieser Frage, der im Folgenden nachgegangen wird, verbirgt sich die wesentliche Weichenstellung.
IV. 1. Die Verhaltensnormen lassen sich aufgliedern nach der Art des Sachverhalts, der den Bezugspunkt für das verhaltenspflichtbegründende Risiko bildet. Jedenfalls zwei Arten von Sachverhalten kommen in Betracht:26 Erstens kann der Sachverhalt in der Verletzung eines Rechtsgutsobjekts bestehen (Tod oder körperliche Verletzung eines Menschen, Verletzung des Eigentumsrechts wegen Sachsubstanzschädigung oder Besitzentziehung, Vermögensschädigung durch Verringerung der Vermögens-Wertsumme usw.). So verfährt der Gesetzgeber jedenfalls bei den sog. Verletzungserfolgsdelikten. Verhaltenspflichtbegründend ist dann also das hinreichend große und ggf. in bestimmter Weise geartete Risiko, dass das Verhalten eine solche Rechtsgutsobjektsverletzung herbeiführt. Solchermaßen konstituierte Verhaltensnormen ordnen jedenfalls im Grundsatz die Berücksichtigung aller in concreto zugänglichen risikorelevanten Daten an und haben deshalb den mehr oder weniger stark ausgeprägten Vorteil, dass sie einerseits den Kreis 25 Ganz umfassende Darstellung bei Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechenbarkeit des Erfolgs, 1988, insbes. S. 69 ff. 26 Ausführlicher dazu Stein (Fn. 4), S. 143 ff., 158 ff.
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„wirklich“ gefährlicher Verhaltensweisen (d. h. solcher, bei denen die Gefährlichkeit durch Ex-post-Diagnose erweislich ist) tendenziell weitgehend abdecken und andererseits über diesen Kreis von Verhaltensweisen tendenziell wenig hinausgehen. Dem steht der Nachteil gegenüber, dass die Ermittlung der verhaltenspflichtrelevanten Umstände wegen ihrer Komplexität in hohem Maße von der kognitiven und intellektuellen Leistungsfähigkeit des konkreten Normadressaten und nicht zuletzt auch von seiner Bereitschaft, die nötige Aufmerksamkeit aufzubringen und die Ergebnisse für sich zu akzeptieren, abhängt und deshalb tendenziell leicht misslingen kann. Zweitens kann Bezugspunkt des Risikos ein Sachverhalt sein, in dem die Verletzung eines Rechtsgutsobjekts nicht vorkommt. In dieser Weise konzipiert sind jedenfalls diejenigen Verhaltensnormen, die den sog. abstrakten Gefährdungsdelikten zugrunde liegen. Der Gesetzgeber wählt Sachverhalte aus, die möglichst vielen Normadressaten aus der Lebenswirklichkeit vertraut und möglichst einfach ermittelbar sind und deshalb eine einfach strukturierte, „plakative“ Verhaltensnorm ergeben. Die Befolgungschance ist bei dieser Art von Verhaltensnormen deutlich gesteigert, weil eine gewichtige Fehlerquelle bei der Konkretisierung der Norm auf einen Lebenssachverhalt wegfällt, nämlich die Notwendigkeit differenzierter Überlegungen, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit Rechtsgutsobjekte verletzt werden könnten. Die Nachteile, die bei einer solchen Strategie zwangsläufig in Kauf genommen werden müssen, sind offensichtlich: Einerseits werden durch solche Verhaltensnormen nicht alle Verhaltensweisen erfasst, die für die jeweiligen Rechtsgutsobjekte gefährlich sind, was die Effektivität der Verhaltensnorm wieder vermindert; andererseits wird eine erhöhte Anzahl von nicht gefährlichen Verhaltensweisen verboten, denn bei der Auswahl der Sachverhalte, an die die Verhaltensnorm anknüpft, kann sich der Gesetzgeber immer nur an der statistischen Wahrscheinlichkeit orientieren, mit der Rechtsgutsobjekte als Folge des jeweiligen Sachverhalts zu Schaden kommen werden. Dies ist eine unvermeidbare Quelle zusätzlicher „Fehlbelastungen“ des Normadressaten, die die Gesamtquote der Fehlbelastungen mehr oder weniger stark erhöht. Der Gesetzgeber darf folglich schon wegen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht beliebig auf diese Art der Strukturierung von Verhaltensnormen zurückgreifen. Vielmehr muss diese strukturbedingte Erhöhung der Fehlbelastungsquote in einem angemessenen Verhältnis stehen zu dem Gewinn an Effektivität des Rechtsgüterschutzes, der wiederum maßgeblich davon abhängt, in welchem Maße sich die ausgewählten Bezugssachverhalte eignen, die Normbefolgungswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Vor allem dieser letztgenannte Aspekt muss im Auge behalten werden bei der Frage, ob es schließlich noch eine dritte Art von Bezugssachverhalten gibt, die sozusagen eine Mischform der beiden ersten darstellt: Sachverhalte, zu deren Definition zwar auch die Möglichkeit von Rechtsgutsverletzungen gehört (so dass sich der Normadressat bei der Konkretisierung der Norm auf den Lebenssachverhalt durchaus mit diesem Aspekt befassen muss), andererseits aber nicht in der Weise, dass eine konkrete Möglichkeit, die für sich allein verhaltenspflichtbegründend sein könnte,
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verlangt wird. Dass es de lege lata Verhaltensnormen gibt, die so strukturiert sind, wird durchaus diskutiert. (Nur) in dem für die hier verfolgte spezielle Fragestellung erforderlichen, eng begrenzten Rahmen wird im Folgenden darauf zurückzukommen sein.27 2. Nach den normentheoretischen Vorüberlegungen steht damit zugleich fest, dass Vorsatzgegenstand stets und nur das jeweilige verhaltenspflichtbegründende Risiko des Verhaltens ist, oder anders formuliert: die (näher qualifizierte) Möglichkeit, dass der Sachverhalt, auf den sich das Risiko bezieht, vorliegt bzw. durch das Verhalten herbeigeführt wird. Zu diesem Sachverhalt kann je nach der Strukturierung der Verhaltensnorm die Rechtsgutsobjektsverletzung gehören oder auch nicht, es gibt also – bei entsprechend strukturierten Verhaltensnormen – einen Vorsatz, der kein Verletzungsvorsatz ist. Ob Letzteres auch für die sog. Gefährlichkeits- und konkreten Gefährdungsdelikte gilt, steht damit noch keineswegs fest, denn dafür muss noch geklärt werden, an welche Art von Sachverhalten dort die Verhaltensnormen anknüpfen. 3. Für diese Klärung genügt nicht etwa der Blick auf das Erfolgsmerkmal des jeweiligen Straftatbestands. Denn unmittelbar beschreibt jeder Straftatbestand nur eine Sanktionsnorm, d. h. diejenigen Voraussetzungen, die vorliegen müssen, damit aufgrund dieses Straftatbestands verurteilt werden darf. a) Zumindest logisch denkbar ist es, dass sich der Regelungsgehalt der Straftatbestände hierin erschöpft, die Verhaltensnormen also mit denjenigen entsprechender Verletzungsdelikte (und folglich der Gefährlichkeits- und der konkrete Gefährdungsvorsatz mit dem Verletzungsvorsatz) vollkommen identisch sind. Die gesetzliche Unterscheidung von Gefährlichkeits-, konkreten Gefährdungs- und Verletzungsdelikten hat dann die (ausschließliche) Funktion, das Erfordernis des Erfolgseintritts als Sanktionsvoraussetzung in sehr differenzierter Weise einzusetzen. Dabei kommt es auf die umstrittene (und richtigerweise zu verneinende28) Frage, ob ein Erfolgseintritt, also die tatsächliche Realisierung des verhaltenspflichtbegründenden Risikos, tatschulderhöhend wirkt, nicht an. Selbst wenn sie zu bejahen wäre, würde daraus nur folgen, dass das jeweilige Stadium der Risikorealisierung nach den Grundsätzen, die auch ansonsten hinsichtlich der Tatschuldadäquanz der Rechtsfolgen gelten, bei Art und Maß der angedrohten Strafe und bei der konkreten Strafzumessung zu berücksichtigen wäre. Für die Frage, welches Realisierungsstadium als Voraussetzung für die Vollendungsstrafbarkeit verlangt werden sollte, könnte der Gesetzgeber aus diesem Aspekt nichts herleiten. Anders verhält es sich mit der (jedenfalls existierenden) präventiven Relevanz der Risikorealisierung. Diese macht die Gefährlichkeit des verhaltenspflichtwidrigen Verhaltens augenfällig, und zwar durchaus abgestuft nach dem Stadium der Risikorealisierung. Je weiter die Risikorealisierung in Richtung Verletzungseintritt fortgeschritten ist, umso intensiver wird die Verhaltensgefährlichkeit von der Allgemeinheit wahrgenommen, umso größer ist dementsprechend auch die negative Vorbildwirkung des Verhaltens. 27 28
Siehe unten V. 3. Näher dazu Stein (Fn. 4), S. 62 ff.
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Umgekehrt kann der Gesetzgeber in ebenso abgestufter Weise durch Ausgestaltung der Tatbestände als Gefährlichkeits-, Gefährdungserfolgs- oder Verletzungsdelikte mit entsprechend abgestuften Strafrahmen darauf reagieren. In welcher Weise und in welchem Ausmaß er von dieser Gestaltungsmöglichkeit Gebrauch macht, hängt davon ab, wie und vor allem mit welchen Abstufungen er die Notwendigkeit generalpräventiven Einschreitens im Hinblick auf das jeweils betroffene Rechtsgut, auf die empirisch vorkommenden Verstöße und die empirische Häufigkeit erreichter Risikorealisierungsstadien einschätzt. Bei den Verletzungsdeliktstatbeständen geht der Gesetzgeber nach einem Schema vor, das man als „Alles-oder-nichts-Prinzip“ bezeichnen könnte: Nur die vollständige Risikorealisierung führt zur Vollendungsstrafbarkeit; ergänzt wird diese bei den meisten, aber durchaus nicht bei allen Tatbeständen durch Versuchstatbestände, die aber auch untaugliche Versuche erfassen und damit gar keine Risikorealisierung voraussetzen, bei denen deshalb aber auch nicht im Schuldspruch zum Ausdruck gebracht werden kann, dass immerhin ein bestimmtes Stadium der Risikorealisierung, beispielsweise eine konkrete Gefährdung, erreicht wurde. Ergänzt werden diese Tatbestände durch solche, die für die Vollendungsstrafbarkeit eine konkrete Gefährdung genügen lassen; zu legitimieren sind diese beispielsweise mit der Überlegung, dass in bestimmten Lebensbereichen bestimmte Arten übermäßig riskanter Verhaltensweisen gehäuft vorkommen, so dass ein erhöhten Bedürfnis der Generalprävention besteht, die Risikorealisierung aber zumeist nicht über das Stadium der konkreten Gefährdung hinausgeht (diese Erklärung dürfte auf §§ 315b, 315c StGB zutreffen). Der Gesetzgeber kann sich aber auch mit guten Gründen dafür entscheiden, den untauglichen Versuch nicht unter Strafe zu stellen und andererseits ein sehr frühes Vollendungsstadium festzulegen; dies ist etwa beim Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung geschehen.29 b) Nicht von vornherein ausschließen sollte man andererseits, dass die Erfolgsmerkmale zusätzlich die Funktion haben, den Bezugspunkt des verhaltenspflichtbegründenden Risikos festzulegen. Dann wäre die geläufige Formel, der tatbestandliche Erfolg sei Vorsatzgegenstand, zwar immer noch missverständlich, aber doch wenigstens im Ergebnis nicht mehr falsch, denn Vorsatz wäre (je nach Ausgestaltung des Tatbestands) die Vorstellung, der Eintritt eines bestimmten gefährlichen Zustands, einer konkreten Gefährdung usw. sei (in bestimmter qualifizierter Weise) möglich. Ob solche Verhaltensnormen legitimierbar wären, bedarf aber noch weiterer Überlegungen.
V. 1. Bei den Verhaltensnormen, die den abstrakten Gefährdungsdelikten zugrunde liegen, kann der Sachverhalt, auf den sich das verhaltenspflichtbegründende Risiko bezieht, in einer durch das Verhalten herbeizuführenden Situation, in einem durch 29
5 ff.
Dazu Stein/Rudolphi, in: SK-StGB, 8. Aufl. (Stand: 136. Lfg. 2012), § 323 c Rn. 2 ff.,
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dieses herbeizuführenden Zustand usw. bestehen. Beispielsweise ist dies bei den Aussagedelikten (§§ 153 ff. StGB) das Zustandekommen einer unwahren Zeugenaussage, Sachverständigenaussage oder eidesstattlichen Versicherung gegenüber bestimmten Institutionen, bei der Wohngebäude-Brandstiftung (§ 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB) das Brennen eines Wohngebäudes, beim Vollrauschtatbestand (§ 323a StGB) ein Rauschzustand. Verboten ist also ein Verhalten, das ein hinreichend großes Risiko aufweist, einen solchen Zustand herbeizuführen. Ausgewählt hat der Gesetzgeber diese Sachverhalte als Bezugspunkte der Verhaltensnormen offensichtlich deshalb, weil er durch Bezugnahme auf plakative, aus der Lebenswirklichkeit geläufige Sachverhalte Verhaltensnormen aufstellen wollte, deren Effektivität nicht durch ein zu befürchtendes hohes Maß an Fehleinschätzungen seitens der Normadressaten gemindert wird. Deshalb war die mehr oder weniger große statistische Wahrscheinlichkeit, dass eine Falschaussage zu einer unrichtigen Entscheidung und in der weiteren Folge zu unberechtigten Vermögenseinbußen, Freiheitsentziehungen führt, dass das Brennen eines Wohngebäudes Personenschäden nach sich zieht, dass ein Rauschzustand zu weiteren Verhaltenspflichtverletzungen und diese wiederum zur Verletzung irgendwelcher Rechtsgutsobjekte führt, (nur) der Grund zur Auswahl dieser Sachverhalte, aber diese statistische Wahrscheinlichkeit und erst recht eine entsprechende einzelfallbezogene Wahrscheinlichkeit ist nicht Teil dieser Bezugssachverhalte, denn sonst wäre der bezweckte Vereinfachungseffekt sogleich wieder aufgehoben. Daraus folgt zugleich, dass die Möglichkeit einer Rechtsgutsobjektsverletzung nicht zum Vorsatzgegenstand gehört. Der Bezugsgegenstand der Verhaltensnormen muss bei solchen Delikten nicht unbedingt in einem durch das Verhalten herbeizuführenden Sachverhalt liegen, sondern es kommt beispielsweise auch ein im Verhaltenszeitpunkt bereits existierender Zustand des konkreten Normadressaten in Betracht.30 Besonders deutlich wird dies am Bußgeldtatbestand des § 24a Abs. 1, 3 StVG: Bei einem bestimmten körperlichen Zustand (Blutalkoholkonzentration von mindestens 0,5% oder Atemalkoholkonzentration von mindestens 0,25 mg/l) ist beim Führen von Kraftfahrzeugen im Straßenverkehr die statistische Wahrscheinlichkeit von Unfällen mit erheblichem Fremdschaden signifikant erhöht, wobei diese Wahrscheinlichkeit wiederum nur der Grund für diese Auswahl des Bezugssachverhalts durch den Gesetzgeber ist und nicht zu dessen gesetzlicher Definition gehört. Bezugsgegenstand des Vorsatzes ist also nur das zur Zeit des Kraftfahrzeugführens aufgrund der Gesamtsituation (insbes. wegen eines zuvor bewusst erfolgten oder auch erst anschließend bemerkten Alkoholkonsums) bestehende Risiko, dass eine solche Blut- oder Atemalkoholkonzentration existiert, nicht aber das statistische und erst recht nicht das konkrete Unfall- und Fremdschädigungsrisiko. Im Grundsatz genauso, wenn auch nicht ganz so offensichtlich verhält es sich bei § 316 StGB: Bezugssachverhalt des verhaltenspflichtbegründenden Risikos ist die (im Gesetz etwas ausführlicher umschriebene) sog. Fahrunsicherheit, d. h. ein körperlicher Zustand, bei dem die Gesamtleistungs30
Zum Folgenden ausführlich Stein, Festschr. f. Dencker, 2012, S. 307 (323 ff.).
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fähigkeit des Normadressaten (bezogen auf das Führen des jeweiligen Fahrzeugs) ein bestimmtes Mindestmaß unterschreitet. Zur gesetzlichen Definition dieses Sachverhalts gehört nicht die statistische oder konkrete Unfall- und daraus resultierende Schadensträchtigkeit des Fahrzeugführens in diesem Zustand, insbesondere kein Führen des Fahrzeug in einer Situation, in der sich die Fahrunsicherheit in einer Fremdschädigung niederschlagen könnte, denn verboten ist beispielsweise auch ein Führen, bei dem im Hinblick auf Umgebung und Fahrstrecke eine Fremdschädigung praktisch ausgeschlossen ist. Nur das nach den Umständen bestehende Risiko, dass die Gesamtleistungsfähigkeit ein bestimmtes Mindestmaß unterschreitet, ist daher Vorsatzgegenstand. Zu den zahlreichen Vorschlägen, solche Tatbestände restriktiver zu verstehen,31 sei nur so viel angemerkt: Entweder laufen sie lediglich auf ein engeres Verständnis des Bezugssachverhalts hinaus, ohne dessen prinzipielle Strukturierung zu verändern. Beispiel: Zu den Wohngebäuden i. S. von § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB sollen keine Räumlichkeiten gehören, die auf einen Blick überschaubar und bei denen eine unmittelbar vor dem Tatverhalten vorgenommene Kontrolle die Nichtanwesenheit von Personen ergeben hat; dann gehört zum Vorsatzgegenstand zusätzlich das Risiko, dass das Gebäude doch unübersichtlicher sein könnte oder eine solche Kontrolle nicht stattgefunden hat, nicht aber das Risiko eines brandbedingten Personenschadens. Oder es wird die einzelfallbezogene Möglichkeit einer Rechtsgutsobjektsverletzung verlangt. Dann aber handelt es sich nicht mehr um ein abstraktes Gefährdungsdelikt, sondern das Risiko einer Rechtsgutsobjektsverletzung ist verhaltenspflichtbegründend, und dementsprechend muss sich hierauf auch der Vorsatz beziehen. 2. Dass die Verhaltensnormen, die den Gefährlichkeits- und den konkreten Gefährdungsdelikten zugrunde liegen, mit denjenigen entsprechender Verletzungsdelikte identisch sind, wird nur von wenigen deutlich zum Ausdruck gebracht,32 was aber daran liegen mag, dass die normentheoretische Seite häufig nicht ausdrücklich thematisiert wird. Dies ist, um das Ergebnis vorwegzunehmen, die zutreffende Interpretation der lex lata; logisch denkbare abweichende Konzeptionen, auf die im Folgenden noch einzugehen sein wird, werden sich als nicht haltbar erweisen. Geht man von dieser Grundkonzeption aus, ist freilich eine bestimmte Konsequenz zu beachten, die nicht nur für die Bestimmung des Vorsatzinhalts von Bedeutung ist, sondern auch für die Interpretation des jeweiligen gesetzlichen Erfolgsmerkmals. Wird die Verhaltensnorm auf das Risiko einer Rechtsgutsobjektsverletzung gestützt, kann keine Verhaltenspflicht bestehen, wenn ein solches Risiko in concreto nicht existiert, und zwar ganz unabhängig davon, durch welche Art von Faktoren es ausgeschlossen ist. Dies ist insbesondere wichtig für die Konstellationen, in denen für die Zeit nach dem Tatverhalten ein erfolgsabwendendes Verhalten des 31
Überblick bei Wolters (Fn. 4), Vor § 306 Rn. 16 ff. Jedenfalls gehören hierzu: Horn (Fn. 4), zusammenfassend S. 208 ff.; Stein/Rudolphi (Fn. 29), § 323c Rn. 2, 2b; Wolter (Fn. 3), insbes. S. 215 ff. 32
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Normadressaten, des Opfers oder eines Dritten geplant ist, zu erwarten ist usw. Sofern das Zustandekommen eines solchen späteren Verhaltens und/oder sein Abwendungserfolg mehr oder weniger ungewiss ist, obliegt es der Entscheidung der Rechtsordnung, ob das verbleibende Risiko des Verletzungseintritts noch verhaltenspflichtbegründend sein soll oder nicht. Sobald der Abwendungserfolg aber sicher, eine Rechtsgutsobjektsverletzung also ausgeschlossen ist, kann keine Verhaltenspflicht bestehen. Für die Möglichkeit, bestimmte tatsächliche Verläufe als Taterfolge (Gefährlichkeits- oder konkrete Gefährdungserfolge) einstufen zu können, bedeutet dies: Nur Sachverhalte, die sich als Zwischenstufen einer Realisierung des verhaltenspflichtbegründenden Risikos darstellen, und d. h.: die sich noch zu einer der Verhaltenspflichtverletzung zurechenbaren Rechtsgutsobjektsverletzung weiterentwickeln können, kommen als („Zwischen“-)Erfolge in Betracht. Ein Sachverhalt hingegen, über den man ex post sagen kann, es sei klar, dass er nicht zu einem Verletzungseintritt hätte führen können, kann kein Gefährlichkeits- oder Gefährdungserfolg sein. Für die Feststellung eines Erfolgseintritts als Sanktionsvoraussetzung dürfte dies zwar nicht von allzu großer praktischer Bedeutung sein, da sich gerade wegen der aus prinzipiellen Gründen sehr begrenzten Berechenbarkeit menschlichen Verhaltens auch ex post in den allermeisten Fällen noch eine verhaltenspflichtrelevante Gefahr des Ausbleibens einer Verletzungsabwendung diagnostizieren lassen wird. Anders verhält es sich aber auf der korrespondieren subjektiven Seite. Insoweit sind zwei unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten des Vorsatzerfordernisses in den Blick zu nehmen: a) Bisher ist stillschweigend davon ausgegangen worden, dass die Gefährlichkeits- und die konkreten Gefährdungsdelikte – falls ihnen dieselben Verhaltensnormen zugrunde liegen wie entsprechenden Verletzungsdelikten – in demselben Sinne und demselben Umfang Vorsatzdelikte sind wie diese, Vorsatzgegenstand also das verhaltenspflichtbegründende Verletzungsrisiko ist. Trifft dies zu, dann ist insoweit nicht mehr viel zu ergänzen, sondern allenfalls noch klarzustellen, dass derjenige weder ein vorsätzliches Gefährlichkeitsdelikt (z. B. eine unterlassene Hilfeleistung, § 323c StGB)33 noch ein vorsätzliches konkretes Gefährdungsdelikt begeht, der (auch wenn dies auf einer evidenten Fehleinschätzung der Situation beruht) sicher ist oder fest darauf vertraut, es werde schon irgendeine Person erscheinen und den Verletzungseintritt abwenden. b) Vielleicht aber sind die Tatbestände der Gefährlichkeits- und der vorsätzlichen konkreten Gefährdungsdelikte so zu verstehen, dass sie nur in einem formellen Sinne Vorsatzdelikte sein sollen, der Sache nach aber Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombinationen, und zwar insofern, als sich der Vorsatz nur auf den Sachverhalt zu beziehen hat, der das jeweilige Erfolgsmerkmal verwirklicht, hinsichtlich des Verletzungseintritts hingegen Fahrlässigkeit genügt. Mit dem Wortlaut von § 16 Abs. 1 S. 1 StGB wäre dies durchaus vereinbar, denn dort ist ja gerade von den zum „gesetzlichen Tatbestand“ gehörenden Umständen die Rede und gerade nicht – darüber hinausgehend 33
Stein/Rudolphi (Fn. 29), § 323c Rn. 23a.
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– von den verhaltenspflichtrelevanten Umständen. Die Frage ist allerdings, ob diese Lösung unter Wertungsgesichtspunkten plausibel wäre. (1) Klar ist zunächst, dass die sog. kognitive Vorsatzkomponente nicht hinsichtlich des gefährlichen Zustands bzw. der konkreten Gefahr vorhanden sein und zugleich hinsichtlich des Verletzungseintritts fehlen kann.34 Denn falls sich auch bei diesen Deliktsarten die Verhaltensnormen auf das Risiko eines Verletzungseintritts stützen, kann, wie bereits betont, tatbestandlicher („Zwischen“-)Erfolg nur ein Sachverhalt sein, der noch ein hinreichendes Verletzungsrisiko aufweist. Die Vorstellung eines gefährlichen Zustands bzw. einer konkreten Gefährdung impliziert damit zwangsläufig die Vorstellung eines verhaltenspflichtrelevanten Verletzungsrisikos. Der Normadressat mag sich vorstellen, „an sich“ bestehe eine Verletzungsgefahr, aber ein Dritter werde diese mit Sicherheit abwenden; das allerdings ist eben keine Vorstellung von einer als Erfolgsunwert zurechenbaren Verletzungsgefahr. (2) Hinsichtlich der sog. voluntativen Vorsatzkomponente verhält es sich insofern anders, als die Diskrepanz zwischen der Vorstellung i. S. der kognitiven Komponente und der Datenbasis, die nach „voluntativer“ Verarbeitung tatsächlich der Verhaltensentscheidung zugrunde liegt, ex definitione auf einem irrationalen Vorgang beruht und deshalb die entscheidungswirksame Datenbasis nicht logisch konsistent sein muss, sondern durchaus auch logische Widersprüche enthalten kann. Daher ist es beispielsweise durchaus plausibel anzunehmen, dass es (vielleicht sogar empirisch zahlreiche) Fälle gibt, in denen der Normadressat die zu erwartende Situation als hochgradig gefährlich (i. S. von verletzungsträchtig ohne Vorhandensein zuverlässiger Abwendungsfaktoren) empfindet, zugleich aber fest darauf vertraut, sie werde sich im Sinne des Ausbleibens einer Verletzung auflösen. Voreilig wäre es allerdings, daraus zu schließen, die Möglichkeit eines Gefährlichkeits- bzw. Gefährdungsvorsatzes ohne gleichzeitigen Verletzungsvorsatz sei damit nachgewiesen. Vielmehr bedarf es einer Rückbesinnung auf den Grundgedanken der Vorsatzdefinition. Üblicherweise werden lediglich diejenigen Konstellationen diskutiert, in denen der Normadressat verhaltenspflichtrelevante Umstände psychisch verdrängt, diese folglich der Verhaltensentscheidung nicht mehr zugrunde liegen. In solchen Fällen wird zu Recht angenommen, dass nach dem Grundgedanken, der die strengeren Rechtsfolgen der Vorsatztat trägt, eine vorsätzliche Tat nicht angenommen werden kann. Gleiches muss aber auch dann gelten, wenn ein verhaltenspflichtrelevanter Umstand nicht (vollständig) psychisch verdrängt ist und im selben Zeitpunkt und im Hinblick auf ein und dasselbe Verhalten zugleich dessen logisches Gegenteil zur tatsächlichen Entscheidungsbasis gehört. Genau so sind die hier interessierenden Konstellationen gelagert: Einerseits gehört zur entscheidungswirksamen Datenbasis, dass eine verletzungsgefährliche Situation eintreten kann (ins Rationale übersetzt: ein Verletzungseintritt möglich ist), andererseits aber eine Verletzung schon ausbleiben wird (ins Rationale gewendet: ein Verletzungseintritt nicht möglich ist). Gerade weil dann auch das Fehlen eines Verletzungsrisikos (das ja eben auch für den Begriff der Gefährlich34
So insbes. auch Horn (Fn. 4), S. 204 ff.; Wolter (Fn. 3), S. 209 ff.
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keit bzw. Gefährdung konstitutiv ist) zur tatsächlich wirksamen Entscheidungsgrundlage gehört, kann nicht die Rede davon sein, dass der Normadressat (auch nur hinsichtlich der Gefährdung) sich eindeutig nach einem von der Rechtsordnung abweichenden Maßstab entscheidet und dementsprechend die Spezial- und/oder Generalpräventionsbedürftigkeit erhöht ist; vielmehr ist sein Entscheidungsmaßstab (nur) ambivalent. 3. Zu erörtern bleibt noch, ob die Verhaltensnormen, die den Gefährlichkeits- und den konkreten Gefährdungsdelikten zugrunde liegen, schon im Grundansatz abweichend konstituiert sind, nämlich in der Weise, dass der Sachverhalt, auf den sich das verhaltenspflichtbegründende Risiko bezieht, nicht ein Verletzungseintritt ist, sondern der vom jeweiligen Straftatbestand als Erfolgsmerkmal vorausgesetzte gefährliche Zustand bzw. konkrete Gefährdungszustand. Diese Sachverhalte müssten dann konsequenterweise so zu definieren sein, dass sie nicht unbedingt ein konkretes Verletzungsrisiko aufweisen, das nach Art und Größe schon für sich eine Verhaltenspflicht legitimieren könnte; sonst nämlich würde der wesentliche Unterschied zu den Verhaltensnormen, die den Verletzungsdelikten zugrunde liegen, sogleich wieder eingeebnet. Bei solchen Überlegungen muss man sich stets darauf rückbesinnen, dass die Legitimation dieser Grundform von Verhaltensnormen vor allem im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur begrenzt möglich ist: Sie führen tendenziell zu mehr Fehlbelastungen (Verhaltenspflichten, die mangels konkreter Verhaltensgefährlichkeit keinen Schutz von Rechtsgutsobjekten bewirken können), und dies ist nur angemessen, wenn andererseits durch die vereinfachte Normstruktur eine hinreichende Steigerung der Befolgungseffektivität zu erwarten ist. (1) Logisch möglich ist es erstens, den Gefährlichkeits- bzw. Gefährdungszustand, der den Anknüpfungssachverhalt des verhaltensnormbegründenden Risikos bildet, so zu definieren, dass er eine hypothetische Verletzungsgefährlichkeit impliziert, nämlich eine Verletzungsgefährlichkeit, die ohne Ausblendung bestimmter möglicher verletzungsabwendender Faktoren bestehen würde. Als auszublendende Art von Umständen käme beispielsweise verletzungsabwendendes Verhalten des Opfers und/oder Dritter in Betracht. Vorsätzlich würde dann handeln, wer sich vorstellt, es könne „bei ungestörtem Verlauf“ – d. h. wenn man mögliche Gefahrabwendungshandlungen Dritter und deren Erfolgsaussichten völlig unberücksichtigt lässt – zu einem Verletzungseintritt kommen; die Vorstellung beispielsweise, mit Sicherheit werde der Gefährdete rechtzeitig ausweichen, würde zwar den Verletzungsvorsatz, nicht aber den Gefährdungsvorsatz ausschließen.35 In der Tat wäre damit eine bestimmte Fehlerquelle bei der Normkonkretisierung durch den Adressaten eliminiert, 35 So Zieschang (Fn. 1), S. 124 mit Fn. 254 sowohl für die Tatbestände, die lediglich ein „konkret gefährliches Verhalten“ voraussetzen, als auch für die Tatbestände, die einen daraus resultierenden „gefährlichen Zustand“ verlangen. Möglicherweise ebenso die Rspr., wenn sie in den sog. Polizeiflucht- und ähnlichen Fällen (zum Zwecke der Flucht erfolgendes Zufahren auf einen Polizeibeamten, dem der Sprung aus der Gefahrenzone gelingt) ohne Umschweife einen Gefährdungsvorsatz bejaht und einen Verletzungsvorsatz verneint; s. insbes. BGHSt 22, 67 (74 f.); BGH, VRS 50 (1996), 94 (95).
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nämlich eine Fehlbeurteilung der schon prinzipiell schwer einzuschätzenden Bereitschaft und Fähigkeit anderer Personen zur Verletzungsabwendung. Hierauf beschränkt sich der Vorteil dann freilich auch, denn im Übrigen besteht die Notwendigkeit der Ermittlung möglicher konkret verletzungstauglicher Umstände nach wie vor. Auf der anderen Seite würden solche Verhaltensnormen zu einem hohen Anteil von „Fehlbelastungen“ führen, nämlich immer dann, wenn ein erfolgreiches Verletzungsabwendungsverhalten anderer mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Um eine konkrete Gefährdung, deren Herbeiführung verboten und evtl. strafbar ist, würde es sich beispielsweise schon dann handeln, wenn ein schweres Fahrzeug ganz langsam auf eine Person zurollt, die es die ganze Zeit beobachtet und dann gemächlich beiseitetritt. Verhaltensnormen dieser Art sind daher wohl kaum legitimierbar. (2) Vorgeschlagen wird außerdem, den Bezugssachverhalt des verhaltenspflichtrelevanten Risikos in einem Zustand zu erblicken, der „nach objektivem Urteil“ ein bestimmtes Maß an Verletzungstauglichkeit aufweist.36 Gemeint ist offenbar, dass die Eigenschaft, gerade „nach objektivem Urteil“ verletzungstauglich zu sein, zur Definition des Bezugssachverhalts und damit zum Vorsatzgegenstand gehören, der Normadressat also nicht die nach eigenem Urteil, sondern die nach objektivem Urteil bestehende Verletzungstauglichkeit ermitteln soll.37 Nun kann allerdings mit „objektivem Urteil“ ganz Unterschiedliches gemeint sein. Herausgegriffen seien die zwei am nächsten liegenden Möglichkeiten: Wenn man auf das Urteil einer besonders fachkundigen Person („Expertenwissen“) abstellt, so wird damit eine weit gehende Erfassung „wirklich“ (ex post) gefährlicher Situationen bei gleichzeitig niedriger Fehlbelastungsquote erreicht – falls es den Normadressaten gelingt, das einschlägige Expertenwissen einschließlich seiner Konkretisierung auf die Einzelsituation zuverlässig zu ermitteln. Genau dort liegt aber das Problem. Da der Normadressat in aller Regel nicht selbst Experte ist (sonst wären Normen dieser Art ohnehin überflüssig), müssten flächendeckende, zuverlässige und einfach zu nutzende Möglichkeiten des Zugriffs auf das jeweils einschlägige Expertenwissen und zumeist auch einer individuellen Beratung für die Einzelfallkonkretisierung existieren, was nicht so ist – ganz abgesehen davon, dass die hierfür notwendige Zeit in den meisten typischen Situationen (eilbedürftige Reaktionen im Straßenverkehr, Hilfeleistungen bei Unfällen usw.) nicht zur Verfügung stünde. Auf diese Weise lassen sich Verhaltensnormen daher nicht sinnvoll strukturieren. Es bleibt die Möglichkeit, als Maßstab das Urteil eines „durchschnittlichen“ Angehörigen des jeweiligen Verkehrskreises heranzuziehen. Aber auch diese Lösung könnte nicht überzeugen. Unterstellt, dem Normadressaten würde die Ermittlung 36
Ausführlich Frisch (Fn. 1), S. 295 ff.; ferner Jakobs (Fn. 1), 6. Abschn. Rn. 79. Jakobs (Fn. 1), 6. Abschn. Rn. 79 Fn. 168 (Hervorhebung im Original): „Zum Gefährdungsvorsatz nach § 145 a StGB bedarf es also nur des Wissens, daß ein Verstoß gegen Weisungen nach objektivem Urteil die Verwirklichung der Maßregel hindern kann; der subjektiven Überzeugung von dieser Konsequenz bedarf es nicht.“ 37
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des Urteils einer Durchschnittsperson gelingen, dann würde einerseits eine Fehlsteuerung aufgrund unterdurchschnittlicher Kompetenz des konkreten Normadressaten vermieden, andererseits aber auf die Nutzung überdurchschnittlicher Kompetenz (die nicht allzu selten sein wird) verzichtet. Im Übrigen ist das Bemühen um ein eigenes Urteil nicht etwa typischerweise unzuverlässiger als der Versuch, zunächst einmal die eigene Beurteilungskompetenz in Relation zu derjenigen des Durchschnitts zu setzen und dann – gegebenenfalls mit fremder Hilfe – ein der höheren Durchschnittskompetenz entsprechendes Urteil zu fällen bzw. seinen Beurteilungsmaßstab „nach unten“ an den Durchschnitt anzupassen. 4. Damit muss es also bei der Ausgangsthese38 bleiben: Den Gefährlichkeits- und den konkreten Gefährdungstatbeständen liegen die gleichen Verhaltensnormen zugrunde wie jeweils entsprechenden (tatsächlich existierenden oder fiktiven) Verletzungsdeliktstatbeständen. Aus normentheoretischen Überlegungen folgt, dass Vorsatzgegenstand stets das verhaltenspflichtbegründende Risiko des jeweiligen Verhaltens ist, nicht aber der tatbestandliche Erfolgssachverhalt.39 Ferner sind die Gefährlichkeits- und die konkreten Gefährdungstatbestände, soweit es sich gem. § 15 StGB um Vorsatztatbestände handelt, nicht etwa so zu interpretieren, dass sie nur in einem formellen (durchaus mit dem Wortlaut von § 16 Abs. 1 S. 1 StGB zu vereinbarenden) Sinne Vorsatztatbestände sind, der Sache nach aber Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombinationen.40 Daraus ergibt sich, dass auch vorsätzliche Gefährlichkeits- und konkrete Gefährdungsdelikte einen Verletzungsvorsatz voraussetzen. Ob Gleiches auch für denkbare ähnliche Tatbestandsarten (z. B. sog. Eignungsdelikte, falls diese eine eigenständige Deliktsart darstellen sollten) gilt, wurde hier nicht untersucht; die Überlegungen begründen aber jedenfalls eine gewisse Vermutung, dass es sich dort genauso verhält. Nur bei den sog. abstrakten Gefährdungsdelikten ist der Vorsatz nicht unbedingt zugleich Verletzungsvorsatz, da dort Bezugsgegenstand des verhaltenspflichtbegründenden Risikos ein Sachverhalt ist, zu dessen Definition nicht die konkrete Möglichkeit einer Rechtsgutsobjektsverletzung gehört.
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Siehe oben 2. vor a). Siehe oben III. 2. 40 Siehe oben 2. b).
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Zur Zurechnung von Verletzungserfolgen beim Konsum illegaler Betäubungsmittel Deutsche Dogmatik und europäische Bekämpfungsstrategien Von Bettina Weißer Illegale Drogen werden als wesentliche Bedrohung nicht nur der Gesundheit Einzelner, sondern auch der Gesellschaft insgesamt angesehen – und das nicht nur in Deutschland, sondern verstärkt auch auf der Ebene der Europäischen Union. Gegenstand der folgenden Ausführungen ist die Frage nach der Rolle des Strafrechts, wenn es darum geht, den Gefahren des Betäubungsmittelkonsums zu begegnen. Es geht dabei um strafrechtliche Konsequenzen des Umgangs mit illegalen Betäubungsmitteln in dreierlei Hinsicht: Zunächst einmal ist der Handel mit illegalen Drogen Gegenstand von Strafvorschriften. Darüber hinaus kommt für denjenigen, der anderen illegale Drogen verschafft, eine strafrechtliche Verantwortlichkeit für durch den Konsum verursachte Verletzungen seiner Abnehmer in Betracht. Hier ist zu klären, wann die Eigenverantwortlichkeit des Drogenkonsums eine Zurechnung hervorgerufener Gesundheitsschädigungen an den Drogenlieferanten sperrt. Vielleicht vermag diese Frage nach möglichen Zurechnungsgrenzen im Hinblick auf das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit das Interesse des Jubilars zu wecken – hat er sich doch intensiv mit der Lehre von der objektiven Zurechnung befasst.1 Drittens schließlich ist die Frage zu beantworten, inwieweit dem Verhalten des Drogenkonsumenten selbst strafrechtliche Relevanz zukommt. Diese drei Themenkreise sollen nicht nur aus der Perspektive des deutschen Rechts, sondern auch mit Blick auf die in diesem Zusammenhang ergangenen Rechtsakte auf der Ebene der Europäischen Union untersucht werden.
I. Die Drogenbekämpfungsstrategie der Europäischen Union Die Europäische Kommission hat im Oktober 2011 in einer Mitteilung an Rat und Parlament der Europäischen Union eine entschlossenere Reaktion auf das Drogen1 Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981; ders., in: ders. (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, 1993, S. 269 ff.; ders., in: Gimbernat/Schünemann/Wolter (Hrsg.), Internationale Dogmatik der objektiven Zurechnung und der Unterlassungsdelikte, 1995, S. 3 ff.
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problem gefordert.2 Sie will der europäischen Drogenpolitik auch selbst neue Anstöße geben und hat dafür bereits Finanzmittel bereitgestellt. Diese Mittel sollen in den Bereichen der Forschung, der Prävention und der Behandlung von Drogensucht, aber auch bei der grenzübergreifenden Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden hinsichtlich der Bewältigung der Drogenproblematik eingesetzt werden. Schon heute machen Fälle von Drogenkriminalität den mit Abstand bedeutsamsten Arbeitsbereich der Zusammenarbeit der Staatsanwaltschaften innerhalb von Eurojust aus. Begonnen hat das Engagement der Europäischen Union für die Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität3 bereits im Jahr 1996 mit einer Gemeinsamen Maßnahme.4 Aus dem Jahr 2004 stammt der Rahmenbeschluss zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels.5 In diesem Rahmenbeschluss werden verschiedene Verhaltensweisen benannt, die die Mitgliedstaaten in ihren Rechtsordnungen unter Strafe zu stellen haben;6 außerdem werden Mindest-Höchststrafen für bestimmte Varianten von Drogendelikten festgelegt.7
II. Erster Problemkreis: Zur Strafbarkeit des Drogenhandels nach dem deutschen Betäubungsmittelstrafrecht Ein im Jahr 2009 erstellter Bericht der Kommission zur Umsetzung dieses Rahmenbeschlusses zählt Deutschland zu denjenigen Mitgliedstaaten, deren Rechtslage den Anforderungen des Rahmenbeschlusses entspricht.8 Das deutsche Betäubungs-
2 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat vom 25. 10. 2011, „Eine entschlossenere Reaktion auf das Drogenproblem“, KOM (2011) 689 endg. 3 Zur Entwicklung im Einzelnen Böse, in: Sieber/Brüner/Satzger/v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2011, § 20 Rn. 3 ff.; Weißer, in: Böse (Hrsg.), Enzyklopädie des Europarechts, Bd. 9, im Erscheinen, § 9 Rn. 23 ff. Vgl. auch die EU-Drogenaktionspläne 2005 – 2008, ABl. C 168/1 v. 8. 7. 2005 und 2009 – 2012, ABl. C 326/7 v. 20. 12. 2008. 4 Gemeinsame Maßnahme (96/750/JI) betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften und der Verfahren der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zur Bekämpfung der Drogenabhängigkeit und zur Verhütung und Bekämpfung des illegalen Drogenhandels, ABl. L 342/96 v. 31. 12. 1996. 5 Rahmenbeschluss 2004/757/JI zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels, ABl. L 335/8 v. 11. 11. 2004 (im Folgenden „RB Drogenhandel“). Vgl. außerdem den Rahmenbeschluss 2005/387/JI betreffend den Risikoaustausch, die Risikobewertung und die Kontrolle bei neuen psychoaktiven Substanzen, ABl. L 127/32 v. 20. 5. 2005. 6 Art. 2 RB Drogenhandel. 7 Art. 4 RB Drogenhandel. 8 Bericht der Kommission über die Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2004/757/JI, KOM (2009) 669 endg., S. 3, 5, 7 f.
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mittelstrafrecht wird also den erwähnten europäischen Vorgaben durchaus gerecht.9 Schon seit jeher kriminalisiert es den Umgang mit Betäubungsmitteln in §§ 29 – 30a BtMG sehr weitgehend. Dieser Ansatz wird von manchen Autoren grundsätzlich in Frage gestellt.10 Aber auch diejenigen, die eine starke Rolle des Strafrechts bei der Bekämpfung der Drogensucht im Prinzip befürworten, monieren teilweise eine zu große Reichweite der Strafvorschriften.11 So wird die allzu weite Auslegung des Begriffs „Handeltreiben“12 in § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG kritisiert,13 aber auch die ausnahmslose Strafbarkeit des Besitzes von Drogen zum Eigenkonsum.14 Beide Kritikpunkte haben indes einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung standgehalten: Im Hinblick auf das Merkmal des Handeltreibens sah das Bundesverfassungsgericht die äußerste Grenze zulässiger Auslegung nicht als überschritten an.15 Und für die Kriminalisierung des Erwerbs und Besitzes auch geringer Mengen von Cannabis zum Eigenkonsum verneinte das Bundesverfassungsgericht letztlich eine Verletzung des Übermaßverbots, weil in der Praxis ausreichende Möglichkeiten zum Absehen von einer Verfolgung nach § 31a BtMG oder zum Absehen von Strafe nach § 29 Abs. 5 BtMG bestünden.16 Auffällig ist, dass sowohl die europäische Bekämpfungsstrategie als auch die §§ 29 ff. BtMG sich hauptsächlich gegen den Drogenhandel richten. Dahinter steht das Ziel, potenzielle Drogenkonsumenten vor den gesundheitlichen Gefahren des Konsums zu schützen, indem man das Angebot illegaler Drogen austrocknet.17 Neben dieser gegen den Handel gerichteten Bekämpfungsstrategie steht aber auch 9 So auch Böse, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Opferschutz, Richterrecht, Strafprozessreform, 28. Strafverteidigertag 2005, S. 71 (78); Hecker, Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. 2012, § 11 Rn. 53. 10 Nestler, in: Kreuzer (Hrsg.), Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts, 1998, § 11 Rn. 8 ff., m. w. N. 11 Köhler, MDR 1992, S. 739 (740); Nelles/Velten, NStZ 1994, S. 366 ff.; vorsichtig Böse (o. Fußn. 9), S. 71 (79, 81). Siehe auch Sondervotum des Verfassungsrichters Sommer zu dem Beschluss BVerfG NJW 1994, 1577, 1588 ff. Zur Forderung nach einer Freigabe von Cannabis vgl. jüngst die Kontroverse von Nesˇkovic´, DRiZ 2012, S. 182, und (dagegen) Dyckmans, DRiZ 2012, S. 183. 12 Vgl. zu dieser Auslegung BGHSt 50, 252 (262). Die weite Auslegung des Begriffs Handeltreiben wird innerhalb der Literatur aber auch verteidigt, vgl. Patzak, in: Körner/ Patzak/Volkmer, BtMG, 7. Aufl. 2012, § 29 Teil 4 Rn. 32; Weber, BtMG, 3. Aufl. 2009, § 29 Rn. 210 ff., m. w. N.; ders., NStZ 2004, S. 66 (68 f.). 13 Krack, JuS 1995, S. 585 (586 f.); Kreuzer, in: Festschrift Miyazawa (1995), S. 177 (189); Krumdiek/Wesemann, StV 2006, S. 634 (636 ff.); Nestler (o. Fn. 10), § 11 Rn. 357 ff.; Paul, NStZ 1998, S. 222 f.; Roxin, StV 1992, S. 517 (518, 520). S. a. BGH NStZ 2004, 105; BGH NJW 2005, 1589. 14 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 14, 16, 34 ff. 15 BVerfGK 9, 169 = NJW 2007, 1193. Voraus gegangen war dem die Entscheidung des Großen Senats BGHSt 50, 252, die die weite Auslegung des Handeltreibens bestätigt hatte; kritisch hierzu Krumdiek/Wesemann, StV 2006, S. 634 ff. 16 BVerfGE 90, 145 (189) = NJW 1994, 1577 (1581). 17 Vgl. Böse (o. Fußn. 3), § 20 Rn. 5, Weißer (o. Fußn. 3), § 9 Rn. 23.
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eine strafrechtliche Verantwortlichkeit von Drogenhändlern für durch den Drogenkonsum verursachte Gesundheitsschädigungen im Raum.
III. Zweiter Problemkreis: Die Haftung des Drogenhändlers für Schädigungen des Drogenkonsumenten Eine Strafbarkeit des Drogenhändlers wegen Körperverletzungs- oder gar Tötungsdelikten kommt immer dann in Betracht, wenn die Abnehmer von Betäubungsmitteln durch den Konsum der illegal verschafften Drogen Gesundheitsschäden erleiden und dies für den Drogenhändler auch vorhersehbar war. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass Drogen von überwiegend erwachsenen, für ihre Gesundheit prinzipiell selbst verantwortlichen Personen in Kenntnis der Gesundheitsgefahren konsumiert werden. Daher stellt sich hier – jenseits der Frage einer Kriminalisierung des Drogenhandels als solchen – das prinzipielle Problem, ob den Verkäufer auch eine strafrechtliche Verantwortlichkeit für gesundheitliche Folgen des Drogenkonsums treffen soll. Nach den allgemeinen Regeln strafrechtlicher Erfolgszurechnung ist derjenige, der einem Konsumenten Gelegenheit zur bewussten Selbstschädigung gibt, für dessen Gesundheitsschädigung oder Tod nicht verantwortlich.18 Denn ein Erwachsener, der seine Rechtsgüter sehenden Auges selbst aufs Spiel setzt, ist auch für ihre Verletzung selbst verantwortlich. Einem anderen wird der Erfolg in diesem Fall auch dann nicht zugerechnet, wenn er mit der Lieferung der Drogen einen unverzichtbaren Kausalfaktor für die Schädigung gesetzt hat. Kauft also der Konsument (O) Drogen bei einem Dealer und stirbt dann als Folge des Konsums, so ist die strafrechtliche Haftung des Dealers durch O’s Eigenverantwortlichkeit begrenzt.19 Fragt man genauer nach dem Grund für diese Einschränkung strafrechtlicher Zurechnung, so gelangt man zu fundamentalen Prinzipien der Strafrechtstheorie: Straftatbestände, die Individualrechtsgüter schützen, haben den Zweck, Eingriffe Dritter in die Rechtsgüter des Opfers zu verhindern. Vom Normadressaten wird verlangt, gezielte Eingriffe in fremde Rechtsgüter zu unterlassen, beziehungsweise – im Bereich 18
Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2011, 10. Kap. Rn. 15, 17; Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. 2010, Vor § 13 Rn. 101; Roxin, AT I, § 2 Rn. 32. 19 Grünewald, GA 2012, S. 364 (369 f.); a. A. Puppe, in: Nomos-Kommentar, StGB, Bd. 1, 3. Aufl. 2010, Vor §§ 13 ff. Rn. 189 f.; dies., ZIS 2007, S. 247 (252); dies., JZ 2011, S. 911 (912), die aus dem Verbot des Handels mit Betäubungsmitteln folgert, dass die Überlassung von Betäubungsmitteln an andere auch dann zu einer Fahrlässigkeitshaftung für durch den Konsum vorhersehbar verursachte Schädigungen des Konsumenten führt, wenn der Konsument in voller Risikokenntnis eigenverantwortlich konsumiert hat; zustimmend SternbergLieben, in: Festschrift für Puppe, 2011, S. 1283 ff. Ähnlich Hardtung, in: Münchener Kommentar zum StGB (MK-StGB), Bd. 3, 2003, § 22 Rn. 24 f.; Zaczyk, Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverantwortlichkeit des Verletzten, 1993, S. 60 f.
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der Fahrlässigkeitsdelikte – sein Verhalten in dem Maße sorgfältig zu gestalten, dass Risiken für Rechtsgüter Anderer vermieden werden. Unbegrenzte Sorgfalt kann das Recht aber nicht verlangen. Denn grundsätzlich ist zunächst jeder Rechtsgutsträger selbst für den Schutz seiner Rechtsgüter zuständig. Setzt er sein Rechtsgut bewusst aufs Spiel, so handelt er prinzipiell auf eigene Gefahr.20 Eine liberale Staatsordnung, die ihre Bürger so wenig wie möglich bevormunden möchte, akzeptiert es grundsätzlich, dass der mündige Bürger seine Rechtsgüter – bis hin zu seinem Leben – in Gefahr bringt. Das ist Teil der verfassungsrechtlich geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit. Das Strafrecht mischt sich folglich bei Selbstgefährdungen durch den verantwortlichen Rechtsgutsträger nicht ein, auch nicht dadurch, dass es Dritten eine generelle Verhinderungspflicht auferlegt.21 In bestimmten Fällen aber ist der eingetretene Erfolg das Produkt eines Zusammentreffens riskanter Handlungen des Opfers und eines Anderen, des potenziellen Fahrlässigkeitstäters. Dann stellt sich die schwierige Frage, ob das Geschehen als eine der Eigenverantwortlichkeit unterfallende Selbstgefährdung durch das spätere Opfer zu werten ist oder ob der eingetretene Erfolg dem sorgfaltswidrig handelnden Anderen als dessen Werk zugerechnet werden kann. Das muss durch eine Abschichtung der Verantwortungsbereiche der Mitwirkenden geklärt werden:22 Im Verantwortungsbereich des potenziellen Fahrlässigkeitstäters liegt die durch sein rechtlich missbilligtes Verhalten verursachte Gefahr. Realisiert sich diese Gefahr, dann haftet er dafür aber nur dann, wenn nicht das Opfer selbst den Erfolg durch bewusste, zurechenbare Selbstgefährdung herbeigeführt hat. 1. Ein Beispiel: BGHSt 53, 288 Diese Wertung lässt sich anhand eines Rechtsprechungsbeispiels aus jüngerer Zeit illustrieren. Der BGH hatte über den folgenden Fall zu entscheiden:23 O wollte bei T Kokain kaufen. Das dem O übergebene Rauschgift war jedoch reines Heroin, durch dessen Konsum O starb. Weder T noch O hatte gewusst, dass es sich bei dem Rauschgift um Heroin handelte. T war davon ausgegangen, dass es sich um ein Kokaingemisch unter Zusatz von Marihuana und Amphetaminen handelte. Er hatte das Heroin entweder schon selbst von seinem Lieferanten irrtümlich als Kokain statt als Heroin erworben, oder er hatte beim Griff in seinen Rauschgiftvorrat versehentlich das falsche Päckchen gewählt.
20 OLG Stuttgart StV 2012, S. 23 ff. (24); hierzu allgemein Radtke, in: Festschrift für Puppe, 2011, S. 831 (835 ff.); Walther, Eigenverantwortlichkeit und strafrechtliche Zurechnung, 1991, passim; Zaczyk (o. Fußn. 19), S. 40. 21 Radtke, in: Festschrift für Puppe, 2011, S. 831 (837); Roxin, AT I, § 2 Rn. 32; ders., JZ 2009, S. 399 (401). 22 Übereinstimmend Walther, HRRS 2009, S. 560 (562). 23 BGHSt 53, 288.
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Das LG verurteilte T wegen fahrlässiger Tötung mit der Begründung, er hätte den Konsumenten darüber aufklären müssen, dass es sich bei dem Rauschgift nicht um reines Kokain, sondern um ein Kokaingemisch handelte. Der BGH widersprach dieser Argumentation, weil diese Aufklärung dem O keine realistische Gefahreinschätzung ermöglicht hätte. Denn T’s Vorstellung, es handle sich um ein Kokaingemisch, war ja unzutreffend. Im Ergebnis bestätigte der BGH aber T’s Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung. Die Sorgfaltspflichtverletzung sah der Senat darin, dass T die Zusammensetzung des Rauschmittels vor der Abgabe an O nicht überprüft hatte.24 Das allerdings wirft die naheliegende Frage auf, wie eine solche Prüfungspflicht praktisch erfüllt werden soll. Verlangt der BGH vom Dealer, vor dem Verkauf von Rauschgift immer ein wenig von seiner Ware zu probieren? Oder schwebt dem Senat so etwas wie eine Zertifizierung bestimmter Rauschmittel vor? Tatsächlich wird man wohl nicht annehmen können, dass sich der Konsument bei eingekauften illegalen Betäubungsmitteln auf deren Qualität verlassen kann, wie etwa bei Lebensmitteln oder Medikamenten. Drogen sind nun mal keine Lebensmittel, die im legalen Geschäftsverkehr jeden Tag über den Ladentisch gehen und auf deren Qualität man sich normalerweise auch verlassen darf. Deswegen ist es auch nicht sinnvoll, einen Fahrlässigkeitsvorwurf gegenüber dem Verkäufer daran zu knüpfen, dass er die Qualität des Produkts nicht hinreichend sorgfältig geprüft habe.25 Der Rückgriff auf zweifelhafte Prüfpflichten ist aber auch gar nicht notwendig, denn es kann durchaus bereits als Sorgfaltspflichtverletzung angesehen werden, dass der Dealer dem späteren Opfer überhaupt lebensgefährliches Rauschgift ausgehändigt hat. Natürlich muss der Dealer damit rechnen, dass die Weitergabe lebensgefährlichen Rauschgifts, das er selbst in illegaler Weise erhalten hat, zum Tod des Konsumenten führen kann, sei es wegen dessen besonderer Empfindlichkeit, sei es wegen unkontrollierbarer schädlicher Eigenschaften des „Stoffes“. Man sollte also den einfacheren Weg gehen und als Ausgangspunkt der Zurechnungsprüfung die – sicher bereits als solche sorgfaltswidrige – Abgabe des lebensgefährlichen Rauschgifts wählen. Dieses Verhalten war in casu auch ursächlich für den Eintritt des Todes des O. Die Kausalität ist aber nur der erste Schritt auf dem Weg zur Feststellung einer objektiven Zurechenbarkeit des Todeserfolges gegenüber dem sorgfaltswidrig handelnden Drogenverkäufer. Entscheidend für eine Zurechnung dieses Erfolgs ist, ob sich insoweit die durch das sorgfaltswidrige Verhalten des T gesetzte Gefahr verwirk24
BGHSt 53, 288 (292). Die angesichts dieser Problematik von Walther, HRRS 2009, S. 560 (563), in Erwägung gezogene Aufstellung von Warnpflichten bildet – jedenfalls für Sachverhalte wie den vorliegenden – keine vielversprechende Alternative. Das allgemeine Risiko des Drogenkonsums ist bekannt und hinsichtlich des besonderen Risikos können Warnpflichten ja nur wahrgenommen werden, wenn besondere Risiken dem Verkäufer bekannt sind – was angesichts des entsprechenden Irrtums des Angeklagten gerade nicht der Fall war. 25
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licht hat. Nur dann kann dem T der Tod des O zugerechnet werden. Hat dagegen allein eine durch das Opfer eigenverantwortlich gesetzte Gefahr zu dessen Tod geführt, so wird dieser Erfolg nach dem Verantwortungsprinzip dem T nicht zugerechnet. Durch den Konsum des Heroins hat das Opfer hier die Gefahr für sein Leben selbst geschaffen. O ist daher zunächst selbst für seinen Tod verantwortlich, vorausgesetzt, das relevante Risiko, das typischerweise mit dem Drogenkonsum verbunden ist, war ihm bekannt. In einer Leitentscheidung zum Drogenkonsum, der sog. Heroinspritzen-Entscheidung aus dem Jahre 1984,26 hat der BGH das so ausgedrückt: „Mit dem gefährlichen, in seiner möglichen Tragweite überblickten Verhalten übernimmt der Konsument das Risiko der Realisierung der Gefahr.“27
Der Generalbundesanwalt wollte diesen Grundsatz auch im vorliegenden Fall angewandt sehen: Er verneinte eine fahrlässige Tötung, weil der Drogenkonsument sich vorsätzlich selbst gefährdet und der Angeklagte hieran bloß teilgenommen habe.28 Der BGH wandte dagegen mit Recht ein, dass die Eigenverantwortlichkeit des Konsumenten die Zurechnung zum Erstverursacher nur insoweit sperren könne, als sich in dem Erfolg tatsächlich das mit dem Konsum typischerweise verbundene Risiko realisiert habe.29 Maßgeblich für die Abschichtung der Verantwortungsbereiche von Dealer und Konsument ist demnach, ob auch die Möglichkeit einer Verwechslung des übergebenen Rauschgifts zu diesen typischen Risiken gehört, die ein Drogenkonsument bewusst eingeht. Der BGH verneinte diese Frage mit der Begründung, dass bei einer Verwechslung von Kokain mit reinem Heroin mehr als eine verkehrsübliche Abweichung von Qualität, Reinheit oder Zusammensetzung des Rauschgifts vorliege.30 Dem wird man durchaus zustimmen können: Dass man als Konsument statt eines vergleichsweise harmlosen Kokaingemischs lebensgefährliches reines Heroin erhält, kann man nicht mehr als typisches Risiko des Drogenkonsums ansehen. Das führt zu der Konsequenz, dass angesichts des gravierenden Irrtums des Konsumenten über die Art und Tragweite des mit dem Konsum eingegangenen Risikos nicht behauptet werden kann, er habe das Risiko bewusst auf sich genommen und damit eigenverantwortlich gehandelt. Der Drogenhändler allerdings wird gegen eine darauf gründende Erfolgszurechnung einwenden, dass er sich selbst ebenfalls im Irrtum über die Art des Rauschgifts befunden habe. Jedoch wird ihm dieser Einwand nichts nutzen, denn für die Fahrläs26
BGHSt 32, 262. BGHSt 32, 262 (265). 28 BGHSt 53, 288 (289 f.). 29 BGHSt 53, 288 (290 f.). 30 BGHSt 53, 288 (291). 27
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sigkeitshaftung reicht auch eine unbewusste sorgfaltswidrige Gefährdung fremder Rechtsgüter aus, wenn diese nur vorhersehbar war.31 2. Parallelisierung von Vorsatz- und Fahrlässigkeitshaftung zur Ermittlung von Zurechnungsgrenzen? Aus der Sicht des BGH tritt an dieser Stelle allerdings eine Komplikation auf: In früheren Entscheidungen hatte er über eine Vorsatzstrafbarkeit des Drogenhändlers zu entscheiden. Dort wurde die Strafbarkeit mangels objektiver Zurechenbarkeit des Erfolgs verneint, sofern der Konsument die gleichen Informationen über die Gefährlichkeit des gelieferten Rauschgifts besaß wie der Lieferant. In der erwähnten Leitentscheidung aus dem Jahr 1984 führte der BGH hierzu aus, die Strafbarkeit könne erst dort beginnen, „wo der sich Beteiligende kraft überlegenen Sachwissens das Risiko besser erfasst als der sich selbst Gefährdende“.32
Ein solcher Wissensvorsprung ist in dem Sachverhalt der Entscheidung BGHSt 53, 288 aber ersichtlich nicht gegeben. Das bedeutet, dass nach der Rechtsprechung der Drogenhändler jedenfalls nicht für Totschlag oder Mord an dem Konsumenten haften würde, wenn er demselben Irrtum unterläge wie der Konsument selbst. Wenn aber bei einer Transformation des Sachverhalts in den Vorsatzbereich eine Haftung des Dealers mangels Wissensüberlegenheit nicht begründbar wäre, müsste auf der Grundlage einer Argumentation a maiore ad minus eine Fahrlässigkeitshaftung erst recht ausgeschlossen sein. Anderenfalls – so jedenfalls der BGH – drohe ein Wertungswiderspruch, weil die Fahrlässigkeitshaftung dann über eine etwaige Vorsatzhaftung hinaus reiche. Muss daraus nun die Konsequenz gezogen werden, dass auch eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit des Dealers wegen fehlender Wissensherrschaft abzulehnen ist? Das würde bedeuten, dass ihn gerade die mangelnde Sorgfalt bei der Zusammenstellung der Drogenlieferung entlasten würde – die fehlende Prüfung der Ware also, die der BGH gerade als Grundlage der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit betrachtet hat. Der Senat versuchte, dieses Problem zu umgehen, indem er für die Transformation des Sachverhalts in den Vorsatzbereich einfach eine Wissensüberlegenheit des Dealers unterstellte. Der entscheidende Satz der Urteilsbegründung lautet: „… hätte der Angekl. dem … [Opfer, BW] vorsätzlich reines Heroin … ausgehändigt, ohne ihn darüber aufzuklären, wäre er wegen eines in mittelbarer Täterschaft (§ 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB) begangenen Tötungsdelikts zu verurteilen gewesen“.33 31
Roxin, AT I, § 24 Rn. 69. BGHSt 32, 262 (265); ebenso BGH NStZ 1985, 25; kritisch zu dieser Formel Hardtung, in: MK-StGB, § 222 Rn. 22; eingehend hierzu Walther, Eigenverantwortlichkeit und strafrechtliche Zurechnung, 1991, S. 172 ff. 33 BGHSt 53, 288 (292). 32
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Diese Argumentation führt zwar zu dem erwünschten Ergebnis einer Verantwortlichkeit des Dealers, sie krankt aber daran, dass die Transformation des Sachverhaltes in den Vorsatzbereich nicht in korrekter Weise erfolgt ist.34 Entscheidend ist ja, dass Dealer und Konsument hinsichtlich der besonderen Gefährlichkeit des Heroins demselben Irrtum unterlagen – das aber bildet die Kontrollüberlegung des Senats gerade nicht ab. Eine korrekte Transformation des Sachverhaltes in den Vorsatzbereich hätte auch das identische Informationsniveau von Dealer und Konsument hinsichtlich der Produktqualität beinhalten müssen. Deswegen lautet die korrekt formulierte Kontrollfrage, ob der Angeklagte wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts zu verurteilen gewesen wäre, wenn er den Tod des Konsumenten zumindest billigend in Kauf genommen hätte, dabei aber die wahre Qualität des übergebenen Rauschgifts – wie der Konsument auch – verkannt hätte. Für diese Sachverhaltskonstellation überzeugt die Annahme mittelbarer Täterschaft qua Wissensherrschaft sicher nicht. Das bedeutet, dass die Anwendung der Vorsatz-Fahrlässigkeitsparallele eigentlich zu einem Zurechnungsausschluss für den Angeklagten führen müsste, und zwar aus dem schlichten Grund, dass er das Ausmaß der begründeten Gefahr fahrlässig verkannt hat. Das aber wäre eine kaum haltbare Beurteilung des Geschehens. Der Ausweg aus diesem Dilemma ist vergleichsweise einfach: Der zweifelhafte Umweg über einen Vergleich mit der Vorsatzkonstellation wäre nicht nötig gewesen, wenn der BGH den „erst-recht“-Schluss von der Straffreiheit des Vorsatztäters auf die des Fahrlässigkeitstäters aus der Entscheidung von 1984 aufgegeben hätte. Dazu hätte aller Anlass bestanden,35 denn die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit ist gerade nicht die kleine Schwester der Vorsatzstrafbarkeit, sondern sie beruht auf ganz anderen Haftungsgrundsätzen.36 Deshalb bedeutet die Tatsache, dass man jemanden in einer bestimmten Konstellation nicht wegen vorsätzlicher Tat bestrafen kann, nicht automatisch, dass auch eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit ausscheiden würde. Der grundlegende Unterschied erklärt sich wie folgt: Fahrlässigkeitsstrafbarkeit knüpft nicht an eine bewusste Auflehnung gegen die Gebote der Rechtsordnung an, sondern an die mangelnde Rücksichtnahme auf die schützenswerten Interessen anderer.37 Wer sich nicht genügend um die Interessen seiner Mitmenschen kümmert und deshalb mögliche Schäden für diese nicht vorhersieht, handelt fahrlässig. Deswegen gelten auch andere Maßstäbe für die Beurteilung der objektiven Zurechenbarkeit von Erfolgen: Dem Fahrlässigkeitstäter können verursachte und für ihn vermeidbare Er34
Zu unkritisch deshalb Lange/Wagner, NStZ 2011, S. 67 (68). Im Ergebnis übereinstimmend Schneider, Risikoherrschaft als Täterschaftsattribut und die Beteiligungsformen der fahrlässigen Erfolgsdelikte, 2002, S. 156 f.; Walther, (o. Fußn. 32), S. 74 ff.; Zaczyk (o. Fußn. 19), S. 40, 48. 36 Damit soll nicht bestritten werden, dass Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikte insoweit strukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen, als beide daran anknüpfen, dass Gefahren für Rechtsgüter geschaffen wurden, die sich in vorhersehbarer Weise in deren Verletzung realisiert haben, dazu eingehend und weiterführend Wolter, in: 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, 1993, S. 269 (279 f., 307 ff.). 37 Weigend, in: Festschrift für Gössel, 2002, S. 129 (133). 35
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folge auch dann zugerechnet werden, wenn der Geschädigte die Gefahr selbst hätte erkennen und vermeiden können. Der Vorsatztäter kann demgegenüber nur dann verantwortlich gemacht werden, wenn sich der Erfolg im Rahmen dessen hält, was von seinem Wissen zur Zeit der Handlung erfasst war.38 Eigenmächtige selbstschädigende Eingriffe des Opfers können deswegen hier in anderer Weise entlastend wirken als gegenüber dem Vorwurf der Fahrlässigkeit. Deshalb passt schon die Frage, ob das Opfer wegen eines Willensmangels nicht freiverantwortlich gehandelt hat und deswegen die Verantwortlichkeit für den eingetretenen Erfolg auf den Hintermann übergeht, nicht auf die Fahrlässigkeitsfälle. Denn typisch für fahrlässige Erfolgsverursachungen ist es gerade, dass keiner der Beteiligten mit dem Erfolgseintritt rechnet. Es kann daher bei der Bestimmung des Umfangs der Fahrlässigkeitshaftung nicht um eine „Wissensüberlegenheit“ des Hintermannes gehen. Für die Fahrlässigkeitshaftung des Dealers in dem zugrunde liegenden Sachverhalt ist folglich allein die Tatsache maßgeblich, dass ihm sorgfaltswidriger Umgang mit den Drogen in seinem Besitz vorzuwerfen ist und dass dieses sorgfaltswidrige Verhalten den Tod des Opfers verursacht hat. Der Dealer wird nicht wegen Beteiligung an einer Selbstgefährdung des Konsumenten bestraft, sondern wegen eigener sorgfaltswidriger Gefährdung des Lebens des Opfers mit für ihn vorhersehbar tödlichem Ausgang. Im Ergebnis hat der BGH den Dealer zu Recht wegen fahrlässiger Tötung verurteilt39 – allerdings aus anderen Gründen als denen, die er angenommen hat. 3. Konsequenzen für die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Drogendealern für Schädigungen ihrer Abnehmer durch den Konsum Daraus ergeben sich die folgenden grundsätzlichen Konsequenzen für die Verantwortlichkeit eines Drogendealers im Hinblick auf Verletzungserfolge, die durch den Konsum der von ihm vertriebenen Ware hervorgerufen werden: Realisiert sich in der Schädigung des Drogenkonsumenten das mit dem Konsum typischerweise verbundene und dem Konsumenten bekannte Risiko, so ist grundsätzlich der Geschädigte selbst für den Erfolg zuständig. Die Rechtsordnung mutet es dem Rechtsgutsinhaber zu, auf selbstgefährdende Handlungen zu verzichten, deren Risiko er kennt. Nur wenn der eingetretene Verletzungserfolg außerhalb des vom Konsumenten bewusst 38 Differenzierend hierzu Wolter, in: Gimbernat/Schünemann/Wolter (o. Fußn. 1), S. 3 ff., 21 f., wobei allerdings die von ihm angesprochenen Fallkonstellationen des Sonderwissens und der aberratio ictus für den hier diskutierten Fall nicht einschlägig sind. Dass die objektive Zurechnung des Erfolgs in Fällen vorsätzlicher Selbstgefährdung – auch bei Drogenkonsum – ausscheiden kann, erwähnt auch Wolter, a.a.O. S. 6. 39 Im Ergebnis ebenfalls zustimmend Lange/Wagner, NStZ 2011, S. 67 (68); Walther, HRRS 2009, S. 560 (562).
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eingegangenen Risikos liegt, kommt für den Dealer eine Fahrlässigkeitshaftung in Betracht. 4. Konflikt mit europäischen Vorgaben? Die Frage liegt nahe, ob diese Haftungsbegrenzung für den Drogenhändler durch das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit des Konsumenten den eingangs dargelegten Bemühungen der Europäischen Union um eine wirksamere Bekämpfung des Drogenproblems zuwiderläuft. In der bereits erwähnten Mitteilung von Oktober 201140 hat die Kommission zwar die Erarbeitung weiterer Vorgaben zur strafrechtlichen Verfolgung des Drogenhandels angekündigt. Dabei richtet sich das Hauptaugenmerk aber auf die Zerschlagung grenzüberschreitender Netzwerke zur Verbreitung und zum Handel mit Betäubungsmitteln. Eine mögliche Verantwortlichkeit von Betäubungsmittelhändlern für durch den Drogenkonsum konkret verursachte Gesundheitsschäden ist weder vom Regelungsbereich des Rahmenbeschlusses von 2004 umfasst – noch befassen sich die in Aussicht gestellten Verbesserungen der unionsrechtlichen Vorgaben damit. Die Zurechenbarkeit von Gesundheitsschäden des Konsumenten an den Dealer beurteilt sich also allein nach der allgemeinen Fahrlässigkeitsdogmatik. Die Vorgaben der deutschen Dogmatik zur Zurechnungsbegrenzung durch das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit kollidieren demnach nicht mit der europäischen Drogenbekämpfungsstrategie.
IV. Dritter Problemkreis: Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Drogenkonsumenten Der Konsum von Drogen ist im deutschen Betäubungsmittelstrafrecht nicht unter Strafe gestellt. Reine Selbstschädigungen oder -gefährdungen sind strafrechtlich nicht relevant – eine Folge der allgemeinen Handlungsfreiheit. Allerdings sieht § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG eine Strafdrohung für Tathandlungen wie das Erwerben oder Sichverschaffen von illegalen Betäubungsmitteln vor, und in § 29 Abs. 1 Nr. 3 BtMG ist zudem der (nicht durch schriftliche Erlaubnisse gedeckte) Besitz von Betäubungsmitteln unter Strafe gestellt. Die Straftatbestände finden auch auf den Drogenkonsumenten selbst Anwendung, wenn er Betäubungsmittel ausschließlich für den Eigenkonsum erwirbt oder in Besitz hat. Das gilt auch für geringe Mengen von Betäubungsmitteln. Insoweit stellt sich die Frage, ob hier nicht eine gewisse Widersprüchlichkeit der geltenden Rechtslage anzunehmen ist. In Betracht kommt das schon für die deutsche Binnenrechtslage, aber auch im Verhältnis zwischen deutscher Rechtslage und der Drogenbekämpfungsstrategie der Union. 40 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat vom 25. 10. 2011, „Eine entschlossenere Reaktion auf das Drogenproblem“, KOM (2011) 689 endg.
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1. Die Strafbarkeit des Eigenbesitzes von Drogen im Konflikt mit dem Prinzip der Eigenverantwortlichkeit? Nimmt man die dem Eigenverantwortlichkeitsprinzip zugrunde liegenden Wertungen ernst, dann ist äußerst zweifelhaft, ob die Kriminalisierung des Betäubungsmittelerwerbs oder -besitzes zum ausschließlichen Eigenverbrauch in das grundsätzliche Konzept einer liberalen Staatsordnung passt. Denn dann ist davon auszugehen, dass eine solche Staatsordnung es hinzunehmen hat, wenn ihre Bürger eigene Rechtsgüter gefährden oder schädigen. Dann bedarf aber die Strafdrohung für den ausschließlich dem eigenen Konsum dienenden Erwerb von Betäubungsmitteln einer besonderen Begründung. Gelingen kann diese Begründung nur, wenn solche Handlungen nicht nur eigene Rechtsgüter des Konsumenten gefährden, sondern zumindest eine abstrakte Gefahr für die Rechtsgüter anderer oder der Allgemeinheit begründen können. Letztlich kann eine solche Gefährdung nur mit der grundsätzlichen Überlegung angenommen werden, dass jeder einzelne Drogenkonsument ein – wenn auch winziges – Mosaikteilchen des internationalen Drogengeschäfts bildet, indem er einen minimalen Bruchteil der Nachfrageseite konstituiert. Um den Drogenhandel und die von ihm ausgehenden Gesundheitsgefahren zu unterbinden, mag es zwar ein durchaus geeignetes Mittel sein, auch den Erwerb illegaler Betäubungsmittel zum Eigenkonsum unter Strafe zu stellen.41 Vielleicht ist es auch noch nachvollziehbar, dass ein generelles Verbot des Erwerbs von Betäubungsmitteln ein erforderliches Mittel ist, um die Strafwürdigkeit des Betäubungsmittelhandels insgesamt deutlich zu unterstreichen.42 Ob das allerdings ausreicht, um das dem Eigenkonsum dienende Verhalten mit den Mitteln des Strafrechts als ultima ratio zu unterbinden, darf bezweifelt werden.43 2. Die Strafbarkeit des Eigenbesitzes im Konflikt mit europäischen Vorgaben? Ein weiterer Blick auf die EU-Ebene zeigt zudem, dass auch nach den Maßgaben der Union zur „Bekämpfung“ des Drogenproblems eine so weitgehende Pönalisierung gerade nicht gefordert ist. In § 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses zur Bekämpfung des illegalen Drogenhandels aus dem Jahr 2004 ist vielmehr ausdrücklich festgehalten, dass die nach dessen Abs. 1 unter Strafe zu stellenden Handlungen jedenfalls dann nicht unter den Rahmenbeschluss fallen, wenn sie ausschließlich zum per-
41
So BVerfGE 90, 145 (182) = NJW 1994, 1577 (1581). Vgl. BVerfGE 90, 145 (182 f.) = NJW 1994, 1577 (1581). 43 Ausdrücklich ablehnend das Sondervotum des Verfassungsrichters Sommer zu dem Beschluss BVerfGE 90, 145, 212 f. = NJW 1994, 1577 (1588 ff.). 42
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sönlichen Konsum verwirklicht werden.44 Der Rahmenbeschluss klammert dem Eigenkonsum dienende Handlungen also ausdrücklich aus dem zu kriminalisierenden Bereich aus. Natürlich sind die Mitgliedstaaten nicht gehindert, dennoch eine weitergehende Pönalisierung einzuführen. Zum einen, weil Rahmenbeschlüsse ebenso wie Richtlinien lediglich die Untergrenze der Strafbarkeit vorgeben. Die Entscheidung über die Strafwürdigkeit weiterer Verhaltensweisen bleibt dem nationalen Gesetzgeber überlassen.45 Zum anderen stellt Erwägungsgrund 4 des Rahmenbeschlusses ausdrücklich klar, dass die in seinem Art. 2 Abs. 2 vorgesehene Freistellungsmöglichkeit für den Eigenverbrauch nicht im Sinne einer Leitlinie für die mitgliedstaatlichen Vorschriften zu verstehen sei. Aus europäischer Perspektive ist also gegen die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, auch Handlungen des Eigenerwerbs oder -besitzes grundsätzlich zu pönalisieren, nichts einzuwenden. 3. Systematische Einwände gegen die Kriminalisierung des Eigenbesitzes zum Eigenkonsum Auch wenn europäische Vorgaben damit nicht dazu zwingen, den Stab über das deutsche Recht zu brechen, so muss sich der deutsche Gesetzgeber doch die Frage gefallen lassen, ob die weitreichende Pönalisierung auch von Handlungen im Zusammenhang mit dem Eigenverbrauch wirklich noch mit dem Gedanken einer freiheitsorientierten Staatsordnung vereinbar ist – oder ob hier nicht die Strafdrohung gegen den einzelnen Drogenkonsumenten als Symbol herhalten muss für den sehr weit übergeordneten Zweck der Bekämpfung des illegalen Drogenhandels qua Beschneidung der Nachfrage. Dafür spricht jedenfalls die in den §§ 29 Abs. 5 und 31 BtMG vorgesehene sog. prozessuale Lösung, die im Hinblick auf die geringe Strafwürdigkeit der Handlungen zum Eigenkonsum ein Absehen von Verfolgung oder Strafe ermöglicht. Dass diese Möglichkeiten vorgesehen sind, ist ein sehr deutliches Zeichen dafür, dass auch der Gesetzgeber selbst die Strafwürdigkeit von allein dem Eigenkonsum dienenden Handlungen als gering einstuft.
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Art 2 Abs. 2 RB Drogenhandel lautet „Die Handlungen nach Absatz 1 fallen nicht in den Anwendungsbereich dieses Rahmenbeschlusses, wenn die Täter sie ausschließlich für ihren persönlichen Konsum im Sinne des nationalen Rechts begangen haben.“, vgl. ABl. L 335/9 v. 11. 11. 2004. 45 Der RB Drogenhandel legt gemäß seinem Erwägungsgrund 3 (vgl. ABl. L 335/8 v. 11. 11. 2004) ausdrücklich lediglich Mindestvorschriften fest, über die die nationalen Gesetzgeber hinausgehen können. Dem Regelungsverzicht lässt sich auch keine inhaltliche Leitlinie für den nationalen Gesetzgeber entnehmen, vgl. Böse (o. Fußn. 3) § 20 Rn. 21; Hecker (o. Fußn. 9), § 11 Rn. 47.
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Es ist aber ein sehr zweifelhafter Weg, ein Verhalten zunächst formal mit Strafe zu bedrohen, um diese Strafdrohung dann sogleich unter den Vorbehalt einer staatsanwaltschaftlichen Nichtverfolgung zu stellen. Diesem Zweifel unterliegt auch die eingangs erwähnte verfassungsgerichtliche Rechtsprechung,46 die die Pönalisierung des Eigenbesitzes und -konsums von geringen Mengen von Cannabis letztlich mit der Begründung passieren ließ, das Übermaßverbot sei wegen der vorgesehenen prozessualen Ausweichmöglichkeiten nicht verletzt.47 Es kann nicht richtig sein, dass die Verhältnismäßigkeit einer Strafdrohung nur gewährleistet ist, wenn man prozessuale Einstellungsmöglichkeiten als faktische Restriktion des Tatbestandes in diesen hinein liest. Der Gesetzgeber selbst sollte die Grenze strafwürdigen Handelns festlegen – und zwar im Tatbestand.48 Diese Grenze wird durch die in der allgemeinen Dogmatik anerkannte Straflosigkeit der Selbstgefährdung vorgegeben. Eine tatbestandliche Restriktion der Strafbarkeit von ausschließlich dem Eigenkonsum dienenden Handlungen würde nicht nur im besseren Einklang mit der grundsätzlichen Straflosigkeit von Eigengefährdungen stehen, sondern auch im europäischen Kontext läge ein Umdenken des deutschen Gesetzgebers durchaus auf der Linie des neuen Ansatzes für ein EU-Strafrecht, der am 24. April 2012 im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments beschlossen wurde.49 Dort wurde ausdrücklich an den Gedanken der Subsidiarität des Strafrechts erinnert und deutlich unterstrichen, dass das Strafrecht nur als ultima ratio einzusetzen ist.50 Das zeigt, dass bei aller Bekämpfungsstrategie das Bewusstsein für
46
BVerfGK 9, 169 = NJW 2007, 1193. Zustimmend aber Kotz, in: MK-StGB/BtMG (2007), § 29 Rn. 1621. 48 Übereinstimmend das Sondervotum des Verfassungsrichters Sommer zu dem Beschluss BVerfG NJW 1994, 1577 (1588 ff.); sowie Nelles/Velten, NStZ 1994, S. 366 (367 f.); deutlich zurückhaltender angesichts der praktischen Schwierigkeit einer klaren Grenzziehung Kreuzer, NJW 1994, S. 2400 (2401). 49 Entwurf einer Entschließung des Europäischen Parlaments zu einem EU-Ansatz zum Strafrecht v. 24. 4. 2012 (A 7-0144/2012). 50 Entwurf einer Entschließung des Europäischen Parlaments zu einem EU-Ansatz zum Strafrecht v. 24. 4. 2012 (A 7-0144/2012): „Das Europäische Parlament, … I. in der Erwägung, dass das Strafrecht angesichts der Tatsache, dass es seiner Natur nach in der Lage ist, neben den möglicherweise stigmatisierenden Auswirkungen von strafrechtlichen Ermittlungen bestimmte Menschenrechte und Grundfreiheiten von verdächtigen, beschuldigten oder verurteilten Personen einzuschränken, und unter der Berücksichtigung, dass der exzessive Gebrauch von Strafrecht zu einer Verringerung der Effizienz führt, als letztes Mittel (ultima ratio) angewendet werden muss, um gegen eindeutig festgelegte und abgegrenzte kriminelle Handlungen vorzugehen, denen mit weniger strengen Maßnahmen nicht wirksam begegnet werden kann und die der Gesellschaft oder Einzelnen einen erheblichen Schaden zufügen; … 47
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den besonderen Charakter des Strafrechts durchaus auch auf Unionsebene zumindest verbal hochgehalten wird. Deutschland stünde es gut zu Gesicht, den ultima ratioCharakter des Strafrechts durch eine materiellrechtliche Restriktion der tatbestandsmäßigen Handlungen in § 29 BtMG zum Ausdruck zu bringen.51
V. Zusammenfassung Diese kurzen Überlegungen haben zu den folgenden Ergebnissen geführt: Sowohl auf der Ebene des deutschen Rechts als auch auf der Ebene der Europäischen Union richten sich strafrechtliche Maßnahmen in erster Linie gegen den Drogenhandel. Im Verhältnis zwischen Drogenhändler und seinem Abnehmer muss geklärt werden, inwieweit eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Dealers für konsumbedingte Gesundheitsschäden bei seinem Abnehmer in Betracht kommt. Da das Opfer selbst in diesen Konstellationen eine wesentliche Rolle spielt, indem es die illegalen Drogen konsumiert, muss eine Abschichtung der Verantwortungsbereiche von Opfer und potenziellem Fahrlässigkeitstäter erfolgen. Ausgangspunkt dieser Unterscheidung ist die Feststellung, dass in einer liberalen Rechtsordnung der Rechtsgutsträger selbst vorrangig für den Schutz eigener Rechtsgüter zuständig ist. Diese vorrangige Zuständigkeit führt zu einer Unterbrechung der Erfolgszurechnung an den Dealer für Schäden, die typischerweise durch den Drogenkonsum verursacht werden. Sie fallen in den ausschließlichen Verantwortungsbereich des Opfers. Eine Parallelisierung von Vorsatz- und Fahrlässigkeitshaftung zur Feststellung von Zurechnungsgrenzen in Fällen der Selbstgefährdung ist abzulehnen, weil sie die grundlegenden Unterschiede der Haftungsbegründung im Vorsatz- und Fahrlässigkeitsbereich außer Acht lässt. Die Kriminalisierung von Handlungen eines Drogenkonsumenten, die sich ausschließlich auf den Erwerb und Besitz von illegalen Betäubungsmitteln zum Eigenverbrauch richten, sollte unter Berücksichtigung der Vorgaben zur Straffreiheit der Selbstgefährdung entfallen. Der Blick auf die europäische Ebene hat gezeigt, dass Deutschland diesbezüglich deutlich über europäische Pönalisierungsanforderungen hinausgeht.
1. betont, dass Vorschläge zu Bestimmungen des materiellen Strafrechts der EU in vollem Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stehen müssen; … 3. hebt hervor, dass es … nicht genügt, auf abstrakte Konzepte und symbolische Wirkungen zu verweisen, sondern dass die Erforderlichkeit von neuen Strafvorschriften durch notwendige Belege nachgewiesen werden muss …“ 51 In diese Richtung tendiert wohl auch Böse (o. Fußn. 9), S. 71 (79, 81). Deutlich bereits Köhler, MDR 1992, S. 739 (740).
Das „potentielle Gefährdungsdelikt“ in der Rechtsprechung des BGH Von Frank Zieschang
I. Einleitung Der verehrte Jubilar kann auf eine große Anzahl wissenschaftlicher Abhandlungen blicken, die vielseits Beachtung gefunden haben. Einer seiner Forschungsgegenstände taucht dabei bereits in seiner Habilitationsschrift „Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem“ aus dem Jahr 1981 auf: Es geht um die mit den Gefährdungsdelikten verbundenen Anforderungen.1 In seinem Urteil vom 22. Juni 2011 hat nun der BGH die Auffassung vertreten, bei § 5 HeilprG handele es sich um ein „potentielles Gefährdungsdelikt“, wobei hierbei die generelle Gefährlichkeit der konkreten Tat maßgeblich sei.2 Auch schon vorher hat der BGH inzwischen mehrfach bestimmte Delikte als potentielle Gefährdungsdelikte eingestuft.3 Die nachfolgenden Überlegungen setzen sich mit diesen Entscheidungen des BGH auseinander. Sie sollen ganz im Sinne der Bemühungen des Jubilars die mit den Gefährdungsdelikten verbundenen Fragen weiter erhellen.
II. Das Urteil des BGH vom 22. 6. 2011 zu § 5 HeilprG Der 2. Strafsenat des BGH musste sich mit einem Fall beschäftigen, in dem die Angeklagte mehrfach in ihrer Wohnung ohne Erlaubnis nach § 1 Abs. 1 HeilprG Behandlungen nach der sog. Synergetik-Methode durchgeführt hatte. Nach dieser Therapieform sollen bei den behandelten Personen in Tiefenentspannung innere Bilder bearbeitet werden, um unverarbeitete Erlebnisse und Konflikte aufzuarbeiten und eine Hintergrundauflösung von Krankheiten zu erreichen.4
1
Siehe weiterhin auch Wolter, JuS 1978, 748; ferner ders., FS Schroeder, 2006, S. 431, 434 f. 2 BGH, NJW 2011, 3591 mit Anm. Duttge/Weber, JZ 2012, 210. 3 Siehe BGH, NJW 1994, 672; NJW 1994, 2161; BGHSt. 39, 371; BGH, NJW 1999, 2129; BGHSt. 46, 212; 54, 275. 4 Siehe die Schilderung in BGH, NJW 2011, 3591 sowie Duttge/Weber, JZ 2012, 210.
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Frank Zieschang
Gemäß § 5 HeilprG wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wer, ohne zur Ausübung des ärztlichen Berufs berechtigt zu sein und ohne eine Erlaubnis nach § 1 HeilprG zu besitzen, die Heilkunde ausübt. Nach der Legaldefinition des § 1 Abs. 2 HeilprG ist dabei unter Ausübung der Heilkunde jede berufs- oder gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden bei Menschen zu verstehen, auch wenn sie im Dienste von anderen ausgeübt wird. In seiner Entscheidung gelangt der BGH zu dem Ergebnis, dass eine Strafbarkeit der Angeklagten nach § 5 HeilprG zu bejahen sei. Im Einzelnen: Der BGH führt zunächst aus, im Einklang mit der Rechtsprechung des BVerwG5 bedürfe es der verfassungskonformen einschränkenden Auslegung der Definition in § 1 Abs. 2 HeilprG: Wegen der mit dem Erlaubniszwang verbundenen Beschränkung der Berufsfreiheit i. S. des Art. 12 GG sei zu fordern, dass nur solche Behandlungen unter die Erlaubnispflicht fielen, die gesundheitliche Schäden verursachen können, wobei ein nur geringfügiges Gefahrenmoment nicht ausreiche. Das bedeutet – so formuliert es der BGH an anderer Stelle der Entscheidung – die angewandte Therapieform müsse geeignet sein, die Gesundheit der Patienten nennenswert zu schädigen;6 dies habe dann auch entsprechend für den Straftatbestand des § 5 HeilprG zu gelten. Fraglich ist zunächst, ob diese vom BGH vorgenommene Einschränkung der Vorschrift überzeugt. So merken Duttge und Weber in der Besprechung der Entscheidung kritisch an, im Normtext von § 5 HeilprG i. V. m. § 1 HeilprG finde sich dafür keinerlei Anhaltspunkt. Es gehe bei § 5 HeilprG augenfällig um den Gedanken der generellen Gefährlichkeit, was dem gesetzestreuen Rechtsanwender die Möglichkeit zur eigenständigen Beurteilung der Gefahrenlage an sich nehme. Die rechtsschöpferische „Auslegung“ des BGH setze sich über die Einschätzung des Gesetzgebers hinweg.7 Um sachgerecht beurteilen zu können, ob diese Kritik berechtigt ist, bedarf es einer näheren Auseinandersetzung mit § 5 HeilprG. Das HeilprG will mit §§ 1, 5 HeilprG verhindern, dass Personen ohne Erlaubnis die Heilkunde ausüben. Kennzeichnend wiederum für die Heilkunde ist, zieht man die Definition des § 1 Abs. 2 HeilprG heran, neben ihrer berufs- und gewerbsmäßigen Ausübung vor allem die Feststellung, Heilung, Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden beim Menschen. Mit anderen Worten bezweckt also das HeilprG, dass Kranke nicht von ungeeigneten Personen behandelt werden, damit Patienten dadurch keine (weiteren) Gesundheitsschäden erleiden. Der Bevölkerung soll ein ausreichender Schutz gegenüber Gesundheitsschädigungen durch Unberufene gegeben werden,8 die Gesundheit der Bevölkerung wird geschützt.9 Nur wer fachlich 5 BVerwGE 35, 308 (310 f.); BVerwG, NVwZ-RR 2011, 23 (24); siehe auch BVerwGE 23, 140 (146 f.). 6 BGH, NJW 2011, 3591 (Ziffer 6, vgl. auch Ziffer 13). 7 Duttge/Weber, JZ 2012, 210 (212). 8 BGH, NJW 2011, 3591 (Ziffer 4); BVerwGE 23, 140 (143); 35, 308 (310 f.). 9 BVerfG, NJW 2004, 2890; NJW-RR 2004, 705; BVerfGE 78, 179 (194).
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und charakterlich geeignet ist, soll Heilkunde ausüben dürfen. Das führt zu dem Ergebnis, dass das geschützte Rechtsgut des § 5 HeilprG die körperliche Unversehrtheit (Gesundheit) des Menschen ist. Dabei pönalisiert nun § 5 HeilprG nach seinem Wortlaut bereits das bloße Ausüben der Heilkunde ohne die notwendige Erlaubnis, ohne dass es überhaupt der Prüfung bedarf, ob eventuell im Einzelfall Gefahren für die Gesundheit von Menschen gegeben sind. Selbst wenn keinerlei Gefahren drohen, etwa weil die angewandte Methode für die Gesundheit des Behandelten ganz ungefährlich ist oder dem Täter zwar formal die Erlaubnis fehlt, er jedoch materiell über die notwendigen Kenntnisse und die erforderliche Zuverlässigkeit verfügt, ist die Norm einschlägig. Der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, dass mit Personen, die ohne zuvor erfolgte behördliche Prüfung und Erlaubniserteilung tätig werden, typischerweise die Gefahr verbunden ist, dass von ihnen behandelte Patienten Schäden erleiden, ohne dass es überhaupt der Prüfung durch den Richter bedarf, ob das tatsächlich so ist; dies ist bloß gesetzgeberisches Motiv. Damit handelt es sich bei § 5 HeilprG um ein abstraktes Gefährdungsdelikt.10 Weder ist damit der Eintritt eines Schadens oder einer konkreten Gefahr noch das Erfordernis der Wahrscheinlichkeit einer konkreten Gefahr verbunden. Solche Voraussetzungen sind dieser Deliktsart nicht eigen.11 Richtigerweise ist zu unterscheiden zwischen der Gefährlichkeit der Handlung und der Gefahr, in der sich ein Gut befindet.12 Bei den abstrakten Gefährdungsdelikten geht es lediglich um das typischerweise gefährliche Verhalten, ohne dass ein Bezug zu einem bestimmten Rechtsgut i. S. einer Gefahrensituation herzustellen ist. Zwar bedeutet „Gefährdung“ etwas Transitives, d. h. verlangt ist ein Bezug zu einem bestimmten Rechtsgut.13 Diesen Rechtsgutsbezug muss aber das abstrakte Gefährdungsdelikt gar nicht aufweisen. Vielmehr spiegelt die Bezeichnung „abstraktes Gefährdungsdelikt“ nicht den wahren Gehalt dieser Deliktskategorie wider und ist unpräzise.14 Richtigerweise ist daher vorzugswürdiger von abstrakten Gefährlichkeitsdelikten zu sprechen.15 10 Dazu Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 24 ff. Eine Ausnahme bildet das abstrakte Gefährdungsdelikt nach § 326 StGB: Hier muss der Richter prüfen, ob der Abfall seiner Art, Beschaffenheit oder Menge nach typischerweise gefährlich ist; siehe dazu Zieschang, a.a.O. S. 222 ff. Entsprechendes gilt etwa für § 328 Abs. 1 Nr. 2 StGB. 11 Zieschang (Fn. 10), S. 24; vgl. auch Horn, Konkrete Gefährdungsdelikte, 1973, S. 28; Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 28; die Auffassung von Cramer, Der Vollrauschtatbestand als abstraktes Gefährdungsdelikt, 1962, S. 67 ff., der mit den abstrakten Gefährdungsdelikten die Wahrscheinlichkeit einer Rechtsgütergefährdung verbindet, ist daher unzutreffend und abzulehnen; im Einzelnen Zieschang a.a.O. S. 22 ff. 12 Berz, NZV 1989, 409 (410 f.); Brehm, Zur Dogmatik des abstrakten Gefährdungsdelikts, 1973, S. 13 ff.; Hirsch, FS Arth. Kaufmann, 1993, S. 545, 548 ff.; Horn (Fn. 11), S. 11 ff.; Kindhäuser, GA 1994, 197, 199 f.; Marxsen, Strafbarkeitseinschränkung bei abstrakten Gefährdungsdelikten, 1991, S. 136 f.; Ostendorf, JuS 1982, 426 (428); Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, 1961, S. 23; Zieschang (Fn. 10), S. 25. 13 Hirsch, FS Buchała, 1994, S. 151, 155; Zieschang (Fn. 10), S. 26. 14 Bohnert, JuS 1984, 182 (183); Hirsch, FS Arth. Kaufmann, S. 545, 550, 558; Puhm, Strafbarkeit gemäß § 315c StGB bei Gefährdung des Mitfahrers, 1990, S. 142.
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Das mit den abstrakten Gefährlichkeitsdelikten verbundene besondere Problem besteht nun darin, dass sie sogar dann einschlägig sind, wenn im konkreten Einzelfall keinerlei Rechtsgut beeinträchtigt werden kann. Selbst wenn keinerlei Gesundheitsgefahren von der Behandlung desjenigen, der keine Erlaubnis hat, ausgehen, ist der Tatbestand nach seinem Wortlaut verwirklicht. In diesem Fall der absoluten Ungefährlichkeit im Einzelfall Kriminalstrafe zu verhängen, ist jedoch mit dem Schuldprinzip als nicht vereinbar zu erachten.16 Ein Verhalten, das für das geschützte Rechtsgut einer Strafvorschrift überhaupt nicht gefährlich ist, darf ebenso wie jedes andere für das Rechtsgut ungefährliche Verhalten nicht die Verhängung einer Kriminalstrafe zur Konsequenz haben. Bei einer Bestrafung eines im Einzelfall für das geschützte Rechtsgut ungefährlichen Verhaltens geht es nur noch um die bloße Missachtung des Normbefehls, also um einen reinen Gehorsamsverstoß. Der Ungehorsam für sich genommen reicht aber nicht aus, um Kriminalstrafe zu verhängen.17 Dass der BGH in der hier untersuchten Entscheidung tatsächlich eine Einschränkung des abstrakten Gefährlichkeitsdelikts vornimmt, ist von daher im Ergebnis durchaus begrüßenswert, wenn auch Duttge/Weber18 darin zuzustimmen ist, dass der Wortlaut des § 5 HeilprG selbst für eine derartige Eingrenzung nichts hergibt. Der BGH begründet die von ihm vorgenommene einschränkende Interpretation nun aber gar nicht mit der Struktur des § 5 HeilprG als abstraktes Gefährlichkeitsdelikt und dem damit grundsätzlich vorhandenen Konflikt zum Schuldprinzip, sondern führt insofern, wie bereits das BVerwG, vor dem Hintergrund der Berufsfreiheit gemäß Art. 12 GG eine verfassungskonforme Einschränkung der Definition des § 1 Abs. 2 HeilprG durch und lässt das dann auch für § 5 HeilprG gelten. Dass der BGH mit keinem Wort auf den problematischen Aspekt der Ungefährlichkeit im Einzelfall und seinen Konflikt mit dem Schuldprinzip eingeht, ist dabei kritisch zu sehen, wurde dadurch doch abermals die Chance verpasst, weitere Klarheit bei den abstrakten Gefährlichkeitsdelikten zu schaffen und dieser Deliktskategorie deutliche Schranken zu setzen. Andererseits muss beachtet werden, dass es sich bei der hiesigen Entscheidung nicht um die erste handelt, die letztlich zum Gegenstand hat, abstrakte Gefährlichkeitsdelikte bei bestimmten Konstellationen der Ungefährlichkeit im Einzelfall 15 Hirsch, FS Arth. Kaufmann, S. 545, 550, 558; Zieschang (Fn. 10), S. 26 f., 53 f., 349 ff.; ders., Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2012, Rn. 32; ebenso Deutscher, Grundfragen der falschen Straftatverdächtigung (§ 164 Abs. 1 StGB), 1995, S. 42 ff., 46 ff.; Hettinger, JuS 1997, L 41 (L 42 f.); ders., NJW 1996, 2263 (2268); Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, Vor § 13 Rn 32. 16 Zwar gibt es zahlreiche Versuche im Schrifttum, Kriminalstrafe bei abstrakten Gefährlichkeitsdelikten selbst bei Ungefährlichkeit im Einzelfall zu legitimieren, jedoch vermögen sämtliche dieser Auffassungen nicht zu überzeugen; siehe dazu im Einzelnen Zieschang (Fn. 10), S. 349 ff., 369 ff. 17 Siehe dazu auch Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht, 1970, S. 314; Zieschang, Das Sanktionensystem in der Reform des französischen Strafrechts im Vergleich mit dem deutschen Strafrecht, 1992, S. 400 ff.; ders. (Fn. 10), S. 383. 18 JZ 2012, 210 (212).
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nicht zur Anwendung kommen zu lassen. So zieht der BGH bei dem Brandstiftungsdelikt nach § 306a StGB zumindest in Erwägung, den Tatbestand bei Ungefährlichkeit im Einzelfall nicht anzuwenden, sofern der Täter sich durch absolut zuverlässige lückenlose Maßnahmen vergewissert habe, dass eine Gefährdung mit Sicherheit nicht eintreten kann, wenn dies nach dem BGH auch nur bei kleinen, insbesondere einräumigen Hütten oder Häuschen, bei denen auf einen Blick übersehbar sei, dass sich Menschen dort nicht aufhalten können, überhaupt in Betracht kommen kann.19 Zwar musste der BGH bislang die Frage nicht endgültig entscheiden, da die jeweiligen Sachverhalte dazu keinen Anlass boten, dennoch zeigt sich aber eine Sensibilisierung des BGH für das Problem. Auch in anderen Bereichen werden Einschränkungen vollzogen. So hat etwa der BGH beim Tatbestand des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen gemäß § 86a StGB ausgeführt, der Gebrauch solcher Kennzeichen in einer Weise, die offenkundig und eindeutig die Gegnerschaft zu der Organisation und die Bekämpfung der Ideologie zum Ausdruck bringt, laufe dem Schutzzweck der Vorschrift ersichtlich nicht zuwider und werde daher vom Tatbestand nicht erfasst.20 Damit schränkt der BGH letztlich das abstrakte Gefährlichkeitsdelikt nach § 86a StGB bei Ungefährlichkeit im Einzelfall ein, wenn auch der BGH dies so nicht ausdrücklich erklärt. Immerhin zeigt sich aber, dass der BGH tatsächlich bereit ist, in bestimmten Fällen einen bloß formalen Verstoß, der für das geschützte Rechtsgut ungefährlich ist, zur Tatbestandsverwirklichung nicht ausreichen zu lassen. Andererseits sieht der BGH dies keineswegs so allgemein,21 zudem werden, wie gesehen, die etwaigen Einschränkungen teilweise anders verpackt, ohne dass ausdrücklich von der Einschränkung des abstrakten Gefährlichkeitsdelikts im Einzelfall gesprochen wird, wie eben auch nicht in der hier erörterten Entscheidung. Zentraler Punkt des Urteils ist nun, welche Anforderungen inhaltlicher Art mit der vom BGH befürworteten Einschränkung des § 5 HeilprG verbunden werden. Wie gesehen, meint der BGH, nur solche Behandlungen fielen unter die Erlaubnispflicht, die gesundheitliche Schäden verursachen können, wobei nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein nur geringfügiges Gefahrenmoment nicht ausreiche.22 Aufgrund dieses vom BGH aufgestellten Erfordernisses ist nun der 2. Strafsenat des BGH der Auffassung, bei dem Straftatbestand des § 5 HeilprG handele es sich um ein potentielles Gefährdungsdelikt. Der BGH führt dann aus: „Bei dieser Untergruppe der abstrakten Gefährdungsdelikte gehört nur eine generelle Gefährlichkeit der konkreten Tat, nicht aber der Eintritt einer konkreten Gefahr zum Tatbestand … Der Tatrichter hat dabei zu prüfen, ob die jeweilige Handlung bei genereller Betrachtung der konkreten Umstände gefahrgeeignet sei“. Ausreichend sei, dass die „von der 19 BGHSt. 26, 121 (124 f.); 34, 115 (119); BGH, NStZ 1982, 420 (421); NStZ 1985, 408 (409); NStZ 1999, 32 (33 f.); siehe dazu auch Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981, S. 280 ff., der die vom BGH vorgenommene Einschränkung des Tatbestands als halbherzig kritisiert. 20 BGHSt. 51, 244; 25, 30 (32 f.). 21 Vgl. etwa BGHSt. 43, 8 (12 f.). 22 BGH, NJW 2011, 3591 (Ziffer 4).
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Angeklagten angewandte Therapieform nach einer ex ante-Betrachtung in jedem einzelnen Fall geeignet war, die Gesundheit ihrer Patienten nennenswert zu schädigen.“23 Die Ausführungen des BGH sind hier wörtlich zitiert, um unmittelbar zum Ausdruck zu bringen, was der 2. Strafsenat unter einem potentiellen Gefährdungsdelikt versteht; die nachfolgenden Überlegungen nehmen diese Aussagen zum Ausgangspunkt und setzen voraus, dass man mit § 5 HeilprG das Erfordernis der Eignung der Behandlung verbindet, gesundheitliche Schäden hervorzurufen. Zunächst erscheint es nicht überzeugend, wenn der BGH die Bezeichnung „potentielles Gefährdungsdelikt“ wählt. So ist bereits erläutert worden, dass die Formulierung „Gefährdung“ einen Bezug zu einem bestimmten Gut bedeutet; bei § 5 HeilprG geht es aber gar nicht um einen solchen Bezug. Das erkennt auch der BGH; so führt der Senat aus, die „jeweilige Handlung“, die „angewandte Therapieform“ müssten gefahrgeeignet sein. Maßgeblich ist in § 5 HeilprG allein die Gefährlichkeit der Handlung, sodass bereits die Bezeichnung dieser Vorschrift als „potentielles Gefährdungsdelikt“ missglückt und missverständlich ist. Natürlich kann man die Gefährlichkeit einer Handlung auch nur rechtsgutsbezogen bestimmen, denn die Frage der Gefährlichkeit des Verhaltens kann nicht ohne Einbeziehung des Gesichtspunkts entschieden werden, im Hinblick auf welches Objekt dies zu erfolgen hat. Andererseits braucht kein einzelnes Rechtsgut in irgendeiner Form bereits konkret gefährdet oder in anderer Weise beeinträchtigt zu sein. Daher erscheint die Bezeichnung „potentielles Gefährdungsdelikt“ im Zusammenhang mit § 5 HeilprG verfehlt. Der BGH führt aus, das potentielle Gefährdungsdelikt sei eine „Untergruppe der abstrakten Gefährdungsdelikte“. Warum das so sein soll, wird nicht begründet, dies wird vielmehr schlichtweg behauptet. Diese Behauptung mutet um so befremdlicher an, als der BGH wenige Sätze später ausführt, es gehe darum, dass die angewandte Therapieform nach einer ex ante-Betrachtung „in jedem einzelnen Fall“ geeignet war, die Gesundheit der Patienten zu schädigen. Dass eine solche Prüfung mit dem abstrakten Gefährlichkeitsdelikt rein gar nichts zu tun hat, ergibt sich aus den vorangegangenen Erläuterungen; beim abstrakten Gefährlichkeitsdelikt ist nämlich gerade keine Einzelfallprüfung vorzunehmen, vielmehr geht es um ein typischerweise gefährliches Verhalten, wobei dies nur das gesetzgeberische Motiv ist. Daher geht die Einordnung als Unterfall des abstrakten Gefährdungsdelikts fehl. Möglicherweise ist aber die Sicht des BGH im Hinblick darauf zu erklären, dass ausgeführt wird, die jeweilige Handlung müsse „bei genereller Betrachtung der konkreten Tatumstände“ gefahrgeeignet sein, es gehe um „die generelle Gefährlichkeit der konkreten Tat“. Insofern ist jedoch zunächst wiederum anzumerken, dass keinerlei Begründung oder Argument geliefert wird, warum dies so sein soll und nicht vielleicht damit abweichende Voraussetzungen verbunden sind. Hinzu kommt, dass im Dunkeln bleibt, was unter diesem Erfordernis überhaupt zu verstehen ist. So wird schon gar nicht im Hinblick auf das Merkmal „generell“ mitgeteilt, von welchen Umständen der konkreten Tat abstrahiert werden soll, von welchen jedoch nicht. Die 23
BGH, NJW 2011, 3591 (Ziffer 5 und 6).
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Randbedingungen, die heranzuziehen oder zu vernachlässigen sind, bleiben ungeklärt. So wird nicht deutlich, ob die Person des Täters auszublenden ist oder möglicherweise die von der Therapie Betroffenen; auch bleibt ganz offen, ob und inwieweit von der konkreten Art der Behandlung zu abstrahieren ist. Von der notwendigen Bestimmtheit des Strafrechts bleibt dadurch nicht mehr viel übrig. Dass der BGH letztlich seine eigene Aussage gar nicht ernst nimmt, zeigt sich daran, dass er tatsächlich überhaupt nicht abstrahiert. Anders ist es nicht zu verstehen, wenn der BGH ausführt, in objektiver Hinsicht sei erforderlich und ausreichend, dass die von der Angeklagten angewandte Therapieform nach einer ex ante Betrachtung in jedem einzelnen Fall geeignet war, die Gesundheit ihrer Patienten nennenswert zu schädigen. Das ist nichts anderes als eine konkrete Prüfung unter Einbeziehung der Einzelfallumstände, sodass eine Generalisierung gar nicht stattfindet. Vielmehr stellt der BGH im Ausgangspunkt eine Behauptung auf, die dann in den nachfolgenden Erörterungen gar keine Rolle spielt. Möglicherweise ist aber die Generalisierung darin zu sehen, dass der BGH ausführt, ein „potentielles Risiko“ bei der Anwendung der Synergetik-Methode bestehe schon in der Gefahr des Nichterkennens einer die Behandlung kontraindizierenden psychischen Krankheit, unabhängig davon, ob es sich bei dem zu behandelnden Patienten um eine Person handelt, bei der ein solche Krankheit besteht.24 Da die Angeklagte, die keine ausführlichen Vorgespräche führte, über keine ausreichende Qualifikation verfügte, sei in sämtlichen Behandlungsfällen die „erforderliche unmittelbare Gesundheitsgefährdung“ gegeben, ohne dass es auf das Vorliegen einschlägiger Krankheiten im Einzelfall noch ankäme.25 Hierbei ist anzumerken, dass es verfehlt ist, eine „unmittelbare Gesundheitsgefährdung“ zum Erfordernis des Tatbestands zu erheben. Wenn es in § 5 HeilprG alleine um die Gefährlichkeit der Handlung geht, braucht eben gerade kein Rechtsgut in irgendeiner Form in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Richtigerweise sagt der BGH, bei § 5 HeilprG gehöre der Eintritt einer konkreten Gefahr nicht zum Tatbestand. Dazu aber im Widerspruch steht es, wenn nunmehr an anderer Stelle der Urteilsgründe eine unmittelbare Gesundheitsgefährdung als Erfordernis aufgestellt wird. Insgesamt geht der BGH in der hier untersuchten Entscheidung sehr unsauber mit den verwendeten Begriffen um, denn u. a. spricht er auch, ohne dies in einen Gesamtzusammenhang einzuordnen, von der „hinlänglichen Wahrscheinlichkeit unmittelbarer Gesundheitsgefahren“26 und von einem „nennenswerten potentiellen Risiko“.27 Es geht bei der Vorschrift des § 5 HeilprG, wenn man mit ihr wie der BGH die Voraussetzung verbindet, die Handlung müsse geeignet sein, die Gesundheit der Pa24
In dieser Richtung Duttge/Weber, JZ 2012, 210 (211). BGH, NJW 2011, 3591 (3592 Ziffer 12). 26 BGH, NJW 2011, 3591 (3592 Ziffer 7, vgl. auch Ziffer 10). 27 BGH, NJW 2011, 3591 (3592 Ziffer 12).
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tienten nennenswert zu schädigen, allein um das Erfordernis eines konkret gefährlichen Verhaltens, ein Erfolgssachverhalt wie bei der konkreten Gefahr liegt nicht vor. Vielmehr ist, da ein Verhalten in Rede steht und der einzelne im Zeitpunkt der Handlung wissen muss, was verboten ist, aus der Sicht ex ante – darin ist dem BGH zuzustimmen – danach zu fragen, ob unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls Rechtsgutsobjekte möglicherweise beeinträchtigt werden. Das ist aber nun bei § 5 HeilprG auch dann zu bejahen, wenn der Täter eine Behandlung durchführt, ohne die Krankheitsvorgeschichte der Patienten vorher in einem Gespräch zu klären und ohne erforderliche Qualifikationen zu besitzen; dann ist gerade unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nicht auszuschließen, dass geschützte Rechtsgutobjekte beeinträchtigt werden, selbst wenn sich ex post herausstellt, dass tatsächlich der Behandelte kein Risikopatient war. Es findet also auch insofern keine generelle Betrachtung statt, sondern gerade eine konkrete. Das Abstellen auf die „generelle Gefährlichkeit der konkreten Tat“ oder die „generelle Betrachtung der konkreten Tatumstände“ entpuppt sich damit als bloße Worthülse. Richtigerweise ist damit § 5 HeilprG, wenn man wie der BGH mit dieser Vorschrift das Erfordernis verbindet, die Behandlung müsse geeignet sein, gesundheitliche Schädigungen hervorzurufen, als konkretes Gefährlichkeitsdelikt aufzufassen;28 hierbei handelt es sich um eine eigenständige Gefährdungsdeliktsstruktur zwischen abstrakten Gefährlichkeitsdelikten einerseits und konkreten Gefährdungsdelikten andererseits, bei der allein ein konkret gefährliches Verhalten in Rede steht. Maßgeblich ist danach, ob aus der Sicht ex ante eines Dritten in der Situation des Täters das Verhalten – hier die Therapieform – zu Gesundheitsschäden bei Patienten führen kann. Da dies bei der Synergetik-Methode der Fall ist,29 war der objektive Tatbestand des § 5 HeilprG zu bejahen. Die hier untersuchte Entscheidung des BGH ist nicht die erste, die sich mit der Gefährdungsdeliktsstruktur bestimmter Vorschriften beschäftigen muss, bei denen die herkömmliche Unterteilung in abstrakte und konkrete Gefährdungsdelikte nicht recht passt. Der BGH hat sich bereits zuvor mit vergleichbaren Fragen bei § 311 StGB, § 34 AWG sowie § 130 StGB beschäftigt. Auch diese Entscheidungen sollen näher beleuchtet sein.
28 Siehe zu dieser Deliktsstruktur im Einzelnen Hirsch, FS Arth. Kaufmann, S. 545 ff.; Zieschang (Fn. 10), S. 53 ff. Richtigerweise ist auch der in der Entscheidung des BGH erwähnte § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB konkretes Gefährlichkeitsdelikt; dazu Zieschang, a.a.O., S. 290 ff. 29 Siehe dazu auch BVerwG, NVwZ-RR 2011, 23.
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III. Die Urteile des BGH vom 26. 10. 1993 und 28. 4. 1994 zu § 311 StGB Der BGH hat schon vor zwanzig Jahren in seinem Urteil vom 26. 10. 1993 den Begriff „potentielles Gefährdungsdelikt“ zur Kennzeichnung einer Strafvorschrift benutzt.30 Damals ging es um § 311d Abs. 1 a.F. StGB, der weitgehend dem heutigen § 311 StGB entspricht. Der 1. Strafsenat des BGH führt aus, § 311 StGB sei ein abstrakt-konkretes Gefährdungsdelikt – ein „potentielles Gefährdungsdelikt“ –, sodass die freigesetzten Strahlen zu keiner konkreten Gefährdung geführt haben müssen; auseichend sei, dass es nach den Umständen des Falls, insbesondere Herkunft, Intensität und Dauer der Strahlung, bei genereller Betrachtung nicht fern liege, bei (irgend-)einer Person könne ein nicht ganz unerheblicher pathologischer Zustand verursacht werden.31 In seiner Entscheidung vom 28. 4. 1994 führt der 4. Strafsenat des BGH zu § 311 StGB ergänzend aus, der Gesetzgeber habe kein reines abstraktes Gefährdungsdelikt geschaffen, bei dem der Gegenbeweis der individuellen Ungefährlichkeit im Einzelfall nicht eröffnet ist. Vielmehr sollten nach dem Willen des Gesetzgebers spezielle Tatumstände, wenn auch nur generalisierend, berücksichtigt werden. Dies ermögliche es, die an sich vorliegende allgemeine Gefährlichkeit im Einzelfall zu verneinen.32 Diese Ausführungen wörtlich genommen lassen jedoch die Subsumtion eines Sachverhalts unter § 311 StGB unmöglich erscheinen. Einerseits werden die Umstände des jeweiligen Falls berücksichtigt, andererseits soll dann eine generelle Betrachtung dieser Einzelfallumstände stattfinden. Wie das durchgeführt werden soll und was darunter zu verstehen ist, bleibt im Dunkeln. Nirgends wird erläutert, was die generalisierende Berücksichtigung spezieller Umstände theoretisch und praktisch bedeuten soll.33 Der 4. Strafsenat des BGH argumentiert widersprüchlich, wenn er einerseits meint, die an sich vorliegende allgemeine Gefährlichkeit im Einzelfall verneinen zu können, andererseits aber spezielle Tatumstände nur generalisierend berücksichtigen will, denn dann ist doch der Ausschluss der Gefährlichkeit im Einzelfall gar nicht möglich. Es werden Worthülsen aneinander gereiht, ohne dass man sich wirklich im Einzelnen mit den Anforderungen des § 311 StGB beschäftigt. Letztlich hat der BGH in seinen Entscheidungen zu § 311 StGB einfach nur die Gesetzesmaterialien herangezogen, in denen – jedoch zu § 325 StGB – davon die Rede ist, dass individuelle Tatumstände, „freilich nur generalisierend“, berücksichtigt werden können.34 Der BGH hat diese Formulierung jedoch keiner kritischen Prüfung unterzogen. Der Deliktsstruktur des § 311 StGB wird er damit nicht gerecht, der BGH schafft mehr Verwirrung und Missverständnisse als Klarheit. 30
BGHSt. 39, 371 (372). BGHSt. 39, 371 (372). 32 BGH, NJW 1994, 2161. 33 Siehe insofern bereits die Kritik bei Zieschang (Fn. 10), S. 194 ff. 34 BT-Drucks. 8/2382, S. 16. 31
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Betrachtet man § 311 StGB näher, dann ist zunächst feststellen, dass der Wortlaut gar keine Abstraktion von den Umständen des Einzelfalls verlangt. Vielmehr eröffnet die Norm vom Wortlaut her eine konkrete Betrachtung, sodass eine Einordnung als abstraktes Gefährlichkeitsdelikt fehl geht. Andererseits findet sich bei § 311 StGB auch nicht eine mit klassischen konkreten Gefährdungsdelikten wie etwa §§ 315b, 315c StGB vergleichbare Formulierung („und dadurch Leib oder Leben … gefährdet“), was gegen die Einstufung in diese Deliktskategorie spricht. Zur Annäherung an die Deliktsstruktur des § 311 StGB hilft es nun weiter, die dort genannten Merkmale „Freisetzen ionisierender Strahlen“ und „Bewirken von Kernspaltungsvorgängen“ näher zu betrachten. Unter „Freisetzen“ ist das Schaffen einer Lage zu verstehen, in der sich Schadstoffe ganz oder teilweise unkontrollierbar in der Umwelt ausbreiten können.35 „Bewirken“ bedeutet, dass entsprechende Kernspaltungsvorgänge verursacht werden.36 Mit anderen Worten muss der Täter einen konkret gefährlichen Zustand herbeiführen (verursachen), der im ungestörten weiteren Verlauf zur Schädigung der in § 311 StGB genannten Rechtsgüter führen kann. Der Täter muss also einen spezifischen Erfolg verursachen, bei dem es sich noch nicht um eine konkrete Gefahr handelt, sondern um einen dazu vorgelagerten konkret gefährlichen Zustand. Insoweit ist es dann auch sinnvoll, von einem potentiellen Gefährdungsdelikt zu sprechen.37 Es handelt sich um eine Gefährdungsdeliktsstruktur, die neben dem konkreten Gefährdungsdelikt sowie neben dem abstrakten Gefährlichkeitsdelikt und dem bereits beschriebenen38 konkreten Gefährlichkeitsdelikt steht. Der Täter verursacht einen spezifischen Erfolg, zu dessen Beurteilung die Einzelfallumstände heranzuziehen sind und bei dem eben nicht generalisiert werden darf.39
IV. Das Urteil des BGH vom 25. 3. 1999 und die Beschlüsse des BGH vom 13. 1. 2009 und 19. 1. 2010 zu § 34 AWG40 Eine weitere Gelegenheit, sich mit spezifischen Gefährdungsdeliktsstrukturen auseinander zu setzen, bot sich dem BGH, als er sich mit § 34 Abs. 2 Nr. 3 AWG beschäftigen musste, der wie § 311 StGB ausdrücklich das Merkmal der Geeignetheit enthält. Der 1. Strafsenat hatte sich im seinem Urteil vom 25. 3. 1999 mit einem Fall zu befassen, in dem der Angeklagte unrichtige Angaben gegenüber dem Bundesaus35 Lackner/Kühl (Fn. 15), § 311 Rn 3; BT-Drucks. 12/192, S. 17; siehe auch Fischer, StGB, 60. Aufl. 2013, § 324a Rn. 4, 330a Rn. 3, § 311 Rn. 2; BGHSt. 43, 346 (348 ff.). 36 Lackner/Kühl (Fn. 15), § 311 Rn. 4; LK-Möhrenschlager, StGB, 12. Aufl. 2008, § 311 Rn. 11. 37 Siehe dazu umfassend Zieschang (Fn. 10), S. 64 ff. 38 Siehe oben bei Fn. 28. 39 Siehe ergänzend bereits Zieschang (Fn. 10), S. 229 f. Fn. 93. 40 Derzeit befindet sich eine umfassende Reform des AWG im Gesetzgebungsverfahren, das bis Manuskriptabgabe noch nicht abgeschlossen war.
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fuhramt gemacht hatte. So beantragte er die Ausfuhr von Panzerersatzteilen in den Jemen, in Wirklichkeit sollten sie in den Iran geliefert werden.41 Der BGH führt aus, dass es sich bei § 34 Abs. 2 AWG wie bei § 311 StGB um ein abstrakt-konkretes Gefährdungsdelikt handele, was sich aus dem Wortlaut der Vorschrift ergebe. Die Bestimmung lasse die abstrakt gefährliche Handlung nicht genügen, sondern verlange ergänzend, dass diese zur Gefährdung der in § 34 Abs. 2 AWG genannten Schutzgüter geeignet sein müsse. Vom Tatrichter werde die Prüfung verlangt, ob die jeweilige Handlung i. S. des § 34 Abs. 2 AWG bei genereller Betrachtung gefahrgeeignet sei.42 Das abstrakt-konkrete Gefährdungsdelikt sei eine Untergruppe der abstrakten Gefährdungsdelikte. Der Tatrichter habe zu prüfen, ob die Handlung im Einzelfall tatsächlich zu einer Gefährdung geeignet ist, er habe zu untersuchen, ob der Handlung nach generalisierendem Maßstab typischerweise Gefährdungsgeeignetheit zukommt.43 In seinem Beschluss vom 13. 1. 2009 legt der 3. Strafsenat dar, bei § 34 Abs. 2 AWG genüge, dass die Handlungen des Täters bei genereller Betrachtung ihrer Art nach typischerweise geeignet sind, eine Gefährdung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit herbeizuführen.44 Insoweit spricht er von abstrakter Gefährdung.45 Andererseits soll die Geeignetheit, so der BGH an anderer Stelle des Beschlusses, aufgrund einer Gesamtschau der konkreten Einzelfallumstände zu entscheiden sein.46 Schließlich kommt er zu dem Ergebnis, dass die Handlungen des Angeschuldigten „bei genereller Betrachtung ihrer Art nach typischerweise mit hinreichender Wahrscheinlichkeit geeignet“ waren.47 In seinem Beschluss vom 19. 1. 2010 legt dann der 3. Strafsenat wiederum dar, die Gefährdungseignung sei durch eine Gesamtwürdigung aller Umstände des konkreten Einzelfalls zu beurteilen.48 Auch gegenüber diesen Erwägungen sind die Kritikpunkte zu erheben, die bereits im Zusammenhang mit den schon erwähnten Urteilen des BGH angeführt worden sind. Der BGH wiederholt die bereits bekannten Klauseln, ohne zu präzisieren, wie es überhaupt vereinbar ist, dass der Tatrichter einerseits prüfen soll, ob die Handlung „im Einzelfall tatsächlich zu einer Gefährdung geeignet ist“, andererseits – so die daran unmittelbar anschließende Aussage des BGH – zu untersuchen hat, ob der Handlung „nach generalisierendem Maßstab typischerweise Gefährdungsgeeignetheit zukommt“. Die Widersprüchlichkeit dieser Aussagen liegt auf der Hand; wiederum werden schlagwortartig Sätze aneinander gereiht, ohne sich über deren eigentlichen Aussagegehalt und ihr Verhältnis zueinander auseinander zu setzen. Der BGH präzisiert nicht, was überhaupt darunter zu verstehen ist, dass eine Handlung „bei 41
BGH, NJW 1999, 2129. BGH, NJW 1999, 2129. 43 BGH, NJW 1999, 2129. 44 BGHSt. 53, 128 (133). 45 BGHSt. 53, 128 (133). 46 BGHSt. 53, 128 (135). 47 BGHSt. 53, 128 (137). 48 BGHSt. 54, 275 (296). 42
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genereller Betrachtung ihrer Art nach typischerweise“ geeignet ist. Es geht um Leerformeln, denn tatsächlich wird – mit dieser Aussage unvereinbar – eine konkrete Betrachtung der Einzelfallumstände vorgenommen. Ebenso wenig überzeugt es, wenn der 3. Strafsenat den Begriff „abstrakte Gefährdung“ benutzt,49 denn ein Bezug zu einem bestimmten Rechtsgut i. S. einer Gefahrensituation ist bei abstrakten Gefährlichkeitsdelikten gar nicht herzustellen; eine abstrakte Gefahr gibt es nicht. Richtigerweise kann die Antwort, welche Struktur mit § 34 Abs. 2 AWG verbunden ist, nur bei einer vertieften Untersuchung der Vorschrift mit ihren jeweiligen Voraussetzungen ermittelt werden. Nicht jedes Delikt, dass eine Eignungsklausel enthält oder mit dem eine solche verbunden wird, ist automatisch in der Gefährdungsdeliktsstruktur identisch.50 Es handelt sich bei den Eignungsdelikten nicht um eine homogene Gruppe. In dem Urteil vom 25. 3. 1999 stand nun § 34 Abs. 2 Nr. 3 AWG in der Variante in Rede, dass der Angeklagte unrichtige Angaben gemacht hatte.51 Insofern geht es also allein um eine Handlung, nämlich die Mittelung falscher Tatsachen. Dieses Verhalten selbst muss ausweislich der Wortlauts des § 34 AWG die Gefährdungseignung aufweisen, ohne dass der Tatbestand eine Abstraktion von den Umständen des Einzelfalls verlangt. Mit anderen Worten steht ein konkret gefährliches Verhalten in Rede, so dass § 34 Abs. 2 AWG in der vorliegenden Konstellation richtigerweise als konkretes Gefährlichkeitsdelikt einzustufen ist. Ein generalisierender Maßstab, wie ihn der 1. Strafsenat des BGH und auch der 3. Strafsenat schlagwortartig betonen, ist folglich verfehlt.
V. Das Urteil des BGH vom 12. 12. 2000 zu § 130 StGB Schließlich hat der BGH sich mit der Deliktsstruktur des § 130 Abs. 1 und des § 130 Abs. 3 StGB beschäftigt. Wiederum der 1. Strafsenat führt aus, mit der dort vorgesehenen Eignungsformel werde die Volksverhetzung zu einem abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikt.52 Teilweise spreche man auch von einem potentiellen Gefährdungsdelikt, jedoch sei die Deliktsbezeichnung von untergeordneter Bedeutung, es handele sich jedenfalls um eine Untergruppe der abstrakten Gefährdungsdelikte. Der Eintritt einer konkreten Gefahr sei nicht erforderlich, vom Tatrichter werde aber die Prüfung verlangt, ob die jeweilige Handlung bei genereller Betrachtung gefahrgeeignet sei. Notwendig sei allerdings eine konkrete Eignung zur Friedensstörung; sie dürfe nicht nur abstrakt bestehen und müsse, wenn auch aufgrund generalisieren49
BGHSt. 53, 128 (133). Siehe dazu die Untersuchung zahlreicher Vorschriften mit Eignungsklausel bei Zieschang (Fn. 10), S. 206 ff. 51 Siehe dazu Röhrig, in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl. 2012, 4. Teil, 3. Kap. Rn. 32. 52 BGHSt. 46, 212 (218). 50
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der Betrachtung, konkret festgestellt sein.53 Deshalb bleibe der Gegenbeweis der nicht gegebenen Eignung zur Friedensstörung im Einzelfall möglich. Für die Eignung zur Friedensstörung genüge es danach, dass konkrete Gründe für die Befürchtung vorliegen, der Angriff werde das Vertrauen in die öffentliche Rechtssicherheit erschüttern. Auch in diesem Urteil wiederholen sich die gravierenden Mängel, welche bereits mit den zuvor erwähnten Entscheidungen des BGH verbunden sind. So ist schon entgegen der Auffassung des BGH die Bezeichnung des Delikts nicht ganz unbedeutend. Es ist ausgeführt worden, dass es bei der Gefährdung um etwas Transitives geht, also der Bezug zu einem bestimmten Rechtsgut in Rede steht.54 Sollte es nun aber bei § 130 StGB möglicherweise allein auf das Verhalten ankommen – zu dieser Frage sogleich –, dann wäre die Heranziehung des Begriffs Gefährdungsdelikt eher missverständlich, vielmehr wäre auf die Gefährlichkeit des Verhaltens abzustellen. Weiterhin wird wiederum die Aussage, es gehe um eine Untergruppe der abstrakten Gefährdungsdelikte, nicht mit etwaigen Argumenten untermauert und begründet, sondern es bleibt insoweit bei einer bloßen Behauptung. Dass der Eintritt einer konkreten Gefahr nicht erforderlich ist, macht das in Rede stehende Delikt noch längst nicht zu einem abstrakten Gefährdungsdelikt (= abstraktes Gefährlichkeitsdelikt), denn wie aufgezeigt gibt es neben dem konkreten Gefährdungsdelikt und dem abstrakten Gefährlichkeitsdelikt noch weitere Gefährdungsdeliktsstrukturen, nämlich die hier so bezeichneten konkreten Gefährlichkeitsdelikte, bei denen es allein um ein konkret gefährliches Verhalten geht, sowie die hier so genannten potentiellen Gefährdungsdelikte, bei denen aus einem konkret gefährlichen Verhalten ein konkret gefährlicher Zustand resultieren muss, welcher der konkreten Gefahr vorgelagert ist. Ganz unzureichend werden die Darlegungen des 1. Strafsenats, wenn er meint, von dem Tatrichter werde die Prüfung verlangt, ob die jeweilige Handlung bei genereller Betrachtung gefahrgeeignet sei. Notwendig sei allerdings eine konkrete Eignung zur Friedensstörung; sie dürfe nicht nur abstrakt bestehen und müsse, wenn auch aufgrund generalisierender Betrachtung, konkret festgestellt sein.55 Was das heißen soll und wie nun der Tatrichter vorgehen soll, bleibt unklar: Soll generalisiert werden? Wenn ja, wovon soll abstrahiert werden? Wie ist eine „konkrete Feststellung“ aufgrund „generalisierender Betrachtung“ möglich, wobei die Eignung konkret bestehen muss? Dass derartige Worthülsen verwirren und Unklarheiten produzieren, liegt auf der Hand. Ebenso obskur bleibt, wie der Gegenbeweis der nicht gegebenen Eignung zur Friedensstörung im Einzelfall möglich sein soll, wenn doch wiederum eine wie auch immer geartete generalisierende Betrachtung zu erfolgen hat. Derartige Aussagen zu den Gefährdungsdeliktsstrukturen müssen den Tatrichter letztlich kapitulieren lassen, da er daraus jedenfalls keinerlei Früchte ziehen kann.
53
BGHSt. 46, 212 (218). Siehe oben bei Fn. 13. 55 BGHSt. 46, 212 (218).
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Der BGH hat damit auch in seinem Urteil zu § 130 StGB die Chance vertan, eine präzise Einordnung der Deliktsstruktur vorzunehmen. Dass wäre jedoch notwendig gewesen, gehen doch die Auffassungen im Schrifttum darüber, welche Deliktsnatur § 130 StGB aufweist, weit auseinander.56 Teilweise fasst man die Vorschrift als konkretes Gefährdungsdelikt auf.57 Dazu im Gegensatz steht die Auffassung, welche von einem abstrakten Gefährdungsdelikt ausgeht58 oder den Begriff „potentielles Gefährdungsdelikt“ i. S. einer Spielart des abstrakten Gefährdungsdelikts benutzt.59 Es findet sich aber auch die Einordnung als konkretes Gefährlichkeitsdelikt60, oder man lässt die Einstufung als zwischen abstrakten und konkreten Gefährdungsdelikten liegend offen.61 Die Ermittlung der Gefährdungsdeliktsstruktur kann auch bei § 130 StGB nur dadurch erfolgen, dass man sich im Einzelnen mit der Ausgestaltung der Norm auseinandersetzt, nicht jedoch, indem man Schlagworte aneinander reiht. Hierbei ergibt sich aus dem Wortlaut der Norm, dass die Eignung, den öffentlichen Frieden zu stören, lediglich die Handlungsmodalität spezifiziert, wenn dort davon die Rede ist, dass das Aufstacheln, Auffordern usw. „in einer Weise“ erfolgen muss, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. Damit scheidet aber eine Einstufung als konkretes Gefährdungsdelikt, welches eine konkrete Gefahr für ein Rechtsgut verlangt, oder als potentielles Gefährdungsdelikt in dem hier verstandenen Sinn, wonach aus der Handlung ein konkret gefährlicher Zustand resultiert, aus, denn diese beiden Deliktsarten sind Erfolgsdelikte. Es geht vielmehr bei § 130 StGB um eine Modalität des Angriffs, nicht um einen Erfolg.62 Der Umstand, dass es sich bei § 130 StGB nicht um ein konkretes Gefährdungsdelikt handelt, führt nun aber nicht dazu, wie anscheinend der BGH meint,63 dass es sich damit zwingend um ein abstraktes Gefährlichkeitsdelikt handelt, denn es ist bereits dargelegt worden, dass es noch andere Gefährdungsstrukturen gibt, insbesondere auch das konkrete Gefährlichkeitsdelikt, bei dem vom Standpunkt ex ante unter Berücksichtigung der Einzelfallumstände die konkrete Gefährlichkeit der Handlung zu ermitteln ist. Stellt man nun wiederum auf den Wortlaut des § 130 StGB ab, dann gebietet der nun aber nicht eine Abstraktion von den Um56 Siehe dazu und zum Folgenden bereits Zieschang (Fn. 10) S. 275 ff.; vgl. zudem Wehinger, Kollektivbeleidigung – Volksverhetzung, 1994, S. 100 ff.; Wolter (Fn. 19), S. 184 ff. 57 So etwa Gallas, FS Heinitz, 1972, S. 171, 182; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 163. 58 So u. a. Fischer, GA 1989, 444 (453, 463, 466). 59 LK-Krauß, StGB, 12. Aufl. 2009, § 130 Rn. 15; Lackner/Kühl (Fn. 15), § 130 Rn. 1, Vor § 13 Rn. 32. 60 Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, 1991, S. 117 Fn. 471; Hirsch, FS Arth. Kaufmann, S. 545, 562; auch die Einordnung durch Wolter (Fn. 19), S. 184 ff., läuft darauf hinaus. 61 Siehe Giehring, StV 1985, 30 (35); vgl. auch Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 45. 62 Siehe Lömker, Die gefährliche Abwertung von Bevölkerungsteilen (§ 130 StGB), 1970, S. 192. 63 So im Übrigen auch Fischer, GA 1989, 444 (453); Lömker (Fn. 61), S. 196 ff.
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ständen des Einzelfalls, indem lediglich darauf abgestellt werden dürfte, ob die Äußerung typischerweise die Eignung aufweist. Gerade die Formulierung „in einer Weise“ spricht dafür, die jeweiligen Einzelfallumstände für maßgeblich zu erachten. Für eine solche Interpretation spricht zudem, dass das Merkmal der Eignung der Einschränkung des Tatbestands dienen sollte.64 Es handelt sich damit bei § 130 Abs. 1, Abs. 3 StGB um konkrete Gefährlichkeitsdelikte, bei denen eine „generalisierende Betrachtung“ fehl am Platz ist. Ein objektiver Beobachter in der Situation des Täters muss im Zeitpunkt der Tathandlung – also ex ante – unter Berücksichtigung der konkreten Umstände zu dem Ergebnis gelangen, dass durch die Tathandlung eine Störung des öffentlichen Friedens möglich ist.65
VI. Fazit Obwohl der BGH in den letzten Jahren mehrfach die Gelegenheit hatte, für Klarheit bei den von ihm so bezeichneten „potentiellen“ oder „abstrakt-konkreten“ Gefährdungsdelikten zu sorgen, hat er diese Chance vertan. Er behandelt diese Delikte durchweg als Untergruppe der abstrakten Gefährdungsdelikte, obwohl eine nähere Untersuchung der in Rede stehenden Strafbestimmungen offenbart, dass diese Einstufung für die behandelten Vorschriften fehl geht. Dabei kann es den BGH auch nicht entscheidend entlasten, dass im Schrifttum ebenfalls vornehmlich davon ausgegangen wird, es handele sich um abstrakte Gefährdungsdelikte.66 Denn der BGH zieht in seinen Entscheidungen bloße Worthülsen heran, wobei er bei näherer Reflexion über die eigenen Aussagen schnell hätte erkennen können, dass die eigenen Formulierungen in sich widersprüchlich und zudem untauglich sind, den Tatgerichten die jeweiligen Voraussetzungen der in Rede stehenden Normen klar aufzuzeigen. Der BGH wiederholt beharrlich seine Aussagen, ohne sich jedoch wirklich mit der Struktur der jeweiligen Strafbestimmung auseinander zu setzen. Die Annäherung an die maßgebliche Gefährdungsdeliktsstruktur ist misslungen. Es ist zu hoffen, dass der BGH in Zukunft seine diesbezügliche Rechtsprechung grundlegend überdenkt.
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Wolter (Fn. 19), S. 186 f. Zieschang (Fn. 10), S. 281. 66 Siehe etwa Berz, Formelle Tatbestandsverwirklichung und materialer Rechtsgüterschutz, 1986, S. 59 f.; Bohnert, JuS 1982, 182 (183 Fn. 16); Gallas, FS Heinitz, S. 171, 174 f.; Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge, 1991, S. 127; Horn (Fn. 11), S. 29 f.; Kindhäuser (Fn. 11), S. 293 f.; Kuhlen, Fragen einer strafrechtlichen Produkthaftung, 1989, S. 155 ff.; Lackner/Kühl (Fn. 15), Vor § 13 Rn. 32; Ostendorf, JuS 1982, 426 (433). 65
III. Besonderer Teil des Strafrechts
Rettet die Höflichkeit! Plädoyer für eine Restriktion der Tatbestände der Vorteilsannahme und -gewährung* Von Walter Gropp In einem Aufsatz von 1986 über die „Verfassungskonforme Restriktion und Reform des Nötigungstatbestandes“1 hat Jürgen Wolter ausführlich zur Problematik der Strafbarkeit bzw. Straffreiheit von Sitzblockaden vor Atomwaffenlagern Stellung bezogen. Mit der Situation in § 240 StGB ist die Problematik bei den §§ 331, 333 StGB insofern vergleichbar, als auch hier die seit dem Gesetz zur Bekämpfung der Korruption von 19972 außerordentlich weite Formulierung des gesetzlichen Tatbestandes Unsicherheiten bezüglich der Straffreiheit nicht als strafwürdig erachteter Verhaltensweisen zur Folge hat. Während aber zu § 240 StGB eine leidenschaftliche Debatte geführt wurde, ist es um die §§ 331, 333 StGB (noch) eher still – haben doch viele Betroffene vermutlich noch gar nicht bemerkt, wie dünn das Eis ist, auf dem sie sich bewegen. In der Diskussion um die Strafbarkeit von Sitzblockaden spielte das Verbrechenselement der „Verwerflichkeit“ in § 240 Abs. 2 StGB die tragende Rolle.3 Hinsichtlich der Vorteilsannahme und -gewährung steht die Sozialadäquanz des Verhaltens im Zentrum, wobei dieses Kriterium – im Unterschied zur Verwerflichkeit – nicht einmal einen limitierenden Niederschlag in der gesetzlichen Formulierung gefunden hat. Diese Restriktion „über den Wolken“ macht die Sache unter dem Blickwinkel des Grundsatzes „nullum crimen sine lege“ nicht einfacher. Dennoch oder gerade deshalb soll hier der Versuch unternommen werden, ein paar „Ariadnefäden“ in das Labyrinth der §§ 331, 333 StGB einzuziehen, in der Hoffnung, dem verehrten Jubilar eine Freude zu machen und potentiell betroffenen Kolleginnen und Kollegen eine Sorge zu nehmen. *
Frau cand. iur. Gina Kredel danke ich für ihre tatkräftige Mithilfe bei der Stoffsammlung, den Referendaren Dr. Tobias Friedhoff und Tobias Kaltz für anregende Gespräche und wertvolle Unterstützung bei der Endredaktion. 1 Wolter, NStZ 1986, 241. 2 Gesetz zur Bekämpfung der Korruption v. 13. 8. 1997, BGBl I S. 2038. 3 Vgl. Wolter, NStZ 1986, 241 ff.; Eser/Eisele, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 28. Aufl. 2010, § 240 Rn. 26 ff.; Kühl, in: Lackner/Kühl (L-Kühl), Strafgesetzbuch, 27. Aufl. 2011, § 240 Rn. 22; Sinn, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl. 2012, § 240 Rn. 115 ff., 139 ff.
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Bei dem Stichwort „Vorteilsannahme“ wandern die Gedanken unwillkürlich zum Bobby-Car für einen glücklosen Bundespräsidenten,4 oder zu jenem baden-württembergischen Energieversorgungsunternehmen, das prominenten Politikern der von ihm mit Strom versorgten Region Eintrittskarten zur Fußball-WM schenkte.5 Aus der Sicht des Hochschullehrers scheinen jene Fälle meilenweit entfernt. Aber wie steht es mit der Annahme einer spontanen Einladung zu einer Konzertveranstaltung im Rahmen eines Auslandsaufenthaltes? Hätte man den Präsidenten der Universität vorher vorsichtshalber um eine Genehmigung für alle Einladungen zu kulturellen Veranstaltungen am Gastgeberort ersuchen sollen? Oder hätte man ihn nachträglich um die Genehmigung des Konzertbesuches bitten müssen? Indem dies unterblieben ist: hat man sich strafbar gemacht? Und hätte man nicht auch den teuren Blumenstrauß für die eigene Ehefrau, den sie bei der jüngsten Einladung des Kollegen Y mit Ehefrau zum Dinner überreicht bekam, zurückweisen müssen? War es überhaupt rechtmäßig, an jenem Abend Champagner zur Begrüßung zu reichen? Hätte es nicht auch „Schloss Auerbach“ vom Discounter getan? Schließlich: Durfte man dem Kollegen X mit Frau, der einem beim letzten Besuch der Partneruniversität spontan sein komfortables Gästezimmer kostenlos (!) angeboten hat, beim Gegenbesuch denselben „Vorteil gewähren“? Und hätte man nicht auch sein Gastgeschenk, die teure Neuauflage seines Lehrbuchs, entsprechend dem „Merkblatt für Beschäftigte über die Annahme von Belohnungen und Geschenken“6 zurückweisen müssen?
4 Internetadresse: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2012 – 01/wulff-bobby-autohaus; zuletzt aufgerufen am 27. 11. 2012. 5 BGH v. 14. Okt. 2008, 1 StR 260/08, BGHSt 53, 6 = NStZ 2008, 688. 6 Vgl. das „Merkblatt für Beschäftigte über die Annahme von Belohnungen und Geschenken“ der TU Darmstadt: http://www.intern.tu-darmstadt.de/media/dez_vii/infosaz/merk blatt_korruption.pdf, zuletzt aufgerufen am 20. November 2012. Auszug: 3. Generelles Annahmeverbot 3.1.1 […] 3.1.2. Überlassung von Gegenständen (z. B. Kraftfahrzeugen, Unterkunft) ohne oder zu einem geringeren als dem üblichen Entgelt, 4. Allgemeine Zustimmung zur Annahme 4.1 Zur Verwaltungsvereinfachung gilt die Annahme der nachstehend aufgeführten Zuwendungen als allgemein genehmigt, soweit den Beschäftigten nicht ausdrücklich etwas anderes mitgeteilt wurde: - übliche und nach allgemeiner Auffassung nicht zu beanstandende geringwertige Aufmerksamkeiten (z. B. Reklameartikel in einfacher Ausführung wie Kalender, Kugelschreiber oder Schreibblocks), sofern der Wert insgesamt E 10,– nicht übersteigt, - geringfügige Dienstleistungen, die die Durchführung eines Dienstgeschäftes erleichtern oder beschleunigen, z. B. die Abholung mit einem Wagen vom Bahnhof, - […] - […] 4.2. […] Vgl. auch Nr. 4 der Verwaltungsvorschriften zur Korruptionsbekämpfung in der Landesverwaltung, Staatsanzeiger für das Land Hessen vom 30. 10. 2006 S. 2490.
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Schon diese einfachen und durchaus lebensnahen Beispiele zeigen, wie viel Sprengkraft den §§ 331, 333 StGB im Bereich der universitären internen und internationalen Zusammenarbeit innewohnt. Eine kürzlich erschienene Gießener Dissertation hat sich auch in diesem Zusammenhang mit den §§ 331, 333 StGB kritisch befasst.7 Auf sie wird an mehreren Stellen dieses Beitrags Bezug genommen. Die Problematik ist höchst unangenehm und bisher eher verdrängt worden.8 Aber auch Jürgen Wolter hat sich nicht geschont, wenn es darum ging, „heiße Kartoffeln“ in die Hand zu nehmen.9 Dafür – wie auch für sein aufopferungsvolles Engagement für Goltdammer’s Archiv, die traditionsreichste deutschsprachige Strafrechtszeitschrift – sei ihm aufrichtig gedankt, verbunden mit den herzlichsten Glück- und Segenswünschen!
I. Diskutierte Fallgruppen: Drittmittelfinanzierung, Parteispenden, Lobbyismus Ausgestanden scheint die Diskussion um die Frage der Strafbarkeit der Annahme und Gewährung von Vorteilen im Zusammenhang mit der universitären Drittmittelfinanzierung. Jedenfalls dann, wenn die (verfahrens)rechtlichen Voraussetzungen für die Finanzierung von Drittmitteln, insbesondere die Vorgaben zur Transparenz, eingehalten werden, liegt § 331 StGB schon tatbestandlich nicht vor.10 Im Wuppertaler Wahlkampfspendenurteil vom 28. 10. 200411 entschied der 3. Strafsenat, dass sich ein Amtsträger nicht wegen Vorteilsannahme strafbar macht, wenn die Förderung „allein dazu dienen soll bzw. dient, dass er nach erfolgreicher Wahl das wiedererlangte Wahlamt in einer Weise ausübt, die den allgemeinen wirtschaftlichen oder politischen Vorstellungen des Vorteilsgebers entspricht. In diesem Fall ist wegen des vorrangigen Verfassungsprinzips der Chancengleichheit bei der Wahl das erforderliche rechtswidrige Gegenseitigkeitsverhältnis zwischen Vorteil und Dienstausübung, die Unrechtsvereinbarung, zu verneinen. Zeigt sich der Amtsträger dagegen bereit, als Gegenleistung für die Wahlkampfförderung im Falle seiner Wahl eine konkrete, den Interessen des Vorteilsgebers förderliche Ent7
Friedhoff, Die straflose Vorteilsannahme, 2012. Dem Autor dieser Zeilen ist bisher auch kein Fall bekannt geworden, dass international engagierte Hochschullehrer wegen Vorteilsannahme oder -gewährung strafrechtlich verfolgt worden wären. 9 Vgl. Aspekte einer Strafprozeßreform bis 2007. Juristische Studiengesellschaft Regensburg. Schriftenreihe der Studiengesellschaft, 1991. 10 Vgl. hierzu insbesondere BGH 1 StR 372/01 = BGHSt 47, 295 ff. bzw. BGH 1 StR 541/ 01 = BGHSt 48, 44 ff. mit Bespr. Ambos, JZ 2003, 345 ff.; Diettrich/Schatz, ZRP 2001, 521 ff.; Heinrich, NStZ 2005, 256 ff.; Kindhäuser/Goy, NStZ 2003, 291 ff.; Knauer/Kaspar, GA 2005, 385 ff.; Kuhlen, JR 2003, 231 ff.; Mansdörfer, wistra 2003, 211 ff.; Michalke, NJW 2002, 3381 ff.; Rönnau, JuS 2003, 232 ff.; Tholl, wistra 2003, 464. 11 BGH 3 StR 301/03, NStZ 2005, 509 = JR 2005, 509 ff. m. Anm. Dölling, JR 2005, 519 ff. fortgeführt durch BGH 3 StR 212/073 vom 28. 8. 2007, NJW 2007, 3446 ff. = NStZ 2008, 33 ff. m. Anm. Zöller, GA 2008, 151 ff. 8
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scheidung zu dessen Gunsten zu treffen oder zu beeinflussen, macht er sich der Vorteilsannahme schuldig.“12 Im Zusammenhang mit dem Verschenken von Eintrittskarten zu Sportveranstaltungen hat insbesondere der bereits erwähnte Fall EnBW13 Schlagzeilen gemacht. Der BGH bestätigte den Freispruch vom Vorwurf der Vorteilsgewährung durch das Landgericht: Es habe nicht nachgewiesen werden können, dass die Vorteilsnehmer die Karten „für die Dienstausübung“ erhalten hatten. Es habe somit nicht die in den §§ 331, 333 StGB auch nach der Änderung von 1997 noch immer geforderte sogenannte Unrechtsvereinbarung vorgelegen.14 Der EnBW-Fall weist auf die Unsicherheit hin, die auf jenem Gebiet nicht nur bei den potentiell Betroffenen und später unter Umständen Angeklagten, sondern auch bei den Rechtsanwendern selbst herrscht. Durch die Änderung des Wortlautes im Jahr 1997 von Diensthandlung in Dienstausübung ist die Unsicherheit darüber, was strafbar ist, noch größer geworden. Und das Risiko der Strafbarkeit liegt bei denen, die sich im gesellschaftlichen Umfeld bewegen und für ihre Institution die gewünschten und erwarteten „Kontakte pflegen“ sollen und wollen.
II. Eine nicht diskutierte Fallgruppe: Der international engagierte Hochschullehrer 1. Typische Situationen Internationale Kontakte vorweisen zu können, ist für eine Universität nicht nur ein Qualitätszeichen, sondern im Wettbewerb um anspruchsvolle Studierende mittlerweile überlebenswichtig. Eine Partnerschaft mit einer ausländischen Universität oder Fakultät kann man freilich nicht „verordnen“, sondern nur ermöglichen durch finanzielle Unterstützung und wertschätzende Begleitung. Ob ein Austauschprogramm floriert, hängt deshalb maßgeblich auch von den Personen und Persönlichkeiten ab, die sich hier engagieren. Es gilt – wie in jeder Partnerschaft – nicht nur Erfolge zu feiern, sondern auch Rückschläge, Missverständnisse und Enttäuschungen zu verkraften. Über Jahre und Jahrzehnte der Zusammenarbeit entstehen Freundschaften. Die Familien lernen sich kennen. Man feiert und man trauert gemeinsam. Verordnete Programme vergehen, Freundschaften bleiben bestehen. Wechselt ein international aktiver Hochschullehrer an eine andere Universität, bringt er deshalb in der Regel „seine“ wissenschaftlichen Auslandskontakte mit. Im Rahmen des internationalen Austauschs gibt es eine ungeschriebene Regel, wonach Reisekosten selbst getragen werden, während der Gastgeber nach Möglich12
BGH, NStZ 2005, 511. BGH 1 StR 260/08 = BGHSt 53, 6 m. Anm. Hettinger, JZ 2009, 370 ff., Kuhlen, JR 2010, 148 ff. und Schlösser, wistra 2009, 155 ff. 14 BGHSt 53, 6, 18. 13
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keit die Aufenthaltskosten (Logis, Verpflegung) übernimmt. Nimmt der deutsche Hochschullehrer nun die Einladung des ausländischen Kollegen zur Übernachtung im privaten Gästezimmer an, weil sich die Universität nicht zur Finanzierung eines Zimmers im Gästehaus oder im Hotel in der Lage sieht, oder bietet er dem ausländischen Gast in Deutschland das Gästezimmer in seinem Einfamilienhaus an, so hätte er „für die Dienstausübung“ einen Vorteil angenommen bzw. gewährt, denn die kostenlose Übernachtung steht im Zusammenhang mit der Universitätspartnerschaft – und sie wird im „Anti-Korruptions-Merkblatt“ sogar ausdrücklich genannt.15 Selbst eine interne Vereinbarung zwischen den Kollegen, sich bei Besuchen jeweils gegenseitig kostenlos Quartier zu gewähren, würde die Erfüllung des Tatbestandes nicht ausschließen, weil eine „Aufrechnung“ von Vorteilen in § 331 StGB nicht vorgesehen ist. Zwar dürfte jeder vernünftige Mensch davon ausgehen, dass solche Fälle nicht strafwürdig sind, eine wortlautgetreue Auslegung vermag hier indessen keine Abhilfe zu schaffen. Auch dass ein Lebenssachverhalt im Ausland spielt und dort u. U. sogar straffrei wäre, ist dabei irrelevant. Denn das deutsche Strafrecht gilt für Taten deutscher Amtsträger unabhängig vom Recht des Tatorts nach § 5 Nr. 12 StGB. Das Beispiel der kostenlosen Übernachtungen bildet nur eines von vielen naheliegenden Fallbeispielen im Rahmen des universitären Lebens. Auch das widerspruchslose Akzeptieren eines Blumenstraußes für die Ehefrau, der vom Kollegen zum Dank für die Einladung überreicht wird, könnte zum Danaergeschenk werden, strafbar nach § 331 Abs. 1 StGB, ebenso die Flasche Champagner als Aufmerksamkeit bei der Abendeinladung oder die spontane Einladung zum Opernabend. 2. Die Tatbestandsmäßigkeit von Vorteilszuwendungen im Rahmen der Höflichkeit nach §§ 331, 333 StGB a) Vorteil Unter „Vorteil“ im Rahmen der §§ 331, 333 StGB wird jede Leistung verstanden, „die die wirtschaftliche, rechtliche oder auch nur persönliche Lage des Amtsträgers objektiv verbessert und auf die er keinen Rechtsanspruch hat.“16 Vorteile in diesem Sinne können materieller sowie immaterieller Natur sein.17 Es können auch Vorteile
15 Das in Fn. 6 genannte Merkblatt 3.1.2 verbietet ausdrücklich die „Überlassung von Gegenständen (z. B. Kraftfahrzeugen, Unterkunft) ohne oder zu einem geringeren als dem üblichen Entgelt“. 16 Friedhoff (Fn. 7), Rn. 61; vgl. auch BGHSt 31, 264, 279 sowie Korte, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2006, Bd. 4, (MK-Korte), § 331 Rn. 61 m.w.N. aus der Rechtsprechung. 17 Friedhoff (Fn. 7), Rn. 62, 63; vgl. auch Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht Besonderer Teil Teilband 2, 10. Aufl. 2012, § 79 Rn. 12.
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sein, welche dem Ehepartner gewährt werden.18 Damit steht fest, dass sowohl die Gewährung wie die Entgegennahme einer unentgeltlichen Übernachtung als auch die Gewährung oder Entgegennahme eines Blumenstraußes vom Floristen einen Vorteil i. S. der §§ 331, 333 StGB darstellt. b) „Für die Dienstausübung“ Den international aktiven Hochschullehrer würde es beruhigen, wenn das kostenlose Logis, der Blumenstrauß für die Ehefrau und die Einladung zum Opernabend nicht „für die Dienstausübung“ gewährt würden. aa) Dienstausübung Man kann unter Dienstausübung im Grunde alle vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Diensthandlungen verstehen.19 So besehen kommen Hochschullehrer im Rahmen einer Universitäts- oder Fachbereichspartnerschaft im Rahmen ihres Dienstes zusammen. Beide üben ihren Dienst aus. Beide wären ohne ihre Dienstaufgaben nicht in Verbindung getreten. Wenn die Universität die Aufrechterhaltung von Beziehungen im Ausland als universitäre Angelegenheit versteht und wenn der Universitätsprofessor als Repräsentant seiner Universität tätig wird, dann sind die gegenseitigen Besuche Dienstausübung i. S. des § 331 StGB. Es dürfte nicht leicht fallen, sie einer der Fallgruppen, in denen üblicherweise ein privates Handeln angenommen wird,20 zuzurechnen. Auch der überreichte Blumenstrauß sowie der Theaterbesuch – beides Gesten der Höflichkeit und Gastfreundlichkeit – sind nicht zweifelsfrei privater Natur. Schließlich dürfte auch schwer fallen, die Auslandsaktivitäten des Hochschullehrers dem Bereich seiner Nebentätigkeit zuzuordnen.21 bb) „Für“ die Dienstausübung Als mögliche Indizien für den Zusammenhang von Aktivitäten mit der Dienstausübung hat der Bundesgerichtshof im EnBW-Fall die Stellung des Amtsträgers und die Beziehung des Vorteilsgebers zu dessen dienstlichen Aufgaben, die Vorgehensweise bei dem Angebot, dem Versprechen oder dem Gewähren von Vorteilen sowie die Art, den Wert und die Zahl solcher Vorteile als Kriterien genannt.22 Die Formulierung „für die Dienstausübung“ hat insofern eine restriktive Wirkung, als darunter eine bewusste Verknüpfung zwischen der Dienstausübung und dem Vor18 Nach h.M. fallen auch Vorteile an Familienangehörige unter die §§ 331, 333, vgl. L-Kühl, § 331 Rn. 6 m.w.N. 19 Vgl. Friedhoff (Fn. 7), Rn. 78; Maurach/Schroeder/Maiwald, § 79 Rn. 17. 20 Friedhoff (Fn. 7), Rn. 79; vgl. auch Schönke/Schröder-Heine, § 331 Rn. 10. 21 Zur Nebentätigkeit Kuhlen, JR 2003, 234. 22 Vgl. BGHSt 53, 6, 17.
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teil zu verstehen ist.23 Aber auch jene Verknüpfung wird man in den hier in Rede stehenden Fällen nicht ohne Weiteres ausschließen können, weil ein Bezug zu einem Diensthandeln durchaus gegeben ist, sei es etwa die Bereitschaft zur Übernahme eines Vortrags, einer Vorlesung oder der Betreuung eines Nachwuchswissenschaftlers. Selbst die Überreichung des Blumenstraußes könnte nicht nur als Geste des Dankes interpretiert, sondern auch im Interesse der erfolgreichen Zusammenarbeit gesehen werden. c) Zwischenergebnis Die eingangs geschilderten Sachverhalte lassen sich sämtlich ohne große Mühe dem Wortlaut der §§ 331, 333 StGB zuordnen. Auch die Gesetzgebungsgeschichte deutet auf einen weiten Anwendungsbereich der Vorschriften hin.24 Unser Gerechtigkeitsempfinden freilich spricht eine ganz andere Sprache: Der Blumenstrauß, die Übernachtungsmöglichkeit und der Theaterbesuch sind Ausdruck nicht nur von Höflichkeit, sondern von Menschlichkeit. Ein Austausch auf Universitätsebene ist auch ein Austausch von Kultur und Kulturen, wozu nicht zuletzt auch der Besuch eines Museums oder einer Theatervorstellung gehören. Die Gewährung von Obdach ist ein Ausdruck von Gastfreundschaft. Und der Gastdozent ist eben nicht nur Dozent, er ist vor allem Gast – ein Gesichtspunkt, der in einem Land, das die Gastfreundschaft nicht gerade erfunden hat, zu kurz zu kommen droht. Es liegt somit eine sogenannte „Überkriminalisierung“25 vor, die gerade den rechtstreuen Bürger verängstigt und die den Hochschullehrer im Rahmen von Auslandsaufenthalten dazu nötigen könnte, in Situationen besonderer Feierlichkeit dadurch für Skandale zu sorgen, dass er ein coram publico überreichtes Geschenk entweder zurückweist oder es mit schlechtem Gewissen in den Koffer packt, um dann zu Hause den Präsidenten bzw. den Wissenschaftsminister um Genehmigung der Annahme zu bitten. Würde eine Regelung bestehen, nach der Gastdozenten unentgeltlich eine Unterkunft zur Verfügung gestellt wird, Freikarten für das Theater gewährt werden und ein Fonds für adäquate Gastgeschenke eingerichtet wird, dann hätten die geschilderten Sachverhalte eine universitäre rechtliche und finanzielle Grundlage und wären nicht „Vorteile“ i. S. der §§ 331, 333 StGB. Das Fehlen einer rechtlichen Regelung darf aber nicht dazu führen, dass Universitätsbedienstete „kriminalisiert“ zu werden drohen, wenn sie für Versäumnisse ihres Dienstherrn in die Bresche springen.
23
Vgl. BGH 5 StR 323/06, NStZ-RR 2008, 13, 14. Vgl. Kuhlen, in: NomosKommentar Strafgesetzbuch, 3. Aufl. 2010 (NK-Kuhlen), § 331 Rn. 4 f.; MK-Korte, § 331 Rn. 23 m.w.N. 25 Friedhoff (Fn. 7), Rn. 111 ff. 24
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3. Zum Rechtsgut der §§ 331 ff. StGB Den Schlüssel für eine entsprechend restriktive Anwendung der §§ 331, 333 StGB könnte die Antwort auf die Frage liefern, welches Rechtsgut durch die §§ 331, 333 StGB geschützt werden soll. Die zum Rechtsgut der §§ 331 ff. StGB vertretenen unterschiedlichen Ansätze26 hat Friedhoff kritisch hinterfragt.27 Er kommt mit tragfähigen Argumenten zu dem Ergebnis, dass das durch die §§ 331 ff. StGB geschützte Rechtsgut das „Vertrauen des Bürgers in eine sachlich entscheidende und von außen unbeeinflusste Verwaltung“ ist.28 Jene Definition eignet sich als Richtschnur für eine einschränkende Interpretation der Vorteilsannahme und kommt den hier diskutierten Problemfällen entgegen. Denn sie sind gerade nicht dazu geeignet, das Vertrauen des Bürgers in eine sachlich entscheidende und von außen unbeeinflusste Verwaltung zu erschüttern. Es soll nun zunächst untersucht werden, welche strafbefreienden „Provisorien“ derzeit zur Verfügung stehen (III.). Ein kleiner Seitenblick auf Österreich und die Schweiz (IV.) schließt sich an, gefolgt von einem von Friedhoff unterbreiteten Lösungsvorschlag (V.).
III. Vermeidungsstrategien zur Einengung des Risikobereichs29 1. Anerkannte Vermeidungsstrategien a) Restriktion des Vorteilsbegriffs Die wohl verbreiteteste Strategie zur Vermeidung einer Strafbarkeit nach den §§ 331, 333 StGB liegt in einer Restriktion des Vorteilsbegriffs. Es wird darüber nachgedacht, einen Vorteil i. S. der genannten Paragraphen dann zu verneinen, wenn der Wert der Zuwendung eine bestimmte Grenze, etwa 50 Euro, nicht überschreitet.30 Gegen eine wertbezogene Festlegung spricht freilich, dass dann ein gespaltener Vorteilsbegriff innerhalb der §§ 331 ff. StGB gelten würde. Denn dass im Bereich der Bestechlichkeit (§ 332 StGB) bereits das Verlangen eines geringwertigen Vorteils strafwürdig ist, ist unumstritten.31 Um der Einheitlichkeit des Vorteilsbegriffs willen kommt daher eine Definition anhand des Wertes nicht in Betracht.32
26
Vgl. L-Kühl, § 331 Rn. 1 m.w.N. Friedhoff (Fn. 7), Rn. 33 ff. 28 Friedhoff (Fn. 7), Rn. 50; vgl. auch L-Kühl, aaO. 29 Zum sog. Risikobereich Friedhoff (Fn. 7), Rn. 218. 30 Vgl. die Nachweise bei Friedhoff (Fn. 7), Rn. 120. 31 MK-Korte, § 331 Rn. 63 und § 332 Rn. 11. 32 Vgl. Friedhoff (Fn. 7), Rn. 132 ff. 27
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b) Sozialadäquanz Ein für die restriktive Interpretation der §§ 331 ff. StGB regelmäßig herangezogenes Kriterium ist die Sozialadäquanz.33 Sie wird dahin konkretisiert, dass eine Strafbarkeit dort abzulehnen sei, wo das Verhalten des Amtsträgers den Regeln der Höflichkeit und des sozialen Verkehrs entspricht.34 Von der Rechtsprechung wird die Sozialadäquanz auch als „Branchenüblichkeit“ in den Entscheidungsprozess eingebracht.35 Der Vorteil der Sozialadäquanz als Kriterium liegt darin, dass sie sich gesellschaftlichen Bedürfnissen wohl am ehesten anpasst. Was für den alleinverdienenden Universitätsassistenten mit Familie einen beachtlichen Vorteil bedeutet, sind für den wohlbetuchten Amtsträger „Peanuts“, deren Annahme so wenig ins Gewicht fällt, dass das Vertrauen des Bürgers in eine sachlich entscheidende und von außen unbeeinflusste Verwaltung nicht erschüttert wird. Hinsichtlich des Bestimmtheitsgrundsatzes scheint die Sozialadäquanz indessen defizitär.36 Außerdem trägt sie im Wortlaut der §§ 331, 333 StGB nicht einmal als unbestimmter Rechtsbegriff zur Bestimmtheit bei. Ein solchermaßen sowohl unbestimmtes als auch ungeschriebenes Tatbestandselement stellt den Rechtsanwender vor eine, auch im Hinblick auf die Gleichmäßigkeit der Entscheidungen, kaum zu bewältigende Aufgabe. c) Genehmigung Absatz 3 der §§ 331, 333 StGB eröffnet über die Genehmigung eine Straffreiheit des Amtsträgers, sei es mittels Rechtfertigung37 oder als Tatbestandsausschluss38. Dieser Weg bietet – trotz mancher Fragwürdigkeiten39 – Rechtssicherheit, wenn der Amtsträger sich vorsorglich schon eine Genehmigung im Hinblick auf zu erwartende Vorteilszuwendungen einholt, ein für alle Beteiligten zeitraubendes und u. U. überflüssiges Vorgehen. Ohne vorherige Genehmigung kommt eine (nach h.M. rechtfertigende) mutmaßliche Genehmigung bzw. Genehmigungsfähigkeit40 bei der Entgegennahme des spontan angebotenen Vorteils in Betracht,41 während die nachträgliche Genehmigung nicht rechtfertigend, sondern nur strafaufhebend 33
BGH 5 StR 168/04, NStZ 2005, 334, 335;umfassend zur Sozialadäquanz im Zusammenhang mit sozialüblichen Vorteilsgewährungen Eser, FS Roxin, 2001, S. 199 ff. 34 Vgl. Eser, FS Roxin, S. 205; Friedhoff (Fn. 7), Rn. 152. 35 Vgl. BGH 1 StR 541/01, NJW 2003, 763, 765 sowie Friedhoff (Fn. 7), Rn. 154 f. 36 Vgl. Friedhoff (Fn. 7), Rn. 66 ff.; beachtliche Gegenargumente bei Eser, FS Roxin, S. 208 ff. 37 Vgl. L-Kühl, § 331 Rn. 14; BGH 4 StR 375/82, BGHSt 31, 264, 285 f. 38 So z. B. Michalke, FS Rieß, 2002, S. 774 m.w.N. 39 Vgl. Michalke, FS Rieß, S. 771 ff. 40 Vgl. NK-Kuhlen, § 331 Rn. 110. 41 MK-Korte, § 331 Rn. 174; Sowada, in: Leipziger Kommentar, StGB, 12. Aufl. 2009, Bd. 13 (LK-Sowada), § 331 Rn. 122 f.
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wirkt.42 Geht der Amtsträger bei der Entgegennahme irrig von der Sachlage einer mutmaßlichen Genehmigung/Genehmigungsfähigkeit aus, liegt ein (Erlaubnis-)Tatbestandsirrtum vor, der mangels Vorsatzes zur Straffreiheit führt.43 Damit bleibt der Amtsträger straffrei, wenn er erstmalig irrtümlich eine Genehmigungsfähigkeit annimmt. Er kommt hingegen in Bedrängnis, sobald er aus Erfahrung annehmen muss, dass die Behörde die Annahme des fraglichen Vorteils nicht genehmigen wird. Hier sieht sich der Amtsträger gezwungen, den angebotenen Vorteil zurück zu weisen, sei dies angesichts aller Umstände auch noch so peinlich. Den Maßstab dafür, ob der Amtsträger strafbar ist oder nicht, formt folglich über das Genehmigungserfordernis letztlich nicht der Gesetzgeber, sondern die Sozialisierung des für die Genehmigung zuständigen Verwaltungsbeamten. Friedhoff plädiert deshalb – im Rahmen einer Neuformulierung der §§ 331, 333 StGB – für eine möglichst bestimmte Beschreibung des Verbotenen und daraus folgend für eine Abschaffung der Genehmigung im Interesse einer „Entmachtung“ der Behörde.44 d) Legitimation durch Verfahren Die Möglichkeit der straffreien Annahme eines Vorteils im Rahmen eines legitimierenden Verfahrens wie im Bereich der Drittmittelforschung hat sich im Bereich der internationalen wissenschaftlichen Kooperation (noch) nicht etabliert. Der Amtsträger gewährt oder nimmt Vorteile an, die der eigene oder fremde universitäre Kooperationskanon – auch mangels finanzieller Ressourcen – nicht vorsieht. Hier sind immerhin Anfänge zu verzeichnen, indem man in die Unrechtsvereinbarung ein ungeschriebenes zusätzliches Element der „Regelwidrigkeit“ einbaut, mit dem gesellschaftlich erwünschte Austauschverhältnisse aus dem Tatbestand der §§ 331, 333 StGB ausgefiltert werden.45 So werden unter bestimmten Voraussetzungen von der Universitätsleitung die Kosten für die Einladung ausländischer Gäste in ein Restaurant übernommen. Damit ist die Einladung als solche rechtlich gedeckt. Gleiches dürfte gelten, wenn der Dekan eine Exkursion als Dienstreise genehmigt, bei der einem ausländischen Gast kostenlos eine Mitnahmemöglichkeit und eine Übernachtung in einem Hotel von mittlerer Art und Güte gewährt wird. Auch diese Regeln bilden die Grundlage für eine restriktive Interpretation der §§ 331, 333 StGB.46 Falls es ähnliche Verfahren an ausländischen Universitäten gibt, dann sollte sich der deutsche Hochschullehrer auch darauf berufen dürfen. Aber das setzte voraus, dass man die Rechtmäßigkeit einer Vorteilsgewährung nach ausländischem Recht auf die deutsche Situation überträgt und nicht umgekehrt 42
Vgl. MK-Korte, § 331 R.n 171; LK-Sowada, § 331 Rn 121. Vgl. MK-Korte, § 331 Rn. 177; LK-Sowada, § 331 Rn. 127 f.; BGH 4 StR 375/82, BGHSt 31, 264, 286 f. 44 Vgl. Friedhoff (Fn. 7), Rn. 99. 45 Vgl. F. Walther, Jura 2010, 511, 517 m.w.N. 46 Vgl. zu diesen „Regeln“ auch Knauer/Kasper, GA 2005, 397 ff. m.w.N. 43
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Versäumnisse auf deutscher Seite über § 5 Nr. 12 StGB zum Anlass für die Anwendung des deutschen Strafrechts nimmt. 2. Informelle, faktisch anerkannte Vermeidungsstrategien Weitere Strategien zur Vermeidung einer Strafbarkeit haben eher informellen Charakter, scheinen aber faktisch so anerkannt zu sein, dass es letztlich doch nicht zu einer Strafverfolgung kommt. a) Privatheit Eine der Möglichkeiten, der Strafbarkeit zu entgehen, eröffnet die h.M. mittels der Etablierung eines weiten Bereichs der Privatheit.47 Der Dienstreiseantrag macht die Reise freilich zum Dienstgeschäft. Strafbefreiende Privatheit ließe sich dann allenfalls in der Weise konstruieren, dass innerhalb des dienstlichen Rahmens „Enklaven der Privatheit“ ausgewiesen werden – ein allenfalls hilfsweise zu beschreitender Weg. b) Geschuldete Leistung statt „Vorteil für die Dienstausübung“ Das „Erasmus“-Austauschprogramm der EU gewährt Reisekosten und Logis. Die Vorlesung als solche hält der Hochschullehrer hingegen um Gotteslohn. Die ausländische Universität könnte daher die Einladung zum Theaterbesuch von vornherein als Teil ihrer Gegenleistung klassifizieren. Eine solchermaßen vereinbarte und damit geschuldete Leistung wäre kein „Vorteil“ i. S. von § 331 StGB, jedenfalls aber nicht Gegenstand einer Unrechtsvereinbarung.48 Geht die Universität diesen Weg nicht und sieht sich der gastgebende Kollege folglich moralisch verpflichtet, den Gast privat zuvorkommend zu behandeln und ihn ins Theater „einzuladen“, dann erbringt er eine Leistung, die eigentlich die Universität als geschuldete Leistung erbringen sollte. Wenn es auf diesem Weg gelingen würde, den „vorteilsgewährenden“ Kollegen als Beauftragten der Universität zu deklarieren, so hätte man eine Möglichkeit, die §§ 331, 333 StGB zu verneinen. Ihre Professionalität hinsichtlich der Kooperation mit dem Ausland stellt hier übrigens die Alexander von Humboldt-Stiftung vorbildlich unter Beweis: Sie gewährt der gastgebenden Institution ganz förmlich einen Forschungskostenzuschuss, aus dem sich auch Exkursionen und der Besuch kultureller Veranstaltungen für den Gastwissenschaftler finanzieren lassen.49 47
Vgl. Schönke/Schröder-Heine, § 331 Rn. 10. Es geht hier nicht um die „Umetikettierung“ eines ungerechtfertigten Vorteils, sondern um die zulässige Anerkennung einer Leistung, vgl. dazu näher Knauer/Kaspar, GA 2005, 385, 392 f. m.w.N. 49 Vgl. http://www.humboldt-foundation.de/web/wir-ueber-uns.html, zuletzt besucht am 29. 12. 2012: „Zum Stipendium gehört ein Forschungskostenzuschuss zur Finanzierung von Geräten, Hilfskräften, Verwaltungskosten oder Ähnlichem. Er hilft Ihnen und Ihrem Gastforscher, die optimalen Bedingungen für eine fruchtbare Zusammenarbeit zu schaffen.“ 48
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c) Unvermeidbarkeit der Vorteilsannahme Ein weiterer Weg, die Strafbarkeit nach den §§ 331, 333 StGB zu vermeiden, könnte bei der Entgegennahme von Leistungen in der Unmöglichkeit der Abwendung des Erfolgs gesehen werden. Lehnt der Gastgeber als höflicher Mensch die Bitte des Gastes, die Theaterkarte bezahlen zu dürfen, nach der Vorstellung ab, dann ist es dem zunächst gutgläubigen Vorteilsempfänger unmöglich, den Vorteil wieder loszuwerden. d) Aufrechnung Eine Möglichkeit, Leistung (Übernachtung im deutschen Gästezimmer) und Gegenleistung (Übernachtung im ausländischen Gästezimmer) aufzurechnen, sehen die §§ 331, 333 StGB nicht vor. Auch wenn die Vermögensbilanz am Ende der gegenseitig geleisteten Vorteile neutral sein mag, besteht bis zum Ausgleich jeweils ein Vermögensvorteil. Trotzdem gibt es einen kleinen Hinweis aus dem österreichischen Strafrecht, dass bei Essenseinladungen wohl auch im Hinblick darauf, sich gegenseitig innerhalb überschaubarer Abstände einzuladen, eine Aufrechnung vorgenommen wird.50 Einen ähnlichen Hinweis findet man in der o.g. Entscheidung 5 StR 168/04: Der Anschein der „Käuflichkeit“ der Angeklagten und damit eine entsprechende Unrechtsvereinbarung könne höchstens – „entsprechend der Wertung in den Fällen gleichwertiger Gegeneinladungen“ […] – in Frage gestellt werden, wenn […].51
IV. Österreich und die Schweiz Die „Überkriminalisierung“ durch die §§ 331 ff. StGB im Rahmen des „redlichen“ internationalen Wissenschaftsaustausches rührt daher, dass der deutsche Gesetzgeber eine Regelung geschaffen hat, die lückenlos sein will und damit auch den rechtstreuen Amtsträger in größte Bedrängnis bringt. Dass dies nicht notwendig so sein muss, zeigen Regelungen in Österreich und der Schweiz. 1. Vorteilsannahme nach § 305 öStGB Die Vorteilsannahme nach § 305 I öStGB setzt voraus, dass der Täter einen Vorteil für sich oder einen Dritten annimmt oder sich versprechen lässt „für die pflichtgemäße Vornahme oder Unterlassung eines Amtsgeschäfts“. Durch das Abstellen auf ein konkretes Amtsgeschäft sind sonstige Handlungen im Rahmen der Dienstausübung von vornherein nicht tatbestandsmäßig.52 Bis zum 31. 12. 2012 forderte die 50
Vgl. Friedhoff (Fn. 7), Rn. 246. BGH, NStZ 2005, 334, 335 unter Hinweis auf Tröndle/Fischer, StGB, 52. Aufl. 2004, § 331 Rn. 26. 52 Vgl. Friedhoff (Fn. 7), Rn. 258. 51
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österreichische Regelung außerdem ein Handeln „entgegen einem dienst- oder organisationrechtlichen Verbot“. „Durch die Einführung dieser akzessorischen Bindung soll[te] insbesondere vermieden werden, dass die Teilnahme an Veranstaltungen als Repräsentant strafbar ist, da sie nicht vom Dienstrecht untersagt wird und somit nicht mehr taugliche Handlung einer Vorteilsannahme sein kann.“53 Die Unkenntnis eines solchen Verbotes ließ als Tatumstandsirrtum den Vorsatz entfallen.54 Im Interesse einer Präzisierung und zur Vermeidung von Strafbarkeitslücken wurde durch das österreichische Korruptionsstrafrechtsänderungsgesetz 201255 die akzessorische Bindung an das dienst- oder organisationrechtliche Verbot fallen gelassen und das Erfordernis eingeführt, dass der angenommene Vorteil „ungebührlich“ sein muss. Die Ungebühr wird in § 305 Abs. 4 öStGB 2013 negativ abgegrenzt: „(4) Keine ungebührlichen Vorteile sind 1. Vorteile, deren Annahme gesetzlich erlaubt ist, oder die im Rahmen von Veranstaltungen gewährt werden, an deren Teilnahme ein amtlich oder sachlich gerechtfertigtes Interesse besteht, 2. Vorteile für gemeinnützige Zwecke (§ 35 BAO), auf deren Verwendung der Amtsträger oder Schiedsrichter keinen bestimmenden Einfluss ausübt, sowie 3. in Ermangelung von Erlaubnisnormen im Sinne der Z 1 orts- oder landesübliche Aufmerksamkeiten geringen Werts, es sei denn, dass die Tat gewerbsmäßig begangen wird.“
Bei der Einführung des „ungebührlichen Vorteils“ hat Art. 322sexies schwStGB Pate gestanden.56 2. Art. 322sexies schwStGB: der „nicht gebührende Vorteil“ In Art. 322sexies des Schweizer StGB wird die Vorteilsannahme beschrieben als Fordern, Sich-versprechen-Lassen oder Annehmen eines „nicht gebührenden Vorteils“ im Hinblick auf die Amtsführung. a) Ein Vorteil im Hinblick auf die Amtsführung Die Formulierung „im Hinblick auf die Amtsführung“ stellt einen sog. „verdünnten“ Äquivalenzbezug dar. Es bedarf also einerseits – wie im deutschen Recht – keiner konkreten Diensthandlung, für die der Vorteil angenommen wird. Jedoch reicht andererseits – weiter als die Formulierung „für die Dienstausübung“ im deutschen Recht – der Bezug zum Amt aus. Es genügt und ist erforderlich, dass der Vorteil 53
Friedhoff (Fn. 7), Rn. 275 m.w.N. Vgl. auch Friedhoff (Fn. 7), Rn. 260. 55 öBGBl. I – Ausgegeben am 24. 7. 2012 – Nr. 61; in Kraft ab 1. 1. 2013. 56 Vgl. S. 8 der Begründung zum Initiativantrag der Abgeordneten Mag. Donnerbauer, Dr. Jarolim, Mag. Steinhauser, Grosz, Kolleginnen und Kollegen vom 16. 5. 2012, 1950/A XXIV. GP. 54
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nicht gegeben worden wäre, wenn der Vorteilsempfänger die Amtsposition nicht inne gehabt hätte.57 Durch diesen Wortlaut soll klargestellt werden, dass rein private Zuwendungen nicht vom Tatbestand erfasst werden.58 Es hat zunächst den Anschein, als lebten auch schweizerische international arbeitende Hochschullehrer gefährlich. Ein zweiter Blick lohnt jedoch. b) Ein nicht gebührender Vorteil Denn das Merkmal des „nicht gebührenden Vorteils“ im Schweizer StGB – vergleichbar mit der Sozialadäquanz im Rahmen der Diskussion zur Vorteilsannahme in Deutschland – ist von großem Interesse und erinnert an Überlegungen von 2001 in Deutschland, ein einschränkendes Element des „unlauteren“ Verhaltens in die §§ 331, 333 StGB einzufügen.59 In Art. 322octies Nr. 2 Schweizer StGB wird definiert, was nicht gebührend ist: „Keine nicht gebührenden Vorteile sind dienstrechtlich erlaubte sowie geringfügige, sozial übliche Vorteile.“
Die soziale Üblichkeit schließt die Tatbestandsmäßigkeit der Vorteilsannahme aus. Im Falle einer Einladung eines Amtsträgers, die den Eintritt zu einer Opernveranstaltung, ein Nachtessen und eine CD beinhaltete (Wert insgesamt 600 CHF), nahm das Obergericht des Kantons Bern eine Vorteilsannahme an und ging somit umgekehrt nicht von einer sozialen Üblichkeit aus.60 Der Formulierung „geringfügige, sozial übliche Vorteile“ entsprechend nimmt die höchstrichterliche Schweizer Rechtsprechung an, dass beide Merkmale kumulativ vorliegen müssen.61 Jedoch ist die Geringfügigkeit nicht als starrer Wert zu verstehen. Vielmehr ist der Begriff der Geringfügigkeit auf Grund unterschiedlicher regionaler Verständnisse und unterschiedlicher Situationen des Einzelfalls relativ und orientiert sich am gesellschaftlich Üblichen.62 Das Kriterium der Sozialüblichkeit ist gegeben, wenn die Gewährung der Vorteile einer gesellschaftlich tolerierten Verkehrsidee entspricht.63 Für die Relativität der Geringfügigkeit spricht auch, dass ein Vorteil geringfügig sein soll, wenn „es weder ein general- noch ein spezialpräventives Bedürfnis nach Strafe gibt.“64 Zwar ist auch in der Schweizer Regelung der Begriff der sozialen Üblichkeit und der Geringfügigkeit auslegungsbedürftig und somit ein unbestimmter Rechtsbegriff. 57
Friedhoff (Fn. 7), Rn. 324 m.w.N. Friedhoff (Fn. 7), Rn. 324. 59 Näher Sanchez-Hermosilla, Kriminalistik 2002, 509. 60 Friedhoff (Fn. 7), Rn. 322 m.w.N. 61 Friedhoff (Fn. 7), Rn. 337 m.w.N. 62 Friedhoff (Fn. 7), Rn. 338. 63 Vgl. Friedhoff (Fn. 7), Rn. 338 m.w.N. 64 Stratenwerth/Wohlers, Art. 322ter Rn. 4, zitiert bei Friedhoff (Fn. 7), Rn. 339 Fn. 265. 58
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Im Unterschied zur deutschen Situation, wo die Sozialadäquanz nicht einmal als solche Eingang in die gesetzliche Formulierung gefunden hat, liegt aber nicht eine doppelte, sondern nur eine einfache Unbestimmtheit vor. Was die hier diskutierten Fälle anbelangt, so lässt sich unschwer erkennen, dass die Schweizer Regelung unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit der deutschen deutlich überlegen ist. Denn wenn es unter Hochschullehrern „sozialüblich“ ist, dass man gegenseitig die Ehefrauen für eine Abendeinladung mit Blumensträußen bedenkt, die nicht vom Discounter stammen, und wenn man den Kollegen nicht mit „Schloss Auerbach“ abzufertigen pflegt, dann ist die Gewährung und die Entgegennahme auch eines hochwertigen Blumenstraußes etwas, was nicht als Vorteilsannahme tatbestandlich erfasst wird. Dasselbe gilt auch für die Gewährung von Logis und für die gemeinsame Unternehmung von Exkursionen mit touristischem Charakter. Ein deutscher Hochschullehrer, der einen ausländischen Gast während des Wochenendes im Gästehaus sitzen lässt, anstatt ihm die Sehenswürdigkeiten der Gegend zu zeigen, gilt zu Recht als unhöflich. Ein Ausflug zum Niederwalddenkmal ist deshalb nicht geeignet, das Vertrauen der Allgemeinheit in die Integrität und Sachlichkeit der Verwaltung in Bezug auf die Entscheidungsfindung zu gefährden. Eine Klausel zumindest in diese Richtung enthalten immerhin die Verwaltungsvorschriften zur Korruptionsbekämpfung in der Landesverwaltung, Staatsanzeiger für das Land Hessen vom 30. Oktober 2006, S. 2490 Nr. 2 am Ende: „Geschenke aus dem Kollegen- oder Mitarbeiterkreis von üblichem und angemessenem Wert (zum Beispiel aus Anlass eines Geburtstages, eines Dienstjubiläums oder Ähnliches) sind Geschenke im privaten Rahmen, für deren Annahme keine Zustimmung erforderlich ist.“
V. Der Lösungsvorschlag nach Friedhoff In seinem Vorschlag für eine Neuformulierung der Vorteilsannahme (Sich-Versprechen-Lassen, Annehmen) berücksichtigt Friedhoff bereits innerhalb der Tatbestandsmäßigkeit die Unrechtsvereinbarung in der Weise, dass der Täter durch die Vorteilsannahme „den Anschein einer unsachlichen, vom Vorteil beeinflussten Dienstausübung […] hervorruft“.65 Dafür, dass dieser Anschein erweckt wird, werden nun drei Situationen – Bezug auf eine bestimmte Diensthandlung, wiederholte Vorteilsannahme, wiederholte Diensthandlungen – abschließend aufgezählt.66 Umgekehrt wird für die hier in Frage stehenden Fallgruppen formuliert, dass der Anschein einer unsachlichen, vom Vorteil beeinflussten Dienstausübung nicht hervorgerufen wird, „wenn die Annahme des Vorteils den Regeln der Höflichkeit oder den jeweiligen Gepflogenheiten des redlichen amtlichen Verkehrs entspricht und es dem Täter deshalb nicht zugemutet werden kann, den Vorteil abzulehnen.“67 Mit Hilfe 65
Friedhoff (Fn. 7), Rn. 375. Vgl. § 331 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 – 3 des Formulierungsvorschlags Friedhoff (Fn. 7), Rn. 375. 67 Formulierungsvorschlag § 331 III Satz 3, Friedhoff (Fn. 7), Rn. 375.
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dieser Formulierung, die ebenfalls das Schweizer Vorbild erkennen lässt, gelingt es recht deutlich, den in der gegenwärtigen Regelung ungeschriebenen und unbestimmten Begriff der Sozialadäquanz zu konkretisieren. Im Grunde handelt es sich um die Formulierung des de lege lata schon anerkannten, tatbestandsbegrenzenden Kriteriums der Sozialadäquanz.68 Das Merkmal der Gepflogenheiten des redlichen amtlichen Verkehrs gibt darüber hinaus die Möglichkeit, das gesellschaftliche Verhältnis, das zwischen Geber und Nehmer besteht, zu berücksichtigen.69 Denn es entspricht nicht den Gepflogenheiten des redlichen amtlichen Verkehrs, wenn der Doktorand dem Doktorvater eine Flasche Champagner schenkt, wohl aber, wenn der Doktorvater dem promovierenden Richter ein wertvolles Strafrechtslehrbuch zur bestandenen Doktorprüfung überreicht. Leider kann die Problematik im Rahmen dieses Festschriftbeitrages hier nicht weiter vertieft werden. Es wäre aber zu wünschen, dass der Formulierungsvorschlag Friedhoffs die Diskussion über die restriktive Interpretation der Vorteilsannahme bzw. -gewährung befruchtet und dazu beiträgt, dass Höflichkeit im internationalen Austausch zwischen den Universitäten geübt werden kann und nicht unversehens in eine Strafverfolgung wegen Vorteilsannahme umschlägt.
68 69
Friedhoff (Fn. 7), Rn. 406. Friedhoff (Fn. 7), Rn. 412.
Die Sicherheitsverantwortung des Bauunternehmers (§ 319 StGB) am Beispiel des Bauprojekts Elbphilharmonie Von Bernd Hecker
I. Einführung 1. Praktische Bedeutung des § 319 StGB Kommt es infolge des Einsturzes von Bauwerken bzw. Gebäudeteilen zu einem Personenschaden, so leiten die Staatsanwaltschaften regelmäßig Ermittlungen gegen die am Bau beteiligten Personen, insbesondere den Bauleiter, wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB) bzw. fahrlässigen Körperverletzung (§ 229 StGB) ein.1 Im Zentrum des Ermittlungsverfahrens steht dann die Frage, ob sich diese Personen hinsichtlich der von dem Bauwerk ausgehenden Gefahren pflichtwidrig verhalten haben. Anschauungsmaterial für baustrafrechtlich relevante Sachverhalte liefern u. a. der Einsturz der Walter-Husemann-Schule in Goldberg am 13. 8. 2004,2 bei dem fünf auf dem Bau tätige Arbeiter zu Tode kamen; der Einsturz der Eishalle in Bad Reichenhall am 2. 1. 2006,3 der fünfzehn Menschen das Leben kostete sowie der Einsturz des Kölner Stadtarchivs am 3. 3. 2009, bei dem zwei Menschen getötet wurden. Rein statistisch betrachtet spielt der in § 319 StGB normierte Tatbestand der Baugefährdung neben den genannten Fahrlässigkeitsdelikten in der strafrechtlichen Praxis eine vergleichsweise unbedeutende Rolle.4 Eine eigenständige Bedeutung kommt diesem Gefährdungsdelikt nur zu, wenn infolge eines Regelverstoßes am Bau eine oder mehrere Personen lediglich konkret gefährdet, aber nicht getötet oder verletzt worden sind. Die praktische Relevanz des § 319 StGB lässt sich jedoch nicht allein aus der Zahl der Ermittlungsverfahren bzw. der gerichtlichen Verurteilungen ableiten, in denen diese Strafnorm „sichtbar“ zur Anwendung gelangt. 1 Als weitere potentielle Tatverdächtige kommen je nach Fallgestaltung auch der Bauplaner, Bauherr, Vertreter der Bauaufsichtsbehörde und Prüfingenieur in Betracht; vgl. hierzu BGHSt 19, 286 = NJW 1964, 1283; BGH NJW 2010, 1087; OLG Karlsruhe NJW 1977, 1930; OLG Stuttgart NJW 2005, 2567; Esser/Keuten, NStZ 2011, 314; Landau, wistra 1999, 47 (49). 2 BGHSt 53, 38 = NJW 2009, 240. 3 BGH NJW 2010, 1087. 4 Esser/Keuten, NStZ 2011, 314.
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Wie nachfolgend am Beispiel der Ereignisse auf „Hamburgs spektakulärster Baustelle“5, dem Bauprojekt Elbphilharmonie, demonstriert werden soll, vermag die Strafbestimmung ihr verhaltenssteuerndes Potential6 in der Rechtswirklichkeit bereits im Vorfeld einer bautechnisch riskanten, möglicherweise strafbaren Handlung wirksam zu entfalten. 2. Bauprojekt Elbphilharmonie: Streit um die Standsicherheit der Saaldachkonstruktion Die Elbphilharmonie ist ein seit dem Frühjahr 2007 im Bau befindliches Konzerthaus in der Hamburger Hafenstadt („HafenCity“), das auf einem ehemaligen Kakaospeicher (Kaiserspeicher A) inmitten des Hafens errichtet wird. Nach ihrer Fertigstellung soll sie Standort für einen Konzertbereich mit dem Großen Saal, Multifunktionsaal und Auditorium sein. Des Weiteren sollen ein Hotelkomplex mit Konferenzund Wellnessbereich, gastronomische Einrichtungen, Eigentumswohnungen sowie eine Garage mit Pkw-Stellplätzen in das Bauwerk integriert werden. Die ursprünglich für 2010 anvisierte Fertigstellung des Bauprojekts musste jedoch mehrfach verschoben werden. Bekanntlich hatte der Essener Baukonzern HOCHTIEF Solutions AG (HOCHTIEF) am 19. 10. 2011 die Arbeiten am Saaldach des Großen Saales eingestellt, da nach seiner Auffassung die Standsicherheit der Saaldachkonstruktion nicht ausreichend nachgewiesen war.7 Eine gewaltige Stahlkonstruktion, über die sich eine Betonschale wölbt, lagerte auf 21 sog. Auflagern. Im nächsten Schritt sollten sieben Auflager davon „lastfrei“ gesetzt werden, was bedeutet, dass die restlichen 14 Auflager die zusätzlichen Lasten übernehmen müssen. Doch HOCHTIEF weigerte sich, die planmäßig vorgesehene Absenkung der Auflager vorzunehmen, weil die Statiker des Konzerns nicht ausschließen konnten, dass es aufgrund der Lastenverteilung zu einzelnen Stabbrüchen kommen könnte. Die an der Verwirklichung des Bauvorhabens beteiligten Akteure, d. h. die Freie und Hansestadt Hamburg unter Federführung der Kulturbehörde als Bauherrin, die Bau GmbH & Co KG als Auftraggeberin, die städtische Projekt-Realisierungsgesellschaft ReGe als ausführendes Organ, der General- und Subplaner sowie die Bauaufsichtsbehörde (BSU) auf der einen Seite und das mit der Bauausführung beauftragte Bauunternehmen HOCHTIEF auf der anderen Seite – konnten in der Folgezeit keine Einigkeit darüber erzielen, ob die von HOCHTIEF vorgetragenen Sicherheitsbedenken gegen die Statik der Saaldachkonstruktion berechtigt waren. Bereits seit Ende 2009 hatte der Baukonzern der Bauherrin sicherheitsrelevante Bedenken gegen die Saaldachstatik angezeigt. 5 Vgl. hierzu „Elbphilharmonie: Warum Hamburgs spektakulärste Baustelle nahezu stillsteht“, in: Hamburger Abendblatt v. 4. 11. 2011. 6 Zur Funktion der Strafnorm als Instrument der Verhaltenssteuerung vgl. Freund; in: Münchner Kommentar zum StGB, 2. Aufl., 2011, Vor §§ 13 ff. Rn. 153 ff.; Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, 28. Aufl., 2010, Vor §§ 13 ff. Rn. 48 ff.; Roxin, Strafrecht AT, Band 1, 4. Aufl., 2006, § 10 Rn. 93. 7 Vgl. hierzu „Elbphilharmonie: Warum Hamburgs spektakulärste Baustelle nahezu stillsteht“, in: Hamburger Abendblatt v. 4. 11. 2011.
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Diese Bedenkenanzeigen wurden jedoch stets unter Hinweis darauf zurückgewiesen, dass die für die Bauplanung verantwortlichen General- und Subplaner, die Bauaufsichtsbehörde sowie der in ihrem Auftrag tätige Prüfingenieur das Saaldachtragwerk als standsicher einstufen.8 Die von HOCHTIEF beauftragten Gutachter, renommierte Experten ihrer Fachgebiete, gelangten demgegenüber nach eingehender Prüfung des genehmigten Bauplans zu dem Resultat, dass die Statik des Saaldachtragwerks nicht den allgemein anerkannten Regeln der Technik entsprechen würde. Insbesondere würden sich erhebliche Bauteilüberlastungen ergeben mit der Konsequenz, dass das bautechnisch geforderte Sicherheitsniveau nicht erreicht werde. Da HOCHTIEF keine vollständige Einsicht in die von der Bauherrenseite zur Entkräftung der Sicherheitsbedenken herangezogenen Unterlagen gewährt wurde, hielt der Baukonzern an seiner Einschätzung fest, dass die Aussagen und Erkenntnisse seiner Gutachter die maßgebliche statische Grundlage für die Errichtung des Saaldachwerks darstellen müsse.9 Immerhin muss das Saaldachtragwerk im Endzustand einer Belastung standhalten, die dem Gewicht von 14 voll beladenen Airbus A380 entspricht. Im Hinblick auf die Zurückweisung der Sicherheitsbedenken durch die Bauherrin und die Bauaufsichtsbehörde sah sich HOCHTIEF einem erheblichen öffentlichen Druck ausgesetzt, die Bauarbeiten am Saaldach unverzüglich wieder fortzusetzen.10 In dieser Situation kam nun erstmals das Strafrecht ins Spiel. In einer offiziellen Stellungnahme v. 23. 2. 2012 berief sich der Baukonzern auf ein für seine Mitarbeiter bestehendes Strafbarkeitsrisiko, wenn die Bautätigkeit am Saaldach trotz fortbestehender Bedenken gegen die Standsicherheit der Saaldachkonstruktion auf der Grundlage der bestehenden Planung fortgeführt würde.11 Eine Ertüchtigung der Konstruktion, wie HOCHTIEF sie vorschlage, sei zwingend erforderlich, um strafrechtliche Konsequenzen auszuschließen. Nachfolgend soll der Frage nachgegangen werden, ob sich der Baukonzern mit Recht auf ein bestehendes Strafbarkeitsrisiko berufen konnte, um die Fortführung der Bautätigkeit am Saaldach auf unveränderter Planungsgrundlage zu verweigern. Ein solches Strafbarkeitsrisiko könnte sich vor allem aus dem Tatbestand der Baugefährdung (§ 319 StGB) ergeben.
8
Vgl. hierzu „Kultursenatorin weist Sorgen um Elbphilharmonie-Dach zurück“, in: Hamburger Abendblatt v. 4. 11. 2011; „Elbphilharmonie: Bauaufsicht hält Statik für sicher“, in: WELT-Online v. 8. 2. 2012. 9 Vgl. hierzu „Elbphilharmonie: Stellungnahme zur Sicherheit des Saaldaches“, in: Pressemitteilung von HOCHTIEF v. 7. 2. 2012 (www.hochtief.de). 10 Vgl. hierzu „Wird an der Elphi jetzt endlich weitergebaut?“, in: Bild-Zeitung v. 24. 2. 2012; „Neue Hoffnung für Elbphilharmonie“, in: Hamburger Abendblatt v. 24. 2. 2012. 11 Vgl. hierzu „HOCHTIEF macht Lösungsvorschlag für Weiterbau des Saaldachs“, in: Pressemitteilung von HOCHTIEF v. 23. 2. 2012 (www.hochtief.de).
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II. Strafbarkeitsrisiko des Bauunternehmers nach § 319 StGB 1. Grundsätzliche Überlegungen § 319 StGB ist ein Sonderdelikt, das nur einen ganz bestimmten Kreis der am Bau beteiligten Personen als mögliche Täter einer Baugefährdung erfasst.12 Die Verantwortung für die Bauausführung trägt, sofern nicht der Bauherr sich selbst ausnahmsweise von vornherein die Bauaufsicht ganz oder zum Teil vorbehalten hat, allein der Bauunternehmer.13 Bei der gebotenen funktionalen Betrachtungsweise sind als „Bauleiter“ im Sinne dieser Strafbestimmung diejenigen Mitarbeiter eines Bauunternehmens zu qualifizieren, die über die Art und Weise der Bautätigkeit am Saaldach entscheiden und deren Weisungen in technischer Hinsicht für die Bauausführenden (z. B. Polier, Handwerker, Bauarbeiter) maßgebend sind.14 Eine bauleitende Funktion können auch mehrere Personen gleichzeitig innehaben.15 Als mögliche Täter einer Baugefährdung kommen somit im Fall des Bauprojekts Elbphilharmonie nebeneinander alle Personen in Betracht, die mit der Leitung der Bautätigkeit am Saaldach befasst sind. Zu nennen sind insbesondere die für die Realisierung des Bauvorhabens verantwortlichen Vorstandsmitglieder, Geschäftsführer und Projektleiter.16 Allen genannten Personen ist gemeinsam, dass ihnen § 319 StGB in ihrem jeweiligen Aufgaben- und Verantwortungsbereich die strikte Einhaltung der allgemeinen Regeln der Technik gebietet und damit eine besondere Sicherheitsverantwortung aufbürdet.17 Die Strafvorschrift verbietet dem Bauleiter die Ausführung eines fehlerhaften, d. h. nicht den allgemein anerkannten Regeln der Technik entsprechenden Bauplans, wenn hierdurch eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben herbeigeführt wird. Da sich ein sicherheitsrelevanter Planungsfehler in seiner eigenen Leistung fortsetzen würde, müsste er hierfür die strafrechtliche Verantwortung tragen.18
12 Esser, in: AnwK-StGB, 2011, § 319 Rn. 6 ff.; Esser/Keuten, NStZ 2011, 314 (315); Fischer, StGB, 60. Aufl., 2013, § 319 Rn. 2 ff.; Landau, wistra 1999, 47 f.; S/S-SternbergLieben/Hecker (Fn. 6), § 319 Rn. 8 ff. 13 BGHSt 19, 286 (288) = NJW 1964, 1283; OLG Karlsruhe NJW1977, 1930. 14 OLG Karlsruhe NJW 1977, 1930; AnwK-Esser (Fn. 12), § 319 Rn. 14; Fischer (Fn. 12), § 319 Rn. 5; Landau, wistra 1999, 47; S/S-Sternberg-Lieben/Hecker (Fn. 6), § 319 Rn. 9; Wolters/Horn, in: Systematischer Kommentar zum StGB, 8. Aufl. (Stand: März 2007), § 319 Rn. 5. 15 Wieck-Noodt, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2006, § 319 Rn. 12; Wolff, in: Leipziger Kommentar zum StGB, Bd. 11, 12. Aufl., 2008, § 319 Rn. 6. 16 AnwK-Esser (Fn. 12), § 319 Rn. 26; S/S-Sternberg-Lieben/Hecker (Fn. 6), § 319 Rn. 15; MüKoStGB-Wieck-Noodt (Fn. 15), § 319 Rn. 7. 17 BGHSt 19, 286 (288) = NJW 1964, 1283; OLG Karlsruhe NJW1977, 1930; Esser/ Keuten, NStZ 2011, 314 (316), Schünemann, ZfBR 1980, 113 (118); Stoll, in: BeckOK Strafrecht (Stand: 1. 12. 2012), § 319 Rn. 18. 18 Schünemann, ZfBR 1980, 113 (116).
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2. Sicherheitsverantwortung bei arbeitsteiligem Zusammenwirken Die Wahrnehmung der mit der Position als „Bauleiter“ verbundenen Pflichten darf auf Mitarbeiter delegiert werden, die dann in die Pflichtenstellung des primär Verantwortlichen eintreten und die damit verbundenen Aufgaben eigenverantwortlich wahrnehmen („vertikale Arbeitsteilung“).19 Durch eine solche Pflichtendelegation erfahren die Verkehrssicherungspflichten gewisse Modifikationen. Der ursprünglich primär Verantwortliche wird dadurch entlastet, dass er die Pflicht im gegenseitigen Einvernehmen auf einen anderen überträgt. Für denjenigen, der seine Pflichten delegiert, bleiben aber Auswahl-, Instruktions- und Überwachungspflichten bestehen.20 Wenn der Delegierende diesen sog. „sekundären“ Verkehrssicherungspflichten genügt, darf er grundsätzlich darauf vertrauen, dass die allgemein anerkannten Regeln der Technik eingehalten werden.21 Ergeben sich für ihn aber konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die allgemein anerkannten Regeln der Technik nicht bzw. nicht mehr eingehalten werden, so trifft ihn eine Pflicht zum Einschreiten (Interventionspflicht).22 3. Fortsetzung der Bautätigkeit am Saaldach trotz Sicherheitsbedenken a) Eintritt einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben Zu strafrechtlichen Ermittlungen gegen die als „Bauleiter“ verantwortlichen Mitarbeiter von HOCHTIEF wegen Verdachts der Baugefährdung würde es nur dann kommen, wenn infolge der weiteren Bauausführung am Saaldach tatsächlich eine ihnen zurechenbare konkrete Gefahr für Leib oder Leben von Menschen eintreten würde. Bei den hier in Rede stehenden Mängeln in der Baustatik (Planungsfehler) setzt die Zurechenbarkeit des Taterfolgs voraus, dass es zu einer Bautätigkeit gekommen ist, in deren Verlauf sich gerade dieser Fehler als spezifische Ursache für den Eintritt der konkreten Gefahrenlage erweist.23 Der tatbestandsspezifische Zurechnungszusammenhang ist also nicht gegeben, wenn die Gefahrenlage (zumindest nicht ausschließbar) auch bei pflichtgemäßer (regelkonformer) Planung eingetreten wäre.
19
AnwK-Esser (Fn. 12), § 319 Rn. 25; Esser/Keuten, NStZ 2011, 314 (321); LK-Wolff (Fn. 15), § 319 Rn. 6. 20 BGHSt 47, 318 (325) = NJW 2002, 2480 (2482) zu § 266 a StGB; OLG Karlsruhe NJW 1977, 1930 zu § 222 StGB; AnwK-Esser (Fn. 12), § 319 Rn. 25; LK-Wolff (Fn. 15), § 319 Rn. 8. 21 AnwK-Esser (Fn. 12), § 319 Rn. 25; Esser/Keuten, NStZ 2011, 314 (320). 22 AnwK-Esser (Fn. 12), § 319 Rn. 25; Duttge, HRRS 2009, 145 (147 f.); Renzikowski, StV 2009, 443 (446). 23 AnwK-Esser (Fn. 12), § 319 Rn. 44; Schünemann, ZfBR 1980, 159 (165); SK-Wolters/ Horn (Fn. 14), § 319 Rn. 12.
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Zu dem Kreis der von § 319 StGB geschützten Personen gehören alle Menschen, die den von dem tatgegenständlichen Bau ausgehenden Gefahren ausgesetzt sind, wie z. B. Bauarbeiter, Passanten, Bewohner, Nachbarn, Besucher, aber auch herbeieilende Rettungskräfte.24 Der Eintritt einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben markiert den deliktischen Vollendungszeitpunkt. Dieser ist gegeben, wenn die ernste und nahe liegende Besorgnis einer Verletzung dieser Rechtsgüter begründet ist.25 Der BGH hat den Rechtsbegriff der konkreten Gefahr, den es von der lediglich „abstrakten Gefahr“ abzugrenzen gilt, vor allem im Straßenverkehrsstrafrecht präzisiert.26 Nach seiner Auffassung entziehe sich zwar exakter wissenschaftlicher Beschreibung, wann eine solche Gefahr gegeben ist. Die Tathandlung müsse aber jedenfalls über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus im Hinblick auf einen bestimmten Vorgang in eine kritische Situation geführt haben. In dieser Situation müsse – was nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf Grund einer objektiven nachträglichen Prognose zu beurteilen ist – die Sicherheit einer Person so stark beeinträchtigt gewesen sein, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht. Überträgt man diese Judikatur auf § 319 StGB, so ist eine gegenwärtige konkrete Gefahr jedenfalls dann zu bejahen, wenn der gefahrbegründende Zustand bereits besteht und die Gefahr bei planmäßigem Fortgang der Ereignisse, insbesondere bestimmungsgemäßer Benutzung zum Tragen kommt. So z. B. im Falle der Erstellung eines einsturzgefährdeten Gebäudes mit dem Einzug der Bewohner. Nach einer in der baustrafrechtlichen Literatur vertretenen, wenngleich umstrittenen Rechtsauffassung ist von einer tatbestandsrelevanten Gefahr schon dann auszugehen, wenn sich ein sicherheitsrelevanter Planungsfehler erst bei fortschreitender Errichtung des Bauwerks auswirken würde.27 Dieser Ansicht kann jedoch nicht gefolgt werden, weil sie die Grenzen zwischen einer rein potentiellen (abstrakten) Gefahr und einer konkreten Gefahr verwischt. Eine gegenwärtige und konkrete Gefahrenlage im räumlichen Bereich des Saaldaches müsste aber nach allen Rechtsauffassungen jedenfalls dann angenommen werden, wenn nach der planmäßig vorgesehenen Absenkung der sieben Fachwerkbinder an neun Stäben normativ unzulässige Überlastungen auftreten würden, wie in dem Risikoszenario der von HOCHTIEF eingeschalteten Gutachter dargelegt wird. Erst Recht wäre von einer tatbestandsrelevanten Gefahr auszugehen, wenn sich das von den Gutachtern ebenfalls für möglich gehaltene Szenario eines Tragwerkversagens, des Einsturzes des Saaldaches, der Ablösung von Betonteilen bzw. befestigter Installationen oder zumindest der Bildung von Rissen in der Betonschale realisieren würde. Der Eintritt einer konkreten Gefahrenlage wäre im schlimmsten denkbaren Fall dadurch belegt, dass die auf einer feh24 AnwK-Esser (Fn. 12), § 319 Rn. 41; S/S-Sternberg-Lieben-Hecker (Fn. 6), § 319 Rn. 5; LK-Wolff (Fn. 15), § 319 Rn. 15. 25 Fischer (Fn. 12), § 319 Rn. 11; Landau, wistra 1999, 47 (48); LK-Wolff (Fn. 15), § 319 Rn. 14. 26 Vgl. hierzu und zum Nachfolgenden BGH NStZ-RR 2010, 120. 27 Landau, wistra 1999, 47 (49); a. A. AnwK-Esser (Fn. 12) § 319 Rn. 42; Schünemann, ZfBR 1980, 159 (164); MüKoStGB-Wieck-Noodt (Fn. 15), § 319 Rn. 27.
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lerhaften Statik beruhende Baumaßnahme zu einem Personenschaden führt. Dies würde freilich strafrechtliche Ermittlungen wegen Verdachts eines Fahrlässigkeitsdelikts (§§ 222, 229 StGB) auslösen. b) Sorgfaltspflicht bei der Ermittlung des gebotenen Sicherheitsstandards Im Rahmen eines nach Eintritt einer konkreten Gefahrsituation eingeleiteten Strafverfahrens würde sich für die Strafverfolgungsbehörden die zentrale Frage stellen, ob die für die Bauleistung am Saaldach verantwortlichen Bauleiter gegen die allgemein anerkannten Regeln der Technik28 verstoßen haben und – falls dies ggf. mit Hilfe eines Sachverständigen29 zu bejahen ist – ob ihnen dieser Verstoß vorgeworfen werden kann. Die Nichteinhaltung technischer Normen ist unschädlich, wenn andere technische Lösungen gewählt wurden, die eine gleiche Sicherheitseignung aufweisen. Das Risiko einer Fehleinschätzung kann dem für die Einhaltung der allgemein anerkannten Regeln der Technik verantwortlichen Bauleiter aber nicht abgenommen werden.30 Sollte der Tatrichter in einem gegen die Bauleiter von HOCHTIEF wegen des Vorwurfs der Baugefährdung geführten Strafprozess zu dem gleichen Ergebnis gelangen wie zuvor schon die eigenen Gutachter des Baukonzerns, nach deren fachlicher Überzeugung die Statik des Saaldachtragwerks nicht den allgemein anerkannten Regeln der Technik entspricht, so stünde fest, dass die Beschuldigten den objektiven Tatbestand des § 319 Abs. 1 StGB erfüllt haben. Sodann wäre zu klären, ob den verantwortlichen Personen unter den gegeben Umständen auch vorgeworfen werden kann, dass sie die Bauleistung am Saaldach auf der Grundlage einer statisch fehlerhaften Planungsgrundlage fortgeführt haben. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass § 319 StGB den mit der Bauleitung betrauten Personen eine besondere Sicherheitsverantwortung auferlegt. Die Bauleiter sind primär zur Einhaltung der allgemein anerkannten Regeln der Technik verpflichtet. Sie müssen daher bereits bei der Ermittlung der für die konkrete Bautätigkeit zu beachtenden Technikregeln mit der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt vorgehen. Der anzuwendende Sorgfaltsmaßstab bestimmt sich maßgeblich danach, was von einem besonnenen und gewissenhaften Menschen – aus ex ante Sicht – in der konkreten Situation und der sozialen Rolle des Täters erwartet wird.31 Dabei gilt der Grundsatz, dass die Sorgfaltsanforderungen umso höher sind, je größer bei erkennbarer Gefährlichkeit einer Handlung die Schadenswahrscheinlichkeit und Schadens28
Vgl. hierzu BVerfGE 49, 89 (135); BVerwG NVwZ-RR 1997, 214; S/S-Sternberg-Lieben-Hecker (Fn. 6), § 319 Rn. 5; Seibel, ZfBR 2008, 635 (636); LK-Wolff (Fn. 15), § 319 Rn. 12. 29 Zur Bedeutung des Sachverständigenbeweises im Baustrafrecht vgl. Landau, wistra 1999, 47 (51 f.). 30 Landau, wistra 1999, 47 (51). 31 BGH NJW 2000, 2754 (2758); BGH NStZ 2003, 657 (658); Fischer (Fn. 12), § 15 Rn. 16; Rengier, Strafrecht AT, 4. Aufl., 2012, § 52 Rn. 15; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 42. Aufl., 2012, Rn. 669.
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intensität sind.32 Verstößt der Täter gegen eine für seinen Verkehrskreis geltende Sondernorm – im Bauwesen sind dies vor allem die allgemein anerkannten Regeln der Technik oder Unfallverhütungsvorschriften – so führt dies in der Regel zur Annahme einer Sorgfaltspflichtverletzung.33 Angesichts des besonders hohen Gefahrenpotentials, das gerade dem Saaldachtragwerk anhaftet, dürften die anzulegenden Sorgfaltsanforderungen im konkreten Fall sehr hoch anzusetzen sein. Der Tatrichter müsste nach hier vertretener Auffassung die Fortsetzung der Bauleistung als pflichtwidrig bewerten, weil sich ein besonnen und gewissenhaft handelnder Bauleiter unter den gegebenen Umständen nicht über die von den eigenen Gutachtern getroffenen Feststellungen hinwegsetzen durfte. Dies zum einen deshalb, weil im Hinblick auf die besondere Fachkompetenz der zugezogenen Gutachter und der fachlichen Qualität ihrer substantiierten Darlegungen kein Anlass für berechtigte Zweifel an der Zuverlässigkeit ihrer Feststellungen bestand. Zum anderen deshalb, weil die von der Bauherren- bzw. Auftraggeberseite zur Entkräftung der Sicherheitsbedenken herangezogenen Unterlagen nicht an HOCHTIEF übergeben wurden und somit für das Bauunternehmen keine Gelegenheit bestand, die der Zurückweisung ihrer Bedenkenanzeigen zugrunde gelegten technischen Annahmen bzw. Zusammenhänge ggf. mit Hilfe ihrer Gutachter einer eigenen fachlichen Überprüfung zu unterziehen. Die verantwortlichen Mitarbeiter von HOCHTIEF konnten und durften somit nicht darauf vertrauen, dass die Statik der Bauvorlage und die hierauf beruhende Ausführungsplanung den bauaufsichtlich eingeführten Normen und den technischen Baubestimmungen entsprechen. c) Einwilligung und zivilrechtliche Haftungsfreistellung Weder das als Einwilligung zu wertende Verlangen des Bauherrn, die Bautätigkeit am Saaldach auf unveränderter Planungsgrundlage fortzusetzen, noch eine von dem Bauherren erklärte Freistellung des Baukonzerns von seiner zivilrechtlichen Haftung für etwaige Baumängel, die aus Fehlern der Baustatik resultieren, vermag den Bauleiter aus seiner strafrechtlichen Pflichtenstellung zu entlassen und ihm das damit verbundene Strafbarkeitsrisiko abzunehmen.34 Denn die strafrechtlichen Pflichten sind aufgrund ihrer öffentlich-rechtlichen Natur nicht durch privatrechtliche Vereinbarungen abdingbar.
32
BGHSt 53, 38 (42) = NJW 2009, 240 (241). OLG Karlsruhe NStZ-RR 2000, 141 (142); Esser/Keuten, NStZ 2011, 314 (318); Kudlich, Festschrift für Harro Otto, 2007, S. 373 (387); Landau, wistra 1999, 47 (49); S/SSternberg-Lieben (Fn. 6), § 15 Rn. 135. 34 BeckOK-StGB-Stoll (Fn. 17), § 319 Rn. 18; LK-Wolff (Fn. 15), § 319 Rn. 13. 33
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d) Zurückweisung der Sicherheitsbedenken durch die Bauaufsichtsbehörde Schließlich ist auch die Zurückweisung der von HOCHTIEF vorgetragenen Sicherheitsbedenken durch die Bauaufsichtsbehörde35 nicht geeignet, die verantwortlichen Bauleiter strafrechtlich zu entlasten. Insoweit ist auf den vom BGH im Bereich der strafrechtlichen Produkthaftung entwickelten und auf das Baustrafrecht übertragbaren Grundsatz hinzuweisen, wonach die Aufgabe, in wirksamer Weise dafür zu sorgen, dass die in den Handel gelangten gesundheitsgefährdende Erzeugnisse keinen Schaden anrichten, unabhängig davon, was die zuständigen Behörden für geboten erachten, den für Herstellung und Vertrieb dieser Produkte Verantwortlichen obliegt“36. Die Stellungnahme der Bauaufsichtsbehörde stellt somit keine „Unbedenklichkeitsbescheinigung“ dar, die den Bauleiter von seinem Strafbarkeitsrisiko befreit. 4. Fazit Falls infolge einer auf unveränderter Planungsgrundlage fortgeführten Bauleistung am Saaldach eine konkrete Gefährdungslage eintreten würde, böte dies Anlass für die Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gegen die als Bauleiter tätigen Mitarbeiter von HOCHTIEF wegen des Anfangsverdachts einer Baugefährdung. Wenn sich im weiteren Verlauf des Strafverfahrens ergäbe, dass bei der Fortführung der Bautätigkeit objektiv gegen die allgemein anerkannten Regeln der Technik verstoßen wurde, so wäre dies den für die Einhaltung dieser Regeln primär verantwortlichen Personen auch vorzuwerfen. Den Bauleitern wäre insoweit anzulasten, dass sie sich bewusst über die ihnen bekannten fachlichen Darlegungen der eigenen Gutachter hinweggesetzt und damit bedingt vorsätzlich gegen die allgemein anerkannten Regeln der Technik verstoßen haben. Im Hinblick auf die hierdurch verursachte Gefahr für Leib oder Leben anderer Menschen wäre ihnen ein Fahrlässigkeitsvorwurf zu machen (vgl. hierzu die Vorsatz-Fahrlässigkeitskombination des § 319 Abs. 1, 3 StGB). Die über die Zurechnungsnorm des § 14 StGB ebenfalls als taugliche Täter einzustufenden Leitungspersonen in Vorstand und Geschäftsführung von HOCHTIEF müssten sich vorhalten lassen, dass sie trotz der ihnen bekannten und vertrauenswürdigen Feststellungen ihrer eigenen Gutachter die Weisung zur Fortführung der Bautätigkeit erteilt haben bzw. gegen eine Fortführung nicht eingeschritten sind. Im Hinblick auf das – wie gezeigt – nicht unbeträchtliche Risiko, dass sich ihre als Bauleiter i. S. d. § 319 Abs. 1 StGB tätigen Mitarbeiter wegen Baugefährdung strafbar machen, wenn die Bauleistungen am Saaldach der Elbphilharmonie trotz erheblicher Sicherheitsbedenken auf unveränderter Planungsgrundlage fortgeführt wer35 Vgl. hierzu „Bauaufsicht: Dach der Elbphilharmonie ist sicher“, in: Hamburger Abendblatt v. 7. 2. 2012. 36 BGHSt 37, 106 (122) = NJW 1990, 2560 (2564); zust. Tiedemann, in: Festschrift für Hans-Joachim Hirsch, 1999, S. 765 (777); vgl. hierzu auch S/S-Sternberg-Lieben (Fn. 6), § 15 Rn. 135 a.
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den, ist die von HOCHTIEF am 19. 10. 2011 verfügte Einstellung der Bauarbeiten nicht nur berechtigt, sondern verdient als Ausdruck einer konsequenten Wahrnehmung der besonderen Sicherheitsverantwortung des Bauunternehmers großen Respekt. 5. Strafrechtliche Auswirkungen im Falle eines Ausscheidens von HOCHTIEF In öffentlichen Stellungnahmen der Bauherrenseite wurde schon mehrfach eine mögliche Trennung von dem Essener Baukonzern erwogen.37 Falls HOCHTIEF vor der Fertigstellung der Bauleistungen am Saaldach aus ihrer Stellung als Generalunternehmer ausscheiden würde, stellt sich zum einen die Frage, mit welchen Strafbarkeitsrisiken dies für die Mitarbeiter des nachfolgenden Bauunternehmens verbunden wäre und zum anderen, wie sich das Ausscheiden von HOCHTIEF auf die Strafbarkeit ihrer Mitarbeiter auswirken würde. Im Hinblick auf die besondere Sicherheitsverantwortung, die mit der Stellung als Bauleiter verbunden ist, wird man von einer nach dem Ausscheiden aus der Bauleiterfunktion fortwirkenden Gefahrenquellensicherungspflicht (Verkehrssicherungspflicht) von HOCHTIEF in Form einer Informations- und Abstimmungspflicht ausgehen müssen, um vermeidbare Risiken für Dritte auszuschalten.38 Demnach ist HOCHTIEF verpflichtet, den Verantwortungsübergang auf ihren Nachfolger so zu gestalten, dass dieser seiner Sicherheitsverantwortung als neuer Bauleiter vollumfänglich gerecht werden kann. Der Nachfolger muss insbesondere über besondere Gefahrenpotentiale des Saaldachbaues so umfassend unterrichtet werden, dass er in die Lage versetzt wird, die adäquaten bautechnischen Entscheidungen zu treffen. In diesem Zusammenhang müssen auch die aus Sicht von HOCHTIEF fortbestehenden Bedenken gegen die Statik des Saaldaches – etwa durch Vorlage der von HOCHTIEF veranlassten Gutachten – kommuniziert werden. Die als „Bauleiter“ i. S. d § 319 StGB tätigen Mitarbeiter des Nachfolgeunternehmens würden sich dann dem gleichen Strafbarkeitsrisiko ausgesetzt sehen wie die Mitarbeiter von HOCHTIEF (vgl. II. 4.). Sobald sie die Bautätigkeit am Saaldach auf unveränderter Planungsgrundlage fortsetzen, würden sie sich – wenn sich diese als statisch fehlerhaft erweist und deshalb eine konkrete Gefährdungslage oder gar ein Personenschaden eintritt – wegen vorsätzlicher Baugefährdung (§ 319 Abs. 1, 3 StGB) bzw. Fahrlässigkeitsdelikts (§§ 222, 229 StGB) strafbar machen. 37
Vgl. hierzu „Elbphilharmonie: Kündigt Scholz jetzt HOCHTIEF?“, in: Hamburger Abendblatt v. 9. 10. 2012; „Elbphilharmonie: Kisseler hält Kündigung mit HOCHTIEF für möglich“, in: Hamburger Abendblatt v. 2. 10. 2012. Im Dezember 2012 haben die Freie und Hansestadt Hamburg und HOCHTIEF indes einen Kompromissvorschlag für den Weiterbau der Elbphilharmonie erarbeitet; vgl. hierzu „Elbphilharmonie: Kompromissvorschlag für Weiterbau“, in: Pressemitteilung von HOCHTIEF v. 15. 12. 2012 (www.hochtief.de). 38 Insoweit sind die für die horizontale Arbeitsteilung geltenden Grundsätze entsprechend heranzuziehen; vgl. BGHSt 53, 38 (45) = NJW 2009, 240 (241); AnwK-Esser (Fn. 12), § 319 Rn. 25.
Die Sicherheitsverantwortung des Bauunternehmers (§ 319 StGB)
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Die Mitarbeiter von HOCHTIEF sind nach gehöriger Erfüllung der Informationspflicht gegenüber dem nunmehr eigenverantwortlich handelnden Nachfolgeunternehmer von ihrem Strafbarkeitsrisiko befreit. Taterfolge i. S. d. §§ 319, 222, 229 StGB (konkrete Gefährdung bzw. Tod oder Verletzung einer Person), die von dem Nachfolgeunternehmer im Zuge des Saaldachbaues verursacht werden, könnten ihnen nicht als „ihr Werk“ zugerechnet werden.39
III. Abschließende Bemerkung Der vorliegende Beitrag, den ich meinem hochverehrten Kollegen Jürgen Wolter mit herzlichen Glück- und Wohlergehenswünschen widme, mag gezeigt haben, dass die Strafvorschrift des § 319 StGB die ihr vom Gesetzgeber zugedachte Schutzfunktion bereits weit im Vorfeld eines bautechnisch riskanten Verhaltens wirksam zu entfalten vermag. Wie die Vorgänge im Fall des Hamburger Bauprojekts Elbphilharmonie deutlich machen, kann sich ein Bauunternehmer auf die ihm von der Strafvorschrift auferlegte primäre Sicherheitsverantwortung berufen, um bis zur Ausräumung seiner Sicherheitsbedenken eine Unterbrechung der Bautätigkeit auch gegenüber einem Bauherrn zu rechtfertigen, der die geltend gemachten Bedenken nicht teilt.
39 Zur Abgrenzung nach Verantwortungsbereichen vgl. OLG Rostock NStZ 2001, 199 (200); Wessels/Beulke, AT (Fn. 31), Rn. 192; Rengier, AT (Fn. 31), § 13 Rn. 87 ff.
Der Gegenstandsbereich des Medienstrafrechts Von Manfred Heinrich Das Medienstrafrecht ist ein noch junges Gebiet strafrechtlicher Befassung. Nicht zuletzt aufgrund der rasanten Entwicklung der Computertechnik, der „Neuen Medien“ und insbesondere des Internets, in deutlicher Abgrenzung jedoch zu Kategorienbildungen wie dem Computerstrafrecht, dem Internetstrafrecht, dem Multimediastrafrecht oder auch dem sog. Informations- und Kommunikationsstrafrecht,1 hat es mittlerweile Einzug gehalten nicht nur in das Bewusstsein entsprechend interessierter Spezialisten, sondern auch in die Hörsäle deutscher Universitäten, an denen immer häufiger Vorlesungen und Seminare zum Medienstrafrecht angeboten werden.2 Auch der Lehrbuchmarkt hat inzwischen reagiert, stehen doch die ersten Lehrbücher zum Medienstrafrecht schon in den Regalen.3 Dem noch unlängst vorherrschenden Verdikt: „Ein Medienstrafrecht als eigenständigen Rechtsbereich gibt es nicht“.4 Paroli bietend ist es mithin nicht mehr nur auf dem besten Wege dahin, endgültig als eigenständige Teildisziplin der Strafrechtswissenschaft Anerkennung zu finden, sondern mittlerweile wohl bereits an diesem Ziel angelangt. Bemerkenswert ist jedoch, dass der Begriff des „Medienstrafrechts“ bislang noch vergleichsweise unscharf geblieben ist, dass dort, wo er verwendet wird, sein Inhalt nur in eher verschwommener Weise zu Tage tritt. Die doch höchst naheliegende Frage nach Inhalt und Reichweite des von ihm umgrenzten Befassungsbereichs wird zumeist weder in grundsätzlicher Weise gestellt,5 noch gar mit hinreichender Bestimmtheit beantwortet.6 Bei Verwendung dieses Begriffes wird vielmehr meist mehr oder minder stillschweigend von einem als vorgegeben erachteten Inhaltsverständnis ausgegangen, ohne dieses aber explizit darzulegen oder gar theoretisch zu 1
Ausführlich zu dieser Abgrenzung M. Heinrich, Medienstrafrecht, 2013, Rn. 46 ff. Ich selbst halte bereits seit dem Wintersemester 2002/2003 regelmäßig Lehrveranstaltungen zum Medienstrafrecht. 3 Mitsch, Medienstrafrecht, 2012, und M. Heinrich, Medienstrafrecht, 2013; vgl. aber auch Eisele, Computer- und Medienstrafrecht, 2013, sowie die ausführliche lehrbuchartige Darstellung des Medienstrafrechts von B. Heinrich, in: Wandtke (Hrsg.), Medienrecht. Praxishandbuch, 2. Aufl. 2011, Bd. 5, Kapitel 5. 4 So noch immer Fechner, Medienrecht, 13. Aufl. 2012, Rn. 6/92. 5 Das gilt auch im Hinblick auf das Lehrbuch von Mitsch (Fn. 3), in dem sich lediglich im Vorwort einige wenige Worte finden zu dem „Bereich ,Medien‘, wie er hier verstanden wird“. 6 Ansätze hierzu jedoch bei B. Heinrich (Fn. 3), Rn. 1 ff.; ausführlich hingegen M. Heinrich (Fn. 1), § 1. 2
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hinterfragen. Diese schon im Ausgangspunkt zu konstatierende Unschärfe spiegelt sich nicht zuletzt auch in dem Umstand wider, dass die bislang erschienenen Darstellungen zum Medienstrafrecht sich nicht nur in Struktur und Aufbau, sondern auch im Hinblick auf die Auswahl der zu behandelnden Inhalte sehr deutlich voneinander unterscheiden.7
I. Die grundsätzliche Ausrichtung des Medienstrafrechts Mit was also beschäftigt sich das Medienstrafrecht nun eigentlich? Gewiss, mit „den Medien“. Doch hier beginnt bereits die Unsicherheit: Denn eine Legaldefinition des Begriffs „Medien“ gibt es ebenso wenig, wie eine klar umrissene rechtssprachliche Begriffsbestimmung von „Medienstrafrecht“. Man wird also nicht umhin kommen, sich mit der Frage nach der grundsätzlichen Ausrichtung des Medienstrafrechts ein wenig näher zu beschäftigen – und sich dabei daran zu erinnern, dass ebenso, wie etwa das Urheberstrafrecht nur eine Unterkategorie des Urheberrechts und das Medizinstrafrecht nur einen Ausschnitt aus dem Medizinrecht darstellt, auch das Medienstrafrecht letztlich nichts anderes ist, als nur ein Teilbereich des im Wesentlichen durch zivil- und öffentlichrechtliche Inhalte geprägten,8 weit umfassenderen Medienrechts. 1. Das Medienstrafrecht als Teil des Medienrechts So wenig eine recht schlagwortartige Formel wie: „Das Medienstrafrecht ist jener Teil des Strafrechts, der sich mit den Medien befasst“, auch nur halbwegs klar zu umreißen vermag, um die Befassung mit welchen Ausschnitten aus der Rechtswirklichkeit es ihm geht, so wenig erscheint es sinnvoll, diese Frage allein aus sich selbst heraus beantworten zu wollen. Erst wenn man weiß, womit sich das Medienrecht in seiner Gesamtheit beschäftigt, werden sich auch vernünftige, Homogenität innerhalb der verschiedenen medienrechtlichen Teilgebiete gewährleistende Aussagen darüber treffen lassen, um welche Materie genau es dem Medienstrafrecht zu tun ist. Damit also aufs Neue, wenn auch in entsprechend angepasster Form: Mit welcher Materie beschäftigt sich das Medienrecht? Nun, die Antwort fällt zunächst nicht wesentlich anders aus, als gerade zuvor bei der nämlichen Frage zum Medienstrafrecht: Eine Legaldefinition von „Medien“ gibt es nicht, und erstaunlicherweise hilft – obwohl doch der Begriff des „Medienrechts“ bereits seit Mitte der 1980er Jahre in Ge-
7
Vgl. Mitsch (Fn. 3) und Eisele (Fn. 3) einerseits sowie B. Heinrich (Fn. 3) und M. Heinrich (Fn. 1) andererseits. 8 Man denke nur an das Recht der Medienregulierung, insb. des Medienzugangs und der Medienaufsicht, an das Medienwettbewerbsrecht, das Medienkartellrecht oder auch an weite Teile des Medienurheberrechts; s. a. die Inhaltsverzeichnisse von Paschke, Medienrecht, 3. Aufl. 2009, S. XII ff., und Petersen, Medienrecht, 5. Aufl. 2010, S. VIII ff.
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brauch ist9 und sich mittlerweile „auf breiter Front durchgesetzt“ hat10 – auch ein Blick in die inzwischen durchaus zahlreichen Lehrbücher des Medienrechts11 zumeist nicht viel weiter, wird vielmehr in ihnen der Begriff der „Medien“, wie er den dort jeweils nachfolgenden Betrachtungen dann zugrunde gelegt werden soll, nur selten auch nur einigermaßen deutlich dargetan. Das überrascht nicht nur, sondern macht auch ein wenig ratlos. 2. Das Medienrecht als das Recht medialer Kommunikation Bei genauerem Hinsehen zeigt sich freilich, dass die medienrechtlich engagierten Autoren natürlich nicht bloß „ins Blaue hinein“ schreiben, sondern doch ein recht genaues Bild davon im Kopfe tragen, um welche Materie es geht, mit der sie sich so ausgiebig beschäftigen. Schon ein Blick in die Inhaltsverzeichnisse der betreffenden Lehrbücher, aber mehr noch, auf die entsprechenden Erörterungen, erweist, dass es ihnen allen gleichermaßen letztlich um eines geht: um das Recht medial vermittelter Kommunikation. Beispielhaft hierfür mag Fechner stehen, einer der wenigen, die sich sogar explizit um eine begriffliche Klärung bemühen. Auch er muss zwar einleitend zugestehen:12 „Umfang und Inhalt des Medienrechts können nicht mit Eindeutigkeit juristisch umschrieben werden“, nähert sich dann aber davon unbeeindruckt dem Begriffe im Wege einer sprachlichen Herleitung: „In einem allgemeinen Sinn sind Medien zunächst einmal Vermittler. Sie vermitteln zwischen Menschen Informationen, Nachrichten oder Meinungen“13, und schließt ganz richtig: „Im Vordergrund des Begriffs der Medien steht heute die Vermittlung von geistigen, optischen und akustischen Inhalten.“ Diesem aus dem medienrechtlichen Schrifttum unschwer herauszulesenden Befund entsprechend wird man sich also – um es in klare Worte zu fassen – darauf einigen können, dass beim Begriff des „Mediums“ (als Singular von „Medien“) von einem Verständnis als einem Hilfsmittel zur Kommunikation zwischen den Menschen14 ausgegangen werden kann – und das Medienrecht mithin als das Recht 9 Paschke (Fn. 8), Rn. 2; Beater, Medienrecht, 2007, Rn. 2; vgl. auch Castendyk, in: Wandtke (Fn. 3), Bd. 1, Rn. 2/1. 10 Castendyk, in: Wandtke (Fn. 3), Bd. 1, Rn. 2/1 mit Einzelheiten zur Entwicklung des Medienrechts. 11 Vgl. die Lehrbücher zum Medienrecht von Beater (2007), Branahl (6. Aufl. 2009), Dörr/ Schwartmann (3. Aufl. 2010), Fechner (13. Aufl. 2012), Paschke (3. Aufl. 2009) und Petersen (5. Aufl. 2010) sowie Wandtke (Hrsg.), Medienrecht. Praxishandbuch, 2. Aufl. 2011 (in fünf Bänden). 12 Fechner (Fn. 11), Rn. 1/1. 13 Hier und nachfolgend Fechner (Fn. 11), Rn. 1/2. 14 So eine der im Duden verzeichneten – und damit immerhin den möglichen umgangssprachlichen Wortsinn belegenden – sehr unterschiedlichen Bedeutungsvarianten; vgl. hierzu M. Heinrich (Fn. 1), Rn. 9.
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der medial vermittelten Kommunikation anzusprechen ist bzw. kürzer: als das Recht medialer Kommunikation.15 3. Das Medienrecht als das Recht der Massenkommunikation Auch im Angesicht dieser begrifflichen Festlegung des Medienrechts auf das Recht medialer Kommunikation findet man sich jedoch mit dem Problem konfrontiert, dass es auf der Grundlage dieses Verständnisses zwei Arten von Medien gibt. Um nochmals mit Fechner zu sprechen16 : „Die Medien werden herkömmlicherweise unterteilt in die Massenmedien und die Medien, die der Individualkommunikation dienen. Beides sind Formen der Kommunikation zwischen Menschen über eine räumliche Distanz. Während sich die Individualkommunikation zwischen zwei oder mehreren bestimmten Personen abspielt, richten sich die Massenkommunikationsmittel an die Allgemeinheit“. a) Auf die daraus resultierende Frage, ob es dem Medien- und damit auch dem Medienstrafrecht nun um die Massenmedien (wie etwa Presse, Rundfunk, Fernsehen) oder um die der Individualkommunikation dienenden Medien (wie etwa Telefon und Fax) zu tun ist bzw. ob es ihnen nur um die Massenmedien oder aber um beide Formen medial vermittelter Kommunikation geht, werden durchaus unterschiedliche Antworten gegeben: Während sich die einen ausdrücklich zu einer Beschränkung des Medienrechts auf das Recht der Massenmedien bekennen,17 wollen andere die Fragen der Individualkommunikation ohne Weiteres in ihre Betrachtungen mit einbeziehen18 – insoweit mag man hier von einem Medienrecht im weiteren Sinne (i. w. S.) bzw. dort von einem Medienrecht im engeren Sinne (i. e. S.) sprechen.19 b) Nun wird man angesichts des Fehlens gesetzlicher Fixierungen20 oder zumindest eines der Sachfrage voraufgehenden weichenstellenden Grundkonsenses keine der beiden Sichtweisen von vornherein als „richtig“ oder „falsch“ einstufen kön15
Insoweit anders jedoch Mitsch (Fn. 3), Vorwort; näher hierzu unter 4. a). Fechner (Fn. 11), Rn. 1/3 (Hervorhebungen nicht im Original). 17 So in erster Linie Paschke (Fn. 11), Rn. 7, sowie Beater (Fn. 11), Rn. 8 (Medienrecht als „Sonderunternehmensrecht der Massenmedien“; ebenso schon ders., JZ 2005, 822); aber auch Branahl befasst sich in seinem Lehrbuch zum Medienrecht (Fn. 11) – ohne freilich auch nur ansatzweise über die Gründe dafür zu reflektieren – ausschließlich mit dem Recht der Massenmedien. 18 Fechner (Fn. 11), Rn. 1/3; vgl. auch Petersen (Fn. 11), der die Frage, „welche Medien es genau sind, von denen das Medienrecht handelt“, mit dem Hinweis u. a. auch auf die Telekommunikation beantwortet (a.a.O., Rn. 1/18) – welche laut Fechner (Fn. 11), Rn. 1/7 als solche gerade die über Distanz erfolgende Individualkommunikation bezeichnet –, und das Telekommunikationsgesetz sogar als „wohl wichtigste Kodifikation des öffentlichen Medienrechts“ herausstellt (Petersen, a.a.O., Rn. 14/1). 19 M. Heinrich (Fn. 1), Rn. 17. 20 Daran hat auch das Inkrafttreten des Telemediengesetzes v. 26. 2. 2007, BGBl. I, S. 179, nichts geändert. 16
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nen,21 so dass man nicht umhin kommt, zum Zwecke originärer sachlicher Abwägung die für und wider sprechenden Argumente Revue passieren zu lassen: So spricht für ein Medienrecht i. w. S. zunächst, dass sämtliche Medien auf ein und dasselbe Ziel hin ausgerichtet sind, eben auf die Kommunikation zwischen den Menschen, während für ein Medienrecht i. e. S. ins Feld zu führen ist, dass „der Massenkommunikation in Abgrenzung zur Individualkommunikation eine Sonderstellung im Prozess der Informations- und Meinungsbildungsfreiheit zukommt“22. Dagegen kann man einwenden, dass jedenfalls die Unterscheidbarkeit zwischen massenmedialen Erscheinungsformen und solchen der Individualkommunikation vor allem aufgrund der beständig fortschreitenden Konvergenz der Kommunikationstechnik – gerade in dem ständig an Bedeutung gewinnenden Bereich der Telemedien und insbesondere im Hinblick auf die Kommunikationsplattform „Internet“ – immer schwieriger wird.23 Dem wiederum ist zu entgegnen, dass dessen ungeachtet die gesetzgeberische Aufgabe weiterbesteht, „eine medienrechtliche Rahmenordnung für die Verwirklichung der verfassungsrechtlich verbürgten Informationsfreiheit zu schaffen und dabei der Sonderstellung der Massenkommunikation im Kommunikationsgeschehen Rechnung zu tragen“24, so dass „die Unterscheidung der Massen- von der Individualkommunikation […] trotz aller Schwierigkeiten bei der Abgrenzung […] nicht obsolet geworden“ ist; und auch wenn im Zuge der immer schneller fortschreitenden Entwicklung der Kommunikationstechnik tatsächlich in immer stärkerem Maße „die Grenzen zwischen Massenkommunikation und Individualkommunikation verschwimmen“25 : Solange diese beiden Kategorien zumindest idealtypisch unterscheidbar sind, besteht kein Hindernis, sie auch im Hinblick auf ihre normative Betrachtung voneinander zu trennen und unterschiedlich zu behandeln. Im Ergebnis sprechen nach meinem Dafürhalten denn auch die besseren Argumente für eine gezielte, herausgehobene Beschäftigung gerade mit dem Recht der Massenmedien und damit für ein Verständnis von Medienrecht als einem Medienrecht i. e. S.: Nicht nur sind es doch gerade die „Eigenarten der Massenkommunikation“, die „in historischer Perspektive die Ursache und den Anlass […] bildeten […] für die Schaffung medienrechtlicher Regelungen, die für die Individualkommunikation nicht bestehen“26, und nicht nur ist daran zu erinnern, dass der seit ca. Mitte der 1980er Jahre gebräuchlich gewordene Begriff des Medienrechts bezeichnenderweise „zunächst insbesondere als Oberbegriff für das Presserecht und das Rundfunk- und 21
In diesem Sinne auch Paschke (Fn. 11), Rn. 3. Paschke (Fn. 11), Rn. 7 (Hervorhebung nicht im Original). 23 Zur Konvergenzproblematik Petersen (Fn. 11), Rn. 1/24 ff., sowie ausführlich auch Paschke (Fn. 11), Rn. 18 ff., 36 ff., der dabei (Rn. 20) selbst einräumen muss, „dass sich die Massenkommunikation graduell individualisiert und die Individualkommunikation graduell entindividualisiert“. 24 Hier und nachfolgend Paschke (Fn. 11), Rn. 44. 25 Dörr/Schwartmann (Fn. 11), Rn. 1; ebenso dies., Rn. 253: „nicht mehr eindeutig unterscheidbar“. 26 Paschke (Fn. 11), Rn. 27. 22
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Filmrecht verstanden“ wurde27; nicht nur auch sind im Alltagssprachgebrauch i. d. R. dann, wenn von „den Medien“ die Rede ist, nicht etwa Telefon und Fax, sondern gerade die Massenmedien gemeint, und nicht nur heißt es schließlich auch in § 1 Abs. 1 des österreichischen Mediengesetzes28: „Im Sinn der Bestimmungen dieses Bundesgesetzes ist […] 1. ,Medium‘: jedes Mittel zur Verbreitung von Mitteilungen oder Darbietungen mit gedanklichem Inhalt in Wort, Schrift, Ton oder Bild an einen größeren Personenkreis im Wege der Massenherstellung oder der Massenverbreitung“. Noch weit entscheidender vielmehr schlägt darüber hinaus die besondere Stellung zu Buche, welche den Massenmedien gerade in unserem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat zukommt29: In unserer auf freie Meinungsbildung und damit auf die ihr unverzichtbar zugrundeliegende Gewährleistung freier Information und Kommunikation essentiell angewiesenen demokratischen Gesellschaft ist den Massenmedien eine überragende Bedeutung für das Funktionieren und die Aufrechterhaltung unseres rechtsstaatlichen Systems zu eigen und erfüllen sie insofern eine gar nicht zu überschätzende „öffentliche Aufgabe“30. Aufgrund eben dieser „empirisch unabweisbaren und dementsprechend auch verfassungsrechtlich verbürgten Sonderstellung der Massenmedien im Kommunikationsprozess“31 besteht nun aber unausweichlich auch „ein spezifischer Bedarf für eine rechtliche Ordnung [gerade] des Massenkommunikationswesens“32. c) So richtig – und in abstracto wichtig – es mithin erscheint, unter „Medienrecht“ schon von vornherein nur das Recht der Massenmedien zu verstehen, so wenig unterscheiden sich doch letztlich die Vertreter der beiden widerstreitenden Positionen im Hinblick auf ihre konkrete Beschäftigung mit dem Medienrecht. Denn über eines ist man sich über die Grenzen des Meinungsstreits hinweg jedenfalls einig: Der Bereich der Massenkommunikation und damit der Massenmedien, stellt jedenfalls den Kernbereich des Medienrechts dar. Dies konzediert etwa Fechner, obgleich erklärter Vertreter eines Medienrechts i. w. S., ganz unumwunden33 und verwendet demgemäß in seinem Lehrbuch den Medienbegriff nahezu ausschließlich nur i. S. von „Massenmedien“34; und Petersen, ebenfalls ein vehementer Verfechter eines Medienrechts 27
Paschke (Fn. 11), Rn. 2. Bundesgesetz vom 12. 6. 1981 über die Presse und andere Publizistische Medien (Mediengesetz), BGBl. Nr. 314/1981 i. d. F. BGBl. I Nr. 49/2005, 151/2005, 112/2007, 8/2009. 29 Näher insoweit speziell zur Presse BVerfGE 20, 162 (174 f.); 50, 234 (239 f.); 52, 283 (296); 66, 116 (133) sowie zum Rundfunk BVerfGE 57, 295 (319); 59, 231 (257); 74, 297 (323); 77, 65 (74); 90, 60 (87). Vgl. auch M. Heinrich (Fn. 1), § 3 C. 30 Vgl. dazu nur etwa BVerfGE 12, 205 (260); 20, 162 (175). 31 Paschke (Fn. 11), Rn. 30 (Wortstellung im vorhergehenden Zitat verändert). 32 Paschke (Fn. 11), Rn. 31 (Klammereinfügung von mir). 33 Fechner (Fn. 11), Rn. 1/3. 34 Allein sie sind gemeint, wenn er dartut: „In der Massendemokratie sind die Medien der entscheidende Faktor für die politische Willensbildung der Bevölkerung“, Fechner (Fn. 11), Rn. 1/21, oder Rn. 1/35: „Die wichtigste Funktion der Medien ist aus verfassungsrechtlicher Sicht die Stärkung der Demokratie“. 28
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i. w. S., kommentiert die in BVerfGE 27, 71 (83) verwendeten Worte „Zeitungen und andere Massenkommunikationsmittel“ mit: „Damit wird nachgerade ein Synonym für den Begriff der Medien formuliert“35. So bedeutet es am Ende denn auch kaum mehr als einen terminologischen Unterschied, ob man geneigt ist, das Recht der medial vermittelten Individualkommunikation als dem Bereich eines „Medienrechts i. w. S.“ unterfallend zu begreifen, oder ob man ihm einen im eigentlichen Sinne medienrechtlichen Charakter abzusprechen gedenkt und das Recht der Individualkommunikation vielmehr nur als Bestandteil eines von vornherein entsprechend weit ausgreifenden „Kommunikationsrechts“36 ansehen möchte (was mir vorzugswürdig erscheint). Ohne sich also letztlich in unfruchtbaren terminologischen und ordnungssystematischen Feinsinnigkeiten verlieren zu wollen, entscheidend im Hinblick auf das Selbstverständnis des Medienrechts und damit auch des Medienstrafrechts ist der Sache nach im Grunde nur eines: im Zuge einer gerade die Massenmedien in den Blick nehmenden Herangehensweise an den Gesamtbereich der Medien der besonderen Bedeutung eben dieses ebenso eigenständigen wie dominierenden Bereichs medialer Kommunikation Rechnung zu tragen. Der entscheidende Vorteil des gezielten, herausgehobenen Betrachtens eines dergestalt an den Massenmedien orientierten Medienrechts liegt darin, auf diese Weise etwaige allgemeine Gültigkeit beanspruchende Rechtsgrundsätze und Strukturprinzipien gerade des Rechts der Massenkommunikation37 besser aufspüren und zur Anwendung bringen zu können und damit insbesondere der den Kommunikationsgrundrechten des Art. 5 GG gerade im Bereich der Massenkommunikation zukommenden Bedeutung unter Ausschluss etwaiger aufgrund individualkommunikativer Einschläge zu befürchten stehender Verzerrungen hinreichend Rechnung zu tragen. 4. Das Medienstrafrecht als Strafrecht massenmedialer Kommunikation Zurück nunmehr zum Medienstrafrecht: Betrachtet man es als Teilgebiet eines zivil-, öffentlich- und strafrechtliche Aspekte gleichermaßen in sich tragenden Medienrechts in seiner Gesamtheit, wird man nicht umhin kommen, dessen Verständnis von „Medien“ beizubehalten bzw. zu übernehmen und damit den grundsätzlichen Gegenstandsbereich des Medienstrafrechts entsprechend demjenigen des Medienrechts zu begreifen. Nur auf diese Weise ist es möglich, das Medienstrafrecht als das zu würdigen und zu behandeln, was es seiner Natur nach nun einmal ist: ein
35
Petersen (Fn. 11), Rn. 2/4. In diesem Sinne wohl auch die Bezeichnung „Kommunikationsrecht“ im Titel des Buches von Hoeren, Internet- und Kommunikationsrecht, 2008 (obwohl im Buch dann nicht näher erläutert). 37 Näher zu diesen unter III. 2. 36
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Teil eben jenes umfassenderen Medienrechts mit all den daraus resultierenden Gemeinsamkeiten. a) Will man es nicht von vornherein mittels originär – also unabhängig von dem im Medienrecht gepflogenen Verständnis – vorgenommener Grundjustierung aus dem Gleichlauf mit den sonstigen Bereichen des Medienrechts herausnehmen und damit in homogenitätsaufkündigender Weise letztlich aus diesem geradezu herausbrechen, ist es notwendig, dem Medienrecht zumindest in seinem Grundverständnis von „Medien“ als Hilfsmitteln zwischenmenschlicher Kommunikation (vgl. oben 2.) zu folgen. Schon aus diesem Grunde erscheint es problematisch, vom Verständnis des „Mediums“ als Kommunikationsmittel abzurücken und es mit Mitsch38 stattdessen – da es ja „in der Mitte“ stehe „zwischen einem Wahrnehmungssubjekt und einem Wahrnehmungsgegenstand“ – als „Mittel zur Ermöglichung von Wahrnehmungen“ zu begreifen. Ohne hier die Richtigkeit des Satzes: „Mit Medien kann der Mensch Wahrnehmungen machen, die er ohne Medien nicht machen könnte“39, in Abrede stellen zu wollen und auch ganz abgesehen von der Frage, ob es denn wirklich sachgerecht wäre, etwa eine Brille, eine Lupe oder ein Fernglas – zweifellos ja Mittel zur Erweiterung der Möglichkeiten menschlicher Wahrnehmung40 – spezifisch medienstrafrechtlicher Betrachtung und Beurteilung zu unterwerfen,41 eines jedenfalls ist festzuhalten: Im Ein- bzw. Gleichklang mit der allseits akzeptierten und gelebten Grundausrichtung in dem auch die strafrechtlichen Inhalte umspannenden Medienrecht steht der Wahrnehmungs-Ansatz nicht,42 und zu welchen womöglich in-sich-widersprüchlichen Konsequenzen eine solche vom Medienbegriff des Medienrechts gelöste Grunddisposition im Hinblick auf die gebietsübergreifende Homogenität in der Beurteilung medien(straf)rechtlicher Problemkonstellationen am Ende führen mag, ist nur schwer absehbar. b) Darüber hinaus aber empfiehlt es sich aus der nämlichen Idee Gleichlauf gewährender Grundübereinstimmung heraus, den Fokus der Betrachtung auch im Bereich des Medienstrafrechts auf die medial vermittelte Massenkommunikation zu legen (vgl. oben 3.).
38
Mitsch (Fn. 3), Vorwort. Mitsch (Fn. 3), Vorwort. 40 … und somit für Mitsch (Fn. 3), Vorwort, wohl ein „Medium“, vgl. nur aaO.: „Durch den Einsatz von Medien kann die Reichweite von Wahrnehmungen erheblich gesteigert werden“. 41 So offenbar Mitsch (Fn. 3), Vorwort, meint er doch, es umfasse „der Bereich ,Medien‘ – wie er hier verstanden wird – […] Sachen, Personen und Einrichtungen, die etwas damit zu tun haben, dass die Wahrnehmungsmöglichkeiten der Menschen erweitert werden sollen“, und fügt hinzu, deswegen „gehöre“ unter anderem auch ein Fotoapparat „hierhin“, d. h. zum Bereich der Medien. 42 … was Mitsch (Fn. 3) auch gar nicht thematisiert; überhaupt äußert er sich nicht zum Verhältnis des Medienstrafrechts zum Medienrecht und ebenso wenig zum Begriffsverständnis von „Medien“ im Medienrecht. 39
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Zu dem hinlänglich und auch hier soeben wieder vorgetragenen Homogenitätsgedanken kommt dabei noch ein zweiter Aspekt hinzu: Selbst wenn man einem Medienrecht i. w. S. (unter Einbeziehung also des Rechtes der Individualkommunikation) aufgeschlossen gegenüber stünde, ist doch unschwer auszumachen, dass die der Individualkommunikation dienenden „Medien“ aus dem Blickwinkel des Strafrechts heraus schon von vornherein in noch weit geringerem Umfang einer spezifisch medienrechtlich orientierten Betrachtung unterfallen würden, als dies aus der Sicht des Zivilrechts oder des Öffentlichen Rechts der Fall ist. Zum einen nämlich sind im Bereich des Rechts der Individualkommunikation die entsprechenden zivil- oder öffentlichrechtlichen Regelungen nur in vergleichsweise geringem Maße auch strafrechtlich abgesichert. So findet sich etwa in dem im Bereich der Individualkommunikation zentralen Telekommunikationsgesetz (TKG)43 zwar in § 149 ein aus über fünfzig Einzelnummern bestehender Katalog von Bußgeldvorschriften, beschränken sich demgegenüber die in § 148 Abs. 1 TKG kodifizierten Strafvorschriften jedoch auf gerade einmal zwei (!) Nummern. Zum anderen – und sachlich wichtiger – spielt hier aber auch noch der weitere Umstand eine maßgebliche Rolle, dass ein rechtliches Problem bzw. „ein Fall“ ja noch nicht alleine dadurch, dass im Rahmen des tatsächlichen Geschehens in irgendeiner Weise ein „Medium“ involviert ist, zu einem medienrechtlichen Problem bzw. zu einem medienrechtlichen Fall wird; man denke etwa daran, dass jemand einen anderen mittels einer zur Waffe umfunktionierten Computertastatur bewusstlos schlägt. Denn will man das Medienrecht nicht in sachwidriger Weise ausufern lassen, wird man es so zu verstehen haben, dass „diejenigen Sachverhalte als medienrechtlich irrelevant ausgeschlossen werden, in denen Medien mitwirken, ohne normativ im Mittelpunkt zu stehen“44 ; Medienrecht ist „so gesehen also die Gesamtheit aller Rechtsfragen und Probleme, die aus dem jeweiligen Medium als solchem resultieren“45, was bedeutet, „dass nicht die Verwendung eines Mediums den Fall eo ipso zu einem medienrechtlichen machen“ kann. Der Umstand also, dass in obigem Beispiel die Körperverletzung mittels einer Computertastatur und nicht unter Verwendung einfach eines Knüppels vonstattengeht, macht mangels jedweder medienspezifischer Besonderheit aus der Körperverletzung ersichtlich kein medien(straf)rechtliches Geschehen.46 So gibt es zahlreiche strafbare Verhaltensweisen, die zwar durchaus unter Einbeziehung eines Mediums i. w. S. stattfinden. Während aber bei Aufscheinen eines Massenmediums – soweit es denn in seiner Funktion als Kommunikationsmittel in-
43
Telekommunikationsgesetz vom 22. 6. 2004 (BGBl. I S. 1190) i. d. F. v. 1. 1. 2012. Petersen (Fn. 11), Rn. 1/2; auch für Castendyk, in: Wandtke (Fn. 11), Bd. 1, Rn. 2/7 „verbirgt sich nicht in jeder medialen Verkleidung ein medienrechtliches Rechtsproblem“. 45 Hier und nachfolgend Petersen (Fn. 11), Rn. 1/2 (Hervorhebungen nicht im Original). 46 So (zu ähnlichen Beispielsfällen) bereits B. Heinrich (Fn. 3), Rn. 2. 44
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volviert ist47 – das Geschehen gerade aufgrund dieses massenmedialen Einschlags ein eigenständiges „medien(straf)rechtliches“ Gepräge bekommt, vermag das Hineinspielen eines der Individualkommunikation dienenden Mediums dies für gewöhnlich nicht zu bewirken. Man nehme nur das Beispiel einer Beleidigung: Sie ist schon ohne Verwendung eines sie vermittelnden „Mediums“ strafbar gem. § 185 StGB. Wird nun die Beleidigung über den Rundfunk oder in einer Tageszeitung verbreitet, bekommt das Geschehen einen spezifisch medienrechtlichen Anstrich (Stichworte: Pressefreiheit, Informationsbedürfnis der Bevölkerung). Ganz anders aber verhält es sich, wenn die Beleidigung im Rahmen eines Telefonates erfolgt: Trotz Benutzung eines „Mediums“ (der Individualkommunikation) besteht kein qualitativer – d. h. einen medien(straf)rechtlichen Einschlag generierender – Unterschied zwischen einer von Angesicht zu Angesicht und einer am Telefon geäußerten Beleidigung. 5. Zwischenergebnis An dieser Stelle ist somit dreierlei festzuhalten: Erstens sollte sich das Medienstrafrecht im Hinblick auf die Bestimmung seines Gegenstandsbereichs von vornherein an der Grundpositionierung des alle drei juristische Fachsäulen überwölbenden Medienrechts orientieren, insbesondere an dessen Verständnis von „Medien“ (oben 1.). Zweitens sollte demgemäß das „Medium“ als Hilfsmittel zwischenmenschlicher Kommunikation und das Medienrecht damit als das Recht medialer Kommunikation begriffen werden (oben 2.). Drittens ist der Fokus des Medienrechts auf den Bereich der Massenmedien zu legen (oben 3.), mithin das Medienstrafrecht als das Strafrecht massenmedialer Kommunikation zum Ansatz zu bringen (oben 4.).
II. Die einzelnen Medienbereiche Befasst sich das Medienstrafrecht also mit den strafrechtlichen Implikationen massenmedialer Kommunikation, schließt sich die Frage an, um welche Medienbereiche es dabei im Einzelnen geht. Vor dem Beginn unseres heutigen „Internetzeitalters“ war die Welt der Massenmedien über viele Jahrzehnte hinweg durch eine Dreiteilung in die Bereiche Presse, Rundfunk (unter Einschluss auch des Fernsehens) und Film gekennzeichnet – was sich übrigens auch in Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG widerspiegelt, wenn es dort heißt: „Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet“. Insofern spricht man von den „Klassischen Medien“. Nun befindet sich allerdings die Medienwelt seit geraumer Zeit im Wandel und
47 … was natürlich nicht der Fall ist, wenn etwa jemand mit Hilfe einer brennenden Zeitung ein Gebäude in Brand setzt oder – Beispiel von B. Heinrich (Fn. 3), Rn. 2 – einem anderen ein Buch entwendet.
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sind in den letzten ca. drei Jahrzehnten zu den klassischen noch die sog. „Neuen Medien“ hinzugekommen. 1. Die Klassischen Medien Gemessen etwa am Alter unseres StGB, das in seiner heutigen Form immerhin bereits auf das Jahr 1871 zurückgeht, sind auch die Klassischen Medien zum Teil noch vergleichsweise jung. Weiter zurück in die Vergangenheit als bis zum Erlass des RStGB greift allein die Geschichte des Pressewesens48 : Die ersten regelmäßig erscheinenden Zeitungen sind schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts (zunächst in Form aus Anlass großer Handelsmessen ausgegebener Blätter) zu verzeichnen; die erste Tageszeitung erschien 1650 in Leipzig.49 Die Geburtsstunde des Films lässt sich auf das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts datieren: Am 28. Dezember 1895 zeigten die Gebrüder Lumière im Salon des Grand Café in Paris zum ersten Mal gegen Eintrittsgeld einen Film. Der Beginn des Rundfunks ist demgegenüber erst in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts angesiedelt,50 wobei sich regelmäßige Unterhaltungs- und Nachrichtensendungen in Deutschland bereits ab dem 29. Oktober 1923 finden;51 am 1. Dezember 1923 gab es dann immerhin schon 467 registrierte Rundfunkhörer, am 1. April 1926 gar bereits über 1,2 Millionen – neben einer vermutlich hohen Anzahl von Schwarzhörern. Das sich an die Seite des Hörfunks gesellende Fernsehen als jüngste Form der Klassischen Medien erlebte sein erstes, durchaus heftiges Aufflammen mit ersten Sendungen 1935 und der umfangreichen Übertragung der Olympischen Spiele 1936 bereits im Deutschland des Nationalsozialismus, wurde dann aber aufgrund kriegsbedingter Einstellung der Fernsehsendungen im Deutschen Reich im Winter 1944 in einen mehrere Jahre andauernden Dornröschenschlaf versetzt, aus dem es erst mit Wiederaufnahme des Fernsehbetriebs am 25. Dezember 1952 wieder erwachte. a) Die Presse – die sog. Printmedien Die Presse ist nicht nur das älteste der Massenmedien, sondern hat ihre traditionell herausragende Bedeutung auch in der heutigen Medienlandschaft weitestgehend zu behalten vermocht,52 was ungeachtet aller technischer Entwicklung nicht zuletzt auch auf der einfachen Tatsache beruhen dürfte, dass es bei allen Vorzügen der Di-
48
pitel. 49
Ausführlich zu ihr Ricker/Weberling, Handbuch des Presserechts, 6. Aufl. 2012, 4. Ka-
Die vorstehenden Angaben finden sich bei Fechner (Fn. 11), Rn. 8/6. Zur Geschichte von Rundfunk und Rundfunkrecht Beater (Fn. 11), Rn. 201 ff.; Herrmann/Lausen, Rundfunkrecht, 2. Aufl. 2004, § 4; Hesse, Rundfunkrecht, 3. Aufl. 2003, 1. Kapitel. 51 Diese und die nachstehenden Zahlenangaben stammen aus Hesse (Fn. 50), Rn. 1/2, 1/6. 52 So auch Kloepfer, Informationsrecht, 2002, Rn. 15/1. 50
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gitalisierung immer noch als angenehm empfunden wird, als analoges Wesen auch analog zu lesen. Zentralbegriff der im Bereich des Presserechts einschlägigen53 – und durchaus auch im Einzelnen voneinander abweichenden – landesrechtlichen Regelungen ist der des „Druckwerks“.54 Dazu zählen in erster Linie alle im Wege der Massenvervielfältigung hergestellten und zur Verbreitung bestimmten55 Druckerzeugnisse im eigentlichen Sinne, wie vor allem die (allgemein informierenden) Zeitungen und die (sich mit bestimmten mehr oder weniger fest umrissenen Themenkreisen beschäftigenden) Zeitschriften, einschließlich der, inzwischen weit verbreiteten, kostenlos zugestellten Anzeigeblätter,56 aber ebenso alle anderen drucktechnisch hergestellten Kommunikationsträger, wie vor allem Bücher oder auch Broschüren, Plakate, Postwurfsendungen, Flugblätter und Handzettel. Darüber hinaus wird der schon damit weit gespannte Bereich relevanter „Druckwerke“ im Rahmen der Pressegesetze der Länder noch in erheblicher Weise erweitert (mit freilich hier nun deutlichen Abweichungen von Land zu Land) jedenfalls auf „besprochene Tonträger“57 (als da sind: Schallplatten, Audiokassetten, Musik-CDs usw.), aber gelegentlich auch auf „Bildträger“58 (Videokassetten, Video-DVDs, BlueRay-Discs etc.). Bei alledem ist stets zu unterscheiden zwischen dem (engeren) Pressebegriff der Landespressegesetzgebung und einem darüber hinausgehenden (weiteren) verfassungsrechtlichen Pressebegriff, dem es vor allem darum zu tun ist, den Bereich zu umreißen, in welchem die in Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG verbürgte Pressefreiheit Bedeutung erlangt.59 Denn dass es nicht möglich sein kann, mittels einfachgesetzlicher landesrechtlicher Presseregelungen Einfluss auf den Anwendungsbereich des höherrangigen Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG zu nehmen und den damit vorgezeichneten verfassungsrechtlichen Schutz der Presse einzugrenzen, versteht sich von selbst. b) Rundfunk und Fernsehen Wenn im Gesetz von „Rundfunk“ die Rede ist – wie etwa in Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG – sind damit stets der Hörfunk und das Fernsehen gemeint.60 53
Näher zur Zuständigkeit des Landesgesetzgebers M. Heinrich (Fn. 1), Rn. 107 ff. Ausführlich zu Begriff und Umgrenzung Ricker/Weberling (Fn. 48), Rn. 1/7, 12/3 ff. 55 Vgl. nur etwa § 6 Abs. 1 LPrG-SH oder Art. 6 Abs. 1 BayPrG. 56 Zur Abgrenzung von „Zeitung“, „Zeitschrift“ und „Anzeigenblatt“ Ricker/Weberling (Fn. 48), Rn. 1/16 f. 57 Vgl. nur § 6 Abs. 1 LPrG-SH; ebenso – außer dem BayPrG – auch alle anderen Ländergesetze. 58 Vgl. nur etwa § 6 Abs. 1 LPrG-SH sowie § 6 Abs. 1 Thür-LPrG (hier: „besprochene Bild-/Tonträger“). 59 Zum Nebeneinander und zur unterschiedlichen Reichweite dieser Begriffe Beater (Fn. 11), Rn. 61. 60 So auch Beater (Fn. 11), Rn. 200 und Dörr/Schwartmann (Fn. 11), Rn. 138. 54
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Am Ende einer ersten Blüte in der Weimarer Zeit wurde der deutsche Rundfunk noch im Jahre 1932 verstaatlicht und auf dieser Grundlage in den Folgejahren – auch unter Einbeziehung des Fernsehens – zu einem herausragenden Propagandainstrument der NS-Diktatur ausgebaut.61 Gerade angesichts des damit durchlittenen staatlichen Missbrauchs war ein zentrales Anliegen bei der nach dem Krieg erforderlichen Neugestaltung des Rundfunkwesens seine Staatsfreiheit. So kam es in den Jahren 1948/49 in den westlichen Besatzungszonen zur Gründung der ersten aus der staatlichen Exekutive ausgegliederten, unter Selbstverwaltung stehenden öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten.62 Die Folgejahre waren dann auch zunächst dem Bemühen um eine sachgerechte, zukunftsorientierte Ausgestaltung dieses öffentlich-rechtlichen Rundfunkwesens gewidmet.63 Nach dessen weitestgehender Konsolidierung und wesentlich forciert durch die technische Weiterentwicklung im Bereich des Rundfunkwesens waren die 1980er Jahre dann nachhaltig geprägt durch den teils mit großer Erbitterung geführten Streit um die Errichtung auch eines privaten Rundfunks in Deutschland64 – mit dem Ergebnis unseres heutigen durch ein Miteinander von öffentlich-rechtlichem und privatem Rundfunk gekennzeichneten dualen Rundfunksystems. Wie technikorientiert und -abhängig dabei der Rundfunk ist, erweist nicht zuletzt seine nunmehr in der derzeit gültigen Fassung des Rundfunkstaatsvertrags v. 1. 12. 1987 gegebene Legaldefinition (§ 2 Abs. 1 S. 1, 2 RStV): „Rundfunk ist ein linearer Informations- und Kommunikationsdienst; er ist die für die Allgemeinheit und zum zeitgleichen Empfang bestimmte Veranstaltung und Verbreitung von Angeboten in Bewegtbild oder Ton entlang eines Sendeplans unter Benutzung elektromagnetischer Schwingungen. Der Begriff schließt Angebote ein, die verschlüsselt verbreitet werden oder gegen besonderes Entgelt empfangbar sind.“ c) Der Film Demgegenüber gibt es für den Film (wie schon für den Pressebegriff) keine Legaldefinition,65 jedoch ist insoweit – obgleich der abstrakte Begriff „Film“ bisweilen auch i. S. von: „das Filmwesen“ oder: „das Filmschaffen“ verstanden wird – beim Begriff des „Filmwerks“ anzusetzen.66 61 Ausführlich hierzu Beater (Fn. 11), Rn. 202 f., 204 ff.; Herrmann/Lausen (Fn. 50), Rn. 4/3 ff., 14 ff., sowie Hesse (Fn. 50), Rn. 1/2 ff., 19 ff. 62 Näher zu dieser Entwicklung Herrmann/Lausen (Fn. 50), Rn. 4/27 ff.; Hesse (Fn. 50), Rn. 1/24 ff. – Zur anders gelagerten Situation in der DDR vgl. Herrmann/Lausen (Fn. 50), Rn. 4/46, 70; Hesse (Fn. 50), Rn. 1/100 ff. 63 Ausführlich hierzu M. Heinrich (Fn. 1), Rn. 115 ff. m.w.N. 64 Ausführlich hierzu Hesse (Fn. 50), Rn. 1/61 ff.; Herrmann/Lausen (Fn. 50), Rn. 4/88, 95 ff. sowie M. Heinrich (Fn. 1), Rn. 123 ff. m.w.N. 65 So ganz richtig Paschke (Fn. 11), Rn. 67. 66 Näher M. Heinrich (Fn. 1), Rn. 133 ff.
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Darunter wird man nach heutigem Verständnis schlicht „jede Bildfolge oder Bild-/ Tonfolge, die durch Aneinanderreihung von Einzelbildern den Eindruck eines bewegten Bildes vermitteln“67, zu verstehen haben – ohne dass es dabei ankäme68 auf die jeweiligen technischen Modalitäten bei Aufnahme, Perpetuierung oder Wiedergabe (analog oder digital, herkömmlicher chemisch-optischer Bildträger oder elektro-magnetischer Datenträger) oder darauf, ob die betreffenden Bewegtbilder in concreto in der Öffentlichkeit (Kino) oder im Privaten (Heimvideo) zur Aufführung gelangen, ja noch nicht einmal darauf, ob sie denn von vornherein (zumindest auch) zur öffentlichen Aufführung bestimmt sind oder nicht.69
2. Die sog. Neuen Medien – die Telemedien In den letzten ca. drei Jahrzehnten haben sich neben den klassischen auch die sog. Neuen Medien etabliert – und mittlerweile derart an Bedeutung gewonnen, dass es nicht übertrieben erscheint, von einer „Ära der Neuen Medien“ bzw. (insofern gleichbedeutend) vom „Multimedia-Zeitalter“ zu sprechen. Tatsächlich entspringt es keiner überzogenen Phantasie, wenn man mit dem Siegeszug der Neuen Medien eine geradezu revolutionäre – und bei Weitem noch nicht abgeschlossene – Umgestaltung des Medienwesens einhergehen sieht. Dabei hat alles ganz klein angefangen, fand der Begriff „Neue Medien“ sich zunächst noch in etwa bedeutungsgleich mit der seit Anfang der 1970er Jahre gebräuchlichen Bezeichnung „Neue elektronische Kommunikationstechniken“ und stand anfänglich im Zusammenhang vor allem mit der Entwicklung der Kabeltechnologie.70 Mehr und mehr jedoch löste er sich aus dem rein am raschen Fortschreiten der technischen Innovation bei der Signalübertragung orientierten Verständniszusammenhang (Breitbandkabel, Satellitentechnik, digitale Übertragungssysteme etc.) und wurde zunehmend zur eher inhaltsorientierten Bezeichnung neuartiger Kommunikationsangebote. Ging es dabei zuerst im Wesentlichen um Fernseh-, Bildschirm- und Kabeltext,71 rückte alsbald die Entwicklung immer neuer höchst unterschiedlicher Dienste in den Mittelpunkt des Interesses. Der Sache nach geht es bei den „Neuen Medien“ – gleichgesetzt oftmals mit dem Begriff „Multimedia“72 – um die Vermengung der verschiedenen kommunikativen Ausdrucksmöglichkeiten auf ein- und derselben Kommunikationsplattform. Charakteristisch ist insofern die Verwendung von Computertechnik auf Grundlage der dabei 67 So zu Recht ganz apodiktisch Czernik, in: Wandtke (Fn. 11), Bd. 2, Rn. 2/5 („Als Film gilt …“). 68 Näher hierzu M. Heinrich (Fn. 1), Rn. 136 ff. m.w.N. 69 Hierauf abstellend aber Dörr/Schwartmann (Fn. 11), Rn. 245 m.w.N. 70 Zu dieser Entwicklung im Überblick Stammler, in: Schiwy/Schütz, Medienrecht, 3. Aufl. 1994, unter: „Neue elektronische Kommunikationstechniken“, S. 275 ff. 71 Näher hierzu Stammler, in: Schiwy/Schütz (Fn. 70), S. 279. 72 Vgl. Fechner (Fn. 11), Rn. 1/11, 1/16, 1/19, 12/1; Hilgendorf, ZStW 113 (2001), 650.
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bestehenden Möglichkeit der Digitalisierung von Daten und Informationen jeglicher Art sowie die (realiter oder zumindest als Option gegebene) Anbindung an bzw. Einbindung in Datennetze unterschiedlichen Zuschnitts,73 insbesondere das Internet, aber auch die sog. Intranets von Wirtschaftsunternehmen oder Universitäten. Wichtig für das Verständnis der „Neuen Medien“ und den rechtlichen Umgang mit ihnen ist, dass mit der Bezeichnung „Neue Medien“ nicht etwa eine enumerativ benennbare Mehrzahl einzelner Kommunikationsmodelle gemeint ist (wie bei den „Klassischen Medien“ die Trinität von Presse, Rundfunk und Film), sondern gewissermaßen nur – was im Begriff „Multimedia“ weit besser zum Ausdruck gelangt – der Umstand, dass unter Aufhebung der trennscharfen Abgrenzungen zwischen den überlieferten Formen medial vermittelter Kommunikation eine eben dadurch gekennzeichnete neue Medienkategorie entstanden ist. Der Plural im Begriff der „Neuen Medien“ steht mithin letztlich für nichts anderes als die zur medialen Realität gewordene Vorstellung einer Vielfalt in sich selbst. Der Begriff „Neue Medien“ ist mittlerweile vom Gesetzgeber durch den Begriff der „Telemedien“ wenn auch nicht ersetzt, so doch als zu untechnisch zur Seite geschoben worden, wobei sich deren gesetzliche Regelung in dem vom Bundesgesetzgeber erlassenen, am 1. März 2007 in Kraft getretenen Telemediengesetz (TMG)74 befindet. Gem. § 1 Abs. 1 S. 1 TMG sind Telemedien „alle elektronischen Informations- und Kommunikationsdienste, soweit sie nicht Telekommunikationsdienste nach § 3 Nr. 24 des Telekommunikationsgesetzes, die ganz in der Übertragung von Signalen über Telekommunikationsnetze bestehen, telekommunikationsgestützte Dienste nach § 3 Nr. 25 des Telekommunikationsgesetzes oder Rundfunk nach § 2 des Rundfunkstaatsvertrages sind“.75 3. Schwierigkeiten bei der Abgrenzung Die soeben zitierte gesetzliche Begriffsbestimmung für „Telemedien“ zeigt sehr deutlich, wie schwierig es mittlerweile geworden ist, die einzelnen Medienbereiche auch nur halbwegs trennscharf voneinander abzugrenzen. Insofern ist es nicht falsch, von einer ständig zunehmenden „Konvergenz der Medien“76 i. S. einer „Vermischung der hergebrachten Kommunikationsstrukturen“77 nicht nur hinsichtlich einer Annäherung zwischen Massen- und Individualkommunikation zu sprechen (vgl. schon
73
Vgl. zu den genannten Charakteristika auch Hilgendorf, ZStW 113 (2001), 650. Telemediengesetz v. 26. 2. 2007, BGBl. I, S. 179; vgl. Fechner (Fn. 11), Rn. 12/22 ff. 75 Hervorhebungen von mir. 76 Petersen (Fn. 11), Überschrift vor Rn. 1/24. Vertiefend Gounalakis, Konvergenz der Medien, 2002 (Gutachten C zum 64. Deutschen Juristentag, Berlin 2002). 77 Paschke (Fn. 11), Rn. 42; zu Recht konstatiert Beater (Fn. 11), Rn. 51, dass „sich die ursprünglich klaren Unterschiede zwischen den einzelnen Medien in Teilbereichen immer stärker auflösen“. 74
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oben I. 3. b]), sondern gerade auch im Hinblick auf eine entsprechende Entwicklung innerhalb der Massenmedien. a) Nicht unproblematisch erscheint es bereits, dass zwischen Film und Rundfunk, ja sogar – da nach den presserechtlichen Vorschriften einiger Bundesländer auch „Bildträger“ wie Videokassetten, Video-DVDs etc. dem Begriff des „Druckwerks“ unterfallen (oben 1. a]) – zwischen Film und Presse Überschneidungen bestehen, je nachdem, ob eine Vorführung im Kino (nur Film), eine Ausstrahlung im Fernsehen (auch Rundfunk) oder nur ein DVD-gestützter privater Video-Abend (ggf. auch Presse) zur Debatte steht. Dabei geht es auch nicht nur um die Frage richtiger Schubladisierung, sondern vor allem um die aus der Zuordnungsfrage resultierenden Beurteilungsschwierigkeiten grundsätzlicher Art, wie etwa: „Ein Kinofilm, wenn er im Fernsehen gezeigt wird, unterfällt der Rundfunkfreiheit und nicht der Filmfreiheit, denn er richtet sich nun an eine räumlich nicht begrenzte Allgemeinheit“.78 Angesichts dessen ist es nur sachgerecht, wenn man im Bereich des Filmrechts in entsprechend kategorisierender Weise unterscheidet79 in „die für öffentliche Filmveranstaltungen bestimmten Filme (Kinofilm = Filmrecht im engeren Sinne), die für Bild- und Tonträger vorgesehenen Filme (Videofilme bzw. -kassetten = Videorecht), die für Fernsehsendungen gedachten Filme (Fernsehfilme = Fernsehrecht)“. b) Auch das Verhältnis der sog. „elektronischen Presse“ zur „Presse“ ist nicht einfach zu bestimmen. Gewiss geht es bei ihr nicht um „Druckwerke“ im Sinne der Pressegesetze (oben 2. a]), fehlt es ihr doch schon per se an der dafür erforderlichen Körperlichkeit. Jedoch ist der Pressebegriff ja nirgendwo legaldefiniert, so dass es (unbeschadet einer dies ablehnenden Auffassung in der Literatur80) nicht von vornherein ausgeschlossen erscheint, der „Presse“ über die in den Pressegesetzen erwähnten Druckwerke hinaus auch unkörperliche Erscheinungsformen zuzuordnen. Legt man den Schwerpunkt der Betrachtung weniger auf die Unterschiedlichkeit der Kommunikationstechniken, als auf die Vergleichbarkeit der Kommunikationsinhalte,81 dann spricht durchaus einiges für einen entsprechend erweiterten Pressebegriff – hat die elektronische Presse doch, „vielfach ähnliche Funktionen wie die verkörperte Presse und zahlreiche Gemeinsamkeiten“82, ist insbesondere „der elektronischen Presse […] kraft redaktioneller Bearbeitung eine hohe publizistische Relevanz zu eigen“83.
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Fechner (Fn. 11), Rn. 11/6. Vgl. v. Hartlieb, in: Schiwy/Schütz (Fn. 70), S. 122. 80 So etwa noch Fechner, Medienrecht, 8. Aufl. 2007, Rn. 686; anders jetzt Fechner (Fn. 11), Rn. 8/5. Näher zu dem Streit Ricker/Weberling (Fn. 48), Rn. 1/5a, 12/6a m.w.N. 81 In diesem Sinne schon Gädeke, in: Schiwy/Schütz (Fn. 70), „Pressefreiheit“, S. 321. 82 So ganz richtig bereits Fechner, Medienrecht, 8. Aufl. 2007, Rn. 686. 83 Kloepfer (Fn. 52), Rn. 13/18. 79
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c) Erhebliche Schwierigkeiten bereitet die Unterscheidung von Telemedien und Rundfunk.84 Vergleicht man die für sie jeweils gegebenen Legaldefinitionen in § 1 Abs. 1 S. 1 TMG (und entsprechend in § 2 Abs. 1 S. 3 RStV) einerseits (für die Telemedien, vgl. oben 2. a.E.) und in § 2 Abs. 1 S. 1, 2 RStVandererseits (für den Rundfunk, vgl. oben 1. b]), ist unschwer zu erkennen, dass sich der Gesetzgeber darum bemüht hat, eine halbwegs klare Abgrenzung zwischen diesen – schon allein mit Blick auf die ihnen zugrunde liegende Übermittlungstechnik – einander durchaus ähnlichen Kommunikationsformen vorzunehmen. In ihren Kernbereichen ist dies denn auch gut möglich. So sind „Hörfunk- und Fernsehprogramme hergebrachter Art, die eine Mehrzahl von Programmelementen zu einem einheitlichen Angebot zusammenfassen, […] Rundfunk im Sinne des RStV“85, während demgegenüber „Online-Angebote von Waren- und Dienstleistungen mit unmittelbarer Bestellmöglichkeit […] typische Telemediendienste im Sinne des TMG“ darstellen. In Randbereichen jedoch offenbaren sich – insbesondere im Hinblick auf das den Begriff des Rundfunks konstituierende, im Bereich der Telemedien aber irrelevante Merkmal „für die Allgemeinheit“ (vgl. § 2 Abs. 1 S. 1, 3 RStV) – schwer zu erfassende Übergangsbereiche zwischen Rundfunk und Telemedien86: Wo etwa ist das Video-on-demand zu verorten? Wo das Web-casting? Wo das Live-streaming? Und wie sind die immer bedeutsamer werdenden user-generatedcontents (Stichworte: Wikipedia, YouTube, facebook, myspace, Twitter) einzuordnen? Dabei ist die Unterscheidung zwischen Telemedien und Rundfunk alles andere als ein für die Praxis letztlich belangloses Glasperlenspiel. Nicht nur ist sie schon insofern von Bedeutung, als nur die Veranstaltung von Rundfunk gem. §§ 20 ff. RStV der Zulassung bedarf, während Telemedien gem. §§ 4 TMG, 54 Abs. 1 S. 1 RStV zulassungs- und anmeldefrei sind. Gerade auch aus der Perspektive des Strafrechts heraus spielt die Zuordnung eine erhebliche Rolle, weil nur die Telemedien, nicht aber der Rundfunk, den in §§ 7 ff. TMG normierten besonderen Verantwortlichkeitsregeln unterfallen. d) Wie sich aus dem oben (unter 2.) zitierten § 1 Abs. 1 S. 1 TMG ergibt, sind überdies sowohl die Telemedien wie auch der Rundfunk noch von Telekommunikationsdiensten und telekommunikationsgestützten Diensten abzugrenzen. So sicher auch hier nun „die herkömmliche Sprachtelefonie über Fest- oder Mobilfunknetze“ als Telekommunikation i. S. des TKG zu begreifen ist,87 so schwierig ist es wiederum außerhalb des damit umrissenen Kernbereichs des Telekommunika84 Ausf. hierzu Hartmann, in: Wandtke (Fn. 11), Bd. 5, Rn. 1/53 ff. (mit Prüfungsschema in Rn. 1/63); Ory, in: Wandtke (Fn. 11), Bd. 4, Rn. 1/61 ff. – Zur Problematik neuer Rundfunkübertragungswege (IP-TV über das Telefonnetz, Web-TV, Handy-TV) Fechner (Fn. 11), Rn. 10/212 ff.; zum Webradio Ory, a.a.O., Rn. 77 ff. 85 Hier und nachfolgend Paschke (Fn. 11), Rn. 91. 86 Näher zu den nachfolgenden Kategorien Paschke (Fn. 11), Rn. 102 ff., 105, 106, 108. 87 So zweifellos richtig Paschke (Fn. 11), Rn. 91.
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tionsrechts auch in dessen Randbereichen zu einer trennscharfen Zuordnung zu gelangen. Beispielsweise „versteht sich nicht von selbst, ob die Internet-Telefonie […] als herkömmliche Sprachtelefonie zu behandeln oder als voice over IP-Dienst als Telemediendienst einzuordnen ist“88, und insbesondere die Kommunikationsplattform Mobiltelefon in Gestalt des längst allgegenwärtigen „Smartphone“ bietet eine Fülle von Möglichkeiten, die weit über das herkömmliche Telefonieren hinausgehen und deren Einordnung im Rahmen der Medientrias Telekommunikation, Rundfunk und Telemedien nur je für sich zu beantworten ist.89
III. Die materiellen Inhalte des Medienstrafrechts Befasst sich das Medienstrafrecht mithin mit den strafrechtlichen Implikationen massenmedialer Kommunikation (oben I.) mit Blick sowohl auf die Klassischen wie auch die Neuen Medien, mit Blick also auf Presse, Rundfunk, Film und Telemedien (oben II.), bleibt nun noch darzutun, mit welchen materiellen Inhalten es sich in diesem Rahmen auseinanderzusetzen hat. 1. Medienstrafrecht als medienspezifisches Strafrecht Dazu ist zunächst zu klären, wann einem strafrechtlich relevanten tatsächlichen Geschehen der Charakter eines medienstrafrechtlichen Geschehens zuzuerkennen ist. Als erstes ist hierzu erforderlich, dass es überhaupt über eine wie auch immer geartete Medienberührung verfügt – das bedarf wohl keiner näheren Erläuterung. Dies allein kann freilich noch nicht genügen. Denn wenn jemand einen anderen mittels einer zur Waffe umfunktionierten Computertastatur bzw. einem Buch bewusstlos schlägt90 oder ein Gebäude mit Hilfe einer brennenden Zeitung in Brand steckt, vermag hier die Verwendung eines „Mediengegenstandes“ aus der betreffenden Straftat (Körperverletzung bzw. Brandstiftung) noch keine medienstrafrechtliche Tat zu machen. Hinzukommen muss vielmehr, dass der Aspekt der Medienberührung im Rahmen der strafrechtlichen Beurteilung des Geschehens auch von eigenständiger Bedeutung ist (vgl. schon oben I. 4. b]). Daran fehlt es in den genannten Beispielen schon deswegen, weil in ihnen das involvierte Objekt (Computertastatur, Buch, Zeitung) gar nicht in seiner Funktion als Kommunikationsmittel zum Einsatz gelangt. Anders gesagt: Wenn man den medi88
Paschke (Fn. 11), Rn. 92. Näher hierzu Paschke (Fn. 11), Rn. 98 f., sowie M. Heinrich (Fn. 1), Rn. 174 f. m.w.N. 90 S. a. Kühl, in: Löffler, Presserecht, 5. Auflage. 2006, LPG Vor §§ 20 ff. Rn. 4: Schlag mit Buch keine pressespezifische Straftat. 89
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enstrafrechtlichen Aspekt durch einen nicht-medienstrafrechtlichen Umstand gleichwertig ersetzen kann, ohne dass sich dadurch an der Qualität der Beurteilung des Falles etwas ändert (Knüppel statt Tastatur oder Buch, brennendes Hemd statt Zeitung), kommt es auf die Medienberührung ganz offensichtlich nicht an und handelt es sich mithin nicht um ein spezifisch medienstrafrechtlichem Interesse unterliegendes Geschehen.91 Dementsprechend bewegt man sich in dem Fall, dass jemand einen anderen nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern am Telefon beleidigt oder er ein schriftlich fixiertes betrügerisches Verkaufsangebot dem Käufer nicht persönlich aushändigt bzw. als Brief schickt, sondern es per Email an ihn sendet, aufgrund fehlender eigenständiger Bedeutung der unbestreitbar zu verzeichnenden Involvierung eines „Mediums“ (der Individualkommunikation) nicht in der Domäne des Medienstrafrechts.92 Noch weniger genügt es, wenn der Aspekt der Medienberührung von vornherein nur ein ganz entfernter ist, der nur in höchst mittelbarer Weise in das konkrete Geschehen hineinwirkt, ohne jedoch dem Geschehen selbst einen eigenen Anstrich zu geben. So mag es ja durchaus sein, um insoweit mit Mitsch zu sprechen,93 dass „die Ermöglichung von Wahrnehmungen, Informationsaufnahmen und Wissenserwerb […] eine der Hauptfunktionen von Medien ist“ und ein „Wissen um risikorelevante Tatsachen“ auf Ebene der Straftatbestände „die objektive Erfolgszurechnung […] beeinflusst“. Der Umstand aber, dass etwa die ggf. zurechnungsausschließende Eigenverantwortlichkeit eines sich selbst Gefährdenden wesentlich von seiner umfassenden Informiertheit über sämtliche Risikofaktoren abhängt94 und die einschlägigen Informationen im heutigen „Medienzeitalter“ im Wesentlichen über die Medien vermittelt werden, bedeutet noch lange keinen medienstrafrechtlichen Einschlag der Lehre von der objektiven Zurechnung.95 Ganz entsprechend führte es zu weit, die subjektive Zurechnungskategorie des Vorsatzes als medienstrafrechtlich aufgeladen zu begreifen, weil „Fehlinformation durch Medien […] u. U. Ursache eines Tatbestandsirrtums i. S. d. § 16 Abs. 1 S. 1 StGB“ sein kann.96 Demgegenüber ist, wegen der herausragenden Bedeutung der Kommunikationsgrundrechte des Art. 5 GG (Meinungsbildungsfreiheit, Informationsfreiheit, Pressefreiheit etc.97) für das Recht der Massenmedien, eine auf das Medienstrafrecht hinführende medienrechtliche Relevanz stets gegeben, wenn im Falle einer Medienberührung das Tangiertsein einer jener Kommunikationsfreiheiten in Betracht zu zie91
In diesem Sinne auch (mit anderen Beispielen) B. Heinrich (Fn. 3), Rn. 2. In diesem Sinne zum Betrug auch B. Heinrich (Fn. 3), Rn. 9. 93 Vgl. Mitsch (Fn. 3), Rn. 1/14, 16. 94 Näher hierzu M. Heinrich, in: Nomos Handkommentar Gesamtes Strafrecht, 3. Aufl. 2013, Vor § 13 Rn. 132 ff., insb. 140. 95 In diesem Sinne aber offenbar Mitsch (Fn. 3), Rn. 1/15 f. 96 So Mitsch (Fn. 3), Rn. 1/21 (vgl. entsprechend zur Fahrlässigkeit Rn. 1/22). 97 Ausführlich zu den Kommunikationsgrundrechten und -freiheiten des Grundgesetzes M. Heinrich (Fn. 1), § 3. 92
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hen ist – was (um auf obiges Beispiel zurückzukommen) bei einer Beleidigung etwa dann der Fall wäre, wenn sie mittels Veröffentlichung in einer Zeitung oder im Rahmen einer Rundfunksendung begangen würde. 2. Der medienübergreifende Charakter des Medienstrafrechts Des Weiteren ist an dieser Stelle hervorzuheben, dass, wenn wir von Medien(straf)recht sprechen, nicht einfach nur ein Nebeneinander eines Presse(straf)rechts, eines Rundfunk(straf)rechts, eines Film(straf)rechts und eines Telemedien(straf)rechts gemeint ist oder sinnvoller Weise auch nur gemeint sein kann. Denn dann bedürfte es eines Medien(straf)rechts überhaupt nicht. Medien(straf)recht ist mehr als nur die Summe jener Einzelgebiete, ist vielmehr ein die genannten Einzelbereiche ebenso überwölbendes wie durchdringendes Gesamtkonstrukt. Nur bei einem solchen Verständnis ist es möglich, dem Medien(straf)recht eine eigenständige Bedeutung, ja überhaupt eine Daseinsberechtigung zuzusprechen. Erst so ist es sinnvoll möglich, sich auf die Suche nach konkret benennbaren Grundprinzipien, gar einem übergreifenden Regelungskonzept im Hinblick auf alle Medien zu begeben, daraus bereichsübergreifende Erkenntnisse zu gewinnen und diese dann wiederum im Rahmen der rechtlichen Betrachtung der einzelnen Medienbereiche zu fruchtbarer Anwendung zu bringen. Tatsächlich sind solche auf alle Medienbereiche bezogene bzw. beziehbare Grundprinzipien, Regelungsziele und Rechtsgrundsätze auch durchaus erkennbar und harren sowohl der weiteren Durchdringung und Ausarbeitung, wie auch der Anwendung, nicht zuletzt auch im konkreten medienstrafrechtlichen Fall. So wird man mit führenden Stimmen im medienrechtlichen Schrifttum sagen können, das (als Recht der Massenmedien begriffene) Medienrecht gewinne „seinen disziplinbildenden Charakter aus der spezifischen Grundrechtsgebundenheit seines Regelungsgegenstandes, eben der Massenkommunikation, und den aus der Grundrechtsgebundenheit folgenden übereinstimmenden Wertungen und Regelungsstrukturen“98. Als übergreifende „Regelungsziele des Medienrechts“ lassen sich auf dieser Grundlage z. B. die „Gewährleistung einer Kommunikationsinfrastruktur“, die „Gewährleistung publizistischer Vielfalt“ sowie die „Gewährleistung von Persönlichkeitsschutz“ benennen und als „Rechtsgrundsätze des Medienrechts“ etwa die „medienrechtlichen Informationsansprüche“, das „Recht auf Berichterstattung“, den „Schutz vor staatlicher Einflussnahme“, die „Wahrheits- und Sorgfaltspflicht“ und die „Vielfaltsicherung“ anführen.99 Dies alles eröffnet einem Medien(straf)recht, das vom Selbstverständnis als alle Bereiche der massenmedialen Kommunikation umfassendes bzw. in sich tragendes Regelungsgebilde geprägt ist, weit ausgedehntere Chan98
Paschke (Fn. 11), Rn. 9, 10. Vgl. hierzu die einzelnen, entsprechend überschriebenen Unterabschnitte mit ausführlichen Darlegungen bei Paschke (Fn. 11), § 5 (Rn. 310 ff., 318 ff., 326 ff.) und § 6 (Rn. 340 ff., 358 ff., 375 ff., 405 ff., 414 ff.). 99
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cen sinngebender Gestaltung, als dies im Falle eines bloßen Nebeneinanders mehrerer medienbezogener Teilrechtsgebiete (Presserecht etc.) möglich wäre. 3. Die inhaltlichen Kategorien des Medienstrafrechts Aus der zuvor (oben 1.) erläuterten Grundidee heraus, dass im Zuge einer medienübergreifenden Betrachtung (soeben 2.) der spezifisch medienstrafrechtliche Einschlag eines Geschehens, die erforderliche eigenständige Bedeutung des im konkreten Fall zu verzeichnenden Aspekts der Medienberührung, immer dann gegeben ist, wenn im Falle einer Medienberührung das Tangiertsein einer der in Art. 5 GG verbürgten Kommunikationsfreiheiten in Betracht zu ziehen ist, führt zu einer sachgerecht erscheinenden Kategorisierung medienstrafrechtlich relevanter Grundkonstellationen100 : Zum einen geht es um die Fälle, bei denen die Strafbarkeit an den Output der Massenmedien anknüpft, d. h. an den Umgang mit den zum Gegenstand massenmedialer Kommunikation gemachten Inhalten, insbesondere deren Verbreitung oder sonstige Weitergabe – wie dies u. a. bei der Veröffentlichung von Beleidigungen gem. §§ 185 ff. StGB, der Verbreitung pornographischer Schriften gem. §§ 184a ff. StGB oder auch der medialen Darbietung volksverhetzender Äußerungen gem. § 130 StGB der Fall ist (von mir so genannte Medieninhaltsdelikte, unten 4.); auch der Erwerb bzw. Besitz kinder- oder jugendpornografischer Schriften gem. §§ 184b Abs. 4, 184c Abs. 4 StGB gehört hierher. Zum zweiten muss sich das Medienstrafrecht seinem Wesen gemäß mit Geschehnissen im Zusammenhang mit der Beschaffung von Informationen befassen101 (dem Input der Massenmedien), so dass im Fokus des medienstrafrechtlichen Interesses auch Delikte stehen wie § 201 StGB (Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes)102 oder § 201a StGB (Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen), aber auch einschlägige Fragestellungen des Allgemeinen Teils des Strafrechts, wie die der etwaigen Rechtfertigung eines zum Zwecke journalistischer Recherche begangenen Hausfriedensbruchs gem. § 123 StGB bzw. einer eben dieses Ziel verfolgenden Nötigung einer Auskunftsperson gem. § 240 StGB. Als drittes schließlich ist von medienstrafrechtlichem Interesse noch der Aspekt eines reibungslosen, verwerfungsfreien Funktionierens des Medienwesens, so dass auch solche Geschehnisse und Delikte zum Gegenstandsbereich des Medienstraf100 Vgl. M. Heinrich (Fn. 1), Rn. 64 ff. – Auch B. Heinrich (Fn 3), Rn. 5 ff. versucht, „die unterschiedlichen Erscheinungsformen der Medienstraftaten in verschiedene Fallgruppen einzuordnen“ – freilich mit anderem Ergebnis als hier. 101 Auch B. Heinrich (Fn 3), Rn. 132 stellt (im Hinblick auf §§ 201 ff. StGB) der „Verbreitung von Informationen“ das „Recht, sich Informationen zu verschaffen“, gegenüber. 102 Nicht zu überzeugen vermag mich insoweit der Ansatz von Mitsch (Fn. 3), Rn. 3/93, es sei § 201 StGB deswegen ein „Mediendelikt“, weil es sich bei den in der Vorschrift genannten „Tonträgern“ bzw. „Abhörgeräten“ um „Medienobjekte“ handele.
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rechts zählen, die im Zusammenhang mit der Gewährleistung der organisatorischen, technischen und sonstigen Voraussetzungen freier Medientätigkeit stehen. Einen derartigen Funktionsschutz gewähren z. B. jene Strafvorschriften der Landespressegesetze, die der Absicherung der ordnungsgemäßen Bestellung des Verantwortlichen Redakteurs oder der Beachtung der Impressums-Vorschriften dienen (vgl. etwa Art. 13 BayPrG, § 15 LPrG-SH). Aber auch das gem. § 123 StGB als Hausfriedensbruch zu wertende Eindringen in Verlagsräume zum Zwecke der Entwendung recherchierten Materials oder die gegen § 240 StGB verstoßende Nötigung von Presseunternehmen bzw. Journalisten zum Verzicht auf Berichterstattung gehören hierher. 4. Das Medieninhaltsdelikt als Schlüsselkategorie des Medienstrafrechts Von besonderer Bedeutung innerhalb der Vielzahl medienstrafrechtlich relevanter Tatbestände sind gewiss die von mir103 so genannten Medieninhaltsdelikte. Ein durchaus weit verbreiteter Begriff ist derjenige des „Presseinhaltsdelikts“104, dessen heutiges Verständnis auf eine entsprechende Definition des Reichsgerichts zurückgeht, in der es heißt105: „Ein Presse-Inhaltsdelikt liegt vor, wenn eine Straftat durch die Verbreitung eines Druckwerks begangen wird, dessen geistig wirksamer Inhalt die Erklärung enthält, die für den betreffenden Straftatbestand erforderlich ist, wobei es genügt, wenn diejenigen Umstände, von denen die Strafbarkeit sonst noch abhängt, außerhalb der durch die Presse verbreiteten Erklärung gegeben sind.“ Auch ist in ganz entsprechendem Sinn gelegentlich von „Rundfunkinhaltsdelikt“ die Rede.106 Dies lässt es gerechtfertigt erscheinen, für das (umfassendere) Medienstrafrecht einen entsprechend besetzten (umfassenderen) Begriff des Medieninhaltsdelikts zugrundezulegen. Die Medieninhaltsdelikte nehmen nun eine ganz besondere Stellung im Medienstrafrecht ein: Zum einen, weil sie einen sehr beachtlichen Teil der im Interesse des Medienstrafrechts stehenden Delikte ausmachen; so sind als Medieninhaltsdelikte anzusprechen insbesondere die Beleidigungsdelikte (§§ 185 ff. StGB), die sog. Aufforderungsdelikte (wie §§ 111, 130 StGB), aber auch zahlreiche typische Verbreitungs- und Veröffentlichungsdelikte (wie etwa die Verbreitung pornographischer Schriften gem. §§ 184a – 184c StGB).107 Zum anderen aber auch deswegen, weil insbesondere sie es sind, die von vornherein einen in jeder Hinsicht medienübergreifen103
M. Heinrich (Fn. 1), Rn. 77 ff.; auch B. Heinrich (Fn 3), Rn. 10 spricht aber bereits von „Inhaltsdelikten“. 104 Vgl. Fechner (Fn. 11), Rn. 6/93; Kühl, in: Löffler (Fn. 90), LPG § 20 Rn. 17, 20 ff.; Ricker/Weberling (Fn. 48), Rn. 17/7 ff. 105 RGSt 66, 147. 106 Vgl. schon Scharnke, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der leitenden Personen des Rundfunks, 1978, S. 16 f.; Herrmann/Lausen (Fn. 50), Rn. 26/1 ff. (insb. 26/6) sowie nunmehr auch BGHSt 44, 209, 215 ff. und die Kommentarliteratur. 107 Ausführlich hierzu – wenn auch unter dem Aspekt des „Presseinhaltsdelikts“ – Kühl (Fn. 90), LPG § 20 Rn. 26 ff., 53 ff.; vgl. aber auch Ricker/Weberling (Fn. 50), Rn. 17/7 ff.
Der Gegenstandsbereich des Medienstrafrechts
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den Charakter aufweisen, indem sie ohne jedes Wenn und Aber im Rahmen eines jeden Massenmediums Relevanz erlangen, ohne dass es dabei entscheidend auf die konkret zur Verwendung gelangende Medienplattform ankäme: Ob beleidigende oder volksverhetzende Äußerungen über Presse, Rundfunk, Fernsehen, Film oder Internet verbreitet werden, ist (zumindest prinzipiell) für die Strafbarkeit ohne Bedeutung. Gerade die Medieninhaltsdelikte erlauben es, ohne unsachgemäße Verzeichnungen bereichsübergreifend behandelt zu werden. Vor allem aber stehen eine ganze Reihe medienstrafrechtlicher Problematiken im spezifischen Zusammenhang mit den Medieninhaltsdelikten. Zu denken ist hier an die höchst diffizilen Fragen zum einen der Anwendbarkeit deutschen Strafrechts bei grenzüberschreitender Weitergabe illegaler Inhalte,108 aber zum anderen auch der Verantwortlichkeit der ins jeweilige Geschehen involvierten Personen für solche Inhalte.109 Dabei zeigt sich die Stärke eines bereichsübergreifenden Medienstrafrechts (oben 2.) bei der Anwendbarkeits-Problematik gerade darin, dass hier bestimmten medienspezifischen Besonderheiten durch Erarbeitung von Grundsätzen Rechnung getragen werden kann, die sich auf alle Medienbereiche gleichermaßen anwenden lassen, so dass ein Auseinanderdriften dieser Bereiche höchst effektiv vermieden werden kann.110 Bei der an zweiter Stelle erwähnten Problematik der Verantwortlichkeits-Regelung erweist sich die besondere Kraft der hier vertretenen medienstrafrechtlichen Konzeption im Gegenteil gerade dadurch, dass mit ihr nachvollziehbar wird, warum der Gesetzgeber mittels bereichsspezifischer Sonderregelungen in dem einen Bereich (im Presserecht, aber auch im Rundfunkrecht) die strafrechtliche Verantwortlichkeit der am Mediengeschehen beteiligten Personen ausdehnt,111 während er sie in einem anderen Bereich (den Telemedien) einschränkt112 : Erst im Bewusstsein eines sowohl den Gemeinsamkeiten, wie auch den Unterschieden der verschiedenen Medienbereiche Raum gewährenden übergreifenden Medienstrafrechts lässt sich in Einklang bringen, dass es für den Bereich der Presse durchaus sinnvoll ist, angesichts des häufig jede „normale“ Strafverfolgung illusorisch machenden journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts des § 53 Abs. 1 Nr. 5 StPO eine dieses Manko ausgleichende Sonderstrafbarkeit des Verantwortlichen Redakteurs (etwa in § 14 Abs. 2 Nr. 1 LPrG-SH) zu schaffen,113 andererseits aber im Telemedienbereich von einer die Freiheit des Internets gefährdenden Überdehnung von Strafbarkeit Abstand zu nehmen zugunsten einer dem Wesen der Neuen Medien gerecht wer108
Ausführlich hierzu M. Heinrich (Fn. 1), § 4. Ausführlich hierzu M. Heinrich (Fn. 1), § 5. 110 Ausführlich hierzu M. Heinrich (Fn. 1), § 4 C I. 111 Zu den Einzelheiten dieser Regelung M. Heinrich (Fn. 1), § 5 B II. 112 Zu den Einzelheiten dieser Regelung M. Heinrich (Fn. 1), § 5 D II, III. 113 Ausführlich hierzu M. Heinrich (Fn. 1), § 5 B I. 109
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denden Beschränkung von Strafbarkeit (durch die Privilegierungsklauseln der §§ 7 ff. TMG) auf ein angemessenes Maß.114
IV. Schlussbetrachtung Alles in allem lässt sich festhalten, dass es sich beim Medienstrafrecht um das Strafrecht der massenmedialen Kommunikation handelt (oben I.), das sich sowohl auf die Klassischen, wie auch die Neuen Medien, mithin auf Presse, Rundfunk, Film und Telemedien gleichermaßen bezieht (oben II.) und sich dabei im Hinblick auf medienspezifisches Strafrechtsgeschehen (oben III. 1.) als bereichsübergreifendes Betrachtungsmodell versteht (oben III. 2.), das sich mit dem In- und Output massenmedialen Geschehens ebenso beschäftigt wie dem Aspekt des Funktionsschutzes (oben III. 3.) – unter besonderer Hervorhebung des Medieninhaltsdelikts als einer Schlüsselkategorie des Medienstrafrechts (oben III. 4.). Dies alles konnte an diesem Ort nur im Sinne einer Zusammenfassung und aufgrund des nur begrenzt zur Verfügung stehenden Raumes auch nur in seinen wesentlichen Ansätzen dargestellt werden,115 mag jedoch eine halbwegs taugliche Beschreibung dessen bieten, was ich mir unter Medienstrafrecht als eigenständigem Bereich strafrechtlichen Interesses vorstelle. Was nunmehr bleibt, ist, dem hochverehrten Jubilar unter Widmung dieses Beitrags die herzlichsten Glückwünsche zu seinem 70. Geburtstag auszusprechen und ihm alles erdenklich Gute für die zahlreichen noch vor ihm liegenden Jahre weiterhin unermüdlichen Schaffens zu wünschen. Dass es sich hier bei der Veröffentlichung dieses Beitrags in einer Festschrift – einem „Druckwerk“ mithin – um einen medienrechtlich konnotierten Vorgang handelt, liegt in der Natur der Sache, dass dieser aber (wie ich hoffe) keinen medienstrafrechtlichen Einschlag aufweist, an meinem „Bemühen“, aus meiner Feder nicht den Gegenstand eines Medieninhaltsdelikts fließen zu lassen.
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Ausführlich hierzu M. Heinrich (Fn. 1), § 5 D I. Näher zu diesem Konzept M. Heinrich (Fn. 1), insb. §§ 1 und 2 sowie 4 und 5.
Erlaubte aktive Sterbehilfe? Neuere Entwicklungen in der Auslegung von § 216 StGB Von Michael Pawlik
I. Ausgangsthesen Aktive Sterbehilfe ist in Deutschland verboten und soll es auch bleiben. So ist es von der Strafrechtsdogmatik über lange Zeit gelehrt und in rechtspolitischen Grundsatzerklärungen ein ums andere Mal bekräftigt worden. Der Eindruck einer weitgehenden Einigkeit in diesem Punkt trügt jedoch. Schaut man näher hin, stellt man zweierlei fest. Erstens wird aktive Sterbehilfe von Wissenschaft und Praxis der Sache und – dies ist das Neue – zunehmend auch dem Begriff nach in erheblichem Umfang als erlaubt angesehen. Zweitens legen die dafür angeführten neueren Begründungen es nahe, den Kreis zulässiger aktiver Sterbehilfemaßnahmen künftig noch weiter zu ziehen. In meinem Beitrag, den ich Jürgen Wolter, einem Meister der Verschränkung gesetzessystematischer und kriminalpolitischer Gedankengänge,1 in Dankbarkeit und Verehrung widme, möchte ich diese beiden Thesen näher erläutern. Ich beginne mit den Fällen des Behandlungsabbruchs, der bislang so genannten passiven Sterbehilfe. Der BGH erkennt nunmehr ausdrücklich an, dass darunter auch tätliche, also aktiv herbeigeführte Behandlungsabbrüche fallen. Deren Statthaftigkeit begründen der BGH und das strafrechtliche Schrifttum mit Erwägungen, die geradezu dazu einladen, sie auf weitere Fälle aktiver Sterbehilfe auszudehnen (II.). Das Gleiche gilt für die neueren Rechtfertigungen der so genannten indirekten Sterbehilfe, bei der es sich ebenfalls um eine Sonderform aktiver Euthanasie handelt (III.). Bewegung gibt es schließlich auch im Restbereich der aktiven Sterbehilfe. Sowohl im Umgang der Praxis mit dem einschlägigen § 216 StGB als auch in der wissenschaftlichen Diskussion gewinnt die Einsicht an Boden, dass das Selbstbestimmungsrecht des Sterbewilligen eine einschränkende Interpretation dieser Vorschrift gebietet (IV.).
1 Verwiesen sei nur auf seinen Beitrag „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“ in: FS Roxin (2001) S. 1141 ff.
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II. Behandlungsabbruch 1. Die Entscheidung des BGH im Fuldaer Fall Solange die Medizin nur geringe Möglichkeiten hatte, den Sterbevorgang zu beeinflussen, erschien der Tod als ein Geschick, das man so entgegenzunehmen hatte, wie es kam. Seitdem es unzählige medikamentöse und technische Wege gibt, den natürlichen Verlauf aufzuhalten oder zu verzögern, muss dagegen entschieden werden, was im einzelnen Fall getan werden soll und was nicht. Damit ist der Bereich der herkömmlich so genannten passiven Sterbehilfe erreicht. Darunter versteht man die Nichteinleitung bzw. den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen.2 Die praktische Bedeutsamkeit der passiven Sterbehilfe ist außerordentlich groß. Unter den rund 850.000 jährlichen Sterbefällen in Deutschland befinden sich nach vorsichtigen Schätzungen etwa 300.000 bis 400.000 Patienten, bei denen behandlungsbegrenzende Entscheidungen zu treffen sind.3 Welche Maßstäbe gelten dabei? Anerkannt ist, dass ein entscheidungsfähiger Patient jede Behandlung, auch eine lebenserhaltende Maßnahme, ablehnen darf, selbst wenn die Entscheidung vom Arzt als unvernünftig bewertet wird. Zudem kann er sich des Instruments einer Patientenverfügung bedienen. Der Bundestag hat Patientenverfügungen bekanntlich eine sehr weit reichende Bindungswirkung zugesprochen. Der BGH hat mittlerweile in zwei wichtigen Entscheidungen klargestellt, dass diese Neuregelung auch im Bereich des Strafrechts zu beachten ist.4 Liegt eine hinreichend aussagekräftige Patientenverfügung vor, muss der behandelnde Arzt sie deshalb umsetzen, die Behandlung also gegebenenfalls abbrechen, andernfalls macht er sich strafbar.5 Notfalls dürfen die Angehörigen sogar zur Selbsthilfe greifen. Im ersten der soeben erwähnten BGH-Fälle, dem „Fuldaer Fall“, hat die Tochter einer im Koma liegenden Patientin unter Berufung auf den Willen ihrer Mutter in einem unbeobachteten Moment den Schlauch der Magensonde durchtrennt, nachdem das Pflegeheim den Behandlungsabbruch verweigert hatte. Der BGH hat das ausdrücklich zugelassen: Ein vom Willen des Kranken abgedeckter Behandlungsabbruch rechtfertige keineswegs bloß ein passives Den-Dingen-ihren-Lauf-Lassen, sondern auch die zur Durchführung des Abbruchs erforderlichen aktiven Handlungen.6
2 Im Einzelnen geht es dabei um sehr verschiedene Entscheidungen in ganz unterschiedlichen klinischen Kontexten; instruktiv dazu Bosshard u. a., DMW 2005, 2887 ff. 3 Janes/Schick, NStZ 2006, 484. – Die Vergleichszahlen aus europäischen Nachbarländern schwanken zwischen 6 Prozent (Italien) und 41 Prozent (Schweiz): Geth, Passive Sterbehilfe (2010) S. 27. 4 BGHSt 55, 200; BGH StV 2011, 283 f. – Zustimmend Gaede, NJW 2010, 2926 ff.; Kubiciel, ZJS 2010, 660; Kutzer, FS Rissing-van Saan (2011) S. 352 ff.; Rosenau, FS Rissing-van Saan (2011) S. 559; Spranger, SuP 2010, 803; Walter, ZIS 2011, 81; Wolfslast/Weinrich, StV 2011, 286. 5 Einzelheiten bei Reus, JZ 2010, 83 f. 6 BGHSt 55, 202 ff. – Ebenso zuvor schon LG Ravensburg NStZ 1987, 229.
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Wie aber harmoniert das Recht von Patienten, einen Behandlungsabbruch zu erzwingen, mit der Regelung des § 216 StGB? Sofern sich der Behandlungsabbruch in der Nichtvornahme weiterer therapeutischer Maßnahmen erschöpft, wird ein Konflikt mit der Begründung in Abrede gestellt, dass aufgrund der verweigerten Einwilligung des Patienten in die Aufnahme oder Fortführung der betreffenden Therapie die Garantenstellung der Ärzte insoweit entfallen sei.7 Diese Begründung geht jedoch am Kern des Problems vorbei. Wegen der mit dem Behandlungsveto verbundenen Todesfolge ist es nämlich gerade fraglich, ob dieses Veto die Garantenstellung des Arztes einzuschränken vermag oder ob es nicht vielmehr wegen der Verfügungssperre in § 216 StGB unberücksichtigt bleiben muss.8 In aller Regel ist ein Behandlungsabbruch zudem „gar nicht so passiv, wie behauptet wurde“.9 Vielmehr schließt er eine „Vielzahl überaus aktiver Handlungen“ ein,10 beispielsweise das Abschalten des Respirators oder – wie im Fuldaer Fall – das Durchtrennen eines lebenserhaltenden Schlauchs. Die herkömmliche Strafrechtsdogmatik, die für die Fälle aktiven Tuns das Erfordernis einer Garantenstellung in Abrede stellt, hat bislang überwiegend versucht, die Handlungsqualität derartiger Verhaltensweisen durch die waghalsige dogmatische Konstruktion11 eines „Unterlassens durch Tun“ hinweg zu definieren.12 Im Fuldaer Fall hat der BGH diesen offensichtlich vom gewünschten Ergebnis diktierten Begründungsansatz13 ausdrücklich verworfen: Die wertende Umdeutung aktiven Tuns in ein Unterlassen werde den auftretenden Problemen nicht gerecht.14 Unter den Voraussetzungen eines zulässigen, da vom Willen des Kranken abgedeckten Be-
7 BGHSt 32, 377; LK-Jähnke11, Vor § 211 Rn. 13; MK-Schneider, Vor §§ 211 ff. Rn. 105; Achenbach, Jura 2002, 545 f.; Bartsch, FS Achenbach (2011) S. 16; Beckmann, ZfL 2008, 51 f.; Eser, in: Auer u. a., Zwischen Heilauftrag und Sterbehilfe (1977) S. 109; Geißendörfer, Die Selbstbestimmung des Entscheidungsunfähigen an den Grenzen des Rechts (2009) S. 115; Jäger, ZStW 115 (2003) 769; Kahlo, in: Anderheiden u. a. (Hrsg.), Paternalismus und Recht (2006) S. 273; Leonardy, DRiZ 1986, 285; Lilie, FS Steffen (1995) S. 275; Otto, 56. DJT (1986) S. D 39 f.; Rieger, Die mutmaßliche Einwilligung in den Behandlungsabbruch (1998) S. 44 ff.; Rosenau, FS Rissing-van Saan (2011) S. 555; ders., 2. FS Roxin (2011) S. 579 f.; Schmidt-Recla, MedR 2008, 182; Schork, Ärztliche Sterbehilfe und die Bedeutung des Patientenwillens (2008) S. 73 ff.; Zielinski, ArztR 1995, 191. 8 Zutreffend Sch/Sch-Eser28, Vorbem. §§ 211 ff. Rn. 28; Geth (Fn. 3) S. 43; Pelzl, KJ 1994, 185; Stratenwerth, SchwZStr 95 (1978) 68; ders,. FS Amelung (2009) S. 359. 9 Rissing-van Saan, ZIS 2011, 545. 10 Fischer, Bucerius L.J. 2011, 2. 11 Von einem „Griff in die dogmatische Trickkiste“ spricht Rosenau, FS Rissing-van Saan (2011) S. 555; ders., 2. FS Roxin (2011) S. 580. 12 Grundlegend Roxin, AT 2 § 31 Rn. 115 ff.; ders., FS Engisch (1969) S. 396. 13 Eindringlich Gropp, GS Schlüchter (2002) S. 183 ff. 14 BGHSt 55, 202. – Zustimmend SK StGB-Sinn125. Lfg., § 212 Rn. 28, 51; Wessels/Hettinger, BT 136 Rn. 37; Bosch, JA 2010, 910 f.; Eidam, GA 2011, 239; Gaede, NJW 2010, 2926; Hirsch, JR 2011, 37; Rosenau, FS Rissing-van Saan (2011) S. 555; Spranger, SuP 2010, 803 f.; Verrel, NStZ 2010, 672.
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handlungsabbruchs seien vielmehr auch die dazu erforderlichen aktiven Handlungen statthaft.15 2. Begründungsprobleme und hiesiger Lösungsvorschlag: teleologische Reduktion des § 216 StGB Die Klarstellung des BGH ist ebenso begrüßenswert wie mutig, bedeutet sie doch den Abschied von der „Lebenslüge“16, dass die aktive Sterbehilfe in Deutschland durchweg verboten sei.17 Allerdings zieht sie erhebliche Begründungsprobleme nach sich. Am nächsten liegt es, die Zulässigkeit des Behandlungsabbruchs unmittelbar aus dem Grundsatz der Patientenautonomie abzuleiten. Diesen Weg beschreiten sowohl der BGH als auch die damalige Vorsitzende des entscheidenden BGH-Senats Rissing-van Saan. Der BGH beruft sich darauf, dass die Tötungshandlung durch die Einwilligung der Patientin gerechtfertigt gewesen sei.18 Rissing-van Saan vertritt mittlerweile die Auffassung, dass der Tod eines Patienten, der sich eine Weiterbehandlung verbeten habe, dem Arzt nicht objektiv zugerechnet werden könne, da dieser sich durch den Abbruch der Behandlung pflichtgemäß und rechtmäßig verhalten habe.19 Beide Begründungen stoßen sich jedoch am Wortlaut des § 216 StGB. Offenkundig ist dies bei der Argumentation des BGH. Weshalb sollte die Einwilligung in eine Tötungshandlung rechtfertigend wirken können, wenn nach § 216 StGB nicht einmal einem ausdrücklichen und ernsthaften Verlangen diese Wirkung zukommt?20 Aber auch der Rückgriff auf die objektive Zurechnung läuft auf eine petitio principii hinaus. Ob nämlich das Behandlungsveto den Arzt dazu verpflichtet, aktive Maßnahmen zu ergreifen, die zu einem vorzeitigen Todeseintritt beim Patienten führen, ist angesichts der in § 216 StGB festgeschriebenen Verfügungssperre gerade die Frage. Ein Teil des Schrifttums sucht dem Selbstbestimmungsgrundsatz deshalb in indirekter Form Rechnung zu tragen. Danach gründet die Zulässigkeit des aktiven Behandlungsabbruchs in dem Gedanken des rechtfertigenden Notstandes: Das Recht des Patienten auf ein seinem Willen entsprechendes menschenwürdiges Sterben verdiene in diesen Fällen den Vorrang vor seinem Recht auf Leben.21 Diese Konstruktion läuft auf eine zweistufige Zulässigkeitsprüfung hinaus. Der Sterbewille des Kranken fungiert demnach zwar als conditio sine qua non zulässiger Sterbehilfe; erforderlich 15
BGHSt 55, 202 ff. – Ebenso zuvor schon LG Ravensburg NStZ 1987, 229. Rosenau, FS Rissing-van Saan (2011) S. 548. 17 Ebenso Rosenau, FS Rissing-van Saan (2011) S. 548, 557; ders., 2. FS Roxin (2011) S. 585 f.; Wolfslast/Weinrich, StV 2011, 287. 18 BGHSt 55, 198. 19 Rissing-van Saan, ZIS 2011, 550. 20 Kritisch auch Rengier, BT 213 § 7 Rn. 7; Bartsch, FS Achenbach (2011) 26; Bosch, JA 2010, 911; Duttge, MedR 2011, 38; Eidam, GA 2011, 241; Joerden, 2. FS Roxin (2011) S. 596; Rosenau, FS Rissing-van Saan (2011) S. 558 ff.; Verrel, 66. DJT (2006) S. C 16; Walter, ZIS 2011, 78. 21 Bosch, JA 2010, 911; Rosenau, FS Rissing-van Saan (2011) S. 560; ders., 2. FS Roxin (2011) S. 584. 16
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ist aber zusätzlich, dass dieser Willensentschluss aus der Warte eines Außenstehenden auf nachvollziehbaren Gründen beruht. Diesem Begründungsversuch lässt sich aufgrund seiner Anreicherung um eine zusätzliche Prüfungsstufe zwar nicht vorwerfen, er umgehe die Wertung des § 216 StGB.22 Er ist jedoch aus anderen Gründen dogmatisch anfechtbar. Sowohl nach seinem Grundgedanken – Solidarität23 – als auch nach seiner gesetzlichen Ausgestaltung – wesentliches Überwiegen – ist der rechtfertigende Notstand nämlich auf interpersonale Konflikte zugeschnitten,24 während bei der passiven Sterbehilfe Eingriffsadressat und Begünstigter personenidentisch sind.25 Deshalb bleibt nur eine teleologische Reduktion des § 216 StGB.26 Dazu muss nachgewiesen werden, dass diese Vorschrift ihrem Sinn und Zweck nach bestimmte Fallkonstellationen – in concreto diejenige des auf dem Willen des Patienten beruhenden Behandlungsabbruchs – von vornherein nicht erfasst. Dieser Nachweis lässt sich in der Tat führen.27 Wie in Kürze gezeigt werden wird, besteht das Telos des § 216 StGB in einem Schutz Sterbewilliger vor unsachgemäßen Entscheidungen.28 Inhaltlich bedeutet dies, dass der Sterbewunsch des Patienten ähnlich wie beim Notstandsargument einer objektiven Verständigkeitsprüfung unterzogen werden muss. Die damit für gewöhnlich verbundenen Beurteilungsprobleme werden im Fall des Behandlungsabbruchs den Ärzten vom Gesetz abgenommen. Der Regelung über die Patientenverfügungen lässt sich nämlich die Wertung entnehmen, dass der Gesetzgeber den Willen Kranker zu einer Therapiebegrenzung generell als eine sachgemäße Wahrnehmung ihrer Belange ansieht.
22 Kargl, in: Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie (Hrsg.), Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts (2007) S. 388; Neumann, FS Herzberg (2008) S. 583 f. 23 MK-Erb2, § 34 Rn. 6; NK-Neumann3, § 34 Rn. 9; Frister, AT5 § 17 Rn. 1; Kühl, AT6 § 8 Rn. 9 f. 24 Ebenso MK-Erb2, § 34 Rn. 30, 32; Baumann/Weber/Mitsch, AT11 § 17 Rn. 54; Jakobs, AT2 13/34; Kindhäuser, AT5 § 17 Rn. 33; Köhler, AT S. 294; Maurach/Zipf, AT 18 § 27 Rn. 28; Engländer, GA 2010, 17 ff.; ders., JZ 2011, 517. 25 Aus diesem Grund verwirft auch BGHSt 55, 197 f. die Notstandskonstruktion. Im Unterschied zu dieser Entscheidung des 2. Strafsenats hält der 3. Strafsenat zur Rechtfertigung der indirekten Sterbehilfe den Rückgriff auf Notstandsgrundsätze für geboten (BGHSt 42, 305). 26 Bartsch, FS Achenbach (2011) 27; Duttge, MedR 2011, 37 f.; Frisch, in: Leipold (Hrsg.), Selbstbestimmung in der modernen Gesellschaft aus deutscher und japanischer Sicht (1997) S. 106; Gaede, NJW 2010, 2927; Kutzer, NStZ 1994, 490 f.; Trück, Mutmaßliche Einwilligung und passive Sterbehilfe durch den Arzt (2000) S. 121, 163 f.; Walter, ZIS 2011, 81 f. 27 A. A. Joerden, 2. FS Roxin (2011) S. 595 ff. 28 Dazu unter IV.3.
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3. Weiterungen der erörterten Begründungsansätze Die drei vorstehenden Begründungsansätze haben eines gemeinsam: Sie alle tendieren zu einer Ausweitung ihrer Geltungsansprüche über die Fallkonstellation des tätigen Behandlungsabbruchs hinaus und erweisen sich damit als Türöffner für eine erweiterte Zulassung aktiver Sterbehilfe. Im Hinblick auf den genauen Inhalt dieser Weiterungen unterscheiden sie sich jedoch. Die Einwilligungskonstruktion des BGH legt es nahe, dem Willen der sterbewilligen Person als solchem auch in weiteren Fällen aktiver Sterbehilfe rechtfertigende Kraft einzuräumen.29 Weshalb sollte ein Angehöriger, der – wie im Fuldaer Fall geschehen – unter Berufung auf eine mehrere Jahre alte mündliche Willensäußerung der Kranken einen lebenserhaltenden Schlauch durchschneidet, ungestraft davonkommen, während ein Arzt, der einem schwerstkranken Patienten auf dessen inständiges Bitten eine tödliche Spritze injiziert, mit einer Verurteilung rechnen muss? Beide begehen aktive Tötungshandlungen, und das Gewicht des Selbstbestimmungsgedankens ist im zweiten Fall noch erheblich stärker als im ersten. Zwar geht es im ersten Fall um die Beendigung einer im Zusammenhang mit der Erkrankung stehenden lebenserhaltenden Maßnahme, während es im zweiten Fall an einem solchen Zusammenhang fehlt. Aber vermag dieser im Verhältnis zum Selbstbestimmungsgedanken äußerliche Umstand den Unterschied der Ergebnisse zu legitimieren?30 Skepsis ist insofern angebracht. Im Unterschied zu diesem tendenziell ultra-liberalen Standpunkt laufen sowohl die Notstandslösung als auch die teleologische Reduktion auf weich-paternalistische Positionen hinaus. Der Wille zur vorzeitigen Lebensbeendigung muss sich danach aus der Warte eines Dritten als sachgemäße Reaktion auf die Situation des Sterbewilligen darstellen. Dass dem so sei, lässt sich indessen nicht nur für die bislang betrachteten Fälle des tätigen Behandlungsabbruchs behaupten; darauf wird in Kürze zurückzukommen sein. Zuvor aber wenden sich die hiesigen Überlegungen einer weiteren Form aktiver Sterbehilfe zu, die allgemein für erlaubt gehalten wird: der so genannten indirekten Sterbehilfe.31 Dass auch deren Rechtfertigung ein gleichsam überschießendes Begründungspotential enthält, wird im folgenden Abschnitt gezeigt. 29 Ähnlich SK StGB-Sinn125. Lfg., § 212 Rn. 57; Duttge, MedR 2011, 37; Fischer, 2. FS Roxin (2011) S. 573 f.; Gaede, NJW 2010, 2928; Joerden, 2. FS Roxin (2011) S. 597 f., 606. 30 Darauf läuft die Behauptung des BGH hinaus, dass seine Rechtfertigung des tätigen Behandlungsabbruchs die tatbestandlichen Grenzen des § 216 StGB unberührt lasse (BGHSt 55, 205; ebenso die damalige Vorsitzende des entscheidenden Senats Rissing-van Saan, ZIS 2011, 548 f. sowie Verrel, NStZ 2010, 673 f.). 31 Dass es sich bei dieser der Sache nach um einen Fall aktiver Sterbehilfe handelt, wird im neueren Schrifttum fast einhellig anerkannt: Fischer58, Vor § 211 Rn. 55; Kühl27, Vor § 211 Rn. 7; MK-Schneider, Vor §§ 211 ff. Rn. 29, 94 f.; SK StGB-Sinn125. Lfg., § 212 Rn. 58; Roxin, in: ders./Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts4 (2010) S. 87 f. – A. A. Jäger, ZStW 115 (2003) 770 Fn. 14.
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III. Indirekte Sterbehilfe Der Arzt ist dem Wohl des ihm anvertrauten Patienten verpflichtet. Seine Aufgabe endet nicht, wenn das Ziel einer Heilung oder einer deutlichen Lebensverlängerung unerreichbar wird. Statt Heilung ist nun Leidminderung das Therapieziel. Dazu kann auch eine umfassende Sedierung des Patienten gehören, der schwere, auf anderem Wege nicht behandelbare Schmerzen oder quälende Angstzustände hat. Sofern schmerzlindernde Maßnahmen mit einer Lebenszeitverkürzung verbunden sind, werden sie als indirekte Sterbehilfe bezeichnet.32 Die „indirekte – in Wahrheit direkte – Sterbehilfe“33 wird allgemein für zulässig erachtet, selbst wenn sie als unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene unvermeidbare Nebenfolge den Todeseintritt beschleunigt.34 Auch hier stellt sich freilich die Frage, weshalb überhaupt unter den genannten Voraussetzungen Verhaltensweisen, die der Sache nach klare Fälle aktiver Sterbehilfe darstellen, erlaubt sein sollten. Der Meinungsstand in dieser Frage entspricht weitgehend demjenigen zu den Fällen des tätlichen Behandlungsabbruchs. Vereinzelt lässt man die Einwilligung des Sterbenden zur Rechtfertigung genügen.35 Herrschend ist demgegenüber der aus der Notstandsregelung abgeleitete Gedanke, die Ermöglichung eines Todes in Würde und Schmerzfreiheit gemäß dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen sei höher zu veranschlagen als die Aussicht, unter schwersten Leiden noch kurze Zeit länger zu leben.36 Überzeugender als 32 Plastischer ist die von Verrel (Fn. 20) S. C 61 vorgeschlagene Bezeichnung „Leidensminderung“. 33 Rissing-van Saan, ZIS 2011, 545; ebenso Fischer, 2. FS Roxin (2011) S. 566. 34 BGHSt 42, 305; MK-Schneider, Vor §§ 211 ff. Rn. 95 ff.; Sch/Sch-Eser28, Vorbem. §§ 211 ff. Rn. 26. – Neuere Begriffsbestimmungen der indirekten Sterbehilfe gehen in zweifacher Hinsicht über deren ältere Kennzeichnungen hinaus: In objektiver Hinsicht wird die indirekte Sterbehilfe auf andere Leiden als Schmerzen ausgedehnt, in subjektiver Hinsicht wird neben dem bloßen Für-möglich-Halten des vorzeitigen Todeseintritts auch das sichere Wissen einbezogen (exemplarisch Verrel [Fn. 20] S. C 102 f. m. w. N.). 35 In diesem Sinne insbesondere Duttge, in: Kettler u. a. (Hrsg.) Selbstbestimmung am Lebensende (2006) S. 54 ff.; Schroth, BT S. 53. – Kritik an diesem Begründungsansatz üben unter Berufung auf die Regelung des § 216 StGB NK-Neumann3, Vor § 211 Rn. 99; Achenbach, Jura 2002, 547; Geth (Fn. 3) S. 11; Kahlo (Fn. 7) S. 271 f.; Kubiciel, AL 2011, 365; Lüderssen, JZ 2006, 690. 36 BGHSt 42, 305; 46, 284 f.; Kühl27, Vor § 211 Rn. 7; NK-Neumann3, Vor § 211 Rn. 99; SK StGB-Sinn125. Lfg., § 212 Rn. 58; Achenbach, Jura 2002, 547; Bosch, JA 2010, 909; Dölling, FS Gössel (2002) S. 212; ders., MedR 1987, 7; Herzberg, NJW 1986, 1639; Hirsch, JR 2011, 38; Kutzer, GS Schlüchter (2002) S. 352; ders., FS Salger (1995) S. 672; Leonardy, DRiZ 1986, 287; Merkel, Früheuthanasie (2001) S. 154 ff.; ders., FS Schroeder (2006) S. 297 ff.; ders., in: Fateh-Moghadam u. a. (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus (2010) S. 294 f.; Olzen, JR 2009, 355; Otto (Fn. 7) S. D 56; ders., Jura 1999, 440 f.; Pelzl, KJ 1994, 189; Rosenau, 2. FS Roxin (2011) S. 584; Roxin (Fn. 31) S. 87; Schöch, NStZ 1997, 410; Stratenwerth, SchwZStr 95 (1978) 79 f.; im Ergebnis auch MK-Schneider, Vor §§ 211 ff. Rn. 103; Geth (Fn. 3) S. 12; Schmoller, ÖJZ 2000, 372.
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diese „Behelfslösungen“37 ist auch hier eine teleologische Reduktion des § 216 StGB:38 Die einhellige Anerkennung der indirekten Sterbehilfe beweist, dass die Entscheidung für einen schmerzfreien, wenngleich vorzeitigen Tod allgemein für sachgemäßer gehalten wird als die nur um den Preis stärkster Schmerzen erreichbare maximale Ausschöpfung der verbleibenden Lebenszeit. Diese Begründungsstrategien weisen erneut über die konkret in Rede stehende Fallgruppe der indirekten Sterbehilfe hinaus. Wenn es nämlich der sozial als angemessen erscheinende Willensentschluss bzw. die Notstandssituation des Sterbewilligen sind, welche die Zulässigkeit von Maßnahmen aktiv-indirekter Sterbehilfe begründen, so muss beim Vorliegen einer vergleichbar ausweglosen Notlage für sonstige Maßnahmen aktiver Sterbehilfe das Gleiche gelten.39 Für den tätigen Behandlungsabbruch und die indirekte Sterbehilfe gilt also gleichermaßen: Nur indem man sie als Unterfälle eines allgemeiner gefassten Rechtssatzes begreift, lässt sich ihre allseits befürwortete Straflosigkeit überzeugend begründen.
IV. Aktive Sterbehilfe im engeren Sinne 1. Aktive Sterbehilfe als arbeitsteilig durchgeführter Suizid Mit diesem Befund im Rücken sei nunmehr die aktive Sterbehilfe im engeren Sinne in den Blick genommen. Bei ihr handelt es sich der Sache nach um einen arbeitsteilig durchgeführten Suizid. Der Suizid gilt heute als exemplarischer Fall einer rein privaten Entscheidung, die die Strafrechtsordnung nichts angeht.40 Auch wer zu einem Suizid anstiftet oder Beihilfe dazu leistet, ist in Deutschland straflos, soweit die Selbsttötung freiverantwortlich geschehen ist. Der Grund für die Straflosigkeit des Anstifters oder Gehilfen liegt darin, dass der Suizident sein Recht auf Leben, sein Rechtsgut Leben nicht verletzt, sondern mit diesem in einer bestimmten Weise verfährt, es eben beendet. Wer einen freiverantwortlich handelnden Suizidenten bei seinem Tun unterstützt, verletzt folglich nicht dessen Rechte, sondern hilft diesem bei der Organisation des eigenen Rechtskreises.41 37
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Verrel (Fn. 20) S. C 33; ebenso Fischer58, Vor § 211 Rn. 57; Rissing-van Saan, ZIS 2011,
Ebenso Frisch (Fn. 26) S. 107 f. Ebenso NK-Neumann3, Vor § 211 Rn. 127; Merkel (Fn. 36) S. 578 f.; ders., FS Schroeder (2006) S. 302 f. (affirmativ); Duttge (Fn. 35) S. 54 (kritisch). 40 MK-Schneider, Vor §§ 211 ff. Rn. 34; Jakobs, FS Arthur Kaufmann (1993) S. 460 ff. – Höchst missverständlich deshalb BGHSt 46, 285. Danach wertet die Rechtsordnung eine Selbsttötung als rechtswidrig und stellt die Selbsttötung und die Teilnahme hieran lediglich straflos. Zu Recht anders NK-Neumann3, Vor § 211 Rn. 40; SK StGB-Sinn125. Lfg., § 212 Rn. 9 m. w. N. 41 Ebenso zuletzt Kubiciel, AL 2011, 364. – An diesem Befund ändert sich auch dann nichts, wenn die Unterstützung gewerbsmäßig erfolgt. Die geplante Pönalisierung gewerbsmäßiger Beihilfe zum Suizid (FAZ v. 01. 08. 2012, S. 1) wirft deshalb erhebliche Legitimati39
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Nichts anderes tut auch derjenige, der einen anderen auf dessen ausdrückliches und ernsthaftes Verlangen tötet: Der aktive Sterbehelfer handelt nicht gegen den Willen des Lebensmüden, sondern führt diesen Willen aus, er greift nicht in dessen Recht ein, sondern setzt die Dispositionen des Lebensmüden über dessen Leben um. Was dem äußeren Erscheinungsbild nach als Werk fremder Hände erscheint, stellt sich deshalb „vom Standpunkt des Verletzten […] als Selbstverletzung dar“.42 Besteht zwischen der Straflosigkeit der Suizidteilnahme und der Strafbarkeit einer täterschaftlich geleisteten, aber einem sehr begründeten Todeswunsch entgegenkommen-
onsprobleme auf. Das Anliegen, dass keine gesellschaftliche Situation geschaffen werden solle, in der die Förderung von Selbsttötungen zu einem quasi normalen Geschäftsmodell wird, trägt abgesehen von den generellen Bedenken gegen Tabuschutz- und Dammbruchargumente (dazu unter IV.2.) schon deshalb nicht sonderlich weit, weil Sterbewillige schon heute nur in die Schweiz zu fahren brauchen, um ihren Wunsch erfüllt zu bekommen. Ernster ist die Sorge zu nehmen, dass der Sterbewillige in diesen Fällen in ein Verfahren hineingezogen wird, in dem es ihm zunehmend schwerer fällt, einen etwaigen Meinungswandel kundzutun und „auszusteigen“. Dieser Gefahr lässt sich jedoch dadurch begegnen, dass entsprechend dem hiesigen Vorschlag zur teleologischen Reduzierung des § 216 StGB (dazu unter IV.3.) bei der Inanspruchnahme professioneller Suizidunterstützung über die Freiverantwortlichkeit und Ernstlichkeit des Sterbewunsches hinaus dessen objektive Nachvollziehbarkeit gefordert wird. – Zu pauschal ist auch der gegenwärtige Stand des Betäubungsmittelrechts und des ärztlichen Standesrechts, wonach es Ärzten generell untersagt ist, sterbewilligen Patienten die geeigneten Substanzen zur Verfügung zu stellen. Nach BGHSt 46, 283 sind die Einfuhr und die Überlassung eines Betäubungsmittels nicht dadurch gerechtfertigt, dass der Täter einem unheilbar schwerstkranken Betäubungsmittelempfänger, dem er nicht persönlich nahe steht, zu einem freien Suizid verhelfen will. Kritisch dazu Heuchemer, JA 2001, 631; Sternberg-Lieben, JZ 2002, 156. Der nach heftiger Diskussion kürzlich neu gefasste § 16 der Musterberufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte bestimmt: „Ärztinnen und Ärzten ist es verboten, Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.“ Kritik an dieser Position üben Kutzer, FS Schöch (2010) S. 493; Roxin (Fn. 31) S. 109; Schöch/Verrel, GA 2005, 580 f.; Schroth, GA 2006, 571; Verrel (Fn. 20) S. C 114 f. 42 Klee, GA 48 (1901), S. 179. – Aus dem neueren Schrifttum grundlegend Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem (1998) S. 15 ff.; ders., FS Arthur Kaufmann (1993) S. 466. Ebenso Fiedler, Zur Strafbarkeit der einverständlichen Fremdgefährdung (1990) S. 159 f.; 170 ff.; Göbel, Die Einwilligung im Strafrecht als Ausprägung des Selbstbestimmungsrechts (1992) S. 99 f.; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst (1992) S. 85; Kämpfer, Die Selbstbestimmung Sterbewilliger (2005) S. 350; Kioupis, Notwehr und Einwilligung (1992) S. 123 Fn. 8; Krack, List als Straftatbestandsmerkmal (1994) S. 109 f.; Meyer, Ausschluß der Autonomie durch Irrtum (1984) S. 148 ff.; Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung (2001) S. 121; Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht (2005) S. 315; Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht (2001) S. 52 f., 66 f., 143, 188, 223, 245 f.; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht (1997) S. 41 f., 114, 226 ff.; Zipf, Einwilligung und Risikoübernahme im Strafrecht (1970) S. 29 f.; von Hirsch/Neumann, in: dies./Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht (2010) S. 81; Arthur Kaufmann, MedR 1983, 124; Kubiciel, JZ 2009, 601; Lüderssen, JZ 2006, 691; Rosenau, 2. FS Roxin (2011) S. 582; R. Schmitt, FS Maurach (1972) S. 115; Wolfslast, FS Schreiber (2003) S. 923. – Eine Auseinandersetzung mit den Einwänden gegen diese Position (zuletzt Gierhake, GA 2012, 292 ff.) findet sich in: Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2012) S. 220 ff. Fn. 428.
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den Euthanasie nicht ein unübersehbares „Missverhältnis“43, eine normative „Asymmetrie“44 ? Die Praxis ist von diesen Bedenken nicht unberührt geblieben. Sie legt den § 216 StGB zunehmend restriktiv aus. Neben den bereits erörterten Fällen des tätlichen Behandlungsabbruchs und der indirekten Sterbehilfe werden mittlerweile auch jene Fälle, in denen Angehörige oder Ärzte aus Respekt vor dem Willen des Betroffenen davon absehen, einem bereits bewusstlosen Suizidenten zu helfen, weitgehend aus dem Anwendungsbereich des § 216 StGB herausgenommen. Den Endpunkt dieser sich über rund drei Jahrzehnte hinziehenden Entwicklung markiert ein kürzlich veröffentlichter Beschluss der Staatsanwaltschaft München zur Einstellung eines Verfahrens wegen Totschlags durch Unterlassen. Danach behält die freie und verantwortliche Entscheidung für einen Suizid Verbindlichkeit auch über den Eintritt der Bewusstlosigkeit hinaus. Angehörige seien in diesen Fällen zur Einleitung von Rettungsmaßnahmen nicht verpflichtet.45 2. Das Verbot aktiver Sterbehilfe als Instrument zum Schutz des Tötungstabus bzw. zur Verhinderung eines Dammbruchs? Mit der Tendenz zur Einschränkung des Anwendungsbereichs von § 216 StGB geht eine wachsende Skepsis gegenüber der herkömmlichen Zweckbestimmung dieser Vorschrift einher. Nach traditioneller Auffassung dient § 216 StGB dem Schutz des öffentlichen Interesses an der Aufrechterhaltung der Achtung des menschlichen Lebens. Indem die Tötung auf Verlangen verboten wird, solle die „Ehrfurcht vor dem Leben“ als sozialpsychisches Tötungstabu stabilisiert werden.46 Indessen ist das menschliche Leben keineswegs so unantastbar, wie es das 43
Geilen, Euthanasie und Selbstbestimmung (1975) S. 25. – Ebenso Arthur Kaufmann, MedR 1983, 121 ff.; Neumann, JA 1987, 244 ff.; Krack, KJ 1995, 60 ff.; Schroeder, ZStW 106 (1994) 565 ff. 44 Große-Vehne, Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB), „Euthanasie“ und Sterbehilfe (2005) S. 256; Saliger, KritV 2001, 433 Fn. 256. 45 StA München ZfL 2010, 133 ff. – Ebenso die ganz herrschende Lehre: Fischer58, § 216 Rn. 6; MK-Schneider, § 216 Rn. 63; NK-Neumann3, Vor § 211 Rn. 70 ff.; Sch/Sch-Eser28, § 216 Rn. 10; Arzt/Weber, BT2 § 3 Rn. 43; Kindhäuser, BT 15 § 3 Rn. 13; Rengier, BT 213 § 8 Rn. 14 ff.; Wessels/Hettinger, BT 135 Rn. 161. Ausführlich jüngst Müller, § 216 StGB als Verbot abstrakter Gefährdung (2010) S. 221 ff. 46 Grundlegend Engisch, FS Hellmuth Mayer (1966) S. 412. – Ebenso NK-Neumann3, § 216 Rn. 1; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis (2003) Rn. 275; Ingelfinger, Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots (2004) S. 217; Schork (Fn. 7) S. 218 ff.; Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und Lex artis (2000) S. 291 f.; Dölling, GA 1984, 86; ders., MedR 1987, 8; Eser, in: Eid (Hrsg.), Euthanasie oder Soll man auf Verlangen töten? (1985) S. 69; Herzberg, NJW 1986, 1644; ders., NJW 1996, 3047; Hirsch, FS Welzel (1974) S. 779, 782, 790 f.; ders., FS Lackner (1987) S. 612 f.; ders., FS Amelung (2008) 189; Kuchenbauer, ZfL 2007, 112; Kutzer, FS Rissing-van Saan (2011) S. 339 f.; Leonardy, DRiZ 1986, 290; Lindner, JZ 2006, 379; Lorenz, JZ 2009, 66; Otto
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Tabubruch-Argument suggeriert: Weshalb die nach deutschem Recht (§ 32 StGB) sogar unabhängig von einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zulässige Tötung eines Angreifers in Notwehr das Tötungstabu unberührt lassen, die Tötung eines Einwilligenden hingegen die Gefahr begründen soll, dass „die Wertschätzung des Lebens in der sozialethischen Anschauung der Bevölkerung sinkt“47, ist nicht recht einsichtig.48 Zudem stellt ein mit dem Allgemeininteresse an der Verhinderung von Tabubrüchen gerechtfertigter § 216 StGB kein Delikt gegen das Leben im üblichen Sinne – verstanden als das individuelle Leben des von der Tat Betroffenen – dar; denn dieses Leben hat der Sterbewillige ja bewusst und gewollt preisgegeben. Der Sterbewillige wird vielmehr dazu herangezogen, das Tötungstabu zugunsten anderer Personen zu festigen, die angeblich ansonsten gefährdet wären.49 Er wird also noch auf der letzten Etappe seines irdischen Lebens sozial in die Pflicht genommen.50 Dass ein solches Ansinnen in einer Gesellschaft, die von Verpflichtungen gegenüber der Allgemeinheit zunehmend weniger wissen will, auf schwindende Sympathie stößt, ist nicht überraschend.51 Beschworen wird allerdings häufig das „Risiko des nächsten Schrittes“52 : Die Gefahren einer schleichenden Ausweitung der Voraussetzungen für eine straffreie aktive Sterbehilfe seien gravierend. Ferner könne das Ausweichen in den Tod zur gesellschaftlichen Normalität des Umgangs mit schwerem Leiden werden und die allgemeine Wertschätzung des Lebens beeinträchtigen. Es sei deshalb zu befürchten, dass eine generelle Zulassung aktiver Sterbehilfe nicht nur den Druck auf schwerkranke Menschen, um aktive Euthanasie zu bitten, erhöhen,53 sondern
(Fn. 7) S. D 54; ders., FS Tröndle (1989) S. 158; Roxin, FS Dreher (1977) S. 339; Schreiber, FS Hanack (1999) S. 738; Stratenwerth, FS Amelung (2008) 358 ff. 47 So Dölling, GA 1984, 87. 48 Ebenso Herzberg, NJW 1986, 1644; ders., NJW 1996, 3045; Hoerster, NJW 1986, 1791; Müller (Fn. 45) S. 66; Tenthoff, Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen im Lichte des Autonomieprinzips (2008) S. 165. 49 Jakobs (Fn. 42) S. 19. – Ebenso Göbel (Fn. 42) S. 39 ff.; LK-Rönnau12, Vor § 32 Rn. 188; ders., Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht (2001) S. 164; Herzberg, NJW 1996, 3047; Kubiciel, JZ 2009, 602; ders., JA 2011, 90; ders., AL 2011, 364; Ohly, FS Jakobs (2007) S. 460 Fn. 52. 50 So ausdrücklich Otto, AT7 § 8 Rn. 127; ders., FS Tröndle (1989) S. 158; ders. (Fn. 7) S. D 53 f.; Hirsch FS Welzel (1974) S. 777; Kutzer, MedR 2001, 78; Schork (Fn. 7) S. 220 f. 51 Eindringlich Kubiciel, JA 2011, 90; ders., ZJS 2010, 660. 52 Hirsch, FS Welzel (1974) S. 791; ders., FS Lackner (1987) S. 613. – Ebenso LK-Jähnke11, Vor § 211 Rn. 14; Duttge, MedR 2011, 37; de Faria Costa, GA 2007, 321 f.; Giesen, JZ 1990, 935; Köhler, JRE 14 (2006) 278 f.; Lauter, GS Wyss (1985) S. 185 ff.; Leonardy, DRiZ 1986, 290; Lindner, JZ 2006, 379; Pelzl, KJ 1994, 198 f.; Tröndle, 56. DJT (1986) S. M 37; ders., ZStW 99 (1987) 39; Verrel (Fn. 20) S. C 64 f.; Vöhringer, Tötung auf Verlangen (2008) S. 76 ff. 53 Dölling, MedR 1987, 8; Kutzer, GS Schlüchter (2002) S. 357; ders., MedR 2001, 78; ders., FPR 2007, 61; ders., FS Rissing-van Saan (2011) S. 340; Lauter, GS Wyss (1985) S. 186; Lindner, JZ 2006, 378; Lorenz, JZ 2009, 66; Oduncu, MedR 2005, 445; v. d. Pfordten,
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dass eine solche Erweiterung auch dazu führen werde, die Grenze zwischen Recht und Unrecht im Bewusstsein der Bürger aufzuweichen, mit der Folge, dass die Bereitschaft zu selbstherrlich vollzogenen „Barmherzigkeitstötungen“ zunehmen werde.54 Diese Befürchtungen lassen sich nicht ohne Weiteres als unbegründet abtun. Unheilbar kranke und schwer pflegebedürftige Menschen repräsentieren alles, was eine dem Ideal selbstbestimmten Lebens verpflichtete Gesellschaft „nicht sein will“55. Zudem verursachen sie häufig sehr hohe Kosten. Nach einer amerikanischen Untersuchung belaufen sich die finanziellen Aufwendungen für die letzten 180 Lebenstage auf etwa drei Viertel der lebenslangen Gesundheitskosten; ca. 30 Prozent dieser Kosten entfallen gar auf die letzten 30 Lebenstage.56 Diese Umstände sprechen dafür, dass es künftig zu einer Intensivierung der gesellschaftlichen Anreize kommen wird, im Fall einer schweren und unheilbaren Erkrankung vorzeitig aus dem Leben zu scheiden. Zweifelhaft ist aber, ob die Zementierung des heutigen strafrechtlichen Ist-Zustandes dazu geeignet ist, diesen Tendenzen Einhalt zu gebieten. Missbrauchsmöglichkeiten bietet schon die gegenwärtige Rechtslage zur Genüge: Insbesondere die Grenze, die die erlaubte indirekte von der verbotenen aktiven Sterbehilfe trennt, ist hauchdünn;57 zudem steht Angehörigen oder anderen Interessierten bereits jetzt die Möglichkeit offen, einen als lästig empfundenen Kranken zum Suizid zu drängen.58 Vor allem aber ist nach dem vorstehend Ausgeführten schon den Begründungen der heute anerkannten Formen aktiver Sterbehilfe ein begrenztes Ausdehnungspotential immanent. Bei Erweiterungsvorschlägen, die sich darauf beschränken, diesem Potential zur Wirksamkeit zu verhelfen, handelt es sich unter dem Gesichtspunkt wertungsmäßiger Geschlossenheit weniger um gefährliche Schritte auf abschüssigem Terrain als vielmehr um überfällige dogmatische Frontbegradigungen.59 Zwar beinhaltet keiner der erörterten Begründungsansätze ein eindeutig fixierbares „Bis hierher und nicht weiter“. Diese Flexibilität ist aber kein Schönheitsfehler, sondern eine rechtspraktische Notwendigkeit: Das Recht, zumal das besonders in: Anderheiden u. a. (Hrsg.), Paternalismus und Recht (2006) S. 105; Rieger (Fn. 7) S. 35; Roxin (Fn. 31) S. 116 f.; Tröndle (Fn. 52) S. M 37; Verrel (Fn. 20) S. C 65. 54 Von Lutterotti, MedR 1992, 11 ff.; Tröndle, ZStW 99 (1987) 39. 55 Gronemeyer, Sterben in Deutschland (2007) S. 183. 56 Höfling, JuS 2000, 117. 57 Hanack, in: Hiersche (Hrsg.) Euthanasie (1975) S. 147; ebenso Fischer58, Vor § 211 Rn. 64; Bottke, ZEE 1981, 121; Engisch, FS Dreher (1977) S. 313; Geth (Fn. 3) S. 8; Klöpperpieper, FPR 2010, 266; Kutzer, MedR 2001, 78; Schöch, NStZ 1997, 410; Schreiber, FS Hanack (1999) S. 739; Schürch, Rationierung in der Medizin als Straftat (2000) S. 73; Verrel, JZ 1996, 227; ders. (Fn. 20) S. C 30, 107. – Ein eindringliches Beispiel bildet der Fall Mechthild Bach, der im Januar 2011 mit dem Suizid der Angeklagten endete (dazu Wolfslast/ Weinrich, StV 2011, 287 f.). 58 Jakobs (Fn. 42) S. 20 f.; Neumann, in: Fateh-Moghadam u. a. (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus (2010) S. 258; Tenthoff (Fn. 48) S. 158, 231. 59 Ebenso Merkel (Fn. 37) S. 288.
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eingriffsintensive Strafrecht, ist, soll es den Rechtsgenossen nicht willkürlich erscheinen, an den Plausibilitätshintergrund seiner Zeit gebunden.60 Rechtliche Verbote, die der Mehrheit der Bevölkerung nicht (mehr) einleuchten, werden, wie das frühere Abtreibungsrecht zeigt, auf breiter Front missachtet, ohne dass die Strafverfolgungsbehörden dem noch ernsthaft entgegentreten können oder am Ende auch nur wollen. Der – durchaus realistischen – Annahme, dass der gesellschaftliche Überzeugungshaushalt sich in Zukunft noch weiter zugunsten der aktiven Sterbehilfe verschieben könnte,61 lässt sich deshalb allenfalls auf diskursiver Ebene begegnen. 3. Das Verbot aktiver Sterbehilfe als Ausprägung eines weichen Paternalismus Neben der Berufung auf übergeordnete Interessen der Allgemeinheit wird zugunsten des § 216 StGB auch die Erwägung angeführt, dass es dem wohlverstandenen Eigeninteresse des betroffenen Bürgers entspreche, wenn diesem die Option genommen würde, einen anderen zu seiner Tötung aufzufordern; nur die von eigener Hand vollzogene Selbsttötung könne den endgültigen Sterbewillen belegen.62 Auch diese Begründung hat Auswirkungen auf die Unrechtsqualität der so legitimierten Norm. § 216 StGB schrumpft danach auf den Status eines abstrakten Gefährdungsdelikts zusammen: Die Gefahr, welcher die Vorschrift wehren soll, bestehe darin, dass nicht vollzugsreife Entscheidungen exekutiert werden könnten.63 Ihrer Struktur nach ist dies eine indirekt-paternalistische Argumentation. Paternalistisch ist sie, weil sie die Handlungsfreiheit des Sterbewilligen zugunsten von dessen Wohl in einer Weise beschränkt, die seinem aktuellen Willen widerspricht.64 Indirekt-paternalistisch ist sie, weil die Strafdrohung des § 216 StGB sich nicht gegen den Ster-
60 Vgl. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie (2007) S. 392; Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie2 (1977) S. 70; Zippelius, Rechtsphilosophie5 (2007) S. 59 f.; Isensee, NJW 1977, 548 ff.; Jähnke, in: Kühl/Seher (Hrsg.), Rom, Recht, Religion (2011) S. 228 ff.; speziell für das Strafrecht NK-Hassemer/Neumann3, Vor § 1 Rn. 330; Jakobs, ZStW 117 (2005) 261. 61 Eindringlich dazu Fischer, 2. FS Roxin (2011) S. 574, 576. 62 Roxin (Fn. 31) S. 117; ders., FS Dreher (1977) S. 339, 345; ders., FS GA (1993) S. 184; ders., FS Jakobs (2007) S. 577. – Ähnlich MK-Schneider, § 216 Rn. 8; Kindhäuser, BT 15 § 3 Rn. 9; Bottke, ZEE 1981, 129; Chatzikostas, Die Disponibilität des Rechtsgutes Leben in ihrer Bedeutung für die Probleme von Suizid und Euthanasie (2001) S. 266; Dreier, JZ 2007, 320; Duttge (Fn. 35) S. 51; Engisch, FS Dreher (1977) S. 318; Hirsch, FS Lackner (1987) S. 612, 614; Kindhäuser, FS Rudolphi (2004) 144 (abweichend aber jüngst ders., GA 2010, 492); Murmann (Fn. 42) S. 496 f.; Schroeder, ZStW 106 (1994) 574; v. d. Pfordten (Fn. 53) S. 105; Schroth, GA 2006, 563; Verrel, JZ 1996, 226; ders. (Fn. 20) S. C 111. 63 Jakobs (Fn. 42) S. 23; Murmann (Fn. 42) S. 497. 64 Vgl. nur Birnbacher, in: von Hirsch u. a. (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht (2010) S. 12; Fateh-Moghadam, in: ders. u. a. (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus (2010) S. 22.
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bewilligen selbst, sondern gegen einen Dritten richtet, dem untersagt wird, dem Willen des Sterbewilligen nachzukommen.65 In einer liberalen Gesellschaft versteht sich ein solcher Paternalismus keineswegs von selbst.66 Vielmehr drängt sich die Frage auf: Weshalb sollte eine freiheitliche Strafrechtsordnung jemanden, dessen Tötungsverlangen sie in § 216 StGB explizit als ernstlich und damit als freiverantwortlich anerkennt,67 an der Umsetzung seines Willensentschlusses hindern dürfen? Begründbar ist dies nur, wenn plausible Gründe dafür sprechen, dass das Tötungsverlangen trotz seiner Ernstlichkeit die längerfristigen Zielsetzungen und Werte des Verlangenden nur unzureichend zum Ausdruck bringt. Dies dürfte in der Regel der Fall sein: Dafür spricht zum einen die Schwere und Endgültigkeit des in Rede stehenden Verlustes und zum anderen der Umstand, dass es sich bei Äußerungen, die vordergründig als Tötungsverlangen daherkommen, in Wahrheit häufig um verdeckte Appelle um Zuwendung angesichts einer als verzweifelt empfundenen Lebenssituation handelt. Aus diesen Gründen ist es grundsätzlich sachgerecht, an dasjenige Maß von Freiverantwortlichkeit, das bei der Preisgabe weniger wichtiger Güter bereits als ausreichend für einen Unrechtsausschluss betrachtet wird, im Regelungsbereich des § 216 StGB noch eine, wenngleich im Vergleich zu den §§ 211, 212 StGB gemilderte, Strafe zu knüpfen.68 Die Logik dieses Begründungsansatzes gebietet es jedoch, im Kontext der Tötung auf Verlangen auch die Möglichkeit eines vollständigen Unrechtsausschlusses vorzusehen: Eben darin, dass das Verlangen zu sterben nicht als schlechthin und unter allen Umständen unvernünftig bewertet wird, liegt der Unterschied zwischen dem in einer freiheitlichen Strafrechtsordnung höchst dubiosen harten und einem unter Freiheitsgesichtspunkten akzeptablen weichen Paternalismus. Um einen vollständigen Unrechtsausschluss nach sich zu ziehen, muss das Tötungsverlangen demnach einer über die Feststellung seiner Ernstlichkeit hinausgehenden objektiven Nachprüfung standhalten. Bei jener wird lediglich ein Mindestmaß an biographischer Konsistenz gefordert: Der Entschluss des Sterbewilligen müsse von innerer Festigkeit und Zielstrebigkeit getragen sein.69 Deshalb werden zwar Tötungswünsche, die nach Auffassung des Urteilenden einer Augenblicksstimmung oder einer vorüberge-
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Vgl. Birnbacher (Fn. 64) S. 16; du Bois-Pedain, in: von Hirsch u. a. (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht (2010) S. 33; Fateh-Moghadam (Fn. 64) S. 24; Neumann, in: FatehMoghadam u. a. (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus (2010) S. 249. 66 Der Ausruf Hirschs (FS Amelung [2008] S. 191), das eigentliche Problem liege „heute auf der entgegengesetzten Seite: beim Abbau von Rechtskultur durch den Libertinismus sich als fortschrittlich ausgebender Kreise“, mag Kulturkonservative erfreuen, gelangt jedoch nicht über den Gestus des zornigen Protests gegen die Wirklichkeit hinaus. 67 Vgl. nur NK-Neumann3, § 216 Rn. 14; Wessels/Hettinger, BT 136 Rn. 156. 68 Ebenso Murmann (Fn. 42) S. 494. 69 MK-Schneider, § 216 Rn. 20; Sch/Sch-Eser28, § 216 Rn. 8.
Erlaubte aktive Sterbehilfe?
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henden Depression entspringen, nicht als ernstlich anerkannt.70 SeineVernünftigkeit gilt dagegen nicht als taugliches Kriterium zur Beurteilung der Ernstlichkeit des Tötungsverlangens.71 Erlaubte aktive Sterbehilfe setzt dagegen mehr voraus: Das Tötungsverlangen muss sich aus der Warte eines objektiven Dritten als eine – wenn das Wort erlaubt ist – sachgemäße Reaktion auf den Leidenszustand des Sterbewilligen darstellen. Ausweislich des Konsenses über die Zulässigkeit indirekter Sterbehilfe gilt diese Voraussetzung gegenwärtig zumindest für solche Fälle als erfüllt, in denen der Kranke schweren, nicht wirksam zu bekämpfenden Schmerzen ausgesetzt und sein natürliches Lebensende nahe herangerückt ist.72 In diesem Bereich ist auf der Basis eines freiheitskompatiblen weichen Paternalismus ein Schutz des Sterbewilligen vor sich selbst und eine daraus resultierende Pflicht des Ausführenden, sich des erbetenen Eingriffs in das Leben des Verlangenden zu enthalten, nicht mehr begründbar. Insoweit müssen deshalb kraft einer entsprechenden teleologischen Reduktion des § 216 StGB über die Sonderform der indirekten Sterbehilfe hinaus auch andere Formen aktiver Sterbehilfe zulässig sein.73 Diesem Vorschlag lässt sich nicht engegenhalten, er betreibe Rechtspolitik unter dem Deckmantel der Rechtsdogmatik. Wie ich zu zeigen versucht habe, ergibt er sich 70
Fischer58, § 216 Rn. 9; Kühl27, § 216 Rn. 2; LK-Jähnke11, § 216 Rn. 7; SK StGB-Sinn125. , § 216 Rn. 8; Sch/Sch-Eser28, § 216 Rn. 8; Wessels/Hettinger, BT 136 Rn. 156. 71 MK-Schneider, § 216 Rn. 20; SK StGB-Sinn125. Lfg., § 216 Rn. 8. 72 Wer behauptet, es ließen sich im Hinblick auf Entscheidungen über Leben und Tod keine konsensfähigen Maßstäbe ausmachen (so zuletzt Roxin, FS Jakobs [2007] S. 575), verschließt deshalb die Augen vor der Realität (treffend Verrel, FS Jakobs [2007] S. 724). 73 Im Ergebnis weitgehend wie hier Jakobs (Fn. 42) S. 31 f.; Frisch (Fn. 26) S. 109 f.; Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt (2010) S. 300; Kubiciel, JZ 2009, 606 f.; ders., JA 2011, 91; ders., AL 2011, 366; Murmann (Fn. 42) S. 499 ff.; ferner Freund, FS Herzberg (2008) S. 237 f. für den Fall, dass der Patient den lebensbeendenden Akt nicht mehr eigenhändig vollziehen kann. – Andere Autoren ziehen den Grundgedanken des rechtfertigenden Notstands heran (MK-Schneider, Vor § 211 Rn. 91; NK-Neumann3, Vor § 211 Rn. 127; § 216 Rn. 19; ders., FS Herzberg [2008] S. 584; ders. [Fn. 65] S. 251 ff.; SK StGB-Sinn126, § 212 Rn. 56; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 110 § 1 Rn. 34; Wessels/Beulke, AT42 Rn. 316d; Chatzikostas [Fn. 62] S. 320 ff.; E. Fischer, Recht auf Sterben!? [2004] S. 249 ff., 274; Geißendörfer [Fn. 7] S. 215; Kämpfer [Fn. 42] S. 357 ff.; Kargl [Fn. 22] S. 396; Merkel [Fn. 37] S. 578 ff.; ders., FS Schroeder [2006] S. 320 f.; Müller [Fn. 45] S. 163, 202 ff.; Schork [Fn. 7] S. 248 ff.; Herzberg, NJW 1986, 1640; von Hirsch/Neumann [Fn. 42] S. 88 ff., 107 ff.; Kutzer, DRiZ 2005, 258; ders., ZRP 2003, 212; ders., FPR 2007, 61; Otto [Fn. 7] S. D 58 ff., 92 [allerdings nur für krasse Extremfälle, ansonsten lediglich Absehen von Strafe, S. D 61, 75]; ders., Jura 1999, 441; ders., NJW 2006, 2222). – Die herkömmliche Auffassung hält allenfalls einen Rückgriff auf § 35 StGB (Maatsch, Selbstverfügung als intrapersonaler Rechtspflichtverstoß [2001] S. 239), auf den übergesetzlichen entschuldigenden Notstand (Sch/Sch-Lenckner28, Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 117; Hirsch, FS Lackner [1987] S. 610, 615; Pelzl, KJ 1994, 194; Tröndle [Fn. 52] S. M 39; ders., ZStW 99 [1987] 42; wohl auch Köhler, JRE 14 [2006] 444; Ingelfinger, JZ 2006, 823) oder ein Absehen von Strafe (Sch/Sch-Eser28, Vorbem. §§ 211 ff. Rn. 25; Roxin, AT 14 § 16 Rn. 56; ders., FS GA [1993] S. 189 f.; Dölling, MedR 1987, 11 f.; Duttge [Fn. 35] S. 51 f.; Engisch, FS Bockelmann [1979] S. 636 f.; Wassermann, in: Winau/ Rosemeier [Hrsg.] Tod und Sterben [1984] S. 401 f.) für möglich. Lfg.
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vielmehr aus der konsequenten Durchführung von Gedankengängen, die in der neueren dogmatischen Entwicklung bereits angelegt sind. Diese Entwicklung hat insofern zu einer bemerkenswerten Umkehrung der Darlegungs- und Beweislast geführt: Nicht die Befürworter, sondern die Gegner einer vorsichtigen Erweiterung des Bereichs erlaubter aktiver Sterbehilfe befinden sich mittlerweile dogmatisch in der Defensive. Die Diskussion über die aktive Sterbehilfe bestätigt damit in seltener Eindringlichkeit, dass Strafrechtsdogmatik immer auch eine rechtspolitische Dimension besitzt. Wie eine sich dieses Befundes bewusste Strafrechtsdogmatik auszusehen hat, hat Jürgen Wolter in seinem wissenschaftlichen Werk auf vorbildliche Weise demonstriert.
Das 45. StÄG: Echte Gesetzesreform oder auftragsgemäße Erledigung? Von Hero Schall
I. Im Dezember 2011 ist das „Fünfundvierzigste Strafrechtsänderungsgesetz zur Umsetzung der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt“1 verabschiedet worden. Mit diesem Gesetz ist das deutsche Umweltstrafrecht nach seiner Kodifizierung durch das 1. UKG im Jahr 1980 und seiner Reformierung durch das 2. UKG im Jahr 19942 erstmals wieder in größerem Umfang3 verändert worden. Zweifelhaft ist allerdings, ob diese Veränderung wirklich „eine nicht geringe Sprengkraft besitzt“4 bzw. die Beschreibung als „neues Umweltstrafrecht“5 rechtfertigt oder sich vielmehr in einer pflichtschuldigst nachgeholten (unten II.), nur punktuellen Befolgung bzw. bloßen Wiederholung der Richtlinien-Vorgaben zum strafrechtlichen Umweltschutz erschöpft.6
II. Die Frage einer kritischen Bewertung des 45. StÄG stellt sich schon angesichts der auffälligen Vorgeschichte seiner Entstehung:7 Die diesem Gesetz zugrundelie1
BGBl. I S. 2557. Siehe zur Entwicklung des Umweltstrafrechts nur Saliger, Umweltstrafrecht, 2012, Rn. 18 ff. sowie SK-StGB/Schall, 8. Aufl., Stand: Aug. 2012, Vor § 324 Rn. 1 ff. m.w.N.; ausführliche Darstellung bei LK/Steindorf, 11. Aufl. 1997, Vor § 324 Rn. 1 ff. 3 Zu kleineren Eingriffen vgl. die Übersicht bei SK-StGB/Schall (Fn. 2), Vor § 324 Rn. 4, 5e. 4 So Saliger (Fn. 2), Rn. 23. 5 So die Titulierung von Szesny/Görtz, ZUR 2012, 405; s. auch Heger, HRRS 2012, 211, der eine Titulierung des 45. StÄG als „3. UKG“ für naheliegend hält; diese Bezeichnung verwendet auch Pfohl, NuR 2012, 307 (308). 6 In diesem Sinne etwa (bezogen auf die Europarechtsakzessorietät des § 326 Abs. 2 StGB) K. Meyer, wistra 2012, 371 (376): „… nur das Notwendigste zur Richtlinienumsetzung“. 7 Ausführlich dazu Hecker, in: FS M. Schröder, 2012, S. 531 (532 ff., 539 ff.); Möhrenschlager, wistra 2011, Heft 12, S. R LXIX; Ruhs, ZJS 2011, 13 ff.; s. auch BT-Drs. 17/5391, S. 10 f.; SK-StGB/Schall (Fn. 2), Vor § 324 Rn. 5 ff. m.w.N. 2
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gende „Richtlinie 2008/99/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt“8 hat ihren Vorläufer im „Rahmenbeschluss 2003/80/JI des Rates vom 27. 1. 2003 über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht“9, der einen EU-weiten Mindeststandard für schwere Verstöße gegen das gemeinschaftliche Umweltschutzrecht schaffen und von den Mitgliedsstaaten bis zum 27. 1. 2005 in nationales Recht umgesetzt werden sollte. Dieser Rahmenbeschluss wurde jedoch auf Klage der Kommission vom EuGH für nichtig erklärt.10 Entsprechend den Vorgaben des EuGH11 beschränkt sich die 2008 erlassene EU-Richtlinie über den strafrechtlichen Umweltschutz auf Mindestvorschriften, die die Mitgliedsstaaten der EU zum strafrechtlichen Schutz der Umweltmedien Wasser, Luft und Boden vor erheblichen rechtswidrigen Beeinträchtigungen durch vorsätzliche oder zumindest grob fahrlässige Handlungen verpflichten. Die Umsetzung sollte spätestens bis zum 26. 12. 2010 erfolgen.12 Dass der deutsche Gesetzgeber diese Frist so deutlich überschritten hat, ist aus mehreren Gründen verwunderlich: So hatte die Bundesregierung zur Umsetzung des später für nichtig erklärten Rahmenbeschlusses über den strafrechtlichen Umweltschutz aus dem Jahr 2003 (s. oben) bereits 2005 einen Gesetzesentwurf vorgelegt, auf den ohne nennenswerte Änderungen zurückgegriffen werden konnte.13 Außerdem ging der Gesetzgeber des 45. StÄG davon aus, dass das deutsche Umweltstrafrecht den Vorgaben der Richtlinie bereits im Wesentlichen entsprach und Änderungen daher nur in Teilbereichen erforderlich wären.14 Eine parlamentarische Auseinandersetzung mit den bereits seit Ende 2010 vorliegenden kritischen Stellungnahmen des Deutschen Richterbundes15 und des Deutschen Anwaltvereins16 fand nicht statt. 8
ABl. EU 2008 Nr. L 328/28. ABl. EU 2003 Nr. L 29/55. 10 Urt. v. 13. 9. 2005, ABl. EU 2005 Nr. C 315/2 = JZ 2006, 307; ausführlich dazu Heger, Die Europäisierung des deutschen Umweltstrafrechts, 2009, S. 118 ff.; s. auch Hecker, Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. 2012, § 8 Rn. 28 ff.; Hefendehl, ZIS 2006, 161 ff.; Pohl, ZIS 2006, 213 ff.; Rackow, ZIS 2008, 526 (532 ff.); Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 3. Aufl. 2009, § 8 Rn. 41 ff.; Schall, NStZ-RR 2006, 161 f. m.w.N. 11 Ein weiteres Nichtigkeitsurteil (v. 23. 10. 2007 – EuGH ZUR 2008, 312) betraf den „Rahmenbeschluss 2005/667/JI des Rates vom 12. 7. 2005 zur Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens zur Bekämpfung der Verschmutzung durch Schiffe“; s. dazu Hecker (Fn. 10), § 8 Rn. 31 m.w.N.; Satzger (Fn. 10), § 8 Rn. 47 f.; Zimmermann, NStZ 2008, 662 ff. 12 Art. 8 Abs. 1 S. 1 der Richtlinie 2008/99/EG (ABl. EU 2008 Nr. L 328/31). 13 Der Entwurf sah schon damals u. a. eine Erweiterung des § 325 StGB auf Luftverunreinigungen durch Verkehrsfahrzeuge sowie eine Gleichstellung von Rechtsvorschriften und Verwaltungsakten aus anderen EU-Mitgliedsstaaten vor. Siehe dazu die kritische Stellungnahme des Bundesrates, BR-Drs. 399/05; s. auch Schall, NStZ-RR 2006, 161 f. m.w.N. 14 BT-Drs. 17/5391, S. 10; s. auch Bericht und Empfehlung des Rechtsausschusses zur Annahme des nahezu unveränderten RegE, BT-Drs. 17/7674. 15 Stellungnahme des Deutschen Richterbundes Nr. 48/10 vom November 2010 (http:// www.drb.de/cms/index.php?id=681&L=0%2520). 16 Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins Nr. 71/2010 vom Dezember 2010 (http:// anwaltverein.de/downloads/stellungnahmen/SN-10/71-2010-SN-Umweltschutz.pdf). 9
Das 45. StÄG: Echte Gesetzesreform oder auftragsgemäße Erledigung?
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III. Da die EU-Richtlinie zum strafrechtlichen Umweltschutz nur Mindestvorschriften enthält und Art. 193 EUV durchaus schärfere nationale Umweltstrafvorschriften zulässt, hätte der Gesetzgeber des 45. StÄG durchaus die Gelegenheit gehabt, im Zusammenhang mit der Richtlinienumsetzung das bestehende Umweltstrafrecht der §§ 324 ff. StGB zugleich nachhaltig zu verändern. Die Gesetzesbegründung erweckt allerdings den Eindruck, als ob sich der Gesetzgeber darauf beschränken wollte, lediglich die Mindestvorgaben der Richtlinie zu erfüllen, wobei er zudem nur unwesentliche Änderungen in Teilbereichen für erforderlich gehalten hat.17 Auch eine solche Beschränkung auf die Richtlinien-Vorgaben schließt freilich nicht aus, dass die europarechtlich notwendigen Änderungen sinnvoll und systemgerecht in das bestehende Normengefüge eingefügt werden, ohne dass insoweit Friktionen oder Unklarheiten entstehen. Ob dies dem Gesetzgeber des 45. StÄG gelungen ist, lässt sich nur nach einer detaillierten Untersuchung der einzelnen Gesetzesänderungen18 beurteilen. 1. Im Straftatbestand der Luftverunreinigung (§ 325 StGB) wird im Emissionstatbestand des Absatzes 2 die bisherige Voraussetzung einer „groben“ Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten19 gestrichen, da die Richtlinie die Kriminalisierung von lediglich rechtswidrigem Einleiten, Abgeben oder Einbringen einer schädigungsgeeigneten Menge von Stoffen in die Luft gebietet, ohne eine Einschränkung auf grobe Verstöße vorzusehen.20 Aus dem gleichen Grund musste auch die bisherige Tatbestandseinschränkung der anlagenbezogenen Luftverunreinigung („beim Betrieb einer Anlage“) korrigiert werden. Dieser Aufgabe hat sich der Gesetzgeber durch Einführung des neuen Absatzes 3 entledigt, der ganz allgemein das Freisetzen von Schadstoffen in die Luft in bedeutendem Umfang erfasst, sofern dies unter Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten geschieht. Als Beispiel wird in der Gesetzesbegründung das Entweichenlassen von Giftstoffen aus einem Vorratsbehälter sowie 17
Vgl. dazu die Erläuterungen zum „Umsetzungsbedarf im deutschen Strafrecht“ – BTDrs. 17/5391, S. 10 ff. 18 Die nachfolgende Analyse beschränkt sich aus Raumgründen auf die §§ 324 ff. StGB als „Kernbestand“ des Umweltstrafrechts. Zu den ebenfalls durch das 45. StÄG erfolgten Änderungen des BNatSchG und des BJagdG s. Heger, HRRS 2012, 211 (220 ff.); Szesny/Görtz, ZUR 2012, 405 (409 ff.). 19 Für eine „grobe“ Pflichtwidrigkeit wurde bisher vorausgesetzt, dass die jeweilige Pflicht in besonders schwerem Maße verletzt wird oder der Verstoß sich gegen eine besonders wichtige Pflicht richtet (vgl. zu § 325 StGB a.F.: BT-Drs. 8/2382, S. 16; SSW-StGB/Saliger, 2009, § 325 Rn. 19; Sch/Sch/Heine, StGB, 28. Aufl. 2010, § 325 Rn. 24). 20 Art. 3 lit. a) der Richtlinie – ABl. EU 2008 Nr. L 328/29; s. auch BT-Drs. 17/5391, S. 16; vgl. auch Heger, HRRS 2012, 211 (215 f.), der die Änderung im Hinblick auf die Vorgaben der Richtlinie nicht für notwendig hält, sie aber „aus Klarstellungsgründen“ nicht beanstanden will.
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das Giftstoffe freisetzende Verbrennen eines Kupferkabels angeführt.21 Der Gesetzgeber weist allerdings selber darauf hin, dass der Anwendungsbereich des neuen Emissionstatbestandes wegen der Weite des Anlagenbegriffs22 gering sein wird.23 Um den Ausnahmecharakter gegenüber dem Tatbestand des Absatzes 2 hervorzuheben und wegen des geringeren Unrechtsgehalts werde insoweit ausdrückliche Subsidiarität angeordnet, der Strafrahmen auf Freiheitsstrafe bis zu drei Jahre (oder Geldstrafe) begrenzt und neben der vorsätzlichen nur grob fahrlässige Begehung pönalisiert (Absatz 5).24 Berücksichtig man, dass auch der neu eingefügte Absatz 3 mit dem Erfordernis des Freisetzens von Schadstoffen „in bedeutendem Umfang“ und der spezifischen Schädigungseignung gem. Absatz 6 erheblichen Einschränkungen unterliegt und derartig „qualifizierte“ Luftverunreinigungen ohnehin in aller Regel von Anlagen ausgehen, wäre es meines Erachtens sinnvoller gewesen, das umweltverletzende Verhalten in § 325 StGB insgesamt auf einen Emissionstatbestand in der Form des neuen Absatzes 3 zu begrenzen und es wie bisher für die vorsätzliche Verwirklichung bei dem Strafrahmen von fünf Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe, für die fahrlässige Begehung von drei Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe zu belassen. Die unterschiedliche Schwere der einzelnen Fallgestaltungen – z. B. bei anlagenbedingter Luftverschmutzung – ließe sich wie auch sonst im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigen und besonders schwere Fälle werden ohnehin von der Sondervorschrift des § 330 StGB aufgefangen. Eine solche Vereinfachung der Strafvorschrift des § 325 StGB könnte den Vorzug der Gesetzesklarheit und vor allem auch der systematischen Übereinstimmung mit den Straftatbeständen zum Schutz der anderen Umweltmedien in den §§ 324, 324a StGB für sich in Anspruch nehmen. Eine weitere bemerkenswerte Veränderung hat § 325 StGB durch die Aufhebung des generellen Strafbarkeitsausschlusses für Luftverunreinigungen erfahren, die bei dem Betrieb von Kraftfahrzeugen, Schienen-, Luft- und Wasserfahrzeugen entstehen (§ 325 Abs. 5 StGB a.F.).25 Gem. Absatz 7 der neuen Vorschrift soll diese Privilegierung nur noch für den Tatbestand des Absatzes 1 gelten. Das bedeutet, dass Luftverschmutzungen, die durch die genannten Verkehrsfahrzeuge verursacht werden, nicht mehr von vornherein aus dem Anwendungsbereich des § 325 StGB herausfallen, sondern nunmehr – da diese Fahrzeuge sämtlich dem Anlagenbegriff unterfallen – von Absatz 2 erfasst werden, dem gegenüber der neue Absatz 3 subsidiär ist (s. oben).26 In der Praxis wird die plakative Streichung der allgemeinen Privilegierungs-
21 BT-Drs. 17/5391, S. 16 unter Bezugnahme auf Heger (Fn. 10), S. 304 f. und Franzheim/ Pfohl, Umweltstrafrecht, 2. Aufl. 2001, Rn. 206. 22 Vgl. dazu nur SK-StGB/Schall (Fn. 2), § 325 Rn. 18 ff. m.w.N. 23 BT-Drs. 17/5391, S. 16; zweifelnd insoweit Szesny/Görtz, ZUR 2012, 405 (406). 24 BT-Drs. 17/5391, S. 16 f. 25 Zur Intention des damaligen Gesetzgebers, den Vorrang des Verkehrsrechts zu sichern, s. BT-Drs. 8/2382, S. 16, 21; 12/192, S. 19; vgl. dazu auch BT-Drs. 13/2155 vom 15. 8. 1995 (BReg zu „Autoemissionen und Umwelt“). 26 BT-Drs. 17/5391, S. 17; ebenso Saliger (Fn. 2), Rn. 388, 412, 417.
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klausel allerdings keine nennenswerten Veränderungen nach sich ziehen:27 Bei dem massenhaft vorkommenden Straßenverkehr, der als Hauptquelle schädlicher Emissionen gilt,28 handelt es sich in der Regel um ordnungsgemäß zugelassene, vom TÜV abgenommene Kraftfahrzeuge, so dass schon keine „Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten“ vorliegt. Auch wird es bei den Abgasen eines einzelnen Fahrzeugs zumeist an dem Freisetzen von Schadstoffen „in bedeutendem Umfang“ und/ oder an der spezifischen Schädigungseignung fehlen.29 Letzteres mag bei Flugzeugen, Schiffen und der Bahn anders sein, doch ist auch bei ihnen der durch den Betrieb bedingte Schadstoffausstoß regelmäßig durch die Zulassung bzw. die Betriebsgenehmigung gedeckt und daher ebenfalls mangels „Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten“ schon nicht tatbestandsmäßig.30 Kommt es zu unvorhergesehenen Notfällen (z. B. einem unfallbedingten Ausfall der Filteranlagen oder dem Ablassen gefährlicher Schiffsladungen bei einer Schiffshavarie), so dürfte die Luftverunreinigung in den meisten Fällen durch rechtfertigenden Notstand gem. § 34 StGB gerechtfertigt sein,31 sofern derartige Konstellationen (wie z. B. das Ablassen größerer Mengen von Kerosin bei Notlandung eines Airbusses) nicht bereits durch spezielle internationale Übereinkommen geregelt werden.32 Im Übrigen sollte nicht übersehen werden, dass von Fahrzeugen ausgehende Emissionen, die zu einer Gewässer- oder Bodenverunreinigung führen, bereits durch §§ 324, 324a StGB erfasst werden, die keine entsprechende Privilegierungsklausel enthalten.33 Gleichwohl ist es zu begrüßen, dass der Gesetzgeber des 45. StÄG im Zuge der Richtlinienumsetzung die generelle Straflosigkeit einer durch Verkehrsfahrzeuge verursachten Luftverunreinigung aufgehoben hat, da es nicht gerade zur Stärkung des allgemeinen Umweltbewusstseins beiträgt, wenn der Hauptverursacher der Luftverschmutzung34 gerade bei dem hier einschlägigen Straftatbestand des § 325 StGB quasi einen „Freifahrtschein“ erhält.35 Mögen auch die durch Verkehrsfahrzeuge ver-
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Anders die Einschätzung von Szesny/Görtz, ZUR 2012, 405 (406): „… führt de facto zu einer Erweiterung der Strafbarkeit“. 28 Vgl. Jarass, DVBl. 1995, 589 (591) m.w.N.; Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 14 Rn. 1, 241; LK/Steindorf (Fn. 2), § 325 Rn. 1; MüKo-StGB/Alt, 2006, § 325 Rn. 6; Rebler, SVR 2005, 211; Saliger (Fn. 2), Rn. 388; Scheidler, SVR 2010, 201. 29 Ähnlich auch Heger, HRRS 2012, 211 (215). 30 So der Sache nach auch Heger, HRRS 2012, 211 (215), der hier allerdings unzutreffend vom Ausschluss der Rechtswidrigkeit spricht. 31 Vgl. BT-Drs. 17/5391, S. 17; ebenso Saliger (Fn. 2), Rn. 412; s. dazu auch SK-StGB/ Schall (Fn. 2), § 325 Rn. 65 i. V. m. § 324a Rn. 50. 32 Siehe dazu BT-Drs. 17/5391, S. 17; Saliger (Fn. 2), Rn. 412. 33 So zu Recht Heger, HRRS 2012, 211 (215); ders. (Fn. 10), S. 307; s. zu solchen Konstellationen auch SK-StGB/Schall (Fn. 2), § 324 Rn. 49 und § 324a Rn. 37a m.w.N. 34 Siehe oben Fn. 28. 35 So im Ergebnis auch Heger, HRRS 2012, 211, 215 (der insoweit allerdings keine Verpflichtung aus der EU-Richtlinie herauslesen will); befürwortend auch Sack bei M. Fischer, NuR 2011, 564 (565); Saliger (Fn. 2), Rn. 388; grundsätzlich zustimmend auch die Stel-
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ursachten Luftverunreinigungen in der Regel mangels Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten schon nicht tatbestandsmäßig und damit straflos sein, so wäre es doch unverständlich, wenn in den Fällen, in denen die Fahrzeugführer die jeweiligen Pflichten nun mal nicht einhalten – z. B. bei Benutzung eines nicht zugelassenen oder eines (eventuell aufgrund eigener Manipulationen) defekten Fahrzeugs – und dadurch eine erhebliche Luftverschmutzung verursachen, die gerade für die Verletzung des Umweltmediums Luft aufgestellte Strafvorschrift des § 325 StGB von vornherein außen vor gehalten würde.36 Zu kritisieren ist allerdings, dass der Gesetzgeber hier „auf halber Strecke“ stehen geblieben ist. Denn warum von Verkehrsfahrzeugen veranlasste Immissionen i. S. d. § 325 Abs. 1 StGB nach wie vor aus der Strafbarkeit herausgenommen werden, lässt sich sachlich ebenso wenig erklären wie die Tatsache, dass die – mit § 325 Abs. 5 StGB a.F. identische – generelle Privilegierungsklausel bei § 325a Abs. 4 StGB ohne jegliche Überprüfung beibehalten worden ist.37 Eine Erklärung für diese Inkonsequenz wird man nur darin sehen können, dass die Umweltrichtlinie insoweit eine Änderung nicht bzw. nicht ausdrücklich verlangte38 und der Gesetzgeber sich daher nur mit einer auftragsgemäßen Erledigung begnügt hat, statt die Chance zu einer in sich schlüssigen (Teil-)Reform der Umweltstrafnormen zu nutzen. 2. Mehrfache Änderungen hat die in der Praxis des Umweltstrafrechts eindeutig dominierende Strafvorschrift des § 326 StGB39 erfahren: Dies beginnt mit der Verkürzung der Überschrift auf „Unerlaubter Umgang mit Abfällen“. Die Streichung des bisherigen Attributs „gefährlicher“ Abfälle ist entgegen der Bekundung des Gesetzgebers40 durchaus mit einer materiellen Änderung verbunden. Sie ist nämlich die notwendige Konsequenz aus der durch die Richtlinie41 vorgegebenen Erweiterung der unbefugten Abfallverbringung in § 326 Abs. 2 Nr. 1 StGB auf Stoffe, die unabhängig von einem Gefährdungspotential in der EG-Verordnung als Abfälle deklariert werlungnahmen vom Deutschen Anwaltverein (Fn. 16), S. 7, und vom Deutschen Richterbund (Fn. 15), S. 3. 36 Die von den früheren Gesetzgebern (Fn. 25) für ausreichend gehaltenen Bußgeldtatbestände (vgl. § 69a Abs. 3 Nr. 15 i. V. m. § 47c StVZO, § 24 StVG) entfalten nicht die generalpräventive Wirkung, die gerade mit der Implementierung der Umweltstrafvorschriften in das StGB erreicht werden sollte (s. dazu SK-StGB/Schall (Fn. 2), Vor § 324 Rn. 1 m.w.N.). 37 Kritisch auch Heger, HRRS 2012, 211 (215). 38 Vgl. Art. 3 lit. a) der Richtlinie 2008/99/EG (ABl. EU Nr. L 328/29). 39 Bei den polizeilich bekannt gewordenen Umweltdelikten der §§ 324 ff. StGB nimmt § 326 StGB durchweg einen Anteil von ca. 65 % ein – vgl. SK-StGB/Schall (o. Fn. 2), Vor § 324 Rn. 7 m.w.N. 40 BT-Drs. 17/5391, S. 17; zust. Saliger (Fn. 2), Rn. 267 m. Fn. 4; wie hier dagegen Heger, HRRS 2012, 211 (216); Möhrenschlager, wistra 2011, Heft 3, S. R XXXIV; Szesny/Görtz, ZUR 2012, 405 (406); Stellungnahme des Anwaltvereins (Fn. 16), S. 7 f. 41 Art. 3 lit. c) der Richtlinie – ABl. EU 2008 Nr. L 328/30 (betr. „Verbringung von Abfällen“).
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den (dazu unten). In § 326 Abs. 1 Nr. 2 StGB wird das Gefährlichkeitskriterium „fruchtschädigend“ durch das Wort „fortpflanzungsgefährdend“ ersetzt. Damit soll wieder eine Angleichung an das ChemG (§ 3a Nr. 13)42 erreicht werden, dem (vor seiner Änderung)43 im Rahmen des 2. UKG auch der ursprüngliche Begriff entnommen war.44 Mit der begrifflichen Anpassung ist aber auch eine – wenn auch geringfügige – inhaltliche Erweiterung verknüpft.45 Denn „fruchtschädigend“ sind Stoffe, die bei Aufnahme in den Körper „nicht vererbbare Schäden der Nachkommenschaft hervorrufen oder die Häufigkeit solcher Schäden erhöhen“;46 der Begriff „fortpflanzungsgefährdend“ umfasst darüber hinaus „fruchtbarkeitsgefährdende“ Stoffe, die „eine Beeinträchtigung der männlichen oder weiblichen Fortpflanzungsfunktionen oder der Fortpflanzungsfähigkeit zur Folge haben können“.47 Wesentlich geändert hat der Gesetzgeber des 45. StÄG die Tatmodalitäten des § 326 Abs. 1 StGB. In nahezu wortgetreuer Umsetzung des Art. 3 lit. b) der Umweltrichtlinie und in Übereinstimmung mit den Begriffsbestimmungen der europäischen Abfallrahmenrichtlinie48 und des (diese Richtlinie umsetzenden) neuen KrWG (§ 3 Abs. 10 – 15)49 werden als unerlaubter Umgang auch das (von vorgeschriebenen Verfahren abweichende) Sammeln, Befördern, Handeln und Makeln aufgenommen50 und dementsprechend der frühere Oberbegriff des „Sonst-Beseitigen“ durch „sonstiges Bewirtschaften“ ersetzt.51 Obgleich auch die Tatmodalitäten in der bisherigen Fassung (insbesondere der Begriff des Lagerns) schon sehr großzügig ausgelegt wur-
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Gesetz zum Schutz vor gefährlichen Stoffen (Chemikaliengesetz – ChemG) v. 2. 7. 2008 (BGBl. I S. 1146), zuletzt geändert durch Gesetz v. 24. 2. 2012 (BGBl. I S. 212). 43 Mit der Ersetzung des Begriffs im ChemG im Jahre 1994 sollten entsprechend der neuen EG-Definition auch Wirkungen i. S. d. Beeinträchtigung der Fruchtbarkeit erfasst werden; s. BT-Drs. 12/7136, S. 31. 44 BT-Drs. 17/5391, S. 17. 45 A.A. Heger, HRRS 2012, 211 (216): „Inhaltlich kein Unterschied“; einschränkend auch Szesny/Görtz, ZUR 2012, 405 (406): „Allenfalls geringfügig strafbarkeitserweiternd“; für weiterreichende Bedeutung des neuen Begriffs dagegen auch LK/Steindorf (Fn. 2), § 326 Rn. 81; NK-StGB/Ransiek, 3. Aufl. 2010, § 326 Rn. 22; s. auch BT-Drs. 17/5391, S. 17 und BT-Drs. 12/7136, S. 31. 46 § 3 Satz 2 Nr. 13 lit. a) GefStoffV – Verordnung zum Schutz vor Gefahrstoffen (Gefahrstoffverordnung – GefStoffV) v. 26. 11. 2010 (BGBl. I S. 1643, 1644), zuletzt geändert durch Gesetz v. 28. 7. 2011 (BGBl. I S. 1622). 47 § 3 Satz 2 Nr. 13 lit. b) GefStoffV. 48 AbfRRL 2008/98/EG, ABl. EU 2008 Nr. L 312/9 f. 49 Kreislaufwirtschaftsgesetz v. 24. 2. 2012, BGBl. I S. 212. 50 Ausdrücklich benannt wird auch das Verwerten, das jedoch nach h.M. auch schon bisher erfasst wurde (s. nur Saliger (Fn. 2), Rn. 281, 310 m.w.N.). 51 Die zunächst gestrichene Tathandlung des Lagerns wurde auf Anregung des Rechtsausschusses wieder aufgenommen, um klarzustellen, dass insoweit keine Änderungen beabsichtigt sind; s. BT-Drs. 17/7674, S. 5, 14; s. auch BT-Drs. 17/5391, S. 25, 29 und BR-Drs. 58/ 11, S. 1; s. dazu auch Möhrenschlager, wistra 2011, Heft 3, S. R XXXIV; Heft 12, S. R LXIX.
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den,52 eröffnet der neu gefasste Absatz 1 einen deutlich größeren Anwendungsbereich des § 326 StGB, da nunmehr auch die innerstaatliche Beförderung53 und vor allem alle Bewirtschaftungsvorgänge erfasst werden, die sich auf gefährliche Abfälle (i. S. d. Absatzes 1 Nr. 1 – 4) beziehen;54 dazu gehören z. B. auch die Vorbereitung, Logistik, Überwachung und Nachsorge der Verwertungs- oder Beseitigungsverfahren.55 Der bisherige Tatbestand der unbefugten Abfallverbringung ist zwar – als Nr. 2 des neu gefassten Absatzes 2 – erhalten geblieben, aber um eine europarechtliche Alternative erweitert worden: Gem. § 326 Abs. 2 Nr. 1 StGB wird – entsprechend der Vorgabe in Art. 3 lit. c) der Umweltrichtlinie – auch das Verbringen von Abfällen unter Strafe gestellt, die von der EG-Abfallverbringungsverordnung (VVA)56 erfasst werden, sofern die Verbringung i. S. d. Verordnung illegal, d. h. vor allem ohne die erforderliche Notifizierung der zuständigen Behörden erfolgt.57 Damit wird der Tatbestand nicht mehr auf gefährliche Abfälle i. S. d. Absatzes 1 Nr. 1 – 4 begrenzt, sondern umfasst mit dem Bezug auf Art. 2 Nr. 1 EG-VVA und der dortigen weiteren Verweisung58 auch ungefährliche Abfälle wie z. B. abgelaufene oder nicht der Norm entsprechende Produkte.59 Strafbar ist ihre Verbringung allerdings erst dann, wenn sie 52 Vgl. nur Sack, Umweltstrafrecht, Stand: Juni 2012, § 326 Rn. 208 f.; SSW-StGB/Saliger (Fn. 19), § 326 Rn. 32; Sch/Sch/Heine (Fn. 19), § 326 Rn. 10a m.w.N. 53 Bei grenzüberschreitender Beförderung von gefährlichen Abfällen i. S. d. Absatzes 1 geht § 326 Abs. 2 Nr. 2 StGB als lex specialis für grenzüberschreitende Mülltransporte vor; zutreffend Heger, HRRS 2012, 211 (217). 54 Zur notwendigen Einschränkung im Hinblick auf eine Wertungsgleichheit mit den konkret benannten Tathandlungen s. Saliger (Fn. 2), Rn. 312; bezogen auf den früheren Oberbegriff „Sonst-Beseitigen“ s. auch Heine, NJW 1998, 3665 (3669 f.) m.w.N.; MüKoStGB/Alt (Fn. 28), § 326 Rn. 46; Sch/Sch/Heine (Fn. 19), § 326 Rn. 10 m.w.N.; s. auch BTDrs. 8/2382, S. 18. 55 Vgl. § 3 Abs. 10 – 15 KrWG; näher dazu Saliger (Fn. 2), Rn. 312; s. auch BT-Drs. 17/ 6052, S. 10 f., 73. 56 Art. 2 Nr. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1013/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14. 6. 2006 über die Verbringung von Abfällen (ABl. L 190 v. 12. 7. 2006, S. 1; L 318 v. 28. 11. 2008, S. 15; L 119 v. 13. 5. 2010, S. 1), zuletzt geändert durch die Verordnung (EU) Nr. 135/2012 v. 16. 2. 2012 (ABl. L 46 v. 17. 2. 2012, S. 30). 57 Art. 2 Nr. 35 der EG-VVA Nr. 1013/2006 (ABl. L 190 v. 12. 7. 2006, S. 7 f.); s. dazu auch Saliger (Fn. 2), Rn. 321. 58 Die EG-VVA Nr. 1013/2006 verweist auf den Abfallbegriff des Art. 1 Abs. 1 lit. a) der Richtlinie 2006/12/EG, der wiederum auf die Abfallgruppen in Anhang I dieser Richtlinie verweist; diese Richtlinie ist inzwischen jedoch aufgehoben worden. Maßgeblich ist daher jetzt Art. 3 Nr. 1 der Richtlinie 2008/98/EG (AbfRRL, ABl. EU 2008 Nr. L 312/9); danach wird als Abfall definiert jeder „Stoff oder Gegenstand, dessen sich sein Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muss“. – Berechtigte Kritik an der neuen, komplizierten Verweisung vom Deutschen Richterbund (Fn. 15), S. 3 f.; ebenso Möhrenschlager, wistra 2011, Heft 3, S. R XXXIV; Sack bei M. Fischer, NuR 2011, 564 (566); Saliger (Fn. 2), Rn. 320, 321; Szesny/Görtz, ZUR 2012, 405 (406 f.); Zimmermann, ZRP 2009, 74 (76). 59 Siehe BT-Drs. 17/5391, S. 13, 18; näher dazu Szesny/Görtz, ZUR 2012, 405 (406 f.); s. auch Saliger (Fn. 2), Rn. 320.
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„in nicht unerheblicher Menge“ erfolgt. Der Gesetzgeber des 45. StÄG hat sich damit begnügt, die Vorgabe der Umweltrichtlinie60 wörtlich zu übernehmen, und offenbar gemeint, allein mit Hilfe dieses quantitativen Merkmals Bagatellfälle ausschließen zu können.61 Dass dies gelingen kann, ist jedoch mehr als zweifelhaft. Denn zum einen bleibt völlig unklar, wie sich der Begriff der „nicht unerheblichen Menge“ bestimmen lässt und wann die Grenze von der noch unerheblichen zur bereits erheblichen Menge überschritten sein soll.62 Zum anderen ist nicht erkennbar, worin die – das Unrecht einer bloßen Ordnungswidrigkeit überschreitende – Strafwürdigkeit einer grenzüberschreitenden Beförderung von Abfällen liegen soll, denen (anders als in § 326 Abs. 2 Nr. 2 StGB) jegliches Gefährdungspotential für Mensch oder Umwelt fehlt – auch wenn sie in größerer Menge und unter Verstoß gegen Notifizierungspflichten transportiert werden.63 3. Art. 3 lit. d) der Umweltrichtlinie verpflichtet die EU-Mitgliedsstaaten zur Pönalisierung von Anlagen, in denen eine gefährliche Tätigkeit ausgeübt oder gefährliche Stoffe gelagert oder verwendet werden, wodurch außerhalb der Anlage Mensch oder Umwelt erheblich geschädigt werden können. Dieser Verpflichtung wird das deutsche Umweltstrafrecht im Wesentlichen bereits durch die Strafnormen der §§ 327, 328 Abs. 3 Nr. 1 StGB gerecht. Da aber § 327 Abs. 1 StGB nur bestimmte, Kernbrennstoffe erzeugende oder verarbeitende Anlagen erfasst64 und § 327 Abs. 2 StGB bisher wegen der Bezugnahme auf nur deutsche Umweltverwaltungsgesetze auf inländische Anlagen beschränkt war, hat der Gesetzgeber des 45. StÄG § 327 StGB im Absatz 2 um einen weiteren Satz ergänzt, um den unerlaubten Betrieb der o.g. Anlagen im EU-Ausland auch in Deutschland unter Strafe zu stellen.65 Ob der Betrieb unerlaubt, d. h. „ohne die erforderliche Genehmigung oder Planfest60
Art. 3 lit. c) der Richtlinie 2008/99/EG (ABl. EU 2008 Nr. L 328/30). So ausdrücklich BT-Drs. 17/5391, S. 18. 62 Vgl. dazu auch die Kritik des Deutschen Richterbundes (Fn. 15), S. 4 mit dem Beispiel des grenzüberschreitenden Transports von im Haltbarkeitsdatum abgelaufenen Joghurts; kritisch auch die Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins (Fn. 16), S. 8: „Friktionen … mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG augenscheinlich“; s. auch Szesny/Görtz, ZUR 2012, 405 (407); Zimmermann, ZRP 2009, 74 (75 f.). 63 Harsche Kritik an der Herabsetzung der Strafbarkeitsschwelle in § 326 Abs. 2 Nr. 1 StGB auch von Szesny/Görtz, ZUR 2012, 405 (407), die hier zu Recht die „ultima-ratioFunktion“ des Strafrechts in Gefahr sehen; ebenso Zimmermann, ZRP 2009, 74 (75 f.); kritisch auch die Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins (Fn. 16), S. 8. 64 Insoweit werden aber auch im EU-Ausland gelegene Anlagen erfasst, da die mit Blick auf die tatbestandliche Verwaltungsaktsakzessorietät des § 327 StGB vertretene Beschränkung auf inländische Anlagen durch die neue Gleichstellungsklausel des § 330d Abs. 2 StGB überholt ist; s. dazu SK-StGB/Schall (Fn. 2), § 330d Rn. 7; im Ergebnis ebenso Heger, HRRS 2012, 211 (217); Möhrenschlager, wistra 2011, Heft 3, S. R XXXV; a.A. NK-StGB/Ransiek (Fn. 45), § 327 Rn. 14; Saliger (Fn. 2), Rn. 463. 65 BT-Drs. 17/5391, S. 13, 18. 61
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stellung oder entgegen einer vollziehbaren Untersagung“ erfolgt,66 beurteilt sich nach dem Verwaltungsrecht des ausländischen Staates.67 Obgleich der Gesetzgeber nur davon spricht, „in Deutschland auch die Verfolgung von Taten zu ermöglichen, die in anderen EU-Mitgliedstaaten begangen wurden“,68 wird man die Ergänzung des § 327 Abs. 2 StGB nicht als eine Erweiterung des Strafanwendungsrechts i. S. d. §§ 3 – 7, 9 StGB verstehen können.69 Schon die Vorgabe der Umweltrichtlinie in Art. 3 lit. d) und auch die Ausführungen des Gesetzgebers zum Umsetzungsbedarf des deutschen Umweltstrafrechts70 sprechen dafür, dass in § 327 Abs. 2 S. 2 StGB nur die zuvor vom Schutzbereich dieser Vorschrift nicht erfassten, im EU-Ausland betriebenen Anlagen einbezogen werden sollten. Die Vorstellung, dass durch die Erweiterung einer einzelnen Vorschrift des Besonderen Teils systemwidrig und quasi en passent in die (von der Frage des Schutzbereichs der jeweiligen Strafnorm strikt zu trennenden)71 Regeln des Internationalen Strafrechts (§§ 3 – 7, 9 StGB) eingegriffen wird, ist schon bei objektiver Auslegung nicht nachvollziehbar. Sie wird aber auch durch die Gesetzesmaterialien eindeutig widerlegt. Denn eventuell noch verbleibende Zweifel hat der Gesetzgeber des 45. StÄG dadurch ausgeräumt, dass er die vom Bundesrat insoweit erbetene Klarstellung72 abgelehnt und ausdrücklich erklärt hat, „dass der in § 327 Absatz 2 StGB einzufügende Satz 2 lediglich eine Ausweitung des Schutzbereichs des Tatbestands bewirkt und die Voraussetzungen der §§ 3 – 9 StGB für die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts unberührt lässt“.73 Das unerlaubte Betreiben einer Anlage im EU-Ausland gem. § 327 Abs. 2 S. 2 StGB kann daher in Deutschland praktisch erst dann bestraft werden, wenn es sich i. S. d. § 7 Abs. 2 StGB um die Auslandstat eines nach Deutschland zurückgekehrten Deutschen oder (eher selten) eines im Inland betroffenen, nicht ausgelieferten Ausländers handelt;74 bei nach Deutschland hineinwirkenden Schadstoffemissionen durch grenznahen Anlagenbetrieb kommt auch eine Anwendbarkeit der deutschen Umweltstrafnormen gem. § 3 i. V. m. § 9 Abs. 1 StGB in Betracht.75 66 Für eine – m. E. unnötige und ohne Grund von Absatz 2 S. 1 abweichende – Erweiterung auf eine darüber hinausgehende „Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten“ Möhrenschlager, wistra 2011, Heft 3, S. R XXXV. 67 Siehe dazu unten (unter III. 6.) im Zusammenhang mit der neuen Gleichstellungsklausel des § 330d Abs. 2 StGB. 68 BT-Drs. 17/5391, S. 13. 69 So aber nachdrücklich Szesny/Görtz, ZUR 2012, 405 (408); wie hier dagegen Heger, HRRS 2012, 211 (217); Saliger (Fn. 2), Rn. 449. 70 Siehe BT-Drs. 17/5391, S. 11, 13, 18. 71 Überzeugend dazu Sch/Sch/Eser (Fn. 19), Vor §§ 3 ff. Rn. 31 ff. m.w.N. 72 BT-Drs. 17/5391, S. 25 f. 73 BT-Drs. 17/5391, S. 29. 74 Zu den Voraussetzungen im Einzelnen s. LK/Werle/Jeßberger, 12. Aufl. 2007, § 7 Rn. 73 ff., 90 ff. 75 Näher dazu SK-StGB/Schall (Fn. 2), Vor § 324 Rn. 194 ff. m.N. zur strittigen Interpretation des Erfolgsortes i. S. d. § 9 Abs. 1 StGB bei Eignungs- und abstrakten Gefährdungsdelikten.
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4. Zu mehrfachen punktuellen Änderungen hat die Umweltrichtlinie76 bei der Strafvorschrift des § 328 StGB über den „unerlaubten Umgang mit radioaktiven Stoffen und anderen gefährlichen Stoffen und Gütern“ geführt. Sie haben die Strafnorm jedenfalls insgesamt deutlich erweitert, teilweise (in Absatz 3) aber auch deren Unübersichtlichkeit77 noch weiter vergrößert. So werden in Absatz 1 die Tatmodalitäten des verbotswidrigen Umgangs mit Kernbrennstoffen und sonstigen radioaktiven Stoffen um das Merkmal des Herstellens erweitert und entsprechend der Richtlinie, die lediglich auf eine rechtswidrige Verletzung der Umweltgüter abstellt,78 auf das Erfordernis des „grob pflichtwidrigen“ Handelns (in § 328 Abs. 1 Nr. 2 a.F.) verzichtet.79 Die bisher auf „den Tod oder eine schwere Gesundheitsschädigung eines anderen“ begrenzte Schädigungseignung der radioaktiven Stoffe in Absatz 1 Nr. 2 wird auf eine ökologisch ausgerichtete Gruppe weiterer Gefährdungsobjekte („erhebliche Schäden an Tieren oder Pflanzen, Gewässern, der Luft oder dem Boden“) ausgeweitet. Darin ist entgegen der Bekundung des Gesetzgebers keine bloße „Klarstellung“80 zu sehen, sondern durchaus eine Erweiterung des Tatbestands und zudem eine Verdeutlichung der ökologischen Schutzrichtung der Strafnorm.81 Auch das konkrete Gefährdungsdelikt des § 328 Abs. 3 StGB wird durch den Verzicht auf eine „grobe“ Pflichtwidrigkeit und die Ergänzung der Gefährdungsobjekte um die o.g. Umweltgüter ausgeweitet. Außerdem werden im Gefahrstoff-Tatbestand des § 328 Abs. 3 Nr. 1 StGB die alternativ neben den radioaktiven Stoffen genannten „Gefahrstoffe im Sinne des Chemikaliengesetzes“ ersetzt durch „gefährliche Stoffe und Gemische nach Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 … über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen …“.82 Ob diese, die Lesbarkeit der Vorschrift nicht gerade fördernde „Europäisierung“ wirklich not-
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Art. 3 lit. e), ABl. EU Nr. L 328/30 (betr. Herstellen von und Umgang mit Kernmaterial und anderen gefährlichen radioaktiven Stoffen). 77 Vgl. dazu LK/Steindorf (Fn. 2), § 328 Vorbem. 1 ff.; Michalke, Umweltstrafsachen, 2. Aufl. 2000, Rn. 332 ff.; MüKo-StGB/Alt (Fn. 28), § 328 Rn. 1. 78 Art. 3 Obersatz, ABl. EU Nr. L 328/29. 79 BT-Drs. 17/5391, S. 13, 19; kritisch insoweit Möhrenschlager, wistra 2011, Heft 3, S. R XXXV. 80 BT-Drs. 17/5391, S. 19. 81 Ebenso Heger, HRRS 2012, 211 (217); für Ausweitung des Tatbestands auch Möhrenschlager, wistra 2011, Heft 3, S. R XXXV; widersprüchlich insoweit Saliger (Fn. 2), der einerseits von „Klarstellung“ (Rn. 471 Fn. 81), andererseits (bzgl. der gleichen Ergänzung in Absatz 3) von einer „Verschärfung“ spricht (Rn. 476). 82 Genauer: „Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. 12. 2008 über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen, zur Änderung und Aufhebung der Richtlinien 67/548/EWG und 1999/45/EG und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 (ABl. L 353 v. 31. 12. 2008, S. 1), die zuletzt durch die Verordnung (EG) Nr. 790/2009 (ABl. L 235 v. 5. 9. 2009, S. 1) geändert worden ist.“
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wendig war, um – wie der Gesetzgeber meinte –83 die Strafbarkeit auch auf Auslandstaten anwenden zu können, ist allerdings zu bezweifeln.84 Denn die bisherige Bezugnahme „Gefahrstoffe im Sinne des Chemikaliengesetzes“ bedeutet – anders als die verwaltungsakzessorische Verweisung in § 327 Abs. 2 S. 1 StGB (s. o. III. 3.) – keine Beschränkung auf im Inland begangene Taten, sondern lediglich eine inhaltliche Umschreibung der Gefährlichkeit der Stoffe. Die in § 3a und § 19 Abs. 2 ChemG85 sowie in der GefStoffV86 aufgezählten Stoffe und Zubereitungen87 behalten ihre Gefährlichkeit in allen Ländern und unterliegen damit dem Verbot der unbefugten Verwendung in § 328 Abs. 3 Nr. 1 StGB unabhängig davon, ob sie in Deutschland oder einem anderen (EU-)Land verwendet werden.88 Im Übrigen werden in der aktuellen Fassung des ChemG89 in der Begriffsbestimmung des § 3a („Gefährliche Stoffe und gefährliche Gemische“) im neuen Absatz 3 die Stoffe und Gemische nach Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 ausdrücklich aufgeführt.90 Der Gesetzgeber hätte es daher bei der ursprünglichen, schlichten Verweisung auf das ChemG belassen sollen, was nicht nur zu einer leichteren Lesbarkeit der Vorschrift geführt, sondern auch die Probleme vermieden hätte, die mit der jetzigen statischen Verweisung auf bestimmte, vom Aktionismus des europäischen Gesetzgebers abhängige Verordnungen verknüpft sind.91 Nicht zu überzeugen vermag auch die Versicherung des Gesetzgebers, dass sich die Tatbestandsmäßigkeit eines konkreten Stoffes oder Gemisches mit Hilfe der neuen Verweisung „vergleichsweise einfach über die entsprechende Kennzeichnung ermitteln lässt“.92 Denn der in Bezug genommene Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 verweist seinerseits zur näheren Bestimmung der Gefährlichkeit von Stoffen und Gemischen auf Anhang I Teil 2 – 5.93 Bei dieser in Bezug genommenen Rechtsquelle handelt es sich aber nicht um eine enumerative Liste der Stoffe und Gemische, die als gefährlich qualifiziert werden, sondern um eine kaum noch überschaubare, über ca. 100 Seiten sich hinziehende Zusammenstellung verschiedenster 83
BT-Drs. 17/5391, S. 19. Zweifel insoweit auch bei Möhrenschlager, wistra 2011, Heft 3, S. R XXXVI. 85 Siehe o. Fn. 42. 86 Siehe o. Fn. 46. 87 Vgl. die Übersicht bei Franzheim/Pfohl, Umweltstrafrecht, 2. Aufl. 2001, Rn. 435 ff. 88 Vgl. auch Saliger (Fn. 2), Rn. 479, der zu Recht darauf hinweist, dass die Fallgruppen in § 19 Abs. 2 ChemG regelmäßig auch „gefährliche Stoffe und Gemische nach Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008“ darstellen. 89 Siehe o. Fn. 42. 90 Auch die GefStoffV (Fn. 46) nimmt auf die in § 328 Abs. 3 Nr. 1 StGB aufgeführte EGVerordnung Bezug (s. z. B. § 4 GefStoffV). 91 Vgl. dazu die Warnung von Heger, HRRS 2012, 211 (217 f.); kritisch insoweit auch Möhrenschlager, wistra 2011, Heft 3, S. R XXXVI. 92 BT-Drs. 17/5391, S. 19. 93 Anhang I Teil 2 – 5 findet sich bei der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 im ABl. EU 2008 Nr. L 353/1 v. 31. 12. 2008, S. 44 – 140. 84
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Kriterien und Tests, nach denen erst die Einordnung der Stoffe und Gemische in einzelne Gefahrenklassen vorgenommen werden soll.94 Die neue Verweisung auf EURecht in § 328 Abs. 3 Nr. 1 StGB gibt daher sowohl den Rechtsanwendern als auch den Rechtsunterworfenen eher Steine als Brot, von einer „Vereinfachung“ der Bestimmung des Tatobjekts kann jedenfalls keine Rede sein.95 5. Die durch die EU-Umweltrichtlinie aufgestellte Verpflichtung, „jedes Verhalten, das eine erhebliche Schädigung eines Lebensraums innerhalb eines geschützten Gebiets verursacht“96, unter Strafe zu stellen, hat den deutschen Gesetzgeber veranlasst, die – ebenfalls kompliziert und unübersichtlich gefasste97 – Strafbestimmung des § 329 StGB („Gefährdung schutzbedürftiger Gebiete“) um einen neuen Absatz 4 zu erweitern. Danach wird bestraft, wer unter Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten in einem sog. „Natura-2000-Gebiet“ einen für die Erhaltungsziele dieses Gebiets maßgeblichen Lebensraum oder Lebensraumtyp erheblich schädigt. „Natura-2000-Gebiete“ sind die aufgrund der Vogelschutzrichtlinie98 sowie der FFHRichtlinie99 von den Mitgliedsstaaten der EU unter Schutz gestellten Vogelschutzund FFH-Gebiete, die gem. Art. 3 der FFH-Richtlinie ein europaweites und grenzüberschreitendes Verbundsystem darstellen.100 Sie werden im deutschen Recht unter dem Oberbegriff „Natura-2000-Gebiet“ zusammengefasst (§ 7 Abs. 1 Nr. 8 BNatSchG);101 die Einzelheiten zum Aufbau und Schutz dieses Verbundsystems sind in den §§ 31 – 36 BNatSchG geregelt.102 Die geschützten Lebensräume werden nicht in § 329 Abs. 4 StGB benannt, sondern insoweit wird wieder auf bestimmte EG-Richtlinien und ihre Anhänge (über die Erhaltung wildlebender Vogelarten 94 Siehe dazu auch die Kritik von Szesny/Görtz, ZUR 2012, 405 (408), die daher erhebliche Bedenken im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG äußern; weniger kritisch insoweit Heger, HRRS 2012, 211 (217 f.). 95 Unklar bleibt überdies, wieso die neue Verweisung gegenüber der bisher geltenden Rechtslage zu einer „geringfügig engeren Fassung des Tatbestandes“ (so BT-Drs. 17/5391, S. 19) führen soll. 96 Art. 3 lit. h) der Richtlinie 2008/99/EG (ABl. EU 2008 Nr. L 328/30); zur Begriffsbestimmung „Lebensraum innerhalb eines geschützten Gebiets“ s. Art. 2 lit. c) der Richtlinie. 97 Vgl. Kloepfer/Vierhaus, Umweltstrafrecht, 2. Aufl. 2002, Rn. 153 ff.; LK/Steindorf (Fn. 2), § 329 Rn. 1; Michalke (Fn. 76), Rn. 373 f.; MüKo-StGB/Alt (Fn. 28), § 329 Rn. 1, 4. 98 Richtlinie 2009/147/EG, ABl. L 20 v. 26. 1. 2010 (zuvor Richtlinie 79/409/EWG v. 2. 4. 1979). 99 Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie 92/43/EWG v. 21. 5. 1992, ABl. L 206 v. 22. 07. 1992. 100 Siehe dazu BT-Drs. 17/5391, S. 19 f.; s. auch Möhrenschlager, wistra 2011, Heft 4, S. R XXXVIII; Koch, Umweltrecht, 2. Aufl. 2007, § 7, Rn. 68. 101 Bundesnaturschutzgesetz v. 29. 7. 2009 (BGBl. I S. 2542), zuletzt geändert durch Gesetz v. 6. 2. 2012 (BGBl. I S. 148). 102 Siehe dazu auch BT-Drs. 17/5391, S. 19 f.; Möhrenschlager, wistra 2011, Heft 4, S. R XXXVIII.
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bzw. wildlebender Tiere und Pflanzen sowie der natürlichen Lebensräume) verwiesen. Damit stellt sich auch hier (wie bei § 328 Abs. 3 Nr. 1 StGB) wieder das mit der statischen Verweisung verknüpfte Problem der unmittelbaren Abhängigkeit von den sich häufig schnell ändernden europäischen Rechtsakten.103 Um eine „Überkriminalisierung“ zu vermeiden, hat der deutsche Gesetzgeber bzgl. des neuen Absatzes 4 von der durch die Umweltrichtlinie vorgesehenen Möglichkeit der Beschränkung auf leichtfertiges Handeln104 Gebrauch gemacht (§ 329 Abs. 6 StGB).105 Unklar bleibt, in welchem Verhältnis der neue Tatbestand des Absatzes 4 zu den Absätzen 2 und 3 steht, die bereits bestimmte Handlungen in Wasser- oder Heilquellenschutzgebieten bzw. nicht unerhebliche Beeinträchtigungen von Naturschutzgebieten und Nationalparks unter Strafe stellen. Die Gesetzesbegründung erweckt den Eindruck, dass der Gesetzgeber im Hinblick auf die umfassende Vorgabe in Art. 3 lit. h) i. V. m. Art. 2 lit. c) der Richtlinie „auf Nummer sicher“ gehen und daher mit Absatz 4 eine Art Auffangtatbestand schaffen wollte.106 Erfolgt die (erhebliche) Schädigung des Lebensraums in einer der in Absatz 3 aufgeführten Tatmodalitäten, so wird man daher insoweit Spezialität des ebenfalls als Verletzungsdelikt107 ausgestalteten Absatzes 3 anzunehmen haben.108 Dagegen ist Absatz 4 lex specialis gegenüber dem mit geringerer Strafe sanktionierten, abstrakten Gefährdungsdelikt des Absatzes 2. Berücksichtigt man allerdings, dass der von der Umweltrichtlinie geforderte strafrechtliche Schutz wildlebender Tiere und Pflanzen zum großen Teil bereits im BNatSchG verwirklicht ist und es hier zu vielfachen Überschneidungen kommen wird,109 hätte es durchaus nahe gelegen, die diesbezüglichen Vorgaben der Richtlinie110 einheitlich und koordiniert mit den bereits vorhandenen Strafvorschriften im BNatSchG umzusetzen,111 zumal das 45. StÄG hier (wie auch im BJagdG) ohnehin einige Veränderungen vorgenommen hat.112
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Kritisch insoweit auch Heger, HRRS 2012, 211 (218); Möhrenschlager, wistra 2011, Heft 4, S. R XXXVIII; Szesny/Görtz, ZUR 2012, 405 (408 f.). 104 Art. 3 Obersatz Richtlinie 2008/99/EG (ABl. EU Nr. L 328/29) beschränkt die Pflicht zur Pönalisierung auf „vorsätzlich oder zumindest grob fahrlässig“ begangene Handlungen. 105 Für eine Einschränkung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit auf leichtfertiges Handeln bei allen Tatbeständen des § 329 StGB plädiert Heger, HRRS 2012, 211 (218). 106 Vgl. BT-Drs. 17/5391, S. 14 und 20. 107 Strittig – vgl. nur SSW-StGB/Saliger (Fn. 19), § 329 Rn. 1; Sch/Sch/Heine (Fn. 19), § 329 Rn. 35 m.w.N. 108 Zum besonders schweren Fall s. § 330 Abs. 1 StGB, dessen Nr. 3 redaktionell an § 7 Abs. 2 Nr. 14 BNatSchG (Bestand von Tieren und Pflanzen „einer streng geschützten Art“) angepasst wurde. 109 Vgl. § 71 i. V. m. § 69 Abs. 2 und 3, § 71a BNatSchG; s. dazu auch BT-Drs. 17/5391, S. 14; Möhrenschlager, wistra 2011, Heft 4, S. R XXXVIII f. 110 Art. 3 lit. f), g), h) der Richtlinie 2008/99/EG (ABl. EU Nr. L 328/30). 111 Ähnlich Möhrenschlager, wistra 2011, Heft 4, S. R XXXVIII. 112 Zu diesen Änderungen ausführlich Szesny/Görtz, ZUR 2012, 405 (409 ff.); s. auch Heger, HRRS 2012, 211 (220 f.); Möhrenschlager, wistra 2011, Heft 4, S. R XXXVIII ff.
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6. Das Kernstück des 45. StÄG bildet die Gleichstellungsklausel im neu eingefügten Absatz 2 des § 330d StGB. Sie geht zurück auf die Bestimmung der „rechtswidrigen“ Umweltverletzung in Art. 2 lit. a) iii) der EU-Richtlinie: Danach ist rechtswidrig auch ein Verstoß gegen solche Gesetze, Verwaltungsvorschriften und behördliche Entscheidungen eines anderen EU-Mitgliedsstaats, die der Umsetzung der in der Richtlinie genannten (umweltschützenden) Rechtsakte dienen.113 Dementsprechend hat der Gesetzgeber im neuen Absatz 2 des § 330d StGB für die dort genannten Umweltdelikte, sofern sie in einem anderen Mitgliedsstaat der EU begangen werden, ausdrücklich die Gleichstellung der verwaltungsakzessorischen Merkmale angeordnet. Voraussetzung dafür ist, dass die verwaltungsrechtlichen Pflichten, Genehmigungen, Untersagungen usw. auf einer Rechtsvorschrift oder einem Hoheitsakt des anderen Mitgliedsstaats beruhen, mit denen ein Rechtsakt der Europäischen Union oder der Europäischen Atomgemeinschaft umgesetzt oder angewendet wird, der dem Schutz vor Gefahren oder schädlichen Einwirkungen auf die Umwelt dient. Mit dieser Gleichstellung können – so der Gesetzgeber – „auch Umweltstraftaten im Sinne der Richtlinie Umweltstrafrecht in Deutschland verfolgt werden, deren Tathandlung im europäischen Ausland begangen wurde, wenn die übrigen Voraussetzungen der §§ 5 – 7 StGB vorliegen.“114 Ob diese Möglichkeit allerdings erst durch die neue Gleichstellungsklausel eröffnet worden ist, § 330d Abs. 2 StGB also tatsächlich konstitutive oder aber nur klarstellende Funktion hat, ist sehr zweifelhaft. Denn schon vor Erlass des 45. StÄG bestand weitgehende Einigkeit darüber, dass aufgrund des Gebots der Unionstreue (Art. 4 Abs. III EUV) mit Hilfe einer europarechtskonformen Auslegung115 ausländisches Verwaltungsrecht jedenfalls dann zur Ausfüllung der verwaltungsakzessorischen Merkmale (z. B. zur Pflichtenkonkretisierung oder zur Frage der erforderlichen Genehmigung) herangezogen werden konnte und musste, wenn und soweit es sich um harmonisiertes Verwaltungsrecht von Mitgliedsstaaten der EU handelte, das der Umsetzung umweltbezogener Richtlinien116 der EU diente.117 Eine Klarstel113 Der in Bezug genommene Anhang A (Art. 2 lit. a) i)) umfasst mehrere Richtlinien und Verordnungen zum Schutz einzelner Umweltgüter; Anhang B (Art. 2 lit. a) ii)) nennt 3 Richtlinien, die auf der Grundlage des Euratom-Vertrages erlassen wurden und den Schutz vor radioaktiver oder ionisierender Strahlung betreffen. Siehe dazu auch Engel/Mailänder, Zeitschrift für Immissionsschutzrecht und Emissionshandel (I+E) 2012, 167 (171); Falke, ZUR 2009, 274 (276 f.); K. Meyer wistra 2012, 371 (372). 114 BT-Drs. 17/5391, S. 21. 115 Vgl. zu den europarechtlichen Gestaltungsfaktoren im Umweltstrafrecht SK-StGB/ Schall (Fn. 2), Vor § 324 Rn. 186 ff. 116 Soweit es sich um Verordnungen handelt, begründen sie als unmittelbar verbindliches Recht ohnehin „verwaltungsrechtliche Pflichten“ aus Rechtsvorschriften i. S. d. § 330d Abs. 1 Nr. 4a StGB (s. dazu SK-StGB/Schall [Fn. 2], § 330d Rn. 14 m.w.N.). 117 Engel/Mailänder (Fn. 112), 167 (171, 173); Hecker, ZStW 115 (2003), 880 (898 ff.); ders., in: FS M. Schröder (Fn. 7), S. 531 (542 ff.); Kemme, Das Tatbestandsmerkmal der
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lung bringt der neue Absatz 2 des § 330d StGB daher nur insofern, als die bisher von Teilen des Schrifttums vertretene, grundsätzliche Ablehnung einer Einbeziehung ausländischen Verwaltungsrechts118 nunmehr obsolet geworden ist.119 Auf der anderen Seite hat es der Gesetzgeber versäumt, sich zu einer generellen Europarechtsakzessorietät im Umweltstrafrecht zu bekennen, denn in der Aufzählung der von § 330d Abs. 2 StGB erfassten Straftatbestände sucht man die ebenfalls verwaltungsakzessorisch ausgestalteten Vorschriften der §§ 324, 325a und 329 StGB vergebens.120 Ein sachlogischer Grund für die Ausklammerung dieser Straftatbestände ist nicht erkennbar, so dass nur die Vermutung bleibt, der Gesetzgeber habe sich auf das zur Umsetzung der Richtlinie absolut Notwendige beschränken wollen, da in der EU-Richtlinie die Umweltverletzung i. S. d. § 325a StGB gar nicht auftaucht, die im Mittelpunkt der Gesetzesänderung stehende Verwaltungsakzessorietät in § 324 StGB nur in dem allgemeinen Verbrechensmerkmal der Unbefugtheit zum Ausdruck kommt121 und § 329 StGB bereits in Absatz 4 eine europarechtliche Ergänzung122 erhalten hat. Diese „vornehme Zurückhaltung“ des Gesetzgebers überrascht freilich umso mehr, als er selber einräumt, dass die Rechtslage hinsichtlich der Berücksichtigung ausländischen Rechts und insbesondere ausländischer Genehmigungen nicht abschließend geklärt sei.123 Warum er dann aber die Chance zur Klarstellung nicht wahrgenommen hat, indem er die Gleichstellungsklausel schlicht auf alle verwaltungsakzessorischen Umweltstraftatbestände der §§ 324 ff. StGB bezieht, statt einzelne dieser Vorschriften ohne jegliche Erklärung außen vor zu lassen, bleibt unerfindlich. Im Ergebnis wird man in der Beschränkung auf einzelne Umweltstrafvorschriften jedenfalls keine abschließende Regelung sehen können, sondern die Gleichstellung Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten in den Umweltstraftatbeständen des StGB, 2007, S. 466 ff.; NK-StGB/Ransiek (Fn. 45), Vor § 324 Rn. 61; Saliger (Fn. 2), Rn. 131; SK-StGB/ Schall (Fn. 2), § 330d Rn. 69 f. m.w.N.; s. auch BT-Drs. 17/5391, S. 11. 118 Vgl. dazu die Nachw. bei: Hecker, in: FS M. Schröder (Fn. 7), S. 531 (541 f.); Kemme (Fn. 116), S. 459 f.; SK-StGB/Schall (Fn. 2), Vor § 324 Rn. 200 ff. 119 Ebenso Hecker, in: FS M. Schröder (Fn. 7), S. 531 (542 f.); K. Meyer, wistra 2012, 371 (372); SK-StGB/Schall (Fn. 2), § 330d Rn. 68. 120 Ausführlich und kritisch dazu K. Meyer, wistra 2012, 371 ff.; s. auch SK-StGB/Schall (Fn. 2), § 330d Rn. 64, 71 ff. 121 Gleichwohl wird das Merkmal „unbefugt“ der Sache nach von der Richtlinie 2008/99/ EG erfasst (Sch/Sch/Heine [Fn. 19], Vor § 324 Rn. 7e). Die Stellungnahme des deutschen Gesetzgebers zum Regelungsbedarf ist jedoch widersprüchlich, da er einerseits von der Auslandsrechtsakzessorietät des § 324 StGB ausgeht, andererseits aber anmerkt, dass die Behandlung ausländischer Genehmigungen nach geltendem Recht unklar sei (BT-Drs. 17/5391, S. 10 f.); s. dazu die Kritik von K. Meyer, wistra 2012, 371 (373 f.); s. auch SK-StGB/Schall (Fn. 2), § 330d Rn. 71 f. 122 Diese betrifft allerdings nur die Bestimmung der geschützten Gebiete und besagt nichts über die Einbeziehung ausländischen Verwaltungsrechts in das auch hier vorausgesetzte Merkmal der „Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten“ (s. o. III.5.); s. auch K. Meyer, wistra 2012, 371 (373). 123 BT-Drs. 17/5391, S. 10 f.
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EU-ausländischen Verwaltungsrechts entsprechend der bisherigen Rechtslage (s. o.) auch bezüglich der in den §§ 324, 325a, 329 StGB genannten verwaltungsakzessorischen Merkmale gelten lassen müssen.124 Das bedeutet, dass der im EU-Ausland handelnde Inhaber einer von der dortigen Behörde ausgestellten Genehmigung nicht „unbefugt“ i. S. d. § 324 StGB handelt und dass in den Fällen der §§ 325a, 329 StGB die „Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten“ auch auf (harmonisiertes) Umweltverwaltungsrecht anderer EU-Mitgliedsstaaten gestützt werden kann.125 Keine ausdrückliche Aussage enthält die neue Regelung des § 330d Abs. 2 StGB über die Geltung einer EU-ausländischen Genehmigung im Fall ihrer rechtsmissbräuchlichen Erlangung. Gleichwohl wird man auch für diese Fälle die Geltung verneinen müssen, da die Rechtsmissbrauchsklausel des § 330d Abs. 1 Nr. 5 StGB ausdrücklich auf den gesamten 29. Abschnitt bezogen ist, also auch für die in Absatz 2 gleichgestellten Genehmigungen anderer EU-Mitgliedsstaaten Geltung beansprucht. Gegen dieses Ergebnis spricht auch nicht der „Gedanke gegenseitiger Anerkennung von staatlichen Rechts- und Verwaltungsakten innerhalb der EU“,126 denn die Rechtsmissbrauchsklausel des Absatzes 1 Nr. 5 leugnet nicht die (verwaltungsrechtliche) Wirksamkeit der ausländischen Genehmigung, sondern versagt ihr lediglich wegen der rechtsmissbräuchlichen Erlangung aufgrund einer eigenständigen strafrechtlichen Wertung die strafrechtliche Beachtlichkeit im Inland.127
IV. Lässt man die Änderungen, die das deutsche Umweltstrafrecht durch das 45. StÄG erfahren hat, Revue passieren, so fällt es doch sehr schwer, insoweit von einem „neuen Umweltstrafrecht“, von „nicht geringer Sprengkraft“ (s. o.) oder gar bzgl. der Gleichstellungsklausel in § 330d Abs. 2 StGB von einem „Meilenstein der Fremdrechtsanwendung“128 zu sprechen. Auch wenn man dem Gesetzgeber zugutehalten muss, dass es ihm in erster Linie darum gehen musste, die Vorgaben der EU-Umweltstrafrechtsrichtlinie umzusetzen, so rechtfertigt diese Verpflichtung doch keinesfalls die hier aufgezeigten Halbheiten und Widersprüchlichkeiten und auch nicht die unnötige Bindung an sich schnell ändernde europäische Rechtsakte 124 Ausführlich dazu K. Meyer, wistra 2012, 371 (373 ff., 376); SK-StGB/Schall (Fn. 2), § 330d Rn. 71 ff.; im Ergebnis ebenso Hecker, in: FS M. Schröder (Fn. 7), S. 531 (542 f., 546); Heger, HRRS 2012, 211 (219); wohl auch Saliger (Fn. 2), Rn. 131 f. 125 Näher dazu SK-StGB/Schall (Fn. 2), Vor § 324 Rn. 199 ff., § 330d Rn. 71 ff. m.w.N. 126 So aber Heger, HRRS 2012, 211 (219); s. auch ders. (Fn. 10), S. 297 f., 342. 127 Überzeugend dazu Kemme (Fn. 116), S. 472 f.; s. auch Jünemann, Rechtsmissbrauch im Umweltstrafrecht, 1998, S. 158 ff.; MüKo-StGB/Schmitz (Fn. 28), § 330d Rn. 26; SKStGB/Schall (Fn. 2), § 330d Rn. 47; im Ergebnis ebenso Hecker, in: FS M. Schröder (o. Fn. 7), S. 531 (532); Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., 2011, § 330d Rn. 5; Sch/Sch/Heine (Fn. 19), Vor § 324 Rn. 7e, § 330d Rn. 40. 128 So Saliger (Fn. 2), Rn. 132.
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durch die wiederholt verwendete statische Verweisung. Von einem souveränen und fachkundigen Strafgesetzgeber, der selber den durch die Richtlinie begründeten Umsetzungsbedarf – und damit ja auch den dafür erforderlichen Arbeitsaufwand – als gering bezeichnet,129 hätte man nicht nur erwarten dürfen, dass er die notwendigen Änderungen so formuliert und so in den Regelungskomplex des Umweltstrafrechts der §§ 324 ff. StGB einfügt, dass diese Änderungen wirklich der vielfach behaupteten „Klarstellung“ dienen.130 Vielmehr hätte der Gesetzgeber, ohne sich zu übernehmen, die Chance nutzen können, um das nun schon seit Jahren vernachlässigte Umweltstrafrecht131 so zu verbessern, dass man wirklich von einer Gesetzesreform hätte sprechen können. Ganz im Gegensatz zur Passivität des Gesetzgebers des 45. StÄG steht das vielfältige und erfolgreiche Bemühen um eine Weiterentwicklung des Rechts durch den Jubilar Jürgen Wolter, dem dieser Beitrag in herzlicher Verbundenheit mit allen guten Wünschen zu seinem 70. Geburtstag gewidmet ist.
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BT-Drs. 17/5391, S. 10 ff. Vgl. BT-Drs. 17/5391, bes. S. 11, 19, 20. 131 Vgl. nur Dölling, in: FS Kohlmann, 2003, S. 111 ff.; Pfohl, NuR 2012, 307 ff.; Schall, in: FS Schwind, 2006, S. 395 ff. 130
Zur Anwendung von § 138 StGB bei nicht ausschließbarer Katalogtatbeteiligung Von Carl-Friedrich Stuckenberg
I. Einführung In einer Grundsatzentscheidung vom 19. Mai 2010 hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs1 mit einer vom Reichsgericht 130 Jahre zuvor begründeten2 ständigen Rechtsprechung gebrochen, an der auch die anderen Senate3 nun nicht mehr festhalten mochten. In der Klasse von Sachverhalten, in denen die Beteiligung des Angeklagten an einer in § 138 StGB genannten Katalogtat endgültig nicht geklärt werden kann, jedoch feststeht, dass er die Tat weder angezeigt noch verhindert (§ 139 Abs. 4 StGB) hat, soll nun eine eindeutige Verurteilung aus § 138 StGB erfolgen aufgrund einmaliger Anwendung des Zweifelssatzes, weil zwischen beiden Alternativen ein normatives Stufenverhältnis bestehe. Zuvor hatten RG und BGH hingegen die Nichtanzeige und die Beteiligung an der anzeigepflichtigen Tat für wechselseitig exklusiv gehalten, so dass im Falle der Unaufklärbarkeit nur eine echte Wahlfeststellung in Betracht käme, die an fehlender Vergleichbarkeit scheiterte, so dass der Angeklagte infolge doppelter Anwendung des Zweifelssatzes freizusprechen war.4 Die Rechtsprechungsänderung könnte bewirken, dass § 138 StGB, dessen verschwindend geringe praktische Bedeutung bisher in keinem Verhältnis zur Intensität der theoretischen Erörterung stand,5 nun häufiger als Auffangtatbestand benutzt wird. 1
BGHSt 55, 148. In RGSt 3, 1, 3. 3 Anfragebeschluss nach § 132 Abs. 2 GVG: BGH Beschl. v. 13. 1. 2010 – 5 StR 464/09, HRRS 2010 Nr. 211; Antwortbeschlüsse v. 11. 3. 2010 – 1 ARs 1/10; 17. 3. 2010 – 2 ARs 45/ 10; 9. 3. 2010 – 3 ARs 3/10, NStZ-RR 2010, 204; 23. 3. 2010 – 4 ARs 3/10. Zweifel äußerte der 3. Strafsenat (BGH NStZ-RR 2010, 204 f.), dessen Rspr. allerdings nicht entgegenstand. Schon der 4. Senat hatte zuvor obiter die Aufgabe der bisherigen Judikatur erwogen, BGH NStZ 2004, 499, 500 = BGHR StGB § 138 Anzeigepflicht 6. 4 RG JW 1932, 57, 58 Nr. 16; BGHSt 36, 167, 174; 39, 164, 167; BGHR StGB § 138 Anzeigepflicht 1, 2; BGH MDR (D) 1956, 269, 270; MDR (H) 1979, 635, 636; 1986, 794 f.; 1988, 276; NStZ 1982, 244; StV 1988, 202; a.A. nur RGSt 73, 52, 59 (wegen § 2b StGB a.F.); Nachw. der ält. Lit. bei Wolter, Alternative und eindeutige Verurteilung auf mehrdeutiger Tatsachengrundlage im Strafrecht, 1972, S. 258 Fn. 6. Zur Diskussion in der Großen Strafrechtskommission s. Kisker, Die Nichtanzeige geplanter Straftaten – §§ 138, 139 StGB, 2002, S. 138 f. m.w.N. 5 NK-StGB/Ostendorf, 3. Aufl. 2010, §§ 138, 139 Rn. 4. 2
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Da sich der BGH damit einer im Schrifttum entwickelten und verbreiteten Meinung6 anschloss, hat die Entscheidung nur wenige Besprechungen7 und wenig Kritik8 gefunden. Das Ergebnis und die Begründung, sowohl hinsichtlich der Anwendung des Zweifelssatzes, der Auslegung des § 138 StGB als auch des vom Senat nicht einmal angesprochenen nemo tenetur-Grundsatzes, erscheinen jedoch zweifelhaft und sollen daher im Folgenden überprüft werden.
II. Zum „normativen Stufenverhältnis“ 1. Die Begründung des 5. Strafsenats Der 5. Strafsenat gründet die eindeutige Verurteilung aus § 138 StGB in Anwendung des Zweifelssatzes darauf, dass zwischen der Katalogtat und ihrer Nichtanzeige nach § 138 StGB ein normativ-ethisches Stufenverhältnis bestehe. Voraussetzung dafür sei, dass die alternativ in Betracht kommenden Straftaten einen gegen dasselbe Rechtsgut gerichteten, nur in der Intensität abgestuften Angriff beschrieben. Dies sei hier der Fall, denn der Unrechtsgehalt des § 138 StGB gehe vollständig in dem der Katalogtaten auf.9 Der Senat schließt sich damit endgültig10 der heute herrschenden
6 Für ein normatives Stufenverhältnis Schmidhäuser, Festschrift Bockelmann, 1979, S. 683, 698; ders., Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrbuch, 2. Aufl. 1975, Tz. 5/44; Rudolphi, Festschrift Roxin, 2001, S. 827, 837; SK-StGB/Rudolphi/Stein, 132. Erg.lfrg. April 2012, § 138 Rn. 35; Lackner/Kühl, 27. Aufl. 2011, § 138 Rn. 6; LK/Hanack, 12. Aufl. 2008, § 138 Rn. 75; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, 28. Aufl. 2011, § 138 Rn. 29; SSW/Jeßberger, 2009, § 138 Rn. 26; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht Besonderer Teil, Teilband 2, 10. Aufl. 2012, § 98 Rn. 17; Otto, Grundkurs Strafrecht, Die einzelnen Delikte, 7. Aufl. 2005, § 67 Rn. 34; Schroeder, Die Straftaten gegen das Strafrecht, 1985, S. 32 (Auffangtatbestand); Schwarz, Die unterlassene Verbrechensanzeige, 1968, S. 119 ff.; Westendorf, Die Pflicht zur Verhinderung geplanter Straftaten durch Anzeige, 1999, S. 167 f.; Wolter, Wahlfeststellung und in dubio pro reo, 1987, S. 66 mit Fn. 51; ders., JuS 1983, 769, 773; Baumann, JuS 1963, 51, 55; Mitsch, NStZ 2004, 395, 396; für Postpendenz (nur bei Teilnehmern) Joerden, JZ 1988, 847, 853; ders., Jura 1990, 633, 640 f.; für Wahlfeststellung Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht Besonderer Teil, 2. Aufl. 2009, § 46 Rn. 23; a.A. (und für Freispruch infolge zweifacher Anwendung des in dubio-Satzes) MüKo-StGB/Hohmann, 2. Aufl. 2012, § 138 Rn. 26 f.; NK-StGB/Ostendorf, §§ 138, 139 Rn. 25; Tag, JR 1995, 133, 136. 7 Zust. Kröpil, DRiZ 2011, 25 (krit. nur zur Annahme von Tatidentität i. S. d. § 264 StPO); teilw. krit. Heghmanns, ZJS 2010, 788, 791; abl. Hohmann, NStZ 2011, 32, 33; Schiemann, NJW 2010, 2293; Ziemann/Ziethen, HRRS 2010, 477, 480 ff. 8 Zust. Lackner/Kühl, § 138 Rn. 6; wohl auch Kindhäuser, Strafrecht Besonderer Teil I, 5. Aufl. 2011, § 54 Rn. 12 f.; Rengier, Strafrecht Besonderer Teil II, 13. Aufl. 2012, § 52 Rn. 10; abl. MüKo-StGB/Hohmann, 2. Aufl. 2012, § 138 Rn. 26 f.; Eisele, Strafrecht Besonderer Teil, Band 1, 2. Aufl. 2012, Rn. 1513; Krey/Hellmann/Heinrich, Strafrecht Besonderer Teil, Band 1, 15. Aufl. 2012, Rn. 876; offenlassend Fischer, 59. Aufl. 2012, § 138 Rn. 20a. 9 BGHSt 55, 148, 151. 10 Vgl. zuvor BGHSt 42, 86, 88: § 138 StGB schütze die Rechtsgüter der Katalogtaten „mittelbar“.
Anwendung von § 138 StGB bei nicht ausschließbarer Katalogtatbeteiligung
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Lehre11 an, wonach § 138 StGB dem Schutz derselben Rechtsgüter diene, welche die Katalogtaten schützen, während die Vorschrift vor allem in früherer Zeit nur oder auch als Rechtspflegedelikt12 oder, nach der systematischen Stellung im 7. Abschnitt des StGB,13 als Delikt gegen die öffentliche Ordnung,14 die präventiv-polizeiliche Tätigkeit15 oder die mitmenschliche Solidarität16 betrachtet wurde. Dafür, den Zweck des § 138 StGB im Schutz der von der geplanten Katalogtat gefährdeten Rechtsgüter zu sehen, spricht, dass auch die Warnung des Bedrohten genügen kann sowie dass bei Verhinderung der Tat auf sonstige Weise die Strafe entfällt (§ 139 Abs. 4 StGB). Der Unrechtsgehalt der Nichtanzeige liege „demzufolge in der Gefährdung gerade des Rechtsguts, das durch die anzuzeigende Katalogtat verletzt wird; er bleibt lediglich quantitativ – im Sinne einer Vorstufe zur Teilnahme – dahinter zurück“17. Bleibe die Beteiligung an der Katalogtat ungeklärt, so sei dem Angeklagten „der von ihm (mit-)verursachte tatbestandliche Unrechtserfolg […] – freilich in einer im Vergleich zum Täter der Katalogtat abgestuften Intensität – zuzurechnen (…).“18
11 Fischer, § 138 Rn. 3; Joecks, 10. Aufl. 2012, § 138 Rn. 22; Lackner/Kühl, § 138 Rn. 1; LK/Hanack, § 138 Rn. 2 f., 75; MüKo-StGB/Hohmann, § 138 Rn. 1; NK-StGB/Ostendorf, §§ 138, 139 Rn. 3; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 138 Rn. 1; SK-StGB/Rudolphi/ Stein, § 138 Rn. 2; SSW/Jeßberger, § 138 Rn. 26; Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 6), § 98 Rn. 17; Gropp, Deliktstypen mit Sonderbeteiligung, 1992, S. 266; Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen und Strafgesetz, 1974, S. 104 ff., 114 f.; Schroeder (Fn. 6), S. 11, 32; Kisker (Fn. 4), S. 173 f.; Westendorf (Fn. 6), S. 43 ff., 59 ff.; Rudolphi, Festschrift Roxin, S. 827, 830 ff.; Schmidhäuser, Festschrift Bockelmann, S. 683, 688 ff., 690. 12 Z.B. Blei, Strafrecht II, Besonderer Teil, 12. Aufl. 1983, § 110 II, S. 437; Bockelmann, Strafrecht Besonderer Teil/3, 1980, § 8 I; Eisele (Fn. 8), Rn. 1501; Maurach, Strafrecht Besonderer Teil, 5. Aufl. 1969, § 79 I, S. 721 („Rechtspflege i. w. S.“); Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, § 76 I, S. 516; vgl. E 1962, BT-Drs. IV/650 = BR-Drs. 200/62, S. 663. Als zusätzliches Rechtsgut sehen die Rechtspflege an: Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf (Fn. 6), § 46 Rn. 3, 5; Krey/Heinrich, Strafrecht Besonderer Teil, Band 1, 14. Aufl. 2008, Rn. 635 (in der 15. Aufl. aufgegeben, dort Rn. 866); Küpper, Strafrecht Besonderer Teil 1, 2. Aufl. 2001, Teil II, § 3 Rn. 86; Rengier, Strafrecht Besonderer Teil II, 11. Aufl. 2010, § 52 Rn. 1 (in der 12. Aufl. aufgegeben); Schwarz (Fn. 6), S. 33 f.; Tag, JR 1995, 133, 134. 13 Zur Einordnung durch den Gesetzgeber s. Heimberger, in: Birkmeyer u. a. (Hrsg.), Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, Band II, 1906, S. 403, 409 ff.; Kisker (Fn. 4), S. 60, 171 ff. m.w.N. 14 Foitzik, Die Unterlassung der Anzeige bevorstehender Verbrechen im künftigen deutschen Strafrecht, 1919, S. 20 f.; dazu Schöne (Fn. 11), S. 111 ff. m.w.N. 15 Eisele (Fn. 8), Rn. 1501; Vormbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, 1987, S. 464. 16 Otto (Fn. 6), § 67 Rn. 24 und 34; als zusätzliches Rechtsgut auch Arzt/Weber/Heinrich/ Hilgendorf (Fn. 6), § 46 Rn. 2, 5; Hohmann, NStZ 2011, 32, 33. 17 BGHSt 55, 148, 151. 18 BGHSt 55, 148, 152.
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2. Kritik Diese Begründung des Senats, in der § 138 StGB fast wieder wie im preußischen Strafrecht (§ 39 prStGB 1851) als Teilnahmeform (concursus negativus) erscheint, ist zumindest unvollständig, weil auf eine notwendige Bedingung einer eindeutigen Verurteilung auf mehrdeutiger Tatsachengrundlage nicht eingegangen wird, dass nämlich, wie der 3. Strafsenat in seinem Antwortbeschluss zu Recht hervorhob,19 die Verwirklichung des milderen Delikts zur Überzeugung des Gerichts feststehen muss.20 Denn der Zweifelssatz allein kann eine Bestrafung, sei es auch aus dem milderen Gesetz, niemals begründen. Die Verurteilung aus dem milderen Delikt ist nur möglich, wenn und weil seine Voraussetzungen in allen denkbaren Sachverhaltsvarianten im Sinne des § 261 StPO nachgewiesen sind; die Verurteilung aus dem schwereren Delikt scheidet deshalb in dubio pro reo aus, weil es eben nicht in allen denkbaren Sachverhaltsvarianten erwiesen ist. Insofern ist die Behandlung von „Stufenverhältnissen“ oder unechter Gesetzesalternativität nichts weiter als schlichte Anwendung des Zweifelssatzes auf dem Sockel einer bereits erwiesenen Tatbestandsverwirklichung21 hinsichtlich der Frage, ob noch weitere Tatbestände erfüllt sind. Ist hingegen die Verwirklichung auch des milderen Gesetzes nicht in allen Sachverhaltsvarianten gewiss, dann bleibt allenfalls die wahldeutige Verurteilung, denn der Zweifelssatz kann aus Zweifeln keine Gewissheit machen, weshalb der Satz des Senats „Der Grundsatz in dubio pro reo überwindet fortbestehende Zweifel über den vom Täter verwirklichten Zurechnungsgrad zugunsten einer minderen Zurechnungsform.“22 wenigstens missverständlich ist – allseitigen Zweifel kann nur die Wahlfeststellung „überwinden“. Wird indes unter dem ohnehin „nebulösen“23 Etikett des „normativ-ethischen“ Stufenverhältnisses mit einigen Stimmen im Schrifttum24 die Erlaubnis verstanden, aus dem milderen Delikt auch dann zu verurteilen, wenn keines der in Betracht kommenden Strafgesetze sicher feststeht, ihr Unrechtsgehalt sich aber bei wertender Betrachtung als Plus-Minus-Verhältnis darstellt, dann handelt es sich um eine verkappte Wahlfeststellung.25 Denn „eindeutig“ stünde damit nur eine bestimmte Rechtsgutsverletzung fest, nicht aber eine bestimmte Tatbestandsverwirklichung. Dass dies für die Verhängung von Strafe nicht genügt, sollte 19
BGH NStZ-RR 2010, 204 f.; zust. Heghmanns, ZJS 2010, 788, 790 f.; Schiemann, NJW 2010, 2293. 20 Dazu generell NK-StGB/Frister, Nach § 2 Rn. 29, 32 ff.; KMR/Stuckenberg, 63. Lfg. Mai 2012, § 261 Rn. 97 ff., 99; Hruschka, JZ 1970, 637, 642; ders., JR 1983, 177, 180. 21 Vgl. LR/Sander, 26. Aufl. 2012, § 261 Rn. 128: „Rückgriff auf den mit Sicherheit gegebenen Tatbestand“. 22 BGHSt 55, 148, 152. 23 NK-StGB/Puppe, Vor § 52 Rn. 10. 24 So explizit (und vom eigenen Standpunkt aus inkonsequent, richtig noch Rudolphi, Festschrift Roxin, S. 827, 837) SK-StGB/Rudolphi/Stein, § 138 Rn. 35; LK/Hanack, § 138 Rn. 75; wohl auch SK-StGB/Rudolphi/Wolter, Nach § 55 Rn. 21c ff. 25 So auch Joecks, § 138 Rn. 21; vgl. LR/Sander, § 261 Rn. 133 m.w.N.
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keinem Zweifel unterliegen: Aus Art. 103 Abs. 2 GG folgt, dass nicht Rechtsgutsverletzungen als solche, sondern nur Tatbestandsverwirklichungen bestraft werden dürfen. Sollte der Senat das im Sinn gehabt haben, so wäre seine wiederholte Rede von der „eindeutigen“ Verurteilung falsch, weil sie tatsächlich wahldeutig ist und lediglich in favorem rei die schwerere Alternative im Schuldspruch unerwähnt26 lässt. Misslich wäre vor allem, dass der Senat damit zur Wirrnis, die die Anwendung des Zweifelssatzes und die Konstellationen mehrdeutiger Beweisergebnisse seit jeher – unnötigerweise – umgibt, beigetragen hätte. War es dagegen dem Senat mit der „eindeutigen“ Verurteilung ernst, dann hätte er nicht versäumen dürfen darzulegen, dass § 138 StGB hier in allen Sachverhaltsvarianten verwirklicht wurde. Folglich hätte er die dahingehenden Bedenken, die der 3. Senat in seinem Antwortbeschluss geäußert hat, nicht unbeantwortet lassen dürfen.27 Eine eindeutige Verurteilung aus § 138 StGB ist nur dann rechtlich möglich, wenn der Täter oder Teilnehmer einer Katalogtat zugleich den Tatbestand des § 138 StGB erfüllt, mag dessen Rechtsfolge auch im Wege der Gesetzeskonkurrenz28 entfallen. Ob das der Fall ist, folgt nicht bereits aus der Annahme, dass § 138 StGB auf dieselben Schutzgüter gerichtet sei wie seine Katalogdelikte, sondern hängt von der genauen Tatbestandsfassung ab. Schließlich trägt die vom Senat29 zur Bestätigung bemühte Kohärenz mit der Bejahung von Stufenverhältnissen bei Täterschaft und Teilnahme, Vorsatz und Fahrlässigkeit sowie Begehungstat und § 323c StGB nicht, weil es sich in den beiden ersten Fällen um Spezialitätsverhältnisse handelt30 und bei § 323c StGB der Anwendung des subsidiären Tatbestands auf den Begehungstäter nicht dieselben Hindernisse entgegenstehen31 wie bei § 138 StGB, die nun darzulegen sind.
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Dies wird von einer Meinung generell für die Wahlfeststellung befürwortet, s. nur KMR/ Stuckenberg, § 261 Rn. 136; a.A. LK/Dannecker, 12. Aufl. 2007, Nach § 1 Rn. 158; NKStGB/Frister, Nach § 2 Rn. 79; Wolter, Wahlfeststellung (Fn. 6), S. 137, jew. m.w.N. 27 So aber BGHSt 55, 148, 153. Der Hinweis, dass eine Präpendenzfeststellung zum selben Ergebnis führen würde, geht fehl, denn die Voraussetzungen einer Präpendenz müssten aufgewiesen werden – bei tatbestandlicher Exklusivität von § 138 StGB und Katalogtat fehlen sie (dazu sogleich). 28 Spezialität und Subsidiarität führen zu den „Stufenverhältnissen“, Konsumtion bzw. mitbestrafte Vor- oder Nachtat zu Prä- oder Postpendenz. 29 BGHSt 55, 148, 152. 30 Vgl. nur NK-StGB/Frister, Nach § 2 Rn. 40 ff., 50 ff.; KMR/Stuckenberg, § 261 Rn. 101 f., 103 m.w.N. 31 Vgl. BGHSt 39, 164, 166; KMR/Stuckenberg, § 261 Rn. 111. Dies ist freilich str., NKStGB/Wohlers, § 323c Rn. 16; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Hecker, § 323c Rn. 31 m.w.N.; abl. (nicht tatbestandsmäßig) OLG Celle NJW 1970, 341; Lackner/Kühl, § 323c Rn. 8; Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf (Fn. 6), § 39 Rn. 25; Tag, JR 1995, 133, 136.
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III. Zur Erfüllung des Tatbestands des § 138 StGB durch Katalogtatbeteiligte 1. Entwicklung des Meinungsstands Dass der Beteiligte an einer Katalogtat den Tatbestand des § 138 StGB nicht verwirklicht,32 war lange Zeit nahezu unstreitig.33 Die oft lakonischen Begründungen schwanken: Das Reichsgericht nahm zunächst an, dass der Gesetzgeber nur an Taten gedacht habe, die für denjenigen, von welchem die Anzeige verlangt wird, fremd seien, weil das Strafgesetzbuch eine Pflicht zur Selbstanzeige nicht kenne.34 Später wurde die kriminalpolitische Erwägung angeführt, es sei unzweckmäßig, jemandem die Aufgabe einer verbrecherischen Absicht dadurch zu erschweren, dass man ihn verpflichte, für diesen Fall „eine ihm peinliche Anzeige“ zu erstatten.35 Auch der Wortlaut spreche dafür, dass derjenige, der von einem Vorhaben „glaubhafte Kenntnis erlangt“, ein anderer sein müsse als derjenige, der das Vorhaben selbst plane.36 Die Frage war praktisch nicht relevant, weil ersichtlich niemand eine zusätzliche Bestrafung des Katalogtatbeteiligten aus § 138 StGB befürwortete. Widerspruch regte sich nur in zwei Grenzfällen: Zum einen nahm die Rechtsprechung an, die anzeigepflichtige Tat müsse eine „völlig fremde“ sein, so dass auch den straflosen Teilnehmer, der sich noch im Stadium der Vorbereitung befindet oder schon zurückge-
32 RGSt 3, 1, 3; 60, 254, 256; 68, 286, 288; 73, 52, 58; RG JW 1932, 57, 58 Nr. 16; 1933, 2395 Nr. 12; 1934, 1357 Nr. 15; 1935, 2053 Nr. 18; DRZ 1935, 370; OGHSt 3, 121, 123; BGHSt 36, 167, 169; 39, 164, 167; BGH MDR (H) 1979, 635, 636; NJW 1956, 30, 31; 1964, 731, 732; NStZ 1982, 244; 1993, 50, 51 = wistra 1992, 348 f.; StV 1988, 202; BGHR StGB § 138 Anzeigepflicht 1, 2, 5; Fischer, § 138 Rn. 18; Lackner/Kühl, § 138 Rn. 6; LK/Hanack, § 138 Rn. 42 ff., 44; MüKo-StGB/Hohmann, § 138 Rn. 22; NK-StGB/Ostendorf, §§ 138, 139 Rn. 6; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 138 Rn. 20/21; SSW/Jeßberger, § 138 Rn. 22; Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf (Fn. 6), § 46 Rn. 21; Bockelmann (Fn. 12), § 8, S. 73; Eisele (Fn. 8), Rn. 1504; Kindhäuser (Fn. 8), § 54 Rn. 9 f.; Küpper (Fn. 12), § 3 Rn. 70; Maurach (Fn. 12), § 79 III A.2.b), S. 724; Otto (Fn. 6), § 67 Rn. 31; Rengier (Fn. 8), § 52 Rn. 4 f.; Welzel (Fn. 12), § 76 I.1.b, S. 517; Foitzik (Fn. 14), S. 32 f.; Gropp (Fn. 11), S. 267 ff.; Meister MDR 1953, 649, 650; Tag, JR 1995, 133, 134 ff.; nur den Alleintäter nimmt Westendorf (Fn. 6), S. 144 ff., 152, aus; Allein- und Mittäter eximiert Joerden, Jura 1990, 633, 635 ff., 638; Alleintäter und Anstifter Heghmanns, ZJS 2010, 788, 791; ähnlich Schwarz (Fn. 6), S. 105 ff.; gänzlich a.A. Schmidhäuser, Festschrift Bockelmann, S. 683, 695 f., 697; ders., Form und Gehalt der Strafgesetze, 1988, S. 31 ff.; Rudolphi, Festschrift Roxin, S. 827, 835; SK-StGB/Rudolphi/Stein, § 138 Rn. 5 f., 34 f.; Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 6), § 98 Rn. 17; Schroeder (Fn. 6), S. 31; Kruse JuS 1987, 386, 388. Zum Ganzen s. a. Schwarz (Fn. 6), S. 105 ff.; Westendorf (Fn. 6), S. 130 ff.; Ziemann/Ziethen, HRRS 2010, 477, 478 ff. 33 S. nur Heimberger (Fn. 13), S. 414. 34 RGSt 3, 1, 3; RG JW 1932, 57 Nr. 16. 35 RGSt 60, 254, 256 f.; 68, 283, 288 f.; 73, 52, 59 f.; BGH MDR (D) 1956, 269, 270; NJW 1956, 30, 31; krit. Schmidhäuser, Festschrift Bockelmann, S. 683, 691 ff. 36 RGSt 68, 286, 288.
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treten ist, keine Anzeigepflicht treffe.37 Zum zweiten entfalle eine Anzeigepflicht bei nicht auszuräumendem Verdacht der Katalogtatbeteiligung38 – eine missverständliche Formulierung dafür, dass der Angeklagte nicht nachweislich nicht zu den Beteiligten des Vorhabens gehört,39 so dass die Tatbestandsvoraussetzung der „völlig fremden Tat“ nicht erwiesen ist –, nicht aber bei dem in Wahrheit Unbeteiligten, der durch die Anzeige zu Unrecht in Verdacht geraten kann.40 Namentlich in der Konstellation, in welcher der Angeklagte entweder Mitwisser oder Tatbeteiligter war, erregte die Lösung der Rechtsprechung, eine Wahlfeststellung mangels Vergleichbarkeit abzulehnen und infolge doppelter Anwendung des Zweifelssatzes zum Freispruch zu gelangen, Unmut: Es wurde für „wenig erfreulich“,41 „nicht einleuchtend“42 oder „paradox“43 gehalten, dass der Mitwisser gerade deshalb straffrei ausgehe, weil er womöglich noch mehr an strafbarem Unrecht verwirklicht habe.44 Die entscheidende Wende brachte das Argument, dass § 138 StGB keineswegs ein Delikt gegen die Rechtspflege oder die öffentliche Ordnung sei, sondern dieselben Rechtsgüter schütze wie die Katalogtaten selbst und deshalb in einem normativ-ethischen Stufenverhältnis zu ihnen stehe.45 Darin liegt nichts anderes als die Wiederbelebung der Einstufung der scientia criminis als kleine, „negative“ Teilnahme, die im 19. Jahrhundert verbreitet war46 und die der Gesetzgeber des RStGB bewusst zurückgewiesen47 hatte. Wer daraus schließt, dass auch der Katalogtatbeteiligte stets den 37 RGSt 3, 1, 3; 60, 254, 256; 73, 52, 59; RG JW 1932, 57 Nr. 16; 1933, 2395 Nr. 12; BGH MDR (D) 1956, 269 f.; NJW 1956, 30, 31 a.E.; 1964, 731, 732 (insoweit nicht in BGHSt 19, 167); NStZ 1982, 244; BGHR StGB § 138 Anzeigepflicht 1, 2, 5; Fischer, § 138 Rn. 19a; Lackner/Kühl, § 138 Rn. 6; NK-StGB/Ostendorf, §§ 138, 139 Rn. 6 f.; Schönke/Schröder/ Sternberg-Lieben, § 138 Rn. 20/21; SSW/Jeßberger, § 138 Rn. 23; Eisele (Fn. 8), Rn. 1504; Kindhäuser (Fn. 8), § 54 Rn. 9 f.; Piatkowski/Saal, JuS 2005, 979, 984; Tag, JR 1995, 133; a.A. Schmidhäuser, Festschrift Bockelmann, S. 683, 684 ff.; Rudolphi, Festschrift Roxin, S. 827, 834 ff.; LK/Hanack, § 138 Rn. 44; SK-StGB/Rudolphi/Stein, § 138 Rn. 5 f.; Blei (Fn. 12), § 110 VI, S. 438; Schroeder (Fn. 6), S. 31; Schwarz (Fn. 6), S. 107 ff., 114 ff.; Drost, JW 1932, 57; Kruse, JuS 1987, 386, 388; Meister MDR 1953, 649, 650. 38 BGHSt 36, 167, 169; 39, 164, 167; BGHR StGB § 138 Anzeigepflicht 2, 5; BGH NJW 1964, 731, 732; StV 1988, 202; MDR (H) 1979, 635; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 138 Rn. 20/21. 39 Vgl. RG JW 1935, 2053 Nr. 18. 40 RGSt 73, 52, 58 f.; RG DRZ 1935, 370; BGHSt 36, 167, 170 f.; a.A. Joerden, Jura 1990, 633, 638 ff.; dazu Westendorf (Fn. 6), S. 156 ff. 41 LK/Heimann-Trosien, 9. Aufl. 1974, § 138 Rn. 30. 42 Schmidhäuser, Festschrift Bockelmann, S. 683, 686. 43 Geilen, JuS 1965, 426, 429; Schwarz (Fn. 6), S. 118. 44 Blei (Fn. 12), § 110 VI, S. 438 f.; Geilen, JuS 1965, 426, 429 („toter Punkt der Strafbarkeit“, „Prämierung des übriggebliebenen Teilnahmeverdachts“). 45 Oben Fn. 6, 11; krit. Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf (Fn. 6), § 46 Rn. 21 Fn. 24. 46 Und im Rahmen des § 60 Nr. 2 StPO a.F. fortlebte, weil die Rspr. den Verdacht eines Vergehens nach § 138 StGB als Verdacht der Beteiligung und Eideshindernis betrachtete, BGHSt 6, 372, 383 f.; 42, 86, 87 m.w.N. 47 Dazu Heimberger (Fn. 13), S. 411; Kisker (Fn. 4), S. 171 ff. m.w.N.
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Tatbestand des § 138 StGB erfüllt,48 kann die non liquet-Situation elegant mit dem gewünschten Ergebnis lösen: Während bei erwiesener Katalogtatbeteiligung eine Bestrafung aus § 138 StGB im Wege der Subsidiarität49 oder Konsumtion50 oder als mitbestrafte Nachtat51 ausscheidet, entfällt die verdrängende Wirkung, wenn die Verwirklichung des vorrangigen Gesetzes nicht erwiesen ist, so dass die in beiden Sachverhaltsalternativen feststehende Verwirklichung des § 138 StGB übrig bleibt. Dieses Ergebnis ist augenscheinlich so attraktiv, dass auch nicht wenige Vertreter der herrschenden Ansicht im non liquet-Fall ein „Stufenverhältnis“ annehmen und in dubio mitius aus § 138 StGB strafen wollen,52 obwohl dies, wie schon Schmidhäuser53 bemerkt hat und oben sub II.2. gezeigt wurde, rechtlich falsch ist, weil unter der Prämisse der fehlenden Anzeigepflicht des Katalogtatbeteiligten keine eindeutige, sondern nur eine wahldeutige Verurteilung möglich ist. 2. Analyse a) Wortlaut Der Wortlaut des § 138 StGB gestattet keine abschließende Beantwortung der Frage, ob auch Katalogtatbeteiligte den Tatbestand erfüllen können. Die Vorschrift erfasst prinzipiell jedermann („wer“) und anders als bei §§ 257 ff. StGB fehlt die eindeutige Zuordnung des Vorhabens oder der Ausführung der in Abs. 1 und 2 aufgezählten Straftaten zu „einem anderen“. Lediglich die Wendung, dass der Anzeigepflichtige von dem Vorhaben „glaubhaft erfahren“ muss, lässt erkennen, dass das Gesetz54 die Katalogtäter wohl nicht im Blick hat, denn wer selbst vorhat oder ausführt, „erfährt“ nicht davon,55 ebenso wenig der Anstifter, der das Vorhaben des Täters ins 48 Schmidhäuser, Festschrift Bockelmann, S. 683, 695 ff.; Rudolphi, Festschrift Roxin, S. 827, 835 ff.; SK-StGB/Rudolphi/Stein, § 138 Rn. 5 f.; w.N. in Fn. 32. 49 SK-StGB/Rudolphi/Stein, § 138 Rn. 34; Schmidhäuser, Festschrift Bockelmann, S. 683, 698; Blei (Fn. 12), § 110 VI, S. 438 f.; Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 6), § 98 Rn. 17; Schroeder (Fn. 6), S. 31; Schwarz (Fn. 6), S. 106; inkonsequent MüKo-StGB/Hohmann, § 138 Rn. 24. 50 Rudolphi, Festschrift Roxin, S. 827, 836. 51 Joerden, Jura 1990, 633, 638. 52 So etwa Lackner/Kühl, § 138 Rn. 6; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 138 Rn. 29; SSW/Jeßberger, § 138 Rn. 26; Kindhäuser (Fn. 8), § 54 Rn. 12 f.; Otto (Fn. 6), § 67 Rn. 34; Rengier (Fn. 8), § 52 Rn. 10; wohl auch Wolter, Wahlfeststellung (Fn. 6), S. 66 Fn. 51. 53 Schmidhäuser, Festschrift Bockelmann, S. 683, 694 f.: Widerspruch zur eigenen Prämisse; s. a. Schöne (Fn. 11), S. 147 Fn. 572 m.w.N. 54 Ebenso die Vorgängervorschriften wie § 39 prStGB („glaubhafte Kenntnis erhält“) oder PrALR II 20 § 80 („Wissenschaft erhält“); w. Nachw. bei Heimberger (Fn. 13), S. 404 ff.; Kisker (Fn. 4), S. 6 ff. 55 So neben dem RG (oben Fn. 36) auch Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 138 Rn. 20/21; Joecks, § 138 Rn. 22; Schwarz (Fn. 12), S. 105; Heghmanns, ZJS 2010, 788, 791; Schiemann, NJW 2010, 2293; Tag, JR 1995, 133, 134; Ziemann/Ziethen, HRRS 2010, 477, 482; krit. Joerden, Jura 1990, 633, 635 (oberflächlich); Westendorf (Fn. 6), S. 134.
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Leben ruft, womöglich aber der sukzessiv hinzutretende Mittäter und Gehilfe. Diese sachlich nicht einleuchtende Differenzierung56 zwischen anfänglichen und später hinzukommenden Beteiligten spricht dagegen, allein auf das Wortlautargument abzustellen. Lautete die Formulierung nur ein wenig anders, z. B. „wer glaubhafte Kenntnis hat“ oder „wer von einem Vorhaben weiß“57, so wären die Katalogtatbeteiligten zwanglos umfasst. Der Wortwahl käme eine Ausschlussfunktion daher nur dann zu, wenn sie dies bewusst bezwecken sollte, wofür nichts bekannt ist. Alle diejenigen, die eine Anzeigepflicht der Katalogtatbeteiligten annehmen, müssen daher das Merkmal „glaubhaft erfährt“ im Sinne von „glaubhaft Kenntnis hat“ verstehen, was noch zulässig erscheint.58 b) Normzweck Entscheidend ist daher der Sinn und Zweck der Vorschrift, der gegen die Einbeziehung der Katalogtatbeteiligten spricht. Nach § 138 StGB wird bestraft, wer von Vorhaben oder Ausführung der enumerierten Taten glaubhaft erfährt und den Behörden oder bei Abs. 1 wahlweise dem Bedrohten keine rechtzeitige Anzeige davon macht. Eine generelle Verhinderungspflicht wie in § 286 öStGB stellt die Vorschrift nicht auf, lässt aber denjenigen zwingend straffrei, der die Tat auf andere Weise abwendet oder sich darum ernsthaft bemüht, § 139 Abs. 4 StGB. Im Unterschied zur Teilnahme ist die Akzessorietät der Nichtanzeige zur Bezugstat – seit 193659 zur Anpassung an das nationalsozialistische Willensstrafrecht!60 – gelockert, denn wenn die Tat nicht versucht wird, steht das Absehen von Strafe lediglich im Ermessen des Gerichts, § 139 Abs. 1 StGB. Demnach ist § 138 StGB auf die Unterbindung desselben inkriminierten Verhaltens gerichtet wie die Katalogtatbestände, wobei der Unterschied darin besteht, dass kein Erfolg geschuldet wird, sondern ein qualifiziertes Bemühen.61 Der Haftungsgrund für Katalogtat und Nichtanzeige unterscheidet sich ebenfalls deutlich: Der Katalogtatbeteiligte haftet als Garant62 kraft organisatorischer oder institutioneller Zuständigkeit auf den Erfolg, der Mitwisser kraft einer jeden Bürger treffenden Min56
So aber Heghmanns, ZJS 2010, 788, 791. Wie in Art. 78 bayStGB 1813. 58 Im Ergebnis auch Westendorf (Fn. 6), S. 134. 59 In § 139 Abs. 1 Satz 2 StGB a.F. durch Art. I G v. 2. 7. 1936, RGBl. 1936 I, 532. 60 Amtl. Begründung, DJ 1936, 996; dazu Kisker (Fn. 4), S. 108 f., 135 ff., 192 ff., auch zur späteren Diskussion; Schöne (Fn. 11), S. 162. 61 Insoweit zutr. Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf (Fn. 6), § 46 Rn. 2; vgl. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, Tz. 28/11: partielles Unternehmensdelikt; ähnl. SKStGB/Rudolphi/Stein, § 138 Rn. 3, 3a. 62 In der Annahme, dass auch die Haftung des Begehenstäters auf einer Garantenstellung, regelmäßig kraft Organisationszuständigkeit, beruht, vgl. Freund, Festschrift Herzberg, 2008, S. 225, 228 ff., 232 ff.; Herzberg, Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, 1972, S. 169 ff., 174; Jakobs, AT (Fn. 61), Tz. 7/56 ff.; ders., System der strafrechtlichen Zurechnung, 2012, S. 27 f. m.w.N. auch zur Gegenmeinung, 38. 57
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destsolidarität,63 die durch schieren Zufall64 aktiviert werden kann, auf das Bemühen. Schon daraus ergibt sich, dass eine Erstreckung des § 138 StGB auf die Katalogtatbeteiligten, die stärker verpflichtet sind und schwerer haften, unnötig ist. Das ist noch kein entscheidender Einwand, zumal er auch § 323c StGB trifft; entscheidend ist vielmehr, dass diese unnötige Ausdehnung bei § 138 StGB zu viele ungereimte Folgen hätte. aa) Ungereimte Verhaltensnormen Dies tritt zu Tage, wenn man die jeweiligen Verhaltensnormen näher betrachtet.65 Jeden Bürger trifft der in den enumerierten Tatbeständen als Primärnorm vorausgesetzte Verhaltensbefehl, z. B. im Fall des § 138 Abs. 1 Nr. 5 StGB, niemanden zu töten. Diese Rechtspflicht bleibt bestehen, auch wenn sich jemand entschließt, ihr zuwider einen anderen zu töten. Hat er – ob als Täter oder als Teilnehmer – einen zeitlich gestreckten Geschehensablauf in Gang gesetzt, der eine tödliche Gefahr für das Opfer schafft, trifft ihn zudem die aus Ingerenz folgende Garantenpflicht,66 die Gefahr abzuwenden. Diese Revokationspflicht wird nicht gesondert sanktioniert, sofern Strafe schon ganz67 auf die Begehung gegründet werden kann. Würde man die Katalogtatbeteiligten dem § 138 StGB unterstellen, so träfe sie zudem noch die Pflicht, der Behörde oder dem Bedrohten Anzeige ihres Vorhabens zu machen, auf dass es scheitern möge. Neben der Garantenpflicht, das Bestmögliche zu tun, um den Erfolg zu vermeiden, ist die schwächere Anzeigepflicht nicht nur überflüssig oder unverhältnismäßig,68 sondern absurd:69 Um die Erfüllung des Tatbestands des 63
S. nur SK-StGB/Rudolphi/Stein, § 138 Rn. 2b; Jakobs, AT (Fn. 61), Tz. 28/11. Jedoch pflegen schwere Straftaten nicht derart in der Öffentlichkeit geplant zu werden, dass gänzlich Unbeteiligte sie erfahren könnten, weshalb sich der Kreis der Mitwisser regelmäßig auf angehörige und umstehende Personen der Katalogtatbeteiligten reduziert, mithin auf Mitglieder einer bestimmten kriminellen Szene, so dass die Vermutung plausibel ist, § 138 StGB fungiere in praxi als Auffangtatbestand oder Verdachtsstrafe für nicht erwiesene Beteiligung, Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf (Fn. 6), § 46 Rn. 6; bei § 138 Abs. 2 StGB ist dies sogar das gesetzgeberische Ziel, vgl. Lossos im BT-Rechtsausschuss, 7. WP, Sitzung vom 2. 4. 1976, Prot. Nr. 95 S. 25; krit. Schroeder (Fn. 6), S. 30. 65 Vgl. Rudolphi, Festschrift Roxin, S. 827, 828; LK/Hanack, § 138 Rn. 43 f.; Joerden, Jura 1990, 633, 635 f. 66 Zur Revokationspflicht qua Ingerenz vgl. nur RGSt 73, 52, 60; Jakobs, AT (Fn. 61), Tz. 26/21, 29/41; Stein, JR 1999, 265, 267 Fn. 25 m.w.N.; a.A. OLG Celle NJW 1970, 341 (zu § 330c StGB a.F.: „widersinnig“; zust. Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Fn. 6, § 39 Rn. 25); ähnl. Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 228 f. Fn. 301 („überflüssig“); dagegen Stein, ibid. 270 m.w.N. 67 Selbständige Bedeutung erhält die Revokationspflicht neben der Gefahrschaffung, wenn der Grad der Vermeidbarkeit differiert, also bei vorsätzlicher Unterlassung nach fahrlässiger Gefahrschaffung, was auch Kaufmann (Fn. 66) anerkennt. 68 So Westendorf (Fn. 6), S. 144 f.; Gropp (Fn. 11), S. 267 ff. Die Poenalisierung einer ebenso unnötigen wie absehbar wirkungslosen Pflicht nähert sich zudem der Schikane, vgl. Stuckenberg, Festschrift Puppe, 2011, S. 1039, 1056. 69 So auch LK/Hanack, § 138 Rn. 43 f.; Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf (Fn. 6), § 46 Rn. 21 Fn. 24; Joerden, Jura 1990, 633, 636, 638 (nur für den Allein- und Mittäter). 64
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§ 138 StGB zu vermeiden, müsste der Mordlustige lediglich sein Opfer rechtzeitig informieren, dass er es zu ermorden plane. Gelingt ihm die Tat dennoch, wäre er nur aus § 211 StGB zu strafen – woran sich nichts änderte, wenn er die Anzeige unterließe! Hat er die megalomane Vorstellung, ihn könne nichts aufhalten, die Anzeige wäre also ungeeignet zur Tatverhinderung, so entfiele schon der Vorsatz.70 Ist sein Plan so gut, dass ihn tatsächlich nichts aufhalten kann, entfällt die Anzeigepflicht sogar objektiv.71 Entsprechendes gilt für Teilnehmer,72 deren Pflicht zur Revokation ihres Tatbeitrages sich auch auf eine (anonyme, dazu sogleich) Anzeige konkretisieren kann, falls ein arbeitsteiliges Unternehmen nicht anders aufzuhalten ist. Das Argument, nur die Statuierung einer Anzeigepflicht der Katalogtatbeteiligten gewährleiste den vom Gesetzgeber bezweckten umfassenden Rechtsgüterschutz,73 ist somit nicht nur ein Beleg für die inhärent strafbarkeitsausdehnende Natur konsequent betriebenen Rechtsgüterschutzdenkens, sondern auch in dreifacher Weise verfehlt: Erstens, weil es verkennt, dass jeden Katalogtatbeteiligten ohnehin eine ungleich stärkere, auf bestmögliche Erfolgsabwendung gerichtete Garantenpflicht trifft, neben der, zweitens, die Statuierung einer Anzeigepflicht ungereimt und unnütz ist, drittens, weil die empirisch fragwürdige Annahme, einzelne Strafdrohungen könnten den Rechtsgüterschutz verbessern, hier schon deshalb ins Leere geht, weil auf Bestrafung aus § 138 StGB neben der Katalogtat immer verzichtet wird. bb) Ungereimte Rechtsfolgen Da niemand die Katalogtatbeteiligten zusätzlich aus § 138 StGB strafen will, fragt sich, warum sie überhaupt unter den Tatbestand fallen sollten: Übrig blieben nur die wenigen Fälle, in denen keine strafbare Katalogtatbeteiligung vorliegt, weil entweder (1) nach den Regeln des Allgemeinen Teils Strafbarkeit noch nicht begründet oder wieder aufgehoben wurde oder weil (2) sie im Prozess nicht zur Überzeugung des Gerichts feststeht. (1) Dann treten die hinlänglich bekannten ungereimten Ergebnisse auf, weil § 138 StGB das System der Beteiligungslehre stört,74 weshalb zu bezweifeln ist, dass ein vernünftiger Gesetzgeber diese Interferenz mit dem numerus clausus der §§ 25 ff. 70
Vgl. nur Fischer, § 138 Rn. 13; LK/Hanack, § 138 Rn. 21; NK-StGB/Ostendorf, §§ 138, 139 Rn. 19; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 138 Rn. 9; SK-StGB/Rudolphi/Stein, § 138 Rn. 30a. 71 Vgl. BGHSt 42, 86, 88; Fischer, § 138 Rn. 13; LK/Hanack, § 138 Rn. 19 f.; NK-StGB/ Ostendorf, §§ 138, 139 Rn. 10; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 138 Rn. 9; SK-StGB/ Rudolphi/Stein, § 138 Rn. 11. 72 Entgegen Joerden, Jura 1990, 633, 636 ff. 73 Rudolphi, Festschrift Roxin, S. 827, 835; auch Joerden, Jura 1990, 633, 636 (für den Teilnehmer). 74 So auch LK/Hanack, § 138 Rn. 43; NK-StGB/Ostendorf, §§ 138, 139 Rn. 7; SSW/Jeßberger, § 138 Rn. 23; Kindhäuser (Fn. 8), § 54 Rn. 12 f.; a.A. SK-StGB/Rudolphi/Stein, § 138 Rn. 6. Zu Ungereimtheiten bei manchen Strafrahmen Kisker (Fn. 4), S. 195.
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StGB wirklich gewollt hätte. Dem kann nicht entgegnet werden, dass § 138 StGB in der Sache als mindere Teilnahmeform, die sich bloß in den Besonderen Teil verirrt habe, gelten müsse, denn die zeitweise75 Einstufung der scientia criminis im 19. Jahrhundert als concursus negativus, dritten Grad der Beihilfe76 oder vorhergehende Begünstigung ist zu Recht überwunden. So würde nicht nur der Begriff der Beteiligung sachwidrig verdünnt, wenn schon jedermanns zufällige Kenntnisnahme fremder Verbrechenspläne dazu zählte, sondern § 138 StGB würde auch, weil jeder vorsätzliche Täter und Teilnehmer notwendigerweise von dem Vorhaben weiß,77 zur Grundform, gleichsam zur lex generalissima der Verbrechensbeteiligung und träte folglich nicht, wie üblicherweise angenommen,78 im Wege der Subsidiarität oder Konsumtion hinter stärkere Beteiligungsformen zurück, sondern aufgrund Spezialität. Zudem erhöht gerade die derzeitige Fassung des § 138 StGB die Unstimmigkeit der Resultate:79 Versteht man unter „Vorhaben“ schon den ernsthaften Plan einer Verbrechensbegehung vor Erreichung des Versuchsstadiums,80 so würden die §§ 22 ff. StGB und der Grundsatz cogitationis poenam nemo patitur unterlaufen, denn bereits derjenige wäre strafbar, der nur plant und sich nicht anzeigt, selbst wenn es zum Versuch gar nicht kommt (§ 139 Abs. 1 StGB). Auch die Teilnahme an der Planung wäre über § 30 Abs. 2 StGB hinaus strafbar, weil sie notwendig Kenntnis impliziert. Hingegen hat die frühere Erwägung, den Rücktritt des Beteiligten nicht durch eine zusätzliche Anzeigepflicht zu erschweren,81 heute nur noch Bedeutung in der Ausnahmesituation, dass bloßes Untätigbleiben zur Tatverhinderung genügt,82 da der Rücktritt vom Beteiligungsversuch gem. §§ 24 Abs. 2, 31 StGB ansonsten ein aktives Verhindern der Tat bzw. ernsthaftes Bemühen erfordert, mit dem man auch nach § 139 Abs. 4 StGB der Strafe entgeht.83 Der Einwand, es sei „grob ungerecht“, den Mitwisser zu strafen, aber den straflos Beteiligten an der Vorbereitung oder den erfolglosen Gehilfen nicht,84 konstatiert zunächst nur eine Unstimmigkeit, deren Ursache sich in zweierlei Richtung suchen 75
Eingehend zur Dogmengeschichte Dersch, Begünstigung, Hehlerei und unterlassene Verbrechensanzeige in der gemeinrechtlichen Strafrechtsdoktrin bis zum Erlaß des Reichsstrafgesetzbuchs, 1980, S. 152 ff., 163 ff. m.w.N.; Heimberger (Fn. 13), S. 404 ff.; knapp Maurach (Fn. 12), § 79 II, S. 721 f.; Kisker (Fn. 4), S. 6 ff., 171 ff.; gründliche Kritik bei Schöne (Fn. 11), S. 141 ff. 76 Z. B. in Art. 78 bayStGB 1813. 77 Vgl. BGH NStZ 1993, 50 f.; zutr. Foitzik (Fn. 14), S. 32. 78 Oben Fn. 49 bis 51. 79 Vgl. LK/Hanack, § 138 Rn. 43; Hohmann, NStZ 2011, 32, 33. 80 So BGH MDR (H) 1976, 987; Fischer, § 138 Rn. 6; LK/Hanack, § 138 Rn. 7; SK-StGB/ Rudolphi/Stein, § 138 Rn. 7. 81 Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 138 Rn. 20/21; Tag, JR 1995, 133, 135; wohl auch Kindhäuser (Fn. 8), § 54 Rn. 10. 82 Vgl. Westendorf (Fn. 6), S. 146 f. m.w.N. 83 Zutr. LK/Hanack, § 138 Rn. 44. 84 Schmidhäuser, Form (Fn. 32), S. 30; ders., Festschrift Bockelmann, S. 683, 685.
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lässt: in der gegenwärtigen weiten Fassung des § 138 StGB, namentlich des § 139 StGB, die de lege ferenda zu reduzieren wäre, oder in der unzureichenden Punitivität der §§ 22 ff., 25 ff. StGB, die anzuheben wäre. Hier spricht mehr dafür, §§ 138, 139 StGB als missraten anzusehen.85 (2) Die Erfassung ansonsten strafloser Beteiligung in der Vorbereitungsphase durch § 138 StGB dürfte in der Praxis rar bleiben, wohingegen die Anwendung in non liquet-Situationen praktisch relevanter sein könnte. Die Aufstellung einer für sich genommen ebenso unnützen wie ungereimten Anzeigepflicht hätte dann hauptsächlich den Sinn, als Verdachtsstrafe86 oder – freundlicher ausgedrückt – Auffangtatbestand87 für nicht erweisliche Katalogtatbeteiligung zu dienen. Darin liegt formell freilich keine Verdachtsstrafe und kein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung,88 da die Verwirklichung des Auffangtatbestandes für dessen Anwendung erwiesen sein muss, so dass die Kritik sich – neben dem rechtsstaatlich unschönen Etikettenschwindel – nur gegen die Berechtigung der Poenalisierung des vom Auffangtatbestand nominell erfassten Verhaltens, dessen sozialschädlicher Gehalt sich zumeist auf bewussten Aufenthalt im kriminellen Umfeld verdünnen dürfte, richten kann sowie gegen die dadurch vermiedene, als unbefriedigend empfundene alternative Lösung des Beweiszweifels. Bevor unten sub IV. die Angemessenheit der bisherigen Freispruchslösung bei non liquet in Frage gestellt wird, ist auf einen weiteren materiellen Einwand gegen die Ausdehnung der Anzeigepflicht auf Katalogtatbeteiligte einzugehen: cc) Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit? Auch heute wird von einigen angenommen, eine Anzeigepflicht der Katalogtatbeteiligten verstoße gegen die Selbstbelastungsfreiheit.89 Gleichwohl erstaunt, mit welcher Selbstverständlichkeit das Argument, es gebe keine Pflicht zur Selbstanzeige, vom Reichsgericht in der ersten Entscheidung von 188090 und später im Schrift-
85
Zutr. Gropp (Fn. 11), S. 269. Tag, JR 1995, 133, 136. 87 Schroeder (Fn. 6), S. 32; auch Kindhäuser (Fn. 8), § 54 Rn. 12. 88 Zur Beweiserleichterung durch entsprechende Gestaltung des materiellen Rechts s. Arzt, Der Einfluß der Beweisschwierigkeiten auf das materielle Recht, 1980, S. 77 ff.; ders., Ketzerische Bemerkungen zum Prinzip in dubio pro reo, 1997, S. 14, 17 f.; Lüderssen, ZStW 85 (1973), 288 ff.; Peters, Die strafrechtsgestaltende Kraft des Strafprozesses, 1963; umfangr. Nachw. bei Stuckenberg, Vorstudien zu Vorsatz und Irrtum im Völkerstrafrecht, 2007, S. 401 ff.; ders., Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, 1998, S. 95 ff., 529. 89 BGH NStZ 1993, 50, 51; MüKo-StGB/Hohmann, § 138 Rn. 22; NK-StGB/Ostendorf, §§ 138, 139 Rn. 6; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 138 Rn. 20/21; SSW/Jeßberger, § 138 Rn. 22; Eisele (Fn. 8), Rn. 1504; Kindhäuser (Fn. 8), § 54 Rn. 9; Rengier (Fn. 8), § 52 Rn. 5; Piatkowski/Saal, JuS 2005, 979, 984; Schiemann, NJW 2010, 2293; Tag, JR 1995, 133, 135; Ziemann/Ziethen, HRRS 2010, 477, 482 ff.; einschränkend, weil Selbstbelastung nur einen Teil der Fälle beträfe, Joerden, Jura 1990, 633, 635. 90 RGSt 3, 1, 3. 86
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tum noch der Weimarer Zeit91 als ausreichend angesehen wurde, und mit welcher Leichtigkeit es in der nachfolgenden Diskussion, obschon die Selbstbelastungsfreiheit nun Verfassungsrang hat, nicht selten beiseite gewischt92 wird. Vielfach wird nicht einmal der nemo tenetur-Grundsatz problematisiert, sondern ein etwaiger materiell-rechtlicher Grundsatz der Selbstbegünstigungsfreiheit oder ein bloßes „Interesse“ des Beteiligten, sich nicht der Strafverfolgung auszusetzen, im Rahmen des Notstandes oder der Zumutbarkeit thematisiert.93 In der Tat kennt das Strafrecht weder einen allgemeinen Grundsatz der Straflosigkeit der Selbstbegünstigung94 noch einen solchen Entschuldigungsgrund95. Die eng begrenzten Privilegierungen der Selbstbegünstigung wie in §§ 120, 258 Abs. 1 und 5 StGB stehen zudem in keinem Ableitungsverhältnis mit dem nemo tenetur-Satz.96 Das Verbot des Selbstbezichtigungszwangs (nemo tenetur se ipsum accusare vel prodere) ist als Menschenrecht (Art. 14 Abs. 3 lit. g IPBPR) sowie als ungeschriebener Bestandteil des deutschen Verfassungsrechts anerkannt,97 wobei der Streit um die präzise verfassungsrechtliche Lozierung hier dahinstehen kann. Gewährleistet wird, gegen sich selbst nicht aussagen oder sonst aktiv an der Sachverhaltsaufklärung zu eigenen Lasten mitwirken zu müssen. Nach Ansicht des BVerfG ist ein „Zwang, durch eigene Aussagen die Voraussetzungen für eine strafgerichtliche Verurteilung liefern zu müssen,“ „unzumutbar und mit der Würde des Menschen unvereinbar“.98 Eine strafbewehrte Pflicht, die eigene Beteiligung an einer Straftat in einer Weise offenbaren zu müssen, die zur Bestrafung führt, ist damit ausgeschlossen. Diese
91 Foitzik (Fn. 14), S. 32 f.; Drost, JW 1932, 57; s. a. Frank, StGB, 18. Aufl. 1931, § 1 Anm. IV 2, S. 18 unten. 92 Etwa von Schwarz (Fn. 6), S. 109 ff.; Schmidhäuser, Festschrift Bockelmann, S. 683, 697; ders., Form (Fn. 32), S. 32; Rudolphi, Festschrift Roxin, S. 827, 835; SK-StGB/Rudolphi/Stein, § 138 Rn. 6; Stein, JR 1999, 265, 272 f.; Westendorf (Fn. 6), S. 138; Gropp (Fn. 11), S. 267; Heghmanns, ZJS 2010, 788, 790. Allgemein krit. zur Zurückdrängung der Selbstbelastungsfreiheit schon Geilen, FamRZ 1964, 385, 387 f.; s. a. Welzel, JZ 1958, 494, 496 gegen BGHSt 11, 353, 358. 93 Maurach (Fn. 12), § 79 III A.2.b), S. 724; Schmidhäuser, Festschrift Bockelmann, S. 683, 697; Schwarz (Fn. 12), S. 109 ff. m.w.N.; Westendorf (Fn. 6), S. 138. 94 Vgl. nur Ulsenheimer, GA 1972, 1 ff.; Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, 2001, S. 87; Stuckenberg, Festschrift Puppe, S. 1039, 1048 f., 1055 m.w.N. 95 Nachw. bei Stuckenberg, Festschrift Puppe, S. 1039, 1049, 1055. 96 Dazu Stuckenberg, Festschrift Puppe, S. 1039, 1053 ff. m.w.N. 97 BVerfGE 38, 105, 113; 55, 144, 150; 56, 37 ff., 49; 95, 220, 241; BGHSt 36, 328, 336; 42, 139, 151 ff.; LR/Esser, 26. Aufl. 2012, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPBPR Rn. 879 ff., 886 m.w.N.; SK-StPO/Rogall, 4. Aufl. 2010, Vor § 133 Rn. 130 ff.; ders., Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S. 67 ff.; Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts, 1986, S. 68 ff.; Nothhelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, 1989, S. 10 ff.; H. Schneider, Grund und Grenzen des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips, 1990, S. 27 ff.; Torka, Nachtatverhalten und Nemo tenetur, 2000, S. 51 ff.; Kölbel, Selbstbelastungsfreiheiten, 2006, S. 273 ff. 98 BVerfGE 56, 37, 49.
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Folge ist weder der Abwägung mit Rechtsgütern anderer zugänglich99 noch kommt es darauf an, ob die Strafverfolgung Haupt- oder Nebenfolge100 der Anzeigepflicht ist. Allerdings hat das BVerfG angenommen, die Verfassung gebiete keinen lückenlosen Schutz gegen Selbstbezichtigungen ohne Rücksicht darauf, ob dadurch schutzwürdige Belange Dritter beeinträchtigt werden, sofern sichergestellt ist, dass die Aussage einem strafrechtlichen Verwertungsgebot unterliegt.101 Selbst wenn die Anzeigepflicht der Katalogtatbeteiligten zum Schutz der Rechte Dritter geeignet und erforderlich wäre – was hier verneint wurde –, dürfte § 138 StGB von Verfassungs wegen jedenfalls nicht so ausgelegt werden, dass er Katalogtatbeteiligte zur Selbstbelastung zwingt, ohne dass ihre Aussagen zugleich der strafrechtlichen Verwertung entzogen wären – was die Anzeigepflicht vollends ad absurdum führte. Kein Konflikt mit nemo tenetur bestünde hingegen, wenn die Katalogtatbeteiligten der Anzeigepflicht genügen könnten, ohne sich selbst zu belasten,102 zumal bei § 138 Abs. 1 StGB auch die Warnung des Bedrohten reicht. Maßgebend ist aber nicht, ob eine Behörde oder eine Privatperson informiert wird, sondern ob dies schließlich zur Strafverfolgung führt, so dass es auf die Art der Angaben, namentlich die Preisgabe der Identität der Beteiligten, ankommt. Anzeige und Warnung können auf zwei Weisen die Abwehr der durch die Katalogtat drohenden Gefahr ermöglichen: entweder durch rechtzeitigen Zugriff auf die Täter oder durch Verbesserung der Abwehrmöglichkeiten des Opfers. Letzteres wäre vielleicht auch durch anonyme Anzeigen oder Warnungen103 zu erreichen, wenn es einen Bedrohten gibt („Drei Personen wollen nächsten Donnerstag um 15.30 Uhr die Sparkasse in X überfallen.“, aber nicht: „Fünf Personen planen Hochverrat“), ersteres kaum.104 Anonyme Hinweise haben den Nachteil, schlechter überprüfbar, daher weniger glaubhaft und deshalb womöglich ungeeignet zu sein.105 Angenommen wird ferner, in der Anzeige läge zugleich ein strafbefreiender Rücktritt, weshalb gar keine Selbstbezichtigung einträte.106 Dies kann für den Teilnehmer zutreffen, der mit der Anzeige die Tat freiwillig 99
So aber SK-StGB/Rudolphi/Stein, § 138 Rn. 6; Heghmanns, ZJS 2010, 788, 790. So aber Stein, JR 1999, 265, 272 f.; ähnl. Joerden, Jura 1990, 633, 635 – dies ist schon mit den Grundsätzen der Gemeinschuldnerentscheidung BVerfGE 56, 37 unvereinbar, denn auch die Auskunftspflicht aus §§ 75, 100 f. KO diente hauptsächlich den finanziellen Interessen der Gläubiger und nicht der Entdeckung von Konkursstraftaten. 101 BVerfGE 56, 37, 49. 102 So Rudolphi, Festschrift Roxin, S. 827, 835; SK-StGB/Rudolphi/Stein, § 138 Rn. 15, 19; Schwarz (Fn. 6), S. 109. 103 Näher SK-StGB/Rudolphi/Stein, § 138 Rn. 15; dafür NK-StGB/Ostendorf, §§ 138, 139 Rn. 11. 104 Die Situation ist anders als bei § 323c StGB, wo die Notsituation nicht mit einer Straftat, zumal einer eigenen, zusammenhängen muss. 105 Vgl. Fischer, § 138 Rn. 29; LK/Hanack, § 138 Rn. 37; MüKo-StGB/Hohmann, § 138 Rn. 13; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 138 Rn. 10; SK-StGB/Rudolphi/Stein, § 138 Rn. 15; Schomberg/Korte, ZRP 1990, 417. 106 Schwarz (Fn. 6), S. 110; Heghmanns, ZJS 2010, 788, 789 f.; Ziemann/Ziethen, HRRS 2010, 477, 484. 100
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verhindern will, doch ist nicht jede Anzeige auch zwingend ein strafbefreiender Rücktritt: Beim Alleintäter ist die Anzeige überhaupt nur erforderlich, wenn er die Tat nicht aufgibt. Mittäter und Teilnehmer mögen unfreiwillig107 handeln oder vielleicht nur den Nervenkitzel erhöhen, aber nicht das Vorhaben aufgeben wollen. Doch selbst ein wirksamer Rücktritt von dem Vorhaben schließt eine Selbstbezichtigung nicht aus, denn es können während der Vorbereitung schon weitere Taten verwirklicht sein wie Diebstähle, Verstöße gegen das Waffengesetz108 usw., die nicht mehr rücktrittsfähig sind, so dass ein Abstellen auf die Katalogtat allein zu kurz griffe. Insgesamt ist eine Anzeigepflicht der Katalogtatbeteiligten auch deshalb pauschal abzulehnen, weil sie zwar nicht in jedem Einzelfall zur Selbstbelastung führen mag, jedoch dieses Risiko groß genug und für die Betroffenen schwierig – für unberatene juristische Laien gar nicht – zu beurteilen ist.109
IV. Doch Wahlfeststellung? Ist endgültig unaufklärbar, ob der Angeklagte an einer Katalogtat beteiligt war oder nur von ihr wusste, ohne sie anzuzeigen, so scheidet nach der vorstehend entwickelten Ansicht eine eindeutige Verurteilung aus § 138 StGB mangels Anzeigepflicht des Katalogtatbeteiligten aus. Misslich ist diese Lösung weniger wegen der scheinbaren Ungerechtigkeit, die sich nicht wesentlich von den übrigen nicht wahlfeststellungsfähigen Fällen unterscheidet, in denen immer feststeht, dass der Täter eine Straftat begangen hat, nur nicht, welche, sondern wegen der Nähe der Nichtanzeige zur Teilnahme,110 auch wenn es sich nicht um eine Teilnahmeform handelt (oben III. 2. b] bb] [1]). Anders als die frühere Rechtsprechung meinte, ist eine wahldeutige Verurteilung, d. h. eine echte Wahlfeststellung, ernstlich in Betracht zu ziehen.111 Dass die rechtsethische und psychologische Gleichwertigkeit112 von § 138 StGB und der jeweiligen Katalogtat fehle, wurde oft behauptet,113 aber nur selten be107
Zutr. Heghmanns, ZJS 2010, 788, 790, der diesen Fall aber für abwegig hält. Zutr. Ziemann/Ziethen, HRRS 2010, 477, 484. 109 Deutlich gezeigt von Ziemann/Ziethen, HRRS 2010, 477, 484. 110 Vgl. Schöne (Fn. 11), S. 147. 111 Dafür Rudolphi, Festschrift Roxin, S. 827, 837 Fn. 36; erwägend LK/Heimann-Trosien, 9. Aufl. 1974, § 138 Rn. 30; Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf (Fn. 6), § 46 Rn. 23; offenlassend LK/Hanack, § 138 Rn. 75; s. a. Geilen, FamRZ 1964, 385, 387. 112 Dazu allg. Fischer, § 1 Rn. 21; KMR/Stuckenberg, § 261 Rn. 122 ff.; LR/Sander, § 261 Rn. 142 ff.; LK/Dannecker, Nach § 1 Rn. 135 ff.; Schönke/Schröder/Eser/Hecker, § 1 Rn. 70 ff.; SK-StGB/Rudolphi/Wolter, Nach § 55 Rn. 31 ff. 113 MüKo-StGB/Hohmann, § 138 Rn. 22; NK-StGB/Ostendorf, §§ 138, 139 Rn. 25; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 138 Rn. 29; Hänsel, Zulässigkeit und Grenzen von Wahlfeststellungen im Strafrecht, Diss.iur. Kiel 1956, S. 83; Wolter (Fn. 4), S. 258 Fn. 6; Schmidhäuser, Festschrift Bockelmann, S. 683, 686; Geilen, FamRZ 1964, 385, 387; ders., 108
Anwendung von § 138 StGB bei nicht ausschließbarer Katalogtatbeteiligung
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gründet. Wenn es für die „rechtsethische“ Gleichwertigkeit darauf ankommen soll, ob die Straftaten nach allgemeinem Rechtsempfinden wenigstens eine ähnliche sittliche Missbilligung verdienen,114 mithin wenigstens die verletzten Rechtsgüter gleich oder ähnlich sind,115 so lässt sie sich hier grundsätzlich – aber nicht ohne weiteres pauschal – bejahen, wenn man durch § 138 StGB die Rechtsgüter der Katalogdelikte als wenigstens mittelbar geschützt ansieht. Frühere Bedenken wegen der „schroffen Gegensätzlichkeit von Begehungsdelikt und echtem Unterlassungsdelikt“116 haften an Äußerlichkeiten und sollten angesichts des Unternehmenscharakters117 der Nichtanzeige heute überwunden sein. Zweifel wegen des Unrechtsgefälles und auch der psychologischen Gleichwertigkeit118 können allerdings in concreto bei stark unterschiedlichem Gewicht von Beteiligung119 und Nichtanzeige aufkommen, vor allem zwischen Täterschaft und Nichtanzeige bei Gewaltdelikten, während umgekehrt vor allem geringfügige Beihilfe und Nichtanzeige für eine wahldeutige Verurteilung hinreichend gleichwertig sind. Auch Täterschaft ließe sich nötigenfalls im Wege einer „Beteiligungsreduktion“120 auf die lex generalis der Beihilfe „wahlfeststellungsfähig“ machen.
V. Fazit Der Tatbestand des § 138 StGB ist in der Weise eng auszulegen, dass die anzuzeigende Tat eine „völlig fremde“ sein muss, so dass alle diejenigen, die an einer Katalogtat beteiligt sind, keine tauglichen Täter des § 138 StGB sind. Damit wird eine nicht sinnvolle Vervielfachung der Erfolgsabwendungspflichten vermieden, die mit den allgemeinen Regeln über Beteiligung und Versuch konfligieren und in einer nicht abstrakt erfassbaren Zahl von Fällen zu einer verfassungswidrigen Selbstbelastung führen würde. Ist nach Ausschöpfung aller Beweismittel nicht sicher festzustellen, ob der Angeklagte sich an der Katalogtat beteiligt hat oder nur von ihr wusste, ohne sie anzuzeigen, so ist – im Gegensatz zur Ansicht in BGHSt 55, 148 – eine eindeutige Verurteilung aus § 138 StGB unzulässig, weil dieser Tatbestand nicht in allen denkbaren Sachverhaltsvarianten erfüllt ist. Wegen der tatbestandlichen Exklusivität von NichtJuS 1965, 426, 429; Hohmann, NStZ 2011, 32, 33 f.; Oetker, GS 106 (1935), 401, 431 Fn. 16; Schaffstein, NJW 1952, 725, 728; Schiemann, NJW 2010, 2293; Tag, JR 1995, 133, 136. 114 BGHSt 9, 390, 394; 21, 152, 153. 115 BGHSt 21, 152, 154; 23, 360, 361; 30, 77, 78. 116 Vgl. Geilen, FamRZ 1964, 385, 387; Oetker, GS 106 (1935), 401, 431 Fn. 16: wegen totaler Verschiedenheit der Delikte sei eine Wahlfeststellung „so verkehrt wie möglich“, ein Freispruch aber ebenso, daher Einstellung (heute unvertretbar). 117 Oben Fn. 61. 118 Generell verneinend NK-StGB/Ostendorf, §§ 138, 139 Rn. 25. 119 Schaffstein, NJW 1952, 725, 728, hält schon das Gefälle zwischen Beihilfe und Nichtanzeige für zu groß. 120 Analog zur Tatbestandsreduktion, vgl. nur KMR/Stuckenberg, § 261 Rn. 126 m.w.N.
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Carl-Friedrich Stuckenberg
anzeige und Katalogtat scheidet auch eine Prä- oder Postpendenzfeststellung aus. Möglich ist aber wegen der Unrechtsähnlichkeit eine wahldeutige Verurteilung, wobei in jedem Einzelfall zu prüfen bleibt, ob die rechtsethische und psychologische Gleichwertigkeit der konkret in Betracht kommenden Delikte und Beteiligungsformen gegeben ist. Der Schuldspruch sollte auf § 138 StGB beschränkt werden.121
121
Vgl. Fn. 26.
Strafbarkeit der Nutzung persönlichkeitsrechtsverletzender Bildaufnahmen in der Medienberichterstattung nach § 201a Abs. 2 StGB Von Mark A. Zöller
I. Anstelle eines Vorworts Es gibt Menschen, deren Bedeutung für das Leben anderer Menschen gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Jürgen Wolter ist ein solcher Mensch. Er begleitet mich im wahrsten Sinne des Wortes bereits mein halbes Leben. Zuerst als mitreißender Dozent seit meinem ersten Studiensemester an der Universität Mannheim, kurze Zeit später auch als Arbeitgeber an seinem Lehrstuhl, dann als Betreuer von Dissertation und Habilitationsschrift und schließlich – der Begriff mutet nach wie vor fremdartig an – als Kollege. Vor allem aber wurde er mein Freund, der nicht nur die wichtigen beruflichen Anlässe seit dem ersten juristischen Staatsexamen begleitet hat, sondern mir immer auch privat mit Rat und Tat zur Seite stand. Als akademischer Lehrer, in erster Linie allerdings als Mensch wurde er mir ein zweiter (nicht nur Doktor- und Habilitations-)„Vater“. Und sein Vorbild war maßgeblicher Auslöser für meinen Wunsch, selbst Hochschullehrer zu werden. Die Bewahrung der Freiheit, speziell die Gewährleistung unverfügbarer Grund- und Menschenrechte gegenüber beständig zunehmenden, staatlichen Einengungs- und Kontrolltendenzen wird man innerhalb seines beeindruckenden und vielfältigen wissenschaftlichen Werkes getrost als zentrales Leit- und Lebensmotiv des Wissenschaftlers Wolter bezeichnen können. Dabei behält er wie kaum ein Zweiter die Gesamtperspektive im Blick, zu der für ihn gleichermaßen das materielle Strafrecht wie das Strafprozessrecht gehören, in die aber in einem modernen System der Inneren Sicherheit auch fachübergreifende Aspekte des Polizeirechts, Nachrichtendienstrechts, Datenschutzrechts oder des Europa- und Völkerrechts einfließen müssen. Gesetzgeberische „Schnellschüsse“ ohne ausreichende dogmatische Unterfütterung sind ihm dabei schon immer ein Gräuel gewesen. Mängel des geltenden oder zu erwartenden Rechts hat er gelegentlich mit Genuss, manchmal auch mit spürbarem Entsetzen, aber immer offen und schonungslos angeprangert. Insofern geht die Wolter’sche Blickrichtung immer auch de lege ferenda; der status quo ist für ihn lediglich Ausgangspunkt und Antriebsfeder seines Strebens nach dem „idealen Recht“, in dem sich kollektive Sicherheitsinteressen und individuelle Freiheit in einem perfekten Ausgleich befinden.
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Insofern lag es nahe, für den vorliegenden Beitrag ein Thema zu wählen, dem sich der verehrte Jubilar nicht nur schon selbst gewidmet hat, sondern bei dem das Erfordernis eines harmonischen Gesamtkonzepts von Straf- und Strafprozessrecht besonders deutlich zutage tritt – die Strafbarkeit der Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs nach § 201a StGB.1 Dass der Gesetzgeber mit der Einführung dieser Strafvorschrift im Jahr 2004 einmal mehr keine überzeugende Arbeit geleistet hat, wurde von Jürgen Wolter bereits frühzeitig und mit der ihm eigenen Präzision dargelegt.2 Seitdem scheint die dogmatische Auseinandersetzung mit den dadurch veranlassten Problemen allerdings weitgehend zu stagnieren. Insofern soll es mit dem vorliegenden Beitrag unternommen werden, die Überlegungen des Jubilars für einen besonders praxisrelevanten Aspekt des § 201a StGB fortzuführen. Damit gelangt man zu den Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Nutzung persönlichkeitsrechtsverletzender Bildaufnahmen.
II. Inhaltliche Vorbemerkungen Der Mensch ist von Natur aus neugierig. Und mit unserer Neugier verdienen moderne Massenmedien Geld. Insbesondere intime Details aus dem Leben mehr oder minder prominenter Persönlichkeiten bringen Einschaltquoten, Auflage und Klickzahlen. Die Erklärung für dieses Phänomen ist psychologisch vergleichsweise simpel: Wenn wir erleben, dass auch prominente Persönlichkeiten wie Schauspieler, Musiker, Spitzensportler oder Politiker menschliche Schwächen besitzen, wertet uns dies als nicht-prominente Durchschnittsbürger auf. Es vermindert die Distanz zwischen „dem kleinen Mann“ und „denen da oben“. Schadenfreude im Hinblick auf Peinlichkeiten anderer führt also dazu, dass unser eigenes Selbstwertgefühl gestärkt wird. Für dieses Phänomen lassen sich jeden Tag zahlreiche Beispiele aus der Boulevardpresse entnehmen. Um die hier näher zu beleuchtenden Problematik aufzuzeigen, sollen aus der Medienberichterstattung der letzten Jahre lediglich drei Fälle beispielhaft herausgegriffen werden: *
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Beispiel 1 (Fall „Ottfried Fischer“): Im Sommer 2009 wurde der deutsche Schauspieler und Kabarettist Ottfried Fischer beim Sex mit zwei Prostituierten in seiner Münchener Wohnung heimlich gefilmt. Diese Videoaufnahmen wurden später an eine große deutsche Boulevardzeitung verkauft. Zu einer Veröffentlichung einzelner Bilder oder gar des gesamten Videos kam es jedoch nicht. Beispiel 2 (Fall „Ronald Schill“): Von Unbekannten wurde im Jahr 2008 in Rio de Janeiro (Brasilien) ein Video von einer Drogenparty aufgenommen, auf dem u. a. der frühere Hamburger Innensenator Ronald Schill und Corinna Jürgens, Ex-Frau 1
Wolter, in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, Symposium für Bernd Schünemann zum 60. Geburtstag, 2005, S. 225 ff. 2 Wolter, in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, S. 225 (233 f.).
Strafbarkeit der Nutzung persönlichkeitsrechtsverletzender Bildaufnahmen
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des Sängers und Komponisten Udo Jürgens, zu sehen sind, wie sie Kokain schnupfen. Im weiteren Verlauf des Videos ist zudem zu erkennen, dass Schill mit verschiedenen Frauen den Geschlechtsverkehr ausübt. Bilder aus diesem Video wurden für die Berichterstattung in den Boulevardmedien verwendet. Das Video selbst wurde in Teilen auch auf der Homepage einer deutschen Boulevardzeitung zum Abruf bereitgestellt. *
Beispiel 3 (Fall „Max Mosley“): Von einer Sado-Maso-Orgie des damaligen Präsidenten der Fédération Internationale de l’Automobile (FIA) Max Mosley mit fünf Prostituierten in London (Großbritannien) wurde im Jahr 2008 mit einer Mini-Kamera von zwei britischen Prostituierten eine Videoaufzeichnung angefertigt und dann zunächst einer englischen Boulevardzeitung zugespielt. Anschließend übernahmen auch Medien in Deutschland die Aufzeichnung für ihre Berichterstattung.
III. Der strafrechtliche Schutz durch § 201a StGB 1. Entstehungsgeschichte Auf die in diesen Beispielen klar auf der Hand liegende Bedrohung und Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) durch Bildaufnahmen hat der deutsche Gesetzgeber vergleichsweise spät reagiert. Für die Verletzung der Vertraulichkeit des nichtöffentlich gesprochenen Wortes durch Tonaufzeichnungen enthält das Strafgesetzbuch bereits seit dem Jahr 1967 strafrechtliche Vorschriften (damals zunächst § 298 und § 353d Abs. 1 StGB a.F)3, die nur wenige Jahre später, im Jahr 1974, im heutigen § 201 StGB gebündelt wurden.4 Demgegenüber wurde mit § 201a StGB erst im Jahr 20045 die Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen unter Strafe gestellt. Bis dahin war die Verletzung des Rechts am eigenen Bild lediglich bei dem Verbreiten und öffentlichen Zurschaustellen von Bildnissen nach § 33 des Kunsturhebergesetz (KUG) unter Strafe gestellt. Diese Vorschrift gewährt allerdings in mehrfacher Hinsicht nur einen unzureichenden strafrechtlichen Schutz. Zum einen pönalisiert sie lediglich die Verbreitung, nicht aber auch den Akt des Herstellens eines Bildnisses.6 Zum anderen handelt es sich bei § 33 KUG um ein Privatklagedelikt (vgl. § 374 Abs. 1 Nr. 8 StPO), dessen eigenständige Verfolgung schon im Hinblick auf das 3
Eingeführt durch das Gesetz zum strafrechtlichen Schutz gegen den Missbrauch von Tonaufnahme- und Abhörgeräten v. 22. 10. 1967 (BGBl. I S. 1360); zur Entstehungsgeschichte des § 201 StGB vgl. nur LK-Schünemann, Band 6, 12. Aufl. 2010, § 201 Rn. 1 m.w.N. 4 Durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch v. 2. 3. 1974 (BGBl. I S. 469). 5 Durch Gesetz vom 30. 7. 2004 (BGBl. I S. 2012). 6 BT-Drs. 15/1891, S. 2; BT-Drs. 15/2466, S. 4; SK StGB-Hoyer, Stand: Oktober 2005, § 201a Rn. 1; Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele, 28. Aufl. 2010, § 201a Rn. 1; Ernst, NJW 2004, 1277 (1278 f.); Bosch, JZ 2005, 377 (381); Eisele, JR 2005, 6 (7); B. Heinrich, ZIS 2011, 416 (417).
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damit verbundene Kostenrisiko nur für die wenigsten Opfer erstrebenswert erscheint.7 Im Übrigen waren die Betroffenen insbesondere auf zivilrechtliche Schadensersatz- und Unterlassungsansprüche nach den §§ 823, 1004 BGB verwiesen, die auch heute noch das vorwiegend genutzte Abwehrinstrumentarium gegenüber persönlichkeitsrechtsverletzenden Bildaufnahmen darstellen. Dass es im Jahr 2004 überhaupt zu einer Kodifikation des heutigen § 201a StGB gekommen ist, lässt sich damit erklären, dass ein weiteres Nichthandeln des Gesetzgebers angesichts des rasanten technischen Fortschrittes nicht nur gesellschaftlich unerträglich, sondern auch verfassungsrechtlich unhaltbar gewesen wäre. Zwar stellen die Grundrechte in erster Linie Abwehrrechte gegenüber staatlichen Eingriffen dar. Da aber Freiheitsrechte wie das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) auch objektiv-rechtliche Wertentscheidungen der Verfassung darstellen, trifft den Staat eine Schutzpflicht, durch positive Maßnahmen die Ausübung von Abwehr- bzw. Freiheitsgrundrechten gegenüber den Mitmenschen, d. h. gegenüber anderen Privatpersonen, zu gewährleisten.8 Die zunehmende Digitalisierung und Miniaturisierung von Bildaufnahmegeräten hat dazu geführt, dass es immer leichter geworden ist, unbemerkt in die Privatsphäre anderer Menschen einzudringen und detaillierte Aufnahmen von ihnen herzustellen.9 Kleine aber leistungsstarke Webcams gehören auch bei preiswerten Notebooks heutzutage zur Grundausstattung. Und selbst Mobiltelefone der unteren und mittleren Preisklasse sind mittlerweile mit einer Kamerafunktion und einer Auflösung von mehreren Megapixeln sowie leistungsfähigen Speicherkarten ausgerüstet. Standardisierte Schnittstellen zu Personal Computern und die umfassende Verbreitung des Internet ermöglichen über Facebook, Youtube und Co. zudem eine sekundenschnelle Übertragung und Verbreitung solcher Bilder und Videos weltweit. 2. Praxisrelevanz Ein Blick in die veröffentlichte Rechtsprechung sowie die Aufsatz- und Kommentarliteratur zu § 201a StGB lässt einen deutlichen Schwerpunkt in der Behandlung des Herstellungsakts persönlichkeitsverletzender Bildaufnahmen erkennen, der in 7 LK-Valerius, Band 6, 12. Aufl. 2010, § 201a Rn. 3; Kühl, AfP 2004, 190 (193); Koch, GA 2005, 589 (594). 8 B. Heinrich, ZIS 2011, 416; allg. zur Ableitung von Leistungspflichten für Grundrechtsverpflichtete durch sog. „Schutzpflichten“ etwa Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Vorb. Vor Art. 1 Rn. 6 ff.; Epping Grundrechte, 4. Aufl. 2009, Rn. 117 ff.; Hufen, Staatsrecht II – Grundrechte, 2. Aufl. 2009, § 5 Rn. 5 ff., § 8 Rn. 12 ff.; Ipsen, Staatsrecht II – Grundrechte, 13. Aufl. 2010, Rn. 101 ff. 9 Vgl. BT-Drs. 15/361, S. 3; BT-Drs. 15/533, S. 3; BT-Drs. 15/1891, S. 6; LK-Valerius, § 201a Rn. 1; SK StGB-Hoyer, § 201a Rn. 1; NK-Kargl, 3. Aufl. 2010, § 201a Rn. 1; Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele, § 201a Rn. 1; Fischer, StGB, 60. Aufl. 2013, § 201a Rn. 2; Wessels/Hettinger, Strafrecht BT 1, 36. Aufl. 2012, Rn. 545a; Schertz, AfP 2005, 421 (425); ders., Damm-FS, 2005, 214 (222); Kächele, Der strafrechtliche Schutz vor unbefugten Bildaufnahmen (§ 201a StGB), 2007, S. 59 ff.
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Absatz 1 der Vorschrift unter Strafe gestellt ist. Im Zusammenhang mit der Praxis moderner Medienberichterstattung liegen die Dinge aber meist anders. Regelmäßig lässt sich gar nicht feststellen, wer für die Herstellung kompromittierender Bildaufnahmen verantwortlich zeichnet, wer also beispielsweise konkret die Videokamera installiert und die Aufnahme durchgeführt hat. Im Regelfall kaufen insbesondere die Boulevardmedien derartiges Bildmaterial von mehr oder weniger halbseidenen Informanten zu nicht unerheblichen Preisen an.10 Die wahre Identität der Hersteller des Bildmaterials wird den recherchierenden Journalisten und Redakteuren entweder nicht bekannt oder von ihnen mit Verweis auf den Informantenschutz11 geheim gehalten. Und selbst wenn die Identität des Fotografen oder Kameramanns bekannt wird, hat sich dieser zum Zeitpunkt der Einleitung des Strafverfahrens häufig bereits ins Ausland abgesetzt – sofern er sich nicht ohnehin schon von Anfang an dort befunden hat. Hinzu kommt, dass in die Verkaufsverhandlungen oftmals auch Vermittler eingeschaltet werden. In vielen Fällen übernehmen Medien auch Material von anderen Medienunternehmen im In- und Ausland. Dies alles führt dazu, dass unter dem Blickwinkel von § 201a StGB nicht die Hersteller der Bildaufnahmen, sondern die Medienschaffenden, konkret die Verleger, die Herausgeber, die verantwortlichen Redakteure aber auch die mit dem Verlagsrecht befassten Mitarbeiter von Rechtsabteilungen in den Blick der Strafverfolgungsbehörden geraten, die dieses Bildmaterial für ihre Berichterstattung nutzen, und denen im Regelfall weder die Täterschaft noch die Teilnahme an der Herstellung persönlichkeitsrechtsverletzender Aufnahmen nachgewiesen werden kann. Insofern verdient schon vor dem Hintergrund der tatsächlichen Gegebenheiten moderner Medienberichterstattung vor allem § 201a Abs. 2 StGB besondere Beachtung.
IV. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 201a Abs. 2 StGB Nach § 201a Abs. 2 StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe – vergleichsweise milde – bestraft, wer „eine durch eine Tat nach Absatz 1 hergestellt Bildaufnahme gebraucht oder einem Dritten zugänglich macht.“ 1. Bildaufnahmen Einigkeit besteht insofern, als der Begriff der „Bildaufnahme“ gegenständliche, perpetuierbare und zur Vervielfältigung geeignete Verkörperungen eines visuell erfassbaren Abbilds einer anderen Person erfasst.12 Darunter fallen insbesondere ana10 Im Fall Max Mosley etwa soll der von der Boulevardpresse bezahlte Kaufpreis zwischen 60.000 und 65.000 Euro gelegen haben. 11 Vgl. etwa § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 5, S. 2 u. 3, § 97 Abs. 5 und § 160a Abs. 2 StPO. 12 LK-Valerius, § 201a Rn. 9; AnwK-Popp, § 201a Rn. 4.
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log oder digital hergestellte Fotos, Videosequenzen, aber auch Einzelbilder von Filmaufnahmen. Da § 201a StGB im Gegensatz zu § 33 KUG nicht von „Bildnissen“, sondern von „Bildaufnahmen“ spricht, muss es sich um optische Reproduktionen der Wirklichkeit durch technische Geräte handeln, so dass handgefertigte Zeichnungen, Gemälde, Karikaturen oder Computeranimationen nicht in den Anwendungsbereich der Vorschrift fallen.13 Andererseits macht schon die Existenz der Tatalternative des Übertragens eine Bildaufnahme in § 201a Abs. 1 StGB deutlich, dass eine dauerhafte Verkörperung nicht erforderlich ist, sondern beispielsweise auch Videoübertragungen in Echtzeit oder Live-Streams im Internet erfasst werden.14 Damit eine Strafbarkeit nach § 201a Abs. 2 StGB überhaupt in Betracht kommt, müssen solche Bildaufnahmen hergestellt, der primäre Aufzeichnungsvorgang also bereits abgeschlossen sein. Dies geschieht durch eine Verkörperung oder Speicherung der Bildinformationen auf einem Bild- oder Datenträger.15 Die Bildaufnahmen müssen dabei eine andere, lebende Person betreffen, die sich in einer Wohnung oder einem gegen Einblick besonders geschützten Raum befindet. Auch wenn man über die inhaltliche Auslegung und die Bestimmtheit dieser Begrifflichkeiten im Detail streiten mag16, bereiten sie doch in den einschlägigen praktischen Anwendungsfällen regelmäßig keine Probleme. So waren in den vorstehend genannten Eingangsbeispielen die Videoaufnahmen von Ottfried Fischer und Max Mosley unzweifelhaft in deren Privatwohnungen aufgenommen worden. Auch die Aufnahmen von Ronald Schill stammten aus der Wohnung eines seiner Bekannten in Rio de Janeiro. 2. Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs Interessanter ist demgegenüber die Frage, ob bereits bei der Herstellung der Bildaufnahme der nach dem Gesetzeswortlaut erforderliche Taterfolg eingetreten, d. h. der höchstpersönliche Lebensbereich der abgebildeten Person verletzt worden ist. Der mit § 201a StGB neu eingeführte Begriff des höchstpersönlichen Lebensbereichs ist enger zu verstehen als der „persönliche Lebensbereich“, der in den §§ 203 StGB, 68a Abs. 1 StPO und 171b GVG genannt wird und ganz allgemein private Eigenschaften und Neigungen, den Gesundheitszustand, religiöse und politische Einstellungen und das Familienleben von einer Kenntnisnahme durch Dritte freistellen soll.17 Der Gesetzgeber hat sich in § 201a StGB anstelle des ursprünglich disku-
13 LK-Valerius, § 201a Rn. 9; SK StGB-Hoyer, § 201a Rn. 9; Schönke/Schröder-Lenckner/ Eisele, § 201a Rn. 4; Fischer, § 201a Rn. 4; AnwK-Popp, § 201a Rn. 4; Satzger/Schmitt/ Widmaier-Bosch, StGB, 2009, § 201a Rn. 4. 14 Fischer, § 201a Rn. 4. 15 SK StGB-Hoyer, § 201a Rn. 10; AnwK-Popp, § 201a Rn. 9. 16 Vgl. insoweit nur LK-Valerius, § 201a Rn. 13 ff. sowie AnwK-Popp, § 201a Rn. 6 ff. jew. m.w.N. 17 Vgl. etwa HK StPO-Gercke, 5. Aufl. 2012, § 68a Rn. 3.
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tierten Begriffs der „Intimsphäre“18 für das Merkmal des „höchstpersönlichen Lebensbereichs“ entschieden, um zu verdeutlichen, dass nicht nur Bildaufnahmen aus den Bereichen Nacktheit und Sexualität erfasst werden sollen.19 Wenig überzeugend ist dann allerdings, dass sich die nähere Bestimmung des höchstpersönlichen Lebensbereichs ausweislich der Gesetzesmaterialien gleichwohl an dem von Bundesverfassungsgericht und den Zivilgerichten näher ausgeformten Begriff der Intimsphäre orientieren soll.20 Die daraus folgende Begriffsverwirrung hat Wolter21 mit folgenden Fragen treffend auf den Punkt gebracht: „Ist die Intimsphäre … enger als der höchstpersönliche Lebensbereich …? Ist die Privatsphäre identisch mit dem persönlichen Lebensbereich, wie die Gesetzesüberschrift von § 171b GVG nahelegt? Und ist der persönliche Lebensbereich gleichgewichtig mit der Geheimsphäre, wie die Überschrift des 15. Abschnitts im StGB vermuten lässt, wie jedoch der dem § 201a StGB nahestehende Art. 179quater SchwStGB gerade ausschließt?“
Einigkeit besteht jedenfalls insofern, als dem höchstpersönlichen Lebensbereich vor allem, wenn auch nicht ausschließlich die sog. Trias von Krankheit, Tod und Sexualität zuzuordnen ist.22 Erfasst werden generell die innere Gedanken- und Gefühlswelt mit ihren äußeren Erscheinungsformen sowie die Angelegenheiten, für die schon ihrer Natur nach Anspruch auf Geheimhaltung besteht. Ausgenommen sind demgegenüber Gegenstände der bloßen Sozialsphäre, d. h. insbesondere Aspekte des Berufs- und Erwerbslebens.23 Auch sind lediglich neutrale Verhaltensweisen (z. B. Essen, Trinken, Schlafen, Fernsehen) oder nur allgemein peinliche Situationen nicht in den Schutz mit einbezogen.24 Überraschenderweise haben sich weite Teile des Schrifttums bislang mit der mehr oder weniger pauschal vorgetragenen Feststellung zufriedengegeben, dass das Merkmal des höchstpersönlichen Lebensbereichs einer weiteren Konkretisierung bedarf. Und auch die von Kühl25 geprägte Formulierung, wonach „alle die Lebensäußerungen erfasst sein sollten, mit denen man alleine gelassen werden will und die andere nichts angehen“, ist zu sehr normativ bestimmt, um im praktischen Anwendungsfall mehr als eine bloße Richtschnur zu sein. Soweit ersichtlich hat bislang vor allem Wolter darauf verwiesen, dass § 201a StGB bei genauerer Betrachtung eindeutig auf der 18
Demgegenüber hatte der Entwurf der FDP-Bundestagsfraktion noch ausdrücklich vom „Schutz der Intimsphäre“ gesprochen; vgl. BT-Dr. 15/361, S. 1. 19 BT-Drs. 15/2466, S. 5. 20 BT-Drs. 15/2466, S. 5. 21 In: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, S. 225 (227). 22 BT-Drs. 15/1891, S. 7; BT-Drs. 15/2466, S. 5; LK-Valerius, § 201a Rn. 32; NK-Kargl, § 201a Rn. 12; AnwK-Popp, § 201a Rn. 11; Fischer, § 201a Rn. 14; Lackner/Kühl, § 201a Rn. 3; Wessels/Hettinger, Strafrecht BT 1, Rn. 545a; Eisele, JR 2005, 6 (9). 23 Hesse, ZUM 2005, 432 (434); Heinrich, ZIS 2011, 416 (418). 24 Vgl. LK-Valerius, § 201a Rn. 32; Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele, § 201a Rn. 9; Lackner/Kühl, § 201a Rn. 3. 25 AfP 2004, 190 (196).
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inhaltlichen Linie liegt, die im Strafprozessrecht durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung und ihre einfachgesetzlichen Konkretisierung in den §§ 100a Abs. 4, 100c Abs. 4 und 5 StPO näher skizziert wird.26 Nach dieser Rechtsprechung, die in den vergangen Jahren am Beispiel staatlicher Überwachungsmaßnahmen, speziell der akustischen Wohnraumüberwachung und der Telekommunikationsüberwachung, präzisiert wurde, gehört zur Unantastbarkeit der in Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Menschenwürde die Anerkennung eines absolut geschützten Kernbereichs privater Lebensgestaltung.27 Das Risiko, in diesen Bereich einzugreifen, bestehe vor allem bei der Kommunikation mit engsten Familienangehörigen, engen Vertrauten und Personen, zu denen aus beruflichen Gründen ein besonderes Vertrauensverhältnis besteht, z. B. Ärzten, Geistlichen oder Strafverteidigern. Zur Entfaltung der Persönlichkeit im Kernbereich privater Lebensgestaltung gehöre jedenfalls die Möglichkeit, innere Vorgänge wie Empfindungen und Gefühle sowie Überlegungen, Ansichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art ohne Angst vor Überwachung und Beobachtung zum Ausdruck zu bringen. Vom Schutz erfasst seien daher auch Gefühlsäußerungen, Äußerungen des unbewussten Erlebens sowie Ausdrucksformen der Sexualität.28 Nicht erfasst werden demgegenüber – in Anknüpfung an die Tagebuchentscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 198929 – Aufzeichnungen, die sich unmittelbar auf Straftaten beziehen, also strafbares Verhalten der betroffenen Person dokumentieren.30 Da das BVerfG die Existenz eines im Übrigen sakrosankten Kernbereichs privater Lebensgestaltung aus dem unantastbaren Menschenwürdegehalt nach Art. 1 Abs. 1 GG ableitet, liegt es nahe, den materiell-rechtlichen Begriff des „höchstpersönlichen Lebensbereich“ aus § 201a StGB zunächst von dieser strafprozessrechtlich geprägten Verfassungsrechtsprechung zum „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ her mit Leben zu erfüllen. Insofern umschreibt die Kernbereichsrechtsprechung das aus Sicht des BVerfG unverfügbare, menschenwürdebezogene Schutzminimum. Dieser Kern der Menschenwürdegarantie muss dann aber auch das zwingende Schutzminimum für die Verpflichtung des Staates darstellen, den Einzelnen im Wege der Ausübung grundrechtsbezogener Schutzpflichten vor Persönlichkeitsrechtsverletzungen privater Dritter durch die Etablierung einer materiellen Strafnorm zu bewahren. De lege ferenda wird man dabei durchaus einwenden müssen, dass eine faktische Gleichsetzung der Formulierungen „höchstpersönlicher Lebensbereich“ und „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ zu unbefriedigenden Ergebnissen führt und vor dem Hintergrund der Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1, 13 Abs. 1 und 79 Abs. 3 GG die Wohnung als „Ort zur Wahrung der Menschenwürde“ und „Schutz26 Wolter, in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, S. 225 (230). 27 BVerfGE 109, 279 (311 ff.); BVerfG 113, 348 (390 ff.). 28 BVerfGE 109, 279 (313). 29 BVerfGE 80, 367. 30 BVerfGE 80, 367 (374); 109, 279 (319).
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wall“ für die freie und selbstverantwortliche Persönlichkeitsentfaltung innerhalb eines solchen Rückzugsraums negiert.31 Für den tatbestandsmäßigen Erfolg des § 201a StGB genügt aber der bloße Wohnungsbildeingriff noch nicht. Vielmehr soll der Taterfolg erst dann eintreten, wenn aus dem Bildeingriff in eine Wohnung oder einem gegen Einblick besonders geschützten Raum („und dadurch“) eine Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs folgt. Man kann also nach geltendem Recht ohne weiteres per Videokamera in fremde Wohn- und Schlafräume spähen. Zur Vermeidung einer Strafbarkeit nach § 201a StGB muss die Kamera erst dann abgeschaltet werden, wenn dort Personen Tätigkeiten nachgehen, deren Geheimhaltung gegenüber Dritten vom Kernbereich der Menschenwürdegarantie umfasst wird. Zu denken ist hier z. B. an sexuelle Handlungen, Toilettengänge, Wutanfälle oder Gebete. Das ist sachlich wenig überzeugend, aber letztlich nur durch den Gesetzgeber zu ändern. Eine verfassungskonforme Reduktion in Gestalt der Bejahung einer Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs bereits bei bloßen Bildeingriffen in eine Tabuzone des nach außen geschützten Innenraums von Wohnungen und sonstigen gegen Einblick geschützten Räumen stehen jedenfalls der insoweit eindeutige Gesetzeswortlaut und der ausdrückliche gesetzgeberische Wille32 entgegen. Überträgt man daher de lege lata die Kriterien der Kernbereichsrechtsprechung auf die Auslegung des Merkmals der Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs in § 201a StGB, so bestehen in den Fällen Ottfried Fischer und Max Mosley keine Zweifel am Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Persönlichkeitsrechtsverletzung. Schließlich werden beide Protagonisten nackt und zudem bei der Ausübung sexueller Handlungen mit Prostituierten gezeigt. Im Fall Ronald Schill ist demgegenüber zu differenzieren. Soweit der ehemalige Hamburger Innensenator beim Geschlechtsverkehr mit mehreren Frauen gezeigt wird, ist sein höchstpersönlicher Lebensbereich zweifellos verletzt. Etwas anderes gilt demgegenüber, soweit auf dem Videoband zu sehen ist, wie Schill Kokain schnupft. Der Sache nach werden damit nämlich mögliche Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG)33 dokumentiert. Solche Aufzeichnungen mit Straftatbezug fallen jedenfalls nach den verfassungsgerichtlichen Maßstäben zum Kernbereichsschutz dann auch nicht in den Bereich des nach § 201a StGB strafbaren Verhaltens, da durch die optische Bezugnahme auf strafbares Verhalten ein Sozialbezug entsteht.
31 Vgl. Wolter, in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, S. 225 (230 f.). 32 Vgl. BT-Drs. 15/2466, S. 5. 33 Zu denken ist jedenfalls an das Sichverschaffen oder den Besitz von Betäubungsmitteln nach § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 3 oder den Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge nach § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG.
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3. Das Kriterium der Unbefugtheit Näherer Betrachtung bedarf auch das auf den ersten Blick vergleichsweise unscheinbare Merkmal der Unbefugtheit. a) Bedeutung Unstreitig ist, dass aus der Verweisung in § 201a Abs. 2 StGB auf das Tatobjekt der „durch eine Tat nach Absatz 1 hergestellten Bildaufnahme“ folgt, dass auch hier für eine Strafbarkeit die Unbefugtheit des vorangegangenen Herstellungsakts vorausgesetzt wird.34 Dies entspricht nicht nur dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers35, sondern folgt auch aus der Existenz von § 201a Abs. 3 StGB, der den unbefugten Umgang mit einer befugt hergestellten Bildaufzeichnung eigens unter Strafe stellt und ansonsten überflüssig wäre. Die Prüfung des Merkmals der Unbefugtheit hat allerdings nicht im Rahmen des Tatbestands, sondern auf der Rechtfertigungsebene zu erfolgen. Es handelt sich um einen klarstellenden – man könnte auch sagen: überflüssigen36 – Hinweis auf das Erfordernis einer Rechtfertigungsprüfung, insbesondere die Möglichkeit einer rechtfertigenden Einwilligung.37 Es liegt demnach ein befugtes, d. h. tatbestandsmäßiges, aber gerechtfertigtes Täterhandeln vor, wenn ein durch die Rechtsordnung anerkannter Rechtfertigungsgrund eingreift. b) Bewertungsmaßstab Bislang ist allerdings – soweit ersichtlich – weder in der Rechtsprechung noch im Schrifttum die Frage diskutiert worden, nach welchem Bewertungsmaßstab sich die Beurteilung der Befugtheit bzw. Unbefugtheit zu richten hat. Dies ist in Fällen wie Ottfried Fischer, in denen sowohl auf den Herstellungsakt als auch auf die spätere 34 Vgl. nur LK-Valerius, § 201a Rn. 23; SK StGB-Hoyer, § 201a Rn. 30; NK-Kargl, § 201a Rn. 8; AnwK-Popp, § 201a Rn. 13; Fischer, § 201a Rn. 17; Lackner/Kühl, § 201a Rn. 6; Kargl, ZStW 117 (2005), 324 (340); Heuchemer/Paul, JA 2006, 616 (619). 35 Vgl. BT-Drs. 15/1891, S. 7: „Entsprechend der herrschenden Lehre zum gleichgelagerten Merkmal in § 201 Abs. 1 Nr. 2 StGB … ist notwendig, dass die Herstellung unbefugt erfolgt sein muss. Der Gebrauch bzw. die Weitergabe einer mit Einwilligung des Betroffenen erstellten Aufnahme erfüllt § 201a Abs. 2 StGB-E demgemäß grundsätzlich nicht.“ 36 Vgl. Wolter in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, S. 225 (233): „hätte getrost weggelassen werden können.“ 37 LK-Valerius, § 201a Rn. 22; SK StGB-Hoyer, § 201a Rn. 23; Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele, § 201a Rn. 12; Fischer, § 201a Rn. 16; AnwK-Popp, § 201a Rn. 23; Lackner/Kühl, § 201a Rn. 9; Wessels/Hettinger, Strafrecht BT 1, Rn. 545d; Kühl, AfP 2004, 190 (196); Eisele, JR 2005, 6 (10); Sauren, ZUM 2005, 425 (431); Heuchemer/Paul, JA 2006, 616 (619); B. Heinrich, ZIS 2011, 416 (419); für eine Doppelfunktion, infolge derer bei Zustimmung des Rechtsgutsinhabers bereit der Tatbestand entfallen und lediglich im Übrigen auf Rechtfertigungsgründe verwiesen werden soll, demgegenüber Satzger/Schmitt/Widmaier-Bosch, § 201a Rn. 20; Pollähne, KritV 2003, 387 (414 f.); Flechsig, ZUM 2004, 605 (613).
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Nutzung der Bildaufnahmen deutsches Strafrecht anwendbar ist, weil jedenfalls beide Maßnahmen auf deutschem Staatsgebiet erfolgt sind, nicht weiter problematisch. Wir leben aber mittlerweile in einer globalen Medienwelt. Rechtlich besonders interessant sind daher Fälle wie Ronald Schill und Max Mosley, in denen die Aufnahmen im Ausland entstanden sind und damit (zumindest auch) dem dortigen Straf- und Presserecht unterfallen. So waren, obwohl auch in Großbritannien die Garantien des Art. 8 Abs. 1 EMRK zum Schutz des Privat- und Familienlebens sowie der Wohnung zu beachten sind, möglicherweise die Nacktaufnahmen von Max Mosley im Rahmen der SM-Orgie durch das im Vergleich zu Deutschland sehr viel liberalere englische Presserecht gedeckt. Dies führt zu der Frage, ob in die Prüfung der Rechtfertigung möglicherweise am Herstellungsort geltende, ausländische Rechtfertigungsgründe in die Betrachtung mit einzubeziehen sind. Eine solche Fremdrechtsanwendung innerhalb des Merkmals der Unbefugtheit wäre nicht zwangsläufig als dogmatischer Systembruch einzustufen, da sie letztlich auch an anderen Stellen der deutschen Strafrechtsordnung stattfindet.38 Im Rahmen des Strafanwendungsrechts spielt etwa die Frage nach der Tatortstrafbarkeit im Rahmen von § 7 StGB eine entscheidende Rolle. Auch bei den §§ 242, 246 wird mit dem normativen Tatbestandsmerkmal der Fremdheit der Sache an außerstrafrechtliche Rechtsverhältnisse in Gestalt des Eigentums angeknüpft, für das im Einzelfall auch eine ausländische Rechtsordnung maßgebend sein kann.39 Bei grenzüberschreitenden Umweltstraftaten (§§ 324 ff. StGB) ist für Fragen der Verwaltungsakzessorietät auf die Rechtslage am jeweiligen Tatort abzustellen.40 Und im Zusammenhang mit der Untreue (§ 266) liefert auch bei einer Inlandstat nach den §§ 3, 9 StGB hinsichtlich der Bestimmung der Vermögensbetreuungspflicht und der Pflichtwidrigkeit des Leitungsorgans einer englischen „Private Company Limited by Shares“ (Limited) oder einer „Societas Europaea“ (SE) das englische bzw. sonstige ausländische Gesellschaftsrecht den einschlägigen Maßstab.41 Allerdings geht es in diesen Beispielen um die inhaltliche Ausfüllung normativer deutscher Tatbestandsmerkmale und nicht um die Anwendbarkeit von Rechtfertigungsgründen bzw. Erlaubnissätzen aus einer fremden Rechtsordnung. Die Aufgabe des Strafrechts wird aber nach wie vor überwiegend im Schutz von Rechtsgütern vor Gefährdung oder Verletzung gesehen.42 Ihm kommt die Funktion zu, die Grundlagen eines geordneten Gemeinschaftslebens zu regeln und zu schützen.43 Seine Aufgabe ist nach vorzugswürdiger Auffassung in der Gewährleistung eines freien und friedlichen Zusammenlebens der Menschen in der Gemeinschaft unter Wahrung der verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte zu sehen. Der Bundesgesetzgeber, dem die Befugnis zum Erlass von 38
Vgl. insoweit nur die Übersicht bei AnwK-Zöller, Vor § 3 Rn. 3. LK-Werle/Jeßberger, Vor § 3 Rn. 335; Mankowski/Bock, ZStW 120 (2008), 704 f. 40 LK-Werle/Jeßberger, Vor § 3 Rn 338; Hecker, ZStW 116 (2004), 880 ff. 41 Mosiek, StV 2008, 94 f.; Mankowski/Bock, ZStW 120 (2008), 704 (756 f.). 42 Vgl. nur MK-Joecks, Band 1, 2. Aufl. 2012, Einl. Rn. 26 ff. m.w.N. 43 BVerfGE 88, 203 (257); Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl. 1996, § 1 I. 1.; Sternberg-Lieben, in: Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 65. 39
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Strafgesetzen nach Art. 74 Nr. 1 GG zusteht, kann seine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz also nur im Rahmen des Wertesystems des Grundgesetzes ausüben. Er kann den von ihm zu leistenden Rechtsgüterschutz also nicht an ausländische Rechtsordnungen bzw. Wertmaßstäbe knüpfen, ohne zugleich sein eigenes Rechtsund Wertesystem zu verlassen. Ein solcher Rechtsgüterschutz muss vielmehr autark, d. h. auf dem Boden der eigenen Rechtsordnung, erfolgen. Auch die Auslegung und Ausfüllung des Merkmals „unbefugt“ in § 201a StGB kann sich daher von vornherein nur auf die geltenden und verfassungsmäßigen deutschen Rechtfertigungsmaßstäbe beziehen. Davon ist erkennbar auch der Gesetzgeber selbst im Rahmen der Gesetzgebungsmaterialien zu § 201a StGB ausgegangen, in denen er für eine mögliche Befugnis auf die gesetzlichen Befugnisnormen und allgemeine Rechtfertigungsgründe Bezug nimmt.44 Damit können dem Kontext nach nur Gesetze und Rechtfertigungsgründe der deutschen Rechtsordnung gemeint sein. Würde man im Rahmen von § 201a StGB ausländische Rechtfertigungsgründe anwenden, so müsste man – jedenfalls bis zur Grenze des ordre public – auch dann Strafverfolgung betreiben, wenn die fremde Rechtsordnung in Bezug auf die Herstellung von Bildaufnahmen strenger ist als das deutsche Recht. Dies wäre etwa der Fall, wenn die Herstellung der Bildaufnahme nach dem dort geltenden Recht unbefugt war, nach deutschem Recht aber unzweifelhaft gerechtfertigt wäre (z. B. wenn in der ausländischen Rechtsordnung die rechtfertigende Wirkung einer Einwilligung nicht anerkannt ist). Das aber wäre kriminalpolitisch bedenklich und systematisch kaum mit § 201a Abs. 3 StGB zu vereinbaren, dessen Existenz nur dann Sinn macht, wenn mit der unbefugten Verwendung befugt hergestellter Bildaufnahmen auf deutsche Erlaubnissätze abgestellt wird. Vor allem aber würden dem deutschen Gesetzgeber und Rechtsanwender in Bezug auf Auslandssachverhalte ungewollte und fremdartige Wertmaßstäbe untergeschoben. Dass die Rechtsprechung45 und der überwiegende Teil des Schrifttums46 der damit verbundenen Gefahr einer schleichenden „Umprogrammierung“ von Strafrechtsnormen zu Recht entgegenwirken, zeigt in anderem Zusammenhang das Beispiel der Tötungsfälle bei Tätern mit fremdem sozio-kulturellem Hintergrund (Stichworte: „Ehrenmord“ und „Blutrache“).47 Auch hier ist davon auszugehen, dass für das Mordmerkmal des „sonstigen 44
BT-Drs. 15/2466, S. 5. BGH NJW 1995, 602; NStZ 2002, 369 (370); NJW 2004, 1466 (1467); NJW 2006, 1008 (1011); NStZ 2006, 284 (285); LG Detmold, Urt. v. 25.5.2012 – 4 Ks 31 Js 1086/11 – 10/12 (juris); zur älteren Rspr., die bei einer Handlung des Täters, die sich an abweichenden Wertmaßstäben einer anderen, ihn prägenden Kultur orientiert, diese Standards zu seinen Gunsten berücksichtigt hat, vgl. BGH GA 1967, 244; BGH bei Holtz MDR 1977, 809 (810); BGH NJW 1980, 537; BGH StV 1981, 399; BGH NJW 1983, 55 (56); BGH StV 1997, 565. 46 S. nur LK-Jähnke, § 211 Rn. 37; MK-Schneider, § 211 Rn. 94; Otto, Jura 2003, 612 (617); Momsen, NStZ 2003, 237 (238); Valerius, JZ 2008, 912 (916); Zöller, Terrorismusstrafrecht, 2009, S. 476 ff.; a.A. NK-Neumann, § 211 Rn. 30; Lackner/Kühl, § 211 Rn. 5; Saliger, StV 2003, 22 (23). 47 Vgl. zu dieser Problematik nur den Überblick bei Zöller, Terrorismusstrafrecht, S. 474 ff.; Valerius, JZ 2008, 912 ff.; Grünewald, NStZ 2010, 1 ff. jew. m.w.N. 45
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niedrigen Beweggrundes“ in § 211 Abs. 2 StGB lediglich die Wertmaßstäbe derjenigen Rechtsordnung einschlägig sein können, der die einschlägige Strafrechtsnorm entstammt. Wollte man im Rahmen von § 201a StGB anders entscheiden, so müsste man letztlich auch andere (wert-)ausfüllungsbedürftige Tatbestandsmerkmale wie die „Wohnung“ oder gar die Bestimmung des „höchstpersönlichen Lebensbereichs“ selbst für eine Bestimmung durch Wertmaßstäbe fremder Rechtsordnungen öffnen. Dies aber wird man auf dem Boden der deutschen Strafrechtsordnung schwerlich fordern und schon gar nicht praktisch umsetzen können. Insofern lässt sich festhalten, dass sich die Beurteilung der Unbefugtheit der Bildaufnahme auch bei der Herstellung im Ausland stets nach deutschem Strafrecht richten muss. 4. Nutzung von Bildaufnahmen Schließlich setzt der objektive Tatbestand des § 201a Abs. 2 voraus, dass die durch eine Tat nach Absatz 1 hergestellte Bildaufnahme tatsächlich genutzt, d. h. gebraucht oder einem Dritten zugänglich gemacht worden ist. a) Gebrauchen und Zugänglichmachen Unter einem Gebrauchen ist jede Nutzung der Bildaufnahme für eigene oder fremde, private oder öffentliche, persönliche oder kommerzielle Zwecke zu verstehen.48 Erfasst wird damit insbesondere das Speichern, Kopieren, Archivieren oder die Fotomontage.49 Von einem Gebrauchen kann aber sinnvollerweise immer nur dann gesprochen werden, wenn eine eigenständige Verfügungsgewalt über die Bildaufnahme erlangt wird.50 Dies ist beim bloßen Betrachten einer Bildaufnahme oder ihrem Erwerb als Reproduktion in einer Boulevardzeitung oder auf einer Webseite im Internet nicht der Fall. Zur Begründung für diese teleologische Reduktion des Tatbestands ist darauf zu verweisen, dass auch die reine Beobachtung einer Person in ihrem höchstpersönlichen Lebensbereich – das sog. „Spannen“ – (noch) nicht von § 201a Abs. 1 StGB erfasst wird. Dann wäre es widersinnig, das bloße Betrachten einer konservierten Bildaufnahme als nach § 201a Abs. 2 StGB strafwürdiges Unrecht einzustufen.51 Etwas anderes gilt aber dann, wenn Medienkonsumenten, sich 48
Fischer, § 201a Rn. 18. Vgl. BT-Drs. 15/2466, S. 5; LK-Valerius, § 201a Rn. 24; SK StGB-Hoyer, § 201a Rn. 28; NK-Kargl, § 201a Rn. 9; Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele, § 201a Rn. 15; AnwKPopp, § 201a Rn. 15; Lackner/Kühl, § 201a Rn. 6; Wessels/Hettinger, Strafrecht BT 1, Rn. 545e; Flechsig, ZUM 2004, 605 (614); Kargl, ZStW 117 (2005), 324 (333); Sauren, ZUM 2005, 425 (429); B. Heinrich, ZIS 2011, 416 (419). 50 AnwK-Popp, § 201a Rn. 15; Bosch, JZ 2005, 377 (380); Heuchemer/Paul, JA 2006, 616 (619). 51 LK-Valerius, § 201a Rn. 24; SK StGB-Hoyer, § 201a Rn. 28; Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele, § 201a Rn. 15; AnwK-Popp, § 201a Rn. 15; Satzger/Schmitt/Widmaier-Bosch, § 201a Rn. 17; Lackner/Kühl, § 201a Rn. 6; Wessels/Hettinger, Strafrecht BT 1, Rn. 545e; Bosch, JZ 2005, 377 (380); Koch, GA 2005, 589 (601); Heuchemer/Paul, JA 2006, 616 (619); 49
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eine eigene, vom ursprünglichen Kontext der Medienveröffentlichung unabhängige Verfügungsgewalt verschafft haben. Vor diesem Hintergrund ist auch für uns als „Massenmedien-Normalverbraucher“ im Umgang mit persönlichkeitsrechtsrechtsverletzendem Bildmaterial Vorsicht angebracht. Schließlich sind auch unbefugt hergestellte Bildaufnahmen im de facto weitgehend „rechtsfreien Raum Internet“ – trotz der aktuellen Bestrebungen, Suchmaschinenbetreiber wie Google in ihrem Aktionismus zu beschränken – ohne weiteres für nahezu jedermann verfügbar. Auch in den Fällen Ottfried Fischer, Ronald Schill und Max Mosley gelangt man selbst ohne nennenswerte technische Fertigkeiten rasch zu Webseiten mit dem brisanten Originalmaterial. Man braucht nur Beispiele zu bilden, in denen etwa ein Hochschullehrer im Rahmen seiner Vorlesung oder ein Student im Rahmen eines Seminarvortrages zur Illustrierung seiner inhaltlichen Ausführungen solche persönlichkeitsrechtsverletzenden Bilder oder Videos von den einschlägigen Internetseiten heruntergeladen und in seine Medienpräsentation eingefügt hat. Zwar würden die zuhörenden bzw. zusehenden Studenten und Seminarteilnehmer straflos bleiben. Die Referenten aber, die derartiges Bildmaterial auf ihren Powerpoint-Folien eigenständig in neuem Kontext verwenden, würden den Tatbestand des § 201a Abs. 2 StGB verwirklichen. Wenn also der Hochschullehrer bzw. der referierende Student – wovon im Regelfall auszugehen sein dürfte (!) – vor seinem Vortrag Ottfried Fischer, Ronald Schill und Max Mosley nicht erfolgreich um deren Einwilligung gebeten hat, handelt es sich um eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Nutzung persönlichkeitsrechtsverletzender Bildaufnahmen. Schließlich bestraft § 201a Abs. 2 StGB auch die Tatalternative, in der die Bildaufnahmen Dritten zugänglich gemacht werden. Dies ist bereits dann zu bejahen, wenn diesen der Zugriff hierauf (z. B. durch Aushändigung eines Bildabzuges oder Ablegen einer Datei auf einem Server) oder auch nur die bloße Kenntnisnahme (z. B. durch Vorführen eines Films oder Fotos) ermöglicht wird.52 Zu einer tatsächlichen Kenntnisnahme muss es dabei gar nicht kommen.53 b) Die Ratio des § 201a Abs. 2 StGB Wenig Beachtung wird bei alledem der ratio legis des § 201a Abs. 2 StGB geschenkt. Richtigerweise wird man parallel zu der entsprechenden Regelung in § 201 Abs. 1 Nr. 2 StGB für Tonaufnahmen annehmen müssen, dass § 201a Abs. 2 Lagardère/Fink, HRRS 2008, 247; B. Heinrich, ZIS 2011, 416 (420); a.A. Hoppe, GRUR 2004, 990 (992); Linkens, Der strafrechtliche Schutz vor unbefugten Bildaufnahmen, Eine Betrachtung des neuen § 201a StGB, 2005, S. 96. 52 BT-Drs. 15/2466, S. 5; LK-Valerius, § 201a Rn. 25; NK-Kargl, § 201a Rn. 9; Schönke/ Schröder-Lenckner/Eisele, § 201a Rn. 15; Lackner/Kühl, § 201a Rn. 7; Koch, GA 2005, 589 (600); Heuchemer/Paul, JA 2006, 616 (619); zur auch in diesem Zusammenhang erforderlichen teleologischen Reduktion AnwK-Popp, § 201a Rn. 16; Satzger/Schmitt/WidmaierBosch, § 201a Rn. 18. 53 LK-Valerius, § 201a Rn. 25; NK-Kargl, § 201a Rn. 9.
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StGB die Perpetuierung einer vorangegangenen Persönlichkeitsrechtsverletzung durch Bildaufnahmen kriminalisieren soll. Es geht also um typische Verwertungshandlungen, die kein neues Rechtsgut verletzen, sondern durch einen zusätzlichen Verwertungsakt die bereits durch die Herstellung bzw. die Übertragung eingetretene Primärverletzung aktualisieren.54 Der Gesetzgeber ging bei Einführung des § 201a Abs. 2 StGB davon aus, dass die (unbefugte) Nutzung einer (unbefugten) Bildaufnahme, die Tatsachen aus dem höchstpersönlichen Lebensbereich des Abgebildeten zeigt, ebenso strafwürdig ist wie deren Herstellung.55 Das ist vermutlich noch untertrieben. Aus Opfersicht wird die Nutzung von persönlichkeitsverletzenden Bildaufnahmen häufig sogar der intensivere Eingriff sein, da der gesellschaftliche Ansehensverlust im Regelfall erst mit der Veröffentlichung in der Presse oder im Internet entsteht. Auch hier lohnt es sich, einmal den Advocatus Diaboli zu spielen und darüber nachzudenken, ob dem Sinn und Zweck der Strafvorschrift auch in Fällen mit Auslandsbezug entsprochen werden kann. Im Fall Max Mosley lag der Tatort der Videoaufzeichnung in London, also in Großbritannien. Das Tatopfer ist britischer Staatsbürger, die Täter, d. h. die Prostituierten die die Sado-Maso-Orgie gefilmt haben, sind es vermutlich auch. Insofern könnte man sich auf den Standpunkt stellen, die Nutzung von Bildaufnahmen stelle nur dann eine nach dem deutschen § 201a StGB zu ahndende Perpetuierung einer Persönlichkeitsrechtsverletzung dar, wenn auch auf die vorherige Primärverletzung, also den Herstellungsakt, deutsches Strafrecht nach den §§ 3 ff. StGB anwendbar war. Anderenfalls wäre das Gebrauchen oder Zugänglichmachen durch deutsche Medien wie im Fall Mosley in Wirklichkeit keine Aufrechterhaltung einer vorherigen Persönlichkeitsrechtsverletzung, sondern eigentlich nach deutschem Recht ein Erstverstoß. Bezüglich des Herstellungsakts bestand schließlich keine Strafgewalt. Dann kann die darin liegende Persönlichkeitsrechtsverletzung auch nicht perpetuiert worden sein. Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass man auf diese Weise die Fragen der Reichweite des Schutzbereichs von § 201a StGB auf der einen und der Anwendbarkeit deutschen Strafrechts auf der anderen Seite vermischen würde. § 201a StGB bezweckt den Schutz bestimmter Aspekte des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) und damit eines Individualrechtsgutes.56 Bei Straftatbeständen, die solche Individualrechtsgüter schützen, besitzt eine Unterscheidung zwischen ausländischen und inländischen Rechtsgütern keine Bedeutung. Hier geht es nicht um den Schutz der deutschen Hoheitsgewalt, sondern um den Schutz der Rechtsgüter aller Individuen. Individualrechtsgüter sind damit unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Rechtsgutsträgers oder der Belegenheit 54
Vgl. auch LK-Valerius, § 201a Rn. 23; Heuchemer/Paul, JA 2006, 616 (619). BT-Drs. 15/2466, S. 5. 56 Vgl. Fischer, § 201a Rn. 3; AnwK-Popp, § 201a Rn. 1; Satzger/Schmitt/Widmaier-Bosch, § 201a Rn. 1; missverständlich demgegenüber etwa LK-Valerius, § 201a Rn. 5; Lackner/Kühl, § 201a Rn. 1, die den „höchstpersönlichen Lebensbereich“ also ein Tatbestandsmerkmal und nicht die dahinter stehende verfassungsrechtliche Garantie zum Schutzgut erheben. 55
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des Rechtsguts schutzwürdig.57 Somit unterfällt auch die Herstellung oder Verwendung von persönlichkeitsrechtsverletzenden Bildaufnahmen selbst dann dem Schutzbereich des deutschen § 201a StGB, wenn Täter oder Tatopfer ausländische Staatbürger sind und/oder die Aufzeichnung im Ausland erfolgt. Die eigenständige Bedeutung des § 201a Abs. 2 StGB unabhängig vom Bestehen deutscher Strafgewalt über den Herstellungsakt zeigt sich im Übrigen auch daran, dass die Nutzung der Bildaufnahmen nur für denjenigen Täter als mitbestrafte Nachtat auf der Konkurrenzebene zurücktritt, der diese zuvor auch selbst hergestellt hat.58 Solange sich der deutsche Gesetzgeber auf einen völkerrechtlich legitimierten Anknüpfungspunkt berufen kann – und erst hier kommt die Frage des Strafanwendungsrechts ins Spiel –, ist eine Ausdehnung seiner Strafgewalt auf Fälle mit Auslandsbezug auch völkerrechtskonform.59 Und für die Nutzung von im Ausland hergestellter Bildaufnahmen durch ein deutsches Medienunternehmen ist regelmäßig nach den §§ 3, 9 StGB, denen das völkerrechtlich anerkannte Territorialitätsprinzip zugrunde liegt, ein deutscher Tatort am Erscheinungsort der Publikation gegeben. Dieser wird regelmäßig am Geschäftssitz des Verlages oder dem Sitz des verantwortlichen Redakteurs liegen. Im Ergebnis ist es für die Strafbarkeit nach § 201a Abs. 2 StGB somit nicht entscheidend, ob auch auf den Herstellungsakt der Bildaufnahme deutsches Strafrecht Anwendung findet.
V. Rechtfertigung Der Weg aus der Strafbarkeit nach § 201a Abs. 2 StGB führt für Verleger, Herausgeber oder Redakteure, die für ihre Berichterstattung persönlichkeitsrechtsverletzende Bildaufnahmen nutzen, im Regelfall nur über die Rechtfertigungsebene. Allerdings wird der ungeschriebene Rechtfertigungsgrund der Einwilligung in der Praxis regelmäßig nicht vorliegen. Wer will schon, dass peinliche Dinge, die etwa im eigenen oder fremden Schlaf- oder Badezimmer aufgenommen wurden, in den Boulevardmedien verbreitet werden? Im Gegensatz zu § 201 Abs. 2 S. 3 StGB hat sich der Gesetzgeber bei § 201a StGB zudem ausdrücklich gegen die Einführung eines speziellen Rechtfertigungsgrundes der Wahrnehmung überragender öffentlicher Interessen entschieden.60 Zur Begründung verweist er auf die gegenüber § 201 StGB 57 Vgl. BGHSt 21, 277 (281); 22, 282 (285); 29, 85 (88); BayObLG NJW 1972, 1722; OLG Düsseldorf NJW 1982, 1242 (1243); MK-Ambos, Vor §§ 3 – 7 Rn. 86; AnwK-Zöller, Vor § 3 Rn. 5; Satzger/Schmitt/Widmaier-Satzger, Vor §§ 3 – 7 Rn. 8; Fischer, Vor §§ 3 – 7 Rn. 8; Hecker, Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. 2012, § 2 Rn. 9. 58 Dazu LK-Valerius, § 201a Rn. 44; NK-Kargl, § 201a Rn. 22; Heuchemer/Paul, JA 2006, 616 (619); für die Annahme einer einheitlichen Tat demgegenüber Fischer, § 201a Rn. 30. 59 Vgl. nur AnwK-Zöller, Vor § 3 Rn. 9 m.w.N. 60 SK StGB-Hoyer, § 201a Rn. 24; Kühl, AfP 2004, 190 (197); Eisele, JR 2005, 6 (10); anders noch die Vorentwürfe BT-Drs. 15/361, S. 4; BT-Drs. 15/533, S. 4 sowie BR-Drs. 164/03, S. 6.
Strafbarkeit der Nutzung persönlichkeitsrechtsverletzender Bildaufnahmen
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engere Tatbestandsfassung des § 201a StGB.61 Insofern fehlt es auch für eine analoge Anwendung des § 201 Abs. 2 S. 3 StGB im Rahmen von § 201a StGB am Vorliegen einer bewussten Regelungslücke. Vereinzelte Versuche, das Spektrum möglicher Rechtfertigungsgründe zu erweitern, haben sich bislang als erfolglos erwiesen und keine Gesetzeswirklichkeit erlangt. Dies gilt etwa für die Empfehlung, den speziellen Rechtfertigungsgrund der Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB) über den Kontext der Beleidigungsdelikte hinaus auch auf Straftaten nach § 201a StGB zu beziehen.62 Auch der Vorschlag von Kühl63, eine unmittelbare Anwendung des Art. 5 GG in Betracht zu ziehen, sofern die journalistische Recherche oder gar der investigative Journalismus durch § 201a StGB übermäßig behindert würde, ist in Wahrheit kein Plädoyer für eine Rechtfertigung unmittelbar auf der Grundlage der Grundgesetznorm. Vielmehr handelt es sich lediglich um den zutreffenden Hinweis darauf, dass berechtigte Medieninteressen vor dem Hintergrund von Art. 5 GG bei der Auslegung des geltenden Rechts, also bereits existierender Tatbestandsmerkmale oder Rechtfertigungsgründe, Berücksichtigung finden müssen. Allerdings deckt die Pressefreiheit ohnehin nicht die rechtswidrige, sondern lediglich die rechtmäßige Beschaffung von Informationen.64 Insofern bleibt allenfalls noch ein Rückgriff auf den allgemeinen Rechtfertigungsgrund des rechtfertigenden Notstandes nach § 34 StGB. Die hohen Voraussetzungen dieser Norm ermöglichen eine Rechtfertigung aber nur in Ausnahmefällen. Im Schrifttum wird beispielhaft auf Bildaufnahmen zur Aufdeckung einer Straftat verwiesen.65 Allerdings fallen Bildaufnahmen mit Straftatbezug nach der zumindest de lege lata auf § 201a StGB zu übertragenden Konzeption des Bundesverfassungsgerichts zum Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht in den höchstpersönlichen Lebensbereich und sind damit schon auf der Tatbestandsebene auszuscheiden. Zu denken ist aber an Fälle, bei denen durch investigative Journalisten Beweismaterial gesammelt wird, um zukünftige Straftaten zu verhindern. Ein Beispiel können Bildaufnahmen aus dem Schlafzimmer eines Pädophilen sein, dessen Wände mit Fotos aus dem örtlichen Kindergarten dekoriert sind.
VI. Fazit In Zeiten moderner und globaler Medienlandschaften erscheinen Strafvorschriften zum Schutz des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts mit Blick auf die staatlichen Schutzpflichten unerlässlich. Ein Verweis auf die Alternative des zivilrechtlichen In61
Vgl. BT-Drs. 15/1891, S. 7; BT-Drs. 15/2466, S. 5. Dafür plädiert insbesondere Flechsig, ZUM 2004, 605 (613). 63 Lackner/Kühl, § 201a Rn. 9; Kühl, AfP 2004, 190 (197). 64 BVerfGE 66, 116 (137); LK-Valerius, § 201a Rn. 39; Flechsig, ZUM 2004, 605 (608); Wendt, AfP 2004, 181 (184 f.). 65 Heinrich ZIS 2011, 416 (419). 62
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strumentariums erscheint schon angesichts des im Zivilverfahren geltenden Verhandlungsgrundsatzes nicht ausreichend, um jedenfalls die schlimmsten Auswüchse des Boulevardjournalismus einzudämmen. Die vorstehenden Ausführungen sollten verdeutlichen, dass gerade in denjenigen Fallkonstellationen, die in der Praxis vor dem Hintergrund von § 201 Abs. 2 StGB virulent werden, nach wie vor ein erheblicher Bedarf an dogmatischer Klärung besteht. Die verbreitet erhobene Aufforderung an die Rechtsprechung, die Grenzen des tatbestandsmäßigen Verhaltens abzustecken66, ist bislang weitgehend ungehört verhallt Dass die geltende Fassung des § 201a StGB weder inhaltlich noch gesetzestechnisch einen „großen Wurf“ darstellt, hat Jürgen Wolter bereits kurz nach dem Inkrafttreten der Vorschrift unmissverständlich zum Ausdruck gebracht.67 Dies ist schon deshalb bedauerlich, weil mit dem nie verwirklichten § 146 Alternativentwurf Besonderer Teil (AE-BT) aus dem Jahr 197168 ein in vielerlei Hinsicht vorbildliches Regelungsvorbild zur Verfügung gestanden hätte. Die gesetzlichen Defizite haben wesentlich dazu beigetragen, dass § 201a StGB im Bereich des modernen Medienrechts de facto weitgehend zum Hilfs- und Begleitwerkzeug für die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche degradiert worden ist. Neben der Verfolgung von Schadensersatz- und/oder Unterlassungsansprüchen wird häufig von den (potenziellen) Klägern/Opfern begleitend bzw. „vorsorglich“ auch nach § 205 Abs. 1 S. 1 StGB Strafantrag wegen einer Tat nach § 201a StGB gestellt.69 Das kostet nichts und erhöht infolge des im Strafverfahren geltenden Legalitätsprinzips und des Untersuchungsgrundsatzes den Druck auf (potenzielle) Klagegegner/Täter. Kommt es zu einer außergerichtlichen zivilrechtlichen Vereinbarung zwischen den Parteien, so ist Teil des „Vergleichspakets“ dann häufig auch die Rücknahme des Strafantrags gemäß § 77d StGB. Insofern gerät das Strafverfahren zur bloßen Verhandlungsmasse. Und die staatlichen Schutzpflichten, die mit § 201a StGB eigentlich zur Gewährleistung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, zumindest aber des nach Art. 1 Abs. 1 GG unverzichtbaren Mindestschutzes beitragen sollen, stoßen dann an ihre faktischen Grenzen, wenn die Tatopfer sich die Rechtsgutsverletzung „versilbern“ lassen und im Gegenzug auf Strafverfolgung verzichten können. Insgesamt erscheint somit der Regelungsbereich des strafrechtlichen Schutzes vor persönlichkeitsrechtsverletzenden Bildaufnahmen schon deshalb dringend reformbedürftig, um den naheliegenden Vorwurf „symbolischen Strafrechts“ zu entkräften. Jürgen Wolter hat es von Anfang an gewusst.
66 In diesem Sinne etwa LK-Valerius, § 201a Rn. 33; Wessels/Hettinger, Strafrecht BT 1, Rn. 545a. 67 In: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, S. 225 (233 f.). 68 Arzt u. a., Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuchs, Besonderer Teil, Straftaten gegen die Person, Zweiter Halbband, 1971, S. 8. 69 Ausweislich § 205 StGB handelt es sich bei § 201a StGB um ein absolutes Antragsdelikt.
IV. Kriminalpolitik und Sanktionen
Die Belange der Opfer vorsätzlichen groben Justizunrechts und die Definition und Verfolgung von Rechtsbeugung Von Heinz Giehring Ausgangspunkt des folgenden Beitrages ist die auffällige Diskrepanz zwischen der erheblichen Anzahl von Strafanzeigen wegen Rechtsbeugung und der äußerst geringen Zahl von Anklagen oder sogar Verurteilungen wegen dieser Straftat (dazu näher I.1.). Aus strafrechtssoziologischer Sicht stellt sich die Frage, wie dieses Phänomen zu erklären ist. Die Ursachen, die dafür kumulativ in Betracht kommen, liegen auf der Hand: Die Substanzlosigkeit oder aber die fehlende Beweisbarkeit der erhobenen Vorwürfe, die von Teilen des Schrifttums kritisierte Interpretation des § 339 StGB durch den Bundesgerichtshof und schließlich die Praxis der Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaften. Empirische Untersuchungen über den Gehalt von Strafanzeigen wegen Rechtsbeugung und den Verlauf der daraufhin eingeleiteten Ermittlungsverfahren, aus denen sich Anhaltspunkte für eine Erklärung ergeben könnten, liegen nicht vor. Dennoch kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die weitaus meisten Strafanzeigen wegen Rechtsbeugung eindeutig unbegründet und nicht wenige von ihnen sogar querulatorischer Art sind. Schon denknotwendig trägt aber auch die Interpretation des § 339 StGB durch den BGH zur geringen Zahl der Anklagen und Verurteilungen wegen Rechtsbeugung bei. Und es erscheint auch möglich, dass die Art der Bearbeitung der Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaften über die restriktive Interpretation des Tatbestandes durch den BGH hinausgehend faktisch entkriminalisierend wirkt. Die folgenden Ausführungen beruhen auf der empirischen Prämisse, dass grobe vorsätzliche Rechtsverstöße, die bei einer nach dem Wortlaut des § 339 StGB zulässigen Auslegung als Rechtsbeugung bewertet werden könnten, in der Justiz keine seltene Ausnahme sind. Diese Annahme wird einleitend begründet (dazu I.2.). Nur wenn diese Annahme plausibel ist, hat die Kritik eines Teils des Schrifttums, dass die Interpretation des § 339 StGB durch den BGH zu restriktiv sei,1 auch eine gewisse praktische Relevanz. Inwieweit die Strafsenate des BGH den Rechtsbeugungstatbestand tatsächlich einschränkend auslegen, kann aber nicht allein nach der abstraktgenerellen Definition der Tatbestandsmerkmale beurteilt werden. Daher werden die 1 Vgl. nur Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, § 339 Rn. 15 ff.; SK StGB-Stein/Rudolphi, Stand: Sept. 2011, § 339 Rn. 11 b; Bemmann/Seebode/Spendel, ZRP 1997, 307; Herdegen, NStZ 1999, 457; Krehl, NStZ 1998, 409; Schaefer, NJW 2002, 734; Sowada, GA 1998, 178 ff.
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zugänglichen Entscheidungen des BGH daraufhin untersucht, wie der BGH seine Begriffsbestimmungen am Fallmaterial konkretisiert hat (dazu II.1.). Dabei interessiert im Besonderen, ob bzw. inwieweit bei der Interpretation des Tatbestandes das materielle Wiedergutmachungsinteresse der Opfer grob fehlerhafter richterlicher Entscheidungen berücksichtigt wird (unter II.2.). Diese spezifische Fragestellung mag auf den ersten Blick verwundern. Sie wird aber dadurch gerechtfertigt, dass die Partei, die durch grobe Rechtsverstöße des Gerichts bei der Entscheidung einer Rechtssache einen Vermögensschaden erlitten hat, nur unter den Voraussetzungen der Rechtsbeugung einen Ausgleich des Schadens erreichen kann. Denn § 339 StGB begründet nach ganz h.M. nicht nur eine Sperrwirkung zugunsten des Amtsträgers, soweit es um dessen Bestrafung nach anderen Strafvorschriften geht. Er schafft zugleich eine Sperrwirkung zu Lasten der Opfer von Justizunrecht hinsichtlich einer Schadenswiedergutmachung: Die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung kann wegen eines Rechtsverstoßes durch das Gericht nur dann beseitigt werden, wenn sich der Richter in Beziehung auf den Rechtsstreit einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten gegen die Partei schuldig gemacht hat und wenn wegen der Straftat eine rechtskräftige Verurteilung ergangen ist oder die Einleitung oder Durchführung eines Strafverfahrens aus anderen Gründen als wegen Mangels an Beweis nicht erfolgen kann (Restitutionsklage im Zivil- und im Verwaltungsprozess §§ 580 Nr. 5, 581 Abs. 1 ZPO). Und ein Amtshaftungsanspruch setzt nach dem sog. Spruchrichter- oder Richterspruchprivileg des § 839 Abs. 2 BGB ebenfalls eine strafbare Amtspflichtverletzung voraus, besteht allerdings unabhängig von einer strafgerichtlichen Verurteilung des Richters. Nach der Bestandsaufnahme der Rechtsprechung werden die vom BGH und im Schrifttum für und wider eine Restriktion des § 339 StGB angeführten Gesichtspunkte erörtert und dabei speziell danach gefragt, ob bzw. inwieweit das Opferinteresse an Schadenswiedergutmachung bei der Auslegung dieser Strafvorschrift berücksichtigt werden sollte (unter III.). Der Beitrag schließt mit der Vermutung, dass Strafanzeigen von Privaten wegen grob fehlerhafter Urteile unabhängig von der Interpretation des § 339 StGB durch den BGH schon deshalb nahezu keinerlei Aussicht auf Erfolg haben, weil die Staatsanwaltschaften in der Regel wenig Interesse an einer Verfolgung von Rechtsbeugung haben, es sei denn dass sie selbst die davon Betroffenen sind (unter IV.). Der verehrte Jubilar, dem ich mich seit einer (leider nur kurzen) Zusammenarbeit an der Universität Hamburg eng verbunden fühle, hat sich mit dem Thema Rechtsbeugung bisher jedenfalls publizistisch nicht befasst. Ich bin aber sicher, dass auch das spezifische Erkenntnisinteresse dieses Beitrages auf sein Interesse stoßen wird. Denn sein wissenschaftliches Werk zeichnet sich durch das eindrucksvolle Bestreben aus, der Ausübung staatlicher Gewalt rechtsstaatlich begründete Grenzen zu setzen. Zur Beachtung solcher Grenzen könnte der Straftatbestand der Rechtsbeugung einen generalpräventiven Beitrag leisten. Dieser dürfte allerdings gegen Null gehen, wenn § 339 StGB aufgrund einer unangemessen restriktiven Interpretation und einer mangelhaften Implementation praktisch nur auf dem Papier steht.
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I. Empirisches zur Strafverfolgung wegen Rechtsbeugung und eine Vermutung hinsichtlich des Umfangs potentiell tatbestandsmäßigen Verhaltens 1. Hauptverfahren und Ermittlungsverfahren wegen Rechtsbeugung Strafrechtliche Hauptverfahren gegen Amtsträger der Bundesrepublik wegen Rechtsbeugung waren und sind bekanntlich äußerst selten. Durch statistische Daten lässt sich das allerdings erst für die Zeit ab 2006 belegen. Denn die Strafverfolgungsstatistik weist die Zahl der Aburteilungen nach § 339 StGB (bzw. früher § 336 StGB) erst seit 1996 getrennt aus und in diesem Jahr hatte bereits die erst 2005 abgeschlossene Aburteilung von Richtern und Staatsanwälten der DDR wegen Rechtsbeugung begonnen.2 In den fünf Jahren 2006 bis 2010 wurden insgesamt dreizehn Amtsträger der Bundesrepublik nach § 339 StGB abgeurteilt und von diesen sieben verurteilt.3 Zwei Angeklagte wurden freigesprochen und gegen vier wurde das Verfahren ohne Verhängung von Maßregeln eingestellt. Im Jahresdurchschnitt wurden also nicht einmal drei Amtsträger wegen Rechtsbeugung abgeurteilt und davon nicht einmal zwei auch verurteilt. Bei den Abgeurteilten handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit fast ausschließlich um Angehörige der Justiz, obwohl Verwaltungsangehörige als potentielle Täter nicht völlig ausgeschlossen sind.4 In krassem Gegensatz zur Anzahl der Hauptverfahren wegen Rechtsbeugung steht diejenige der Ermittlungsverfahren. Diese dürfte jährlich mehrere Tausend betragen. Die genaue Anzahl ist allerdings unbekannt. Die Polizeiliche Kriminalstatistik, die überhaupt erst seit kurzem die Verfahren wegen Rechtsbeugung gesondert ausweist, vermittelt mit 123 Fällen für 2009, mit 141 für 2010 und mit 135 für 20115 mit Sicherheit ein völlig falsches Bild. Denn Strafanzeigen wegen Rechtsbeugung werden fast ausschließlich bei den Staatsanwaltschaften erstattet. Die Staatsanwaltschaftsstatistik enthält speziell zu Ermittlungsverfahren wegen Rechtsbeugung aber keine Angaben, weil nur für einige wenige Deliktsgruppen die Anzahl der Ermittlungsverfahren und die Art der Erledigung ausgewiesen sind und zu diesen Gruppen nicht einmal die Amtsdelikte in ihrer Gesamtheit gehören. Möglich ist aber eine grobe Schätzung der Größenordnung solcher Verfahren auf der Grundlage der von Hoenigs mitgeteilten Zahlen der Staatsanwaltschaft München I. Dort wurden in den Jahren 2004 bis 2007 im Jahresschnitt 400 Ermittlungsverfahren wegen Rechts2
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Marxen/Werle/Schäfer, Die Strafverfolgung von DDR-Unrecht. Fakten und Zahlen, 2007,
3 Diese Zahlen sind den Tabellen 2.2, 2.3 und 3.1 der für die jeweiligen Jahre vom Statistischen Bundesamt herausgegebenen Statistik Fachserie 10 Reihe 3 Rechtspflege Strafverfolgung entnommen. 4 Nach BGHSt 34, 147 ff., ist aber ein Stadtoberinspektor, der als eigenverantwortlicher Sachbearbeiter Aufenthaltsgenehmigungen für Ausländer erteilt, kein tauglicher Täter einer Rechtsbeugung. 5 Zahlen aus den jeweiligen Jahresbänden Bundeskriminalamt (Hrsg.), Polizeiliche Kriminalstatistik, Abschnitt 2.1.2 Fallentwicklung und Aufklärung, Straftatenschlüssel 655002.
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beugung mit durchschnittlich jeweils etwa 2 Beschuldigten geführt.6 Rechnet man diese Zahlen nach dem Verhältnis der 2008 bei der Staatsanwaltschaft München I tätigen Staatsanwälte7 zu den in diesem Jahr insgesamt in der Bundesrepublik bei den Staatsanwaltschaften beim Landgericht tätigen Staatsanwälten8 hoch, dann gelangt man zu etwas mehr als 12.000 jährlichen Ermittlungsverfahren wegen Rechtsbeugung in der gesamten Bundesrepublik. Diese Größenordnung überrascht nicht angesichts des riesigen Potentials an Anzeigeerstattern, denn in jedem Rechtsstreit gibt es einen Verlierer, falls das Verfahren nicht durch einen Vergleich erledigt worden ist. 2. Zur Häufigkeit vorsätzlicher grob fehlerhafter Rechtsanwendung in der Justiz Wenn in diesem Beitrag davon ausgegangen wird, dass auch im Alltag der Justiz der Bundesrepublik Richter und Staatsanwälte bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache in einer nicht ganz unbedeutenden Anzahl von Fällen bewusst in grober Weise gegen das Recht verstoßen und sich daher bei einer weiten Auslegung des § 339 StGB strafbar gemacht haben könnten, so muss zunächst klargestellt werden, was hier als grob (oder krass) fehlerhafte Rechtsanwendung bezeichnet wird. Der in Teilen der Literatur zur Definition der Rechtsbeugung verwendete Begriff der unvertretbaren Rechtsanwendung wird vermieden, weil er ohne ergänzende Zusätze wie „völlig“, „krass“, „offensichtlich“, „eindeutig“ missverständlich ist. Denn in den Fällen, in denen Richtigkeitsmaßstab einer gerichtlichen Entscheidung deren Vertretbarkeit ist, wiegt nicht jeder Rechtsfehler, der die Entscheidung unvertretbar macht, notwendig so schwer, dass eine Bewertung als objektive Rechtsbeugung sachgerecht wäre. Insoweit ist daher der Begründung des 5. Strafsenats zuzustimmen, dass nicht jede unvertretbare Entscheidung Rechtsbeugung sein könne.9 Es geht dabei allerdings nur um eine terminologische Frage. Denn das Schrifttum, das als Rechtsbeugung jede vorsätzliche unvertretbare Rechtsanwendung ansieht, versteht darunter natürlich nur grobe oder krasse Rechtsverstöße in dem Sinne wie z. B. Herdegen unvertretbare Rechtsanwendung definiert hat: Ein Agieren bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache, für das keine von Rechts wegen diskussionswürdigen Gründe ins Feld geführt werden können, über dessen Fehlerhaf-
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Hoenigs, Zur Existenzberechtigung des Straftatbestandes der Rechtsbeugung. Korrelat oder Widerspruch zur richterlichen Unabhängigkeit, 2010, S. 83 f. 7 Zahlen für 2008: 153 Staatsanwälte (http://www.justiz.bayern.de/sta/sta/m1/daten/ 00794/index.php). 8 Zahlen des Bundesjustizamtes http://www.bundesjustizamt.de/cln_108/nn_2103256/DE/ Themen/Buergerdienste/Justizstatistik/Personal/Personalbestand__Staats__Amtsanwaltschaf ten__Landgerichte,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/Personalbestand_Staats_ Amtsanwaltschaften_Landgerichte.pdf. 9 BGHSt 41, 251.
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tigkeit nicht gestritten werden kann.10 Diese Umschreibung der Fehlerhaftigkeit dürfte mit der Definition von Willkür i. S. des Art. 3 Abs. 1 GG durch das BVerfG übereinstimmen. Diese liegt dann vor, wenn ein Richterspruch unter keinem rechtlichen Aspekt vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht.11 Soweit ersichtlich gibt es keine empirischen Untersuchungen, die sich speziell mit dem Thema grober Rechtsverstöße in der Justiz befassen. Hinweise auf die vorsätzliche Missachtung von Rechtsnormen finden sich aber in rechtstatsächlichen Arbeiten, die spezielle Arbeitsabläufe in der Justiz zum Gegenstand haben. Ein aktuelles und überaus informatives Beispiel dafür bietet die im Auftrag des Bundesverfassungsgerichts von Altenhain durchgeführte Expertenbefragung zur gegenwärtigen Praxis der Verständigung im Strafverfahren. Die Ergebnisse dieser (noch nicht publizierten) Studie sind ein handfester Beleg dafür, dass vorsätzliche eindeutige Rechtsverstöße in der Justiz keine extreme Ausnahmeerscheinung sind. So waren nach den Medienberichten über diese Studie etwa zwei Drittel der befragten Amtsrichter der Auffassung, dass in jeder zweiten Absprache im Strafverfahren gegen § 257c StPO verstoßen wird.12 Und der Vortrag dieser Studie in der mündlichen Verhandlung des BVerfG vom 7. 11. 2012 wurde in der Presse sogar „als die Demontage des Bildes vom gesetzestreuen Richter“ charakterisiert.13 Sicherlich ist die Praxis von Absprachen im Strafprozess nicht repräsentativ für den Umgang der Justiz insgesamt mit der Gesetzesbindung. Das häufigste Motiv für gesetzwidrige Absprachen, nämlich die Arbeitsentlastung, ist für die Justiz aber von allgemeiner Bedeutung. Der informelle Erledigungsgrundsatz14 verlangt, dass die beruflichen Aufgaben innerhalb der in der Justizorganisation dafür als erforderlich angesehenen Zeit erledigt werden, und der dadurch entstehende Erledigungsdruck dürfte angesichts der in der Justiz vielerorts bestehenden Überlastung die wichtigste externe Ursache für die vorsätzliche Missachtung insbesondere von Verfahrensvorschriften sein.15 Neben dieser arbeitsökonomischen Motivation gibt es weitere Beweggründe, die auch in einem demokratischen Rechtsstaat Richter und Staatsanwälte zur Missachtung ihrer Bindung an Gesetz und Recht veranlassen können. Alle 10
Herdegen (Fn. 1), S. 457. Siehe nur BVerfGE 87, 278 f.; 89, 13 f. 12 Süddeutsche Zeitung Nr. 253 v. 2. 11. 2012, S. 1. 13 Janisch, Süddeutsche Zeitung Nr. 258 v. 8. 11. 2012, S. 13. 14 Dazu aus eigener richterlicher Erfahrung Noll, Diktate über Sterben und Tod, 5. Aufl., 1993, S. 148 f. 15 Fischer (Fn. 1), Rn. 4 und Schmedding, in: Dölling/Duttke/Rössner (Hrsg.), Gesamtes Strafrecht, 2008, § 339 Rn. 1, gehen plausibel davon aus, dass die Rechtswirklichkeit vorsätzlicher Rechtsverstöße nicht durch eine rechtsfeindliche Einstellung gegen elementare Rechtsgrundsätze geprägt wird, sondern entweder durch lapidare Verfahrensverstöße zur Arbeitserleichterung oder durch Missachtung gesetzlicher Bestimmungen zur Erreichung eines „gerechten“ Ergebnisses. Zu Formen der Rechtsbeugung im Justizalltag aus richterlicher Sicht siehe Marsch, DRiZ 2009, 209. 11
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diese Motive führen dazu, dass die Entscheidungsfindung des Amtsträgers der Ergebnisstrategie16 folgt, also ein angestrebtes Ziel und nicht die gesetzlichen Vorgaben den Entscheidungsprozess leiten. - Es soll ein als „gerecht“ empfundenes, mit dem Gesetz aber selbst unter dem Etikett Rechtsfortbildung nicht zu vereinbarendes Ergebnis erreicht werden. Die für solche gesetzwidrige Gerechtigkeitsintuition maßgeblichen Erwägungen des Amtsträgers können abstrakt-genereller Art sein, aber auch rechtlich irrelevante Umstände des Einzelfalles betreffen. - Es wird (weitgehend in Übereinstimmung mit entsprechenden informellen Erwartungen innerhalb der Organisation) wider besseres Wissen bei der Entscheidung Rücksicht auf Kollegen genommen (Stichworte: „Korpsgeist“ oder „Berufskumpanei“). - Zur Aufrechterhaltung der fachlichen Autorität wird vermieden, eine als unrichtig erkannte eigene frühere Entscheidung oder Einschätzung zu korrigieren, oder es werden eigene Fehler verdeckt. - Eine Partei wird für ihr Prozessverhalten oder für das ihres Verfahrensbevollmächtigten sanktioniert. - Entscheidungen werden im Instanzenzug nicht aufgehoben und zurückverwiesen, um die überlastete Vorinstanz nicht zusätzlich zu belasten. Dass die genannten Beweggründe Richter und Staatsanwälte trotz ihres hohen Berufsethos zur bewussten Missachtung des Rechts veranlassen können, hat Scholderer in seiner grundlegenden Monographie zur Rechtsbeugung unter Rückgriff auf die kriminologische Theorie der „Techniken der Neutralisierung“ theoretisch näher begründet.17 Dadurch dass der Richter subjektiv Gründe dafür findet, die sein Verhalten aufgrund besonderer Umstände (z. B. Überlastung, Einzelfallgerechtigkeit, Kollegialität) rechtfertigen, wird der vorhandene Druck zu gesetzmäßigem Verhalten innerpsychisch neutralisiert und eine bewusste Missachtung der Rechtsnorm möglich. Ein erheblicher Teil derjenigen Entscheidungen, die auf grob fehlerhafter Rechtsanwendung durch das Gericht beruhen, wird sicherlich im fachgerichtlichen Instanzenzug oder – weitaus seltener – auf Verfassungsbeschwerde hin korrigiert, so dass kein Interesse an Schadenswiedergutmachung besteht. Es verbleiben aber die Fälle, in denen Rechtsbehelfe nicht statthaft waren, nicht eingelegt wurden oder aber deshalb erfolglos blieben, weil die Entscheidung aus welchen Gründen auch immer rechtsfehlerhaft „gehalten“ wurde.18 Das Rechtsmittelrecht kann überaus pragma16 Zur Unterscheidung von Konstruktions- und Ergebnisstrategie beim richterlichen Entscheidungsprozess grundlegend Lautmann, Justiz – die stille Gewalt, 2011, S. 101 ff. (Neuausgabe der 1. Auflage von 1972). 17 Scholderer, Rechtsbeugung im demokratischen Rechtsstaat. Zur Rekonstruktion des § 336 StGB für die Gegenwart, 1993, S. 556 ff. 18 Vgl. dazu nur – auch aus richterlicher Sicht – Geipel/Doukoff, ZAP Fach 13 (2011), S. 1689 ff.
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tisch gehandhabt werden, und zwar insbesondere in den Konstellationen, in denen die Zurückweisung eines Rechtsmittels bzw. die Nichtannahme der Beschwerde zur Entscheidung im Verfahren vor dem BVerfG nicht einmal begründet werden muss. Da die Möglichkeit der begründungslosen Zurückweisung eines Rechtsmittels erheblich weniger Arbeit macht als die Begründung der Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, ist eine Tendenz zum „Halten“ fehlerhafter Entscheidungen in solchen Verfahren nicht nur im Interesse der Funktionsfähigkeit des Justizsystems, sondern auch aus arbeitsökonomischen Gründen zu vermuten.
III. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung unter dem spezifischen Aspekt der Opferbelange Bevor auf den speziellen Aspekt eingegangen werden kann, welchen Stellenwert Opferbelange für den BGH bei der Interpretation des § 339 StGB haben, ist dessen Rechtsprechung zu dieser Strafvorschrift im Überblick darzustellen. Dies geschieht auf der Grundlage einer Auswertung der vierzehn zumindest in juris oder in der Datenbank des BGH veröffentlichten Urteile der Strafsenate des BGH, die seit 1984 gegen Amtsträger der Bundesrepublik ergangen sind und die inhaltliche Aussagen zur Interpretation des Tatbestandes enthalten.19 1. Allgemeines zur Interpretation des § 339 StGB durch den BGH a) Das Merkmal Beugung des Rechts als normatives Regulativ Zehn Jahre nach der Neufassung des Tatbestands der Rechtsbeugung im Jahr 1974 durch Art. 19 Nr. 188 EGStGB hat der 3. Strafsenat des BGH erstmals entschieden, dass diese Strafvorschrift einschränkend zu interpretieren ist. Bereits dieses Urteil enthält die noch heute vom BGH zugrundegelegte Definition des Merkmals Beugung des Rechts: Das Recht wird durch ein Verhalten gebeugt, durch das sich der Amtsträger in schwerwiegender Weise vom Gesetz (oder: von Recht und Gesetz) entfernt.20 Der im Urteil des 3. Strafsenats enthaltene zweite Teil der Definition – „und sein Handeln als Organ des Staates an seinen eigenen Maßstäben anstelle der vom Gesetzgeber statuierten ausrichtet“ – wird in den späteren Entscheidungen des BGH zumeist nicht übernommen. Im genannten Urteil findet sich auch bereits das Verständnis des Merkmals Beugung des Rechts als ein normatives Element, das als wesentliches Regulativ wirke, allerdings nur in Form einer offensichtlich zustimmenden Zitierung der entsprechenden Äußerung des Regierungsvertreters bei der Beratung des § 336 StGB a.F. im Sonderausschuss des Deutschen Bundestages 19
Nicht berücksichtigt wurde BGHSt 34, 146, weil in diesem Urteil lediglich die fehlende Täterqualität eines Verwaltungsbeamten festgestellt wurde. Zu den Fallkonstellationen, die den Urteilen des BGH zugrundelagen, vgl. den Überblick unten 2. a). 20 BGHSt 32, 360; 38, 383; 42, 345; BGH NStZ-RR 2010, 310.
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für die Strafrechtsreform.21 In späteren Urteilen wird diese Charakterisierung des Merkmals Beugung des Rechts allerdings nur vereinzelt übernommen.22 Im Jahr 1992 hat dann der 4. Strafsenat unter Hinweis auf die Einordnung des § 339 StGB als Verbrechenstatbestand und die regelhafte Beendigung des Richteroder Beamtenverhältnisses im Falle der rechtskräftigen Verurteilung erstmals davon gesprochen, dass es Zweck der Vorschrift sei, den Rechtsbruch als elementaren Verstoß gegen die Rechtspflege unter Strafe zu stellen.23 Diese Charakterisierung des Tatbestandes haben wenig später der 5. Strafsenat24 in einem Urteil gegen eine frühere Staatsanwältin der DDR und der 1. Strafsenat gegen einen Richter der Bundesrepublik aufgegriffen. Der 1. Strafsenat hat dabei als elementar einen Rechtsverstoß bezeichnet, der das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts erschüttert.25 Der negative Gehalt dieser Rechtsprechung ist eindeutig. Er besteht in der Ablehnung der von einem Teil des Schrifttums26 vertretenen Auffassung, dass das Recht durch jede vorsätzliche unvertretbare Rechtsanwendung gebeugt werde.27 Was ein schwerwiegendes Sich-Entfernen von Recht und Gesetz nach Auffassung des BGH in positiver Hinsicht voraussetzt, ergibt sich dagegen erst bei einer näheren Betrachtung der Judikatur des BGH, und das auch nur in Umrissen. b) Beugung des Rechts als Schwerebewertung der objektiven Tatseite und/oder der Erwägungen des Amtsträgers Das Verständnis des Merkmals Beugung des Rechts als normatives Regulativ bildet für den BGH die Grundlage dafür, die Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung von einer Bewertung der objektiven Tatschwere oder der Erwägungen des Amtsträgers bei der Rechtsanwendung oder aber von einer zusammenfassenden Bewertung von objektiver Tatschwere und Erwägungen abhängig zu machen. Dass der Amtsträger sich bewusst, also wissentlich i. S. des direkten Vorsatzes 2. Grades, vom Gesetz entfernt haben muss, sieht der BGH offensichtlich als notwendige subjektive Voraussetzung der Strafbarkeit an, ist also nicht bloßes Teilelement der Schwerebewertung. Der 4. Strafsenat hat allerdings in einem Verfahren gegen Richter und Staatsanwälte der ehemaligen DDR als zusätzliches Argument dafür, dass § 244 StGB-DDR das mildere Tatzeitrecht ist, angeführt, § 336 StGB lasse nach seiner Neufassung be21
BGHSt 32, 364. BGH Beschl. v. 7. 7. 2010 – 5 StR 555/09 (juris Rn. 30). 23 BGHSt 38, 383. 24 BGHSt 41, 251. 25 BGHSt 42, 349; ähnlich BGH NStZ-RR 2010, 310: „elementare Rechtsverstöße und offensichtliche Willkürakte.“ 26 Vgl. die Nachweise in Fn. 1. 27 Ablehnend gegen die „(bloße) Unvertretbarkeit von Entscheidungen“ ausdrücklich z. B. BGHSt 41, 251; BGH NJW 1997, 1455; NStZ-RR 2010, 310. 22
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dingten Vorsatz ausreichen.28 Diese (nicht tragende) Äußerung ist aber mit dem Erfordernis eines bewussten Sich-Entfernens nicht vereinbar und dementsprechend hat der BGH in allen hier ausgewerteten Entscheidungen, bei denen es um den Vorsatz hinsichtlich des Rechtsverstoßes ging, geprüft, ob der Tatrichter rechtsfehlerfrei das Wissen des Amtsträgers um die Rechtsverletzung festgestellt hat. Dieses Wissen muss auch das Bewusstsein der Schwere des Rechtsverstoßes umfassen.29 Mit der objektiven Tatschwere und den Beweggründen des Amtsträgers bei obligatorischem Vorsatz kann der BGH diejenigen Umstände bei seiner Bewertung berücksichtigen, die für den Unrechtsgehalt einer Vorsatztat als Basis der Strafzumessungsschuld von maßgeblicher Bedeutung sind. Die Bestimmung einer Beugung des Rechts durch den BGH ähnelt daher der Schuldbemessung bei der Strafzumessung mit dem Unterschied, dass nur das Mindestmaß an Unrechtsgehalt der Tat festzulegen ist, das die mit einer Verurteilung verbundenen strafrechtlichen und dienstrechtlichen Folgen rechtfertigt. aa) Die Schwerebewertung eines objektiven Rechtsverstoßes In den Urteilen des BGH finden sich keine allgemeinen Aussagen dazu, welche Faktoren die Schwere eines objektiven Rechtsverstoßes bestimmen und welches Gewicht diese jeweils haben. Negativ kann allerdings festgestellt werden, dass die Größe des Abstandes zwischen der praktizierten und der gerade noch vertretbaren Rechtsanwendung in keinem Urteil des BGH eine Rolle gespielt hat. Dabei scheint die Formulierung des „Sich-Entfernens“ die Relevanz dieses Kriteriums dort nahezulegen, wo das Ausmaß der Fehlerhaftigkeit graduierbar ist, wie insbesondere bei der Norminterpretation und der Beweiswürdigung. Dagegen hat die Bedeutung der verletzten Rechtsnorm für ein rechtsstaatliches Prozessieren und Entscheiden für den BGH offensichtlich großes Gewicht. So ist die „Vereinbarung“ eines Jugendstaatsanwalts mit beschuldigten Jugendlichen und Heranwachsenden, diese mit ihrer Einwilligung als erzieherische Maßnahme körperlich zu züchtigen, auch dann Rechtsbeugung, wenn der Staatsanwalt meinte, entsprechend dem Geist des JGG gerecht zu handeln.30 Und wenn ein Strafrichter den Angeklagten in der Hauptverhandlung über die Schwere der ihm drohenden Strafe täuscht und ihn durch seine Verhandlungsführung und das kurzfristige Einsperren in eine Haftzelle einschüchtert, um ihn zu einem Geständnis, zur Einwilligung in eine Therapieweisung oder zum Rechtsmittelverzicht zu veranlassen, so handelt es sich nach Auffassung des 2. Strafsenats um ein derart rechtsstaatswidriges Verhalten, dass das Recht auch dann gebeugt wird, wenn das vom Richter angestrebte und beschlossene Urteil im Ergebnis durchaus angemessen, für den Angeklagten sogar günstig war.31 28
BGHSt 40, 276. BGH NStZ 2010, 93. 30 BGHSt 32, 360. 31 BGH Urt. v. 31. 5. 2012 – 2 StR 610/11. 29
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Während die Bedeutung der verletzten Rechtsnorm das tatbezogene Handlungsunrecht entscheidend mitbestimmt, bemisst sich das Erfolgsunrecht des Rechtsverstoßes nach der Qualität und Quantität der dadurch verursachten Besser- oder Schlechterstellung einer Partei. Welche Bedeutung diesem Faktor für die Begründung einer schwerwiegenden Entfernung von Recht und Gesetz nach Auffassung des BGH bei der Bewertung der objektiven Tatschwere zukommt, ist unklar. Diese Frage ist für die Berücksichtigung der Opferbelange bei der Interpretation des § 339 StGB von zentraler Bedeutung. Der Judikatur des BGH kann dazu nur Folgendes entnommen werden: Nach einer Äußerung des 5. Strafsenats könnte die Qualität des durch den Rechtsverstoß verursachten Nachteils für die Annahme eines elementaren Rechtsverstoßes bedeutsam sein, ein Freiheitsentzug also größeres Gewicht haben als ein wirtschaftlicher Schaden.32 Dass auch eher geringfügige finanzielle Einbußen jedenfalls ein relevanter Nachteil i. S. des § 339 StGB sind, ergibt sich aus der Verurteilung eines Rechtspflegers, der die Vergütung für einen Nachlasspfleger zum Nachteil der Erben bewusst überhöht festgesetzt hatte.33 Dies geschah allerdings aus sachfremden Erwägungen, so dass der Entscheidung nichts zum Gewicht der Schadenshöhe bei der Bewertung der objektiven Tatschwere zu entnehmen ist. bb) Die Erwägungen des Amtsträgers und deren Bewertung Je größer die Anforderungen sind, die der BGH an die Schwere eines Rechtsverstoßes stellt, der als solcher, also unabhängig von den Motiven des Amtsträgers Rechtsbeugung begründet, desto wichtiger wird die Frage, aus welchen Erwägungen der Amtsträger gehandelt hat und wie diese zu bewerten sind. Der BGH bezeichnet die Eigenschaft der negativ bewerteten Beweggründe mit dem Begriff sachfremd. Was er unter einer sachfremden Erwägung versteht, hat er allerdings nicht definiert. Der 1. Strafsenat hat dafür lediglich beispielhaft „Gesichtspunkte parteipolitischer, persönlicher oder außerdienstlicher Art“ genannt.34 Da parteipolitische und persönliche Beweggründe lediglich Erscheinungsformen außerdienstlicher Beweggründe sind, ist es sinnvoll, zwischen den – stets sachfremden – außerdienstlichen und den dienstlichen Erwägungen zu unterscheiden. Außerdienstliche Beweggründe können einen elementaren Rechtsverstoß allerdings nur dann (mit)begründen, wenn zwischen ihnen und der Rechtsanwendung ein inhaltlicher und nicht nur ein kausaler Zusammenhang besteht. Daher wird das Recht nicht allein schon deshalb gebeugt, weil ein dafür unzuständiger Richter einen Haftverschonungsbeschluss erlassen hat, um dem mit ihm befreundeten Verteidiger des Beschuldigten einen Gefallen 32 BGH Beschl. v. 7. 7. 2010 – 5 StR 555/09 (juris Rn. 30 und 38). Für die neue Hauptverhandlung hat der Senat darauf hingewiesen, dass eine willkürliche Zuständigkeitsanmaßung durch einen Richter jedenfalls dann Rechtsbeugung sein könne, wenn diese zu einer Verletzung weiterer wesentlicher grund- oder konventionsrechtlicher Rechtspositionen des Betroffenen wie insbesondere Freiheitsentziehung durch Untersuchungshaft geführt hat. 33 BGHSt 35, 230. 34 BGHSt 44, 260.
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zu tun.35 Denn dieses Motiv ist zunächst einmal nur für das ,Ob‘, nicht für das ,Wie‘ des Tätigwerdens bedeutsam. Bei den dienstlichen Erwägungen kann zwischen sachbezogenen und organisationsbezogenen Beweggründen unterschieden werden. Als sachbezogen werden hier die Erwägungen bezeichnet, die eine nach Auffassung des Amtsträgers gerechte, instanzabschließende Entscheidung begründen. Ein Rechtsverstoß kann bei einer solchen Motivation dadurch begangen werden, dass das gesetzliche Programm für diese Entscheidung grob missachtet wird, oder aber, dass auf dem Weg zu dieser Entscheidung Verfahrensvorschriften grob verletzt werden. Organisationsbezogen sind diejenigen dienstlichen Erwägungen, die darauf zielen, Interessen der Justizorganisation zu realisieren, insbesondere die Dienstgeschäfte effizient zu erledigen. Sachbezogene Erwägungen können keine Strafbarkeit begründen. Das könnte auch bei organisationsbezogene Beweggründen der Fall sein. Jedenfalls lassen die Gründe eines Urteils des 1. Strafsenats eine solche Vermutung zu. Der Angeklagte hatte es als Betreuungsrichter in etwa 50 Fällen entgegen seiner Verpflichtung aus § 70c FGG a.F. (jetzt § 319 Abs. 1 FamFG) unterlassen, betreute Personen vor der Genehmigung freiheitsentziehender Maßnahmen gemäß § 1906 Abs. 1 bzw. Abs. 4 BGB persönlich anzuhören.36 Der BGH hat diesen Rechtsverstoß als so gravierend bewertet, dass er die erteilte Genehmigung selbst als sachlich-rechtlich fehlerhaft beurteilt und den Nachteil für die betreuten Personen bereits in der Erteilung der Genehmigung gesehen hat. Daher musste nach seiner Auffassung für die Annahme vollendeter Rechtsbeugung nicht in jedem Einzelfall festgestellt werden, dass die Voraussetzungen der freiheitsentziehenden Maßnahme nicht vorgelegen hatten. Der Angeklagte hatte systematisch auf die Anhörungen verzichtet und seine Pflichtverletzung durch fingierte Protokolle zu verdecken versucht, um die Verfahren leichter und schneller entscheiden zu können und sich Arbeit zu ersparen, „namentlich auch, um mehr Zeit für Familie, Hobbys und Nebentätigkeiten zu haben.“ Aufschlussreich ist nun, dass der 1. Strafsenat in den Gründen betont, dass der Angeklagte seine richterliche Pflicht zur Anhörung „nicht nur im Einzelfall, etwa aus beruflicher Überlastung, vernachlässigt“, sondern aus sachfremden Erwägungen gehandelt hat. Das aber kann wohl nur dahingehend gedeutet werden, dass die vom Senat als so gravierend dargestellte Rechtsverletzung als solcher noch keinen elementaren Rechtsverstoß begründet, dass also ein fleißiger und an sich gewissenhafter Richter nicht tatbestandsmäßig gehandelt hätte, wenn er im Einzelfall eine Anhörung unterlassen hätte, um in seinem Dezernat nicht zu „versacken“. Auf die Möglichkeit einer solchen entlastenden Wirkung entschuldbarer arbeitsökonomischer Erwägungen im Interesse der Justiz ist allerdings der 4. Strafsenat des BGH in einer Strafsache nicht eingegangen, in der ein Amtsrichter mehrere Bußgeldverfahren nach § 47 Abs. 2 OWiG eingestellt hatte, nachdem das OLG seine Urteile aufgehoben und zurückverwiesen hatte. 35
BGHSt 42, 353 f. BGH NStZ 2010, 92. Die vom BGH nicht beanstandete Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten erscheint überaus hart. 36
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Der Senat äußert sich vielmehr generell dahin, dass sachfremde Erwägungen und damit Rechtsbeugung vorgelegen hätten, wenn dem Richter die neue Verhandlung und Entscheidung zu viel Arbeit gemacht hätte.37 c) Zusammenfassende Einschätzung aa) Theoretische Einordnung der Konzeption des BGH In keinem seiner Urteile hat sich der BGH dazu geäußert, wie seine Rechtsprechung in die in der Literatur vertretenen Theorien der Rechtsbeugung einzuordnen ist. Der dort eindeutig vorherrschenden objektiven Theorie38 entspricht die Begründung der Strafbarkeit allein wegen der objektiven Schwere des vorsätzlichen Rechtsverstoßes. Soweit dagegen sachfremde Erwägungen des Amtsträgers bei der Rechtsanwendung zusammen mit einem nicht so gravierenden Rechtsverstoß oder sogar bei objektiv vertretbarer Rechtsanwendung die Tatbestandsmäßigkeit begründen, beruht die Strafbarkeit auch auf der Verletzung von Amtspflichten im Entscheidungsprozess. Das aber ist nach der Pflichtverletzungstheorie der sachliche Grund für die Strafbarkeit der Rechtsbeugung. In der Literatur wird daher zu Recht festgestellt, dass der BGH durch die Subjektivierung des schwerwiegenden Entfernens vom Gesetz die objektive Theorie mit Elementen der Pflichtverletzungstheorie anreichert.39 bb) Funktion und prozessuale Folgen der Konzeption des BGH Dadurch dass der BGH nicht jeden objektiv grob fehlerhaften bewussten Rechtsverstoß eo ipso als ein schwerwiegendes Entfernen vom Gesetz bewertet, sondern über die Strafbarkeit weitgehend erst die Erwägungen des Amtsträgers entscheiden, verschiebt sich der Schwerpunkt der Beurteilung von der objektiven Schwere der Tat tendenziell hin zur Person des potentiellen Täters. Dabei können zunächst einmal die konkreten Arbeitsbedingungen des Amtsträgers entlastend berücksichtigt werden, weil der BGH organisationsbezogene Erwägungen anscheinend nicht als sachfremd bewertet. Handelt es sich um sachfremde Beweggründe, so wird durch deren Subsumtionsrelevanz faktisch eine Beziehung zu dem hergestellt, was im Strafzumessungsrecht mit der Gesinnung bezeichnet wird, die aus der Tat spricht (§ 46 Abs. 2 Satz 2 StGB). Bei dieser Gesinnung geht es im vorliegenden Zusammenhang vor allem um die generelle berufliche Einstellung und Tätigkeit des Amtsträgers (vgl. den Fall des Betreuungsrichters). In den Revisionsurteilen werden tatrichterliche Feststellungen dazu in der Regel nicht wiedergegeben, weil die Persönlichkeit des Amtsträgers, seine berufliche Einstellung und Bewährung keine offiziellen 37
BGHSt 44, 261. Siehe dazu nur Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., 2011, § 339 Rn. 5; Fischer (Fn. 1), Rn. 9a je m.w.N. 39 Kühl/Heger, JZ 2001, 202; Heinrich, in: Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf (Hrsg.), Strafrecht BT, 2. Aufl. 2009, § 49 Rn. 80. 38
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Merkmale für die Beurteilung der Schuldfrage sind. In der Regel wird der BGH aus dem tatrichterlichen Urteil40 aber über entsprechende Informationen verfügen. Dann aber liegt es nahe, dass diese in Grenzfällen die Entscheidung über die Schuldfrage beeinflussen. Denn im Hintergrund steht wegen der dienstrechtlichen Folgen einer Verurteilung fast stets die Frage, ob das Fehlverhalten so gravierend ist, dass eine Entfernung des Amtsträgers aus dem Justizdienst vertretbar oder sogar geboten ist. Daher fällt es vermutlich leichter, einen Richter auf Probe wegen Rechtsbeugung zu verurteilen41 als einen beruflich bewährten Oberstaatsanwalt.42 Dass eine solche Konzeption der Rechtsbeugung den Belangen der Opfer von Justizunrecht an einer Schadenswiedergutmachung tendenziell zuwiderläuft, ist unmittelbar einsichtig. An den Beweis der inneren Tatseite der Rechtsbeugung werden durch das Erfordernis direkten Vorsatzes und durch die vielfach notwendige Feststellung sachfremder Beweggründe des Amtsträgers erhebliche Anforderungen gestellt. Eine Verurteilung wird dadurch erschwert. Ein Indiz dafür ist die Tatsache, dass in der Hälfte der untersuchten vierzehn Revisionsverfahren die angegriffenen Urteile wegen fehlerhafter oder unvollständiger Feststellungen zur inneren Tatseite keinen Bestand hatten. Dabei handelte es sich in fünf Fällen um Verurteilungen (wobei der BGH in einem Fall sogar freigesprochen hat43). Dass die Einschätzung der allgemeinen beruflichen Einstellung und Tätigkeit des Angeklagten auch bei der tatrichterlichen Überzeugungsbildung hinsichtlich der inneren Tatseite eine Rolle spielt, wird man kaum bestreiten können. Was die revisionsgerichtliche Überprüfung der tatrichterlichen Feststellungen zur inneren Tatseite betrifft, so vermitteln die Urteile des BGH den Eindruck, dass die Strafsenate die Beweiswürdigung intensiver als bei ähnlich schweren Straftaten kontrollieren.44 cc) Zur Prognostizierbarkeit der Beurteilung von Einzelfällen durch den BGH Die Sachverhalte der wenigen Verfahren wegen Rechtsbeugung, für die veröffentlichte Urteile des BGH vorliegen, sind sehr heterogen (dazu gleich näher). Das und die Unbestimmtheit der Kriterien für Bewertung der Schwere eines objektiven 40
So hat z. B. das LG Berlin MDR 1995, 192, im Beschluss, mit dem die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen nicht auszuschließender Schuldunfähigkeit des angeschuldigten Richters abgelehnt wurde, als gerichtsbekannt festgestellt, dass der Angeschuldigte überzogene Vorstellungen von eigener richterlicher Würde und Autorität hatte, dass es ihm „um Rechthaberei um jeden Preis als Ausfluss falsch verstandener, Unfehlbarkeit einbegreifender richterlicher Autorität ging.“ 41 Vgl. BGH Urt. v. 31. 5. 2012 – 2 StR 610/11. 42 Vgl. BGH Beschl. v. 7. 7. 2010 – 5 StR 555/09. Die rechtlichen Bedenken des BGH gegen die Verurteilung des mitangeklagten Oberstaatsanwalts als Mittäter des Amtsrichters (juris Rn. 41) könnten in diesem Sinne gedeutet werden. 43 BGH NStZ 1988, 218. 44 Ebenso Mückenberger, in: AnwaltKommentar, StGB, 2011, § 339 Rn. 30.
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Rechtsverstoßes führen dazu, dass aus den Urteilen des BGH nicht einmal annäherungsweise ein abstraktes Maß der schwerwiegenden Entfernung von Recht und Gesetz rekonstruiert werden kann. Damit ist es – abgesehen von Extremfällen – kaum möglich zu prognostizieren, wie der BGH Fallkonstellationen beurteilen wird, zu denen noch keine einschlägigen Entscheidungen vorliegen.45 Es erscheint auch nicht sicher, dass die Strafsenate des BGH die Definition der Rechtsbeugung im Einzelfall nach identischen Maßstäben konkretisieren. So haben sich zwei Mitglieder des 2. Strafsenats publizistisch sehr kritisch gegenüber der Rechtsprechung des BGH geäußert.46 Bei dieser Sachlage besteht nur die Möglichkeit, die vorliegenden Urteile des BGH soweit möglich nach Fallgruppen zu ordnen und für diese Gruppen die einschlägigen Beurteilungen durch den BGH zusammenzustellen. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf einen Überblick über die diesen Urteilen zugrundeliegenden Sachverhalte und fragen dann speziell danach, ob der Rechtsprechung des BGH Aussagen darüber zu entnehmen sind, welchen Stellenwert das Wiedergutmachungsinteresses der Opfer vorsätzlichen groben Justizunrechts für den BGH hat und – auf einer abstrakteren Ebene – welche Bedeutung in der bisherigen Rechtsprechung des BGH Rechtsfehler bei der Norminterpretation und bei der Sachverhaltsfeststellung spielen. 2. Die Zusammensetzung des Entscheidungsmaterials des BGH und die Fallgruppe vorsätzlicher grob fehlerhafter Rechtsverstöße mit vermögensschädigenden Folgen a) Überblick über Merkmale der vom BGH durch Urteil entschiedenen Sachverhalte Bei einer Auswertung der vierzehn Urteile des BGH nach verschiedenen Merkmalen der zu beurteilenden Sachverhalte ergibt sich das folgende Bild: - Angeklagt waren in zehn Verfahren Richter am Amtsgericht, in vier Verfahren Staatsanwälte (davon ein Oberstaatsanwalt zusammen mit einem Richter) und in einem Verfahren ein Rechtspfleger als Nachlassrichter. - In elf der vierzehn Verfahren betraf die Anklage mögliche Rechtsverstöße in Strafoder in Bußgeldverfahren. Bei den acht Anklagen wegen des Verhaltens im Strafverfahren handelte es sich im Einzelnen - in zwei Fällen um die Einstellung eines Strafverfahrens gemäß § 45 Abs. 2 JGG47 bzw. § 153a StPO;48 45 Diese Einschätzung wird im Schrifttum vielfach geteilt. Vgl. nur Mückenberger (Fn. 44); Lehmann, NStZ 2006, 131. Herdegen (Fn. 1) spricht sogar davon, dass die begriffliche Unschärfe des BGH „eine revisionsgerichtliche Judikatur des rhetorisch verhüllten Gutdünkens“ fördere. 46 Fischer (Fn. 1), Rn. 15 ff.; Krehl (Fn. 1). 47 BGHSt 32, 363.
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- in zwei Fällen um Haftentscheidungen durch einen unzuständigen Richter, und zwar in einem Fall um die Gewährung von Haftverschonung gegen Sicherheitsleistung49 und im zweiten Fall um den Erlass eines Haftbefehls in einer laufenden Hauptverhandlung gegen den Verteidiger des Angeklagten und eine Zeugin;50 - jeweils in einem Fall um die Aufhebung eines Haftbefehls im Zusammenhang mit der beabsichtigten Abschiebung des Angeklagten,51 - um die rechtsstaatswidrige Täuschung und Einschüchterung eines Angeklagten durch den Richter in der Hauptverhandlung,52 - um das Unterlassen der Anklageerhebung durch einen Staatsanwalt,53 - um die nicht sofortige Bearbeitung und Weiterleitung einer Beschwerde gegen einen Ordnungshaftbeschluss durch den Strafrichter, der den Beschluss erlassen hatte (Fall Schill).54 Gegenstand der drei Anklagen gegen Richter am Amtsgericht wegen Rechtsbeugung im Bußgeldverfahren waren in zwei Fällen Rechtsverstöße durch Einstellung des Verfahrens gemäß § 47 Abs. 2 S. 1 OWiG55 und in einem Fall die (erneute) Nichtverhängung eines Fahrverbots wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit, nachdem ein erstes Urteil des Amtsgerichts vom OLG aufgehoben worden war.56 Die drei übrigen Verfahren betrafen - die Genehmigung freiheitsentziehender Maßnahmen durch einen Betreuungsrichter ohne die vorherige obligatorische persönliche Anhörung der Betreuten,57 - die überhöhte Festsetzung der Vergütung für Nachlasspfleger58 sowie - den Erlass einer einstweiligen Anordnung in einer verwaltungsrechtlichen Angelegenheit durch einen Richter am Amtsgericht, der nicht nur sachlich unzuständig, sondern sogar kraft Gesetzes ausgeschlossen war, weil seine Tochter die einstweilige Anordnung beantragt hatte.59
48
BGHSt 38, 381. BGHSt 42, 343. 50 BGH Beschl. v. 7. 7. 2010 – 5 StR 555/09. 51 BGH NStZ-RR 2010, 310. 52 BGH Urt. v. 31. 5. 2012 – 2 StR 610/11. 53 BGH Urt. v. 6. 11. 2007 – 1 StR 394/07. 54 BGHSt 47, 105. 55 BGH NStZ 1988, 218; BGHSt 44, 258. 56 BGH NJW 1997, 1455. 57 BGH NStZ 2010, 92. 58 BGHSt 35, 224. 59 BGH NStZ-RR 2001, 243. 49
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Diese Zusammensetzung des Fallmaterials ist in mehrfacher Hinsicht auffällig: - Der relative Anteil der verschiedenen Arten von Prozessen, in denen das Recht gebeugt worden sein könnte, weicht ganz erheblich von der Zusammensetzung der Gesamtheit der Rechtssachen ab, die jährlich von den Fachgerichten in erster Instanz erledigt werden. Die entsprechenden Zahlen für das Jahr 2010 lauten:60 Zivil- und Familiensachen 2.235.150; Straf- und Bußgeldsachen 1.196.083; Verfahren vor den Verwaltungsgerichten 124.397, vor den Finanzgerichten 45.566, vor den Arbeitsgerichten 439.847 und vor den Sozialgerichten 394.013. Zusammen ergibt das die Summe von 4.435.056 jährlich erledigten Gerichtsverfahren, an denen die Straf- und Bußgeldverfahren einen Anteil von lediglich etwas mehr als einem Viertel haben gegenüber einem Anteil von fast vier Fünftel in den ausgewerteten Urteilen. - Nur in einem einzigen Revisionsverfahren ging es um den Vorwurf der Beugung materiellen Rechts, nämlich der rechtsfehlerhaften Bemessung der Rechtsfolgen wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit. Bei den 13 Fällen möglicher Verstöße gegen das Verfahrensrecht handelte es sich allerdings in vier Fällen um verfahrensabschließende Entscheidungen durch Einstellung des Straf- oder Bußgeldverfahrens. - In neun der 14 Sachen wären bei Bejahung von Rechtsbeugung staatliche Interessen beeinträchtigt worden, und zwar vor allem durch eine zu milde Reaktion auf eine Straftat oder eine Ordnungswidrigkeit. In den Verfahren, in denen eine Privatperson durch einen Rechtsverstoß schlechter gestellt worden sein könnte, handelte es sich in drei Fällen um die Beeinträchtigung der körperlichen Freiheit (Anordnung von Untersuchungshaft bzw. Ordnungshaft sowie die Genehmigung freiheitsbeeinträchtigender Maßnahmen gegenüber betreuten Personen), in einer Sache um die abgenötigte Einwilligung in eine Therapieweisung und den Rechtsmittelverzicht durch einen Angeklagten und im letzten Fall schließlich um einen Vermögensschaden (Festsetzung einer überhöhten Vergütung für Nachlasspfleger zu Lasten der Erben). Ob diese Daten ein repräsentatives Bild derjenigen Strafsachen ergeben, über die der BGH in der Revisionsinstanz entschieden hat, ist allerdings ungewiss. Denn es werden deutlich mehr Strafsachen wegen Rechtsbeugung abgeurteilt als veröffentlichte Entscheidungen des BGH vorliegen und bei Anklagen wegen Rechtsbeugung dürfte die Rechtsmittelquote relativ hoch sein. So stehen den 13 Aburteilungen und sieben Verurteilungen in den Jahren 2006 bis 201061 nur vier Urteile des BGH in diesem Zeitraum gegenüber, durch die das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen wurde (dreimal Verurteilung, einmal Freispruch). Es kann daher mit Sicherheit davon aus-
60 Quelle: Bundesamt für Justiz Referat III 3, Geschäftsentwicklung bei Gerichten und Staatsanwaltschaften von 2007 bis 2010, Stand: 20. September 2011. 61 Vgl. oben bei Fn. 3.
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gegangen werden, dass der BGH über weitere Strafsachen durch Beschluss entschieden hat.62 Die diesen zugrundeliegenden Sachverhalte sind nicht bekannt. b) Der Mangel an Aussagen des BGH zu vermögensschädigenden Rechtsverstößen und zu Rechtsfehlern bei der Norminterpretation und der Sachverhaltsfeststellung Für die hier interessierende konkrete Fallgruppe enthält das ausgewertete Fallmaterial also nur ein einziges Urteil des BGH (überhöhte Vergütung für Nachlasspfleger).63 Da dessen Gründe sich ausschließlich mit der Frage befassen, ob ein als Nachlassrichter tätiger Rechtspfleger tauglicher Täter einer Rechtsbeugung ist, kann diesem Urteil für die Konkretisierung der objektiven Schwere des Rechtsverstoßes allerdings nur entnommen werden, dass auch Rechtsverletzungen mit relativ geringen wirtschaftlichen Nachteilen für eine Partei jedenfalls dann Rechtsbeugung sind, wenn sie – was in dieser Strafsache der Fall war – auf außerdienstlichen Erwägungen beruhen. Betrachtet man die Urteile des BGH unter dem abstrakteren Aspekt, was aus ihnen zur Bewertung von Rechtsverstößen bei der Norminterpretation und der Sachverhaltsfeststellung entnommen werden kann, dann ist das Ergebnis ebenfalls enttäuschend. In keiner einzigen Strafsache hatte der Angeklagte seine Rechtsanwendung ausdrücklich mit einer grob fehlerhaften Interpretation der angewendeten Rechtsnorm begründet. Der BGH musste daher keine Stellung dazu nehmen, unter welchen Voraussetzungen eine die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung überschreitende Inhaltsbestimmung einer angewendeten Rechtsnorm Rechtsbeugung ist. Und mit der rechtsfehlerhaften Herstellung des Sachverhalts hat der BGH sich nur in einem Urteil am Rande befasst. Es ging dabei um den möglichen Verstoß gegen die Aufklärungspflicht in einem Bußgeldverfahren wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit, das der Richter in der Hauptverhandlung eingestellt hatte.64 Der 3. Strafsenat hat zwar nicht ausgeschlossen, dass die Verletzung der Aufklärungspflicht auch in einem solchen Verfahren Rechtsbeugung begründen kann. Die Gründe lassen allerdings deutlich die Besorgnis erkennen, dass entsprechende Vorwürfe die Unabhängigkeit richterlichen Entscheidens ernstlich beeinträchtigen könnten, wenn der Richter keinerlei persönliches Interesse am Verfahrensausgang habe. Dass der Vorwurf grober Rechtsfehler bei der Beweiserhebung oder Beweiswürdigung den BGH (und möglicherweise auch andere Gerichte65) nicht öfter beschäftigt hat, ist deshalb besonders bemerkens62 So zuletzt BGH v. 11. 12. 2012 – 3 StR 389/12: Bestätigung einer Verurteilung wegen Rechtsbeugung in 18 Fällen. 63 BGHSt 35, 230. 64 BGH NStZ 1988, 219. 65 Die einzige insoweit gefundene Entscheidung betrifft ein Klageerzwingungsverfahren, in dem der Anzeigeerstatter einem Verwaltungsrichter Manipulation der Sachverhaltsfeststellung vorgeworfen hatte. Das OLG Stuttgart Justiz 2004, 213 hat den Antrag als unzulässig verworfen.
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wert, weil ein Richter oder Staatsanwalt gerade durch die gezielte gesetzwidrige Steuerung der Erhebung oder Nichterhebung von Beweisen und durch eine rechtsfehlerhafte Würdigung der Beweislage besonders effektiv das Ergebnis erreichen kann, das er aus welchen Gründen auch immer realisieren will. Geht man wie hier davon aus, dass häufigstes Motiv für grobe Rechtsverstöße dasjenige der Entlastung von Arbeit ist, dann dürfte insbesondere die grob rechtsfehlerhafte Nichterhebung von Beweisen von erheblicher praktischer Bedeutung sein.
IV. Begründung und Kritik der Rechtsprechung des BGH Die folgende Auseinandersetzung mit der Interpretation des § 339 StGB durch den BGH konzentriert sich angesichts des spezifischen Erkenntnisinteresses dieses Beitrages auf die beiden folgenden Fragen: - Können die hohen Anforderungen überzeugend begründet werden, die der BGH an die objektive Schwere des Rechtsverstoßes stellt, wenn dieser allein, also gleichsam absolut, ohne Rückgriff auf die Erwägungen des Amtsträgers strafbar ist? - Welches Gewicht sollte der einer Partei der Rechtssache durch die Rechtsanwendung zugefügte Nachteil bei der Bewertung der Schwere des objektiven Rechtsverstoßes haben? Zur Beantwortung dieser Fragen werden zunächst die Gesichtspunkte erörtert, mit denen der BGH seine Interpretation des § 339 StGB begründet. Anschließend wird gefragt, ob der Rechtsprechung des BGH vielleicht weitere, unausgesprochene Erwägungen zugrunde liegen (unter 2.) und es werden Gesichtspunkte erörtert, die gegen die Interpretation des BGH sprechen könnten (unter 3.). 1. Die vom BGH für eine Restriktion des § 339 StGB angeführten Gesichtspunkte In den Urteilen des BGH finden sich drei verschiedene Begründungen für das restriktive Verständnis von Rechtsbeugung. Eine davon, die der 5. Strafsenat gegeben hat, lässt zwei unterschiedliche Deutungen zu, so dass sich der Judikatur des BGH vier Gesichtspunkte zur Rechtfertigung seiner Interpretation des § 339 StGB entnehmen lassen. Alle vier Erwägungen weisen in die gleiche Richtung, sind also miteinander kompatibel. Die im Schrifttum geäußerte Kritik an der Unklarheit der vom BGH gegebenen Begründung66 ist daher nur insoweit berechtigt als unklar bleibt, welches Gewicht der BGH den verschiedenen Argumenten beimisst.
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So z. B. MünchKommStGB-Uebele, Bd. 4, 2006, § 339 Rn. 32.
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a) Die Wahrung der Angemessenheit der Rechtsfolgen für den Amtsträger im Falle einer Verurteilung Dass die Rechtsfolgen einer Straftat im Verhältnis zu ihrem Unrechts- und Schuldgehalt nicht unverhältnismäßig sein dürfen, ergibt sich aus den verfassungsrechtlichen Grundsätzen des Übermaßverbots und des spezielleren Schuldüberschreitungsverbots. Der Verbrechenscharakter der Rechtsbeugung und die mit einer Verurteilung in der Regel kraft Gesetzes eintretende Beendigung des Richteroder Beamtenverhältnisses (vgl. nur § 24 Nr. 1 DRiG und § 41 Abs. 1 BBG) ist daher vom BGH mehrfach als Argument für eine Restriktion des Rechtsbeugungstatbestandes genannt worden.67 Auch Kritiker des BGH erkennen grundsätzlich an, dass die Angemessenheit der Rechtsfolgen einer Verurteilung nach § 339 StGB ein Problem darstellt und daher Anlass besteht, über eine einschränkende Auslegung dieses Tatbestandes nachzudenken.68 Bestritten wird im Schrifttum allerdings, dass die vom BGH zur Restriktion des § 339 StGB entwickelten Grundsätze und deren Konkretisierung in den Einzelfällen zur Harmonisierung von Unrechtsgehalt und Rechtsfolgen erforderlich sind. Rechtspolitisch ist vorgeschlagen worden, einen minder schweren Fall der Rechtsbeugung mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten Freiheitsstrafe einzuführen, um die in der Regel zwingende dienstrechtliche Konsequenz einer Verurteilung vermeiden zu können.69 b) Die Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit Als weiteren Grund für eine Restriktion des § 339 StGB nennt der BGH vereinzelt die Notwendigkeit, die sachliche Unabhängigkeit der Richter (Art. 97 GG, § 25 Abs. 1 DRiG, § 1 GVG) zu wahren.70 Auch im Schrifttum findet sich dieses Argument.71 Es hält einer Prüfung allerdings nicht stand. Die sachliche Unabhängigkeit des Richters ist nach der Rechtsprechung des BVerfG dann gewährleistet, wenn er seine Entscheidungen frei von Weisungen fällen kann. Dabei verbietet Art. 97 Abs. 1 GG jede vermeidbare auch mittelbare, subtile und psychologische Einflussnahme der Exekutive auf die Rechtsstellung des Richters.72 Die sachliche Unabhängigkeit schränkt aber nicht die Bindung des Richters an das Gesetz ein. Sie ist allerdings bei der Frage zu beachten, welchen Freiraum die Gesetzesbindung dem Richter bei seiner Tätigkeit belässt bzw. umgekehrt welchen Inhalt die an den Richter gerichtete Verhaltensnorm in einer bestimmten Verfahrens67
Siehe nur BGHSt 38, 383; BGH NStZ-RR 2010, 310. Fischer (Fn. 1), Rn. 15d; Krehl (Fn. 1), S. 410. 69 Bemmann/Seebode/Spendel (Fn. 1). 70 BGH NStZ 1988, 219; BGHSt 47, 105. 71 Kuhlen, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch, 3. Aufl. 2010, § 339 Rn. 56; Uebele (Fn. 66), § 339 Rn. 41; Witteck/Bange, in: Heintschel-Heinegg (Hrsg.), StGB, 2010, § 339 Rn. 12.3. 72 Vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 22. 6. 2006 – 2 BvR 957/05, juris Rn. 7 m.w.N. 68
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konstellation hat. Deshalb spielte der Gesichtspunkt der sachlichen Unabhängigkeit des Richters in der Strafsache Schill eine so große Rolle. Der 5. Strafsenat des BGH hatte in diesem Verfahren zu klären, in welcher Weise das strafprozessuale Beschleunigungsgebot die grundsätzliche Freiheit des Richters einschränkt zu entscheiden, welchem der von ihm zu erledigenden vielfältigen Dienstgeschäfte er den Vorrang vor anderen einräumt, welche Mittel er im Einzelfall für die Förderung einer Rechtssache geeignet hält und welche Gründlichkeit er der Sachbearbeitung widmet.73 Es ist allerdings einleuchtend, dass die sachliche Unabhängigkeit des Richters gefährdet wäre, wenn er damit rechnen müsste, dass eine rechtsfehlerhafte Entscheidung nicht nur aufgehoben, sondern er persönlich für vermeidbare Fehler auch straf- oder disziplinarrechtlich sanktioniert werden könnte. Aus diesem Grund ist es zutreffend, dass der Grundsatz der sachlichen Unabhängigkeit auch die Zulässigkeit von Sanktionen bei richterlichem Fehlverhalten begrenzt. Es besteht allerdings kein sachlicher Grund dafür, eine derartige Schutzwirkung des Art. 97 Abs. 1 GG auch auf die Fälle zu erstrecken, in denen der Richter das Recht grob fehlerhaft anwendet und dabei hinsichtlich des Rechtsverstoßes vorsätzlich bzw. nach der Rechtsprechung des BGH sogar wissentlich handelt.74 Denn dann würde der Grundsatz der sachlichen Unabhängigkeit zur Garantie der persönlichen Unverantwortlichkeit des Richters pervertiert werden. Die Argumente, mit denen der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit zur Begründung einer Restriktion des § 339 StGB bemüht wird, können daher nicht überzeugen. Das gilt zum einen für die Befürchtung, dass eine weite Auslegung des Tatbestandes bei den Amtsträgern des Gefühl der Rechtsunsicherheit erzeugen,75 ihre „wünschenswerte verantwortungs- und pflichtbewusste Entscheidungsfreude“ lähmen könne.76 Da nur grobe vorsätzliche Rechtsverstöße strafbar sind, könnte die Strafvorschrift doch nur bewirken, dass die Richter sorgfältig darauf achten, dass sie das Recht nicht in völlig unvertretbarer Weise anwenden, um nicht in den Verdacht der Rechtsbeugung zu geraten. Ein solcher Effekt wäre aber geradezu wünschenswert. Ein anderes in der Literatur angeführtes Argument geht von der empirischen Prämisse aus, dass die Rechtswirklichkeit zunehmend durch Pragmatismus, Betonung der Einzelfallgerechtigkeit und damit einhergehende Gewissheitsverluste geprägt sei und daher Abweichungen vom Gesetz, die die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung eindeutig überschritten, keine singulären Ausnahmen seien. Aus dieser Annahme wird dann die normative Folgerung gezogen, dass die Auslegung des § 339 StGB dieser Rechtswirklichkeit gerecht werden müsse.77 Diese Argumentati73
BGHSt 47, 105. So zutreffend bereits Scholderer (Fn. 17), S. 273. 75 Vgl. BGHSt 38, 363. 76 Böttcher, NStZ 2002, 147. 77 Kuhlen (Fn. 71), Rn. 59; ähnlich Heine, in: Schönke/Schröder (Hrsg.), Strafgesetzbuch, 28. Aufl. 2010, § 339 Rn. 5c. 74
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on ist bereits nicht schlüssig. Denn wenn über die gesetzmäßige Entscheidung im Einzelfall objektiv Ungewissheit besteht, dann kann die Entscheidung für eine der in Betracht kommenden Alternativen die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung nicht eindeutig überschreiten. Und zu einem pragmatischen Umgang mit dem Recht, womit wohl nur dessen Nichtbeachtung aus organisationsbezogenen Erwägungen und die Berücksichtigung extralegaler Umstände des Einzelfalles gemeint sein können, ermächtigt der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit sicherlich nicht. Ergänzend sei nur angemerkt, dass Gewissheitsverluste in der Rechtswirklichkeit wohl zumeist darauf beruhen dürften, dass die Amtsträger aufgrund des Erledigungsdrucks Entscheidungen ohne hinreichende Prüfung der Rechtslage treffen und darauf die Ungewissheit beruht, ob die Entscheidung sachlich richtig ist. Der Schutz der richterlichen Unabhängigkeit könnte nach alledem nur dann als Argument für eine Restriktion des § 339 StGB oder sogar für die Beseitigung dieser Strafvorschrift78 akzeptiert werden, wenn zu befürchten wäre, dass dieser Tatbestand zur grundlosen Sanktionierung missliebiger Richter missbraucht wird, oder wenn sogar die abstrakt-generelle Möglichkeit einer Überprüfung richterlichen Verhaltens in einem Strafverfahren als reale Gefahr für die sachliche Unabhängigkeit der Richter angesehen wird. Gegen die Gefahr eines Missbrauchs der Vorschrift aufgrund des Drucks der Öffentlichkeit nach missliebigen Entscheidungen79 oder aufgrund politischer Einflussnahme auf die Staatsanwaltschaft spricht jedoch bereits theoretisch der Umstand, dass es ja schließlich die Gerichte selbst sind, die darüber entscheiden, ob das Recht gebeugt worden ist.80 Und in empirischer Hinsicht sind keine Anzeichen für eine Missbrauchsgefahr ersichtlich. Wo örtliche Staatsanwaltschaften vereinzelt mit Anklagen gegen Strafrichter versucht haben, die angeblich unzureichende Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten als Rechtsbeugung zu kriminalisieren, sind sie auf den Widerstand der Gerichte gestoßen und in der Regel gescheitert.81 c) Die Aufrechterhaltung der Bestandskraft gerichtlicher Entscheidungen Für den 5. Strafsenat (jedenfalls in seiner Besetzung im Jahr 1995) wird die Restriktion des § 339 StGB vorrangig weder durch das Ziel einer Ausgrenzung nicht 78
So grundsätzlich Hoenigs (Fn. 6), S. 146 ff., nach der § 339 StGB keine Existenzberechtigung hat. Dagegen befürwortet Erb, in: FS Küper, 2007, S. 35 ff., eine Ausweitung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Richters auf einschneidende Strafverfolgungsmaßnahmen gegen Unschuldige, die auf besonders grober Verletzung der beruflichen Sorgfaltspflichten eines Richters beruhen. Zustimmend Mitsch, StraFo 2009, 92. 79 Die vorsichtige Vermutung von Scheffler/Matthies, in: FS Seebode, 2008, S. 329, diese Gefahr könne für die restriktive Interpretation durch den BGH entscheidend sein, erscheint wenig plausibel. 80 Zutreffend Scholderer (Fn. 17), S. 274. 81 Vgl. dazu etwa BGHSt 38, 381; 44, 258; NStZ 1988, 218; NStZ-RR 2010, 310; OLG Karlsruhe NJW 2004, 1471.
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hinreichend strafwürdiger Sachverhalte noch durch dasjenige des Schutzes der richterlichen Unabhängigkeit gerechtfertigt. Ausschlaggebend ist für ihn vielmehr das „Interesse an Rechtssicherheit“. Gesteigerte Anforderungen in objektiver Hinsicht an den Rechtsbeugungstatbestand seien ein notwendiges Korrektiv gegen die andernfalls drohende Konsequenz, dass Gerichtsentscheidungen allzu häufig nochmals wegen des Vorwurfs der Rechtsbeugung durch die Staatsanwaltschaft und gegebenenfalls auch durch das Gericht in der Sache überprüft werden müssten.82 Diese Äußerung des Senats lässt zwei Deutungen zu (zur zweiten vgl. unter d]). Die Verwendung des Begriffes Rechtssicherheit spricht dafür, dass es dem Senat um die Bestandskraft der gerichtlichen Entscheidungen geht, mögen diese auch auf grob fehlerhafter Rechtsanwendung beruhen. Das Urteil enthält allerdings keine Begründung dafür, warum auch bei grobem vorsätzlichem Justizunrecht der Rechtssicherheit der Vorrang vor der materiellen Gerechtigkeit zukommen soll. Eine überzeugende Begründung dafür erscheint auch nicht möglich. Maßgebliches Kriterium für die Abstimmung des Unrechts- und Schuldgehalts einer Strafrechtsnorm mit deren Rechtsfolgen ist die (absolute oder relative) Strafwürdigkeit des potentiell tatbestandsmäßigen Verhaltens. Der Unrechts- und Schuldgehalt vorsätzlicher grob fehlerhafter Rechtsanwendung ist aber ersichtlich davon unabhängig, ob die vom Amtsträger getroffene Entscheidung später aufgehoben werden oder die benachteiligte Partei der Rechtssache Schadensersatz verlangen kann. Die Weichenstellung für oder gegen eine etwaige Schadenskompensation ist keine Aufgabe der Interpretation einer Strafrechtsnorm. Soweit ersichtlich ist auch noch niemand auf den Gedanken gekommen, einen Straftatbestand im Hinblick darauf weit oder eng auszulegen, ob ein Schadensersatzanspruch gemäß § 823 Abs. 2 BGB wegen Verletzung eines Schutzgesetzes sachgerecht erscheint oder nicht. d) Die Entlastung der Strafjustiz Im Schrifttum wird die Äußerung des 5. Strafsenats daher nicht ohne Grund dahingehend verstanden, dass das von diesem als vorrangig bezeichnete Ziel einer Restriktion des § 339 StGB schlicht darin besteht, die Strafverfolgungsorgane bei der Bearbeitung von Strafanzeigen wegen Rechtsbeugung zu entlasten.83 Für diese Deutung spricht auch, dass die Staatsanwaltschaften und Gerichte im Zuständigkeitsbereich des 5. Strafsenats durch die Vielzahl der Verfahren wegen Rechtsbeugung durch DDR-Amtsträger besonders belastet waren. Gegen eine solche Begründung der Restriktion ist eingewendet worden, dieses Ziel könne durch eine Verschärfung der tatbestandlichen Voraussetzungen einer Rechtsbeugung gar nicht erreicht werden, weil die durch einen tatsächlichen oder vermeintlichen Rechtsverstoß Betroffenen sich durch subtile dogmatische Abgrenzungen nicht von einer Strafanzeige ab82 BGHSt 41, 251 (betr. Amtsträger der DDR); im Anschluss daran auch BGH NStZ-RR 2010, 310, und OLG Karlsruhe (Fn. 81). 83 Fischer (Fn. 1), Rn. 15 b; Lehmann (Fn. 45); Sowada (Fn. 1), S. 182.
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halten ließen.84 Das ist sicherlich richtig, berücksichtigt aber nicht, dass die Bearbeitung von Strafanzeigen wegen Rechtsbeugung und die Einstellung von Verfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO umso weniger Arbeit macht, je enger § 339 StGB ausgelegt wird.85 Entscheidend ist daher die Frage, ob die Entlastung der Strafjustiz ein legitimer Grund für eine restriktive Interpretation des § 339 StGB ist. Diese Frage ist eindeutig zu verneinen.86 Denn diese Erwägung müsste verallgemeinerungsfähig sein, also konsequenterweise für die Interpretation aller Straftatbestände gelten, deren Implementation erfahrungsgemäß viel Arbeit macht, wie z. B. Wirtschafts- und Betäubungsmittelstraftaten. Das aber hat noch niemand ernsthaft vorgeschlagen. Die Unzulässigkeit des Ziels einer Arbeitsentlastung der Strafjustiz bei der Interpretation des § 339 StGB schließt allerdings nicht aus, dass arbeitsökonomische Erwägungen bei den Staatsanwaltschaften eine Ursache dafür sind, dass Strafanzeigen Privater wegen Rechtsbeugung so gut wie nie zu einer Anklage führen (dazu IV.). 2. Unausgesprochene Gründe des BGH? Die rechtssoziologische Unterscheidung zwischen Darstellungs- und Herstellungsebene führt zur Frage, ob die Interpretation von Rechtsnormen tatsächlich (nur) auf denjenigen Erwägungen beruht, mit denen sie begründet wird. Bei der Rechtsbeugung liegt diese Frage besonders nahe, denn die Justiz als Institution und ihr Personal sind von der Weite oder Enge des Anwendungsbereichs dieses Tatbestandes in gewisser Weise selbst betroffen. a) Die Wahrung des Ansehens der Justiz Ein mögliches ungenanntes Motiv für die Restriktion des § 339 StGB könnte darin bestehen, Verurteilungen wegen Rechtsbeugung zu einer seltenen Ausnahme zu machen, damit das Vertrauen der Gesellschaft in die Justiz nicht beeinträchtigt wird, sondern – wie Scholderer es ausgedrückt hat – der Mythos des untadeligen Richters und Staatsanwalts im demokratischen Rechtsstaat aufrechterhalten bleibt, dem man denjenigen des bösen Richters in Diktaturen gegenüberstellen kann.87 Es dürfte kaum zu bestreiten sein, dass die für die Justiz Verantwortlichen und in der Regel auch die übrigen in ihr tätigen Individuen an einem positiven Image dieser Institution und ihrer Tätigkeit interessiert sind und dass daher keine große Neigung be-
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Fischer (Fn. 83). So zutreffend Lehmann (Fn. 45). 86 So entschieden auch SK StGB-Stein/Rudolphi (Fn. 1); Sowada (Fn. 1), S. 182. 87 Scholderer (Fn. 17), S. 613 ff., mit gewichtigen Ausführungen zur „Entmythologisierung und Demokratisierung“ der Rechtsbeugung; zustimmend Kargl, in: Herzog/Neumann (Hrsg.), Das Dilemma des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2009, S. 58. 85
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steht, Fehler und Mängel öffentlich zu machen, die dem Ansehen der Justiz Schaden könnten. Im Schrifttum wird behauptet, dass eine solche Strategie für das damit verfolgte Ziel dysfunktional sei, weil das Ansehen der Justiz weniger durch Verstöße bei der Rechtsanwendung als dadurch beeinträchtigt werde, dass grobe vorsätzliche Rechtsverletzungen nicht sanktioniert werden. Aus dieser empirischen Annahme wird dann der normative Schluss gezogen, dass § 339 StGB nicht unangemessen restriktiv interpretiert werden dürfe.88 Die Richtigkeit dieser empirischen Voraussetzung ist allerdings mehr als zweifelhaft. Sie setzt nämlich voraus, dass die Nichtverfolgung grober vorsätzlicher Rechtsverstöße in der Öffentlichkeit auch tatsächlich bekannt wird. Das aber ist nur dann der Fall, wenn die Öffentlichkeit auch von der inkriminierbaren Rechtsverletzung selbst erfährt. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist aber sehr gering, wenn es sich nicht um besonders spektakuläre Vorfälle handelt, sondern der vorsätzliche Rechtsverstoß z. B. in einem für die Allgemeinheit unbedeutenden Zivilprozess durch geschickte Manipulation der Sachverhaltsfeststellung erfolgt. Unter dem empirischen Aspekt der Tauglichkeit für die Aufrechterhaltung des Vertrauens in die Justiz ist daher eine Strategie des Übersehens oder Leugnens schwerer Rechtsverstöße vermutlich effektiver als deren Aufdeckung und Sanktionierung. Dass aber in normativer Hinsicht nicht der Anschein ordnungsgemäßer Amtsführung staatlicher Organe, sondern deren reale Beschaffenheit zählt und daher die Aufrechterhaltung eines schönen Scheins kein legitimes Ziel einer Norminterpretation sein kann, hat die öffentliche Diskussion um die Pannen und Verschleierungsversuche der Sicherheitsorgane im Zusammenhang mit den Morden der NSU kürzlich eindeutig klargestellt. b) Kollegiale Rücksichtnahme In der Kritik an der Rechtsprechung des BGH wird gelegentlich mehr oder weniger deutlich die Möglichkeit angesprochen, dass diese letztlich auf dem „Krähenprinzip“ beruht, nach dem keine Krähe einer anderen ein Auge aushackt.89 Die gemeinsame berufliche Sozialisation und die Zugehörigkeit zur selben oder einer ähnlichen Berufsgruppe fördern sicherlich kollektive Zusammengehörigkeitsgefühle. Dass diese auch innerhalb der Justiz dazu führen, gegenüber Verfehlungen von Kollegen besonders nachsichtig zu reagieren, ist zwar plausibel, wissenschaftlich aber nicht hinreichend belegt.90 Verharmlosend erscheint allerdings die Behauptung, dass gerade im unmittelbaren Kollegenkreis die Empörung über gravierende Rechtsverstöße besonders groß sei und sich die Empörung über ein als unakzeptabel empfundenes Verhalten eines Kollegen vor Ort zunächst einmal in einem Verfahren
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So wohl Marsch (Fn. 15), S. 210. Spendel, NJW 1996, 809 vgl. aber einschränkend Sowada (Fn. 1), S. 179 und 180. 90 Lautmann (Fn. 16), S. 210 ff., hat in seiner Beobachtungsstudie einige Anzeichen von „Korpsgeist“ festgestellt. 89
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wegen Rechtsbeugung Ausdruck verschaffe.91 In normativer Hinsicht ist die Frage nach dem Ob und dem Ausmaß kollegialer Rücksichtnahme in der Justiz allerdings irrelevant. Denn mit Sicherheit kann die berufliche Nähe zwischen dem potentiellen Täter und dem Strafverfolger keine restriktive Interpretation der einschlägigen Strafvorschrift rechtfertigen. 3. Gegen die Rechtsprechung des BGH sprechende Erwägungen a) Das Gewicht des Erfolgsunrechts bei der Bewertung der objektiven Tatschwere Dass die zivilrechtlichen und zivilprozessualen Folgen einer Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung für die Interpretation dieses Straftatbestandes irrelevant sind (dazu oben III.1.c]), schließt nicht aus, dass der durch die fehlerhafte Rechtsanwendung bei einer der Parteien entstandene Schaden als Erfolgsunrecht bei der Schwerebewertung stärker gewichtet wird, als dies nach der Rechtsprechung des BGH bei seiner tendenziellen Verlagerung der Bewertung von der Tat zum Täter möglicherweise der Fall ist. Für eine solche Aufwertung des Opferinteresses kann man sich allerdings aus logischen Gründen nicht unmittelbar auf die zunehmende Bedeutung berufen, die das Wiedergutmachungsinteresse der Opfer von Straftaten in den letzten Jahrzehnten im Strafrecht gewonnen hat. Denn in der vorliegenden Frage geht es ja darum, in welchem Maße die Größe des entstandenen Schadens, aus dem sich das Restitutionsinteresse der Partei ergibt, überhaupt erst zur Verwirklichung des Straftatbestandes beiträgt, der Partei also erst den Status eines Opfers von Rechtsbeugung verschafft. Dennoch erscheint eine Ausstrahlung der zunehmenden Opferorientierung im Strafrecht auf den Stellenwert des Erfolgsunrechts bei der Bewertung der Schwere einer objektiven Rechtsverletzung naheliegend und auch sachgerecht. Im Schrifttum spielen die Belange der Opfer vorsätzlichen Justizunrechts allerdings kaum eine Rolle, sondern es wird ganz überwiegend der institutionelle Aspekt in den Mittelpunkt gestellt. Das zeigt sich insbesondere bei der Bestimmung des durch § 339 StGB geschützten Rechtsguts. Nach h.M. ist geschütztes Rechtsgut des § 339 StGB nur die Rechtspflege in ihrer speziellen Aufgabe, richtiges Recht zu sprechen. Die Wahrung der Interessen der durch den Missbrauch staatlicher Gewalt betroffenen Partei soll nur ein Schutzreflex der Norm sein.92 Die Begründung dafür ist allerdings nicht überzeugend. Die Behauptung, durch eine Rechtsbeugung könne eine Partei der Rechtssache einen Vorteil erlangen, ohne dass zugleich die andere benachteiligt wird, träfe nur dann zu, wenn es Rechtssachen gäbe, in denen nicht über widerstreitende Interessen entschieden würde. Das aber wäre nur dann der Fall, wenn man als Partei i. S. des § 339 StGB nur private Rechtssubjekte ansehen, also 91
So aber Böttcher (Fn. 76). So u. a. Kuhlen (Fn. 71), Rn. 15; Heine, in: Schönke/Schröder (Fn. 77), Rn. 1; SK StGBStein/Rudolphi (Fn. 1), Rn. 2. 92
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Nachteile, die öffentliche Interessen betreffen, als irrelevant bewerten würde. Was für eine solche Einschränkung sprechen sollte, ist aber nicht ersichtlich. Zu Recht gehen daher der BGH und auch die Literatur als selbstverständlich davon aus, dass auch der Staat Partei i. S. des § 339 StGB ist und ihm z. B. durch den rechtswidrigen Verzicht auf die Durchsetzung seiner Strafberechtigung ein Nachteil zugefügt wird. Dann aber ist nicht einzusehen, warum die Interessen privater Rechtssubjekte als Opfer von Justizunrecht nicht jedenfalls als ein mitgeschütztes Rechtsgut anzuerkennen sind. Denn die Aufgabe der Rechtsprechung, richtiges Recht zu sprechen, besteht doch gerade darin, der im Recht befindlichen Partei ihr Recht zuzusprechen. Überzeugend ist daher die Mindermeinung im Schrifttum, die die Wahrung des Interesses der Parteien an einer rechtmäßigen Entscheidung als geschütztes Rechtsgut neben den Schutz der Rechtspflege stellt.93 Gestützt wird diese Bewertung dadurch, dass die Partei der Rechtssache, deren Stellung durch Rechtsbeugung verschlechtert worden sein kann, Verletzter i. S. des § 172 Abs. 2 S. 1 StPO ist.94 b) Der Verlust an generalpräventiver Wirksamkeit des § 339 StGB Je stärker der Anwendungsbereich eines Straftatbestandes eingeschränkt wird, desto geringer sind die generalpräventiven Wirkungen, die von dieser Strafvorschrift zumindest theoretisch erwartet werden können. Bei der Rechtsbeugung ist ein solcher Effekt deshalb besonders problematisch, weil unterhalb der Schwelle der Rechtsbeugung praktisch keinerlei formelle Sanktionsmöglichkeit für grobe Rechtsverstöße bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache besteht. Dienstrechtliche Maßnahmen scheiden in solchen Fällen aus, weil die Richterdienstgerichte unter Berufung auf die richterliche Unabhängigkeit für dienstrechtliche Maßnahmen der Sache nach den Nachweis der Rechtsbeugung verlangen.95 Mit den Worten eines für Beschwerden gegen die Einstellung von Ermittlungsverfahren wegen Rechtsbeugung befassten Oberstaatsanwalts: Die dienstrechtliche Bewertung ist eine Blaupause der strafrechtlichen. Den Gerichtspräsidenten bleibt daher nichts übrig, als zu informellen Sanktionen zu greifen, wenn ein Richter durch grobe Mängel in seiner Amtsführung auffällig geworden ist, ohne dass die Voraussetzungen der Rechtsbeugung nachweisbar erscheinen. Als solche Sanktionen kommen eine faktische Beförderungssperre oder mittels Änderung des Geschäftsverteilungsplans das Abschieben auf einen Geschäftsbereich in Betracht, in dem der Richter so wenig Schaden wie möglich verursachen kann.
93 So mit nachdrücklicher Betonung der Bedeutung des „Bürgerschutzes vor Justizgewalt“ Scholderer (Fn. 17), S. 113 f., 302 ff.; ebenso Kargl, in: FS-Hassemer, 2010, S. 866 ff.; Kudlich, in: Satzger/Schmitt/Widmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch-Kommentar, 2009, § 339 Rn. 4; LK StGB-Hilgendorf, 12. Aufl. 2008, § 339 Rn. 6. 94 OLG Karlsruhe NStZ-RR 2001, 113; vgl. auch die erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Verwerfung eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung durch BVerfGK 18, 83 ff. 95 Vgl. Joeres, DRiZ 2005, 322.
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4. Zusammenfassende Bewertung Bilanziert man die vorangegangenen Überlegungen, so verbleibt als einziger, allerdings gewichtiger legitimer Gesichtspunkt für eine restriktive Interpretation des § 339 StGB die in der Regel zwingend vorgegebene Schwere insbesondere der dienstrechtlichen Folgen für den Verurteilten. Jede Einschränkung des Anwendungsbereichs der Strafvorschrift führt allerdings dazu, dass in gleichem Maße die Möglichkeiten der Opfer eines krassen vorsätzlichen Rechtsverstoßes verringert werden, einen Ausgleich für den erlittenen materiellen Schaden zu erlangen. Es handelt sich insoweit bei der Interpretation des § 339 StGB also um ein Nullsummenspiel zwischen den Interessen des (potentiellen) Täters und denen des (potentiellen) Opfers von Justizunrecht. Hinzu kommt als Argument gegen eine zu enge Interpretation der Strafvorschrift ein möglicher Verlust an generalpräventiver Wirkung. Die Frage, was aus diesen Erwägungen für die Interpretation des § 339 StGB folgt, kann nicht einfach damit beantwortet werden, dass der Rechtsprechung des BGH oder aber der davon abweichenden weiteren Auslegung des Tatbestandes durch einen Teil der Literatur zu folgen ist. Dem BGH ist darin zuzustimmen, dass nicht jede vorsätzliche grob fehlerhafte Rechtsanwendung eine Rechtsbeugung darstellt, sondern dass diese wegen der Folgen einer Verurteilung für den Amtsträger eine gewisse Schwere aufweisen muss. Bei der Schwerebewertung ist allerdings entscheidend auf die objektive Schwere des groben Rechtsverstoßes abzustellen und eine für die Strafbarkeit ausreichende Schwere ist stets dann zu bejahen, wenn durch die nicht einmal diskussionswürdige Rechtsanwendung einer Partei des Rechtsstreits ein nicht unerheblicher, wenn auch nur wirtschaftlicher Nachteil zugefügt worden ist. In einem solchen Fall ist die verletzte Rechtsnorm auch regelmäßig für ein rechtsstaatliches Prozessieren von wesentlicher Bedeutung. Dass der Amtsträger aus organisations- oder sachbezogenen Erwägungen gehandelt hat, kann das Unrecht der Rechtsbeugung in solchen Fällen nicht ausschließen. Die zu beobachtende Tendenz des BGH, die Anforderungen an die objektive Schwere eines Rechtsverstoßes für die Annahme von Rechtsbeugung zu erhöhen und dies vordergründig in gewissem Umfang durch die Subjektivierung des Tatbestandes zu kompensieren, ist abzulehnen. Dadurch werden zum einen Opferbelange vernachlässigt und zum anderen wird die Gefahr begründet, dass letztlich nicht ein bestimmter Rechtsverstoß, sondern die berufliche Einstellung, Tätigkeit und Bewährung des Amtsträgers über die Strafbarkeit entscheiden. Das aber steht im Widerspruch zu den Grundprinzipien eines Tatstrafrechts.
V. Faktische Entkriminalisierung von Rechtsbeugung durch die Verfolgungspraxis der Staatsanwaltschaften? Wie bereits erwähnt, liegen keine empirischen Studien über das Schicksal von Strafanzeigen wegen Rechtsbeugung vor. Es kann daher abschließend nur versucht
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werden, die Vermutung plausibel zu machen, dass die Staatsanwaltschaften solche Anzeigen Privater nicht mit der gebotenen Gründlichkeit bearbeiten, sondern zu schnell bereit sind, entsprechende Verfahren nach § 170 Abs. 2 StPO einzustellen. Dass die Staatsanwaltschaften angesichts fehlender Ressourcen ganz allgemein Ermittlungsverfahren nicht selten auch dann gemäß § 170 Abs. 2 StPO oder (zum Teil austauschbar) § 153 Abs. 1 StPO einstellen, wenn weitere Ermittlungen oder auch nur eine gründlichere Prüfung möglicherweise zur Anklagereife geführt hätten, ist kaum zu bestreiten. Ein Indiz dafür, dass diese Tendenz zur faktischen Entkriminalisierung bei Strafanzeigen Privater wegen Rechtsbeugung besondere Bedeutung hat, ist die bereits dargestellte Zusammensetzung der Anklagevorwürfe in den Strafsachen, zu denen veröffentlichte Entscheidungen des BGH vorliegen (dazu II.2.a]): - In keinem der Verfahren ging es um den Vorwurf, dass ein Gericht durch grobe Rechtsverstöße eine Sachentscheidung zum Nachteil einer Partei getroffen und diese dadurch einen Vermögensschaden erlitten hatte. Für eine derartige Konstellation habe ich im sonstigen mir zugänglichen Material auch nur einen einzigen Fall gefunden und auch in diesem hatte die Staatsanwaltschaft keine Anklage erhoben.96 Dabei ist zu vermuten, dass vielen Strafanzeigen Privater ein verlorener Rechtsstreit mit finanziellen Einbußen zugrunde liegt. - In zehn der 14 ausgewerteten Entscheidungen des BGH wurde das Verfahren eindeutig von Amts wegen eingeleitet und zwar mit Ausnahme von zwei Fällen wegen angeblicher Rechtsbeugung im Straf- und Bußgeldverfahren. Nur in zwei Verfahren kann sicher davon ausgegangen werden, dass eine (von Ordnungshaft bzw. Untersuchungshaft betroffene) Privatperson Strafanzeige erstattet hatte. Soweit es sich um Strafverfahren gegen Richter handelte, lag diesen anscheinend ganz überwiegend ein Konflikt zwischen der örtlichen Staatsanwaltschaft und dem Richter zugrunde. Die Begründung der Einstellung eines Ermittlungsverfahrens wegen Rechtsbeugung gemäß § 170 Abs. 2 StPO fällt der Staatsanwaltschaft angesichts der engen und zudem unbestimmten Definition der Voraussetzungen dieses Tatbestandes durch den BGH nicht schwer. Eine Einstellung kann zudem besonders arbeitsökonomisch damit begründet werden, dass der Staatsanwalt die Frage, ob die Entscheidung des Gerichts auf groben Rechtsfehlern beruht, mit der Begründung offen lässt, dass dem Richter jedenfalls kein Vorsatz nachzuweisen sei. Damit wird die völlige Unvertretbarkeit der Rechtsanwendung als das zumeist wichtigste Indiz für den Vorsatz schlicht ignoriert. Dabei hatte der 5. Strafsenat des BGH die erhöhten Anforderungen an die objektive Schwere des Rechtsverstoßes gerade auch damit begründet, dass der subjektive Tatbestand angesichts der „besonderen Rechtskundigkeit“ der Beschuldigten keine taugliche Begrenzung der Strafbarkeit leiste.97 96
Nach Auffassung des Anzeigenden hatte ein Richter am Verwaltungsgericht das Recht durch Sachverhaltsverfälschung gebeugt. Das OLG Stuttgart Justiz 2004, 214 hat den Antrag auf gerichtliche Entscheidung wegen unzureichenden Vortrags als unzulässig verworfen. 97 BGHSt 41, 251.
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In der Rechtswirklichkeit muss das tatsächliche oder vermeintliche Opfer vorsätzlichen groben Justizunrechts also nahezu sicher damit rechnen, dass seine Strafanzeige wegen Rechtsbeugung erfolglos bleibt. Ausnahmen von der Regel sind dann möglich, wenn der Anzeigeerstatter durch einen groben Rechtsverstoß in besonders gravierender Weise betroffen wurde, etwa durch die Verbüßung von Untersuchungshaft. Dann kann sogar der extreme Ausnahmefall eintreten, dass ein Klageerzwingungsverfahren Erfolg hat.98 Anzeigen wegen Rechtsbeugung haben dagegen anscheinend nicht selten einen Bumerangeffekt, d. h. der Anzeigende wird zum Beschuldigten eines durch Strafanzeige und Strafantrag des Gerichtspräsidenten eingeleiteten Ermittlungsverfahrens wegen eines Ehrverletzungsdelikts. Das kommt erstaunlicherweise trotz Art. 5 Abs. 1 GG, § 193 StGB offensichtlich selbst dann vor, wenn die Strafanzeige in sachlicher Form die tatsächlichen oder angeblichen Rechtsfehler der gerichtlichen Entscheidung darstellt und daraus den nicht abwegigen Schluss zieht, es liege Rechtsbeugung vor.99 Wenn die Vermutung zutreffen sollte, dass die Staatsanwaltschaften über die Rechtsprechung des BGH hinausgehend durch ihre Behandlung der Strafanzeigen privater Anzeigeerstatter Rechtsbeugung faktisch entkriminalisieren, dann unterlaufen sie damit das dem § 339 StGB und den daran anschließenden Regelungen der Prozessordnungen zugrundeliegende Konzept, die Strafjustiz zu der Institution zu machen, die die gesamte Justiz auf schwerste Rechtsverstöße hin zu kontrollieren hat. Dass durch diese Aufgabe an die Staatsanwaltschaften sowohl hinsichtlich der fachlichen Kompetenz wie auch der verfügbaren Personalressourcen ganz erhebliche Anforderungen gestellt werden, ist nicht zu bestreiten. Beides rechtfertigt es allerdings nicht, den groben Missbrauch staatlicher Gewalt bei der Leitung oder Entscheidung von Rechtssachen zu ignorieren.
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So im Verfahren BGH 5 StR 555/09. So z. B. in dem durch Strafanzeige der Präsidentin des KG eingeleiteten und von der Staatsanwaltschaft Berlin gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellten Ermittlungsverfahren 281 Js 4311/11. 99
Die innere Sicherheit: Auf der Suche nach der Deutungshoheit Von Roland Hefendehl
I. Hinführung zum Thema* Das Bundesverfassungsgericht hat eine Menge zu tun. So viel, dass man sich bisweilen wundert, mit welcher Akribie es dem Gesetzgeber bis hinter das Komma vorrechnet, wie hoch ein steuerlicher Kinderfreibetrag zu sein hat1 oder ab welcher Flächengrößenzahl einer Gaststätte eine Ausnahme vom Rauchverbot als Zwischenregelung verhältnismäßig ist.2 Damit haben wir aber nur die eine Seite der Medaille in den Blick genommen. Die andere ist – in gleicher Weise auf den ersten Blick wundersam – dadurch gekennzeichnet, dass sich die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts häufig in beachtlicher Weise von der konkreten Sachfrage entfernen und abstrakt-generelle Maßstäbe mit allgemeiner, weitreichender Wirkung für die Zukunft proklamieren. Beide Seiten der Medaille sind seit langem Gegenstand intensiver verfassungsrechtlicher Diskussionen. Beim hier im Zentrum der Abhandlung stehenden Politikfeld der inneren Sicherheit erscheint der zweite Aspekt von besonderer Brisanz. Denn das Bundesverfassungsgericht habe sich – so die Kritik von Teilen der Literatur – mittlerweile zu einem korrigierenden Gesetzgeber aufgeschwungen.3 Dies betrifft insbesondere den Bereich operativ-präventiver polizeilicher Tätigkeit, bei dem wir eine nicht unerhebliche Anzahl korrigierender Entscheidungen ausmachen. Weil sich allerdings auch die Strafverfolgung seit längerer Zeit in einem Prozess der Verpolizeilichung bzw. Vernachrichtendienstlichung4 befindet, der sich durch ein Ansetzen fernab konkreter Gefahrenmomente und eine Ausrichtung auf unspezifische Informationen auszeichnet,5 ist auch der Bereich der präventiv-polizeilichen Tätigkeit in unsere Überlegungen einzubeziehen. Jürgen Wolter, dem dieser Beitrag herzlichst * Für vorbereitende Unterstützung bei der Erstellung dieses Beitrags danke ich meinem Assistenten, Herrn Dr. Jens Puschke LL.M., für Materialrecherchen Frau Jutta Bader und Herrn Julian Sigmund herzlich. 1 BVerfGE 99, 246, 265 f. 2 BVerfGE 121, 317, 376. 3 Vgl. hierzu im Einzelnen unten II. 2. 4 Vgl. zu diesem Begriff Hefendehl, GA 2011, 209, 218. 5 Hefendehl, GA 2011, 209, 214.
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gewidmet ist, steht wie kein anderer für eine ebenso subtile wie differenzierte Analyse auch dieser Schnittfeldmaterie.6 Dass gerade der Gegenstand der inneren Sicherheit in besonderer Weise in Gefahr steht, modelliert zu werden, verwundert dabei nicht. Zu schillernd ist sein Substrat, zu vage sind die ausgemachten Bedrohungsszenarien. Zunächst soll die These einer so bezeichneten Entgrenzung des Bundesverfassungsgerichts dargestellt werden, um sie sodann an Entscheidungen aus dem Politikfeld der inneren Sicherheit zu überprüfen. Als Vergleichsgruppe wird hierbei in knapper Form das materielle Strafrecht fungieren, das etwas überraschend eine Art Artenschutz zu genießen scheint. Aus dieser Analyse sollen sowohl für den präventiven als auch für den repressiven Bereich Schlussfolgerungen gezogen werden. Für letzteren können insbesondere die Diskussion zur Strafverfolgung im Internet des letztjährigen Deutschen Juristentags und der Vorschlag des Referenten Armin Nack herangezogen werden, wonach technikunabhängige (flexible) Regelungen vorzuziehen seien, die sich – kongruent mit einzelnen Prüfungsmaßstäben des Bundesverfassungsgerichts – an Art und Schwere des Grundrechtseingriffs orientierten.7
II. Das Politikfeld der inneren Sicherheit als Prüfstein einer Entgrenzung 1. Der Gegenstand a) Auf der Suche nach dem Gegenstand der Untersuchung, der inneren Sicherheit, kann man sich trotz mittlerweile etlicher Abhandlungen über die Sicherheitsgesellschaft8 leicht verlaufen. Denn gerade auch der in der Beitragsüberschrift angedeutete Kampf um die Deutungshoheit zeigt: Sicherheit wie Sicherheitsprobleme sind nicht etwa als ein vorfindlicher Zustand, sondern als das Ergebnis eines sozialen Prozesses zu interpretieren. Mit anderen Worten dient die Sicherheit in dieser Interpretation als ein Konstrukt der Herrschaftsabsicherung.9
6 Wolter, FS Roxin, 2011, S. 1245 ff., wo der Niedergang von Gesetzgebung und Rechtsprechung im Strafverfahrensrecht schonungslos aufgedeckt wird; ders., GA 2007, 183 ff.; ders., FS Rieß, 2002, S. 633 ff.; ders., ZStW 107 (1995), 793 ff.; ders., StV 1989, 358 ff.; ders., GA 1988, 49 ff., 129 ff.; ferner die grundlegenden Kommentierungen der §§ 100a101 StPO im Systematischen Kommentar (SK-StPO II, 4. Aufl. 2010). 7 Vgl. die entsprechenden Beschlüsse: http://www.djt-net.de/beschluesse/beschluesse.pdf [11. 4. 2013]. 8 Singelnstein/Stolle, Die Sicherheitsgesellschaft, 3. Aufl. 2012; Albrecht, Der Weg in die Sicherheitsgesellschaft. Auf der Suche nach staatskritischen Absolutheitsregeln, 2010; Groenemeyer (Hrsg.), Wege der Sicherheitsgesellschaft: Gesellschaftliche Transformationen der Konstruktion und Regulierung innerer Unsicherheiten, 2010. 9 Hefendehl, NK 2013, 19, 22.
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Was den jeweiligen rechtspolitischen Diskurs anbelangt, lassen sich unabhängig davon, ob die Stoßrichtung eine primär präventive oder primär repressive ist, zwei große Gruppen unterscheiden: Zum einen erweist sich eine ausgemachte Bedrohungslage für die innere Sicherheit als Ausgangspunkt für Gesetze mit persönlichkeitssensiblen Eingriffsmaßnahmen, zum anderen sind es erweiterte technische Optionen, die den Gesetzgeber tätig werden lassen. In die erste Gruppe fällt der sog. Große Lauschangriff nach § 100c StPO.10 Ausgangspunkt der Diskussion um weitere Einschränkungsmöglichkeiten des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung war die über die Politik forcierte Sichtweise, im Kampf gegen die sog. organisierte Kriminalität nicht mehr hinreichend gewappnet zu sein.11 Ein ähnlicher Anlass war bei der Rasterfahndung zu konstatieren:12 In Reaktion auf den 11. September 2001 hatten innerhalb weniger Wochen diejenigen Länder mit Gesetzen zur polizeilichen Rasterfahndung nachgelegt, die bis dahin über keine entsprechenden Rechtsgrundlagen verfügten.13 Auch die Telekommunikationsüberwachung in Niedersachsen14 fügt sich in die Reihe der Gesetze ein, die eine Ausweitung der Befugnisse der Polizei in Fällen der Verfolgungsvorsorge zum Gegenstand hatten. Im Hinblick auf die Bedrohungen durch den islamistischen Terrorismus sei eine Ausweitung der Eingriffsbefugnisse von Strafverfolgungs- und Gefahrenabwehrbehörden dringend geboten.15 Nicht anders stand bei der „Online-Durchsuchung“16 und der Vorratsdatenspeicherung17 der Gedanke eines vorgeblich notwendigen Vorfeldschutzes Pate, verbunden allerdings mit dem zweiten Aspekt, der Fortentwicklung der technischen Möglichkeiten. Insbesondere in schweren Fällen, wie der sog. organisierten Kriminalität und dem internationalen Terrorismus, müsse man auf erweiterte technische Möglichkeiten zurückgreifen können.18 Hierauf wurde ferner bei der Installation des IMSICatchers19 bzw. der KfZ-Kennzeichen-Erfassung20 maßgeblich abgestellt.21 b) Bei einem Blick auf die praktische Relevanz der vom Bundesverfassungsgericht überprüften Gesetze bzw. Umsetzungsakte zeigen sich die Wirkungen einer der10
BVerfGE 109, 279 ff. Vgl. die (kritischen) Nachweise bei Meyer-Wieck, Der Große Lauschangriff, 2005, S. 10. 12 BVerfGE 115, 320 ff. 13 Vgl. Schlögel, Das Bundesverfassungsgericht im Politikfeld Innere Sicherheit, 2010, S. 76. 14 BVerfGE 113, 348 ff. 15 Vgl. den Hinweis auf den Anlass der Gesetzgebung bei Lepsius, Jura 2006, 929, 930. 16 BVerfGE 120, 274 ff. 17 BVerfGE 121, 1 ff. 18 Vgl. die Stellungnahme des nordrhein-westfälischen Landtags zur Verfassungsbeschwerde gegen die Online-Durchsuchung, BVerfGE 120, 274, 295. 19 BVerfG NJW 2007, 351 ff. 20 BVerfGE 120, 378 ff. 21 BVerfG NJW 2007, 351, 355; BVerfGE 120, 378, 391. 11
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artigen labilen Konstruktion eines Sicherheitsrisikos: Entweder sind die Eingriffshürden hoch und das Bedrohungsszenario doch zu vage oder die eröffneten technischen Möglichkeiten werden offensichtlich nur in den Fällen eingesetzt, in denen dies auch problemlos möglich ist und somit die teilweise marginalen Trefferquoten im Hinblick auf die propagierten Ziele verschmerzlich erscheinen. So weisen sowohl der Große Lauschangriff als auch die Online-Durchsuchung nur sehr kleine Zahlen auf.22 Dies gilt ebenso für den IMSI-Catcher,23 für die präventive Rasterfahndung24 und auch die vorbeugende Telefonüberwachung nach dem niedersächsischen Polizeigesetz.25 Für die Praxis von großer Bedeutung sind demgegenüber sowohl das automatisierte Auskunftsverfahren nach dem TKG26 als auch die Kfz-Kennzeichenerfassung.27 Dies gilt auch für die Telekommunikationsüberwachung nach § 100a StPO, bei der 2011 insgesamt 18.029 Erstanordnungen und 5.516 Verfahren mit entsprechender Anordnung zu verzeichnen waren.28
2. Die These eines entgrenzten Vorgehens des Bundesverfassungsgerichts Nachdem das Politikfeld der inneren Sicherheit somit in einem ersten Zugriff annäherungsweise umrissen worden ist, stellt sich in einem Folgeschritt die Frage, wie sich Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht dieses Feldes annehmen. a) Die Suche nach „Grund und Grenzen“ einer Rechtsmaterie bzw. eines dogmatischen Instituts gehört dabei seit jeher in der Rechtswissenschaft fast schon zum guten Ton bzw. klassischen Instrumentarium.29 Denn, so lautet die Idee: Steht der materiale Grund etwa einer Ermächtigungsnorm einmal fest, folgen hieraus zugleich seine immanenten Grenzen bzw. lassen sich diese überzeugend ziehen. Und daher ist 22 Vgl. die Unterrichtung durch die Bundesregierung zum Lauschangriff in BT-Drucks. 17/ 10601, S. 3 ff. bzw. zur Online-Durchsuchung, BT-Drucks. 17/7760, S. 11 f. 23 Vgl. die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage zum Einsatz von IMSICatchern, BT-Drucks. 17/7652, S. 2 ff. 24 Pehl, Die Implementation der Rasterfahndung, 2008, S. 55, 83 ff.; BVerfGE 115, 320, 338. 25 Vgl. die Antwort des damaligen Innenministers Schünemann auf eine Kleine Anfrage zur Telefonüberwachung, Plenarprotokoll des niedersächsischen Landtages 15/69 vom 16. 9. 2005, S. 7968. 26 Bundesnetzagentur Jahresbericht 2011, S. 112. 27 http://www.heise.de/newsticker/meldung/Urteil-zum-automatischen-Kennzeichen-Scan ning-teilt-die-Republik-189617.html [11. 4. 2013]. 28 Übersicht zur Telekommunikationsüberwachung des BfJ 2011: https://www.bundesjus tizamt.de/DE/Themen/Buergerdienste/Justizstatistik/Telekommunikation/Telekommunika tionsueberwachung_node.html [11. 4. 2013]. 29 Vgl. insoweit beispielhaft Nöckel, Grund und Grenzen eines Marktwirtschaftsstrafrechts, 2012; Engländer, Grund und Grenzen der Nothilfe, 2008; Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzpflichten, 2003; Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971.
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auch die Frage nach Grund und Grenzen des Funktions- und Kompetenzbereichs des BVerfG30 keine neue. Sie wird deshalb intensiv diskutiert, weil eine überzeugende Legitimierung und zugleich Limitierung seines Arbeitsbereichs Teil der Erfolgsgeschichte ist. Aber vielleicht auch deshalb, weil das BVerfG national und international überwiegend hochgeschätzt wird, scheint es eine Art Carte Blanche zu haben, womit es sich beschäftigen möchte und womit eher nicht. So wird die Rechtsprechungspraxis überwiegend in der Weise interpretiert, dass ein bewegliches System verschiedener Kriterien dominiere, das es dem BVerfG je nach Lage des Einzelfalls ermögliche, einen zum Teil stark divergierenden Prüfungsmaßstab anzulegen.31 Eine solche Methode wäre nur dann als uneingeschränkt positiv anzusehen, wenn es keine Verlierer gäbe. Während man lange Zeit dem BVerfG Vertrauen auch in dem Sinne entgegenbrachte, es werde sich schon weise zurückzunehmen wissen, gaben einige stark zwischen den genannten Extremen einer Detailregelung und einer abstrakten Maßstabsbildung pendelnde Entscheidungen auch Anlass zur Kritik, die sich nunmehr innerhalb der Staatsrechtswissenschaft zu formieren scheint und mit einer Entgrenzung32 charakterisiert wird. Dass nunmehr ein solcher Begriff nicht nur bei einer kritischen Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, sondern etwa auch bei der Gefahrenabwehr33 an Konjunktur gewinnt und damit möglicherweise dem Begriffspaar von „Grund und Grenzen“ in seiner Bedeutung den Rang abläuft, scheint kein Zufall zu sein. Denn eine Entgrenzung geht mit der Globalisierung ebenso wie mit der Ausformung der Sicherheitsgesellschaft34 und den technischen Möglichkeiten der digitalen Welt einher. Alle drei Aspekte spielen für unseren Untersuchungsgegenstand der inneren Sicherheit eine zentrale Rolle, bei der – wie gezeigt – der internationale Terrorismus und die sog. organisierte Kriminalität als Motoren für eine sowohl von oben als auch von unten konstruierte Sicherheitsgesellschaft fungieren und gerade auch den multiplen technischen Überwachungsmöglichkeiten den Weg für ihren immer weiter zunehmenden Einsatz bereiten. b) aa) Diese Entgrenzung ist am präzisesten und umfassendsten von Lepsius vorgetragen worden. Nach seiner Analyse beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht nicht mehr darauf, Fälle zu entscheiden, sondern interpretiere sich zunehmend als maßstabsetzende Gewalt. Wie die Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch und zu Hartz IV zeigten, würden dabei die Grenzen zur Gestaltung des einfachen Rechts verschwimmen.35 Unter Maßstäben versteht Lepsius dabei die generell30
Vgl. Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 506 m.w.N. Becker, HRRS 2010, 383, 387 m.w.N. 32 Vgl. insb. Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, 2011. 33 Thiel, Die „Entgrenzung“ der Gefahrenabwehr, 2011. 34 Anm. Volkmann, JZ 2006, 918, 919; P.-A. Albrecht, in: Schuppert/Merkel/Nolte/Zürn (Hrsg.), Der Rechtsstaat unter Bewährungsdruck, 2010, S. 55, 63 f. 35 Lepsius, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht (Fn. 32), S. 159, 165. 31
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abstrakten Aussagen im C I-Teil der Entscheidungen, die kaum mehr einen Sachverhaltsbezug erkennen ließen. Im Ergebnis entstehe über diese verkappte Selbstermächtigung eine neue Rechtsquelle, was in der Herleitung von Schutzpflichten des Staates und der Schaffung neuer Grundrechte wie des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung oder desjenigen auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme beispielhaft zum Ausdruck komme. Diese Maßstäbe verselbständigten und verfestigten sich zugleich. Aus der Verfassungsbindung werde so also eine Maßstabsbindung.36 Auch das Bundesverfassungsgericht könne die einmal gesetzten Maßstäbe im Anschluss nicht mehr nach Belieben verändern, sondern müsse hierfür vielmehr auf einen vergleichbaren Fall warten. Und selbst dann unterliege die Änderung der Rechtsprechung einer erhöhten Hemmschwelle, da das Risiko eines Glaubwürdigkeitsverlustes bestehe. Die Konsequenz: Der Politik würden durch ein derartiges Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts auf Dauer und umfassend Handlungsspielräume entzogen. bb) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz spiele insoweit eine ambivalentere Rolle, als man dies von einem elementaren verfassungsrechtlichen Grundsatz erwarte. Zwar werde diesem grundsätzlich das Potenzial zugeschrieben, in methodischer Ergänzung zur Maßstabsbildung als Korrespondenzkategorie zu fungieren, über die die Anwendung der Maßstäbe auf den Einzelfall rationalisiert werde.37 Zugleich aber beschneide das Bundesverfassungsgericht durch die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes die Spielräume der Politik.38 Besondere Schwierigkeiten entstünden, wenn der Gesetzgeber den Zweck der Regelung mit Prognosen begründe. Könne das Gericht den Fall weniger gut über die Angemessenheit lösen, weil die Abwägung nur schwer überprüfbar sei – und so liege der Fall gerade bei Kommensurabilitätsproblemen wie Freiheit vs. Sicherheit –, weiche es auf tatsachenorientierte Prüfungsstufen wie Geeignetheit und Erforderlichkeit aus und verlange entsprechende Nachweise als Voraussetzung für seine Prüfungsfähigkeit.39
3. Die Überprüfung der These Diese aufgeworfenen Thesen sollen vor dem Hintergrund von acht ausgewählten Entscheidungen aus dem Themengebiet der inneren Sicherheit für einen begrenzten Zeitraum von knapp zehn Jahren bereichsweise analysiert werden. Hierfür stehen zum einen drei Entscheidungen aus dem Bereich der Strafverfolgung (der Große Lauschangriff [§ 100c StPO]; der IMSI-Catcher [§ 100i StPO]; die Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung [§ 100a StPO]) sowie fünf aus dem präventiv-polizeilichen Bereich (die Rasterfahndung nach § 31 PolG NRW; die Telefonüberwachung nach § 33a des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Si36
Lepsius (Fn. 35), S. 159, 200 f. Lepsius (Fn. 35), S. 159, 173 f. 38 Lepsius (Fn. 35), S. 159, 174, 205 f. 39 Lepsius (Fn. 35), S. 159, 207 f. 37
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cherheit und Ordnung; die Online-Durchsuchung nach § 5 des Gesetzes über den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen; die Kfz-Kennzeichenerfassung nach hessischem und schleswig-holsteinischem Landesrecht; die Erhebung von Vorratsdaten nach § 113a TKG). Symptomatischerweise sind besonders eingriffsintensive Maßnahmen, wie etwa das Abhören des nichtöffentlich gesprochenen Wortes in Wohnungen (§ 9 II 1 BVerfSchG, § 100c StPO), die inhaltliche Telekommunikationsüberwachung (§ 1 I G 10-Gesetz, § 100a StPO), die Abfrage von Verkehrsdaten (§ 8a II Nr. 4, 5 BVerfSchG, § 100g StPO) oder der Einsatz eines sog. IMSI-Catchers (§ 9 IV BVerfSchG, § 100i StPO), im Recht der Nachrichtendienste und in der StPO gleichermaßen zu finden.40 Tatsächlich lassen sich hier in unterschiedlicher Intensität Elemente der soeben beschriebenen Entgrenzungen ausmachen. a) aa) Bei den Entscheidungen aus dem Bereich der Strafverfolgung ist diejenige zum Großen Lauschangriff hervorzuheben, die eine unverzügliche Löschungspflicht statuiert, soweit aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung stammende Informationen erhoben worden sind.41 Hierauf nimmt der Beschluss zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung Bezug,42 was zu der genannten Maßstabsbildung beiträgt. In vergleichbarer Weise zurrt das BVerfG seine Vorstellungen von Transparenz fest und verlangt unter dem Gesichtspunkt des effektiven Rechtsschutzes grundsätzlich eine Benachrichtigungspflicht.43 Dieser Grundsatz findet unter Hinweis auf den grundrechtlichen Datenschutz weitere Vertiefung in der Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung.44 Schließlich legt die Entscheidung zum Großen Lauschangriff abstrakt fest, wann die Voraussetzungen für eine „besonders schwere Straftat“ im Sinne des Art. 13 Abs. 3 GG gegeben sind.45 bb) In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum IMSI-Catcher wiederum wird dem Gesetzgeber „wegen des schnellen und für den Grundrechtsschutz riskanten informationstechnischen Wandels“ eine Beobachtungspflicht auferlegt. Es sei zu prüfen, ob man die Benachrichtigungspflichten und Rechtsschutzmöglichkeiten erweitern müsse.46 Auch in der Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung findet sich eine derartige Verpflichtung wieder.47 b) aa) Noch wesentlich weitreichender sind die Übergriffe des Bundesverfassungsgerichts in die gesetzgeberische Sphäre im präventiven Bereich. So hat es in seiner Entscheidung zur Online-Durchsuchung nach einer Analyse des Wandels 40
Hefendehl, GA 2011, 209, 211. BVerfGE 109, 279, 332. 42 BVerfG NJW 2012, 833, 838. 43 BVerfGE 109, 279, 363 f. 44 BVerfGE 125, 260, 335; vgl. ferner BVerfG NJW 2012, 833, 838. 45 BVerfGE 109, 279, 343. 46 BVerfG NJW 2007, 351, 356. 47 BVerfG NJW 2012, 1419, 1427. 41
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des gesellschaftlichen Umgangs mit Informationssystemen und weitgehend ohne konkreten Fallbezug ein neues Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme zur Verhinderung einer Schutzlücke kreiert und dessen Anwendungsbereich abstrakt dargelegt.48 Hierbei belässt es das BVerfG aber nicht: Anknüpfend an die allgemein-abstrakten Ausführungen zur Einschränkbarkeit des Grundrechts weist es auf die Möglichkeit der Schaffung einer gesetzlichen Eingriffsgrundlage hin, die den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes entspreche.49 Der im Anschluss geschaffene Normtext des § 20k BKAG50 beweist die prägende Funktion des BVerfG eindrucksvoll: Der zweite Leitsatz ist in seinem wesentlichen Gehalt nahezu übernommen worden. Gusy und Möllers haben daher auch einen fehlenden eigenen Gestaltungswillen des Gesetzgebers beklagt.51 Eine ähnliche Übernahme findet sich bei der Vorratsdatenspeicherung: Der Begriff des Doppeltürenmodells, den das BVerfG verwendete,52 ist in der Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Telekommunikationsgesetzes und zur Neuregelung der Bestandsdatenauskunft vom 2. 11. 2012 aufgegriffen worden.53 bb) Bei der Entscheidung zur automatischen Kennzeichenerfassung prescht das Bundesverfassungsgericht in gleicher Weise nach vorn und gibt dem Gesetzgeber Ratschläge auf den Weg, wie er eine solche Erfassung verfassungskonform ausgestalten könne.54 Bei der Rasterfahndung wählt es hingegen den Weg der Restriktion: Eine allgemeine Bedrohungslage, wie sie seit dem 11. September 2001 praktisch ununterbrochen bestanden habe, oder außenpolitische Spannungslagen reichten für die Anordnung einer Rasterfahndung nicht.55 c) Im materiellen Strafrecht wiederum hält sich das Bundesverfassungsgericht emotionslos fast völlig zurück und betätigt sich lediglich – methodisch in gleicher Weise bedenklich56 – als eine weitere Auslegungsinstanz.57 Die potenziellen Vergleichsfelder der inneren Sicherheit im materiellen Strafrecht, also insbesondere
48
BVerfGE 120, 274, 303 ff. BVerfGE 120, 274, 318 ff. 50 In das BKAG eingefügt durch das Gesetz zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus durch das Bundeskriminalamt vom 25. 12. 2008, BGBl. I, 3083. 51 Gusy, Stellungnahme zur Anhörung im Innenausschuss des Deutschen Bundestages, Ausschuss-Drucks. 16 (4) 460 A, S. 3; Möllers, Stellungnahme zur Anhörung im Innenausschuss des Deutschen Bundestages, Ausschuss-Drucks. 16 (4) 460 K, S. 1. 52 BVerfG NJW 2012, 1419, 1423. 53 BR-Drucks. 664/12 (Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Telekommunikationsgesetzes und zur Neuregelung der Bestandsdatenauskunft), S. 18. 54 BVerfGE 120, 378, 432 f. 55 BVerfGE 115, 320, 364 f. 56 Vgl. die Zusammenfassung des Streitstandes bei Becker, HRRS 2010, 383, 387 f. 57 So insbesondere in der Untreue-Entscheidung (BVerfGE 126, 170 ff.). 49
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die Vorbereitungsdelikte,58 haben – auch mangels entsprechender Gelegenheiten – noch keinerlei Aufmerksamkeit durch das Bundesverfassungsgericht erfahren.59
III. Deutungsversuche für das Auseinanderdriften von Verfahrens- und Strafrecht Betrachten wir das Strafverfahrens- und das Polizeirecht auf der einen Seite und das materielle Strafrecht auf der anderen Seite, machen wir also deutliche Unterschiede in der Reaktionsweise des Bundesverfassungsgerichts aus. Jedes Thema folgt eben seiner eigenen Logik.60 Was die Entscheidungen im Politikfeld der inneren Sicherheit anbelangt, sind diese treffend als ein Hybrid einer über Jahrzehnte weiter ausdifferenzierten Freiheitsdogmatik einerseits und der gemeinsamen Botschaft andererseits beschrieben worden, die Sicherheitsgesetze seit dem 11. September 2001 seien als maßlos überzogen zu charakterisieren.61 Um im Bild des Hybrids zu bleiben: Beide Aspekte ergänzen sich gegenseitig und bestärken das BVerfG in seiner beschriebenen Tendenz, gestaltend tätig zu werden. Dies insbesondere auch deshalb, weil sich der Gegenstand des Gesetzes auf den ersten Blick hinsichtlich des Verhältnismäßigkeitsprinzips unangreifbar gestellt hat, was das BVerfG indes nicht akzeptiert. Beim Strafrecht wiederum ist der Gestaltungsantrieb des Bundesverfassungsgerichts weit geringer ausgeprägt, obwohl die Strukturfragen ähnlich erscheinen. Denn auch hier hat die schärfste dem Staat zur Verfügung stehende Waffe, das Strafrecht, einen relativen Zweck zu erfüllen, der über die relativen Strafzwecktheorien beschrieben ist. Das strafrechtstheoretische Scharnier ist insoweit das geschützte Rechtsgut als Aufgabe des Strafrechts, das in geeigneter, erforderlicher und angemessener Weise durch den strafrechtlichen Tatbestand zu schützen ist. Setzt man Aufgabe des Strafrechts und Strafzweck zueinander in Beziehung, so sind die Strafzwecke grundsätzlich als Mittel zur Aufgabenerfüllung zu verstehen. Auf beiden Ebenen, derjenigen der relativen Strafzwecke und derjenigen des Rechtsgüterschutzes als Aufgabe des Strafrechts, verhält sich das BVerfG nun aber genau diametral zum Aktionismus im Politikfeld der inneren Sicherheit. So sind ihm die frustrierenden empirischen Erkenntnisse insbesondere zur Abschre-
58 Zu diesen Puschke, in: Hefendehl (Hrsg.), Grenzenlose Vorverlagerung des Strafrechts?, 2010, S. 9, 16 f., 25 ff. 59 Vgl. lediglich BVerfG ZUM 2009, 745 zu § 202c StGB. 60 In diesem Sinne Janisch in seinem Kommentar zum neuen Wahlrecht: Wenn Karlsruhe Politik macht, Süddeutsche Zeitung vom 27. 7. 2012, S. 4. 61 Janisch (Fn. 60), S. 4; Schlögels ([Fn. 13], S. 99 ff.) Erklärungsversuch, der unter Zugrundelegung des spieltheoretischen Ansatzes von Vanberg auf die Motivationen der Richter zielt, scheint demgegenüber limitierter zu sein.
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ckung sowie zur positiven Spezialprävention62 geradezu egal. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung verliert dadurch an selektiver Kraft, dass sich das BVerfG nicht auf den Rechtsgüterschutz als Aufgabe des Strafrechts beschränkt, sondern diese über die Grundlagen geordneten Gemeinschaftslebens63 oder wichtige Gemeinschaftsgüter64 verwässert und damit im Wesentlichen unangreifbar stellt. Mögliche Erklärungen für diesen unterschiedlichen Impetus des BVerfG bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung scheinen uns darin zu liegen, dass der Umbau in eine Sicherheitsgesellschaft65 in vollem Gang ist, während sich die auszumachenden bedenklichen Entwicklungen des materiellen Strafrechts, die mit einer Vorverlagerung in den Bereich des Neutralen hinein charakterisiert werden können, im Wesentlichen dadurch (fast könnte man sagen: passenderweise) wieder neutralisieren, dass die Zahlen selbst in der Polizeilichen Kriminalstatistik marginal bleiben. Zwar haben wir auch bei den strafprozessualen und polizeirechtlichen Optionen zu einem Teil eine sehr geringe praktische Relevanz ausgemacht.66 Aber insoweit stehen hier entweder elementare Freiheitsrechte zur Disposition oder es geht um ein Risiko der Überwachung, das im Vergleich zu selbst vage gefassten materiellen Strafnormen dramatisch höher ist. Anders als im Strafverfahrensrecht stieße im materiellen Strafrecht die Herleitung eines unantastbaren Kernbereichs schnell an ihre Grenzen, wenn man einen außerhalb der Norm liegenden Bezugspunkt, also ein Interesse bzw. Rechtsgut, anerkennt.
IV. Folgerungen aus der Ent- bzw. Begrenzung Nachdem nunmehr die Vorgehensweise des Bundesverfassungsgerichts für den präventiv-polizeilichen sowie für den strafprozessualen Bereich ebenso wie knapp für das Strafrecht charakterisiert worden ist, stellt sich zwangsläufig die Frage nach möglichen Folgerungen aus diesem Befund. Diese sollen für die strafprozessualen Ermächtigungsnormen intensiver und für die präventiv-polizeilichen sowie die materiellen Fragestellungen von der Tendenz her gezogen werden. Im letzteren Fall ist dabei wesentlicher Adressat das BVerfG selbst. 1. Die Gesetzgebung bei strafprozessualen Ermächtigungsnormen Die bisherigen Erkenntnisse haben uns gezeigt, dass der technische Fortschritt Hand in Hand mit Bedrohungskonstrukten wie der sog. organisierten Kriminalität 62
Vgl. die Nachweise bei P.-A. Albrecht, Kriminologie, 4. Aufl. 2010, § 5. BVerfGE 88, 203, 257. 64 BVerfGE 27, 18, 29; 39, 1, 46; 45, 187, 253; 90, 145, 201 (abweichende Meinung Graßhof). 65 Hierzu die Nachweise o. Fn. 8. 66 S. o. II. 1. a.E. 63
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die strafprozessualen Ermächtigungsgrundlagen vor neue Herausforderungen stellt. Die Frage lautet: Sollte man von legislativer Seite her durch ein modifiziertes Gesetzesmodell hierauf reagieren oder sind diese Erschwernisse schlicht hinzunehmen? Drei verschiedene Vorschläge sollen bei der Antwort helfen. a) Generalklauseln mit judikativer Ausgestaltung aa) Ein Konzept von Generalklauseln mit judikativer Ausgestaltung weist eine Nähe zum einleitend erwähnten hier so bezeichneten Nack-Modell auf. Der gesetzliche Zuschnitt der Ermächtigungsnormen würde sich in einem solchen Modell an allgemeinen Merkmalen der Eingriffstiefe orientieren. Diese könnten – wie im Nack-Modell – beispielsweise in Anpassung an die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung67 nach den verschiedenen Eingriffssphären gebildet werden (Kernbereich, höchstpersönlich, persönlich oder offen). Denkbar wäre es aber auch, die Eingriffsermächtigungen nach Anzahl der betroffenen Personen, Dauer und Zweck des Eingriffs oder nach den Verknüpfungsmöglichkeiten der erlangbaren Daten abzuschichten.68 So könnten zwei Normen als Generalklauseln fungieren, von denen die eine Norm Eingriffe gegen nur eine Person, die andere Eingriffe gegen mehrere Personen regeln würde. Eine weitere Variante ginge dahin, Eingriffe gegen Einzelpersonen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit bei dem Verdacht auf irgendeine Straftat zuzulassen, Eingriffe, die zumindest mittelbar mehrere Personen beträfen, hingegen nur bei dem Verdacht einer Straftat, die häufig durch mehrere Beteiligte begangen wird oder im Zusammenhang mit bestimmten Kommunikationsformen, etwa den Computerdelikten, steht. Die Eingriffsnormen wiesen somit nur wenige Tatbestandsmerkmale auf und hätten den Charakter einer Generalklausel. Die relevante Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme fände im Rahmen der allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprüfung statt. Die Ausdehnung des Anwendungsbereichs der nunmehr als Generalklauseln ausgestalteten §§ 161, 163 StPO69 weist in eine solche Richtung. bb) Der Vorteil eines solchen Modells läge darin, angeblich neuartigen Anforderungen an die Strafverfolgung gerecht zu werden. Insbesondere die beschriebenen technischen Entwicklungen bieten für Strafverfolgungsbehörden zunehmend die Möglichkeit, Informationen, insbesondere in Form von Daten, zu erlangen, die es vorher in dieser Form nicht gab oder deren Erlangung zuvor nicht oder nur unter deutlich schwierigeren Umständen möglich war. Ein Modell, nach dem die Ermächtigungsnormen lediglich anhand der Eingriffstiefe oder einzelner sonstiger Kriterien ausgestaltet sind, würde es gestatten, technische Entwicklungen sofort nachzuvollziehen und neu zur Verfügung stehende Methoden zur Informationserlangung einzusetzen bzw. neue Datenbestände anzuzapfen. Sind die Ermächtigungsnormen dem67
Vgl. nur BVerfGE 80, 367, 373 f.; 109, 279, 313 f., 319 ff. Zu Kriterien für die Sensibilität von Daten Hefendehl, GA 2011, 209, 227 f. 69 Zu den damit zusammenhängenden Bedenken vgl. Hefendehl, StV 2001, 700 ff.
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gegenüber – entsprechend der bisherigen Konzeption – an den Methoden selbst ausgerichtet, bedürfte es für den Einsatz neuer Eingriffsmaßnahmen auch einer neuen durch den Gesetzgeber verabschiedeten Ermächtigungsnorm.70 Das Ergebnis entsprechend ausgestalteter Ermächtigungen läge in einer Verlagerung von einer gesetzgeberischen prospektiven Limitierung der Eingriffsmöglichkeiten durch die tatbestandliche Ausgestaltung der Norm zu einem Kompetenzzuwachs bei der Exekutive mit einer rückwirkenden, einzelfallbezogenen Beschränkung durch die Judikative. Die zu erwartende Einzelfallrechtsprechung in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit bestimmter Vorgehensweisen würde sich dabei zu Vorgaben verdichten, die bei zukünftigen Eingriffen Berücksichtigung zu finden hätten. cc) Eine genauere Analyse dieses Modells offenbart eine Vielzahl von Schwächen. So ist es bereits fraglich, ob sich überzeugende allgemeine Kriterien finden ließen, nach denen die Generalklauseln abgeschichtet werden könnten. Das Sphärenmodell erscheint zwar auf den ersten Blick naheliegend. Jedoch bildet die Sphäre, in die eingegriffen wird, nur eines von vielen Merkmalen, die für die Intensität des Eingriffs von Bedeutung sind. Deren „Verbannung“ in die allgemeine Verhältnismäßigkeitsprüfung wäre unangemessen.71 Denn gerade im Bereich der inneren Sicherheit vermag eine solche – neben den allgemeinen Vorbehalten hinsichtlich seiner (behördlichen) Anwendung – nur einen geringen Schutz vor Eingriffen zu bieten. Dies gilt zwar – wie dargelegt – in erster Linie für die Prävention von Großrisiken, bei der die hiermit verbundenen Eingriffe nur schwer durch die Abwägung der widerstreitenden Interessen eingefangen werden können. Aber auch im Bereich des Strafrechts nimmt der oben beschriebene rechtspolitische Kontext wie die Bekämpfung der sog. organisierten Kriminalität72 mittelbar Einfluss auf das Verfolgungsinteresse. Zudem ist der vermeintliche Vorteil einer flexibleren Handhabung der Normen durch die Strafverfolgungsbehörden nur teilweise gegeben. Die zu erwartende Judikatur zu einer solchen Generalklausel würde das tatbestandliche Defizit mittels eines zunehmenden Netzes von Vorgaben bezüglich der Verhältnismäßigkeit ausgleichen. Allenfalls neuartige Maßnahmen wären dann nicht wie bisher formal von der Anwendung ausgeschlossen. Insoweit läge nur eine Teilflexibilisierung vor, die mit einer Kompetenzverlagerung vom Gesetzgeber auf die Exekutive und Judikative einherginge. Der Haupteinwand aber bezöge sich auf den Mangel an gesetzgeberischer Legitimation und die Missachtung des Bestimmtheitsgebots. Maßnahmen der Strafver70 Rechtstatsächlich ist allerdings davon auszugehen, dass neue technische Möglichkeiten ungeachtet fehlender Ermächtigungsnormen auch eingesetzt werden; vgl. Eisenberg/Puschke/ Singelnstein, ZRP 2005, 9. 71 S. etwa zur Relevanz des Umfangs der Ermittlungsmaßnahmen im Sinne einer drohenden Totalausforschung Puschke, Die kumulative Anordnung von Informationsbeschaffungsmaßnahmen im Rahmen der Strafverfolgung, 2006, S. 83 ff. 72 Vgl. o. II. 1. a).
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folgungsbehörden sind in der Regel von einer hohen Eingriffsintensität gekennzeichnet. Deren Einsatzmöglichkeit muss im Sinne des Gesetzesvorbehalts vom Gesetzgeber selbst beschlossen und ausgestaltet werden. Da nicht nur die Zuordnung des Eingriffs zu einer bestimmten Sphäre für die Eingriffsintensität von Bedeutung ist, obliegt es dem Gesetzgeber, die weiteren relevanten Kriterien vorzugeben. Hierzu gehört insbesondere auch die Art und Weise, wie in die Grundrechte eingegriffen wird. So stellt es beispielsweise einen beachtlichen Unterschied dar, ob offen oder heimlich vorgegangen wird.73 Ebenso ist es von Bedeutung, ob Informationen aus der Privatsphäre durch eine akustische Überwachung der Wohnung oder durch eine Erfassung von Verkehrsdaten erfolgt. Dementsprechend muss der Gesetzgeber auch für jede neue Möglichkeit, an private Informationen zu gelangen, immer wieder von neuem vor die Entscheidung gestellt werden, ob und wenn ja unter welchen Voraussetzungen eine solche Vorgehensweise legitimiert werden kann. Schließlich wäre die tatbestandlich unterschiedslose Ermächtigung für jedwede Form von Eingriffen in eine bestimmte Persönlichkeitssphäre nicht mit dem Bestimmtheitsgebot vereinbar. Die Privatsphäre eines Menschen umfasst einen weit gezogenen Bereich, in den auf unterschiedliche Weise mit unterschiedlicher Intensität eingegriffen werden kann. Für die Ausübung der Grundrechte ist es von entscheidender Bedeutung, dass sich die Bürgerinnen und Bürger bereits anhand der gesetzlichen Regelung orientieren und erkennen können, unter welchen Voraussetzungen ein Eingriff in welcher Form droht. b) Maximalermächtigungen, die durch das BVerfG vorgezeichnet sind aa) Im Unterschied zum vorangegangenen Modell würden die Voraussetzungen für den Einsatz von eingriffsintensiven Ermittlungsmethoden bei diesem Gesetzesmodell für die Strafverfolgungsbehörden nicht flexibilisiert und damit verstärkt in die Obhut von Exekutive und einfacher Gerichtsbarkeit gegeben. Vielmehr wären es Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, die zusammen Grenzen vorgäben, die bis an den Rand der verfassungsrechtlichen Verträglichkeit gezogen würden. Angesprochen ist damit die auch oben ausgemachte Tendenz des BVerfG, verfassungswidrige Eingriffsermächtigungen nicht schlicht zu kassieren, sondern sehr konkrete Vorgaben zu machen, unter welchen Voraussetzungen eine Regelung gerade noch den Bedingungen des Grundgesetzes genügt. So hat das Bundesverfassungsgericht beim Großen Lauschangriff die Anforderungen hinsichtlich der Benachrichtigungspflicht nach erfolgter Überwachung geradezu formuliert.74 Dem Gesetzgeber verbleibt bei einer solchen Vorgehensweise zwar die Entscheidung, ob er eine Neuregelung anstrebt oder die Grenzen für die Eingriffsermächtigung enger zieht. Angesichts der Tatsache, dass die Entscheidungen des BVerfG regelmäßig eine noch weitergehende Ermächtigungsnorm zum Anlass haben, der Gesetzgeber sich also von der 73 74
BVerfGE 115, 320, 353; 120, 274, 325; 120, 378, 402 f. Vgl. o. II 3. a) aa).
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Notwendigkeit der Maßnahme überzeugt zeigte, ist indes davon auszugehen, dass die Umsetzung einer Neuregelung auf der Basis der Vorgaben des BVerfG erfolgen wird. bb) Gegen dieses Konzept sind vor allem zwei Einwände zu erheben: Zum einen würde die Gesetzgebungskompetenz bezüglich der konkreten Ausgestaltung der Normen weg vom Gesetzgeber hin zum für diese Aufgaben nicht hinreichend demokratisch legitimierten BVerfG verschoben. Indem das höchste deutsche Gericht die Grenzen der Verfassungsmäßigkeit selbst auslotet, bestünde in tatsächlicher Hinsicht für den Gesetzgeber kaum die Möglichkeit und Notwendigkeit, von den vorformulierten juristisch abgesicherten Vorgaben abzuweichen. Zum anderen würden auf diese Art und Weise die rechtsstaatlichen Eingriffsprinzipien zwar nicht im Einzelfall, wohl aber durch die Gesamtheit der Eingriffsermächtigungen ausgehebelt. Die Strafverfolgung lebt ebenso wie andere eingreifende Maßnahmen zur Erhöhung der inneren Sicherheit von der Abwägung widerstreitender Interessen. Dies sind im Regelfall die Interessen der durch die Maßnahme (potenziell) Betroffenen auf der einen Seite und das Interesse an der Strafverfolgung als Ausprägung des Rechtsgüterschutzes auf der anderen Seite. Würde die gesetzliche Regelung einer Vielzahl einzelner Maßnahmen so ausgestaltet, dass sie die höchstzulässige Eingriffstiefe erreicht, so würde sich die Abwägung zwischen den insgesamt Betroffenen und der Strafverfolgung als Teil der Ausübung des staatlichen Strafmonopols einseitig zu Lasten ersterer verschieben. Die Warnung vor einer derartigen Kumulation von Überwachungsmaßnahmen, die in ihrer Gesamtheit rechtsstaatlichen Grundsätzen widersprechen, deutet auch das Bundesverfassungsgericht an, wenn es vom Ausnahmecharakter bestimmter Datenerhebungen wie etwa der Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten auf Vorrat spricht.75 Die Einzelmaßnahme und nicht das Gesamtkonzept bildet so auch den kriminalpolitischen Entscheidungsmaßstab. Was aber im Einzelfall gerade noch angemessen erscheint, kann in einer Gesamtbetrachtung die Grenze des kriminalpolitisch Angemessenen durchaus überschreiten. In einer solchen Konzeption von Strafverfolgung würde der Gesetzgeber nicht dazu angehalten, nur unbedingt notwendige Maßnahmen in unbedingt notwendigem Umfang vorzunehmen. Es bildet sich quasi eine abgeleitete Legitimationskette bis hin zur Anwendung der Maßnahme. Das BVerfG gibt die Maximalgrenzen vor, der Gesetzgeber setzt diese um, ohne die Notwendigkeit einer so weitgehenden Umsetzung vor allem mit Blick auf die Gesamtbelastung durch (drohende) Eingriffe erneut zu hinterfragen, und die Strafverfolgungsbehörden wenden die ihnen an die Hand gegebenen Möglichkeiten an, selbst wenn die konkrete Notwendigkeit nicht besteht oder die Erfolgschancen bezüglich eines strafverfahrensrelevanten Erkenntnisgewinns gering sind. Schließlich schwebt über einer Neuregelung nicht mehr das Damoklesschwert einer zu weitgehenden und verfassungsrechtlich nicht mehr legitimen Ausgestaltung, das ein maßvolles Vorgehen unterstützt. 75 S. BVerfGE 125, 260, 323 f.; zur Kumulation strafprozessualer Überwachungsmaßnahmen im Einzelfall eingehend auch Puschke (Fn. 71).
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cc) Bislang scheint dieses Modell der durch das Bundesverfassungsgericht vorgezeichneten Maximalermächtigung vor allem für die präventiv-polizeilichen Regelungen im Politikfeld der inneren Sicherheit eine gewichtige Rolle zu spielen. So hat das BVerfG in seiner Entscheidung zur Online-Durchsuchung die materiellen Voraussetzungen für einen derartigen Eingriff geradezu diktiert, die sich denn auch wortgleich im Normtext des § 20k BKAG wiederfanden. c) Demokratisch legitimierte, sektorale Ermächtigungsnormen aa) Das dritte vorzustellende Konzept demokratisch legitimierter, sektoraler Ermächtigungsnormen basiert auf dem Grundgedanken, dass Strafrecht und strafprozessuale Ermittlungsmöglichkeiten nur vom Gesetzgeber, in sehr konkreter Ausgestaltung und möglichst zurückhaltend normiert werden dürfen. Diese Konzeption wird zumindest teilweise auch der StPO zugrunde gelegt, was bezüglich der konkreten Ausgestaltung an der Vielzahl neuer, vom Gesetzgeber geschaffener Ermächtigungsnormen zu erkennen ist, die die Art und Weise des Vorgehens und sonstige Vorgaben in der Regel verhältnismäßig präzise vorschreiben. Jedoch sind Vermischungen mit den oben angesprochenen Konzepten auszumachen. So werden die Generalermächtigungsklauseln (§§ 161, 163 StPO) insbesondere im Bereich der Erlangung von Daten häufig als Auffangermächtigung ins Spiel gebracht, wenn spezialgesetzliche Regelungen neue Ermittlungsmöglichkeiten (z. B. Abfrage von E-Mails beim Provider) oder neue Datenbestände (z. B. Cloud-Daten) nicht oder nur unzureichend erfassen. Des Weiteren sind die Regelungen zum Einsatz eines verdeckten Ermittlers nicht an Tatbeständen, sondern lediglich an Kriminalitätsgebieten orientiert. Die Neugestaltung des § 100c StPO wiederum weist zum Teil die Handschrift des BVerfG auf. Ein Beispiel für das dritte Modell bildet etwa die Telekommunikationsüberwachung gem. § 100a StPO. Insbesondere der umfassende und häufig erweiterte Straftatenkatalog des Absatzes 2 macht deutlich, dass auf eine generalklauselartige Erfassung des Anwendungsbereichs etwa für Straftaten von erheblicher Bedeutung (so in § 100h Abs. 1 S. 2 StPO) von Anfang an76 verzichtet wurde. Dies ist von der Gesetzesstruktur, nicht allerdings von den ständigen Erweiterungen her zu begrüßen. Zudem sind die weiteren Anwendungsvoraussetzungen – gesteigerter Verdachtsgrad, Subsidiaritätsklauseln und die neuere Einschränkung der schwerwiegenden Tat im Einzelfall – Beispiele einer zumindest im Grundsatz an Bestimmtheitsgebot und Verhältnismäßigkeitsprinzip orientierten Regelungsform, wenngleich die hierdurch geschaffenen Beschränkungen in ihrer faktischen Wirkung mit guten Gründen angezweifelt werden. Auch die weiteren spezialgesetzlichen Regelungen im Zusammenhang mit der Überwachung von Telekommunikation i. w. S., etwa § 100g StPO (Verkehrsdatenüberwachung) und § 100i StPO (IMSI-Catcher), zeigen, dass unter76 Vgl. Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Artikel 10 GG – G 10) vom 13. 8. 1968, BGBl. I, 945.
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schiedlichen Eingriffsarten Relevanz beigemessen wird, die sich in konkreten, auf die Maßnahmen teilweise77 zugeschnittenen Regelungen niederschlagen.78 bb) Allein das Konzept einer zurückhaltenden Nutzung eng bestimmter Ermächtigungsnormen erweist sich als ein rechtstaatlichen Prinzipien genügendes Modell, da es Gewaltenteilung, Bestimmtheitsgebot und sinnvolle kriminalpolitische Erwägungen beachtet. Es verlangt dem Gesetzgeber ab, sich über die Notwendigkeit und die konkrete Ausgestaltung neuer Maßnahmen Gedanken zu machen und gesellschaftliche und politische Akzeptanz zu schaffen bzw. Forderungen aufzunehmen. Zudem wird das BVerfG auf seine Rolle beschränkt, die gesetzgeberischen Normen auf ihre Verfassungsmäßigkeit im Einzelfall zu überprüfen und auf kriminalpolitisch relevante Vorgaben zu verzichten. cc) Dennoch ist auch dieses Modell anfällig für systemexterne Einflüsse, die insbesondere aus den zuvor erwähnten Konzepten stammen können. Die Einführung immer neuer Ermächtigungsnormen79 führt zunehmend zu flächendeckenden Maximalermächtigungen bezüglich vieler technisch in Betracht kommender Maßnahmen. So gilt die Devise: Was technisch möglich ist, wird gemacht. Und in Erweiterung dieser Devise: Was technisch möglich ist, wird früher oder später durch den Gesetzgeber legitimiert. Auch die weite Interpretation von bestehenden Ermächtigungsnormen durch die Strafverfolgungsbehörden, die einfache Gerichtsbarkeit, den BGH und das BVerfG, nach der neuartige Ermittlungsmöglichkeiten bzw. die Ermittlung in neuartigen Erkenntnisquellen unter alte Normen subsumiert werden,80 kann als Uminterpretation der bestehenden Regelungen zu Generalermächtigungen angesehen werden. Zudem wird eingewandt, ein solches Modell sei nicht mehr zeitgemäß und gehe an den Notwendigkeiten moderner, komplexer Strafverfolgung sowie den gesetzgeberischen Regelungsmöglichkeiten vorbei. Dieser Einwand verfängt jedoch nur, sofern als Maßstab für den Erfolg und die Güte von Maßnahmen zur Strafverfolgung allein die abstrakten Möglichkeiten einer staatlichen Informationserlangung zugrunde gelegt werden. Gleichermaßen bedeutsam ist die Einbeziehung der Eingriffstiefe und des Eingriffsumfangs der Maßnahmen. Die Entwicklung von Datenbeständen und die technischen Möglichkeiten ihrer Überwachung dürfen nicht nur als Quellen, Handlungsoptionen und Hindernisse81 für Ermittlungsbehörden verstanden werden. Der Einzelne und die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit werden hierdurch vielmehr 77
S. aber den (offenen) Verweis auf die Katalogtaten des § 100a StPO in § 100g Abs. 1 Nr. 1 und in § 100i Abs. 1 StPO. 78 Eine Detailanalyse der Güte der einzelnen Regelungen ist in diesem Kontext nicht vorzunehmen. 79 S. hierzu Hefendehl, GA 2011, 209, 211, 215. 80 S. zur Beschlagnahme von E-Mails beim Provider BVerfG NJW 2009, 2431 ff.; BGH NJW 2009, 1828. 81 Als Hindernis kann die Entwicklung etwa dann angesehen werden, wenn durch die externe „Lagerung“ von Datenbeständen (z. B. bei der Nutzung sog. Cloud-Technologie) der Zugriff sowohl technisch als auch rechtlich erschwert wird.
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einer veränderten und größeren Gefährdung von grundrechtsrelevanten Eingriffen ausgesetzt. Dieser Gefährdung kann nur Rechnung getragen werden, wenn die Eingriffsschranken in demokratisch legitimierter Form hoch angesetzt werden und die Beeinträchtigung seitens staatlicher Maßnahmen stets einer effektiven Kontrolle unterliegt. 2. Die Gesetzgebung für polizeiliche Maßnahmen im Politikfeld der inneren Sicherheit Die Konsequenzen für präventiv-polizeiliche Maßnahmen sind weniger eindeutig, weil die jeweiligen Vorverständnisse von Politik und Bundesverfassungsgericht zum Politikfeld der inneren Sicherheit so verschieden erscheinen, dass wir fast von zwei sich nicht mehr überschneidenden Kreisen ausgehen müssen. Dies aber ist ein Zustand, der die Kontrollfunktion des Bundesverfassungsgerichts außer Kraft setzt und in eine Gestaltungsfunktion übergehen lässt. Man kann sich gegen eine derartige Gestaltungsfunktion wenden, weil sie die funktionalen Grenzen des Bundesverfassungsgerichts sprengt, man kann aber auch umgekehrt mit dem BVerfG darauf insistieren, dass elementare verfassungsrechtliche Prüfparameter wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht durch gesetzgeberische „Schachzüge“ unanwendbar gemacht werden dürfen. Die empirischen Erfahrungen über mehr als ein Jahrzehnt seit dem 11. September 2001 auf der einen Seite und das seitdem geschaffene gesetzgeberische Arsenal auf der anderen Seite liefern gewichtige Argumente dafür, dass das Bundesverfassungsgericht nicht etwa die Handlungsspielräume der Politik in unzulässiger Art und Weise beschneidet und sich entgrenzt hat, sondern schlicht eine saubere Evaluierbarkeit der Gesetze einfordert. Und hierfür bedarf es eben einer hinreichenden empirischen Datenbasis. 3. Das Bundesverfassungsgericht und die Konsequenzen für das Strafrecht So notwendig die Rolle des Bundesverfassungsgerichts bei der Entmystifizierung des Politikfeldes der inneren Sicherheit erscheint, so beklagenswert und inkonsistent ist sie ganz allgemein für den Bereich des materiellen Strafrechts. Es bleibt unverständlich, warum bei präventiv-polizeilichen Gesetzen ganz zu Recht die Daten eingefordert werden, die eine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes überhaupt erst ermöglichen, während das Bundesverfassungsgericht im materiellen Strafrecht nahezu eine Verschleierungspolitik betreibt, nur um den Bestand des Strafrechtsarsenals zu bewahren. Gerade im Hinblick auf zunehmend bedenkliche Entwicklungen des Strafrechts hin zu einer grenzenlosen Vorverlagerung82 und einer schlicht faktischen Intervention in diesem Bereich83 sollte man sich nicht mit dem Argument einer vorgeblich geringen Relevanz beschwichtigen lassen. Auch das 82 83
Vgl. Hefendehl (Fn. 58). Puschke (Fn. 58), S. 9, 16 ff.
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Strafrecht ist auf dem Weg zu einem Sicherheitsstrafrecht und auch hier besteht die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts zu intervenieren. Denn dem Strafrecht kommt gesellschaftlich eine weit größere Bedeutung zu, als es die Praxis zu suggerieren scheint. Das mögliche Gegenargument, man habe eben funktionale Grenzen zu beachten, wäre ein verheerendes: Denn dann müsste sich das Bundesverfassungsgericht konsequenterweise auch aus dem gesamten Politikfeld der inneren Sicherheit zurückziehen. Ein sachlich rechtfertigender Grund für eine Ungleichbehandlung bestünde nicht.
V. Resümee Der Kampf um die Deutungshoheit der inneren Sicherheit ist in vollem Gange. Das Bundesverfassungsgericht hat sich weit aus dem Fenster gelehnt und gestaltet dieses Konstrukt intensiv mit. Während allen Flexibilisierungsbemühungen im Bereich der strafprozessualen Ermächtigungsgrundlagen Einhalt zu gebieten ist, bedarf insbesondere der Bereich präventiv-polizeilicher Maßnahmen einer intensiven Kontrolle. Hier ist das Politikfeld der inneren Sicherheit deutlich aus dem Ruder gelaufen. Das Bundesverfassungsgericht sollte sich freilich nicht allein hierauf konzentrieren. Denn ansonsten würde sich der Gesetzgeber ermuntert sehen, im materiellen Strafrecht noch mehr als bislang nachzulegen.
Künste und Kniffe, Worte und Begriffe, die wohl Manchen staunen machen Über die Gabe, in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Schrifttum das rechte Wort zur rechten Zeit zu finden, und über zweifelhafte Ergebnisse Von Michael Hettinger
I. „Woher nehmen wir eigentlich die Gewissheit, dass die andauernde Befassung mit Worthülsen nicht bleibende Schäden im Großhirn verursacht? Es wäre interessant zu erfahren, ob die Allgegenwart der verwalteten Sprache nicht dazu führen muss, dass auch unser wissenschaftliches Fragen an Schärfe und Biss verliert … Schlimmer als alle Verstöße gegen sprachliche Reinheitsgebote wiegt die schleichende Regression der Genauigkeit eines Denkens, das hinter den Sprachmüllfassaden unweigerlich Schaden nimmt“. Wer bis dahin gelesen hat, mag aufatmen, wenn er weiterlesend erfährt, es handle sich hier nicht um den Standpunkt eines Juristen, womöglich eines Strafrechtlers oder einer Strafrechtlerin, sondern um den eines Kollegen der Klassischen Philologie, der sich mit den zitierten Worten gegen „eine zu Übergriffen neigende Verwaltungssprache“ der „Bürokratie“ – wer kennte sie nicht? – wendet.1 Von Ferne2 erinnern diese Sätze an die Antwort des Meisters Kung (vulgo: Konfuzius, heute oft Kungfutse) auf die Frage Desï Lu’s, was er zuerst in Angriff nähme, übertrüge ihm der Fürst von We (oder: Wei) die Regierung; nämlich: „Sicherlich die Richtigstellung der Begriffe“.3 Dieses kurze „Gespräch“ beendet Kungfutse so: „Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande; kommen die Werke nicht zustande, so gedeiht Moral und Kunst nicht; gedeiht Moral und Kunst nicht, so treffen die Strafen nicht; treffen die Strafen nicht, so weiß das Volk nicht, wohin Hand 1 Schwindt, Schablonenzauber und Philologie, Forschung & Lehre 2012, S. 873. MayerMaly meinte schon 1984, „Verbogene Bürokratensprache im Zusammenhang mit einem Abbau der Sprachkultur führe dazu, daß sich der Gesetzgeber nicht mehr klar und kurz ausdrücken kann“; zit. nach Barfuß, DRiZ 1987, 50. 2 Mag auch hohl, verbogen oder verschwiemelt nicht notwendig auf „falsch“, sondern „nur“ auf „haltet mich am Gesagten nicht fest, es kann auch anders (gemeint) sein“, hinauslaufen. 3 Zit. nach Wilhelm (Hrsg.), Kungfutse, Gespräche. Lun Yü, 1982, (Buch XIII, 3) S. 131.
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und Fuß setzen. Darum sorge der Edle, daß er seine Begriffe unter allen Umständen zu Worte bringen kann und seine Worte unter allen Umständen zu Taten machen kann. Der Edle duldet nicht, daß in seinen Worten irgendetwas in Unordnung ist. Das ist es, worauf alles ankommt“.4 Zeitlich und örtlich, in Teilen auch sachlich, näher liegen freilich – den Bereich des Strafrechts betreffend – Kritiken aus dem vergangenen Jahrhundert, die allerdings im Wesentlichen meist auf die Kriminalpolitik des Gesetzgebers und seine „Kunst“ des Verfertigens von Gesetzen,5 ab und an auch auf die Rechtsprechung,6 gemünzt sind, hingegen selten das Schrifttum betreffen.7 So schrieb etwa Beling, der Jurist könne den Willensinhalt eines Gesetzes insoweit nicht erkennen, „als der Gesetzgeber selber kein rechter Denker war. Fehlt dem gesetzgeberischen Denken das den Denknachfolger Zwingende, steht nicht der logische Aufriß einfach, schlicht, unkompliziert, einheitlich vor unserem Auge, so mögen die sachlichen Wertungen an sich noch so beifallswert sein, es stellt sich doch praktisch Unbrauchbarkeit ein“8. Beling schrieb diese Sätze in seiner ausführlichen Kritik des Entwurfs eines StGB von 1919. Monita solcher Art kommen – selbstredend – bis in unsere Tage (und gewiss auch darüber hinaus) immer wieder vor, mögen die meisten Kritiker auch weniger das „Handwerkliche“ im Auge haben als die Ergebnisse der Entscheidungen oder eben die kriminalpolitische Richtung, die sie trägt, die „man“ aber nicht (oder „nicht so“) billigen mag.9 Letztere stehen 4 Wie Fn. 3. Weitere Zitate zum Verhältnis Sprache und Recht bei Barfuß, DRiZ 1987, 49. Zum Stil der Juristen s. die Nachw. und Ratschläge bei Walter, Kleine Stilkunde für Juristen, 2. Aufl., 2009. Zur „Legislative(n) Technik“ (immer noch) manches Beherzigenswerte bei Wach, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Allgemeiner Teil (= VDA), VI. Bd., 1908, S. 1 – 83. 5 Vgl. etwa Maurach, JZ 1962, 380 ff.; Nedelmann/Thoss/Bacia/Ammann, Kritik der Strafrechtsreform, Vorwort von Schmid, 1968; Baumann (Hrsg.), Misslingt die Strafrechtsreform? Der Bundestag zwischen Regierungsentwurf von 1962 und Alternativ-Entwurf der Strafrechtslehrer von 1966, 1969; Hettinger, GA 1995, 399 ff. mit Zitat S. 429 aus Belings Kritik des Strafgesetzentwurfs von 1919, in: Methodik der Gesetzgebung, insbesondere der Strafgesetzgebung, 1922, S. 19 ff.; Schroeder, in: Beiträge zur Gesetzgebungslehre und zur Strafrechtsdogmatik, 2001, hrsg. von Hoyer S. 3 ff.; Lackner, Strafgesetzbuch mit Erläuterungen. Das Sechste Strafrechtsreformgesetz. Einführung und Synopse (Nachtrag zur 22. Aufl.), 1998, S. V-IX. 6 Schroeder (Fn. 5), S. 35 ff.; Fischer, in: FS Hamm, 2008, S. 64 ff.; Hettinger, in: FG Paulus, 2009, S. 79 ff. 7 Lackner, FS Pötz, 1993, S. 149 ff.; Burkhardt, in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die Deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende. Rückbesinnung und Ausblick, 2000, S. 111 – 157 mit Erwiderung Hettinger, ZRG GA 120 (2003), S. 912 ff.; Fischer (Fn. 6), S. 68 ff. 8 Beling (Fn. 5), S. 183; eine solche Kritik trägt, wiewohl die Sicht auf die Funktion des Gesetzes sich vielfältig ausdifferenziert hat, m. E. auch heute noch. Zu Ernst (v.) Beling (1866 – 1932) s. die schöne Skizze von Spendel, Kriminalistenporträts. Neun biographische Miniaturen, 2001, S. 39 – 48 m.w.N. 9 Beispielhaft: Hirsch, in: GedS Hilde Kaufmann, 1986, S. 133 – 165; auch Hirsch, Strafrechtliche Probleme, in: Kohlmann (Hrsg.), Schriften aus drei Jahrzehnten (Bd. I), 1999, S. 25 – 59; Schünemann, Nulla poena sine lege?, 1978; Zipf, Kriminalpolitik, 2. Aufl. 1980;
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hier nicht im Vordergrund, vielmehr gilt das Augenmerk in erster Linie der Klarheit der Regelungen und der „Richtigkeit“ der Rechtssprache. Wiederum10 soll Einiges angetippt werden, von dem vermutet werden darf, dass ein kritisches Überdenken der „gemeinsamen Sache“ des Strafrechts diesem dienlich sein könnte. So wünscht man sich selbstverständlich den Gesetzgeber i. S. Belings als „rechten Denker“, wozu (nach Kungfutse) gehört, dass dessen Begriffe richtig sind, nichts „in Unordnung“ ist. Die folgenden kritischen Anmerkungen und „Anfragen“ sind von vornherein insofern „negativ besetzt“, als zumindest Merkwürdiges, Bedenkliches bis hin zu Missbilligendswertem – kurz – angesprochen werden soll. Ausführliche „Begründungen“ sind in diesem Rahmen schon nicht angestrebt.11 Maßstab ist die Meinung des Autors.
II. Es ist schon öfter bemerkt worden, dass der Phantasie bei der Bezeichnung von Gesetzen, soweit sie eine ihren Inhalt charakterisierende, d. h. von anderen Gesetzen abhebende „Bezeichnung“ erhalten (müssen), keine Grenzen gesetzt zu sein scheinen.12 Dass insoweit ab und an Versteckspiele stattfinden, räumte das Bundesministerium der Justiz selbst ein, wenn es in dem von ihm herausgegebenen „Handbuch der Rechtsförmlichkeit“ in der 2. Auflage hieß, ein Nachteil der Technik bei „Änderungsgesetzen“ bestehe darin, dass „vor der Öffentlichkeit eine Verschlechterung der Rechtslage verschleiert werden“ könne.13 Eine Verschleierung der („wahren“) Hettinger, Entwicklungen im Strafrecht und Strafverfahrensrecht der Gegenwart. Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, 1997, S. 32 ff.; für die Zeitspanne 1983 – 1996 viele Nachw. zu Kritiken an Entwürfen oder Gesetzen ebd. S. 110 – 132 (Literaturverzeichnis); zum 6. StrRG etwa Dencker/Struensee/Nelles/Stein, Einführung in das 6. Strafrechtsreformgesetz 1998, 1998; Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie Frankfurt a.M. (Hrsg.), Irrwege der Strafgesetzgebung, 1999; s. auch Hettinger, in: FS Küper, 2007, S. 97 f., 101, jeweils m.w.N.; ferner Groß, in: FS Müller, 2008, S. 217 – 234 m.w.N. zu weiteren Fragen, die in diesem Beitrag nicht zur Sprache kommen. 10 S. schon Hettinger, in: FG Paulus, 2009, S. 73 ff. 11 Angemerkt sei, dass es im Folgenden grds. nicht um die Kritik an Personen geht, auch dort nicht, wo von Personen gemachte Gesetze oder Entscheidungen zitiert werden. Beim Schrifttum sehe ich von „Nachweisen“ weitestgehend ab, weil Vollständigkeit nicht gewährleistet werden könnte. I.Ü. gilt ohnehin, was immer gilt: Unberechtigte Kritik fällt auf den Kritiker zurück. 12 Zu den Einzelheiten vgl. das instruktive Handbuch der Rechtsförmlichkeit. Hrsg. vom Bundesministerium der Justiz, 3. Aufl. 2008. Es enthält „Empfehlungen des Bundesministeriums der Justiz zur einheitlichen rechtsförmlichen Gestaltung von Gesetzen und Rechtsverordnungen nach § 38 Abs. 3 Gemeinsame Geschäftsordnung (der Bundesministerien) II, kurz GGO II. 13 Handbuch der Rechtsförmlichkeit. Hrsg. vom Bundesministerium der Justiz, 2. Aufl. 1999, Rn. 508 ff., 517; in der 3. Aufl. 2008 des Handbuchs (Fn. 12) ist die zit. Passage aus (jetzt) Rn. 500 entfernt worden …; zu den Möglichkeiten, ein Gesetz in einem anderen Gesetz zu verbergen, s. Schneider, Gesetzgebung, 3. Aufl., 2002, Rn. 332, 397 mit Fn. 64. Ein
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Absicht kann man etwa in den beiden Justizmodernisierungsgesetzen sehen, in denen der Wortbestandteil „Modernisierung“ den seit längerem dominierenden, auch hier anwesenden, Einspargedanken14 überdecken soll; angeblich ging es – nicht zum ersten Mal – um Straffung und Vereinfachung des Verfahrens.15 Ob mit einem Qualitätsverlust zu rechnen sei, sagte man lieber nicht. Es wird hier wohl genügen, auf die Einführung des § 354 Abs. 1a StPO hinzuweisen, eine Modernisierung, die erst durch das BVerfG in eine verfassungsrechtlich „gerade noch akzeptable Form“ gebracht werden konnte,16 aber systematisch einen Fremdkörper in der alten StPO, d. h. dem Strafverfahrensrecht vor Inkrafttreten des Verständigungsgesetzes, bildet(e). Ziemlich übel erscheint insoweit auch das 28. StÄG vom 13. 1. 1994. Laut gesetzlicher Überschrift wurde seinerzeit, in schicklichem Abstand, bevor man die Reform der Korruptionsdelikte in Angriff nahm, in einem neuen § 108e StGB – dem äußeren Anschein nach – eine Regelung zur Abgeordnetenbestechung eingeführt,17 einige Zeit später dann „auch“ eine Reform der Voraussetzungen und Rechtsfolgen der §§ 331 ff. StGB mit dem Ziel der Ausweitung und Verschärfung vollzogen.18 Letz„klassisch“-trauriges Beispiel für eine Verschleierung – zynisch und mit hohem Täuschungswert – war das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. 4. 1933. 14 Das Erste dieser Gesetze stammt vom 24. 8. 2004, das Zweite vom 22. 12. 2006. Beide brachten weitreichende Änderungen der StPO und des GVG. 15 BT-Drucks. 15/999, S. 13 f.; 15/1508, S. 13. Straffung und Beschleunigung markieren jedenfalls heute den Weg zu einem „kurzen Prozess“; pars pro toto §§ 153a, 257c StPO. Treffende Bezugnahme auf die „Beschleunigungsgesellschaft“ bei Kudlich, Erfordert das Beschleunigungsgebot eine Umgestaltung des Strafverfahrens?, Gutachten C zum 68. DJT, Berlin 2010, C 9; s. dazu auch Hettinger, Entwicklungen (Fn. 19), S. 34 mit Fn. 143. 16 Lehrreich zum Gesetz, seinen Folgen für das Revisionsverfahren und den Korrekturen durch das BVerfG Kuckein, in: KK-StPO, 6. Aufl., 2008, § 354 Rn. 26a ff., 26e ff.; s. dazu auch Strate, NStZ 2010, S. 362 – 366; ferner die Nachw. bei Hettinger, in: FS Roxin II, 2011, S. 275 (Fn. 7). 17 So kann man die zeitliche Nähe jedenfalls deuten. § 108e StGB ist eindeutig eine Mogelpackung, bestenfalls ein schlechter Witz; dazu die Nachw. bei Wessels/Hettinger, Strafrecht BT/1, 36. Aufl. 2012, Rn. 1125; ferner Hettinger, NJW 1996, S. 2263 f. mit Fn. 7; ders., Entwicklungen (Fn. 19), S. 23 mit Fn. 88, 89; s. auch Wolf, NJW 2006, S. 2737; ders., ZRP 2012, 251 f.; Fischer, StGB, 60. Aufl., 2013, § 108e Rn. 1a. Einen neuen Anlauf, „sich ehrlich zu machen“, hat die Fraktion BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN unternommen: Ihr Gesetzentwurf vom 25. 5. 2011 heißt denn auch „Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes – Bestechung und Bestechlichkeit von Abgeordneten“, BT-Drucks. 17/5933. Die Begründung führt u. a. aus, dass der deutsche Gesetzgeber sich zwar dazu durchringen konnte, die Bestechlichkeit ausländischer Abgeordneter im Inland unter Strafe zu stellen, inländische Abgeordnete hingegen lediglich in Fällen des Stimmenkaufs und -verkaufs bestrafen zu wollen. „Die sich daraus ergebende Ungleichgewichtung des Schutzes deutscher und ausländischer bestechlicher Parlamentarier ist jedoch völlig unglaubwürdig und nicht länger hinnehmbar“, ebd., S. 4. 18 Dazu Hettinger, Entwicklungen (Fn. 9), S. 27 ff. m.w.N.; diese Ausweitung hatte – absehbar (noch weitergehend der Entwurf eines Korruptionsbekämpfungsgesetzes des Bundesrats vom 18. 12. 1995, BT-Drucks. 13/3353; dazu Hettinger, NJW 1996, S. 2263, 2268 f., 2273) – zur Folge, dass das Merkmal der Unrechtsvereinbarung „im Randbereich kaum trennscharfe Konturen aufweist“, so BGHSt 53, 6, 17 mit Anm. Hettinger, JZ 2009, S. 370 – 372; vgl. auch Wessels/Hettinger, BT/1, Rn. 1096 f., 1107, 1109, 1112 ff.
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teres geschah tatsächlich, ersteres hingegen war und ist ein Etikettenschwindel, ein Verstoß gegen die „Firmenwahrheit“; denn geregelt ist nicht etwa die Bestechlichkeit, sondern etwas, was so gut wie nie vorkommt, weil es zum einen zwischen „Politik“ und „Real“- sowie „Finanzwirtschaft“ viel subtiler (zu-)geht, zum anderen nachgerade exquisite Dummheit oder Naivität voraussetzt: Stimmenkauf oder -verkauf bei Wahlen oder Abstimmungen in Parlamenten oder Gemeinderäten. Von ganz besonderer Güte in Hinsicht auf Verschleierung des Gewollten ist das eben schon erwähnte, am 4. 8. 2009 in Kraft getretene „Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren“, das am 7. 11. 2012 auf den Prüfstand des BVerfG gestellt wurde – und dem ich innigst ein baldiges „Ableben“ wünsche, leider aber nicht prophezeien kann.19 Schon im Vorfeld seiner Entstehung ist über dieses Gesetz, dem zwei Aufsehen erregende Entscheidungen des BGH vorausgegangen waren,20 intensiv diskutiert worden.21 Die Charakterisierung, die Strate dem Gesetz 2010 hat angedeihen lassen, bringt auf den Punkt, worum es sich handelt. Strate schreibt: „Selten ist ein Gesetz und seine Begründung so widersprüchlich – man kann auch landläufig sagen: verlogen – gewesen“22. Dieses Gesetz ebnet einer Zwei-Klassen-Justiz, nunmehr durchgehend, den Weg.23 Es wäre aus meiner Sicht notwendig und deshalb höchst erfreulich, wenn zum Zeitpunkt des Drucks dieser Festschrift der letzte Satz in „hätte … geebnet“ umformuliert werden könnte.24 Ein Ärgernis anderer Art stellt die sprachliche Zersetzung strafrechtlichen Denkens durch mit martialischen Bezeichnungen versehene Gesetze dar, die (von mir) sog. Bekämpfungsgesetze. Seit dem 18. 2. 1927 hat der deutsche Staat den Kampf gegen die vielfältigen „Herausforderungen“ (was für ein abgenutztes Wort, mit dem sich Mancher zum Helden stilisieren will) aufgenommen. Bekämpfte man zunächst Geschlechtskrankheiten, so begegnete dem aufmerksamen Zeitgenossen bereits am 14. 12. 1937 ein Erlass über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei. Den Reigen neuer Bekämpfungsgesetze25 eröffnete nach 1945 am 27. 7. 19
Zum Gesetz Hettinger, JZ 2011, S. 292 – 301 mit Fn. 64; Murmann, in: FS Roxin II, 2011, S. 1401, der prognostiziert, dass angesichts der Interessenlage der Beteiligten sich die Prozessprinzipien gegen diese Interessen nicht werden behaupten können; weitere Nachw. bei Hettinger, in: FS Roxin II, 2011, S. 273, 275 (Fn. 8); ferner die Kommentierungen zu § 257c von Eschelbach, in: Graf (Hrsg.), StPO. Kommentar, 2. Aufl., 2012 sowie von Temming, in: Gercke/Julius/Temming/Zöller (Hrsg.), Strafprozessordnung, 5. Aufl., 2012 und von MeyerGoßner, StPO, 55. Aufl., 2012, jeweils m.w.N. 20 BGHSt 43, 195; BGHSt GrS 50, 40. 21 Huttenlocher, Dealen wird Gesetz – die Urteilsabsprache im Strafprozess und ihre Kodifizierung, 2007; Hettinger, in: FS Müller, 2008, S. 261 – 282, jeweils m.w.N. 22 NStZ 2010, S. 362, 365; in der Bewertung übereinstimmend Hettinger, JZ 2011, S. 292, 297 ff. 23 Hettinger, JZ 2011, S 292, 301; zu § 153a StPO, dem älteren Geschwister, ebd., 293. 24 Die Entscheidung des BVerfG (2 BvR 2628/10) vom 19. 3. 2013 versucht, der neuen Gesetzeslage gegen eine weithin (noch) andere Praxis einen Sinn zu geben, den der Gesetzgeber bestenfalls in Teilen als künftige Praxis erhofft hat. 25 Zu diesen „Bekämpfungsgesetzen“ Hettinger, NJW 1996, S. 2263 f. m.w.N.
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1976 das Erste Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität. Den schwerlich überbietbaren Höhepunkt – man betrachte in Ruhe den Begriff – dürfte das sog. Verbrechensbekämpfungsgesetz bilden.26 „Bekämpft“ wurde und wird auch seither mit strafrechtlichen Gesetzen Vieles; wie schon erwähnt, „die“ Korruption (Gesetz vom 13. 8. 1997), Sexualdelikte und andere gefährliche (!) Straftaten (Gesetz vom 26. 1. 1998), gefährliche Hunde (Gesetz vom 12. 4. 2001, aufgehoben durch das Gesetz vom 19. 4. 2006), Steuerverkürzungen (Gesetz vom 19. 12. 2001), Schwarzarbeit (Gesetz vom 23. 7. 2002; weiteres Gesetz vom 23. 7. 2004 – Intensivierung der Bekämpfung der Schwarzarbeit und damit zusammenhängender Steuerhinterziehung), Betrug und Fälschung von Zahlungsmitteln im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln (Gesetz vom 22. 12. 2003), Computerkriminalität (Gesetz vom 7. 8. 2007), Geldwäsche (Ergänzung vom 13. 8. 2008), sexuelle Ausbeutung von Kindern (Gesetz vom 31. 10. 2008), Geldwäsche und Steuerhinterziehung (Schwarzgeldbekämpfungsgesetz vom 28. 4. 2011) und Zwangsheirat (Gesetz vom 23. 6. 2011).27 Was will „man“ mit dem Wort „Bekämpfung“ erreichen? Den „Schulterschluss“ in der Partei, Fraktion oder Koalition? Sich selbst als wachsam und „an vorderster Front kämpfend“ präsentieren? Eine entsprechende „Bewusstseinsbildung“ der „Menschen“ „draußen im Lande“ bewirken? Soll es ganz allgemein ein Appell an die „Instinkte“ sein? Nun, was auch immer damit bezweckt sein mag: Der Schritt zur hysterisierenden Personalisierung wäre nur noch ein kleiner. Nach meinem Empfinden sollte von solcher Art Bezeichnungen Abstand genommen werden; sie stellt einen üblen Missgriff dar.28 In der Festgabe für Paulus aus dem Jahr 2009 stand am Beginn einer kleinen Wanderung durch die Gefilde des Strafrechts das 6. StrRG und hier zunächst die völlig missratene Neuregelung der §§ 244 Abs. 1 Nr. 1a Alt. 2, 250 Abs. 1 Nr. 1a Alt. 2 sowie des § 177 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 4 StGB.29 Da man einen sachlichen Fehler in den Grundlagen (Voraussetzungen) einer Regelung argumentativ nicht „wirklich“ beheben kann, wie alle vielfältigen Bemühungen im Schrifttum, den Normen einen akzeptablen Sinn im Nachhinein zu geben, belegen, weshalb schließlich auch der BGH „protestierte“30, sah der Gesetzgeber sich – immerhin schon 26 Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und anderer Gesetze (Verbrechensbekämpfungsgesetz) vom 28. 10. 1994; zu dem Kern dieses Gesetzes, der Reform der Körperverletzungsdelikte, s. Hettinger, GA 1995, S. 399 – 429. 27 Ein Schaufenstergesetz, denn der einzig neue Regelungsgegenstand wird wohl symbolisch bleiben; alles andere war schon unter Strafe gestellt, vgl. Wessels/Hettinger, BT/1, Rn. 367a. 28 Vgl. auch Hettinger, NJW 1996, S. 2263 f. 29 Hettinger, in: FG Paulus, 2009, S. 73 ff.; ders., in: FS Roxin II, 2011, S. 273, 279 f.; zum literarischen Echo auf das 6. StrRG s. die Nachw. bei Hettinger, in: FS Küper, 2007, S. 95, 97 Fn. 19; vgl. ferner Fischer, 15 Jahre Sechstes Strafrechtsreformgesetz – Blick zurück nach vorn, FS Frisch, 2013. 30 BGHSt 52, 257 – endlich einmal –, es sei dankbar vermerkt. Ganz anders der Zweck der in Fn. 20 genannten Entscheidungen: Sie dienten m. E. zumindest auch dem Schutz eines das Strafprozessrecht missachtenden Teils der Richterschaft; vgl. auch Eschelbach, in: Graf
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12 Jahre nach Inkrafttreten der Bestimmungen – veranlasst, tätig zu werden: „Um sicherzustellen, dass in jedem Einzelfall eine angemessene Strafe verhängt werden kann, bedarf es einer Strafzumessungsregelung für den minder schweren Fall“31, ließ der Gesetzentwurf sich ein. Man wollte also den Fehler-Teufel mit Beelzebub austreiben, indem man eine ihrerseits misslungene Rechtsfigur32 als (vermeintliches All-)Heilmittel zum Einsatz brachte. § 244 StGB erhielt einen neuen Abs. 3: „In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren“. Um die §§ 250, 177 StGB glaubte man, sich nicht sorgen zu müssen, da diese Normen schon Strafrahmen für minder schwere Fälle aufwiesen. Wenn es eines Beweises bedürfte, dass unbestimmte Normen die Trägheit des Denkens befördern, womöglich auch schieren Unverstand überdecken können, hier könnte er vor den Augen aller Kundigen erbracht sein, wobei die Tatsache, dass dies auf dem Gebiet des Strafrechts geschehen ist, der Sache eine ganz besondere Note gibt. Da an anderen Stellen die nähere Begründung bereits nachzulesen ist,33 hier nur noch in aller Kürze: Ein Strafrahmen für minder schwere Fälle kommt – selbstverständlich! – erst und nur dann zur Anwendung, wenn die Voraussetzungen des Straftatbestandes, dessen Rechtsfolge er modifiziert, gegeben, d. h. prozessordnungsgemäß festgestellt sind. Eben hieran, am festgestellten Gegebensein dieser tatbestandlichen Voraussetzungen, fehlt es bei den Fallgruppen der §§ 244 Abs. 1 Nr. 1a Alt. 2, 250 Abs. 1 Nr. 1a Alt. 234 und 177 Abs. 3 Nr. 1 Alt. 2 StGB aber gerade. Es war ja die (Hrsg.), StPO (Fn. 19), § 257c Rn. 1; er deutet die in Fn. 20 zit. Entscheidungen als ein als „Notmaßnahme zur Einschränkung einer Praxis der gegen den BGH rebellierenden Tatgerichte etablierte(s) Richterrecht“ (m.w.N.). 31 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 17/4143 v. 8. 12. 2010, S. 7 f.; so hatte schon der Referentenentwurf vom Mai 2010, S. 5 f., argumentiert. Die Abgeordneten des Rechtsausschusses des BT schlossen sich dem an und empfahlen insoweit (zu den anderen, allerdings kontrovers diskutierten Problemen s. u. III., Text nach Fn. 66) einstimmig die Annahme; vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss), BTDrucks. 17/6505 v. 6. 7. 2011, S. 4. 32 Was sich in „schöner“ Weise daran zeigt, dass die Abgeordneten im Rechtsausschuss deren Charakter offenkundig gar nicht begriffen hatten; zu den minder schweren Fällen und ihrer Entstehungsgeschichte näher Hettinger, in: FS Pötz, 1993, S. 77 – 113. 33 Hettinger, in: FS Roxin II, 2011, S. 273, 281 f. mit Verweis auf dens., in: FS Pötz, 1993, S. 77 ff. 34 Möglich, dass sich jemand einer Anm. Denckers, JR 1999, S. 36, erinnerte; Dencker hatte anlässlich einer Entscheidung des 3. Strafsenats zu § 250 Abs. 1 Nr. 2 StGB a.F. (im Verhältnis zu §§ 250 Abs. 1 Nr. 1a, Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2, Abs. 3 StGB) im Hinblick auf die Gerechtigkeit zur Vermeidung unerträglicher Ergebnisse erwogen, § 250 Abs. 3 StGB dann anzuwenden, wenn sich der Anwendungsbereich des Tatbestands als zu weit und deshalb dessen Strafrahmen als zu streng erweise. Vorausgesetzt war also – gerade umgekehrt –, dass die Bejahung der Voraussetzungen der Norm selbst unvermeidbar war! Vgl. auch Hettinger, in: FS Roxin II, 2011, S. 273, 282 f. Nebenbei ist das nicht das schlechteste Beispiel für die Empfehlung, in der Ausbildung die Grundlagenfächer – wozu die Rechtsgeschichte gehört – wieder stärker herauszustellen; denn hier ist etwas geschehen, was auch nach Kungfutse („Beim zweiten Mal ist es ein Fehler“) nicht hätte passieren dürfen: etwas Falsches zu wiederholen; s. Küper, Strafrecht BT. Definitionen mit Erläuterungen, 8. Aufl., 2012, S. 455, 460 m.w.N.
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durch die Reform 1998 entstandene, durch Auslegung nicht auflösbare Widersprüchlichkeit der Normen der Anlass, Änderungsbedarf anzumelden.35 Verbesserungswürdiges, zumindest Überprüfungswertes gibt es aber auch an anderen Stellen. Auf die Schwächen in der Formulierung der §§ 16, 46 StGB ist schon anderenorts hingewiesen worden.36 Für § 16 StGB war insoweit (u. a.) die gesetzliche Überschrift hervorgehoben und gefolgert worden, da der Täter über Tatumstände, nicht über Tatbestandsmerkmale irren müsse, handle es sich bei Unkenntnis auch nur eines äußeren Tatumstands um einen Tatumstandsirrtum und gerade nicht, wie Rechtsprechung und Teile der Literatur meinten und meinen, um einen Tatbestandsirrtum.37 Neuerdings hat, soweit ersichtlich erstmals, ein Strafsenat des BGH von einem Tatumstandsirrtum gesprochen,38 was aus meiner Sicht begrüßenswert ist. In diesem Zusammenhang sei die Problematik der Begrifflichkeit in § 46 Abs. 2 und Abs. 3 StGB nochmals kurz aufgegriffen, die ja auch im Zusammenhang mit § 267 Abs. 1 – 3 StPO zu sehen ist.39 Während § 46 Abs. 3 StGB „nur“ die Selbstverständlichkeit40 zum Ausdruck bringen will, dass bei der Zumessung der Strafe Merkmale des gesetzlichen Tatbestands weder für noch gegen den Täter berücksichtigt werden dürfen,41 der Begriff „Umstände“ in diesem Zusammenhang also nur Verwirrung stiftet, weil ein Umstand nie Merkmal des gesetzlichen Tatbestands ist (und umgekehrt), hat § 46 Abs. 2 StGB das im Auge, was als „Umstand“ bei der Strafzumessung für oder gegen den Täter sprechen kann. Zu den dort „namentlich“ aufgeführten „Umständen“ gehören u. a. „die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat“. Führt nun beispielsweise eine Körperverletzung bei dem Tatopfer
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Die Entwicklung insbes. der §§ 244, 250 ist eben (auch) eine Leidensgeschichte; vgl. außer den Nachw. in Fn. 34 auch Hettinger/Gurlit/Gröschler/Roth/Zopfs, in: Nomos Stud.Jur. 1/2012, S. 12; ferner Hettinger, JZ 1982, S. 849 – 853 und Zopfs, GA 2012, S. 260 f. mit Fn. 16. 36 Hettinger, zuletzt in: FG Paulus, 2009, S. 73, 80 f. mit Fn. 40 – 43. 37 Hettinger, JuS 1989, Lernbogen 6/89, L 42; ders., GA 1990, S. 535. 38 1. Strafsenat, BGH NStZ 2012, S. 160 Rn. 6, 22, 26 = wistra 2011, S. 465. Küper, Jura 2007, S. 260 Fn. 2, meint, ganz genau müsse man von einem Tatbestandsumstandsirrtum sprechen, was aber angesichts der Umständlichkeit niemand tue. Es wäre dies m. E. auch – zumindest nach derzeitiger Sachlage – ohne hinreichende Unterscheidungskraft; s. den folgenden Text. – Art. 13 schweiz. StGB nennt den Tatumstandsirrtum übrigens Sachverhaltsirrtum. Das öst. StGB regelt die „irrtümliche Annahme eines rechtfertigenden Sachverhaltes“ und den „Rechtsirrtum“ in §§ 8, 9. Die Bestimmungen zu „Vorsatz“ und „Fahrlässigkeit“ (§§ 5, 6 öst. StGB) regeln den Sachverhaltsirrtum mittelbar. 39 Vgl. Hettinger, GA 1993, S. 1, 7 f. Zum Bezug § 16 StGB-§ 267 Abs. 1 StPO ders., JuS 1989, Lernbogen 3/89, L 19 f. 40 Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot bei strafrahmenbildenden Umständen (§§ 46 Abs. 3, 50 StGB), 1982, S. 34, 36 ff. 41 Was freilich nach wie vor nicht immer beachtet wird, wie die halbjährlich publizierten Übersichten zur Rechtsprechung zum Strafzumessungs- und Maßregelrecht belegen; etwa Detter, NStZ 2000, S. 185 f.; S. 579; NStZ 2004, S. 136; S. 488; NStZ 2006, S. 147; S. 562; 2008, S. 266; S. 555; 2010, S. 137 f.; S. 563; 2011, S. 333 f.
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zwar nicht zum Verlust des Gehörs,42 aber doch zu einer unbehebbaren Schwerhörigkeit, so liegt hierin ein Umstand, der zu einer höheren Strafe führen muss als derjenigen, die ohne sein Vorliegen zu verhängen wäre. Der „Umstand“ firmiert in § 267 Abs. 1 S. 1 StPO in diesem Zusammenhang zutreffend unter dem Begriff „Tatsachen“. So bezeichnet die StPO die äußeren und inneren Tatsachen, die „Umstände“ also, die im konkreten Lebenssachverhalt den objektiven und subjektiven Tatbestand der konkreten Straftat repräsentieren.43 Eine Unstimmigkeit ist allerdings nicht auflösbar: Während § 28 Abs. 2 StGB unter strafschärfenden und -mildernden Merkmalen qualifizierende oder privilegierende Tatbestandsmerkmale versteht,44 benutzt die StPO in §§ 263 Abs. 2, 267 Abs. 2 hierfür die Begriffe vermindern oder erhöhen45. Gelegentlich sollte die 1974 versäumte Vereinheitlichung der Begrifflichkeit nachgeholt werden. Auf diese Weise wäre manche Diskussion vermeidbar.46 Dass (auch) dem Gesetzgeber immer wieder einmal Bedenkliches gelingt, ist nicht neu und nicht immer erheiternd, führt es u. U. den um Verstehen Bemühten doch zu merkwürdigen Überlegungen (hoffentlich nicht i. Z. mit § 244 Abs. 3 StGB n.F.). Bei den „Bekämpfungsgesetzen“ wurde bereits das Gesetz erwähnt, das nicht zufällig zeitgleich mit dem 6. StrRG am 26. 1. 1998 verkündet worden war: Das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten. Schon die Bekämpfung von Delikten ist allenfalls als bildhaft gemeinte Umschreibung verkraftbar, greifen doch Delikte niemanden an; gemeint sind selbstverständlich die Täter, aber das sagt man (immerhin) lieber nur auf diese Weise „vermittelt“. Mit leichtem Erstaunen nimmt der geneigte Leser freilich im Weiteren zur Kenntnis, dass es nach Meinung des Gesetzgebers offenbar auch „ungefährliche“ Straftaten gibt, obwohl das doch – Subsidiarität des Strafrechts, „ultima ratio“47 – ausgeschlossen sein sollte. Oder muss man das so verstehen, dass das Strafrecht in unseren Tagen in erster Linie Steuerungsinstrument sein soll wie die Polizeigesetze oder etwa das StVG i. V. m. der StVO, der StVZO und dem OWiG? Womöglich die Allzweckwaffe, die ein bestimmter Typus „Politiker“ wünscht? Doch wohl nicht. „Gefährlich“ war also – zumindest – überflüssig. 42
Dazu Hirsch, in: LK-StGB, 11. Aufl., 2001, § 226 Rn. 11. „Umstände“ i. S. des § 46 Abs. 2 StGB sind eben niemals Tatbestandsmerkmale i. S. des § 46 Abs. 3 StGB; für den spezielleren Tatsachenbegriff des § 267 Abs. 1 S. 1 StPO gilt nichts anderes. 44 Vgl. nur Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., 2011, § 28 Rn. 9 f.; Schünemann, in: LK-StGB, 12. Aufl., 2007, § 28 Rn. 66 ff.; Hettinger, Doppelverwertungsverbot (Fn. 40), S. 23, 26. 45 Vgl. Meyer-Goßner, StPO (Fn. 19), §§ 263 Rn. 5 f.; 267 Rn. 15. 46 Etwa die Debatte, die bei Hettinger, Über „Fälle“ als Vergleichsfälle und „Umstände“ als Ausgangswerte oder Bezugspunkte zur Ermittlung der Bewertungsrichtung bei der Strafzumessung. Zugleich zu dem Satz, dass das Fehlen strafmildernder Umstände nicht strafschärfend und das Fehlen strafschärfender Umstände nicht strafmildernd berücksichtigt werden darf, in: FS Frisch, 2013, in Fn. 79 geschildert ist. 47 Weber, in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, 11. Aufl., 2003, § 3 Rn. 19; Jescheck/ Weigend, Lehrbuch des Strafrechts AT, 5. Aufl., 1996, § 26 I 2; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 42. Aufl., 2012, Rn. 9. 43
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Fragen kann man sich auch, ob, wenn eine rechtswidrige Tat „nur eine solche (ist), die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht“ (§ 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB), diese Begriffsbestimmung auch die versuchte Tat umfasst, die verwirklicht, „wer nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt“ (§ 22 StGB). Zur Verwirklichung des Tatbestandes ansetzen ist ja offenkundig etwas anderes als den Tatbestand verwirklichen, ein Weniger. Die Kommentatoren stellen, soweit ich sehe, schon die Frage nicht, sondern suchen – wie es scheint – schnell über den nicht in der Norm stehenden Begriff der Handlung an ihr vorbei zu kommen. Dem Wortlaut nach ziele § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB, so heißt es etwa, primär darauf ab, strafrechtswidrige von nicht strafrechtlichen Handlungen abzugrenzen.48 Nur: Von diesem Ziel weiß der Wortlaut nichts. Es mag das in diesen Wortlaut Hineingelesene gemeint sein, das aber steht auf einem anderen Blatt, nicht im Gesetz. – Dass eine Handlung, um noch bei diesem Begriff zu bleiben, Strafgesetze „verletzen“ könne (s. auch die Überschrift des 3. Titels), wäre Karl Valentin womöglich einen seiner hinreißenden Dialoge mit Liesel Karlstadt wert gewesen. Auch mancher Zeitgenosse wird die Formulierung in § 52 Abs. 1 StGB für schief halten. Freilich scheint mir das hier eine hinnehmbare Umschreibung des Gemeinten zu sein.49 Noch akzeptabel, wenngleich nicht geglückt, wirken auch manche anderen Formulierungen; so etwa die „hilflose Lage“ in § 221 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB, denn nicht die Lage ist oder wird hilflos, sondern ein Mensch (richtig § 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 StGB). Noch weniger gelungen erscheint die „rechtswidrige Absicht“ in § 289 StGB, die seit 1871 im StGB überlebt hat; es geht doch wohl um die Rechtswidrigkeit des Beabsichtigten.50
III. Die Rechtsprechung – wie könnte es anders sein – wartet ebenfalls verschiedentlich mit Formeln und Benennungen auf, die mögliche Genauigkeit vermissen lassen. „Der Angeklagte hat sich nicht straflos an einer eigenverantwortlichen Selbstverletzung bzw. Selbsttötung M’s beteiligt. Seine Verurteilung wegen eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts ist daher auch nicht unter diesem Gesichtspunkt aus48 Eser/Hecker, in: S/S, StGB. Kommentar, 28. Aufl., 2010, § 11 Rn. 37 mit Hinw. auf Hilgendorf, in: LK-StGB (Fn. 44), § 11 Rn. 78; Radtke, in: MüKo-StGB, 2. Aufl., 2012, § 11 Rn. 79; Lackner/Kühl (Fn. 44), § 11 Rn. 18 i. V. m. Rn. 15 vor § 13; Saliger, in: NK-StGB, 3. Aufl., 2010, § 11 Rn. 53 f.; s. auch den Entwurf eines Strafgesetzbuches (StGB), E 1962, Begr., S. 119. Zum Hintergrund Achenbach, MDR 1975, S. 20, der neben dem Begriff Handlung auch den des Verhaltens benutzt. 49 Krit. Schmidhäuser, in: FS Dünnebier, 1982, S. 407 – 420, der den Terminus Gesetzesverletzung nur im Prozessrecht akzeptieren mag (Sinn: fehlerhafte Rechtsanwendung; Legaldefinition in § 337 Abs. 2 StPO), hingegen im materiellen Strafrecht für verfehlt hält, S. 412 ff. 50 Prompt gab und gibt es Streit um die Bedeutung; vgl. Schünemann, in: LK-StGB, 12. Aufl., 2008, § 289 Rn. 23 ff., der (Rn. 22) nachsichtig von der „altmodischen Kategorie der ,rechtswidrigen Absicht‘“ spricht.
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geschlossen“, heißt es etwa in BGHSt 49, 34, 39. Rechtsbegrifflich ist die Verwendung des Wortes „straflos“ in diesem Zusammenhang unzutreffend, denn es fehlt schon an der Strafbarkeit, die Voraussetzung einer eventuellen Straflosigkeit wäre.51,52 Durch Entscheidungen wie auch literarische Äußerungen geistern immer wieder die „subjektive Sicht“, etwa eines Tatbeteiligten,53 oder die „subjektive Vorstellung“54 bis hin zum „subjektiv unbedingten Handlungswillen“, als ob es derlei auch als objektive(n) gäbe. Hier sind, wie man vermuten darf: nachhaltig wirkende, Formulierungen zu besichtigen, die in der Ausbildungsliteratur (vermeintlich) didaktischen Zwecken dienen sollen.55 Ob das pleonastisch oder tautologisch zu nennen ist, mögen Sprachwissenschaftler entscheiden. Immer noch finden sich – auch in der Rechtsprechung – Wendungen, nach denen „bei irriger Annahme eines rechtfertigenden Sachverhalts durch den Angeklagten … der Vorsatz wegen eines Irrtums nach § 16 Abs. 1 S. 1 StGB analog entfallen“56 wäre. Entfallen kann, was zunächst vorhanden war.57 Hält nun jedoch ein Täter irrig, wie im zu entscheidenden Fall des BGH, eine Nothilfelage für gegeben, so weiß er gleichwohl um die Vorsätzlichkeit seines auf „Verteidigung“ gerichteten tatbestandsmäßigen Tuns, und daran ändert auch die juristische Beurteilung als Putativnothilfelage nichts. Da der sog. Erlaubnistatumstandsirrtum nicht gesetzlich geregelt ist, wendet die insoweit h.M. § 16 Abs. 1 S. 1 StGB unmittelbar58 oder eben analog59 an, um, wie 51 Wenn in BGHSt 49, 34, 39 wenige Sätze später darauf hingewiesen wird, dass „kein tatbestandsmäßiger und damit kein strafbarer Vorgang“ vorgelegen habe, wird das besonders deutlich. Die „Teilnahme“ an einem nicht strafbaren Vorgang könnte überhaupt nur als Fahrlässigkeitstat strafbar sein. 52 Dazu schon Hettinger, in: FG Paulus, 2009, S. 73, 81. 53 Z.B. BGH JR 2011, S. 456. 54 Etwa Schäfer, in: MüKo-StGB, 2. Aufl., 2012, § 89a Rn. 26 – für viele. 55 Und dies, obwohl man weiß, dass Falsches lange haften kann. Ein Versuch, dem zu entgehen, bei Hettinger, JuS 1988, Lernbogen 10/88, L 71 – 74; dazu, dass es im Einzelfall einmal etwas kompliziert werden kann, Hettinger, JuS 1989, Lernbogen 3/89, L 18 f. 56 BGH HRRS 2008 Nr. 128 Rn. 16. Insoweit ist die Formulierung in BGH NStZ 2001, S. 530 besser; ob die Entscheidung in der Sache zutrifft, ist eine andere Frage. Im Schrifttum ist die im Text zit. Formulierung (noch) sehr häufig anzutreffen. 57 Gemeint ist: … zu verneinen. Zur umgekehrten Konstellation, dem angeblichen „Ausschluss“ des Vorsatzes bei wesentlicher Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Kausalverlaufs, s. Hettinger, in: FG Paulus, 2009, S. 73, 81 f.; BGH NJW 2011, S. 2065, 2066 Rn. 11 meint, nach st. Rspr. liege „eine wesentliche, den Vorsatz ausschließende Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Kausalverlauf vor, wenn …“ Der Senat beruft sich auf BGHSt 38, 32, 34 und 48, 34, 37; beide Entscheidungen haben aber seine unzutreffende Formulierung nicht verwendet. 58 So verfahren die Anhänger der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen; dazu Lenckner/Eisele, in: S/S (Fn. 48), Rn. 15 ff. vor §§ 13 ff.; ferner diejenigen, die zwar nicht den Tatbestandsvorsatz, wohl aber die Vorsatzschuld verneinen; näher dazu Wessels/Beulke (Fn. 47), Rn. 142 ff., 478 f. m.w.N. 59 Überblick bei Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., 2006, § 14 Rn. 54 ff., 64 ff.; Kühl, Strafrecht AT, 7. Aufl., 2012, § 13 Rn. 67 ff., 70 ff., jeweils m.w.N.
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der BGH neuerdings das Ziel umschreibt, „Wertungsgleichklang“ zu erreichen. Aber wie auch immer: Am Vorsatzwissen ist nicht (mehr) zu rütteln, die Redeweise also unzutreffend. – Angesichts der im Bereich der Schuld(un)fähigkeitsbeurteilung erforderlichen Grenzziehung zwischen den dem Gutachter zugewiesenen Aufgaben und den rechtlichen Schlussfolgerungen, die dem Gericht obliegen, sind ab und an verbale Eiertänze mit (Ab-)Stürzen zu beobachten, was alsdann zu unerfreulichen „Aufhebungen“ führt. Solchen Stürzen soll hier eine geglückte Formulierung des BGH gegenübergestellt werden. Er schrieb, das LG habe „ungeachtet der Persönlichkeitsauffälligkeiten der Angeklagten zu Recht – darin den gehörten psychiatrischen Sachverständigen folgend – das Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB verneint“.60 Immer stellt sich schon und insbesondere in Studium und Referendarzeit die Frage richtigen Zitierens von zur Anwendung gebrachten Bestimmungen,61 wenn es um versuchte Straftaten geht. Dazu findet sich in der Entscheidung des BGH zum „Gubener Verfolgungsjagdfall“62 Anschauungsmaterial: Der 5. Strafsenat führt als die auf eine versuchte gefährliche Körperverletzung anwendbaren Normen „§ 224 Abs. 1 Nr. 4, §§ 22, 23 StGB“ an; eine versuchte Körperverletzung mit Todesfolge bezeichnet er im selben Satz so: „§§ 227, 22, 23 StGB“. Warum § 224 StGB getrennt vorangestellt wird, § 227 dann aber nicht, erschließt sich nicht; Ersteres ist zumindest „unüblich“. Was (mich) mehr stört, ist, dass die klaren Bestimmungen der §§ 12, 23 StGB nicht (hinreichend) genutzt werden, obwohl das m. E. geboten, zumindest aber sinnvoll ist. In Kürze: § 224 StGB ist ein Vergehen i. S. des § 12 Abs. 2 StGB, so dass die Strafbarkeit im Gesetz ausdrücklich bestimmt sein muss, § 23 Abs. 1 Hs. 2 StGB. Danach wäre als Schreibweise vorzugswürdig §§ 224, Abs. 1 und 2, 22 StGB63 und §§ 227 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 12 Abs. 1 StGB. Damit ist dann jeweils alles in knappster Form gesagt.64
60 BGH ZfL 2008, S. 87, 88; Eschelbach, in: Graf (Hrsg.), StPO (Fn. 19), § 261 Rn. 8; Fischer (Fn. 17), § 20 Rn. 66; Streng, in: MüKo-StGB (Fn. 48), § 20 Rn. 177 f., 179 ff. 61 Bedeutung erlangt die Frage jedenfalls für die Urteilsformel, § 260 Abs. 5 S. 1 StPO: „Nach der Urteilsformel werden die angewendeten Vorschriften nach Paragraph, Absatz, Nummer, Buchstabe und mit der Bezeichnung des Gesetzes aufgeführt.“ 62 BGHSt 48, 34, 35. 63 Auf § 22 StGB könnten „Puristen“ vielleicht auch noch verzichten. Das Zitieren des § 23 StGB, noch dazu ohne einen Absatz anzugeben, ist nicht zureichend, bei Vergehen auch „sinnlos“, allemal dann, wenn – z. B. hier – Abs. 2 des § 224 StGB nicht zitiert ist. 64 Wenn die Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens festgestellt werden soll, nützt bei Vergehen der Hinweis auf § 23 Abs. 1 StGB nichts; denn dieser regelt die Strafbarkeit der versuchten Tat nur für Verbrechen („stets“). Bei Vergehen bedarf es der Zitierung des Absatzes, in dem die Strafbarkeit des Versuchs angeordnet ist. Bei Verbrechen hingegen bedarf es des Hinweises auf §§ 23 Abs. 1, 12 Abs. 1 StGB. Die Frage, ob in § 267 Abs. 3 S. 1 StPO „Strafgesetz“ so zu verstehen ist, ist m. E. mit Blick auf § 260 Abs. 5 S. 1 StPO eher zu bejahen. Um der Eindeutigkeit Willen sollte jedenfalls so verfahren werden.
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Schließlich seien zwei Entscheidungen des BVerfG kurz angesprochen. Die erste65 hatte die Frage zum Gegenstand, ob das unvorsätzliche Sich-entferntHaben vom Unfallort („Wer wen?“, möchte man angesichts der gesetzlichen Überschrift des § 142 StGB den Gesetzgeber fragen) unter die Begriffe „berechtigt oder entschuldigt“ (§ 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB) subsumiert werden darf, was der BGH fast drei Jahrzehnte lang bejaht hatte. Das BVerfG hat es nun aber nicht, insoweit in Übereinstimmung mit der neueren Kommentarliteratur, bei der Verwerfung der Rechtsansicht des BGH belassen. Die 1. Kammer des 2. Senats hat vielmehr gemeint, darüber hinaus darauf hinweisen zu sollen, dass § 142 Abs. 1 StGB keinen solchen abgeschlossen Sachverhalt des Sich-entfernt-Habens voraussetze, weshalb eine Konkretisierung des Begriffs „Unfallort“ denkbar sei, „in dem der Täter nachträglich auf den Unfall hingewiesen wird und sich gleichwohl – weiter – von der Unfallstelle entfernt“66. Der BGH hat diese Deutungsmöglichkeit verworfen. Die zweite Entscheidung (der 2. Kammer des 2. Senats) sieht das strafrechtliche Analogieverbot „verletzt“, wenn § 113 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 StGB dahingehend ausgelegt wird, dass ein Pkw eine „Waffe“ i. S. dieser Vorschrift darstellt.67 Die Entscheidung hat viel Kritik erfahren.68 Besonders bemerkenswert erscheint der „Trost“, den das Gericht den zahlreichen Gegnern seiner Ansicht zukommen lässt. Zunächst heißt es noch scheinbar prinzipienfest: „Es ist gerade der Sinn des Analogieverbots, über die Verfassungsgrundsätze der Demokratie, der Gewaltenteilung und der richterlichen Gesetzesbindung hinaus69 … einer teleologischen Argumentation zur Füllung empfundener Strafbarkeitslücken entgegenzuwirken“70; dann jedoch weist die Kammer auf das Sedativum hin, mit dessen Hilfe die „aufgerissene schmerzliche Lücke“ wieder geschlossen werden kann. Sie fährt nämlich fort: „Im Falle des § 113 Abs. 2 StGB kann teleologischen Überlegungen überdies dadurch Rechnung getragen werden, dass das Beisichführen gefährlicher Werkzeuge in Verwendungsabsicht als unbenannter ,besonders schwerer Fall‘ im Sinne des Gesetzes gewertet wird, soweit – was vorliegend möglich erscheint – die weiteren Voraussetzungen hierfür vorliegen“71. Dieser Hinweis ist (folge-)richtig, zeigt freilich den Charakter der Figur der unbenannten besonders schweren Fälle in aller Deutlichkeit: Der Gesetzgeber
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BVerfG NJW 2007, 1666 mit Anm. Simon; zust. Fischer (Fn. 17), § 142 Rn. 52; Zopfs, in: MüKo-StGB (Fn. 54), § 142 Rn. 105, jeweils m.w.N. 66 BVerfG NJW 2007, S. 1666, 1668; zu den Reaktionen Wessels/Hettinger, BT/1, Rn. 1014a; Lackner/Kühl (Fn. 44), § 142 Rn. 25; Schild, in: NK-StGB, § 142 Rn. 130, jeweils m.w.N. 67 BVerfG NStZ 2009, S. 83 mit abl. Anm. Simon; abl. auch Bosch, in: MüKo-StGB (Fn. 54), § 113 Rn. 72 m.w.N. 68 Vgl. die Nachw. in Fn. 66, 67 sowie bei Wessels/Hettinger, BT/1, Rn. 645 Fn. 54; Lackner/Kühl (Fn. 44), § 113 Rn. 24. 69 Hier erfolgt ein Hinweis auf Rüthers, Rechtstheorie, 3. Aufl., 2007, Rn. 812. 70 BVerfG NJW 2008, S. 3627, 3629. 71 Wie Fn. 70; zur Kritik dieser Passage s. Hettinger, in: FS Roxin II, 2011, S. 272, 277 f.
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darf sich – von Verfassungsgerichts wegen72 – mit ihrer zahlreichen73 Verwendung aus seiner Verantwortung stehlen und den Gerichten zumuten, die Arbeit gesetzgebergleich nachzuholen, die er vorab zu investieren zu bequem war oder die er (etwa bei § 113 Abs. 2 Nr. 2 StGB a.F.) aus Entscheidungsschwäche der Rechtsprechung „überließ“. Eine solche „Methode“ der Gesetzgebung muss man wahrlich nicht mögen. Zwar schadet sie hinsichtlich ihrer praktischen Umsetzung in unseren Tagen deshalb nicht, weil die Gerichte bislang offenbar nur selten auf den unbenannten Fall zurückgreifen.74 Sie dementiert aber, wie das BVerfG erschreckend anschaulich gemacht hat, was man von einer, wenn nicht verfassungsrechtlich, so zumindest strafrechtlich sinnvollen Aufgabenteilung mit Fug erwartet. Wie diesem eindeutigen Missstand zu begegnen wäre, ist anderwärts schon aufgezeigt.75 Das 44. StÄG vom 1. 11. 2011, das, wie gesehen, auch einen Strafrahmen für minder schwere Fälle in § 244 StGB als neuen Abs. 3 einführte, hat § 113 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 StGB um „ein anderes gefährliches Werkzeug… oder dieses“ ergänzt (ebenso §§ 121 Abs. 3 S. 2 Nr. 2, 125a S. 2 Nr. 2 StGB). Zu diesem Gesetz über das bereits Gesagte hinaus nur noch einige wenige Worte: Die Begründung des Entwurfs zu dem Gesetz beruft sich für dessen Ziel, nämlich Verbesserung des strafrechtlichen Schutzes von Vollstreckungsbeamten, aber auch Feuerwehrleuten und anderen Rettungskräften vor Behinderungen und tätlichen Angriffen bei Hilfseinsätzen,76 auf den „Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP“ zur 17. Legislaturperiode. Das Gesetz ist vermutlich von längerer Hand in Teilen vorbereitet gewesen, wirkt aber in der endgültigen Fassung wie eines der berüchtigten ad hoc-Gesetze.77 Dieses Gesetz kann 72 Vgl. Hettinger, Doppelverwertungsverbot (Fn. 40), S. 217 ff.; ders., in: FS Maiwald, 2010, S. 293, 307 ff. m.w.N. 73 Näheres bei Hettinger, in: FS Küper, 2007, S. 95, 105. 74 Zum Grund s. Hettinger, in: FS Küper, 2007, S. 95, 109 Fn. 72. 75 Hettinger, in: FS Maiwald, 2011, S. 293, 318 f.; eine Alternative zur Regelbeispieltechnik bei Scheffler, Strafgesetzgebungstechnik in Deutschland und Europa, 2006, S. 53 f., 76 ff. – Die crux ist letztlich in dem exorbitanten Entscheidungsspielraum zu sehen, den das BVerfG dem Gesetzgeber bei Bildung der Strafrahmen zubilligt. 76 BT-Drucks. 17/4143, S. 6; Gesetzentwurf des Bundesrats, BT-Drucks. 17/2165 v. 16. 6. 2010, S. 8, Stellungnahme der Bundesregierung, bezogen insbes. auf § 113 Abs. 2 StGB n.F. Zur Einbeziehung von Rettungskräften in den Schutzbereich des § 113 StGB s. die Kritik von Bosch, Jura 2011, S. 270; ders., in: MüKo-StGB (Fn. 54), § 114 Rn. 11; krit. auch Zopfs, GA 2012, S. 259, 263 ff. 77 Nachw. zu diesem „Typus“ und den Problemen, die er schafft, bei Hettinger, in: FS Roxin II, 2011, S. 273, 276 Fn. 14; wer ein Musterexemplar dieser Gattung sucht, bei dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Rauschtaten-Strafschärfungsgesetz – BT-Drucks. 14/545 vom 16. 3. 1999 wird er fündig; den „Gipfel“ unbekümmerten Zerschlagen-Wollens „schuldstrafrechtlichen Porzellans“ bietet freilich schon der Gesetzantrag des Landes Berlin vom 19. 2. 1997, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches (§ 323a StGB) – Strafschärfung bei Rauschtaten –, BR-Drucks. 123/97. Auf ganzen 7 Seiten (mit etlichen Wiederholungen) wird auf der Grundlage von zwei „Fällen“ der Strafrahmen des § 323a Abs. 1 StGB „als unzureichend und zu undifferenziert“ gebrandmarkt (BR-Drucks. 123/97, S. 2 und 3), ohne nähere Rechtfertigung de facto das Schuldprinzip aus den Angeln gehoben und – nur schwach verbrämt – eine Art Erfolgshaftung vorgeschlagen.
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man beim besten Willen nicht gutheißen; es ist letztlich mit „heißer Nadel gestrickt“78, zwingt, aufgrund politischer Vorgaben oder Unverstandes einiger Abgeordneter der Regierungskoalition im Rechtsausschuss,79 die Rechtsprechung zu dem Unsinn nicht mehr allzu fernen Überlegungen und bewirkt für Vollstreckungsbeamte letztlich nichts über den „Schutz“ hinaus, der ihnen schon bisher zuteil wurde. Auf Reformen solcher Qualität möge man verzichten!
IV. Auch und, angesichts der Zahl der Autoren, gerade im Schrifttum – bietet sich so Manches, was aufzuspießen lohnte.80 Angesichts des nur begrenzten Raums in der gebotenen Kürze eine kleine Auswahl: Was m. E. „überprüft“ werden sollte, ist die inflationäre Verwendung mancher Worte, die auf diese Weise inhaltsleer geworden sind oder zu werden drohen oder deren Verwendung von vornherein unangebracht erscheint. Worte und Ausdrucksweisen wie „Normativierung“, „normativ“,
„An der kriminalpolitisch unabweisbaren Notwendigkeit bestehen keine ernsthaften Zweifel“ so die Begründung (S. 2). „In seinem materiellen Gehalt bleibt § 323a StGB unverändert“, behauptet der Entwurf der CDU/CSU – Fraktion, BT-Drucks. 14/545, S. 3; ebenso der inhaltlich abweichende Entwurf des Bundesrats, BT-Drucks. 14/759 vom 14. 4. 1999, S. 4. Bemerkenswert ferner die Erklärung von Bürgermeisterin Bergmann (Berlin), in: Stenografischer Bericht des Bundesrats, 710. Sitzung v. 14. 3. 1997, Anlage 12, S. 113 f.; sodann auch Senatorin Peschel-Gutzeit (Berlin), ebd., 717. Sitzung v. 17. 10. 1997, S. 463 sowie Staatsministerin Männle (Bayern), ebd., S. 464. Lohnenswert ist auch die Lektüre der Aussprache im Deutschen Bundestag (14. Wahlperiode – 30. Sitzung) vom 25. 3. 1999, Plenarprotokolle, S. 2530 – 2536, und hier besonders die Stellungnahmen der Abgeordneten Geis, von Klaeden und Kenzler. Zu den Entwürfen s. auch die Nachw. bei Wessels/Hettinger, BT/1, Rn. 1030 mit Fn. 4 – 6 sowie Dietmeier, ZStW 112 (2000), S. 886 – 902. Am Rand: Die gesetzliche Überschrift der Norm lautet „Vollrausch“; so gerüstet lese man zum Begriff des Rauschs BGHSt 32, 48. 78 Vgl. dazu etwa Hettinger, in: FS Roxin II, 2011, S. 273, 277 f.; Wessels/Hettinger, BT/1, Rn. 620 m.w.N. in Fn. 16, 17 und Rn. 647a und b; eingehend und krit. Zopfs, GA 2012, S. 259 – 275. 79 Zu den Stellungnahmen der Abgeordneten des Rechtsausschusses im Plenum des Bundestags s. Zopfs, GA 2012, S. 259 ff. passim; knapp Hettinger, GA 2012, S. 378. Die „Diskussion“ im Plenum des Bundestags war übrigens wenig getrübt von Sachverstand. Jeweils sollte man im Auge behalten, dass Redner als „Experten“ für ihre Fraktion (zuvor auch zu ihr) sprechen. 80 Man stößt durchaus auch auf eigene Fehltritte, so schrieb ich in einer kleinen Monografie zum „Fragerecht der Verteidigung im reformierten Inquisitionsprozeß“ 1984/85 noch statt Sicht, Seh- oder Betrachtungsweise „Sichtweise“ (dazu neben Küper, JZ 1987, S. 560 auch Zaczyk, GA 2012, S. 257), in einer Rezension in der ZRG (Fn. 7) „weitmöglichst“. Manches, was hier in Frage gestellt, oder „gerügt“ wird, findet sich durchaus auch in eigenen früheren Arbeiten – und dass alle Rügen (zu-)treffen, steht auch noch nicht fest. Dass noch weit mehr und Gravierenderes zu finden wäre als jene beiden Unwörter u. a.m., steht außer Zweifel; aber wer liest schon gern nochmals eigene Texte – ohne „Not“ …
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„normatives Werturteil“, „normative Bewertung, Auslegung oder Deutung“81 und „Theorie“ sind beispielsweise hiervon betroffen. Die „Theorie“ schleicht sich aus dem Studium, wo sie unkritisch aus „Vereinfachungsgründen“ vorgetragen und dann auch vielfach im Hörerkreis verwendet wird, bis in die Fachliteratur hinein. Mancher mag sich bedeutender fühlen, sei es der Dozent, sei es die Studentin, wenn mit oder von „Theorien“ gehandelt wird (so wie insbesondere, aber nicht nur, Versicherungsvertreter gern von der „Philosophie“ ihrer Unternehmen sprechen). Aber die Ernüchterung sollte dementsprechend groß sein, wenn der Redner sich nur einmal den bedeutenden Inhalt etwa der „Strumpfmaskentheorie“ (beliebte Bezeichnung einer Ansicht im Zusammenhang mit einem „Banküberfall“) vor Augen führt. Auf diese Weise lässt sich jedenfalls der Status einer „Wissenschaft“ weder behaupten noch begründen. Zumindest sollte man sich mithin bewusst sein und deutlich machen, dass der Begriff „Theorie“, in solchem Zusammenhang und ähnlichen verwendet, nur der sprachlichen Vereinfachung dienen darf, wo sonst umständliche, wenn auch richtige Benennungen erforderlich wären. In aller Regel handelt es sich nicht um mehr als Ansichten / Meinungen, bestenfalls um etwas gründlicher ausgearbeitete „Lehren“. – Stoßen die „Dinge“ sich im Raum, weil sie im Hinblick auf ein erwünschtes Ergebnis nicht harmonisch aufeinander abstimmbar sind, so (er)finden die Strafrechtler in „Theorie“ (!) und Praxis gern „Vereinigungslehren“, zu bewundern etwa an der sog. Spielraumtheorie. Mit ihrer Hilfe soll die Antinomie der Strafzwecke „aufgehoben“ werden (i. S. Prävention im Rahmen der Repression)82. Eine ebenfalls „eingeführte“ Vereinigungstheorie, maßgeblich für den Gegenstand einer Zueignung, „ist eine Verbindung der (älteren) ,Substanztheorie‘ und der (jüngeren) ,Sachwerttheorie‘“83. Jeweils will man bei derartigen „Vereinigungen“ Vorteile sichern, ohne sich die Nachteile einhandeln zu müssen, was dann immer nur „verbal“ gelingt, wenn zusammengebunden wird, was nicht zusammen gehört. Man weiß das durchaus und „konstruiert“ deshalb die Widersprüchlichkeiten möglichst klein, als ob sie dadurch verschwänden. Erfreulich deutlich demgegenüber die Kritiker, hier am Beispiel der letztgenannten Figur: „Die Vereinigungstheorie muss sich daher zu Recht den Vorwurf gefallen lassen, dass die ,Kombination von Äpfeln 81
Engländer, in: Engländer/Fahl/Satzger/Swoboda (Hrsg.), Strafverteidigung – Grundlagen und Stolpersteine. Symposion für Beulke, 2012, S. 85 – 94, diskutiert die Begriffe in den Grenzen seines Themas. Die Lektüre sollte zu sparsamerem, jedenfalls aber bewussterem Gebrauch führen. So kann es z. B. schon vorkommen, dass ein Autor einer (aus seiner Sicht „gegnerischen“) Lösung immerhin „formal-logische Sauberkeit“ attestiert – um dann fortzufahren, es werde „dabei nicht genügend berücksichtigt“, dass die Entscheidung … „nicht nur eine Frage der Logik ist, sondern normativ-wertenden Charakter hat“. Überzeugt von diesem Satz oder aus Eile vergisst der Autor freilich, auch eine Begründung für diese Behauptung zu geben; dass etwas „normativ-wertenden Charakter“ habe, ersetzt eine solche durchaus nicht. – Zu den sog. Theorien treffend Fischer, FS Hamm (Fn. 6), S. 63, 66 Fn. 12. 82 Vgl. nur Lackner/Kühl (Fn. 44), § 46 Rn. 24 ff.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen. Die Strafzumessung und ihre Grundlagen, 3. Aufl., 2012, Rn. 626 ff.; Roxin, AT I (Fn. 59), § 3 Rn. 33, 37, differenziert zwischen vergeltenden Vereinigungstheorien und der präventiven Vereinigungstheorie. 83 So für alle Eser/Bosch, in: S/S (Fn. 48), § 242 Rn. 48.
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und Birnen‘84 zu ,einer rechtsstaatlich geradezu anrüchig austauschbaren Argumentation‘85 führt“.86 Und weiter: Hinter der Vereinigungstheorie „steht die kriminalpolitische Tendenz, dem Diebstahl einen möglichst umfassenden Anwendungsbereich zu geben; theoretisch ist die Vereinigungstheorie mehr als unbefriedigend“87. Gewiss, die Kreation dieser beiden eingeführten, Brüche in der Argumentation notdürftig überkleisternden „Figuren“ entstammt der Praxis, die vernebelnd-beschwichtigenden Benennungen aber nicht. Eine Gepflogenheit, die immer wieder einmal beobachtet werden kann, betrifft die Art, wie neue Gesetze in Kommentaren, Lehrbüchern und Aufsätzen „verarbeitet“ werden. Häufig wird zunächst aus der amtlichen Begründung abgeschrieben (ob mit oder ohne Angabe der Fundstelle). Schon in der nächsten oder übernächsten Auflage aber tritt an die Stelle des Textes der Quelle, was Autoren und Autorinnen in den genannten Werken, in Aufsätzen oder Anmerkungen zu den gesetzlichen Regelungen meinen. Ich finde das einigermaßen erstaunlich, weil damit der Prozess des Vergessens der als authentisch aufzufassenden „Urquelle“ ungemein beschleunigt wird. Es liegt auf der Hand, dass die, sich später häufig „realisierende“ Gefahr besteht, dass die Stimme „dessen“, der für die Einhaltung der Anforderungen des Art. 103 II GG zu sorgen hat, vollständig übertönt wird von häufig im Streit liegenden Chören, die (inzwischen) anderes im Sinn haben. Dazu ein einigermaßen „harmloses“, gleichwohl angesichts der praktischen Bedeutung der Norm, bemerkenswertes Beispiel. Bei der Definition der Wegnahme erstaunt, dass in nahezu allen Kommentaren und in vielen Abhandlungen zu lesen ist, Wegnahme erfolge „durch Bruch fremden Gewahrsams und die Begründung neuen, nicht notwendig eigenen Gewahrsams“88. Diese Bestimmung des Wegnahmebegriffs ist nicht gelungen, denn sie lädt zu Missverständnissen geradezu ein. Wenn nämlich „fremder“ Gewahrsam gebrochen werden muss zur Wegnahme einer „fremden“ beweglichen Sache, so vermutet gar man84
So Maiwald, Der Zueignungsbegriff im System der Eigentumsdelikte, 1970, S. 79. So Otto, Grundkurs Strafrecht. Die einzelnen Delikte, 6. Aufl., 2002, § 40 Rn. 51. 86 Schmitz, in: MüKo-StGB, 2. Aufl., 2012, § 242 Rn. 129. 87 So Vogel, in: LK-StGB, 12. Aufl., 2010, § 242 Rn. 140; bei einer Rechtsprechung, die auf RGSt 61, 228, 232 f. vom 7. 3. 1927 zurückgeht und bis heute die Praxis prägt, wird man allerdings schwerlich noch von einer bloßen „Tendenz“ sprechen können; dass sie „mehr als unbefriedigend“ ist, kann man als „sehr zurückhaltende“, letztlich aber „doch schon“ eindeutige Formulierung deuten. 88 Kretschmer, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller (Hrsg.), AnwaltKommentar StGB, 2011, § 242 Rn. 20; so oder ähnlich, in der Sache jedenfalls nicht abweichend, auch Lackner/Kühl (Fn. 44), § 242 Rn. 8; Vogel, in: LK-StGB (Fn. 87), § 242 Rn. 49: „bis heute anerkannt“; Schmitz , in: MüKo-StGB (Fn. 86), § 242 Rn. 48; Kudlich, in: Satzger/Schmitt/Widmaier (Hrsg.), StGB. Kommentar, 2009, § 242 Rn. 17; Eser/Bosch, in: S/S (Fn. 48), § 242 Rn. 22. Die Rechtsprechung „schwankt“; von „fremdem Gewahrsam“ ist die Rede in RGSt 29, 209, 211; 30, 88, 90; andere Entscheidungen sprechen von der „thatsächlichen Gewalt einer Person“, so RGSt 34, 252, 255, oder „dem Gewahrsam einer Person“, so RGSt 10, 260, 261. BGHSt 16, 271, 272 stellt (im konkreten Fall) auf den Gewahrsam des bisherigen Inhabers ab, BGHSt 41, 198, 205 auf den „fremden Gewahrsam“; diese Beispiele mögen genügen. 85
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cher (womöglich auch noch nach seinen Examina), die Begriffe seien sinngleich zu verstehen, obwohl zwischen ihnen „Welten“ liegen. Dabei ist es einfach und schon vom Wortlaut des Gesetzes her naheliegend, vom „Bruch des Gewahrsams eines anderen“ zu sprechen und damit „fremd“ der Eigentumslage vorzubehalten.89 Diese Deutung hat die schon lange verschüttete Gesetzgebungsgeschichte zur Zeugin.90 So liest man bei Olshausen91 1901 in den Erläuterungen zu § 242 Nr. 14: „Voraussetzung des ,Wegnehmens‘ … seitens des Thäters ist, daß die Sache nicht nur überhaupt im Gewahrsam Jemandes sei, sondern daß eben ein ,Anderer‘ als der Thäter selbst sie im Gewahrsam habe“; und in Nr. 15: „Wie § 242 des RStGB., so sagt auch der vorbildliche § 215 des PrStGB. nicht ,aus dem Besitze oder Gewahrsam eines Anderen‘, sondern lediglich ,einem Anderen‘ wegnimmt, weil – wie die Motive zum PrStGB. sich ausdrücken – daraus deutlich hervorgehe, daß der Bestohlene die Detention92 der Sache zur Zeit des Diebst. noch gehabt haben müsse, der Ausdruck ,Gewahrsam‘ aber bei der Unklarheit der landrechtlichen Lehre vom Besitze möglichst zu vermeiden sei …93. Es handelt sich hier überhaupt nicht, wie bei dem Begriff der ,fremden Sache, um civilistische Gesichtspunkte (zit. werden RGSt 29, 209; 30, 88 und Literatur; M.H.), vielmehr ist lediglich in Frage, wann i. S. des § 242 anzunehmen sei, daß Jemand eine Sache derartig habe oder, falls man des Ausdrucks sich bedienen will, derartig ,in seinem Gewahrsam‘ habe, daß sie ihm ,weggenommen‘ werden kann …“94. Um letzte Zweifel zu zerstreuen, hier die Passage aus den Mo89
Näher dazu Hettinger, JuS 1986, Lernbogen 5/86, L 36 mit Fn. 12; ders., JuS 1989, Lernbogen 6/89, L 42 mit Fn. 15; wie hier Fischer (Fn. 17), § 242 Rn. 10; s. schon Schwarze, Commentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 31. Mai 1870, 1871, S. 522. Wie die in Fn. 88 Genannten hingegen bereits Schwartz, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich. Mit Kommentar, 1914, § 242 Anm. 5; er zit. für die noch heute „herrschende“ Definition der Wegnahme als Gewährsleute Berner, Frank, Hälschner, v. Liszt, Meyer-Allfeld, Olshausen und Rüdorff-Stenglein, aber nicht eine Entscheidung des RG; s. dazu den folgenden Text! 90 Vgl. Motive zum Entwurf des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten, 1851, S. 52 zu § 198 Entwurf (= § 215 preuß.StGB 1851): „Einen Diebstahl begeht, wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, dieselbe sich rechtswidrig zuzueignen“; näher zu den Motiven im folgenden Text. 91 Olshausen, Kommentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 6. Aufl., Bd. 2, 1901, § 242 Nr. 14 und 15, S. 873 f. 92 Unter Detention ist zu verstehen der Besitz einer Sache ohne Rechtsschutz, eine naturalis possessio, s. Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht, 18. Aufl., 2005, § 19 Rn. 16. 93 Zit. wird hier Goltdammer, Die Materialien zum Straf-Gesetzbuche für die Preußischen Staaten, Theil II, 1852, S. 459. 94 Vgl. ferner Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht, 2. Bd. Der besondere Theil des Systems, Erste Abtheilung, 1884, S. 283: „Nur an der im Gewahrsam eines Anderen befindlichen Sache kann ein Diebstahl begangen werden“. Lesenswert auch die Fußnote 6! Für die heute h.A. wiederum schon 1843 Temme, Critik des Entwurfs des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten, Erster Theil, 1843, S. 314 f.: „Wem sie weggenommen ist, darauf kommt es nicht eigentlich an, sondern darauf, von wo sie fortgenommen ist, namentlich, daß sie aus einer fremden Gewahrsam fortgenommen ist“. Es folgen noch interessante Ausführungen gegen die Regelung der schon im Entwurf 1843 vorgesehenen Einführung einer Drittzueig-
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tiven zum Entwurf eines Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten, S. 52: „Schon in dem Entwurfe von 1843 fehlte die ausdrückliche Bestimmung, daß die gestohlene Sache aus dem Gewahrsam eines Dritten entnommen sein müsse. Diese Bestimmung ist auch jetzt aus dem Text fortgelassen worden; theils weil aus den gebrauchten Worten: ,wer … eine Sache einem Anderen wegnimmt‘ deutlich genug hervorgeht, daß der Bestohlene die Detention der Sache zur Zeit des Diebstahls noch gehabt haben muß, theils weil das Moment der Besitzstörung in keinem der neueren Strafgesetzbücher besonders hervorgehoben ist und der Ausdruck Gewahrsam ein näheres Eingehen auf die Besitz-Verhältnisse erfordert haben würde, was man mit Rücksicht auf die im Allgemeinen Landrecht bei dieser Lehre herrschenden Unklarheit möglichst vermeiden zu müssen glaubte“.95 Ein wenig erinnert diese, wie es scheint, vom Schrifttum eingeleitete heutige Deutung an eine von von Kirchmann,96 damals (1847) Staatsanwalt, später Vizepräsident des OLG (ab 1. 4. 1849: Appellationsgericht) Ratibor in Schlesien, durchaus abfällig gemeinte persönliche Beobachtung: „Jene viel gerühmte Fortbildung des Rechts durch die Juristen, von der man jetzt in allen Compendien lesen kann, läuft nur auf das Spielwerk des kleinern Details hinaus. Das Fundament zu legen, den neuen Bau kräftig in die Höhe zu führen, das können die Juristen nicht. Aber wohl, wenn der Bau fertig ist, wenn die Säulen ihn tragen, dann kommen sie, wie die Raben, zu tausenden und nisten in allen Winkeln und messen die Gränzen und Dimensionen bis auf Zoll und Linie und übermalen und überschnörkeln den edlen Bau, daß Fürst und Volk kaum noch ihrer Thaten Werk darin erkennen“.97 Das ist nun in der als massiver Vorwurf geäußerten Form überzogen, zumal Gesetze von der Güte des 6. StrRG oder des 44. StÄG gewiss nicht an „edle Bauten“ erinnern, deren Verschandelung von Kirchmann beklagte; gleichwohl ist das von ihm Gemeinte nach meinem Empfinden im Kern nicht ganz „aus der Welt“. Die Neigung etwa, mit verschiedensten Mitteln, die der Gesetzgeber nicht benutzt hat und absehbar auch in Zukunft nicht benutzen wird, etwas „Neues“ zu kreieren, ist vernungsabsicht, die bei Planung des 6. StrRG zumindest hätten diskutiert werden sollen, bevor man zur Regelung schritt. 95 Der Entwurf eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund vom Juli 1869 hatte den Wortlaut des § 215 pr.StGB 1851 geändert. Die Norm lautete jetzt: „Einen Diebstahl begeht, wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen rechtswidrig in der Absicht wegnimmt, durch deren Zueignung sich oder einem Anderen (!) Gewinn zu verschaffen“. Eine Änderung im hier interessierenden war damit nicht beabsichtigt, wie die Motive zu diesem Entwurf, S. 163 f., zeigen. Im letzten Entwurf, dem 3., kehrte man wieder zur Formulierung des pr.StGB zurück; s. Stenografische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, I. Legislatur-Periode. – Session 1870. 3. Bd., Anlagen zu den Verh. des RT von Nr. 1 – 72., 1870, Anlage 5, Motive zum StGB für den Norddeutschen Bund, S. 16; S. 73 f. der Motive wird erläutert, warum. Die alte „Begründungslage“ ist wieder hergestellt. 96 Zu v. Kirchmann s. Spendel, in: Düwell/Vormbaum (Hrsg.), Recht und Juristen in der deutschen Revolution 1848/49, 1998, S. 179 – 199. 97 V. Kirchmann, Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft. Ein Vortrag, gehalten in der juristischen Gesellschaft zu Berlin (1847), 1848, S. 43 f.; v. Kirchmann bezieht diesen Vorwurf auf Zivil- und Strafrechtler, Praktiker und „Theoretiker“.
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schiedentlich klar zu sehen. Ebenso finden sich immer wieder Versuche, ein nach der Gesetzeslage „ziemlich“ eindeutig erkennbares, aber vom Autor oder einer „Richtung“ nicht erwünschtes Ergebnis durch eine kühne Konstruktion zu unterlaufen, aus meiner Sicht auch an der Argumentation häufig dann gut abzulesen, wenn es um die Schließung einer als „unerträglich“ empfundenen Strafbarkeitslücke geht.98 Gar Manches wäre noch einer Erwähnung oder näherer Betrachtung wert. So etwa, ob der Große Senat in seiner berühmt gewordenen, bis heute in der Doktrin umstrittenen Entscheidung zum Verbotsirrtum99 gut daran tat, zu schreiben „Schuld ist Vorwerfbarkeit“, oder ob es zutrifft, die dritte Stufe im Verbrechensaufbau nach Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit „Schuld“ zu nennen.100 Sogar vergnüglich kann es werden, wenn Juristen, denen das Zeug zum Dichterjuristen oder wenigstens zum Juristen, der auch dichtet, fehlt, sich im Bemühen um Anschaulichkeit des Ausdrucks verirren. Das ist etwa der Fall, wenn uns die Staatsanwaltschaft als ein „Kopf ohne Hände“ begegnet oder „die Polizei“ als „verlängerter Arm“ der Staatsanwaltschaft. Ferner: Man kann Ziele verfolgen, aber auch Menschen, die Christen im „alten Rom“, die Juden, Sinti und Roma und andere Minderheiten im „Dritten Reich“; nach § 152a StPO soll es aber auch eine Strafverfolgung von Abgeordneten geben, eine m. E. ebenso „schiefe“ Begriffsbildung, wie die der „Strafverfolgungsbehörde“ oder der „Strafverfolgung“ überhaupt. „Schön“ ist es für Wissende, wenn der „Fachmann“ von einer schweren Körperverletzung spricht, aber „nur“ eine gefährliche meint, erheiternd wirkt auf Genießer die „Reserveursache“ usw. usf. Dass die Juristen sich, wenn es „politisch“ wird oder sie jemandem nicht „auf die Füße treten“ wollen oder sich nicht ganz sicher in ihrem Urteil sind (in letzterem Fall sollte man a.E. diese Zweifel nicht verbergen), gern hinter geschraubten (Leer-)Formeln – z.T. entschiedener Unentschiedenheit – verschanzen oder verstecken, ist „landläufig“. Zu denken ist da an Wendungen wie „dürfte nicht notwendig geeignet sein“ oder „das soll die berechtigten Einwände nicht in Frage stellen“ (obwohl sie dann gerade nicht als durchschlagend angesehen werden) oder „dies dürfte letztlich wohl zu verneinen sein“ sowie ähnliche Floskeln, denen nicht zu entnehmen ist, was der Autor für zutreffend oder eben für unzutreffend hält. Ein insbesondere in der Ausbildungsliteratur in Mode gekommenes Wort soll den Abschluss der Zeilen bilden, die Jürgen Wolter gewidmet sind, dem als dem verantwortlichen Schriftleiter von Goltdammer’s Archiv, der ältesten, noch bestehenden deutschen Strafrechtszeitschrift, die Klarheit des Denkens, Argumentierens wie überhaupt der gelungene Aus98 Dazu scharf zugeschnitten Hettinger, Die „actio libera in causa“: Strafbarkeit wegen Begehungstat trotz Schuldunfähigkeit? Eine historisch-dogmatische Untersuchung, 1988, S. 41 ff. und passim; ders., in: FS Spendel, 1992, S. 237 – 255. Dass Voraussetzung eine qualitativ gute Gesetzgebung ist, sei zu sagen nicht vergessen; auch nicht, dass hier Texte, Formulierungen und Begriffe einer persönlichen, ihrerseits kritisierbaren Kritik unterworfen werden. 99 BGHSt GrS 2, 194, 200; nicht nur wegen des Satzrhythmus lesen sollte man parallel die ersten Sätze von Kants Traktat „Was ist Aufklärung?“ 100 Dazu Gropp, in: FS Puppe, 2011, S. 496.
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druck, das rechte Wort am rechten Platz „in ganz besonderer Weise“ ein Anliegen sind. Wer „richtigerweise“ schreibt, sollte sich sicher sein, dass er zuvor die Begründung geliefert hat, die dieses Wort überhaupt101 erst rechtfertigt, oder dass sie zumindest nachfolgt. Auch eine zutreffende/überzeugende h.M. oder h.L. bedarf, um so bezeichnet werden zu können, starker Argumente. Nur weil eine Ansicht (bei einer h.L.: angeblich102) „herrscht“, ist sie noch lange nicht zutreffend oder überzeugend. – Es dürfte, fasst man das Vorstehende zusammen, soweit ersichtlich und: bedenkt man es recht, wohl richtigerweise vermutlich nicht als ganz fernliegend anzusehen sein, dass unter zwar bisher nicht vollständig ermittelten, aber doch schon weitgehend bekannten, wenngleich bislang nicht abschließend bewerteten Umständen nahezu jede herrschende Meinung einmal als Minderheitsmeinung begonnen haben könnte – oder so ähnlich …103.
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Denn es wirkt, für sich genommen, „oberlehrerhaft“. Dazu Hettinger, in: FG Paulus (Fn. 6), S. 73, 86. Man betrachte Änderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung und deren (häufige) Auswirkung auf die Diskussion im Schrifttum. 103 Und: sie könnte es auch wieder werden – oder ganz verschwinden! 102
Gesetzgebung und GGO Von Hans Hilger
I. Einleitung Jubilar und Autor haben sich im Zusammenhang mit Gesetzgebungsarbeiten kennengelernt1 und sind Freunde geworden. Deshalb liegt es nahe, dass der Autor dem Jubilar heute einen Beitrag zu dieser Thematik widmet. Ziel dieses Beitrags ist nicht eine umfassende Erläuterung der Regelungen der Verfassung und der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO)2 zur Gesetzgebung. Die Regelungen des GG zur Gesetzgebung sollten in Fachkreisen ohnehin bekannt sein und eine umfassende Darstellung und Kommentierung auch nur der insoweit einschlägigen Regelungen der GGO würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Der Beitrag konzentriert sich daher auf einige Vorschriften der GGO des Kapitels 6 – Rechtsetzung (Stand: 1. 9. 2011). Ziel ist i. W. eine Erläuterung einzelner Phänomene und Arbeitspraktiken, die sich bei der Vorbereitung von ministeriellen Gesetzgebungsentwürfen mit Hilfe der GGO3 in der Praxis ergeben können.
II. Die GGO 1. Die Gesetzgebung nach dem GG ergibt sich i. W. aus den Art. 70 ff. und regelt u. a. die Gesetzgebungskompetenz und das Initiativrecht (Art. 76 GG). Das GG regelt jedoch nicht, wie der Gesetzgebungsentwurf der jeweiligen Initiative zustande kommt. 2. Die GGO, die auf einem Beschluss des Bundeskabinetts beruht und für deren Erarbeitung der Bundesminister des Innern federführend zuständig ist, enthält keine Rechtssätze, sondern Verwaltungsvorschriften. Sie regelt u. a. Aufgaben und Organisation der Ministerien, Leitung, Führung Arbeitsabläufe, Zusammenarbeit innerhalb der Bundesregierung sowie mit anderen Stellen und Fragen der Rechtsetzung 1
Zu Einzelheiten s. Wolter u. a., Datenübermittlungen und Vorermittlungen, 2003, S. 6. Vgl. www.verwaltung-innovativ.de; www.lexikon.freenet.de. S. auch das Handbuch zur Vorbereitung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften, BMI (letzter Stand: 1992). 3 Bedenklich auch, dass § 42 Abs. 3 GGO (Stand: 1. 9. 2011) für die Vorbereitung von Gesetzentwürfen auf das nicht aktualisierte Handbuch (Stand: 1992) (Fn. 2) verweist. 2
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Hans Hilger
(Kapitel 6) durch die Bundesregierung sowie deren Vorgehen/Maßnahmen bei Entwürfen anderer Initiativberechtigter. Sie gilt nicht für die Erarbeitung von Gesetzgebungsinitiativen aus der Mitte4des Bundestages5 oder des Bundesrates. Deren Erarbeitung von Gesetzentwürfen richtet sich nach den jeweiligen Arbeitsregelungen (Geschäftsordnungen) dieser Initiativberechtigten, also z. B. der jeweiligen Bundestagsfraktionen und ihrer Arbeitsgruppen6 bzw. nach der GOBR und Regelungen des jeweiligen Landesrechts7.
III. Die Praxis Beobachtet man die Gesetzgebungspraxis der Bundesregierung, namentlich ihrer Ministerien, über einen längeren Zeitraum, so ergeben sich einige Fragen, insbesondere zur Vereinbarkeit dieser Praxis mit der GGO. 1. Vorentwurf, Referentenentwurf a) Nicht selten werden im Rahmen eines Gesetzgebungsvorhabens, oft zu Beginn der ministeriellen Arbeiten, sog. Arbeitsentwürfe8und Diskussionsentwürfe9 bekannt. Arbeitsentwürfe loten zumeist den Gesetzgebungsbedarf argumentativ aus, entwickeln erste mögliche Lösungsansätze und erwägen das pro und contra; nicht selten enthalten sie auch schon – weitergehend – erste Formulierungsversuche. Diskussionsentwürfe erscheinen häufig in den Lösungsvorschlägen und den Entwürfen für Gesetzesformulierungen ausgereifter.10 In beiden Fällen handelt es sich um eine Vorphase oder eine sehr frühe Phase eines Referentenentwurfs (s. dazu unten), wobei die Bezeichnung verdeutlicht, dass dieser Entwurf noch der Erörterung und ggf. der Überarbeitung bedarf, jedenfalls noch nicht der Referentenentwurf ist, der nach endgültiger Abstimmung mit den Ressorts der Bundesregierung (§§ 45 ff., 51 GGO) dem Kabinett als Entwurf eines Regierungsentwurfs zur Beschlussfassung zugeleitet werden soll. 4
Meist der Fraktionen. Abgesehen von § 56 Abs. 3 GGO (grundsätzliches Verbot für Angehörige der Ministerien, an der Erarbeitung solcher Entwürfe mitzuwirken) – s. III. 5. b). 6 S. z. B. www.fdp-fraktion.de/files/254/GO; www.cducsu.de; vgl. auch Kauder/Merkel/ Röttgen, Fraktion in Aktion, Organisation und Arbeitsweise, Publ. der CDU/CSU Bundestagsfraktion. 7 Z. B. der Geschäftsordnung der jeweiligen Landesregierung – s. Geschäftsordnung der Landesregierung NRW, MBl. NRW 2005, S. 604 oder BW GBl. 2007, S. 185. 8 Vgl. AE GendiagnostikG 2005, www.gen-ethisches-netzwerk.de. 9 Vgl. Disk.E Vorratsdatenspeicherung v. 7. 6. 2011, wiki.vorratsdatenspeicherung.de; Disk.E Insolvenzrecht v. 18. 1. 2012, www.insolvenzrecht.de. 10 Eine saubere Abgrenzung dürfte kaum möglich sein. 5
Gesetzgebung und GGO
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Solche Texte werden je nach Bedarfseinschätzung den Ländern und Verbänden – soweit angebracht mit der Möglichkeit oder Bitte zur Stellungnahme –, u. U. auch schon Abgeordneten und Fraktionen11 zugeleitet. b) Die GGO jedoch, die sich mit Fragen der Rechtsetzung umfangreich und eingehend befasst (Kapitel 6 §§ 40 bis 76 GGO) kennt solche Arbeits- und Diskussionstexte nicht. Sie nennt im Vorfeld eines Regierungsentwurfs nur den „Referentenentwurf“ (§ 45 Abs. 4 GGO), also den Entwurf eines Referatsleiters, der Arbeitsebene. Dieser Referentenentwurf ist nach der GGO die Vorstufe des späteren von der Bundesregierung beschlossenen Regierungsentwurfs (§ 51 GGO).12 c) Für eine Bewertung dieser Praxis, insbesondere ihres Sinns, dürfte von Bedeutung sein, dass nach der GGO z. B. betroffenen Ländern sowie Verbänden und Fachkreisen auf Bundesebene ein „Entwurf“ frühzeitig zuzuleiten ist.13 Gemeint dürfte damit im Hinblick auf den Regelungswortlaut und -zusammenhang allerdings (nur) der (weitgehend ausgereifte) „Referentenentwurf“ sein.14 Aber auch eine (vorgezogene) Beteiligung dieser Stellen schon in früheren Stadien eines Entwurfs, also auch schon zu einem Diskussionsentwurf, dürfte häufig fachlich und politisch angemessen sein. Sie erscheint namentlich sinnvoll, (wenn) weil auf diese Weise frühzeitig externer Sachverstand abgefragt und in die Ressortarbeit eingeführt werden kann, somit auch der Gefahr vorgebeugt wird, dass der Entwurf in eine fachlich bzw. politisch verfehlte Richtung weiterentwickelt wird, ist jedenfalls geeignet, späteren Korrekturbedarf zu verringern. Desweiteren ermöglicht sie Stellen, deren Belange betroffen sein könnten, eine frühzeitige Einarbeitung in den Entwurf und ist so geeignet, nachfolgende Arbeiten am Entwurf zu erleichtern und eventuellen Missverständnissen und Verzögerungen vorzubeugen. Die Bezeichnung eines solchen Entwurfs noch nicht als Referentenentwurf15 sondern als Arbeits- oder Diskussionsentwurf dürfte dem Zweck angemessen sein; sie verdeutlicht insbesondere, dass noch Änderungsbedarf bestehen könnte, jedenfalls noch keine endgültige Festlegung auf Fachebene erfolgt ist und beugt damit u. a. auch einer eventuellen Verärgerung betroffener Stellen vor. Schon diese kurzen Erwägungen machen deutlich, dass die in der GGO nicht ausdrücklich geregelte, aber auch nicht durch sie ausgeschlossene Praxis der Vorbereitung eines Referentenentwurfs durch in dessen Vorfeld liegende, zur Diskussion geeignete und dazu auch genutzte Vorentwürfe durchaus sinnvoll sein kann.
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S. § 48 Abs. 2 GGO. S. auch § 27 Abs. 3 GGO II (Fassung 1992): „unverbindlicher Referentenentwurf“. 13 §§ 41, 47 GGO. 14 § 45 Abs. 1, § 47 Abs. 1 GGO: Entwurf einer Gesetzesvorlage; s. auch § 47 Abs. 5 GGO sowie Fn. 12. 15 Denkbar wäre z. B.: Xter Vorentwurf eines Referentenentwurfs. 12
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Hans Hilger
2. Beteiligung der Wissenschaft Eine Beteiligung der Wissenschaft an der Gesetzgebungsarbeit regelt die GGO nicht ausdrücklich. Es gibt sie jedoch in unterschiedlichen Formen. Sie erscheint zunächst denkbar als Beteiligung eines Gesamtverbandes bzw. eines auf Bundesebene bestehenden Fachkreises (§ 47 Abs. 3 GGO) der Wissenschaft, dessen Aufgabe es u. a. ist, die Belange der Wissenschaft in der Gesetzgebung zu vertreten. Dabei ist namentlich an Verbände zu denken, die sich auf Teilbereiche der Wissenschaft erstrecken und beschränken. So könnte man die deutsche Vereinigung der Strafrechtslehrer16 als einen solchen bundesweiten Verband ansehen, aber auch als eine andere Stelle, deren Beteiligung gemäß § 48 GGO zulässig wäre. Denkbar ist auch die Einholung von Gutachten17, insbesondere wenn es z. B. um die Beschaffung rechtsvergleichenden Materials oder rechtstatsächlicher Erkenntnisse, etwa durch Aktenauswertung, geht.18 Möglich ist schließlich eine Beteiligung der Wissenschaft am Gesetzgebungsverfahren durch eine Anhörung (§ 47 Abs. 5 GGO). Sie kann letztlich indirekt auch dadurch erreicht werden, dass ein Entwurf, der einen gewissen „Reifegrad“ erreicht hat, im Internet zur Diskussion gestellt wird (§ 48 Abs. 3 GGO); wohl jeder engagierte Wissenschaftler wird in einem solchen Fall zumindest erwägen, ob es sinnvoll ist, auf dieser Ebene wenigstens kurz Stellung zu nehmen. 3. Beteiligung anderer Stellen a) Eine Beteiligung des Bundesbeauftragten für den Datenschutz für den Fall, dass der Gesetzentwurf die Verwendung personenbezogener Daten betrifft, ist ebenfalls nicht ausdrücklich in der GGO geregelt. Allerdings dürfte sich eine solche Beteiligung (Anlass, Zulässigkeit, Umfang) unschwer aus § 4g BDSG i. V. m. § 48 GGO (Beteiligung anderer Stellen) herleiten lassen. Sie erscheint insbesondere dann sinnvoll, wenn die Regelungen eines Entwurfs von Leitlinien des BDSG abweichen sollen, weil sie eine bereichsspezifische Regelung bilden sollen und Sachzwänge bzw. die Regelungsmaterie diese Abweichung erfordern. b) Dagegen regelt die GGO eine frühzeitige Beteiligung der Gesellschaft für deutsche Sprache. Der Entwurf ist nämlich gemäß § 42 Abs. 5 GGO19 frühzeitig dem Redaktionsstab Rechtssprache beim Bundesministerium der Justiz zuzuleiten; dessen Prüfungsergebnis hat empfehlenden Charakter. Damit ergänzt dieser Redaktionsstab
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Zu deren Beteiligung s. Wolter u. a. (Fn. 1), S. 6 ff.; Wolter, GA 2012, 393. Vgl. Wolter u. a. (Fn. 1) zu Gutachten des ASP/ISP der Universität Mannheim; s. auch Wolter u. a., Alternativentwurf Europol und europäischer Datenschutz, 2008, S. VII, VIII sowie Wolter, in: Baumeister/Roth/Ruthig (Hrsg.), Festschrift für Wolf-Rüdiger Schenke, 2011, S. 541 ff. zur Arbeit des ISP/ASP sowie zu Gesetzentwürfen des AE-Kreises der Strafrechtslehrer. 18 Etwa durch Gutachtensaufträge an das MPI Freiburg. 19 S. auch § 37 GGO II (Fassung 1992). 17
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die Arbeit des Redaktionsstabes der Gesellschaft für deutsche Sprache beim Bundestag. c) Sowohl die Beteiligung der Wissenschaft als auch die Beteiligung anderer Stellen dürfte in sinngemäßer Anwendung der bisherigen Überlegungen nicht erst bei Vorliegen eines Referentenentwurfs, sondern auch schon in früheren Entwurfsstadien (Diskussionsentwurf) zulässig sein, namentlich um frühzeitig Fehlentwicklungen bei der Entwurfsüberarbeitung/Weiterentwicklung vorzubeugen. 4. Folgekosten § 44 GGO regelt Einzelheiten zur Abschätzung der Gesetzesfolgen, die in der Begründung des Regierungsentwurfs darzustellen sind (§ 43 Abs. 1 Nr. 5 GGO). Dazu gehören auch die unbeabsichtigten möglichen Nebenwirkungen sowie die finanziellen Folgen, also die Auswirkungen auf die Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Haushalte, die notfalls zu schätzen sind. Entstehen voraussichtlich keine finanziellen Auswirkungen, ist dies anzugeben. Dass die Folgenangabe unterbleiben kann, wenn eine sinnvolle Angabe nicht möglich ist, sieht § 44 GGO nicht vor. § 44 Abs. 7 GGO regelt, dass anzugeben ist, ob und wann eine Erfolgskontrolle durchgeführt werden soll. Eine solche Gesetzesfolgenabschätzung mag in vielen Fällen, namentlich bei Wirtschafts-, Finanz- und Sozialgesetzen des Bundes sehr sinnvoll sein.20 Im Bereich der Repressivgesetze (Strafrecht; Strafverfahrensrecht) und bei Polizeigesetzen des Bundes erscheint sie jedoch in manchen Fällen problematisch. So macht eine solche Gesetzesfolgenabschätzung wohl allenfalls eingeschränkt Sinn, wenn es um eine (verbesserte) gesetzliche Regelung grundrechtsrelevanter Ermittlungsmaßnahmen geht, die sich in der Strafrechtspraxis bisher auf der Grundlage einer (allerdings) mangelhaften (daher verbesserungsbedürftigen) Regelung bewährt haben. Entsprechendes gilt z. B. für die gesetzliche Regelung von Zeugenschutzmaßnahmen, wenn diese fachlich unverzichtbar ist. Die Auswirkungen solcher Regelungen können je nach Lage des Einzelfalles in einer vermehrten, aber auch in einer reduzierten Anwendung der neu geregelten Maßnahmen liegen, möglicherweise fehlen überhaupt Erfahrungswerte zur vorherigen Praxis, die für eine Folgenabschätzung unverzichtbar sind. In solchen und ähnlichen Fällen ist also eine Folgenabschätzung, insbesondere eine Schätzung der finanziellen Folgen, häufig nicht oder nur eingeschränkt
20 Vgl. z. B. Europäisches Parlament, Generaldirektion Wissenschaft, Gesetzesfolgenabschätzung, JURI 106 DE, 2001; BMI, Arbeitshilfe zur Gesetzesfolgenabschätzung, Juni 2009, m.w.N.; Fliedner, Qualitätskriterien für die Bundesgesetzgebung und für Bundesgesetze, 2006; Plückelmann/Bicking-Reichert, Staatskanzlei Brandenburg, Mutproben bei der Gesetzesfolgenabschätzung, in: Hensel/Bizer/Führ/Lange (Hrsg.), Gesetzesfolgenabschätzung in der Anwendung, Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat, Bd. 48, 2010, S. 57 ff.; Veit, Bessere Gesetze durch Folgenabschätzung (Diss.) 2009.
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sinnvoll oder u. U. nicht einmal möglich und wird sich häufig im Bereich der Vermutungen bewegen. Diese Bedenken haben auch Auswirkungen auf die gemäß § 44 Abs. 7 GGO angesprochene Erfolgskontrolle. Es erscheint natürlich sinnvoll, zu prüfen, ob und wie z. B. eine neue Repressivregelung angewendet wird. Eine Prüfung dagegen, ob die entstandenen Kosten – gemessen am Ergebnis – angemessen sind, dürfte in manchen der angesprochenen Fälle wenig sachgerecht sein. 5. Formulierungshilfe a) § 52 Abs. 2 GGO regelt, wie bei Formulierungshilfen für Bundestag und Bundesrat zu verfahren ist. Danach sind über Formulierungshilfen, die inhaltlich von Beschlüssen der Bundesregierung, also z. B. von einem Regierungsentwurf, abweichen, die beteiligten Ressorts und das Bundeskanzleramt unverzüglich zu unterrichten, möglichst vor Zuleitung an die Ausschüsse. Hintergrund dieser Regelung dürfte sein, dass die zu informierenden Stellen ein berechtigtes Interesse daran haben können, frühzeitig und auf einer höheren politischen Ebene korrigierend „eingreifen“ zu können, wenn die Beratungen in einem Ausschuss nicht im Interesse der Regierung und auf der Linie des Regierungsvorhabens zu verlaufen scheinen. In der Praxis dürfte diese Regelung häufig keine Schwierigkeiten bereiten, etwa wenn die Ausschussberatungen durch die jeweiligen Berichterstatter längerfristig vorbereitet werden. Nicht selten kann es jedoch passieren, dass – trotz intensiver Vorbereitung durch die Berichterstatter – erst in der als abschließend angesetzten Beratung des federführenden Ausschusses in der allgemeinen Diskussion ein Problem in seiner ganzen Dimension erfasst wird und nun der anwesende Beamte des federführenden Ressorts um eine schnelle Formulierungshilfe gebeten wird. Hintergrund einer solchen Bitte kann auch sein, dass die Regierungsfraktion eine Kompromissformulierung anstrebt, um der Opposition entgegenzukommen und deren Zustimmung zum Entwurf zu erreichen, oder umgekehrt die Opposition ihre Zustimmung signalisiert für den Fall der Vorlage einer anderen Formulierung. Diese Fälle werden von § 52 Abs. 2 GGO nicht ausdrücklich erfasst. Eine zumindest schwierige Situation für den Ministerialbeamten, der vom Ausschuss um Mitwirkung an der Ausarbeitung einer Formulierungshilfe gebeten wird. Denn eine kurzfristige Unterrichtung des Ministers und des Kanzleramtes wird selten möglich sein. Der Beamte wird aber kaum eine Mitwirkung ablehnen können. Möglich ist allenfalls eine (nicht geregelte) nachträgliche Unterrichtung, wie sie noch § 44 Abs. 2 GGO II (Fassung 1992) vorsah. Wie wichtig in solchen Fällen eine jedenfalls unverzügliche, wenn auch nachträgliche, Unterrichtung sein kann, hat die aufgeregte Diskussion um die Änderung des Regierungsentwurfs des MeldFortG durch den Innenausschuss des Bundestages gezeigt.21
21 Vgl. BTDrucks. 17/7746; BTDrucks. 17/10158; www.offenesparlament.de/ablauf/17/ 38059.
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b) In diesem Zusammenhang fällt die Regelung des § 56 Abs. 3 GGO auf. Danach dürfen Angehörige der Bundesressorts bei der Vorbereitung von Gesetzesvorlagen des Bundestages ohne Genehmigung des zuständigen Ministers nicht mitwirken. Obwohl auch hier die unter 5. a) genannten übergeordneten poltischen Interessen eine Rolle spielen können, ist eine frühzeitige Unterrichtung des Bundeskanzleramtes nicht generell vorgesehen. Allerdings gilt § 52 Abs. 2 GGO entsprechend, falls ein solches Vorhaben von einem Beschluss der Bundesregierung abweichen sollte.
IV. Fazit Diese Beispiele und Erwägungen zeigen, dass die Verwaltungsvorschriften der GGO, jedenfalls soweit sie den Bundesressorts bei der Vorbereitung/Erarbeitung eines Gesetzentwurfs behilflich sein sollen, wohl einige Unklarheiten und Lücken enthalten dürften; zwar gibt es Arbeitshilfen zur GGO – doch diese beseitigen nicht die Unklarheiten in der GGO selbst. Damit ergibt sich für den Nutzer u. a. die Frage, ob es sinnvoll erscheint, die GGO bei nächster Gelegenheit genauer, als hier möglich und geschehen, zu überprüfen und ggf. „nachzubessern“. So könnte z. B. an eine klarstellende Regelung zur Zulässigkeit von Vorentwürfen, eine Präzisierung der Beteiligungsregelungen und eine klarstellende Überarbeitung von § 44 GGO gedacht werden. Jedoch scheinen die Ressorts der Bundesregierung mit den derzeitigen Regeln und den Arbeitshilfen dazu keine erheblichen Schwierigkeiten zu haben, jedenfalls sind solche bisher nicht bekannt geworden; eine Überarbeitung – im Interesse/zur Förderung einer reibungslosen Gesetzgebungsarbeit – scheint also zumindest nicht dringlich zu sein.22 Bleibt die Frage der Optik: Welches Licht wirft es auf die Gesetzgebungsressorts der Bundesregierung, auf ihre Arbeit, wenn sie mit jedenfalls nicht optimalen Hilfsmitteln arbeiten?
22
In Anlehnung an die inzwischen wohl überholten sog. blauen Prüffragen aus der Aktion „Schlanker Staat“ („Was passiert wenn nichts passiert?“ – Antwort hier: Nichts); vgl. Handbuch zur Vorbereitung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften (Fn. 2), S. 11; www.library. fes.de/fulltext/stabsabteilung (Adresse im Internet nicht mehr direkt verfügbar; teilweise über google).
„Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung“1 Von Klaus Rolinski Als wir, lieber Jürgen, im Arbeitskreis der Alternativ-Professoren gemeinsam Reformgesetze im Strafrecht und im Strafprozessrecht „auf den Weg gebracht“ haben,2 kümmerten wir uns nicht wie von Savigny darum, ob „unsere Zeit“ reif für neue Gesetze sei oder nicht. Wir sahen den Bedarf, überholte Regelungen zu erneuern und fühlten uns aufgerufen, der Tendenz des Gesetzgebers entgegenzutreten, verfassungsrechtlich geschützte Rechtspositionen der Bürger und Bürgerinnen zugunsten leichterer Zielerreichung abzuschmelzen. Du warst derjenige, dem die Grundrechte immer entschieden wichtiger waren als kriminalistische Zugriffsmöglichkeiten, ohne den Blick für die Bedürfnisse effektiver Straftatenermittlung und Straftatenverhinderung zu verlieren. In der Ehrengabe für Anne-Eva Brauneck hast Du Deine Bedenken im Rahmen der Kritik des gerade von uns diskutierten § 159 a II Satz 3 AE-EV zusammengefasst.3 Und vorbildlich wurde Deine Argumentation gegen die Einführung und Ausdehnung des großen Lauschangriffs, der Schleppnetzfahndung, der Rasterfahndung und der Datenvorratsspeicherung, insbesondere dann, wenn Nichtverdächtige einbezogen wurden.4 1 In Anlehnung an von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1967 (Neudruck der Ausgabe 1814). 2 Baumann/Höpfel/u. a., Alternativ-Entwurf, Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmefreiheit (AE-ZVR), 1996; Bannenberg/Baumann, Alternativ-Entwurf, Reform des Ermittlungsverfahrens (AE-EV), 2001. 3 „Die Verdachtserforschungseingriffe nach § 159 a II Satz 3 AE-EV hingegen füllen gleichsam die letzte Lücke, die präventivbehördlichem und kriminalpolizeilichem Wirken noch entgegensteht. Sie fügen sich in ein längst gezeichnetes Bild, das bei verdachtsloser Rasterfahndung (G 10) und verdachtsfreier Grenzkontrolle (Polizeigesetze) beginnt, sich über Eingriffe gegenüber vollkommen unbeteiligten Bürgern (StPO) fortsetzt, abstrakte Gefahren und ,polizeiliche Erfahrung‘ für erhebliche Grundrechtseingriffe hinreichen läßt und die Tätigkeit von Verfassungsschutzbehörden unter Mißachtung des Trennungsgebotes in den Vordergrund rückt. Das Bild wird verstärkt durch das Zusammenwachsen von Präventivpolizei und Kriminalpolizei – über Initiativermittlungen bei der Gefahr – und Verdachtserforschung sowie über Mischdateien mit präventiven und repressiven Daten (INPOL).“ Wolter, in: Kreuzer/Jäger/Otto/Quensel/Rolinski (Hrsg.), Fühlende und denkende Kriminalwissenschaften, Ehrengabe Brauneck, 1999, S. 524 f. 4 Grundlegend Wolter, ZStW 107 (1995), S. 793 ff.; ferner: ders., in: Kühne/Jung/Kreuzer/ Wolter (Hrsg.), FS Rolinski, 2002, S. 273 ff.; ders., in: Rogall/Puppe/Stein/Wolter (Hrsg.), FS Rudolphi, 2004, S. 733 ff.; ders., SK-StPO, 4. Aufl. 2010, §§ 100a-101; ders., SK-StPO, 11. Aufbau/Erg.Lfg. (Juni 1994), Vorbemerkungen vor § 151 StPO; ders., SK-StPO, 4. Aufl. 2011, §§ 163 b-163 f StPO.
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Aber der Gesetzgeber hat sich seit Beginn der Bundesrepublik zunehmend gewandelt. Wir durften damals davon ausgehen, dass der Gesetzgeber grundrechtskonforme Regelungen treffen konnte, wenn er nur wollte. Heute müssen wir zweifeln, ob er sie noch treffen kann, selbst wenn er wollte. Denn er hat einige Zuständigkeiten auf die übernationale Europäische Union übertragen müssen, was Du selbst schon angemerkt hast,5 hat Teilbereiche seiner Entscheidungsfreiheit selbst aufgegeben und unterliegt neuen gesellschaftlichen Zwängen. Schlimmer noch: Er orientiert sich auch in Kernbereichen an Partikularinteressen. Die Frage lautet daher, ist er zu „guter“ Gesetzgebung noch fähig? Die Erörterung dieser Fragen ist gleichsam die Fortsetzung unserer damaligen Diskussion. Und sie ist zugleich die Abstattung eines großen Dankes für unsere lange in die Vergangenheit zurückgehende Freundschaft. Savigny ging zu Beginn des 19. Jahrhunderts davon aus, dass sich Gesellschaften, ausgehend von einem Naturzustand, kulturell entwickeln, sich differenzierend entfalten und ein kulturell höheres Niveau erreichen. „Das Recht bildet sich nunmehr in der Sprache aus, es nimmt eine wissenschaftliche Richtung, und wie es vorher im Bewußtseyn des gesammten Volkes lebte, so fällt es jetzt dem Bewußtseyn der Juristen anheim, von welchen das Volk nunmehr in dieser Function repräsentirt wird. Das Daseyn des Rechts ist von nun an künstlicher und verwickelter, indem es ein doppeltes Leben hat, einmal als Theil des ganzen Volkslebens, was es zu seyn nicht aufhört, dann als besondere Wissenschaft in den Händen der Juristen“.6 Er nennt das Recht, das mit dem „allgemeinen Volksleben“ zusammenhängt, das „politische Element“ und „das abgesonderte wissenschaftliche Leben des Rechts … das technische Element desselben.“7 Und er unterstellt – eine für uns heute waghalsige Hypothese –, dass mit der kulturellen Entwicklung eines Volkes und der Fortbildung und Betreuung des Rechts durch Juristen das Recht besser werde. Nicht der Gesetzgeber ist Förderer und Hüter des Rechts, sondern die Rechtsvorstellungen in einem Volke.8 Es mag sein, dass die drohenden (revolutionären) Umwälzungen nach den napoleonischen Kriegen und die noch nicht gefestigte Restauration von Savigny veranlassten, seiner Zeit die Fähigkeit zur Schaffung eines übergreifenden bürgerlichen Gesetzbuches abzusprechen. Er ging aber bereits von einer Feststellung aus, die wir als äußersten Rahmen problemlos übernehmen können: Recht ist ein Teil der Kultur einer Gesellschaft und entwickelt sich mit ihr. Es bestehe ein „organischer Zusammenhang des Rechts mit dem Wesen und Character des Volkes“, der Sprache vergleichbar. „So wie für diese (Sprache), giebt es auch für das Recht keinen Augen5
Du schriebst 2004: „Die Macht der rechtsetzenden Europäischen Union vermehrt sich; und die widerstandslose nationale Unterordnung unter diese Macht verstärkt sich.“ Wolter, in: Rogall/Puppe/Stein/Wolter (Hrsg.), FS Rudolphi, S. 748. 6 Von Savigny (Fn. 1), S. 12. 7 Von Savigny (Fn. 1), S. 12. 8 Von Savigny (Fn. 1), S. 47.
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blick eines absoluten Stillstandes, es ist derselben Bewegung und Entwicklung unterworfen, und auch diese Entwicklung steht unter demselben Gesetz innerer Notwendigkeit, wie jene früheste Erscheinung. Das Recht wächst also mit dem Volke fort, bildet sich aus mit diesem, und stirbt endlich ab, so wie das Volk seine Eigenthümlichkeit verliert.“9 Betrachten wir Gesetzgebung „in unserer Zeit“, ergeben sich nach zweihundert Jahren vergleichbare Fragen. Die Aussage von Savignys, Recht sei ein Teil und Ausdruck unserer Kultur, ist für uns eine Selbstverständlichkeit.10 Seinen Gegensatz von „politischem Element“ und „technischem Element“ wird man erweitern müssen. Recht entsteht in einem unüberschaubaren Interaktionsprozess unendlich vieler Variablen, in dem sich aber zwei Bereiche konturiert hervorheben lassen: Auf der einen Seite die Entwicklung von Rechtsvorstellungen durch die Bürger und Bürgerinnen und auf der anderen der Gesetzgeber. Beide stehen sich interaktionell gegenüber. Denn letztlich und im Regelfall konkretisieren sich Rechtsvorstellungen in Gesetzen. Ganz allgemein werden wir uns fragen müssen, ob Globalisierung und Europäisierung der Rechtsverhältnisse, wie oben erwähnt, den nationalen Gesetzgeber zu „guter“ Rechtssetzung, was auch immer das ist, unfähig gemacht haben. Genauer: Welche neuen, kulturellen Besonderheiten wirken auf den nationalen Gesetzgeber ein? Ferner ist zu fragen, ob es Kriterien für ein „besseres Recht“ gibt, vielleicht im Sinne von „richtigem“ Recht? Und schließlich: Kann eine wissenschaftliche Gesetzgebungslehre helfen, „gerechtere“ oder „gute“ Gesetze zu machen? Zunächst müssen wir eine methodische Einschränkung einräumen. Empirische Untersuchungen zur Beantwortung unserer Fragestellungen sind kaum vorhanden. Unsere Antworten werden daher eher plausiblen und begründeten Hypothesen gleichen als eines wissenschaftlichen Beweises. Insofern ist unsere Ausgangslage der von von Savigny nicht unähnlich, trotz zweihundert Jahre „Entwicklung“. Beispiele sollen unsere Vermutungen belegen. Sodann rechne ich für die Erörterung derart umfangreicher und komplexer Zusammenhänge auf engem Raum, sozusagen für die Erörterung emeritierender Hypothesen, mit Deinem verständigen Wohlwollen, obwohl Du selbst jeden Schritt in Richtung pauschaler Aussagen wahrscheinlich ablehnen würdest. Dein auf Genauigkeit und Begründetheit ausgerichtetes Arbeitsethos ließe eine Argumentation, die sich wesentlich auf empirisch ungesicherte Daten stützt, wohl nicht zu.
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Von Savigny (Fn. 1), S. 47. Jung formuliert: „Recht ist jedenfalls kulturgeprägt und kulturprägend. Deswegen ist die kulturelle Frage zentral für die Rechtsvergleichung“, so Jung, JZ 2012, S. 926. 10
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I. Eine relativ neue Bedingung unserer Sozialstruktur Der Interaktionsprozess zwischen Rechtsadressaten und Gesetzgeber vollzieht sich in einem kulturellen Umfeld, das sich von der Kultur zu Beginn des 19. Jahrhunderts gravierend unterscheidet. Er findet nicht nur in der sozialen Wirklichkeit, sondern zu einem erheblichen Teil in einer Medienwirklichkeit, in einem Konstrukt von Wirklichkeit, statt. Dadurch sind Transparenz und Kontrolle, auch der Gesetzgebung, wesentlich erschwert. Nun können über den Einfluss der Medien in diesem Zusammenhang keine detaillierten Ausführungen gemacht werden. Allerdings möchte ich auf zwei weitere wichtige Punkte hinweisen. Die Medienwirklichkeit ist durch die neuen technischen Möglichkeiten der Informationsgewinnung und -übermittlung unüberschaubar umfangreich und komplex geworden. Und da in den Medien zwischen Mitteilung eines Sachverhalts und dessen Kommentierung grundsätzlich nicht unterschieden wird, steht der Einzelne einem vielschichtigen Informationsstrom gegenüber, in dem einzelne „allgemeine Bewertungen“, einschließlich Rechtsvorstellungen, durch ständige Wiederholung einen von der Wirklichkeit abgehobenen Vorrang erhalten, andere aber unbeachtet bleiben. Der sogenannte „Mainstream“ wird dann wesentliche Grundlage auch für die Entwicklung von Rechtsvorstellungen. Hinzu kommt, dass diese komplexe Informationsquelle nur einen geringen Teil der tatsächlich zur Verfügung stehenden Informationen wiedergibt. Nachrichtenagenturen, wie dpa, sammeln täglich mehrere 100.000 Nachrichten, geben aber nur etwa 30.000 oder 40.000 davon an die Print- und sonstigen Medien weiter. Von denen werden noch einmal etwa 10 % von den Redaktionen ausgewählt, die schließlich den Leser erreichen. Diesem Mainstream von Informationen und vor allem Bewertungen ist natürlich auch der Gesetzgeber ausgesetzt. Zum zweiten muss man einräumen, dass die „freie Presse“ in einer ökonomisierten Gesellschaft gar nicht so frei ist. Wir nehmen kaum wahr, dass auch Medien mit Ausnahme der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten marktabhängig sind. Nürnberger berichtet von seinem „Praxisschock“. Er hatte einen scharfen Artikel gegen den örtlichen Kaufhof geschrieben, der Kunden schlecht behandelt hatte. Ein leitender Redakteur, Horst Wolf, redete ihm „die schönsten Pointen, die geschliffensten Formulierungen und die gehässigsten Bemerkungen aus“.11 Sie diskutierten. Dann gab Nürnberger hilflos auf als Wolf sagte: „Die Pressefreiheit hört dort auf, wo der Selbstmord beginnt“.12
11 12
Nürnberger, Die Machtwirtschaft. Ist die Demokratie noch zu retten? 1999, S. 175. Nürnberger (Fn. 11), S. 175.
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II. Entwicklung von Rechtsvorstellungen: Rechtsadressaten als Interaktionspartner des Gesetzgebers 1. Das verbliebene „politische Element“ als Ausdruck des „allgemeinen Volkslebens“: Sozialisation in der Primärgruppe, der Schule, der Peergroup, durch Religion und durch Beruf Was man in einer Gesellschaft für rechtens hält, kann man methodisch vertretbar an einzelnen Topoi wie Ladendiebstahl, Steuerhinterziehung, Homosexualität oder Elterngeld festmachen, indem man die Bürgerinnen und Bürger über den rechtlichen Gehalt solcher Regelungen befragt. Dabei lassen sich so grobe Kategorien wie Geschlecht, Alter, Bildungsgrad, Beruf, Religion und ähnliche Variablen berücksichtigen.13 Man wird auch noch sagen können, dass die „Entwicklung“ solcher Rechtsvorstellungen, im Grunde eine abändernde Tradierung, in einem lebenslangen, individuellen Sozialisationsprozess, und zwar in einem Interaktionsprozess zwischen unendlich vielen Variablen, erfolgt. Und man wird davon ausgehen können, dass sich Rechtsvorstellungen in vergleichbarer Weise wie bisher entwickeln. Konkreteres aber auch nicht. Dabei dürften die bekannten Sozialisationsbereiche Primärgruppe, also die Eltern, neuerdings ergänzt durch die Großeltern, Schule, einschließlich der verfassungsrechtlich abgesicherten christlichen Erziehung14 und Beruf wesentlichen Anteil an der Entwicklung von Rechtsvorstellungen haben, die wegen ihrer relativen Konstanz hier nicht zu diskutieren sind. Eine neue und erweiterte Bedeutung dürften die gleichaltrigen Jugendlichen und Heranwachsenden gewonnen haben. Der Einzelne und die Einzelne bewegen sich nicht mehr nur in ihrer „Peergroup“, sondern in einem erweiterten Netzwerk, in dem er oder sie mit 100 oder 200 oder 500 „Freundinnen und Freunden“ „verbunden“ ist. Dieser fließende Übergang von der „Peergroup“ in das mehr oder weniger anonyme Netzwerk sorgt für eine nahezu tägliche Präsenz der Netzwerkgemeinde und damit für eine deutliche Dominanz der von den Netzwerkteilnehmern schnell und wohl mit geringer Reflexion entwickelten Wertvorstellungen.
13 Schon Plate/Schneider, Schwereeinschätzung von Gewalthandlungen. Ergebnisse zweier repräsentativer Bevölkerungsbefragungen, 1989. 14 „Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt“. Art. 7 GG unterliegt der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG. Konkordate bauen diesen Einfluss aus und sichern ihn ab.
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So wurden die Verwertungsrechte der Komponisten und Literaten teilweise ausgehebelt, weil die Internetnutzer für sich in Anspruch nehmen, z. B. Musikstücke kostenlos herunterladen zu dürfen.15 Etwas pauschal könnte man sagen: die Masse setzt Recht! Der Gesetzgeber tut sich mit solchen Entwicklungen schwer, schon weil korrigierende Eingriffe ins Internet aus technischen Gründen nur schwer möglich sind. 2. Zum Verhältnis von Rechtsadressaten und Gesetzgeber Die Beeinflussungsströme, die zwischen Rechtsadressaten und Gesetzgeber hin und her laufen, sind unfassbar komplex. Es ließen sich allenfalls grobe Trends beschreiben, worauf in diesem Zusammenhang aber verzichtet wird. Wir wissen z. B. einfach nicht, warum die prüde Einstellung zur Sexualität in den 1950er und 1960er Jahren in der Folgezeit sich zu völliger Liberalität bis hin zur rechtlichen Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft gewandelt – oder i. S. von von Savignys sich „entwickelt“ – hat. Aber ohne das gegenseitige Beeinflussen von Rechtsadressaten und Gesetzgeber wäre eine solche gravierende Veränderung von Rechtsvorstellungen nicht möglich gewesen. Schließlich schaffen erst Gesetze die großräumigen sozialstrukturellen Rahmen, in denen neue Rechtsvorstellungen sich entwickeln können. Die Tatsache, dass homosexuellen Paaren der Familienzuschlag nachgezahlt werden muss, sofern ein Partner Beamter ist, ist ein Beispiel für dieses Zusammenwirken.16 Welchen Wert politische Entscheidungsträger dabei auf die Vorstellungen der Rechtsadressaten legen, lässt sich insbesondere gut vor jeder Wahl beobachten. Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder soll jeden Morgen zuerst in die Bildzeitung geschaut haben, um zu sehen, was das Volk denkt, insbesondere über ihn. Für eine gute Gesetzgebung dürfte es aber entscheidend wichtiger sein, dass der Gesetzgeber seine Pflicht zur Wahrung verfassungsrechtlich gesicherter Freiheitsräume der Bürger und Bürgerinnen ernst nimmt und nicht Gesetze nach Meinungsumfragen macht.
15 Die Gema versucht gegenwärtig, von Youtube Schadenersatzansprüche geltend zu machen. Graff/Rabe/Zielke, Was ist ein Musikstream wert?, Süddeutsche Zeitung, Nr. 9 v. 11. 1. 2013. Zum Streitstand vgl. von Gehlen, Der Konflikt, Süddeutsche Zeitung, Nr. 15 v. 18. 1. 2013. 16 BVerfG, Beschl. v. 19. 6. 2012, BVerfGE 124, 199.
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III. Handlungseinschränkungen und Selbstbeschränkungen des Gesetzgebers 1. Der Einfluss der Parteien Der Gesetzgeber besteht nicht nur aus einer Summe von individuellen Abgeordneten, sondern auch aus institutionalisierten Gruppen, den Parteien. Zuständig für die Gesetzgebung sind nach der Verfassung die Parlamente, also der Bundestag und die Länderparlamente.17 Übergeht man die Fiktion, der formelle Gesetzgeber sei ein „objektiver Gesetzgeber“, oder bemühe sich wenigstens, objektiv zu sein, müssen zwei Aspekte hervorgehoben werden: Zwar hängt der Inhalt eines Gesetzes von den konkreten Personen und deren Werthaltungen ab, also von den Abgeordneten. Und die Volksvertreter und Volksvertreterinnen werden gewählt. Aber sie werden letztlich von der jeweiligen Partei ausgewählt. Die Zuteilung eines aussichtsreichen Listenplatzes durch die Partei entscheidet über das Mandat. Dieses Verfahren bietet die Möglichkeit einer grundsätzlichen Negativauswahl. Nun haben die politischen Parteien nicht nur in Deutschland sich zu Krebsgeschwüren der Gesellschaft entwickelt, sondern in nahezu allen Staaten. Sie stellen nicht nur die Regierung, sondern sind in alle wichtigen Institutionen einer Gesellschaft eingesickert. In Deutschland werden Bundesverfassungsrichter, Intendanten der öffentlich-rechtlichen Medien und alle höheren Beamten in den Ministerien nach Parteienproporz ausgewählt. In bayerischen Ministerien dürfte es keinen Ministerialrat geben, der sich öffentlich zu den Grünen oder zur SPD bekennen würde. Und Vergleichbares gilt für die traditionell sozialdemokratisch regierten Länder. Diese gesellschaftliche Parteien-Dominanz hat dazu geführt, dass ein so eherner Verfassungsgrundsatz wie der der Gewaltenteilung18 von den Parteien ausgehebelt worden ist. Zwar werden nach Art. 77 GG die Bundesgesetze vom Bundestag, also von der Summe der Abgeordneten, beschlossen, tatsächlich bestimmen aber die Mitglieder der Regierung, also die Verwaltung, den Inhalt der Gesetze und welche Sachverhalte gesetzlich geregelt werden. Das Organ der Gesetzgebung, das Parlament19, stimmt nur noch formal zu ohne seine Kontrollfunktion gegenüber der Regierung wahrzunehmen. Ein so pervertiertes Verfahren ist möglich geworden, weil eine Partei oder eine Parteienkoalition nicht nur die Regierung stellt, sondern auch über die Mehrheit im Bundestag verfügt und grundsätzlich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, für Abstimmungen im Parlament Fraktionszwang besteht.
17
Art. 70 ff. GG. Art. 20 Abs. 2 GG; BVerfGE 124, 120. 19 „Das parlamentarische Regierungssystem wird grundlegend auch durch die Kontrollfunktion des Parlaments geprägt“, BVerfGE 67, 130. 18
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Über Gesetze, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, wird im Regelfall in vergleichbar harmonischer Weise abgestimmt oder, wenn die Opposition dort die Mehrheit hat, behindert oder verwässert. Simone Weil hat bereits 1957 gefordert, die Parteien abzuschaffen. Das einzelne Mitglied könne unter dem „kollektiven Druck“ der Partei im konkreten Einzelfall nicht mehr seine persönliche Auffassung über „Wahrheit und Gerechtigkeit“ in politische Entscheidungen einbringen, sondern müsse die Position der Partei vertreten. Diese aber entscheidet grundsätzlich zugunsten des eigenen Wachstums, weil sie inhärent totalitär sei.20 Durch die Partei würde der Entscheidungsprozess verhindert, bei dem die einzelnen Abgeordneten über Parteigrenzen hinweg in jeweils neuen Zusammensetzungen über einzelne Fragen abstimmen, weil nur auf diese Weise sachgerechte Entscheidungen gefunden werden können. Sie mahnt also das an, was unsere Verfassung von jedem einzelnen Abgeordneten und von jeder einzelnen Abgeordneten verlangt: eine von Weisungen freie Entscheidung.21 Gerade sie wird aber vom Fraktionszwang verhindert. „Daraus ergibt sich – von ganz wenigen Zufällen abgesehen –, dass nur Maßnahmen beschlossen und durchgeführt werden, die dem Gemeinwohl, der Gerechtigkeit und der Wahrheit entgegenstehen.“22 Dieser Sachverhalt wirft die Frage auf, welche Ziele die Parteien verfolgen und welche Maßstäbe sie ihren politischen Entscheidungen zugrunde legen. Sie wird sicherlich individuell unterschiedlich beantwortet. M.E. zwingt die überwiegende Anzahl von Entscheidungen und von Nicht-Entscheidungen zu der Annahme, dass die Parteien ihre Kompetenz, für die Gemeinschaft zu entscheiden, aufgegeben haben. Parteien stehen nicht mehr für ein spezifisches Programm auf der Grundlage einer unverwechselbaren Weltanschauung. Sie versuchen vielmehr, von Wahl zu Wahl mit Sonderangeboten Mehrheiten zu gewinnen. Ihr Ziel besteht nicht darin, ihre Vorstellungen über die Gestaltung und die Entwicklung unserer Gesellschaft zur Abstimmung zu stellen, d. h. im Sinne des Überzeugens den Wählern und Wählerinnen verstehbar zu machen, was nach ihrer Meinung für die Gemeinschaft notwendig sei. Sie eruieren vielmehr, auch mit Hilfe von Befragungen, welche Partikularinteressen mit welchen Angeboten „gewonnen“ werden können. Zwar besetzen Parteien traditionell bestimmte Inhalte, aber grundsätzlich wird für jede Wahl ein neues Programm unter dem Aspekt der Gewinnaussichten aufgestellt. Einziges Ziel ist, die Wahl zu gewinnen, um an der Macht zu bleiben oder die Macht zu erringen. Ein solches Verhalten wird man sicherlich als noch demokratiegerecht bezeichnen müssen. Für die Gesetzgebung bedeutet es aber eine Einschränkung der gesetzgeberischen Handlungsfreiheit. Die Parteien als Gesetzgeber bleiben einzelnen Par20
Weil, Anmerkung zur generellen Abschaffung der politischen Parteien, 2009, S. 14, 17,19; Note sure la suppression general des parties Politikus, 1957. 21 Die Abgeordneten „sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. 22 Weil (Fn. 20), S. 26, 30.
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tikularinteressen verpflichtet, so dass die Bürgerinnen und Bürger als Gemeinschaft ihre Vertreter verloren haben. Schlimmer noch: Vor den Wahlen verlangt das Bedürfnis, auf Biegen und Brechen die Wahl zu gewinnen, Versprechungen zu machen. Das reicht dann vom Elterngeld, über die Reduzierung der Mehrwertsteuer von 19 % auf 7 % bei einzelnen Gruppen, wie bei den Hoteliers,23 bis zu Versprechungen, die Rente zu erhöhen. So dürften kein Bundesbürger und keine Bundesbürgerin, außer den Münzsammlern, verstehen, dass der Kauf von Münzen bisher nur dem ermäßigten Satz von 7 % unterlag. Die Folgen solcher radikalen Zielverfolgung, unter allen Umständen die Wahl zu gewinnen, sind ein „klarer Zick-Zack-Kurs“, d. h. eine nahezu konzeptionslose Gesetzgebung und die Öffnung von Tür und Tor für Lobbyisten aller Couleurs. Dem Wunsch der Parteien und Parteimitglieder, an der Macht zu bleiben oder sie zu gewinnen, liegt das hereditäre Grundbedürfnis nach Rang, Einfluss und Kontrolle zugrunde, das unbewusst die Entscheidungsfreiheit der Mitglieder der Gesetzgebungsorgane einschränkt. Ohne Aufklärung über diesen Zusammenhang, so ist festzustellen, ist unsere Zeit als nicht geeignet für Gesetzgebung einzustufen.24 2. Übertragung nationaler Gesetzgebungskompetenzen auf die übernationale Institution der Europäischen Union (EU) Betrachten wir den „Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung“ unter dem Aspekt des nationalen Gesetzgebers, ist festzustellen, dass nicht unwesentliche Kompetenzen auf die Gesetzgebungsorgane der Europäischen Union übertragen worden sind. Historisch gesehen ist der Weg zu den „Vereinigten Staaten von Europa“ die sinnvollste Antwort auf die Herausforderungen nach dem Zweiten Weltkrieg und auf die eines globalisierten Weltmarktes. Und Europa ist in den letzten sechzig Jahren in vielen Bereichen schon zusammengewachsen, so dass bereits partiell von einem europäischen Wir-Gefühl gesprochen werden kann. Das Problem, das in diesem Rahmen nur kursorisch angesprochen werden kann, besteht darin, dass die Mitgliedstaaten weiterhin eine abgegrenzte Gruppe bilden und deshalb auf europäischer Ebene versuchen, Gruppenegoismen durchzusetzen. Hinzu kommt, dass der Prozess des Zusammenwachsens der Nationalstaaten von den Europapolitikern zunehmend unprofessionell gestaltet wird. Von Anfang an hat das Ziel der Erweiterung der EU im Vordergrund gestanden und nicht das der vor allem recht-
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Zur verschleppten Reform der Mehrwertsteuer vgl. Engels, Präsident des Bundesrechnungshofes, in: Bohsem, Vernichtendes Zeugnis, Süddeutsche Zeitung, Nr. 14 v. 17. 1. 2013, S. 5. 24 Rolinski, in: Brüne/Salter/McGrew (Hrsg.), Brückenschlag zwischen Anthropologie, Medizin und Humanethologie, Beiträge zu Wulf Schiefenhövels Leben und Werk, 2010, S. 17 ff.
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lichen Konsolidierung.25 Es wurde nie festgelegt, welche Bereiche sinnvoller Weise auf europäischer Ebene in Brüssel und welche durch den Nationalstaat zu regeln sind. Die gegenwärtige Eurokrise hat diesen Missstand sichtbar gemacht. Ein gemeinsames Verfassungsrecht26, Steuerrecht und gemeinsame Haushaltsregeln27 fehlen, ebenso wie die Möglichkeit, einen Staat, der sich wie Griechenland Vorteile mit gefälschten Statistiken erschlichen hat, aus der EU auszuschließen. Dieser Zustand, der einem anomischen nicht unähnlich ist, zwingt die europäischen Gesetzgebungsorgane beständig zu Opportunitätsentscheidungen, die auf den nationalen Gesetzgeber durchschlagen. Und natürlich macht der übernationale, europäisierte und komplizierte Gesetzgebungsvorgang das Tor für die Durchsetzung von Partikularinteressen mit Hilfe finanzkräftiger und gewiefter Lobbyisten weit auf. Die Privatisierung z. B. der Trinkwasserversorgung wird gegenwärtig von Brüssel betrieben,28 obwohl sie eine wesentliche Daseinsvorsorge des Staates ist und obwohl sie in der Bundesrepublik von den Kommunen und Städten optimal betrieben wird. Wir wissen nicht, welche Kapitalinteressen dahinter stehen. Aber der nationale Gesetzgeber kommt in Zugzwang. Auch durch die Übertragung von nationalen Zuständigkeiten von Berlin nach Brüssel ist „unsere Zeit“ für Gesetzgebung nicht geeignet. 3. Partieller Verlust von staatlicher Souveränität durch Verlagerung von Macht auf Kapitalakkumulationen Um die Hypothese von der partiellen Machtverlagerung zu plausibilisieren, können wir lediglich, wiederum in aller Kürze, auf auffällige Daten zurückgreifen. Vergleicht man zunächst die Größe der staatlichen Haushalte mit den Kapitalien, die von Banken, Hedgefonds, Versicherungsgesellschaften und von sonstigen speku25
So soll Kroatien zum 1. 7. 2013 in die EU aufgenommen werden, obwohl das Land im September 2012 die Aufnahmekriterien noch nicht erreicht hat. Rumänien wurde schon 2007 unter Auflagen in die EU aufgenommen, die bis heute (2012) nicht erfüllt sind. Und Albanien wird zum Beitrittskandidaten erklärt, obwohl dort noch organisierte Kriminalität, Korruption und ein Mangel an Rechtsstaatlichkeit bestehen. 26 Der „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ scheiterte 2005. Und der Vertrag von Lissabon 2007 stellte die Europäische Union zwar auf eine neue Rechtsgrundlage, aber auf eine doch eher notdürftige. 27 Im Fiskalpakt vom 9. 12. 2011 haben die Staats- und Regierungschefs zwar eine Schuldenbremse vereinbart. Im Übrigen sind sie aber bei bloßen Absichtserklärungen und Leerformeln stehen geblieben. Europäischer Rat, Erklärung der Staats- und Regierungschefs des Eurowährungsgebietes v. 9. 12. 2011, www.consilium.europa.eu/eudocs/cms_data/docs/ pressdata/de/ec/126678.pdf. 28 Richtlinie über die Konzessionsvergabe in den „Bereichen Wasser- Energie- und Verkehrsversorgung sowie Postdienste“. Vauchelle, Trinkwasser soll in private Hände, Mittelbayerische Zeitung vom 18. 1. 2013, S. 5.
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lierenden und nicht spekulierenden Kapitaleignern und Kapitalverwaltern29 mobilisiert werden können, dann schneiden die nationalen Regierungen schlecht ab. Sie können keine Billionen Euro oder Dollar bewegen. Als Beispiel für dieses Missverhältnis dient nach wie vor der Fall George Soros, dem so viel Kapital zur Verfügung stand, dass er 1992 zusammen mit anderen sogenannten „Investoren“, erfolgreich gegen das englische Pfund spekulieren und eine nationale Währung in die Knie zwingen konnte. Die damit gewonnenen Milliarden bezahlten letztlich Bürgerinnen und Bürger. Nun verfügen souveräne Staaten über einen alles entscheidenden Machtfaktor, nämlich über den der Gesetzgebung. Staaten könnten theoretisch zu große Kapitalakkumulationen per Gesetz machtlos stellen. Auffällig ist, dass sie es nicht tun. Während 1933, nach der Weltwirtschaftskrise von 1929/1930, der US-amerikanische Staat den Glass-Steagall-Act erließ, wonach Geschäftsbanken und Investmentbanken zu trennen sind, wurde diese Regelung nach der Finanzmarktkrise 2007/2009 nur diskutiert, aber nicht eingeführt. Diese Nicht-Entscheidung ist für unsere Behauptung deshalb so bedeutsam, weil sich der Glass-Steagall-Act 66 Jahre lang bewährt hatte. Erst 1999 wurde er vom damaligen Präsidenten, Bill Clinton, aufgehoben, nachdem er vorher schon mehrmals abgeändert worden war. Die europäischen Staaten folgten dieser Fehl-Entscheidung der amerikanischen Politik, die sicher nicht gegen den Willen der Banken getroffen worden war. Ein weiteres Merkmal, das unsere Hypothese stützt, ist der Verzicht der staatlichen Politik, sogenannte systemische Institute aufzulösen oder effektiv zu kontrollieren. Wenn es Banken, Hedgefonds und vergleichbare Institute gibt, die so groß sind, dass der Staat mit Steuergeldern deren Bankrott auffangen muss, damit das Finanzsystem selbst nicht kollabiert – „too big to fail“ –, dann muss aus rechtsstaatlichen Gründen der Grundsatz „too big to be without public control“ eingreifen. Der Staat hat dann die Pflicht, diese „systemischen“ Banken und Institute sofort unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Wie ist egal. Entweder werden sie in mehrere kleinere zerlegt, verstaatlicht oder ein staatlicher Aufseher erhält Sitz und Stimme im Vorstand der Bank oder irgendetwas anderes. Keinesfalls aber darf ein privat organisierter und gelenkter Machtfaktor entstehen, der staatliches Handeln für eigene Interessen erzwingen kann ohne einer demokratischen Kontrolle zu unterstehen. Die Staaten verzichten aber auf ihre Handlungskompetenz und geben dadurch Teile ihrer Souveränität klammheimlich ab. Im Gegenteil, Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat erstmals im Dezember 2012 insgesamt 36 Banken aufgelistet, die systemrelevant sind, die also mit Steuermitteln in jedem Fall „zu retten“ sind. Mehr als eine Aufsicht von außen ist nicht vorgesehen.30 Wenn aber Regierungen in systemrelevanten Fällen nicht zum Schutz des Staates systemschützende Regelun29 Zu Beginn der Globalisierung und der Durchsetzung des neo-liberalen Wirtschaftssystems wurde diese Gruppe mit dem Namen „share-holder“ bezeichnet. 30 Rexer, 36 Banken sind unsterblich, Süddeutsche Zeitung, Nr. 292 v. 18. 12. 2012.
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gen treffen, überlassen sie den Kapitaleignern und Kapitalverwaltern Teile ihrer Gesetzgebungskompetenz. Denn letztlich sind sie es, die den Regierungen „nahelegen“, was sie im Bereich der Finanzbranche zu beschließen haben. Montesquieu würde einer solchen Entmachtung der Gesetz gebenden Gewalt verständnislos gegenüberstehen.31 Unsere Hypothese wird ferner durch die zunehmende personelle Verflechtung von Politik und Finanzwirtschaft gestützt, eine Verbindung oder Schiene, die es den Kapitaleignern und Kapitalverwaltern erlaubt, maßgeblichen Einfluss auf Entscheidungen der Politik zu nehmen. Wir kennen dieses Phänomen aus den USA. Dort gilt es als „normal“, wenn Wirtschaftsbosse zeitweilig Funktionen in der Politik wahrnehmen und Politiker hohe Posten in der Wirtschaft übernehmen. So wurde Robert E. Rubin, der von 1964 bis 1992 bei der US-amerikanischen Investmentbank Goldman Sachs gearbeitet hatte, Finanzminister unter Präsident Bill Clinton. Während seiner Amtszeit wurde, wie oben erwähnt, der Glass-SteagallAct aufgehoben, was den Zusammenschluss von Travelers Group und Citicorp zur Citigroup ermöglichte. Nach seinem Rücktritt als Finanzminister 1999 war Rubin bis 2009 Berater der Citigroup und erhielt von ihr über 126 Millionen US-Dollar.32 Ähnliche Strukturen wurden in Deutschland durch das Verhalten Wilhelm Werner Müllers, von 1998 bis 2002 Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, sichtbar. Müller kam aus der Energiebranche. Er arbeitete von 1973 bis 1980 bei der RWE AG, von 1980 bis 1992 bei der VEBA AG und dann bis 1997 bei der VEBA-Tochter Veba Kraftwerke. Als die E.ON AG, das Nachfolgeunternehmen der VEBA, die Ruhrgas AG schlucken wollte, wurde die Übernahme durch das Bundeskartellamt verboten. Darauf erteilte der Staatssekretär Alfred Tacke, in Vertretung des Ministers, eine sogenannte Ministererlaubnis und genehmigte den Zusammenschluss aus „Gründen des überragenden Interesses der Allgemeinheit“.33 Müller wurde anschließend (2003) Vorstandsvorsitzender der Ruhrkohle AG (RAG Konzern) und Alfred Tacke 2004 Vorstandsvorsitzender des Stromversorgungsunternehmens STEAG, damals eine 100 %ige Tochter des RAG Konzerns. Weitere Beispiele für das „Zusammenwirken“ von Wirtschaft, insbesondere der Finanzbranche und Politik lassen sich leicht aufzählen. Henry (Hank) Paulson arbeitete seit 1974 bei Goldman Sachs, von 1999 bis 2006 als Geschäftsführer. 2006 übernahm er unter Präsident Georg W. Bush das Finanzministerium. In dieser Eigenschaft wurde er als Regulierer des Finanzmarktes eingesetzt. 31
Die Hypothese, wonach Parteipolitiker und Vertreter der sogenannten Finanzwirtschaft kollaborieren, weil sie ihre eigenen Interessen – Machterhalt und Gewinne machen – gemeinsam besser durchsetzen können, greife ich nicht auf. 32 http://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Rubin#cite_note-2. 33 Vgl. § 42 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB).
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Jon Corzine, bis 1999 Geschäftsführer bei Goldman Sachs, wurde anschließend Senator und Gouverneur von New Jersey. Antonio Borges war von 2000 bis 2008 Vize-Präsident von Goldman Sachs International, London, anschließend Präsident des Hedgefonds Standards Board und dann für ein Jahr (2011) Direktor des Internationalen Währungsfonds. Nun könnte man meinen, der Fall Müller in Deutschland sei ein Ausnahmefall gewesen, während das „kooperative Verhalten“ von Bossen, insbesondere der Finanzbranche und Politikern Ausdruck der spezifischen US-amerikanischen Kultur sei, von der sich die europäische gravierend unterscheide. Kapitaleigner und Kapitalverwalter machen aber vor den Toren Europas nicht halt. So wechselte der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, wie andere, gleich nach der Aufgabe seiner politischen Ämter, in die Wirtschaft. Er wurde Vorsitzender des Aufsichtsrates der Nord Stream AG, einem Tochterunternehmen von Gazprom. Außerdem berät er mehrere Unternehmen, darunter seit 2006 die Rothschild Bank. Und der Ire Peter Sutherland war von 1985 bis 1989 nicht nur Europäischer Kommissar für Wettbewerb, sondern ist seit 1995 auch im Vorstand von Goldman Sachs International und war bei der Regulierung der Schuldenkrise in Irland maßgeblich beteiligt. Karel van Miert, ein belgischer Politiker, verstorben 2009, war nicht nur von 1989 bis 1999 EU-Kommissar für Verkehr und Wettbewerb, sondern auch Berater von Goldman Sachs. Wie die Beeinflussungsströme im Einzelnen verlaufen und wer was bei wem bewirkt, lässt sich nicht herausfinden, weil die bedeutsamen Entscheidungen auf der Hinterbühne34 getroffen werden, z. B. auf Bilderberg-Konferenzen. Deshalb kann man auch keinem Einzelnen unlauteres Verhalten nachsagen und schon keine Verschwörungstheorien formulieren. Methodisch zulässig ist aber, auffällige Daten zu beschreiben, die vorsichtige Einschätzungen erlauben. Auffällig sind in meinen Augen folgende Vernetzungen. Mario Draghi war von 2002 bis 2005 Vizepräsident der Investmentbank Goldman Sachs und ist seit Oktober 2011 Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB). Mario Monti, ein anerkannter Wirtschaftswissenschaftler und Hochschullehrer (er ist Präsident der Bocconi-Universität, Mailand), der auch persönlich als integer gilt (er verzichtet auf Teile seines Gehalts und benutzt bevorzugt öffentliche Verkehrsmittel), wurde im November 2011 Ministerpräsident Italiens. Er setzte ein Sparprogramm durch, war aber auch internationaler Berater von Goldman Sachs und Coca-Cola. Loukas Papadimos (englische Transkription Lucas Papademos) ist Wirtschaftswissenschaftler und arbeitet gleichzeitig bei Banken (1980 wurde er leitender Volks34
Vgl. Goffman, Wir alle spielen Theater, 10. Aufl. 2002, S. 97, 130, 217.
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wirt bei der Federal Reserve Bank in Boston). Von 1994 bis 2002 war Papadimos Gouverneur der Bank von Griechenland und 2011/2012 Ministerpräsident der Übergangsregierung in Griechenland nach Papandreou. Nun könnte man solche Vernetzungen mit dem bekannten Argument tolerieren, Politiker benötigen für ihre Entscheidungen den Sachverstand, den sie selbst nicht haben, der aber für effektive Regelungen gebraucht werde. Auffällig ist aber und deshalb zu hinterfragen, warum Papadimos 1998 in seiner Eigenschaft als Gouverneur der griechischen Zentralbank den Banker Petros Christodoulou von der Investmentbank Goldman Sachs zum leitenden Mitarbeiter der Zentralbank machte. Auffällig ist, dass die Investmentbank Goldman Sachs zur gleichen Zeit dem griechischen Staat mit bilanztechnischen Tricks – Auslagerung von Staatsschulden – und mit Darlehen half, über die tatsächliche Verschuldung zu täuschen, um die Aufnahme 2001 in die Eurozone zu erreichen und dabei enorme Gewinne machte und noch macht. Auffällig ist, dass Christodoulou während des drohenden Bankrotts Griechenlands 2010 unter Papandreou zum Chef der staatlichen griechischen Schuldenagentur ernannt wurde. Auffällig ist, dass Mario Draghi als Chef der Europäischen Zentralbank und ehemaliger Vizepräsident von Goldman Sachs verkündet, mit Geld der EZB sowohl faule Kredite von Banken wie Staatsanleihen (Schulden) überschuldeter EuroStaaten in unbegrenzter Höhe zu kaufen. In Anbetracht von fast 8 Billionen Euro Schulden dieser Staaten ist das eine gigantische Umverteilung zu Lasten der Steuerzahler. Auffällig ist, dass Klaus Regling, der auch für den Hedge-Fond Moore Capitel Strategy Group gearbeitet hatte, als Generaldirektor der Wirtschafts- und Finanzabteilung der Europäischen Union die Aufnahme Griechenlands in die Eurozone nicht verhindert hat, obwohl vor diesem Schritt massiv und öffentlich gewarnt worden war. Seit 2011 leitete Regling den sogenannten Rettungsschirm EFSF (European Financial Stability Facility) und leitet seit Dezember 2012 den ESM (Europäischer Stabilitäts-Mechanismus). Und wenn die Bundesregierung Otmar Issing, der sicher ein ausgewiesener Wirtschaftswissenschaftler ist – Berufungen an die Universitäten Erlangen-Nürnberg, Würzburg, Konstanz (abgelehnt), Mitglied des Sachverständigenrates, respektable Forschungsaufenthalte im Ausland –, 2008 zu ihrem Berater und zum Vorsitzenden der Expertengruppe zur Reform der internationalen Finanzmärkte macht, besteht die Gefahr, dass zu viel an „Sachverstand“ in die politische Entscheidung fließt. Denn Issing ist auch Berater von Goldman Sachs und Präsident des „Center for Financial Studies“ an der Universität Frankfurt, das von der Finanzbranche gesponsert wird.
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Solche „Auffälligkeiten“ legen den Schluss nahe, dass der bundesrepublikanische Gesetzgeber einen Teil seiner Zuständigkeiten an die Finanzbranche und damit an die Kapitaleigner und Kapitalverwalter abgegeben hat. Es besteht sogar der Verdacht, dass die „Rettung Griechenlands“ in Wahrheit eine Veruntreuung von Steuergeldern im großen Stil ist. Denn es wurden 2010 mit öffentlichen Geldern private Anlagen, in Griechenland insbesondere von französischen, italienischen und deutschen Banken, mit dem fadenscheinigen Argument gesichert, „systemische“ Zusammenbrüche zu verhindern. Fadenscheinig deshalb, weil Griechenland zu der Zeit etwa 280 Milliarden Euro Schulden hatte. Ein Konkurs mit einer Verlustrate von 50 % hätte die Banken 140 Milliarden Euro gekostet. Es dürfte wohl niemanden geben, der ernsthaft behauptet, ein solcher Betrag hätte das Bankensystem der Euroländer kollabieren lassen. Von Savigny würde sagen, eine ungeeignete Zeit für Gesetzgebung. Schließlich spricht für unsere Hypothese die Unkultur des Lobbyismus und der Inanspruchnahme von sogenannten Gutachtern und Beratern. Hierzu bedarf es keiner Aufzählung. Eines der letzten Lobbyismus-Ergebnisse der Pharmabranche ist die Aufhebung der Abnahmepflicht abgelaufener und nicht verbrauchter Medikamente durch Apotheken und Pharmaindustrie. Abgelaufene Medikamente gehören nun zum Hausmüll und müssen natürlich sorgfältig getrennt entsorgt werden: die äußere Verpackung ins Altpapier, die metallische Verschweißung auf den Wertstoffhof und die Medikamente, wohin? Natürlich, ins Grundwasser, wohl über die normale Spülung. Zwei Tiefbrunnen in Bayern, die bisher von Brauereien genutzt wurden, haben schließen müssen, weil das Wasser mit Medikamenten verseucht war! 4. Der Gesetzgeber in der Sackgasse Das neoliberale Wirtschaftssystem herrscht weltweit in praktisch allen Industriestaaten und Schwellenländern. Das Problem ist, dass dieses System von Voraussetzungen ausgeht, die nicht zutreffen, die aber von den einzelnen nationalen Gesetzgebern zur Grundlage ihrer Wirtschaftspolitik gemacht worden sind. Übereinstimmend wird in der Bundesrepublik, auf europäischer Ebene, in den USA, in China und sonst wo in der Welt verkündet, nahezu alle Schwierigkeiten ließen sich mit „mehr Wachstum“ lösen, weil Wachstum Arbeitsplätze schaffe und zu Wohlstand für alle führe. Nun haben Wissenschaftler schon 1972 im Bericht an den Club of Rome darauf hingewiesen, dass die Grenzen des Wachstums erreicht seien.35 Und der federführende Autor, Dennis Meadows, hat heute nach vierzig Jahren Bilanz gezogen und sein Scheitern eingeräumt. Das Klimaziel, keine größere Erwärmung als zwei Grad, würde sich nicht mehr erreichen lassen, weil der Verbrauch fossiler Energien nicht reduziert worden sei und weil nicht eingesehen werde, dass die Ressourcen un35
Meadows/Meadows/Randers/Behrens III, Grenzen des Wachstums, 1973.
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serer Erde ausgeschöpft sind. „Kein Politiker traut sich, die Wahrheit über unser Wirtschaftssystem zu sagen“.36 Der Gesetzgeber befindet sich also in einer Sackgasse. Er hält bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen unreflektiert an den Voraussetzungen fest, die das neo-liberale Wirtschaftssystem annimmt. Ungenau und im Bild ausgedrückt: Wenn ein starker Bursch den Maibaum hochgeklettert ist und sich auf der Spitze abstützt, ist es nicht förderlich, wenn die Zuschauer „weiter, weiter“ brüllen. Unsere politischen Entscheidungsträger verhalten sich aber wie solche Zuschauer. Keine geeignete Zeit für Gesetzgebung.
IV. Konstanz im Recht oder die Frage nach dem „richtigen“ Recht Wenn wir der Aussage, Recht sei Ausdruck der Kultur einer Gesellschaft, Bestand zubilligen, müssen wir fragen, ob Recht sich in vollem Umfang mit den gesellschaftlichen Veränderungen wandelt, sozusagen eine Modeerscheinung wie alle anderen Kulturdaten ist oder ob Recht über einen Kernbestand verfügt, der sich zumindest über lange Zeiten hinweg einem Granit gleich unverändert erhält. Zunächst können wir die Frage nach dem „richtigen“ Recht schnell beantworten: Es gibt „kein“ richtiges Recht oder es gibt „nur“ richtiges Recht. Der Grund liegt darin, dass Recht sich nicht hin zu einer abstrakt zu definierenden „Gerechtigkeit“ entwickelt, einer Entelechie vergleichbar, sondern Regelungsmodelle zur Steuerung von Verhalten und zur Lösung von Konflikten in einer konkreten Gesellschaft bereitstellt. Ziel ist letztlich die Erhaltung des Rechtsfriedens und des Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger in die Güte ihrer Gesellschaft und die Gewährung möglichst großer Freiheitsräume.37 Welche Regelungsmodelle als geeignet oder ungeeignet empfunden werden, kristallisiert sich in einem Wertungsprozess heraus. Daher ist die Frage nach dem „richtigen“ Recht falsch gestellt. Die Ergebnisse von Wertungen, Bewertungen und Einschätzungen können gut oder schlecht begründet sein, mehr oder weniger überzeugen oder Konflikte mit größerer oder geringerer Zustimmung lösen. Aber sie können nicht „richtig“ oder „falsch“ sein, weil sie nie objektiv, sondern immer nur subjektiv sein können. Über diese mehr methodologische Frage hinaus ist bedeutsamer, ob Recht in seiner Entwicklung einen Kernbestand ausbildet, der über Generationen hinweg für eine hinreichende Konstanz der Rechtsbeziehungen sorgt. 36 Meadows in einem Interview mit Crocoll und Liebrich, Prophet des Niedergangs, Süddeutsche Zeitung, Nr. 1 v. 2. 1. 2013. 37 Im Bestreben, diese Ziele zu erreichen, ist es durchaus sinnvoll von einer „Idee der Gerechtigkeit“ zu sprechen und den Schutz der „Freiheit aller Menschen“ einzufordern; Wolter, ZStW 107 (1995), S. 808.
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Blicken wir weit zurück. Frans de Waal hatte Kapuzineraffen beigebracht, einen von ihm erhaltenen Kieselstein gegen eine Belohnung einzutauschen. Wenn zwei Kapuzineraffen die gleiche Belohnung erhielten – hier: eine Scheibe Gurke – waren beide zufrieden. Erhielt aber einer bei gleicher Leistung mehr (Trauben), der andere aber weniger (eine Scheibe Gurke), reagierte der Benachteiligte mit Protest und Unmut. Es kam sogar vor, dass er die sonst gerne angenommene Scheibe Gurke aus dem Testraum warf oder die Annahme verweigerte.38 M.E. liegt in diesem frühen Stadium der Evolution bereits die Basis des Gleichheitsgrundsatzes (Art. 3 GG), ein in unseren heutigen Rechtordnungen fundamentaler Kernbestand, wenn er auch von Rechtsordnung zu Rechtsordnung unterschiedlich interpretiert werden kann und auch wird. In der Scharia ist nach unseren Rechtsvorstellungen der Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter noch nicht verwirklicht, wohl aber nach denen eines Muslims. Und erstaunt waren die Europäer zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Bronislaw Malinowski die Erkenntnis mitbrachte, dass auch indigene Völker nicht in einem „rechtlosen Naturzustand“ lebten, sondern eigene Rechtssysteme entwickelt haben. Wir dürfen also davon ausgehen, dass im Recht nicht nur aktuelle Interessenlagen zum Ausdruck kommen, sondern dass im Recht auch die Regelungsmodelle enthalten sind, die eine konkrete Gesellschaft während ihrer Geschichte durch Erfahrung gewonnen und als nützlich bewahrt hat. Für unser Rechtssystem ist z. B. die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols im Mittelalter, das die private Konfliktregelung, einschließlich Fehde abgeschafft hat, eine solche geschichtliche Erfahrung, die Bestand hat. Niemand will das staatliche Gewaltmonopol abschaffen und z. B. die Tochter durch die Söhne töten lassen, weil sie den Ehrenkodex der Familie verletzt hat.39 Aber es ist auch nicht unangreifbar. Die privaten Sicherheitsdienste höhlen es aus, denn sie wachsen und werden in absehbarer Zeit einen so hohen Personalbestand haben wie die staatlichen Polizeien. Und die Bedeutung der Aufklärung für unser Rechtssystem kann man am Grundrechtskatalog unserer Verfassung ablesen. Zwar musste die Entwicklung erst über den Untertanengeist der Beamten im Kaiserreich hinweggehen. Aber heute sind die Freiheitsrechte (Art. 2, 4, 5, 8, 9, 11, 12 GG) für jeden Bürger und jede Bürgerin nicht mehr „wegdenkbar“. In gleicher Weise internalisiert sind die Grundrechte, die die wirtschaftliche und rechtliche Existenz des einzelnen sichern (Art. 14, 13 GG). Unter diesem Aspekt dürfen wir für unseren Kulturkreis eine zumindest relative Konstanz im Recht annehmen, ein Recht, das Wert ist, verteidigt und weiter entwickelt zu werden. Aus dem „Gedächtnis für Recht“ einer Gesellschaft darf allerdings nicht geschlossen werden, dass Regelungsmodelle, wenn sie einmal zum Kernbestand des Rechts gehören, ihre Bestandskraft problemlos beibehalten. Die Rechtsadressaten 38 39
De Waal, Der Affe in uns. Warum wir sind wie wir sind, 2005, S. 284 f. Ramelsberger, Mord auf Ansage, Süddeutsche Zeitung, Nr. 23 v. 28. 1. 2013.
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können zu jeder Zeit jeder Norm die Unterstützung entziehen. Der Schutz der Privatund Intimsphäre z. B. ist ein verfassungsrechtlich geschützter Kernbestand unseres Rechts. Aber er wird von einer internetversessenen Generation nahezu aufgegeben, wenn Millionen Teilnehmer von Facebook ihre persönlichen Daten publizieren und ins Netz stellen.40 Mit dem Hinweis darauf, dass sie es freiwillig tun und das Recht als solches nicht berührt wird, darf man sich nicht beruhigen. Denn die öffentliche oder sogar exhibitionistische Selbstdarstellung scheint Ausdruck eines neuen Menschenbildes zu sein. Und das nicht praktizierte Recht geht unter, schon dann, wenn Regelverletzungen nicht sanktioniert werden. Darüber hinaus stehen hinter Facebook smarte Betreiber, die alle persönlichen Daten merkantil verwerten und einen Markt schaffen, der vor der Privatsphäre nicht Halt macht. Jede Werbung und jeder Bettelbrief wird heute mit persönlicher Anschrift und unter Berücksichtigung der persönlichen Daten des Empfängers, wie Alter, Krankheiten u. a., geschrieben. Der Einzelne ist erfasst,41 möglicherweise auch in Facebook, auch wenn er selbst nie diese Plattform genutzt hat, weil irgendein anderer ihn hineingestellt hat.42
V. Die Bedeutung der professionellen Gesetzgebungslehre Von Savigny würde wohl bei der Aufzählung solcher Mängel meinen, dass unsere Zeit nicht geeignet für Gesetzgebung sei. Und wir müssten ihm antworten: aber notwendig! Damit sind wir mit zwei weiteren Problemen konfrontiert: Einmal geht es um die persönliche Qualifikation der politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger, genauer um ihre soziale Reife oder moralische Urteilsfähigkeit i. S. Kohlbergs und zum anderen um die professionelle Befähigung, Gesetze zu machen. Lawrence Kohlberg hat drei Stufen mit jeweils zwei Unterstufen moralischer Entwicklung herausgefunden und empirisch belegt. Das entwicklungsmäßig früheste oder niedrigste Niveau nennt er präkonventionell (Niveau I), das mittlere, das die meisten Jugendlichen und Erwachsenen erreichen, konventionell (Niveau II) und das am meisten entwickelte postkonventionell oder Prinzipien geleitet (Niveau
40
Bernhard, Der nackte Wahnsinn, Süddeutsche Zeitung Magazin, Nr. 29 v. 17. 7. 2009. So auch Wolter, ZStW 107 (1995), S. 800. 42 Eine Reihe von Ländern der europäischen Union wollen die persönlichen Daten aller Fluggäste fünf Jahre lang speichern, um sie polizeilich nach „Auffälligkeiten“ zu überprüfen. Dazu gehören nicht nur Namen und Adressen, sondern auch Reiseziele, Kreditkarten, Essensund Sitzplatzvorlieben, Telefonnummern, Mietwagenbestellungen und Käufe in Terminals. Cáceres, EU will Daten von Fluggästen auswerten, Süddeutsche Zeitung, Nr. 285 v. 10. 12. 2012. 41
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III).43 Bezogen auf das soziale Verhalten entspricht dem Niveau I die konkret-individuelle Perspektive, dem Niveau II die Perspektive eines Mitglieds der Gesellschaft und dem Niveau III die der Gesellschaft vorgeordnete Perspektive.44 Nach diesen Kriterien handeln Menschen auf dem Niveau I egozentrisch, setzen ihre individuellen Bedürfnisse durch und vermeiden Regelverletzungen nur aus Angst vor Strafe oder um einen Austausch mit gleichartigen Interessen aufrechtzuerhalten. Das höchste Niveau erreichen diejenigen, die sich als Mitglieder einer Gemeinschaft oder Gesellschaft fühlen und ihre Entscheidungen so ausrichten, dass das Wohl der Gemeinschaft mit berücksichtigt wird, also in Verantwortung für alle. Sie haben erkannt, dass ihre Selbstverwirklichung nur als Teil eines übergeordneten Ganzen möglich und sinnvoll ist. Mit empirisch gesicherten Daten können wir die moralische Entwicklung der Regierungsmitglieder, der Abgeordneten und der Entscheidungsträger der Finanzbranche nicht belegen. Sie lassen sich nicht testen. Uns bleibt daher nur, auf äußere Daten des Verhaltens zurückzugreifen und Hypothesen mit gewagter Plausibilität zu formulieren. Danach vermuten wir, dass die sogenannten Großen der Finanzbranche, also die Banker, Hedgefondsverwalter und sonstigen Investoren, von Ausnahmen abgesehen, im Wesentlichen die Kriterien des präkonventionellen Niveaus erfüllen. Sie verhalten sich überwiegend egozentrisch. Die Ziele, die sie verfolgen, bestehen in der rücksichtslosen Durchsetzung eigener Interessen, also im Gewinne-Machen, auch auf Kosten anderer und zu Lasten der Gesellschaft. Allenfalls Angst vor Strafe oder vor einschneidenden Regulierungen kann ihre Rücksichtslosigkeit bremsen. Dabei kann ihre Persönlichkeit sozusagen im privaten Bereich eine gewisse Differenzierung aufweisen, doch wird sie von der „Berufsrolle“ dominiert. Diese durchaus als retardiert zu bezeichnende Grundhaltung schreckt auch vor unlauterem und betrügerischem Verhalten nicht zurück, wie der Wertpapier-Handel und die Spekulationen vor und während der Finanzmarktkrise 2007/2009 sichtbar gemacht haben. Wer Ernten mit eigenem und mit geliehenem Geld aufkauft, um den Verkaufspreis in die Höhe zu treiben, obwohl er weiß, dass jährlich vier Millionen Menschen, insbesondere Kinder, verhungern, dessen Moral oder soziale Reife tendiert gegen Null. Die Mitgestaltung der Gesetze erfolgt konsequenterweise auf diesem Niveau. Über die moralische Entwicklung der Regierungsmitglieder und Abgeordneten lassen sich auch gewagte Vermutungen nicht mehr hinreichend begründen. Ihnen gemeinsam ist zwar das egoistische Rangplatzstreben und die Vernachlässigung der Gemeinwohlinteressen. Darüber hinaus aber streut der Grad der Persönlichkeitsdifferenzierung von ganz niedrig bis ganz hoch.
43 44
Kohlberg, Die Psychologie der Moralentwicklung, 1996, S. 128 ff. Kohlberg (Fn. 43), S. 133.
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Für diese Gruppe ist aber der zweite Aspekt wesentlich, nämlich ob sie über Kenntnisse der wissenschaftlichen Gesetzgebungslehre verfügt und sie auch anwenden will, d. h. ob sie professionell Gesetze macht. Die wissenschaftliche Gesetzgebungslehre hat „Regeln rationaler Gesetzgebung“ erarbeitet. Sie geht zutreffend davon aus, dass es einen „objektiven Gesetzgeber“ nicht gibt, sondern dass jeder Gesetzgeber aus einem Konglomerat von Interessengegensätzen mit ganz unterschiedlichen Zielsetzungen besteht. Es „bestehen keinerlei Garantien für die Unabhängigkeit und Unbefangenheit der gesetzgeberischen Instanzen.“45 Ziel ist, durch einzelne Verfahrensschritte den nicht objektiven, informellen Gesetzgeber, der darüber hinaus den Einflüsterungen der akkreditierten und nicht akkreditierten Lobbyisten ausgesetzt ist und auf „verdeckte Berater von außen“ hört, zu zwingen, Gesetze zu machen, die zukunftsorientiert und gemeinschaftsbezogen sind, also einen hohen Grad an Gerechtigkeit aufweisen. Noll versteht „rationale Gesetzgebung als Versuch einer Herrschaft über Fakten und Mächte.“46 Jedes Gesetzgebungsverfahren sollte im Prinzip nach dem Forschungsparadigma der Sozialwissenschaften durchgeführt werden: Hypothesenbildung und methodisch zuverlässige, öffentlich kontrollierbare Überprüfung der Hypothese an der Wirklichkeit. Der Gesetzgeber vermutet (Hypothese), dass er mit dem Erlass einer bestimmten Regelung einen Missstand beseitigen oder einen erwünschten Zustand herbeiführen kann. So wollte die Regierung Gerhard Schröder durch die Regeln der Agenda 2010 die Anzahl der Arbeitslosen senken. Heute müsste geprüft werden, ob die Anzahl der Arbeitslosen (Wirklichkeit) geringer geworden ist und ob diese Verringerung auf die Regeln der Agenda 2010 zurückzuführen ist oder ob die vorhandene Arbeit nur auf die Schultern von mehr Arbeitnehmern verteilt ist und die Arbeitslosenstatistik nur deshalb so günstig aussieht, weil die Anzahl der Billiglöhner, die von ihrem Lohn nicht leben können, in die Millionen gestiegen ist. Die Verfahrensschritte können hier im Einzelnen nicht beschrieben werden.47 Wichtig ist der Hinweis, dass ihre Einhaltung die Undurchschaubarkeit der Beeinflussungsströme reduziert und die für die Gemeinschaft schädlichen Einflüsse eher aufdeckt. Am Beispiel: Hätte die Europäische Kommission für das Gesetz der Aufnahme Griechenlands 2001 in die Euro-Zone eine sorgfältige Faktenanalyse gemacht und die Zielvorstellung, was mit der Aufnahme Griechenlands erreicht werden sollte, detailliert definiert, wären die Vertuschungen und bilanztechnischen Tricks mit größerer Wahrscheinlichkeit öffentlich geworden und die Aufnahme verschoben worden.
45
Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 56. Noll (Fn. 45), S. 63. 47 1. Schritt: Problemimpuls und Problemdefinition; 2. Schritt: Erste Faktenanalyse; 3. Schritt: Entwurf von Zielvorstellungen; 4. Schritt: Auswahl der möglichen Mittel und Formulierung des ersten konkreten Gesetzentwurfs, zugleich zweite Faktenanalyse; 5. Schritt: Kritik der Entwürfe, Folgenabschätzung; 6. Schritt: Nachkontrolle. 46
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Und wären diese Verfahrensschritte bei der sogenannten Rettung Griechenlands im Jahr 2010 eingehalten worden, wären wohl nicht die privaten Anleger, insbesondere die französischen, italienischen und deutschen Banken, mit Steuergeldern gesichert, sondern ein geordneter Konkurs durchgeführt worden. Wir müssen leider cum grano salis feststellen, dass unsere politischen Entscheidungsträger in den Regierungen und in den Parlamenten die Methoden der wissenschaftlichen Gesetzgebungslehre nicht nutzen, aus welchen Gründen auch immer. Und man muss zugeben, dass sich in einem nicht kontrollierten Gesetzgebungsverfahren verdeckte Ziele von Partikularinteressen leichter durchsetzen lassen. Der Entwurf des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zur Ergänzung des Atomgesetzes, der den Export von Atommüll ins Ausland erstmals ermöglicht, zeigt es deutlich. Während die Richtlinie der EU-Mitgliedstaaten, die umgesetzt werden soll, eine Priorität der Endlagerung im Inland festschreibt – „Radioaktive Abfälle werden in dem Mitgliedsstaat gelagert, in dem sie entstanden sind“ – und dann erst die Exportmöglichkeiten regelt, fehlt dieser Satz im Entwurf des Umweltministeriums.48 Damit stehen Export und Endlagerung im Inland auf gleicher Stufe. Die Atomkraftwerksbetreiber dürften darüber nicht traurig sein.
VI. Ausblick Fasst man die Einschränkungen des nationalen Gesetzgebers zusammen – die faktische Macht der Medienwirklichkeit; die Übertragung von nationaler Gesetzgebungskompetenz auf die übernationale EU; die Herrschaft der politischen Parteien; die normative Kraft des Internet und der Netzgemeinden; die Abtretung faktischer Macht an Kapitaleigner und Kapitalverwalter; sein Verzicht auf die wissenschaftliche Gesetzgebungslehre – müssen wir die Folgerung ziehen, dass die Zeit nicht geeignet für gute Gesetzgebung ist. Anders als von Savigny können wir nicht zuwarten, bis sich günstigere politische Verhältnisse eingestellt haben werden. Wir sind vielmehr gefordert, gegen die Neigung unserer politischen Entscheidungsträger, alle Probleme opportunistisch und fast ausschließlich unter ökonomischen Aspekten lösen zu wollen, anzugehen. Jürgen Wolter hat sich immer und vorbildlich für die Wahrung des „richtig begründeten“ Rechts eingesetzt. Er gehört zu den Garanten für das Recht, das ein Kulturkreis in vielen Jahrhunderten – auch unter leidvollen Erfahrungen – entwickelt hat. Und er verteidigt Grundrechte gegen jeden, gegen einen Gesetzgeber, der Partikularinteressen bevorzugt und gegen Modeströmungen, wenn sie Grundrechte leichtfertig missachten.
48 Bauchmüller, Bund ermöglicht Atommüll-Exporte, Süddeutsche Zeitung, Nr. 3 v. 4. 1. 2013.
Die normative Kraft des Faktischen Plädoyer für eine konsequentere empirische Fundierung der Strafzumessung Von Torsten Verrel
I. Einleitung Die Bestimmung des richtigen Strafmaßes „ist der wichtigste und zugleich schwierigste Teil der strafrechtlichen Rechtsfolgeentscheidung“.1 Zwar haben sich eine immer stärker auf die frühere Domäne des Tatrichters zugreifende Revisionsrechtsprechung2 und die Strafrechtswissenschaft Mühe gegeben, den Strafzumessungsvorgang angesichts defizitärer gesetzlicher Vorgaben normativ zu durchdringen und dogmatisch zu strukturieren. Dies beginnt mit der Harmonisierung der Strafzwecke durch die Spielraumtheorie oder andere Vereinigungsmodelle und setzt sich mit bis zu elf Phasen3 beschreibenden Schemata der Strafzumessung fort. Damit ist zweifellos ein Gewinn an Rationalität, Transparenz und Überprüfbarkeit der Rechtsfolgeentscheidung verbunden. Indes lässt die sich ohnehin auf einem hohen Abstraktionsniveau bewegende Strafzumessungsdogmatik den Rechtsanwender an der entscheidenden Stelle des Strafzumessungsakts weitgehend im Stich,4 nämlich bei der als „Umwertung“ bezeichneten Transformation des in den vorangegangenen Phasen herausdestillierten und mit einer (differenzierten) Gesamtbewertung versehenen Strafzumessungssachverhalts in ein konkretes Strafmaß innerhalb des ermittelten Strafrahmens.5 Der folgende Beitrag ist dieser besonderen Schnittstelle von Recht und Rechtswirklichkeit gewidmet. Er geht von einer weitgehenden Empirieakzessorietät des Begriffs der schuldangemessenen Strafe aus und zieht daraus Schlussfolgerungen für die höchstrichterliche Strafmaßkontrolle. 1
Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. 2009, 141. Dies zeigt der hohe Anteil, den Strafzumessungsfehler an allen Aufhebungen haben, s. Nack, NStZ 1997, 153, 156; Rieß, NStZ 1982, 48 ff.; zu den Anfängen der Strafmaßkontrolle in der Rechtsprechung des Reichsgerichts s. Maurer, Komparative Strafzumessung, 2005, S. 121 ff. 3 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. 2012, Rn. 653; acht Phasen bei Maurer (Fn. 2), S. 195; sieben Phasen bei Meier (Fn. 1), 142. 4 Frisch, ZStW 99 (1987), 751, 789. 5 Vgl. Bruns, JZ 1988, 1053; Maurer (Fn. 2), S. 120. 2
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II. Gesetzlicher Anhaltspunkt des Strafrahmens Die Hilfestellung des Gesetzgebers bei der Strafmaßfindung beschränkt sich bekanntlich auf eine Schuldvorwertung durch die Bereitstellung abgestufter Strafrahmen mit den Eckpunkten der Mindest- und Höchststrafe. Angesichts der Weite dieser Strafrahmen sowie der breiten Überschneidungen von Normal- und Sonderstrafrahmen hält sich deren Orientierungswert allerdings in engen Grenzen. Griffiger werden die Strafrahmen erst durch Überlegungen zur Bestimmung der richtigen Einstiegsstelle, die Streng6 zutreffend als „die elementarste Strafzumessungsfrage (…) überhaupt“ bezeichnet hat. Dazu hat die Rechtsprechung in BGHSt 27, 27 im Anschluss an Dreher8 grundlegend Stellung bezogen durch ihr Verständnis der Strafrahmenunter- und -obergrenzen als Eckpunkte der denkbar leichtesten bzw. schwersten Erscheinungsform des jeweiligen Delikts und demzufolge der rechnerischen Strafrahmenmitte als das allein für den gedanklichen Durchschnittsfall angemessene Strafmaß. Davon sei der statistische Regelfall, also der nicht fiktive, sondern in der forensischen Realität am häufigsten vorkommende Fall zu unterscheiden. Dieser müsse, da die von den Gerichten abgeurteilten Fälle erfahrungsgemäß einen relativ geringen Unrechts- und Schuldgehalt aufwiesen, in die untere Strafrahmenhälfte eingeordnet werden. Die auch von der Literatur aufgegriffene Gegenüberstellung einer normativen und empirischen Sicht der Strafrahmen9 erfährt bemerkenswerte Relativierungen. So wird die bei normativer Ausdeutung der Strafrahmengrenzen eigentlich unausweichliche Konsequenz der praktischen Unanwendbarkeit von Mindest- und Höchststrafe10 – es wird immer ein noch leichterer bzw. schwererer Fall als der vorliegende denkbar sein – dadurch vermieden, dass es für die Verhängung dieser Strafen genügen soll, wenn der konkrete Fall in die Nähe der fiktiven Extrempunkte kommt.11 Es sind m.a.W. doch die bisher tatsächlich vorgekommenen Fälle besonders leichter und schwerer Taten, die Anfang und Ende des Strafrahmens markieren. Vom statistischen, in der unteren Strafrahmenhälfte einzuordnenden Regelfall wiederum will die neuere Rechtsprechung12 beim Totschlag nichts mehr wissen. Dort liege das 6
Streng, NStZ 1989, 393. Zuvor ähnlich OLG Stuttgart, MDR 1961, 343; nachfolgend u. a. BGH, NStZ 1983, 217; StV 1983, 102 f.; 1984, 114; 1994, 182; BGHR § 46 Abs. 1 Durchschnittsfall 1. 8 Dreher, Über die gerechte Strafe, 1947, S. 61 ff. 9 Davon zu unterscheiden ist die im Zusammenhang mit der Auslegung des Doppelverwertungsverbots in § 46 Abs. 3 StGB und der Schuldschwereklausel in § 57a Abs. 1 Nr. 2 StGB diskutierte, vom BGH verworfene Figur des normativen Normalfalls, s. BGHSt 34, 345, 350 f.; 40, 360, 370. 10 Frisch, ZStW 99 (1987), 751, 791. 11 BGH, NStZ 1984, 117 und 410; StV 1993, 521; 200, 553; NJW 1993, 3210; vgl. auch BGH, NStZ 1992, 297 u. Theune, StV 1985, 205, 209. 12 BGH, StV 1999, 576 f.; Beschl. v. 23. 4. 2003 – 3 StR 106/02 und v. 3. 12. 2000 – 3 StR 406/02; zustimmend Theune, in: Leipziger Kommentar, Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), 12. Aufl. 2006, § 46 Rn. 316; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der 7
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durchschnittliche Strafmaß in der oberen Strafrahmenhälfte und zeige die beim Totschlag im Vergleich zu Delikten der Alltagskriminalität viel höhere Maximalstrafe nach unten eine große Bandbreite von Strafen für seltenere leichte Fälle. Schon vor einiger Zeit hat BGHSt 34, 355, 360 f. die Grundsatzentscheidung im 27. Band dahingehend „fortgebildet“, dass sie nur für die Strafzumessung aus dem Normalstrafrahmen gelte und nicht auf Strafrahmenverschiebungen, insbesondere fakultative Strafmilderungen, übertragbar sei, da diese nicht den denkbar leichtesten und schwersten Fall eines bestimmten Delikts, sondern nur einen bestimmten Ausschnitt des denkbaren Deliktsspektrums erfassten. Noch weiterreichend wird teilweise gefordert, sich von jeder Mathematisierung der Strafzumessung zu lösen und ohne Bindung an weitere Fixpunkte als die Ober- und Untergrenze des Strafrahmens aus dem Gesamtspektrum aller strafzumessungsrelevanten Umstände zu schöpfen.13
III. Kritik an der Leitfunktion des statistischen Regelfalls Gegen eine Orientierung am statistischen Regelfall wurden und werden Einwände erhoben, die sich vor allem auf die fehlende rechtliche Legitimation und die (bislang) mangelnde Praktikabilität beziehen, aber auch Ausdruck der Sorge vor einer unangemessenen Reglementierung des richterlichen Rechtsfolgeermessens sind. 1. Messlatte, aber keine Waage14 Es ist für einen Juristen, der es gewohnt ist, seine Ergebnisse deduktiv zu gewinnen, keine leichte Kost, wenn er den Inhalt ausgerechnet eines normativ derart aufgeladenen Begriffs wie desjenigen der schuldangemessenen Strafe durch den – vorerst als möglich unterstellten – Blick auf die bisherige Strafpraxis bestimmen soll. Was sollte der innere Grund dafür sein, den empirischen status quo zum auch rechtlich maßgeblichen „Einstiegswert der Strafzumessung im Einzelfall hoch zu stilisieren, aus einem so entstandenen Faktum einen Sollwert zu machen?“15 Die bloß formale Gleichheit der Strafzumessung könne es nicht sein, zumal die Zementierung einer u. U. vorurteilsbeladenen Spruchpraxis drohe16 und jedenfalls bei neuen Straftatbeständen oder forensisch gänzlich unbedeutenden Delikten auf keine Erfahrungswerte zurückgegriffen werden könne. Strafzumessung, 5. Aufl. 2012, Rn. 1168; a.A. BGHR StGB § 212 Nr. 7; BGH NStZ 1984, 20; BGH StV 1983, 102; 1984, 114. 13 BGH Beschl. v. 23. 4. 2002 – 3 StR 106/02 und v. 3. 12. 2002 – 3 StR 406/02; zustimmend Theune (Fn. 12), § 46 Rn. 316. 14 Dreher, FS Bruns, 1978, S. 141, 154. 15 Frisch, ZStW 99 (1987), 751, 791 f. 16 Schall/Schirrmacher, Jura 1992, 624, 628.
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Abgesehen davon, dass der letztgenannte Einwand nur eine Sonderkonstellation betrifft, die nichts an dem in der weit überwiegenden Zahl der Fälle zur Verfügung stehenden Orientierungswert der Strafzumessungsusancen ändern würde, bestünde auch hier die Möglichkeit, einen Referenzmaßstab durch die Heranziehung der üblichen Strafen für solche Delikte zu finden, die dem neuen/seltenen Straftatbestand im Hinblick etwa auf den Strafrahmen17, das Rechtsgut, die Angriffsformen oder die gesetzgeberische Intention ähnlich sind. Dass die bisher verhängten Strafen den entscheidenden Bezugspunkt für die Ermittlung der schuldangemessenen Strafe bilden, ist allerdings rechtstheoretisch in der Tat alles andere als zwingend. Die Dignität dieses Maßstabs ergibt sich letztlich daraus, dass – will man nicht einer konsequenten Verrechtlichung der Strafhöhenbestimmung durch ein kleinteiliges System von sentencing guidelines18 das Wort reden oder einen Rückfall in richterlichen Strafzumessungswildwuchs riskieren – schlechterdings keine praktikable Alternative ersichtlich ist. Daneben sollte man den Wert,19 den die Herstellung und vor allem Kontrolle der Gleichmäßigkeit des Strafens für die relative Gerechtigkeit und damit auch für die Akzeptanz einer Strafzumessungspraxis hat,20 nicht klein reden.21 Die Umsetzung eines Strafzumessungssachverhalts in ein konkretes Strafquantum kann, wenn sie nicht willkürlich, zumindest aber revisibel sein soll,22 schlechterdings nicht ohne Bezugnahme auf die richterliche Strafzumessungspraxis auskommen. Es gibt keine Theorie, keinen Begriff und jedenfalls in Deutschland auch kein Gesetz, aus der/dem sich im Wege schlichter Subsumtion ergeben würde, welches Strafmaß oder auch nur welche Bandbreite von Strafen23 innerhalb des vorgegebenen (zumeist: sehr weiten) Strafrahmens für eine bestimmte Tat angemessen ist, wenn man einmal die soeben angesprochenen Extremfälle an den Strafrahmenrändern außer Acht lässt. Für die Strafhöhenbestimmung, „fehlen juristisch greifbare Anhaltspunkte.“24 Ohne den Referenzmaßstab der von den Gerichten bislang abgeurteilten Taten und dafür üblicherweise ausgeworfenen Strafen kann keine Aussage darüber getroffen werden, ob eine bestimmte Tat z. B. 60, 120 oder 240 Ta17 So verfuhr das BayObLG, JR 2002, 166 bei dem seltenen Delikt des § 235 StGB: Vergleich mit aus dem gleichen Strafrahmen verhängten Strafen für wesentlich häufigere Körperverletzungsdelikte nach § 223 StGB. 18 Krit. dazu jüngst Schier, Die Bestimmtheit strafrechtlicher Rechtsfolgen, 2012, S. 257 ff. 19 Vgl. Meier (Fn. 1), 213. 20 So schon OLG Bremen, HEST 3, 62; vgl. auch BGHSt 21, 318, 324. 21 Meier in: Dessecker/Egg (Hrsg.), Justizvollzug und Strafrechtsreform im Bundesstaat, 2011, S. 44, der jedoch Zweifel an der Möglichkeit, aber auch der Notwendigkeit hegt, regionale Disparitäten zu beseitigen. 22 Bruns, JZ 1988, 1053, 1057. 23 Die Spielraumtheorie mildert das Problem der richtigen Strafe zwar ab, löst es aber nicht. 24 Bruns, JZ 1988, 1053 f.
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gessätze bzw. zwei oder vier oder acht Monate Freiheitsstrafe „wert“ ist.25 Es verhält sich mit der Strafzumessung insoweit grundlegend anders als mit einer durch normative Erwägungen oder dogmatische Überlegungen zu beantwortenden Frage.26 Zwar spielt auch bei solchen Entscheidungen der Blick auf die Praxis insoweit eine Rolle, als es die Auswirkungen in sich stimmiger Positionen auf die Rechtspraxis zu bedenken gilt.27 Bei der Strafzumessung geht es jedoch umgekehrt darum, aus der bisherigen Rechtsanwendung überhaupt erst die Maßstäbe für die Ausfüllung eines Rechtsbegriffs zu gewinnen. Dieser Unterschied lässt sich am besten anhand der Situation eines Berufsanfängers verdeutlichen, der seinen ersten Fall als Strafrichter zu entscheiden hat. Sollte dabei ein Rechtsproblem auftauchen, helfen dem jungen Richter sein juristisches Handwerkszeug und der Blick in den Kommentar, um zu einer Entscheidung zu kommen. Bei der Findung des Strafmaßes wird er jedoch an seinem Schreibtisch und mit seinen Büchern allein keine Lösung finden, sondern sich vertrauensvoll an einen Kollegen wenden müssen, um Auskunft über die (persönliche, lokale) Strafzumessungspraxis zu erhalten. Es kommt daher auch nicht von ungefähr, dass die revisionsrechtliche Kontrolle des Strafmaßes als solches28 einen rechtstatsächlichen Bezugspunkt hat. Denn nach den üblichen Begründungsritualen, dass die Strafhöhenbestimmung als ureigenste, maßgeblich vom Eindruck in der Hauptverhandlung geprägte Aufgabe des Tatrichters nur dann revisibel sei, wenn sich die verhängte Strafe von ihrer Bestimmung löse, gerechter Schuldausgleich zu sein, also unvertretbar hoch oder niedrig ausfalle – das berühmte „Vergreifen in der Oktave“29 –, legt der BGH oder besser gesagt der jeweilige Senat die empirische Elle des „in vergleichbaren Fällen üblichen Strafmaßes“30 an. Allerdings belegt der BGH diesen Maßstab nur ausnahmsweise31 näher und vermeidet eine Bestimmung des „richtigen“ Strafmaßes, indem er die Rechtsfolgeent-
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Sarstedt, Die Revision in Strafsachen, 4. Aufl. 1962, S. 264 geht davon aus, dass sechs Monate Freiheitsstrafe ebenso mit „untadeligen Strafzumessungsgründen“ versehen werden könnten wie eineinhalb Jahre. 26 Soweit Theune (Fn. 12), § 46 Rn. 62 den Vorrang der normativen Wertung betont bzw. eine Definition der normativen Eigenarten statistischer Strafmaßgrößen verlangt (Rn. 316), bleibt unklar, welche konkreten Anhaltspunkte sich daraus für den Umwertungsakt ergeben können. 27 Vgl. Schall/Schirrmacher, Jura 1992, 624, 628; Beispiele für komparatives Vorgehen bei der Subsumtion von Merkmalen außerhalb des Sanktionenrechts gibt Mauer (Fn. 2), S. 96 f. 28 Außer Betracht können die Fälle bleiben, in denen die Strafzumessungserwägungen bereits für sich zu beanstanden sind. 29 Schmidt-Leichner, 41. DJT 1955, Bd. II, S. D 72. 30 BGHR StGB § 46 Abs. 1 Strafhöhe 7, 9, 10 und 12; dieser vergleichende Ansatz findet sich bereits in RG HRR 1941 Nr. 527; zur Entwicklung dieser Terminologie in der Rechtsprechung des BGH s. Maurer (Fn. 2), S. 130 ff. 31 BGH BtMG § 29 Strafzumessung 13; vgl. auch Schier (Fn. 18), S. 25 ff., aber auch S. 53: „Vertretbarkeitskontrolle ohne weitere Argumente.“.
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scheidung (nur) wegen eines Begründungsmangels aufhebt: Die Abweichung vom üblichen Strafmaß sei nicht hinreichend dargelegt worden.32 2. Diktat des Faktischen Wie sieht es aber mit der Rechtfertigung des derzeitigen Strafniveaus und den Möglichkeiten der Veränderung einer sich doch offenbar perpetuierenden Strafzumessungspraxis aus? Die in BGHSt 27, 2 vorgenommene Einordnung des statistischen Regelfalls in die untere Strafrahmenhälfte kann zunächst dahingehend präzisiert werden, dass sich die ganz überwiegende Zahl der Strafen für häufig vorkommende Delikte am unteren Rand des Strafrahmens bewegt. So lagen 2011 99,9 % aller wegen einfachen Diebstahls ausgeworfenen Geldstrafen (n = 76841) in der unteren Strafrahmenhälfte des für Einzeltaten von 5 bis 360 Tagessätzen reichenden Strafrahmens, 95,7 % im unteren Viertel und allein fast 58 % im unteren Sechzehntel(!). Von den wegen dieses Delikts ausgeworfenen Freiheitsstrafen (n = 16705) entfallen 99,7 % auf die untere Hälfte des durch eine Mindeststrafe von einem Monat und Höchststrafe von 5 Jahren gebildeten Strafrahmens, und bleiben 79 % aller Freiheitsstrafen im unteren Zehntel.33 Die von manchen Strafsenaten schlicht behauptete Verschiebung der Regelstrafe bei Totschlagsdelikten in die obere Strafrahmenhälfte darf angezweifelt werden. Die vorliegenden Daten deuten vielmehr darauf hin, dass sich auch dort, wenngleich mit deutlicher Tendenz zur Strafrahmenmitte, das Gros der Strafen in der unteren Strafrahmenhälfte befindet. Aus der Strafverfolgungsstatistik für das Jahr 201134 ergibt sich ferner, dass lediglich 10 % der für § 212 und § 213 StGB (leider) zusammengefassten Freiheitsstrafen (n = 289) mehr als 10 Jahre betragen, also über der rechnerischen Mitte des Normalstrafrahmens des § 212 StGB liegen. Zwar ist dieses Datum wegen der Einbeziehung der minder schweren Fälle, vor allem aber wegen der Nichtberücksichtigung möglicher und vermutlich zahlreicher Strafrahmenabsenkungen nach § 49 Abs. 1 StGB nur bedingt aussagekräftig. Eine von Theune35 durchgeführte Auswertung differenzierterer Daten der OLG-Bezirke Frankfurt a.M., Köln und Koblenz aus den Jahren 1980 – 84 hat jedoch ergeben, dass der Durchschnittswert von ca. 3 Jahren für versuchten Totschlag „in jedem Fall unter der Mitte des gesetzlichen Strafrahmens 32
So schon BGH, MDR 1954, 495 f., s. auch OLG Stuttgart, MDR 1961, 343. Da bei Aufhebung nur des Strafausspruchs vom neuen Tatrichter kaum neue, das beanstandete Strafmaß nunmehr rechtfertigende Feststellungen zu erwarten sind, liegt der Aufhebung nur wegen eines Begründungsmangels de facto die Feststellung eines Wertungsfehlers zugrunde, s. Theune (Fn. 11), § 46 Rn. 208. 33 Eigene Berechnungen nach der Strafverfolgungsstatistik, Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 2013, Fachserie 10, Reihe 3, Tab. 3.1 und 3.3 (abrufbar unter www.destatis.de). 34 Statistisches Bundesamt (Fn. 33), Tab. 3.1. 35 Theune, StV 1985, 210.
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(liegt), gleichgültig wie man diesen berechnet.“ Die isolierte Betrachtung der aus dem Normalstrafrahmen verhängten Strafen für vollendeten Totschlag führte zu dem Ergebnis, dass sich 55 % aller Strafen unterhalb der Strafrahmenmitte von 10 Jahren befanden. Die vom Verf.36 vorgenommene Auswertung von insgesamt 214 Aburteilungen wegen eines Tötungsdelikts durch Schwurgerichte in Hamburg und Niedersachen aus den Jahren 1983/84 zeigte für die 97 darin enthaltenen Verurteilungen wegen Totschlags ebenfalls die Bedeutung der Strafrahmenmitte auf. So lag die durchschnittliche Strafhöhe bei Verurteilungen aus dem Normalstrafrahmen (n = 14) bei 9,5 Jahren, aus dem wegen Versuchs (n = 35) einfach gemilderten Strafrahmen mit der rechnerischen Mitte von ca. 6,5 Jahren bei etwa 5,5 Jahren, bei Milderungen wegen § 21 StGB (16) betrug sie allerdings fast 7 Jahre, während sich die durchschnittliche Strafhöhe von 3 Jahren und 8 Monaten bei Doppelmilderungen (n = 32) wiederum knapp unter der Strafrahmenmitte befand. Der jedenfalls für die Normalkriminalität festzustellenden drastischen Reduzierung der Strafrahmen haftet zweifellos ein gewisser Dezisionismus der Rechtsprechung an. Denn auch unter Berücksichtigung des Arguments, dass die „große Mehrzahl der Fälle (…) schon wegen der weiten Fassung der gesetzlichen Tatbestände nur einen verhältnismäßig geringen Schweregrad (erreicht)“,37 wäre eine andere Verortung der Normalkriminalität in der unteren Strafrahmenhälfte, sprich ein höheres Strafniveau, durchaus möglich,38 zumal man die Vorselektion bedenken muss, die durch die bei Massendelikten in großem Umfang stattfindende Diversion bewirkt wird. Für die Zurückhaltung der Gerichte gibt es jedoch sehr gute Gründe wie die Progressionswirkung höherer Geldstrafen, die Bedeutung bestimmter Strafschwellen, die Einsicht in die präventive Kraft moderaten Strafens bzw. die negativen Wirkungen längerer (vollstreckter) Freiheitsstrafen und in das sich damit auch aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ergebende Gebot maßvollen staatlichen Strafens. Möglicherweise kommt in der Ballung der Strafen am unteren Strafrahmenende aber auch eine Art Entkriminalisierung in dem sehr weiten Sinne zum Ausdruck, dass die Gerichte wegen der bei wiederholter Tatbegehung nachlassenden Filterfunktion der Einstellungsmöglichkeiten immer noch mit etlichen Fällen der Massenkriminalität wie etwa fortwährenden Beförderungserschleichungen befasst sind, bei denen sich Richter fragen könnten, ob es zu deren Kontrolle wirklich strafrechtlicher Mittel bedarf. Es bleibt zu klären, ob und welche Möglichkeiten bestehen, eine gefestigte Strafzumessungspraxis zu verändern. Angesichts der umgekehrt j-förmigen Verteilung der Strafmaße39 würden solche Kurskorrekturen zumeist auf eine Anhebung des Strafniveaus hinauslaufen. Das kann zum einen intern durch die Rechtsprechung 36 Verrel, Schuldfähigkeitsbegutachtung und Strafzumessung bei Tötungsdelikten, 1995, S. 160 f. 37 BGHSt 27, 2, 4. 38 Vgl. Maurer (Fn. 2), S. 109. 39 Meier (Fn. 1), 208.
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selbst geschehen, wie dies der BGH kürzlich sehr eindrucksvoll durch seine Maßgaben für die Strafhöhenbemessung bei Steuerhinterziehungen in Millionenhöhe demonstriert hat.40 Auch wenn der spezial- und generalpräventive Nutzen höherer Strafen für Steuerhinterzieher (und andere Straftäter) zweifelhaft erscheinen mag, können solche Verschiebungen gerade unter dem Blickwinkel einer komparativen Strafzumessung, die auch die Binnengerechtigkeit der Strafzumessungspraxis im Auge behalten muss („Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen“), gerechtfertigt sein. Es stünde selbstverständlich schon den Tatrichtern frei, eine härtere Gangart einzuschlagen, die allerdings auch tunlichst als solche in den Urteilsgründen ausgewiesen werden sollte, um eine Überprüfung durch die Rechtsmittelgerichte zu ermöglichen. Zum anderen und auf den ersten Blick näher liegend kann extern der Gesetzgeber durch Strafrahmenverschärfungen Einfluss auf das Strafniveau nehmen. Wenn er dies durch Anhebungen der Strafrahmenobergrenzen tut, meist getrieben durch den Druck, den die mediale Aufbereitung besonders schwerwiegender Straftaten erzeugt, bleibt davon die Sanktionierung der Durchschnittskriminalität unberührt, auch wenn man nicht ausschließen kann, dass die Heraufsetzung der Höchststrafe als gesetzgeberisches Signal für eine insgesamt punitivere Linie verstanden wird. Effektiver wäre daher die Erhöhung der Mindeststrafen, die jedoch aus kriminologischer Sicht keineswegs wünschenswert wäre, da jedenfalls für in den Normalstrafrahmen fallende Taten die Gefahr unangemessener Bestrafung von geringfügiger Kriminalität heraufbeschworen wird und zu Umgehungsstrategien im Bereich der Diversion und der Strafzumessung im weiteren Sinne führen dürfte. Dies gilt aber auch und gerade für Strafrahmen mit erhöhter Mindeststrafdrohung, bei denen die Gerichte schon jetzt vielfach auf minder schwere Fälle ausweichen.41 Mithin sollte der Gesetzgeber größte Zurückhaltung bei Eingriffen dieser Art üben, wenn er nicht riskieren will, dass es zu erheblichen Verwerfungen im Strafrahmensystem und der bisherigen Strafzumessungspraxis kommt. 3. Am häufigsten ist die Tatbestandsverwirklichung an sich42 Nunmehr soll der Blick auf die bisher vorausgesetzte, von manchen aber bezweifelte Operationalisierbarkeit der Figur des statistischen Regelfalls geworfen werden. Soweit die Kritik an der singularen Fassung des Begriffs ansetzt, ist sie gewiss berechtigt, denn ebenso wenig wie ein gedanklicher Durchschnittsfall bestimmt werden kann,43 gibt es in der Rechtswirklichkeit einen in genau dieser Merkmalskonstel40
BGHSt 53, 71, 86; 57, 123, 127 ff. Streng, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 2010, § 46 Rn. 200. 42 Streng, NStZ 1989, 396. 43 Als „blass“ oder „blutleer“ kritisieren dieses Konstrukt zu Recht Frisch, GA 1989, 338, 350; Neumann, FS Spendel, 1992, 435, 446; Horn, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar StGB, 35. Lieferung, Stand: Januar 2001, § 46 Rn. 94. 41
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lation und -ausprägung am häufigsten vorkommenden Regelfall. Es handelt sich vielmehr um eine Gruppe44 von (ideal)typischen Fallgestaltungen, die aus dem täglichen Brot der richterlichen Spruchtätigkeit als normal bzw. durchschnittlich herausdestilliert werden können. Wäre dem nicht so, könnte es die in der Praxis zweifellos angewendete45 Methode der komparativen Strafzumessung gar nicht geben. Denn ohne eine verallgemeinernde Typenbildung würde ein um konsistente Strafzumessung bemühter Richter schon sehr bald in einem Meer relationaler Einzelbeziehungen von sich ja nie in jeder Hinsicht gleichenden Strafzumessungssachverhalten versinken. Dass eine Reduktion der Vielfalt der möglichen Strafzumessungsgründe bzw. Konstellationen von Strafzumessungsfaktoren stattfindet, belegen die Erkenntnisse der Strafzumessungsforschung. Danach lassen sich die gefundenen Strafmaße auf wenige, zumeist objektive Umstände wie etwa die Vorstrafenbelastung, die Schadenshöhe, die Anzahl der Taten oder die Geständnisbereitschaft zurückführen.46 Bei richtigem Verständnis der Figur „des“ statistischen Regelfalls geht es demnach nicht um die Suche nach dem Gral eines einzigen Normalfalles, sondern um die Identifizierung von „Grundtypen der richterlichen Strafzumessungspraxis.“47 Daher sind die Unterschiede zwischen dem Konzept des statistischen Regelfalls und dem von seinen Kritikern als Alternative vorgeschlagenen Modell einer zweistufigen Strafzumessungsbegründung – erst Einordnung des auf seine Leitmerkmale reduzierten Falls „unter Nutzung des vergleichenden Vorgehens“ in den gesetzlichen Strafrahmen, dann Feinjustierung anhand der nicht typusprägenden Umstände48 – tatsächlich nur gering. Für beide ist die Bezugnahme auf in der Praxis vorfindliche „Ankerfälle“49 zentral, das zweistufige Modell differenziert diesen Vorgang zu Recht weiter aus, ohne dass damit jedoch eine Abweichung vom gemeinsamen Ausgangspunkt des komparativen Vorgehens verbunden ist.50 Neben der sogleich noch anzusprechenden Furcht vor einer Mathematisierung der Strafzumessung dürfte der wohl entscheidende Grund dafür, warum die Bemühungen um eine Objektivierung der Strafhöhenbestimmung nicht über die Herausarbeitung und heute wohl überwiegende Akzeptanz51 dieser vergleichenden Methode hinausgekommen sind, in den bislang nur lückenhaften Erkenntnissen über das genaue Aussehen der Regelfälle und der für sie verhängten Strafen zu suchen sein. Zwar hat die Rechtstatsachenforschung durchaus Licht in das Dunkel der tatrichterlichen 44
Vgl. Köberer, Iudex non calculat, 1996, 112 f. Insoweit deutliche Ergebnisse liefert die Richterbefragung von Streng (Fn. 6), 393. 46 S. nur Meier (Fn. 1), 226 f. m.w.N. 47 Kaiser/Schöch, Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug, 7. Aufl. 2010, Fall 7 Rn. 57; ähnlich Horn, StV 1986, 168, 169: „keine Linie, sondern eine Fallgruppe“. 48 Streng (Fn. 41), § 46 Rn. 180; Meier (Fn. 1), 211. 49 Eschelbach, in: Satzger/Schmitt/Widmaier (Hrsg.), StGB Kommentar, 2009, § 46 Rn. 177. 50 Vgl. Schall/Schirrmacher, Jura 1992, 624, 628. 51 Theune (Fn. 12), § 46 Rn. 319. 45
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Strafzumessung gebracht. Im Fokus stand dabei jedoch nicht die Extraktion regelhafter Tatbilder und dafür verhängter Strafgrößen, sondern die Frage, ob sich die Strafzumessung an den gesetzlich vorgegebenen Strafzumessungsfaktoren und der Abstufung von Strafrahmen orientiert oder durch „extralegale“52 Gesichtspunkte wie etwa das Geschlecht, die Schichtzugehörigkeit oder Nationalität des Verurteilten beeinflusst wird. Daneben spielen noch Längsschnittbetrachtungen zur Entwicklung der Verurteilungspraxis sowie Untersuchungen zu regionalen Strafzumessungsunterschieden eine Rolle. Eine Ausnahme bildet neben der schon länger zurückliegenden Untersuchung von Schöch53die von Götting vorgenommene Auswertung der Strafverfolgungsstatistik für die Jahre 1987 bis 199154 u. a. mit dem Ziel, für bestimmte Delikte bzw. Strafrahmen Strafmaßschwerpunkte zu ermitteln. Deren Existenz konnte zwar eindrucksvoll nachgewiesen werden, doch ist es auf der Datenbasis der Strafverfolgungsstatistik, die nur wenige und vor allem ausschließlich aggregierte55 Tat- und Tätermerkmale erfasst und die zudem gerade bei den besonders interessierenden schwereren Strafen leidlich (weite) Strafmaßgruppen angibt, nicht möglich, den statistischen Regelfällen ein so konkretes Gesicht zu geben, dass Staatsanwaltschaften und Gerichte damit arbeiten könnten.56 Die Strafverfolgungsstatistik in ihrer derzeitigen Form taugt daher nur, aber immerhin zur Identifizierung von Ausnahmestrafen und damit zur Beanstandung unzureichender Strafmaßbegründungen. Ein Potential, das aber bisher nur selten57 von den Revisionsgerichten genutzt wird. 4. Mathematisierungen sind dem Wesen der Strafzumessung grundsätzlich fremd58 Die bereits eingangs erwähnten Relativierungen des statistischen Regelfalls durch die neuere Rechtsprechung lassen ohnehin Zweifel daran aufkommen, ob sich der BGH überhaupt einer – wie noch zu zeigen ist – durchaus möglichen, breiter empirisch fundierten Strafmaßkontrolle öffnen würde. Das Abrücken von der in BGHSt 27, 2 vorgenommenen Verortung der Einstiegsstelle in der unteren Strafrahmenhälfte gipfelt in dem obiter dictum des 1. Strafsenats59, es sei „regelmäßig verfehlt, bei der Bestimmung der schuldangemessenen Strafe arithmetische Erwägun52
Meier (Fn. 1), 227. Schöch, Stafzumessungspraxis und Verkehrsdelinquenz, 1973, S. 143 f. 54 Götting, Gesetzliche Strafrahmen und Strafzumessungspraxis, 1997. 55 Näher zu den damit verbundenen Einschränkungen der Vergleichbarkeit Meier (Fn. 21), S. 35 f. 56 Vgl. Montenbruck, Strafrahmen und Strafzumessung, 1983, S. 37; Schöch (Fn. 53), S. 41. 57 Soweit ersichtlich bisher nur BayOblG, JR 2002, 166 m. Anm. Verrel. 58 BGH v. 3. 12. 2002 – 3 StR 406/02; s. auch BGH, NStZ-RR 1999, 101 f. 59 BGH, NStZ 2009, 43. 53
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gen (vgl. UA S. 106: „im unteren Drittel des Strafrahmens“) anzustellen.“ Diese Äußerungen, ebenso wie die auch in der Literatur verbreiteten Warnungen vor Straftaxen, sind von der Furcht geprägt, dass eine umfassende Ermittlung und Benennung üblicher Strafmaße zu einer mit dem Grundsatz schuldangemessener Strafen unvereinbaren Einschränkung des tatrichterlichen Strafzumessungsermessens führen und zudem Raum für verfahrenslähmende Beweisanträge zur Feststellung des Üblichen geben könnte. Abgesehen davon, dass man die Existenz von Straftaxen jedenfalls für massenhaft vorkommende Delikte wie etwa normale Trunkenheitsfahrten oder erstmalig formell sanktionierte Schwarzfahrten nicht ernsthaft bestreiten kann60 – und dann auch als solche benennen darf –, ist die Sorge vor einer Mathematisierung und unangemessenen Nivellierung der Strafzumessung unbegründet. Die Identifizierung von typischen Fallgestaltungen und dafür üblichen Strafmargen lässt genug Raum, um etwaigen Besonderheiten und in gewissem Maße auch richterindividuell abweichenden Sanktionsstilen bzw. „lokalen Justizkulturen“61 Rechnung zu tragen. Was aber darüber deutlich62 hinausgeht, sollte nicht mit dem Ermessenspielraum des Tatrichters, der Unvermeidbarkeit regionaler Unterschiede,63 der Unvergleichbarkeit bzw. Einzigartigkeit der Fälle oder mit der Unvertretbarkeit des in der Hauptverhandlung gewonnenen Eindrucks vom Angeklagten und seiner Tat bemäntelt werden. Gerade hinter derartigen „atmosphärischen“ Variablen verbergen sich nur allzu leicht vom Normprogramm des § 46 StGB nicht gedeckte Vorurteile des Richters.64 Jedenfalls gehören solche Eindrücke, wenn sie maßgeblichen Einfluss auf das Strafmaß hatten, in die Urteilsbegründung (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO) und sind damit einer revisionsrechtlichen Kontrolle zugänglich. Man sollte sich trotz der Unvermeidbarkeit gewisser Diskrepanzen zwischen den in erster Linie für das Revisionsgericht abgefassten schriftlichen und den wahren Strafzumessungsgründen nicht vorschnell mit „weitgehend unbewusst ablaufenden Wertungen im Rahmen der Strafmaßfindung“ abfinden, die einer „argumentativen Grundlegung und Darstellung nur begrenzt zugänglich sind“.65 Diese mögen gewisse Modulationen des Strafmaßes innerhalb der Üb-
60 S. wiederum die Richterbefragung von Streng, NStZ 1989, 393 sowie die Nachweise bei Maurer (Fn. 2), S. 175 f. 61 Langer, Staatsanwälte und Richter, 1994, 139 ff.; zu deren vielfältigen Ausprägungen s. Meier (Fn. 21), S. 31. 62 Maurer (Fn. 2), S. 168 entnimmt der Rechtsprechung eine Abweichungstoleranz von maximal 50 % des üblichen Strafmaßes, also die Aufhebung von Strafen, die unter dessen Hälfte oder über dessen Eineinhalbfachen liegen; er hält aber eine Reduzierung auf 25 % (223) oder einen Toleranzbereich an den Grenzen von jeweils 10 % des Mittelwerts (215) für möglich. 63 Vgl. Meier (Fn. 21), S. 38, 40; dagegen weist Theune (Fn. 11), § 46 Rn. 207 zu Recht auf die fehlende dogmatische Rechtfertigung einer örtlich differierenden Strafzumessungspraxis und eines damit verbundenen „Strafzumessungsrisikos“ hin. 64 Streng (Fn. 41), § 46 Rn. 195. 65 Streng (Fn. 3), Rn. 660.
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lichkeit erklären66 und in diesem Umfang eine „exakte Richtigkeitskontrolle“67 ausschließen. Sie auch für darüber hinausgehende, aber in der Strafzumessungsbegründung nicht verbalisierte Strafschärfungen oder -milderungen hinzunehmen, liefe auf eine Bankrotterklärung der Strafmaßkontrolle hinaus. Die Scheu des BGH, konkretere Vorgaben für den Einstieg in den Strafrahmen zu machen und stattdessen auf eine diffuse Gesamtwürdigung „aller strafzumessungsrelevanten Umstände“ auszuweichen,68 kann auch aus tatrichterlicher Sicht nicht befriedigen, bleibt doch offen, wie das Ergebnis dieser Gesamtschau durch die Revisionsgerichte ausfallen wird. Es handelt sich damit, ebenso wie mit der bislang nur behaupteten69 Üblichkeit von Strafmaßen und der sehr flexibel einzusetzenden Begründungsrüge um Instrumente aus dem Giftschrank der Revisionsgerichte, mit denen diese ihre eigenen, nicht weiter legitimierten und womöglich untereinander abweichenden70 Strafwürdigkeitsvorstellungen zur Geltung bringen können.71 Zu dem Eindruck, dass sich der BGH bei der Überprüfung des Strafmaßes nicht gerne in die Karten schauen lässt, scheint auch die von ihm schon früh72 auf beweisrechtlicher Ebene vorgenommene Abschottung gegen die Heranziehung von Vergleichsfällen zu sprechen. So sei es unzulässig, Beweis über die Strafzumessung anderer Gerichte zu erheben und könnten Strafaussprüche nicht mit dem Hinweis auf niedrigere Strafen anderer Gerichte angefochten werden,73 was angesichts des Umstands, dass die bisherige Strafzumessungspraxis den Prüfungsmaßstab für die Strafhöhenkontrolle des BGH bildet, in der Tat als „nicht einheitlich(e)“ Rechtsprechung74 bezeichnet werden kann. Was die Unzulässigkeit von Beweisanträgen anbelangt, wird man dem BGH im Ergebnis jedoch zustimmen müssen. Nicht überzeugend ist allerdings der Hinweis auf mögliche Verfahrensverzögerungen durch die exzessive Vorlage (vermeintlicher) Vergleichsfälle,75 denn insoweit enthält der Ablehnungsgrund der Prozessverschleppung eine abschließende Regelung.76 Ebenso wenig kann es eine Rolle spielen, ob 66 Frisch, ZStW 99 (1987), 751, 802: „allenfalls sehr geringe Streubreiten“; gegen eine Überschätzung der Faktoren, „die sich selbst durch Beobachtung (der Hauptverhandlung, Anm. d. Verf.) kaum mehr objektivierbar erfassen lassen“, zutreffend Maurer (Fn. 2), S. 17. 67 S. nur BGH, NJW 1981, 692. 68 Krit. dazu bereits Horn (Fn. 47), § 46 Rn. 169; s. auch Eschelbach (Fn. 49), § 46 Rn. 177. 69 Vgl. LK-Theune (Fn. 12), § 46 Rn. 320. 70 S. Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, § 46 Rn. 146.; für Sexualdelikte vermutet dies Maurer (Fn. 2), S. 167 f. 71 Streng (Fn. 3), Rn. 661. 72 BGHSt 25, 207 f. 73 BGHSt 1, 183 f.; vgl. auch BGHSt 28, 318 , 323 f. 74 Theune, StV 1985, 208. 75 BGHSt 25, 208; vgl. Streng (Fn. 3), Rn. 661: „nachvollziehbar“ und Maurer (Fn. 2), S. 220. 76 Vgl. Schroeder, JR 1974, 340 ff.
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das erkennende Gericht die Entscheidungen anderer Gerichte desavouieren oder sich ihnen wider eigene Überzeugung anschließen müsste.77 Vielmehr wird man schon an der Geeignetheit des Beweismittels einzelner anderer Gerichtsentscheidungen zweifeln können, ergibt sich ein valider Üblichkeitsmaßstab doch erst aus – derzeit noch nicht vorhandenen – überregionalen Strafmaßerhebungen. Jedenfalls ist eine Beweiserhebung, die auf die Hinzuziehung der Strafzumessungsentscheidungen anderer Gerichte abzielt, deswegen unzulässig, weil es letztlich eine dem Beweis nicht zugängliche Frage der rechtlichen Beurteilung78 ist, ob der vorliegende Strafzumessungssachverhalt mit statistischen Regelfällen vergleichbar ist. Der Angeklagte bzw. Verteidiger kann seine Sicht der Dinge im Strafmaßantrag darlegen, und es ist ihnen auch unbenommen, die Plausibilität einer davon abweichenden Strafmaßbegründung im Rechtsmittelverfahren anzugreifen, liegt diese Rüge doch auf der Linie des BGH, bei auffällig hohen oder niedrigen Strafmaßen besondere Anforderungen an die Qualität der Strafzumessungsbegründung zu stellen, deren Manipulierbarkeit durchaus Grenzen gesetzt sind.79 Die Verteidigung hat jedoch keine Handhabe, das Tatgericht durch Beweisanträge im Vorhinein auf ein bestimmtes Strafmaß festzulegen.
IV. Konsequenzen Da jedenfalls nach derzeitiger Rechtslage kein anderer objektivierbarer Maßstab für die Überprüfung der Schuldangemessenheit der Strafhöhe als die bisherige Strafzumessungspraxis in vergleichbaren Fällen ersichtlich ist,80 sollten Anstrengungen unternommen werden, diese Bezugsgröße sichtbarer als bisher zu machen.81 Wegen der anzunehmenden regionalen Strafmaßdifferenzen bedarf es dazu einer bundesweiten Erhebung, die sich zudem auf möglichst viele Deliktsbereiche erstrecken sollte. Zu diesem Zweck laufend durchgeführte, repräsentative Strafaktenerhebungen und Praktikerbefragungen wären mit einem erheblichen, vermutlich nicht leistbaren Aufwand verbunden.82 Stattdessen bietet sich ein Ausbau der Strafverfolgungsstatistik83 an, für den die bisherigen Erkenntnisse der örtlich, zeitlich und deliktisch begrenzten Strafzumessungsstudien nutzbar gemacht werden können. So sollten in einem ersten Schritt die daraus hervorgegangenen typischen Tat- und Täterleitmerkmale für die Strafzumessung sowie die angewendeten Strafrahmen, 77
So aber Streng (Fn. 3), Rn. 661. Vgl. Schöch, in: Wassermann (Hrsg.), Kommentar zur Strafprozessordnung, 1993, Bd. 2, § 244 Rn. 79. 79 Maurer (Fn. 2), S. 221. 80 So schon Bruns, JZ 1988, 1058; vgl. auch Schier (Fn. 18), S. 273. 81 Ebenso Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit, 1984, S. 316; Maurer (Fn. 2), S. 209. 82 Maurer (Fn. 2), S. 210. 83 So auch Theune (Fn. 12), § 46 Rn. 321; auf die Notwendigkeit, die Datenvalidität zu optimieren, weist zu Recht Maurer (Fn. 2), S. 219 hin. 78
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insbesondere die zentralen Strafrahmenmilderungen des allgemeinen Teils (§§ 13 Abs. 2, 21, 23 Abs. 2, 27 Abs. 2 StGB) erfasst und mit der Angabe von Durchschnittswerten und Streuungsmaßen für die dazugehörigen Strafmaße ausgewiesen werden. Besondere Schwierigkeiten bereitet dabei der Umgang mit der Strafzumessung bei Tatmehrheit. In der Strafverfolgungsstatistik wird bei gleichzeitiger Aburteilung mehrerer Gesetzesverletzungen nur der Straftatbestand mit der schwersten Strafandrohung aufgeführt,84 was insbesondere im Fall von Gesamtstrafen zu Verzerrungen bei der Ermittlung deliktsspezifischer Strafmaße führen kann. Eine optimierte Strafverfolgungsstatistik müsste daher wenigstens zwischen der Verurteilung wegen eines und mehrerer Delikte unterscheiden; noch besser wäre eine zusätzliche Erhebung der Einzelstrafen, die sowohl den Fundus deliktsspezifischer Strafmaße erweitern als auch Aufschluss darüber geben kann, wie die Praxis das Asperationsprinzip des § 54 Abs. 1 Satz 2 StGB ausfüllt, ob es etwa eine Daumenregel wie „die Hälfte der Differenz zwischen Einsatzstrafe und Summe der Einzelstrafen“ gibt. In einem zweiten Schritt könnten aus der Fülle des Datenmaterials Delikts- bzw. Strafzumessungstypen für die statistischen Regelfälle gebildet, aber auch – sofern die Fallzahlen das zulassen – paradigmatische Konstellationen für von der normalen Einstiegsstelle deutlich nach unten oder oben abweichende Strafhöhen ermittelt werden. Solange dieser wünschenswerte und angesichts der fortschreitenden Automatisierung der Geschäftsstellen und der durchaus überschaubaren Datenmenge keineswegs illusionäre Differenzierungsgrad85 der Strafverfolgungsstatistik nicht erreicht ist, bleibt die Rechtstatsachenforschung aufgerufen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten (konkretere) Beiträge zur Bildung von Strafzumessungstypen insbesondere in den nicht zur Massenkriminalität gehörenden Bereichen schwerer Kriminalität zu leisten. Dort ist nicht nur eine größere Individualität der (aus den Urteilsgründen ersichtlichen) Strafzumessungssachverhalte zu erwarten, sondern auch das Bedürfnis für Orientierungspunkte wegen des höheren Strafniveaus und der einschneidenderen Wirkung von Strafmaßvarianzen86 größer. Der BGH sollte seine Strafhöhenkontrolle einstweilen auf solidere Beine als die schlichte Behauptung stellen, das beanstandete Strafmaß entspreche dem Üblichen bzw. den vom BGH in ähnlichen Fällen bestätigten Strafen oder nicht. Auch wenn außer Frage steht, dass Bundesrichter im Laufe ihrer tat- und höchstrichterlichen Tätigkeit reiches Anschauungsmaterial gesammelt haben,87 sollten sie dieses Metermaß nicht länger geheim halten. Ablegen sollte der BGH auch seine Scheu vor „Arithmetik“ dergestalt, dass Einstiegsstellen in Form von Bruchteilen des Strafrahmens (Hälften, Drittel, Viertel) angegeben werden. Ebenso gehört die Annahme von 84
Statistisches Bundesamt (Fn. 33), S. 13. S. auch Eschelbach (Fn. 49), § 46 Rn. 177. 86 Vgl. Maurer (Fn. 2), S. 215. 87 Zur Gefahr der Selektivität derartiger Eindrücke s. Streng (Fn. 3), Rn. 666; Maurer (Fn. 2), S. 212. 85
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BGHSt 34, 355 auf den Prüfstand, dass die Verortung des statistischen Regelfalls in der unteren Strafrahmenhälfte nicht für Sonderstrafrahmen gelte und kann schon nach der jetzigen Erkenntnislage gesagt werden, dass die Einordnung des Regelfalls bzw. der Regelstrafe beim Totschlag in die obere Strafrahmenhälfte ausgesprochen fragwürdig ist. Jedenfalls trägt das Argument nicht, dass Sonderstrafrahmen nur einen Ausschnitt abbilden, denn es können sich auch in einem solchen Ausschnitt durchaus bestimmte Verteilungsmuster ergeben. Bei deren Erforschung mag sich dann ergeben, dass die Regelstrafe abweichend von BGHSt 27, 2 zu verorten ist. Eine Grundlage für die Substantiierung von Üblichkeiten, jedenfalls für die Detektion von außergewöhnlichen Strafmaßen bietet die Strafverfolgungsstatistik schon jetzt, wie die bereits erwähnte Entscheidung des BayObLG88 gezeigt hat. Darüber hinaus könnte die revisionsrechtliche Strafmaßkontrolle durch eine systematische Auswertung der bisherigen Spruchtätigkeit der Strafsenate89 unterfüttert und möglicherweise verfeinert werden. Hier wäre wiederum ein Raster anzulegen, in dem die erfahrungsgemäß maßgeblichen Strafzumessungstatsachen, nunmehr aber auch etwaige Besonderheiten, beide ggf. in ihrer quantitativen Ausprägung (z. B. Schadenshöhe, Zahl der Vorstrafen) erfasst und zum aufgehobenen/nicht beanstandeten Strafmaß in Beziehung gesetzt werden.90
V. Schluss Der nach der lex lata alternativlose Referenzmaßstab für die Bestimmung und Kontrolle des schuldangemessenen Strafmaßes in Gestalt der bisher üblichen Strafhöhen ist eine empirische und daher der Erkenntnis zugängliche Größe. Die Erkenntnismöglichkeiten sind bei Weitem noch nicht ausgeschöpft, so dass die vor 27 Jahren von Horn91 getroffene, hier mit einem Klammerzusatz versehene Einschätzung nach wie vor Gültigkeit hat: „Die Zukunft gehört dem Regelfall und seiner – von den Revisionsgerichten (auf der Grundlage rechtstatsächlicher Erkenntnisse) überwachten – inhaltlichen Erfassung durch die Tatrichter.“
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S. o. Fn. 17. Dieses Verfahren der Eigendokumentation bietet sich selbstverständlich auch für die Objektivierung der tatrichterlichen Strafzumessungspraxis an, vgl. Maurer (Fn. 2), S. 210, wenngleich dort das Problem einer sich erst aufbauenden und bei selteneren schweren Delikten oftmals dünnen Vergleichsbasis besteht, s. Theune, StV 1985, 209. 90 Ansätze einer solchen Analyse finden sich bei Schäfer/Sander/van Gemmeren (Fn. 12), Rn. 834 ff. 91 Horn (Fn. 47), § 46 Rn. 170. 89
Steter Tropfen höhlt den Stein? – Zur Reform der Fahrverbotsstrafe Von Jan Zopfs Im Sanktionenrecht wird seit dem 59. Deutschen Juristentag (1992) eine Reform des Fahrverbots diskutiert. Erinnert sei z. B. an die Strafrechtslehrertagung in Halle (1999), den Abschlussbericht der vom Bundesjustizminister eingesetzten „Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems“ aus dem Jahr 2000, den 39. Deutschen Verkehrsgerichtstag (2001) und an zahlreiche Gesetzentwürfe in Bundestag und Bundesrat (über fünf Legislaturperioden hinweg).1 Obwohl gesetzliche Änderungen ausgeblieben sind, zeigen die Stellungnahmen der beteiligten Organe in den jeweiligen Gesetzgebungsverfahren mittlerweile einen (scheinbaren) Grundkonsens: So wird nicht nur der Verlängerung des Fahrverbots bei Verkehrsstraftaten von drei auf sechs Monate zugestimmt.2 Einigkeit besteht auch darüber, dass das Fahrverbot als dritte Hauptstrafe zwischen Geld- und Freiheitsstrafe zu etablieren ist.3 Eigentlich umstritten ist nur die Frage, ob eine solche Hauptstrafe künftig für jede Straftat oder (wie bisher) ausschließlich für Verkehrsstraftaten verhängt werden soll. Die Befürworter eines Fahrverbots bei allgemeiner Kriminalität reduzieren diesen Disput – da man von solchen Einwänden absehen müsse, die sich schon gegen das bestehende Fahrverbot richteten4 – auf die fehlende Entsprechung von Tat und Sanktion. Eine solche Korrespondenz wiesen aber auch 1 Entwürfe der SPD: BT-Drs. 12/6141 und 13/4462 (FV als Hauptstrafe bis zu einem Jahr); SPD/Bü. 90/Grüne: BT-Drs. 14/9358 und als Entwurf der BuReg in BT-Drs. 15/2725 (FV als Hauptstrafe bis zu 6 Monaten); Bundesrat (FV als Hauptstrafe mit 6 Monaten bei Verkehrstaten bzw. einem Jahr bei allg. Kriminalität): BR-Drs. 449/99 und 637/00 (Entwürfe Bayerns) sowie 759/00 (Mecklenburg-Vorpommern) und BR-Drs. 39/08 (Entwurf Hamburgs, später als Entwurf des Bundesrats: BT-Drs. 16/8695). S. ferner den Entschließungsantrag Baden-Württembergs, BR-Drs. 564/00 (FV als Hauptstrafe) und der auf das Jugendstrafrecht bezogene Antrag der CDU (BT-Drs. 14/3189, FV als Hauptstrafe bei allg. Kriminalität). 2 So etwa die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zum Entwurf des Bundesrats vom 2. 4. 2008 in BT-Drs. 16/8695, S. 12. 3 So kritisiert die Stellungnahme des Bundesrats den Entwurf der Bundesregierung v. 17. 3. 2004 allein deshalb, weil er diese Hauptstrafe nicht auch auf die allgemeine Kriminalität erstrecken will, BT-Drs. 15/2725, S. 39. Vgl. auch BR-Drs. 39/08, S. 7 (Gesetzantrag und Entwurf Hamburgs): „Die Diskussion der vergangenen Jahre hat sodann gezeigt, dass es – ungeachtet von Detailfragen der Ausgestaltung – eine weitgehende Zustimmung für die Forderung gibt, den bestehenden Hauptstrafen das Fahrverbot als weitere Hauptstrafe zur Seite zu stellen.“ 4 BT-Drs. 16/8695, S. 7; BT-Drs. 15/2725, S. 39.
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die anderen Hauptstrafen nicht auf (eine spiegelnde Strafe sei bekanntlich seit der Aufklärung überwunden5), so dass es geboten sei,6 diese jahrelang bewährte Sanktion, die „außerordentlich weh“ tue und deshalb eine „höchst wirksame Strafe“ sei,7 auf die gesamte Kriminalität zu erstrecken, zumal diese Sanktion auch kostengünstig8, ja sogar „umweltfreundlich“9 sei. Betrachtet man die jeweiligen Entwurfsbegründungen chronologisch über den hier maßgeblichen Zeitraum von 15 Jahren, so zeigen sich inhaltlich kaum Änderungen. Vielmehr werden die Begründungsmuster meist stereotyp wiederholt, ohne die Bedenken10 zu berücksichtigen, die im Schrifttum (gerade auch aus der Praxis) gegen die Aufstufung des Fahrverbots erhoben worden sind.11 Vor diesem Hintergrund steht zu befürchten, dass in absehbarer Zeit unter Rückgriff auf „allseits konsentierte“ Erkenntnisse und Gesetzentwürfe zumindest das Fahrverbot als Hauptstrafe vom Gesetzgeber gebilligt und allenfalls noch um die Ausdehnung auf die allgemeine Kriminalität gefochten werden wird. Der Jubilar hat wiederholt auf die Verantwortung der Wissenschaft verwiesen, sich rechtzeitig an den Reformkonzepten zu beteiligen und diese ggf. kritisch zu begleiten.12 Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, die Argumente, die für die Einführung der dritten Hauptstrafe angeführt werden (sei es für Taten mit oder ohne Verkehrsbezug), näher zu beleuchten und die Notwendigkeit einer Reform zu hinterfragen.
5 So bereits Schöch in seinem Gutachten für den 59. DJT, Verhandlungen des 59. DJT, Gutachten C, S. 120. 6 Beispielhaft von der Aa/Pöppelmann, Jura 1999, 462: Sonst müsste „bei Delikten gegen die körperliche Unversehrtheit die Prügelstrafe wieder eingeführt werden … Das Fahrverbot ,als Übelszufügung‘ kann daher [sic!] und insoweit ohne Bedenken als Hauptstrafe für verschiedenste Straftaten angedroht und verhängt werden.“ 7 Zitate jeweils bei Stöckel, BA 2001, 99 (zudem wird als erwünschter Belastungsfaktor die Ehrenrührigkeit des Fahrverbots angeführt). Der Schluss von der Empfindlichkeit dieser Strafe auf die Notwendigkeit des Ausbaus derselben findet sich z. B. auch in BT-Drs. 16/8695, S. 8; BT-Drs. 14/3189, S. 6; mit Recht kritisch dazu Streng, ZStW 111 (1999), 827 (853). 8 Z. B.: Stöckel, BA 2001, 99 (100 f.); ähnlich ders., FS-Gössel, 2002, S. 329 (337 f. u. 338): „ein echter Segen aus haushaltsrechtlicher und politischer Sicht für alle, die wirksam strafen, aber dabei sparen wollen“); ders., FS-Böttcher, 2007, S. 617 (627); König, NZV 2001, 7. 9 Roxin, GS-Zipf, 1999, S. 135 (146). 10 Eine Ausnahme dürfte die nachträgliche Begrenzung des erweiterten Fahrverbots auf sechs Monate bei Verkehrstaten darstellen, siehe dazu nachfolgend im Text unter I. 1. mit Fn. 15. 11 Beispielhaft sei verwiesen auf Beck, DAR 1992, 440; Bittmann, NJ 2001, 509; Schäpe, Veröffentl. des 39. DVGT, S. 90 ff.; Franke, ZRP 2002, 20; von Selle, JR 2002, 227; Kilger, ZRP 2009, 13. Auch der Arbeitskreis II des 39. Deutschen Verkehrsgerichtstages hatte sich gegen eine Aufstufung zur Hauptstrafe ausgesprochen, DAR 2001, 114. 12 S. dazu z. B. den Tagungsbericht zur Strafrechtslehrertagung in Halle (1999) von Julius in der ZStW 111 (1999), 889 (899) oder bereits Wolter, GA 1985, 49.
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I. Das Fahrverbot als dritte Hauptstrafe 1. Die Argumente der Befürworter Im Anschluss an die Beschlussfassungen auf dem 59. Deutschen Juristentag13 zielten die Gesetzentwürfe zunächst auf ein Fahrverbot ab, das als Hauptstrafe mit einer Dauer von bis zu einem Jahr gelten sollte, ohne jedoch die Verbindung zur Tat mit Verkehrsbezug zu lösen. Auf diese Weise könne der Täter an einer empfindlichen Stelle getroffen und damit besser als über eine Geldstrafe beeinflusst werden.14 Eine nähere Begründung für diese Annahme wird nicht gegeben. Leicht abgewandelt fallen die Entwürfe der Regierungsfraktionen bzw. der Bundesregierung in der 14. und 15. Legislaturperiode aus. Angestrebt wird jetzt ein Fahrverbot als Hauptstrafe mit einer Dauer von bis zu 6 Monaten. Eine darüber hinaus reichende Fahrverbotsfrist wird nun abgelehnt, weil kein Fall erkennbar sei, in dem der Täter zwar nicht ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wohl aber ein Fahrverbot von mehr als 6 Monaten geboten ist. Zudem würde sonst die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO) beschränkt, weil die Prognose einer bevorstehenden Entziehung der Fahrerlaubnis bei zugleich möglichem Fahrverbot von mehr als 6 Monaten Schwierigkeiten bereite.15 Begründet wird die Aufstufung zur Hauptstrafe damit, dass die Geldstrafe „kein fühlbares Übel“ bedeute.16 Denn die Strafe werde von Dritten übernommen und könne wirtschaftlich gut situierte Täter ohnehin nicht beeindrucken.17 Sei der Täter hingegen finanziell überlastet, so führe die Geldstrafe zu einer zusätzlichen Entsozialisierung und sei – falls sie durch eine Ersatzfreiheitsstrafe vollstreckt werde – mit negativen Folgen für den Täter verbunden.18 Zudem soll das erweiterte Fahrverbot auch kurzfristige Freiheitsstrafen ersetzen können, die derzeit zur Einwirkung auf den Täter verhängt werden müssten, weil eine Geldstrafe nebst dreimonatigem Fahrverbot nicht ausreiche.19 Bei alledem gelte, dass die Hauptstrafe Fahrverbot aber auch neben einer anderen Hauptstrafe (Geldstrafe oder zur Bewährung aus13
Verhandlungen des 59. DJT, 2. Band, O 189 f. BT-Drs. 12/6141, S. 9; 13/4462, S. 8. 15 BT-Drs. 14/9358, S. 15; 15/2725, S. 22 f. in Anlehnung an den Abschlussbericht der „Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems“ (s. dort unter 1.2.2 = S. 33). Ebenso der Entwurf zum Fahrverbot bei allgemeiner Kriminalität, BT-Drs. 16/8695, S. 8, der allerdings für nicht-verkehrsbezogene Taten – da keine Konkurrenz zu §§ 69 StGB, 111a StPO bestehe – eine Höchstdauer von einem Jahr vorsieht. 16 BT-Drs. 14/9358, S. 11; 15/2725, S. 18. Ebenso zum Fahrverbot bei allgemeiner Kriminalität: BT-Drs. 16/8695, S. 7. 17 Ebenso zum Fahrverbot bei allgemeiner Kriminalität z. B. BT-Drs. 16/8695, S. 7; Stöckel, BA 2001, 99 (100); ders., FS-Böttcher, S. 617 (626). 18 BT-Drs. 14/9358, S. 9; 15/2725, S. 16. Ebenso zum Fahrverbot bei allgemeiner Kriminalität: Stellungnahme des Bundesrats, BT-Drs. 15/2725, S. 39; Stöckel, FS-Böttcher, S. 617 (625). 19 BT-Drs. 14/9358, S. 14; 15/2725, S. 22. Franke, ZRP 2002, 20 (21) misst diesen Fällen hingegen „nur geringe praktische Bedeutung“ bei. 14
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gesetzte Freiheitsstrafe) verhängt werden könne, falls dies nötig sein sollte, um den Täter wirksam zu beeinflussen. 2. Stellungnahme Ungeachtet der Frage, ob in Anbetracht der individuell höchst unterschiedlichen Belastungen, die mit einem Fahrverbot verbunden sein können, ein sachgerechter Umrechnungsmaßstab gefunden werden kann,20 überzeugt die oben angeführte Begründung für ein Fahrverbot als Hauptstrafe nicht. Im Hinblick auf die mittlerweile vollzogene Aufstufung des Tageshöchstsatzes auf nunmehr 30.000 E ist näher zu begründen, weshalb vermögende Täter durch eine Geldstrafe nicht beeindruckt werden können.21 Mängel bei der Strafzumessung der Geldstrafe beruhen bei finanziell gut und bei weniger gut22 situierten Tätern auf fehlenden gerichtlichen Feststellungen zum verfügbaren Nettoeinkommen.23 Fehler bei der Strafzumessung der Geldstrafe sind aber nicht durch Einführung einer neuen Hauptstrafe zu ersetzen, sondern dort zu beheben, wo sie bestehen.24 Im Übrigen wäre die Ersetzung/Ergänzung einer Geldstrafe durch ein eigenständiges Fahrverbot als schuldangemessene Strafe mit erheblichem Arbeitsaufwand für die Gerichte verbunden.25 Denn eine solche Strafbegründung setzt nicht nur fundierte Feststellungen zur Wirkungslosigkeit/beschränkten Wirksamkeit der Geldstrafe, sondern auch solche zum Fahrverbot voraus: Inwiefern ist der Täter beruflich und privat auf eine Kraftfahrzeugbenutzung angewiesen? Welche Zugriffsmöglichkeiten bestehen auf eigene oder fremde Fahrzeuge und wie sind die Möglichkeiten der Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs? Es ist auch nicht zutreffend, dass diese Feststellungen bei der Strafzumessung als Nebenstrafe in gleicher Weise erforderlich sind. Gegenwärtig ist das Fahrverbot verhältnismäßig einfach als zusätzliche Denkzettelstra20 Der Abschlussbericht der „Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems“ lehnt einen gesetzlichen Anrechnungsmaßstab wegen der individuell höchst unterschiedlichen Belastungen ab, während Wolters, ZStW 114 (2002), 63 (70 ff.) einen solchen für unverzichtbar hält. Der Entwurf in BT-Drs. 14/9358, S. 15 verzichtet auf einen Anrechnungsmaßstab, BT-Drs. 15/2725, S. 47 sieht diesen im Verhältnis von 2:1 (Geldstrafe/Fahrverbot zu Freiheitsstrafe) vor, BT-Drs. 16/8695, S. 9 spricht sich für einen Maßstab 1:1 aus. 21 Ebenso Sonnen, DRiZ 2010, 119. 22 Bei einer Hauptstrafe Fahrverbot (ohne Verkehrsbezug) ist zudem zu bedenken, dass diese anvisierte Tätergruppe wohl meist über kein Fahrzeug und/oder keine Fahrerlaubnis mehr verfügt, vgl. Heghmanns, ZRP 1999, 299; v. Selle, JR 2002, 227 (231). Bönke, DAR 2000, 385 (387) berichtet über einen Pilotversuch in Großbritannien, bei dem eben dies der Grund für die geringe Anwendung des Fahrverbots gewesen war. 23 Stöckel, BA 2001, 99 (100) verweist auf den überlasteten Amtsrichter, der sich auf die Einkommensangaben im Ermittlungsverfahren stützt, während der Staatsanwalt mit diesbezüglichen Beweisanträgen „rasch in Ungnade fallen“ würde. 24 Fehl, DAR 1998, 379 (382); Kilger, ZRP 2009, 13 (14). 25 Zu den befürchteten Belastungen der Gerichte bei einer rechtsmittelfesten Begründung der Strafartwahl und der Dauer des Fahrverbots: Albrecht, NJ 2000, 449 (452); Bittmann, NJ 2001, 509 (513); Scheffler, BA 2001, 113 (114); Weßlau, StV 1999, 278 (280).
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fe zu begründen, weil der Täter sich mit der Tat eben auch als nachlässiger oder leichtsinniger Kraftfahrer gezeigt hat. Damit ist bereits indiziert, dass es zur spezialpräventiven Einwirkung auf diesen Täter eines Fahrverbots bedarf. Ist hingegen zu begründen, dass es gerade eines Fahrverbots (anstelle einer Geldstrafe) bedarf und dass dieses zur Einwirkung auf den Täter von längerer Dauer sein muss, dann sind ganz besondere täterbezogene Feststellungen notwendig. Schließlich kann auch das Argument der persönlichen Betroffenheit (die bei der Geldstrafe durch Zahlung von dritter Seite umgangen werden könne) nicht verfangen. Denn die Wirkungen eines Fahrverbots können in vergleichbarer Weise umgangen werden, indem der Täter Dritte einsetzt: z. B. den angestellten Chauffeur (beim vermögenden Täter) oder beauftragte Familienangehörige.26 Es ist zudem nicht ersichtlich, dass es in der Praxis ein Verlangen für eine Sanktionierung gibt, die mit einer Geldstrafe nebst dreimonatigem Fahrverbot nicht abgedeckt werden kann, so dass nur die unliebsame kurzfristige Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter übrig bleibt. Die Statistik lässt schon kein Bedürfnis nach einem mehr als dreimonatigen Fahrverbot erkennen. So ist der Anteil der Fahrverbote von 3 Monaten (bezogen auf alle verhängten Fahrverbote) in dem Zeitraum von 2002 – 2010 kontinuierlich von 48 % auf zuletzt 42 % zurückgegangen.27 Und soweit ein dreimonatiges Fahrverbot auffallend häufig verhängt wird, sind gerade die in § 44 Abs. 1 S. 2 StGB genannten Regelbeispielsfälle aus §§ 316, 315c StGB betroffen. In diesen Fällen dürfte jedoch meist die Fahrerlaubnis bereits vorläufig entzogen worden sein, so dass das Fahrverbot zum Verurteilungszeitpunkt im Hinblick auf § 51 Abs. 1, 5 StGB ohnehin nicht spürbar wird.28 So ist unklar, inwiefern in diesen Fällen das angestrebte Fahrverbot von bis zu sechs Monaten (womöglich noch als eine alleinige Hauptstrafe) eine verbesserte Einwirkung auf den Täter versprechen soll.29 Hält man an dem Verkehrsbezug zur Verhängung der Hauptstrafe Fahrverbot fest, um besser spezialpräventiv auf den Täter einwirken zu können, so muss belegt werden, dass gerade diese Tätergruppe einer solch verstärkten Beeinflussung überhaupt bedarf. Als Verkehrsstraftäter kommen – zumindest zu einem weit überwiegenden Teil – Personen in Betracht, die beruflich auf die Fahrerlaubnis angewiesen sind und wirtschaftlich in geordneten Verhältnissen leben.30 Zu belegen wäre also, dass gerade diese Klientel durch die bestehenden Sanktionsmöglichkeiten spezialpräven26 Schäpe, Veröffentl. des 39. DVGT, S. 90 (92 u. 96); Streng, ZStW 111 (1999), 827 (854); von Selle, JR 2002, 227 (231). 27 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, R 3, 2002 – 2010, jew. Tab. 5. 3. 28 S. dazu auch Bittmann, NJ 2001, 509 (513). 29 Die Entwürfe ab der 14. Legislaturperiode sehen eine nicht anrechenbare Mindestdauer von einem Monat Fahrverbotsdauer vor (jew. § 51 Abs. 4 und 5). Um dieses Ergebnis zu erzielen, bedarf es jedoch keiner Aufstufung des Fahrverbots zur Hauptstrafe und auch keiner Verlängerung von bis zu sechs Monaten. 30 Fehl, DAR 1998, 379 (383).
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tiv nicht angemessen erfasst werden kann und über die erweiterte Hauptstrafe Fahrverbot bessere Effekte zu erzielen sind.31
II. Das Fahrverbot als Hauptstrafe bei allgemeiner Kriminalität Die Entwurfsbegründungen, die sich für ein Fahrverbot als Hauptstrafe auch bei allgemeiner Kriminalität aussprechen, stützen sich – ebenso wie die Entwürfe zum Fahrverbot als Hauptstrafe bei Taten mit Verkehrsbezug – auf die (vermeintlichen) Vorteile des Fahrverbots im Verhältnis zur Geldstrafe32 und wollen deshalb diese „Vorzüge des Fahrverbots in seiner ganzen Breite ausnutzen“.33 Dafür sollen unterschiedliche praktische Bedürfnisse sprechen (dazu nachfolgend unter 2.). Vor allem aber seien die Einwände, die gegen diese Ausweitung sprechen, nicht stichhaltig (s. im Folgenden 1.). 1. Einwände gegen die Ausweitung auf die allgemeine Kriminalität Der Einwand, eine Sondersanktion für Fahrerlaubnisinhaber zu schaffen,34 wird von den Befürwortern eines Fahrverbots für die allgemeine Kriminalität abgelehnt. Diesen Charakter habe die Strafe bereits jetzt, etwa wenn bei mittäterschaftlicher Begehung einer Zusammenhangstat nur der Fahrerlaubnisinhaber mit einem Fahrverbot bedacht werde35 oder eine Verkehrsstraftat von einer Person begangen werde, die über keine Fahrerlaubnis verfüge.36 Auch der weitere Einwand der fehlenden Akzeptanz in der Rechtsgemeinschaft, da es an einer Entsprechung von Tat und Sanktion fehle, überzeuge nicht, weil ein solcher Tatbezug auch bei den anderen Hauptstrafen fehle.37 Die Freiheitsstrafe werde schließlich nicht nur bei Delikten zum Schutze der Fortbewegungsfreiheit verhängt.38 Es sei davon auszugehen, dass das Fahrverbot nach einer Übergangszeit – genauso wie andere Sanktionen auch – im Rechtsbe31 Asholt, Straßenverkehrsstrafrecht, 2007, S. 251 f. befürchtet hingegen eine unerwünschte Stigmatisierung und eine Erschwerung des Arbeitsweges, „was zu den Befunden der Kommission [zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems] über die positiven Auswirkungen der Arbeit diametral in Widerspruch steht.“ 32 Siehe zuvor unter I. 2. mit Fn. 22. 33 BT-Drs. 16/8695, S. 7; Ähnlich: BR-Drs. 449/99, S. 14, 637/00, S. 10 und 759/00, S. 16 („Denkzettelwirkung auch für andere Straftaten fruchtbar … machen“). 34 So etwa Weßlau, StV 1999, 278 (285). 35 So z. B. König, NStZ 2001, 6 (9). 36 So wortgleich die Entwurfsbegründungen in BR-Drs. 449/99, S. 15, 637/00, S. 10, 759/ 00, S. 17. 37 BT-Drs. 15/2725, S. 40 (Bedenken des Bundesrats); 16/8695, S. 7. S. zum Argument des fehlenden spiegelnden Charakters der Strafe bereits oben vor I. mit Fn. 5. 38 Von der Aa/Pöppelmann, Jura 1999, 462.
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wusstsein der Bevölkerung verankert sein wird.39 Im Übrigen stelle das Fahrverbot keine von den anderen Hauptstrafen abweichende Sanktion dar. Die Fahrverbotsstrafe sei ebenso wie die Geld- oder Freiheitsstrafe in ihrem „Zugriff … identisch“, nämlich als „Beschränkung der (Handlungs-)Freiheit“40. Zudem könne die „Fahrfreiheit“ nicht nur durch ein Fahrverbot, sondern mittelbar ebenso durch eine Geldstrafe (und damit bereits de lege lata) sanktioniert werden, etwa wenn der Verurteilte zur Begleichung der Strafe zum Verkauf des Fahrzeugs gezwungen sei.41 Bei dieser Argumentation wird jedoch außer Acht gelassen, dass Freiheitsstrafe und Geldstrafe Sanktionen darstellen, die in eine Rechtssphäre eingreifen, die jedem Bürger zur Verfügung steht, was beim Fahrverbot gerade nicht der Fall ist. Wenn die Strafe im Grundsatz die Tatschuld widerspiegeln soll (wobei die präventiven Zwecke im Rahmen des tatschuldbezogenen Spielraums zu berücksichtigen sind), dann muss die so ermittelte Strafhöhe in einer Strafart zum Ausdruck gebracht werden, die in der Möglichkeit einer Strafempfindlichkeit für alle Täter gleichermaßen gilt,42 sie also alle gleichermaßen treffen kann (Belastungsgleichheit). Anderenfalls, also dann, wenn die Strafe in einer bestimmten Strafart nur für einen ausgesuchten Täterkreis gelten kann, fehlt die grundsätzliche Vergleichbarkeit der Bestrafung. Bei der Prüfung der Verfassungswidrigkeit der Vermögensstrafe hat das Bundesverfassungsgericht den gesetzgeberischen Auftrag bei der Festlegung neuer Sanktionen wie folgt umrissen: „Schuldprinzip und Einzelfallgerechtigkeit auf der einen Seite sowie Rechtsfolgenbestimmtheit und Rechtssicherheit auf der anderen Seite müssen abgewogen und in einen verfassungsrechtlich tragfähigen Ausgleich gebracht werden, der beiden für das Strafrecht unverzichtbaren Prinzipien möglichst viel an Substanz belässt. Der Strafgesetzgeber erfüllt seine Pflicht, wenn er durch die Wahl der Strafandrohung sowohl den Strafrichter als auch die betroffenen Bürger so genau orientiert, dass seine Bewertung der tatbestandlich beschriebenen Delikte deutlich wird, der Betroffene das Maß der drohenden Strafe abschätzen kann und dem Strafrichter die Bemessung einer schuldangemessenen Reaktion möglich ist.“43 Ist es nun so, dass die Wahl der Fahrverbotsstrafe gerade dort geboten ist, wo mit den bestehenden Strafen nur unzureichend oder mit negativen Folgewirkungen vorgegangen werden kann, aber – wegen des Fahrerlaubnisbesitzes – die Möglichkeit der effektiven Bestrafung durch ein Fahrverbot besteht, dann ist gerade nicht bestimmt, wie derjenige effektiv bestraft werden kann, der über das Fahrverbot mangels Fahrerlaubnis nicht erreicht werden kann, bei dem die bestehenden Strafen aber in gleicher Weise unzureichend wirken. Soll er nun mit einer erhöhten ineffektiven Geldstrafe oder durch eine kurzfristige Freiheitsstrafe mit negativen Konsequenzen bedacht werden und (unterstellt, 39
S. Fn. 36. König, NStZ 2001, 6 (8). 41 König, NStZ 2001, 6 (9). 42 Röwer, BA 2001, 90 (92). S. auch Weßlau, StV 1999, 278 (282), die zudem deutlich macht, dass sich die Strafart nicht danach richten kann, was am effektivsten als vollstreckbar erscheint. 43 BVerfG, NJW 2002, 1779 (1780). 40
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eine Anrechnung wäre möglich) nach welchen Maßstäben richtet sich dieser auszugleichende Effektivitätsvorteil einer nicht möglichen Fahrverbotsstrafe? Eine solch fehlende Belastungsgleichheit44 weist die geltende Nebenstrafe des Fahrverbots nicht auf. Sie wird in Abhängigkeit zur Hauptstrafe bestimmt und kann nur verhängt werden, wenn die auf den Straßenverkehr bezogene Tat verdeutlicht, dass der Täter ergänzend insoweit einer spezialpräventiven Einwirkung bedarf, um auf diese Weise sein künftiges Legalverhalten im Straßenverkehr zu beeinflussen.45 Demnach ist es nur folgerichtig, dass auf denjenigen, der ohnehin nicht mit einem Kraftfahrzeug am Verkehr teilnehmen darf, auch nicht erzieherisch mit einem Fahrverbot eingewirkt wird. Und bei Mittätern lässt eben nur derjenige, der das Fahrzeug geführt hat,46 durch die Tat erkennen, dass ein Bedürfnis zur Verhängung einer zusätzlichen Sanktion besteht. Wird der Gedanke der Belastungsgleichheit und damit die „einheitliche Währung“47 für die Hauptstrafen durch neu geschaffene Sonderstrafen48 durchbrochen, so entsteht der Eindruck, dass die Strafe nicht mehr durch die Tat, sondern durch besondere Eigenschaften oder Befugnisse des Täters bestimmt wird. Eine solch fehlende Vorhersehbarkeit der Sanktion führt zu Akzeptanzproblemen49 in der Gesellschaft – die durch eine Gewöhnung nicht überspielt werden können –, so dass die normstabilisierende Wirkung (positive Generalprävention) dieser Strafe ausbleibt. 2. Praxisbezogene Erfordernisse Für die Erstreckung des Fahrverbots auf die allgemeine Kriminalität werden auch praktische Bedürfnisse ins Feld geführt. So könnten auf diese Weise Probleme behoben werden, die mit dem fahruntauglichen Führen eines Fahrzeugs im Bahn-, Schiffs- und Luftverkehr bestehen. Denn dort könne derzeit weder eine Fahrerlaubnis entzogen, noch ein Fahrverbot verhängt werden, obwohl „in diesen Fällen regelmäßig alles dafür“ spreche, dass dieser Täter „auch für das Führen von Kraftfahrzeu44
Bedenken im Hinblick auf die Gleichheit z. B. auch bei Robra, Verhandlungen des 59. DJT 1992, O 16 f.; Schäpe, Veröffentl. des 39. DVGT, S. 90 (94 f.); Streng, ZStW 111 (1999), 827 (854); Jung (zitiert nach Julius, ZStW 111 [1999], 889 [907]) sowie die Nachweise in Fn. 42. 45 So befürchtet Beck, DAR 1992, 439 (440), dass die Ausweitung des Fahrverbots auf die allgemeine Kriminalität den erzieherischen Charakter des Fahrverbots bei Verkehrsstraftaten entwerten wird. 46 Tatbeteiligte, die das Kraftfahrzeug selbst nicht geführt haben, sind nicht in den Anwendungsbereich der §§ 44, 69 StGB einzubeziehen, Zopfs, NZV 2010, 179 ff. 47 Weßlau, StV 1999, 278 (282). 48 Orientieren diese sich nur an der Strafempfindlichkeit des Täters, ist die Frage zu stellen, wo denn die Grenze für solche Sondersanktionen zu ziehen wäre? Was ist mit Kontaktverboten zu den eigenen Kindern, mit der Wegnahme des Haustiers (Meyer/Riedmeyer/Rochow, Bericht über die Diskussion auf dem 39. DVGT, in zfs 2001, 145 [147]), einem Internetverbot (Kilger, ZRP 2009, 13 [14]) oder mit sonstigen Verboten im Freizeitbereich? 49 Streng, ZRP 2004, 237 (240 ff.).
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gen ungeeignet ist“50. Überzeugend ist diese Argumentation nicht. Schon wegen der unterschiedlichen Anforderungen an die Fahruntauglichkeit (so soll im Luftverkehr schon eine sehr geringe Alkoholisierung ausreichen) und die verschiedenartigen Fahrzeugtypen in den jeweiligen Verkehrsarten ist der Schluss auf die Ungeeignetheit als Kraftfahrer im Straßenverkehr nicht indiziert – diese Prüfung sollte der Fahrerlaubnisbehörde überlassen bleiben, die dieser Frage eingehender nachgehen kann. Und sollte dieser Täter tatsächlich ungeeignet sein, so wäre ein vorübergehendes Fahrverbot ohnehin nicht die treffende Sanktion. König meint, dass bereits gegenwärtig in der Praxis ein Verlangen bestehe, „in geeigneten Fällen über den engen Kreis von Taten hinauszugehen, die in einem funktionalen Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs stehen“ und verweist dazu auf die „mitunter gepflogene, nicht enge Auslegung“ der Rechtsprechung zur Zusammenhangstat.51 So hat der BGH zwar entschieden, dass eine Zusammenhangstat nur dann vorliege, wenn „das Führen des Kraftfahrzeuges dem Täter für die Vorbereitung oder Durchführung der Straftat oder anschließend für ihre Ausnutzung oder Verdeckung dienlich sein soll“52. Eine weitreichende Eingrenzung lässt diese Formulierung in der Tat nicht erkennen,53 da demzufolge ein Zusammenhang schon gegeben wäre, wenn der Tatort bequemer mit dem Kraftfahrzeug als mit dem Fahrrad auszukundschaften war. Jedoch findet diese weite Auslegung in der tatrichterlichen Rechtsprechung keinen Niederschlag,54 so dass auch kein entsprechendes praktisches Bedürfnis zu Fahrverboten bei Taten ohne Verkehrsbezug zu erkennen ist. Der – auch in den Reformvorschlägen gestellten – Frage, ob und in welcher Weise die Zusammenhangstaten genauer zu bestimmen sind, wird im Folgenden unter III. nachgegangen. 3. Zum Schutzzweck des § 21 StVG Eher am Rande wird darüber diskutiert, welche Konsequenzen die Ausweitung des Fahrverbots auf die allgemeine Kriminalität für § 21 StVG mit sich bringt. So finden sich zwar Überlegungen zur fehlenden Kontrolldichte und zur Folgekrimina50 BT-Drs. 16/8695, S. 7; ähnlich bereits BT-Drs. 15/2725, S. 40; Stöckel, FS-Böttcher, S. 617 (626). 51 NZV 2001, 6 (9). 52 BGHSt 22, 328 (329). 53 Ausgegrenzt wurde damit vom BGH nur der Fall, dass dem Täter erst nachträglich zu Bewusstsein gelangt, dass er die durch die Fahrzeugbenutzung geschaffene Lage ausnutzt. Nach Fehl, DAR 1998, 379 (381) ist das Merkmal „durch die Rechtsprechungspraxis ohnehin bis an die Grenzen des Zulässigen verwässert worden“. 54 So bewegt sich der Anteil der Fahrverbote bei Straftaten ohne Straßenverkehrsdelikte im Zeitraum von 2002 bis 2010 – trotz der Einschränkung zum Fahrerlaubnisentzug bei Zusammenhangstaten durch BGHSt 50, 93 – nahezu gleichbleibend bei etwa 16,5 % aller Fahrverbote. Siehe auch die Einschätzung zur Rechtsprechungspraxis in BT-Drs. 15/2725, S. 23: „verfuhren die Gerichte insoweit eher zurückhaltend“.
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lisierung (durch § 21 StVG bei Nichtbeachtung),55 denen wiederum entgegengehalten wird, dass beide Einwände schon de lege lata erhoben werden müssten.56 Näher zu betrachten ist hier aber die Schutzrichtung des § 21 StVG, sofern das Fahrverbot auch bei allgemeiner Kriminalität verhängt werden würde. De lege lata dient der Tatbestand dazu, Gefahren vom Straßenverkehr abzuhalten, indem Kraftfahrzeugführer bestraft werden,57 die am Straßenverkehr teilnehmen, obwohl ihnen die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen (voraussichtlich) fehlt,58 oder die sich zumindest als gefährlich im Straßenverkehr59 erwiesen haben, so dass ihnen die Verkehrsteilnahme zeitweilig verboten wurde.60 Löst man sich beim Fahrverbot allerdings von dem Bezug der Straftat zum Verkehr, so würde bei einem Verstoß gegen das Verbot nur die Nichtbefolgung der Strafe bestraft werden. Insoweit würde § 21 StVG also allein dazu dienen, den Vollzug einer Sanktion mittels einer Strafdrohung zu sichern. Ein solcher Schutzzweck wäre nicht nur für den Binnenbereich des Tatbestandes atypisch.61 Diese Form der Sanktionssicherung wäre überhaupt ungewöhnlich.62 Denn wer die im Verhältnis zum Fahrverbot mildere Geldstrafe nicht zahlt oder sich dem Vollzug der strengeren Freiheitsstrafe entzieht, wird allein deshalb nicht bestraft. Ob Letzteres dem Selbstbegünstigungsinteresse geschuldet ist, dürfte zwar fraglich sein.63 Eine Bestrafung des sich einer Vollstreckung entziehenden Verurteilten müsste – bei Ausweitung des Fahrverbots auf die allgemeine Kriminalität – gleichwohl im Kontext mit einer Regelung der Vollstreckungsvereitelung (durch den Verurteilten)
55 Fehl, DAR 1998, 379 (383); Schäpe, Veröffentl. des 39. DVGT, S. 90 (92); Streng, ZStW 111 (1999), 827 (855). 56 Goydke (zitiert nach Julius, ZStW 111 [1999], 889 [905]); König, NZV 2001, 6 (9). Demgegenüber verweist Schäpe , Veröffentl. des 39. DVGT, S. 90 (92) wiederum darauf, dass – bezogen auf die Neigung zur Befolgung des Verbots – der klassische Verkehrssünder nicht mit der Tätergruppe vergleichbar wäre, die bei allgemeiner Kriminalität mit einem Fahrverbot bedacht werden soll. 57 Die Hessische Kommission „Kriminalpolitik“ hat die Umwandlung des § 21 StVG in eine Ordnungswidrigkeit gefordert, weil der Tatbestand reines Verwaltungsunrecht pönalisiere, StV 1992, 202 (205). 58 Der Täter hat noch keine Fahrerlaubnis oder ihm wurde die Fahrerlaubnis (vorläufig) entzogen bzw. der Führerschein wurde nach § 94 StPO beschlagnahmt. 59 Zur Gefährlichkeit des Kraftfahrzeugführers bei Zusammenhangstaten s. nachfolgend unter III. 60 Anderer Ansicht Mitsch, NZV 2007, 66 (68), der nur die ungeeigneten Kraftfahrzeugführer als gefährlich ansieht. 61 Röwer, BA 2001, 90 (94 f.). 62 Schäpe, Veröffentl. des 39. DVGT, S. 90 (92); Weßlau, StV 1999, 278 (285 f.). Soweit man demgegenüber auf die Sicherung des Maßregelvollzugs in §§ 145a, 145c StGB verweist, ist zu bedenken, dass die Missachtung der Maßregeln wiederum mit einer Gefährlichkeit des Täters und einer daraus folgenden abstrakten Gefährdung der Allgemeinheit verbunden ist – auch hier beschränkt sich der Zweck der Bestrafung also nicht auf einen bloßen Sanktionsungehorsam. 63 Weßlau, StV 1999, 278 (285 in Fn. 62).
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bei der Geld- und Freiheitsstrafe gelöst werden. Dies ist von den Befürwortern eines erweiterten Fahrverbots bisher nicht bedacht worden und wohl auch nicht gewollt.
III. Das Fahrverbot als Hauptstrafe bei sog. Zusammenhangstaten Ist für das Fahrverbot an dem Verkehrsbezug der Straftat festzuhalten, stellt sich die Frage, inwieweit dieser bei den sog. Zusammenhangstaten64 – gerade vor dem Hintergrund der bereits angeführten weiten Auslegung durch die Rechtsprechung – noch gewahrt ist. Wer als Kfz-Sachverständiger nach einem Verkehrsunfall, der von anderen Personen gestellt wurde, um Schadensersatzansprüche gegen eine Versicherungsgesellschaft zu erheben, in Kenntnis dieses Umstandes ein Schadensgutachten für den Anspruchsteller erstattet, hat sich damit selbst nicht als gefährlich im Straßenverkehr gezeigt. Gleichwohl hat das OLG München dem Gutachter unter Hinweis auf die Zusammenhangstat die Fahrerlaubnis mit folgender Begründung entzogen: „Der Begriff ,Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs‘ wird von der Rechtsprechung weit ausgelegt … Es genügt Benutzen des Fahrzeugs zur Vorbereitung, Durchführung, Deckung oder Ausnutzung der Tat. Der Zusammenhang mit dem Führen erfordert nicht notwendig eigenhändiges Führen … Besteht der erforderliche Zusammenhang nur in der Person eines Mittäters, so ist er auch den anderen zuzurechnen, deren Tatbeitrag nach dem gemeinsamen Tatplan nicht im Führen eines Kraftfahrzeugs besteht“.65 Zusammengefasst genügt also ein Benutzen eines Kraftfahrzeugs durch einen Mittäter im Vorbereitungsstadium der Tat, um den Zusammenhang der Straftat mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs zu bejahen. Da die Verwendung eines Kraftfahrzeugs durch den oder die Täter im Vorfeld nahezu aller Tatkonstellationen der allgemeinen Kriminalität möglich ist, bliebe demzufolge bei § 44 StGB von einem begrenzenden Verkehrsbezug, der einen „Denkzettel auf schuldhaft begangene Verkehrszuwiderhandlungen“66 gewährleisten soll, nahezu nichts mehr übrig. Vor diesem Hintergrund ist wiederholt eine begrenzende Auslegung der Zusammenhangstat gefordert worden,67 was in die Gesetzentwürfe zur Ausweitung des Fahrverbots aus den Jahren 2002 – 2008 zwar aufgenommen, aber mit einer ganz anderen Zielrichtung fortgeführt worden ist. 64 Ebenso wie bei § 69 StGB muss die Tat entweder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers (etwa der zu Fuß flüchtende Unfallflüchtige) oder beim Führen (etwa § 21 StVG oder § 240 StGB) oder eben im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs begangen worden sein. 65 NJW 1992, 2777 (2777). 66 So die Begründung zum Fahrverbot im E 1962 (S. 176); s. auch Lackner, DAR 1958, 286 (288) zu den Beratungen in der Großen Strafrechtskommission. 67 Kulemeier, NZV 1993, 212 (215); Schäpe, Veröffentl. des 39. DVGT, S. 90 (95 f.). Weitere Nachweise bei LK-Geppert, StGB, 12. Aufl. 2008, § 69 Rn. 33 (mit Fn. 158) und Rn. 34 (mit Fn. 166).
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Anknüpfend an die weite Auslegung der Zusammenhangstat und aufbauend auf entsprechenden Empfehlungen der „Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems“ sehen die Entwürfe in der 14. und der 15. Legislaturperiode jeweils neben §§ 315c, 316 StGB einen weiteren Regelfall für ein Fahrverbot vor, der die Zusammenhangstaten erfassen soll: „Ein Fahrverbot ist in der Regel anzuordnen, wenn der Täter … wegen einer anderen Straftat verurteilt wird, zu deren Begehung oder Vorbereitung er ein Kraftfahrzeug als Mittel der Tat geführt hat“.68 Hier ließe sich zunächst fragen, inwiefern diese Formulierung gegenüber der vom BGH vorgegebenen Auslegung69 enger zu verstehen ist.70 Außerdem ist zu bedenken, dass nur ein typischer Anwendungsfall der Zusammenhangstaten benannt wird, eine Begrenzung der Zusammenhangstat als solcher gelingt damit nicht. Dies war allerdings auch nicht gewollt. Vielmehr streben die Entwürfe das Gegenteil, nämlich eine Zunahme der Fahrverbote bei solchen Taten an. Die Regelanordnung soll die bisher „zurückhaltend“ agierenden Gerichte dazu ermuntern, vermehrt auch bei Zusammenhangstaten auf ein Fahrverbot zu erkennen, weil der Täter „dort getroffen [wird], wo er besonders strafempfindlich ist“.71 Zielrichtung und Begründung dieser Vorschrift unterscheiden sich damit kaum noch von der Argumentation, mit der für eine Erstreckung des Fahrverbots auf die allgemeine Kriminalität gefochten wird. Sachlich führen diese Entwürfe mit dieser Regelanordnung durch die Hintertür ein, was sie an der Vordertür (keine Ausweitung auf die allgemeine Kriminalität) bekämpfen. Auch der Bundesratsentwurf, der sich für eine Erstreckung des Fahrverbots auf die allgemeine Kriminalität ausspricht, setzt sich für die oben angeführte Regelanordnung bei den Zusammenhangstaten ein. Ausgangspunkt ist hier aber nicht eine zu weit geratene Rechtsprechung zur Zusammenhangstat, sondern die (zu enge) Rechtsprechung des Großen Senats für Strafsachen zur Ungeeignetheit bei § 69 StGB.72 Indem der Senat betont, dass sich gerade aus der Tat die fehlende Eignung als Kraftfahrer ergeben muss, kommt es bei § 69 StGB auf einen engen Verkehrsbezug bei der Auslegung der Zusammenhangstat nicht mehr entscheidend an. Beim Fahrverbot besteht die Problematik jedoch unverändert fort. Die angestrebte Regelanordnung will deshalb diese Fälle der Zusammenhangstaten, bei denen „keine Entziehung der Fahrerlaubnis mehr angeordnet werden darf“73, einem Fahrverbot von bis zu einem 68 BT-Drs. 14/9358, S. 3; BT-Drs. 15/2725, S. 7 f. Ebenso auch der Entwurf des Bundesrats BT-Drs. 16/8695, S. 5, allerdings mit abweichender Zielsetzung, s. dazu nachfolgend im Text. 69 BGHSt 22, 328 (329): „das Führen des Kraftfahrzeuges [soll] dem Täter für die Vorbereitung oder Durchführung der Straftat oder anschließend für ihre Ausnutzung oder Verdeckung dienlich sein“. 70 Sowada, BA 2004, 151 (154), der mit „entsprechendem ,guten Willen‘“ den Besitz des Kraftfahrzeugs ausschließen will, weil damit das Fahrzeug nicht als Tatmittel geführt worden sei. Ergänzen ließe sich, dass hier zudem die Mittäterschaftsfälle ausgenommen werden, da das Fahrzeug vom Verurteilten selbst geführt werden muss. 71 BT-Drs. 14/9358, S. 15; BT-Drs. 15/2725, S. 23. 72 BGHSt 50, 93; vgl. dazu z. B. LK-Geppert, § 69 Rn. 34b/34c. 73 BT-Drs. 16/8695, S. 8.
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Jahr (!) zuführen.74 – Geht man jedoch davon aus, dass gerade bei den Zusammenhangstaten eine eher kurze Sperrfrist (§ 69a StGB) verhängt wird, unterläuft dieser Vorschlag faktisch die Rechtsprechung des Großen Senats. Zwar scheidet ein Fahrerlaubnisentzug aus, über das erweiterte Fahrverbot wird der Täter aber für einen vergleichbaren Zeitraum vom Verkehr ferngehalten. Im Übrigen unterstellt die Regelanordnung, dass derjenige, der wegen einer Zusammenhangstat zwar nicht als ungeeignet angesehen werden kann, typischerweise aber ein Fahrverbot „verdient“ hat. Deutlich wird damit einmal mehr, dass Fahrerlaubnisentzug (obwohl eine prognoseabhängige Maßregel, die auf der Gefährlichkeit bei der tatrichterlichen Entscheidung abstellt) und repressives Fahrverbot als ein Mehr oder Weniger auf einer linearen Stufenleiter der verkehrsrechtlichen Sanktionen missverstanden werden. Wer – wie die angesprochenen Entwürfe – das Fahrverbot von den verkehrsspezifischen Gefahren löst (sei es durch Ausweitung auf die allgemeine Kriminalität, sei es durch die Regelanordnung eines Fahrverbots für Zusammenhangstaten ohne jegliche Verkehrsgefahren), trennt sich (offen bzw. verdeckt) von der historischen Wurzel einer Denkzettelstrafe für Verkehrssünder und wirft bisher nicht gelöste Fragen zum Schutzzweck des § 21 StVG auf (s. oben II. 3.). Auf diese Weise wird aber keine Anwendungsunsicherheit oder bedenkliche Auslegung75 beseitigt, sondern auf nicht geklärter Grundlage eine Erweiterung des Anwendungsbereichs einer Sanktion angestrebt. Mit einer solchen Regelanordnung werden die Probleme nicht beseitigt, sondern potenziert – sachlich wird der zweite vor dem ersten Schritt gemacht. Vor Schaffung einer Regelanordnung für ein Merkmal ist dessen Anwendungsbereich generell festzulegen. Das heißt: De lege lata ist nach einem tragfähigen Kriterium zur Bestimmung der Zusammenhangstat zu fragen. Dieses kann – nach dem bisher Gesagten – nur eine Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs sein.76 Als Beispiel sei der Fall genannt, in dem das Führen des Kraftfahrzeugs mit der Tat in einem funktionalen Zusammenhang steht und mit Verkehrsgefahren77 verbunden ist. Zu denken ist auch an den Fall, bei dem die Art des Führens des Kraftfahrzeugs eine Straftat zur Folge hat (etwa eine verbal oder tätlich begangene Straftat im Rahmen eines Disputs über den zuvor an den Tag gelegten Fahrstil). Alternativ könnte de lege ferenda geklärt werden, ob der Kreis der im Gesetz (§§ 44, 69 StGB) genannten verkehrsbezogenen Taten (beim Führen, im Zusammenhang mit dem Führen und die Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers) zu erweitern ist, um z. B. auch verkehrsfeindliche Außeneingriffe zu erfassen. Erst wenn diese anstehenden Probleme bei der Zusammenhangstat gelöst sind, empfiehlt es sich, aufbauend auf diesem Merkmal eine Reform (hier die Regelanordnung) anzustoßen. 74 BT-Drs. 16/8695, S. 5: § 44 Abs. 1 zweiter Halbsatz iVm § 44 Abs. 2 Nr. 2 des Entwurfs. 75 So Röwer, BA 2001, 90 (96) zur Auslegung der Zusammenhangstaten. 76 Kulemeier, NZV 1993, 212 (215); Schäpe, Veröffentl. des 39. DVGT, S. 90 (96). 77 Da die StVO unterschiedliche Gefahrenstufen kennt, lassen sich auch Fälle ausmachen, in denen der Täter der Zusammenhangstat als Kraftfahrer ungeeignet ist, und solche, bei denen das nicht der Fall ist, aber auf ein Fahrverbot erkannt werden kann.
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IV. Das Fahrverbot (Nebenstrafe) mit einer Dauer von bis zu sechs Monaten Die Forderung, die Dauer des Fahrverbots (ob nun als Haupt- oder als Nebenstrafe) zu erhöhen, wird kaum hinterfragt. Die Entwürfe stützen sich zur Begründung der Verlängerung des Fahrverbots auf die erforderliche Schließung einer Lücke, die zwischen den Anwendungsbereichen des § 44 und des §§ 69, 69a StGB bestehe.78 In der Praxis werde es „als misslich empfunden, dass zwischen der bisherigen Höchstgrenze des Fahrverbotes (drei Monate) und der Mindestsperrfrist nach § 69a StGB (sechs Monate) keine entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten bestehen.“79 Wie bereits oben unter I. 2. dargelegt, lässt sich aus der Rechtspflegestatistik allerdings kein Bedürfnis der Praxis nach längeren Fahrverboten ablesen. Auffallend häufig findet sich ein Fahrverbot von drei Monaten nur bei den Trunkenheitsfahrten. Hier wäre zunächst zu untersuchen, ob die Wahl der Höchstdauer in diesen Fällen nicht auch davon beeinflusst war, dass diese Dauer ohnehin schon durch die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis abgegolten ist.80 Es ist überdies nicht treffend, dass die Mindestdauer der Fahrerlaubnisentziehung nur sechs Monate betragen kann, es also eine Lücke zwischen drei und sechs Monaten gebe, in der weder ein Fahrverbot noch ein Fahrerlaubnisentzug mit entsprechender Sperrfrist angeordnet werden könne. Gerade in den Fällen der Trunkenheitsfahrt und der Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c Abs. 1 Nr. 1a StGB wird bei einem Verdacht auf absolute Fahruntüchtigkeit typischerweise die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen. Damit verkürzt sich aber die mögliche Mindestsperrfrist von sechs auf bis zu drei Monate, da § 69a Abs. 4 StGB eine Anrechnung der Zeit der vorläufigen Entziehung für den Fristenrahmen vorsieht. Der Tatrichter hat also in den typischen Fällen eines in Frage stehenden Fahrerlaubnisentzugs die Möglichkeit, die Fahrerlaubnis für eine Dauer von drei Monaten bis zu fünf Jahren zu entziehen. So lag z. B. im Zeitraum von 2002 bis 2010 der Anteil kurzfristiger Sperrfristen bei der Entziehung der Fahrerlaubnis durchgängig zwischen 21 und 23 % aller Sperrfristen.81 Davon, dass für den Zeitraum von drei bis sechs Monaten keine Sanktionsmöglichkeiten bestehen, kann also nicht die Rede sein. Die behauptete Sanktionslücke existiert nicht.
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Ebenso Bönke DAR 2000, 385 (386); v. Selle, JR 2002, 227 (231). Bedenken bei Sowada, BA 2004, 151 (152), der die fehlende Differenzierung (s. dazu z. B. auch die nachfolgende Fn.) zwischen Maßregel und Strafe rügt. 79 BT-Drs. 14/9358, S. 13; ähnlich BT-Drs. 15/2725, S. 22. Beide Entwürfe schließen sich offenbar an die Ausführungen von Meyer in den Beratungen der „Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems“ an, der dort von einer „Sanktionslücke“ gesprochen hatte und sogar eine Ausdehnung auf ein Jahr empfohlen hat, um die Entziehung der Fahrerlaubnis durch ein Fahrverbot „angemessen“ zu ersetzen, s. Abschlussbericht der Kommission, S. 31. 80 Will das Gericht diese Abgeltung vermeiden, so kann es anordnen, dass die Anrechnung unterbleibt, § 51 Abs. 1 S. 2 StGB. 81 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, R 3, 2002 – 2010, jew. Tab. 5. 3.
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Wird nun gleichwohl die Fahrverbotsdauer von drei auf sechs Monate verlängert, so muss der Tatrichter künftig in mehr als einem Fünftel aller Fälle, in denen über eine Fahrerlaubnisentziehung zu entscheiden ist, festlegen, ob die Eignung als Kraftfahrer für weitere drei bis sechs Monate zu versagen ist oder ob alternativ ein Fahrverbot mit gleicher Frist82 angemessen ist. Da die Fristen und damit das Verbot, mit einem Kraftfahrzeug am Straßenverkehr teilzunehmen, identisch sind, dürfte dem Tatrichter die Entscheidung für eine fehlende Eignung und gegen ein Fahrverbot schwer fallen. Damit steht zu befürchten, dass der kurzfristige Fahrerlaubnisentzug faktisch unterlaufen wird. Ob dies bei den Entwurfsvorschlägen bedacht wurde, ist nicht ersichtlich.
V. Fazit Der Blick auf die zahlreichen Entwurfsvorschläge zur Erweiterung des Fahrverbots hat gezeigt, dass die dort behauptete Nützlichkeit einer solchen Sanktion in jeder Hinsicht auf tönernen Füßen steht, während die bei § 44 StGB tatsächlich bestehenden Abgrenzungsprobleme nicht gelöst sind. Vor diesem Hintergrund ist zu hoffen, dass eine künftige Reform des Fahrverbots ausgewogener und durchdachter unter Berücksichtigung aller „Risiken und Nebenwirkungen“ angegangen wird. Die bisher dazu vorgelegten Gesetzentwürfe erfüllen diese Anforderung nicht.
82 Hier müsste sich das Gericht freilich auf § 51 Abs. 1 S. 2 StGB stützen, um auch einen spürbaren Sanktionseffekt zu erzielen.
V. Strafverfahrens- und Polizeirecht
Die Abwertung des Rechts auf konfrontative Zeugenbefragung Von Rafael Alcácer Guirao*
I. Einleitung Um ein faires Verfahren (Art. 6 I EMRK) zu ermöglichen, hat die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) dem Recht auf konfrontative Zeugenbefragung eine herausragende Bedeutung gegeben. Dieses wurde als das Recht gestaltet, „Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen“ (Art. 6 III d EMRK). Durch den Einfluss des angelsächsischen kontradiktorischen Verfahrens, fasst das Straßburger Gericht dieses Recht nicht nur als eine Voraussetzung für die korrekte Beweismittelwertung, d. h. als epistemologische Gewährleistung auf, sondern auch als eine Verteidigungsgarantie. Es erscheint paradox, dass ausgerechnet Großbritannien als signifikantester Repräsentant des kontradiktorischen Verfahrens innerhalb der Staaten, die die EMRK unterzeichnet haben, dazu beigetragen hat, die Relevanz des Fragerechts in dem am 15. Dezember 2011verkündeten Urteil der großen Kammer, Al-Khawaja and Tahery v. The United Kingdom, zu mindern. Intention dieses Aufsatzes ist es, die Bestimmungen dieser Wertminderung zu analysieren. Im Rahmen dieser Analyse, möchte ich auch die „traditionelle“ Auffassung des Straßburger Gerichts der des spanischen Verfassungsgerichts (TC) gegenüberstellen. Das in Art. 6 III d EMRK enthaltene Recht basiert auf der Annahme, dass sich Urteile, durch die sich regelmäßig verändernde Beweisführungspraxis im Gerichtsverfahren, auf Zeugenaussagen aus dem Vorverfahren begründen, ohne dass der Zeuge dazu kommt, seine Aussage in der mündlichen Verhandlung zu wiederholen. Dies wird durch verschiedene Umstände bedingt sein, von denen jeder einzelne spezifische Probleme mit sich bringt: Der Tod des Zeugen, die Unmöglichkeit, ihn ausfindig zu machen, die Notwendigkeit, seine Identität vor Bedrohungen zu schützen, oder um, wenn es sich um das Opfer eines Sexual- oder Gewaltdelikts handelt, seine sekundäre Viktimisierung zu verhindern, usw.1 Im Folgenden werde ich mich – von der Ebene der beteiligten Interessen aus – auf die Analyse des einfachsten Sachverhalts begrenzen: der Unmöglichkeit des Zeugen, bei Gericht zu erscheinen. Eben* 1
sen.
Ins Deutsche übersetzt von Ferdinand Nehm. Vgl. EGMR 13. 3. 2012, Karpenko v. Russia, § 70 mit weiteren Rechtsprechungshinwei-
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so werde ich mich des besonderen Sachverhalts annehmen, wo ein Mitangeklagter sich vor Gericht nach einer ersten beschuldigenden Aussage gegen einen anderen Angeklagten auf sein Aussageverweigerungsrecht beruft. Dies erweist sich auf Grund der Unterschiede zwischen der Jurisprudenz des TC und der des EGMR als betrachtenswert.
II. Das Fragerecht beim EGMR und TC 1. Gemeinsamkeiten: Unmöglichkeit der Präsenz des Zeugen bei der mündlichen Verhandlung Der TC verfolgt ein weites Konzept der Unschuldsvermutung: Sie umfasst nicht nur die Erfordernis, das Urteil müsse auf ausreichenden Beweisen basieren und so jeden vernünftigen Zweifel ausschließen. Die Beweise müssen außerdem in zulässiger Weise – sprich grundrechtskonform – erhoben worden und gültig – sprich das Unmittelbarkeitsprinzip und Fragerecht erfüllend – in die Verhandlung eingeführt worden sein.2 Die für das Urteil ausschlaggebenden Defizite bei der konfrontativen Zeugenbefragung würden so nicht nur das fair trial Prinzip mit all’ seinen Garantien verletzen, sondern ebenso die Unschuldsvermutung. Von dem angesprochenen Erfordernis gültiger Beweisführung leitet sich eine grundsätzliche Regel – die so auch vom EGMR angenommen wird3 – ab. Nämlich dass solche Beweise, welche die Unschuldsvermutung entkräften könnten, nur solche sein können, die innerhalb der mündlichen Verhandlung praktiziert wurden, in dem Bereich wo die angesprochenen Unmittelbarkeits- und Fragerechte vollständig wirken.4 Nun erlaubt diese Regel jedoch Ausnahmen, zum Beispiel in Situationen, wo das Fernbleiben des Zeugen von einer mündlichen Verhandlung gerechtfertigt ist. Hier hat der TC zugelassen, dass belastende, in vorherigen Verfahrensphasen gemachte Aussagen Beweiswert haben können, solange das Fragerecht garantiert wurde.5 Die Auffassung des TC stimmt mit der des EGMR dahingehend überein, dass das in Art. 6 III d EMRK vorgesehene Recht, den Belastungszeugen Fragen zu stellen oder stellen zu lassen – als Ausdruck des Konfrontationsgrundsatzes – dann erfüllt ist, wenn dem Angeklagten angemessen und ausreichend Gelegenheit gegeben wird, die gegen ihn gemachte Aussage zu diskutieren und den Aussagenden zu befragen, sei es während dieser aussagt oder zu einem Zeitpunkt nach dem Prozess. Solange diesem hätte widersprochen werden
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Das spanische TC hat diese weit gefasste Auffassung der Unschuldsvermutung schon seit seinen ersten Verkündungen zu diesem Thema angenommen. (STC 31/1981, 28.7). 3 Zum Beispiel, EGMR 5. 12. 2002, Craxi v. Italy, § 85; 28. 2. 2006, Krasniki v. Czech Republic, § 75; vgl. Jung, GA 2009, 235 f. 4 SSTC 195/2002, 28.10; 206/2003, 1.12; 345/2006, 11.12. 5 Dies wurde zum ersten Mal in der STC 80/1986, 17.6. klar ausgeführt.
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können, wird das fair trial Prinzip nicht schon durch Aussagen verletzt, die in früheren Verfahrensphasen gemacht wurden.6 Um diese Ausnahme zu rechtfertigen, verlangen beide Gerichte das Vorliegen eines legitimen Grundes, aufgrund dessen der Zeuge bei der mündlichen Verhandlung nicht erscheint. Dem EGMR nach muss ein legitimer Grund vorliegen, welcher die Aussage bei der mündlichen Verhandlung verhindert,7 wobei das Gericht „alle zumutbaren Anstrengungen“ unternommen haben muss um den Zeugen vor Gericht zu laden.8 Auch der TC verlangt, das sich eine Situation ergibt, die es dem Zeugen oder Mitangeklagten unmöglich macht vor Gericht auszusagen; So hat das Gericht eine Unmöglichkeitssituation bejaht, wenn der Zeuge vor dem Prozess verstorben ist9 oder durch einen Unfall eine schwere Gehirnverletzung erlitten hat,10 ebenfalls, wenn der Zeuge nicht ausfindig gemacht werden konnte und das zuständige Justizorgan alles ihm Mögliche zur Lokalisation versucht hat.11 Abgelehnt hat es jedoch, dass Umstände wie eine Krankheit, die nur die Fortbewegung behindert, oder dass der Zeuge seinen Wohnsitz im Ausland hat, als „legitimer Grund“ angesehen werden um das Fernbleiben des Zeugen vor Gericht zu rechtfertigen.12 2. Unterschiede: Die „Gelegenheit“ zur konfrontativen Befragung wird garantiert. Die Attribution des Konfrontationsmangels als Wertungskriterium Diese Anforderung bildet die Grundvoraussetzung, um die sich das Verteidigungsrecht des Angeklagten dreht: Erst wenn dieser Gelegenheit hatte, der im Vorverfahren gemachten Aussage zu widersprechen, kann diese zum Belastungsnachweis erklärt werden. So hat der TC durch den Einfluss des EGMR das Fragerecht zur unverzichtbaren Gewährleistung eines fairen Verfahrens gemacht. Auch wenn in Ausnahmefällen auf andere Rechte der korrekten Beweisaufnahme, wie den Unmittelbarkeitsgrundsatz, verzichtet werden kann, kann eine Aussage nur dann zum Belastungsnachweis erklärt werden, wenn der Angeklagte die Gelegenheit bekommen hat, den Zeugen selbst zu befragen.
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EGMR 24. 11. 1986, Unterpertinger v. Austria, § 31; 20. 11. 1989, Kostovski v. The Netherlands §41; 27. 9. 1990, Windisch v. Austria, § 26; 20. 9. 1993, Saïdi v. France, § 43; 27. 2. 2001, Luca v. Italy, § 40. 7 EGMR 20. 11. 1989, Kostovski, § 41; 15. 6. 1992, Lüdi v. The Netherlands, § 47; 23. 4. 1997, Van Mechelen and others v. The Netherlands, § 51. 8 EGMR 27. 2. 2001, Luca v. Italy, § 37; 9. 11. 2006, Kaste and Mathisen v. Norway, § 48. 9 SSTC 10/1992, 10.1; 41/1991, 25.2; 209/2001, 22.10; 1/2006, 16.1. 10 STC 134/2010, 2.12. Im konkreten Fall wies die Kammer den Gerichtsmediziner an, am Wohnsitz des Angeklagten persönlich zu erscheinen und die Unmöglichkeit auszusagen zu bescheinigen. 11 STC 134/2010, 2.12. 12 SSTC 35/1995, 6.2; 345/2006, 11.12.
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Diese durch den EGMR festgelegte Regel erscheint besonders deutlich in Lucà v. Italy: „Es kann sich unter Umständen als erforderlich erweisen, auf Angaben zurückzugreifen, die während der Ermittlungsstadien gemacht worden sind (…) Wenn dem Angeklagten eine adäquate und angemessene Gelegenheit gegeben worden ist, die Angaben auf die Probe zu stellen, entweder wenn die Angaben gemacht worden sind oder zu einem späteren Zeitpunkt, verletzt ihre Zulassung als Beweismittel für sich genommen nicht Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK. Im Gegensatz hierzu sind die Verteidigungsrechte jedoch dann, wenn eine Verurteilung allein oder zu einem entscheidendem Grad auf Aussagen beruht, die von einer Person gemacht worden sind, hinsichtlich derer der Angeklagte weder während der Ermittlungen noch während des gerichtlichen Hauptverfahrens eine Gelegenheit hatte, sie zu prüfen oder prüfen zu lassen, in einem Ausmaß beschränkt, das mit den von Art. 6 EMRK gewährten Garantien unvereinbar ist“ (§ 40). Der TC übernimmt diese Regel, wobei letztlich „nicht die effektive Konfrontation, sondern die Gelegenheit zur Konfrontation“13 gefordert wird. Er geht davon aus, dass es nicht immer möglich ist, die Präsenz des Angeklagten oder seines Anwalts bei der Aussage im Ermittlungsverfahren sicherzustellen, sei es weil der Angeklagte selbst auf die angebotene Chance verzichtet und nicht zur Aussage erscheint oder wegen anderer Umstände. Aus diesem Grund kann der Inhalt dieses Rechts nicht in der effektiven und real praktizierten Konfrontation bestehen, sondern schon darin, dass das Gericht alles Menschenmögliche getan hat, diese zu ermöglichen. Andernfalls würde man es dem Angeklagten überlassen, das Procedere zu korrigieren. Im Ergebnis bedeutet dies, dass es Fälle geben wird in denen das Urteil sich auf einer Aussage stützt, welche ohne effektive Konfrontation getätigt wurde. Bis zu diesem Punkt stimmt die Konklusion des spanischen Verfassungsorgans mit der Konzeption des EGMR überein. Als Teil des Rechts auf effektive Verteidigung wird das Fragerecht als ein Recht verstanden, das seinem Träger zur Disposition steht. Es scheint daher angebracht, dass ihm ein Ausbleiben der Konfrontation zum Nachteil gereicht, insbesondere wenn das Gericht alle Möglichkeiten zu einer Konfrontationsdebatte gegeben hatte. Dies soll zum Beispiel dann der Fall sein, wenn die verteidigenden Anwälte der Angeklagten bei der Aussage im Ermittlungsverfahren anwesend waren und sich trotz des belastenden Inhalts derselben dafür entschieden haben, keine Fragen zu stellen.14 Auch wurde das Ausbleiben der konfrontativen Befragung aufgrund der Unmöglichkeit, den Beschuldigten zur Ermittlungsaussage zu laden, da sich dieser auf der Flucht vor der Justiz befand und nicht aufzufinden war, als dem Beschuldigten zurechenbar angesehen. Einen Fall dieser Art entschied der TC in STC 80/2003, 28.4. Hier wurde der Beschwerdeführer aufgrund der Aussage zweier Zeugen vor dem Untersuchungsrichter wegen Drogenhandels verurteilt. Dabei widerrief einer der beiden seine Aussage und der andere konnte wegen einer unvermutet eingetretenen mentalen Krankheit gar nicht erst aussagen. Obwohl 13 14
Vgl. unter vielen SSTC 200/1996, 3.12; 142/2006, 8.5; 134/2010, 2.12. STC 2/2002, 14.1.
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die im Untersuchungsverfahren abgegebenen, belastenden Aussagen nie der Konfrontation unterzogen wurden, verneint der TC die Verletzung eines fairen, mit der Unschuldsvermutung und allen Rechten ausgestatteten Verfahrens, da, als die Aussagen der Mitbeschuldigten gemacht wurden, „der Beschwerdeführer vor der Justiz geflüchtet war… sodass seine fehlende Intervention in diese Aussagen nicht dem Gericht zur Last gelegt werden kann“. Der EGMR bestätigt diese Entscheidung des TC. Nachdem der Beschwerdeführer in der Sache STC 80/2003 keinen Erfolg hatte, klagte er in Straßburg, seine Verurteilung basiere nicht auf einem fairen Verfahren, da er keine Gelegenheit bekommen habe, die Zeugen zu befragen. Das Gericht wies diese Individualbeschwerde mit Einstellungsentscheidung vom 1. 3. 2005 (Mínguez Villar v. Spain) zurück und bestätigte, dass es zwar richtig sei, dass „der Kläger bei der Aussage von C. vor dem Untersuchungsrichter nicht präsent war, diese Abwesenheit jedoch nicht der Obrigkeit vorgeworfen werden kann, sondern dem Umstand, dass er sich freiwillig dem Handeln der Justiz entzogen habe“. Trotz allem ist die bisher ausgeführte Auffassung jedoch nicht die des TC, die ein anderes Kriterium aufgreift. Der vom TC verwendete Standard lässt sich folgendermaßen formulieren: das „Fragerecht wird nicht nur respektiert, wenn der Angeklagte die Gelegenheit hat in die Befragung des Belastungszeugen einzugreifen, sondern auch dann, wenn eine effektive Intervention aus verfassungsrechtlich nicht zu kritisierenden Gründen oder Umständen, nicht stattfindet“.15 Das bedeutet, dass das verwendete Kriterium, das bestimmt, wann eine Aussage, die ohne Konfrontation gemacht wurde, belastender Beweis sein kann, nicht das dem Beschuldigten zugerechnete Fehlen der Konfrontation ist, sondern dass dem Gericht das Fehlen der Konfrontation eben nicht zugerechnet werden kann. Dies ist weiter gefasst und lässt dadurch mehr belastende Beweise ohne Konfrontation zu. So zum Beispiel, wenn die Aussage ohne die Anwesenheit des Angeklagten und seiner Verteidigung stattfindet, da sich der Fall noch im geheimen Ermittlungsverfahren befindet, oder wenn eine solche Aussage zu einem Zeitpunkt des Verfahrens gemacht wird, zu dem das Subjekt, auf das sich die Anschuldigung bezieht, noch keinen Beschuldigtenstatus erlangt hat. Die Nichtbeachtung des Fragerechts bei der im Untersuchungsverfahren gemachten Aussage ist in derartigen Fällen von Fahrlässigkeit nicht dem gerichtlichen Organ zur Last zu legen, sondern dem prozessualen System innewohnenden Faktoren oder Institutionen. Aus diesem Grund sieht das TC das fair trial Prinzip durch eine Verurteilung, die auf solchen Aussagen basiert, als nicht verletzt an.
15
SSTC 80/2003, 28.4; 187/2003, 27.10; 1/2006, 16.1; 142/2006, 8.5; 134/2010, 2.12.
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III. Das Schweigen der Mitbeschuldigten Meines Erachtens ist dieses Kriterium des TC gegenteilig zu dem des EGMR und muss in jedem Fall abgelehnt werden. Beweis dafür ist, dass beide Gerichte in den spezifischen Situationen des Schweigens des Mitbeschuldigten auf unterschiedliche Weise entscheiden. Gemeint sind Fälle, in denen ein Mitbeschuldigter sich in der mündlichen Hauptverhandlung auf sein Schweigerecht beruft, nachdem er vor dem Untersuchungsrichter eine erste belastende Aussage ohne Konfrontation(smöglichkeit) gemacht hatte. Dies zeigt, dass die Auffassung des TC gegenteilig zu der des EGMR ist. In solchen Situationen geht das TC davon aus, dass die Anwesenheit des Mittbeschuldigten vor Gericht trotz seines Schweigens die Gelegenheit zur Konfrontation beeinhaltet und so das Fehlen der Konfrontation in jedem Fall dem Gerichtsorgan nicht zuzurechnen wäre, da die Aussageverweigerung durch das fundamentale Schweigerecht geschützt wird, ohne dass das Gerichtsorgan den Mitangeklagten dazu zwingen könnte, auf dieses zu verzichten. Aus diesem Grund wird in einer Verurteilung, welche auf der im Untersuchungsverfahren gemachten, belastenden Aussage beruht, kein verfassungsrechtliches Hindernis bestehen. Das ist selbst dann der Fall, wenn weder in jenem Moment noch zu einem späteren Zeitpunkt der Verhandlung der Mitbeschuldigte zu seinen Aussagen hätte befragt werden können.16 Wie bereits festgestellt, ist die These, die solche Entscheidungen begründet, nur schwer mit der Jurisprudenz des EGMR vereinbar. Dieser hat vor sehr ähnlichen Sachverhalten das fair trial Prinzip, im Fragerecht (Art. 6 III d EMRK) wurzelnd, für verletzt erklärt17. Das erste Beispiel das hierzu zitiert werden kann ist Lucà v. Italy (27. 2. 2001). Der Beschwerdeführer wurde aufgrund der belastenden Aussagen eines Mitbeschuldigten verurteilt, welcher sich während der mündlichen Verhandlung auf sein Schweigerecht berufen hatte. Das italienische Revisionsgericht bejahte, dass Art. 6 III d EMRK die Befragung der Zeugen betrifft, welche gezwungen sind die Wahrheit zu sagen, aber nicht die Befragung der Angeklagten, welche die Berechtigung haben, sich durch Schweigen oder sogar durch Lügen zu verteidigen. Demgegenüber schätzt der EGMR die Klage aufgrund seiner, auf den Fall angewendeten, allgemeinen Grundsätze ein und nimmt an, dass das Schweigen des Beschuldigten dem Ausbleiben der Konfrontation gleichkommt: Im konkreten Fall stützten sich die internen Gerichte ausschließlich auf die Aussagen des Mitbeschuldigten, die vor dem Verfahren gemacht wurden, ohne dass „weder dem Bf. noch seinem Vertei16
STC 142/2006, 8.5. Vgl. Sánchez Yllera, Razones para dudar: las manifestaciones incriminatorias prestadas antes del juicio oral, La Ley del Jurado: problemas de aplicación práctica, Estudios de Derecho Judicial, 45, 2003, 363 (393); Lopez Ortega, „Contradicción y defensa (Cinco cuestiones sobre prueba penal, precedidas de una introducción sobre la eficiencia del proceso penal)“, in: La generalización del Derecho Penal de excepción: tendencias legislativas, Estudios de Derecho Judicial, 128, 2007, 125 (144 f.). 17
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diger zu irgendeinem Zeitpunkt des Verfahrens Gelegenheit gegeben wurde, ihn zu befragen“ (§ 43); „Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof nicht zufrieden gestellt, dass dem Beschwerdeführer eine adäquate und angemessene Gelegenheit gegeben wurde, die Aussagen zu bestreiten, auf denen seine Verurteilung beruhte“ (§ 44). Ähnlich äußerte sich der EGMR in Craxi v. Italy (5. 12. 2002), sowie in Kaste and Mathisen v. Norway (9. 11. 2006). Die zentrale Frage, die in diesem Urteil debattiert wurde, war – so die Aussage der norwegischen Regierung – „bis zu welchem Punkt das Schweigegrundrecht eines Mitangeklagten, welches durch das Gericht in eigener Jurisprudenz etabliert worden war, mit dem Recht eines anderen Mitangeklagten nach Art. 6 III d EMRK, nämlich Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen, interferieren kann“ (§ 36). So wie in der zitierten Entscheidung STC 142/ 2006, befand das norwegische oberste Gericht, dass das fair trial Prinzip nicht verletzt worden war, da „die Verteidigung die Gelegenheit gehabt hatte, D [den Mitbeschuldigten] während des Gerichtsverfahrens zu befragen, selbst wenn dieser sich dafür entschieden hätte, diese Fragen nicht zu beantworten“ (§ 21). Derselben Argumentationslinie folgend verteidigte sich die norwegische Regierung in Straßburg dahingehend, dass die Behörden der Justiz die Auflagen des Art. 6 III c EMRK zwar erfüllt hätten, indem für die Anwesenheit des Mitbeschuldigten im Verfahren gesorgt wurde, aber „weder konnten noch durften sie auf seine Entscheidung, auf die gestellten Fragen zu antworten oder nicht, Einfluss nehmen“, denn dass „wäre mit seinem Schweigerecht kollidiert“. Ebenso meinte die Regierung, dass das „wichtige für das Prinzip der Konfrontationsdebatte im Sinne der Jurisprudenz des Gerichts ist, ob der Angeklagte den Zeugen hätte befragen können, nicht unbedingt die Ergebnisse einer solchen Befragung“ (§ 38 – 39). Nichtsdestotrotz hielt der EGMR diese Argumentation für nicht überzeugend. Er hält das angeführte Recht für verletzt, da die Kläger keine Gelegenheit hatten, den Aussagen zu widersprechen, auf denen ihr Urteil basierte. Man könnte zu dem Schluss kommen, dass die Jurisprudenz des TC die vom EGMR festgelegten Mindeststandards des Fragerechts nicht erfüllt. Die Position des TC kommt nicht von auferlegten legalen Forderungen und beruht auch nicht auf Gründen logischen Charakters, sondern auf einer früheren und impliziten kriminalpolitischen Entscheidung, welche nicht zu unterstützen ist. Es könnte angebracht sein – da es dem Fundament des Fragerechts innewohnt – dass, wenn das Ausbleiben der Konfrontation dem Angeklagten oder seiner Verteidigung zuzurechnen ist, dieser derjenige ist, welcher die negativen Konsequenzen seiner eigenen fehlenden Sorgfalt zu tragen hat und deshalb der Inhalt einer Aussage, welche nicht materiell mit jener Gewährleistung ausgestattet ist, als Belastungsnachweis verwendet werden kann. Aber wenn das Ausbleiben der Konfrontation weder dem Angeklagten noch dem Gericht zuzurechnen ist, setzt die Entscheidung, ob der Zeugenaussage Beweiswert eingeräumt wird, eine Positionsergreifung für die Ausführung des ius puniendi und zum Nachteil der Rechte voraus, die ein faires Verfahren ausmachen. Die in STC 142/ 2006 verwendete Argumentation erweckt den Eindruck, es existiere keine mögliche
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Alternative: Entweder benachteiligt das Fehlen der Konfrontation, welches dieses Schweigen (und die vorherige Ermittlungsaussage) mit sich bringt, den Angeklagten. Oder der Mitbeschuldigte müsste entgegen seinem Schweigerecht zur Aussage gezwungen werden. Es besteht jedoch noch eine dritte Option, welche in besagtem Urteil nicht berücksichtigt wird: Dass das Fehlen der Konfrontation gegen den ius puniendi verstößt und es nicht legitim ist, eine Strafverurteilung auf einer Aussage zu begründen welche dem Fragerecht nicht unterzogen wurde.
IV. Abschied vom Recht auf Konfrontation? Al-Khawaja and Tahery v. The United Kingdom Die bisherigen Feststellungen gingen von den durch den EGMR in Entscheidungen wie Lucà v. Italy gefestigten Vorraussetzungen aus, welche die konfrontative Zeugenbefragung als eine Regel auffassen, die dem fair trial Prinzip inhärent ist.18 Dennoch ist erwägenswert, ob nach der jüngst verkündeten Entscheidung im Beschwerdeverfahren Al-Khawaja and Tahery v. The United Kingdom (15. 12. 2011) diese Gestaltung des Fragerechts in der Aktualität aufrechterhalten werden kann. Richtig ist, dass der EGMR den imperativen Charakter dieser Regel eigenhändig nuancierte. Dabei betrachtete er das Fragerecht als Teil des eher generischen Rechts auf ein faires Verfahren aus Art. 6 III EMRK und ging davon aus, dass eine globale Perspektive angenommen werden und die Rechtsverletzung des Verfahrens in seiner Gesamtheit betrachtet werden muss.19 Dies führte den EGMR dazu, die Umstände im konkreten Fall abzuwägen und, da die Justizorgane Maßnahmen eingeführt hatten, welche diesem Verteidigungsdefizit entgegenwirkten („counterbalancing factors“), eine Verletzung des Fragerechts als solches zu verneinen, obwohl es keine echte Gelegenheit gegeben hatte, die Zeugen zu befragen. Nichtsdestotrotz war ein solches Vorgehen bis jetzt auf Situationen beschränkt, in denen konkrete Interessen abzuwägen waren (konkreter als die eigentlichen Ziele der Strafverfolgung), wie die Notwendigkeiten des Opferschutzes oder bestimmter Zeugen, und in denen die Justizorgane die Abwesenheit des Opfers vor Gericht aus Angst vor Repressalien geneh-
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Der EGMR selbst erwähnt dieses Urteil als „starting point“ von dem aus die Verletzung des Art. 6 III d EMRK analysiert wird (EGMR 20. 1. 2009, Al-Khawaja and Tahery v. United Kingdom, § 36); vgl. Jung, GA 2009, 238 f. 19 Kritisch Walther, GA 2003, S. 204 ff., 218: „In ständiger Rechtsprechung der Straßburger Organe ist eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nämlich nur dann gegeben, wenn das betreffende Procedere in seiner Gesamtheit nicht mehr als fair angesehen werden kann. Eine Verletzung der Einzelgewährleistungen des Art. 6 III d EMRK je für sich begründet noch keinen Konventionsverstoß; sie kann vielmehr grundsätzlich innerhalb des weiteren Verfahrens ,ausgeglichen‘ werden. Damit ist nicht nur die Tür zu einer relativierenden Abwägungslehre geöffnet. Sogar die Qualität als subjektives Prozessgrundrecht steht in Frage“.
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migt oder die Anonymität des Zeugen akzeptiert hatten.20 Jedenfalls wird auch in solchen Tatbeständen die sogenannte „sole or decisive rule“ angewandt. So bejahte das Straßburger Gericht, dass sogar dann, wenn eine angemessene Kompensation für die Einschränkungen der Verteidigung bestätigt wird, das Urteil weder ausschließlich, noch in entscheidender Weise auf einer anonymen Aussage gründen sollte.21 Dieser Wertminderungsprozess des Fragerechts erreicht seinen Höhepunkt mit dem Urteil der großen Kammer Al-Khawaja and Tahery v. The United Kingdom, von welchem aus – um diese Termini zu verwenden – die im Art. 6 III d EMRK enthaltene Gewährleistung nicht mehr den Status einer Regel aufweist und zu einem Prinzip wird, welches in der Abwägung der entgegenstehenden Interessen untergeordnet wird. Konkret gesagt legt das Straßburger Gericht das Kriterium fest, nach dem das Fehlen der Konfrontation einem fairen Verfahren nicht entgegensteht, wenn im konkreten Fall Maßnahmen vorlagen, die eine korrekte Zuverlässigkeitsbewertung der Aussage ermöglichten. Um dieses Fazit zu rechtfertigen wiederholt die Große Kammer, wie notwendig eine globale Perspektive bei der Analyse der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren und der Abwägung der konkurrierenden Interessen ist.22 Weiter spricht sie die Möglichkeit an, dass die außerhalb des mündlichen Verfahrens gemachten Aussagen ausnahmsweise ein Urteil begründen können. Dabei bejaht der Gerichtshof, dass sich aus der Jurisprudenz zwei kumulative Erfordernisse ableiten: Erstens, dass die Abwesenheit des Zeugen mit guten Gründen gerechtfertigt ist; und zweitens (vom Gericht „sole or decisive rule“ genannt), dass „wenn das Urteil nur oder in entscheidender Weise auf Aussagen gründet, die von einer Person gemacht wurden, welche der Angeklagte nicht hat befragen oder befragen lassen können, sei es während der Untersuchung oder bereits im Verfahren, können die Rechte der Verteidigung so eingeschränkt werden, das es nicht mehr mit den Gewährleistungen des Art. 6“ (§ 119) vereinbar ist.23 Diese zweite Regel wird die Große Kammer überdenken, wobei es sich fragt ob diese „als eine absolute Regel angesehen werden muss, deren Verletzung automatisch zu dem Schluss führt, dass das Procedere nicht fair war und somit den Art. 6 verletzt“. Das Gericht beantwortet diese Frage negativ. Dabei versteht es, dass die „sole or decisive rule“ nicht in „unflexibler Art“ angewendet werden kann, sondern ähnlichen 20 Dies wird durch den EGMR selbst festgestellt in Al-Khawaja and Tahery v. United Kingdom, § 37. 21 Doorson v. the Netherlands, 26. 3. 1996, § 76, zitiert in Al-Khawaja and Tahery v. United Kingdom, § 37. 22 „The Court will look at the proceedings as a whole having regard to the rights of the defence but also to the interests of the public and the victims that crime is properly prosecuted (…) and, where necessary, to the rights of witnesses“ (§ 118). 23 „When a conviction is based solely or to a decisive degree on depositions that have been made by a person whom the accused has had no opportunity to examine or to have examined, whether during the investigation or at the trial, the rights of the defence may be restricted to an extent that is incompatible with the guarantees provided by Article 6“. Es ist bedeutend, dass das Gericht in der Äußerung der Regel die Formulierung, die im Fall Lucá gefestigt wurde, so verändert, indem es „are restricted“ durch „may be restricted“ ersetzt.
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Abwägungskriterien unterzogen werden muss wie die, die in Fällen angewendet werden, in denen es darauf ankommt, konkrete Interessen von Zeugen oder Opfern zu schützen. Das Gegenteil würde „die Regel in ein drastisches und willkürliches Instrument verwandeln, im Gegensatz zu der traditionellen Weise, in der das Gericht die Frage der Verfahrensfairness in seiner Gesamtheit behandelt, um den entgegenstehenden Interessen der Verteidigung, des Opfers und der Zeugen, sowie das öffentliche Interesse an einer effektiven Rechtspflege willen“ (§ 146). Als Konsequenz legt die Große Kammer als Kriterium fest, dass wenn ein Urteil nur oder in entscheidender Weise auf der Aussage von abwesenden Zeugen basiert, die Unmöglichkeit diese Aussage zu konfrontieren nicht automatisch eine Verletzung des fair trial Prinzips mit sich bringt. Vielmehr wird es davon abhängen, ob im konkreten Fall „genügend Kompensationsfaktoren, inklusive Maßnahmen, die eine korrekte und adäquate Zuverlässigkeitsbewertung dieses Beweises ermöglichen“, vorliegen. „Dies würde ermöglichen, dass sich ein Urteil nur auf besagtem Beweis begründen kann, wenn dieser, angesichts der Relevanz des Falles, ausreichend zuverlässig ist“ (§ 147). Die Entscheidung des EGMR bedeutet, außer dem Nachgeben vor dem durch England und seinem Obersten Gericht ausgeübtem Druck,24 einen tödlichen Stoß für das Fragerecht. Als Kerngewährleistung des Strafprozesses wird dieses der Abwägung zwischen den Umständen des konkreten Falles untergeordnet und eröffnet somit die Möglichkeit, dass ein Bürger aufgrund einer Aussage verurteilt wird, welcher er nicht wiedersprechen konnte.25 Der EGMR stellt die Grundrechte des Angeklagten den „Interessen“ des Staates in einer effektiven Rechtspflege (welche sich mit den Interessen der Anklage identifiziert) gegenüber und gleicht diese aus. Dabei ermöglicht er, dass diese um der sozialen Notwendigkeit der Strafe willen geopfert werden. Diesbezüglich ist es wichtig, auf die Qualitätssteigerung zu achten, die diese Entscheidung im Vergleich zu der bisherigen Jurisprudenz in ähnlichen Fällen ausmacht. Wie bereits erwähnt wurde, war die Abwägung des Fragerechts mit anderen, im Strafprozess einschlägigen Interessen bereits durch den EGMR erlaubt worden. Bis jetzt hatte dies aber dazu geführt, dass die Form oder die Intensität der Konfrontation angepasst wird, nicht jedoch dazu, diese völlig auszuschließen; sprich, die Reichweite des Art. 6 III d EMRK zu gestalten, nicht von dieser abzusehen. Im Unterschied zu den Situationen, in denen Zeugenschutz notwendig ist,26 sind das, was von den Justizorganen mit dem Urteil Al-Khawaja gefordert wird, keine Maßnahmen mehr, die die Verteidigungsdefizite auszugleichen suchen, und die, wenn auch gemindert, einen bestimmten Grad an Konfrontation erlauben. Vielmehr werden Maßnahmen gefordert, die es über andere Wege ermöglichen sich der Zuverlässigkeit der 24
Bekanntlich hat das englische Oberste Gericht, im Urteil R v. Horncastle, durch einstimmige Entscheidung aller sieben vereinten Mitglieder beschlossen, nicht auf Al-Khawaja and Tahery v. United Kingdom einzugehen. 25 Eine weniger negative Interpretation des Urteils bietet Radtke, GA 2012, 187 (197 f.). 26 Vgl. z. B. EGMR 20. 12. 2001, P.S. v. Germany, § 21; 2. 7. 2002, S.N. v. Sweden, § 47.
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Aussage zu versichern. Die Konfrontation wird damit nicht mehr als ein Recht gesehen, welches dem Verteidigungsrecht des Angeklagten zuzuordnen ist, sondern als ein weiteres Mittel zur Zuverlässigkeitsbewertung der Aussage sowie der Wahrheitsfindung. Demnach kann auf dieses Mittel verzichtet werden, solange andere Mittel, die ausreichend sicher und den Interessen der Strafverfolgung adäquat und einschlägig sind, vorliegen. Der Grundsatz der konfrontativen Befragung beruht zweifellos auf dem Ziel, die Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit der Zeugenaussagen zu überprüfen. Der Sinn derselben erschöpft sich aber nicht in seiner auf die Wahrheitsermittlung gerichteten Funktion. Vielmehr macht er ein spezifisches, mit seinem Recht auf Verteidigung verbundenes prozessuales Recht desjenigen aus, der sich in einem Strafverfahren angeklagt sieht.27 Dies ermöglicht es dem Bürger, in die Beweisführung direkt einzugreifen und somit als Subjekt und nicht bloß als Objekt der Verhandlung angesehen zu werden. Aus diesem Grund glaube ich nicht, dass die Konfrontation einfach durch andere Formen, sich der Zuverlässigkeit der Aussagen zu versichern, ersetzt werden kann, ohne gleichzeitig das fair trial Prinzip beachtlich zu verletzen. Etwas Ähnliches bestätigt das amerikanische Oberste Gericht in seinem berühmten Urteil Crawford v. Washington,28 wenn es erklärt, dass „the Clause’s ultimate goal is to ensure reliability of evidence, but it is a procedural rather than a substantive guarantee. It commands, not that evidence be reliable, but that reliability be assessed in a particular manner: by testing in the crucible of cross-examination“. Aus diesem Grund, „admitting statements deemed reliable by a judge is fundamentally at odds with the right of confrontation“. Wenn wir das Fragerecht ernstnehmen, erscheint die drastische Beteuerung des Richters Scalia, Referent des zitierten Urteils, nicht übertrieben: „Dispensing with confrontation because testimony is obviously reliable is akin to dispensing with jury trial because a defendant is obviously guilty“.29 Letzten Endes ist die Erforderlichkeit der Konfrontation nicht mehr eine Regel die wesentlich für ein faires Verfahren ist, sondern sie wird zu einem bloßen Prinzip, welches durch ein Abwägungsurteil für die Maximierung anderer Interessen geopfert und durch andere Mechanismen zur Bestimmung der Zuverlässigkeit des Beweismaterials ersetzt werden kann. Strafprozessrecht steht im Spannungsfeld zwischen Effizienz und Fairness;30 mit dem Urteil Al-Khawaja and Tahery, hat der EGMR hierzu eine eindeutige und besorgniserregende Position ergriffen. In den Worten des von mir hoch geschätzten Jürgen Wolter, dem ich für seine Gastfreundschaft und Großzügigkeit während meines Doktorandenaufenthalts in Mannheim sehr dankbar bin, könnte 27
Ähnlich, Walther, GA 2003, 220. 541 US 36 (2004). Es ist erwähnenswert, dass Al-Khawaja das gleiche Kriterium einführt, welches vom obersten amerikanischen Gericht abgelehnt wurde. Dabei negierte es kategorisch, dass andere Faktoren, mit denen sich der Zuverlässigkeit der Aussagen versichert wird, als Ersatz des Fragerechts fungieren können. 29 Dieses Zitat wird auch von den Richtern Sajó und Karakas verwendet, in der Gegenstimme zu Al-Khawaja, deren Argumente vollständig zu unterstützen sind. 30 Safferling/Hartwig, ZIS 2009, 784 (793). 28
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man bestätigen, dass sich das Gericht in Straßburg ein „systemloses AbwägungsStrafprozessrecht, das der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege … letztlich fast absoluten Vorrang gibt“,31 zur Orientierung nimmt.
31 Wolter, in: Strafrecht als Scientia Universalis, Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag, 2011, 1245 (1267).
Die Tatsachenfeststellung bei Straffreistellungsgründen: Beweispflicht der Verteidigung oder des Klägers? Von Antonio Cuerda Riezu1
I. Einführung Eine der unvermeidlichen Aufgaben eines Juristen ist es, Gerichtsurteile zu lesen. Der lesende Jurist ist bei dieser Arbeit keineswegs überrascht, wenn er das charakteristische Regel-Ausnahme-Verhältnis logisch-systematischer Natur vorfindet. Normalerweise wird dieses Verhältnis richtig dargestellt: das Gericht formuliert den Regelsatz, geht unmittelbar danach auf die Ausnahme ein und erläutert, in welchen Fällen nicht jener, sondern diese angewandt werden soll, sowie die Gründe, die zu einer Ausnahme raten. Nicht selten werden uns Regel und Ausnahme jedoch nicht als eine vernünftige und harmonische Einheit von Sätzen präsentiert. Vielmehr wird allein die Regel formuliert, als kenne sie keine Ausnahme und plötzlich taucht isoliert und unkoordiniert eine unauffällige Abweichung auf, ohne dass das Gericht ihre rechtfertigenden Argumente ausdrücklich erörtert. Der Jurist sollte dann misstrauisch werden. Beim ersten Nachdenken könnte man einer solchen Unregelmäßigkeit Wahrheit beimessen. Schickt man sich jedoch an, über sie zu schreiben, dann erkennt man sie als falsch. Wie Descartes es ausgedrückt hat: „und so erschienen mir Dinge, die ich für wahr hielt, als ich begonnen hatte, sie zu verstehen, falsch, als ich sie zu Papier bringen wollte.“2 Eine solche Situation, wie sie oben geschildert wurde, stellt sich mit dem Recht auf Unschuldsvermutung als Regel und der Tatsachenfeststellung bei Straffreistellungsgründen als Vorbehalt im Strafverfahren dar, wie es im Folgenden aufgezeigt wird.
1 Beitrag im Rahmen des von mir geleiteten Forschungsprojekts DER2011 – 29389, finanziert vom spanischen Ministerium für Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit; die Übersetzung ins Deutsche von Dr. Teresa Manso Porto, mag.iur.comp. (Referatsleiterin für Spanien am Max Planck Institut in Freiburg), wurde mit Projektmitteln finanziert. 2 Descartes, Discurso del método, 2010, S. 143, Übersetzung aus der Originalfassung von 1637 (Deutsche Übersetzung aus Discours de la Méthode Französisch/Deutsch, Bericht über die Methode, 2001, S. 123).
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II. Das Grundrecht der Unschuldsvermutung als Regel Für unsere Zwecke ist es nur sinnvoll, die wesentlichsten Aspekte des Grundrechts auf Unschuldsvermutung hervorzuheben, die außerdem in Zusammenhang mit der Besonderheit der Rechtsprechungsdoktrin über die Beweispflicht bei Straffreistellungsgründen stehen. Nach einer beträchtlichen Entwicklung des Begriffs gilt nun folgende Definition des spanischen Verfassungsgerichts: „Das Recht auf Unschuldsvermutung gestaltet sich als Urteilsregel und aus verfassungsrechtlicher Perspektive als das Recht, nicht ohne gültige Beweise verurteilt zu werden, was wiederum die Durchführung notwendiger Beweisaufnahmen unter Beachtung der rechtlichen Garantien, welche sich auf sämtliche wesentliche Verbrechensmerkmale beziehen, sowie die Möglichkeit einer logischen Ableitung der Fakten und der Beteiligung des Angeklagten, voraussetzt“.3 Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass in ihrer Dimension als Urteilsregel „die Unschuldsvermutung eine Vermutung darstellt, die sich auf Tatsachen bezieht, da nur Tatsachen Gegenstand eines Beweises sein können“.4 Entgegen der herrschenden Lehre5 bin ich der Ansicht, dass die Bezeichnung Unschuldsvermutung unrichtig ist, denn das Recht besteht nicht darin zu vermuten, dass der Angeklagte unschuldig ist, sondern darin, ihn zu behandeln, als das was er ist, nämlich ein Unschuldiger (und nicht etwa ein vermeintlich Unschuldiger). Das verlangt das Grundrecht, solange seine Schuld – in Bezug auf eine konkrete Anklage – im Urteilsspruch nicht erwiesen wird.6 Ferner hat das Recht auf Unschuldsvermutung einen passiven Charakter. Das bedeutet, dass der Angeklagte seine Unschuld nicht beweisen muss, so dass er untätig abwarten kann, ohne die seine Unschuld belegenden Beweise beantragen zu müssen.7 Er muss aber sehr wohl, von bestimmten gesetzlich festgelegten Ausnahmen 3 Entscheidung des Verfassungsgerichts (Sentencia del Tribunal Constitucional; im Folgenden: STC) 126/2011 v. 18. Juli, Entscheidungsgrund (Fundamento Jurídico; im Folgenden FJ) 21 a). 4 SSTC 51/1985 v. 10. April, FJ 9; 150/1989 v. 25. September, FJ 2 b); 120/1998 v. 15. Juni, FJ 6 b); 87/2001 v. 2. April, FJ 9; 233/2005 v. 26. September, FJ 11; 8/2006 v. 16. Januar, FJ 2. 5 Beispielsweise Hernando Orejana, La presunción de veracidad de las denuncias por infracciones de tráfico no instantáneas, in La Ley, 2008, S. 2: „die Unschuldsvermutung genießt den Charakter einer Vermutung iuris tantum […]“; Pérez Manzano, Fundamento y sentido del deber de absolver en caso de duda“, in Jueces para la Democracia, 67, 2010, S. 58: „[…] wenn die Unschuldsvermutung, wie alle anderen Vermutungen […]“. 6 Besonders unglücklich sind häufig in den Medien verwendete Ausdrücke wie „mutmaßlicher Mörder“, „mutmaßlicher Vergewaltiger“ etc., denn sie suggerieren genau das, was das Grundrecht vermeiden will: die Vermutung, dass jemand, aus dem einfachen Grund, dass er einer Straftat verdächtigt wird, schuldig ist. Richtiger wäre, von einer „des Mordes angeklagten Person“, „der Vergewaltigung angeklagten Person“ etc. zu sprechen. 7 Das betonen del Molino, La presunción de inocencia como derecho constitucional, in Revista de Derecho Procesal, 1993, Band 3, S. 595 f.; Repik, Réflexions sur la jurisprudence
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abgesehen, anwaltlich vertreten sein. Er ist also nicht verpflichtet, irgendetwas zu beweisen, hat jedoch das Recht darauf und tut es häufig auch. Eine erste Folge der passiven Natur dieses Rechts, liegt darin, dass die Beweislast bei den klagenden Parteien liegt, wie das spanische Verfassungsgericht wiederholt hervorgehoben hat.8 Nimmt der Kläger die Beweislast nicht auf sich, bleibt als einzig verfassungsrechtlich mögliche Lösung der Freispruch des Angeklagten.9 Diese letzte Aussage mag zu offensichtlich klingen und insofern überflüssig erscheinen, doch ist das keineswegs der Fall, denn sie setzt die angemessene Überwindung anderer historischer Momente voraus. So vertraten Carpzow und andere Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts, dass der halbe oder unvollständige Beweis zu einer Bestrafung führen könnte, wenn auch mit einer geringeren Strafe als diejenige, die für die Straftat vorgesehen war.10 Eine weitere Folge der Unschuldsvermutung, welche mit der Beweislast zu tun hat, ist das Verbot von Vermutungen zu Ungunsten des Angeklagten, sei es, weil sie den Angeklagten dazu zwingen, seine Unschuld zu beweisen (Vermutungen iuris tantum), oder weil sie es ihm nicht einmal erlauben (Vermutungen iuris et de iure).11 Diese Doktrin wird in einer Entscheidung des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 1999 festgelegt und später häufig wiederholt:
de la Cour Européenne des Droits de L’Homme concernant la presomption d’innocence, in Liber amicorum Marc-André Eisen, 1995, S. 340. 8 So beispielsweise in SSTC 70/1985 v. 31. Mai, FJ 1; 105/1986 v. 21. Juli, FJ 4; 109/1986 v. 24. September, FJ 1; 44/1987 v. 9. April, FJ 1; 145/1987 v. 23. September, FJ 1; 22/1988 v. 18. Februar, FJ 4; 182/1989 v. 3. November, FJ 2, u. a. 9 STC 145/1987 v. 23. September, FJ 1; 128/1988 v. 27. Juni, FJ 3; in ähnlichem Sinne STC 120/1998 v. 15. Juni, FJ 6 b). 10 Vgl. Mittermaier, Tratado de la prueba en materia criminal o exposición comparada de los principios en materia criminal y de sus diversas aplicaciones en Alemania, Francia, Inglaterra, etc., 11. Aufl. 2004, überarbeitet und aktualisiert von Aragoneses Alonso, S. 31 (deutsche Fassung aus Mittermaier, Die Lehre vom Beweise im deutschen Strafprozesse, 1834, S. 5). 11 Gegenüber der STC 76/1990 v. 26. April und dem Beschluss des Verfassungsgerichts (Auto del Tribunal Constitucional; im Folgenden ATC) 1458/1990 v. 28. Juni, die sich mit Vermutungen contra reo auseinandersetzen, zeigt sich besonders kritisch Bajo Fernández, Presunción de inocencia, presunción legal y presunción judicial o prueba de indicios, in La Ley, 1991, Band. 1, S. 970 ff. Zur Unterscheidung zwischen gesetzlicher Vermutung und Indizienbeweis siehe Casino Rubio, Presunción legal de culpabilidad versus prueba indiciaria de la autoría en las infracciones de tráfico, in Revista de Administración Pública, Nr. 182, 2010, S. 85 ff. Manche Autoren verneinen, dass die sog. Vermutungen iuris et de iure echte Vermutungen seien; in diesem Sinne Vázquez Sotelo, La „prueba en contrario“ en las presunciones judiciales, in Revista Peruana de Derecho Procesal, Nr. 6, 2003, S. 486; Aguilo Regla, Presunciones, verdad y normas procesales, in Jueces para la Democracia, Nr. 57, 2006, S. 45 ff. Anders Muñoz Clares, Doctrina final del Tribunal Supremo sobre el régimen de las presunciones en Derecho Penal, in Revista General de Derecho Penal (Iustel), Nr. 6, 2006, S. 1 ff., der das, was er Vermutung iuris et de iure nennt, in eine Vermutung iuris tantum umwandeln will.
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„[D]as Recht auf Unschuldsvermutung untersagt, dass die konstitutiven Merkmale der Straftat zuungunsten des Täters vermutet werden, sei es durch eine Vermutung iuris tantum, sei es durch eine Vermutung iuris et de iure. Die erste Modalität, die Vermutung iuris tantum, ist verfassungsrechtlich unzulässig, denn sie bewirkt, wie die Entscheidung STC 105/1988 erklärte, eine Verschiebung oder Umkehr der Beweislast, so dass der Angeklagte mit der Widerlegung einer solchen Vermutung belastet wird, was mit Art. 24 Abs. 2 CE nicht vereinbar ist. Die zweite Modalität, die Vermutung iuris et de iure, ist im Strafverfahren aus verfassungsrechtlicher Perspektive auch nicht zulässig, denn sie untersagt, das Vermutete durch einen Beweis zu widerlegen, womit sie einerseits den Kläger von der Beweispflicht befreit und andererseits verhindert, dass die Verteidigung die Gegenthese belegen kann, falls der Angeklagte versuchen wollte, seine Unschuld zu beweisen; und beide Auswirkungen verstoßen gegen das Grundrecht der Unschuldsvermutung.“12
Die Unschuldsvermutung hat Folgen für andere allgemeine verfahrensrechtliche Garantien: das Prinzip der Waffengleichheit gilt im Strafverfahren mit geringerer Intensität, denn der Angeklagte genießt hier eine privilegierte Position, bei der er nicht verpflichtet ist, irgendetwas zu beweisen.13 Wie Mittermaier zurecht gezeigt hat: „Je strenger die gesetzlichen Regeln über den Beweis sind, je beschränkter die Zahl der gesetzlich zulässigen Beweise ist, desto kleiner wird die Zahl der eintretenden Verurtheilungen“.14 Allerdings verschwindet die privilegierte Position des Angeklagten in den – nicht seltenen – Fällen, in denen der Angeklagte im Verfahren vor mehreren Klagen gleichzeitig steht, nämlich der öffentlichen Klage des Staatsanwalts und dazu noch der persönlichen Klage des Opfers (acusación particular15) und der Volksklage (acción popular16).17 12 STC 111/1999 v. 14. Juni, FJ 3; ähnlich SSTC 87/2001 v. 2. April, FJ 9; 233/2005 v. 26. September, FJ 11; 267/2005 v. 24. Oktober, FJ 4; 8/2006 v. 16. Januar, FJ 2; 35/2006 v. 13. Februar, FJ 6 (in einem gerichtlichen Sanktionsverfahren); 92/2006 v. 27. März, FJ 2; 316/ 2006 v. 15. November, FJ 5. 13 In STC 41/1997 v. 10. März, FJ 5, heißt es: „Die verfassungsrechtlichen Garantien einer der Parteien im Strafverfahren – des Angeklagten – gewinnen besondere Relevanz vor der Verfassungsgerichtsbarkeit“. Diese Ungleichheit wird im ATC 63/1997 v. 6. März, FJ 3, näher erläutert, noch eingehender STC 141/2006 v. 8. Mai, FJ 3. In diesem Sinne Hernández García (Hrsg.), 99 cuestiones básicas sobre la prueba en el proceso penal, 2010, Consejo General del Poder Judicial, S. 507 f.; Vives Antón, Más allá de toda duda razonable, in Teoría & Derecho. Revista de pensamiento jurídico, Nr. 2, 2007, S. 176 f.: das Strafverfahren sei „ein asymmetrisches Verfahren in dem, nach dem US-amerikanischen Axiom, im Prinzip ,der Angeklagte Verfassungsrechte habe, nicht aber das Volk‘“. 14 Mittermaier (Fn. 10), S. 19 (deutsche Fassung: S. 5). 15 Die acusación particular ist eine Institution, die es dem Opfer ermöglicht, in jedem Verfahren als Partei aufzutreten, und die nicht mit der Privatklage zu verwechseln ist. 16 Die acción popular ist eine verfassungsrechtlich garantierte Institution, die es jeder Person oder Kollektivperson ermöglicht, im Verfahren als Partei aufzutreten. 17 Den Hinweis verdanke ich Vives Antón, als er Richter am Verfassungsgericht war. Möglicherweise um die Situation wieder auszugleichen und das Prinzip der Waffengleichheit in gewisser Maße wiederherzustellen, lässt Art. 113 der spanischen Strafprozessordnung (Ley de Enjuiciamiento Criminal; im Folgenden: LECrim) zu, dass das Gericht mehrere anhängige Strafverfahren unter einer einzigen Verteidigung und Prozessvertretung verbindet; dazu
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Wie soeben gezeigt wurde, stehen die Parteien im Strafverfahren weder in einer Situation des vollständigen Gleichgewichts, noch können die von ihnen geführten Waffen als gleich angesehen werden. Dieser Aspekt ist beim Recht auf Unschuldsvermutung wahrnehmbar, welches nur vom Angeklagten oder von demjenigen, der ohne ausreichende Beweise verurteilt wurde, ausgeübt werden kann. Hier offenbart sich ein klarer Unterschied im Verhältnis zu anderen verfahrensrechtlichen Grundrechten, deren Inhaber sowohl der Kläger als auch der Angeklagte gleichermaßen sein kann und deren Schutz in den verschiedenen gerichtlichen Instanzen, einschließlich durch verfassungsrechtliche Klage, beantragt werden kann. Das ist etwa beim Recht auf den gesetzlich bestimmten Richter der Fall. Diese Schlussfolgerung wird nicht durch den Umstand getrübt, dass Art. 24 Abs. 2 spanischer Verfassung (Constitución Española; im Folgenden CE), der das Recht auf Unschuldsvermutung festlegt, mit dem Ausdruck „alle haben das Recht“ beginnt, denn damit soll lediglich jede Person gemeint sein, die sich in der Situation befindet, welche dieses konkrete Recht begründet. Selbstverständlich gibt es strafprozessuale Regelungen, die alle Parteien betreffen können und andere, die nur den Angeklagten etwas angehen, wie es bei der Unschuldsvermutung der Fall ist. Infolgedessen gibt es kein vermeintliches Recht des Klägers auf umgekehrte Unschuldsvermutung, das heißt, dass ihm kein Recht zusteht, beim Vorliegen ausreichender Beweise gegen den Angeklagten, den Schuldspruch gegen ihn zu beantragen. Das ist in Spanien sowohl in der Lehre18 als auch in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs19 und des Verfassungsgerichts20 angenommen worden.
SSTC 193/1991 v. 14. Oktober sowie 154/1997 v. 29. September, in der u. a. die Verfassungsmäßigkeit des Art. 113 LECrim bestätigt wird. 18 So im Schriftum Ruiz Vadillo, Estudios de Derecho procesal penal, 1995, S. 178, 333; Díez-Picazo-Giménez, Reflexiones sobre el contenido y efectos de las Sentencias dictadas por el Tribunal Constitucional en recursos de amparo, in Asociación de Letrados del Tribunal Constitucional, La Sentencia de amparo constitucional, 1996, S. 58 f. 19 So SSTS 253/2004 v. 4. März, FJ 2 (Entscheidungssammlung Aranzadi; im Folgenden: A.) (A. 2004\2433); 1532/2004 v. 22. Dezember, FJ 1 (A. 2005\496); 54/2008 v. 8. April, FJ 4 (A. 2008\1325); 879/2005 v. 4. Juli, FJ 8 (A. 2005\6899); 503/2008 (Fall 11-M) v. 17. Juli, FJ 83.2 (A. 2008\5159); Militärkammer, 23. 9. 2011, FJ 3 (A. 2011\7291); 199/2012 v. 15. März, FJ 1.2 (A. 2012\4720); Beschluss des Obersten Gerichtshofs (Auto del Tribunal Supremo, im Folgenden: ATS) v. 18. Juni 2012 (Fall Dívar), FJ 6 (A. 2012\222127). Siehe auch in diesem Sinne das Sondervotum von Varela Castro zur STS 434/2007 v. 16. Mai, Abschnitt 4. A. 20 So STC 141/2006 v. 8. Mai, FJ 3. Im Sondervotum von Ruiz Vadillo und Jiménez de Parga zur STC 172/1997 wird auch vertreten, dass dem Kläger „in Revisionssachen keine derartige umgekehrte Unschuldsvermutung zusteht, wonach er sich darauf berufen könnte, dass es aus seiner Sicht genügende Beweise gegeben habe“.
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III. Der Vorbehalt der Tatsachenfeststellung bei Straffreistellungsgründen im spanischen Strafgesetzbuch Das spanische Strafgesetzbuch (Código penal; im Folgenden: CP) sieht in den Art. 19 und 20 CP mehrere „Gründe für den Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit“ vor, die gewöhnlich als Straffreistellungsgründe (eximentes) bekannt sind. Diese Straffreistellungsgründe bestehen im Fehlen eines der grundlegenden Merkmale der Straftat (Rechtswidrigkeit, Schuld und darunter die Schuldfähigkeit) und schließen somit auch das Bestehen einer Straftat bzw. die strafrechtliche Verantwortung aus. Anders ausgedrückt: eine Straftat kann es nur dann geben, wenn weder bei der Tat noch beim Täter ein Straffreistellungsgrund vorliegt; eine Straftat besteht, wenn der Täter volljährig und geistlich gesund ist, nicht unter dem Einfluss von Drogen, Alkohol oder Entzugserscheinungen bzw. in Notwehr, Notstand usw. gehandelt hat. Das Problem kann sogar auf Umstände, die keine Straffreistellungsgründe im engeren Sinne sind, ausgedehnt werden, wenn sie – materiell rechtlich gesehen – dieselbe Funktion erfüllen, nämlich die strafrechtliche Verantwortlichkeit auszuschließen: das ist etwa beim unvermeidbaren Tatbestandsirrtum (Art. 14 Abs. 1 CP), beim unvermeidbaren Verbotsirrtum (Art. 14 Abs. 3 CP), bei Verjährung (Art. 130 Abs. 1 Ziffer 6 CP) usw. der Fall. 1. Die Auffassung des Obersten Gerichtshofs Der spanische Oberste Gerichtshof vertritt auf der einen Seite eine ziemlich strenge Auffassung über die Tatsachenfeststellung bei Straffreistellungsgründen, indem er verlangt, dass „die faktische Grundlage der Straffreistellungsgründe und der Strafmilderungsgründe genauso erwiesen werden muss wie die Tat selbst“.21 Dieser strengen Doktrin, auf welche später eingegangen wird, wird jedoch eine weitere, diametral unterschiedliche Rechtsprechungslinie entgegengesetzt, die mit dem hier behandelten Recht und ihren Folgen für die Frage der Beweislast in klarem Widerspruch steht. Die traditionelle Auffassung des Obersten Gerichtshofs über die Beweislast hinsichtlich der faktischen Lage bei Straffreistellungsgründen kann allerdings in folgender Aussage gefestigt werden: „[E]s obliegt demjenigen, der ihn [den Verbotsirrtum] geltend machen will, sowie seinem Verteidiger, die Umstände, die das Vorliegen eines Falles von Ausschluss oder Minderung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit auf Grund eines Irrtums belegen, darzulegen, und 21 STS 25.11.98 (A. 1998/8985); siehe auch STS 415/2006 v. 18. April, FJ 14 (A. 2006\2289); ähnlich SSTS 20. 1. 1981, Urteilsgrund (Considerando; im Folgenden: Cdo.) 3 (A. 1981\161); 13. 4. 1981, Cdo. 1 (A. 1981\1634), mit Verweis auf SSTS 28. 1. 1954 (A. 1954\176 ), 9. 2. 1980 (A. 1980\461) und 22. 9. 1980 (A. 1980\3307); 19. 5. 1981, Cdo. 3 (A. 1981\2236), mit Verweis auf SSTS 20. 1. 1981 (A. 1981\161) und 13. 4. 1981 (A. 1981\1634 ); 19. 2. 1988, einzelner FJ (A. 1988\1198).
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deren Angemessenheit muss aus den persönlichen Bedingungen des Täters entnommen werden […]“.22
Im ähnlichen Sinne argumentiert der Oberste Gerichtshof: „Handelt es sich um strafausschließende oder mildernde Gründe, dann basiert die Urteilsregel auf das dem Strafgesetzbuch zugrundeliegende Prinzip, wonach die Gründe für die Schuldunfähigkeit negativ strukturiert sind, so dass stets davon auszugehen ist, dass eine Person über ein Mindestmaß an intellektuellen und voluntativen Fähigkeiten verfügt, es sei denn, das Gegenteil wird erwiesen; das heißt, die Gründe für den Ausschluss bzw. für die Milderung der Zurechnungsfähigkeit oder Schuldfähigkeit müssen genau so erwiesen werden, wie die Haupttat selbst, auf welche sie sich auswirken. In unserem Fall, in dem die Annahme eines besonders qualifizierten Umstandes beantragt wird, trifft die Beweislast die Verteidigung, die sie vorbringt und die faktische Grundlage, die ihre Anerkennung begünstigen könnte, nicht erwiesen hat.“23
Dagegen wird vereinzelt vertreten: „[A]ufkommende Zweifel über eine mögliche Verjährung müssen unter Beachtung des Prinzips in dubio pro reo gelöst werden, da der Angeklagte die materielle Beweislast nie auf sich nehmen muss (STS 31.5.85) und das besagte Prinzip sowohl die tatbestandsmäßigen Umstände der Straftat als auch die objektiven Umstände, die die Verantwortlichkeit ausschließen, abdecken muss“.24
2. Die Auffassung des Verfassungsgerichts Ursprünglich lehnte die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts es ab, die Verteidigung mit dem Beweis negativer Tatsachen zu belasten,25 denn dies würde eine probatio diabolica bedeuten, eine äußerst komplexe Feststellung also. In der Tat ist es einfacher zu beweisen, dass X mit der Tatwaffe geschossen hat, als dass er nicht geschossen hat, weil er in seiner Wohnung Fußball gesehen hat.
22
STS 336/2009 v. 2. April (einzelner FJ; [A. 2009/4151]). In ähnlichem Sinne STS 872/ 2001 v. 14. Mai, FJ 3 (A. 2001\2719), in der ein Verbotsirrtum abgelehnt wird, weil der Irrtum nicht von demjenigen bewiesen wurde, der ihn geltend gemacht hatte, und weil das Gericht ein solcher Irrtum nach einer logischen und vernünftigen Bewertung des Beweismaterials für unglaubwürdig hielt. Ebenfalls mangels Beweis einen Verbotsirrtum ablehnend STS 865/2005 v. 24. Juni, FJ 8 (A. 2005\6896); mit ähnlichem Kriterium STS 985/1997 v. 7. Juli, FJ 5 (A. 1997\5748) und ATS 17/2007 v. 11. Januar, FJ 2 C) (A. 2007\37436). Im Schriftum Bajo Fernández, La intervención médica contra la voluntad del paciente, in Anuario de Derecho penal y Ciencias Penales, Band 32, 1979, S. 493, der sich auf dieses Kriterium bezieht und ältere Rechtsprechung im ähnlichen Sinne zitiert. 23 STS 531/2007 v. 18. Juni, FJ 1.8 (A. 2007\3462). 24 STS 671/2006 v. 21. Juni (FJ 7 [A. 2006\3769]), unter Verweis auf SSTS 2.2.88, 6.11.89, 6.4.90 (A. 1990\3193) und 18.6.92 (A. 1992\5961). 25 In diesem Sinne SSTC 138/1992 v. 13. Oktober, FJ 1; 133/1994, v. 9. Mai, FJ 4.
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Später kam es zu einem Richtungswechsel, in dem darauf verwiesen wurde, dass die Beweislast demjenigen auferlegt wird, der den Entlastungsgrund darlegt.26 Diese Doktrin setzte sich, wie es bei jedem Wechsel geschieht, graduell und fortschreitend durch und zwar bis hin zur Aussage, dass die Beweiswürdigung zur Entscheidung über die Annahme bzw. Ablehnung eines Straffreistellungsgrundes eine reine Gesetzmäßigkeitsfrage betrifft und nicht zur verfassungsrechtlichen Dimension der Unschuldsvermutung gehört.27 Als Letztes gilt als wiederholte Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, dass „die Annahme oder die Ablehnung des Vorliegens von Umständen, die die strafrechtliche Verantwortlichkeit ausschließen oder mildern eine Frage der reinen Gesetzlichkeit darstellt, welche durch das zuständige Gericht gelöst werden muss, während sich die verfassungsrechtliche Kontrolle auf die Prüfung beschränkt, ob die Auffassung des Gerichts ausreichend begründet und nicht willkürlich, unvernünftig oder offenbar unrichtig ist“.28 Eine Entscheidung des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 199629 erklärt entschieden, dass das Vorliegen und der Beweis eines Rechtfertigungsgrundes, entgegen der Annahme der Beschwerdeführer, nicht Sache des Klägers, sondern der Verteidigung, die ihn vorbringt, sei. Eine andere Entscheidung aus 200130 bestätigt diese Doktrin und erklärt, dass die klagenden Parteien das Ausbleiben von Straffreistellungsgründen nicht beweisen müssen und dass der Beweis eines Straffreistellungsgrunds seitens der Verteidigung nicht den Beweis einer negativen Tatsache darstellt. Zweifelsohne kollidiert diese Rechtsprechung frontal mit derjenigen, die den Inhalt des Rechts auf Unschuldsvermutung erklärt. Nach einer Begründung, warum für die Tatsachenfeststellung bei Straffreistellungsgründen unterschiedliche Kriterien im Bereich des Beweisrechts gelten, suchen wir vergebens: das Verfassungsgericht verliert kein Wort über die Regel-Ausnahme-Beziehung, als hätten beide dargestellten Auffassungen nichts miteinander zu tun. Auffällig ist allerdings eine weitere Entscheidung aus 2007,31 in welcher gerügt wird, dass das erkennende Gericht im Verfahren gegen zwei Polizisten diese nach Ablehnung des Straffreistellungsgrunds der Erfüllung eines Rechts (Art. 20 Ziff. 7 CP) verurteilt habe, ohne eine unmittelbare Beweisaufnahme durchgeführt zu 26
Das zeigt sich in STC 209/1999 v. 29. November, FJ 2. SSTC 81/1988 v. 28. April, FJ 3 (betreffend ein arbeitsrechtliches Verfahren); 211/1992 v. 30. November, FJ 5; 133/1994 v. 9. Mai, FJ 4; im ähnlichen Sinne ebenfalls die AATC 566/ 1984, 598/1984 und 274/1993. 28 STC 5/2010 v. 7. April, FJ 7. In ähnlichem Sinne SSTC 211/1992 v. 30. November, FJ 5; 133/1994 v. 9. Mai, FJ 4; 139/2000 v. 29. Mai, FJ 6; 63/2001 v. 17. März, FJ 11; 239/2006 v. 17. Juli, FJ 5; 258/2007 v. 18. Dezember, FJ 8; 142/2012 v. 18. Dezember, FJ 7; und ATC 274/ 1993 v. 13. September, FJ 2. 29 STC 36/1996 v. 11. März, FJ 5. 30 STC 87/2001 v. 2. April, FJ 10. 31 STC 126/2007 v. 21. Mai. 27
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haben. Insofern wird hier der Beweis über das Vorliegen der faktischen Grundlage eines Straffreistellungsgrunds verlangt und zwar bis zur Konsequenz, dass die mangelnde unmittelbare Beweisaufnahme verfassungsrechtliche Relevanz gewinnt und die Verfassungsklage Erfolg hat.
IV. Die (mangelnde) Konnexität zwischen den Auffassungen des Obersten Gerichtshofs und des Verfassungsgerichtshofs und der verfassungsrechtlichen Doktrin über die Beweislast Wie oben dargestellt, haben weder der Oberste Gerichtshof noch das Verfassungsgericht erklärt, dass die Beweisfragen beim Vorliegen von Straffreistellungsgründen eine Ausnahme in Bezug auf das Recht auf Unschuldsvermutung bilden. Auch die Gründe, welche die Missachtung der Regel, die das Grundrecht mit sich bringt, eventuell rechtfertigen könnten, wurden nicht erörtert. Die Tatsache, dass beide Auffassungen – Regel und Ausnahme – nebeneinander stehen und nicht miteinander in Verbindung gebracht werden, sollte uns aufmerksam werden lassen, da eine Rechtfertigung für die vermeintliche Ausnahme bislang fehlt. Trotz dieses Schweigens könnte man einige der möglichen Gründe skizzieren, die hinter dem Erfordernis stehen könnten, dass die Verteidigung den Beweis für das Vorliegen der faktischen Grundlage eines Straffreistellungsgrundes erbringen muss, sofern sie sich darauf beruft. Der erste Grund, der die Doktrin des Obersten Gerichtshofs und des Verfassungsgerichts untermauern könnte, mag in der Übertragung auf das Strafverfahren des zivilprozessrechtlichen Verhandlungs- oder auch Beibringungsgrundsatzes liegen, wonach „sich die Initiative der Richter und der Gerichte auf den Willen der Parteien beschränkt“32, was die Tatsachen und deren Beweis angeht.33 Dazu kommt, dass gemäß Art. 217 Abs. 3 der spanischen Zivilprozessordnung „die Beweislast bezüglich der Tatsachen, die, in Einklang mit den auf sie anwendbaren Regeln, die Rechtswirksamkeit der Tatsachen, auf welche sich der vorhergehende Absatz bezieht [sprich: die in der Klageschrift enthaltenen Tatsachen], verhindert, erlischt oder entkräftet, allein den Beklagten und den Widerbeklagten etwas angeht“. Mittermaier erklärte mit – aus meiner Sicht – ausreichender Überzeugungskraft Folgendes:
32 Picó i Junoy, El juez y la prueba. Estudio del brocardo iudex iudicare debet secundum allegata et probata, non secundum conscientiam y su repercusión actual, 2007, S. 102. 33 Sentís Melendo, La prueba. Los grandes temas del derecho probatorio, 1979, S. 18, meint in Bezug auf das zivilrechtliche Verfahren: „der Richter ist kein Sucher von Beweisen; er ist ein Verwerter der Beweise, welche die Parteien gefunden haben; er verwaltet die Mittel, wodurch die Quellen der Parteien in das Verfahren aufgenommen werden“ (Kursiv im Original).
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„Eine völlig fehlerhafte Ansicht war es auch, wenn man, veranlasst durch die Analogie des Civilprocesses, manche Erklärung des Angeschuldigten, in so ferne derselbe günstige Thatsachen behauptet, von Einreden sprach, deren Beweis dem Angeschuldigte obliege“.34
Unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensökonomie – und dies könnte der zweite Grund dafür sein, dass die Verteidigung den Beweis für das Vorliegen von Straffreistellungsgründen erbringen muss – bringt die Vermutung oder die Annahme, dass eine tatbestandsmäßige Tat in der Regel auch rechtswidrig ist, und, dass sein Täter schuldig ist, eine erhebliche Vereinfachung der Dinge mit sich, denn es kostet unheimlich viel Zeit und Mühe, zu beweisen, dass der Angeklagte bei Begehung der Tat weder in Notwehr noch in Notstand handelte, dass er geistig gesund war, sich nicht im Rauschzustand befand usw. Viel praktischer ist die Annahme, dass solche Straffreistellungsgründe nicht vorlagen, es sei denn, das Gegenteil wird erwiesen. Als Letztes bedeutet der besagte Ausgangspunkt, dass der Kläger vom Beweis negativer Tatsachen, wie etwa, dass der Angeklagte nicht geisteskrank, sondern gesund war, dass er nicht betrunken, sondern nüchtern war usw., entlastet wird.35 Ein solcher Beweis stellt in der Regel eine mühsame Aufgabe oder, lateinisch ausgedrückt, eine probatio diabolica dar.
V. Stellungnahme Meines Erachtens sind die verfassungsrechtliche Doktrin über die Beweislast und die Auffassung des Verfassungsgerichts und des Obersten Gerichtshofs in der Frage, wer den Beweis über das Vorliegen eines Straffreistellungsgrundes erbringen muss, nicht miteinander zu vereinbaren. 1. Einwände gegen die Auffassung des Obersten Gerichtshofs und des Verfassungsgerichts Erstens stellen das Recht auf Unschuldsvermutung und die Beweislast des Klägers im Strafverfahren eine Ausnahme im Verhältnis zum Zivilprozess dar. Dementsprechend wäre eine Übertragung der im Zivilprozess geltenden Regel und Argumente auf das Strafverfahren illegitim. Außerdem würde dadurch der Ausnahmecharakter verschwinden, was zu einer vollständigen Negation eines Grundrechts oder zumindest einer wichtigen Dimension dieses Grundrechts, nämlich der Beweislast, führen würde.36 34
Mittermaier (Fn. 10), S. 138 (deutsche Fassung: S. 147). Cfr. Guerra San Martín/Belloch Julbe/Torres y López de la Calle, El derecho a la presunción de inocencia, in La Ley, 1982, Band 4, S. 1187 f.; Manzanares Samaniego, Sobre la presunción de inocencia, in Actualidad Penal, Nr. 13, 1992, S. 112. 36 Über die Unterschiede zwischen dem Zivil- und dem Strafverfahren siehe Magro Servet, La prueba en el proceso penal: entre el hipergarantismo y la victimización secundaria, in La Ley Penal, Nr. 54, November 2008, S. 2 f. 35
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Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Bezeichnungen positive und negative Tatsache gelegentlich austauschbar sind. Das soll am folgenden Beispiel erörtert werden: Der Beweis der Schuld kann als negative Tatsache und somit als probatio diabolica konfiguriert werden, denn er impliziert den Beweis über das Fehlen von Schuldausschließungsgründen; fokussieren wir uns auf die Frage über das Bestehen oder das Fehlen des Straffreistellungsgrunds der Drogenabhängigkeit, so kann man sagen, dass der Beweis über die Existenz einer solchen Drogenabhängigkeit eine positive Tatsache betrifft, so dass diese Feststellung nicht mehr als probatio diabolica bezeichnet werden kann. Vielmehr führt sie ohne weiteres zu dem Beweis, dass der Täter nicht zurechnungsfähig und somit nicht schuldig ist. Als positive Tatsache kann aber auch die Feststellung konfiguriert werden, dass der Täter sich bei der Tatbegehung nicht im Zustand der völligen Intoxikation durch den Drogenkonsum befand, und somit voll zurechnungs- und schuldfähig war. Drittens muss der Staatsanwalt, in Erfüllung seiner Funktion, unter Einhaltung der Gesetze der Gerechtigkeit zu dienen,37 nicht nur Anklage erheben, sondern auch, wenn er der Überzeugung ist, dass im konkreten Falle ein Straffreistellungsgrund vorliegt, von Amts wegen handeln und vor dem Richter den Beweisantrag stellen, sei es beim Instanzgericht, sei es beim späteren Rechtsmittelverfahren.38 Somit könnte nicht einmal entschieden bejaht werden, dass bei Straffreistellungsgründen der Beweis nur die Verteidigung etwas angeht, denn es kann sein, dass der Staatsanwalt in seiner Eigenschaft als Garant der Gesetzlichkeit für entsprechende Nachforschung zuständig ist. Viertens ist diese These äußerst gefährlich, denn wenn man sie bis zur letzten Konsequenz führt, würde sie zu einer vollständigen Beweislastumkehr führen.39 Wird der Angeklagte damit belastet, das Vorliegen von Straffreistellungsgründen zu beweisen, würde man wechselseitig den Kläger von der Beweislast in Bezug auf die Grundvoraussetzungen der Straftat, die auf Grund des Straffreistellungsgrundes ausgeschlossen ist, befreien.40 Dieser Spur folgend könnte man es bis zum Extrem kommen lassen und den oder die Kläger von der Pflicht zur Darlegungs- und Beweislast in Bezug auf eine tatbestandsmäßige, rechtswidrige, schuldhafte und 37
Art. 1 Gesetz 50/1981 v. 30. Dezember über die Organverfassung der Staatsanwaltschaft. 38 Im ähnlichen Sinne Gimeno Sendra/Moreno Catena/Cortés Domínguez, Lecciones de Derecho procesal penal, 2. Aufl. 2003, S. 372. Art. 2 LECrim legt fest: „Alle Amtsträger und Behörden, die sich am Strafverfahren beteiligen, sind dazu verpflichtet, im Rahmen ihrer Zuständigkeit die für den vermeintlichen Täter günstigen sowie auch ungünstigen Umstände zu den Prozessakten zu nehmen und zu protokollieren“. 39 Zu den Folgen einer Umkehr der Beweislast siehe Bajo Fernández, Presunción de inocencia, presunción legal y presunción judicial o prueba de indicios, in La Ley, 1991, Band 1, S. 970 ff. 40 Vor dieser Gefahr warnen Asencio Mellado, Prueba prohibida y prueba preconstituida, 1989, S. 46 f.; Vázquez Sotelo, La presunción de inocencia, in Consejo General del Poder Judicial, Cuadernos de Derecho Judicial, Band V: Los principios del proceso penal, 1992, S. 131 f.
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strafwürdige Handlung, die der Angeklagte als Täter oder Teilnehmer begangen haben soll, befreien und gleichzeitig von der Verteidigung verlangen, dass sie gegebenenfalls das Bestehen von Tatbestandsausschließungs-, Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründen, einschließlich eines Verbotsirrtums, oder Strafaufhebungsgründen belegt – eine umgekehrte Welt. Als letztes kann die fehlende Diskussion für oder gegen die Straffreistellung seitens der Kläger und der Verteidigung nicht nur zu einer Verletzung des Rechts auf Unschuldsvermutung, sondern sogar des Gesetzlichkeitsprinzips führen. Stellen wir uns eine Situation vor, wie sie sich in der Entscheidung STC 148/2003 vom 14. Juli darstellte, in der sich die Angeklagte – eine zugelassene Anwältin – vor dem Provinzgericht auf die Existenz eines Straffreistellungsgrunds, auf Drogensucht, berufen hatte. Das Provinzgericht hielt das Verhalten für tatbestandslos, ohne sich zur Drogensucht zu äußern. Der Kläger legte Revision vor dem Obersten Gerichtshof ein und dieser sprach die Angeklagte für schuldig, ohne zum Schuldausschließungsgrund Stellung zu nehmen, da weder die Verteidigung noch der Kläger sich im Revisionsverfahren dazu geäußert hatten. Infolgedessen reichte die Verurteilte Verfassungsbeschwerde ein, da das Urteil des Provinzgerichts, obwohl freisprechend, auf die mögliche Drogensucht nicht eingegangen war, d. h. nicht darauf, ob dieser Umstand als Schuldausschließungsgrund als erwiesen oder nicht erwiesen anzusehen war. Das Verfassungsgericht lehnte die Beschwerde ab, weil dieser Umstand nicht schon vor dem Obersten Gerichtshof geltend gemacht worden war. In einem solchen Fall könnte man in zweierlei Hinsicht argumentieren: erstens könnte die oben genannte Entscheidung des Verfassungsgerichts eine Beweislastumkehr und damit einen Verstoß gegen das Recht auf Unschuldsvermutung bewirkt haben, denn damit würde man von der Verteidigerin verlangen, dass sie die Drogensucht darlegt und beweist, obwohl der Kläger die volle Zurechnungsfähigkeit der Angeklagten nicht belegt hatte; zweitens könnte ein Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip vorliegen, indem eine Tat für strafbar gehalten wird, obwohl nicht erwiesen worden ist, dass die Täterin zurechnungsfähig war, so dass die Strafwürdigkeit hätte entfallen müssen (und gegebenenfalls nur eine Sicherungsmaßnahme hätte in Betracht kommen können). Das Problem blieb seitens des Obersten Gerichtshofs und des Verfassungsgerichts also ungelöst. Einer für den anderen und das Haus bleibt ungefegt.41 2. Eigener Vorschlag Wie lautet nun die eigene These? Vor zwölf Jahren hatte ich in einem Aufsatz über die Unschuldsvermutung Zweifel über die Vereinbarkeit der verfassungsrechtlichen Auffassung zur Beweislast und der Auffassung des Verfassungsgerichts über die
41 Diese spanische Redewendung bedeutet, dass einer sich auf den anderen verlässt und so nichts erledigt wird.
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Frage geäußert, wer das Vorliegen eines Straffreistellungsgrunds beweisen muss.42 Damals habe ich eine mögliche Lösung vorgeschlagen, um diese beiden scheinbar unversöhnlichen Auffassungen desselben Verfassungsgerichts (und des Obersten Gerichtshofs) miteinander zu vereinbaren. Die Lösung basierte auf einer Unterscheidung zwischen Darlegung und Beweis des Sachverhalts. Die Darlegung der entsprechenden Umstände obliegt der Verteidigung, während die Beweislast für die Existenz des fraglichen Verbrechensmerkmals beim Kläger liegen soll. Beispielhaft: Die Verteidigung des Angeklagten macht Notwehr geltend und der Kläger muss die Rechtswidrigkeit der Handlung beweisen, in dem er belegt, dass die Voraussetzungen dieses Rechtfertigungsgrundes nicht gegeben waren; oder der Angeklagte erklärt, er hätte bei Begehung der Tat unter einer Anomalie oder einer psychischen Störung gelitten und der Kläger muss beweisen, dass der Täter geistig gesund und somit zurechnungsfähig war – ungeachtet der Tatsache, dass die Verteidigung das Bestehen eines Straffreistellungsgrundes mit den dazugehörigen Mitteln beweisen könnte. Im Lauf der Zeit kann ich diese Lösung bekräftigen. Meine These erkennt an, dass die Beweislast bei Straffreistellungsgründen eine Ausnahme darstellt, aber keine absolute, sondern lediglich eine relative Ausnahme: es geht nämlich nicht um die Übertragung der zivilrechtlichen Prozessregeln auf das Strafverfahren, sondern um die Erkenntnis, dass die Nähe zwischen der Verteidigung und dem Angeklagten es ermöglicht, dass die Verteidigung besser imstande ist, den Straffreistellungsgrund als Beweis beizubringen und beim Richter oder beim Gericht Zweifel darüber aufkommen zu lassen, ob der Angeklagte freigesprochen werden soll oder nicht. Dem Kläger soll der Beweis überlassen bleiben, dass der entsprechende Straffreistellungsgrund für die Tat beim Täter nicht vorliegt. Hinzuzufügen ist noch, dass auch der Staatsanwalt als Garant der Gesetzlichkeit das Vorliegen von Straffreistellungsgründen zugunsten des Angeklagten darlegen und beweisen kann. Als Untermauerung dieser These, die verlangt, dass die Beweislast bei Straffreistellungsgründen dem Kläger auferlegt wird, kann man noch das Argument vorbringen, dass aus rechtsvergleichender Perspektive eine Tendenz erkennbar ist, die Unschuldsvermutung bei Straffreistellungsgründen nicht zur Ausnahme zu machen und stattdessen die allgemeinen Regeln über die Beweislast gelten zu lassen. Etwa in den Toledo-Empfehlungen für ein gerechtes Strafverfahren (Recomendaciones de Toledo para un procedimiento penal justo), welche von der Association Internationale de Droit pénal (AIDP) 1992 beschlossen wurden, stand, dass „die Unschuldsvermutung auch für Rechtfertigungsgründe und sonstige Straffreistellungsgründe gilt“ (Empfehlung Nr. 2). Tiedemann wies diesbezüglich darauf hin, dass die meisten Landesberichte der AIDP verlangen, dass die Unschuldsvermutung für Straffreistellungsgründe gelten soll, „wenn auch normal ist, dass der Angeklagte das Vorliegen von 42 Siehe Cuerda Riezu, Bastantes falacias, algunas verdades y ciertas dudas sobre el derecho a la presunción de inocencia desde la perspectiva constitucional, Repertorio Aranzadi del Tribunal Constitucional, Nr. 19, Februar 2000, S. 15 ff., insbesondere S. 37 ff.
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echten Indizien, die das Bestehen eines solchen Grunds belegen, geltend machen muss“.43 3. Sind feste Beweise über die faktische Grundlage eines Straffreistellungsgrunds notwendig? Die vorletzte Fragestellung ist, ob – wie der Oberste Gerichtshof meint – „die faktische Grundlage der Straffreistellungsgründe genauso erwiesen werden muss, wie die Tat selbst“. Hinter dieser Frage steckt vermutlich die Befürchtung eines Missbrauchs der Straffreistellungsgründe, was teilweise revolutionäre Folgen haben könnte;44 und diese Befürchtung führt dazu, dass die Rechtsprechung mit der Anerkennung eines Straffreistellungsgrunds bei Privatpersonen (nicht jedoch bei Polizisten) äußerst restriktiv umgeht. Besteht also dieselbe Beweisnotwendigkeit bei der faktischen Grundlage eines Straffreistellungsgrunds, der zum Freispruch oder allenfalls zur Verhängung einer Maßnahme der Sicherung führen kann, wie bei schuldbegründenden Tatumständen? Ich meine nicht: es ist die Ausübung des ius puniendi des Staates, welche eine Rechtfertigung der völligen Wahrscheinlichkeit der Tatsachen, die eine Straftat begründen, und der strafrechtlichen Verantwortung, die aus ihr hervorgeht, erfordert. Selbstverständlich müssen die Tatumstände, die einem Straffreistellungsgrund zugrunde liegen, dargelegt und in der Hauptverhandlung diskutiert werden, insbesondere wenn derjenige, bei dem ein Straffreistellungsgrund wie Notwehr, Notstand oder Pflichterfüllung vorliegt, lediglich ein Verhalten des Opfers entgegentritt, dessen Handlungen auch Gegenstand eines unabhängigen Strafverfahrens sein könnten. Trotzdem ist der Beweis bei Straffreistellungsgründen nicht so strikt wie die Glaubhaftmachung der Tatbestandsmerkmale, die eine Straftat begründen. Darum stimme ich dem Sondervotum von drei Richtern in der Entscheidung STC 169/2004 vom 16. Oktober zu: „Bei Freisprüchen die Darlegung der Gründe, die das Bestehen von ausreichenden Beweisen für die Unschuld belegen, zu verlangen, würde eine Umkehr des Verständnisses des Rechts auf Unschuldsvermutung bewirken. Nicht die Unschuld, sondern die Schuld muss erwiesen werden. So lange das nicht geschieht, wird vermutet, dass der Angeklagte unschuldig ist, und dem Kläger wird die verfassungsrechtliche Last auferlegt, Beweise für die Schuld des Angeklagten zu erbringen. Für den Richter genügt es für den Freispruch, dass er vernünftige Zweifel am Bestehen ausreichender Beweise für eine Verurteilung hegt. Weder die Verfassung noch das Organgesetz über das Schöffengericht verlangen das Bestehen ausreichender Beweise für die Unschuld des Angeklagten“.45
43 Tiedemann, „Relación general“, Revue International de Droit Pénal, Band. 64, 1993: Les mouvements de réforme de la procédure pénale et la protection des droits de l’homme. Colloque préparatoire, III. Sektion, Toledo (Spanien) 1. – 4. April 1992, S. 795. 44 Vgl. zu Notstand, Cuerda Riezu, La colisión de deberes en Derecho penal, 1984, S. 46 f. Fn. 3. 45 Diesem Sondervotum zustimmend Ovejero Puente, Constitución y derecho a la presunción de inocencia, 2006, Tirant lo Blanch, S. 350; Vives Antón (Fn. 13), S. 177 ff.
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4. Kann das Gericht von Amts wegen einen Straffreistellungsgrund annehmen, der von den Parteien nicht geltend gemacht wurde? Die letzte Fragestellung lautet: Was geschieht, wenn die Verteidigung das Vorliegen eines Straffreistellungsgrunds nicht geltend macht und der Kläger ihn auch nicht ausschließt oder ablehnt? In diesem Punkt ist es angebracht, die rhetorische Frage, die sich der Richter Rodríguez Zapata in seinem Sondervotum zur Entscheidung STC 155/2009 vom 25. Juni stellt, näher zu betrachten: „Darf etwa nicht jedes Gericht einen Straffreistellungs- oder Milderungsgrund annehmen, auch wenn dieser nicht von den Parteien geltend gemacht wurde?“ Ich meine, diese Frage muss bejaht werden, wenn die faktische Grundlage des Straffreistellungsgrunds aus dem in der Hauptverhandlung diskutierten Tathergang hervorgeht. Anderenfalls würde man jemandem die strafrechtliche Verantwortung für eine Tat zuschreiben, die gar nicht als Straftat bezeichnet werden kann, was einen Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip bedeuten würde. Das Gericht kann von Amts wegen einen Straffreistellungsgrund annehmen, auch wenn keine der Parteien ihn geltend gemacht oder erwiesen hat.46 Um zu dieser Lösung zu gelangen, muss man vom engen Zusammenhang zwischen zwei Grundrechten ausgehen, nämlich dem Grundrecht auf Unschuldsvermutung und dem Gesetzlichkeitsprinzip. Denn streng genommen enthält jeder Verstoß gegen die Unschuldsvermutung gleichzeitig einen Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip, da die Strafnorm auf eine Tat angewendet wird, deren strafrechtlicher Charakter nicht erwiesen wurde, so dass diese Tat nicht unter die Strafnorm subsumiert werden kann.47 Außerdem vergisst das Verfassungsgericht seine eigene Doktrin, wonach bei Straffreistellungsgründen die Beweislast bei der Verteidigung liegt, wenn es sich bei dem konkreten Straffreistellungsgrund um einen Rechtfertigungsgrund handelt, der zugleich ein Grundrecht darstellt: In solchen Fällen ist es dem Gericht nicht nur erlaubt, die rechtfertigende Wirkung des Straffreistellungsgrunds von Amts wegen anzunehmen, sondern es muss dies sogar tun, weil die Verfassung es so vorschreibt.48 Zieht das Gericht nicht in Erwägung, ob ein Grundrecht überhaupt angetastet wurde, so schließt das Verfassungsgericht allein aus diesem Umstand die Verletzung eines Grundrechts.49 Wenn dieses Kriterium für die Rechtfertigungsgrün46 So auch grundsätzlich bei rechtshemmenden Einwendungen (hechos excluyentes) und insbesondere bei Verjährung, Fernández López, Prueba y presunción de inocencia, 2005, S. 71. 47 In diesem Sinne Ovejero Puente (Fn. 45), S. 348 f., der außerdem in Fn. 559 hinzufügt, dass in Frankreich üblicherweise den Verstoß gegen die Unschuldsvermutung und gegen das Gesetzlichkeitsprinzip gemeinsam geltend gemacht werden; Vives Antón (Fn. 13), S. 184. 48 Zum Beispiel STC 34/1996 v. 11. März, FJ 4, über die mögliche Rechtfertigung einer Straftat des Ausspähen und der Preisgabe von Geheimnissen durch die Ausübung des Rechts auf Informationsfreiheit gemäß Art. 20 Abs. 1 d) CE; STC 20/1990 v. 15. Februar, über die Rechtfertigung der Beleidigung des Staatschefs durch die Ausübung des Rechts auf Ideologiefreiheit (Art. 16.1 CE) und der Meinungsfreiheit [Art. 20 Abs. 1 a) CE] u. a. 49 SSTC 25/2000 v. 31. Januar, FJ 3; 47/2000 v. 17. Februar, FJ 7; 167/2002 v. 18. September, FJ 2; 7/2004 v. 9. Februar, FJ 4.
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de gilt, welche ein Grundrecht betreffen, gibt es Gründe für die Annahme, dass dasselbe auch für sonstige Straffreistellungsgründe gelten soll, da bei allen das Gesetzlichkeitsprinzip ins Spiel kommt.
VI. Schlussfolgerungen Die Unschuldsvermutung ist wie ein Öl, das das gesamte Strafverfahren durchtränkt. Es wäre sinnlos, wenn nicht auch die Straffreistellungsgründe damit eingeschmiert würden, wenn gleich weniger kräftig. Wenn manche Besonderheiten hingenommen würden, stünden wir wieder vor dem klassischen Regel-Ausnahme Zusammenhang, so dass der Jurist nicht länger misstrauisch sein müsste, sondern sich entspannen könnte; und dann könnte er seine Gedanken über die Unschuldsvermutung zu Papier bringen, ohne über ihre Richtigkeit zu zweifeln.
Präventiv-repressive Befragung und strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrechte Von Mark Deiters
I. Präventiv-repressive Befragung als strafprozessuales Problem Der Polizei ist eine doppelte Aufgabe zugewiesen. Sie wird zum einen präventiv und dabei traditionell zur Abwehr einer konkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit tätig. Zum anderen obliegt ihr als Ermittlungsorgan der Staatsanwaltschaft die Aufgabe der Strafverfolgung. Dies kann in präventiv-repressiven Gemengelagen dazu führen, dass die Beamten entscheiden müssen, ob sie ihr Einschreiten vorrangig an den Vorgaben des einschlägigen Polizeigesetzes oder der Strafprozessordnung ausrichten. Die Wahl der Rechtsgrundlage kann praktisch zur Folge haben, dass entweder die Abwehr der Gefahr oder die Strafverfolgung vereitelt wird. Gleichwohl steht die Entscheidung in der Praxis häufig außer Streit.1 So dürfte es in dem Fall einer Geiselnahme allgemeiner Überzeugung entsprechen, dass Belange der Strafverfolgung grundsätzlich nachrangig zu behandeln sind, solange eine konkrete Gefahr für die Geiseln besteht.2 Diese Bewertung ist das Ergebnis einer Interessenabwägung3, bei welcher dem Schutz der Geiseln zu Recht der Vorrang vor der Strafverfolgung eingeräumt wird. Strafverfolgung ist kein Selbstzweck, sondern dient (wie das Polizeirecht) dem Rechtsgüterschutz.4 Im Unterschied zum Polizeirecht kann dieser Schutz aber nur ein mittelbarer sein.5 Es ist deshalb – annähernd gleichrangige Interessen und eine nicht nur entfernte Gefahr vorausgesetzt6 – sachgerecht, dem unmittelbaren Schutz von Rechtsgütern durch das Polizeirecht den Vorrang vor der Strafverfolgung einzuräumen.7 1
Denninger, in: Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl., Abschn. E Rn. 192. SK-StPO4/Wohlers, § 163 Rn. 32; SK-StPO/Rudolphi (Loseblattausgabe 10. EL 1994), Vor § 94 Rn. 12; LR26/Erb, § 163 Rn. 4. 3 HK5/Zöller, § 161 Rn. 29. 4 SK-StPO/Rudolphi (Loseblattausgabe 10. EL 1994), Vor § 94 Rn. 1; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 2006, § 2 Rn. 1. 5 Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2011, 3. Kap. Rn. 26. 6 LR26/Erb, § 160 Rn. 30. 7 Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2012, § 2 Rn. 12. 2
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Die Problematik ist eine andere, wenn die Orientierung an polizeirechtlichen Maßstäben nicht zur Verzögerung oder einem Verzicht auf Strafverfolgung führt, sondern das Ziel der Strafverfolgung befördert, zugleich aber möglicherweise die schützenden Formen des Strafprozessrechts außer Kraft setzt. Das Problem ist im Kontext der polizeirechtlichen Aufgabe der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung8 von besonderer praktischer Bedeutung, weil hier die Grenzen zwischen präventivem und repressivem Handeln praktisch kaum zu trennen sind und der Polizei auch zur Erfüllung dieser Aufgabe vielfältige und weitgehende Eingriffsbefugnisse an die Hand gegeben wurden, die jedenfalls vor Einführung des § 161 Abs. 2 StPO eine Umgehung der zum Teil restriktiver ausgestalteten strafprozessualen Vorgaben befürchten ließ.9 Während die Rechtsprechung trotz dieser Problematik zunächst von einer unbeschränkten strafprozessualen Verwertbarkeit präventiv-polizeilich erlangter Informationen ausging,10 wurde in der Literatur, auch von Jürgen Wolter, zu Recht gefordert, die Verwertbarkeit unter dem Gesichtspunkt eines hypothetischen Ersatzeingriffs davon abhängig zu machen, ob die Informationen auch bei strafprozessualem Vorgehen hätten erlangt werden können.11 Nachdem der Gesetzgeber diesem Anliegen im Zuge des Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität vom 4. Mai 199812 zunächst beschränkt auf die akustische Wohnraumüberwachung durch eine besondere, heute in § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO13 enthaltene und „im Grundsatz rechtsstaatlich gelungene“14 Verwendungsregelung Rechnung getragen hat, fand mit dem Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen vom 21. Dezember 200715 die ebenfalls auf dem Gedanken des hypothetischen Ersatzeingriffs beruhende, aber nicht auf spezifische Eingriffsbefugnisse beschränkte Regelung des § 161 Abs. 2 StPO Eingang in die Strafprozessordnung. Ist eine Maßnahme nach der Strafprozessordnung unabhängig vom Verdacht einer bestimmten Straftat zulässig, folgt aus dieser Vorschrift allerdings keine Beschränkung der Verwendung von Daten, die aus sachentsprechenden Maßnahmen nach anderen Gesetzen erlangt wurden.16 Auch in diesen von der Regelung des § 161 Abs. 2 StPO nicht erfassten Fällen kann durch die Verwertung präventiv erlangter Informationen aber eine Umgehung strafprozessualer Standards drohen. In dem für eine präventiv-repressive Gemengelage typischen Fall einer Geiselnahme kann eine solche Maßnahme etwa darin bestehen, die Verlobte des psychisch kranken Gei8
Zum Begriff SK-StPO/Wolter (Loseblattausgabe 15. EL 1996), Vor § 151 Rn. 158. Grundlegend zu dieser Problematik Weßlau, Vorfeldermittlungen, 1989 passim. 10 BGH NStZ 1992, 44 (45); NJW 1996, 405. 11 SK-StPO/Wolter (Loseblattausgabe 15. EL 1996), Vor § 151 Rn. 104, 176 m.w.N. 12 BGBl. I 1998, S. 845, 847. 13 Ursprünglich: § 100f Abs. 2 StPO. 14 SK-StPO/Wolter4, § 100d Rn. 64. 15 BGBl. I 2007, S. 3198. 16 HK5/Zöller, § 160 Rn. 31. 9
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selnehmers oder den ihn behandelnden Psychiater auf der Grundlage polizeirechtlicher Befugnisse über seine Erkrankung und das daraus resultierende Gefährdungspotential zu befragen, um das polizeiliche Handeln zum Schutz der Geiseln auf diese besonderen Umstände besser abstimmen zu können. Wegen des im konkreten Fall übergeordneten Interesses der Gefahrenabwehr ist es richtig, wenn die Polizei ihr Handeln (vorrangig) auf Polizeirecht stützt. Zugleich können die erlangten Informationen, z. B. im Hinblick auf die Gefährlichkeit des Geiselnehmers und eine deshalb in Betracht kommende Anordnung der Sicherungsverwahrung, aber für das spätere Strafverfahren von Bedeutung sein. Damit stellt sich die Frage, ob es zulässig ist, sie auch im Strafverfahren zu verwerten. Dies müsste verneint werden, sofern durch die Verwertung die strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrechte unzulässig umgangen würden. Die Gefahr einer Umgehung besteht freilich nur, soweit der Zeugnisverweigerungsberechtigte im späteren Strafverfahren nicht mehr die Gelegenheit hat, sein Zeugnisverweigerungsrecht noch wirksam auszuüben. Grundsätzlich ist ihm diese Möglichkeit nach § 252 StPO aber auch dann noch gegeben, wenn er vor der Hauptverhandlung vernommen wurde und ausgesagt hat. Das gilt ungeachtet des Ziels der Informationserhebung auch für Angaben im Rahmen einer Befragung in präventivrepressiven Gemengelagen.17 Entscheidend ist allein, dass der Zeuge vor der Hauptverhandlung von einem Staatsorgan in (erkennbar) amtlicher Eigenschaft zu dem fraglichen Sachverhalt gehört worden ist.18 Macht er trotz seiner früheren Angaben erst im Strafverfahren von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch, ergibt sich aus dieser Vorschrift auch die Unverwertbarkeit seiner im Rahmen der präventiven Befragung gemachten Angaben.19 Entschließt er sich hingegen erneut zur Aussage, ist die Verwertbarkeit der nunmehr unter Wahrung der strafprozessualen Kautelen erlangten Informationen jedenfalls grundsätzlich nicht problematisch. Anders stellt sich die Sachlage dar, wenn es nicht mehr möglich ist, den zur Verweigerung des Zeugnisses Berechtigten erneut zu vernehmen oder zumindest seine Entscheidung über die Wahrnehmung des Zeugnisverweigerungsrechts einzuholen – etwa weil er zwischenzeitlich verstorben oder sonst für das Strafverfahren unerreichbar ist. § 252 StPO steht einer Reproduktion seiner Angaben dann nicht entgegen.20 Das Gericht ist deshalb aufgrund seiner Amtsaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) 17
BGHSt 29, 230 (232); anders entscheidet die Rechtsprechung bei Äußerungen im Rahmen eines an die Polizei gerichteten Hilfeersuchens, s. BGH NStZ 1986, 232. 18 SK-StPO4/Velten, § 252 Rn. 17; LR26/Sander/Cirener, § 252 Rn. 11; BGH NJW 2005, 765 (766). 19 BGH NJW 2005, 765 (766) m.w.N. zur ständigen Rechtsprechung. 20 LR26/Sander/Cirener, § 252 Rn. 18 f.; KK6/Diemer, § 252 Rn. 12 f.; Meyer/Goßner55, § 252 Rn. 17; anders für die nach § 53 StPO zeugnisverweigerungsberechtigten Berufsgeheimnisträger aber SK-StPO4/Velten, § 252 Rn. 25: Reproduktion der Aussage nur bei Freigabe durch den Berechtigten. Diese Annahme steht aber in Widerspruch zu der gesetzlichen Konzeption, nach der die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts allein dem Berufsgeheimnisträger zusteht.
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grundsätzlich gehalten, den Polizeibeamten als Zeugen zu vernehmen, falls das Ergebnis der präventiven Befragung für seine Entscheidung von Bedeutung ist. Die Vernehmung des Polizeibeamten könnte aber einer Umgehung der strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrechte gleichkommen, falls die Polizeigesetze ihnen nicht bereits im Rahmen der präventiven Befragung hinreichend Rechnung tragen.
II. Polizeirechtliche Rahmenbedingungen 1. Regelungsmodelle – Gang der Untersuchung Angesichts der primären Gesetzgebungszuständigkeit der Länder für das Polizeirecht unterscheiden sich die Polizeigesetze hinsichtlich der Voraussetzungen einer Befragung in diesem Punkt erheblich. Kursorisch: In Bayern, Brandenburg, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Thüringen muss der Befragte, sofern für ihn nicht eine gesetzliche Handlungspflicht besteht, zwar seine Identifizierung ermöglichen, aber in der Sache keine Auskunft erteilen.21 Darüber, ob die Auskunft freiwillig oder verpflichtend ist, muss er grundsätzlich aufgeklärt werden.22 Besondere Regelungen für Personen, die im Strafverfahren zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt wären, finden sich in diesen Gesetzen auch für die Fälle einer Auskunftspflicht nicht. Gleiches gilt in Bremen. Das dortige Landesrecht sieht aber zusätzlich in erweitertem Umfang eine Auskunftspflicht des Befragten vor.23 In Berlin, im Saarland und in Sachsen-Anhalt gewähren die Landespolizeigesetze den im Strafverfahren zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigten Personen in entsprechender Anwendung der §§ 52, 53, 53a StPO ein Auskunftsverweigerungsrecht.24 Im saarländischen und im sachsen-anhaltinischen Polizeigesetz korrespondiert dem eine jeweils von unterschiedlichen Voraussetzungen abhängige Auskunftspflicht.25 Nach Berliner Polizeirecht gelten die §§ 52 ff. StPO dagegen unabhängig von einer nach dortigem Recht nur bei besonderen gesetzlichen Handlungspflichten begründeten Auskunftspflicht.26 Die Länder Baden-Württemberg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz gewähren für die Konstellationen einer Auskunftspflicht zunächst ebenfalls grundsätzlich ein Auskunftsver-
21 § 12 S. 1 und 2 BayPAG; § 11 Abs. 2 S. 1 und 2 BbgPolG; § 12 Abs. 1 HmbSOG; § 9 Abs. 2 PolG NRW; § 13 Abs. 2 ThPAG. 22 § 30 Abs. 2 Nr. 2 BayPAG; § 11 Abs. 2 S. 3 BbgPolG; § 12a Abs. 1 S. 3 HmbDSG; § 9 Abs. 6 PolG NRW; § 31 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 ThPAG. 23 § 13 Abs. 2 S. 2 BremPolG. 24 § 18 Abs. 6 ASOG Bln; § 11 Abs. 1 S. 4, 5 SPOlG; § 14 Abs. 2 S. 2, 3 SOG LSA. 25 § 11 Abs. 1 S. 2 SPOlG; § 14 Abs. 2 S. 1 SOG LSA. 26 § 18 Abs. 6 ASOG Bln.
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weigerungsrecht27 oder bewerten unter bestimmten Voraussetzungen schon die Befragung einer solchen Person als unzulässig28. Bei Gefahren für besonders wichtige Individualrechtsgüter gelten aber in unterschiedlichem Umfang Rückausnahmen,29 die zu einer Auskunftsverpflichtung auch der grundsätzlich auskunftsverweigerungsberechtigten Personen führen. Die dadurch erlangten Informationen dürfen aber nur zur Abwehr dieser Gefahren verwendet werden.30 Im Folgenden wird das Polizeigesetz Nordrhein-Westfalens (PolG NRW) zum Ausgangspunkt der Überlegungen genommen. Das erscheint deshalb sachgerecht, weil dort – wie auch in Bayern, Bremen, Brandenburg, Hamburg – eine Umgehung der strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrechte wegen des Fehlens sachentsprechender Auskunftsverweigerungsrechte besonders naheliegt. Im Anschluss werden die im Kontext des PolG NRW entwickelten Grundsätze – notgedrungen kursorisch – auf abweichende Regelungsmodelle übertragen. 2. Regelung der Befragung im PolG NRW a) Befugnis und Reichweite Nach § 9 Abs. 1 S. 1 PolG NRW darf eine Person befragt werden, wenn von ihr sachdienliche Angaben zu erwarten sind. Die Befragung ist grundsätzlich an den Betroffenen, d. h. die Person zu richten, über die personenbezogene Daten erhoben werden sollen31, § 9 Abs. 3 S. 1 PolG NRW. Ist dies nicht oder nicht rechtzeitig möglich oder würde ein solches Vorgehen die Erfüllung der polizeilichen Aufgabe erschweren oder gefährden, können die Daten nach § 9 Abs. 3 S. 2 PolG NRW auch ohne Kenntnis der betroffenen Person erhoben werden. Im Beispiel des psychisch kranken Geiselnehmers wäre die Polizei deshalb grundsätzlich befugt, bei Dritten Auskunft über seine Erkrankung und das sich daraus ergebende Gefährdungspotential einzuholen. § 9 Abs. 5 S. 2 PolG NRW steht dem nicht entgegen. Die nach dieser Vorschrift nur eingeschränkt zulässige Erhebung personenbezogener Daten über die Erkrankung des Betroffenen ist u. a. dann rechtmäßig, wenn sie der Schutz von Dritten einfordert. 27
§ 20 Abs. 1 S. 5 PolG BW; § 12 Abs. 2 S. 2 HSOG (aber nur, wenn der Betroffene für die Gefahr nicht verantwortlich ist); § 28 Abs. 2 S. 3 SOG M-V; § 18 Abs. 6 S. 2 SächsPolG; § 180 Abs. 2 S. 3 LVwG SH; § 12 Abs. 2 S. 3 Nds SOG; § 9a Abs. 3 S. 1 POG RP. 28 § 9a Abs. 1 S. 1 PolG BW. 29 § 20 Abs. 1 S. 6 und § 9 Abs. 2 PolG BW; § 12 Abs. 2 S. 3 HSOG (aber keine Auskunftspflicht für Rechtsanwälte und die in § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 2, 4 und 5 StPO Genannten); § 28 Abs. 2 S. 4 SOG M-V; § 18 Abs. 6 S. 3, 4 SächsPolG; § 180 Abs. 2 S. 4 LVwG SH; § 12 Abs. 2 S. 4 Nds SOG; § 9a Abs. 3 S. 2, 3 POG RP. 30 § 20 Abs. 1 S. 8 PolG BW; § 12 Abs. 2 S. 4 HSOG; § 28 Abs. 2 S. 5 SOG M-V; § 18 Abs. 6 S. 5 SächsPolG; § 180 Abs. 2 S. 5 LVwG SH; § 12 Abs. 2 S. 5 Nds SOG; § 9a Abs. 3 S. 5 POG RP. 31 Tegtmeyer/Vahle, Polizeigesetz Nordrhein-Westfalen, 10. Aufl. 2011, § 9 Rn. 26.
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b) Zeugnisverweigerungsrecht analog § 26 Abs. 2 S. 4 VwVfG NRW? Für den Fall, dass es sich bei den Befragten um Personen handelt, denen im Strafverfahren ein Zeugnisverweigerungsrecht zustünde, kennt das PolG NRW keine besonderen Regelungen. Zwar wird vorgeschlagen, § 26 Abs. 2 S. 4 VwVfG NRW entsprechend anzuwenden,32 sodass ein Auskunftsverweigerungsrecht jedenfalls hinsichtlich solcher Fragen bestünde, bei denen der Befragte Gefahr liefe, einen Angehörigen i. S. des § 383 Abs. 1 Nrn. 1 – 3 ZPO der Gefahr der Verfolgung wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit auszusetzen. Freilich wird selbst von den Befürwortern dieser analogen Anwendung deren methodische Fragwürdigkeit zugestanden, weil die polizeirechtlichen Regeln grundsätzlich als speziellere denen des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorgehen.33 Die Annahme, dass das Fehlen einer entsprechenden Regelung in § 9 PolG NRW nicht auf einer bewussten gesetzgeberischen Wertentscheidung beruhe, weshalb das Polizeirecht in diesem Punkt auch keine speziellere Regelung enthalte34, erscheint jedenfalls im Hinblick auf die explizit gegenteiligen Regelungen anderer Landespolizeigesetze gewagt. Bei näherer Betrachtung ist es systematisch durchaus konsequent, dass das PolG NRW im Kontext der Befragung keine Auskunftsverweigerungsrechte anerkennt. Abgesehen von Angaben zur Person nach § 9 Abs. 2 S. 1 PolG NRW, ist ein Befragter schon grundsätzlich nicht verpflichtet, Auskunft zu erteilen, sodass die grundsätzliche Anerkennung von Auskunftsverweigerungsrechten systemwidrig erschiene. Etwas anderes gilt nur für den Fall, dass gesetzliche Handlungspflichten bestehen, die sich insbesondere auch aus der allgemeinen Hilfeleistungspflicht (§ 323c StGB), der Pflicht zur Anzeige geplanter Straftaten (§ 138 StGB) oder einer Garantenpflicht (§ 13 StGB) ergeben können.35 Die Auskunftspflicht eines Zeugnisverweigerungsberechtigten dürfte aus der allgemeinen Hilfeleistungspflicht allerdings nicht ableitbar sein, da sie unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit steht. Der Bundesgerichtshof hat eine Verpflichtung zur Hilfeleistung deshalb verneint, soweit dadurch der zeugnisverweigerungsberechtigte Ehegatte der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt wird.36 Selbst wenn man diese Sichtweise im Grundsätzlichen nicht teilt37, ist im Kontext präventiv-re32 Gusy, NVwZ 1991, 614 (618); Haurand/Vahle, NVwZ 2003, 513 (517); vgl. auch Denninger (Fn. 1) Abschn. E Rn. 223: Ausdruck eines allgemeinen Verfassungsgrundsatzes. Dabei wird übersehen, dass sich aus der Verfassung allenfalls das Verbot der Verwertung ergeben kann. 33 Gusy a.a.O. 34 So in der Sache Gusy a.a.O. 35 Tegtmeyer/Vahle (Fn. 32), § 9 Rn. 22; Pieroth/Schlink/Kniesel (Fn. 7), § 14 Rn. 7; soweit die polizeirechtliche Störer-Eigenschaft als ausreichend angesehen wird, eine gesetzliche Handlungspflicht zu begründen – s. Haurand, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 5. Aufl. 2010, S. 128 m.w.N. –, ist dies im vorliegenden Fall praktisch ohne Bedeutung. 36 BGHSt 11, 135. 37 So etwa SK-StGB/Rudolphi/Stein (136. EL 2012), § 323c Rn. 21.
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pressiver Befragungen zu bedenken, dass die Hilfeleistung in einer Preisgabe von Wissen des Zeugnisverweigerungsberechtigten bestünde, das dieser nach den Vorschriften der Strafprozessordnung gerade nicht offenbaren muss. Man mag es deshalb für richtig halten, ihn unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Hilfeleistungspflicht zu der Vornahme von Handlungen zu verpflichten, die das Risiko der Strafverfolgung faktisch erhöhen. Eine darüber hinausgehende Verpflichtung zur Offenbarung von Wissen, das den Täter im Strafverfahren belasten kann, stünde jedoch in Widerspruch zu der Gewährung des strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrechts. Etwas anderes gilt für die in § 138 StGB strafbewehrte Pflicht zur Anzeige geplanter Straftaten. Insoweit verpflichtet das Gesetz, wie sich jedenfalls im Umkehrschluss aus der Regelung des § 139 StGB ergibt, auch einen Zeugnisverweigerungsberechtigten dazu, entweder die Behörden oder den Betroffenen von einer geplanten oder bereits begonnenen, aber noch nicht vollständig ausgeführten Straftat in Kenntnis zu setzen. Hat die Polizei bereits eine ungenaue Vorstellung von einer bevorstehenden oder bereits in Ausführung befindlichen Straftat, ist der Zeugnisverweigerungsberechtigte deshalb im Rahmen einer präventiven Befragung u. U. verpflichtet, sie über die näheren Umstände zu informieren. Insofern wäre es dann aber widersprüchlich, ihm polizeirechtlich ein Auskunftsverweigerungsrecht zuzubilligen. Gleiches gilt, soweit ein Garant zur Anzeige einer Straftat38 und damit im Einzelfall auch zur Auskunft im Rahmen einer präventiven Befragung verpflichtet ist. c) Aufklärungspflichten Über die Freiwilligkeit oder eine ggf. bestehende Auskunftspflicht hat die Polizei den Befragten nach § 9 Abs. 6 PolG NRW aufzuklären. Davon darf sie nur absehen, wenn die Aufklärung im Einzelfall „wegen besonderer Umstände offenkundig nicht angemessen“ ist oder sie „die Erfüllung der polizeilichen Aufgaben […] erheblich erschwert oder gefährdet“. Offenkundig unangemessen ist eine Aufklärung nur dann, wenn nach den Umständen des Einzelfalles kein Zweifel daran besteht, dass der Befragte selbst in der gegebenen Situation entweder kein Interesse an der Belehrung hat oder sie aufgrund besonderer Umstände nicht verstehen wird.39 Davon kann im Beispiel der Geiselnahme nicht ausgegangen werden. Hingegen scheint es naheliegend anzunehmen, dass die Aufklärung unterbleiben darf, weil die Polizei auf die Mitwirkung der Verlobten und des Psychiaters angewiesen ist, um Leib und Leben der Geiseln bestmöglich schützen zu können. Mit dieser Erwägung lässt sich das Unterlassen der Aufklärung allerdings nicht legitimieren. Eine Erschwerung oder Gefährdung der polizeilichen Aufgabe wäre bei dieser Interpretation des § 9 Abs. 6 PolG NRW regelmäßig nur dann nicht gegeben, wenn die befragte Person sich ohnehin schon der Freiwilligkeit ihrer Mitwirkung bewusst wäre. Dies würde dazu führen, die Pflicht zur Aufklärung über die Freiwilligkeit auf Fälle zu beschrän38 39
Vgl. etwa BGHSt 41, 113 (117). Tegtmeyer/Vahle (Fn. 32), § 9 Rn. 30: offenkundig unangemessen beim Volltrunkenen.
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ken, in denen es ihrer nicht bedarf. Der Hinweis auf die Freiwilligkeit der Auskunft darf deshalb unter dem Gesichtspunkt der erheblichen Erschwerung oder Gefährdung der polizeilichen Aufgabe nur unterbleiben, wenn der Vorgang der Aufklärung – etwa weil sehr schnelles Handeln geboten ist40 – die Gefahrenabwehr beeinträchtigen kann. d) Zwischenergebnis Personen, die nach der Strafprozessordnung zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt sind, müssen bei präventiven Befragungen auf der Grundlage des PolG NRW in der Regel keine Angaben machen, soweit sie nicht ausnahmsweise aufgrund gesetzlicher Handlungspflichten, etwa nach § 138 StGB oder als Garant, zur Abwehr der Gefahr verpflichtet sind. Im Beispiel der Geiselnahme müssen deshalb weder die Verlobte noch der Psychiater auf Fragen der Polizei antworten; auf die Freiwilligkeit etwaiger Angaben sind sie hinzuweisen.
III. Strafprozessuale Verwertbarkeit der nach § 9 PolG NRW erhobenen Informationen 1. Berufsgeheimnisträger (§ 53 Abs. 1 Nr. 1 – 3b StPO) Ausgehend vom Regelfall der freiwilligen Auskunft spricht von der Warte des Strafprozessrechts zunächst nichts gegen eine Verwertung der durch eine Befragung von Berufsgeheimnisträgern erlangten Informationen. Aus § 53 Abs. 1 StPO kann grundsätzlich kein Verwertungsverbot hergeleitet werden, wenn der Befragte zur Auskunft rechtlich nicht verpflichtet war. Da die Vorschrift dem Berufsgeheimnisträger nur ein Zeugnisverweigerungsrecht einräumt und keine Zeugnisverweigerungspflicht auferlegt,41 kann sie den Beschuldigten nicht vor einer freiwilligen Offenbarung des Anvertrauten schützen. Dies gilt auch für den Fall, dass die Offenbarung nach § 203 StGB strafbar sein sollte, weshalb die (hier zugrunde gelegte) Rechtsprechung es folgerichtig selbst für diese Fälle ablehnt, ein Verwertungsverbot anzunehmen.42 In dem Kontext der Befragung in einer präventiv-repressiven Gemengelage wird die Erteilung der Auskunft darüber hinaus häufig unter dem Gesichtspunkt des Notstands rechtmäßig sein. Der Verwertbarkeit steht auch nicht entgegen, dass die Befragung auf polizeirechtlicher Grundlage erfolgte. Ihrem objektiven Gehalt nach dient sie im Kontext einer präventiv-repressiven Gemengelage zugleich der polizeilichen Aufgabe der
40 Vgl. Tegtmeyer/Vahle a.a.O.: wenn die Aufklärung eine sofort erforderliche Hilfeleistung verzögert. 41 Eingehend dazu SK-StPO/Rogall (Loseblattausgabe 28. EL 2002), § 53 Rn. 28. 42 BGHSt 9, 59 (61) = NJW 1956, 599 (600).
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Straftaterforschung.43 Es handelt sich deshalb der Sache nach – ungeachtet der konkret von den Beamten verfolgten Ziele – um eine doppelfunktionale Polizeimaßnahme. Die Verwertbarkeit hängt deshalb grundsätzlich nur davon ab, ob die Informationsgewinnung auch nach der StPO rechtmäßig wäre.44 Dies ist grundsätzlich zu bejahen, da die StPO die Vernehmung des Berufsgeheimnisträgers ebenfalls ohne weiter gehende Restriktionen zulässt. Problematisch erscheint die Verwertung der Befragungsergebnisse nur, wenn sich der nach Maßgabe des Polizeirechts Befragte – anders als im Strafverfahren – nicht bewusst war, dass seine Angaben auch zum Zweck der Strafverfolgung genutzt werden können, oder er sich über wesentliche Umstände der Gefahrensituation irrte und deshalb seine Entscheidung nicht in sachgerechter Abwägung der widerstreitenden Interessen treffen konnte. Auch unter diesem Gesichtspunkt wird sich aber allenfalls in Ausnahmefällen ein Verwertungsverbot begründen lassen: Die StPO setzt voraus, dass der Berufsgeheimnisträger die Entscheidung über die Ausübung seines Zeugnisverweigerungsrechts grundsätzlich in eigener Verantwortung und selbständiger Folgenabschätzung trifft.45 Auch im Rahmen einer polizeirechtlichen Befragung muss er deshalb eigenständig in Rechnung stellen, dass seine Angaben auch zum Zwecke der Strafverfolgung genutzt werden können. Eine andere Bewertung ist nur dann gerechtfertigt, wenn die Fehleinschätzung von der Polizei zu verantworten ist – etwa weil sie den Befragten im Unklaren lässt über den Anlass der Befragung, die Gefahrensituation verzerrt darstellt oder den Eindruck erweckt, die Angaben könnten nur zum Zweck der Gefahrenabwehr Verwendung finden, und der Befragte durch diese Einflussnahme in seiner freien Entscheidung über die Ausübung seines Zeugnisverweigerungsrechts beeinträchtigt wird. Diese Konstellationen sind wie die Fälle einer fehlerhaften strafprozessualen Belehrung46 zu behandeln. Darüber hinaus erscheint es angesichts des § 26 Abs. 2 PolG NRW aber denkbar, dass der Berufsgeheimnisträger die Verwertung seiner Angaben durch eine entsprechende Zweckbestimmung seinerseits auf die Gefahrenabwehr beschränken kann. Die Vorschrift bestimmt, dass die Polizei Daten, die einem Berufsgeheimnis unterliegen und ihr von dem Berufsgeheimnisträger in Ausübung seiner Berufspflicht übermittelt wurden, nur ihrerseits an andere Stellen übermitteln darf, wenn der Empfänger sie zur Erfüllung des gleichen Zwecks benötigt, zu dem sie die Polizei erlangt hat. Indes ist zweifelhaft, ob die Regelung ein strafprozessuales Verwertungsverbot begründen kann. Nach § 160 Abs. 4 StPO wäre dazu erforderlich, dass es sich um eine besondere landesrechtliche Verwendungsbeschränkung handelt, die bundesrechtlichen Regelungen entspricht.
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BGHSt 29, 230 (232). Zu den insoweit nach wie vor – unabhängig von § 161 Abs. 2 StPO geltenden – Grundsätzen des hypothetischen Ersatzeingriffs s. SK-StPO4/Wohlers, § 161 Rn. 52. 45 BGHSt 42, 73 (76) = NJW 1996, 2435 (2436). 46 Dazu BGHSt 42, 73 (76 f.) = NJW 1996, 2435 (2436) m.w.N. 44
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Zumindest die zweite Voraussetzung dürfte nicht erfüllt sein: Soweit polizeirechtliche Regelungen des Bundesgesetzgebers ein auch im Strafverfahren zu beachtendes Verwendungsverbot für Aussagen zeugnisverweigerungsberechtigter Berufsgeheimnisträger enthalten, kompensieren sie eine Auskunftspflicht der entsprechenden Personen47 und haben deshalb einen grundlegend anderen Regelungsgehalt als § 26 Abs. 2 PolG NRW. Trotzdem ist es dem Befragten faktisch möglich, die Verwertbarkeit auf die Gefahrenabwehr zu beschränken, indem er der Polizei ausdrücklich nur zu diesem Zweck Auskunft erteilt. Der entsprechende Vorbehalt stellt nämlich zugleich eine eindeutige und bestimmte Erklärung dar, im anschließenden Strafverfahren von dem bestehenden Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen zu wollen. Eine solche vorhergehende Erklärung reicht aus, um das selbständige Beweisverwertungsverbot des § 252 StPO auszulösen.48 Fehlt es an einer solchen Erklärung, sind die durch präventive Befragung nach § 9 PolG NRW erlangten Angaben eines Berufsgeheimnisträgers aber jedenfalls dann verwertbar, wenn er zur Auskunft nicht verpflichtet war und über die Freiwilligkeit seiner Mitwirkung aufgeklärt wurde. Da der Hinweis auf die Freiwilligkeit über das hinausgeht, was bei einer strafprozessualen Vernehmung geboten ist, gilt das selbst für den Fall, dass dieser Hinweis – sei es rechtmäßig, sei es rechtswidrig – nicht erteilt wurde. Nur bei einer ausnahmsweise nach § 9 Abs. 2 PolG NRW anzunehmenden Verpflichtung zu sachdienlichen Angaben ist ein Verwertungsverbot anzunehmen, weil anderenfalls das dem Zeugen im Strafverfahren zustehende Recht zur Verweigerung des Zeugnisses umgangen würde. 2. Angehörige (§ 52 StPO) Bei Angehörigen besteht strafprozessual eine grundlegend andere Situation. Der aus persönlichen Gründen zur Verweigerung des Zeugnisses Berechtigte ist, anders als der Berufsgeheimnisträger, nach § 52 Abs. 3 S. 1 StPO auf sein Zeugnisverweigerungsrecht hinzuweisen. Unterbleibt die Belehrung, hat schon dieser Umstand grundsätzlich ein Verwertungsverbot zur Folge.49 Hinsichtlich der Verwertbarkeit von Informationen, die durch eine präventive Befragung Angehöriger erlangt wurden, stellt sich deshalb die Frage, ob die polizeirechtliche Aufklärung über die Freiwilligkeit der Auskunft bei einer präventiven Befragung ausreichend sein kann, das Fehlen der Belehrung über das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 Abs. 3 S. 1 StPO zu kompensieren. Auf den ersten Blick ist dies naheliegend, weil der Befragte in beiden Fällen auf die Freiwilligkeit seiner Mitwirkung aufmerk-
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Vgl. § 22 Abs. 3 S. 2, 3 BPolG; § 20c Abs. 3 S. 2, 4 BKAG. BGHSt 21, 12 (13) = NJW 1966, 742; SK-StPO/Rogall (Loseblattausgabe 41. EL 2004), § 52 Rn. 92; KK6/Diemer, § 252 Rn. 21. 49 SK-StPO/Rogall (Loseblattausgabe 41. EL 2004), § 52 Rn. 85 m.w.N. 48
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sam gemacht wird und die Art und Weise der Belehrung nach § 52 Abs. 3 S. 1 StPO nicht gesetzlich vorgeschrieben ist, sondern im Ermessen des Vorsitzenden steht.50 Allerdings ist selbst bei der strafprozessualen Vernehmung eines Zeugen die Belehrung über ein bestehendes Antwortverweigerungsrecht nicht stets deshalb nachgelassen, weil der Zeuge auf die unter einem anderen Gesichtspunkt bestehende Freiwilligkeit seiner Auskunft hingewiesen wurde. So wird durch die Belehrung eines Zeugen über das ihm nach § 52 Abs. 1 StPO zustehende Zeugnisverweigerungsrecht regelmäßig nicht der Hinweis auf ein gleichzeitig bestehendes Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 Abs. 1 StPO entbehrlich.51 Die Belehrung über sein Zeugnisverweigerungsrecht als Angehöriger des Beschuldigten informiert ihn nicht darüber, dass er sich möglicherweise selbst durch seine Aussage belasten kann, oder aber einen mit dem Beschuldigten nicht identischen Angehörigen der Gefahr der Strafverfolgung aussetzt. Sie ermöglicht ihm deshalb nicht, sich im Bewusstsein der auf dem Spiel stehenden Interessen für oder gegen die Aussage zu entscheiden. Der Hinweis darauf, dass er als Angehöriger das Zeugnis verweigern kann, lässt die Pflicht zu einer zusätzlichen Belehrung nach § 55 Abs. 2 StPO deshalb nur dann entfallen, wenn allein die Gefahr der Belastung des Beschuldigten besteht.52 Die polizeirechtliche Aufklärung über die Freiwilligkeit der Auskunft kann infolgedessen nur genügen, wenn der Befragte durch sie zugleich in die Lage versetzt wird, eine informierte Entscheidung über die Wahrnehmung seines strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrechts zu treffen. Dem steht im Kontext einer präventiv-repressiven Gemengelage regelmäßig nicht entgegen, dass sich der Befragte nicht der Gefahr bewusst wäre, möglicherweise die Strafverfolgung eines Angehörigen zu fördern. Diese Gefahr wird sich meist aus der Situation selbst ergeben. Selbstverständlich muss auch hier – wie schon beim Berufsgeheimnisträger – anderes gelten, wenn der Befragte die Situation falsch einschätzt und dies von der Polizei zu verantworten ist, oder die Gefahr der Strafverfolgung nicht offenkundig ist. Anders als bei der rein polizeirechtlichen Aufklärung ist der Zeuge nach § 52 Abs. 3 S. 1 StPO aber darauf hinzuweisen, dass er als Angehöriger keine Angaben machen muss. Ihm wird damit seine aus der Angehörigeneigenschaft resultierende Sonderstellung bewusst gemacht, infolge derer die Rechtsordnung ausnahmsweise 50
KK6/Diemer, § 52 Rn. 33. BayObLG NJW 1984, 1246 (1247); vorausgesetzt in BGH NStZ 1988, 561 (562); SKStPO/Rogall (Loseblattausgabe 32. EL 2003), § 55 Rn. 19; Meyer-Goßner55, § 55 Rn. 14; HK5/Gercke, § 55 Rn. 14; LR26/Ignor/Bertheau, § 55 Rn. 34; implizit auch KK6/Senge, § 55 Rn. 18. 52 BGH, Urt. v. 10. 9. 1963 – 5 StR 140/63 (unveröffentlicht), S. 4 letzter Absatz: „Da das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen gerade deshalb gegeben ist, damit sie nicht gezwungen werden, ihre Angehörigen zu belasten, ist daneben ein Hinweis auf § 55 StPO, soweit es sich um die Belastung des mit dem Zeugen verwandten Angeklagten handelt, nicht erforderlich.“; anders, aber ohne Auseinandersetzung mit der gegenteiligen Rechtsprechung KMR/Neubeck (59. EL 2010), § 55 Rn. 13: Pflicht zur zusätzlichen Belehrung nach § 55 Abs. 2 StPO auch soweit nur der verfolgungsgefährdete Angehörige beschuldigt ist. 51
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trotz des gewichtigen Interesses an der Strafverfolgung bereit ist, auf seine Mitwirkung zu verzichten. Der bloße Hinweis auf die Freiwilligkeit der Aussage macht diese Sonderstellung des Befragten hingegen nicht kenntlich, sondern weist ihn lediglich auf ein jedermann in der vergleichbaren Situation zustehendes Recht hin. Damit geht die Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht in zweifacher Hinsicht über den polizeirechtlich gebotenen Hinweis hinaus: Erstens wird dem Zeugen vor Augen geführt, welcher Grund gegen seine Mitwirkung sprechen könnte. Zweitens wird ihm bedeutet, dass die Rechtsordnung diesen Grund als so wichtig anerkennt, dass sie bereit ist, das Strafverfolgungsinteresse dahinter zurücktreten zu lassen. Normativ spricht insbesondere der zweite Gesichtspunkt dafür, dass die polizeirechtliche Aufklärung über die Freiwilligkeit der Auskunft nicht den Anforderungen an eine Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht genügt. Wer sich grundsätzlich verpflichtet fühlt, im Interesse der Allgemeinheit der Polizei die von ihr gewünschten Information zu geben, wird erst durch die Belehrung nach § 52 Abs. 3 S. 1 StPO über den für seine Entscheidung möglicherweise wesentlichen Umstand informiert, dass gerade auch die Allgemeinheit den Schutz des Angehörigenverhältnisses als vorrangig bewertet. Die Verpflichtung zur Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht soll damit auch die möglicherweise beim Zeugen vorhandene Fehlvorstellung beseitigen, die Allgemeinheit behandle ihn als Angehörigen wie jede andere Auskunftsperson. Ein Weiteres kommt hinzu: Die polizeirechtliche Aufklärung über die Freiwilligkeit der Auskunft informiert den Befragten nur darüber, dass er in der gegenwärtigen Situation keine Angaben machen muss; welche Verpflichtungen im späteren Strafverfahren bestehen, bleibt seiner Phantasie überlassen. Sie bewahrt ihn deshalb nicht vor dem Irrtum, im späteren Strafverfahren vor dem Staatsanwalt oder dem Richter aussagen zu müssen. Wer aber dieser Fehlvorstellung erliegt, hat in der Regel auch als Angehöriger keinen plausiblen Grund, im Rahmen einer präventiven Befragung die Auskunft zu verweigern. Im Gegenteil: Soweit die Angaben zur Gefahrenabwehr dienlich sind, kann dies auch dem strafverfolgungsgefährdeten Angehörigen zugutekommen, wenn dadurch weiteres Unheil vermieden wird. Im Gegensatz dazu verdeutlicht die Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht, wenn sie nicht missverständlich erfolgt, die Geltung dieses Rechts im gesamten Strafverfahren. Dem Zeugen wird bedeutet, dass er nicht nur im Rahmen seiner polizeilichen Vernehmung, sondern im gesamten Strafverfahren nicht gegen den Beschuldigten aussagen muss. Die gesetzliche Verpflichtung, ihn vor jeder Vernehmung erneut zu belehren, spricht nicht gegen diese Sichtweise. Dadurch soll lediglich sichergestellt werden, dass der Zeuge sich an eine einmal getroffene Entscheidung nicht gebunden fühlt.53
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SK-StPO/Rogall (Loseblattausgabe 41. EL 2004), § 52 Rn. 69.
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Vor diesem Hintergrund kann die polizeirechtliche Aufklärung nach § 9 Abs. 6 PolG NRW die Belehrung nach § 52 Abs. 3 S. 1 StPO nicht ersetzen. Soweit der Befragte nicht zusätzlich darüber belehrt wird, dass er (auch) im Strafverfahren als Angehöriger nicht aussagen muss, besteht hinsichtlich der präventiv erlangten Informationen grundsätzlich ein (unselbständiges) Verwertungsverbot wegen Nichtbeobachtung der Belehrungspflicht aus § 52 Abs. 3 S. 1 StPO. Dass das Handeln der Polizeibeamten nach den Vorgaben des Polizeigesetzes rechtmäßig war, vermag daran nichts zu ändern. Für die Annahme eines Verwertungsverbotes kommt es allein darauf an, ob die strafprozessualen Formen gewahrt wurden. Es ist deshalb grundsätzlich unerheblich, aus welchem Grund die Belehrung unterblieben ist.54 Freilich steht dieses Ergebnis unter dem Vorbehalt, dass ein Verwertungsverbot überhaupt anzuerkennen ist, wenn der Zeugnisverweigerungsberechtigte nicht erneut strafprozessual vernommen werden kann und deshalb nicht in der Lage ist, selbst eine Entscheidung über die Wahrnehmung seines Zeugnisverweigerungsrechts zu treffen. Die Rechtsprechung hat dies trotz fehlender Belehrung verneint, soweit der Zeuge verstorben ist55, bislang aber offen gelassen, ob Gleiches auch im Fall einer Unerreichbarkeit des Zeugen i. S. des § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO gilt.56 Die für den Fall des verstorbenen Zeugen vorgetragene Begründung, dass durch den Tod der Pflichtenwiderstreit zwischen Zeugnispflicht und Rücksichtnahme auf die Belange des Angehörigen entfalle,57 ist freilich auf den lediglich unerreichbaren Zeugen nicht übertragbar. Allerdings vermag schon die Annahme der unbeschränkten Verwertbarkeit beim verstorbenen Zeugen nicht zu überzeugen. Die Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht soll verhindern, dass eine strafrechtliche Verurteilung auch auf der Aussage eines Angehörigen beruht, der sich seines Zeugnisverweigerungsrechts möglicherweise nicht bewusst war. Für das unselbständige Verwertungsverbot wegen einer entgegen § 52 Abs. 1 S. 3 StPO nicht vorgenommenen Belehrung kommt es deshalb – anders als beim selbständigen Beweisverwertungsverbot nach § 252 StPO58 – nur auf die Sachlage im Zeitpunkt der Aussage an. Auch der Tod des Zeugen ist somit für die Beurteilung des Verwertungsverbots ohne Bedeutung: Er ändert nichts daran, dass die Aussage möglicherweise in Unkenntnis des Zeugnisverweigerungsrechts er54
SK-StPO/Rogall (Loseblattausgabe 41. EL 2004), § 52 Rn. 85. BGHSt 22, 35 (36) unter wörtlicher Inbezugnahme der Entscheidung BGH MDR 1966, 384 bei Dallinger; zustimmend KK6/Diemer, § 252 Rn. 13; KK6/Senge, § 52 Rn. 39. 56 BGHSt 22, 35 (37); BGH NJW 1973, 1139 (letzter Satz) = BGHSt 25, 176 (dort nicht abgedruckt); die Entscheidung BGHSt 27, 139 betrifft dagegen den Sonderfall, dass der Zeuge zunächst als Mitbeschuldigter über seine Aussagefreiheit belehrt wurde, das Verfahren später aber gegen ihn abgetrennt werden musste, da er sich der Hauptverhandlung entzogen hatte (vgl. a.a.O. S. 140). Für diesen Fall nimmt die Rechtsprechung keine Unverwertbarkeit seiner früheren Aussage an, obwohl er bei seiner Aussage – zwangsläufig – nur als Beschuldigter, und nicht auch nach § 52 Abs. 1 S. 3 StPO, belehrt wurde. 57 BGHSt 22, 35 (37). 58 Dazu SK-StPO4/Velten, § 252 Rn. 23. 55
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folgte und einer strafgerichtlichen Verurteilung deshalb nicht zugrunde gelegt werden darf.59 Im Ergebnis sind die im Rahmen einer präventiven Befragung von Angehörigen nach § 9 PolG NRW gewonnenen Erkenntnisse deshalb im Strafverfahren trotz Aufklärung über die Freiwilligkeit der Auskunft regelmäßig unverwertbar, wenn der Zeuge später nicht erneut im Strafverfahren vernommen werden kann und dann nach erfolgter Belehrung über sein Zeugnisverweigerungsrecht seine Angaben wiederholt oder – soweit man dies für zulässig erachtet60 – von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, aber die Verwertung seiner früheren Aussage gestattet. Für die nach dem nordrhein-westfälischen Polizeigesetz nur ausnahmsweise bestehenden Fälle der Auskunftspflicht des Befragten und der rechtswidrig unterbliebenen Aufklärung über die Freiwilligkeit muss dies selbstverständlich erst recht gelten.
IV. Verwertbarkeit auf der Grundlage abweichender polizeirechtlicher Regelungsmodelle Die ausgehend vom PolG NRW entwickelten Grundsätze ermöglichen es nunmehr, auch für andere polizeirechtliche Regelungsmodelle Leitlinien zu formulieren. Dabei sollen zunächst die in Berlin, Sachsen-Anhalt und dem Saarland geltenden Polizeigesetze in Blick genommen werden, die dem Befragten in entsprechender Anwendung der §§ 52, 53, 53a StPO ein Verweigerungsrecht einräumen, über das die Polizeibeamten auch belehren müssen.61 Hier scheint die strafprozessuale Verwertbarkeit auf den ersten Blick unproblematisch. Bei näherer Betrachtung gilt auch dies aber wiederum nur für die durch eine präventive Befragung des Berufsgeheimnisträgers erlangten Informationen. Hier gelten die oben skizzierten Grundsätze; der Schutz des dem Berufsgeheimnisträger zustehenden Zeugnisverweigerungsrechts wird durch das Erfordernis der Belehrung sogar verstärkt. Letzteres gilt auch für das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen. Soweit nach nordrhein-westfälischem Polizeirecht die Aufklärung über die Freiwilligkeit genügt, muss hier der Hinweis erfolgen, dass der Befragte wegen seiner Angehörigeneigenschaft nicht zur Mitwirkung verpflichtet ist. Eine Belehrung über die Rechtsstellung im Strafverfahren ist aber auch nach diesem Regelungskonzept nicht erforderlich. Insoweit genügt auch die polizeirechtliche Aufklärung über ein analog § 52 Abs. 1 StPO bestehendes Auskunftsverweigerungsrecht nicht den Anforderungen der strafprozessualen Belehrungspflicht aus § 52 Abs. 3 S. 1 StPO. Schon im Polizeirecht angelegt ist die Unverwertbarkeit dort, wo die landesrechtlichen Regelungen für bestimmte, besonders dringliche Gefahren eine Auskunfts59
SK-StPO4/Velten, § 252 Rn. 25. Meyer-Goßner55, § 252 Rn. 16a m.w.N. 61 Siehe oben Fn. 24.
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pflicht auch der Zeugnisverweigerungsberechtigten vorsehen, gleichzeitig aber die Verwendung der dadurch erlangten Informationen (Daten) zu anderen Zwecken ausdrücklich untersagen. Diese Regelungstechnik findet sich auch im Bundespolizeiund im BKA-Gesetz.62 Damit handelt es sich um besondere landesgesetzliche Verwendungsregeln i. S. des § 160 Abs. 4 StPO, die auch im Strafverfahren zu beachten sind. Freilich würde sich in diesen Fällen – wegen der Verpflichtung zur Auskunft – bereits aus den Wertungen der §§ 52, 53 StPO ein Verbot der Verwertung der durch die Befragung erlangten Informationen im Strafverfahren ergeben.
V. Ergebnisse Eine nach polizeirechtlichen Maßstäben in einer präventiv-repressiven Gemengelage durchgeführte Befragung von Personen, die im Strafverfahren als Berufsgeheimnisträger oder als Angehörige zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt sind, kann die Gefahr einer Umgehung der strafprozessualen Wertungen der §§ 52, 53 StPO in sich bergen. Infolge der Gemengelage wird der Zeugnisverweigerungsberechtigte nicht nur polizeirechtlich befragt, sondern – ungeachtet des Ziels der Informationserhebung – auch strafprozessual als Zeuge vernommen. Daraus folgt, dass die Verwertung der polizeirechtlich erfragten Informationen im Strafverfahren zweifelhaft ist, sofern die Orientierung an polizeirechtlichen Maßstäben zugleich eine Außerachtlassung der strafprozessualen Wertungen mit sich bringt. Die Problematik wird zunächst durch die Regelung des § 252 StPO entschärft, die dem Zeugen die Befugnis einräumt, sein Verweigerungsrecht auch dann noch wirksam auszuüben, wenn er zu einem früheren Zeitpunkt ausgesagt hat. Die Gefahr einer Umgehung der strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrechte bleibt aber trotz dieser Regelung bestehen, sobald der Befragte im späteren Strafverfahren nicht mehr vernommen werden kann. Dies gilt entgegen der Rechtsprechung auch für die Fälle, in denen die Unmöglichkeit der erneuten Vernehmung eines Angehörigen durch dessen Tod bedingt ist, weil dadurch die Konfliktlage, in der sich der Angehörige im Zeitpunkt seiner Angaben befand, nicht aufgelöst wird. Bei der strafprozessualen Beurteilung ist danach zu differenzieren, ob polizeirechtlich eine Auskunftspflicht bestand oder nicht. Ferner ist von Bedeutung, unter welchem Gesichtspunkt dem Befragten nach den Regeln der StPO ein Zeugnisverweigerungsrecht zugestanden hätte. Erfolgte die Auskunft freiwillig, können gegen die strafprozessuale Verwertung der Befragungsergebnisse bei einem nach § 53 Abs. 1 Nr. 1 – 3b StPO zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigten Berufsgeheimnisträger grundsätzlich keine durchgreifenden Bedenken erhoben werden. Die Informationen durften unter den gleichen Voraussetzungen auch strafprozessual erhoben werden. Ein Verwertungsverbot wegen Verstoßes gegen § 53 Abs. 1 StPO kommt insoweit nur in Betracht, falls 62
§ 22 Abs. 3 S. 3 BPolG; § 20c Abs. 3 S. 4 BKAG.
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sich der Befragte in einem für die Entscheidung zur Auskunftserteilung erheblichen Irrtum befand und diese Fehlvorstellung von der Polizei – vergleichbar den Fällen einer irreführenden strafprozessualen Belehrung – zu verantworten war. Darüber hinaus kann der Zeugnisverweigerungsberechtigte aber schon im Rahmen seiner polizeirechtlichen Befragung eine spätere Verwertung seiner Angaben im Strafprozess nach § 252 StPO verhindern, indem er die Auskunft ausdrücklich an den Zweck der Gefahrenabwehr bindet und damit zugleich erklärt, strafprozessual von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen. Die von einem Angehörigen im Rahmen einer präventiven Befragung gemachten Angaben sind dagegen grundsätzlich selbst dann unverwertbar, wenn er über die Freiwilligkeit der Auskunft aufgeklärt wurde. Eine solche Aufklärung bleibt in doppelter Hinsicht hinter den Anforderungen an die nach § 52 Abs. 3 S. 1 StPO gebotene Belehrung über das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht zurück. Zum einen muss der Befragte nicht darauf hingewiesen werden, dass von ihm gerade als Angehöriger keine Auskunft verlangt wird. Zum anderen bewahrt ihn die polizeirechtliche Aufklärung nicht vor dem möglichen Irrtum, im späteren Strafverfahren vor der Staatsanwaltschaft oder dem Richter aussagen zu müssen. Dieser zweite Gesichtspunkt führt dazu, dass selbst eine – im Landesrecht teilweise vorgesehene – polizeirechtliche Belehrung über ein analog § 52 Abs. 1 StPO bestehendes (polizeirechtliches) Auskunftsverweigerungsrecht den Hinweis auf das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht nicht entbehrlich macht. War der Befragte hingegen polizeirechtlich zur Auskunft verpflichtet, ergibt sich für die Ergebnisse sowohl der Befragung eines Berufsgeheimnisträgers (§ 53 Abs. 1 Nr. 1 – 3b StPO) als auch eines Angehörigen (§ 52 Abs. 1 StPO) ein strafprozessuales Verwertungsverbot. Dieses besteht unabhängig von besonderen Verwendungsregeln des zugrunde liegenden Polizeirechts. Entsprechenden polizeirechtlichen Vorschriften kommt deshalb für das Strafverfahren keine konstitutive Bedeutung zu. Das gilt jedenfalls dann, wenn man richtigerweise annimmt, dass die unter Verletzung eines Zeugnisverweigerungsrechts gewonnenen Informationen infolge des strafprozessualen Verwertungsverbots uneingeschränkt als rechtlich nicht existent behandelt werden müssen.63
63 SK-StPO/Rogall (Loseblattausgabe 41. EL 2004), § 52 Rn. 85 m.w.N.; zum Streit über die Wirkungen des Verwertungsverbots ebd. und Rn. 88 m.w.N.
Antastung der Menschenwürde im Strafverfahren Von Ralf Eschelbach und Klaus Wasserburg Jürgen Wolter hat Recht. Strafverfahrensrecht ist nicht nur der Seismograph der Staatsverfassung. Seine Ausschläge sind auch schon seit langer Zeit sehr heftig. Sie bleiben aber vom Gesetzgeber und von der Rechtsprechung unbeachtet; selbst laute Warnrufe aus der Wissenschaft finden kein Gehör. Der Zustand des Strafverfahrens ist katastrophal.1
I. Der gefährliche Mensch als Objekt des Verfahrens Sogar die Beurteilung der Garantie des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG, wonach die Menschenwürde unantastbar ist, hat sich geändert. Nicht mehr die Tat steht im Zentrum des strafprozessualen und kriminalpolitischen Interesses, sondern der entsubjektivierte2 gefährliche Mensch, der deshalb notfalls, wenn Strafe vollstreckt ist und sie die Gefährlichkeit des Verurteilten nicht kuriert hat, „verwahrt“ werden soll, was begrifflich sonst nur mit einer Sache getan werden kann.3 Der versachlichte Mensch ist zum bloßen Objekt der Kriminalpolitik und des Strafverfahrens geworden, weshalb Gesetzgebung und Rechtsprechung den Begriff der Menschenwürde modifizieren und mit Gegenpositionen aufwiegen müssen, um die Behauptung zu wagen, alles sei noch mit der Garantie aus Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG und dem Menschenwürdegehalt des Freiheitsrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG vereinbar. „Legitimation durch Verfahren“ wird versucht, indem ärztliche Gutachten4 über (auch) psychisch gar nicht „kranke“ Menschen gefordert werden, durch die eine Gefährlichkeit in ähnlicher Weise wie Krankheit diagnostiziert werden soll. Dann sollen Richter, für welche die Gutachten inhaltlich nicht mehr nachvollziehbar sind, in einem angeblich rechtsstaatlichen und i. S. von Art. 92 GG auch gerichtlichen Verfahren eigenverantwortlich die Verwahrung der gefährlichen Menschen anordnen und andauern lassen können. Periodische Kontrollen mit gleichen Mitteln sollen die Legitimation für die Fortdauer der Verwahrung oder Sicherungsstrafe liefern. 1 Wolter, in: Heinrich/Jäger/Achenbach/Amelung/Bottke/Haffke/Schünemann/Wolter (Hrsg.), Festschrift Roxin, 2011, Bd. 2, S. 1267. 2 Böhm, Der „Gefährder“ und das „Gefährdungsrecht“, 2011, S. 123 ff. 3 Kant, Methaphysik der Sitten, 1. Teil, 2. Aufl. 1798, S. 226. 4 BVerfGE 109, 158; 109, 216 f.
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Damit der Etikettenschwindel des Missbrauchs von Strafrecht zu kriminalpolitischen Präventionszwecken nicht auffällt, wird angeblich von Verfassungs wegen ein „Abstandsgebot“ ausgerufen,5 das jedenfalls in Fällen der Konkurrenz von lebenslanger Freiheitsstrafe mit der zeitlich unbegrenzten Verwahrung nicht funktionieren kann, weil die lebenslange Freiheitsstrafe nach der Mindestverbüßungsdauer wegen der Schwere der Schuld denselben Zweck verfolgt6 und im Vollzug gleich behandelt werden muss. Die Therapierung der unverbesserlichen Nichtkranken von ihrer Gefährlichkeit soll schließlich ebenfalls legitimierend wirken, sie setzt aber erst ein, wenn alle Instrumente des Strafvollzuges versagt haben und danach eigentlich keine ernsthaften Erfolgsaussichten mehr bestehen, was sonst im Maßregelrecht als Kontraindikation gilt (vgl. § 64 Satz 2 StGB). Die Bedeutung der Erosion des Verfahrensrechts in diesem Kontext wird deutlich, wenn die „Erfolgsgeschichte“ der verfahrensrechtlichen Legitimationsmittel genauer betrachtet wird. Die Forensische Psychiatrie lehnt es ab, Untersuchungen zur Validität und Reliabilität ihrer Diagnoseinstrumente für die Gefährlichkeitsaussage anzustellen.7 Das ist an sich zutreffend, weil dafür die Kriminologie zuständig ist.8 Freilich ist damit auch die Forensische Psychiatrie insgesamt nicht für die Kriminalprognose kompetent. Die Fehlerquellen und Fehlerquoten der psychiatrischen Gutachten über Gesunde bleiben in der Praxis im Dunkeln. Geht man nach neueren Untersuchungen davon aus, dass jedenfalls die absolute Mehrzahl der psychiatrischen Gutachten, welche den Probanden eine „Gefährlichkeit“ attestieren, zu deren Ungunsten falsch ist,9 so erweist sich das angebliche Legitimationsmittel tatsächlich als massive Gefährdung der Erforschung der materiellen Wahrheit. Würde das Prognosebeweisrecht ebenso wie das Beweisrecht in dem auf repressive Maßnahmen gerichteten Verfahren behandelt, so dürfte man in seinen Instrumenten keine „Legitimation durch Verfahren“ erkennen. Tatsächlich ist der Proband im Verfahren über die Maßregel chancenlos, - weil er „Sachverständigen“ gegenüber steht, die fachlich unzuständig sind, - weil Tatrichter die Einzelheiten der psychiatrischen Prognoseinstrumente nicht verstehen, - weil „in dubio pro securitate“ geurteilt wird, - weil eine ins Einzelne gehende Richtigkeitsgewähr nicht existiert, zumal im System der Kontrolle ausschließlich Rechtskontrollinstanzen der Revision und der Urteilsverfassungsbeschwerde zur Verfügung stehen, aber keine effektive Tatsachenüberprüfung nachfolgt, 5
BVerfGE 109, 167; 128, 375 ff.; dgg. Höffler/Kaspar, ZStW 124 (2012), 108 ff. BGH, Urt. v. 25. 7. 2012 – 2 StR 111/12; Urt. v. 12. 12. 2012 – 2 StR 325/12. 7 Kröber, NStZ 1999, 599. 8 Bock, HRRS 2012, 533 ff. 9 Alex, Nachträgliche Sicherungsverwahrung, 2010, S. 91 ff.; Kinzig, Die Legalbewährung gefährlicher Rückfalltäter, 2. Aufl. 2010, S. 306. 6
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- weil die Erforderlichkeitskontrolle am Ende des Strafvollzuges stattfindet, der im Zweifel mangels Vollzugslockerungen für die als gefährlich geltenden Gefangenen keine echte Probe aufs Exempel ermöglicht, und - weil schließlich die Verwahrung des gefährlichen Subjekts per se kaum Chancen auf Rehabilitation von dem Makel der Gefährlichkeit eröffnet.10 Dennoch soll die Verwahrung mit der Menschenwürde und dem Kern des Freiheitsrechts vereinbar sein, indem der Bevölkerung ein kollektives Grundrecht auf Sicherheit zugebilligt wird, gegen das die Rechte des Verurteilten aus Art. 1 Abs. 1 Satz 1, 2 Abs. 2 Satz 2 GG aufgewogen werden.11 Die Allgemeinheit ist aber kein Grundrechtsträger. Ein so genanntes „mehrpoliges Grundrechtsverhältnis“ zwischen dem in das Freiheitsrecht eingreifenden Staat, dem von staatlichen Eingriffsmaßnahmen betroffenen Straftäter und der vor Risiken zu schützenden Allgemeinheit besteht nicht.12 Folgt man zudem einem Unabwägbarkeitsdogma zur Menschenwürdegarantie, so ist die Sicherungsverwahrung wegen Verletzung von Art. 1 Abs. 1 Satz 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verfassungswidrig13 und nicht nur wegen Verletzung eines „Abstandsgebots“, das kein grundrechtliches Gebot ist. Sieht man davon ab, dass die Verwahrung des Menschen wegen behaupteter Gefährlichkeit dazu führt, dass der Mensch umdefiniert und nach materiellem Recht zum Objekt der Maßregel gemacht wird, so ist im Verfahren die nahezu vollkommene Chancenlosigkeit gegenüber einer Gefährlichkeitsbehauptung, die wegen struktureller Defizite des Prüfungsvorgangs sogar mit überwiegender Wahrscheinlichkeit falsch ist, aber keine effektive Verteidigung und keinen wirkungsvollen Rechtsschutz zulässt, ein Fall, in dem eine Verletzung von unverfügbaren Rechtspositionen anzunehmen ist. Auch hierin ist eine qualifizierte Verletzung der Fairness des Verfahrens14 zu sehen, die wegen des irreversiblen Befundes ein Verfahrenshindernis zur Folge haben müsste.
II. Rechtsverweigerung als Eingriff in den Kernbereich der Beschuldigtenrechte Unverfügbares in dem auf Repression ausgerichteten Strafverfahren hat Jürgen Wolter über Jahre hinweg immer wieder beschäftigt und er hat eine Reihe von Konstellationen vorgefunden, in denen das „moderne“ Strafverfahren die Menschenwür10
J. L. Müller, NK 2/2012, S. 58. BVerfGE 109, 151; gegen die Abwägung von Kernbereichsverletzungen mit Sicherheitsinteressen in anderem Zusammenhang Wolter, in: Canaris/Heldrich/Hopt/Roxin/Schmidt/ Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. IV, 2000, S. 994. 12 Fornauf, ZRP 2011, 89; Volkmann, JZ 2011, 838. 13 Elsner/Schobert, DVBl. 2007, 280. 14 Zu dieser Kernbereichsparallele für das procedere Wolter (Fn. 11), S. 991. 11
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de oder den Menschenwürdegehalt der Freiheitsrechte antastet.15 Das Eindringen in eine innere Sphäre oder den elementaren Lebensraum des Menschen,16 die Totalüberwachung17 und umfassende Ausforschung des Persönlichkeitsbildes18 oder auch die Missachtung prozessualer Zentralpositionen, wie im Fall der Selbstbelastungsprovokation19 unter Nichtachtung des Grundsatzes „nemo tenetur se ipsum accusare“20 gehören dazu. Vielleicht lässt sich auch die Totalverweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes vor einem Freiheitsentzug hinzufügen. Sie begegnet uns nicht nur in dem Verfahren um die Sicherungsverwahrung, sondern etwa auch in exekutiv dominierten Geheimverfahren. Der Staat setzt unter Umgehung21 der Regeln der §§ 110a ff. StPO nicht selten VLeute ein, die von ihm aus getarnten Haushaltstiteln alimentiert und honoriert werden. Die Identität von V-Leuten wird von der Exekutive „grundsätzlich geheim gehalten“ (Ziff. I.2.2 Anl. D zu den RiStBV). Sie entfernt sie bald wieder aus dem Strafverfahren, indem sie ihre Identität und die Tatsache des Einsatzes für die Behörde geheim hält. Informationen darüber gelangen nicht in die Akten des Strafverfahrens, weil das Innenressort den Vorgang beherrscht. V-Leute dürfen unter einer „Legende“ auftreten und ihnen wird Vertraulichkeit zugesagt. Die Vertraulichkeitszusage bezieht sich auch auf ihre Verbindung zu den Strafverfolgungsbehörden (Ziff. I.5.5 Anl. D zu den RiStBV). Ziel ihres Einsatzes ist es ferner, mit ihrer Hilfe andere Beweismittel zu finden, deren Verwendung im Strafverfahren die Preisgabe der V-Leute als Zeugen entbehrlich macht (Ziff. I.3.2 Anl. D zu den RiStBV). Die V-Personen tauchen also heimlich auf und ebenso heimlich wieder unter. Was danach für das Strafverfahren übrig bleibt, sind Sachbeweise oder Sekundärzeugen für ein Tatgeschehen, in das unerreichbare Zeugen mit unbekannter Rolle irgendwie involviert waren. Von der Polizeibehörde den eigentlichen Strafverfolgungsorganen zur Verfügung gestellt werden aber nur Führungsbeamte als Zeugen vom Hörensagen. Ob sie die von der Vertraulichkeitszusage umfasste Art der Verbindung der V-Personen zu den Strafverfolgungsbehörden offenbaren, erscheint im Hinblick auf den Umfang der Vertraulichkeitszusage zumindest zweifelhaft. Art und Höhe einer Honorierung der „bezahlten Zeugen“22 bleiben jedenfalls in der Praxis unbenannt. Ob die Bezahlung, auch mit gestaffelten Erfolgsprämien, mit § 136a Abs. 1 Satz 3 StPO, dem „Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils“, vereinbar ist, wird wegen der Geheimhaltungsmaßnahmen im gerichtlichen Verfahren nicht diskutiert.
15
SK-StPO/Wolter, 4. Aufl. 2010, § 100f Rn. 32. BVerfGE 103, 150; 106, 43. 17 BVerfGE 112, 319. 18 BVerfGE 65, 42; 115, 351. 19 Wolter, ZIS 2012, 238 ff. 20 BVerfGE 56, 43. 21 Zu Ausforschungs- und Umgehungsverboten Wolter (Fn. 11), S. 969 ff. 22 Eschelbach, StV 2000, 391. 16
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Das generell antisoziale Aussagemotiv,23 das prinzipiell gegen die Glaubhaftigkeit der „freien Mitarbeiter“ der Polizei spricht, bleibt im Dunkeln. Ob Tatprovokationen, Selbstbelastungsprovokationen als qualifizierte Missachtung der Beschuldigtenrechte24 oder – damit prinzipiell gleichwertig25 – Umgehungen von Zeugnisverweigerungsrechten aufgedeckt werden können, ist zweifelhaft. Die Bemühungen der Gerichte um Herbeischaffung der V-Leute als Zeugen sind regelmäßig aussichtslos, weil die oberste Dienstbehörde, die dem Innenressort angehören soll,26 diese Beweismittel sperrt und darauf verweist, dass sie andernfalls für weitere Einsatze „verbrannt“ wären,27 weil ihre Vertraulichkeitszusage nicht gebrochen werden dürfe, um Dritte nicht vor der Rekrutierung als Aufklärungsgehilfen abzuschrecken,28 und weil allfällige Gefahren für Leib und Leben befürchtet werden,29 wenn die Tätigkeit für die Polizei in der kriminellen Szene bekannt würde. Dagegen sind Tatgerichte machtlos. Sie können den Innenminister nach einer Sperrerklärung nicht zur Preisgabe der Geheimnisse zwingen.30 Die Verteidigung wird auf den Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten verwiesen,31 der für Zwecke des Strafverfahrens praktisch aussichtslos ist. Auch hier werden eine wirksame Verteidigung und effektiver Rechtsschutz nicht gewährleistet. Das Prinzip vom Vorrang und vom Vorbehalt des Gesetzes32 spielt scheinbar keine Rolle, weil die Praxis mit Richtlinien arbeitet.33 Der Grundsatz der Aktenwahrheit und Aktenvollständigkeit34 ist aufgegeben. Die Leitungsmacht der Staatsanwaltschaft im Vorverfahren wird an die insoweit angeblich dem Innenressort unterstehenden Polizeibehörden abgegeben, die alleine über umfangreiche Mittel und Möglichkeiten zum V-Mann-Einsatz, bis hin zu geheimen Haushaltspositionen, verfügen. Die Verfahrensherrschaft des Gerichts im Zwischen- und Hauptverfahren schwindet dahin. Der heimliche Eingriff in die Privatsphäre des Beschuldigten unter faktischem
23
Soiné, NStZ 2013, 84. Wolter (Fn. 11), S. 973. 25 Wolter (Fn. 11), S. 971. 26 BGHSt 42, 38. 27 Meyer-Goßner, StPO, § 96 Rn. 13; abl. H. E. Müller, Behördliche Geheimhaltung und Entlastungsvorbringen des Angeklagten, 1992, S. 31 f.; SK-StPO/Wohlers, 4. Aufl. 2010, § 96 Rn. 25. 28 BGHSt 33, 91; abl. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 8. Aufl. 2012, Rn. 1037. 29 BVerfGE 57, 284 f.; BGHSt 29, 113; 36, 164; BVerwGE 75, 10; abl. Eisenberg (Fn. 28), Rn. 1036; Taschke, Die behördliche Zurückhaltung von Beweismitteln im Strafprozess, 1989, S. 181 ff. 30 BGHSt 32, 126. 31 BGHSt 45, 321; BVerwG DVBl. 2006, 851 ff. 32 Zur Bedeutung im Eingriffsrecht allgemein Wolter (Fn. 11), S. 968. 33 Zur Nichtbeachtung des Gesetzesvorbehalts beim V-Mann-Einsatz SK-StPO/Wolter (Fn. 15), § 110a Rn. 3; s.a. Gössel, NStZ 1996, 288. 34 LG Berlin StV 1986, 96 f.; Taschke (Fn. 29), S. 213 ff. 24
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Ausschluss des Rechtswegs führt aber dazu, dass über ihn kurzerhand von Obrigkeits wegen verfügt und er zum bloßen Objekt staatlicher Gewalt gemacht wird.35 Eine Gegenkorrektur soll durch die „strikte Beachtung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung“ in Form einer besonders vorsichtigen Würdigung,36 notfalls unter Beachtung des in dubio-Grundsatzes erfolgen.37 Aber „Freiheit“ der Beweiswürdigung von starren Beweisregeln ist nicht durch „strikte Beachtung“ zu relativieren, allenfalls durch eine Beweisregel, die mit der Freiheit gemäß § 261 StPO schon begrifflich unvereinbar wirkt und in der Form, dass nur „regelmäßig“ ein Zeugnis vom Hörensagen alleine zur Verurteilung nicht ausreichend sein soll, kaum als Rechtsnorm i. S. von § 337 Abs. 1 StPO gelten kann. Der Zweifelssatz ist schließlich eine generell geltende Entscheidungsregel für das Votum des individuellen Richters erst nach einer Gesamtwürdigung aller Beweisanzeichen,38 wobei dem Richter auch nicht vorgeschrieben werden kann, wann er subjektive Zweifel haben soll und wann nicht. Im Grunde müssten Zweifel stets bestehen, wenn auch nur ansatzweise bekannt wäre, dass V-Leute aus der kriminellen Szene eingesetzt wurden, die möglicherweise durch hohe Erfolgsprämien verlockt wurden, regelmäßig aus antisozialen Motiven heraus handeln und deshalb unglaubhaft erscheinen müssen, wenn ihre Aussagen nicht sogar nach §§ 136a Abs. 1 Satz 3, Abs. 3 StPO unverwertbar sind, ferner, wenn möglicherweise eine Tatprovokation stattgefunden hat oder aber wenn die Verteidigungsposition des Angeklagten durch Selbstbelastungsprovokation39 erschüttert ist. Tatsächlich werden solche Zweifelsgründe von der Exekutive so verborgen, dass der Tatrichter keine Chance hat, auch nur Anhaltspunkte dafür zu entdecken. Damit wird zugleich eine Verteidigung chancenlos und der revisionsrechtliche Rechtsschutz, der durch das richterrechtliche „Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung“40 ohnehin strukturell schwach ausgeprägt ist, bleibt systematisch noch mehr ausgedünnt. Es ließe sich also unschwer die These vertreten, dass der Angeklagte, der zur Tat oder zur Selbstbelastung verführt wurde und dem etwa beim reinen Verbalkontrakt um einen Betäubungsmittelhandel im Hinblick auf die Erhöhung der Erfolgsprämie des Polizeispitzels eine zu hohe – nicht existierende – Betäubungsmittelmenge als Verhandlungsgegenstand angelastet wird, keine Chancen auf wirkliche Verteidigung und effektiven Rechtsschutz besitzt. Daraus ergibt sich die Rechtsfolgenfrage, wie mit den strukturellen Defiziten umzugehen ist, die den Angeklagten zum Objekt des Verfahrens werden lassen, weil seine Verteidigung zwischen den aufgesplitterten Zuständigkeiten der Exekutive und der Strafgerichte aufgerieben wird.
35
Vgl. Geller/von Schlabrendorff/Rupp, Sondervotum in BVerfGE 30, 42. BVerfG StV 2010, 338; BGHSt 36, 166; 46, 104 ff. 37 BVerfGE 57, 292. 38 BGHSt 36, 290. 39 SK-StPO/Wolter (Fn. 15), § 110a Rn. 3a. 40 BGHSt 43, 213.
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Strafzumessungs- oder Vollstreckungslösungen liefern nur einen „Vergleich von Äpfeln mit Kaulquappen“41 und bleiben systemfremd sowie begrenzt hilfreich. Beweiswürdigungslösungen behaupten Kontrollmechanismen, die aber strukturell unbrauchbar sind. Die Würdigung des Unbekannten in den Geheimnisfällen oder auch in den Fällen des nicht Nachvollziehbaren einer „Gefährlichkeitsprognose“ (oben I.) ist praktisch unmöglich, weil sie einer Rechnung mit zu vielen Unbekannten gleicht. Es bleibt scheinbar nur das Verbot eines jedenfalls bei Tatprovokation eines bisher Unverdächtigen ab initio unfairen Verfahrens oder zumindest eines strukturell unbrauchbaren Beweises, wobei der Streit um den Vorrang der Verfahrenshindernisoder Beweisverbotslösung zweitrangig erscheint.42 Aber auch ein Beweisverwertungsverbot reicht in den Geheimnisfällen nicht aus, weil der gesperrte Zeuge als Beweismittel nicht zur Verfügung steht, das Zeugnis vom Hörensagen des Ersatzzeugen nicht alle Einzelheiten, auf die sich die Vertraulichkeitszusage erstreckt, reproduzieren kann oder darf, und weil Sekundärbeweise, die mit Hilfe des gesperrten Zeugen zu Tage gefördert werden, mangels einer von der Rechtsprechung anerkannten Fernwirkung eines – seinerseits im Dunkeln bleibenden – Beweisverwertungsverbots nicht zu annullieren sind. Die Pflicht zur Wahrunterstellung von Entlastungsvorbringen des Angeklagten könnte hier ein Kompensationsmittel sein, das aber von der Rechtsprechung prinzipiell wieder nicht anerkannt wird.43 Genau genommen dürften solche Verfahren deshalb gar nicht erst geführt werden. Der mögliche Grund für ein Verfahrenshindernis selbst bleibt freilich wiederum im Dunkeln, so dass zuerst die Rückabwicklung der Fehlsteuerung an verschiedenen prozessualen Schaltstellen angezeigt erschiene. Das müsste theoretisch ein Gesetzgeber bewirken, der über die Problembereiche informiert und regelungswillig ist. Daran fehlt es derzeit aber auch, weil der unwissende und unwillige Gesetzgeber die Praxis alleine lässt.44 Die Lage ist verfahren. Vorerst findet nur ein Kurieren am Symptom statt. Sobald der Wiederaufbau des Rechtsstaats in Angriff genommen wird, sollte bei den essentialia begonnen werden. Dazu gehören die Menschenwürdegarantie und der Menschenwürdegehalt der Freiheitsrechte, deren Beachtung schon jetzt verstärkt gefordert werden muss. Es gibt einen absolut geschützten Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung,45 in den der Staat nicht eindringen darf, auch nicht zum Schutz der „Effektivität der Strafrechtspflege“. Es gilt daher, solche Grundpositionen klarzustellen. Materiell fallen darunter, wie Jürgen Wolter herausgearbeitet hat, der letzte 41
Paeffgen, StV 2007, 487. Wolter (Fn. 11), S. 980. 43 BGHSt 49, 122; anders etwa LG Berlin StV 1986, 96 f.; H. E. Müller (Fn. 27), S. 67 ff. 44 Wolter (Fn. 1), S. 1246. 45 BVerfGE 109, 314; 119, 29.
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Rückzugsraum des Menschen in seiner Wohnung, seine intimsten personalen Beziehungen, sein psychisches Innenleben und die Gesamtheit seines Persönlichkeitsbildes. Formell sind die Selbstbelastungsfreiheit, der Schutz vor informeller Ausforschung46 und die prinzipielle Möglichkeit einer wirklichen Verteidigung im Strafverfahren als Kernbereich prozessualer Rechtspositionen zu beachten und dürfen nicht umgangen werden.47 Damit sind Ansatzpunkte einer positiven Umschreibung der Menschenwürde und des Menschenwürdegehalts der Freiheitsrechte gegeben, die bisher meist nur negativ dahin abgegrenzt werden, wann eine Antastung nicht vorliegt. Dabei wird der Begriff der Menschenwürde häufig auch nur vom Verletzungsvorgang, also vom Grundrechtseingriff her beschrieben.48 Versuche einer positiven Definition des Schutzbereichs, die eine Subsumtion unter das Eingriffsrecht des Strafverfahrens für die Praxis erst möglich machen würde, stecken noch in den Kinderschuhen. Die Tagebuchentscheidung des Bundesverfassungsgerichts49 zeigt, dass eine Abwägungslösung, wie sie von der Rechtsprechung bevorzugt wird,50 weil damit alles realisierbar ist, was im Einzelfall gewünscht erscheint, einer positiven Definition des Kernbereichs systematisch entgegengesetzt wird. Wenn es nun auch von der Abwägung einer Vielzahl von Aspekten im Einzelfall abhängt, ob die Menschenwürde angetastet erscheint oder nicht,51 dann ist das Ergebnis immer vom Auge des Betrachters abhängig. Wenn jeder inhaltliche Bezug einer Information, die aus einem Beweismittel zu gewinnen ist, zu einer strafbaren Handlung einen „Sozialbezug“ darstellt,52 der die Information und die Beweismittelverwertung aus dem Kernbereich der Persönlichkeitsgestaltung heraushebt, dann gibt es im Strafverfahren nie eine Antastung der Menschenwürde oder des Menschenwürdegehalts des Persönlichkeitsrechts. Was für die Strafverfolgungsbehörden von Interesse ist, wird durch einen unmittelbaren oder auch nur mittelbaren Tatbezug stets enttabuisiert; was unverwertbar ist, erscheint für Strafverfahrenszwecke grundsätzlich uninteressant. Allenfalls „Mischgespräche“ bilden ein Problem, das aber im Zweifel zugunsten der Zulässigkeit von Beweiserhebung und Beweisverwertung gelöst wird, weil die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege53 heute strukturell im Ergebnis sogar Vorrang vor dem Schutz der Menschenwürde und des Kernbereichs der Persönlichkeitsentfaltung genießt, die im Abwägungsergebnis zurückstehen.54 46
SK-StPO/Wolter (Fn. 15), § 110a Rn. 3a. Wolter (Fn. 1), S. 1263. 48 BVerfGE 109, 312. 49 BVerfGE 80, 373 ff. 50 BVerfG NJW 2012, 910 f.; BGHSt 38, 219 f.; 38, 374; 47, 179; 52, 54; 53, 116; 54, 87; 56, 145. 51 BGHSt 50, 210 ff. 57, 74 ff. 52 BVerfGE 109, 319; 130, 22. 53 Zu diesem Topos Wolter (Fn. 11), S. 967. 54 Dgg. Wolter, ZIS 2012, 241. 47
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III. Versuch einer Definition von Menschenwürde oder Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung Die Andeutung des Versuchs einer positiven Umschreibung des Menschenwürdegehalts des Persönlichkeitsrechts findet sich in der zweiten Selbstgesprächsentscheidung des Bundesgerichtshofs.55 Die erste Entscheidung hatte noch den Schutz der räumlichen Sphäre des Art. 13 Abs. 1 GG vor dem Lauschangriff nach § 100c StPO im Krankenzimmer hinzugezogen,56 die zweite Entscheidung musste ohne solche Hilfserwägungen auskommen, weil dort der Lauschangriff auf das Selbstgespräch mit inhaltlichem Tat- oder Verfahrensbezug gemäß § 100 f StPO im Auto erfolgte. Das einfache Recht ist hier lückenhaft,57 da § 100f StPO keine Regeln über den Kernbereichsschutz enthält, als finde ein solcher außerhalb der Wohnung nicht statt. Jürgen Wolter hat zutreffend betont, dass der Kernbereichsschutz aber nicht mit dem Verlassen der Wohnung endet. Maßgeblich ist allenfalls das „besonders Geschützte“ des Gesprächsorts.58 Schließlich sollte ein Kernbereichsschutz auch dem Wohnungslosen zukommen.59 Der Bundesgerichtshof hat den Schutz deshalb auch unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet,60 die schließlich die Menschenwürdegarantie und die Freiheitsrechte enthält und nur den Kernbereich nicht definiert und – von Art. 13 Abs. 3 GG abgesehen – keinen präventiven Kernbereichsschutz vorsieht. Zu prüfen war vor allem die Frage, ob der inhaltliche Tat- oder Verfahrensbezug des abgehörten Selbstgesprächs im Auto dazu führt, dass der absolut geschützte Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung schon durch Entäußerung von Worten verlassen war.61 Das wurde hier im Ergebnis ebenso wie in der ersten Selbstgesprächsentscheidung62 verneint.63 Es musste aber im Fall der Pkw-Überwachung anders begründet werden, weil der höchstpersönliche Lebensbereich des Art. 13 Abs. 1 GG,64 in dem auch Gespräche mit engsten Angehörigen, Verteidigern oder dem Beichtvater über eine Tat besonders geschützt werden, keine Rolle spielte. Die Begründung musste zudem – sicher auch durch einen horror pleni motiviert – von der Bemerkung des Bundesverfassungsgerichts65 u. a. in der Tagebuchentscheidung ab55
BGHSt 57, 77. BGHSt 50, 210. 57 Mitsch, NJW 2012, 1487; SK-StPO/Wolter (Fn. 15), § 100 f Rn. 30. 58 SK-StPO /Wolter (Fn. 15), § 100 f Rn. 33. 59 Mitsch, NJW 2012, 1486. 60 BGHSt 57, 74. 61 Dgg. i. S. der Selbstgesprächsentscheidung SK-StPO/Wolter (Fn. 15), § 100f Rn. 35. 62 BGHSt 50, 212. 63 BGHSt 57, 76. 64 Vgl. zu diesem Schutzwall Wolter, in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, Symposium für Bernd Schünemann zum 60. Geburtstag, 2005, S. 229 ff. 65 BVerfGE 80, 374. 56
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gehoben werden,66 dass der Tatbezug ein „Gespräch“ prinzipiell mit einem Sozialbezug versehe, der außerhalb des Kernbereichs der Persönlichkeitsentfaltung liege.67 Die Erklärung für die Irrelevanz des Äußerungsinhalts wurde in der Qualität des Selbstgesprächs gefunden.68 Es ist nichts anderes als der Inhalt der Gedanken, der partiell verbalisiert wird. Menschen denken meist in Sprache, was sie vom Tier unterscheidet, das auch denkt und träumt, aber keine Sprache beherrscht, und die Menschen denken unablässig. Würde das Denken zwanghaft unterbrochen, dann wären psychische Gesundheit und Menschsein in Gefahr. „Cogito ergo sum“. Denken macht also den Menschen aus und die Umschreibung dessen, was für den Menschen essentiell ist und seine Würde oder den Kern seines Persönlichkeitsrechts erklären könnte, mag ein Ansatz dafür sein, eine positive Umschreibung der Menschenwürde und des Kernbereichs der Freiheitsrechte künftig weiter zu versuchen.69 Der Eingriff in die nicht freiwillig durch Außenkommunikation preisgegebene Gedankenwelt verletzt die Menschenwürde. Gedankenfreiheit ist jedenfalls ein Teil des Schutzes des Kernbereichs der Persönlichkeitsentfaltung. Das meist unbewusste Verbalisieren der Gedanken an einer Stelle, an der sich der Mensch unbeobachtet fühlt und fühlen kann, liegt an der Peripherie des Denkens. Gedankenkontrolle und eine staatliche Überwachung des Denkvorgangs, die bei Beschuldigten eine Denksperre auslösen könnte, tastet den Menschenwürdegehalt des Persönlichkeitsrechts an. Deshalb ist der Lauschangriff auf das heimliche Selbstgespräch auch dann verboten, wenn sich die Gedanken um eine Straftat drehen. Denn einem Beschuldigten darf das Denken nicht verboten werden, nicht einmal die eigengedankliche Auseinandersetzung mit einer möglicherweise von ihm begangenen Straftat. Der Lauschangriff hierein wiegt so schwer wie ein Eingriff in die Freiheit der Gewissensbildung oder die religiös motivierte Beichte (Art. 4 Abs. 1 GG) und steht dem gleich. Das staatliche Strafverfolgungsinteresse muss insoweit zurücktreten, auch wenn der Einblick in die Gedanken des Beschuldigten für Ermittler, die sonst vor Aufklärungsproblemen stehen, noch so aufschlussreich und interessant erscheinen mag.
IV. Rechtsfolgen der Antastung des Kernbereichs der Persönlichkeitsentfaltung Eine andere Frage ist diejenige nach den Rechtsfolgen. Dass der absolute Kernbereichsschutz zum absoluten Verbot der Beweiserhebung führt und der dennoch erlangte Beweis auch i. S. d. Rechtsgedankens von § 136a Abs. 3 StPO70 in quali66
BGHSt 57, 76. Zur Rechtfertigung Ernst/Sturm, HRRS 2012, 379 ff. 68 BGHSt 57, 75. 69 Unverstanden von Warg, NStZ 2012, 239 ff. 70 Wolter, ZIS 2012, 240 f.
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fizierter Weise unverwertbar ist, klingt banal. Problematischer wirkt die Frage danach, ob auch eine entlastende Beweiswirkung entfällt. Der 1. Strafsenat des BGH hat dies in der ersten Selbstgesprächsentscheidung für möglich gehalten, aber offen gelassen.71 Der 2. Strafsenat hat die Geltung des absoluten Beweisverbots in der zweiten Entscheidung auch insoweit bejaht.72 Dabei war sogar die Frage der Entlastung eines Dritten von Bedeutung. Der Beschuldigte, der die Tat nach der Verdachtshypothese selbst begangen hat und von seiner Schwester Irmgard als Mittäterin unterstützt worden war, hatte die Mitbeschuldigte im Selbstgespräch scheinbar von dem Vorwurf der Mittäterschaft und des Tatwissens entlastet, indem er sie erst über das Fehlen eines unverdächtigen Grundes der Verschollenheit des Opfers aufklärte: „Nö Irmi, wir haben sie totgemacht“. Wusste die Schwester danach zur Tatzeit scheinbar noch nichts vom Grund des Verschwindens des Opfers, dann konnte diese Information aus dem Mund des mutmaßlichen Haupttäters ein Entlastungsindiz sein. Die Verwertung entlastender Indizien zugunsten eines Angeklagten ist jedenfalls rechtsethisch ohne weiteres legitimierbar und sie benötigt keine gesetzliche Ermächtigung.73 Die Frage ist hier zudem, ob es dem Tatrichter zuzumuten wäre, dies bei der Beweiswürdigung zum Mordvorwurf auszublenden und die möglicherweise Unschuldige zum Schutz des Kernbereichs des Persönlichkeitsrechts des Haupttäters zur Höchststrafe zu verurteilen, wenn das sonstige Beweisbild ohne dieses Indiz eine solche Entscheidung gebieten könnte.74 Freilich ist die be- oder entlastende Wirkung eines Einzelindizes vor einer Gesamtwürdigung aller Beweise kaum vorhersehbar. Der 2. Strafsenat hat kategorisch auf der Unverwertbarkeit für und gegen alle Angeklagten bestanden.75 Dahinter steht eine verfahrensrechtliche Überlegung zum Verhältnis von Beweiserhebung und Beweisverwertung. Der Kernbereichsschutz fordert ein Beweiserhebungs- und ein Beweisverwertungsverbot. Verwertungsverbote haben eine „Vorwirkung“.76 Das schon im Vorverfahren geltende und bei der Beweiswürdigung wieder beachtliche Verwertungsverbot ist zugleich ein Beweiserhebungsverbot für die Hauptverhandlung. Der absolut geschützte Kernbereich des Persönlichkeitsrechts des Beschuldigten, dessen Selbstgespräch belauscht und aufgezeichnet wurde, gebietet es also, darüber in der Hauptverhandlung nicht Beweis zu erheben, weil auch etwa das Abspielen einer Tonbandaufzeichnung des Selbstgesprächs eine neue Antastung des Menschenwürdegehalts des Persönlichkeitsrechts wäre, die dem Staat untersagt bleibt. Die Beweiswürdigung bezieht sich aber nur auf die in der Hauptverhandlung zulässigerweise erhobenen Beweise (§ 261 StPO). Also stellt sich die Frage der Verwertung im Rahmen der Beweiswürdigung 71
BGHSt 50, 214. BGHSt 57, 78. 73 Wolter (Fn. 11), S. 986. 74 Vgl. die Urteilsanmerkungen von Habetha, ZWH 2012, 166; Jahn/Geck, JZ 2012, 566 f.; Ladiges, StV 2012, 518 f.; Wohlers, JR 2012, 391. 75 BGHSt 57, 78; Mitsch, NJW 2012, 1488. 76 Wolter (Fn. 11), S. 980; ders., ZIS 2012, 241. 72
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des Gerichts nicht, wenn das Selbstgespräch nicht zum Gegenstand der Erörterungen in der mündlichen und öffentlichen Hauptverhandlung gemacht wird. Die Annullierung eines potenziellen Entlastungsindizes ist durch die Grenzen der Freiheit der Beweiswürdigung und die Beachtung des Zweifelssatzes auszutarieren, nicht durch eine Ausnahme vom Beweisverwertungsverbot. Der Zusammenhang von Beweiserhebung und Beweisverwertung wird – wieder einmal – übergangen, wenn das Bundesverfassungsgericht nun sogar die Freiheit der Beweiswürdigung gemäß § 261 StPO zur Ermächtigungsnorm für die Beweisverwertung umdefiniert,77 die insoweit auch noch als hinreichend bestimmt gelten soll, während Beweisverwertungsverbote eine besonders begründungsbedürftige Ausnahme sein sollen.78 Die Ausnahmefälle der Beweisverbote werden dann meist in einem Abwägungsvorgang annulliert,79 bei dem das Gewicht des Tatvorwurfs besondere Bedeutung hat und dazu führt, dass in Kapitalstrafsachen kaum jemals Beweisverwertungsverbote angenommen werden. Dabei wäre die strikte Beachtung der schützenden Formen des Strafverfahrens gerade hier von besonderer Bedeutung.80 Tatsächlich muss die Beweisverwertungsbefugnis des Staates bei Eingriffen in grundrechtlich geschützte Positionen positiv begründet werden,81 statt die Unverwertbarkeit zur – abwägungsoffen – begründungspflichtigen Ausnahme zu erklären. Das wirkt etwa in den V-Mann-Fällen (oben II.) durchgreifend, weil der gesamte V-Mann-Einsatz mitsamt seinen Geheimhaltungsmaßnahmen dem Prinzip vom Vorrang und vom Vorbehalt des Gesetzes nicht entspricht.
V. Fazit Jürgen Wolter82 hat auch insoweit Recht, als er gerade in der systemlosen Abwägungsrechtsprechung, die sogar vor Kernbereichsfragen nicht Halt macht,83 wenn es um den Tatbestand einer Antastung der Menschenwürde und nicht nur um die Rechtsfolge eines Beweiserhebungsfehlers in Form eines unselbständigen Beweisverwertungsverbots geht, einen zentralen Grund für die Erosion des Strafverfahrens erblickt. Die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur angeblichen Bedeutung von § 261 StPO als Ermächtigungsnorm zeigt an, dass diese Erosion das progressive Tempo der Gletscherschmelze durch den Klimawandel angenommen hat. Die Erderwärmung wirkt bedrohlich, aber die nächste Eiszeit kommt bestimmt. 77
BVerfGE 130, 29. BVerfGE 130, 28; anders bereits Wolter (Fn. 11), S. 968; ders. (Fn. 1), S. 1265. 79 Ablehnend bei Beweisverboten in Fällen der Kernbereichsberührung Wolter (Fn. 11), S. 987. 80 Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozess, 1977, S. 97. 81 Wolter (Fn. 11), S. 995; Dallmeyer, Beweisführung im Strengbeweisverfahren, 2002, S. 123 ff.; Jahn, Gutachten C zum 67. Deutschen Juristentag 2008, C66 ff. 82 Wolter (Fn. 1), S. 1260 ff. 83 Wolter (Fn. 1), S. 1262 f. 78
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Wir hoffen darauf, dass Jürgen Wolter seinen Ruf nach Beachtung des Unverfügbaren im Strafprozess weiter erschallen lässt, und wünschen ihm und uns, dass wir ihn durch die kleine Skizze zur Fortsetzung seiner Ausführungen ermuntert haben.
Problembereiche der anwaltlichen Schweigepflicht bei der Unternehmensberatung* Von Hanns W. Feigen und Barbara Livonius
I. Vorbemerkung Wirtschaftsstrafsachen, die sich gegen Unternehmen und deren Verantwortliche richten, haben in den vergangenen Jahren weiter zugenommen. Zugleich hat sich die Zahl der in diesen Verfahren tätigen externen Berater vervielfacht. Nicht wenige sonst eher auf dem Gebiet des Zivilrechts tätige Kanzleien haben spätestens seit den außerordentlich umfangreichen Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit Siemens, MAN, Ferrostaal etc. festgestellt, dass sich hier nicht nur im Hinblick auf die (später) erforderliche gesellschaftsrechtliche Beratung,1 sondern bereits bei der internen Sachverhaltsermittlung ein beachtliches neues Geschäftsfeld eröffnet. Haftungsnormen des Aktienrechts sowie Vorschriften des Ordnungswidrigkeitengesetzes2 geben immer häufiger vor allem den Geschäftsleitern Veranlassung, nicht nur zur internen Aufklärung, sondern auch zur präventiven Beratung externe Expertise einzuholen, auch wenn manche Compliance-Abteilungen inzwischen mehr als überproportional gewachsen sind. Damit gelangen nicht nur im Krisenfall vom Unternehmen mandatierte Rechtsanwälte in interne Unternehmensbereiche. Dort führen sie Gespräche verschiedenster Art: Anhörungen i. S. von „Vernehmungen“ von Mitarbeitern, Informationsgespräche in der Rechts-, Personal-, Revisions- oder Compliance-Abteilung und schließlich auch – je nach Fall – mit einem oder mehreren Vorstandsmitgliedern. Dies gilt insbesondere für den sog. Unternehmensanwalt, der federführend das Unternehmen gegenüber der zuständigen Staatsanwaltschaft vertritt und dort als „Verfahrensbevollmächtigter“ anerkannt und als Gesprächspartner akzeptiert wird, auch wenn eine solche Rolle – worauf manche Staatsanwaltschaften zunächst hinweisen – in der Strafprozessordnung nicht ausdrücklich Erwähnung findet. Der vom Unternehmen beauftragte externe Rechtsanwalt hat zur Durchführung seines Mandats in aller Regel zahlreiche Gespräche zu führen, die – jedenfalls aus *
Jürgen Wolter in alter und bewährter Freundschaft mit herzlichen Glückwünschen! Ansprüche der Gesellschaft gegen (frühere) Vorstände und Aufsichtsräte. 2 Insb. §§ 130, 30, 17 Abs. 4 OWiG.
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Sicht des Gesprächspartners – vertraulich sind oder vertraulich sein sollen. Liegt solcher Kommunikation die Annahme zugrunde, dass das, was vertraulich ist, auch vertraulich bleiben soll? Worauf könnte sich eine solche Annahme stützen? Die Erfahrung mit Gesprächen dieser Art zeigt, dass das dem Unternehmensanwalt in seiner Funktion als Rechtsanwalt Anvertraute oder sonst Bekanntgewordene unschwer als fremdes Geheimnis unter dem Tatbestand des § 203 StGB subsumiert werden kann. Damit stellt sich die Frage, ob die Weitergabe dieses Geheimnisses ohne entsprechende Einwilligung des Mitteilenden unbefugt i. S. des § 203 StGB ist oder ob es einer Einwilligung nicht bedarf, da ein geschütztes Vertrauensverhältnis mit einem einzelnen Mitarbeiter des Unternehmens oder einem Vorstandsmitglied gar nicht hat begründet werden können, weil das Mandat vom Unternehmen erteilt ist und weil der Mitteilende dies hätte berücksichtigen müssen. Es wird deutlich, dass das zuvor kurz skizzierte Problemfeld nicht erst dann einer Lösung bedarf, wenn sich im Hinblick auf eine in Aussicht genommene Vernehmung des Anwalts im Ermittlungs- oder Strafverfahren die Frage stellt, wer im Hinblick auf die Entbindung von der anwaltlichen Schweigepflicht i. S. von § 53 Abs. 2 StPO erklärungsberechtigt ist. Die entscheidende Frage, was dem Rechtsanwalt von wem anvertraut worden oder was ihm im Rahmen seiner Tätigkeit bekannt geworden ist und wer vor diesem Hintergrund in die Weitergabe von Geheimnissen wirksam einzuwilligen in der Lage ist, kann – wie Dahs3 bereits vor 35 Jahren zutreffend hervorgehoben hat – allein der Rechtsanwalt auf der Grundlage des Einzelfalles einer Lösung zuführen. Denn der Rechtsanwalt – nicht der Auftraggeber – läuft Gefahr, sich gemäß § 203 StGB strafbar zu machen, falls das Fundament der ihm erteilten Entbindung von seiner anwaltlichen Schweigepflicht brüchig ist. Deshalb liegt es nicht gerade fern, die angesprochenen Problembereiche der anwaltlichen Schweigepflicht auch vor dem Hintergrund des § 203 StGB zu erörtern.
II. Streitstand Gemäß § 53 Abs. 2 Satz 1 StPO darf ein Rechtsanwalt das Zeugnis nicht verweigern, wenn er von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbunden ist. Aus Sicht des ein Unternehmen beratenden Rechtsanwaltes stellt sich somit die Frage, wer ihn von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbinden kann bzw. muss. Der Rechtsanwalt ist bei Klärung dieser Frage vor das Problem gestellt, bei irriger Annahme einer Aussagepflicht aufgrund einer (angeblich) wirksamen Entbindungserklärung sich möglicherweise nach § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB strafbar zu machen und sich ggf. berufsrechtlichen Sanktionen, §§ 113 ff. BRAO, ausgesetzt zu sehen. Denn nur bei wirksamer Einwilligung des/der Geheimnisgeschützten liegt nach herrschen-
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Dahs, FS Kleinknecht, 1985, 63 (77).
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der Meinung ein Rechtfertigungsgrund vor, sodass der Rechtsanwalt nicht unbefugt i. S. des § 203 StGB handelt.4 Muss der Rechtsanwalt befürchten, nicht wirksam von der Schweigepflicht entbunden zu sein, insbesondere weil nicht sämtliche Geheimnisgeschützten ihn entbunden haben, und verweigert er dementsprechend die Aussage, drohen ihm bei abweichender Auffassung eines diese Frage entscheidenden Gerichts die Verhängung von Ordnungsgeld oder Ordnungshaft.5 In Literatur und Rechtsprechung wird die Frage, wer zur Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht befugt ist, insbesondere bei Wechseln der Organmitglieder der juristischen Person sowie in deren Insolvenz und dem damit einhergehenden Übergang der Geschäftsführungsbefugnisse auf den Insolvenzverwalter aufgeworfen. In diesem Zusammenhang werden verschiedene Lösungsansätze diskutiert.6 1958 hat das LG Düsseldorf7 entschieden, dass der Konkursverwalter einer GmbH einen früheren Wirtschaftsprüfer der GmbH nicht von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbinden kann. Der Konkursverwalter übe das Recht der GmbH aus, das zur Konkursmasse gehörige Vermögen zu verwalten und über dasselbe zu verfügen. Die Befugnis, eine der in § 53 Abs. 1 StPO genannten Personen von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit zu entbinden, gehöre jedoch nicht zu den Vermögensrechten, über die der Konkursverwalter zu verfügen habe, da er in die Rechtsstellung des Geschäftsführers der GmbH nur insoweit eintrete, als sie die Konkursmasse betreffe. Diese Rechtsprechung8, dass nur dem ehemaligen Organwalter die alleinige Entbindungsbefugnis zusteht, findet im Schrifttum vereinzelt Unterstützung mit dem Argument, dass die Ratio des Zeugnisverweigerungsrechtes nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO die Geheimhaltung der Kommunikation zwischen dem Berufsgeheimnisträger und seinem Mandanten sei. Deshalb sei die Beteiligung an dem Kommunikationsverhältnis entscheidend und nicht die Frage, aus wessen Sphäre die Tatsache stamme.9 Weiterhin sei zu berücksichtigen, dass ein Rechtsanwalt nur dann ordnungsgemäß und umfassend beraten könne, wenn ihm vorbehaltlos sämtliche Informationen zur Verfügung stehen, weshalb Organwalter, handelnd im Interesse der juristischen Person, behandelt werden müssten, als seien sie selbst Mandanten des 4 Vgl. Fischer, StGB, 60. Aufl. 2013, § 203 Rn. 31 m.w.N.; Krause, FS Dahs, 2005, 349 (360); Beulke, FS Achenbach, 2011, 39 (46). 5 Beulke, FS Achenbach, 39 (46). 6 Detaillierter Überblick zum Streitstand: Städler, Die Auswirkungen eines Personenwechsels bei Vertretungsorganen von GmbH und AG auf die Entbindungsberechtigung nach § 53 Abs. 2 Satz 1 StPO, 2012; Tully/Kirch-Heim, NStZ 2012, 657 (658 ff.); Krause, FS Dahs, 349 (361 ff.); Beulke, FS Achenbach, 39 (46 ff.); Dierlamm, FS DAV, 2009, 428 (430 ff.); SKStPO/Rogall, Stand: 28. Lief. (Oktober 2002), § 53 Rn. 196 ff. 7 LG Düsseldorf, NJW 1958, 1152. 8 Entsprechend argumentierend LG Kaiserslautern, AnwBl. 1979, 119 f., wobei ein Sonderfall der Doppelberatungskonstellation vorlag; LG Berlin, wistra 1993, 278 (zum Geschäftsführerwechsel in einer GmbH); OLG Schleswig, NJW 1981, 294. 9 Schmitt, wistra 1993, 9 f.
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Rechtsanwalts.10 Des Weiteren wird in diesem Zusammenhang argumentiert, dass der sich aus den Verschwiegenheitsschutznormen ableitende Vertrauensgedanke nicht auf juristische Personen übertragbar sei. Geheimnisse würden nur insoweit geschützt, als natürliche Personen diese offenbaren, weshalb auch nur diese einwilligungsbefugt seien. Es komme entscheidend darauf an, wer dem Berufsgeheimnisträger das Vertrauen entgegengebracht habe.11 Die gegenteilige Ansicht, dass dem aktuellen Organwalter bzw. dem Insolvenzverwalter die Alleinentbindungsbefugnis zusteht, scheint für den Bereich des Insolvenzrechts mit dem Urteil des BGH aus dem Jahr 198912 entschieden zu sein. Die Verschwiegenheit des Rechtsanwalts stehe zur Disposition des „Geheimnisherrn“. Mit der Insolvenz des Auftraggebers gehe die Dispositionsbefugnis des „Geheimnisherrn“, soweit das Mandat des Rechtsanwalts Angelegenheiten der Insolvenzmasse betroffen hat, auf den Insolvenzverwalter über. Persönliche Geheimhaltungsinteressen der an den Besprechungen mit dem Rechtsanwalt beteiligten Organmitglieder der Gemeinschuldnerin begründeten kein uneingeschränktes Auskunftsverweigerungsrecht; die einzelnen Organmitglieder seien außerhalb des Mandatsverhältnisses stehende Dritte.13 Auch in der strafrechtlichen Rechtsprechung und Literatur wird die Auffassung vertreten, dass dem Insolvenzverwalter bzw. den aktuellen Organwaltern die alleinige Berechtigung zur Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht zustehe.14 Im Kern wird diese Auffassung darauf gestützt, dass die juristische Person eine eigenständige geschäftsfähige Person des Privatrechts und die Trägerin des Geheimhaltungsinteresses sei. Die Entbindungsbefugnis stelle kein höchstpersönliches Recht der Organwalter dar, diese profitieren nicht von Vertragsverhältnissen einschließlich ihrer Schutzwirkungen, wenn sie als Organwalter einen Mandatsvertrag für die juristische Person mit einem Rechtsbeistand abschließen. Das OLG Oldenburg betonte 10
Schmitt, wistra 1993, 9 (11); Herrmann, NStZ 1985, 565 (566). Dahs, FS Kleinknecht, 63 (74); Behm, Juristische Personen als Schutzobjekte von § 203 StGB, 1985, 125 f.; Münchhalffen, StV 1993, 347 (zustimmende Anmerkung zu OLG Düsseldorf, StV 1993, 346). 12 BGHZ 109, 260 = NJW 1990, 510 (512). 13 Bittmann, wistra 2012, 173 (174), scheint in der Entscheidung des BGH vom 13. 10. 2011 – IX ZR 193/10 – eine neue Entwicklung der Zivilrechtsprechung zu sehen. Der BGH urteilte, dass ein Geschäftsführer als Dritter in den Schutzbereich eines Umsatzsteuermandats einbezogen sein kann, welches die GmbH erteilt hat. Nach Maßgabe der allgemeinen Voraussetzungen können die steuerlichen Berater der GmbH deshalb verpflichtet sein, deren Geschäftsführern ihren Schaden aus einer steuerlichen Inhaftungnahme zu ersetzen. 14 LG Lübeck, NJW 1978, 1014 (1015); LG Hamburg, StV 2002, 647; OLG Oldenburg, NJW 2004, 2176; OLG Nürnberg, StV 2011, 142 ff.; Weyand, wistra 1995, 240; SK-StPO/ Wohlers, Stand: 56. Lief. (Februar 2008), § 97 Rn. 30; Huber-Lotterschmid, Verschwiegenheitspflichten, Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmeverbote zugunsten juristischer Personen, 2006, 100; Passarge, BB 2010, 591 (592); Priebe, ZIP 2011, 312 (316); Schäfer, wistra 1985, 210 (211); von Falkenhausen, Liber Amicorum für Martin Winter, 2011, 117 (125); Tully/Kirch-Heim, NStZ 2012, 657 (660 ff.). 11
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insoweit plakativ, dass die Gegenansicht „zu einer sachlich nicht vertretbaren Beeinträchtigung der Wahrheitsermittlung im Strafverfahren, der im Interesse der Allgemeinheit höchste Bedeutung zukommt“, führe.15 Die wohl herrschende Meinung in der strafrechtlichen Rechtsprechung und Literatur vertritt dagegen die Auffassung, dass das aktuelle Organ (Insolvenzverwalter oder neue Organmitglieder) nur gemeinsam mit den früheren Organwaltern wirksam von der Schweigepflicht entbinden könne. Zur Begründung wird angeführt, dass sich eine juristische Person notwendigerweise ihrer Organe zur Vermittlung der dem Berufsgeheimnisträger anzuvertrauenden Tatsachen bediene;16 das Recht zur Entbindung nach § 53 Abs. 2 Satz 1 StPO unterliege nicht nur der Disposition der juristischen Person, sondern auch der der Geschäftsleitungsmitglieder, die auch Betroffene des Vertrauensverhältnisses seien.17 Es wird dabei betont, dass zwischen dem Berufsgeheimnisträger und den Organwaltern der juristischen Person ein Vertrauensverhältnis höchstpersönlicher Natur bestehe.18 Auch im Schrifttum wird die kumulative Entbindungsbefugnis darauf gestützt, dass ein Vertrauensverhältnis nur zwischen natürlichen Personen entstehen und bestehen könne, weshalb die „wirklichen Partner und Träger des Vertrauensverhältnisses“ die Organmitglieder seien.19 Ausgehend vom primären Normzweck des § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO, dem Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Berufsgeheimnisträger und dem Ratsuchenden, wird argumentiert, dass dieses Verhältnis nicht durch die Besorgnis belastet werden dürfe, dass der Berufsgeheimnisträger die ihm anvertrauten Sachverhalte ohne Zustimmung gegenüber Dritten offenbaren könnte.20 Schließlich finden sich in der Literatur differenzierende Lösungsansätze. Die Beantwortung der Frage, wer entbindungsberechtigt ist, sei danach zu entscheiden, in welchem Umfang Drittgeheimnisse als schutzwürdig anzusehen sind. Im Rahmen von Ermittlungsverfahren sei demnach zu unterscheiden, ob dem Beschuldigten Straftaten gegen seinen Auftraggeber (die juristische Person) vorgeworfen werden oder ob die Straftaten als Geschäftsführer gegen Dritte begangen wurden. In letzterem Fall könne nur der Beschuldigte als (ehemaliger) Geschäftsführer selbst von der 15
OLG Oldenburg, NJW 2004, 2176. AG Berlin-Tiergarten, wistra 2004, 319. 17 LG Saarbrücken, wistra 1995, 239 f. (mit ablehnender Anmerkung von Weyand, wistra 1995, 239 f.); OLG Schleswig, NJW 1981, 294; OLG Koblenz, NStZ 1985, 426; OLG Celle, wistra 1986, 83; OLG Koblenz, AG 1988, 342; OLG Frankfurt, AG 1988, 342 ff.; OLG Düsseldorf, wistra 1993, 120. 18 OLG Düsseldorf, wistra 1993, 120; AG Bonn, NJW 2010, 1390. 19 Dahs, FS Kleinknecht, 63 (74). 20 Dierlamm, StV 2011, 144 (ablehnende Anmerkung zu OLG Nürnberg, StV 2011, 142 ff.); Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. 2012, § 53 Rn. 46; Krause, FS Dahs, 349 (377); Dierlamm, FS DAV, 428 (443); KK-Senge, StPO, 6. Aufl. 2008, § 53 Rn. 47; Schmitt, wistra 1993, 9; Schroers, DStR 1994, 1173; HK-StPO/Gercke, 5. Aufl. 2012, § 53 Rn. 38. 16
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Verschwiegenheitspflicht entbinden.21 Andere Autoren differenzieren danach, ob der Organvertreter gegenüber dem Berufsgeheimnisträger eine Straftat offenbart hat. Sofern dies der Fall ist, sei neben der Entbindungserklärung des aktuellen Organvertreters eine Erklärung des früheren Organvertreters erforderlich.22 Es wird auch vertreten, dass eine pauschale Lösung – nur der aktuelle Organwalter, nur der frühere Organwalter oder nur eine kumulative Entbindung – nicht überzeugend sei. Es komme vielmehr auf den Einzelfall an. Entscheidungsberechtigt sei stets derjenige, der durch die seitens des Berufsgeheimnisträgers bekanntzugebenden Tatsachen in seiner Privat-/Intimsphäre berührt werde.23 Rogall knüpft die Frage des Entbindungsrechts daran an, ob der (ehemalige) Organwalter dem Berufsgeheimnisträger neben Geheimnissen der juristischen Person auch Eigengeheimnisse anvertraut hat.24 Bittmann differenziert danach, ob das Vertragsverhältnis zwischen dem Berufsgeheimnisträger und einer juristischen Person auch bestimmten für sie handelnden natürlichen Personen Erfüllungsansprüche einräumt, welche der Berufsgeheimnisträger nicht ohnehin der juristischen Person schuldet. In diesen Fällen müssten alle Personen, denen ein Erfüllungsanspruch zustehe, die Entbindung erklären.25
III. Geheimnisschutz im Rahmen der Unternehmensberatung 1. Ein Blick auf die vorstehend dargelegten Lösungsvorschläge in Rechtsprechung und Literatur zeigt, dass hier ein Spannungsfeld eröffnet ist, das über die Frage weit hinausreicht, wer für die Entbindung von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit i. S. von § 53 Abs. 2 Satz 1 StPO erklärungsberechtigt ist. Da § 53 StPO eine Bestimmung des Prozessrechts26 ist, wird das darin normierte prozessuale Schweigerecht erst dann akut, wenn es um die Frage geht, ob ein Zeugnisverweigerungsberichtigter i. S. von § 53 Abs. 1 StPO im Strafverfahren aussagen muss, weil er wirksam von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbunden worden ist. Anwaltliche Beratung findet indessen vielfach statt, wenn es zu einem Strafverfahren noch nicht gekommen ist oder nicht kommt. Deshalb stellt sich die Frage nach dem Umgang der vom Rechtsanwalt bei seiner Tätigkeit erhaltenen Informationen schon weitaus früher. So kann er im Rahmen seiner Beratungstätigkeit für ein Unternehmen durch die Unternehmensleitung jederzeit befragt werden, was er bei seiner Untersuchung von bestimmten Mitarbeitern erfahren hat, deren Befragung veranlasst war. Vielfach wird um einen schriftlichen Bericht gebeten, der dann eine Fülle von Ge21 Gülzow, NJW 1981, 265 (268); diesem zustimmend Stypmann, wistra 1982, 11 (14); Haas, Anmerkung zu OLG Schleswig, wistra 1983, 183. 22 Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele, StGB, 28. Aufl. 2010, § 203 Rn. 23. 23 Städler (Fn. 6), 279 f. 24 SK-StPO/Rogall (Fn. 6), § 53 Rn. 199 f. 25 Bittmann, wistra 2012, 173 (175). 26 SK-StPO/Rogall (Fn. 6), § 53 Rn. 12.
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heimnissen enthält, die dem Rechtsanwalt bei seiner Berufsausübung bekanntgeworden oder gar anvertraut worden sind („Mal ganz im Vertrauen …“). Darf er alles, was er an Informationen erhalten hat, ohne wenn und aber an den Auftraggeber weiterleiten, oder läuft er Gefahr, sich dadurch gemäß § 203 StGB strafbar zu machen? Damit befinden wir uns im materiell-rechtlichen Bereich des § 203 StGB. § 203 StGB bezweckt die Bewahrung privater Geheimnisse auch im Hinblick auf Vertrauensverhältnisse und die öffentliche Gewalt als der vom Selbstschutz des Betroffenen nicht abdeckbaren offenen Flanke.27 Die Vorschrift dient damit der Verwirklichung des verfassungsrechtlich gewährten Schutzes der Persönlichkeit28 und schützt das private Verfügungsrecht über bestimmte Informationen, soweit sie als Geheimnisse qualifiziert werden können;29 geschütztes Rechtsgut ist damit die Individualsphäre des Einzelnen.30 Der Lehre von der Individualsphäre als geschütztes Rechtsgut steht die Gemeinschaftsschutzlehre gegenüber, die als Rechtsgut des § 203 StGB ein öffentliches Interesse an der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit bestimmter Berufe erblickt.31 Der alte Streit um den Schutzzweck des § 203 StGB,32 der auch bei der Diskussion über den Schutzzweck des berufsbezogenen Zeugnisverweigerungsrechts gemäß § 53 StPO Bedeutung hat, bedarf an dieser Stelle keiner Vertiefung, auch nicht der viktimodogmatische Ansatz von Schünemann33. Denn die Pflicht des Rechtsanwalts, bei der Berufsausübung die Vorschrift des § 203 StGB zur Vermeidung eigener Strafbarkeit auf das Genaueste zu beachten, wird durch die Frage nicht berührt, ob die Vorschrift allein die Individualsphäre des Einzelnen schützt oder (auch) von öffentlichem Interesse ist. Tathandlung des § 203 StGB ist der Geheimnisbruch und damit die Offenbarung eines in beruflicher Eigenschaft erlangten fremden Geheimnisses, das dem Berufs27 28
(41). 29
LK-Schünemann, StGB, 12. Aufl. 2009, § 203 Rn. 3. BVerfGE 32, 373 (397); LK-Schünemann (Fn. 27), § 203 Rn. 4; Eser, ZStW 97 (1985), 1
Vgl. SK-StGB/Hoyer, Stand: 56. Lief. (Mai 2003), § 203 Rn. 2. BGH NJW 1990, 510; Fischer (Fn. 4), § 203 Rn. 2; Schünemann, ZStW 90 (1978), 11 (55); differenzierend Rogall, NStZ 1983, 1 (3), der auf die Differenzierung zwischen Rechtsgut und Tatobjekt abhebt und unterstreicht, dass ersichtlich nicht jede Geheimnisverletzung zu einer Beeinträchtigung von Privatheit führe und dass bei Geheimnissen, die nicht zum persönlichen Lebensbereich gehören, dies nicht einmal regelmäßig der Fall sei. Dementsprechend identifiziert er § 203 StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt oder zumindest als abstrakt-konkretes oder potenzielles Gefährdungsdelikt und will nur diejenigen Geheimnisse als tatbestandsmäßig ansehen, die geeignet sind, materielle Privatheit oder das Vermögen zu beeinträchtigen. 31 Bockelmann, StrafR BT 2, 1977, 174 f.; Haffke, GA 1973, 65 (67); Arthur Kaufmann, NJW 1958, 272; Schmidt, NJW 1962, 1745 ff. 32 SK-StPO/Rogall (Fn. 6), § 53 Rn. 4. 33 Schünemann, ZStW 90 (1978), 11 (54 ff.); LK-Schünemann (Fn. 27), § 203 Rn. 16 f. 30
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träger anvertraut oder sonst bekanntgeworden ist. Auf den ersten Blick erweist sich damit der Tatbestand des § 203 StGB enger als die prozessuale Vorschrift des § 53 Abs. 1 StPO, weil dort darauf abgehoben wird, was dem Berufsträger anvertraut worden oder bekanntgeworden ist. Der sachliche Umfang der Schweigepflicht gemäß § 203 StGB und des strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrechts ist im Wesentlichen Kernbereich deckungsgleich, auch wenn § 53 StPO nicht wie § 203 StGB von Geheimnissen spricht.34 Über den Geheimnisbegriff herrscht im Wesentlichen in Rechtsprechung und Literatur Einigkeit. Danach sind Geheimnisse Tatsachen, die nur einem beschränkten Personenkreis bekannt sind und an deren Geheimsein derjenige, den sie betreffen, ein aus seiner Sicht sachlich begründetes Interesse hat.35 Daraus leitet Schünemann36 als Elemente des Geheimnisbegriffs Geheimsein, Geheimhaltungswille und objektives Geheimhaltungsinteresse ab.37 Demgegenüber vertritt Rogall38 die Auffassung, der Geheimhaltungswille sei kein integraler Bestandteil des Geheimnisbegriffs: Geheimnis und Geheimhaltung seien zweierlei Dinge. Entscheidend sei, dass eine Tatsache anvertraut wird, wenn sie „als Geheimnis“ einem anderen mitgeteilt oder seiner Kenntnisnahme unterworfen werde; „als Geheimnis“ bedeutet dabei die Mitteilung unter Auflage oder der stillschweigenden Forderung der Geheimhaltung.39 Geheimnisse können nicht nur anvertraut, sondern dem Schweigepflichtigen auch sonst bekanntgeworden sein, weshalb der Geheimhaltungswille (nicht aber die Qualität des Übermittlungsvorgangs) Bestandteil des Geheimnisbegriffs ist.40 Der Geheimhaltungswille als voluntatives Element des Geheimnisbegriffs, das auf den subjektiven Geheimhaltungswillen des Betroffenen abstellt, ist nicht entbehrlich, da andernfalls eine Einschränkung des privaten Verfügungsrechts über bestimmte Informationen zu besorgen wäre. Es muss dabei bleiben, dass man auf jedwede Bewertung des Opferwillens verzichtet und diesen selbst vorbehaltlos als schutzwürdig anerkennt,41 was nicht verhindert, jedwede Geheimniskrämerei um Nichtigkeiten unter straf-
34
LK-Schünemann (Fn. 27), § 203 Rn. 10, der darauf abhebt, dass der unterschiedlichen Gesetzesauffassung keine Bedeutung zukomme, da auch das Zeugnisverweigerungsrecht nur der Geheimhaltung bedürftige Tatsachen umfasse. So auch BGH 4 StR 364/79 bei Pfeiffer/ Miesbach, NStZ 1981, 94; Rengier, Die Zeugnisverweigerungsrechte im geltenden und künftigen Strafverfahrensrecht, 1979, 270 f.; Lenckner, Ärztliches Berufsgeheimnis, in: Göppinger (Hrsg.), Arzt und Recht, 1966, 159 ff.; a.A. SK-StPO/Rogall (Fn. 6), § 53 Rn. 14; LR-Dahs, StPO, 25. Aufl. 1999, § 53 Rn. 7; Meyer-Goßner (Fn. 20), § 53 Rn. 4; Welp, FS Gallas, 1973, 399; s. hierzu auch Hanack, JR 1986, 35. 35 Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele (Fn. 22), § 203 Rn. 5. 36 LK-Schünemann (Fn. 27), § 203 Rn. 19. 37 Dies entspricht der h.M. in Rechtspr. und Lit.: Nachweise bei LK-Schünemann (Fn. 27), § 203 Rn. 19 Fn. 46, 47. 38 NStZ 1983, 1 (6). 39 RGSt 13, 60 (62); 66, 273 (274). 40 LK-Schünemann (Fn. 27), § 203 Rn. 24. 41 NK-Kargl, StGB, 2010, § 203 Rn. 4; SK-StGB/Hoyer (Fn. 29), § 203 Rn. 6.
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rechtlichen Schutz zu stellen.42 Anerkannt ist, dass das Geheimnis „fremd“ und damit der Sphäre eines anderen als des Schweigepflichtigen selbst entstammen muss.43 Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass auch juristische Personen Geheimnisträger sind, auch wenn die Überschrift des 15. Abschnitts des Strafgesetzbuchs den Gedanken nahelegt, es gehe allein um die Verletzung des persönlichen Lebens- und Geheimbereichs.44 Bei der Unternehmensberatung wird immer wieder deutlich, dass sich Geheimnisse des Unternehmens nicht durchweg als Geheimnisse seiner Organe erfassen lassen.45 Von zentraler Bedeutung für den Umfang der anwaltlichen Schweigepflicht bei der Unternehmensberatung ist die tatbestandliche Voraussetzung des § 203 StGB, wonach nur solche Geheimnisse erfasst sind, die der Schweigepflichtige in seiner beruflichen Eigenschaft erfahren hat, weil sie ihm anvertraut oder sonst bekanntgeworden sind. Der Schweigepflichtige muss also bei der Erlangung des Geheimnisses die in der Täterbeschreibung des § 203 StGB vorausgesetzte Funktion ausgeübt haben.46 Diese funktionale Abhängigkeit47 entspricht im Übrigen der Struktur des § 53 StPO, was zugleich deutlich macht, dass die materiell-rechtliche Schweigepflicht und das prozessuale Schweigerecht in ihrem normativen Zweck übereinstimmen.48 Allerdings ist mit der Bestimmung dessen, was dem Rechtsanwalt „in dieser Eigenschaft“ anvertraut oder bekanntgeworden ist, ein in der täglichen Beratungspraxis mitunter schwierig aufzuhellendes Problemfeld eröffnet. Dies gilt nicht für die klassische Einzelberatung, bei der der ratsuchende Mandant in ein Beratungsverhältnis zu seinem Anwalt tritt und ihm die zu einer sachgerechten Beratung erforderlichen Geheimnisse anvertraut. Hier besteht kein Zweifel, dass der Rechtsanwalt die ihm anvertrauten oder bekanntgewordenen Geheimnisse nur dann aus der anwaltlichen Geheimsphäre entlassen und damit Dritten mitteilen darf, wenn der Mandant hierzu seine Einwilligung erteilt hat. Denn in diesem Fall ist die Mitteilung nach außen nicht mehr „unbefugt“ i. S. von § 203 StGB, wobei dahinstehen kann, ob sich die Entbindungserklärung des Mandanten als Einverständnis auf der Tatbestandsebene49 oder als rechtfertigende Einwilligung darstellt. Auch für die Situation des § 53 StPO sind rechtliche Schwierigkeiten nicht auszumachen, da unschwer festgestellt werden kann, wer im Hinblick auf die Entbindung von der Ver-
42 SK-StGB/Hoyer (Fn. 29), § 203 Rn. 6; LK-Schünemann (Fn. 27), § 203 Rn. 27; Rudolphi, FS Bemmann, 1997, 412 ff.; Fischer (Fn. 4), § 203 Rn. 6. 43 So LK-Schünemann (Fn. 27), § 203 Rn. 30. 44 Vgl. hierzu LK-Schünemann (Fn. 27), § 203 Rn. 31 mit weiteren Hinweisen. 45 LK-Schünemann (Fn. 27), § 203 Rn. 31. 46 Blei, BT, 12. Aufl. 1983, § 33 III; LK-Schünemann (Fn. 27), § 203 Rn. 35; SK-StGB/ Hoyer (Fn. 29), § 203 Rn. 24; Fischer (Fn. 4), § 203 Rn. 7. 47 SK-StPO/Rogall (Fn. 6), § 53 Rn. 60. 48 SK-StPO/Rogall (Fn. 6), § 53 Rn. 2. 49 Zum Streitstand vgl. LK-Schünemann (Fn. 27), § 203 Rn. 92.
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pflichtung zur Verschwiegenheit i. S. des § 53 Abs. 2 StPO erklärungsberechtigt ist: der Mandant. 2. Betrachtet man demgegenüber Konstellationen, die sich von der soeben angesprochenen, klassischen Zweierbeziehung Mandant/Rechtsanwalt dadurch unterscheiden, dass die Beratung in einem noch näher zu bestimmenden Zusammenhang mit einem Unternehmen erfolgt, was bisweilen vorschnell zu der Qualifizierung „Firmenmandat“ führt, gelangt man in den Bereich einer hochstreitigen Diskussion. Dabei geht es im Wesentlichen einerseits um die nach zivilrechtlichen Grundsätzen zu bestimmende Definition des Mandats („Wer ist Mandant?“50) und andererseits um geschützte Geheimsphären anwaltlicher Beratung innerhalb des Mandats.51 Ausgangspunkt der Überlegungen soll der der Entscheidung des Amtsgerichts Bonn52 zugrundeliegende Sachverhalt sein, die in der Literatur53 inzwischen mehrfach erörtert worden ist. Im Kern ging es darum, dass der Aufsichtsratsvorsitzende eines Großunternehmens zu seiner Beratung in einer schwierigen Aufsichtsratsfrage einen Rechtsanwalt beigezogen hatte („Er wünschte meinen Rat, wie mit dem betreffenden Aufsichtsratsmitglied zu verfahren sei …“54). Der Rechtsanwalt hat seine Liquidation später mit dem Hinweis auf „die Beratung in vertraulichen Vorstandsangelegenheiten in den Monaten September und Oktober 2005“ an die Rechtsabteilung des Unternehmens übersandt, das das Honorar dann auch gezahlt hat. Im späteren Ermittlungsverfahren gegen den inzwischen ausgeschiedenen Aufsichtsratsvorsitzenden entband der Leiter der Rechtsabteilung, dem offensichtlich an der Aussage des damals beratenden Gesellschaftsrechtlers gelegen war, diesen unter Bezugnahme auf die Honorarnote und deren Ausgleich durch das Unternehmen von der Schweigepflicht. Nach zwei im Ermittlungsverfahren erfolgten Aussagen zog der Gesellschaftsrechtler angesichts einer dritten Ladung in derselben Sache einen Strafverteidiger bei und verweigerte auf der Grundlage der ihm erteilten qualifizierten Beratung nunmehr die Aussage.55 Man staunt! Auch wenn die Erklärungsberechtigung bezüglich der Entbindung von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit gemäß § 53 Abs. 2 StPO in solchen Fällen umstritten ist, in denen der Rechtsanwalt von einem (früheren) Organmitglied im Rahmen eines für das Unternehmen geführten Mandats Informationen erhalten hat, unterliegt der vom Amtsgericht Bonn entschiedene Fall keinerlei Zweifel. Das Mandat war als persönliches Beratungsmandat allein zwischen dem Aufsichtsratsvorsitzenden und seinem anwaltlichen Berater zustande gekommen, sodass allein der Aufsichtsratsvorsitzende seinen früheren Berater von der Pflicht zur Verschwiegenheit hätte ent50
Hierzu: von Falkenhausen, Liber Amicorum für Martin Winter, 117 ff. Hierzu: s. o. II. 52 AG Bonn, NJW 2010, 1390 = NStZ 2010, 536 mit Anm. Hamm, NJW 2010, 1332. 53 Städler (Fn. 6), 11 f.; Beulke, FS Achenbach, 39 (49 f.). 54 AG Bonn, NJW 2010, 1390. 55 Ausführliche Sachverhaltsdarstellung des dem AG Bonn zugrundliegenden Sachverhalts bei Hamm, NJW 2010, 1332. 51
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binden können. Einer zusätzlichen Entbindung durch die Gesellschaft bedurfte es nicht, auch wenn diese die Kosten der Beratung übernommen hatte. Ganz abgesehen davon scheidet ohnehin jedwede Entbindungsbefugnis des Vorstandes oder anderer Angestellter des Unternehmens aus, wenn es sich um ein vom Aufsichtsrat als Gremium erteiltes Mandat gehandelt hätte: Handelt es sich um ein Unternehmensmandat, das für den Aufsichtsrat geführt wird, kann allein der Aufsichtsrat, nicht aber der Vorstand der Gesellschaft, von der Schweigepflicht entbinden, da es sich um unterschiedliche Geheimsphären handelt.56 Da der Vorstandsvorsitzende – wie der Entscheidung des Amtsgerichts Bonn zu entnehmen ist – durch den Aufsichtsratsvorsitzenden in die Beratungsgespräche mit einbezogen worden ist, begegnet es keinen Bedenken, dass das Amtsgericht Bonn in seiner Entscheidung zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Entbindung durch die beiden früheren Organmitglieder erforderlich war. Keine Zustimmung findet indessen die Position des Amtsgerichts Bonn, dass neben der Entbindung durch die beiden früheren Organmitglieder auch die Entbindung durch die juristische Person erforderlich sei; ein Mandatsverhältnis zur „juristischen Person“ war nicht zustande gekommen, da es allein und nicht zugleich um die Beratung des Aufsichtsratsvorsitzenden zu der Frage ging, wie mit einem im Verdacht von Indiskretionen stehenden Aufsichtsratsmitglied zu verfahren sei. 3. Bei einem von der juristischen Person erteilten Mandat ist zunächst festzuhalten, dass auch juristische Personen Geheimnisträger sind, weshalb die berufliche Verschwiegenheitspflicht aus § 203 StGB wie bei einem Mandat mit einer Einzelperson gegeben ist.57 Dementsprechend ist die Disposition über die berufsbezogene Schweigepflicht in die Hände der juristischen Person, vertreten durch ihre Organe oder solche natürlichen Personen, gelegt, die für die Gesellschaft vertretungsberechtigt sind, nicht selten Mitarbeiter der Rechtsabteilung. Geht es allein um die Geheimnisse der juristischen Person, kommt es auf die Frage an, wer den Berater von seiner Verschwiegenheitspflicht wirksam entbinden kann, und nicht darauf, ob es seit der Erteilung des Mandats im vertretungsberechtigten Organ der Gesellschaft zu einem Personenwechsel gekommen ist. Der Zustimmung des inzwischen ausgeschiedenen Organmitglieds bedarf es nicht. Zu einer grundsätzlich anderen Beurteilung führen die Fälle, in denen dem anwaltlichen Berater nicht allein Geheimnisse der juristischen Person, vielmehr zugleich auch fremde Geheimnisse eines Organmitglieds anvertraut oder bekanntgeworden sind. Dabei ist es vor dem Hintergrund des § 203 StGB unerheblich, ob dieses Organmitglied inzwischen ausgeschieden oder noch in der Gesellschaft tätig ist. Zwar wird das hier angesprochene Problem fast stets vor dem Hintergrund diskutiert, 56 Überzeugend hierzu: von Falkenhausen, Liber Amicorum für Martin Winter, 117 (122 f.). 57 Vgl. hierzu Huber-Lotterschmid, Verschwiegenheitspflichten, Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmeverbote zugunsten juristischer Personen, 2006, 56 mit Hinweisen auf BVerfGE 10, 221 (225); 19, 206 (215); 50, 290 (319); Krause, FS Dahs, 349 (361).
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dass das Organmitglied, das mit dem anwaltlichen Berater des Unternehmens im persönlichen Kontakt Geheimnisse anvertraut hat, die jedenfalls nicht nur Geheimnisse des von ihm vertretenen Organs, vielmehr auch Eigengeheimnisse des Organvertreters selbst sind, inzwischen die Gesellschaft verlassen hat. Jedoch besteht für eine solche Differenzierung kein Anlass, da der zu erörternde Schutz der dem Rechtsanwalt anvertrauten Eigengeheimnisse natürlich auch dann relevant ist, wenn der Organvertreter weiter im Amt ist. Es liegt nicht fern, sich zunächst der praktischen Frage zuzuwenden, wie ein Unternehmensmandat zustande kommt und wer in aller Regel Gesprächspartner des Rechtsanwalts ist. Die oben zu II. dargelegten Stellungnahmen könnten zu der Annahme verleiten, dass ein Unternehmensmandat regelmäßig vorwiegend durch Kommunikation mit Organmitgliedern geführt wird. Dies trifft (natürlich) nicht zu: Die Beauftragung erfolgt in den meisten Fällen durch die Rechtsabteilung, die den Firmenanwalt in das zu erörternde Problem einführt. Damit erfährt er Geheimnisse der juristischen Person und eher selten Eigengeheimnisse des Gesprächspartners, auch wenn dies nicht in jedem Fall auszuschließen ist, sodass sich bereits hier die Frage stellen kann, ob der Rechtsanwalt solche Eigengeheimnisse seines Gesprächspartners entgegennehmen kann, ohne später im Falle seiner Entbindung seiner Schweigepflicht durch die Gesellschaft in Problembereiche zu geraten, die sich für ihn aus § 203 StGB ergeben. Auf diesen Gesichtspunkt wird weiter unten (IV.) im Zusammenhang mit kritischen Situationen eingegangen werden, in die der Rechtsanwalt bei sog. „internal investigations“ unversehens geraten kann. Nach der Erteilung des Mandats durch Vertreter der Gesellschaft kommt es in besonders wichtigen und oft kritischen Fällen natürlich auch dazu, dass der Anwalt Gesprächspartner eines Vorstandsmitglieds wird; seltener erfolgen anwaltliche Gespräche mit sämtlichen Vorstandsmitgliedern. Das Vorstandsmitglied wird sich zunächst Bericht über die bisher durch den Anwalt getroffenen Feststellungen erstatten lassen (Geheimnisse der juristischen Person) und dann seine Beurteilung der Lage mit dem Anwalt diskutieren. Es liegt nahe und kann deshalb von dem beratenden Rechtsanwalt ex ante keinesfalls ausgeschlossen werden, dass hierbei Tatsachen zur Sprache kommen, die der Anwalt bei näherer Betrachtung – z. B. bei der gedanklichen Nachbereitung der Unterredung – als solche Geheimnisse zu qualifizieren hat, die nicht allein Geheimnisse der juristischen Person, vielmehr partiell auch oder nur Eigengeheimnisse des Gesprächspartners sind, die damit im Schutzbereich des § 203 StGB liegen. Es verwundert nicht, dass die oben dargestellten rein zivilrechtlichen Lösungsansätze, die vorliegend auf das Mandatsverhältnis juristische Person/Rechtsanwalt abstellen,58 das offen zu Tage liegende Problem einer befriedigenden Lösung zuzuführen nicht in der Lage sind. 58 S. hierzu insbesondere von Falkenhausen, Liber Amicorum für Martin Winter, 118 Rn. 14.
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Auch eine ebenso einfache wie scheinbar praktikable Lösung scheidet aus: Der Anwalt, der das Vorstandsmitglied vorsorglich zu Beginn der ersten Besprechung darauf hinweist, dass alles, was er sagt, letztlich gegen ihn verwendet werden kann, weil der Anwalt im Falle der Entbindung durch die Gesellschaft als Beweismittel gegen ihn mit voller Wahrheitspflicht beigezogen werden könnte, wird ein der Sache und damit dem Unternehmensinteresse dienendes Gespräch nicht führen können. Ebenso wenig wird der Anwalt zur Vermeidung der geschilderten Situation ein gesondertes Mandatsverhältnis mit dem Vorstandsmitglied zu ausschließlich dessen Beratung („Doppelmandat“) eingehen können, da ein Interessenkonflikt zur Niederlegung beider Mandate führen müsste. Zudem ist die Gefahr einer Strafbarkeit gemäß § 356 StGB nicht auszuschließen. Sollte das Vorstandsmitglied im Rahmen der ersten oder bei einer späteren Besprechung dem Rechtsanwalt Eigengeheimnisse (z. B. den Erhalt von Kick-Backs) darlegen und diesbezüglich um Beratung in einem gesonderten Mandatsverhältnis bitten, das der Anwalt abzulehnen hat, sind die insoweit mitgeteilten Geheimnisse unter dem Aspekt des Anbahnungsgesprächs fraglos gegenüber der von dem Rechtsanwalt vertretenen Gesellschaft geheimgeschützt.59 4. Anzusprechen ist nach alledem die oben bereits skizzierte, geradezu klassische Konstellation, in der der anwaltliche Berater bei der Beratung der Gesellschaft unmittelbaren Kontakt zu einem Organvertreter hat, der ihm neben Geheimnissen der Gesellschaft zugleich – oft notwendigerweise – solche Tatsachen berichtet, die Eigengeheimnisse sind und die dem Berater „als Rechtsanwalt“ anvertraut oder bekannt werden. Dabei mag es dahinstehen, ob es darauf ankommt, dass das Geheimnis dem Berater „als Angehörigem“ einer in § 203 StGB genannten Berufsgruppe60 anvertraut wurde oder ob es insoweit einer typischerweise auf Vertrauen beruhenden Sonderbeziehung61 bedarf. Denn schon die von § 203 StGB vorausgesetzte Vertrauensbeziehung, die sich unschwer aus dem Tatbestandsmerkmal „anvertraut“ des § 203 StGB entnehmen lässt, spiegelt diese „Sonderbeziehung“ zwischen dem Gesprächspartner und dem Berufsträger wider. Es geht damit allein um die funktionale Abhängigkeit62 der Kenntnis bestimmter Tatsachen von der beruflich veranlassten Kenntniserlangung.63 Es ist allgemein anerkannt, dass dieser funktionale Rollenbezug64 für § 203 StGB und § 53 StPO in gleicher Weise Gültigkeit hat, sodass es für 59
Zu Anbahnungsverhältnissen s. BGHSt 33, 151; 45, 363 (366 f.); LR-Dahs (Fn. 34), § 53 Rn. 15; SK-StPO/Rogall (Fn. 6), § 53 Rn. 60. 60 Vgl. Fischer (Fn. 4), § 203 Rn. 7. 61 Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele (Fn. 22), § 203 Rn. 15; SK-StGB/Hoyer (Fn. 29), § 203 Rn. 24; Stucke, Berufliche Schweigepflicht bei Drittgeheimnissen als Vertrauensschutz, 1981, 33 ff.; offen gelassen: BGHSt 33, 150 m. Anm. Rogall, NStZ 1983, 413; kritisch Hanack i. d. Anm. zu BGHSt 33, 150 in JR 1986, 35 (36). 62 SK-StPO/Rogall (Fn. 6), § 53 Rn. 60. 63 S. hierzu LK-Schünemann (Fn. 27), § 203 Rn. 34 ff. (35); SK-StPO/Rogall (Fn. 6), § 53 Rn. 60. 64 SK-StPO/Rogall (Fn. 6), § 53 Rn. 60.
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das berufsbedingte Anvertrauen bestimmter Geheimnisse nicht darauf ankommt, ob es um die Entbindung von der anwaltlichen Schweigepflicht i. S. des § 53 Abs. 2 StPO geht oder ob der Rechtsanwalt (weit im Vorfeld strafprozessualer Fragen) entscheiden muss, wem er über seine „als Rechtsanwalt“ geführten Gespräche (befugt) Mitteilung machen darf. Betrachtet man vor diesem Hintergrund das eingangs erwähnte Gespräch des Rechtsanwalts mit dem Organvertreter im Rahmen eines Firmenmandats und berücksichtigt man, dass hierbei (auch) Eigengeheimnisse des Organvertreters zur Sprache kommen, kann kaum zweifelhaft sein, dass diese Eigengeheimnisse allein der Disposition des Gesprächspartners unterliegen und ohne dessen Einwilligung an Dritte nicht weitergegeben werden dürfen. Denn das dem Tatbestand des § 203 StGB zugrunde liegende Vertrauensverhältnis begründet gerade die geschützte Geheimsphäre. Dass die bereits erörterten Elemente des Geheimnisbegriffs – Geheimsein, Geheimhaltungswille und objektives Geheimhaltungsinteresse – vorliegend gegeben sind, kann nicht in Zweifel gezogen werden. Dem steht nicht entgegen, dass auch eine juristische Person Partner eines Vertrauensverhältnisses sein65 und dementsprechend durch ihre Organvertreter über im Rahmen dieses Vertrauensverhältnisses mitgeteilte Geheimnisse verfügen kann. Mischen sich Geheimnisse der juristischen Person mit Geheimnissen des in die Kommunikation mit dem Berufsträger involvierten Organvertreters, bedarf es für die Befugnis der Weitergabe an Dritte der Einwilligung der Gesellschaft und zusätzlich des betroffenen Organvertreters, was entsprechend auch für die Befreiung von der Berufsverschwiegenheitspflicht gemäß § 53 Abs. 2 StPO gilt. Mit anderen Worten: Gradmesser für die Zustimmung zur Weitergabe berufsbedingt erfahrener Geheimnisse ist die Vorschrift des § 203 StGB, die letztlich im § 53 StPO (nur) ihr „prozessuales Gegenstück“66 findet. 5. Der Firmenanwalt wird bei seinem Gespräch mit dem Organvertreter auch mit solchen Eigengeheimnissen in Berührung kommen, die sich als durchaus kritisch darstellen: Hier zeigt sich besonders deutlich, dass Geheimnisse der juristischen Person in so unauflösbarer Weise mit Eigengeheimnissen des Organvertreters verknüpft sein können, dass eine Entbindungsbefugnis nur des Organvertreters oder nur der juristischen Person ausgeschlossen ist und nur eine kumulative Entbindung wirksam sein kann. Dies gilt insbesondere, wenn dem Firmenanwalt im Beratungsgespräch mit dem Organvertreter Tatsachen mitgeteilt werden, die den Anfangsverdacht einer Straftat im „Interesse“ der juristischen Person (z. B. Korruptions- oder Steuerstraftaten) begründen können oder die gar eine Straftat des Organvertreters zum Nachteil der juristischen Person nahelegen. Selbst im Fall einer Straftat zu Lasten der juristischen Person (von krassen Fällen abgesehen) wäre es oft vorschnell, den Gesprächspartner auf eine eigene Rechtsberatung zu verweisen und das Gespräch zu beenden. Dies gilt z. B. dann, wenn das Gespräch die Annahme einer uneigennüt65 Anders: Dahs, FS Kleinknecht, 63 (73); zutreffend: SK-StPO/Rogall (Fn. 6), § 53 Rn. 199, der insoweit von einem naturalistischen Missverständnis spricht. 66 Rogall, NStZ 1985, 374.
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zigen Untreue gemäß § 266 StGB etwa im Zusammenhang mit Risikogeschäften oder Kreditvergaben nahelegt. Vielfach wird die bisweilen vorgeschlagene Differenzierung zwischen Straftaten zum Nachteil oder im Interesse der juristischen Person67 kaum praktikabel sein, da sich zu Beginn eines Beratungsgesprächs nicht absehen lässt, ob eine Straftat (nur) zum Nachteil der juristischen Person in Betracht kommt oder nicht. Deshalb gilt in beiden Fällen, dass das vom Organvertreter anvertraute Wissen unteilbar ist und deshalb nur eine kumulative Disposition über die dem Rechtsanwalt anvertrauten oder bekannt gewordenen Geheimnisse ausreicht. Zu demselben Ergebnis gelangen die Vertreter der Auffassung, die das Erfordernis einer kumulativen Zustimmung darauf stützen wollen, dass die Mandatsbeziehung zwischen juristischer Person und Unternehmensanwalt in Bezug auf den Organvertreter eine Schutzwirkung zugunsten Dritter entfalte.68 Zum Erfordernis der kumulativen Entbindung gelangt zutreffend auch die an § 53 StPO angelehnte prozessuale Vertrauensschutzlehre, die auf das Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und seinem Kommunikationspartner abhebt, da nur dort Vertrauen entstehen könne.69 Dies überrascht nicht; abgesehen von dem schmalen Bereich, der bei § 53 StPO weiter greift („Das, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden oder bekannt geworden ist“) als die Vorschrift des § 203 StGB („fremdes Geheimnis anvertraut oder sonst bekannt geworden“) sind die beiden geschützten Geheimsphären deckungsgleich, auch wenn sie unterschiedlichen Zielsetzungen dienen und in ihrer Ratio erkennbar auseinandergehen.70 Festzuhalten ist, dass zur Weitergabe von Geheimnissen, die der frühere oder noch aktive Organvertreter dem Firmenanwalt im Beratungsgespräch mitgeteilt hat, die Einwilligung des Organvertreters unverzichtbar ist; Entsprechendes gilt für die Entbindung von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit gemäß § 53 Abs. 2 StPO. Zu keinem anderen Ergebnis gelangt man, wenn das frühere Organ durch den Insolvenzverwalter ersetzt worden ist, dem dann die Entbindungsbefugnis betreffend die Geheimnisse der juristischen Person zur Seite steht, nicht aber für die Geheimnisse der
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S. hierzu LK-Schünemann (Fn. 27), § 203 Rn. 100 sowie Gülzow, NJW 1981, 268. Vgl. Beulke, FS Achenbach, 54 f.; Krause, FS Dahs, 349 (374); Matt, FS Widmaier, 2008, 851 (857), der auf das zugrunde liegende Vertrauensverhältnis und den Schutz des „Kommunikationsverhältnisses“ zwischen Ratsuchendem und Berufsträger abstellt und dabei bei mehrköpfigen Organen entsprechend mehrere natürliche Personen in den Schutzbereich des Zeugnisverweigerungsrechts miteinbezieht; in ähnlicher Richtung Bittmann, wistra 2012, 173 (174 f.), der eine differenzierende personal-juristische Lösung entwickelt und im Wesentlichen auf Erfüllungsansprüche abhebt, die sich aus dem Vertragsverhältnis zwischen dem Berufsgeheimnisträger und einer juristischen Person auch für Mitglieder des Vertretungsorgans ergeben können. S. hierzu auch II. (am Ende). 69 Hierzu Dierlamm, FS DAV, 428 (436 ff.); Krause, NStZ 2012, 663 (664); Beulke, FS Achenbach, 39 (53 f.); Dahs, FS Kleinknecht, 63 (73 f.). 70 Hierzu im Einzelnen SK-StPO/Rogall (Fn. 6), § 53 Rn. 9 m. weit. Hinweisen. 68
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früheren Organvertreter, die dem Berufsträger anvertraut worden oder sonst bekannt geworden sind.71
IV. Anwaltliche Schweigepflicht und interne Untersuchungen 1. Die Tätigkeit von Rechtsanwälten im Zusammenhang mit internen Untersuchungen („internal investigations“) ist insbesondere in jüngerer Zeit mit guten Gründen vielfach kritisch hinterfragt worden.72 Dies gilt – soweit ersichtlich – nicht für die Frage, wie der vom Unternehmen mit einer internen Untersuchung beauftragte Rechtsanwalt mit Erkenntnissen umzugehen hat, die er bei Ausführung seines Auftrags durch die Befragung von Mitarbeitern gewonnen hat. Da der Rechtsanwalt seine Gespräche als „Berufsträger“ führt, ist zu prüfen, ob seine Gespräche mit Mitarbeitern in der von § 203 StGB begründeten Geheimsphäre erfolgen, über die das Unternehmen zu verfügen rechtlich nicht in der Lage ist. Auf den ersten Blick spricht hiergegen schon der an den Rechtsanwalt gerichtete Mandatsauftrag: Aufklärung möglicher Straftaten/Ordnungswidrigkeiten und/oder arbeitsrechtlicher Pflichtverstöße. Hieraus könnte man den Schluss ziehen, dass schon die Aufgabenstellung auf Indiskretion gerichtet ist und damit der Begründung einer von § 203 StGB geschützten Geheimsphäre im Wege steht. Aus der Sicht des Unternehmens, das den Rechtsanwalt mit der internen Untersuchung beauftragt, mag dies durchaus zutreffen, weil eine Pflicht zur beruflichen Verschwiegenheit des Anwalts in Bezug auf in der Befragung des Mitarbeiters gewonnenen Erkenntnisse die gewünschte Aufklärung in vielfacher Hinsicht behindern, wenn nicht gar unmöglich machen würde. Ungeachtet dessen ist auch in dem hier erörterten Zusammenhang zunächst zu prüfen, auf welcher Basis bei der durchgeführten Untersuchung Berufsträger und zu befragender Mitarbeiter aufeinandertreffen und im Rahmen der Anhörung Gespräche führen. Fraglos unproblematisch vor dem Hintergrund des § 203 StGB sind Gespräche, zu deren Beginn zweifelsfrei feststeht, dass der Rechtsanwalt dem Mitarbeiter ausschließlich in der Funktion des vom Unternehmen beauftragten Aufklärers gegenübertritt, der alles, was er erfährt, an seinen Auftraggeber weiterzuleiten hat. Entscheidend ist, dass diese Funktion des Rechtsanwalts zum einen für den Mitarbeiter klar erkennbar ist, zum anderen, dass er sie auch tatsächlich erkannt hat. Die Verantwortung hierfür liegt fraglos bei dem Berufsträger, der bei unklaren Ver71
A. A. LK-Schünemann (Fn. 27), § 203 Rn. 101, der unterstreicht, dass bei einer unfreiwilligen Selbstbelastung aufgrund der Mitwirkungspflicht im Insolvenzverfahren durch § 97 Abs. 1 Satz 3 InsO hinreichend geschützt sei, was indessen im Hinblick auf die Zweijahresfrist des § 101 Abs. 1 InsO fraglich ist. Hierzu: MK-Cierniak/Pohlit, 2. Aufl. 2012, § 203 Rn. 81. 72 Hierzu: Rödiger, Strafverfolgung von Unternehmen, Internal Investigations und strafrechtliche Verwertbarkeit von „Mitarbeitergeständnissen“, 2012; Jahn, StV 2009, 41 ff., Theile, StV 2011, 381 ff.; Momsen, ZIS 2011, 508 ff.; Knauer/Buhlmann, AnwBl. 2010, 387 ff.; Wastl/Litzka/Pusch, NStZ 2009, 68 ff.; Gerst, CCZ 2012, 1 ff.
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hältnissen sehr schnell im Konflikt zu der sich aus § 203 StGB ergebenden Pflicht gerät, alles, was ihm als Rechtsanwalt anvertraut worden oder bekannt geworden ist, seiner Schweigepflicht zu unterwerfen. Denn dass er bei Anhörungen (auch) fremde Geheimnisse als Rechtsanwalt erfährt, kann nicht zweifelhaft sein. Es geht in solchen Gesprächen gerade um fremde Geheimnisse, an deren Geheimhaltung der Geheimnisträger ein oft existenzielles Interesse hat. Hat der Mitarbeiter die spezielle Funktion des Rechtsanwalts in der bevorstehenden Anhörung infolge eingehender Aufklärung erfasst und ist er bereit, die an ihn gerichteten Fragen zu beantworten und durch eigene Erklärungen zu vertiefen, ist der Rechtsanwalt befugt, den Inhalt des Gesprächs dem Auftraggeber zu offenbaren, auch wenn eine ausdrückliche Einwilligung des Mitarbeiters nicht vorliegt. Äußert er sich nach der erfolgten Belehrung, ist jedenfalls von konkludenter Einwilligung und damit von der Befugnis zur Offenbarung auszugehen. Dabei trägt der Rechtsanwalt die Verantwortung dafür, dass sein Gesprächspartner die ihm dargelegte Rollenverteilung tatsächlich verstanden hat; denn die wirksame (konkludente) Einwilligung „setzt bei zum persönlichen Lebensbereich gehörenden Geheimnissen die Einsicht und Urteilskraft voraus, welche den Erklärenden dazu befähigen, Bedeutung und Tragweite seiner Entscheidung abzuschätzen“73. Die Einwilligung, die prozessual der Entbindung von der Schweigepflicht entspricht,74 kann bis zur Preisgabe des Geheimnisses durch den Berufsträger jederzeit widerrufen werden,75 was der Rechtsanwalt zu beachten hat. Entsprechendes gilt natürlich auch für den Widerruf der Entbindung von der Schweigepflicht gemäß § 53 Abs. 2 StPO.76 2. Die tägliche Praxis zeigt indessen, dass es an dem vorstehend umschriebenen Rollenverständnis auf Seiten des zu befragenden Mitarbeiters nicht selten fehlt. Grund hierfür mag die Befürchtung des die Untersuchung führenden Rechtsanwalts sein, bei allzu deutlichen Hinweisen auf die mit seiner Funktion verbundene Pflicht zur Weitergabe der erhaltenen Informationen sei der Erfolg der Anhörung des Mitarbeiters und damit auch der internen Untersuchung massiv in Frage gestellt. Es entsteht deshalb eine oft unklare Gesprächssituation, die den Mitarbeiter dazu veranlassen kann, dem ihn befragenden Rechtsanwalt eigene Geheimnisse anzuvertrauen und dies mit der Bitte zu verbinden, diesen Teil des Gesprächs ebenso als absolut vertraulich zu behandeln wie den Umstand, dass gerade er – der befragte Mitarbeiter – Nachteiliges über den Kollegen berichtet habe („Ihnen als Rechtsanwalt habe ich das anvertraut, Sie müssen mich aber unbedingt da raushalten!“). Hat der Rechtsanwalt nicht zu Beginn des Gesprächs geklärt, dass er alles, was er erfährt, weitergeben muss, oder hat der Gesprächspartner dies nicht zweifelsfrei verstanden, gerät der Rechtsanwalt in eine schwierige Lage. Er steht vor der Wahl, durch 73 LK-Schünemann (Fn. 27), § 203 Rn. 94; vgl. auch Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele (Fn. 22), § 203 Rn. 24. 74 Vgl. nur LK-Schünemann (Fn. 27), § 203 Rn. 91 m. weit. Hinweisen. 75 NK-Kargl (Fn. 41), § 203 Rn. 57; LK-Schünemann (Fn. 27), § 203 Rn. 105. 76 BGH NJW 1996, 2435.
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Verschweigen der ihm übermittelten Geheimnisse seine Mandatspflichten gegenüber dem Auftraggeber zu verletzen oder aber das ihm als Rechtsanwalt Anvertraute unbefugt zu offenbaren, wenn er der Mandatsverpflichtung nachkommt. Das damit entstandene Dilemma lässt sich kaum lösen; im Zweifel wird der Rechtsanwalt, der die unklare Gesprächssituation zugelassen hat, der Schweigepflicht aus § 203 StGB den Vorrang einräumen müssen, auch wenn er damit das Mandatsverhältnis zu seinem Auftraggeber verletzt.77 3. Die vorstehenden Überlegungen haben auch Gültigkeit für Gespräche, die der Unternehmensanwalt außerhalb einer förmlichen internen Untersuchung führt. In Betracht kommen hier insbesondere Mitarbeiter der Rechtsabteilung, der internen Revision sowie des Einkaufs- oder Verkaufsbereichs. Auch in solchen Gesprächen besteht für den Rechtsanwalt immer wieder die Gefahr, dass man versucht, ihm „ganz im Vertrauen“ Geheimnisse mitzuteilen, deren Weitergabe an das Unternehmen dann problematisch wird, wenn der Rechtsanwalt es zuvor zugelassen hat, dass aus Sicht des Gesprächspartners ein Anwaltsgespräch hat stattfinden können, dessen Vertraulichkeit erwartet werden durfte oder am Ende des Gesprächs sogar ausdrücklich gefordert wird. Auch hier gilt: Klare Funktionsmitteilung seitens des Rechtsanwalts zu Beginn solcher Gespräche vermeidet spätere Komplikationen.
77 Auf den Umgang mit Drittgeheimnissen, deren Behandlung in der Rechtsprechung kaum erörtert (s. aber OLG Köln, NStZ 1983, 412 m. Anm. Rogall, NStZ 1983, 413 u. Anm. Hanack, JR 1986, 35) und in der Literatur heftig umstritten ist (SK-StPO/Rogall [Fn. 6], § 53 Rn. 197 f.; LK-Schünemann [Fn. 27], § 203 Rn. 39, 99; Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele [Fn. 22], § 203 Rn. 23; KK-Senge [Fn. 20], § 53 Rn. 46; SK-StGB/Hoyer [Fn. 29], § 203 Rn. 68 ff.) kann hier nicht eingegangen werden. Es geht im Wesentlichen um die Frage, ob die Geheimnisse Dritter, die der Berufsträger im Rahmen seiner Geheimsphäre mit dem Mandanten (Patienten etc.) erfährt, nur mittelbar geschützt und damit zur Disposition allein des Mandanten stehen (so Hanack, JR 1986, 35 [37]) oder ob diese Dispositionsbefugnis allein den betroffenen Dritten als Geheimnisgeschützten zusteht (SK-StPO/Rogall [Fn. 6], § 53 Rn. 198; KK-Senge [Fn. 20], § 53 Rn. 46; differenzierend LK-Schünemann [Fn. 27], § 203 Rn. 99). Die Position Rogalls, wonach nur der betroffene Dritte als Geheimnisgeschützter dispositionsbefugt ist, überzeugt in ihrer Prägnanz, stößt aber in der Praxis auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Erwähnt sei nur der Normbereich des § 46 b StGB mit seiner praktischen Umsetzung in einem Schriftsatz des Verteidigers, der Drittgeheimnisse vorträgt, die sein Mandant von einem Mittäter oder Gehilfen vertraulich erfahren hat und die sich strafmildernd auswirken können.
Strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrechte im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Von Klaus Ferdinand Gärditz
I. Einleitung Die Zeugnisverweigerungsrechte, die zweifellos einen essentiellen Kern der Schutzvorschriften des geltenden Strafverfahrensrechts bilden, haben den Jubilar als engagierten und verfassungsrechtlich sensiblen1 Verteidiger eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens wiederholt beschäftigt. Ich hatte das große Glück, Jürgen Wolter im Rahmen eines gemeinsamen Projektes des Arbeitskreises Strafprozessrecht und Polizeirecht (ASP) zu begegnen, das die „Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen“ untersuchte und aus dem ein vom Jubilar mitherausgegebener Projektband hervorgegangen ist.2 Ich möchte dieses Thema – zehn Jahre nach Erscheinen des gemeinsamen Sammelbandes – wieder aufgreifen und das umfassende sowie detailliert untersuchte Feld der Zeugnisverweigerungsrechte aus einer sehr spezifischen (und damit notgedrungen punktuellen sowie beschränkten) Perspektive, nämlich im Spiegel der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, behandeln. Der Jubilar hat das Strafverfahrensrecht als „angewandtes Verfassungsrecht“ bezeichnet.3 Dies suggeriert eine Engführung der StPO durch das Verfassungsrecht, die Nachfragen provoziert, aber auch die besondere Bedeutung des Verfassungsrechts gleichermaßen für den Gesetzgeber wie für den Anwender der StPO unterstreicht. Dies betrifft auch die geltenden Zeugnisverweigerungsrechte, obgleich deren
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Grundsätzlich Wolter, NStZ 1993, 1 ff.; vgl. auch die frühzeitige Sensibilisierung des Strafrechts für das Sozialstaats- und Demokratieprinzip: Wolter, GA 1985, 49 (54 f.). Vgl. die Bezugnahmen auf den Jubilar durch das BVerfG: BVerfGE 109, 279 (330, 378); BVerfG-K, Beschl. v. 12. 8. 2010, 2 BvR 1447/10, Rn. 13; Beschl. v. 2. 7. 2009, 2 BvR 1691/07, HRRS 2009 Nr. 873, Rn. 45; Beschl. v. 11. 5. 2007, 2 BvR 543/06, NJW 2007, 2753 (2756), Rn. 52; BVerfG, Beschl. v. 22. 8. 2006, 2 BvR 1345/03, NJW 2007, 351 (354), Rn. 59. 2 Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, 2002. 3 Wolter, in: Schünemann/de Figueiredo Dias (Hrsg.), Bausteine des europäischen Strafrechts, 1995, S. 3 (5).
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Ratio bis heute nicht abschließend geklärt ist.4 Die Vielzahl an dogmatischen Begründungen unterschiedlicher Abstraktionshöhe wird begleitet von sehr unterschiedlichen – oft inkonsequent ausgestalteten5 – regelungstechnischen Mechanismen und Kontexten, in denen das Strafverfahrensrecht Zeugnisverweigerungsrechte unmittelbar (§§ 52 – 53a [ggf. i. V. mit § 161a Abs. 1 Satz 2] StPO) oder mittelbar (§ 81c Abs. 3 Satz 1, § 97, § 100c Abs. 4 – 6, § 160a StPO) schützt.6 Dies impliziert bereits, dass es eine einheitliche verfassungsrechtliche Begründung, mit der sich sämtliche Zeugnisverweigerungsrechte in ein – vom einfachen Gesetzesrecht verweigertes – konstitutionelles System zwängen ließen, nicht geben kann.7 Das hat auch das BVerfG herausgestellt: „Die Auslegung und Anwendung der einfachrechtlichen Vorschriften, aus denen sich ein gesetzlicher Grund für die Verweigerung des Zeugnisses ergeben könnte, ist Sache der Fachgerichte und vom Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nicht zu überprüfen, es sei denn, spezifisches Verfassungsrecht sei verletzt“.8 Bei der Konturierung des spezifischen Verfassungsrechts hat sich das Gericht – durchaus nicht untypisch, obgleich der Interpretationsverantwortungsteilung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG zwischen Kammer und Senat zuwider laufend9 – vor allem über die Kammerrechtsprechung tastend angenähert, bis es Ende 2011 die Zeugnisverweigerungsrechte in einer Senatsentscheidung mit einem grundsätzlicheren Zugriff auf ein kohärentes verfassungsrechtliches Fundament gestellt hat. Diese Entwicklung möchte ich nachzeichnen.
4 Zöller, ZJS 2012, 558 (561). Siehe auch Ignor/Bertheau, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. (2008), § 52 Rn. 1. 5 Zutreffende Kritik Wolter, in: Festschrift für Peter Rieß, 2002, S. 633 (634). 6 Zu den teils sehr unterschiedlichen Regelungsansätzen stellvertretend aus jüngerer Zeit Bosbach, Ungeschriebene strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrechte im Bereich der Rechtsberatung? Eine Betrachtung aus Sicht des Mandanten von Rechtsanwalt, Zeugenbeistand und Strafverteidiger, 2009; Fischedick, Die Zeugnisverweigerungsrechte von Geistlichen und kirchlichen Mitarbeitern, 2006; Görtz-Leible, Die Beschlagnahmeverbote des § 97 Abs.1 StPO im Lichte der Zeugnisverweigerungsrechte, 2000; Heinsen, Die Zeugnisverweigerungsrechte von Mitarbeitern sozialer Beratungsstellen gemäß §§ 53, 53a, 54 StPO, 2003; Tsambikakis, Strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrechte aus beruflichen Gründen: Studien zu § 53a StPO, 2011. Etwa im Rahmen des § 97 StPO kommt es darauf an, dass sich die Gegenstände im Gewahrsam des Zeugnisverweigerungsberechtigten befinden (Abs. 2 Satz 1), weshalb dem Gewahrsam offenbar – und insoweit in Ablösung von der Ratio der §§ 52, 53 StPO – konstitutiver Charakter zugebilligt wird. Zutreffend bereits Welp, Die strafprozessuale Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs, 1974, S. 195. Spezifisch verfassungsrechtlich abbilden lässt sich diese (zulässige) Differenzierung des einfachen Gesetzgebers kaum. 7 Die Verfassung erwähnt Zeugnisverweigerungsrechte nur in der Sonderkonstellation des Art. 47 Satz 1 GG. Vgl. Paeffgen, in: Wolter/Schenke (Fn. 2), S. 215 f. 8 BVerfG-K, Beschl. v. 25. 1. 2007, 2 BvR 26/07, NJW 2007, 1865 (1866), Rn. 10. 9 Allgemein kritisch Klein, in: Benda/Klein/ders. (Hrsg.), Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. (2012) Rn. 161; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. (2012), Rn. 266.
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II. Grund und Grenzen der Zeugnisverweigerungsrechte in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Das BVerfG hatte sich ungeachtet der tragenden Bedeutung der Zeugnisverweigerungsrechte in der Architektonik des Strafverfahrens über längere Zeit eher kursorisch mit diesen zu beschäftigen. Das Gericht hat Zeugnisverweigerungsrechte aber schon immer zutreffend als ein ambivalentes verfahrensrechtliches Instrument behandelt, das in erster Linie der Aufklärung des Sachverhalts entgegensteht und damit auch vor der Verfassung, die der wirksamen Aufklärung von Straftaten einen rechtsstaatlichen Eigenwert zuspricht,10 rechtfertigungsbedürftig ist.11 Das Zeugnisverweigerungsrecht des § 52 StPO ist eben keine Beweisregel, die an ein traditionsreiches Misstrauen gegenüber dem Verwandtenzeugnis anknüpft, sondern nimmt Rücksicht auf die persönliche Situation des (als Dritter durch die Zeugenpflicht für das gemeine Wohl in Anspruch genommenen12) Zeugen, weshalb eben auch Aussagen von Verwandten, die aussagen wollen, als solche uneingeschränkt zugelassen werden.13 Dies bedeutet aber umgekehrt auch, dass es der Zeuge in der Hand hat, eine Aussage – deren Inhalt sowie Wahrheitsgehalt neutralisierend als unbekannt vorauszusetzen ist! – zu verweigern, obgleich der Beschuldigte eine solche (in – redlicher oder unredlicher – Hoffnung auf Entlastung) wünscht.14 Es ist unübersehbar, dass Zeugnisverweigerungsrechte damit auch dem Beschuldigten zum Nachteil gereichen können.15 Dass sich die §§ 52 ff. StPO nicht auf Schutzvorschriften zu Gunsten des Beschuldigten reduzieren lassen, zeigt sich bereits deutlich daran, dass ein Zeugnisverweigerungsrecht gegebenenfalls gegen den Willen des Beschuldigten und zudem auch dann – insoweit über § 55 Abs. 1 Var. 2 StPO hinaus – besteht, wenn eine Aussage entlastend wirken würde.16 Zeugnisverweigerungsrechte entzie10
Zur Herleitung vgl. Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 430; Gärditz, Strafprozeß und Prävention, 2003, S. 83 ff.; ders., Der Staat 49 (2010), 331 (338 f.); Schmidt-Jortzig, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG, Bd. II, 2001, S. 505 f. 11 BVerfGE 33, 367 (383); 38, 105 (118); 77, 65 (76); parallel ferner BVerfGE 34, 238 (248 f.). 12 Vgl. Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts, 1986, S. 109. 13 So schon Beling, Die Beweisverbote als Grenzen der Wahrheitserforschung im Strafprozeß, 1903, S. 16 f. 14 Konsequenterweise hat der Beschuldigte auch kein subjektives Recht, dass der Zeugnisverweigerungsberechtigte von seinem Verweigerungsrecht Gebrauch macht, siehe BGHSt 42, 73 (76); Jäger, Beweisverwertung und Beweisverwertungsverbote im Strafprozess, 2003, S. 144 f.; Lesch, Strafprozessrecht, 2. Aufl. (2001), Kap. 2 Rn. 125; Otte, in: Radtke/Hohmann (Hrsg.), StPO, 2011, § 52 Rn. 3. 15 Paeffgen (Fn. 7), S. 219. 16 Gärditz/Stuckenberg, in: Wolter/Schenke (Fn. 2), S. 99 (121); Weigend, Empfehlen sich gesetzliche Änderungen, um Zeugen und andere nicht beschuldigte Personen im Strafprozeß besser vor Nachteilen zu bewahren?, 1998, S. 71. Dass auch entlastende Aussagen vom Zeugnisverweigerungsrecht erfasst sind, ist heute allgemein anerkannt. Siehe stellvertretend BGHSt 38, 96 (100); Ignor/Bertheau (Fn. 4), § 52 Rn. 1.
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hen damit dem Beschuldigten im Interesse effektiven Zeugenschutzes auch potentielle Beweismittel zur Abwehr staatlicher Strafverfolgung. Mit Recht hat das BVerfG daher frühzeitig – sowie durchaus parallel zur Auslegung der EMRK17 – betont, dass Zeugnisverweigerungsrechte – zumal berufsbedingte18 – vom Gesetzgeber nicht beliebig ausgedehnt werden dürften.19 Damit ist freilich für die gegenläufige Frage, inwieweit solche Rechte ungeachtet ihres Ausnahmecharakters verfassungsrechtlich geboten sein können, noch nicht viel gewonnen. Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung hierzu hat sich seit dem Jahr 2000 beständig verdichtet, konzeptionelle Inkohärenzen der §§ 52 ff. StPO20 aber nicht abgebaut. 1. Sedlmayr-Beschluss Eine (im Ergebnis ungenutzte) Chance, die verfassungsrechtlichen Anforderungen an Zeugnisverweigerungsrechte und die daraus zu ziehenden Konsequenzen zu präzisieren, hätte sich bereits im Rahmen der Verfassungsbeschwerde gegen die sog. Sedlmayr-Entscheidung des BGH21 geboten. Im Ausgangsfall wurde eine Verurteilung wegen Mordes auch auf die Aussage einer V-Person im Umfeld des Beschuldigten gestützt, die sich das Vertrauensverhältnis der Verlobten des Beschuldigten erschlichen und insoweit – unter ,Umgehung‘ von § 52 Abs. 1 Nr. 1 StPO – mittelbare Angaben zur Tat erlangt hatte. Der BGH hielt das Zeugnisverweigerungsrecht nicht für einschlägig, weil dieses lediglich den Zeugen vor der Konfliktsituation zwischen persönlicher/familiärer Bindung und Aussage, also vor einer konkreten Zwangslage, schütze, die bei einer heimlichen Ermittlung nicht bestehe.22 Die Kammer des BVerfG hat mit ihrer Entscheidung vom März 2000 unter dem Berichterstatter Winfried Hassemer die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, und zwar mit der verkrümmten Begründung,23 der Beschwerdeführer hätte zwar eine Grundrechtsverletzung im Ermittlungsverfahren aufgezeigt, aber nicht dargelegt, was daraus für die Verwertung der verfassungswidrig erlangten 17 Einschlägig ist insoweit das Fragerecht nach Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK. Dieser verlangt richtigerweise, dass Zeugnisverweigerungsrechte nur bei einem materiell hinreichend gewichtigen Grund eingeräumt werden dürfen. Mit Recht Paeffgen, in: SK-StPO, Bd. X, 4. Aufl. (2012), Art. 6 EMRK Rn. 156; ähnlich Dehne-Niemann, HRRS 2010, 189 (191), mit zutreffendem Hinweis auf den mehrpoligen Konflikt (dort Schweigerecht des Mitbeschuldigten); Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. (2012), § 24 Rn. 118. Die deutschen Zeugnisverweigerungsrechte stehen im Ergebnis mit der EMRK in Einklang, siehe Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Bd. 11, 26. Aufl. (2012), Art. 6 EMRK Rn. 790; Rzepka, Zur Fairneß im deutschen Strafverfahren, 2000, S. 75 f. 18 BVerfGE 33, 367 (383). 19 BVerfGE 77, 65 (76). 20 Gärditz/Stuckenberg (Fn. 16), S. 132. 21 BGHSt 40, 211 (215). 22 Der Jubilar hatte genau dies eingehend kritisiert: Wolter, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof – Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. 4, 2000, S. 963 (969 ff.). 23 Kritisch zum Stil auch Rogall, NStZ 2000, 490 (491).
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Informationen in der Hauptverhandlung folge. Inzident nimmt die Kammer zu den zugrunde liegenden Verfassungsfragen Stellung: Das den Ermittlungsbehörden zuzurechnende Vorgehen der Vertrauensleute stelle sich „als eine heimliche Befragung einer Aussageperson durch V-Personen und damit als eine Maßnahme dar, die jedenfalls ohne spezielle gesetzliche Ermächtigungsgrundlage nicht zulässig“ sei, was sub specie Vorbehalt des Gesetzes auf Grund der Grundrechtswesentlichkeit24 auch zwangsfreier (heimlicher25) Informationsgewinnung zunächst überzeugt. „Die darin liegende Missachtung des Vertrauensverhältnisses zwischen einem Beschuldigten und seinen Angehörigen im Sinne des § 52 StPO enthält einen Verstoß gegen das Prinzip eines fairen Verfahrens, da der in verschiedenen Vorschriften des Strafverfahrensrechts garantierte Schutz eines Angehörigenverhältnisses (vgl. §§ 52 Abs. 1 und 3, 97 Abs. 1, 100d Abs. 3 Satz 3, 252 StPO) in seinem Kernbestand zu den rechtsstaatlich unverzichtbaren Erfordernissen eines fairen Verfahrens“ zähle.26 Diese sehr direkten Ausführungen in einem obiter dictum deuten darauf hin, dass hier eine – in der Rechtsprechung seinerzeit völlig ungeklärte – Frage in der Kammer erledigt wurde, um markante Aussagen in den Diskurs einzustreuen, die durchzusetzen in einer – an sich indizierten – Senatsentscheidung seinerzeit nicht möglich gewesen wäre. Auffällig ist auch, dass das BVerfG dem hier thematisch nahe liegenden27 Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG)28 oder zumindest des Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Art. 1 Abs. 1 GG) keine Beachtung schenkt. Indem die Kammer inhaltlich auf das faire Verfahren, also ein dem Beschuldigten (nicht dem Zeugen) zugewiesenes Recht, rekurriert, setzt sie implizit – sowie stillschweigend im Einklang mit Jürgen Wolter29 – voraus, dass Zeugnisverweigerungsrechte nicht (in erster Linie) den (nicht thematisierten) Schutz des Zeugen in einer Zwangslage, sondern auch des Beschuldigten gegen eine unredliche Ausforschung seines vertraulichen Umfelds zur Förderung von Verfahrenszielen bezweckten. 2. Kammerentscheidungen zur akustischen Überwachung Einen im Ausgangspunkt tendenziell gegenläufigen Standpunkt nahm das BVerfG in einer Kammerentscheidung (ohne Mitwirkung von Hassemer) zur akus24 Vgl. nur BVerfGE 40, 237 (249); 47, 46 (79); 49, 89 (126 f.); 58, 257 (269); 80, 124 (132); 95, 267 (307 f.); 98, 218 (251); 83, 130 (142); 101, 1 (34); 108, 282 (311). 25 Zu deren strukturellem Ausnahmecharakter und dem daraus folgenden grundrechtlichen Bedarf nach Schutzvorkehrungen Wolter, in: Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 761 (764). 26 BVerfG-K, Beschl. v. 1. 3. 2000, 2 BvR 2017/94, NStZ 2000, 489 (490). Kritisch hierzu etwa Lesch, JR 2000, 334 ff. 27 Vgl. Paeffgen (Fn. 7), S. 221. 28 Ob das Verlöbnis im Vorgriff auf die Ehe sub specie Eheschließungsfreiheit (Jarass, in: ders./Pieroth [Hrsg.], GG, 12. Aufl. [2012], Art. 6 Rn. 6) den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG genießt, wäre diskutabel. Verneinend Bosch, Jura 2012, 33; wohl auch Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 6 Rn. 50. 29 Wolter (Fn. 22), S. 970, 972.
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tischen Wohnraumüberwachung vom Mai 2007 ein: „Das Zeugnisverweigerungsrecht von Angehörigen nach § 52 StPO dient der Rücksichtnahme auf die Zwangslage eines Zeugen, der zur Wahrheit verpflichtet ist, aber befürchten muss, dadurch einem Angehörigen zu schaden“.30 Die Kammer stellt hier zugleich einen Grundrechtsbezug her, und zwar (unter Bezugnahme auf die Senatsentscheidung zum ,Großen Lauschangriff‘31) auf den insoweit absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung,32 der „auch die Kommunikation mit anderen Personen des besonderen Vertrauens“ umfasse. Zutreffend hebt das Gericht hervor, dass sich der insoweit geschützte Kreis „nur teilweise mit den in § 52, § 53 und § 53a StPO genannten Zeugnisverweigerungsberechtigten“ decke.33 Richtigerweise zählen zum Kernbereich auch keine Äußerungen, „die in unmittelbarem Bezug zu konkreten strafbaren Handlungen stehen, wie etwa Angaben über die Planung bevorstehender oder Berichte über begangene Straftaten“,34 obschon auch (und gerade) bei solchen Gesprächen die §§ 52 ff. StPO eine Aufklärung verhindern können. In einer späteren Kammerentscheidung vom Oktober 2009, die eine akustische Überwachung von Gesprächen mit einem Angehörigen des Beschuldigten in einem Kraftfahrzeug betraf, wurde dieser Rechtsprechungspfad mit dem der Sedlmayr-Entscheidung verflochten. Das BVerfG hebt hervor, dass „der in verschiedenen Vorschriften des Strafverfahrensrechts garantierte Schutz des Angehörigenverhältnisses […] in seinem Kernbestand zu den rechtsstaatlich unverzichtbaren Erfordernissen eines fairen Verfahrens“ gehöre. Dieser Kernbestand sei möglicherweise berührt, „wenn das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO angetastet würde, des30 BVerfG-K, Beschl. v. 11. 5. 2007, 2 BvR 543/06, NJW 2007, 2753 (2756), Rn. 52. Zustimmend zu dieser Entscheidung Geis, CR 2007, 501 f. Siehe ferner auch Ladiges, StV 2012, 517 ff. 31 BVerfGE 109, 279 (322). 32 Wertvolle Vorarbeiten hierzu hat nicht zuletzt der Jubilar geleistet, vgl. etwa Wolter, StV 1990, 175 ff. 33 BVerfG-K, Beschl. v. 11. 5. 2007, 2 BvR 543/06, NJW 2007, 2753 (2756), Rn. 53. Vgl. bereits Gärditz/Stuckenberg (Fn. 16), S. 121 f. Auch eine Deckung mit dem Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG und den geschützten Angehörigkeitsbeziehungen in § 52 StPO besteht nicht, was der Schutz der Eingetragenen Lebenspartner (§ 52 Abs. 1 Nr. 2a StPO) zeigt, da deren Beziehung nach hM mangels Verschiedengeschlechtlichkeit nicht unter die Ehe im verfassungsrechtlichen Sinne fällt, siehe BVerfGE 105, 313 (345); Gröschner, in: H. Dreier (Hrsg.), GG, Bd. I, 2. Aufl. (2004), Art. 6 Rn. 39, 48; Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Bd. I, 6. Aufl. (2010), Art. 6 Rn. 45, 47; Schmitt-Kammler/v. Coelln, in: Sachs (Hrsg.), GG, 5. Aufl. (2009), Art. 6 Rn. 6; Uhle, in: Hillgruber/Epping (Hrsg.), GG, 2009, Art. 6, Rn. 4; anderer Ansicht etwa Sanders, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 2011, S. 351 (365 ff.). Gleichwohl ist die Betroffenheit des Persönlichkeitsrechts nicht geringer, so dass es nicht nur konsequent, sondern – zumal unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des BVerfG: BVerfGE 124, 199; 126, 400; BVerfG, Beschl. v. 19. 6. 2012, 2 BvR 1397/09, NVwZ 2012, 1304 (1306 f.), Rn. 57 ff. – sogar geboten war, einen entsprechenden Schutz vorzusehen. Anders aber Paeffgen (Fn. 7), S. 221 f. 34 BVerfG, Beschl. v. 7. 12. 2011, 2 BvR 2500/09 u. a., NStZ 2012, 496 (497), Rn. 99; ebenso bereits BVerfGE 109, 279 (319); 113, 348 (391); 124, 43 (70).
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sen Zweck nicht nur darin liegt, Loyalitäts- und Gewissenskonflikte des Zeugen zu vermeiden […], sondern das auch Interessen des Angeklagten schützt“. Ob die Flankierung über das Verwertungsverbot des § 252 StPO ebenfalls zum rechtsstaatlichen Kernbereich zählt, ließ das Gericht offen, stellt aber unmissverständlich klar, dass die zu einem Zeugnisverweigerungsrecht kondensierte „Ausprägung des Angehörigenschutzes […] jedoch zunächst immer eine Vernehmungssituation voraus[setzt], da es sonst an der Konfliktsituation fehlt, bei der das ,Zeugnis‘-Verweigerungsrecht gerade ansetzt.“ Darüber hinaus sprächen „Fairnessgesichtspunkte“ dafür, „dem Staat auch eine bewusste Umgehung des Zeugnisverweigerungsrechts durch eine gezielte Ausforschung zeugnisverweigerungsberechtigter Personen außerhalb von Vernehmungssituationen, etwa durch Vertrauenspersonen, zu verwehren“.35 Dies zeigt einerseits, dass die Zeugnisverweigerungsrechte in ihrer konkreten Ausgestaltung durch die StPO nicht in toto verfassungsrechtlich garantiert sind, es andererseits aber durchaus einen verfassungsfesten Kernbestand gibt. Das Gericht deutet an, dass dieser Schutz offenbar doppelfunktional sei: Der Zeuge wird vor der Zwangslage geschützt, was letztlich nur grundrechtlich mit Blick auf das allgemeine oder ein besonderes Persönlichkeitsrecht36 zu erklären ist; der Beschuldigte wird verfahrensrechtlich in seinem Anspruch auf ein faires Verfahren geschützt, der dadurch beeinträchtigt werden kann, dass sein gelebtes Vertrauensverhältnis z. B. zu Angehörigen zur Beweisgewinnung gegen ihn selbst genutzt wird. 3. Senatsentscheidung zu Durchsuchungen und Beschlagnahme gegen Presseangehörige In der Entscheidung zur Durchsuchung der Redaktionsräume von CICERO hat es das BVerfG verfassungsrechtlich gebilligt, dass § 97 StPO, der den Schutz des Zeugnisverweigerungsrechts in den Bereich der Beschlagnahme ,verlängert‘37, nicht angewendet wird, wenn ein als Journalist an sich Zeugnisverweigerungsberechtigter selbst Beschuldigter oder Mitbeschuldigter der Straftat ist, auf deren Aufklärung die Ermittlungshandlung zielt.38 Denn Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG steht unter dem Vorbehalt des Art. 5 Abs. 2 GG, der differenzierte (verhältnismäßige) Lösungen gerade zulässt.39 Der Senat betont allerdings zutreffend, dass dennoch „Art. 5 Abs. 1 Satz 2 35
BVerfG-K, Beschl. v. 15. 10. 2009, 2 BvR 2438/08, NJW 2010, 287 f., Rn. 9 f. Als persönlichkeitsspezifischer Querschnitt, der sehr unterschiedlichen Grundrechten inhärent sein kann, etwa Art. 6 Abs. 1 GG. 37 Präzise hierzu Wolter, in: ders. (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts – Symposium zu Ehren von Hans-Joachim Rudolphi, 1995, S. 49 (53). Berechtigte Kritik nunmehr bei Stuckenberg, in: Leblois-Happe (Hrsg.), Les investigations policières, 2012, S. 55 (62 ff.). 38 BVerfGE 117, 244 (262). Zuvor bereits BVerfG-K, Beschl. v. 1. 2. 2005, 1 BvR 2019/03, NJW 2005, 965. 39 Zutreffend auch BVerfG-K, Beschl. v. 10. 12. 2010, 1 BvR 1739/04, NJW 2011, 1859 (1860), Rn. 17; Paeffgen (Fn. 7), S. 227. 36
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GG für die Auslegung und Anwendung der strafprozessualen Normen über Durchsuchungen und Beschlagnahmen, die in Redaktionen oder bei Journalisten durchgeführt werden, von Bedeutung“ bleibe. Dies zeigt einmal mehr, dass die Zeugnisverweigerungsrechte der StPO nicht bloße Projektion eines – nicht existenten – grundrechtlichen Systems des Zeugenschutzes sind, sondern punktuelle einfachgesetzliche Regelungen, deren Anwendung ausreichenden Raum für die Berücksichtigung der Grundrechte belassen muss und praktisch – schon über das Verfahrensermessen (hier der Ermittlungsbehörden) – auch belässt. 4. Kammerentscheidung zum Seelsorgegeheimnis In der Kammerentscheidung zum Seelsorgegeheimnis40 vom Januar 2007 bemüht sich das BVerfG, die verfassungsrechtlichen Grenzen von Zeugnisverweigerungsrechten zu konkretisieren: Anknüpfend an die ältere Rechtsprechung wird jedes Zeugnisverweigerungsrecht als Einschränkung der staatlichen Sachverhaltsaufklärung verstanden, was zum einen mit dem verfassungsrechtlichen Auftrag zur praktisch wirksamen Aufklärung von Straftaten in ein Spannungsverhältnis tritt, zum anderen aber auch – und insoweit von der häufigen Schutz-Rhetorik verkannt – eine Ermittlung zu Gunsten eines Beschuldigten erschweren kann. Verfassungsrechtlich sei daher, so die erste Kammer des Zweiten Senats, zu berücksichtigen, „dass – aufgrund des Ausnahmecharakters von Zeugnisverweigerungsrechten – Voraussetzung für ihre Zuerkennung ein hinreichend konkretes Berufsbild der privilegierten Personengruppe ist […]“. Ob dies für einen bloßen Seelsorger zutreffe, ließ das Gericht offen; es verweist aber darauf, dass durch die Art der Beauftragung bzw. den Beauftragenden institutionell sichergestellt sein müsse, dass das Zeugnisverweigerungsrecht angemessen umgrenzt und von dem Recht „nicht unangemessen Gebrauch“ gemacht werde; der Körperschaftsstatus der Kirche biete eine Gewähr hierfür.41 Dies ist schon deshalb bemerkenswert und zutreffend, weil die Religionsausübungsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 – 2 GG) jeder Religion oder Weltanschauung zusteht, z. B. auch einer verfassungsfeindlichen oder sektiererischen Glaubensrichtung,42 und zudem Verhalten bereits durch seine religiöse Motivation dem Schutzbereich unterfällt43. Ohne Einhegung würde jedwede – praktisch nicht überprüfbare – Berufung auf an40
Eingehende Analyse bei Radtke, ZevKR 52 (2007), 617 ff. BVerfG-K, Beschl. v. 25. 1. 2007, 2 BvR 26/07, NJW 2007, 1865 (1866), Rn. 12. Insoweit zustimmend Seelemann, ZevKR 52 (2007), 227 f. Vertiefend und kritisch mit Blick auf die schwierige Trennbarkeit von geschützten und sonstigen Gesprächsinhalten de Wall, NJW 2007, 1856 ff. 42 Vgl. nur Badura, Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, 1989, S. 41 ff.; Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, Rn. 116; Groh, Selbstschutz der Verfassung gegen Religionsgemeinschaften, 2004, S. 137 ff.; H. D. Jarass, in: Jarass/Pieroth (Fn. 28), Art. 4 Rn. 8; Mager, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Bd. 1, 6. Aufl. (2012), Art. 4 Rn. 13. 43 Siehe Classen, Religionsrecht, 2006, Rn. 151, 155 f.; ferner Borowski, Die Glaubensund Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 380 ff. 41
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gebliche seelsorgerische Bedürfnisse (Mitwisser wird zum Wanderprediger, konspiratives Gespräch zur Beichte) die Aufklärung von Straftaten unangemessen erschweren.44 Insoweit bedarf es einer praktischen Konkordanz, die zur angemessenen Reduktion des Zufallselements in der Beweisaufnahme auf eine institutionelle Reduktion45 des § 53 Abs. 1 Nr. 1 StPO kaum verzichten kann.46 Das BVerfG betont zugleich auch die Bedeutung des § 53 Abs. 1 Nr. 1 StPO für den Grundrechtsschutz des Zeugen, der zwar der Aussage- und Wahrheitspflicht untersteht, aber als Beweismittel nicht zum bloßen Objekt des Verfahrens gemacht werden dürfe; seine Persönlichkeitsrechte müssten angemessen Berücksichtigung finden. „Im Einzelfall und unter strengen Voraussetzungen können sich Beweisverbote – denen die Zeugnisverweigerungsrechte zugerechnet werden können – unmittelbar aus der Verfassung ergeben. Ein Verzicht auf das Beweismittel kann unter anderem geboten sein, wenn durch seine Herbeiziehung der Kernbereich privater Lebensgestaltung verletzt […] oder wegen der Eigenart des Beweisthemas in grundrechtlich geschützte Bereiche unter Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eingegriffen würde […]. Die Rücksichtnahme auf die Subjektstellung des Zeugen und seine Grundrechte begründet allerdings keinen generellen Anspruch des Zeugen, vor Konflikten und Beeinträchtigungen bewahrt zu werden, die aus seiner Zeugnispflicht herrühren können […]. Diese müssen vielmehr in einem der Bedeutung des beeinträchtigten Grundrechts angemessenen Verhältnis zu dem mit der Zeugnispflicht verfolgten Ziel stehen.“47 Damit gelangt das Gericht aus verfassungsrechtlicher Sicht überzeugend zu einem elastischen Maßstab: Jede Zeugenvernehmung muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, und zwar auch, so wird man folgern dürfen, über den typisierten Schutz der §§ 52 ff. StPO hinaus. Konsequent stellt das Gericht zudem den Bezug zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung her, der „auch bestimmte Formen der Kommunikation mit Personen des besonderen Vertrauens“ wie das seelsorgerische Gespräch mit einem Geistlichen einschließe.48 Der Schutz der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und damit von beruflichen
44 Mit Recht für eine restriktive Auslegung Ignor/Bertheau (Fn. 4), § 53 Rn. 21; MeyerGoßner, StPO, 55. Aufl. (2012), § 53 Rn. 12; ähnlich auch Paeffgen (Fn. 7), S. 225. Anders aber Bosch, Jura 2012, 33 (39). 45 Vgl. für eine notwendige Objektivierung des Grundrechtstatbestandes zum Zwecke der rechtlichen Entscheidbarkeit allgemein BVerfGE 83, 341 (353); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ ders. (Hrsg.), GG, Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 4 Rn. 10. 46 Anders gewendet: § 53 Abs. 1 Nr. 1 StPO ist als Schutzangebot an verlässliche Partner konzipiert und auch nur insoweit zu rechtfertigen. Vergleichbare Probleme stellen sich etwa auch, sofern der Staat Religionsgemeinschaften als Kooperationspartner benötigt, um theologische Fakultäten zu gründen. Siehe Gärditz, JZ 2009, 515 ff., m. w. Nachw. 47 BVerfG-K, Beschl. v. 25. 1. 2007, 2 BvR 26/07, NJW 2007, 1865 (1867), Rn. 16. 48 Der Schutz der Beichte und der Gespräche mit Beichtcharakter zählt zum verfassungsrechtlichen Menschenwürdegehalt der Religionsausübung. So BVerfGE 109, 279 (322).
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Geheimnissen wird zwar ebenfalls anerkannt, mit Recht aber im Hinblick auf staatliche Aufklärungsinteressen in seiner effektiven Tragweite weitgehend relativiert.49 5. Kammerentscheidung zu § 252 StPO In einer Kammerentscheidung vom September 2003 betont das BVerfG50 erneut die Grundrechtsrelevanz der Zeugnisverweigerungsrechte für den Zeugen. In dem Ausgangsfall hatte der Schwager des Beschuldigten gegenüber der Polizei entlastende Aussagen getätigt, in der Hauptverhandlung aber von seinem Zeugnisverweigerungsrecht mit der Folge des Verwertungsverbots nach § 252 StPO Gebrauch gemacht. Hier zeigt sich erneut die Ambivalenz von Zeugnisverweigerungsrechten, die sich eben auch zu Lasten des Beschuldigten auswirken können. Das Gericht verweist darauf, dass dem Interesse des bereits rechtskräftig verurteilten51 Beschwerdeführers das allgemeine Persönlichkeitsrecht des verwandten Zeugen entgegenstehe, das „im Sinne des obersten Konstitutionsprinzips der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen“ gewährleiste. Hierunter falle sowohl das in § 52 StPO einfachgesetzlich garantierte Zeugnisverweigerungsrecht naher Angehöriger als auch „die Option des verwandten Zeugen, bereits getätigte Aussagen gemäß § 252 StPO dem Strafverfahren wieder zu entziehen“. § 52 StPO trage hierbei „der besonderen Lage eines Zeugen Rechnung, der als Angehöriger des Beschuldigten der Zwangslage ausgesetzt sein kann, seinen Angehörigen zu belasten oder die Unwahrheit sagen zu müssen. Niemand soll gezwungen sein, aktiv zur Überführung eines Angehörigen beizutragen, weil der Zwang zur Belastung von Angehörigen mit dem Persönlichkeitsrecht des Zeugen ebenso unvereinbar wäre wie ein gegen den Zeugen geübter Zwang zur Selbstbelastung“. Da diese Konfliktlage über die erste Vernehmung hinaus fortwirke, ermögliche § 252 StPO in konsequenter Erstreckung des Schutzes, eine einmal getätigte Aussage folgenlos wieder rückgängig zu machen. Diese auf den Zeugen bezogene Schutzfunktion richtet sich dann aber potentiell auch gegen den Beschuldigten, was das BVerfG unmissverständlich hervorhebt: „Soweit der Beschwerdeführer meint, bei einer entlastenden Aussage vor der Polizei müsse § 252 StPO hinter das Recht auf ein faires Verfahren zurücktreten, verkennt er Zweck und Reichweite des in dieser Vorschrift geregelten Persönlichkeitsrechts. § 252 StPO gewährt dem angehörigen Zeugen nicht nur die Möglichkeit, eine wahrheitsgemäße belastende Aussage zurückzunehmen, sondern auch die Option, von einer unwahren entlastenden Aussage Abstand zu nehmen, ohne nachteilige Folgen befürchten zu müssen.“
49 BVerfG-K, Beschl. v. 25. 1. 2007, 2 BvR 26/07, NJW 2007, 1865 (1868), Rn. 24. So bereits Paeffgen (Fn. 7), S. 233. 50 BVerfG-K, Beschl. v. 25. 9. 2003, 2 BvR 1337/03, NStZ-RR 2004, 18 f. 51 BGH, Beschl. vom 23. 9. 2003, 1 StR 323/03, NStZ-RR 2004, 18.
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6. Senatsentscheidung zur Neuregelung der TK-Überwachung In der Entscheidung vom 12. Oktober 2011 zur Verfassungsmäßigkeit von Vorschriften des Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung52 nahm sich nunmehr – nach über zehn Jahren zunehmend verästelter Kammerrechtsprechung – der Zweite Senat des BVerfG der Aufgabe an, die verfassungsrechtlichen Grundlagen der (berufsbezogenen) Zeugnisverweigerungsrechte zu systematisieren.53 Ausgangspunkt waren zwei gezielte54 Verfassungsbeschwerden unmittelbar gegen das genannte Gesetz, hier vor allem die begrenzte und abgestufte55 Schutzvorschrift des § 160a StPO. Eine Ermittlungsmaßnahme, die sich gegen Geistliche als Seelsorger, Verteidiger oder Abgeordnete (§ 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 4 StPO), einen Rechtsanwalt, eine nach § 206 BRAO in eine Rechtsanwaltskammer aufgenommene Person oder einen Kammerrechtsbeistand richtet und voraussichtlich Erkenntnisse erbringen würde, über die diese das Zeugnis verweigern dürfte, ist nach § 160a Abs. 1 Satz 1 StPO unzulässig (absolutes Beweiserhebungsverbot56, sprich: ohne Abwägungsoption57). Dennoch erlangte Erkenntnisse unterliegen nach § 160a Abs. 1 Satz 2 einem absoluten Verwertungsverbot. Soweit durch eine Ermittlungsmaßnahme demgegenüber eine sonstige in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 – 3b oder Nr. 5 StPO genannte Person (Berater in Beratungsstellen nach SchwangerschaftskonfliktG oder in einer anerkannten Betäubungsmittelberatungsstelle, Journalist) betroffen wäre und dadurch voraussichtlich Erkenntnisse erlangt würden, über die diese Person das Zeugnis verweigern dürfte, ist dies nach § 160a Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 StPO im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit besonders zu berücksichtigen. Betrifft das Verfahren keine Straftat von erheblicher Bedeutung, ist nach § 160a Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 StPO in der Regel nicht von einem Überwiegen des Strafverfolgungsinteresses auszugehen. Im Ergebnis ist hier also der Schutz zu einem relativen Beweiserhebungsverbot herabgestuft,58 weshalb die Bestimmung sowohl als zu weitgehende Relativierung59 als auch als gleichheitswidrig (Art. 3 Abs. 1 GG) kritisiert wurde. 52 Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG v. 21. 12. 2007 (BGBl I S. 3198). 53 BVerfG, Beschl. v. 12. 10. 2011, 2 BvR 236/08 u. a., NJW 2012, 833. 54 Es ging in der Sache – in Tradition der Verfassungsbeschwerden gegen den „Großen Lauschangriff“ um eine liberale Kampagne gegen ein Gesetzesvorhaben, das auf politischen Widerstand gestoßen ist. Beschwerdeführer waren das liberale Urgestein Burkhard Hirsch sowie der bei Rudolphi mit einer Streitschrift gegen den Lauschangriff (Der „große Lauschangriff“, 2001) promovierte Justiziar der Deutschen Telekom AG Mozek. 55 Meyer-Goßner (Fn. 44), § 160a Rn. 1. 56 Meyer-Goßner (Fn. 44), § 160a Rn. 3a. 57 Kretschmer, in: Radtke/Hohmann (Hrsg.), StPO, 2011, § 160a Rn. 5. 58 Vgl. Meyer-Goßner (Fn. 44), § 160a Rn. 9. 59 Wolter, in: SK-StPO, 4. Aufl. (2011), § 160a Rn. 2, 5a.
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Das BVerfG ist dem mit Recht nicht gefolgt und hat betont, dass der Gesetzgeber verfassungsrechtlich nicht verpflichtet gewesen sei, den Anwendungsbereich des in § 160a Abs. 1 StPO normierten absoluten Beweiserhebungs- und Verwendungsverbotes zum Schutz des zu den Berufsgeheimnisträgern bestehenden Vertrauensverhältnisses auch auf die in Abs. 2 genannten Personengruppen zu erstrecken.60 Dahinter stehe eine sachgerechte Differenzierung nach Maßgabe der Betroffenheit des, den strafprozessualen Ermittlungen entzogenen, unantastbaren Bereichs privater Lebensgestaltung. Der Gesetzgeber habe daher dort, wo der Kontakt zwischen einem Bürger und einem Berufsgeheimnisträger typischerweise diesen Kernbereich berühre, absoluten Schutz, in allen anderen Fällen, obschon auch hier besondere Vertrauensbeziehungen berührt seien, bei typisierender Betrachtung nur einen relativen Schutz gewährt.61 Zutreffend betont das Gericht erneut den Ausnahmecharakter von absoluten Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverboten unter Verweis auf die hohe Bedeutung einer wirksamen Verfolgung von Straftaten im Rechtsstaat.62 Die Aufklärung von Straftaten könne indes durch Zeugnisverweigerungsrechte empfindlich berührt werden, weshalb es hierfür „auch vor dem Hintergrund des im Rechtsstaatsprinzip begründeten Anspruchs des Beschuldigten auf ein faires Strafverfahren“ einer konkreten verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedürfe, die sich z. B. aus Grundrechten der Betroffenen im Rahmen einer Interessenabwägung ergeben könne.63 Das BVerfG stellt insoweit die Zeugnisverweigerungsrechte von dem Kopf auf die grundrechtsdogmatischen Füße. Eine mitunter geforderte Expansion des § 160a Abs. 2 StPO hin zu einer absoluten Beweisverwertungslösung64 ist konsequenterweise vor diesem Hintergrund verfassungsrechtlich unzulässig. Sub specie Art. 3 Abs. 1 GG klärt nun das BVerfG das Verhältnis der unterschiedlichen Zeugnisverweigerungsrechte, ausgehend von deren verfassungskonformer Ratio, zueinander. Für Geistliche in ihrer Eigenschaft als Seelsorger sowie für Strafverteidiger ergebe sich „die Rechtfertigung für den absoluten Schutz daraus, dass ihre Kommunikation mit dem Beschuldigten eines Strafverfahrens typischerweise einen Bezug zu Art. 1 Abs. 1 GG aufweist: So gehört das seelsorgerische Gespräch mit einem Geistlichen zu dem verfassungsrechtlichen Menschenwürdegehalt der Religionsausübung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG.“65 Entsprechendes gelte für das Verhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigtem,66 was schon deshalb überzeugt, weil nur eine unbehinderte Verteidigung vermeidet, dass der Beschuldigte vom selbstständig agierenden Prozesssubjekt zum bloßen Verfahrensobjekt degradiert wird. Für andere Anwälte und Rechtsbeistände treffe dies – so das BVerfG 60
BVerfG, Beschl. v. 12. 10. 2011, 2 BvR 236/08 BVerfG, Beschl. v. 12. 10. 2011, 2 BvR 236/08 62 BVerfG, Beschl. v. 12. 10. 2011, 2 BvR 236/08 63 BVerfG, Beschl. v. 12. 10. 2011, 2 BvR 236/08 64 Prononciert Wolter (Fn. 59), § 160a Rn. 5a. 65 BVerfG, Beschl. v. 12. 10. 2011, 2 BvR 236/08 66 BVerfG, Beschl. v. 12. 10. 2011, 2 BvR 236/08
61
u. a., u. a., u. a., u. a.,
NJW NJW NJW NJW
2012, 2012, 2012, 2012,
833 833 833 833
(840), (841), (841), (841),
Rn. 243. Rn. 247. Rn. 248. Rn. 249.
u. a., NJW 2012, 833 (842), Rn. 259. u. a., NJW 2012, 833 (842), Rn. 261.
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mit Recht – nicht zu. Jedoch sei die Wertung des Gesetzgebers vertretbar, weil „eine Differenzierung zwischen Anwälten und Verteidigern aufgrund der Nähe der Tätigkeitsfelder faktisch kaum möglich“ sei,67 was freilich die Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers leicht überstrapaziert. Auch für die Berufsgruppe der Ärzte gelte ein absoluter Schutz nur bedingt,68 und zwar soweit bestimmte Inhalte im Einzelfall dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zugeordnet werden könnten.69 Richtigerweise ist hinsichtlich der Journalisten der berufsbezogene Geheimnisschutz aus verfassungsrechtlicher Sicht nochmals reduziert,70 sodass sich hier weite Gestaltungsspielräume und eben auch Relativierungsoptionen ergeben: „Für Presse- und Medienvertreter hat das Bundesverfassungsgericht bereits mehrfach betont, dass ein genereller und keiner Abwägung unterliegender Schutz gegenüber strafprozessualen Maßnahmen nicht in Betracht kommt, weil bei der Gewichtung der Medienfreiheit im Verhältnis zu dem Gebot funktionstüchtiger Strafrechtspflege keinem der verfolgten Interessen abstrakt ein eindeutiger Vorrang gebührt.“71 Gemessen hieran wäre das geltende Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 Abs. 1 Nr. 5 StPO durchaus disponibel und könnte für Abwägungen geöffnet werden. Im Übrigen wird unter Bezugnahme auf das besondere Eingriffskriterium der berufsregelnden Tendenz72 der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) keine besondere Schutzwirkung zugemessen.73 Ohne Bedeutung bleibt die Berufsfreiheit freilich nicht, da sie als Grundrecht auch dem Verteidiger zusteht. Der besondere Status des Strafverteidigers dient zwar in erster Linie den Rechten des Beschuldigten sowie damit – institutionell abstrahiert – zugleich den Interessen der Allgemeinheit an einer rechtsstaatlichen Strafrechtspflege. Dieser fremdnützige Status macht aber zugleich das Proprium der Berufsausübung des Verteidigers aus,74 sodass auch Ein-
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BVerfG, Beschl. v. 12. 10. 2011, 2 BvR 236/08 u. a., NJW 2012, 833 (842), Rn. 262. Richtig bereits Paeffgen (Fn. 7), S. 223. 69 BVerfG, Beschl. v. 12. 10. 2011, 2 BvR 236/08 u. a., NJW 2012, 833 (843), Rn. 265; konkretisiert in Rn. 266: „Demgegenüber sind etwa ärztliche Aufzeichnungen über Anamnese, Diagnose oder therapeutische Maßnahmen nicht ohne Weiteres dem unantastbaren Intimbereich, sondern grundsätzlich lediglich der Privatsphäre des Patienten zuzuordnen, in die bei zwingenden überwiegenden Belangen des Gemeinwohls eingegriffen werden darf […]. Es begegnet daher keinen Bedenken, wenn auf solche Informationen bei einem Überwiegen des staatlichen Strafverfolgungsinteresses zugegriffen werden darf.“ 70 Eine verfassungskonforme Reduktion oder gar ein pauschaler Rekurs auf Art. 19 Abs. 2 GG, der im Übrigen in der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung keine tragende Rolle spielt, ist daher erst recht verfehlt, weil der umfassende Zeugenschutz sicherlich nicht das Proprium des Pressefreiheit ausmacht. So aber Wolter (Fn. 59), § 160a Rn. 6. 71 BVerfG, Beschl. v. 12. 10. 2011, 2 BvR 236/08 u. a., NJW 2012, 833 (843), Rn. 268. 72 BVerfGE 95, 267 (302); 97, 228 (253 f.); 113, 29 (48). 73 BVerfG, Beschl. v. 12. 10. 2011, 2 BvR 236/08 u. a., NJW 2012, 833 (843), Rn. 270. So auch für administrative Auskunftsersuchen mit Gefahr der Selbstbelastung HessVGH, Beschl. v. 23. 8. 2012, 6 B 1374/12, DVBl. 2012, 1445 (1447 f.). 74 BVerfGE 110, 226 (253). 68
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griffe, die das Vertrauensverhältnis von Verteidiger und Mandant75 berühren, einer qualifizierten Rechtfertigung bedürfen,76 wie das BVerfG in seinem Kammerbeschluss zur Überwachung von Verteidigern („Pauka“-Beschluss) betont hat.77 7. Würdigung Das BVerfG hat eine überzeugende Standortbestimmung der Zeugnisverweigerungsrechte als Schutzinstrumente vorgenommen, die aus unterschiedlichen Gründen staatlichen Aufklärungsinteressen entgegengehalten werden können. Es geht bei Zeugnisverweigerungsrechten nicht um schlichte Konkretisierungen eines verfassungsrechtlichen Beschuldigtenschutzes (namentlich des Anspruchs auf ein faires Verfahren), sondern um ambivalente Institute des Prozessrechts, die sich gleichermaßen zu Gunsten wie zu Lasten des Beschuldigten auswirken können. Hieraus resultiert aber eine anspruchsvolle Gemengelage unterschiedlicher Interessen, die (auch abhängig von der jeweiligen Fallkonstellation) teils miteinander konfligieren, teils parallel laufen können: staatliche Strafverfolgungsinteressen; das Interesse des Beschuldigten am Schutz von qualifizierten Nähe- und Vertrauensbeziehungen; das Interesse des Zeugen an Freiheit von Aussagezwang gegenüber nahen Angehörigen; das Interesse des Beschuldigten an der möglichst umfassenden Sachverhaltsaufklärung, namentlich an der Erhebung und Verwertung entlastender Beweise. Dieses inhomogene und disparate Interessenbündel lässt sich verfassungsrechtlich offensichtlich nicht in eine einheitliche grundrechtliche Struktur einfügen; erst recht lassen sich die sehr unterschiedlichen Lösungen nicht unmittelbar aus der Verfassung deduzieren. Die einschlägigen Grundrechte von Beschuldigten und Zeugen (Art. 2 Abs. 1 [i. V. mit Art. 1 Abs. 1], 6 Abs. 1, 12 Abs. 1 GG) eröffnen durchweg ohnehin eine Eingriffsrechtfertigung, sodass insoweit – jenseits eines Kernbereichsschutzes – auch eine differenziertere Ausgestaltung als bislang denkbar wäre.78 Die wohlfeile These, Zeugnisverweigerungs- und vergleichbare Rechte seien keine Beeinträchtigung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, sondern deren Bedingung,79 ist zwar nicht falsch, bleibt aber gemessen am Problem doch irritierend unterkomplex. Dass das Strafverfahren seine soziale Funktion nur überzeugend zu erfüllen vermag, wenn rechtsstaatliche Garantien gesichert sind, ist ebenso unbestreitbar wie trivial. Zur Lösung der eigentlichen und vorgreiflichen Frage, wie ein rechtsstaatliches Strafverfahrensrecht bei Interessenkonflikten zwischen unterschiedlichen Akteuren (hier: Zeuge, Beschuldigter) inhaltlich am besten auszutarieren ist, tragen solche Appelle an eine abstrakte Rechtsstaatlichkeit nichts Substanzielles bei. 75
Zu dessen Schutz BVerfGE 110, 226 (252). Dies schließt freilich von Verfassung wegen keine Maßnahmen aus, die sich auf einen hinreichenden Anfangsverdacht einer Straftat durch den Strafverteidiger stützen. Siehe BVerfG-K, Beschl. v. 20. 5. 2010, 2 BvR 1413/09, NJW 2010, 2937 f. 77 BVerfG-K, Beschl. v. 4. 7. 2006, 2 BvR 950/05, NVwZ 2006, 2974 (2975), Rn. 13. 78 Gärditz/Stuckenberg (Fn. 16), S. 130. 79 Hassemer, Freiheitliches Strafrecht, 2001, S. 144 f. 76
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a) Bundesverfassungsgerichtliche Prüfungsmatrix Aus der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur lässt sich daher folgende, in der Sache überzeugende Matrix der verfassungsrechtlichen Prüfung von Zeugnisverweigerungsrechten herausschälen: (1) Zeugnisverweigerungsrechte sind Hindernisse für eine effektive Aufklärung des Sachverhalts durch Maßnahmen der Strafverfolgung, die gerade auch zu Gunsten des Beschuldigten und zur Durchsetzung seines Anspruchs auf ein faires Verfahren geboten ist. Daher bedarf jedes Zeugnisverweigerungsrecht einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. (2) Verfassungsrechtliche Rechtfertigungen können sich aus den Grundrechten aller Betroffenen ergeben. Für den Zeugen geht es vornehmlich um Schutz gegenüber erzwungenen Konfliktlagen zwischen wahrheitsgemäßer Aussage einerseits und Pflichten gegenüber Angehörigen bzw. als Geheimnisträger andererseits. Für den Beschuldigten geht es um den Anspruch auf ein faires Verfahren, der beeinträchtigt sein kann, wenn Aussagen, die er gegenüber Vertrauenspersonen getätigt hat, zwangsweise zum Beweismittel gemacht werden können. Gegen freiwillige Aussagen (ordnungsgemäß belehrter) Zeugnisverweigerungsberechtigter schützt aber auch die Verfassung nicht, was konsequent ist, weil jeder Grundrechtsträger Vertrauensbeziehungen auf eigenes Risiko eingeht und durch eine freiwillige Aussage der Vertrauensperson nur privates Vertrauen enttäuscht, aber die Enttäuschung nicht zurechenbar vom Staat erzwungen wird.80 (3) Der Konflikt ist durch Abwägung der abstrakt gegenläufigen Interessen aufzulösen,81 um einen freiheitsadäquaten Ausgleich gerade durch Differenzierung herzustellen,82 wobei hier dem Gesetzgeber nicht unerhebliche Wertungsspielräume zukommen.83 (4) Absolute Grenzen ergeben sich aus einem Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung, der vor allem bei besonderen Nähebeziehungen unter Angehörigen situationsabhängig betroffen sein kann, sowie im Hinblick auf die Subjektstellung des Beschuldigten im Strafprozess hinsichtlich der Vertrauensbeziehung zu seinem Vertei80 Die dem Staat zurechenbare Tätigung einer Aussage in einem förmlichen Verfahren als solche löst insoweit keine besonderen grundrechtlichen Schutzbedürfnisse aus. 81 Vgl. Paeffgen (Fn. 7), S. 219. Entsprechende Güterrelationen hängen daher notwendig auch von der jeweiligen Verfahrenskonstellation und der Bedeutung des Aufklärungsziels ab. Zutreffenderweise wird man daher auch den Schutz der Zeugen relativ herabsetzen müssen, wenn es nicht um retrospektive Strafverfolgung geht, sondern um Gefahrenabwehr, bei der konkrete Rechtsgüter noch realiter zu retten sind. So Gusy, in: Wolter/Schenke (Fn. 2), S. 135 (137 f.). Vertiefend hierzu auch Würtenberger/Schenke, JZ 1999, 548 ff. 82 Die freiheitswahrende Zielrichtung der in der Abwägung steckenden Relationierung von Gütern wird verkannt, wenn man diese einseitig als Grundübel des Strafverfahrensrechts ausweist. So aber Wolter, in: Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer, 1990, S. 493 (502 ff.), der zur Forderung gelangt (S. 505): „Den Anfängen der Güterabwägung und des Ausgleichs mit Strafverfolgungsinteressen in diesen Fällen zu wehren, sind die Art. 1 I, 79 III GG bestimmt.“ 83 Und hiergegen richtet sich dann auch die Kritik, etwa Hassemer (Fn. 79), S. 137 f.
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diger. Auch das Seelsorgegeheimnis ist wegen seiner Nähe zum Menschenwürdekern der Religionsfreiheit qualifiziert geschützt. Alle anderen Vertrauensverhältnisse (namentlich zu Berufsgeheimnisträgern wie Ärzten und Anwälten oder zu Journalisten) genießen lediglich einen relativen Schutz. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hält den Gesetzgeber insoweit zur differenzierten Typisierung an und bindet die Strafverfolgungsbehörden im Rahmen ihres Verfahrensermessens bei der Anwendung von Zwangsmaßnahmen nach geltendem Recht. b) Verfassungsrechtliche Akteursgebundenheit Wie ganz allgemein zwingt also eine verfassungsrechtliche Sichtweise zu einer akteursbezogenen Differenzierung: Zeugnisverweigerungsrechte bedeuten eben für jeden Akteur im Strafverfahren etwas anderes und eine verfassungsrechtliche Beurteilung muss an diese divergenten Perspektiven anknüpfen, um sachgerechte Lösungen entwickeln zu können. Wer hierin mit dem Jubilar ein Abdriften in „das systemlose Abwägungs-Strafprozessrecht“ erblicken möchte,84 wird dem Problem multipolarer Konflikte, die sich eben nicht generell nach einem binären Schema von zulässig und unzulässig auflösen lassen, nicht wirklich gerecht. Eine einseitige Schutzoptimierung zu Gunsten des Beschuldigten wäre nicht nur im Hinblick auf die zentrale Rolle von Strafverfahren als formalisierte Instrumente sozialer Kontrolle eine unangemessene Verkürzung: Auch der Schutz der Freiheitlichkeit der normativen Struktur eines Gemeinwesens durch Strafrecht ist ein freiheitliches Anliegen.85 Verhältnislose Schutzoptimierung würde auch die – in der Rechtsordnung ubiquitäre – Gemengelage verfehlen, die daraus entsteht, dass das Schutzinteresse eines Beteiligten (etwa eines Zeugen) mit dem eines anderen Beteiligten (etwa des Beschuldigten) kollidieren kann. Wer dem Schutz des Beschuldigten generellen Vorrang einräumen will, müsste eigentlich Zeugnisverweigerungsrechte nur für zulässig erachten, wenn der Beschuldigte zustimmt – eine Konsequenz, die so – soweit ersichtlich – nicht ernsthaft erwogen wird. Die akteursbezogene Differenzierung lässt sich etwa anhand des von Jürgen Wolter feinsinnig diskutierten86 Problems einer „Umgehung“ von Zeugnisverweigerungsrechten exemplifizieren: Aus der Sicht des angehörigen Zeugen kommt es darauf an, nicht in einen für ihn unzumutbaren Konflikt gedrängt zu werden, der aber nur bei der Anwendung hoheitlichen Zwangs zur Durchsetzung der Zeugnispflicht besteht. Bei heimlichen Ermittlungsmaßnahmen ist dies nicht der Fall – auch die Zurechnung des verdeckt Ermittelnden zum Staat ändert hieran nichts.87 Aus der Sicht des Beschuldigten geht es darum zu verhindern, dass die Kommunikation in engen Vertrauensbeziehungen als Beweismittel gegen ihn verwendet wird. Dies ist aber ein 84
Wolter, in: Festschrift für Claus Roxin, 2011, S. 1245 (1246). Vgl. Jakobs, GA 2012, 48. 86 Wolter (Fn. 22), S. 972 ff. 87 Wie hier Möstl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VIII, 3. Aufl. (2010), § 179 Rn. 46.
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Problem des fairen Verfahrens und nicht der mangels Zeugensituation nicht betroffenen Zeugnisverweigerungsrechte.88 Damit steht die Heimlichkeit der Ermittlung selbst auf der Probe. Und ein Problem der Fairness kann sich folglich auch dann stellen, wenn der getäuschte Zeuge überhaupt kein Zeugnisverweigerungsrecht geltend macht. Umgehungsargumente sind dann gleichermaßen entbehrlich wie unergiebig; sie sind ganz allgemein von eher zweifelhafter Dignität, weil sie letztlich darauf hinauslaufen, die Fragmentierung des geltenden Rechts und seiner Verbote durch ein präterlegales Systemdenken89 zu überwinden.90 c) Folgen für außerstrafprozessuale Zeugnisund Auskunftsverweigerungsrechte Dies hat mittelbar auch Folgen für den Schutz von Auskunftspersonen außerhalb des Strafverfahrens: Auch Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechte in administrativen (z. B. § 5a Abs. 5 Satz 3 AEG, § 49 Abs. 6 Satz 2 EnWG, § 44 Abs. 6 KWG, § 127 Abs. 8 TKG) oder parlamentarischen (§ 22 PUAG) Verfahren, die bei Gefahr der Strafverfolgung greifen, sind zwar einfachgesetzlich meist § 55 StPO nachgebildet,91 erfordern aber aus verfassungsrechtlicher Sicht andere Abwägungen,92 zumal eine uneingeschränkte Auskunftspflicht in einem nichtstrafrechtlichen Verfahren durch ein Verwertungsverbot in Strafverfahren zumutbar gehalten werden könnte.93 Dies gilt erst Recht für – unter Überwindung von Zeugnisverweigerungsrechten – polizeirechtlich gewonnene Daten.94
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Ähnliche Differenzierung bei Zöller, in: Wolter/Schenke (Fn. 2), S. 325 (339 ff.). Hiergegen allgemein kritisch Lepsius, in: Jestaedt/ders. (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, S. 1 (36 ff.). 90 Als die niederträchtigste Form der Umgehung gesetzlicher Verbote müsste letztlich das bewusst legale Verhalten gelten, durch das gezielt die Sanktionswirkungen umschifft werden. 91 HessVGH, Beschl. v. 23. 8. 2012, 6 B 1374/12, DVBl. 2012, 1445 (1449). Vgl. auch Bourwieg, in: Britz/Hellermann/Hermes (Hrsg.), EnWG, 2. Aufl. (2010), § 49 Rn. 19: allgemein anerkannter Rechtsgrundsatz. 92 Zutreffend für eine differenzierte Berücksichtigung der besonderen Wertigkeit parlamentarischer Aufklärungsinteressen, jedoch im Ergebnis relativierend Glauben, in: ders./ Brocker (Hrsg.), PUAG, 2012, § 22 Rn. 2, 6. Für eine Parallelwertung zum Strafprozessrecht indes Peter, Untersuchungsausschussrecht, 2012, Rn. 320; Rogall, in: Gedächtnisschrift für Dieter Meurer, 2002, S. 449 (462); Wiefelspütz, Das Untersuchungsausschussgesetz, 2003, S. 249 ff. 93 Eingehend hierzu die sog. Gemeinschuldnerentscheidung BVerfGE 56, 37 (48 ff.). Besteht demgegenüber – wie bei § 44 Abs. 6 KWG – ein Auskunftsverweigerungsrecht, dann dürfen erlangte Informationen auch an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet werden (§ 9 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 KWG), ohne dass ein Verwertungsverbot eingreift. Zutreffend Schwennicke, in: ders./Auerbach (Hrsg.), KWG, 2009, § 44 Rn. 31; vorsichtiger Schröder, NStZ 1998, 552 (555); anderer Ansicht Bärlein/Pananis/Remsmeier, NJW 2002, 1825 (1828 ff.). 94 Vgl. Wolter (Fn. 5), S. 645. 89
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III. Verwertungsproblem An den Schutz der Zeugnisverweigerungsrechte schließt sich das Folgeproblem an, inwiefern verfassungsrechtliche Direktiven eine als selbstständiger Grundrechtseingriff zu qualifizierende95 Verwertung rechtswidrig erhobener Beweise – etwa unter Verletzung der §§ 52 ff. StPO – verhindern.96 Die unverbrüchlich geltende Verfassungs- und Gesetzesbindung von Staatsanwaltschaft, Polizei und Strafgericht (Art. 20 Abs. 3 GG) ist hierfür unergiebig, weil aus der Pflicht zur Beachtung des geltenden Rechts keine unmittelbaren Fehlerfolgeregelungen ableitbar sind.97 Freilich darf es auch nicht zu einer Sanktionslosstellung kommen, die die – ebenfalls sub specie Rechtsstaatsprinzip gebotene98 – praktische Wirksamkeit eines verfassungsrechtlichen Verbots untergräbt. Bei der Frage, welche Folgen an rechtswidrige Handlungen geknüpft werden, ist insoweit ein Interessenausgleich zwischen Abwehrinteressen des Betroffenen und eventuellen öffentlichen Beweiserhaltungsinteressen herzustellen. Die Rechtsprechung des BGH zu Beweisverwertungsverboten beruht letztlich auf einem solchen – freilich zu Unrecht, aber häufig (auch vom Jubilar99) kritisierten100 – Abwägungskonzept.101 Ein kohärentes System allgemeiner Regeln hat sich bislang nicht ausdifferenziert.102
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Vgl. BVerfGE 100, 313 (360); Gärditz (Fn. 10), S. 208, 347, 349. An eine Verletzung der Belehrungspflicht nach § 52 Abs. 3 Satz 1 oder der Zustimmung nach § 52 Abs. 2 StPO knüpft die hM ein Verwertungsverbot, sofern nicht der Zeuge sein Verweigerungsrecht kannte und auch bei ordnungsgemäßer Belehrung ausgesagt hätte. Siehe BGHSt 14, 159 (160); 23, 221 (223); 40, 336 (339); BGH, Beschl. v. 8. 11. 1995, 2 StR 531/ 95, NStZ-RR 1996, 106; Bosch, Jura 2012, 33 (34); Ignor/Bertheau (Fn. 4), § 52 Rn. 53; Lesch (Fn. 14), Kap. 2 Rn. 124; Meyer-Goßner (Fn. 44), § 52 Rn. 32; Otte (Fn. 14), § 52 Rn. 28. 97 Gärditz, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum GG, 2012, Art. 20 Abs. 3 (Rechtsstaat) Rn. 91. 98 Hierzu Gärditz (Fn. 97), Art. 20 Abs. 3 (Rechtsstaat) Rn. 86 ff.; Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 172 f., 184; Hollerbach, AöR 85 (1960), 241 (250); Hufen, VVDStRL 47 (1989), S. 142 (147); Schmidt-Aßmann, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. II, 3. Aufl. (2004), § 26, Rn. 21, 24; Waldhoff, Staat und Zwang, 2008, S. 13. 99 Etwa Wolter, in: ders./Riedel/Taupitz (Hrsg.), Einwirkung der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, 1999, S. 319 (328 f.); ders., GA 1999, 158 (167 f.). 100 Hassemer, Festschrift für Werner Maihofer, 1988 S. 183 (191); Lesch, in: Festschrift für Klaus Volk, 2009, S. 311 ff.; Müssig, GA 1999, 119 (139 ff.); Neuhaus, StV 2010, 45 (49). 101 Siehe BGHSt 52, 110 (116); Meyer-Goßner (Fn. 44), Einl. Rn. 55a; Rieß, JR 1979, 167; Rogall, NStZ 1988, 385 (391 ff.). 102 Meyer-Goßner (Fn. 44), Einl. Rn. 55a. Zu verdienstvollen Systematisierungsbemühungen siehe etwa Amelung, NJW 1991, 2533 ff.; Gössel, GA 1991, 483 ff.; Hauf, NStZ 1993, 457 ff.; Jäger, GA 2008, 473 ff. 96
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1. Beweisverwertungsrecht als Gesetzgebungsauftrag In erster Linie bleibt es Aufgabe des Gesetzgebers, ein Fehlerfolgenregime auszudifferenzieren.103 Dies gilt auch deshalb, weil ein Beweisverwertungsverbot sehr unterschiedliche Rechtsfolgen nach sich ziehen könnte (z. B. Exklusion des einzelnen Beweismittels, isolierter Rechtsschutz gegen Verfahrenshandlungen,104 Verfahrenseinstellung)105 und auch eine Konstruktion als (verfassungsunmittelbarer) Folgenbeseitigungsanspruch106 flexible Lösungen zuließe.107 Dass die StPO Verwertungsverbote allenfalls punktuell enthält (vor allem § 136a Abs. 3 Satz 2 StPO), im Übrigen Verwertungsfragen in die gesetzlich nicht konturierten (im Wesentlichen revisionsrechtlich differenzierten) Grenzen richterlicher Beweiswürdigung (§ 261 StPO) verlagert,108 ist vor allem ein (hier nicht zu vertiefendes109) Problem des Vorbehalts des Gesetzes, der eben auch eine (meist verkannte) grundrechtsschützende Funktion erfüllt.110 Dass der Gesetzgeber die Praxis insoweit meist „alleingelassen“ hat, wird vom Jubilar mit Recht beklagt.111 Auch bei einer gesetzlichen Ausformung wäre, wie ganz allgemein,112 dem Bedarf nach (distanzierender und insoweit freiheitsschützender113) abstrakt-genereller Typisierung einerseits und der notwendigen Elastizität für sachgerechte Lösungen im Einzelfall andererseits Rechnung zu tragen. Ermächtigungen zur Selbstprogrammierung an Exekutive oder Justiz im Einzelfall haben hierbei sowohl aus der Sicht der funktionalen Gewaltengliederung114 als auch des Grundrechtsschutzes einen nicht zu verkennenden Eigenwert. Namentlich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stellt zwar einen unmittelbaren Bezug zur verfahrensexternen sozialen Realität her,115 relationiert aber als Direktive des abstrakt-generellen Gesetzgebers einerseits und als Gebot der fallbezogenen Rechtsanwendung andererseits wiederum sehr unterschiedlich: Auf legislativer Ebene dominieren ab-
103
Vgl. zu Vorschlägen Mitsch, NJW 2008, 2295 (2300 f.). Vgl. Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß, 1990, S. 82 f. 105 Siehe Jäger (Fn. 14), S. 243 ff. 106 Amelung (Fn. 104), S. 38 ff. 107 Vgl. nur Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, 6. Aufl. (2013), S. 378 ff., 384 ff. 108 Hierzu Velten, in: SK-StPO, Bd. V. 4. Aufl. (2012), § 261 Rn. 63 ff. 109 Allgemeine und konstruktive Ansätze einer differenzierten Lösung, die auch Fragen der funktionalen Kompetenzverteilung beim Umgang mit Informationen in Strafverfahren berücksichtigt, bei Rogall, Informationseingriff und Gesetzesvorbehalt im Strafprozeßrecht, 1992, S. 53 ff. 110 Eingehend und klar jüngst Burkiczak, in: Emmenegger/Wiedmann (Fn. 33), S. 129 ff. 111 Wolter (Fn. 84), S. 1246. 112 Grundsätzlich Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, 1998, S. 552 ff. 113 Vgl. Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 3. Aufl. (2007), § 100, Rn. 12. 114 Strukturell und legitimationstheoretisch Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 112 ff. 115 Lepsius, in: Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, S. 319 (352). 104
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strakt-generelle Tatsachen116 (etwa zur typischen Wirkung bestimmter Zeugnisverweigerungsrechte auf die Strafverfolgung), wobei sich auch hier Bedeutungskontexte einer Norm (nicht der Norminhalt) durch sozialen Wandel in der Zeit verschieben können.117 Auf der Rechtsanwendungsebene bestimmen die Kontexte des Falles die Verhältnisse, denen gemäß entschieden werden soll,118 und eine neutrale Justiz ist der rechtsstaatlich unverzichtbare Puffer zwischen der Schärfe des abstrakt-generellen Gesetzes und dem Einzelnen.119 Insgesamt sprechen daher gute Gründe dafür, bei der Verletzung von Zeugnisverweigerungsrechten durch Organe der Exekutive im Ermittlungsverfahren das Fehlerfolgenrecht zwar legislativ nachzuverdichten, dem Richter aber auch einen hinreichenden Entscheidungsspielraum auf der Rechtsfolgenseite (sprich: Verwertung in der Hauptverhandlung) zu belassen, um den sehr unterschiedlichen Problemen im Einzelfall gerecht zu werden. 2. Begrenzte verfassungsunmittelbare Beweisverwertungsverbote Verfassungsunmittelbare Beweisverwertungsverbote sind zwar möglich,120 lassen sich aber nur im Ausnahmefall konstituieren.121 Im Sedlmayr-Beschluss stellte das BVerfG fest, dass „es feste verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen von Verfassungs wegen ein Beweisverbot im Strafverfahren in Betracht kommt, in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung noch nicht gibt“.122 Dies ist im Ergebnis immer noch richtig, wobei es bemerkenswert ist, dass das Gericht solche Maßstäbe seinerzeit „noch nicht“ (!) für etabliert hielt; institutionell übersetzt heißt dies, dass sich das BVerfG zum damaligen Zeitpunkt offenbar noch nicht auf entsprechende Regeln verständigen konnte, die Kompetenz, solche Regeln zu kreieren, aber durchaus in Anspruch nimmt. Wäre es darum gegangen, dass (etwa unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit der relevanten Grundrechtseingriffe) Uneinigkeit über den Inhalt der Verfassung besteht, wäre diese – unbestreitbar eine sehr grundsätzliche Weichenstellung für die konstitutionel-
116 Allgemein Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 350; Lepsius, JZ 2005, 1 ff.; Rengeling, DÖV 1978, 277 (279). 117 Vgl. Husserl, Recht und Zeit, 1955, S. 23. 118 Zu den daraus resultierenden kognitiven Grenzen Gärditz, in: Festschrift für Ingeborg Puppe, 2011, S. 1557 ff. 119 Vgl. Waechter, Die Verwaltung 44 (2011), 125 (128). Zum freiheitlichen Eigenwert dezentraler Vollzugselastizität klassisch de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 1835 (hrsg. von Mayer 1985), S. 161. 120 BGHSt 31, 296 (299); Jahn, Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbote im Spannungsfeld zwischen den Garantien des Rechtsstaates und der effektiven Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus, 2008, S. 37 f.; Meyer-Goßner (Fn. 44), Einl. Rn. 56. 121 Ähnlich auch Möstl (Fn. 87), § 179 Rn. 49. 122 BVerfG-K, Beschl. v. 1. 3. 2000, 2 BvR 2017 u. 2039/94, NStZ 2000, 489 (490).
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le Statik des Strafprozessrechts betreffende – Frage sinnvollerweise im Senat zu entscheiden gewesen.123 Jedenfalls hat die Rechtsprechung zwischenzeitlich die relevanten Maßstäbe konkretisiert: Vor allem dürfen Informationen, die den Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung betreffen, der von Art. 1 Abs. 1 GG geschützt ist, nicht verwendet und damit auch nicht in einem Urteil verwertet werden.124 Im Übrigen prüft das BVerfG Verwertungsfragen am Maßstab des Rechts auf ein faires Verfahren125, das das Gericht im Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Freiheitsrechten und Art. 1 Abs. 1 GG verankert sieht.126 Dieses Recht enthalte „keine in allen Einzelheiten bestimmten Ge- oder Verbote“. Eine Verletzung liege erst vor, „wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht auch in seiner Auslegung und Anwendung durch die Fachgerichte ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben worden ist“.127 Dies zwinge zu einer Interessenabwägung, in deren Rahmen die Erfordernisse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege128 sowie der Beschleunigungsgrundsatz in den Blick zu nehmen seien.129 Zeit ist auch ein Faktor der spezifischen Verfahrensgerechtigkeit.130 Verzögerungen, so stellt das Gericht zutreffend fest, beeinträchtigen auch das verfassungsrechtlich abgesicherte öffentliche Interesse an einer möglichst vollständigen Aufklärung der (potentiellen) Tat im Strafprozess.131 Auch seien Mindesterfordernisse an eine zuverlässige Wahrheitserforschung zu wahren.132 In diesem Rahmen stelle ein Beweisverwertungsverbot aus verfassungsrechtlicher Sicht – insoweit parallel zu den Zeugnisverweigerungsrechten – eine begründungsbedürftige Ausnahme dar,133 „weil es die Beweismöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden zur Erhärtung oder Widerlegung des Verdachts strafbarer Handlungen einschränkt und so die Findung einer materiell richtigen und gerechten Entscheidung beeinträch123 § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG schließt es zwar nicht aus, dass die Kammer die Annahme einer Verfassungsbeschwerde verweigert, obschon die relevanten Fragen nicht geklärt sind; nur die positive Annahmekompetenz ist durch den verfassungsrechtlichen Klärungsbedarf beschränkt. Vorliegend lag es jedoch nahe, dass die Frage der Substantiierung der Verfassungsbeschwerde eng mit dem relevanten Maßstab zusammenhing, sodass eine Senatsentscheidung kaum rechtlich verschlossen gewesen sein dürfte. 124 BVerfGE 109, 279 (324, 331 f.); 120, 274 (337); BVerfG, Beschl. v. 7. 12. 2011, 2 BvR 2500/09 u. a., NStZ 2012, 496 (497), Rn. 99. 125 BVerfGE 26, 66 (71); 38, 105 (111); 39, 238 (242 f.); 40, 95 (98 f.); 46, 202 (210); 46, 325 (334 f.); 49, 220 (225); 52, 131 (143 f.); 54, 100 (116); 57, 250 (274 ff.); 60, 175 (215); 64, 135 (145); 70, 297 (308); 86, 288 (317); 118, 212 (230 f.). 126 BVerfG, Beschl. v. 7. 12. 2011, 2 BvR 2500/09 u. a., NStZ 2012, 496 (498), Rn. 110. 127 BVerfG, Beschl. v. 7. 12. 2011, 2 BvR 2500/09 u. a., NStZ 2012, 496 (498), Rn. 112. 128 Zuletzt betont bei BVerfGE 122, 248 (272 f.). 129 BVerfG, Beschl. v. 7. 12. 2011, 2 BvR 2500/09 u. a., NStZ 2012, 496 (498), Rn. 113 f. 130 Rüpke, Zeit und Fest – Eine Kulturgeschichte des Kalenders, 2006, S. 54. 131 BVerfG, Beschl. v. 7. 12. 2011, 2 BvR 2500/09 u. a., NStZ 2012, 496 (498), Rn. 114. 132 BVerfG, Beschl. v. 7. 12. 2011, 2 BvR 2500/09 u. a., NStZ 2012, 496 (498), Rn. 116. 133 Kritisch hierzu aber Wolter (Fn. 84), S. 1265 f.
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tigt.“ Grundrechtsverletzungen im Zusammenhang mit Ermittlungshandlungen außerhalb der Hauptverhandlung, so wird es vom Gericht folgerichtig betont, führen daher nicht zwingend zu einem Verwertungsverbot. „Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist ein Beweisverwertungsverbot geboten, wenn die Auswirkungen des Rechtsverstoßes dazu führen, dass dem Angeklagten keine hinreichenden Möglichkeiten zur Einflussnahme auf Gang und Ergebnis des Verfahrens verbleiben, die Mindestanforderungen an eine zuverlässige Wahrheitserforschung nicht mehr gewahrt sind oder die Informationsverwertung zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht führen würde. Zudem darf eine Verwertbarkeit von Informationen, die unter Verstoß gegen Rechtsvorschriften gewonnen würden, nicht bejaht werden, wo dies zu einer Begünstigung rechtswidriger Beweiserhebungen führen würde. Ein Beweisverwertungsverbot kann daher insbesondere nach schwerwiegenden, bewussten oder objektiv willkürlichen Rechtsverstößen, bei denen grundrechtliche Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind, geboten sein“.134 Diese konsequent entwickelten und in der Sache erneut überzeugenden Aussagen reihen sich wiederum grundrechtsdogmatisch ein in die Rechtsprechung zu den Zeugnisverweigerungsrechten. Grundrechtsschutz auf der Beweiserhebungsebene setzt sich zwar auf der Beweisverwertungsebene fort, mündet hier aber als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in ein elastisches Modell der Interessenabwägung, das in der Regel unterschiedliche, jeweils verfassungskonforme Lösungen zulässt. Dies gilt vor allem dann, wenn der Beschuldigte ein Interesse an der Verwertung hat.135 Der Anspruch auf ein faires Verfahren kann freilich eine Verdichtung zu einem Verwertungsverbot bewirken. Wem dies gemessen an den besonderen Formalisierungsbedürfnissen des Strafverfahrens als zu flexibel, zu fluid und zu wenig berechenbar erscheint,136 der sollte keine Lösungen vom Grundgesetz erwarten, weil die Verfassung zu abstrakt ist und Deduktionen aus dem Verhältnismäßigkeitsgebot erst recht unvermeidbar kasuistisch bleiben.
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BVerfG, Beschl. v. 7. 12. 2011, 2 BvR 2500/09 u. a., NStZ 2012, 496 (499), Rn. 117. Letzteres ist sicherlich der Fall, wenn ein Beweismittel unter Verstoß gegen die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) erlangt wurde, zutreffend. Wolter, in: Festschrift für Wilfried Küper, 2007, S. 707 (713). Dieses Argument bewahrt seine Überzeugungskraft freilich nur, wenn man nicht die Menschenwürde als solche trivialisiert und zum unerschöpflichen Speicher strafprozessrechtlicher Detailfragen aufbläht. 135 Vgl. Nack, in: Wolter/Schenke (Fn. 2), S. 199 (207). Richtigerweise ist auch hier zwischen formeller Beweisverwertung und materieller Qualität des konkreten Beweismittels zu unterscheiden, so Jäger (Fn. 14), S. 274. 136 Allgemein etwa Jahn (Fn. 120), S. 47 ff., m. w. Nachw.
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IV. Schlussbetrachtung Jede Maßnahme der Strafverfolgung erfordert einen Ausgleich von Freiheitsrechten mit Strafverfolgungsinteressen,137 weil anderenfalls Strafverfolgung überhaupt nicht möglich wäre: Strafprozesse sind rechtfertigungsbedürftige Dauergrundrechtseingriffe und kein Bürgerservice zur Grundrechtsoptimierung. Rechtfertigungen entziehen sich aber im demokratischen Rechtsstaat, dessen epistemische Grundlage die Relativität ist,138 von vornherein einer Schematisierung; Abwägung ist dann ein notwendiges Paradigma – auch eines freiheitlichen Strafprozesses. Der Umgang mit Zeugnisverweigerungsrechten kann hierfür als Referenzgebiet dienen. Und auch Strafprozessrecht ist eben zu einem erheblichen Teil einfaches Gesetzesrecht, dessen Maximen, auch wenn sie gut begründet sind und auf eine lange Tradition verweisen können, sich nicht pauschal konstitutionalisieren lassen. Im Gegenteil knüpfen viele einprägsame Deutungen des Strafprozessrechts über die institutionelle Kontinuität von RG/BGH an vordemokratische und vorgrundrechtliche (obschon nicht notwendig vorrechtsstaatliche) Traditionen an,139 deren ungeprüfte Übernahme sich verbietet. Es entsteht bisweilen der Eindruck, dass gerade das Strafrecht die Diskontinuität von 1949 verschlafen hat, wenn zwar einerseits wie in kaum einem anderen Rechtsgebiet hypertroph die Menschenwürde und das Rechtsstaatsprinzip bemüht werden,140 diese zur kleinen Münze umgegossenen Verfassungsgebote aber meist dazu herhalten müssen, gleichermaßen tradierte wie detaillierte Bausteine der Reichsjustizgesetze oder in der reichsgerichtlichen Rechtsprechung geformte Dogmen zu verteidigen. Die disparaten, inkohärenten und erst spät mit grundrechtlichen Erwägungen konfrontierten Zeugnisverweigerungsrechte liefern hierfür Anschauungsmaterial. Das Roxinsche Diktum vom Strafverfahrensrecht als „Seismograph der Staatsverfassung“141 bleibt dennoch richtig: Im Brennglas Strafverfahren treffen individuelle Freiheitsinteressen und abstrakte Gemeinwohlbelange prozedural in extremer Konzentration aufeinander, weshalb es hier um ein besonders verfassungsaffines Rechtsgebiet geht. Konfliktlösungen sind freilich auch hier nur im Grenzfall aus der Verfassung deduzierbar. Konstitutionell ummantelte Großformeln sowie der hypertrophe Rekurs auf Menschenwürde und Ewigkeitsgarantie142 tragen – wie auch in an137
Hiergegen dezidiert Wolter (Fn. 82), S. 505. Für die Demokratie immer noch grundlegend Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 369 ff. 139 Vgl. C. Möllers, APuZ 18 – 19/2009, S. 5 (6). 140 Vgl. auch die Klage bei Arzt, in: Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 839 (847): „Kolonie des Verfassungsrechts“. 141 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 27. Aufl. (2011), § 2 Rn. 1. Seit der 27. Aufl. wurde das geflügelte Wort bezeichnenderweise zur Abschnittsüberschrift aufgewertet. 142 In der Tendenz aber Wolter, in: ders./Riedel/Taupitz (Fn. 99), S. 328, wenn hier Menschenwürde und Verhältnismäßigkeit kurz geschlossen werden, um extensive abwägungsfeste Regeln zu postulieren. Ferner Wolter (Fn. 82), S. 494 ff., 502 ff., wenn Grundrechtsschutz und 138
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deren Rechtsgebieten – wenig zur sachgerechten Problemlösung bei. Die Verfassung ist eben kein Programm einer guten Ordnung – auch nicht eines ,liberalen‘ Strafprozessrechts143 –, sondern auf die gestuft-arbeitsteilige Konkretisierung des Rechts durch problemspezifische Regelungsleistungen des parlamentarischen Gesetzgebers und der einzelfallelastischen Rechtsanwendung angewiesen. Die Einflüsse des Verfassungsrechts bleiben daher notwendig punktuell.144 Die Differenziertheit der filigran verästelten bzw. technischen Lösungsansätze, die der Gesetzgeber z. B. im Rahmen der §§ 97, 160a StPO gewählt hat, unterstreichen gleichermaßen die Kontingenz der denkbaren Ergebnisse wie die Notwendigkeit einer einfachgesetzlichen Problemabschichtung. Wie dieser Ausgleich im Einzelnen hergestellt wird, sagt dann aber viel über Zustand und Präferenzen einer Gesellschaft und ihre Erwartungen an das Strafrecht aus. Damit lastet zugleich auf dem Gesetzgeber eine hohe Verantwortung. Strafprozessrechtspolitik kann daher weder auf überzeugte rechtspolitische Plädoyers noch auf eine fundierte wissenschaftliche Begleitung verzichten.145 Jürgen Wolter steht fraglos in besonderer Weise für eine Wissenschaft, die diesen Auftrag dankbar annimmt, ihre rechtspolitische Stimme erhebt, scharfsichtig wie scharfzüngig Probleme markiert und sich mit großem persönlichen Engagement in die Entwicklung des Strafverfahrensrechts ,einmischt‘. Dazu gehört auch das Ringen mit der Rechtsprechung des BVerfG, das eine wissenschaftliche Gegenöffentlichkeit braucht.146 Auch wenn das Gericht dem Jubilar nicht immer gefolgt ist und oft mit guten Gründen andere Pfade eingeschlagen hat, zeigt doch etwa das vorsichtige Aufgreifen der maßgeblich von Jürgen Wolter geprägten Figur der Umgehung von Zeugnisverweigerungsrechten, dass Kritik auch Früchte tragen kann. Und das ist gut so, auch wenn ich – in alter Verbundenheit mit dem Jubilar darf ich dies freimütig sagen – nicht immer dessen Auffassungen teile.
Würdeschutz undifferenziert in eins gesetzt werden, wodurch der Blick auf das differenzierte Schrankensystem verloren geht und regelungstechnische Detailfragen zu Absolutem mutieren. 143 Symptomatisch für eine eher ins 19. Jahrhundert rückwärtsgewandte Verklärung etwa Hassemer (Fn. 79), 218 ff.; Schünemann ZRP 2009, 104 ff. Mit Recht und überzeugend gegen solche Idealisierungen aber der Jubilar: Wolter, ZStW 107 (1995), 793 (826 ff.). Zur Inhaltslosigkeit einer durch Theorieabstinenz zur Floskel verkommenen ,Liberalität‘ treffend Stuckenberg, GA 2011, 653 (658). 144 Zutreffend Möstl (Fn. 87), § 179 Rn. 51. 145 Immer noch glanzvoll Wolter, GA 1985, 49 ff. 146 Allgemein Baudenbacher/Bergmann, in: Haltern/Bergmann (Hrsg.), Der EuGH in der Kritik, 2012, S. 191 (217). Siehe auch Albers, VVDStRL 71 (2012), 257 (265 f.).
Zum Beschlagnahmeschutz anwaltlicher Unterlagen bei unternehmensinternen Ermittlungen Von Björn Gercke Unternehmensinterne Ermittlungen (sog. „Internal Investigations“) beschäftigen Wissenschaft und Praxis spätestens seit der Siemens-Affäre. Neben der nach wie vor unzureichenden Befassung mit den kriminologisch-soziologischen Aspekten dieser „Akzentverschiebung von strafrechtlicher Repression zu organisatorischer Prävention“1, die man je nach Blickwinkel und Rolle des Betrachters begrüßen oder fürchten kann, stellen sich vielfältige, wenn nicht gar „ungezählte“2 Rechtsprobleme, vornehmlich aus dem Bereich des Arbeits- und Strafverfahrensrechts.
I. Statt einer Einleitung: „Internal Investigations“ – Konflikte und Begehrlichkeiten Dies liegt nicht nur an der jungen Historie dieses in der Praxis des Wirtschaftsstrafrechts wie auch der sonstigen anwaltlichen Unternehmensvertretung im Kontext allgegenwärtiger „Compliance“ so schnell so bedeutsamen Phänomens, sondern auch daran, dass unternehmensinternen Ermittlungen eine Fülle von Konflikten im Verhältnis der Beteiligten – Unternehmen als Arbeitgeber, (befragter) Arbeitnehmer sowie beauftragte Anwaltskanzlei – untereinander, aber auch im Spannungsfeld von Rechten und Pflichten jedes einzelnen Beteiligten für sich immanent sind: Das Unternehmen bzw. die Unternehmensverantwortlichen trifft die Pflicht, Sachverhalte weiter aufzuklären und ggf. hieraus resultierende Ansprüche durchzusetzen, wenn sie Kenntnis von strafbarem oder auch bloß die Haftung des Unternehmens begründendem Verhalten von Arbeitnehmern erhalten.3 Auf der anderen Seite können durch interne Ermittlungen, die regelmäßig von externen Anwälten, Wirtschaftsprüfern etc. durchgeführt werden, Sachverhalte zutage gefördert werden, die weitgehende zivil-, ordnungswidrigkeiten- und strafrechtlich relevante Konsequenzen gegen das Unternehmen und seine Verantwortlichen nach sich ziehen. Dies gilt insbesondere für ernst gemeinte Untersuchungen, die nicht bloß den Cha1
Theile, StV 2011, 381. So Ruhmannseder, in: Schulz/Reinhart/Sahan (Hrsg.), FS I. Roxin, 2012, S. 501. 3 Vgl. nur 91 Abs. 2 i. V. m. 76 AktG für den Vorstand sowie § 111 AktG für den Aufsichtsrat einer AG, näher hierzu bereits Kirsch, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Unternehmensstrafrecht, 2012, S. 361, 362 f. 2
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rakter sog. window dressings haben, da hier zu Beginn der Untersuchungen die Folgen regelmäßig kaum absehbar sind. Auf der anderen Seite wiederum dokumentieren nur solche „echten“ Untersuchungen den Kooperationswillen des Unternehmens, der geeignet ist, staatliche Sanktionsmaßnahmen abzumildern.4 In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob die interne Untersuchung bzw. Befragung von Arbeitnehmern nur der Aufklärung dient oder bereits Bestandteil einer materiellen Unternehmensverteidigung ist. Schließlich können die Verpflichtungen des Arbeitgebers zur Aufklärung sowie etwaigen Geltendmachung und Durchsetzung von Ansprüchen mit seinen Fürsorgepflichten und je nach Fallgestaltung auch mit Vorgaben des Datenschutzrechts zumindest partiell im Widerspruch stehen.5 Den Arbeitnehmer treffen seinerseits weitgehende arbeitsrechtliche Auskunftspflichten, die mit seinem im Hinblick auf das Strafverfahren uneingeschränkt bestehenden nemo-tenetur-Grundsatz prima facie kollidieren. Sofern das LG Hamburg in seiner Entscheidung vom 5. 6. 1984 unter Berufung auf einschlägige arbeitsrechtliche Rechtsprechung und Literatur ausführt, dass „die arbeitsrechtliche Offenbarungspflicht des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber da ihre natürlichen Grenzen findet, wo sich der Arbeitnehmer durch ihre Erfüllung dem Verdacht einer strafbaren Handlung aussetzen müsste“6, wäre dies mit Blick auf die faktische Zwangslage des Arbeitsnehmers regelmäßig ein tatsächlich wertloses „Recht“: Verweigert sich der Arbeitnehmer, muss er „mit der Androhung arbeits- und haftungsrechtlicher Konsequenzen mit unter Umständen existenzvernichtenden Folgen“7 rechnen. Auch wird ihm dann die regelmäßig bei solchen Untersuchungen gewährte unternehmensinterne „Amnestie“, die (interne) Haftungsfreistellung und ggf. sogar Übernahme anwaltlicher Verteidigungskosten8 verweigert. Insoweit ist die Frage der Mitwirkungspflicht bzw. die Frage eines „nemo-tenetur“-Rechts über das Strafverfahren hinaus9 eher theoretischer Natur: Die betroffenen Mitarbeiter verzichten – ob nun im Wege einer Auskunftsverpflichtung oder eben (formal) „freiwillig“ – faktisch 4
Knauer/Buhlmann, AnwBl 2010, 387, 388. Vgl. hierzu etwa Tschwerwinka, in: Schulz/Reinhart/Sahan (Hrsg.), FS I. Roxin, S. 521 ff. 6 LG Hamburg MDR 1984, 867, 868; i. E. ähnlich und insoweit mit beachtlicher Argumentation Bauer, StV 2012, 277, 278 f. sowie StraFo 2012, 488, 489 f.; vgl. auch Göpfert/ Merten/Siegrist, NJW 2008, 1703, 1705; Fritz/Nolden, CCZ 2010, 170, 172; a.A. Diller, DB 2004, 313 f.; Böhm, WM 2009, 1923, 1924; Momsen/Grützner, DB 2011, 1792, 1795 (jeweils für umfassende Auskunftsverpflichtung bis zur Selbstbezichtigung bei berechtigtem Interesse des Arbeitgebers). Insgesamt sind „ob und wie“ einer Auskunftsverpflichtung bzw. -verweigerung bei solchen „Interviews“ eine arbeitsrechtlich „umstrittene, noch nicht abschließend geklärte Rechtsfrage“ (Weiße, in: Moosmayer/Hartwig, Interne Untersuchungen – Praxisleitfaden für Unternehmen, 2012, S. 51). 7 Wastl/Litzka/Pusch, NStZ 2009, 68, 71. 8 Vgl. hierzu Knauer/Buhlmann, AnwBl. 2010, 387, 388. 9 Für ein solches Recht etwa Wast/Listka/Pusch, NStZ 2009, 68, 70 ff.; Tscherwinka, in: Schulz/Reinhart/Sahan (Hrsg.), FS I. Roxin, S. 521, 536; dagegen etwa Knauer/Buhlmann, AnwBl. 2010, 387, 389 unter Berufung darauf, dass die Verfassung unmittelbar nur den Staat, nicht hingegen Privatpersonen binde; so i. E. auch Lützeler/Müller-Sartori, CCZ 2011, 19, 20. 5
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ausnahmslos auf echte Selbstbelastungsfreiheit. Dies wiegt umso schwerer, als sich jene selbst gegenüber Dritten nicht verbindlich auf eine zugesicherte Verschwiegenheit des Arbeitgebers bzw. der von diesem mandatierten Kanzlei berufen können.10 Auch die beauftragten Anwaltskanzleien, die ihr Auskunftsrecht gegenüber dem einzelnen Arbeitnehmer von dem sie beauftragenden Unternehmen als Arbeitgeber ableiten11, bewegen sich auf gefährlichem Terrain: Ihnen muss nicht nur bewusst sein, dass etwaige Amnestie- und Vertraulichkeitszusagen keine Drittwirkung – insbesondere nicht im Verhältnis zur staatlichen Strafverfolgungsbehörden12, aber auch nicht zu sonstigen privaten Dritten – entfalten, sie müssen dies auch offen gegenüber den Befragten vor Beginn einer Befragung mitteilen, um den Vorwurf der Täuschung zu vermeiden.13 Sie nehmen letztlich regelmäßig (nur) die Interessen des Unternehmens wahr: Einigkeit besteht insoweit noch weitgehend darüber, dass zwischen dem befragten Arbeitnehmer und der mit den internen Untersuchungen und den hiermit einhergehenden Befragungen beauftragten Rechtsanwaltskanzlei regelmäßig kein Mandatsverhältnis besteht.14 Letzteres entsteht grundsätzlich nur zwischen dem Unternehmen und der beauftragten Kanzlei bzw. den beauftragten Anwälten; dem Sinn und Zweck des Mandatsverhältnisses widerspricht es auch, ein sog. „mandatsähnliches Vertrauensverhältnis“ zwischen Arbeitnehmer und befragendem Rechtsanwalt zu konstruieren: Denn die Untersuchung dient regelmäßig insbesondere der Aufdeckung etwaigen Fehlverhaltens von Arbeitnehmern, so dass diese sich regelmäßig gerade nicht in einer „ratsuchenden“ Position befinden, sondern vielmehr – jedenfalls zu Ermittlungsbeginn – selbst Gegenstand der Untersuchungen sind.15 Insoweit besteht zwischen Unternehmen und Arbeitnehmer ein „strukturell auf Interessenkonflikt“16 angelegtes Verhältnis.17 10
Ruhmannseder, in: Schulz/Reinhart/Sahan (Hrsg.), FS-I. Roxin, S. 501, 507, m.w.N. Bittmann/Molkenburg, wistra 2009, 373, 376; Göpfert/Merten/Siegrist, NJW 2008, 1703, 1706. 12 Kirsch, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Unternehmensstrafrecht, S. 364 f. 13 Sofern Jahn/Kirsch darauf abstellen, dass Vertraulichkeitszusagen durch die befragenden Rechtsanwälte dann gemacht werden könnten, wenn zuvor mit dem „Auftraggeber dessen Verzicht auf eine spätere Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht vereinbart“ wurde (StV 2011, 151, 152), schafft auch dies keinen effektiven Vertraulichkeitsschutz: Das Unternehmen bzw. die zuständigen Organe sind an eine solche Zusage jedenfalls im Verhältnis zu den Strafverfolgungsbehörden, unabhängig von der (zivilrechtlichen) Ausgestaltung einer solchen Zusage, nicht zwingend gebunden; angesichts der Dynamik von Strafverfahren, insbesondere wenn Verantwortliche selbst ins Visier der Ermittler geraten, sind solche Zusagen nur von begrenztem Wert. 14 So auch Jahn/Kirsch, StV 2011, 151, 154. 15 Insoweit zutreffend LG Hamburg StV 2011, 148, 150. 16 So zutreffend Bauer, StraFo 2012, 488. 17 Nicht frei von jedenfalls berufsrechtlichen Risiken erscheint der Vorschlag von Gerst (CCZ 2012, 1, 4 ff.) einer Befragung durch einen vom Arbeitnehmer selbst mandatierten Anwalt aus der ermittlungsführenden Sozietät – ein solches Mandat wäre nur in engen Grenzen möglich und ließe beiden Seiten nicht die für eine Mandatsführung erforderliche Freiheit, ohne dass eine zumindest potentielle Interessenkollision vermieden werden könnte. 11
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Zu diesen drei unmittelbar Beteiligten gesellt sich bei straf- und regelmäßig auch bei ordnungswidrigkeitenrechtlich relevanten Sachverhalten die Staatsanwaltschaft, die aufgrund des Legalitätsprinzips von Amts wegen nach § 152 Abs. 2 StPO verpflichtet ist, bei einem Anfangsverdacht Ermittlungen aufzunehmen und für die Amnestieprogramme und Vertraulichkeitszusagen gegenüber den privat befragten Mitarbeitern ohne Bedeutung sind. Für die Ermittlungsbehörden wecken die Ergebnisse interner Ermittlungen naturgemäß besondere „Begehrlichkeiten“18, gerade weil diese regelmäßig jedenfalls dann ungefiltert von strafverfahrenstaktischen Erwägungen sind, wenn nicht von vornherein eine Unternehmensverteidigung im eigentlichen Sinne auf der Agenda der mandatierten Anwälte stand: Antworten, die ohne die Schweige- und Belehrungsrechte nach § 136 StPO, gar ohne den Schutz des § 136a StPO19 sowie oftmals ohne Anwalt20 und nicht zuletzt unter dem regelmäßig (wirtschaftlich und sozial) existenziellen Druck der Kooperation abgegeben werden, dürften der Traum so manchen Ermittlers sein. So konfliktträchtig das Feld der internen Ermittlungen bereits für die unmittelbar Beteiligten – jeweils für sich und untereinander – ist, so umstritten ist die Frage des Umgangs mit den (fixierten) Ermittlungsergebnissen solcher Untersuchungen: Ob und wenn ja unter welchen Voraussetzungen diese beschlagnahmefrei sind, wird in jüngerer Zeit kontrovers diskutiert wie kaum eine andere Frage des Verfahrensrechts. Hierbei sind zwei Konstellationen zu unterscheiden: Zum einen kann es interne Untersuchungen externer Beauftragter (regelmäßig Anwaltskanzleien) geben, um einen Sachverhalt nicht nur aufzuklären, sondern auch das Unternehmen als solches zu verteidigen. Zum anderen – diese Konstellation betrifft etwa die viel beachteten Entscheidungen der Landgerichte Hamburg21 und Mannheim22 – sind insbesondere solche Untersuchungen bzw. Befragungen denkbar, die (nur) der Aufklärung von Sachverhalten bzw. der Ermittlung möglicher eigener Haftungsrisiken bzw. etwaiger Haftungsansprüche gegenüber Dritten dienen.
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Jahn/Kirsch, NZWiSt 2013, 28. Die h.M. beschränkt den Anwendungsbereich auf Vernehmungen i. S. d. StPO, vgl. nur HK-StPO-Ahlbrecht, 5. Aufl., § 136a Rn. 3, 6; Löwe/Rosenberg-Gleß, 26. Aufl., § 136a Rn. 6; Meyer-Goßner, 55. Aufl., § 136a Rn. 2. 20 Überwiegend wird ein Recht des befragten Mitarbeiters auf Hinzuziehung eines Anwalts bei internen Befragungen verneint, vgl. nur Mengel, Compliance und Arbeitsrecht, 2009, S. 121. 21 LG Hamburg NJW 2011, 942. 22 LG Mannheim wistra 2012, 400. 19
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II. Zur Beschlagnahmefreiheit von Ergebnissen interner Untersuchungen im Rahmen von (Unternehmens-)Verteidigung Es ist in Rechtsprechung und Literatur uneingeschränkt anerkannt, dass – abgesehen von Fällen der Tatverstrickung23 – aus § 148 StPO ein über § 97 StPO hinausgehender Schutz von Verteidigungsunterlagen folgt24: Insbesondere gilt der Beschlagnahmeschutz im Hinblick auf alle Unterlagen, die der Verteidigung dienen25, sowie überdies unabhängig vom Gewahrsamsverhältnis.26 Im Hinblick auf Unterlagen zur Unternehmensverteidigung stellt sich insoweit zum einen die Frage, ob die anwaltliche Vertretung des Unternehmens „Verteidigung“ i. S. d. §§ 137 ff. StPO ist und daher der Anwendungsbereich des § 148 StPO eröffnet ist sowie für den Fall, dass dies zutrifft, insbesondere, ab welchem Zeitpunkt ein solches Verteidigungsverhältnis vorliegt.
1. Unternehmensverteidigung als Verteidigung i. S. d. §§ 137 ff. StPO Jedenfalls in den in Wirtschaftsstrafsachen mit Unternehmensbeteiligung regelmäßig relevanten Fällen drohender Einziehung sowie drohenden Verfalls genießt das Unternehmen denselben Schutz wie ein individuell Beschuldigter. Dies folgt für das nebenbeteiligte Unternehmen unmittelbar aus § 434 StPO bzw. § 442 StPO, die auf die für die Verteidigung geltenden Vorschriften, insbesondere auch auf § 148 StPO, verweisen. Dies gilt auch bereits im Vorverfahren für den sog. Nebenbeteiligungsinteressenten.27 Dies führt nach zutreffender Ansicht dazu, dass die Unterlagen des Unternehmensverteidigers beschlagnahmefrei sind, wobei es letztlich dahin stehen kann, ob dies unter direkter bzw. entsprechender Anwendung von § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO28 oder – so Wessing – „als Folge der Gewährleistung des § 148 StPO“29, 23 Näher hierzu (insbesondere zu den erforderlichen Restriktionen): HK-StPO-Gercke, § 97 Rn. 80. 24 Ausführlich hierzu: SK-StPO-Wohlers, 4. Aufl., § 148 Rn. 27 ff. 25 SK-StPO-Wohlers, § 148 Rn. 29 f. 26 HK-StPO-Julius, § 148 Rn. 16. 27 HK-StPO-Kurth/Pollähne, § 434 Rn. 3; KK-StPO-Schmidt, 6. Aufl., § 434 Rn. 1; Jahn, ZWH 2013, 1, 3; ders./Kirsch, NZWiSt 2013, 28, 29; Minoggio, in: Böttger (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der Praxis, 2011, Kap. 15 Rn. 50; Taschke, in: Michalke/Köberer/Pauly/ Kirsch (Hrsg.), FS Hamm, 2008, S. 751, 762; Wessing, in: Hiebl/Kassebohm/Lilie (Hrsg.), FS Mehle, 2009, S. 665, 672. 28 So Taschke, a.a.O., S. 751, 761 f.; vgl. auch Jahn/Kirsch StV 2011, 151, 153, die insoweit allerdings unzutreffend ausführen, dass die Anwendbarkeit von § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO bei einer Unternehmensverteidigung „unstreitig“ sei.
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der ein „umfassendes Verbot staatlicher Kontrolle zwischen Verteidiger und Mandant“30 nach sich zieht, hergeleitet wird. Mit Blick auf die Verweisung aus §§ 434, 442 in die maßgeblichen Vorschriften des 11. Abschnitts des 1. Buchs der StPO kann für Unternehmen als juristische Personen auch angesichts der gleich gelagerten Interessenlage insoweit nichts anderes gelten als für Individualbeschuldigte. Hierfür spricht nicht zuletzt eine Entscheidung der 3. Kammer des 2. Senats des BVerfG vom 27. 10. 2003, in der zumindest explizit von einem „gemäß § 97 StPO geschützte(n) Vertrauensverhältnis zwischen Berufsgeheimnisträger und juristischer Person“31 ausgegangen wird. Die Beschlagnahmeverbote greifen daher letztlich i. E. für Unternehmen wie im Falle einer Individualverteidigung.32 2. Begründung eines Verteidigungsverhältnisses vor förmlicher Einleitung des Ermittlungsverfahrens Im Zusammenhang von Unternehmensverteidigung und „Internal Investigations“ kommt der Frage des Zeitpunkts der Begründung des Verteidigungsmandats besondere Relevanz zu: Denn regelmäßig sind hier die Übergänge nicht nur fließend, sondern das Unternehmen kann sich – insbesondere wenn es selbst etwaige Straftaten den Ermittlungsbehörden zur Kenntnis bringt – schon logisch-notwendig in der Verteidigung befinden, bevor die Ermittler einen Anfangsverdacht hegen, geschweige denn ein förmliches Verfahren einleiten. Einigkeit besteht insoweit noch darüber, dass Verteidigung i. S. d. § 148 StPO wie auch des § 97 StPO i. V. m. § 53 Abs. 1 Nr. 2 StPO jedenfalls keine förmliche Einleitung eines Ermittlungsverfahrens voraussetzt.33 Nach weit verbreiteter und zutreffender Ansicht wird auch die Mandatsanbahnung bereits als Bestandteil der Verteidigung erfasst und folgerichtig geschützt.34 Mithin – so das LG Gießen in einer jüngeren Entscheidung – ist der Schriftverkehr zwischen Rechtsanwalt und Betroffenem bereits dann, wenn sich letzterer an jenen wendet, „um sich in einer strafrechtlichen Angelegenheit beraten und vertreten zu lassen“, genauso schützenswert wie im Falle 29 Wessing, a.a.O., S. 665, 678 ff., der dieses Ergebnis durch die europäische Rechtsprechung zum Vertraulichkeitsschutz bestätigt sieht. 30 Wessing, a.a.O., S. 679. 31 BVerfG NStZ-RR 2004, 83 32 So i. E. auch: Jahn/Kirsch, StV 2011, 151, 153; dies., NStZ 2012, 718, 720; Minoggio (Fn. 27), Kap. 15 Rn. 50; Taschke, a.a.O., S. 751, 761 f.; Wessing, a.a.O., S. 665, 678 ff.; ders., in: AG Strafrecht, FS 25 Jahre AG Strafrecht des Deutschen Anwaltsvereins, 2009, S. 907, 928; ders., ZWH 2012, 6, 9 f. 33 Vgl. bereits ausdrücklich BGHSt 29, 105; Taschke, StV 1990, 437; HK-StPO-Julius, § 148 Rn. 8; Mehle/Mehle, NJW 2011, 1639. 34 OLG Düsseldorf StV 1984, 106; OLG München NStZ 2006, 300, 301; Fezer, StV 1993, 255; Hassemer, StV 1985, 405 ff.; König, StV 2011, 704, 706; HK-StPO-Gercke, § 97 Rn. 46; HK-StPO-Julius, § 148 Rn. 7; Löwe/Rosenberg-Jahn/Lüderssen, 26. Aufl., § 148 Rn. 7 f., m.w.N.; a.A. KG StV 1985, 405; LG Bonn NZWiSt 2013, 21, 25 m. abl. Anm. Jahn/Kirsch; Meyer-Goßner, 55. Aufl., § 148 Rn. 4 m.w.N.
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eines bereits förmlich gegen den Betroffenen eingeleiteten Ermittlungsverfahrens.35 Entscheidend ist mithin der Zeitpunkt, ab dem eine strafrechtliche Relevanz nicht nur ersichtlich, sondern strafrechtliche Beratung durch einen Rechtsanwalt erfolgt, der bereits durch diese Inanspruchnahme zum Unternehmensverteidiger wird. Mithin kommt es – wie der BGH in seiner Entscheidung vom 3. 10. 1979 explizit angeführt hat – darauf an, ob der Rechtsanwalt selbst seine Tätigkeit „materiell als Strafverteidigung“ ansieht36 und (natürlich!) zur Vermeidung von Missbräuchen ansehen darf. Letzterem kann nur durch eine Analyse des Einzelfalls begegnet werden, aber nicht durch ein anlassloses, generelles Misstrauen gegenüber einem Organ der Rechtspflege. Für das europäische Verfahrensrecht in Kartellsachen ist im Übrigen ein solches Verständnis im Sinne eines generellen „legal privilege“ längst anerkannt.37 3. Zwischenfazit Jedenfalls dann, wenn der mit internen Untersuchungen befasste Rechtsanwalt auch als Unternehmensverteidiger mandatiert ist, genießen seine aus diesem Mandatsverhältnis resultierenden Unterlagen umfassenden Beschlagnahmeschutz. Insoweit gilt parallel zum Individualbeschuldigten mit Blick auf das aus Art. 6 Abs. 3 lit. b) EMRK i. V. m. Art. 2 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG herzuleitende Recht auf effektive Verteidigung auch kein Gewahrsamserfordernis beim Unternehmensverteidiger.38
III. Zur Beschlagnahmefreiheit außerhalb von Verteidigungsmandaten Eine Vielzahl unternehmensinterner Untersuchungen findet allerdings außerhalb von Mandatsverhältnissen zur (Unternehmens-)Verteidigung im o. g. Sinne statt; hier stellt sich die Frage, ob und inwieweit die hieraus resultierenden Unterlagen einem Beschlagnahmeschutz unterliegen. 1. Das Verhältnis von § 97 StPO und § 160a StPO Das LG Hamburg und Teile der Literatur gehen davon aus, dass die Ergebnisse unternehmensinterner Untersuchungen in diesem Falle keinem Beschlagnahmeverbot unterliegen und begründen dies damit, dass der Schutz von § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO sich entsprechend einer lang gewachsenen Ansicht in Rechtsprechung und 35
LG Gießen wistra 2012, 409, 410. BGHSt 29, 99, 105. 37 EuGH, Urt. v. 18. 5. 1982 – C-155/97 („AM&S“); vgl. hierzu auch Kapp/Roth, ZRP 2003, 404 sowie Mehle/Mehle, NJW 2011, 1639, 1642 f. 38 Vgl. BVerfG NStZ 2002, 377; BGHSt 44, 46; BGH NJW 1973, 2035; HK-StPO-Gercke, § 97 Rn. 40 m.w.N. (jeweils für den Individualbeschuldigten). 36
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Schrifttum nur auf das Vertrauensverhältnis des Berufsgeheimnisträgers zum Beschuldigten beziehe, woran sich durch § 160a StPO mit Blick auf dessen Absatz 5 nichts geändert habe.39 Vielfach wird hingegen vertreten, dass seit der Erweiterung des Anwendungsbereichs von § 160a Abs. 1 StPO auf alle Rechtsanwälte40 durch das Gesetz zur Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwälten im Strafprozessrecht vom 22. 12. 201041 im Rahmen von internen Untersuchungen durch Anwälte erstellte Unterlagen einem Beschlagnahmeverbot unterliegen.42 Dem offenkundig entgegenstehenden Wortlaut des § 160a Abs. 5 StPO, wonach die §§ 97, 100c Abs. 6 StPO „unberührt“ bleiben, wird damit begegnet, dass § 160a StPO eine lex generalis darstelle, die dann greife, wenn spezielle Beweiserhebungsverbote tatbestandlich nicht oder nur teilweise gegeben seien. Der Gesetzgeber habe diese Norm ausdrücklich geschaffen, um über die speziellen Privilegien hinaus die Anwaltschaft ganz allgemein vor Ermittlungsmaßnahmen (mit Ausnahme der eigenen Verstrickung) zu schützen. Demnach könne § 97 StPO diese Generalklausel nur ergänzen, nicht ersetzen.43 Ein Beschlagnahmeverbot erwachse daher unmittelbar aus § 160a StPO, wenn eine Ermittlungsmaßnahme nicht dem Schutz von § 97 StPO unterfalle.44 Zutreffend an dieser Auffassung ist, dass es mit Blick auf den vom Gesetzgeber intendierten Willen einer Stärkung des Vertrauensschutzes zwischen Anwalt und Mandant nicht einleuchtend erscheint, dies auf Erkenntnisse aller45 strafprozessualer Maßnahmen zu beziehen und hiervon lediglich den besonders relevanten Bereich der Beschlagnahme auszunehmen.46 Auch ist es grundsätzlich zutreffend, dass § 160a StPO ergänzend anzuwenden ist, wenn die spezielleren Vorschriften keine ausdrücklichere Regelung treffen.47 Im Entwurf des Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 39 LG Hamburg NJW 2011, 942; zustimmend etwa Bauer, StV 2012, 277; ders., StraFo 2012, 488; Wimmer, in: Schulz/Reinhart/Sahan (Hrsg.), FS I. Roxin, S. 537, 543. 40 Erfasst werden darüber hinaus auch eine nach § 206 der Bundesrechtsanwaltsordnung in eine Rechtsanwaltskammer aufgenommene Person sowie der Kammerrechtsbeistand. 41 BGBl. I, S. 2261. 42 So etwa Ballo, NZWiSt 2013, 46; Gräfin von Galen, NJW 2011, 945; Knauer, ZWH 2012, 81; Mark, ZWH 2012, 311; Schuster, NZWiSt 2012, 28. 43 Knauer, ZWH 2012, 81, 88; Mark, ZHW 2012, 81, 88; so auch Bock/Gerhold, in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis, Internal Investigations, 2013, S. 177 Rn. 68. 44 Bock/Gerhold, a.a.O. 45 Vgl. BT-Drs. 16/5846, S. 25 (noch zu § 53b StPO-E); BVerfG NJW 2012, 841; HKStPO-Zöller, § 160a Rn. 2, m.w.N. 46 Vgl. Jahn/Kirsch, NStZ 2012, 718, 719. 47 BT-Drs. 16/5846, S. 38; KK-StPO-Griesbaum, § 160a Rn. 21; HK-StPO-Zöller, § 160a Rn. 20; vgl. aber SK-StPO-Wolter, § 160a Rn. 48.
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2006/24/EG vom 21. 12. 200748 hat der Gesetzgeber allerdings klargestellt, dass § 160a StPO (im Entwurf noch als § 53b StPO-E) nur dann eingreife, wenn die speziellere Vorschrift des § 97 StPO keine eigenständige Regelung treffe und führt hierfür „etwa § 97 StPO hinsichtlich der (Nicht) Verwertbarkeit von beschlagnahmefreien Gegenständen“ an.49 Im Hinblick auf schriftliche Unterlagen, die von Rechtsanwälten erstellt sind, trifft § 97 StPO aber eben eine solche Regelung.50 Schließlich spricht gegen eine unmittelbare Anwendung von § 160a StPO, dass mit dieser nach dem Willen des Gesetzgebers „unter uneingeschränkter Beibehaltung […] der Sonderregelungen in § 97 StPO (Beschlagnahmeverbot) und § 100c Abs. 6 StPO (Verbot der akustischen Wohnraumüberwachung) erstmals eine Regelung geschaffen [wurde], wonach auch alle anderen Ermittlungsmaßnahmen Einschränkungen unterworfen“ werden.51 2. Die Reichweite des § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO anhand der klassischen Methoden zur Gesetzesinterpretation Scheidet eine unmittelbare Anwendung des § 160a StPO aus, heißt dies allerdings nicht, dass die mit der durch das Gesetz zur Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwälten im Strafprozessrecht explizit bezweckte Stärkung des Vertrauensschutzes zwischen nicht verteidigenden Rechtsanwälten und ihren Mandanten52 ohne Wirkung bleibt: Diese Intention des Gesetzgebers entfaltet naturgemäß im Rahmen der allgemeinen Auslegungsmethoden Wirkung. Genau diese Auslegung anhand der klassischen Interpretationsmethoden im Hinblick auf § 97 StPO selbst ist – so Jahn/Kirsch zutreffend – der „Dreh- und Angelpunkt“ der Klärung der Frage einer Beschlagnahmefreiheit von Ergebnissen sog. „Internal Investigations“53 : Legt man dem in Betracht kommenden § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO nämlich ein Verständnis zugrunde, wonach dessen sachlicher Schutz das persönliche Vertrauensverhältnis aller in § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis 3 b StPO genannten Berufsgeheimnisträger, mithin insbesondere auch Rechtsanwälte und Zeugen erfasst, bedarf es eines solchen unmittelbaren – grammatikalisch wie systematisch nur schwer begründbaren – Rückgriffs auf § 160a StPO nicht. Während § 97 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StPO Beschlagnahmeverbote bezüglich schriftlicher Mitteilung und Aufzeichnungen ausweislich des eindeutigen Wortlauts im Verhältnis eines Beschuldigten zu einem der dort explizit angeführten Berufsgeheimnisträger konstituiert, ist bezüglich des Auffangtatbestands § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO umstritten, ob sich dieser sachliche Schutz nur auf das Vertrauensverhältnis 48
BGBl. I, S. 3198. BT-Drs. 16/5846, S. 38. 50 Insoweit zutreffend LG Mannheim wistra 2012, 400, 408. 51 BT-Drs. 17/2637, S. 6. 52 BT-Drs. 17/2637, S. 6. 53 Jahn/Kirsch, StV 2011, 151, 153; insoweit zustimmend auch Bauer, StV 2012, 277. 49
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zum „Beschuldigten“ bezieht54 oder ob auch das persönliche Vertrauensverhältnis zwischen dem Berufsgeheimnisträger und einem nicht beschuldigten Dritten erfasst ist.55 Nach der erstgenannte Ansicht soll also eine Beschlagnahme von Unterlagen, die sich im Gewahrsam eines Rechtsanwalts befinden, möglich sein, wenn der Mandant – im Falle interner Untersuchungen: das Unternehmen – in dem Verfahren, in dessen Rahmen die Beschlagnahme stattfindet, nicht „Beschuldigter“ ist. Die Staatsanwaltschaft, die etwa ein Strafverfahren gegen einen Angehörigen eines Unternehmens eingeleitet hat, dürfte mithin die Unterlagen bei dem Rechtsanwalt, der dieses Unternehmen vertritt, beschlagnahmen. Der BGH hat die Frage, ob § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO auch auf Nichtbeschuldigte anwendbar ist, in zwei Entscheidungen bislang ausdrücklich offengelassen.56 Das BVerfG hat insoweit lediglich – vor Implementierung des § 160a StPO und insbesondere vor dessen Neuregelung durch das Gesetz zur Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwälten im Strafprozessrecht – festgestellt, dass ein solches Verständnis der Norm im Sinne der herrschenden Ansicht nicht verfassungswidrig (gewesen) sei.57 a) Grammatikalische Interpretation Bereits der Wortlaut, von dem jede Auslegung auszugehen hat58, spricht dafür, dass von § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO auch der Beschlagnahmeschutz sonstiger Vertrauensverhältnisse erfasst ist: Denn das Gesetz erwähnt in Abs. 1 Nr. 3 den Beschuldigten im Gegensatz zu Nr. 1 und 2 nicht.59 Diesem Argument kann sich auch die Gegenansicht nicht verschließen, misst ihm aber nur untergeordnete Bedeutung bei.60
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So die h.M.: OLG Celle NJW 1965, 362 f.; LG Hildesheim NStZ 1982, 394, 395; LG Koblenz MDR 1983, 779; LG Bielefeld StV 2000, 12; LG Hamburg StV 2011, 148 ff. m. zust. Anm. Bauer StV 2012, 277; LG Bonn NZWiSt 2013, 21, 24; Goeckenjan, in: Joecks/Ostendorf/Rönnau u. a. (Hrsg.), FS Samson, 2010, S. 641, 654; Meyer-Goßner, § 97 Rn. 10; Schäfer, in: Roxin/Wahle/Rieß/Ebert (Hrsg.), FS-Hanack, 1999, S. 77, 93; Chr. Schröder/Gocke, wistra 2010, 466, 468; Wimmer, in: Schulz/Reinhart/Sahan (Hrsg.), FS I. Roxin, S. 537, 543. 55 Vgl. LG Mannheim wistra 2012, 400, 403 m. zust. Anm. Jahn/Kirsch, NStZ 2012, 718; AK-StPO-Amelung, 2. Aufl., § 97 Rn. 15; ders., DNotZ 1984, 195, 207; Beulke, in: Prittwitz/ Baurmann/Günther/u. a. (Hrsg.) FS Lüderssen, 2002, S. 693, 706; ders., Strafprozessrecht, 12. Aufl., 2012, Rn. 248; Jahn, ZIS 2011, 453 ff.; ders./Kirsch, StV 2011, 151 ff.; Krekeler, NStZ 1987, 199, 201. 56 BGH NStZ 1997, 562; BGHSt 43, 300, 304. 57 BVerfG NStZ-RR 2004, 83. 58 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, 1991, S. 320. 59 LG Mannheim wistra 2012, 400, 408; HK-StPO-Gercke, § 97 Rn. 31; Krekeler, NStZ 1987, 201; Park, Handbuch Durchsuchung und Beschlagnahme, 2. Aufl., 2009, Rn. 549. 60 OLG Celle NJW 1965, 362, 363.
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b) Historische Interpretation Auch die Gesetzgebungsgeschichte scheint dieses Auslegungsergebnis zunächst zu bestätigen: Mit der Gesetzesänderung durch das 3. StrÄG vom 4. 8. 195361 sollten die Zeugnisverweigerungsrechte der in § 97 StPO angeführten Berufsgeheimnisträger nicht durch die Beschlagnahmevorschriften umgangen werden.62 Die gleiche Interessenlage verbietet hier also eine unterschiedliche Behandlung von Gehörtem (§ 53 StPO) und gegenständlich Erhaltenem (§ 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO)63, sonst – so der BGH in seiner Entscheidung vom 3. 12. 1991 – „läge das Bestreben nahe, deren Wissen – das von ihnen als Zeugen nicht zu erlangen ist – aus ihren Unterlagen zu erforschen“.64 Gegen diese historische Auslegung kann allerdings durchaus eingewandt werden, dass bis zur Reform des Gesetzes allein das Verhältnis zwischen dem Beschuldigten und dem Berufsgeheimnisträger dem Beschlagnahmeschutz unterlag; dass der Gesetzgeber zu einer Abkehr hiervon in der Gesetzesbegründung keine Stellung bezogen hat und sich überdies in dieser große Zurückhaltung auferlegt hatte und explizit auf „eigentliche“ Reformen verzichten wollte65, spricht insoweit durchaus dafür, dass ein schlichtes Redaktionsversehen nicht völlig fernliegend ist.66 Hierfür könnte auch sprechen, dass das Schrifttum in seinen ersten Reaktionen auf die Neufassung von § 97 StPO – freilich ohne nähere Befassung, geschweige denn Begründung – (stillschweigend) davon ausging, dass die Beschlagnahmeverbote des § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO nur im Verhältnis zum Beschuldigten gelten.67 Letztlich hilft die historische Interpretation, der ohnehin nur begrenzter Aussagewert zukommt68, nicht weiter. c) Teleologische Interpretation Während die (gesetzes-)systematische Interpretation im eigentlichen Sinne unergiebig bleibt, kommt der teleologischen Interpretation – wie so oft69 – letztlich die maßgebliche Rolle bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs der Norm zu: Wie von Jahn überzeugend herausgearbeitet, wurde das Beschlagnahmeverbot in 61
BGBl. I., S. 735. BT-Drs. 1/3713, S. 49; vgl. hierzu Jahn, ZIS 2011, 453, 356; ders./Kirsch, StV 2011, 151, 153. 63 Vgl. HK-StPO-Gercke, § 97 Rn. 31. 64 BGHSt 38, 144, 145. 65 BT-Drs. 1/3713, Anl. 1, S. 19; Jahn stellt in diesem Zusammenhang pointiert die Frage, „was man unter ,uneigentlichen‘ Reform zu verstehen“ habe (ZIS 2011, 453, 455). 66 So i. E. wohl Bauer, StV 2012, 277, 278, der dies allerdings mit Blick auf die von ihm postulierte „Überflüssigkeit“ von § 97 Abs. 1 Nr. 1 StPO bei extensiver Auslegung von § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO mit teleologischen Erwägungen vermengt; aA Jahn, ZIS 2011, 453, 455, der insoweit von einem „Mythos vom Redaktionsversehen“ spricht. 67 Dallinger, JZ 1953, 432, 437. 68 Vgl. BVerfGE 1, 299, 312; 8, 274, 307; 11, 126, 130; 59, 128, 153. 69 Vgl. hierzu Gercke, Bewegungsprofile anhand von Mobilfunkdaten im Strafverfahren, 2002, S. 106 m.w.N. 62
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§ 97 Abs. 1 StPO „als akzessorischer Umgehungsschutz für das Zeugnisverweigerungsrecht nach den §§ 52 bis 53a StPO konstruiert“70. § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO schützt jedoch ohne Differenzierung Informationen, die von Beschuldigten und Nichtbeschuldigten stammen. Dies spricht – angesichts der gleichen Interessenlage71 – für eine mit § 53 Abs. 1 StPO harmonisierte Auslegung des § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO.72 In diese Richtung geht etwa eine Entscheidung des OLG Köln vom 7. 5. 1991, die im Hinblick auf die Feststellung einer Beschlagnahmefreiheit der Unterlagen im Gewahrsam eines Wirtschaftsprüfers explizit auf dessen Zeugnisverweigerungsrecht aus § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO abstellt.73 Auch der Vergleich zu § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB, der den Rechtsanwalt unabhängig von dem (Nicht-)Beschuldigtenstatus des Mandanten strafbewehrt zur Geheimniswahrung verpflichtet, spricht im Sinne einer „Konkordanz zwischen dem materiellen Recht und dem Prozessrecht“74 für dieses Ergebnis.75 Schließlich kommt in diesem Zusammenhang, mithin im Rahmen der teleologischen Interpretation, selbstredend auch dem Rechtsgedanken des § 160a StPO – entscheidende – Bedeutung zu: Dass der Gesetzgeber mit dessen Neufassung eine Gleichstellung aller Rechtsanwälte76 intendierte, steht außer Zweifel. Es ging – so die Bundesministerin der Justiz – gerade um die Aufhebung der „künstliche[n] Aufspaltung zwischen Strafverteidigern und anderen Anwälten“, deren Abgrenzung „sich in der Realität sowieso nicht punktgenau treffen“ lasse.77 Hierdurch wollten die Parlamentarier als legitimierter Gesetzgeber nicht weniger als „den absoluten Schutz“ im Anwaltsmandat einführen78, wobei jedenfalls für Teile des Parlaments, ungeachtet des skizzierten Meinungsstreits zur Reichweite von § 97 Abs. 1 StPO, bereits vor Verabschiedung der Neufassung von § 160a StPO feststand, dass die Strafjustiz „all das, was sie nicht erfragen kann, auch nicht beschlagahmen“ darf.79 Da sich die Gleichstellung mit Verteidigern aber letztlich auf alle Ermittlungsmaßnahmen beziehen sollte80 und für alle Maßnahmen außer der Beschlagnahme, die am bedeutsamsten für die Praxis ist, unstreitig durch § 160a StPO garantiert ist, würde hier ein mit der Gesetzesbegründung unvereinbarer Wertungswiderspruch 70
Jahn/Kirsch, StV 2011, 151, 153; so auch HK-StPO-Gercke, § 97 Rn. 31. Vgl. HK-StPO-Gercke, § 97 Rn. 31. 72 Jahn ZIS 2011, 453, 456 unter Berufung auf Amelung, DNotZ 1984, 195, 198 ff., 206 f. 73 OLG Köln NStZ 1991, 452. 74 Jahn, ZIS 2011, 453, 456. 75 Vgl. bereits Gülzow, NJW 1981, 265, 266; Krekeler, NStZ 1987, 199, 201. 76 Müller-Jacobsen spricht insoweit plakativ von der Abschaffung des „Zwei-KlassenRechts“ unter Anwälten (NJW 2011, 257, 259). 77 Plenarprotokoll 17/71 (v. 11. 11. 2010), S. 7706, 7707. 78 Vgl. die Rede von MdB Sensburg, Plenarprotokoll 17/71 (v. 11. 11. 2010), S. 7707. 79 So MdB Montag Plenarprotokoll 17/71 (v. 11. 11. 2010), S. 7710. 80 Vgl. BT-Drs. 17/2637, S. 6. (hierzu s. o.). 71
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bestehen. Diesen nicht im Sinne einer – mit dem Wortlaut konformen – extensiven Auslegung des § 97 Abs. 1 S. 3 StPO im o.g. Sinne aufzulösen, führte – so Gräfin von Galen pointiert – dazu, dass „das Telefonat [scil. von Mandant und Rechtsanwalt] nicht aufgezeichnet werden [dürfte] – die Notizen des Anwalts über das Telefonat […] aber beschlagnahmt werden“81 dürften. Nicht die unmittelbare Anwendung von § 160a StPO, sondern die Auslegung von § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO im Lichte von § 160a StPO führt damit letztlich dazu, dass jedenfalls spätestens mit dessen Neufassung Unterlagen auch im Mandatsverhältnis zum Nichtbeschuldigten unter Beschlagnahmeschutz stehen. Unterstützt wird dies durch die von Jahn/Kirsch82 herausgearbeitete und von Jahn83 in einem späterem Beitrag vertiefte verfassungskonforme Auslegung von § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO, die sich im Wesentlichen auf die Bedeutung der Berufsausübungsfreiheit des Rechtsanwalts aus Art. 12 Abs. 1 GG sowie den Schutz der Freiheit der Advokatur84, aber auch auf das vom BVerfG im Volkszählungsurteil85 entwickelte Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und die hiermit einhergehenden Anforderungen an die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Eingriffsmaßnahmen stützt. Bedürfen also – so der Jubilar in seiner eindrucksvollen Kommentierung zu § 160a StPO – die §§ 97, 160a StPO einer „Synchronisation durch verfassungskonforme Auslegung“86, so führt auch dies letztlich zu einem grundrechtsfreundlichen und damit umfassenden Beschlagnahmeschutz anwaltlicher Unterlagen auch im Hinblick auf Nichtbeschuldigte, mithin insbesondere bei unternehmensinternen Untersuchungen. 3. Fazit Auch außerhalb von (Unternehmens-)Verteidigungsmandaten unterliegt das Ergebnis anwaltlich durchgeführter interner Ermittlungen einem inhaltlich weitreichenden Beschlagnahmeschutz, der allerdings – anders als bei Verteidigungsmandaten – Gewahrsam beim Berufsgeheimnisträger nach § 97 Abs. 2 S. 1 StPO erfordert.87 Insoweit ist die Abgrenzung zwischen Untersuchung zur bloßen Sachverhalts81
Gräfin von Galen, NJW 2011, 945. Jahn/Kirsch, StV 2011, 151, 154. 83 Jahn, ZIS 2011, 453, 457 ff. 84 Sofern Bauer, StV 2012, 277, 278 bezüglich des Rückgriffs auf die freie Advokatur geltend macht, insoweit werde verkannt, dass der anwaltliche Untersuchungsführer kein Mandatsverhältnis zu dem befragten Mitarbeiter des Unternehmens habe, so verkennt dies seinerseits, dass es hierauf (gerade) nicht ankommt: Das Mandatsverhältnis im Verhältnis zum Unternehmen ist insoweit ausreichend, da der Untersuchungsbericht bzw. die entsprechenden Ausführungen gerade „Produkt“ des Mandats sind, mithin die Befragung bzw. Untersuchung ja gerade im Rahmen des anwaltlichen Mandats zum Unternehmen vorgenommen wurde. 85 BVerfGE 65, 1. 86 SK-StPO-Wolter, § 160a Rn. 40. 87 So auch LG Mannheim wistra 2012, 400, 408. 82
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aufklärung einerseits und im Rahmen einer (Unternehmens-)Verteidigung andererseits ungeachtet der hier dargelegten, extensiven Auslegung des § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO von weitreichender Bedeutung. In der Praxis ist daher schon zum frühestmöglichem Zeitpunkt die Klärung des Mandatsinhalts maßgeblich: Ist eine Unternehmensverteidigung jedenfalls auch Gegenstand der Untersuchungen, sollte dies entsprechend für Dritte nachvollziehbar sein sowie entsprechend gekennzeichnet werden.88
88 Näher hierzu: Minoggio (Fn. 27), Kap. 15 Rn. 55 ff.; vgl. auch Beukelmann, NJW Spezial 2012, 504; Jahn/Kirsch, NStZ 2012, 718, 720. Freilich schützt die bloße Kennzeichnung als Verteidigungsunterlage nicht vor Beschlagnahme (vgl. BVerfG NStZ 2002, 377); in Zweifelsfällen, mithin bei begründetem Verdacht einer bloßen äußerlichen Kennzeichnung an sich beschlagnahmefähiger Unterlagen als solche der Verteidigung, sind diese analog § 110 Abs. 2 S. 2 StPO zu versiegeln und dem zuständigen Gericht zur Entscheidung vorzulegen, vgl. HK-StPO-Gercke, § 97 Rn. 47 m.w.N.
Prozessuale Gesamtbetrachtungs- und Kausalüberlegungen als Erosionserscheinungen in einem justizförmigen Strafverfahren Von Christian Jäger Der Jubilar, dem dieser Beitrag mit den herzlichsten Glückwünschen zu seinem 70. Geburtstag gewidmet ist, hat stets die Bedeutung der Justizförmigkeit des Strafverfahrens als Inbegriff der erprobten Formen betont.1 Er hat dies in dem sicheren Bewusstsein getan, dass die Erarbeitung eines auf Wahrheit und Gerechtigkeit beruhenden richterlichen Urteils nur möglich ist, wenn die Regeln des Prozesses nicht in das Belieben der Verfahrensbeteiligten gestellt werden. Die Justizgewährungspflicht des Staates und seiner Rechtspflegeorgane war damit ein immer wiederkehrendes Zentralthema, dem sich der Jubilar stets aufs Neue widmete. Der vorliegende Beitrag soll gerade deshalb auf die Gefahren aufmerksam machen, denen die Justizförmigkeit des Verfahrens durch unbestimmte prozessuale Gesamtbetrachtungs- und Kausalerwägungen ausgesetzt ist.
I. Gesamtbetrachtungsüberlegungen in der Rechtsprechung des EGMR Der EGMR hatte sich in der Vergangenheit vielfach mit Fragen der heimlichen Beweisgewinnung zu beschäftigen. Im Hinblick auf die Verwertungsverbotsfrage hat der EGMR dabei stets den Grundsatz der Gesamtbetrachtung betont2 und danach entschieden, ob das Verfahren als Ganzes einschließlich der Art und Weise der Beweiserlangung fair war.3 Vor allem zwei Entscheidungen haben hier aufgrund ihrer scheinbaren Widersprüchlichkeit die verfahrensrechtliche Diskussion befeuert:4
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Beredtes Zeugnis hierfür ist Jürgen Wolters anlässlich des 75. Geburtstages von Imme Roxin veröffentlichter Beitrag zur staatlich gesteuerten Selbstbelastungsprovokation mit Umgehung des Schweigerechts in ZIS 2012, 238 ff. 2 Ausführlich dazu Esser, in: Marauhn (Hrsg.), Bausteine eines europäischen Beweisrechts, 2007, S. 39, 42; Jäger, GA 2008, 480 ff.; Krausbeck, Konfrontative Zeugenbefragung, 2010, S. 49 ff. 3 Vgl. dazu bereits Ambos, ZStW 115 (2003), 589 ff.; Jung, GA 2003, 193. Kritisch zu den dadurch ausgelösten Aufweichungstendenzen bereits F.-C. Schroeder, GA 2003, 297. 4 Ausführlich dazu auch LR-Esser, StPO, 26. Aufl. 2012, Art. 6 EMRK, Rn. 928 ff.
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1. Die Entscheidung Allan vs. UK Der EGMR war bereits in der Entscheidung Allan vs. U.K.5 mit einer auf staatliche Veranlassung hin vorgenommenen Aushorchung eines Beschuldigten befasst.6 Der Sachverhalt lag so, dass die staatlicherseits in Auftrag gegebene Aushorchung eines in Untersuchungshaft befindlichen Beschuldigten durch einen Mithäftling stattfand. Die Entscheidung Allan vs. U.K. hatte dabei insofern wegweisenden Charakter, als dort erstmals über die Frage zu befinden war, inwieweit eine Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit anzunehmen ist, wenn sich die Strafverfolgungsbehörden bei ihren Ermittlungen der Täuschung bedienen bzw. unter Anwendung von Tricks vorgehen. Richtungsgebend war dies deshalb, weil der EGMR eine mögliche Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit zuvor lediglich im Hinblick auf solche Sachverhalte zu beurteilen hatte, in denen nur Druck in Form von angedrohten Geldbußen oder sonstigen Strafen für Zuwiderhandlungen bei der Aufklärung ausgeübt worden war.7 Dabei schien die Entscheidung Allan nach ihrem ersten Eindruck darauf hinzudeuten, dass der Beschuldigte als Ausfluss der ihm gebührenden Selbstbelastungsfreiheit vor allen täuschungsbedingten Äußerungen geschützt sei. Dies gilt umso mehr, als der EGMR eindeutige Vorgaben formulierte, die über den einzelnen Fall hinaus als abstrakt gültige Richtlinien aufgefasst werden konnten. Als maßgebliche Kriterien hat der EGMR jedenfalls die Beziehung zwischen Informant und Staat einerseits sowie Informant und Beschuldigtem andererseits angesehen und für ausschlaggebend erklärt, ob der Informant als „Agent des Staates“ in Erscheinung tritt. Entscheidend hierfür, so der EGMR, sei die hypothetische Kausalfrage, ob der Informant ebenso gehandelt hätte, wenn der Staat nicht gestaltend in dieses soeben angedeutete Beziehungsgeflecht eingegriffen hätte. Besonders bedeutsam sei vor allem das Verhältnis zwischen Informant und Beschuldigtem sowie die damit zusammenhängende Frage, ob es zu einer aktiven Entlockung von Beweisen gekommen sei, die dafür spreche, dass ein „functional equivalent of an interrogation“ vorlag.8 Von diesen eher abstrakten Kriterien abgesehen, stellte der EGMR im Fall Allan allerdings ebenfalls auf die Besonderheiten der konkreten Haftsituation sowie auf die Tatsache des bereits zuvor ausgeübten Schweigerechts ab9 und leitete daraus die Unfreiwilligkeit der Preisgabe von Informationen durch den Beschuldigten her.
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EGMR StV 2003, 257 m. Anm. Gaede. Vgl. zu dieser Entscheidung vor allem Engländer, ZIS 2008, 163 ff.; Esser, JR 2004, 98 ff.; Gaede, StV 2003, 260 ff. 7 Vgl. dazu ausführlich Warnking, Strafprozessuale Beweisverbote in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und ihre Auswirkung auf das deutsche Recht, 2009, S. 91 ff. 8 Hierzu auch LR-Esser (Fn. 4), Art. 6 EMRK, Rn. 930. 9 Vgl. EGMR, Allan vs. U.K., StV 2003, 257. 6
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2. Die Entscheidung Bykov vs. Russia Weitere Klärung brachte wenige Jahre später die Entscheidung Bykov vs. Russia,10 die sich mit der heimlichen Tonbandaufnahme eines Tatgeständnisses durch einen staatlich eingesetzten Informanten befasst. Schon die Tatsache, dass die Entscheidung von der Großen Kammer des EGMR gefällt wurde, unterstreicht ihre Bedeutung und hebt hervor, dass es sich um eine rechtliche Problematik von wesentlicher Bedeutung handelt, deren Schwierigkeit sich nicht zuletzt in den zahlreichen Sondervoten widerspiegelt. Auch wenn man in der Entscheidung Allan die Bedeutung des Zwangskriteriums für zukünftige Fälle noch nicht klar erkennen konnte, machte der EGMR in der Entscheidung Bykov deutlich, dass er Täuschungshandlungen nicht ohne Weiteres als Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit bewerten will, auch wenn in der Entscheidung Allan die individuelle Entscheidungsfreiheit als Kernelement der Selbstbelastungsfreiheit betrachtet wurde.11 Der Ausgangspunkt der Entscheidung Allan wird in der Entscheidung Bykov vielmehr insoweit fortentwickelt, als zusätzlich zur Beschränkung der Entscheidungsfreiheit ein Zwangsmoment verlangt wird, aufgrund dessen die täuschungsbedingten Aussagen des Beschuldigten als unfrei zu qualifizieren sind. Hieran fehle es aber gerade im Fall Bykov, da die Unterhaltung zwischen Informant und Beschuldigtem auf dessen Grundstück und damit in gewohnter Umgebung stattfand und darüber hinaus zwischen Beschuldigtem und Informant sogar ein Verhältnis der Über- und Unterordnung bestand, da der staatliche Spitzel in einem Anstellungsverhältnis stand. 3. Zur Gleichsetzung von Selbstbelastungs- und Zwangsfreiheit In materiell-rechtlicher Hinsicht war die Bejahung eines Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 3 EMRK sowie gegen Art. 8 EMRK im Fall Bykov wegen des massiv manipulativen Vorgehens der Strafverfolgungsbehörden vorhersehbar12 und bedarf hier daher vor allem aus Raumgründen keiner näheren Erörterung. Von besonderem Interesse sind dagegen die Ausführungen der Großen Kammer im Hinblick auf eine mögliche Verletzung der im Fairnessgrundsatz des Art. 6 EMRK wurzelnden Selbstbelastungsfreiheit. Hier erinnert die Entscheidung Bykov an die Argumentation des BGH in einem Urteil aus dem Jahre 1987.13 Dort hatte die Polizei auf die Untersuchungshaftzelle eines wegen eines tödlichen Raubüberfalles verdächtigten Häftlings einen Spitzel 10
Vgl. EGMR NJW 2010, 213 m. Anm. Gaede, JR 2009, 493 ff.; Jung, GA 2009, 651 ff. Dazu auch Blozik, Subsidiaritätsklauseln im Strafverfahren, 2012, S. 100. 11 Vgl. EGMR, Allan vs. U.K., Rep. 2002-IX., § 50: „To protect the freedom of a suspected person to choose whether to speak or to remain silent when questioned by the police“. 12 Dazu treffend Jung, GA 2009, 652. 13 BGHSt 34, 362.
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verlegt. Dieser hatte sich zur Bespitzelung bereit erklärt, weil er sich für sein eigenes Strafverfahren Vorteile versprach und es im Übrigen nicht gut fand, wenn Menschen des Geldes wegen umgebracht werden. Ein Polizeibeamter gab dem Spitzel ein paar taktische Anweisungen und schärfte ihm ein, vorsichtig vorzugehen und ihn anzurufen, wenn er etwas Wesentliches herausgefunden habe. Der Spitzel konnte sich in der Folge unter anderem dadurch, dass er auf Fluchtpläne einging, einen weiteren Raubüberfall vorschlug und anbot, anstelle des Angeklagten die Mitwirkung an dem Überfall bei dem Opfer auf sich zu nehmen, in dessen Vertrauen einschleichen. Der Angeklagte erzählte dem Spitzel daraufhin Einzelheiten über das Tatgeschehen. Die von dem Spitzel erlangten Kenntnisse wurden dann an den Polizeibeamten weitergegeben und im Wege der Vernehmung in die Hauptverhandlung eingeführt. Was das Verwertungsverbot hinsichtlich dieser unmittelbaren Aussage des Mitgefangenen anbelangte, so entschied der BGH, dass die Strafverfolgungsorgane die Freiheit der Willensentschließung des Angeklagten durch unzulässigen Zwang beeinträchtigt hätten. Zwar würden die Vorschriften der §§ 136a, 163a IV S. 2 StPO direkt nur für die Vernehmung gelten. Jedoch seien sie entsprechend auch auf den Fall anzuwenden, dass Strafverfolgungsbehörden mit verbotenen Mitteln auf den Beschuldigten einwirken, damit er gegenüber einer Privatperson, die dann als Zeuge vernommen werden soll, bestimmte Angaben zu einer – im Zeitpunkt der Äußerung bereits abgeschlossenen – Tat macht. Die Untersuchungshaft, in der sich der Angeklagte befunden habe, diene auch im Falle des § 112 III StPO dem Zweck, die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens zu gewährleisten und die spätere Strafvollstreckung sicherzustellen. Sie dürfe nicht dazu missbraucht werden, das Aussageverhalten des Beschuldigten zu beeinflussen und ihn insbesondere zu veranlassen, von seinem Schweigerecht keinen Gebrauch zu machen. Gerade dies sei vorliegend aber der Fall gewesen, da der Angeklagte mit einem anderen Untersuchungsgefangenen, der von der Polizei den Auftrag erhalten hatte, ihn über den Raubüberfall auszuhorchen, in eine Zelle gesperrt wurde. Dadurch hätten die verantwortlichen Polizei- und Justizbehörden ihn gezielt Einwirkungen auf die Freiheit seiner Willensentschließung ausgesetzt, die ihn veranlassen sollten, sich über die Tat zu äußern. Das an sich zulässige Zwangsmittel der Untersuchungshaft sei so zu einem prozessordnungswidrigen Zweck ausgenutzt worden, worin eine Zwangswirkung auf den Gefangenen zu sehen sei, die vom Strafverfahren nicht mehr gedeckt und deshalb unzulässig sei. Auch wenn das Ergebnis der Entscheidung ganz überwiegend Zustimmung erfahren hat,14 wurde dem BGH schon damals in der Literatur zu Recht entgegengehalten, dass es sich bei der Haft nicht um eine Zwangssituation gehandelt habe, die eine analoge Anwendung des § 136a StPO rechtfertige.15 Dementsprechend hat etwa auch 14 Vgl. Grünwald, StV 1987, 470; Fezer, JZ 1987, 937; Seebode, JR 1988, 427; Wagner, NStZ 1989, 34; a.A. aber Lesch, Strafprozessrecht, 2. Aufl. 2001, 3/128 ff.; ders., GA 2000, 365; Schneider, NStZ 2001, 8. 15 Vgl. dazu Fezer, JZ 1987, 937 f.; Grünwald, StV 1987, 471; Reichert-Hammer, JuS 1989, 447.
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Roxin das Vorliegen eines Zwangs verneint, weil es im Belieben des Häftlings gestanden habe, bei seinem Schweigen zu verharren. Entscheidend sei vielmehr, „dass der Staat vom Beschuldigen Geständnisse nur auf dem Wege des § 136 erlangen darf“, dessen hier vorliegende Umgehung einen Eingriff ohne gesetzliche Ermächtigungsgrundlage darstelle, so dass das Geständnis schon aus diesem Grunde nicht hätte verwertet werden dürfen. Unabhängig davon, ob man dieser These von der Umgehung des § 136 StPO zustimmen will, wirft diese Kritik das Licht auf einen grundlegenden Aspekt: Tatsächlich stellt die fehlende Ermächtigungsgrundlage für heimliches Vorgehen der Ermittlungsbehörden einen entscheidenden Gesichtspunkt dar, der bei der Diskussion über die Zulässigkeit derartiger Methoden sowohl in der Rechtsprechung des EGMR als auch in derjenigen des BGH noch viel zu wenig Berücksichtigung gefunden hat. Die Entscheidung Bykov lässt darüber hinaus aber noch einen zweiten Vergleich zur deutschen Rechtsprechung zu. Dieser betrifft die Behandlung der sog. Hörfalle. Die Interpretation der Entscheidung Bykov lässt nämlich den Schluss zu, dass der EGMR allein in dem Stellen einer Hörfalle regelmäßig keinen Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit sehen würde. Die in der Literatur nach der Entscheidung Allan geäußerte Hoffnung, dass das Hörfallen-Urteil des BGH durch die Entscheidung Allan überholt sein könnte,16 wird also durch das Urteil Bykov vs. Russia enttäuscht. Die Linie des EGMR in Sachen Bykov vs. Russia entspricht daher der BGHRechtsprechung insofern, als dort gerade in Bezug auf die Hörfalle lediglich eine Nähe zu einem Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz, nicht aber eine Verletzung dieses Prinzips festgestellt wurde.17 Von Interesse sind in diesem Zusammenhang jedoch die dissenting opinions der Richter Costa, Loucaides und Spielmann.18 Vor allem Costa sieht bereits in der Täuschung als solcher einen Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit und begründet dies mit dem Aspekt des Umgehungsschutzes. Auch Spielmann bejaht einen entsprechenden Verstoß und weist auf die Vergleichbarkeit zwischen der Entscheidung Bykov vs. Russia und Allan vs. U.K. hin, indem er die damalige Haftsituation als ein nicht entscheidungstragendes Kriterium bezeichnet. Dem wird man insofern zustimmen müssen, als das von einem Privaten im Auftrag der Strafverfolgungsbehörden geführte und von diesen mitgehörte Gespräch eine Täuschung über die beweisrechtliche Relevanz der Unterredung darstellt. Insbesondere kann nicht verlangt werden, dass die Täuschung zwangsähnlichen Charakter haben muss (näher zur Hörfallenproblematik unter II.). 16 Vgl. etwa G. Schäfer, Widmaier-FS, 2008, S. 28; Roxin, NStZ Sonderheft 2009, 43 m. Fn. 24. 17 Vgl. BGHSt 42, 149: „Für die wertende Betrachtung kann bei solchen Sachverhalten, die den Schwerpunkt nicht in einem Zwang, aber in der Heimlichkeit der Ausforschung des Beschuldigten haben, das in Frage stehende Vorgehen der Ermittlungsbehörden einen Verstoß gegen den nemo tenetur-Grundsatz nahe kommen“. 18 Dazu auch LR-Esser (Fn. 4), Art. 6 EMRK, Rn. 932.
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4. Die auf der Gesamtbetrachtung basierende Unbestimmtheit der Verwertungsverbotsfolge Was sodann die Frage der Verwertbarkeit rechtswidrig erlangter Beweise anbelangt, so wiederholt der EGMR im Urteil Bykov vs. Russia die bereits in der grundlegenden Entscheidung Schenk vs. Switzerland getroffenen Feststellungen zur beschränkten Prüfungskompetenz des EGMR. Danach entscheide der EGMR nicht über die Rechtmäßigkeit der Beweiserhebung bzw. -verwertung, die in erster Linie eine Frage des nationalen Rechts darstelle, sondern lediglich darüber, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit fair im Sinne des Art. 6 EMRK geführt worden sei.19 Wie schon in der Entscheidung Jalloh vs. Germany20 wiederholt der EGMR auch hier noch einmal, dass es insbesondere darauf ankomme, ob es sich um ein die Entscheidung maßgeblich tragendes Beweismittel handelt bzw. ob der Beschuldigte die Möglichkeit hatte, das Beweismittel bezüglich Verlässlichkeit bzw. Authentizität im weiteren Verlauf des Verfahrens anzugreifen bzw. zu erschüttern. Auch wenn die Rechtswidrigkeit der Beweiserhebung für die Frage der Verfahrensfairness von Bedeutung ist, so kann sich hieraus offenbar nicht allein die Folge eines Beweisverwertungsverbots ergeben.21 Dieser Gesamtbetrachtungsansatz ist in der Literatur zu Recht auf erhebliche Kritik gestoßen.22 Denn er führt zu dem seltsamen Ergebnis, dass die Frage des Verwertungsverbots weniger von der Beweiserlangung als vielmehr von dem weiteren, durch die Strafverfolgungsbehörden selbst bestimmbaren Verfahrensablauf abhängt. Darüber hinaus liefert die Gesamtbetrachtung zum einen keinerlei handfeste Kriterien, nach denen sich die Frage der Verfahrensfairness richten könnte und zum anderen macht es die ex-post-Gesamtbetrachtung unmöglich vorherzusehen, wie sich ein Verfahrensfehler am Ende unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensfairness auswirken wird.23 So muss etwa selbst ein vorsätzlicher Verstoß gegen eine Erhebungsnorm am Ende keinerlei Auswirkungen auf die Verwertbarkeit haben, sofern nur in der Gesamtschau von einem hinreichend fairen Verfahren gesprochen werden kann. Die Beliebigkeit der über das Kriterium der Verfahrensfairness zu erzielenden Ergebnisse liegt auf der Hand, wenn man sich vergegenwärtigt, dass mit dem Begriff des fairen Verfahrens zunächst einmal nicht viel mehr ausgesagt wird als mit dem Bekenntnis zu einem gerechten Prozess. Zu Recht heißt es daher in einem erst jüngst veröffentlichten Beitrag von Heike Jung: „Es ist nicht einfach, des Fairnessbegriffs
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Vgl. EGMR, Schenk vs. Switzerland, Serie A Nr. 140, §§ 45 ff. EGMR NJW 2006, 3117. 21 Vgl. Warnking (Fn. 7), S. 51. 22 Vgl. Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahren, 2002, S. 403; Gaede, StV 2003, 261; Rzepka, Zur Fairness im deutschen Strafverfahren, 2000, S. 102 f. 23 Vgl. zur Gesamtbetrachtungslehre des EGMR bereits Jäger, GA 2008, 480 ff. sowie Warnking (Fn. 7), S. 53. 20
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habhaft zu werden. Wir meinen zwar ein klares Bild davon zu haben. Dieses verflüchtigt sich jedoch, wenn wir näher herantreten.“24 Augenfällig ist es auch, dass der EGMR sich in der Vergangenheit bereits vereinzelt selbst über seine Gesamtbetrachtungslehre hinweggesetzt hat. Dies gilt etwa für die Entscheidung Jalloh vs. Germany,25 in der aus einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK auf ein insgesamt fairnesswidriges Verfahren geschlossen wurde. In nachfolgenden Entscheidungen hat der EGMR den Zusammenhang zwischen Art. 3 EMRK und Art. 6 EMRK noch weiter präzisiert.26 Danach unterscheidet der EGMR zwischen direkten und indirekten Beweisen. Führt ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu einem direkten Beweis in Form eines Geständnisses (sog. „confession“), so bildet die Verwertung dieses Geständnisses stets eine Verletzung des Art. 6 EMRK. Sofern dagegen keine unmittelbaren Beweise in Form eines Geständnisses, sondern mittelbare Beweise in Form von körperlichen Hinweisen (sog. „real evidence“) erlangt werden, ist zu unterscheiden: Wurde die Beweiserhebung im Wege der Folter durchgeführt, so liegt in jedem Fall ein Verstoß gegen die Verfahrensfairness vor. Sofern die Beweise dagegen „nur“ durch eine erniedrigende bzw. unmenschliche Behandlung ohne Foltercharakter erlangt wurden, hänge die Verletzung von Art. 6 EMRK von den Umständen des Einzelfalls unter Berücksichtigung der Gesamtbetrachtungslehre ab. Allerdings spreche auch hier eine Vermutung für eine Verletzung der Verfahrensfairness. Die Unverwertbarkeit eines durch Folter erlangten Geständnisses leitet der EGMR dabei ausdrücklich aus der Überlegung ab, dass anderenfalls mit der Verwertung des Beweismittels eine nachträgliche Legitimation der rechtswidrigen Beweiserhebung verbunden wäre.27 Wenn der EGMR nun aber im Fall Bykov aus den Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten die Verwertbarkeit des Beweises ableitet, so wird der Gesichtspunkt der Rechtswidrigkeit der Beweismittelerlangung hierdurch in Wahrheit in den Hintergrund gerückt. Darauf weist zurecht auch Richter Barreto in seiner concurring opinion unter Hinweis auf die Aussage des Richters Loucaides in dessen Sondervotum zur Entscheidung Schenk vs. Switzerland hin.28 Denn in Wahrheit geht der EGMR bei einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK vom Disziplinierungsgedanken aus, der aber ebenso für einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK gelten müsste. Insgesamt zeigt sich daher, dass die Rechtsprechung des EGMR von zahlreichen Inkonsistenzen geprägt ist. Insbesondere lassen sich die Entscheidungen Allan und Bykov in ihrer inhaltlichen Widersprüchlichkeit kaum miteinander vereinbaren. Insofern hat der Jubilar zu Recht mit aller Deutlichkeit betont, dass der Fall Bykov vs. 24
Jung, GA 2013, 91; im Ergebnis ebenso Hörnle, Rechtstheorie, 2004, S. 175, 192. EGMR NJW 2006, 3117. 26 Vgl. EGMR, Harutyunyan vs. Armenia; EGMR, Göcnen vs. Turkey; EGMR, Gäfgen vs. Germany, NStZ 2008, 699 ff.; zusammenfassend Warnking (Fn. 7), S. 59 f. m.w.N. 27 Vgl. EGMR, Jalloh vs. Germany, NJW 2006, 3117. 28 Ebenso die dissenting opinions der Richter Spielmann, Rozakis, Tulkins, Casadeval und Mijovic. 25
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Russia anders hätte entschieden werden müssen,29 auch wenn man dem EGMR immerhin zugute halten kann, dass sein Blick auf das Gesamtverfahren zumindest insofern nachvollziehbar und verständlich erscheint, als eine Überprüfung von Beweisverwertungsverboten innerhalb der EMRK nur über das wenig aussagekräftige Institut der allgemeinen Verfahrensfairness möglich ist. Insofern verwundert es nicht, dass der Gerichtshof – mit Heike Jung gesprochen – „mehr Floskeln als erhellende Erkenntnisse anzubieten“ hat.30
II. Gesamtbetrachtungsüberlegungen in der Rechtsprechung des BGH Bedenklicher ist es dagegen, wenn auch der BGH mehr und mehr dazu überzugehen scheint, übergeordnete Prinzipien der allgemeinen Verfahrensfairness an die Stelle der Prüfung einzelner Erhebungsverstöße zu setzen,31 um auf diese Weise ein Höchstmaß an Entscheidungsfreiheit bei der Beurteilung der Beweisverwertungsfragen zu erzielen. 1. Beispielhaft hierfür steht bereits die oben angesprochene Hörfallen-Entscheidung des Großen Senats aus dem Jahre 1996.32 Der BGH hat hier sowohl einen Verstoß gegen § 136 StPO als auch eine Verletzung des § 136a i. V. m. 163a StPO verneint, da beide Vorschriften eine formelle Vernehmung voraussetzten und damit auf die offene Befragung zugeschnitten seien. Dies jedoch ist problematisch. Denn mag man auch die Vorschrift des § 136 StPO im Rahmen der Hörfallen-Problematik für mit guten Gründen unanwendbar halten, weil diese Vorschrift wohl nur vor Rechtsirrtümern (sich ungewollt selbst zu belasten), nicht jedoch vor Tatsachenirrtümern (Täuschung über die Vernehmungsqualität bei der Hörfalle) schützen,33 so lässt sich zumindest eine analoge Anwendung des § 136a nicht ohne Weiteres von der Hand weisen. Richtiger erscheint es, entgegen der Auffassung des BGH bei der Hörfalle das Vorliegen einer unerlaubten Täuschung zu bejahen, da der Bürger hier – veranlasst durch die Strafverfolgungsbehörden – in ein scheinbar persönliches oder telefonisches Privatgespräch verwickelt wird, um ihn in Wahrheit mit Hilfe dieses Gesprächs amtlich auszuhorchen, so dass eine Irreführung über die Vernehmungsrelevanz der Äußerung anzunehmen ist.34 Selbst wenn man Fälle „staatlich gesteuerter 29
Vgl. Wolter, ZIS 2012, 245 m. Fn. 70 m.w.N. Vgl. Jung, GA 2013, 93. 31 A. Schumann, JZ 2012, 265 spricht insoweit zu Recht davon, dass der Weg längst weg vom Gesetz und hin zum Prinzip geführt hat. 32 BGHSt 42, 147 m. Anm. Kudlich, JuS 1997, 699; Weßlau, ZStW 110 (1998), 11; Roxin, NStZ 1997, 18. 33 A.A. Roxin, NStZ 1997, 18. 34 Vgl. dazu bereits LR-Gleß, StPO, 26. Aufl. 2007, § 136a Rn. 44; Jäger, Beweisverwertung und Beweisverwertungsverbote, 2003, S. 183 ff.; im Grundsatz wie hier auch Ambos, Beweisverwertungsverbote, 2010, S. 70; ebenso zumindest für besonders perfide, sog. „qua30
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Selbstbelastungsprovokation“35 nur am allgemeinen Fairnessgrundsatz messen wollte, sollte dieses Ergebnis nicht anders ausfallen, da neben der Gewaltfreiheit auch die Manipulationsfreiheit zu den Mindestanforderungen eines fairen Verfahrens gehören sollte, wie Heike Jung kürzlich treffend betont hat.36 Den gesetzgeberischen Anknüpfungspunkt hierfür liefert aber in noch deutlicherer Weise § 136a StPO. Demgegenüber lässt sich auch nicht einwenden, dass § 136a StPO abzulehnen sei, weil hierdurch nicht die Freiheit der Willensentschließung und -betätigung des Beschuldigten beeinträchtigt sei.37 Denn bei einer Täuschung ist per se die Willensentschließung beeinträchtigt, da es an einer freien Einlassung fehlt, wenn die Umstände der Befragung nicht offen gelegt werden. Insoweit überzeugt es auch nicht, wenn der BGH die Anwendung des § 136a in Bezug auf die Hörfalle mit der Begründung ablehnt, dass die Vorschrift im Hinblick auf den Begriff der Täuschung zu weit gefasst und daher einschränkend auszulegen sei.38 So hat der BGH selbst in einer Entscheidung aus dem Jahre 199039 in einem Fall, in dem eine Leiche aufgefunden worden war und dem Beschuldigten dennoch wahrheitswidrig erklärt wurde, dass in einer Vermisstensache ermittelt werde, ein Verwertungsverbot wegen unzulässiger Täuschung nach § 136a bejaht. Dann aber ist nicht einzusehen, weshalb § 136a ausscheiden soll, wenn die Täuschung den gesamten vernehmungsbezogenen Sinn einer Aussage betrifft. Zwang und Täuschung sind nun einmal kategorial verschiedene, in ihrer Wirkung auf die Autonomie des Opfers jedoch vergleichbare Methoden der unfairen Beweisgewinnung.40 Bei alldem darf nicht übersehen werden, dass die Rechtsprechung selbst für die Täuschung niemals einen Zwangscharakter gefordert hat. Auch die Regelungen der §§ 110a ff. StPO widersprechen einer Anwendung des § 136a StPO nicht.41 Denn zwar sind nach §§ 110a ff. StPO bestimmte Formen der lifizierte“ Täuschungen Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, 2001, S. 278 ff.; vgl. im Übrigen auch Schroth, JuS 1998, 976, der zu Recht darauf hinweist, dass die Annahme, ein Privatgespräch zu führen, bei der Hörfalle durch den von der Polizei veranlassten Anruf erst hervorgerufen wird. 35 So der eindringliche Titel von Wolter, ZIS 2012, 238. 36 Jung, GA 2013, 97. 37 So aber Roxin, NStZ 1995, 18 und neuerdings auch Wolter, ZIS 2012, 240 ff., der § 136a nur bei zwangsgleichen Täuschungen anwenden will und im Übrigen auf § 136 StPO rekurriert. Wie hier aber Mahlstedt, Die verdeckte Befragung des Beschuldigten im Auftrag der Polizei, Informelle Informationserhebung und Selbstbelastungsfreiheit, 2011, S. 230. 38 Vgl. im Übrigen auch die ganz überwiegend kritischen Stellungnahmen von Bernsmann, StV 1997, 116; Bosch, Jura 1998, 236; Dencker, StV 1994, 671; Derksen, JR 1997, 167; Fezer, NStZ 1996, 289; Lesch, JA 1996, 632; Pawlik, GA 1998, 384; Popp, NStZ 1997, 415; Renzikowski, JZ 1997, 710; Rieß, NStZ 1996, 506; Roxin, NStZ 1997, 18 ff.; Verrel, NStZ 1997, 415; ders., (Fn. 34), S. 281. 39 BGHSt 37, 48. 40 So zutreffend Bernsmann, StV 1997, 118; in diesem Sinne auch Günther, StV 1988, 423; SK-Rogall, StPO, Stand: 14. Lfg. (Juli 1995), § 136a Rn. 54 und Verrel (Fn. 34), S. 117, bei besonders perfidem Vorgehen unter Hinweis darauf, dass das Merkmal der Täuschung anderenfalls weitgehend entwertet würde. 41 Vgl. hierzu Ambos, Beweisverwertungsverbote, 2010, S. 69.
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Täuschung zulässig. Jedoch beruht dies auf einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung, die zur Folge hat, dass diese erlaubten heimlichen Ermittlungsmethoden nicht zugleich als unerlaubte Täuschungen im Sinne von § 136a StPO begriffen werden können.42 Für die Hörfalle fehlt es aber gerade an einer gesetzlichen Regelung, so dass es beim Grundsatz der unzulässigen Täuschung verbleiben muss. Insofern ist es bezeichnend, dass der BGH den Schauplatz der Erhebungsnormen nach §§ 136, 136a StPO verlässt und die Frage aufwirft, ob sich das Verwertungsverbot unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 III GG herleiten lässt. Der BGH gibt insoweit zu bedenken, dass das Vorgehen der Ermittlungsbehörden einen Verstoß gegen den nemo tenetur-Grundsatz zumindest nahe komme. Dies führe zwar nicht automatisch zur Unzulässigkeit der vorliegenden Maßnahme. Aber aus der Nähe zu dem genannten Grundsatz sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem aus ihm hervorgehenden Grundsatz des fairen Verfahren ergäben sich zumindest Bedenken, wenn die Ermittlungsbehörden den Beschuldigten in der vorliegenden Weise zu Äußerungen veranlassen. Diese Bedenken schlagen nach Ansicht des BGH jedoch nur dann durch, wenn das ebenfalls mit Verfassungsrang ausgestattete Strafverfolgungsinteresse hinter ihnen in der Abwägung zurücktritt. Dabei sei die Rechtslage im Lichte der durch das OrgKG geschaffenen Rechtslage zu präzisieren und fortzuentwickeln, so dass kein Verwertungsverbot gegeben sei, wenn es sich um eine Straftat von erheblicher Bedeutung handelt und der Einsatz anderer Ermittlungsmethoden erheblich weniger Erfolg versprechend oder wesentlich erschwert wäre. Die Kataloge der §§ 98a, 100a, 110a vermittelten dabei für die Abwägung die notwendigen Hinweise. Der BGH bekennt sich damit ersichtlich zu einem Abwägungs-Strafprozessrecht, das der Jubilar stets bekämpft hat43 und dem aufs Schärfste zu widerraten ist, wenn man die Justizförmigkeit des Verfahrens bewahren will. 2. Der BGH hat diese Verschiebung der Prüfung weg von den einzelnen Erhebungsnormen hin zur Frage eines Verstoßes gegen den nemo tenetur-Grundsatz i. V. m. dem Prinzip des fairen Verfahrens im weiteren Verlauf seiner Rechtsprechung immer weiter vorangetrieben. Beispielhaft hierfür ist auch ein neuerer Beschluss des BGH.44 Dort hatte der Angeklagte gemeinsam mit dem Ehemann (H) der Zeugin (E) Drogengeschäfte abgewickelt. Dabei ging es um die Lieferung von 2500 kg Haschisch (für 530 E pro kg). Im Prozess gegen H nannte dieser erstmals den bislang unbekannten A als Mittäter. E wollte nun ihrem Mann H die Vergünstigung der Kronzeugenregelung aus § 31 BtMG sichern. Dazu erklärte sie sich aus eigenem Antrieb gegenüber der Polizei bereit, an der Überführung von A mitzuwirken, indem sie A zur Rede stellen und das Gespräch heimlich aufzeichnen wollte. Das AG Düsseldorf ordnete daraufhin gem. § 100f StPO das Abhören und Aufzeichnen des nicht öffentlich gesprochenen Wortes zwischen dem Angeklagten und E an. E traf sich in der 42
Dazu bereits Jäger (Fn. 34), S. 177 ff. Zuletzt Wolter, Roxin-FS II, 2012, S. 1245 ff. 44 BGH NStZ 2011, 596 m. abl. Anm. Eisenberg, JR 2011, 407; Jäger, JA 2011, 712; Roxin, StV 2012, 129; A. Schumann, JZ 2012, 265 und Wolter, ZIS 2012, 239. 43
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Folge mit dem Angeklagten und befragte ihn zu der verfahrensgegenständlichen Tat, um angeblich für sich selbst die Wahrheit zu erfahren. Dabei sicherte sie dem A zu, das Gespräch vertraulich zu behandeln, woraufhin A in dem heimlich aufgezeichneten Gespräch belastende Angaben machte. Auch hier hat der BGH in den heimlichen Audio-Aufzeichnungen keinen Verstoß gegen ein Beweiserhebungsverbot gesehen. Wie schon in der sog. Hörfallen-Entscheidung verneint der BGH dabei eine Verletzung der Rechte des Beschuldigten. So liege kein Verstoß gegen Belehrungspflichten nach §§ 163a IV S. 2, 136 I S. 2 StPO vor, da es dem Vorgang am Vernehmungscharakter mangele. Zum Begriff der Vernehmung i. S. d. StPO gehöre, dass der Vernehmende der Auskunftsperson in amtlicher Funktion gegenübertritt und in dieser Eigenschaft von ihr eine Auskunft verlangt, was hier aber nicht der Fall gewesen sei. Da die Regelung nach ihrem Sinn und Zweck den Beschuldigten vor der irrtümlichen Annahme einer Aussagepflicht im Rahmen einer kraft staatlicher Autorität vorgenommenen Befragung bewahren solle, seien sie auch dann nicht entsprechend anwendbar, wenn eine „vernehmungsähnliche“ Situation durch eine Privatperson, die wie hier als Informantin der Polizei tätig wird, hergestellt werde. Auch sei keine Täuschung i. S. d. §§ 163a IV S. 2, 136a I S. 1, III S. 2 StPO gegeben, da sich die unter wahrheitswidriger Zusicherung der Vertraulichkeit vorgenommene verdeckte Befragung des Angeklagten durch die Zeugin mit der Beeinträchtigung der Willensentschließung durch Misshandlung, Ermüdung, körperlichen Eingriff, Verabreichung von Mitteln, Quälerei oder Hypnose nicht vergleichen lasse. Sodann zeigt sich wieder das soeben bei der Hörfallen-Entscheidung geschilderte Bild. Der BGH verschiebt die Problematik wiederum – unter ausdrücklichem Verweis auf die Entscheidung Bykov – auf die allgemeinen, wenig aussagekräftigen Prinzipien des nemo tenetur-Grundsatzes und der Verfahrensfairness. Danach gehöre die Selbstbelastungsfreiheit zwar zum Kernbereich des in Art. 6 I EMRK garantierten Rechts auf ein faires Strafverfahren. Es lägen aber keine Anhaltspunkte dafür vor, dass das vom Angeklagten ausdrücklich ausgeübte Recht zu schweigen durch den Einsatz der Zeugin als Informantin der Polizei gezielt unterlaufen wurde. Anders läge der Fall nur, wenn sich der Beschuldigte – wie im Fall Allan vs. UK – zuvor für das Schweigen entschieden hätte und diese Entscheidung durch die heimliche Tonbandaufzeichnung umgangen worden wäre, wofür jedoch im konkreten Fall keine Anhaltspunkte bestanden. Hinzu komme, dass sich der Angeklagte zum Zeitpunkt des Gesprächs mit der Zeugin in Freiheit befand. Weiterhin wiege das Vorgehen der Ermittlungsbehörden hier weniger schwer, weil sich die Zeugin von sich aus der Polizei als Informantin zur Verfügung gestellt hat und von dieser weder instruiert noch angeleitet wurde. Schließlich sei auch zu berücksichtigen, dass weitere Beweise vorlagen und die Gesprächsaufzeichnung zwar das maßgebliche, aber nicht das einzige Beweismittel gewesen sei. Auch hier wird wieder erkennbar, dass sich der BGH durch eine Gesamtbetrachtung (insbesondere das Fehlen von Zwang sowie das Vorliegen weiterer Beweise)
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alle Optionen offen hält, um auf diese Weise eine Verwertung der Gesprächsaufzeichnung zu ermöglichen. Im Übrigen geht die Entscheidung des BGH noch über das Urteil im Fall Bykov hinaus, weil die Tonbandaufnahme im vorliegenden Fall sogar das maßgebliche Beweismittel war, während im Fall Bykov auch andere entscheidende Beweise zur Verfügung standen.45 Darüber hinaus ist es auch fragwürdig, das Beweisverwertungsverbot von dem Zufall abhängig zu machen, ob der Beschuldigte sein Schweigerecht zuvor bereits ausgeübt hat oder nicht.46 Unabhängig davon wäre es aber auch vorliegend, wie schon in der Hörfallen-Entscheidung, richtiger gewesen, die Unzulässigkeit des Beweiserhebungsvorgangs aus dem Täuschungsverbot des § 136a StPO abzuleiten, weil auch der Angeklagte des vorliegenden Falles über die vernehmungsbezogene Relevanz seiner Äußerungen im Unklaren gelassen wurde.47 Schließlich ist aber die Vergleichbarkeit der vorliegenden Entscheidung mit dem Urteil des EGMR in Sachen Bykov auch deshalb in Frage zu stellen, weil die Ehefrau ihrem Ehemann durch das manipulative Vorgehen die Vergünstigung aus § 31 BtMG verschaffen wollte, so dass die Ausübung staatlichen Drucks über die Kronzeugenregelung von vornherein nahe liegt.48 Dabei darf nicht übersehen werden, dass der BGH in anderem Zusammenhang darauf hingewiesen hat, dass sich der Staat etwa die Bedingungen einer U-Haft nicht zunutze machen darf, um deren Insassen auszuhorchen. Dies gelte nicht nur, wenn ein Spitzel bewusst auf die U-Haftzelle zum Zwecke der Ausforschung verlegt werde,49 sondern auch dann, wenn der Spitzel von sich aus tätig werde und sich die Polizei von der Zwangssituation profitiere.50 Dann aber liegt der vorliegende Fall nicht wesentlich anders: Der Staat hat sich hier immerhin die Regelung des § 31 BtMG für seine Zwecke nutzbar gemacht, auch wenn die Ehefrau von sich aus auf die Strafverfolgungsbehörden zugekommen ist. Zu Recht hat daher auch der Jubilar die Entscheidung vehement angegriffen.51 3. Der in der Rechtsprechung vorfindlichen Tendenz einer Gesamtbetrachtung sind in einem weiteren Sinne aber auch diejenigen Fälle zuzuordnen, in denen die Rechtsprechung den Verfahrensverstoß einer (hypothetischen) Kausalprüfung unterzieht. a) Schon sehr früh ist in diesem Zusammenhang der Fall Weimar berühmt geworden. Dort war eine zweite Hausdurchsuchung ohne einen erneut erforderlichen richterlichen Durchsuchungsbefehl durchgeführt worden, wobei im Zuge der zweiten 45
Zutreffend Eisenberg, JR 2011, 409; Roxin, StV 2012, 133. Vgl. hierzu bereits Jäger, JA 2011, 714. 47 Im Ergebnis wie hier A. Schumann, JZ 2012, 268. 48 Vgl. auch hierzu bereits Jäger, JA 2011, 714; zustimmend Wolter, ZIS 2012, 245. 49 BGHSt 34, 362 ff. 50 BGHSt 44, 129 ff. (Wahrsagerinnen-Fall) m. Anm. Fahl, JA 1999, 102; Hanack, JR 1999, 348; Jahn, JuS 2000, 441 sowie Jäger (Fn. 34), S. 63. 51 Vgl. Wolter, ZIS 2012, 242, 245. 46
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Haussuchung Kleidungsstücke beschlagnahmt und später zur Überführung der Angeklagten verwendet wurden. Der BGH hat die Verwertung der aufgefundenen Beweismittel im konkreten Fall ausnahmsweise mit dem hypothetischen Argument zugelassen, dass die Ermittlungsorgane jederzeit einen neuen richterlichen Durchsuchungsbefehl hätten erwirken können. In der Literatur hat sich hiergegen bereits frühzeitig Widerstand geregt. So hat etwa Beulke darauf hingewiesen,52 dass eine derartige Hypothese mit dem Schutzzweck des § 105 I StPO unvereinbar sei, da sich die richterliche Entscheidung nie eindeutig prognostizieren lasse. Gerade deshalb verlange § 105 StPO, dass der Richter vor Beginn der Untersuchung eingeschaltet werde. Tatsächlich ist die nachträgliche Feststellung eines hypothetischen Entscheidungsprozesses im Strafverfahren abzulehnen. Dies zeigt sich ganz besonders im dargestellten Fall Weimar. Denn ob der Richter im konkreten Fall einen zweiten Durchsuchungsbefehl erlassen hätte, obgleich bei der ersten Durchsuchung keine entscheidenden Beweise gefunden worden waren, wird sich im Nachhinein niemals klären lassen.53 Auch wird in der Literatur zutreffend darauf hingewiesen, dass die Hypothese dazu führe, dass „die Kompetenz des Richters folgenlos missachtet werden“ könne.54 Noch entscheidender scheint mir jedoch zu sein, dass formelle Defizite nicht durch materielle Hypothesen ausgeglichen werden können.55 Denn wenn im Fall Weimar danach gefragt wird, ob der Durchsuchungsbefehl bei rechtmäßigem Vorgehen der Ermittlungsbehörden erlassen worden wäre, dann wird die Lösung des Problems nicht mehr beim formellen Zuständigkeitsfehler gesucht, sondern in Wahrheit nur noch ermittelt, ob die materiellen Voraussetzungen für den Erlass eines Durchsuchungsbefehls vorgelegen haben. Dies aber ist methodisch ein ganz und gar unzulässiges Vorgehen, weil formelle Verfahrensvoraussetzungen mit dem Vorhandensein materieller Verfahrensvoraussetzungen in Form einer Gesamtbetrachtung unterlaufen werden. Die aus dem materiellen Recht stammende Verlaufshypothese widerspricht auch der Methode des prozessrechtlichen Denkens. Denn bei den prozessualen Handlungen geht es um die Frage, ob sie als Schritte auf das erstrebte Urteil hin durch die Spielregeln des Prozessrechts „zugelassen“ oder „nicht zugelassen“ sind.56 Justizförmigkeit des Verfahrens kann daher nicht dadurch hergestellt werden, dass in Form einer Gesamtbetrachtung darauf abgestellt wird, dass eine Beachtung der Regeln jedenfalls möglich gewesen wäre und zu dem gleichen Ergebnis geführt hätte.
52 Beulke, ZStW 103 (1991), 674; vergleichbar S. Schröder, Beweisverwertungsverbote und die Hypothese rechtmäßiger Beweiserlangung im Strafprozeß, 1992, S. 141 ff. 53 Dem BGH allerdings zustimmend Roxin, NStZ 1989, 379. 54 Volk, Strafprozessrecht, 2. Aufl. 2001, § 28 Rn. 14. 55 Vgl. dazu bereits Jäger (Fn. 34), S. 234 f. 56 So zutreffend Eb. Schmidt, Deutsches Strafprozessrecht, 1967, Rn. 31.
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b) Besonders bedenklich ist es jedoch, wenn der BGH dieses Kausaldenken neuerdings auch in weitreichender Weise auf Vernehmungsinhalte überträgt. So hat der BGH zwar schon bisher im Rahmen des § 136 StPO Kausalitätserwägungen angestellt und ein Verwertungsverbot etwa bei fehlender Belehrung abgelehnt, wenn der Beschuldigte seine Rechte gekannt hat.57 Dies konnte man noch damit begründen, dass sich die fehlende Belehrung in derartigen Fällen im Ergebnis nicht auf die Aussage ausgewirkt hat.58 Nunmehr geht der BGH jedoch offenbar dazu über, konkrete Kausalerwägungen bezüglich des Aussageinhalts anzustellen. Beispielhaft hierfür ist eine Entscheidung des BGH vom 6. 3. 2012.59 Dort hatte der Angeklagte seiner geschiedenen Ehefrau aufgelauert und ihr mit zahlreichen kraftvollen Stockhieben den Schädel eingeschlagen, sie mit einer Strumpfhose erdrosselt sowie mehrere tiefe Messerstiche zugefügt. Anschließend versteckte er sie unter einem Auto. Dabei waren die einzelnen Angriffe jeweils für sich schon tödlich. Im Rahmen der polizeilichen Vernehmung wurde der Angeklagte, gegen den schon mehrfach wegen Körperverletzung zum Nachteil seiner geschiedenen Frau ermittelt wurde, über sein Schweigerecht und sein Recht auf Verteidigerkonsultation belehrt. Er verzichtete jedoch auf einen anwaltlichen Beistand. Obwohl den Vernehmungsbeamten der Tod des Opfers bereits bekannt war, teilten sie dem Angeklagten lediglich mit, dass dieser seiner Exfrau „etwas Schlimmes“ angetan habe. In der folgenden fünfstündigen Vernehmung erkundigte sich der Angeklagte mehrfach nach seiner Exfrau und äußerte die Hoffnung, dass diese vielleicht noch lebe. Erst am Ende der Vernehmung, in der er die Gewalthandlungen einräumte, fragte er nochmals konkret, ob seine Frau noch lebe und wurde von den Beamten daraufhin über ihren Tod informiert. Am nächsten Tag unterschrieb A das Vernehmungsprotokoll noch eigenhändig und nahm teilweise auch noch handschriftliche Verbesserungen vor. In der Hauptverhandlung machte der Angeklagte keine Angaben. Das Landgericht verwertete jedoch die durch die Zeugenaussagen der Vernehmungsbeamten eingeführte Einlassung des Angeklagten aus der Beschuldigtenvernehmung und legte diese der Verurteilung wegen heimtückischen Mordes zugrunde. Der Verteidiger widersprach dieser Verwertung rechtzeitig. Der BGH ging hier davon aus, dass die Grenzen des Beurteilungsspielraumes bezüglich der Eröffnung des Tatvorwurfs (vgl. §§ 163a IV S. 1 und § 136 S. 1 StPO) überschritten seien, wenn dem Beschuldigten eines Gewaltdelikts der Tod des Opfers nicht eröffnet werde. Ohne Hinweis auf diesen die Tat prägenden Gesichtspunkt sei sie nicht einmal in groben Zügen eröffnet. Der ohnehin nicht sehr klare Hinweis, es gehe um das „Schlimme“, was der Beschuldigte dem Tatopfer angetan habe, reiche daher nicht aus.
57
Näher dazu Jahn, JuS 2012, 658 f. Vgl. BGHSt 47, 173; dazu Geppert, Otto-FS, 2007, S. 193. 59 BGH NStZ 2012, 581 m. Anm. Jäger, JA 2013, 155 ff.; Jahn, JuS 2012, 658 ff. Vgl. auch Artkämper, StRR 2012, 378 f. 58
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Die Frage, ob ein Verstoß gegen diese Hinweispflicht aus § 163a IV S. 1 StPO ein Verwertungsverbot auslöst, ließ der BGH im Anschluss jedoch ausdrücklich offen, da er davon ausgeht, dass der fehlende Hinweis im vorliegenden Fall nicht kausal für die Aussage des Angeklagten gewesen sei und sich damit – ganz im Sinne einer Gesamtbetrachtung – auf das Verfahren nicht ausgewirkt habe. Denn Belehrungsdefizite begründen nach Ansicht des BGH jedenfalls dann kein Verwertungsverbot, wenn sie das Aussageverhalten des Vernommenen nicht beeinflusst haben. Der BGH bejahte eine solche fehlende Beeinflussung, da dem Beschuldigten (Angeklagten) bei der Vernehmung zumindest die Möglichkeit vor Augen gestanden habe, dass er die Geschädigte getötet hat und er daher naheliegend über die – durch das polizeiliche Verhalten nicht entkräftete – Erkenntnis verfügte, dass seine Frau tot sein könnte. Wenn er sich auf dieser Grundlage nach im Übrigen ordnungsgemäßer Belehrung über sein Schweigerecht und ein Recht auf Anwaltskonsultation zu Angaben entschloss, habe sich der vorliegende Mangel der polizeilichen Belehrung über den Tatvorwurf auf die Entscheidung, Angaben zu machen, nicht ausgewirkt. Schon deshalb sei für die Annahme eines Verwertungsverbotes hinsichtlich dieser Aussagen kein Raum. Bereits an anderer Stelle habe ich darauf hingewiesen, dass die Verneinung der Kausalität des Belehrungsverstoßes für das Aussageverhalten des Beschuldigten und die darauf basierende Ablehnung eines Beweisverwertungsverbots nicht überzeugt.60 Ich habe dies damit begründet, dass das Bewusstsein des Beschuldigten über die Möglichkeit des Todes seiner Frau nichts über das hypothetische Aussageverhalten im Falle ordnungsgemäßer Belehrung aussagt. Vielmehr sei es wahrscheinlich, dass der Beschuldigte durch sein Geständnis der quälenden Ungewissheit über den Zustand seiner Frau ein Ende bereiten wollte. Dann aber war der Belehrungsverstoß in Wahrheit doch kausal für die Aussage. Unabhängig von diesen tatsächlichen Überlegungen, möchte ich heute noch weiter gehen und die Zulässigkeit von Kausalerwägungen in Bezug auf Vernehmungsinhalte gänzlich bestreiten. Denn wenn die Belehrungsvorschriften über das Aussageverweigerungsrecht, über die Verteidigerkonsultation und über den Tatvorwurf überhaupt einen Sinn machen sollen, dann besteht dieser darin, dass dem Beschuldigten die Möglichkeit gewährt werden soll, auf der Grundlage dieser notwendigen Informationen über das Ob und Wie der eigenen Aussage frei zu entscheiden. Wenn daher festgestellt ist, dass die Ermittlungsbehörden keine hinreichende Belehrung erteilt haben (und dies bejaht der BGH hier bezüglich des Tatvorwurfs), dann ist für die Überlegung, dass der Beschuldigte den Tatvorwurf als Möglichkeit erkannt hat, kein Raum mehr. §§ 136 S. 1, 163a IV S. 1 StPO wollen dem Angeklagten positive Kenntnis verschaffen und nicht nur Einsicht in eine Möglichkeit. Im Übrigen enthält § 136 StPO eine unwiderlegliche und jeder entgegengesetzten Kausalerwägung widerstreitende Vermutung, dass sich die Belehrung auf das Aussageverhalten auswirken kann. Mit anderen Worten: § 136 StPO schreibt die Belehrung gerade deshalb vor, weil nie60
Vgl. Jäger, JA 2013, 156.
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mals ausgeschlossen werden kann, dass sich die Information auf das Aussageverhalten auswirken kann. Wenn der BGH dies anders sieht, schwächt er die Bedeutung der Justizförmigkeit des Verfahrens durch materiell-rechtliche Überlegungen, die dem strafprozessualen Denken grundsätzlich fremd sind.
III. Resümee Meine Ausführungen haben gezeigt, dass sich ein deutlicher Einfluss der Rechtsprechung des EGMR auf die Rechtsprechung des BGH verzeichnen lässt, da zunehmend Gesamtbetrachtungs- und Kausalüberlegungen Eingang in die Rechtsprechung des BGH finden. In dieser Gesamtbetrachtung liegt ein maßgeblicher Unterschied zu der früher eher punktuellen Überprüfung von Verfahrensfehlern in der Revision durch den BGH.61 Insofern lässt sich auch die Behauptung Vogels anzweifeln, wonach der Einfluss des EGMR auf die nationale Rechtsprechung unbedenklich sei.62 Denn Gesamtbetrachtungs- und Kausalüberlegungen finden zunehmend Eingang in die höchstrichterliche Rechtsprechung und bilden – wie gesehen – eine Gefahr für die schützenden Formen des Prozessrechts. Vor allem dort, wo verheimlichendes Vorgehen der Ermittlungsbehörden die Belehrungsvorschriften bagatellisiert und diese durch Gesamtbetrachtungs- und Kausalüberlegungen ersetzt werden, erscheint diese Gefahr besonders groß. Gerade deshalb ist eine Rückbesinnung auf die Bedeutung der Zentralvorschriften der §§ 136, 136a StPO von fundamentaler Bedeutung: Sie dienen bereits selbst der Idee eines rechtsstaatlich gebotenen fairen Verfahrens, so dass sich bei einem heimlichen, diese Rechte des Angeklagten verkürzenden Vorgehen der Ermittlungsbehörden ein Rückgriff auf einen jenseits dieser normativen Ausformung existierenden allgemeinen Fairnessgrundsatz erübrigen sollte. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man mit dem Jubilar einem „systemlosen Abwägungs-Strafprozessrecht“63 entgegenwirken und für die Idee der verfahrensrechtlichen Formenklarheit eintreten will. Dafür hat Jürgen Wolter stets gekämpft und es ist ihm und der Wissenschaft zu wünschen, dass er diesen Kampf auch in Zukunft mit ungebrochener Kraft weiterführen möge.
61
Näher dazu Nack, NJW-Sonderheft für G. Schäfer 2002, 50; Eisele, JR 2004, 16. Vgl. Vogel, Gegenwartsfragen des europäischen und deutschen Strafrechts, 2012, S. 26 ff. 63 Vgl. dazu lesenswert Wolter, FS-Roxin II, S. 1245 ff. 62
Erforschung der Wahrheit mit Hilfe des formlosen Vorhalts? Ein Vorschlag betreffend die Einführung früherer Äußerungen des Angeklagten in die Hauptverhandlung* Von Matthias Jahn
I. Einführung und Widmung Wohl das gesamte Strafprozessrecht kann als der Versuch der Bewältigung von Zielkonflikten beim Aufeinandertreffen der staatlichen Verfahrensziele (Wahrheit, Gerechtigkeit, Rechtsfrieden und Durchsetzung des Sanktionenanspruchs) und der individualschützenden Funktionen des Verfahrensrechts (Schutz der Beschuldigtenrechte und Festlegung der Grenzen der Eingriffsbefugnisse als Strafprozessbegrenzungsrecht) rekonstruiert werden. Hier ist erst einmal die Legislative gefordert. Zunächst ist sie es, die Spannungen im rechtspolitischen Entscheidungskorridor zwischen Grundrechtsschutz und der Sicherung der Funktionsbedingungen der Strafrechtspflege auszugleichen hat. Erst danach haben Staatsanwaltschaften, Rechtsprechung und andere Organe der Rechtspflege verbleibende Unklarheiten im Einzelfall hoheitlich zu klären. Jürgen Wolter hat sich mit dieser Kardinalaufgabe der Strafprozessgesetzgebung in vielen Schriften auseinandergesetzt. Unter ihnen hat mich seine Monografie zu den „Aspekten einer Strafprozeßreform bis 2007“ nicht nur wegen weitsichtiger Vorhersagen fast zwei Jahrzehnte avant la lettre nachhaltig beeindruckt. Sie steht in meinem kleinen Handapparat und wird von mir zu allen Fragen strafprozessualer Gesetzgebung im ersten Zugriff bemüht – leider ist der vorstehende Satz durch das heutige Rezensionswesen so abgegriffen, dass er gefällig klingt, wo er ehrlich gemeint ist. Im AE-Zusammenhang hat sich Jürgen Wolter der praktischen Umsetzung der drängen* Dem Text liegt ein Vortrag zugrunde, den Verf. auf der dem „Alternativ-Entwurf Unmittelbarkeit“ gewidmeten (Zwischen-)Tagung am 30. September 2012 an der Leibniz-Universität Hannover gehalten hat. Meinen (ehemaligen) wissenschaftlichen Mitarbeitern, Herrn Rechtsanwalt Thomas Heer vom Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Wirtschaftsstrafrecht der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Herrn Assessor Sebastian Lander von der Forschungsstelle für Recht und Praxis der Strafverteidigung (RuPS), bin ich für wertvolle Vorarbeiten und Diskussionen zu großem Dank verpflichtet. Das Manuskript befindet sich auf dem Rechtsstand vom 15. Februar 2013.
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den Fragen der Strafprozessreform selbst vielfach gestellt und dabei, wie mir ältere Mitglieder des traditionsreichen Kreises geschildert haben, Maßstäbe gesetzt – denn fremdes Gesetzeswerk zu kritisieren ist deutlich einfacher als eigenes zu verrichten. Welche Meisterschaft ein Wissenschaftler auch auf dem erstgenannten Feld zu erreichen imstande ist, beweisen Wolters Kommentierungen im SK-StPO, von der Last der Gesamtherausgabe der seit 2010 erscheinenden und bei Abfassung dieses Manuskripts vor dem Abschluss stehenden 4. Auflage nicht zu reden. Deshalb habe ich die Hoffnung, dass der nachfolgende Text, der aus dem aktuellen AE-Projekt heraus entstanden ist, an dem er nicht unmittelbar (wenn auch, wie stets, als Ideengeber und Vordenker einer systematischen und prinzipienfesten Strafprozesslehre) beteiligt war, als Ehrengabe zur Feier seines 70. Geburtstages sein Interesse finden wird. Das eingangs bereits skizzierte konstruktivistische Standardmodell der Strafrechtspflege bedarf für die Zwecke praktischer Gesetzgebung dazu noch der Konkretisierung. Zwei sich typischerweise widerstreitende Interessen im Strafverfahren sind dasjenige der Ermittlungsbehörden an der Gewinnung einer möglichst breiten Tatsachengrundlage für die Entscheidung des Falles auf der einen und das des Beschuldigten auf der anderen Seite, sich nicht zwangsweise selbst belasten zu müssen. Vor diesem Hintergrund schlägt die nachfolgende Bestandsaufnahme zum geltenden Recht der Geständnisverlesung (§ 254 StPO) und der Vorschlag einer Neukonzeption im Ensemble der Anregungen des „Alternativentwurfs Unmittelbarkeit“ eine Lösung vor, die einen praktisch konkordanten Ausgleich zwischen diesen gegenläufigen Interessen herzustellen versucht. Beide Ziele sollen bestmöglich zur Geltung kommen, ohne das jeweils konträre über Gebühr zu beeinträchtigen. Um diesen Anspruch einlösen zu können, ist es zunächst geboten, sich die Hauptkontroversen bei der Auslegung und Anwendung des geltenden Rechts in der gebotenen Kürze vor Augen zu führen.
II. Leitlinien eines sinnvollen Rechtsfolgenkonzepts für den Normbereich des § 254 StPO Die Praxis denkt bekanntlich nicht selten vom Ergebnis her. Auch deshalb ist teilweise umstritten, welche Rechtsfolgen sich aus § 254 StPO ableiten. 1. Grenzen der Ersetzungsbefugnis aus der grundrechtlich geschützten Entscheidungsfreiheit des Angeklagten Nach h.M.1 begründet § 254 StPO für andere als richterliche Protokolle ein klassisches Beweisverwertungsverbot. Komme es auf eine Erklärung an, die der Angeklagte vor einem Polizisten oder Staatsanwalt abgegeben habe, so müsse dieser als 1 Vgl. BGHSt 1, 337 (339); 14, 310 (311); OLG Frankfurt StV 1996, 202; Velten, in: SKStPO V, 4. Aufl. 2012, § 254 Rn. 2; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. 2012, § 254 StPO Rn. 6; Pfeiffer, StPO, 5. Aufl. 2005, § 254 Rn. 1.
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Zeuge (mit geringerem Beweiswert als bei der Verlesung des Protokolls) vernommen werden.2 Dies wird jedoch im Schrifttum nach zwei Seiten hin bestritten. Einerseits wird vertreten, dass sich ein Verwertungsverbot nicht erst aus § 254 StPO, sondern schon unmittelbar aus § 250 Satz 2 StPO ergebe. § 254 StPO sei genauso wie § 253 StPO keine eigenständige Verbots-, sondern vielmehr eine Erlaubnisnorm, welche das Verbot des § 250 Satz 2 StPO für bestimmte Fälle lockere.3 Andererseits wird aus § 254 StPO auch eine weitergehende beschränkende Wirkung abgeleitet. So hat insbesondere Grünwald4 mit überzeugender Begründung Bedenken gegen die gängige Praxis angemeldet, statt der verbotenen Verlesung des Protokolls den Vernehmungsbeamten als Zeugen zu hören. § 254 StPO gleicht er deshalb dem dort allgemein akzeptierten,5 weiten Verständnis von § 252 StPO als absolutem Beweisverwertungsverbot an. Grund sei, dass auf der Basis der Meinung der Rechtsprechung die grundrechtsrelevante Entscheidungsfreiheit des Angeklagten, ob er aussagen wolle oder nicht, nahezu aufgehoben werde, wenn er bereits ein (außergerichtliches) Geständnis abgelegt hat und der Vernehmungsbeamte hierüber jederzeit als Zeuge vernommen werden könne.6 Dem wird man sich kaum verschließen können, womit gleichzeitig eine erste Leitlinie für die Ausgestaltung des zukünftigen Rechts gewonnen ist. 2. Keine prinzipielle Unzulässigkeit des Vorhalts Nach der Rechtsprechung des BGH stets zulässig sind hingegen formlose Vorhalte aus Protokollen früherer Vernehmungen des Angeklagten. Sie lösen damit grundsätzlich auch kein Beweisverwertungsverbot aus. Begründet wird dies im Wesentlichen damit, dass der Vorhalt als schlichter Vernehmungsbehelf in den §§ 249 ff. StPO keine Regelung erfahren habe. Er könne deshalb auch nicht unzulässig sein. Statthaft sei der Vorhalt dabei sowohl gegenüber dem Angeklagten selbst7 als auch gegenüber einer als Zeuge vernommenen Verhörsperson8.
2
Vgl. BGHSt 3, 149; 14, 310 (312); 22, 170 (171); Pfeiffer (Fn. 1), § 254 Rn. 1; MeyerGoßner (Fn. 1), § 254 Rn. 8. 3 So die systematisch ausgearbeitete Interpretation von Wömpner, NStZ 1983, 293 (298); a.A. jedoch bereits Schroth, ZStW 87 (1975), 103 (108 ff.). 4 Grünwald, Das Beweisrecht der Strafprozeßordnung, 1993, S. 128 ff.; ihm folgend Velten, in: SK-StPO (Fn. 1), § 254 Rn. 2. 5 BGHSt 57, 254 = NJW 2012, 3192 (3193 Tz. 7) m. Bespr. Kudlich, JA 2012, 873 f.; siehe für Begründung und weitere Nachweise Jahn, JuS 2007, 485 (486). 6 Grünwald a.a.O. (Fn. 4). Einschränkend Hanack, FS-Schmidt-Leichner, 1977, S. 83 (96), der in diesem Punkt widerspricht, gleichzeitig aber den Vorhalt in diesem Fall als unstatthaft bezeichnet, da sonst die Aussage der Verhörsperson nur noch den Inhalt des Protokolls reproduziere und somit die Beschränkungen des § 254 StPO ausgehöhlt würden. Zu den Konsequenzen unten Abschn. V.6. 7 Vgl. BGHSt 3, 149 (150); 21, 285 (286); Meyer-Goßner (Fn. 1), § 254 Rn. 7. 8 Vgl. BGHSt 1, 4 (8); 14, 310 (312); Meyer-Goßner (Fn. 1), § 254 Rn. 8.
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Die Gegenauffassung9 von der prinzipiellen Unzulässigkeit des Vorhalts vermag nicht zu überzeugen. Allerdings wird auch von dieser Ansicht der Vorhalt einzelner Stellen aus den Akten nicht gänzlich untersagt, so dass sich die Grundsatzkontroverse im Einzelfall auf eine – allerdings gerade in Umfangsverfahren schwierige – Abgrenzungsfrage verjüngen kann. Sie begründet ihre Reserve im Wesentlichen damit, die Laienrichter wüssten nicht zwischen dem förmlichen Urkundsbeweis und dem formlosen Vorhalt zu unterscheiden. Das ist dem Grunde nach zutreffend, aber die Abhilfe ist hier eine Frage der Prozessleitung durch den Vorsitzenden über die ordnungsgemäße Instruktion der Schöffen. Dies gebietet § 238 Abs. 1 StPO – und § 30 GVG verbietet es nicht. Es handelt sich damit nicht um ein Problem des strafprozessualen Beweisrechts i. e. S. Die Gefahren einer in der tatrichterlichen Praxis zuweilen ausufernden Inanspruchnahme des Vorhalts werden dabei nicht verkannt.10 Einen „faktischen Urkundsbeweis“ kann es aber im streng formalisierten System des strafprozessualen Beweisrechts der Hauptverhandlung nicht geben. Die Bändigung eines solchen Hybridwesens zwischen Sach- und Personalbeweis ist Aufgabe aufmerksamer revisionsrechtlicher Kontrolle des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO). Sie entzieht sich naturgemäß einer abstrakt-generellen Regelung im Recht der strafprozessualen Beweisaufnahme. Deshalb bedarf es de lege ferenda einer differenzierenden Bestimmung der Grenzen des formlosen Vorhalts auf der Ebene des § 254 StPO (u. Abschn. V.6.).
III. Zur Rekonstruktion von Wesen und Rechtsgrund der bisherigen Vorschrift in § 254 StPO Neben dem Streit auf der Rechtsfolgenseite ist auch – obgleich mit regelmäßig weniger weit gehenden Konsequenzen – die dogmatisch-systematische Grundlage der Norm nicht gänzlich geklärt. 1. Urkunds-, nicht Personalbeweis nach § 254 Abs. 1 StPO Bei § 254 StPO handelt es sich nach einer belastbaren und zutreffenden h.M.11 um einen Fall des Urkundsbeweises. Sie kann auf den Wortlaut der Vorschrift verweisen 9
Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 27. Aufl. 2012, § 46 Rn. 25; Hanack (Fn. 6), a.a.O. 10 Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 7. Aufl. 2011, Rn. 868 ff., meint bei aller Kritik gegenüber den Wucherungen in der Praxis im Ergebnis mit Recht: „Gleichwohl ist der formfreie Vorhalt typisches Instrument der Praxis (…), was – anders als beim Urkundenbeweis gemäß § 254 – nicht zuletzt auf die Formfreiheit oder das fehlende Protokollierungsbedürfnis zurückzuführen sein mag; auch stellen sich hier keine besonderen Zulässigkeitsfragen …“. 11 Statt vieler Roxin/Schünemann (Fn. 9), § 46 Rn. 20; Diemer, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl. 2008, § 254 Rn. 2; Paulus, in: KMR-StPO, Stand: 63. Lfg. Mai 2012, § 254 Rn. 2 („nahezu unstreitig“); Ganter, in: BeckOK-StPO, Ed. 14 (1. Oktober 2012), § 254
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(„verlesen“). Wird hingegen die Verhörsperson vernommen, so handelt es sich um einen Zeugenbeweis.12 Hinzuweisen ist im Übrigen auf die durch die Unklarheiten um den prozessualen Geständnisbegriff veranlassten Auslegungsfragen im Detail. „Geständnis“ i. S. d. § 254 StPO wird dabei in sachlicher Hinsicht weiter verstanden als in anderen Normen, d. h. es hat nicht die enge Bedeutung des Schuldbekenntnisses.13 Geständnis bedeutet daher nicht bloß jedes Zugeständnis bezüglich der dem Angeklagten zur Last gelegten Tat, sondern auch allgemein das Zugestehen von Tatsachen, aus denen die Schuld des Angeklagten gefolgert werden kann,14 was auch bei einer schuldbestreitenden Äußerung möglich ist.15 Selbst Tatsachen, die nur für die Rechtsfolgen entscheidend sind, können ein Geständnis in diesem Sinne darstellen.16 Daneben ist in persönlicher Hinsicht zu beachten, dass nur Erklärungen desjenigen verlesbar sind, der in dem anhängigen Verfahren die prozessuale Stellung eines Angeklagten einnimmt.17 Dabei muss es sich um Äußerungen zum Tatvorwurf in der Strafsache handeln, in der das Gericht die Verlesung durchführt. Dies ist dann nicht der Fall, wenn ein Vernehmungsprotokoll über eine Straftat verlesen wird, die mit der angeklagten Straftat in keinem Zusammenhang steht und nur zur Beleuchtung der Täterpersönlichkeit eingeführt wird. Hier bedarf es der Einvernahme des seinerzeit vernehmenden Richters als Zeugen.18 Kein Geständnis ist schließlich vorhanden, wenn die Erklärung nicht in einem richterlichen Protokoll enthalten ist, sondern nur eine schriftliche Erklärung vorliegt, welche als Anlage zum Protokoll der Hauptverhandlung genommen wurde.19 Das Vorliegen eines Geständnisses wird man hingegen anzunehmen haben, wenn die Einlassung des Angeklagten über die Abgabe einer Erklärung durch den Verteidiger zu Protokoll gegeben wird. Hierdurch hat er nicht von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht, sondern vielmehr den Verteidiger bewusst als dessen Sprachrohr eingesetzt, v. a. wenn er sich diesen Vortrag auch als Geständnis strafmildernd zurechnen lassen wollte.20
Rn. 1; Mosbacher, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2009, § 254 Rn. 1; Velten, in: SKStPO (Fn. 1), § 254 Rn. 5; Schork, in: Dölling/Duttge/Rössner, Gesamtes Strafrecht, 2. Aufl. 2011, § 254 Rn. 1. 12 Siehe nur Meyer, JA 1972, 163 (165). 13 Wegweisend Dencker, ZStW 102 (1990), 51. 14 Vgl. Pauly, in: Radtke/Hohmann, StPO, 2011, § 254 Rn. 7; Eisenberg (Fn. 10), Rn. 861; Jahn/Müller, NJW 2009, 2625 (2628). 15 Dencker, ZStW 102 (1990), 51 (62). 16 Zutr. Rode, StraFo 2007, 98 (100); Mosbacher, in: Löwe-Rosenberg (Fn. 11), § 254 Rn. 12. 17 BGHSt 27, 13 (17); KG StV 1999, 197. 18 OLG Hamburg StV 1997, 11 (12). 19 BGH StV 2009, 454. 20 OLG Hamm StV 2005, 122.
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Die Niederschrift muss zuletzt natürlich den formalen Anforderungen an ein Protokoll genügen. Dies ist dann nicht der Fall, wenn entgegen § 168a Abs. 4 StPO nur der Richter, nicht aber auch der Protokollführer unterschreibt. Eine solche Urkunde darf daher nicht verlesen werden.21 2. Die Erweiterung der Verlesbarkeit bei inhaltlichen Widersprüchen durch § 254 Abs. 2 StPO Nach § 254 Abs. 2 StPO dürfen auch Protokolle über Geständnisse verlesen werden, um einen in der Hauptverhandlung aufgetretenen Widerspruch zu beheben. Absatz 2 lässt dabei nicht nur die Verlesung zum Zwecke des Vorhalts als Vernehmungsbehelf zu. Vielmehr stellt das Protokoll ein eigenes Beweismittel dar.22 Dies ergibt sich schon daraus, dass Absatz 2 genau wie Absatz 1 nur die Verlesung richterlicher Protokolle betrifft, diese Beschränkung aber wenig Sinn machte, wenn nur ein Vorhalt gewollt wäre.23 Nach Absatz 2 darf der Widerspruch jedoch nicht auf andere Weise aufzuklären sein, z. B. durch Vernehmung der anwesenden Verhörsperson.24 Hieraus ergibt sich also (und im Unterschied zu Absatz 1) die Subsidiarität der Verlesung gegenüber anderen Beweismitteln.25
IV. Die bisherigen Praxisprobleme bei der Anwendung des § 254 StPO Die Praxis sieht sich bei der Anwendung von § 254 StPO heute im Wesentlichen zwei Problemen ausgesetzt: 1. Unnötige Ladungen De lege lata sind häufig Ladungen von nichtrichterlichen Vernehmungsbeamten zur Hauptverhandlung nötig, weil das Geständnis vor dem (Ermittlungs-)Richter in Fällen kleinerer und mittlerer Kriminalität die absolute Ausnahme ist. Selbst in Kapund OK-Sachen ist aber nicht selten eine gewisse Unwilligkeit der Ermittlungsrichter zu konstatieren, Geständnisse zu protokollieren. Die ungünstige pensenmäßige Anrechnung der Geschäfte nach § 162 StPO und die Tatsache, dass der Richter das fragliche Verfahren in der Regel nie wieder sieht (und oft auch nicht bei Verfahrensabschluss vom Staatsanwalt über das Ergebnis informiert wird) verführt manchen Richter dazu, dem Staatsanwalt die Erforderlichkeit solcher Handlungen ausreden zu 21 BGH StV 1993, 58 (62); Jahn, in: Handbuch zum Strafverfahren (HbStrVf), Heghmanns/Scheffler (Hrsg.), 2008, Kap. II Rn. 215. 22 Siehe nur Mosbacher, in: Löwe-Rosenberg (Fn. 11), § 254 Rn. 2. 23 Mosbacher, in: Löwe-Rosenberg (Fn. 11), § 254 Rn. 2. 24 Mosbacher, in: Löwe-Rosenberg (Fn. 11), § 254 Rn. 18. 25 Eisenberg, Beweisrecht der StPO (Fn. 10), Rn. 867.
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wollen.26 Oft werden die dann zu ladenden Ermittlungsbeamten letztlich als Zeuge aber doch nicht benötigt, weil der Angeklagte aufgrund des Verlaufs der Hauptverhandlung ein Geständnis ablegt, der Verhandlung fernbleibt oder das Verfahren vom Gericht aus anderen Gründen kurzfristig unterbrochen werden muss. Folge ist, dass die Beamten unnötigerweise von ihrem Dienst ferngehalten werden und zusätzliche Kosten entstehen. 2. Konstruktion und Rekonstruktion der Erinnerung der Verhörsperson Gleichzeitig besteht ein weiteres Problem: Regelmäßig liegt das Ermittlungsverfahren mehrere Monate oder – etwa im Berufungsverfahren – gar Jahre zurück und die Verhörsperson kann sich nicht mehr – oder zumindest nicht mehr genau – an die früher protokollierte Aussage erinnern.27 Die Vernehmung läuft daher für gewöhnlich folgendermaßen ab: Zunächst wird der Zeuge befragt, was er noch aus seiner unmittelbaren Erinnerung sagen könne. Danach erfolgt ein Vorhalt aus dem Protokoll.28 Nun liegt es letztlich an der Präzision, aber auch der Verlässlichkeit und Integrität des Beamten, ob er sich nur darauf beruft, er habe damals richtig protokolliert. Dies reicht nach der Rechtsprechung des BGH seit dem ersten Band29 für eine mittelbare Verwertbarkeit des Protokolls gerade nicht aus. Denn verwertbar ist nur das, was die Verhörsperson in der Hauptverhandlung aus ihrer – wenn auch durch den Vorhalt aufgefrischten – eigenen Erinnerung bekundet.30 Die andere Möglichkeit besteht darin, dass die Verhörsperson angibt, sich nach dem Vorhalt nun wieder an die Aussage erinnern zu können und dass diese genauso verlaufen sei wie die Niederschrift es ergebe. Dann ist das Protokoll über den Umweg der Zueigenmachung durch den Vernehmenden verwertbar.31 Der Sinn des durch §§ 250 Satz 2, 254 StPO konstituierten absoluten Verbots der Verlesung solcher Protokolle und der „Umweg“ über die Vernehmung der Verhörsperson ist aber fraglich, wenn man die nicht unwahrscheinliche Vorgehensweise der Polizeibeamten bedenkt. Es liegt nämlich nach der Lebenserfahrung nahe, dass sich die Beamten bei der Flut an zu bearbeitenden Verfahren und der zeitlichen Distanz vor der Verhandlung das Protokoll noch einmal durchlesen – was zur Vorbereitung auf die Sitzung sogar geboten sein kann32 – und damit im Anschluss nur über das ge26
Jahn, in: HbStrVf (Fn. 21), Kap. II Rn. 203. Siehe nur Eichel, JA 2008, 631 (632). 28 Vgl. Bohlander, NStZ 1998, 396 (397). 29 BGHSt 1, 337 (339); noch deutlicher BGHSt 14, 310 (311 ff.). 30 Vgl. nur Eisenberg, Beweisrecht der StPO (Fn. 10), Rn. 883. 31 Bohlander, NStZ 1998, 396 (397). 32 Zur weitergehenden (Streit-)Frage einer Vorbereitungspflicht der Amtsperson als Zeuge siehe einerseits (generell verneinend) Schlothauer, FS-Dahs, 2005, S. 457 (467 mit Fn. 48) und andererseits (mit der h.M. bejahend) Otte, in: Radtke/Hohmann (Fn. 14), § 69 Rn. 7 m.w.N. 27
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rade Gelesene berichten und nicht über (nicht mehr) vorhandene eigene Erinnerungen. Dabei war bereits dem Reichsgericht33 bewusst, dass die Aussage nur noch eine „Reproduktion des Inhalts dieses Protokolls“ darstellt, wenn die Verhörsperson hier zuvor Einsicht nimmt. Auch vor diesem Hintergrund besteht Anlass, § 254 StPO praxistauglicher zu gestalten, ohne dabei in rechtliche Interessen des Angeklagten übermäßig einzugreifen. 3. Zusammenfassung zum Diskussionsstand vor dem AE-Projekt „Unmittelbarkeit“ Angesichts dieser und weiterer Unzuträglichkeiten hat Bohlander34 schon de lege lata für den Fall, dass der Angeklagte der Verlesung zustimmt, eine Ausnahme vom Verbot der §§ 250 Satz 2, 254 StPO für die Verlesung polizeilicher Protokolle vorgeschlagen. Mit Rücksicht auf diesen überzeugenden, dem konsensualen Einfluss der Verfahrensbeteiligten auf die Hauptverhandlung entsprechenden Ansatz hatte ich in einer Untersuchung zur partizipatorischen Struktur des deutschen Strafverfahrensrechts35 einen zwingenden Änderungsbedarf des geltenden Rechts in § 254 StPO vor einem Jahrzehnt noch verneint. Allerdings hatte ich gleichzeitig darauf hingewiesen, dass dann, wenn man die von Bohlander befürwortete Auslegung des § 254 StPO nicht mitträgt, eine Änderung im Beweisrecht der Hauptverhandlung zur Lockerung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in vertretbarem Rahmen „angezeigt“36 ist. Diese Spur kann nunmehr weiter verfolgt und verbreitert werden.
V. Der AE-Reformvorschlag Der im Folgenden erläuterte Änderungsvorschlag für § 254 StPO ist als Teil eines umfassenden Reformvorschlags zu den Vorschriften über die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung (§§ 249 ff. StPO) konzipiert, den der Arbeitskreis Alternativ-Entwurf entwickelt hat.37 33
RGSt 8, 122 (123). Bohlander, NStZ 1998, 396 (397); zustimmend Julius, in: Heidelberger Kommentar, StPO, 5. Aufl. 2012, § 254 Rn. 14. 35 Jahn, ZStW 115 (2003), 815 (836). 36 Jahn (Fn. 35), a.a.O. 37 Dem bekanntlich seit 1963 in wechselnder Zusammensetzung bestehenden Arbeitskreis Alternativ-Entwurf gehören knapp 20 deutsche, schweizerische und österreichische Strafrechtslehrer an, die in regelmäßig drei mehrtägigen Arbeitssitzungen pro Jahr Alternativvorschläge zu den geltenden Vorschriften eines bestimmten Bereichs aus dem Strafrecht oder Strafprozessrecht entwickeln (zahlreiche Entwürfe sind im Volltext über www.alternativent wurf.de/pages/home/ae-entwuerfe.php – zuletzt abgerufen am 15. Februar 2013 – verfügbar). Der im Folgenden näher vorgestellte AE Unmittelbarkeit/Wahrheitsfindung im Strafverfahren soll demnächst mit ausführlicher Begründung publiziert werden. 34
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1. Wortlaut der mit § 254 StPO-AE vorgeschlagenen Änderung Für § 254 StPO-AE wird folgender Wortlaut vorgeschlagen: § 254 StPO-AE. Einführung früherer Äußerungen des Angeklagten (1) 1Frühere Äußerungen des Angeklagten im Verfahren dürfen ohne seine Zustimmung zu Beweiszwecken nicht in die Hauptverhandlung eingeführt werden, es sei denn, dass sie 1. vor einem Richter erfolgt sind, 2. in Anwesenheit eines Verteidigers gemacht oder 3. durch Bild-Ton-Aufzeichnung dokumentiert wurden und der Vernehmung eine Belehrung über die Verwertbarkeit (§§ 136 Abs. 5, 163a Abs. 5 [StPO-AE]) vorausgegangen ist. 2Für die Art und Weise der Einführung gilt § 251 [StPO-AE] entsprechend. (2) In den Fällen des Absatzes 1 sind die Einführung sowie deren Art und Grund auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder des Angeklagten in das Protokoll aufzunehmen. (3) 1Hat der Angeklagte zur Sache ausgesagt, so dürfen ihm zur Würdigung dieser Aussage auch seine zu Beweiszwecken nicht verwertbaren früheren Äußerungen vorgehalten werden. 2Vorhalte sollen nach Möglichkeit in freier Rede und dürfen nicht durch die Vorführung einer Bild-Ton-Aufzeichnung erfolgen. 3Anderen Personen dürfen zu Beweiszwecken nicht verwertbare frühere Äußerungen des Angeklagten in der Hauptverhandlung nicht vorgehalten werden.
2. Grundsätzliche Erwägungen Der hier vorgestellte Entwurf will den aus den obigen Erwägungen (Abschn. II. – IV.) resultierenden praktischen Erfordernissen gerecht werden und zugleich das grundsätzliche Anliegen des AE umsetzen, durch Aufnahme konsensualer Elemente und – damit in Zusammenhang stehend – engere Verknüpfungen zu bereits im Ermittlungsverfahren erfolgten Beweiserhebungen die Hauptverhandlung neu zu organisieren. Dabei sind aber speziell im Normbereich des bisherigen § 254 StPO elementare Verfahrensrechte zu garantieren. Insbesondere darf das Recht des Beschuldigten, sich nicht aktiv selbst belasten zu müssen, aber auch sein Recht auf Verteidigung nicht beschädigt werden. Der Entwurf schlägt deshalb für die Hauptverhandlung gravierende Änderungen vor, um die praktischen Unzuträglichkeiten und systematischen Ungereimtheiten des geltenden Rechts zu beseitigen. Da die Gründe dafür nicht (nur) die allgemeine Problematik der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme betreffen, werden sie hier im Einzelnen erläutert. Dass frühere Äußerungen des Angeklagten, die vor einem Richter erfolgt sind, in die Hauptverhandlung einführbar sein sollen (§ 254 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO-AE), entspricht zwar im Wesentlichen der derzeitigen Rechtslage. Das Gleiche soll aber in Zukunft für solche Äußerungen gelten, die in Anwesenheit eines Verteidigers gemacht (§ 254 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO-AE) oder durch Bild-Ton-Aufzeichnung do-
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kumentiert wurden (§ 254 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO-AE). Damit wird die Gesetzeslage in mehrerlei Hinsicht ins Gegenteil verkehrt. Überdies erfolgt eine Ausweitung des Anwendungsbereichs durch einen Verzicht auf den bisher gebrauchten, schillernden Begriff des Geständnisses. Gleichzeitig soll aber auch den Rechten des Angeklagten hinreichend Rechnung getragen werden, indem künftig sämtliche seiner früheren Äußerungen grundsätzlich einem Beweisverwertungsverbot unterliegen. Damit kann beispielsweise – anders als nach der oben dargestellten, bisher h.M. – eine nichtrichterliche Verhörsperson nicht mehr ohne die Zustimmung des Angeklagten als Zeuge über die Aussage vernommen werden, wenn der damaligen Vernehmung des Angeklagten kein Verteidiger beigewohnt hat. Die Vorschrift des § 254 StPO-AE wird folglich wesensmäßig als Ausdruck des nemo-tenetur-Prinzips rekonstruiert. Da es in der Sache um die Absicherung des mit Verfassungsrang ausgestatteten Schweigerechts des Angeklagten geht, wäre ein bloßes Verlesungsverbot nicht ausreichend.38 Mit der Option für den Angeklagten, der Verwertung gleichwohl zuzustimmen, wird zuletzt auch eine gesetzlich verankerte Möglichkeit konsensualer Einflussnahme auf die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung angestrebt.39 3. Die Grundregel: Unverwertbarkeit bei fehlender Zustimmung des Angeklagten Aus § 254 Abs. 1 Satz 1 StPO-AE soll sich künftig der Grundsatz ergeben, dass Äußerungen des Angeklagten im früheren Verfahren grundsätzlich nicht ohne seine Zustimmung verwertbar sind. Die Ausnahmen von diesem Grundsatz sollen abschließend normiert werden.40 Dies verwirklicht den Leitgedanken, dass der Beschuldigte nicht ohne ausreichende verfahrensrechtliche Schutzvorkehrungen zum 38 Vgl. bereits den Entwurf eines Gesetzes über den Rechtsgang in Strafsachen von 1919 (Nachdruck in Materialien zur Strafrechtsreform Bd. 14 und bei Schubert/Regge, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozessrechts, 1. Abt., Bd. 4 [1999], S. 51 ff.), der für den Fall, dass der Angeklagte in der Hauptverhandlung von seinem Schweigerecht Gebrauch machte, grundsätzlich jede Beweisaufnahme über seine früheren Einlassungen untersagen wollte (§ 236 Abs. 1 E 1919). Ausf. zur Entwicklung der das Unmittelbarkeitsprinzip betreffenden Vorschriften Rieß, in: FS-Maiwald, 2010, S. 661 ff.; dazu Verrel, GA 2012, 532 (533 f.). 39 Grds. dazu Jahn, ZStW 118 (2006), 427 (441 ff.) und ders. Konzeptionen für ein gerechteres Strafverfahren: Konsens und Partizipation, in: Mehr Gerechtigkeit – Aufbruch zu einem besseren Strafverfahren, (Hrsg.) Goldenstein, Loccumer Protokolle 09-2011, S. 117 (120 ff.); zusf. Kritik an meiner Position bei Stuckenberg, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2013, § 257c Rn. 9. Bereits Dencker, StV 1994, 503 (504) befürwortet auf dieser Basis das Unstreitigstellen von Tatsachen durch die Verfahrensbeteiligten auch im Kontext des § 254 StPO, denn „auch im Strafprozeß gilt letztlich, daß der tatsächliche Umfang der Aufklärungspflicht des Gerichts in jedem einzelnen Falle vom Verhalten der ,Parteien‘, i. allg. also der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten, wesentlich mitbestimmt wird. Das wird selten betont, ist aber ganz unbestreitbar.“ Das kann man nur unterstreichen. 40 Siehe dazu sogleich Abschn. V. 4.
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Beweismittel gegen sich selbst gekehrt werden darf. Zudem unterstreicht diese bereichsspezifische Zustimmungslösung den autonomen Einfluss des Angeklagten auf die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung. Sie war auch Motiv u. a. der im Jahre 2009 implementierten Zustimmungsregelung im Zusammenhang strafprozessualer Verständigung (§ 257c Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Abs. 3 Satz 4 StPO). Zugleich soll die Zustimmungslösung u. a. auch nach den Vorstellungen des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer de lege ferenda zukünftig eine zentrale Rolle im Recht der Beweisverwertungsverbote spielen.41 Alle früheren Äußerungen des Angeklagten unterliegen damit im Grundsatz einem Beweisverwertungsverbot. Es kann nur durch eine – und zwar ausdrückliche – Zustimmung des Angeklagten in der Hauptverhandlung wieder beseitigt werden. Die in § 254 Abs. 1 StPO-AE vorgesehenen Einschränkungen der Verwertbarkeit sind auch auf frühere Aussagen des Beschuldigten im Strafverfahren – nicht aber z. B. in sozial- oder zivilrechtlichen Verfahren – als Zeuge anwendbar. Das hieraus resultierende Beweisverwertungsverbot geht zwar im Ergebnis zu Lasten der Vollständigkeit der Entscheidungsgrundlage des Gerichts. Es ist aber mit der Erwägung zu rechtfertigen, dass ein Zeuge grundsätzlich zur Aussage verpflichtet ist und daher – anders als ein Beschuldigter – gerade nicht frei darüber disponieren kann, ob er aussagen will oder nicht. Dementsprechend muss der Angeklagte vor seinen früheren, unter diesem Aussagezwang getätigten Äußerungen geschützt werden. 4. Die drei Ausnahmen a) Nichtrichterliche Vernehmungen bei Anwesenheit eines Verteidigers Gem. § 254 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO-AE sollen künftig jedoch auch ohne Rücksicht auf eine Zustimmung des Angeklagten dessen Äußerungen aus einer polizeilichen oder staatsanwaltschaftlichen Vernehmung zu Beweiszwecken in die Hauptverhandlung eingeführt werden können, wenn bei der Vernehmung ein Verteidiger anwesend war. Dem Verteidiger als Beistand (§ 137 Abs. 1 Satz 1 StPO) kommt dabei die Aufgabe zu, die autonome Entscheidung des Beschuldigten über das „Ob“ und ggf. das „Wie“ einer Einlassung oder sonstigen Äußerung zu fördern.42 Die derzeitige Differenzierung zwischen richterlichen und nichtrichterlichen Protokollen ist bei Anwesenheit eines Verteidigers entbehrlich. Zwar wird teilweise angenommen, dass nichtrichterliche Vernehmungen durch tendenzielles Gedrängtwerden zur Aussage und geringere Gründlichkeit geprägt seien. Im Gegensatz dazu herr-
41
Vgl. Schlothauer/Jahn, RuP 2012, 222 mit Erläuterungen und allen weiteren Nachweisen zu www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmen-deutschland/2012/ april/stellungnahme-der-brak-2012-17.pdf. 42 Siehe hierzu nur Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg (Fn. 11), Vorb. § 137 Rn. 73.
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sche bei richterlichen Vernehmungen eine neutralere Atmosphäre.43 Die Bedenken gegen die Verlesbarkeit von nichtrichterlichen Protokollen greifen jedoch dann nicht mehr, wenn dem Beschuldigten bei der Vernehmung ein Verteidiger zur Seite stand. Der verteidigte Beschuldigte wird sich typischerweise weniger leicht verunsichern und zu einer Aussage drängen lassen. Zudem wird durch die anwaltliche Unterstützung meist eine auf das Wesentliche konzentrierte Einlassung erfolgen. Vernehmungsprotokollen, die in Anwesenheit des Verteidigers entstanden sind, wird in einer späteren Hauptverhandlung schließlich die Vermutung größerer Authentizität kaum abzusprechen sein.44 Zu beachten ist zuletzt noch, dass vom Verteidiger eine Belehrung über die Möglichkeiten der Einführung eines etwaigen Geständnisses in die Hauptverhandlung erwartet wird, so dass der Beschuldigte das Risiko des Beweistransfers abschätzen kann. Um ein hohes Schutzniveau zu erreichen, soll demnach ein bloßes „GelegenheitGeben“ des Verteidigers zur Teilnahme nicht ausreichen. Daher verlangt § 254 Abs. 1 Nr. 2 StPO-AE ausdrücklich die tatsächliche „Anwesenheit“ des Verteidigers. War ein Verteidiger hingegen nicht zugegen, soll – anders als nach der bisher h.M.45 – die Verhörsperson nicht mehr als Zeuge über die Aussage vernommen werden dürfen. Die Verlesung bietet dabei die Gewähr der Konstanz, wohingegen „eine Aussage mit zunehmendem Zeitablauf qualitativ an Wert verliert“46. Der Nachteil der schwereren Überprüfbarkeit der Glaubhaftigkeit der Aussage, da etwa Mimik und Gestik nicht gewürdigt werden können, wird so aufgewogen. b) Richterliche Vernehmungen; Belehrungspflicht An der Möglichkeit der Verlesung von Protokollen aus richterlichen Vernehmungen auch gegen den Willen des Angeklagten soll (selbstverständlich) nichts geändert werden. Die auch bisher ohne Weiteres mögliche Vernehmung des Ermittlungsrichters als Zeugen wird nunmehr ausdrücklich normiert (§ 254 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO-AE). Zusätzlichen Schutz soll der Beschuldigte dadurch erfahren, dass er gem. § 136 Abs. 5 StPO-AE über die Möglichkeit der Einführung seiner Aussage in der Hauptverhandlung qualifiziert zu belehren ist:
43
BVerfG NStZ 2006, 46 (47) m. krit. Anm. Jahn, JuS 2006, 189; Paulus, JuS 1988, 873 (878); Eisenberg (Fn. 10), Rn. 857. I.d.S. etwa schon Schneidewin, JR 1951, 481 (485); im Ganzen zweifelnd Jahn, JuS 2007, 485 (486 f.). 44 Jahn, ZStW 115 (2003), 815 (836). 45 Siehe bereits oben Fn. 2. 46 Eichel, JA 2008, 631 (632).
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§ 136 StPO-AE. Erste Vernehmung (…) (5) Der Beschuldigte ist bei Beginn der ersten Vernehmung auch darüber zu belehren, dass seine Äußerungen zu Beweiszwecken in die Hauptverhandlung eingeführt werden dürfen.
Mit der Auflockerung der Möglichkeit der Einführung früherer Äußerungen muss unter Aspekten der Waffengleichheit als Ausgleich eine Stärkung der Informationsbasis des Beschuldigten einhergehen. Daher ist – unabhängig von den Informationen durch den Verteidiger – eine Belehrung von Amts wegen geboten. Diese qualifizierte Belehrungspflicht muss für nichtrichterliche Vernehmungen hingegen nicht in jedem Fall gelten, da hier eine Protokollverlesung bzw. eine Vernehmung der Verhörsperson für Vernehmungen, bei denen kein Verteidiger anwesend war, gerade nicht bzw. nicht mehr möglich sein soll. c) Bild-Ton-Aufzeichnungen § 254 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO-AE gestattet auch für nichtrichterliche Vernehmungen, bei denen kein Verteidiger anwesend war,47 das Vorspielen einer angefer-
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Die Frage einer Anwesenheitspflicht des Verteidigers bei einer nichtrichterlichen Vernehmung regelt § 254 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO-AE natürlich nicht. Hier gelten die allgemeinen Grundsätze (Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg [Fn. 11], § 137 Rn. 16), die insbesondere durch die Salduz-Entscheidung des EGMR modifiziert wurden. Nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung des EGMR (siehe insbes. Lopata gegen Russland, Urt. v. 13. Juli 2010, Nr. 72250/01, Tz. 130 und Salduz gegen Türkei, NJW 2009, 3707 [3708]; zusf. Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 605 ff. unter weiter führendem Hinweis auf Panovits gegen Zypern, Pishchalnikov gegen Russland und Brusco gegen Frankreich), garantiert Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) dem Beschuldigten das Recht auf die Anwesenheit eines Verteidigers schon bei der ersten polizeilichen Vernehmung. Das Anwesenheitsrecht mit Beginn der ersten polizeilichen Vernehmung könne nur durch – unter Berücksichtigung der besonderen Umstände – zwingende Gründe (z. B. Terrorismusverdacht wie im Falle der kurdischen PKK) eingeschränkt werden. Allerdings dürfe auch eine nach diesen Grundsätzen gerechtfertigte Beschränkung nicht in die Rechte des Verteidigers des weiteren Verfahrens eingreifen. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn belastende Aussagen für eine Verurteilung verwertet würden, die durch eine polizeiliche Vernehmung ohne einen Verteidigerbeistand gewonnen worden sind. Die Verwertung solcher Angaben stellt einen weiteren Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK dar, wenn der Beschuldigte dies nicht effektiv vor Gericht rügen kann (Lopata a.a.O., Tz. 143 f.). Die derzeit noch h.M. im deutschen Schrifttum ist angesichts des Grundsatzes der Waffengleichheit und des Rechts auf ein faires Verfahren nach der Salduz-Entscheidung des EGMR nur noch schwer vertretbar (siehe auch Soyer/Schumann, StV 2012, 495 f.; Matt/Dierlamm/Schmidt, StV 2009, 715; Esser/ Gaede/Tsambikakis, NStZ 2011, 140 [146]: „Im Hinblick auf die polizeiliche Beschuldigtenvernehmung scheint der EGMR die nach nationalem Verfahrensrecht bestehenden Beschuldigtenrechte zu erweitern, […]“). Diese Ansicht wird auch durch den Wortlaut des § 137 Abs. 1 StPO gestützt („in jeder Lage des Verfahrens“), auf welche sich Teile des deutschen Schrifttums(Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg [Fn. 11], § 137 Rn. 73) schon seit langem berufen.
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tigten Bild-Ton-Aufzeichnung zu Beweiszwecken, welche eine hohe Gewähr für Authentizität bietet. Auf eine Zustimmung des Angeklagten zur Bild-Ton-Aufzeichnung kommt es dabei nicht an, da schon der nemo-tenetur-Grundsatz hierdurch kaum berührt wird: Der Beschuldigte wird sich nur dann zur Sache einlassen, wenn er dem Grunde nach auch mit der Aufzeichnung einverstanden ist. Diese ist gerade nicht zwangsweise durchsetzbar. Er hat es also in der Hand, die Entstehung verwertbaren Materials selbst zu verhindern. Die Belehrung darüber, dass die angefertigte Bild-Ton-Aufzeichnung in einer späteren Hauptverhandlung vorgeführt werden darf (§ 163a Abs. 5 i. V. m. § 136 Abs. 5 StPO-AE), trägt den Rechten des Beschuldigten ausreichend Rechnung: § 163a StPO-AE. Vernehmung des Beschuldigten (…) (5) Ist bei der Vernehmung ein Verteidiger anwesend oder wird diese auf Bild-Ton-Träger aufgezeichnet, so gilt § 136 Abs. 5 [StPO-AE] entsprechend.
5. Ausweitung des Anwendungsbereichs: „Äußerungen“ statt „Geständnis“ In der Neufassung soll auf den besonders auslegungsbedürftigen Begriff „Geständnis“ verzichtet werden. Nunmehr soll die Verwertung im Hinblick auf jeglichen Gegenstand der Beweisaufnahme möglich sein. Insoweit wird also der Anwendungsbereich der Vorschrift erweitert und Folgestreitigkeiten aufgrund der Interpretationsbedürftigkeit des Begriffs des „Geständnisses“48 vermieden. Zu nennen ist insbesondere die „Mitbeschuldigtenproblematik“, also die Frage, ob die zum Zwecke der Beweisaufnahme über ein Geständnis verlesenen früheren Erklärungen eines Angeklagten auch gegen einen Mitangeklagten verwertet werden dürfen.49 § 254 StPO-AE ist hier in der Lage, bestehende – berechtigte – Zweifel gegen die Verwertbarkeit von Aussagen, die (auch) Mitangeklagte betreffen, auszuräumen. Ein Konflikt mit dem nemo-tenetur-Grundsatz ist nicht zu besorgen, da dieser Grundsatz nur denjenigen schützen soll, der selbst vernommen wurde. Ein weiterer Vorteil der hier vorgeschlagenen Neuregelung: § 254 Abs. 2 StPO in der derzeitigen Fassung wird infolge der inhaltlichen Ausdehnung der Norm entbehrlich und kann daher entfallen.
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Dazu bereits oben Abschn. II. Vgl. hierzu Meyer-Goßner (Fn. 1), § 254 Rn. 5 m.w.N.
Erforschung der Wahrheit mit Hilfe des formlosen Vorhalts?
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6. Zur Neuregelung der Zulässigkeit des Vorhalts Die Voraussetzungen und Grenzen des Vorhalts sollen wegen der dargestellten, seit je bestehenden Rechtsunsicherheit in einem neuen Absatz 3 ausdrücklich geregelt werden. Danach soll der Vorhalt auch gegen den Willen des Angeklagten – entsprechend der bisherigen Praxis – grundsätzlich ihm gegenüber weiter zulässig sein. Zunächst dürfen dem Angeklagten alle verwertbaren früheren Äußerungen vorgehalten werden. Zusätzlich wird in § 254 Abs. 3 Satz 1 StPO-AE explizit geregelt, dass dies auch für nicht verwertbare frühere Äußerungen des Angeklagten dann gilt, wenn dieser sich zur Sache wenigstens teilweise eingelassen hat. In diesem Fall ist der Angeklagte weniger schutzwürdig, weil er auf sein Schweigerecht (konkludent) verzichtet hat. Schweigt hingegen der Angeklagte vollständig, so soll nicht mittels eines Vorhalts versucht werden können, ihn zu einer Aussage zu drängen. Dies liefe de facto auf eine nicht hinnehmbare Umgehung des nemo-tenetur-Grundsatzes hinaus. Hinsichtlich des Vorhalts von früheren Äußerungen des Angeklagten gegenüber Zeugen und Mitangeklagten, d. h. für sog. „Über-Eck-Konstellationen“, gilt weitestgehend das gleiche. Allerdings stellt § 254 Abs. 3 Satz 3 StPO-AE klar, dass nicht verwertbare frühere Äußerungen des Angeklagten Dritten gegenüber stets nicht vorgehalten werden dürfen, um diese nicht zu beeinflussen. Andernfalls bestünde die Gefahr der Umgehung der Beschränkungen des § 254 Abs. 1 StPO-AE. Um einer etwaigen Suggestivwirkung effektiv vorzubeugen, ist der Vorsitzende gehalten, Vorhalte nach Möglichkeit in freier (paraphrasierender) Rede und nicht durch bloßes Vorlesen des Protokolls durchzuführen (§ 254 Abs. 3 Satz 2 StPO-AE).
VI. Zusammenfassung Die Eckpunkte der im Zuge des „Alternativ-Entwurfs Unmittelbarkeit“ vorgeschlagenen Neuregelung können zusammenfassend mit folgenden Leitbegriffen markiert werden: Angemessener Schutz der Autonomiesphäre des Angeklagten durch die Einführung einer bereichsspezifischen Zustimmungslösung für die Verwertung seiner früheren Äußerungen; sie steht im Zusammenhang der generellen Stärkung des Konsensprinzips für die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung. Gleichzeitig soll der Zugriff des Gerichts auf authentischere und sachnähere Beweismittel aus dem Vorverfahren ermöglicht werden. Ob die angezielte praktische Konkordanz zwischen diesen beiden Zielen mit dem hier unterbreiteten Vorschlag gelungen ist, mag die weitere Diskussion erweisen.
Zur möglichen Beeinträchtigung von Strafverfahren durch Medien Von Urs Kindhäuser
I. Problemstellung Eine wissenschaftliche Antwort auf die Frage, ob strafrechtliche Ermittlungs- und Gerichtsverfahren durch Publikationen in Massenmedien in strafwürdiger Weise beeinträchtigt werden können, erfordert einen theoretischen Bezugsrahmen. Genauer: Es müssen die Kriterien angegeben werden, nach denen zu entscheiden ist, ob Publikationen über Umstände, die für ein Strafverfahren von Belang sind, sich generell auf die Entscheidungsfindung in dem Verfahren positiv oder negativ auswirken können. Solche Kriterien zu benennen ist keineswegs einfach, da, wie zunächst aufzuzeigen sein wird, die Begründung wie auch die Erledigung eines sozialen Konflikts mit Hilfe des Strafrechts kommunikativ erfolgen. Die Straftat ist ein Akt, durch den der Täter die Geltung einer Norm in Frage stellt, und die Strafe ist ein hierauf antwortender Akt, durch den die fortbestehende Geltung der desavouierten Norm erklärt wird.1 Versteht man Straftat und Strafe in diesem Sinne als Rede und Gegenrede über die Geltung einer Norm, so ist evident, dass die publizistische Vermittlung der diesen Dialog betreffenden Fakten einerseits höchst nützlich sein kann, sofern sie der Erreichung der Strafzwecke dient, andererseits aber auch äußerst schädlich, soweit sie den mit der Strafe verfolgten Zweck behindert oder gar vereitelt. In einem zweiten Schritt wird zu untersuchen sein, inwieweit die Verfahrensbeteiligten, denen die Durchsetzung des Strafzwecks obliegt, also Gerichte und Strafverfolgungsbehörden, durch Publikationen in ihrer Tätigkeit behindert werden können. Da eine harmonische Koexistenz von Medien und Strafverfahren nicht denkbar ist, wird sodann beispielhaft aufgezeigt werden, welche rechtlichen Möglichkeiten zur Abwehr spezifischer Beeinträchtigungen zur Verfügung stehen. Schließlich wird auf die Interessen desjenigen einzugehen sein, dessen Belange durch die Durchführung des Strafverfahrens maßgeblich tangiert werden; namentlich der Person, die als Täter in Betracht kommt und die daher im Verfahren den Status des Beschuldigten einnimmt. Zum einen geht es hier um Persönlichkeitsrechte, in die durch Publikationen in einem über das schon durch das Strafverfahren bedingte 1 Vgl. zu einer kommunikativen Deutung des Strafrechts bereits John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, hrsg. von Euchner, 1977, § 8, S. 204.
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Maß an Beeinträchtigung hinaus eingegriffen werden kann. Zum anderen muss das Strafverfahren selbst so ausgestaltet sein, dass es um der Ermittlung der Wahrheit willen auch die zugunsten des Beschuldigten sprechenden Umstände hinreichend berücksichtigt. Dieser verfahrensspezifischen Interessenwahrnehmung wird durch das Prinzip der Unschuldsvermutung Gestalt verliehen. Schon dieser Problemaufriss zeigt, dass bei der Berichterstattung über Strafverfahren eine Vielzahl rechtlich bewerteter Interessen aufeinander stoßen, die nicht nur disparat, sondern sogar gegenläufig sein können.2 Es geht um Rechte auf Information, aber auch auf Anonymität,3 um öffentliche, aber auch private Belange. Diese Rechtsgüter sind durchweg wichtig und rechtspolitisch positiv bewertet, aber sie können nicht alle zugleich rundherum geschützt werden. Betroffen sind die Beschuldigten, ihre Freunde und Familien, die Richter, Staatsanwälte und Zeugen, die Opfer, die Öffentlichkeit, die Justiz als Institution, aber auch die korrekt arbeitende Presse, die durch einen minderwertigen Journalismus in ihrem Ansehen und ihrer Effizienz beschädigt werden kann. Zur sachgerechten Erfassung des Problems gilt es daher, einen Bewertungsmaßstab zu finden, der verfahrensspezifisch ist und der es erlaubt, die rivalisierenden Interessen zueinander ins Verhältnis zu setzen. Dieser Bewertungsmaßstab, so soll aufgezeigt werden, ist die im Lichte positiver Generalprävention interpretierte Justizförmigkeit des Strafverfahrens, die formalisierte Fairness des Prozesses, in dem jeder Beteiligte eine mehr oder weniger bestimmte Rolle für das Gelingen der strafrechtlichen Konfliktbewältigung spielt. Insoweit hat sich der rechtliche Schutz des Strafverfahrens vor Publikationen in den Medien vor allem auf die Sicherung des Verfahrens und der Rollen, welche die beteiligen Personen in dem Verfahren spielen, zu beziehen. Dass es der Presse bisweilen gelingt, durch Eigeninitiative Straftaten überhaupt erst ans Licht zu bringen, wie dies in spektakulärer Weise etwa im WatergateFall in den USA oder in der Parteispenden-Affäre in Deutschland geschehen ist, zeigt, wie wichtig eine freie Presse für ein freiheitliches Staatswesen ist, sei aber gleichwohl im Folgenden ausgeblendet.
II. Die kommunikative Dimension von Straftat und Strafe 1. Mit der Bezeichnung „Strafrecht“ wird eine Institution benannt, die mit Hilfe eines Systems von Normen und Zurechnungsregeln schwere soziale Konflikte formal erfasst und verarbeitet. In der Dimension des Rechts wird das Zusammenleben der Menschen durch Normen geregelt, die festlegen, unter welchen Bedingungen die 2
Zu den widerstreitenden Interessenlagen Zabel, GA 2011, 347 (349). Wobei das Recht auf Anonymität als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Sinne von Art. 1, 2 I GG zu verstehen ist; ausf. zum Recht auf „soziale Identität“ Wolter, in: Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch (SK-StPO), Stand Jun. 1994, Vor § 151 Rn. 132 ff. 3
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Freiheit eines jeden Einzelnen mit der Freiheit der anderen möglichst optimal in Einklang gebracht werden kann. Hierbei kommt dem Strafrecht die Aufgabe zu, die Einhaltung solcher Normen zu sichern, die für das freiheitliche Zusammenleben von besonderer Bedeutung sind.4 Das Strafrecht muss dazu beitragen, dass der rechtstreue Bürger sein Vertrauen in die faktische Geltung elementarer Norm nicht verliert, dass er also darauf vertrauen kann, dass die Norm von den anderen Bürgern gemeinhin befolgt wird. Bricht jemand in zurechenbarer Weise eine elementare Norm, so erklärt er, dass diese Norm für ihn nicht gilt. Und das Strafrecht muss nun diese Desavouierung der Norm dergestalt beantworten, dass es die Erklärung des Täters seinerseits für unmaßgeblich erklärt. Es belastet den Täter qua Strafe symbolisch mit den Kosten für diesen Konflikt. Es erklärt, dass nicht der rechtstreue Bürger einen Fehler macht, wenn er die Norm befolgt und auf deren Geltung vertraut, sondern dass der Fehler beim Täter liegt. Nicht der rechtstreue Bürger muss umlernen, sondern der Täter. 2. Diese Interpretation des Strafzwecks wird positive Generalprävention oder Integrationsprävention genannt.5 Straftat und Strafe sind in diesem Verständnis kommunikative Akte, deren Adressat der rechtstreue Bürger ist. Dass Strafe daneben auch andere Funktionen erfüllen kann, wie die Abschreckung oder Spezialprävention, wird dadurch nicht in Abrede gestellt. Allerdings kommt der positiven Generalprävention in dem hiesigen Kontext eine essenzielle Funktion zu.6 Denn die formale Verarbeitung des Konflikts mit Hilfe der Strafe ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt bedeutsam, dass der Normbruch nicht hingenommen wird, sondern auch und gerade unter dem Aspekt, wie auf den Normbruch geantwortet wird. Die Verarbeitung des Konflikts erfolgt nicht im Wege blinder Rache oder eines unkontrollierten geheimen Vorgehens,7 sondern in rechtlich beispielhafter Weise, in einem formalisierten, an den Werten und Prinzipien des Rechts ausgerichteten Verfahren; ein „dem fair trial verpflichtetes soziales System zur Klärung des Tatverdachts“8. Nicht nur die strafende Reaktion, sondern auch und gerade die Form der Erfassung und Verarbeitung des Konflikts hat eine erzieherische Aufgabe.9 Kurz: Auch das Ermittlungsver-
4 Näher Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2011, § 1 Rn. 1 ff m.w.N.; vgl. ferner zu den Aufgaben und Grenzen des Strafrechts Schünemann, Herzberg-FS, 2008, 39 ff. 5 Vgl. hierzu nur Hassemer/Neumann, in: Nomos Kommentar zum StGB (NK-StGB), 3. Aufl. 2010, Vor § 1 Rn. 288 ff.; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 1/4 ff. m.w.N. 6 Hassemer, StV 2005, 167. 7 Namentlich in Form eines Inquisitionsprozesses, der der öffentlichen Kontrolle vollständig entzogen ist; hierzu Jung, H. Kaufmann-GS, 1986, 891 (893 ff.); Velten, in: SK-StPO (Fn. 3), Stand Dez. 2007, Vor § 169 GVG Rn. 1 ff.; Wickern, in: Löwe-Rosenberg, StPO (L/R), 26. Aufl. 2010, Vor § 169 GVG Rn. 2. 8 Wolter, GA 1985, 49 (53). 9 Jescheck, ZStW (1959) 71, 1 (6); vgl. Deiters, Legalitätsprinzip und Normgeltung, 2006, 78 f.; krit. Riepl, Informationelle Selbstbestimmung im Strafverfahren, 1998, S. 50.
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fahren, die Gerichtsverhandlung und der Strafvollzug dienen der generalpräventiven Einübung in Rechtstreue. Seine erzieherischen Aufgaben kann das Strafverfahren nur durch Kommunikation wahrnehmen.10 Das Strafverfahren ist grundsätzlich auf seine Darstellung in den Medien angewiesen, wobei die Medien in dreierlei Hinsicht nützlich sein können. Zunächst können sie die das Strafverfahren betreffenden Vorgänge öffentlich machen und so Anteilnahme am Konflikt und seiner Verarbeitung ermöglichen und – zweitens – erläutern, was das spezifisch Rechtliche an der Konfliktbewältigung ist.11 Hierdurch zwingen die Medien die Strafverfolgungsbehörden, in korrekter Weise vorzugehen und ihrer Vorbildfunktion gerecht zu werden. Und schließlich ermöglicht die Kommunikation über ein Verfahren die allgemeine kritische Reflexion darüber, ob es überhaupt richtig und gerecht ist, ein Verfahren in dieser Weise durchzuführen.12 Eine Gesellschaft kann sich so der sie konstituierenden Werte und Prinzipien bewusst werden und Fehlentwicklungen bemerken und korrigieren. Die publizistische Beobachtung von Strafverfahren kann in einem demokratisch verfassten Rechtsstaat gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Mit gutem Grund gehört die Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen im deutschen Recht zu den elementaren Verfahrensprinzipien,13 die nur im Falle der Erforderlichkeit eines besonderen Schutzes von Verfahrensbeteiligten eingeschränkt werden darf (§§ 169 ff. GVG). Negative Auswüchse der Berichterstattung dürfen daher nie dazu führen, am Prinzip der Öffentlichkeit zu rütteln. Öffentlichkeit ist, soll sie Breitenwirkung entfalten, von der Publikumsöffentlichkeit zu einer „Medienöffentlichkeit“14 hin zu erweitern. Zwar besteht im deutschen Strafverfahren das Verbot von Ton- und Filmaufnahmen während der Hauptverhandlung (§ 169 S. 2 GVG);15 die Verfahrensbeteiligten sollen nicht einem Medienspektakel ausgesetzt sein. Aber die durch Me-
10 Vgl. Kühne, Strafprozessrecht, 8. Aufl. 2010, Rn. 696; Velten, in: SK-StPO (Fn. 3), Stand Dez. 2007, Vor § 169 GVG Rn. 18. 11 Vgl. Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. 2012, § 169 GVG Rn. 1; insoweit eher einschränkend BVerfGE 103, 44 (64): „Prozesse finden in der, aber nicht für die Öffentlichkeit statt.“ 12 Velten, in: SK-StPO (Fn. 3), Stand Dez. 2007, Vor § 169 GVG Rn. 19; vgl. auch Kühne, StPO, (Fn. 10), Rn. 696. Neben dem „Kachelmann-Prozess“ (zutreffende Kritik bei Jung, JZ 2012, 303 ff.) dürfte in der neueren Rspr. hier insbesondere das „Beschneidungsurteil“ des LG Köln (NJW 2012, 2128 f.) hervorzuheben sein, das zu einer intensiven öffentlichen Diskussion über die Strafwürdigkeit der Zirkumzision gesorgt hat. 13 S. nur BVerfGE 103, 44 (63); BGHSt 1, 335 (337); 2, 56 (57); 9, 280 (280) – „Die Öffentlichkeit des Strafverfahrens gehört zu den grundlegenden Einrichtungen des Rechtsstaats.“ Vgl. auch Velten, in: SK-StPO (Fn. 3), Stand Dez. 2007, Vor § 169 GVG Rn. 8 ff. 14 Hierzu Scherer, Gerichtsöffentlichkeit als Medienöffentlichkeit, 1979; Neuling, Inquisition durch Information – Medienöffentliche Strafrechtspflege im nichtöffentlichen Ermittlungsverfahren, 2004, S. 95 ff. 15 Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit BVerfGE 119, 309 m. Anm. Freuding, ZRP 2010, 159 ff.; BVerfG DVBl. 2007, 496 m. Anm. Ernst, JR 2007, 392 ff. und Eisenberg, StraFo 2007, 286 ff.; DVBl 2009, 120 ff. m. Bespr. Schlüter, AfP 2009, 557.
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dien vermittelte Information über das Verfahren ist gleichwohl der wichtigste Transmissionsriemen zwischen Bevölkerung und Justiz.16
III. Behinderung der Strafverfolgungsbehörden 1. Weiterhin stellt sich die Frage, inwieweit Publikationen in Massenmedien geeignet sind, das Strafverfahren schädigend zu beeinflussen. Insoweit muss zunächst zwischen zwei verschiedenen Schutzbereichen differenziert werden: Publikationen können zum einen die am Verfahren beteiligten Personen, namentlich Staatsanwälte, polizeiliche Ermittlungsbeamte, Berufsrichter und Schöffen durch Einschüchterung und Pressionen negativ beeinflussen. Zum anderen können sie auch in den korrekten Ablauf des Verfahrens selbst eingreifen. 2. Was zunächst die Beeinflussung von Verfahrensbeteiligten anbelangt, so ist zu sehen, dass bereits die allgemeinen Strafvorschriften einen wirksamen Schutz gewährleisten. Zu nennen sind nur die strafgesetzlichen Verbote der Nötigung (§ 240 StGB), der Beleidigung (§§ 185 ff. StGB) und des Geheimnisverrats (§ 353b StGB).17 Vor mehr als zwei Jahrzehnten wurde zudem in einem Regierungsentwurf erwogen, sog. Vorverurteilungen unter Strafe zu stellen. Darunter wurden Verhaltensweisen verstanden, die zur Folge haben können, dass „richterliche oder staatsanwaltschaftliche Entscheidungen nicht unbefangen, objektiv und nur aufgrund der jeweils vorgesehenen Entscheidungsgrundlage ergehen.“18 Vorläufer dieser Überlegungen war ein Gesetzesentwurf von 1950, der unter dem Titel „Störung der Strafrechtspflege“ u. a. denjenigen mit Strafe bedrohte, der „vor der Entscheidung des ersten Rechtszuges das noch ausstehende Ergebnis eines gerichtlichen Verfahrens öffentlich in einer Weise erörtert, die geeignet ist, die Unbefangenheit der Mitglieder des Gerichts, der Zeugen oder der Sachverständigen oder sonst die Findung der Wahrheit oder einer gerechten Entscheidung ernsthaft zu gefährden“.19 Der deutsche 16
Hassemer, StV 2005, 167; in diesem Sinne bereits Jescheck, ZStW (1959) 71, 1 (6 f.). Weitergehender Überblick über die strafrechtlichen Grenzen der journalistischen Recherche bei Rose, Grenzen der journalistischen Recherche im Strafrecht und Strafverfahrensrecht, 2001, S. 50 ff. 18 Bericht der BReg aufgrund eines Beschlusses des Dt. Bundestags vom 24. 05. 1984, BTDrs. 10/4608, 5. 19 Zitiert in Bericht der BReg, BT-Drs. 10/4608, 14; vgl. Jescheck, ZStW (1959) 71, 1 (6 f.). Ähnlich formuliert war ein weiterer Entwurf 1962, zitiert in Bericht der BReg, BTDrs. 10/4608, 13. Siehe auch § 23 öMedienG: „Wer in einem Medium während eines Hauptverfahrens nach Rechtswirksamkeit der Anklageschrift, im Verfahren vor dem Einzelrichter des Landesgerichts oder im bezirksgerichtlichen Verfahren nach Anordnung der Hauptverhandlung vor dem Urteil erster Instanz den vermutlichen Ausgang des Strafverfahrens oder den Wert eines Beweismittels in einer Weise erörtert, die geeignet ist, den Ausgang des Strafverfahrens zu beeinflussen, ist vom Gericht mit Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen zu bestrafen.“ 17
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Gesetzgeber wollte damit an Vorbilder anknüpfen, die im anglo-amerikanischen Recht unter den Bezeichnungen „contempt of court“ und „contempt by publication“20 eine bedeutende Rolle spielen. Aus guten Gründen wurde dieses Vorhaben jedoch aufgegeben und auch von einer breiten juristischen Öffentlichkeit in Deutschland abgelehnt.21 Kritische Information ist wesentlicher Teil der Pressefreiheit, zu der es auch gehört, durch eigene rechtmäßige Recherchen Hintergründe und Zusammenhänge des jeweiligen sozialen Konflikts zu beleuchten. Außerdem ist nicht zu erkennen, wo genau die für eine Strafvorschrift dringend erforderliche klare Grenze zwischen neutraler Berichterstattung und unzulässiger Beeinflussung verlaufen soll. Dem Ansatzpunkt, einer vorprozessualen Medienberichterstattung durch die Anwendung der Regeln zum Ausschluss und zur Ablehnung von (Laien-)Richtern wegen Befangenheit (§§ 22 ff. StPO) zu begegnen, hat der Bundesgerichtshof bereits im Jahr 1968 eine Absage erteilt und zutreffend herausgestellt: „Die Tatsache, dass ein Laienrichter das Ergebnis vorwegnehmender Presseveröffentlichungen über den Verfahrensgegenstand gelesen hat, kann für sich allein kein Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit rechtfertigen“.22 Denn es sei davon auszugehen, „dass auch der Laienrichter seine Pflicht, solchen Einwirkungen keinen Einfluss zu gewähren und seine Überzeugungen ausschließlich aufgrund der Hauptverhandlung zu gewinnen, kennt und beachtet.“23 Diese Einschätzung bei ehrenamtlichen Richtern muss erst recht für all jene Verfahrensbeteiligten gelten, die hauptberuflich mit der Rechtsfindung betraut sind und demnach eine entsprechende Ausbildung genossen haben, die die erforderliche „Distanz“ zum außerverfahrensrechtlichen Geschehen vermitteln sollte. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass Berufsrichter24 und Staatsanwälte die Möglichkeit haben, ihre von der veröffentlichten Meinung abweichende Sicht der Dinge im Plädoyer und in der Urteilsbegründung ausführlich und auf Beweismittel gestützt darzulegen. Eine Ablehnung wegen „medialer Befangenheit“ kommt damit ausschließlich dann in Betracht, wenn der Amtsträger selbst (aktiv) vorverurteilende Äußerungen getätigt hat,25 und muss ausscheiden, soweit dieser nur (passiv)
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Hierzu Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens. Die Grenzen der Berichterstattung über schwebende Strafverfahren im englischen, amerikanischen und deutschen Recht, 1980; Stürner, JZ 1978, 161 ff. 21 Vgl. nur zum entsprechenden ablehnenden Beschluss IV, 11a der Abt. Medienrecht des Juristentags 1990, NJW 1990, 2992; ferner Hassemer, NJW 1985, 1921 ff.; Roxin, NStZ 1991, 153 (154 f.). 22 BGHSt 22, 289 (294). 23 BGHSt 22, 289 (294). 24 Ausf. zu den Unterschieden zwischen Schöffen und Berufsrichtern Börner, ZStW (122) 2010, 157 ff. 25 BGHSt 4, 264 (268 ff.).
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mit dem Mediengeschehen konfrontiert worden ist.26 Auf einen spezifischen strafrechtlichen Schutz des Strafverfahrens vor psychologischer Beeinflussung der Prozessbeteiligten kann mithin völlig verzichtet werden. Hier würde nur die Gefahr heraufbeschworen, die Pressefreiheit durch unklare Gesetze und unklare Kausalitätskonstruktionen unzulässig einzuschränken. Ohnehin ist zu bedenken, dass es völlig illusorisch ist, die Rechtsanwendung „keimfrei zu halten, sie vor Verschmutzungen durch außerjuristisches Alltagsleben zu bewahren“.27 Jeder Staatsanwalt, jeder Richter geht notwendig an die Entscheidungsfindung mit einem Vor-Verständnis heran, das aus vielerlei alltäglichen und fachlichen Quellen gespeist wird – und einer der wesentlichen Zuflüsse in das Weltbild der konkreten Rechtsanwender ist die durch Medien konstituierte öffentliche Meinung. Hierbei handelt es sich nicht nur um einen unerwünschten und unvermeidlichen Reflex, der aus einer nahezu unausweichlichen privaten Anteilnahme der Verfahrensbeteiligten am medialen Leben folgt; vielmehr stellt dies die erwünschte Folge dessen dar, dass in einer demokratischen Gesellschaft Rechtsprechung nicht durch autonome isolierte Spruchkörper erfolgt, sondern aus der Mitte der Gesellschaft heraus.28 Es wäre ferner naiv anzunehmen, die Einflussnahme der Medien auf die Rechtsanwendung setze erst bei der Berichterstattung über das konkrete Strafverfahren ein. 3. Mit der Ablehnung eines psychologischen Schutzes ist noch nichts über die Erforderlichkeit einer Garantie der normativen Struktur des Strafverfahrens gesagt. Bedarf also die Justizförmigkeit des Verfahrens einer strafrechtlichen Absicherung? Auch die Ablehnung von Gerichtspersonen wegen Befangenheit (§ 22 StPO) verlangt keinen Nachweis tatsächlicher Voreingenommenheit; vielmehr sollen hier alleine Situationen vermieden werden, in der von einem Richter aufgrund seiner äußeren Stellung und seines äußeren Verhaltens keine hinreichend unbefangene Entscheidung erwartet werden kann.29 Es geht also darum, auch nur den Anschein zu vermeiden, ein Verfahren könne durch unsachgemäße Erwägungen beeinflusst werden und sei hinsichtlich des zu erzielenden Ergebnisses nicht offen.30 Das Beispiel zeigt, dass Regelungen, welche die Stellung eines Verfahrensbeteiligten betreffen, stets auch und vor allem der institutionellen Ausgestaltung des Verfahrens selbst dienen, das durch die Handlungen der einzelnen Verfahrensbeteiligten überhaupt erst konstituiert wird. Da das Kernstück des Strafverfahrens, die Hauptver26
Vgl. Danziger, Die Medialisierung des Strafprozesses, 2009, S. 406 f; Schulz, Die rechtlichen Auswirkungen von Medienberichterstattung auf Strafverfahren, 2002, S. 67 f.; Weiler, StraFo 2003, 186 (189); Wohlers, StV 2005, 186 (190 f.). 27 Hassemer NJW 1985, 1921 (1922); vgl. zutreffend auch Danziger, Medialisierung, (Fn. 26), 406 f. 28 Vgl. auch Roxin, NStZ 1991, 153 (155); Wassermann, DRiZ 1966, 9 ff. 29 Alexander, in: Radtke/Hohmann, StPO (R/H), 2010, § 22 Rn. 12; Kindhäuser, Strafprozessrecht, 2. Aufl. 2010, § 13 Rn. 15; Rudolphi, in: SK-StPO, Stand Mai 1990, Vor § 22 Rn. 5. 30 BGHSt 9, 193 (194 f.); 14, 219 (221 f.); 31, 358 (359).
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handlung, ein mündliches und unmittelbares Geschehen ist, ist die mögliche Einschüchterung oder die mögliche Befangenheit eines Verfahrensbeteiligten nicht nur dessen persönliches Problem, sondern auch ein Problem des Verfahrens insgesamt, in dem dieser Beteiligte agiert. a) Was bedeutet Justizförmigkeit? In erster Linie geht es um die Sicherstellung eines fairen Verfahrens,31 was wiederum primär heißt: Die Institution, die über Schuld und Unschuld zu urteilen hat, ist allein das Gericht. Die Staatsanwaltschaft und ihre polizeilichen Ermittlungsbeamten haben die Ergebnisse ihrer Untersuchungen dem Gericht vorzulegen und die Richter haben diese Ergebnisse in ihrer Zuständigkeit zu würdigen. Allein die Qualität der Beweise hat den Ausschlag dafür zu geben, ob ein Prozess stattfindet und ob ein Freispruch, eine Verurteilung oder eine Einstellung zu erfolgen hat. Die Würdigung der Qualität der Beweise hat niemand sonst zu treffen als das Organ, das für die prozessrelevante Entscheidung zuständig ist. Daher können Staatsanwaltschaft und Polizei der Öffentlichkeit Tatsachen über ein Verbrechen mitteilen, sofern die Ermittlungen hierdurch nicht beeinträchtigt werden. Ferner spricht nichts dagegen, dass die Staatsanwaltschaft grundsätzlich befugt ist, über Prozesshandlungen zu informieren, etwa über Verhaftungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen, Geständnisse oder das Einreichen der Anklageschrift bei Gericht.32 Aber die eigenen Hypothesen und Wertungen der Ermittlungsbehörden über schuldrelevante Aspekte des Geschehens gehören nicht an die Öffentlichkeit.33 Gehen Informationen an die Medien über den nackten Sachstand hinaus oder werden sie zu einem Bild zusammengefasst, das Schlussfolgerungen über die Schuld oder Unschuld eines bestimmten Täters erlaubt, so wird das genuine Forum des Prozesses verlassen und die justizförmige Verarbeitung des sozialen Konflikts beeinträchtigt.34 Nur einem Gericht obliegt es, den Normbruch durch abweichendes Verhalten in einem formalisierten Verfahren nach Maßstäben zu verarbeiten, in denen die Rechte 31 Vertiefend Kühne, in L/R, 26. Aufl. 2006, Einl. Abschn. H, Rn. 19 ff; vgl. Gmel, in: Karlsruher Kommentar, StPO (KK), 6. Aufl. 2008, Vor § 226. 32 Vgl. insoweit insbesondere Nr. 23 und Nr. 4a Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV); hierzu: Schulz, Auswirkungen, (Fn. 26), 59 f.; krit. Dalbkermeyer, Der Schutz des Beschuldigten vor identifizierenden und tendenziösen Pressemitteilungen der Ermittlungsbehörden, 1994, S. 32 ff.; Neuling, Inquisition, (Fn. 14) S. 155 f.; Weiler, StraFo 2003, 186 (187); vgl. insb. auch Paeffgen, in: SK-StPO, 4. Aufl.2011, Art. 6 EMRK, Rn. 194 m.w.N., der zutreffend darauf hinweist, dass Aussagen der Strafverfolgungsbehörden „immer unter dem Vorbehalt des Vorläufigen“ stehen und Grundmaxime einer derartigen Öffentlichkeitsarbeit mithin zwingend „das Gebot der größtmöglichen Schonung“ sei. 33 Vgl. OLG Düsseldorf NJW 2005, 1791 ff.; Eisenberg, StraFo 2006, 15 (19); s. auch Trüg, NJW 2011, 1040 (1042), der auf den strafprozessualen Verdachtsgrad als Differenzierungskriterium abstellt. 34 Vgl. die umfangreiche Einzelfallaufstellung zur Rolle der staatsanwaltlichen Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren bei Neuling, Inquisition, (Fn. 14), S. 169 ff.; ferner Lehr, NStZ 2009, 409 (410).
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der Verfahrensbeteiligten, der Opfer, aber auch der Allgemeinheit möglichst optimal austariert sind. Diese Zuständigkeit für formalisierte Konfliktbewältigung ist Teil des staatlichen Gewaltmonopols. Der Staatsanwaltschaft wird man lediglich die Möglichkeit einräumen müssen, auf grob entstellende und verzerrende Medienberichte über ihre Ermittlungshypothesen und Beweiswürdigungen hin eine klärende Gegendarstellung abzugeben. Hierdurch wird jedoch das ordnungsgemäße Verfahren nicht behindert, sondern ceteris paribus gefördert. Der Rahmen der Justizförmigkeit wird durch die Prinzipien und Regeln des Prozessrechts abgesteckt. Ein Beispiel: Das Prinzip der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme ist für den Strafprozess von elementarer Bedeutung.35 Gem. § 250 StPO darf danach z. B. grundsätzlich kein Vernehmungsprotokoll eines Zeugen in der Hauptverhandlung verlesen werden, wenn es möglich ist, den Zeugen persönlich zu vernehmen (sog. materielle Unmittelbarkeit).36 Denn der persönliche Eindruck, den das Gericht von dem Zeugen gewinnen kann, kann bedeutsam für die Würdigung der Wahrheit der Aussage und der Vertrauenswürdigkeit des Zeugen sein. Dann muss es aber auch verboten sein, dass die Ermittlungsbehörden oder das Gericht ein solches Vernehmungsprotokoll der Presse zukommen lassen. Gleiches gilt für polizeiliche Ermittlungsberichte, Urkunden und Anklageschriften. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs37 ist ein Urteil aufzuheben, wenn in der vorangegangenen Verhandlung ein Zeuge zu Wort gekommen ist, bevor dem Angeklagten die Möglichkeit eingeräumt worden ist, zu dem ihn betreffenden Tatvorwurf Stellung zu nehmen (vgl. § 243 V StPO). Denn der Angeklagte soll dem Gericht – und hier wiederum vor allem den Laienrichtern – zunächst seine Sicht der Dinge darlegen dürfen, bevor das Meinungsbild durch Zeugen beeinflusst wird. Diese sinnvolle und faire Regelung wird aber konterkariert, wenn der Laienrichter schon zuvor in der Zeitung lesen konnte, wie sich die Sachlage laut Vernehmung eines Zeugen darstellt. b) Das StGB kennt lediglich eine Vorschrift, die Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen (mit milder Strafe) pönalisiert (§ 353d StGB38). Erfasst wird von diesem Delikt neben verbotenen Mitteilungen aus nichtöffentlichen Verhandlungen und Verstößen gegen eine besondere Schweigepflicht nur die öffentliche Mitteilung des wörtlichen Inhalts wesentlicher Teile der Anklageschrift oder amtlicher Schriftstücke vor deren Erörterung in der Hauptverhandlung. Die Beschränkung auf die Wiedergabe im Wortlaut gerade amtlicher Schriftstücke ist insoweit nicht unberechtigt, 35
Näher zu diesem Grundsatz: Weigend, Eisenberg-FS, 2009, 657 ff. Vgl. z. B. OLG Düsseldorf NStZ-RR 2008, 180; Kindhäuser, StPO, (Fn. 29), § 21 Rn. 113; Meyer-Goßner, (Fn. 11), § 250 Rn. 2; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 27. Aufl. 2012, § 46 Rn. 4. 37 BGH StV 1990, 245 f. 38 Ausf. zur Entstehungsgeschichte der Norm: Voßiek, Strafbare Veröffentlichung amtlicher Schriftstücke (§ 353d Nr. 3), 2002, S. 22 ff. 36
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als solchen Schriftstücken ein besonderes Gewicht zukommt und sie deshalb besonders geeignet sind, Zeugen und Laienrichter im Vorfeld der Verhandlung zu beeinflussen. Daneben dürfte es aber bei dieser Vorschrift darum gehen, in der Öffentlichkeit den verheerenden Eindruck zu vermeiden, als sitze ein Journalist neben dem Staatsanwalt und schreibe dessen Verfügung unvermittelt ab.39 Eine zu enge Kooperation zwischen Medien und Justizbehörden könnte nachhaltig Zweifel an deren Unabhängigkeit, Selbständigkeit und Unvoreingenommenheit aufkommen lassen.40 Die Selbstbeschränkung des Gesetzgebers auf diese eine und in der Praxis kaum bedeutsame41 Strafvorschrift ist begrüßenswert. Denn es scheint evident zu sein, dass die Wurzel des Übels nicht nur bei der Presse und den anderen Massenmedien liegt, sondern auch und gerade in der bisweilen fragwürdigen Informationspolitik der Ermittlungsbehörden und der Gerichte.42 Wenn von diesen amtlichen Stellen keine Informationen nach außen dringen, welche die Justizförmigkeit des Verfahrens beeinträchtigen können, dann dürften auch die Gefahren für eine ordnungsgemäße Wahrheitsfindung deutlich reduziert sein. Um dies sicherzustellen, bieten sich interne Verwaltungsvorschriften und Verfahrensüberprüfungen im Instanzenzug der Gerichte an, jedoch bedarf es keiner Strafvorschriften. c) Diese zurückhaltende Sicht der Dinge mag Widerspruch provozieren, und zwar vor allem dann, wenn man an die journalistische Praxis denkt, selbst mit Hilfe von mehr oder minder unlauteren Mitteln Aufklärung zu betreiben, also etwa potenzielle Zeugen mit Geld zu Aussagen zu bewegen.43 Insoweit ist zweierlei zu beachten. Zum einen: Unlautere Methoden können ausnahmsweise zu Verfahrenshindernissen führen, jedoch nur dann, wenn schwerwiegende und irreparable Rechtsverletzungen in Rede stehen und sie dem Staat, der die Strafverfolgung betreibt, auch zurechenbar sind.44 Keinesfalls darf es dem Angeklagten bzw. seinem Verteidiger oder Dritten, wie etwa Journalisten oder Privatdetektiven, möglich sein, durch eigenes illegales Verhalten auf die Durchführung eines Strafverfahrens derart Einfluss zu nehmen, dass dieses faktisch zu ihrer Disposition 39
Hassemer, NJW 1985, 1921 (1923). In dieser Richtung Hassemer, NJW 1985, 1921 (1923). 41 Hierzu Kuhlen, in NK-StGB, (Fn. 5), § 353d Rn. 2. 42 Anschaulich hierzu v. Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien: Die Frage der Rechtmäßigkeit identifizierender Kriminalberichte, 1979, S. 17 ff. und passim; ferner Lehr, NStZ 2009, 409 (410); Neuling, Inquisition, (Fn. 14), S. 169 ff. 43 Vgl. Wagner, Strafprozessführung über Medien, 1987, S. 67 ff.; zur strafrechtlichen Relevanz eines solchen Vorgehens Rose, Grenzen, (Fn. 17), S. 51 ff. Weitergehend zur Praxis sog. Verdachtsermittlungen Zabel, GA 2011, 347 (352 ff.). 44 Vgl. i. E. ebenso Gatzweiler, StraFo 1995, 64 (66 f.); Hillenkamp, NJW 1989, 2841 (2845); Schulz, Auswirkungen, (Fn. 26), S. 111 ff.; Weiler, GA 1994, 561 (584 ff.); ders., ZRP 1995, 130 (136); ders., StraFo 2003, 186 (190 f.); Wohlers, StV 2005, 186 (190); a.A. BGH NJW 1995, 340 (341); Meyer-Goßner, (Fn. 11), Einl. Rn. 148b; Paeffgen, in: SK-StPO, (Fn. 32), Anh. § 206a Rn. 33; Stuckenberg, in: L/R, 26. Aufl. 2008, § 206a Rn. 89 jeweils m.w.N. 40
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gestellt wird.45 Zum anderen gilt auch hier, dass Ermittlungsbehörden und Gerichte immer noch genügend Mittel in der Hand haben, um einen Strafprozess trotz eines medialen „Sperrfeuers“ ordnungsgemäß durchzuführen. Gegen unwahre Zeugenaussagen und fragwürdige Sachverständigengutachten bieten die Strafvorschriften zum Schutz der Rechtspflege, namentlich die Delikte der Falschaussage, der Strafvereitelung oder der Begünstigung, hinreichend Sicherheit. d) Im Übrigen gilt, dass legale Recherchen durch die Presse selbst oder auf Initiative der Verteidigung immer zulässig sind. Denn die Befassung mit Kriminalität liegt im öffentlichen Interesse und ist genuine Aufgabe von Publikationsorganen. Und solche Recherchen sind mit dem Strafzweck der positiven Generalprävention allemal kompatibel.
IV. Unschuldsvermutung und Persönlichkeitsrechte 1. Damit stellt sich schließlich die Frage, wie der Schutz des Beschuldigten hinreichend verwirklicht werden kann. Zu seinen Gunsten streitet im Strafverfahren in erster Linie die sog. Unschuldsvermutung. Sie folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III, 28 I 1 GG) und hat mithin Verfassungsrang.46 In Art. 6 II EMRK ist sie einfachgesetzlich normiert47 und wird darin mit den Worten umschrieben: „Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig“. Die Unschuldsvermutung setzt freilich nicht erst mit der Anklage ein, sondern bereits mit dem Beginn der Strafverfolgung.48 Historisch gesehen hat das heutige Verständnis der Unschuldsvermutung vor allem zwei Quellen.49 Zum einen beruht es in der kontinentaleuropäischen Geistesgeschichte auf dem Gedanken der Aufklärung, dass alle Menschen in einem normativen Sinne gleich seien, dass also alle Bürger vor dem Gesetz mit gleichen Rechtspositionen gegenüber der Obrigkeit ausgestattet seien.50 Dies bedeutet auch, dass jeder Bürger zunächst in gleicher Weise als unbescholten zu gelten hat. Erst wenn in einem formalisierten Verfahren durch Urteil festgestellt worden ist, dass ein Bür45 Vgl. insoweit insb. Wohlers, StV 2005, 186 (190), der i. E. zutreffend darauf hinweist, dass der Gefahr einer Instrumentalisierung dieses Rechtsinstituts durch die Bestimmung seiner notwendigen Voraussetzungen effizient begegnet werden kann. 46 BVerfGE 35, 311 (30); 82, 106 (104); Pfeiffer/Hannich, in: KK, (Fn. 31). Einl. Rn. 32a; Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, 1998, S. 46 ff. 47 Ausf. Esser, in L/R, 26. Aufl. 2012, Einf. IPBPR Rn. 84 ff. 48 Esser, in L/R, (Fn. 44), Art. 6 EMRK, Rn. 24; vgl. Neuling, Inquisition, (Fn. 14), S. 163 ff. 49 Eingehend zum Folgenden Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, 1997, S. 46 ff. und passim; s. ferner den umfassenden historischen Überblick zum Verständnis der Unschuldsvermutung in den kontinental-europäischen Rechtsordnungen bei Kösters, Die Rechtsvermutung der Unschuld – Historische und dogmatische Grundlagen, 1979. 50 Hierzu Hruschka, ZStW 112 (2000), 285 ff.
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ger schuldhaft ein Delikt verwirklicht hat, ist die normative Gleichheit bereichsweise beseitigt und der Staat kann gegen einen Bürger in strafender Weise vorgehen. Hieraus folgt, dass Untersuchungshaft, Folter und ähnliche Maßnahmen, die bereits strafenden Charakter haben, entweder überhaupt nicht oder nur in begrenztem Umfang und unter besonderen Voraussetzungen legitim sind. In diesem Sinne ist die Unschuldsvermutung eine Schranke für Eingriffe in die Rechte des Beschuldigten. Zum anderen setzte sich die seit Anfang des 19. Jahrhunderts vorherrschende Bewegung zur Reform des Strafverfahrens das Ziel, Fehlurteile nach Möglichkeit zu vermeiden und alle Vermutungen zu Lasten des Beschuldigten aus dem Prozessrecht zu entfernen. Es soll die materielle Wahrheit nach Maßgabe eines fairen Verfahrens gefunden werden. Insoweit nimmt die Unschuldsvermutung die Gestalt einer Beweislastregel an und entspricht dem Zweifelsatz in dubio pro reo. Sie soll gelten bis zur begründeten Überzeugung des Gerichts, dass der Beschuldigte in deliktischer Weise gehandelt hat. Anzustreben ist ein Beweis der Schuld jenseits vernünftiger Zweifel. Aus diesen beiden historischen Quellen der Unschuldsvermutung – Schranke gegen staatliche Eingriffe einerseits, Beweislastregel andererseits – lässt sich die Funktion der Unschuldsvermutung im heutigen Strafprozess ableiten. Die Unschuldsvermutung soll sicherstellen, dass die Strafverhängung auf einer hinreichend bewiesenen Rekonstruktion des deliktischen Geschehens beruht. Sie untersagt jede staatliche – und ggf. auch private – Entwertung des Verfahrens, namentlich die Vorwegnahme der Straffolge. Die Widerlegung der Unschuldsvermutung im Prozess setzt einen geordneten und fairen, die Rechte des Beschuldigten wahrenden Vorgang der Entscheidungsfindung voraus. Insoweit dient die Unschuldsvermutung neben der Sicherung der Rechtsposition des Beschuldigten auch und gerade dem Schutz des Verfahrens selbst. Dies bedeutet: Dem Verfahrensausgang darf nicht vorgegriffen werden, der Verfahrensablauf darf nicht verzerrt werden und das Verfahrensergebnis darf nicht im Voraus entwertet oder verfälscht werden. Wesentlich für ein Verfahren in diesem Sinne ist die Offenheit seines Ausgangs durch Einhaltung geordneter Verfahrensschritte. Die Entscheidung muss mit anderen Worten durch schrittweise erfolgende Absorption von Ungewissheit gefunden werden. Diente der Prozess dagegen nur der Darstellung eines bereits gefundenen Ergebnisses, so wäre er eine ritualisierte Farce. Insoweit besteht die primäre Aufgabe der Unschuldsvermutung in der Erhaltung der verfahrenskonstitutiven Ungewissheit des Ausgangs. Hierbei ist zudem zu sehen, dass auch nur in einem solchen Verfahren Schuld als Voraussetzung von Strafe festgestellt werden kann. Außerhalb des Verfahrens ist strafbare Schuld inexistent. Als unschuldig gilt daher auch, wem gegenüber der Tatvorwurf im Verfahren nicht hinreichend bewiesen werden konnte, gegen wen ein Verfahren gar nicht stattfand oder gegen wen ein Verfahren wegen eines Prozesshindernisses nicht beendet werden konnte. 2. Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich, dass die Unschuldsvermutung nur im Verhältnis des Beschuldigten zu den Strafverfolgungsbehörden und sonstigen
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staatlichen Stellen unmittelbare Wirkungen entfaltet.51 Dies hat insoweit auch für die Massenmedien Bedeutung, als es den Polizei- und Justizpressestellen untersagt ist, Informationen zu verbreiten, durch die der Eindruck entstehen kann, der Beschuldigte sei bereits überführt.52 Die privaten Massenmedien werden dagegen in ihrer eigenen Berichterstattung durch die Unschuldsvermutung nicht direkt gebunden. Jedoch hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus der Unschuldsvermutung die Verpflichtung der Staaten abgeleitet, Beschuldigten im nationalen Recht Schutzmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, mit denen sich diese gegen vorverurteilende Kriminalberichte zur Wehr setzen können.53 Dieser Schutz braucht freilich kein strafrechtlicher zu sein; er kann sich, wie dies im deutschen Recht weitgehend der Fall ist, auf zivilrechtliche Abwehrmöglichkeiten beschränken. Zu nennen sind Ansprüche auf Schadensersatz, Widerruf und Unterlassung.54 Aus der Sicht des Zivilrechts kann man in der Unschuldsvermutung – entsprechend den historischen Wurzeln – eine Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sehen, das als absolutes Recht auch von den Massenmedien zu beachten ist.55 Insoweit kann die Unschuldsvermutung als Maßstab zur Beurteilung von Publikationen dienen. Das heißt: Es darf in den Medien keinesfalls der Eindruck vermittelt werden, der Beschuldigte sei bereits überführt. Auch der Name oder das Bild des Beschuldigten sollte im Regelfall nicht veröffentlicht werden, da durch eine solche Identifikation der Eindruck entstehen kann, bei dem Gezeigten handele es sich um den Schuldigen. Bei sog. Prominenten oder Personen der Zeitgeschichte werden sich die Maßstäbe freilich zu Lasten der Beschuldigten verschieben, da hier dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit ein größeres Gewicht zukommen dürfte. Auch bei Kriminalfällen, die aufgrund besonderer Umstände – wie etwa im Falle von Schwerstkriminalität – deutlich aus der Massendelinquenz herausfallen und ein besonderes Informationsinteresse der Öffentlichkeit rechtfertigen, dürften sich die Grenzen zu Lasten von Beschuldigten verschieben. Doch ungeachtet solch schwie-
51 OLG Köln NJW 1987, 2682 (2683); OLG Frankfurt NJW 1980, 597 (599); Bornkamm, NStZ 1983, 102 (104); Esser, in L/R, (Fn. 44), Art. 6 EMRK, Rn. 456; Frowein, H. Huber-FS, 1981, 553 (556); Laubenthal, GA 1989, 20 (25 f.); Meyer, Tröndle-FS, 1989, 61 (63); Roxin, NStZ 1991, 153 (156); a.A. Marxen, GA 1980, 363 (373 f.); weitergehend wohl auch Zabel, GA 2011, 347 (360). Zur einschlägigen Rspr. des Europäischen Gerichthofs für Menschenrechte Kühl, NJW 1984, 1264 ff:, ders. Hubmann-FS, 1980, 241 (246 f.) m.w.N. 52 Esser, in L/R, (Fn. 44), Art. 6 EMRK, Rn. 485 m. zahlr. Nachweisen zur Rspr. 53 Näher hierzu Frowein, H. Huber-FS, (Fn. 51), 553 (556); Trechsel, SJZ 1981, 335. 54 Kritischer Überblick über den vorhandenen Schutzstandard Paeffgen, in SK-StPO, (Fn. 32), Art. 6 EMRK Rn. 200 m.w.N.; vgl. auch Eisenberg, StraFo 2006, 15 ff.; Trüg, NJW 2011, 1040 (1041 ff.). 55 Vgl. Kühl, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, 1983, S. 20; ferner ders., Hubmann-FS, 1985, 241 (245); s. auch Bornkamm, NStZ 1983, 102 (105); Safferling, NStZ 2004, 181 (182 f.); Stürner, JZ 1980, 1 (3); Trüg, NJW 2011, 1040 (1041).
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riger Detailfragen56 ist klar: Die Presse darf sich nicht als Richter aufspielen, indem sie eine Person vor ihrer Verurteilung als Straftäter bezeichnet. Daneben stehen dem Beschuldigten noch weitere straf- und zivilrechtliche Abwehrmöglichkeiten zur Verfügung, etwa das Recht am eigenen Bild57 oder das Recht auf Namensanonymität. Flankiert wird dieses Instrumentarium auch durch allgemeine Strafgesetze, vor allem durch die Beleidigungsdelikte. Insoweit ist im Übrigen auch zu beachten, dass im deutschen Strafrecht die Behauptung, jemand sei Täter eines Delikts, als erwiesen falsch anzusehen ist, wenn der Betreffende bezüglich dieser Tat zuvor rechtskräftig freigesprochen wurde (§ 190 S. 2 StGB). 3. Eine kleine Bemerkung sei noch angefügt zu der besonderen Schutzwürdigkeit von Tatopfern, in deren Persönlichkeitsrechte insbesondere bei Sexualdelikten durch die Boulevardpresse in bisweilen skandalöser Weise eingegriffen wird.58 Soweit der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung betroffen ist, erscheint es dringend erforderlich, Polizei- und Justizpressestellen durch Verwaltungsvorschriften auf strengste Anonymität festzulegen.59 Bei Verstößen könnte hier über die allgemeinen Strafvorschriften – etwa des Geheimnisverrats – hinaus flankierender Schutz angeboten werden.
V. „Nachverurteilungen“ Abschließend sei noch erwähnt, dass die Gefahren durch Medienberichte für die Justizförmigkeit des Verfahrens und die Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten mit dem abschließenden Urteil nicht enden. Zum Verfahren gehören auch der Strafvollzug und die nach der Haftentlassung fortdauernde Aufgabe der Resozialisierung eines Beschuldigten. Daher hat das BVerfG die Ausstrahlung eines Fernsehberichts über einen Täter im zeitlichen Zusammenhang mit seiner Haftentlassung untersagt, um die Wiedereingliederung des Betreffenden in die Gesellschaft nicht zu gefährden,60 und zwar eben auch und gerade im Interesse der Öffentlichkeit an einer gerechten Bewältigung strafrechtlich relevanter Konflikte.
56 Überblick über das Meinungsspektrum bei Stuckenberg, Unschuldvermutung, (Fn. 49), S. 151 ff. 57 §§ 22 ff., 33 I KUG. 58 Vgl. Becker, Massenmedien, (Fn. 42), S. 17 ff. und passim; auch Trüg, NJW 2011, 1040 (1042). 59 Ähnlich Trüg, NJW 2011, 1040 (1042); s. a. Wolter, in: SK-StPO (Fn. 2), Stand Jun. 1994, Vor § 151 Rn. 91a; weitergehend zur Schutzwürdigkeit des Kernbereichs privater Lebensgestaltung ders., a.a.O., Rn. 30. 60 BVerfGE 35, 202 ff.; vgl. auch BGH JR 2011, 112 ff. mit Anm. Thiel.
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VI. Zusammenfassung in Thesen Die vorangegangenen Überlegungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Der Strafzweck der positiven Generalprävention erfordert eine Information über Strafverfahren, die vor allem durch die Massenmedien zu erfolgen hat. Eine publizistische Auseinandersetzung mit Strafverfahren liegt daher im eigenen Interesse der Institution Strafrecht. 2. Gegen eine persönliche Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsfreiheit sind die am Verfahren beteiligten Richter, Staatsanwälte, Nebenkläger, Zeugen und Sachverständigen durch allgemeine Strafvorschriften hinreichend geschützt. Weitere gesetzliche Maßnahmen sind mit Blick auf das deutsche Recht nicht erforderlich. 3. Durch unsachgemäße Publikationen kann insbesondere die Justizförmigkeit des Prozesses Schaden nehmen. Insoweit ist insbesondere die Informationspolitik der Justiz selbst strengen internen Reglementierungen zu unterwerfen. Besonderer Strafvorschriften, die über den Geheimnisverrat und die Delikte zum Schutz der Rechtspflege hinausgehen, bedarf es grundsätzlich nicht. Allenfalls sind weitergehende Maßnahmen zum Schutz der Opfer zu bedenken. 4. Die Unschuldsvermutung entfaltet gegenüber den Massenmedien keine unmittelbare Drittwirkung, kann aber als Maßstab zur Bewertung der Kriminalberichterstattung dienen. Als Ausprägung des Persönlichkeitsrechts des Beschuldigten bietet sie die Basis für vielfältige zivilrechtliche Anspruchsgrundlagen. Flankierend können die strafrechtlichen Normen des Ehrenschutzes eingreifen. 5. Negative Auswüchse des Sensationsjournalismus sollten keinen Zweifel am Wert der Pressefreiheit für ein demokratisches Gemeinwesen aufkommen lassen. Gesetzgeberische Maßnahmen, die den Status quo verändern, sollten nur mit höchster Vorsicht betrieben werden.
Die Lehre von der objektiven Zurechnung als Vorbild für die Argumentationslastverteilung bei der Entstehung unselbständiger Beweisverwertungsverbote Von Hans Kudlich
I. Hinführung Das wissenschaftliche Werk Jürgen Wolters ist in den vergangenen Jahrzehnten zum einen ganz zentral durch seine Arbeiten zum Strafprozessrecht geprägt. Hervorhebung verdienen hier gewiss die umfangreichen und vielfach wegbereitenden Kommentierungen im Systematischen Kommentar. Innerhalb der Gesamtmaterie des Strafprozessrechts kann man mit Fug und Recht behaupten, dass die Lehre von den Beweisverwertungsverboten ein ganz zentrales Thema darstellt,1 welches vom Jubilar selbst etwa in Beiträgen in NStZ 1981, 276 (speziell zur Problematik der Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten), in der Kaufmann-Gedächtnisschrift (1989, S. 261 ff.) sowie zuletzt in ZIS 2012, 238 ff. behandelt worden ist. Zum anderen und nicht minder ist Jürgen Wolter aber auch dem materiellen Strafrecht verbunden. Schon durch seine engagierte und auch inhaltsprägende Herausgeber- und Schriftleitertätigkeit für Goltdammer’s Archiv, welches wie keine andere strafrechtliche Zeitschrift auch strafrechtsdogmatischer „Hochseilakrobatik“ immer wieder Raum bietet, ist er mit dem materiellen Strafrecht in seiner ganzen Breite und in einem nur seltenen vorgefundenen Tiefgang vertraut. Einen wichtigen Schwerpunkt seiner eigenen Forschungen zu diesem Thema bildet seit jeher die von Claus Roxin maßgeblich entwickelte Lehre von der objektiven Zurechnung, zu welcher sich der Jubilar grundlegend nicht nur in seiner 1981 erschienenen Monographie zu „Objektive(r) und personale(r) Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Strafrechtssystem“, sondern etwa auch in ZStW 89 (1977), 649 ff. sowie in GA 1991, 531 ff. geäußert hat. Diese beiden Interessenschwerpunkte – Strafprozessrecht (innerhalb dessen generell die Beweisverwertungsverbote ein wichtiges Thema sind) und Lehre von der objektiven Zurechnung – legen den Versuch nahe, zum vorliegenden Anlass eine Symbiose dieser beiden Themen zu wagen. Dies gilt umso mehr, als der Jubilar 1 Vgl. bereits Alsberg, Der Beweisantrag im Strafprozess, 1930, S. III, nach dem auf keinem Rechtsgebiet ein einzelnes Problem so hervorrage wie das Beweisproblem (das natürlich längst nicht auf die Frage der Beweisverwertungsverbote beschränkt ist) im Strafprozessrecht.
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selbst einen der wenigen Beiträge liefert, welche den Bogen von den Beweisverwertungsverboten zur objektiven Zurechnung bzw. zurückschlagen.2 Eine solche Symbiose könnte aber auch deswegen lohnen, weil die Beweisverwertungsverbote als an vielen Stellen immer noch ungelöstes Problemfeld gelten dürfen3 und der Lehre von der objektiven Zurechnung bzw. deren Grundgedanken auch über ihren ursprünglichen Anwendungsbereich hinaus großes Problemlösungspotential zugeschrieben wird.4 Aber auch in ihrer Struktur weisen beide Problemkreise eine größere Parallelität auf, als man auf den ersten Blick vielleicht glauben mag: In beiden Fällen geht es um Konstellationen, in welchen die Ursächlichkeit eines bestimmten Verhaltens (strafrechtliche Handlung des Täters bzw. Tätigkeit der Ermittlungsbehörden) für einen bestimmten Außenwelterfolg (deliktischer Erfolg bzw. Existenz eines Beweismittels) relativ klar ist und dennoch gefragt wird, ob auf einer normativen Ebene dieser Zusammenhang unterbrochen werden muss (keine Zurechnung des Erfolges bzw. keine Ableitung eines Beweisverwertungsverbotes trotz fehlerhafter Beweiserhebung). Dabei soll der Blick unten (vgl. III., IV.) noch stärker als etwa auf inhaltliche Parallelen5 darauf gelenkt werden, welche Regel-Ausnahme-Verhältnisse bzw. welche Argumentationslastverteilungen zu berücksichtigen sind, nachdem unmittelbar im Anschluss der Stand der Lehre von den (unselbständigen) Beweisverwertungsverboten noch einmal kurz nachgezeichnet worden ist (sogleich II.).
II. Überblick zum Stand der Lehre von den (unselbständigen) Beweisverwertungsverboten Anknüpfend an eine insb. von Rogall6 etablierte Einteilung hat sich durchgesetzt, zwischen selbständigen und unselbständigen Beweisverwertungsverboten zu unterscheiden, wobei man von letzteren spricht, wenn das Verbot die Folge eines vorausgegangenen Verfahrensverstoßes (d. h. also eines Fehlers bei der Beweiserhebung) war. Wann freilich aus einem Fehler bei der Beweiserhebung tatsächlich ein Beweisverwertungsverbot erwächst, ist in der Rechtsprechung Gegenstand einer schwer überschaubaren Kasuistik und in seiner allgemeinen Systematik umstritten, zumal als ausdrückliche Konsequenz aus Verstößen gegen Beweiserhebungsverbote nur in wenigen Fällen Beweisverwertungsverbote im Gesetz angeordnet sind und der dabei prominenteste Fall in Gestalt des § 136a Abs. 3 S. 2 StPO seinen eigenen Ge-
2 In seinem Beitrag in ZIS 2012, 238 ff.; neben diesem ist insbesondere ein in Goltdammer’s Archiv erschienener Aufsatz von Müssig, GA 1999, 119 ff. zu erwähnen. 3 Anschaulich Jahn, Gutachten C zum 67. DJT, 2008, C 20 f. 4 So etwa für das Recht des Verfalls in jüngerer Zeit Rönnau/Krezer, NZWiSt 2012, 147 (149). 5 Vgl. hierzu mit einem anderen Fokus als der vorliegende Beitrag Wolter, ZIS 2012, 238 (240 ff.). 6 Vgl. Rogall, ZStW 91 (1979), 1 (3 f.).
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setzmäßigkeiten folgt.7 Vor dem Hintergrund dieser doch sehr rudimentären gesetzlichen Regelung ist nicht erstaunlich, dass die Frage, wann aus einem Fehler bei der Beweiserhebung ein Beweisverwertungsverbot abzuleiten ist, ein zentrales Problem des Strafprozessrechts darstellt. Notwendigerweise holzschnittartig mögen hier folgende Positionen noch einmal in Erinnerung gerufen werden: 1. Automatismus von Erhebungs- und Verwertungsverbot Eine gewisse Plausibilität prima facie und auch den Vorzug großer Anwendungseinfachheit hätte ein Konzept, nach dem grundsätzlich jeder Fehler bei der Beweiserhebung zu einem Beweisverwertungsverbot führt. Ein Argument für diesen radikalen „verwertungsfeindlichen“ Weg bestünde in der Überlegung, dass jede Beweisverwertung zum Nachteil des Angeklagten grundrechtsrelevant ist und daher einer (vollständig) rechtmäßigen Grundlage bedarf.8 Diesen Weg beschreiten allerdings auch die Anhänger der sog. Beweisbefugnistheorie9 nicht konsequent,10 und zwar zu Recht: Würde ein Beweisverwertungsverbot automatisch auf jeden, und sei es an ein noch so „kleinen“11 Fehler bei der Beweiserhebung folgen lassen, so würde damit nicht nur das Interessen an einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege als jedenfalls im Ausgangspunkt durchaus schützenswerter öffentlicher Belang erheblich in Mitleidenschaft gezogen, sondern auch ein wichtiger Unterschied etwa zu zahlreichen verwaltungsrechtlichen Maßnahmen übersehen. Selbst wenn dort grundsätzlich die meisten Rechtsfehler zu einer Anfechtbarkeit des hoheitlichen Aktes führen, so können doch viele dieser Fehler geheilt werden12 oder aber der erneute Erlass eines Verwaltungsakts kommt jedenfalls dann, wenn der alte „nur“ an formalen Fehlern gelitten hat, in Betracht. Diese Möglichkeit besteht im Strafprozessrecht zumindest regelmäßig nicht, da etwa strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen nach ihrem Bekanntwerden durch den Betroffenen in sehr vielen Fällen schlicht nicht sinnvoll wiederholt werden können. 7
Dies insbesondere deshalb, weil Aussagen, die unter Verstoß gegen § 136a StPO erlangt worden sind, nicht nur in extremer Weise rechtstaatlich bedenklich sind, sondern weil im Einzelfall unter diesen Methoden auch die Qualität zum Wahrheitsbeweis leiden kann, vgl. Joerden, JuS 1993, 927. Zur Sonderstellung der Vorschrift im Beweis(verwertungsverbots) recht auch Wolter, ZiS 2012, 238 (240 ff.). 8 Vgl. zu einem solchen Modell eines Automatismus von Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbot auch Kühne, Strafprozessrecht, 8. Aufl. 2010, Rn. 907. 9 Vgl. Jahn/Dallmeyer, NStZ 2005, 297 (303 f.); eingehend zur Beweisbefugnistheorie Dallmeyer, Beweisführung im Strengbeweisverfahren, 2002, S. 50 ff.; Jahn, Gutachten C zum 67. DJT, C 66 ff. 10 Zur Einschränkung bei Beweisverwertungsverboten etwa Jahn, Gutachten C zum 67. DJT, C 68 ff. (§ 244 Abs. 2 StPO als Rechtsgrundlage der Beweisverwertung, für welche die Rechtmäßigkeit des Verschaffungsaktes nicht unverzichtbar ist). 11 Möchte man „unbedeutende“ Fehler bei der Beweiserhebung ausschließen, wäre damit der Charme einer klaren Lösung sogleich wieder verspielt. 12 Vgl. § 45 VwVfG.
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2. Einzelfallabhängige Entscheidungen Aus diesem Grund bleibt es zwar unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit unbefriedigend, ist aber nahezu unvermeidlich, dass die Frage des Erwachsens eines Beweisverwertungsverbotes aus einem Fehler bei der Beweiserhebung letztlich nur für den Einzelfall entschieden werden kann. a) Ein früher Ansatz in der Rechtsprechung des BGH war hierzu die sog. Rechtskreistheorie,13 nach der die Verwertung eines Beweismittels trotz Verletzung eines Beweiserhebungsverbotes davon abhängt, ob dadurch der „Rechtskreis des Beschuldigten“ betroffen ist.14 Die Einwände gegen diese – zumindest als alleiniges Kriterium auch in der Rechtsprechung zunehmend an Gewicht verlierende15 – Theorie bestehen nicht darin, dass der Rechtskreis als generelles Ausschlusskriterium nicht sinnvoll wäre. Problematisch ist vielmehr, dass zum einen die Betroffenheit „des Rechtskreises“ wohl nicht unbedingt für die Annahme eines Beweisverwertungsverbotes genügen kann und dass zum anderen gerade erst durch Auslegung im Einzelfall zu ermitteln ist, welche Vorschriften den Rechtskreis des Beschuldigten berühren und welche nicht. Zutreffenderweise wird man die Rechtskreistheorie daher nur als einen Topos in größer angelegten Konzepten betrachten können.16 b) Gleichsam einen „materiellen“ Ansatz verfolgt die namentlich von Amelung begründete „Informationsbeherrschungstheorie“, wonach Beweisverwertungsverbote auf informationellen Abwehransprüchen beruhen, die sich aus der Verletzung eines Informationsbeherrschungsrechts des Beschuldigten ergeben können.17 Soweit man hieraus freilich ableiten möchte,18 dass formelle Fehler (wie etwa die fehlende Zuständigkeit zur Anordnung der Zwangsmaßnahme) allein ein Beweisverwertungsverbot nicht tragen können, würde damit nicht hinreichend berücksichtigt, dass etwa eine willkürliche Verletzung des Richtervorbehaltes19 ebenso wie die unvertretbare Annahme einer eigenen Zuständigkeit die Entscheidung des Gesetzgebers untergraben würde, dass nur von unabhängigen Institutionen und nur im Rahmen ihrer Zuständigkeit Grundrechtseingriffe angeordnet werden können.
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Vgl. BGH(GS)St 11, 213 (216 f.). Vgl. zur Rechtskreistheorie auch die Darstellung bei Löwe/Rosenberg/Gössel, 26. Aufl. 2006, Einl. L Rn. 20 ff. 15 Vgl. auch die Analyse bei Jahn, Gutachten C zum 67. DJT, C 39 ff., für den eine „eigenständige Rechtskreis-Theorie (…) Rechtsgeschichte“ ist (C 41). 16 Vgl. nochmals Jahn, Gutachten C zum 67. DJT, C 41. 17 Grundlegend Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozess, 1990. 18 Zu unterschiedlichen „Lesarten“ des Informationsbeherrschungsansatzes vgl. einerseits Jahn, Gutachten C zum 67. DJT, 2008, C 64 f.; krit. zur Darstellung seines eigenen Ansatzes dort andererseits Amelung, JR 2008, 327 f. 19 Zu Fällen der Umgehung des Richtervorbehalts und einem daraus erwachsenden Beweisverwertungsverbot vgl. BGH v. 30. 8. 2011 – 3 StR 210/11, NStZ 2012, 104. 14
Die Lehre von der objektiven Zurechnung
999
c) Im Gegensatz zu dem stark materiell ausgerichteten Informationsbeherrschungsansatz verfolgen „revisionsrechtliche Theorien“20 in verschiedenen Spielarten einen streng verfahrensbezogenen Ansatz. Danach liegt ein Beweisverwertungsverbot nur vor, wenn der Verstoß gegen das Erhebungsverbot zu einer Urteilsaufhebung führen würde. Jedenfalls in dieser Form(ulierung) ist der Ansatz freilich zirkulär, da die Revisibilität gerade davon abhängt, ob ein Beweisverwertungsverbot besteht. Damit soll nicht geleugnet werden, dass die Beruhensfrage im Zusammenhang mit Beweisverwertungsverboten von Bedeutung ist;21 allerdings handelt es sich hierbei um eine nachgelagerte Frage, die sich überhaupt erst stellt, wenn trotz Vorliegens des Beweisverwertungsverbotes ein Beweismittel verwertet (oder umgekehrt: auch ohne Vorliegen eines Beweisverwertungsverbotes ein Beweismittel nicht verwertet) worden ist. d) Dominierend in der Rechtsprechung ist die einzelfallbezogene Abwägung,22 bei der überprüft wird, ob mit der bei der Beweiserhebung verletzten Vorschrift ein Interesse des Angeklagten geschützt wird, das gewichtiger ist als das Interesse an der Effizienz der Strafverfolgung. In den hierbei möglichen bunten Strauß an Abwägungskriterien werden etwa Schutzzwecküberlegungen, Schwere der Straftat und des Verstoßes sowie auch Überlegungen zur hypothetischen rechtmäßigen Beweisgewinnung23 eingeflochten. Die Kritik daran, dass ein solches umfassendes Abwägungsmodel der Rechtssicherheit nicht dienlich ist, liegt auf der Hand. Verstärkt wird diese Kritik in der Literatur teilweise noch durch den Hinweis darauf, dass entgegen der Berufung auf eine Abwägungslösung eine umfassende Abwägung in Wahrheit durch die Gerichte nur selten vorgenommen wird.24 e) Im Unterschied zur „allgemeinen“ und insb. auch die Schwere des Tatvorwurfs einbeziehenden Abwägung der Rechtsprechung orientiert sich eine (mit Unterschieden im Detail) in der Literatur stark vertretene Auffassung bei ihrer Einzelfallentscheidung über die Verwertung ausschließlich oder zumindest vorrangig am Schutzzweck der bei der Beweiserhebung verletzten Norm.25 Hierzu zählen in einem wei20
So genannt bei Schroth, JuS 1998, 969 (973); Gössel, GA 1991, 486 sowie Löwe/Rosenberg/ders. Einl. L Rn. 18 spricht insoweit von der „Funktionslehre“. 21 Vgl. auch – freilich weiter reichend als hier angedeutet – Löwe/Rosenberg/Gössel Einl. L Rn. 19. 22 Vgl. nur BGHSt 19, 325 (329); BGHSt 31, 304 (307); BGH NJW 2008, 307 (309); NJW 2008, 1090 (1092). 23 Vgl. zu den hypothetischen Ermittlungsverläufen auch Jahn, NStZ 2005, 297. 24 Vgl. zur Kritik etwa Dallmeyer, Beweisführung im Strengbeweisverfahren, 2002, S. 149 ff., 213 ff.; Löffelmann, Die normativen Grenzen der Wahrheitserforschung im Strafverfahren, 2008, S. 51 ff., 294 ff.; Wolters, JR 1999, 524 (525); Fezer, JZ 1999, 526; ders., NStZ 2003, 625 (629). 25 Grundlegend zu den Schutzzwecklehren Grünwald, JZ 1966, 489 (492 ff.); Beulke, ZStW 103 (1991), 657 ff.; monographisch Petry, Beweisverbote im Strafprozeß, 1971, insb. S. 29 ff.; Fezer, Grundfragen der Beweisverwertungsverbote, 1995, etwa S. 20 ff.; zusammenfassender Überblick auch bei Jäger, Beweisverwertung und Beweisverwertungsverbote im Strafprozess, 2003, S. 69 ff.
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teren Sinn auch solche Ansätze, die das Eingreifen des Beweisverwertungsverbotes davon abhängig machen wollen, ob ein mit der Anerkennung eines Beweisverwertungsverbotes verbundener Zweck in der konkreten Situation erreicht werden kann bzw. muss.26 Zumindest in einem weiteren Sinn ebenfalls zu den Schutzzwecklehren zu zählen ist die von Jäger entwickelte und von ihm selbst so bezeichnete „Lehre von der Fehleridentität“,27 nach welcher vor dem Hintergrund einer im Gesetz vorgezeichneten zumindest grundsätzlichen Abstraktion von Erhebung- und Verwertungsverbot nur solche Verstöße gegen Beweiserhebungsverbote auch zu Beweisverwertungsverboten führen, bei denen durch die Anordnung des Verbotes ein „beweisgegenständlicher Ausschluss“ verfolgt wird.
III. Die Lehre von der objektiven Zurechnung als Bestandteil eines Regel-Ausnahmemechanismus bei der Bestimmung der Verantwortung für deliktische Erfolge 1. Selbst die notwendig gedrängte Darstellung unter II. hat deutlich gemacht, dass die Lehre von den unselbständigen Beweisverwertungsverboten nicht nur in den Details vielfach ungeklärt ist (wobei sich hierin teilweise sogar verhältnismäßig große Übereinstimmungen finden), sondern dass bereits hinsichtlich der Grundkonzeption über das Verhältnis zwischen Fehler bei der Beweiserhebung und Eintritt eines Beweisverwertungsverbotes weitreichende inhaltliche Uneinigkeit besteht. Sogar wenn man gewillt ist, die abweichende Beantwortung von Einzelfragen in einem so komplexen Bereich als unvermeidbar hinzunehmen, so wäre es doch wünschenswert, wenn zumindest als eine Leitlinie für diese Einzelfallentscheidungen, aber auch als Aussage zum generellen rechtsstaatlichen Verständnis vom Beweisrecht und den Beweisverwertungsverboten Aussagen über einen (nicht notwendig empirischen, aber doch systematischen) Regelfall bzw. über das Regel-Ausnahme-Verhältnis und damit über die Argumentations- und Begründungslasten gemacht werden könnten. 2. Eine solche Klarheit über das Regel-Ausnahme-Verhältnis und damit über die zu berücksichtigende Argumentationslast ist – und hier berühren sich unsere beiden Themen – auch bei der Anwendung der Lehre von der objektiven Zurechnung wichtig. Dies gilt zum einen für ihre systematische Einordnung im Allgemeinen,28 aber auch für die Anwendung auf konkrete Einzelfälle im Besonderen. Dabei geht es gar nicht etwa darum zu leugnen, dass der Ausschluss der objektiven Zurechnung in einzelnen Fällen ganz klar und unproblematisch sein kann (so z. B. bei der fehlen-
26
Von Jäger (Fn. 25), S. 69 ff. Vgl. Jäger (Fn. 25), insb. S. 137 ff. 28 Vgl. hierzu sogleich im Anschluss sowie ausführlich bereits Kudlich, Die Unterstützung fremder Straftaten durch berufsbedingtes Verhalten, 2004, S. 319 ff. 27
Die Lehre von der objektiven Zurechnung
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den Beherrschbarkeit in den „Gewitter-Fällen“29), während die Relevanz des Topos in anderen Fällen deutlich fragwürdiger ist und ihre wissenschaftliche Durchdringung noch ganz am Anfang steht (so etwa wenn im Zusammenhang mit der Anlegerschädigung in der Bankenkrise mehr oder weniger pauschal ein Verantwortungsausschluss qua „Systemverschulden“ diskutiert wird30). Indes ändert dies nichts daran, dass es sinnvoll ist, sich Gedanken darüber zu machen, ob nach der Feststellung einer kausalen Verletzungshandlung die objektive Zurechnung (wie es in den üblich didaktischen Prüfungsschemata erscheinen könnte) eine zusätzlich positive feststellende Voraussetzung ist oder ob umgekehrt ihr Fehlen eine begründungsbedürftige Ausnahme darstellt. 3. Richtigerweise gilt hier Folgendes:31 Das Unwerturteil, das durch die Erfüllung der objektiven und subjektiven Tatbestandsmäßigkeit sowie durch das Fehlen von Rechtfertigungsgründen hinsichtlich der Tat begründet wird, enthält nach h.M. eine Erfolgs- und eine Handlungskomponente. Das Handlungsunrecht ist dabei aber nicht nur auf den Vorsatz beschränkt, sondern wird auch durch objektive Bestandteile geprägt: Dies sind zum einen – soweit im Tatbestand enthalten – besondere Verhaltensformen, zum anderen aber eben auch solche Umstände, welche zu einem Entfallen der objektiven Zurechnung (hier im weiteren Sinne, der auch die insbesondere von Frisch mit großer Klarheit und systembildender Kraft32 herausgearbeitete „Lehre vom tatbestandsmäßigen Verhalten“ umfasst) führen. Wird mithin durch eine Handlung ein Rechtsgut beeinträchtigt, so begründet dies das Erfolgsunrecht. Ist diesbezüglich Vorsatz des Handelnden zu bejahen, dann spricht auf Grund der großen Bedeutung der subjektiven Handlungsunrechtskomponente ein erster „Hinweis“33 für das Vorliegen auch des Handlungsunrechts.34 Dies 29 Vgl. zu solchen Fällen (allerdings noch früher bei der Handlung im strafrechtlichen Sinne ansetzend) auch schon Wolter, in: Gimbernat/Schünemann/Wolter (Hrsg.), Internationale Dogmatik der objektiven Zurechnung und der Unterlassungsdelikte, 1995, S. 3 (8). 30 Vgl. zur hiermit zusammenhängenden Diskussion (ohne diese dort dem Vorwurf der „Pauschalität“ aussetzen zu wollen) Kasiske, in: Schünemann (Hrsg.), Die sogenannte Finanzkrise – Systemversagen oder global organisierte Kriminalität?, 2010, S. 13, 37 ff.; zur nach wie vor eher „dünnen“ strafrechtsdogmatischen Auseinandersetzung mit der Finanzkrise auch Strate, HRRS 2012, 416 (417), dort auch mit Nachweisen zu wichtigen Autoren, die sich mit dem Thema vertieft befasst haben. 31 Vgl. näher auch Kudlich (Fn. 28), S. 319 ff. 32 Vgl. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolges, 1988, S. 9 ff., insb. S. 33 – 67 (als theoretische Fundierung sowie dann in den unterschiedlichen Exemplifizierungen S. 69 ff. einer- und S. 507 ff. andererseits) sowie ansatzweise bereits ders., Vorsatz und Risiko, 1983, S. 74 ff. („Prolegomena zum ,tatbestandsmäßigen Verhalten‘“) und S. 118 ff. („Grundlinien des ,tatbestandsmäßigen Verhaltens‘“). 33 Der Begriff des „Hinweises“ soll zum Ausdruck bringen, dass die Wertung hier noch unvollständiger ist als die des vollständig verwirklichten Tatbestandes, der seinerseits – wegen der Möglichkeit einer Rechtfertigung – ja ebenfalls erst ein „Indiz“ für die Rechtswidrigkeit sein soll. Über eine „Prüfungsreihenfolge“ bzw. ein bestimmtes systematisches Verhältnis der objektiven und subjektiven Handlungsunwertelemente untereinander ist damit noch nichts ausgesagt.
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beruht darauf, dass einige typischerweise unrechtsbegründende objektive Handlungsunrechtselemente des Fahrlässigkeitsdelikts beim Vorsatzdelikt verzichtbar sind,35 und stimmt auch mit der unrechtsindizierenden Wirkung der Verletzung von Rechtsgütern „auf grundsätzlich strafrechtlich relevanten Angriffswegen“ (hier also des vorsätzlichen Handelns) überein. Dieser vorläufige Hinweis kann aber durch bestimmte objektive Gesichtspunkte widerlegt werden, die auf Grund ihrer Existenz – unabhängig von der subjektiven Einstellung des Täters – einer Missbilligung des Verhaltens und damit dem Handlungsunrecht entgegenstehen. Genau diese Gesichtspunkte bilden die Fallgruppen der „objektiven Zurechnung“ bzw. des „nicht tatbestandsmäßigen Verhaltens“, soweit bei diesen (einhellig) die Kenntnisse des Täters für unbeachtlich gehalten werden.36 Dieser Gedanke ist auch auf andere Bereiche übertragbar, in denen der Rechtsgedanke der objektiven Zurechnung Anwendung finden soll: Zieht man etwa – und zwar unabhängig von der terminologischen Verortung – Sachargumente der objektiven Zurechnung auch für die Konturierung einer Teilnahmestrafbarkeit heran und versucht auf diesen eine Lösung für die bekannten Problemfälle des sog. „neutralen Beihilfe“ zu finden,37 so ist eben zu berücksichtigen, dass die (jedenfalls direkt) vorsätzliche Förderung einer fremden Straftat zunächst einmal die „Regel-Vermutung“ einer Beihilfestrafbarkeit in sich trägt,38 so dass nicht etwa positiv die Gründe für eine solche Strafbarkeit (etwa in Gestalt von Sondernorm-Verletzungen) positiv festgestellt werden müssen, sondern dass die Argumentationslast bei demjenigen liegt, der gleichwohl eine Verantwortung ablehnt.
34
Es geht also nicht darum, (gar letztverbindlich) vom Eintritt eines Erfolges automatisch auf ein objektiv pflichtwidriges Verhalten zu schließen, was Otto, in: Weigend/Küpper (Hrsg.), Hirsch-FS, 1999, S. 291 (304 in anderem Zusammenhang) zu Recht als „mit den Grundsätzen der heute weithin anerkannten personalen Unrechtskonzeption (…) nicht vereinbar“ bezeichnet. Da aber neben der vorsätzlichen Herbeiführung eines Erfolges zumeist nicht mehr viel an (objektiven) Elementen zu Begründung des Handlungsunwertes hinzukommen muss (oder anders formuliert: weil das Fehlen des Handlungsunwertes dann die begründungspflichtige Ausnahme darstellt), kann im Sinne einer Regel-Ausnahmebeschreibung von einem wichtigen Hinweis auf das Handlungsunrecht ausgegangen werden. 35 Vgl. näher Kudlich (Fn. 28), S. 323 ff., sowie ders., in: Kotsalis/Courakis/Mylonopoulos/Giannidis (Hrsg.), Benakis-FS, 2008, S. 265 (272 ff.). 36 Ein Beispiel wäre die eigenverantwortliche Selbstgefährdung des Opfers. Daneben könnte es aber auch Fälle geben, in denen das Handlungsunrecht ausgeschlossen ist, weil die objektiven und subjektiven Handlungsunwertkomponenten jeweils nur abgeschwächt vorliegen und daher entgegen dem ersten Hinweis zusammen nicht in der Lage sind, tatsächlich das Unrecht der Tat zu begründen. Zu einem solchen Zusammenwirken von objektiven und subjektiven Unrechtselementen bereits Roxin, in: Jur. Fak. der Universität Göttingen (Hrsg.), Honig-FS, 1970, S. 133 (147). 37 Überblick zu den insoweit vertretenen Ansätzen etwa bei Kühl, Strafrecht AT, 7. Aufl. 2012, § 20 Rn. 222a ff.; LK/Schünemann, Bd. 1, 12. Aufl. 2007, § 27 Rn. 17; monographisch zum Problem Kudlich (Fn. 28), passim. 38 Vgl. auch Kudlich (Fn. 28), S. 448 f.
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Überträgt man den Gedanken der objektiven Zurechnung (und mit ihr auch ihre Argumentationslastregeln, was freilich soweit ersichtlich in dieser detaillierten Form noch nicht ausbuchstabiert worden ist) auf das Verfallsrecht und die Frage danach, was im Sinn des § 73 StGB „erlangt“ worden ist, so würde die begründungsbedürftige Ausnahme eben nicht darin liegen, bestimmte Erträge, welche der Täter aus der Tat gewonnen hat, dem Verfall zu unterwerfen, sondern es wäre umgekehrt positiv zu begründen, warum Gelder, die im Zusammenhang mit der Tat an den Täter geflossen sind, trotz der grundsätzlichen Geltung des Bruttoprinzips nicht dem Verfall unterliegen sollen.
IV. Die Argumentationslast bei unselbständigen Beweisverwertungsverboten 1. Wie in den Ausführungen unter II. deutlich geworden ist, geht es bei den unselbständigen Beweisverwertungsverboten zentral um die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen aus einem Fehler bei der Beweiserhebung ein Beweisverwertungsverbot erwächst. Zwischen den denkbaren Extrempositionen „immer“ (d. h. jeder Fehler bei der Beweiserhebung führt zu einem Beweisverwertungsverbot) und „nie“ (d. h. Fehler bei der Beweiserhebung sind für die Beweisverwertung irrelevant) ist ein breites Spektrum denkbar, wie hier Regel- und Ausnahme-Verhältnis beschaffen sein könnten bzw. wer die Argumentationslast dafür trägt, dass ein Beweismittel nach einem Fehler bei der Beweiserhebung verwertet bzw. nicht verwertete werden darf. Dem oben skizzierten Weg bzw. Mechanismus „Handlungsfreiheit – Verletzungskausalität – grundsätzliche Verantwortung (mit Sanktion) – ausnahmsweise Ausschluss der objektiven Zurechnung“ würde ebenso verkürzt ein Weg/Mechanismus entsprechen, der wie folgt beschrieben werden kann: „Amtsaufklärungspflicht/§ 244 StPO – Fehler bei der Beweiserhebung – grundsätzliche ,Sanktionierung‘ durch Beweisverwertungsverbot – ausnahmsweise Ausschluss dieser Sanktion durch dennoch mögliche Verwertung des Beweismittels“. Ewas näher beschrieben würde der Vergleich dann wie folgt aussehen: So wie die allgemeine Handlungsfreiheit des Bürgers dadurch beschränkt ist, dass er grundsätzlich keine Handlungen vornehmen darf, die für die Verletzung fremder Rechtsgüter kausal ist, ist auch das Postulat der Amtsaufklärung (zuzüglich der freien richterlichen Beweiswürdigung, §§ 244 Abs. 2, 261 StPO) dadurch beschränkt, dass keine Fehler bei der Beweiserhebung gemacht werden, d. h. insbesondere dass nicht gegen die dafür einschlägigen Vorschriften verstoßen werden darf. Ebenso wie an die verletzungskausale Handlung grundsätzlich eine Sanktion bzw. eine Verantwortlichkeit anknüpft, würde in diesem Schema an einen Fehler bei der Beweiserhebung grundsätzlich eine Sanktion in Gestalt eines Beweisverwertungsverbotes anknüpfen. Eine Ausnahme gilt bei der materiell-rechtlichen Betrachtung nur dann, wenn posi-
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tive Gründe dafür benannt werden können, dass trotz Vorliegens einer verletzungskausalen Handlung eine objektive Zurechnung des Erfolges nicht möglich ist. Dementsprechend müsste eine Verwertung des Beweismittels auf der prozessualen Ebene solchen Fällen vorbehalten bleiben, in denen trotz des Fehlers bei der Beweiserhebung positiv begründet werden kann, dass das Beweismittel ausnahmsweise verwertbar bleibt. Zugegebenermaßen: Diese Parallelität (und insbesondere die Korrespondenz der entsprechenden Schritte) ist zunächst einmal eine postulierte, die hier eher axiomatisch vorausgesetzt als irgendwo zwingend abgeleitet worden ist. Dennoch scheint sie eine gewisse Plausibilität prima facie zu haben: Der Grundsatz der Amtsaufklärung (samt freier richterlicher Beweiswürdigung), der durch ein Beweisverwertungsverbot eingeschränkt wird, ist einerseits zwar in gleicher Weise eine zentrale Maxime des Prozessrechts wie die allgemeine Handlungsfreiheit für den Bürger im Rechtsstaat des Grundgesetzes; andererseits ist aber ebenso, wie die eigene Handlungsfreiheit in den Rechten Dritter an ihre Grenzen stößt, auch für den Aufklärungsgrundsatz unstreitig und mit systembildender Bedeutung anerkannt, dass es keine Wahrheitsfindung „um jeden Preis“ geben kann.39 Die zentrale Rolle der Verletzungskausalität bei der Einschränkbarkeit der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Sanktionierbarkeit des Verhaltens beruht auf dem Gedanken des Rechtsgüterschutzes, dem in einem vom Strafrecht als Sammlung von Verletzungsverboten geprägten Rechtsgebiet überragende Bedeutung zukommt. Eine durchaus vergleichbare Rolle spielt im Prozessrecht als staatlichem Eingriffsrecht der allgemeine Gesetzesvorbehalt, welcher Eingriffe in die Rechte des Bürgers – wie sie auch in einer entsprechenden Beweisverwertung liegen können – nur zulässt, soweit eine gesetzliche Grundlage vorliegt und ihre Voraussetzungen eingehalten sind.40 Dies ist gewissermaßen der zutreffende Kern der o.g. „Beweisbefugnistheorie“, in deren Konsequenz es liegt, dass für belastende Beweisakte (einschließlich der Beweisverwertung) nach Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes Grundlagen bestehen müssen, welche auch angewendet werden müssen, was bei Fehlern bei der Beweiserhebung gerade nicht vorliegt. Soll der Grundrechtseingriff erfolgen, bedarf er einer Rechtfertigung, und selbst wenn man eine solche im Einzelfall zulässt, macht dies doch deutlich, dass es sich systematisch um eine begründungsbedürftige Ausnahme handelt. Der „natürlichen Sanktion“ bei Fehlern bei der Beweiserhebung in Gestalt einer Einschränkung der Verwertbarkeit kann also nur entgangen werden, wenn positiv ein Grund festgestellt wird, warum die Beweisverwertung gleichwohl möglich sein soll.
39
Grundlegend BGHSt 14, 358 (365), seitdem ständige Rechtsprechung und h.L. Von einem etwas anderen Ausgangspunkt – Beweisverbote als prozessuale Strukturgarantien und Restitutionsgarantien, „die Beeinträchtigungen des informationsrechtlichen Status eines Prozeßbeteiligten ausgleichen sollen“ – in den Konsequenzen ähnlich Müssig, GA 1999, 119 (120). 40
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2. Dies führt nun freilich nicht zu einem „Beinahe-Mechanismus“ zwischen Fehler bei der Beweiserhebung und Beweisverwertungsverbot. Ohne dass vorliegend schon aus Raumgründen in eine ausführliche inhaltliche Diskussion eingestiegen werden könnte, mag die Problematik anhand von einigen Beispielen verdeutlicht werden, welche ebenfalls auf die Grundelemente der Formel von der objektiven Zurechnung zugeführt werden können.41 Im materiellen Strafrecht wird (oberhalb der Ebene der Fallgruppenbildung im Detail42) die „Oberformel“ der objektiven Zurechnung regelmäßig anhand von drei Strukturelementen gezeichnet:43 Dem Erfordernis einer pflichtwidrigen Gefahrschaffung, der Realisierung dieser Gefahr im Erfolg und der Einschlägigkeit des Schutzzwecks der verletzten Norm44. a) Bereits eine fehlende Gefahrschaffung könnte man dort sehen, wo es um ein begünstigendes Beweismittel geht. Ein solches zu verwerten, widerspricht auch nicht der oben skizzierten Vorbehalts- und Vorrangdogmatik, da es sich der Sache nach dann gerade um keinen Eingriff in Rechtspositionen des Beschuldigten (sondern um deren Stärkung) handelt. Dass im Einzelfall ungewiss sein kann, ob die Beweisverwertung vor- oder nachteilhaft wäre, kennt durchaus auch Parallelen in der Vorbehalts- und Vorrangdogmatik, und dass in einem solchen Fall der Beschuldigte gleichwohl selbst auf sein Beweisverwertungsverbot verzichten könnte, ist der Grundrechtsdogmatik ebenfalls nicht fremd, da auf die Grundrechtsausübung im Grundsatz ebenso verzichtet werden kann. b) Der Fallgruppe der fehlenden „Gefahrrealisierung“ bzw. der fehlenden objektiven Zurechnung bei einem identischen Erfolgseintritt bei rechtmäßigem Alternativverhalten entspricht auf den ersten Blick der Topos der „hypothetischen rechtmäßigen Ermittlungsverläufe“. Dies scheint dafür zu sprechen, mit Hilfe dieses Arguments Beweisverwertungsverbote breitflächig „auszuhebeln“. Eine nähere Betrachtung zeigt aber Folgendes: Der Ausschluss der objektiven Zurechnungen deshalb, weil es auch bei rechtmäßigem Verhalten zu einer Rechtsgutsverletzung gekommen wäre, ist immer auf die konkrete Konstellation beschränkt (also etwa auf das Überholen des Radfahrers bei einem vergleichbaren Überholvorgang, aber unter Einhaltung des vorgeschriebenen Seitenabstandes) und fragt nicht etwa danach, ob auf irgendeine andere Art und Weise auch bei einem rechtmäßigen Verhalten ein Scha41 Um diesen noch einmal zu betonen: Es soll und kann an dieser Stelle nicht vorrangig darum gehen, auch alle denkbaren konkreten Entscheidungen über Beweisverwertungsverbote auf diese Formel „zurückzuspiegeln“. Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist vielmehr die Parallelität im System hinsichtlich der Argumentationslast bzw. hinsichtlich des Regel-Ausnahme-Verhältnisses. Dass es dabei dann gleich besonders anschaulich ist, wie solche „Ausnahmen von der Sanktionierung“ aussehen können, soweit diese auf solche Aspekte gestützt werden können, welche auch bei der objektiven Zurechnung im materiellen Recht eine „Sanktionierung“, d. h. eine Verantwortung ausschließen, liegt auf der Hand. 42 Vgl. dazu Kühl (Fn. 37), § 4 Rn. 46 ff.; Roxin, StrafR AT, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 53 ff. 43 Vgl. Kühl (Fn. 37), § 4 Rn. 43; Roxin (Fn. 42), § 11 Rn. 47 ff. 44 Zur strukturellen Parallelität zwischen einer allgemeinen Beweisverwertungsverbotslehre und der materiell-rechtlichen Schutzzwecklehre – freilich mit deutlichen Abweichungen im Detail – auch Müssig, GA 1999, 119 (132).
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denseintritt hätte erfolgen können. Überträgt man dies auf das Beweisrecht, so ist es ähnlich verfehlt zu fragen, ob auf irgendeine Art und Weise das Beweismittel auch rechtmäßig hätte erlangt werden können; vielmehr ist sehr genau auf den jeweiligen Einzelfall abzustellen und zu fragen, ob in dieser Situation das gleiche Beweisergebnis auch rechtmäßig erzielt worden wäre. Exemplarisch: Wird unter Verstoß gegen § 97 Abs. 2 S. 2 StPO eine Kanüle mit Resten abgenommenen Blutes beschlagnahmt, so kann einem aus diesem Fehler erwachsenden Beweisverwertungsverbot nicht erfolgreich entgegengehalten werden, dass theoretisch auch eine Blutentnahme nach § 81a StPO möglich gewesen wäre, da dies ein vollkommen anderer hypothetischer Ermittlungsverlauf ist. Die Frage ist vielmehr, ob es die Möglichkeit gegeben hätte (etwa bei einer anderen Anordnungsperson, mit einer anderen Begründung etc.) gerade auf diesem Wege (Beschlagnahme) rechtmäßig an das Blut zu kommen. Fasst man die alternativen hypothetischen Ermittlungsverläufe so eng, so werden sie von einem „Allheilmittel gegen Beweisverwertungsverbote“ zu einer Fallgruppe, welche nur in relativ wenigen Konstellationen eine Rolle spielen dürfte (und dann auch unproblematisch überzeugend ist). c) Bei dem aus der objektiven Zurechnung bekannten Argument des mangelnden Schutzzweckzusammenhangs schließlich geht es darum, dass diejenige Vorschrift, welche die verbotene Gefahrschaffung begründet, nicht vor der konkret eingetretenen Art von Schäden schützen soll. Paradebeispiel sind die bekannten Fälle der Geschwindigkeitsübertretung außerorts, die auch dann nicht zu einer Verantwortlichkeit führen, wenn belegt wäre, dass bei einer geringeren Geschwindigkeit ein Unfall innerorts ausgeblieben wäre, weil das Fahrzeug sich dann erst später am Unfallzeitpunkt befunden hätte. Vergleichbare Schutzzweckerwägungen lassen sich etwa anstellen, wenn bestimmte gesetzliche Regelungen von vornherein nicht als Einschränkungen des Beweisrechts gedacht bzw. zur Sicherung der Beweisqualität geschaffen worden sind, sondern allein andere Zwecke verfolgen. Prominentes Beispiel ist hier der (unwissentliche) Verstoß gegen das Arzterfordernis des § 81a Abs. 1 S. 2 StPO, welches nicht im Gesetz aufgenommen ist, weil von Ärzten abgenommene Blutproben einen überlegenen Beweiswert hätten oder rechtsstaatlich besser kontrolliert wären, sondern weil die körperliche Unversehrtheit des Untersuchten nur durch gut ausgebildete Personen angetastet werden soll. Ist es insoweit zu einem Fehler gekommen, hat sich dieser Schutzzweck letztlich durch die Blutabnahme erledigt45 und kann auch durch eine Unverwertbarkeit nicht mehr beeinflusst werden. 3. Die Beispiele zeigen, dass durchaus in schon bislang anerkannten Fällen eines fehlenden Beweisverwertungsverbotes dieses Ergebnis ohne weiteres auch nach der hier vertretenen Auffassung begründet werden kann. Gleichwohl dürfte das Postulat eines systematischen Regel-Ausnahme-Verhältnisses zugunsten eines Beweisver45 Und betrifft – worauf Müssig, GA 1999, 119 (133) hinweist – von vornherein nicht den prozessualen Status des Angeklagten.
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wertungsverbotes auch quantitativ dazu führen, dass in mehr Fällen ein Beweisverwertungsverbot anzunehmen wäre als bei einem umgekehrten Ausgangspunkt. Auch wenn die gesetzliche Regel-Ausnahme-Systematik „nicht alles“ ist, so ist sie gleichwohl auch nicht etwa bedeutungslos. Im Grunde gilt hier nochmals Ähnliches wie bei der Lehre von der objektiven Zurechnung: Fälle, in denen diese bei einer vorsätzlichen Rechtsverletzung im Ergebnis ausgeschlossen ist, sind rein praktisch selten, kommen aber vor und sind insbesondere theoretisch ohne weiteres darstellbar. Ähnliches würde dann auch für das Entfallen eines Beweisverwertungsverbotes trotz Fehlers bei der Beweiserhebung gelten: Es müssen überzeugende Gründe dafür vorgebracht werden, warum eine „an sich“ unzulässige Verwertung zulässig werden soll. Insbesondere kann dies nicht durch einen bloßen Rückgriff auf § 244 Abs. 2 StPO begründet werden, da dieser (ähnlich der allgemeinen Handlungsfreiheit in Fällen eines verletzungskausalen Handelns) bereits eine Stufe vorher durch die Feststellung eines Fehlers bei der Beweiserhebung „argumentativ überspielt“ worden ist und damit erst in der Begründung wieder „in Geltung gesetzt“ werden muss. Dies ist dann aber notwendigerweise nicht durch Rekurs auf sich selbst möglich. Auch andere Instrumente, die Beweisverwertungsverbote mit einer gewissen Regelmäßigkeit auszuschließen bzw. zumindest für unbeachtlich zu erklären, sind – nebenbei bemerkt – vor diesem Hintergrund weniger überzeugend. Dies gilt etwa für die (auch schon andernorts kritisierte46) Widerspruchslösung.
V. Fazit In einem Beitrag im vorliegenden Umfang musste ganz bewusst darauf verzichtet werden, abschließend die inhaltlichen Kriterien zu benennen, welche bei einem Rekurs auf die Lehre von der objektiven Zurechnung für das Recht der Beweisverwertungsverbote einschlägig sein können oder nicht. Zentraler Gegenstand des Interesses dieses Beitrages war vielmehr das Begründen eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses und damit die entsprechende Verteilung einer Argumentationslast zwischen verwertungsfeindlicher und verwertungsfreundlicher Konsequenz eines Fehlers bei der Beweiserhebung. Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis führt gegenüber den meisten bislang vertretenen Auffassungen zu einer Verschiebung in Richtung auf eine leichtere Annahme eines Beweisverwertungsverbotes. Das würde sich „statistisch“ notwendig auch auf die Anzahl der anerkannten Beweisverwertungsverbote auswirken. Viel wichtiger scheint mir aber das rechtspolitisch-rechtsstaatliche Signal zu sein, dass es für den Staat eben nicht selbstverständlich, sondern stets im Einzelfall positiv begründungsbedürftig ist, ein Beweismittel zu verwerten, welches er durch fehlerhaftes staatliches Handeln selbst hervorgebracht hat. Unabhängig von der Frage, ob mit der vorstehenden etwas hemdsärmlichen und mitunter eher intuitiven Skizze die systematischen Ansprüche des Jubi46
Vgl. Kudlich, Gutachten C zum 68. DJT 2010, C 93 ff.
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lars befriedigt werden konnten, weiß ich mich doch jedenfalls in dieser rechtspolitischen Grundtendenz für ein liberales, am Gesetzesvorbehalt orientierten Strafverfahrensrecht mit Jürgen Wolter einig.47
47 Diese Tendenz wird – an anderer Stelle bereits positiv hervorgehoben (vgl. Kudlich, GA 2011, 193 [194, dort Fn. 6], [206]) – etwa deutlich, wenn Jürgen Wolter als einer der wenigen Kommentatoren der §§ 100a ff. StPO ein wichtiges Gegengewicht zu der starken Dominanz obergerichtlicher Kommentatoren in diesem Bereich setzt und z. B. bei einer zumindest unklaren gesetzlichen Regelungslage in §§ 100a ff. StPO eine Quellen-TKÜ de lege lata für unzulässig hält (vgl. SK-SPO/Wolter, § 100a Rn. 27 ff.).
Beschuldigtenangaben in vernehmungsähnlichen Situationen Von Hans-Heiner Kühne
I. Es ist selten in unserem von keiner örtlichen Konstanz mehr geprägten Leben, dass Freundschaften sich von der Schulzeit über das berufliche Leben bis hin ins Alter erhalten. Zu unterschiedlich sind die Bedingungen des modernen Lebens, die uns in der Welt verteilen. Umso schöner ist es, wenn man aus Anlass der Würdigung des Lebenswerks eines Kollegen durch eine Festschrift sagen kann, man sei sich seit den Zeiten des Gymnasiums freundschaftlich verbunden. So ist es mit Jürgen Wolter, den ich nach der Schulzeit erst wieder in der Frühphase unserer wissenschaftlichen Karrieren getroffen und seither nicht mehr aus den Augen verloren habe. Darum ist es zunächst einmal Freundespflicht an dieser Festgabe mitzuwirken. Eine Pflicht, der ich umso lieber nachkomme, als es gilt einen bedeutenden Wissenschaftler zu ehren.
II. 1. Exposition Die geradezu schroffen Formulierungen in § 136a StPO haben im Laufe der Zeit erfreulicher Weise dazu geführt, dass polizeiliche Vernehmungen überwiegend in einem rechtsstaatlich vertretbaren Rahmen stattfinden, der auch dem Fairnessgebot des Art. 6 Abs. 1 EMRK in den vielfältigen von der Rechtsprechung des EGMR herausgearbeiteten Facetten entspricht. Die Problematik hat sich in den letzten Jahren denn auch verschoben auf die Kommunikation mit dem Beschuldigten in vernehmungsähnlichen Situationen. Auch hier hat die Rechtsprechung des BGH gewisse Grenzen gesetzt, die es verhindern sollen, dass die Schranken polizeilicher Vernehmungsbefugnisse durch die Benutzung von gleichsam privaten Substraten ausgehebelt werden. Es geht in allen diesen Fällen um die Nutzung von Dritten, um der Polizei Informationen zu erschließen, die im Rahmen einer formellen Vernehmung so nicht zu erlangen gewesen wären. Die erste Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt ist: handelt es sich bei einer solchen Nutzung von Dritten um eine Vernehmung i. S. von §§ 136, 136a, 163a Abs. 3 StPO mit der Folge, dass die in der Vorschrift ausgesprochenen Aufklärungspflichten, Restriktionen und Verbote auch für die private
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dritte Person gelten – was dann im Falle einer Verletzung dieser Regeln zu dem absoluten Beweisverbot des § 136a Abs. 3 StPO oder dem von der BGH Rechtsprechung letztlich anerkannten Beweisverwertungsverbot aus § 136 StPO1 führen würde. Konkret sind insbesondere der Schutz des Beschuldigten vor Täuschungen, § 136a Abs. 1 StPO sowie der vor dem Zwang auszusagen, nemo tenetur, §§ 136 Abs. 1, 163a StPO, Art. 6 Abs. 1 EMRK, betroffen. 2. Die Rechtsprechung des BGH Die Rechtsprechung des BGH weigert sich in diesen Fällen, das Tatbestandsmerkmal der Vernehmung auch erweiternd auf vernehmungsähnliche Situationen, solche also, die als ein funktionales Äquivalent von Vernehmungen2 angesehen werden könnten, zu beziehen. § 136a StPO setze voraus, dass der Vernehmende dem Vernommenen in amtlicher Funktion gegenüber trete, wodurch allein die durch § 136a StPO zu verhindernde Fehlvorstellung entstehen können, die dann durch die Schutzwirkung des § 136a verhindert werden solle.3 Stattdessen wird in solchen Fällen mangels Vernehmung eine unmittelbare Anwendung von §§ 136, 163a, 136a StPO verneint und die Frage einer entsprechenden Anwendung in den Raum gestellt. Dafür greift der BGH dann aber zurück auf die Elemente, die konstituierend für eine Vernehmungssituation sind. Dies sind alles Dinge, die die Freiheit der Willensentschließung angesichts der Autorität der amtlichen Vernehmungssituation einschränken. In der entsprechenden Anwendung prüft der BGH dann, ob andere Zwänge von staatlicher Seite her zu verantworten gewesen sind, die ähnlich stark wie eine offizielle Vernehmung gewirkt haben könnten. Dies wird bejaht soweit die Kommunikation des Beschuldigten mit der von der Polizei/Staatsanwaltschaft genutzten privaten Person durch die Situation der U-Haft unmittelbar4 oder mittelbar5 beeinträchtigt wird. Abgelehnt wird dies hingegen vom Großen Senat des BGH im Falle der freien Kommunikation mit einem von der Polizei auf den Beschuldigten angesetzten Lockspitzel. Anders als der vorlegende 5. Strafsenat meinte, der eine Verletzung des nemo tenetur dadurch gegeben sah, dass die Polizei einen straff geführten Vertrauensmann veranlasste, ein überwachtes Telefonat mit dem Beschuldigten zu führen, lehnte der Große Senat im Jahre 1996 dies ab und verwies auf den Umstand, dass der Beschuldigte in Hinblick auf dieses Telefonat keinerlei Zwang ausgesetzt war, sondern sich nur über die Intentionen des Anrufers im Irrtum befand, was nach §§ 136, 163a,
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Seit BGH NStZ 1992, 294. EGMR StV 2003, 257, 259 f. (Fall Allan); BGHSt 52, 11. 3 Etwa BGHSt 42, 139 (145); 52, 11 (15). 4 So der Fall eines in die U-Haft Zelle verbrachten Spitzels BGHSt 34, 362. 5 So in BGHSt 52, 11, wo der Beschuldigte während des Hafturlaubs allein den V-Mann als vertrauenswürdige Kontaktperson in der Außenwelt hatte. 2
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136a StPO irrelevant sei.6 Freilich öffnet der 3. Senat des BGH in einer Entscheidung von 20077 die Tür zu einem von der Entscheidung des Großen Senats abweichenden Verständnis. Danach ist eine Verletzung des nemo tenetur Grundsatzes – auch im Lichte der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK – dann anzunehmen, wenn der Beschuldigte zuvor von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hat und danach gleichwohl durch einen Verdeckten Ermittler in quasi privater aber abgehörter und aufgezeichneter Kommunikation zu einem Geständnis veranlasst wird. Dazu unten bei 5. mehr.
3. Dogmatische Fragen zur Position der Rechtsprechung Bei diesem Ansatz der Rechtsprechung erscheint zunächst als fraglich, ob hinreichend trennscharf argumentiert wird. Es verwundert, dass eine vernehmungsähnliche Situation grundsätzlich keine Berücksichtigung findet, jedoch die Elemente, durch die sich eine Vernehmungssituation auszeichnet – nämlich Zwang und als dessen Folge Reduktion von entsprechender Entscheidungsfreiheit aufgrund amtlicher Autorität – eigenständig geprüft werden, um eine entsprechende Anwendung des § 136a StPO zu ermöglichen. Wenn sich denn schon ein Tatbestandsmerkmal zur kritischen Subsumtion anbietet, sollte es doch auch entsprechend geprüft werden, anstatt jenseits des Tatbestands eine neue Kategorie aufzumachen, innerhalb derer dann eben die Elemente, die der Gesetzgeber ansprechen wollte interpretierend aufgearbeitet werden. Der Grund hierfür mag in der eigentlich erfreulichen Ausrichtung der neueren BGH-Rechtsprechung an der des EGMR liegen. Bekanntlich hat in diesem Zusammenhang der EGMR die Zulässigkeit dergestalt erlangter Beweise von der Zwangswirkung abhängig gemacht, die damit verbunden gewesen ist.8 Da der EGMR als gesetzliche Vorlage für seine Entscheidungen nur den Art. 6 Abs. 1 EMRK in der Form des „fairen Verfahrens“ zur Verfügung hatte, war er gleichsam gezwungen eine Kategorie zu finden, innerhalb derer er den Missbrauch amtlicher Autorität zu Vernehmungszwecken rügen konnte. Der BGH hingegen scheint insofern in einer angenehmeren, weil strukturierteren Lage zu sein, da das deutsche Recht in § 136a StPO ein entsprechendes Tatbestandsmerkmal vorgibt. Warum also nutzt der BGH diese Möglichkeit nicht? Diese Erwägungen sind nicht nur theoretischer Natur sondern haben einen durchschlagenden Einfluss auf die rechtliche Beurteilung entsprechender Informationserlangung. Wenn denn auch das funktionale Äquivalent einer Vernehmung nach § 136a StPO relevant wäre, dann könnten bei der Subsumtion der weiteren Tatbe6
BGHSt GS 42, 139. BGHSt 52, 11 (15). 8 Etwa EGMR, Urt. v. 5. 11. 2002, Allan vs UK; Urt. v. 8. 4. 2003, M.M vs. Niederlande, m. Anm. Gaede StV 2004, 46; Urt. v. 10. 3. 2009, Bykov vs. Russland; Urt. v. 4. 11. 2010, Bannikova vs. Russland. 7
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standsmerkmale der Vorschrift, insbesondere aber des hier regelmäßig und gleichsam strukturell vorliegenden Merkmals der Täuschung, Schwierigkeiten auftreten. Da die Täuschung über die Tatsache einer offiziellen Vernehmung Voraussetzung des „funktionalen Äquivalents“ wäre, darüber hinaus aber keine weitere Täuschung vorläge – die Täuschung ist gleichsam durch ihre Verwendung bei der Konstitution des „funktionalen Äquivalents“ der Vernehmung bereits verbraucht – wäre es kaum möglich, den § 136a Abs. 1 S. 1 StPO zu subsumieren, da als weiteres erforderliches Tatbestandsmerkmal eine zusätzliche Täuschung nicht ersichtlich wäre. Auch die durch die (U-)Haft-Situation hervorgerufene Zwangssituation könnte nicht angeführt werden, da sie ja gesetzlich vorgesehen ist und daher nicht nach § 136a Abs. 1 S. 2 StPO einschlägig wäre. Es zeigt sich also, dass die Weigerung des BGH, den Begriff der Vernehmung extensiv zu interpretieren, im Rahmen des § 136a StPO zunächst als durchaus sinnvoll erscheint und den Schutz des Beschuldigten vor unangemessener Ausforschung im Rahmen des nemo tenetur Prinzips verstärkt. Es wird gleichsam ein neuer Weg kritischer Betrachtung solcher Ausforschungstechniken gefunden, der auch den Anforderungen der Rechtsprechung des EGMR jenseits des § 136a StPO entsprechen kann. Andererseits macht diese Art der Argumentation es erst möglich, überhaupt vernehmungsähnliche Situationen zu nutzen und deren Inhalt prozessual zu verwerten. Denn wenn die Kommunikation einer von der Polizei geführten, scheinbar oder tatsächlich privaten Person mit dem Beschuldigten wie eine Vernehmung zu bewerten wäre, dann müsste auch eine entsprechende Belehrung nach §§ 136, 163a Abs. 4 StPO erfolgen – was natürlich den ganzen Aufwand hinfällig machen würde. Aus dieser Sicht ist daher die Ansicht der Rechtsprechung nicht beschuldigtenfreundlich, wohl weil die Anerkennung der vernehmungsähnlichen Situation im Rahmen der §§ 136, 136a, 163a StPO zu einem vollständigen Ausschluss derart verdeckter Ausforschungen führen würde. Das hinwiederum wird der Rechtsprechung rechtspolitisch als allzu weitgehend erschienen sein. Dies mag auch der Grund dafür sein, dass der BGH sich nur sehr vage zu der Möglichkeit einer entsprechenden Anwendung des § 136a StPO äußert. In seiner Entscheidung vom 26. 7. 20079 verneint der 3. Senat zunächst die Möglichkeit einer direkten wie entsprechenden Anwendung des § 136a StPO knapp im Falle einer Aushorchung durch einen Verdeckten Ermittler, bevor er das nemo tenetur als verletztes Prinzip aufgreift. Auch im hier näher zu betrachtenden Beschluss von 201110 verweist der 3. Senat nur kurz darauf, dass weder eine direkte noch eine indirekte Anwendung des § 136a StPO in Frage komme. Klarer wäre es gewesen darauf hinzuweisen, dass auch eine entsprechende Anwendung letztlich zum generellen Ausschluss verdeckter Vernehmungen führen 9
BGHSt 52, 11 (15 f.). BGH StV 2012, 129.
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würde, weil das auf diese Weise erweiterte Verständnis der Vernehmung hin zu dem funktionalen Äquivalent der Vernehmung im Rahmen des § 136a SPO dann auch für § 136 StPO gelten müsste. Die Aufklärungspflicht nach § 136 ließe aber ganz offensichtlich die Heimlichkeit einer solchen Vernehmung in sich zusammenbrechen. Also kommt eine entsprechende Anwendung des § 136a StPO nicht in Frage, will man zumindest für Einzelfälle die Ausforschung durch Private oder als privat erscheinende Personen möglich machen. Wenn man unter dieser Prämisse gleichwohl einen gewissen Schutz vor allzu drastischer Ausforschung gewähren will, bleibt nur der Weg über Art. 6 Abs. 1 EMRK (nemo tenetur). Dies ist immerhin ein Weg, der nach der Rechtsprechung des EGMR akzeptabel erscheint, die ja auch nur dann derartige „Privatvernehmungen“ für eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK hält, wenn zusätzlich unangemessener Zwang mit im Spiel war. 4. Die Position des EGMR Deshalb soll im Folgenden zunächst einmal geprüft werden, ob diese letzte Entscheidung des BGH vom März 2011 tatsächlich auch der Rechtsprechung des EGMR im Detail entspricht. Im Fall Allan11 ging es um das Abhören von Gesprächen in der U-Haft sowie um die gezielte Belegung der Zelle von Allan mit einem Polizeispitzel, der Allan aushorchen sollte. Durchaus in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BGH nahm der EGMR hier eine Verletzung von Art. 6 I EMRK in der Form der Freiheit vor Selbstbelastung – nemo tenetur – an. Ganz anders lag es im Falle Bykov12. Hier wurde der Beschwerdeführer von einer Privatperson, die von der Polizei mit Mikrofon und Sender ausgestattet worden war, ausgehorcht. Damit sind wir sehr nah an dem vom BGH im März 201113 entschiedenen Fall. Der EGMR hat in Bykov entschieden, dass keine Verletzung des nemo tenetur in der Form des Art. 6 I EMRK vorgelegen habe, da anders als in Allan kein Zeichen für staatliche Zwangsausübung zu erkennen sei. Roxin kritisiert, dass der EGMR in Bykov es unterlassen habe, auf das Element der Täuschung einzugehen, so wie er es noch in Allan getan habe.14 Dabei übersieht Roxin aber, dass die Täuschung im Falle Allan nur Teil des durch die Haftsituation begründeten Zwangs war, der als solcher konstituierend für die Verletzung des nemo tenetur erschien. Durchaus folgerichtig wurde in Bykov die bloße Täuschung außerhalb jeglicher durch Staatsgewalt begründeter Zwänge als irrelevant betrachtet.
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EGMR, Urt. v. 5. 11. 2002, Allan vs UK. EGMR, Urt. v. 10. 3. 2009, Bykov vs Russland. 13 BGH StV 2012, 129. 14 Roxin, StV 2012, 131. 12
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Dies sieht der BGH ebenso und verneint daher sowohl ein rechtswidriges wie auch das ein Verwertungsverbot begründende Verhalten der Polizei. Insofern entspricht die Entscheidung des BGH der Rechtsprechung des EGMR in diesem Zusammenhang. 5. Vernehmung und Kommunikationskontrolle Mit dieser Erkenntnis der EGMR-Konformität der Entscheidung des BGH sind wir jedoch noch nicht am Ende der Prüfung angelangt. Denn selbstverständlich kann das nationale Recht selbst einen höheren Schutz als die EMRK gewähren und natürlich ist die nationale Rechtsprechung entsprechend frei, die Vorschriften der EMRK noch schutzintensiver als der EGMR auszulegen. Der entscheidende Punkt sowohl bei Bykov als auch in der Entscheidung des BGH vom März 2011 ist in der Diskussion jedoch bislang nicht hinreichend berücksichtigt worden. Am schönsten kommt dieses wesentliche Detail im Fall des BGH zum Vorschein: Nicht nur, dass die Polizei den privaten Aushorcher „verdrahtet“, nein in weiser Voraussicht erlässt das AG auch noch einen Beschluss nach § 100f StPO, um eine mögliche Strafbarkeit des Aushorchenden nach § 201 Abs. 1 StGB und seiner Helfer nach § 201 Abs. 2 StGB zu verhindern. Das ist bei einem derartigen Verhalten in der Tat angebracht, sollen die ermittelnden Akteure nicht selbst zu Beschuldigten werden. Aber gerade hier liegt die Besonderheit des Falles, welche weder in der Entscheidung noch in der kritischen Besprechung von Roxin Berücksichtigung findet. Kann man das „Verdrahten“ des Aushorchenden vielleicht noch als Hilfestellung gegenüber einem Privaten verstehen, so ist es schon schwieriger, dies ebenfalls vom polizeilichen Abhören der so geführten Gespräche anzunehmen und bloß private Tätigkeit zu subsumieren; endgültig aber ist der Erlass einer Anordnung nach § 100f StPO ganz deutlich ein Akt staatlicher Gewalt. Zwar dient diese Ausübung staatlicher Gewalt zunächst nur dem rechtlichen Schutz des Aushorchenden und seiner Helfer und führt zu keiner unmittelbaren rechtlichen Beeinträchtigung des auszuhorchenden Beschuldigten. Gleichwohl aber hat dieser Gerichtsbeschluss eine mittelbare Einschränkung des Rechtsbereichs des Beschuldigten zur Folge. Er kann, anders als alle anderen Bürger, nicht mehr auf den Schutz seiner privaten Kommunikation vor heimlichen Aufnahmen und deren Weitergabe an Dritte vertrauen. Das weiß er zwar nicht. Aber dieser Umstand macht den Rechtsverlust noch dramatischer, weil er sich nicht darauf einstellen kann, in dem fälschlichen Glauben, man dürfe dies ihm gegenüber nicht straflos tun. Dies beeinflusst notwendig die Art seiner privaten und der für privat gehaltenen Kommunikation. Diese Auswirkung des richterlichen Beschlusses hat dennoch wohl keine Zwangseinwirkung, so wie sie bislang in der Judikatur von BGH und EGMR angesprochen worden ist, zur Folge. Man könnte sogar sagen, dass der Beschluss in Hinblick auf den Grundsatz des nemo tenetur keine Bedeutung habe, sondern nur das erlaube, was im Rahmen der Ermittlungen nach § 100f StPO aufgrund richterlicher
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Anordnung eben erlaubt sei, die Aufzeichnung des nicht-öffentlich gesprochenen Wortes. Aber gerade hier muss genauer hingeschaut werden Die §§ 100 – 100i StPO erlauben eine Vielzahl von Eingriffen in die private Kommunikation und damit Ausnahmen vom Schutz durch die §§ 201 – 204 StGB; und dies durchaus und gerade ohne den Betroffenen davon zu informieren. Nicht aber erlauben diese strafprozessualen Vorschriften, Einfluss auf die so kontrollierte private Kommunikation zu nehmen. Das macht dann auch den Unterschied zwischen Vernehmen und Abhören aus. Bei der Gestaltung des hier diskutierten Falles vermischen sich diese beiden Kategorien, was die Frage nach der Zulässigkeit aufwirft. Klar scheint zu sein, dass die §§ 100a – 100i StPO lediglich erlauben, fremde Kommunikation zur Kenntnis zu nehmen. Anders lässt sich der jeweilige Wortlaut nicht verstehen. Daraus folgt, dass die Steuerung einer abgehörten Kommunikation bei bloßem Vorliegen einer Abhörgenehmigung gemäß § 100f StPO nicht gerechtfertigt ist und als Umgehung der Vernehmungsvorschriften, §§ 136, 136a, 163a StPO angesehen werden muss. Die Vorschriften über den Verdeckten Ermittler, §§ 110a – 110c StPO, könnten jedoch als strafprozessuale Rechtfertigungen in Betracht kommen – so denn entsprechende richterliche Beschlüsse vorliegen. Diese Vorschriften haben – neben vielem Anderen15 – die Besonderheit, dass sie es verdeckt arbeitenden Polizisten erlauben, im Milieu von potentiellen wie realen Beschuldigten Informationen einzuholen, die durch bloße Vernehmungen nicht zu erlangen wären. Damit wird eine Situation beschrieben, die der des polizeilich gesteuerten Privatmanns oder aber auch verdeckt arbeitenden Polizisten als heimlicher Vernehmungsperson sehr nahe kommt. Gleichwohl bestehen Unterschiede, was nicht verwundert, da die §§ 110 – 110c StPO natürlich die allgemeinen Vernehmungsvorschriften weder außer Kraft setzen noch ersetzen wollen und können; vielmehr beschreiben sie eine Sondersituation. Entsprechend ist weitgehend anerkannt, dass §§ 136, 136a StPO für den Verdeckten Ermittler nur dann nicht gelten, wenn es um den Erhalt seiner Legende geht.16 Was unterscheidet nun den Einsatz eines Verdeckten Ermittlers von dem einer Privatperson in polizeilichem Auftrag/unter polizeilicher Kontrolle oder von dem eines ebenfalls verdeckt auftretenden Polizeibeamten zur Erzielung einer belastenden Aussage? Oder schärfer gefasst: wo verläuft die Grenze zwischen zulässiger ver-
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Vgl. ausführlich Krey, Rechtsprobleme des strafprozessualen Einsatzes Verdeckter Ermittler einschließlich des Lauschangriffs zu seiner Sicherung und als Instrument der Verbrechensbekämpfung, BKA Forschungsreihe Sonderband 1993; Weiler, Grundlagen und Grenzen des polizeilichen Einsatzes von Vertrauenspersonen im Strafverfahren, 2001. 16 Krey (Fn. 15), Rn. 220, 225; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. 2012, § 110b Rn. 3; so ansatzweise schon BGHSt GS 42,139 (151).
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deckter Polizeiarbeit und unzulässiger Umgehung der zentralen Vernehmungsvorschriften nach §§ 136, 136a, 163a StPO? Der Schlüssel hierzu scheint in den §§ 110a, 161 Abs. 3 StPO zu liegen. Während § 110a StPO es nur erlaubt, den Verdeckten Ermittler ins Milieu zu schleusen und dann von seinen Erkenntnissen als Zeuge zu berichten, besteht über Art. 13 Abs. 5 GG die Möglichkeit, dass Verdeckte Ermittler zur Erhaltung ihrer eigenen Sicherheit auch verkabelt werden dürfen. Dies schafft die Möglichkeit, Gespräche mit Beschuldigten unmittelbar abzuhören und aufzunehmen. § 161 Abs. 3 StPO räumt dann unter gewissen Kautelen die Möglichkeit ein, diese aus präventivem Einsatz stammenden polizeilichen Informationen – also die Gesprächsaufnahmen – auch strafprozessual zu verwenden. Der Umstand, dass Verdeckte Ermittler nur unter den einschränkenden Bedingungen von Art. 13 Abs. 5 GG, § 161 Abs. 3 StPO verwertbare Audio-Protokolle von ihren Gesprächen mit Beschuldigten erstellen dürfen, belegt den Ausnahmecharakter dieser Konstellation. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Verdeckte Ermittler außerhalb von persönlichen Gefährdungssituationen keine Audio-Protokolle zur Überführung von Beschuldigten erstellen dürfen, sondern prozessual auf eine Zeugenposition beschränkt sind. Wenn eine solche Begrenzung aber für die Verdeckten Ermittler gilt, also „echte“ Polizisten, die die relativ verlässlichste Kategorie geheimer Ermittler darstellen,17 muss dies erst Recht für andere Helfer der Polizei gelten, die mangels polizeilicher Ausbildung deutlich weniger verlässlich sind. Es folgt also aus Art. 13 Abs. 5 GG, §§ 161 Abs. 3, 110a StPO, dass die StPO verdeckte vernehmungsähnliche Situationen nur im Rahmen der dort dargestellten, besonderen Umstände der Selbstsicherung für zulässig erachtet. Für alle anderen verdeckten Techniken der Erlangung unmittelbarer Aussagen von Beschuldigten geben die §§ 110a ff StPO keine Rechtfertigung, sondern schließen diese aus.
III. Zusammenfassend kann demgemäß festgestellt werden, dass für die Erlangung der Aussage eines Beschuldigten durch Private oder verdeckt arbeitende Polizeibeamte mittels Abhörvorrichtungen weder § 100f StPO noch §§ 110a ff StPO rechtfertigend herangezogen werden können. Im Gegenteil: Aus dem Umkehrschluss zu §§ 161 Abs. 3, 110a StPO folgt, dass der Gesetzgeber außerhalb der Notwendigkeit einer Selbstsicherung von Verdeckten Ermittlern die Erzielung von heimlichen Audio-Protokollen der Aussagen von Beschuldigten nicht billigt.
17 Grundsätzlich kritisch zur Verlässlichkeit so erlangter Informationen Kühne, Strafprozessrecht. Eine systematische Darstellung des deutschen und europäischen Strafverfahrensrechts, 8. Aufl. 2010, Rn. 915 ff.
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Es bedarf also keines Rückgriffs mehr auf das allgemeine Prinzip des nemo tenetur. Vielmehr ist unser Ergebnis eine Konsequenz der Entscheidung des deutschen Gesetzgebers zur Implementierung des Schutzes von nemo tenetur. Dies wiederum bedeutet, dass die überwiegende Rechtsprechung des BGH insoweit unzutreffend und zu korrigieren ist. Das deutsche Recht unterscheidet durchaus zwischen dem – ungeschützten – Risiko von Beschuldigten, im Gespräch mit Dritten kompromittierende Informationen preiszugeben und dem Risiko, in eine von der Polizei veranlassten Hörfalle zu tappen. Letzteres ist nicht generell zulässig, sondern nur in gesetzlich geregelten Sonderfällen möglich. Die oben bereits angeführte Entscheidung des 3. Strafsenats von 200718 scheint dies zumindest geahnt zu haben, wenn dort die Aufzeichnung eines privaten Gesprächs zwischen dem Beschuldigten und einem Verdeckten Ermittler als Verstoß gegen das Prinzip des nemo tenetur angesehen wird. Es ist zwar nicht zu verkennen, dass in diesem Fall noch erschwerende besondere Umstände hinzugekommen sind: So wurde der Verdeckte Ermittler dem Beschuldigten bereits in der Untersuchungshaft als Zellengenosse zugewiesen, der sich das Vertrauen des Beschuldigten erschlich und daher auch während des Hafturlaubs als einziger Kommunikationspartner zur Verfügung stand. Zudem hatte der Beschuldigte zuvor erklärt, er mache von seinem Schweigerecht Gebrauch. Insofern war eine Vergleichbarkeit mit dem unstreitig unzulässigen Abhören innerhalb der U-Haft nahe liegend. Diese beiden Umstände reichten dem BGH, um eine von der in der Entscheidung des Großen Senats abweichende Sachverhalts-Konstellation zu erkennen und eine Rechtsverletzung mit der Folge eines Beweisverwertungsverbots anzunehmen. Ein Konflikt mit der Entscheidung des Großen Senats war somit vermieden worden. Schade nur, dass der 3. Strafsenat in seiner Entscheidung vom März 2011 hier nicht anknüpft und diese dogmatisch weiterentwickelt, sondern zurückkehrt zu den deutlich weniger individualrechtsfreundlichen Grundsätzen der Entscheidung des Großen Senats. Wenn schon kein Abweichen von der Entscheidung des Großen Senats im Sinne der oben dargelegten Überlegungen hätte erwartet werden können, so wäre doch zumindest der Weg frei gewesen, um im Rahmen des nemo tenetur Grundsatzes und des Art. 6 Abs. 1 EMRK das Konzept des Zwangs weiter zu führen und auch solche Maßnahmen zu berücksichtigen, die ohne spezielle strafprozessuale Ermächtigung Freiheits- und Vertrauenspositionen des Beschuldigten einschränken und damit die Garantien der §§ 136, 136a, 161a StPO deutlich reduzieren, wenn nicht gar aushebeln.
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„Bagatellsachen“ Abwesenheitsverhandlung (§ 232 Abs. 1 S. 1 StPO), Vertretungsbefugnis (§ 234 StPO), Anordnung persönlichen Erscheinens (§ 236 StPO) und Verwerfung der Berufung (§ 329 Abs. 1 S. 1 StPO) Von Wilfried Küper
I. 1. Nach § 232 Abs. 1 S. 1 StPO kann in Strafsachen von geringerer Bedeutung – sog. „Bagatellsachen“ – die Hauptverhandlung ohne den Angeklagten durchgeführt werden, wenn er ordnungsgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass in seiner Abwesenheit verhandelt werden kann. Um eine „Bagatellsache“ i. S. der Vorschrift handelt es sich z. B., wenn lediglich eine Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen zu erwarten ist. In dem von Jürgen Wolter mit bewundernswerter Energie herausgegebenen und mitverfassten „Systematischen Kommentar zur Strafprozessordnung“ findet man – in den von Deiters bearbeiteten Erläuterungen – auch Bemerkungen zur Bedeutung des § 232 Abs. 1 S. 1 StPO für das Berufungsverfahren, in dem die Vorschrift anerkanntermaßen ebenfalls gilt.1 Sie betreffen das Fehlen des hier geforderten Hinweises auf die Möglichkeit der Abwesenheitsverhandlung und dessen Relevanz für die Anwendung des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO, jener Bestimmung, nach der das Gericht die Berufung des Angeklagten „ohne Verhandlung zur Sache“ verwerfen muss, wenn bei Beginn der Hauptverhandlung weder der Angeklagte „noch in Fällen, in denen dies zulässig ist, ein Vertreter des Angeklagten erschienen“ und das Ausbleiben nicht genügend entschuldigt ist. Dazu heißt es in der Kommentierung von Deiters:2 „Hat das Gericht in der Ladung nicht nach Abs. 1 S. 1 auf die Möglichkeit der Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten hingewiesen, ist die Berufung des Angeklagten nach Auffassung der Rechtsprechung und herrschenden Lehre … grundsätzlich auch dann nach § 329 Abs. 1 S. 1 zu verwerfen, wenn für den Angeklagten ein zu seiner Vertretung bevollmächtigter Verteidiger erscheint. Vorbehaltlich einer nicht aus anderen Gründen zulässigen Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten, fehlt es an den von § 234 vorausgesetzten Bedingungen der Befugnis des Angeklagten, sich durch einen Verteidiger vertreten zu lassen.“ 1 2
Vgl. statt vieler Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. 2012, § 232 Rn. 2, m. w. N. Deiters, in: Wolter (Hrsg.), SK-StPO, Bd. IV, 4. Aufl. 2011, § 232 Rn. 2.
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Für diese „herrschende“ Auffassung, nach der allein das Fehlen des in § 232 Abs. 1 S. 1 StPO genannten Hinweises, vermittelt durch den Ausschluss der in § 234 StPO vorgesehenen (passiven) Vertretungsbefugnis, quasi-automatisch zur Verwerfung der Berufung gemäß § 329 Abs. 1 S. 1 StPO führen soll, nimmt der Kommentator auf das Urteil des BGH vom 27. 3. 1973 (BGHSt 25, 165 ff.; 5. Strafsenat3) Bezug4 – die bisher einzige höchstrichterliche Entscheidung zu diesem Thema seit nunmehr 40 Jahren, deren Leitsatz lautet:5 „Ist der Angeklagte im Berufungsverfahren über eine Bagatellsache nicht darauf hingewiesen worden, daß in seiner Abwesenheit verhandelt werden kann (§ 232 Abs. 1 S. 1 StPO), und bleibt er in der Berufungsverhandlung unentschuldigt aus, so ist seine Berufung nach § 329 Abs. 1 StPO zu verwerfen. Das gilt auch dann, wenn ein mit schriftlicher Vollmacht versehener Verteidiger (§ 234 StPO) in der Berufungshauptverhandlung erscheint.“
In diesem Zusammenhang äußert sich Deiters im „Systematischen Kommentar“ noch kurz zu einer anderen, verwandten Frage, nämlich zur Bedeutung der Anordnung des persönlichen Erscheinens nach § 236 StPO für die Verwerfung der Berufung gemäß § 329 Abs. 1 S. 1 StPO. Auch wenn ein Hinweis i. S. des § 232 StPO erteilt worden sei – so meint er –, verhindere das Erscheinen des bevollmächtigten Vertreters die Berufungsverwerfung nicht, sofern das Gericht ein persönliches Erscheinen des Angeklagten angeordnet habe.6 Denn durch diese Anordnung werde die Möglichkeit der Vertretung (§ 234 StPO) beseitigt: „Bleibt der Angeklagte bei einer von ihm eingelegten Berufung trotz der Anordnung der Hauptverhandlung fern, hat das Gericht deshalb auch bei Anwesenheit seines Vertreters – mangels Zulässigkeit der Vertretung – die Berufung nach § 329 Abs. 1 S. 1 zu verwerfen.“7 Für die auch insoweit „herrschende Meinung“ wird ebenfalls auf BGHSt 25, 165 (166) Bezug genommen. 2. Die von Deiters angesprochenen Fragen kehren im „Systematischen Kommentar“ an späterer Stelle wieder: in den Erläuterungen Frischs zum „Versäumnisurteil“ nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO.8 Frisch entscheidet sie im Wesentlichen ebenso wie Deiters. Im Anwendungsbereich des § 232 StPO sei die Zulässigkeit der Vertretung (§ 234 StPO) daran geknüpft, dass der Angeklagte in der Ladung auf die Möglichkeit einer Hauptverhandlung in seiner Abwesenheit hingewiesen worden sei: „Ist dieser Hinweis unterblieben und bleibt der Angeklagte zu Beginn der Hauptverhandlung unentschuldigt aus, so ist die Hauptverhandlung ohne ihn nicht statthaft, und das Berufungsgericht hat daher mangels zulässiger Vertretung die Berufung des Angeklagten auch dann zu verwerfen, wenn ein bevollmächtigter Vertreter erschienen ist.“ 3 Az.: 5 StR 655/72; veröffentlicht auch in NJW 1973, 1006 f. mit Anm. Küper (1334 f.) und in JR 1974, 28 f. mit Anm. Gollwitzer (29 f.). 4 Er erwähnt freilich in Fn. 9 meine abweichende Auffassung: Küper, GA 1971, 289 (302). 5 BGHSt 25, 165. 6 Deiters, in: SK-StPO, § 232 Rn. 2. 7 Deiters, in: SK-StPO, § 236 Rn. 6. 8 Frisch, in: SK-StPO (Lieferung Oktober 2001), § 329 Rn. 13.
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Hierfür wird wiederum auf BGHSt 25, 165 Bezug genommen, freilich angedeutet, dass in Literatur und Rechtsprechung „beachtliche Gegenargumente“ geltend gemacht worden sind.9 Hinzugefügt ist die Klarstellung, dass der in § 323 Abs. 1 S. 2 StPO geforderte Hinweis (auf die Folgen des Ausbleibens nach § 329 StPO) einen Hinweis i. S. des § 232 StPO nicht ersetzen könne. Was die Anordnung des persönlichen Erscheinens (§ 236 StPO) betrifft, so ist auch Frisch der Ansicht, dass sie die Zulässigkeit der Vertretung grundsätzlich ausschließt und deshalb selbst dann zur Verwerfung der Berufung nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO führt, wenn ein Hinweis i. S. des § 232 StPO erteilt worden ist.10 Anders sei die Rechtslage allerdings, wenn der Angeklagte gegen ein Urteil Berufung eingelegt hat, das auf seinen Einspruch gegen einen Strafbefehl hin ergangen ist. In diesem Fall gelte die in § 411 Abs. 2 StPO bestimmte, nicht an jenen Hinweis gebundene Vertretungsmöglichkeit ebenso für die Berufungsverhandlung. Deshalb dürfe die Berufung des Angeklagten bei Erscheinen eines bevollmächtigten Vertreters auch dann nicht verworfen werden, wenn die Ladung keinen Hinweis auf die Möglichkeit der Abwesenheitsverhandlung enthalte oder (und) das Berufungsgericht nach § 236 StPO das persönliche Erscheinen des Angeklagten angeordnet habe.11 3. Das Urteil des 5. Strafsenats vom 27. 3. 1973 (BGHSt 25, 165 ff.), das noch heute im Mittelpunkt der herrschenden Auffassung steht, hat eine Vorgeschichte, über die es selbst nur sehr spärliche Auskunft gibt, wie es denn überhaupt geradezu lakonisch formuliert ist. Das BGH-Urteil ist auf einen ausführlich begründeten Vorlegungsbeschluss des OLG Celle hin ergangen,12 der leider unveröffentlicht geblieben ist13 und über dessen Begründung man in der Entscheidung des BGH nur wenig erfährt. Das OLG Celle hatte in seinem Beschluss vom 26. 9. 1972 dem BGH zwei Rechtsfragen zur Entscheidung vorgelegt; die erste war vom OLG bejaht, die zweite verneint worden:14 1. „Hindert das Erscheinen eines bevollmächtigten Vertreters (§ 234 StPO) in einer Bagatellsache i. S. des § 232 Abs. 1 StPO die Verwerfung der Berufung des Angeklagten nach § 329 Abs. 1 StPO auch dann, wenn in der Ladung des Angeklagten zur Berufungshauptverhandlung ein Hinweis gemäß § 232 Abs. 1 StPO nicht enthalten war?“ 2. „Ändert sich daran etwas, wenn das Gericht das persönliche Erscheinen des Angeklagten gemäß § 236 StPO angeordnet hat?“
9 Hingewiesen wird auf OLG Stuttgart, NJW 1962, 2023; OLG Zweibrücken, NJW 1968, 1977; sowie auf Küper, JZ 1969, 272, (274); NJW 1970, 1562; 1973, 1334 f. 10 Frisch, in: SK-StPO, § 329 Rn. 13, m. Hinw. zum Meinungsstand. 11 Frisch, in: SK-StPO, § 329 Rn. 14, m. w. N. 12 OLG Celle, Beschluss vom 26. 9. 1972 – 3 Ss 137/72. 13 Publiziert sind nur die dem BGH zur Entscheidung vorgelegten Fragen (NJW 1973, 80 Nr. 48). Meine Kenntnis des Beschlusses verdanke ich dem damaligen Berichterstatter, Richter am OLG R. Lüning, der mir den Beschluss seinerzeit zugesandt hatte. 14 OLG Celle (Fn. 12), S. 11; NJW 1973, 80.
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II. 1. Bleiben wir zunächst bei der zweiten Vorlegungsfrage. Sie betrifft die Bedeutung der Anordnung persönlichen Erscheinens für die Befugnis des Angeklagten, sich in der Hauptverhandlung durch einen dazu bevollmächtigten Verteidiger vertreten zu lassen (§ 234 StPO), und damit auch für die hiervon abhängige Entscheidung des Berufungsgerichts nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO. Der BGH ist auf diese Frage nicht ausdrücklich eingegangen; er erwähnt nicht einmal, dass das OLG Celle sie ebenfalls zur Entscheidung vorgelegt hat. Möglicherweise hat der BGH das deshalb verschwiegen, weil das OLG die zweite Frage nur „hilfsweise“ für den Fall formuliert hat, dass die erste bejaht wird, und der BGH sie gerade verneint. Gleichwohl wäre es gegenüber dem vorlegenden OLG ein „nobile officium“ gewesen, einen Grund dafür anzugeben, dass die zweite Vorlegungsfrage übergangen wird. BGHSt 25, 165 wird manchmal, wie im „Systematischen Kommentar“15, für die These in Anspruch genommen, dass die Anordnung des persönlichen Erscheinens die Zulässigkeit einer Vertretung nach § 234 StPO ausschließe.16 Dafür sollte man sich indes nicht auf diese Entscheidung berufen, die dazu nichts Klares aussagt.17 Zwar könnte man aus einer Partie des Urteils eine gewisse Andeutung in dieser Richtung herauslesen. Sie bleibt aber viel zu undeutlich. Der BGH sagt an einer Stelle18, dass das Gesetz in § 236 StPO dem Gericht auch in Strafsachen minderer Bedeutung stets die Befugnis gebe, „das persönliche Erscheinen des Angeklagten anzuordnen und notfalls zu erzwingen“. Im Anschluss daran heißt es: „Es kommt allein darauf an, ob der Tatrichter in der Bagatellsache die Verhandlung ohne den Angeklagten durchführen will. Ist das nicht der Fall, erhält der Angeklagte dementsprechend keinen Hinweis nach § 232 Abs. 1 S. 1 StPO, so muß er selbst zur Hauptverhandlung kommen. Tut er das nicht, so ist seine Berufung ohne Rücksicht auf die Anwesenheit eines bevollmächtigten Verteidigers sofort zu verwerfen …“
Der Anfang dieser Passage mag so klingen, als könne die Verwerfung der Berufung – mangels Vertretungsbefugnis – (auch) darauf gestützt werden, dass der Angeklagte dem in der Anordnung nach § 236 StPO zum Ausdruck kommenden „Willen“ des Gerichts zuwiderhandelt, wenn er in der Hauptverhandlung ausbleibt. Indessen wird letztlich doch darauf abgehoben, dass der Angeklagte „keinen Hinweis nach § 232 Abs. 1 S. 1 StPO“ erhalten hat. 2. Demgegenüber hat das OLG Celle in aller Deutlichkeit dargelegt, dass die Anordnung des persönlichen Erscheinens keinen Einfluss auf die Befugnis des Angeklagten hat, sich in der Hauptverhandlung vertreten zu lassen (§ 234 StPO), und dies nicht nur im Anwendungsbereich des § 411 Abs. 2 StPO. Da der unveröffentlichte Beschluss des OLG Celle bisher die einzige Entscheidung geblieben ist, in 15
Oben bei Fn. 7. So z. B. Becker, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2010 [2009], § 236 Rn. 3. 17 Ebenso Gollwitzer in seiner Anmerkung JR 1974, 30. 18 BGHSt 25, 165 (166 f.); dort auch das folgende Zitat (erste Hervorhebung im Original).
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der diese Auffassung näher begründet wird, und die Frage noch heute umstritten ist,19 seien die Ausführungen des OLG hier wörtlich mitgeteilt:20 „Das BayObLG meint im Anschluß an das OLG Schleswig,21 die Anordnung des persönlichen Erscheinens beseitige die Befugnis des Gerichts zur Durchführung der Abwesenheitsverhandlung und schließe damit auch für den Angeklagten die Möglichkeit aus, sich vertreten zu lassen. Nach Auffassung des Senats kann es dagegen für die Anwendung des § 329 Abs.1 StPO keinen Unterschied machen, ob gemäß § 236 StPO das persönliche Erscheinen des Angeklagten angeordnet worden ist oder nicht. Das hat der Senat für einen Fall nach vorangegangenem Strafbefehl bereits entschieden;22 es gilt aber auch für das Berufungsverfahren in einer Bagatellsache i. S. des § 232 Abs. 1 StPO. Die Vorschrift des § 236 StPO hat schon nach ihrem Wortlaut – anders als § 234 StPO – keinen Bezug auf die Vorschrift des § 329 Abs. 1 StPO. Allein den Bestimmungen der §§ 232 ff., 411 Abs. 2 StPO ist zu entnehmen, unter welchen Voraussetzungen die Verwerfung der Berufung zulässig ist, wenn der Angeklagte nicht erschienen ist, sich aber durch seinen Verteidiger vertreten läßt. Durch die Anordnung des persönlichen Erscheinens erwächst für den Angeklagten die … Verpflichtung, vor Gericht zu erscheinen; insoweit ist eine Vertretung selbstverständlich ausgeschlossen. Im übrigen beseitigt die Anordnung nach § 236 StPO … weder die auf Grund sonstiger Vorschriften (§§ 232 ff., 411 Abs. 2 StPO) bestehende Befugnis, auch ohne den Angeklagten zu verhandeln, noch wirkt sie auf § 329 Abs. 1 StPO in der Weise zurück, daß der entgegen der Anordnung nicht erschienene Angeklagte nicht durch einen ordnungsgemäß bevollmächtigten Verteidiger die Verwerfung der Berufung verhindern könnte.23 Der nicht erschienene Angeklagte handelt zwar seiner Erscheinenspflicht zuwider; er blockiert aber, weil … letztlich auch ohne ihn verhandelt werden könnte, nicht das Verfahren. Deshalb besteht kein Anlaß, sein Ausbleiben mit der Verwirkungsfolge des § 329 Abs. 1 StPO zu ahnden. Dieses Ergebnis leuchtet umso mehr ein, wenn man bedenkt, daß die Anordnung nach § 236 StPO nur ein bedingt wirksames Mittel für eine weitere Aufklärung ist: Das Gericht kann zwar erforderlichenfalls mit den gesetzlichen Zwangsmitteln das Erscheinen des Angeklagten durchsetzen, es kann aber im Hinblick auf die Vorschrift des § 243 Abs. 4 S. 1 StPO nicht dessen Einlassung erzwingen.“ 19 Für den Ausschluss der Vertretungsmöglichkeit bei Anordnung des persönlichen Erscheinens nach § 236 StPO etwa: Becker (Fn. 16); Britz, in: Radtke/Hohmann (Hrsg.), StPO, 2011, § 234 Rn. 4; Brunner, in: KMR-StPO (Stand April 2007), § 329 Rn. 7; Deiters (Fn. 6, 7); Eschelbach, in: Graf (Hrsg.), StPO, 2. Aufl. 2012, § 329 Rn. 27; Frisch (Fn. 10); MeyerGoßner, StPO, § 329 Rn. 15 (anders bei § 236 Rn. 1 a.E.); Rotsch/Gasa, in: Krekeler u. a. (Hrsg.), Anwaltkommentar StPO, 2. Aufl. 2010, § 329 Rn. 6; Unger/Halbritter, in: Dölling u. a. (Hrsg.), Handkommentar Gesamtes Strafrecht, 2. Aufl. 2011, § 329 Rn. 7; Schlüchter, Das Strafverfahren, 2. Aufl. 1983, Rn. 682.3 mit Fn. 284. – Zur Gegenauffassung namentlich: Gmel, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar StPO (KK-StPO), 6. Aufl. 2008, § 234 Rn. 2; Gössel, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 2003 [1997], § 329 Rn. 51; Meyer-Goßner, StPO, § 236 Rn. 1 (anders bei § 329 Rn. 15); Paul, in: KK-StPO, § 329 Rn. 6 a.E.; Pfeiffer, StPO, 5. Aufl. 2005, § 234 Rn. 1; Rautenberg, in: Gercke u. a. (Hrsg.), StPO (Heidelberger Kommentar), 5. Aufl. 2012, § 329 Rn. 15. 20 OLG Celle (Fn. 12), S. 9 f. – Vom OLG in Klammern gesetzte Hinweise werden im Folgenden als Fußnoten wiedergegeben. Hervorhebungen nicht im Original. 21 BayObLG, NJW 1970, 1055; OLG Schleswig, SchlHA 1964, 70. 22 OLG Celle, NJW 1970, 906; ebenso OLG Hamburg, NJW 1968, 1687. 23 Hinw. auf Küper, NJW 1969, 493; 1970, 1430 und 1562.
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3. Dieser sorgfältigen Begründung ist nur wenig hinzuzufügen. Hat das Berufungsgericht nach § 236 StPO das persönliche Erscheinen des Angeklagten angeordnet und ihn damit zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung verpflichtet, so scheint es ein Widerspruch zu sein, wenn ihm gleichwohl die Befugnis eingeräumt wird, sich durch einen dazu bevollmächtigten Verteidiger vertreten zu lassen. Deshalb neigt man – wie die Autoren des „Systematischen Kommentars“ – intuitiv dazu, eine solche Befugnis prinzipiell zu verneinen. Doch entspricht dies nicht der Systematik des Gesetzes,24 das in § 236 StPO zwar die Erzwingbarkeit der Anwesenheit des Angeklagten (durch Vorführungs- oder Haftbefehl) anordnet, nicht aber zugleich den Ausschluss der passiven Vertretungsbefugnis. Die Berechtigung des Angeklagten, sich vertreten zu lassen, richtet sich vielmehr – abgesehen von § 411 Abs.2 StPO – nach § 234 StPO und ist insoweit allein davon abhängig, dass (ob) eine Hauptverhandlung „ohne Anwesenheit des Angeklagten stattfinden kann“. Damit verweist das Gesetz auf die dem § 234 StPO vorausgehenden Vorschriften (§§ 231 ff. StPO), also u. a. auf die in § 232 Abs. 1 S. 1 StPO geregelte Möglichkeit der Abwesenheitsverhandlung und deren Voraussetzungen. Die bei Erfüllung dieser Voraussetzungen für das Gericht bestehende Befugnis, auch ohne den Angeklagten zu verhandeln, und dessen korrespondierende Berechtigung, sich in der Hauptverhandlung nach § 234 StPO vertreten zu lassen, werden durch die Anordnung des persönlichen Erscheinens, die in § 236 StPO lediglich durch entsprechende Zwangsbefugnisse sanktioniert ist, nicht aufgehoben. Das Gericht wäre sonst verpflichtet, die Anordnung auch durchzusetzen, und dürfte selbst bei Erfolglosigkeit keine Abwesenheitsverhandlung durchführen. Davon kann aber keine Rede sein. Ebenso wie zur Anordnung des persönlichen Erscheinens ist das Gericht auch zu deren Durchsetzung lediglich „befugt“. Eine „Selbstbindung“ mit der Wirkung, dass nur noch in Anwesenheit des Angeklagten verhandelt werden dürfte, lässt sich aus § 236 StPO nicht ableiten. Dementsprechend berührt die Anordnung des persönlichen Erscheinens auch die für § 329 Abs. 1 S. 1 StPO maßgebende Zulässigkeit der Vertretung nicht. Wird der Angeklagte im Berufungstermin durch einen dazu bevollmächtigten Verteidiger vertreten, so richtet sich die dort angeordnete Verwerfung der Berufung – abgesehen von deren sonstigen Voraussetzungen – lediglich danach, ob er aufgrund der §§ 232 Abs. 1 S. 1, 234 StPO ordnungsgemäß vertreten ist oder nicht. Von der Vorstellung, dass die Anordnung nach § 236 StPO auf diese Entscheidung Einfluss hat – oder nur im Anwendungsbereich des § 411 Abs. 2 StPO unerheblich ist –, sollte daher Abschied genommen werden.
24 Vgl. zum Folgenden bereits Küper, NJW 1969, 493 f. (zu OLG Hamburg, NJW 1968, 1687); ferner in NJW 1970, 1430 f. (zu OLG Celle, NJW 1970, 906); NJW 1970, 1562 f. (zu BayObLG, NJW 1970, 1055).
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III. 1. Der Schwerpunkt des Vorlegungsbeschlusses liegt indessen auf den Ausführungen, in denen das OLG Celle die erste dem BGH vorgelegte Rechtsfrage25 positiv beantwortet hat. Das OLG Celle war in diesem Punkt mit einer divergierenden OLG-Judikatur konfrontiert, die gleichwohl keine Divergenzvorlage an den BGH zur Folge gehabt hatte. Überwiegend ging die Rechtsprechung davon aus, dass ein Fehlen des in § 232 Abs. 1 S. 1 StPO vorgesehenen Hinweises bei unentschuldigtem Ausbleiben des Angeklagten auch dann zur Verwerfung der Berufung nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO zwinge, wenn für ihn ein ordnungsgemäß zur Vertretung bevollmächtigter Verteidiger in der Hauptverhandlung erscheine.26 Diese Auffassung wurde auf die Verweisungstechnik des Gesetzes gestützt. § 329 Abs. 1 S. 1 StPO verweise mit der Bezugnahme auf die „Fälle zulässiger Vertretung“ über § 332 StPO u. a. auf die Vorschriften der §§ 232 ff. StPO. Dort verknüpfe § 234 StPO die Befugnis des Angeklagten, sich vertreten zu lassen, in Bagatellsachen mit der Zulässigkeit einer Abwesenheitsverhandlung nach § 232 Abs. 1 S. 1 StPO, die wiederum voraussetze, dass der Angeklagte in der Ladung einen entsprechenden Hinweis erhalten habe. Das Unterbleiben dieses Hinweises schließe infolgedessen mit der Abwesenheitsverhandlung zugleich die Zulässigkeit der Vertretung aus und führe daher zwangsläufig zur Verwerfung der Berufung nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO, wenn der Angeklagte in der Hauptverhandlung unentschuldigt ausbleibe. Von dieser Linie war namentlich27 das OLG Zweibrücken abgewichen.28 Es stellte in einem ausführlichen „obiter dictum“29 bereits die Prämisse der bisherigen Rechtsprechung in Frage, dass beim Fehlen des Hinweises nach § 232 Abs. 1 S. 1 StPO eine Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten auch dann unzulässig sei, wenn er sich durch einen ordnungsgemäß bevollmächtigten Verteidiger vertreten lasse. Jener Hinweis sei ein Erfordernis zum Schutz des Angeklagten vor den Gefahren einer Verhandlung in seiner Abwesenheit. Aus dieser Schutzfunktion folge, dass der Hinweis entbehrlich sei, wenn der Angeklagte zumindest konkludent sein Ein25
Oben im Text nach Fn. 14. Das OLG Celle (Fn. 12), S. 5, zitiert für diese in der Rechtsprechung „herrschende Meinung“ BayObLGSt 60, 273; BayObLG, NJW 1970, 1059; OLG Hamm, NJW 1954, 1131; OLG Oldenburg, NJW 1952, 1151. Zu weiteren Entscheidungen, die in diesen Zusammenhang gehören, vgl. Küper, GA 1971, 289 f.; dort in Fn. 6 auch zu den Gründen dafür, dass eine Vorlage an den BGH unterblieben war. 27 Vgl. auch bereits OLG Stuttgart, NJW 1962, 2023, das die Vertretungsregelung des § 411 Abs.2 StPO bei der Berufung des Angeklagten in einer Bagatellsache generell (nicht nur bei vorangegangenem Strafbefehl) anwenden wollte und sich dafür zu Unrecht auf BGHSt 9, 356 (357 f.) berief. Näher dazu Küper, GA 1971, 290 f., und in JZ 1969, 272 f. 28 OLG Zweibrücken, NJW 1968, 1977 f. = JZ 1969, 271 (272) mit Anm. Küper. 29 Die Frage der zulässigen Vertretung war hier letztlich nicht entscheidungserheblich, weil das OLG das Ausbleiben des Angeklagten als entschuldigt bewertete: Er habe sich auf die Auskunft des Verteidigers verlassen dürfen, dass die Hauptverhandlung in seiner Abwesenheit durchgeführt werden könne. 26
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verständnis damit erklärt habe, die Verhandlung ohne ihn durchzuführen: „Gegen den Angeklagten, der dieses Einverständnis zu erkennen gegeben hat, darf [deshalb] nach § 232 StPO auch bei seiner Abwesenheit verhandelt werden, und er darf sich nach § 234 StPO von einem mit schriftlicher Vertretungsvollmacht versehenen Verteidiger vertreten lassen.“ Habe der Angeklagte aber seinem in der Hauptverhandlung präsenten Verteidiger Vertretungsvollmacht erteilt und ihn beauftragt, den Termin für ihn wahrzunehmen, so liege darin „in aller Regel das Einverständnis mit einer Verhandlung der Sache in seiner Abwesenheit“, so dass die Berufung bei unentschuldigtem Ausbleiben des Angeklagten nicht nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO verworfen werden dürfe. 2. Diesen Weg, eine Verwerfung des Rechtsmittels zu vermeiden,30 ist das OLG Celle in seinem Vorlegungsbeschluss nicht gegangen. Es folgt vielmehr dem Vorschlag,31 bei der Anwendung des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO – und nur in diesem Rahmen – das „Junktim“ zwischen zulässiger Abwesenheitsverhandlung und Vertretungsbefugnis in der Weise aufzulösen, dass das Fehlen des in § 232 Abs. 1 S. 1 StPO vorgesehenen Hinweises zwar eine Berufungsverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten ausschließt, jedoch die Zulässigkeit der Vertretung nach § 234 StPO unberührt lässt. Durch diese Differenzierung solle (und könne) die „Friktion“ beseitigt werden, die im Gesetz infolge der Verknüpfung von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO mit dem Verfahren nach § 232 Abs. 1 S. 1 StPO angelegt sei.32 Weil der Beschluss des OLG Celle nicht veröffentlicht und der BGH auf dessen Begründung – wie noch gezeigt wird – nicht näher eingegangen ist, sollen auch diese Partien des Vorlegungsbeschlusses hier im Wortlaut (auszugsweise) wiedergegeben werden. Das OLG Celle äußert sich zunächst zur prozessualen Funktion des „Hinweises“:33 „Mit dem Hinweis nach § 232 Abs. 1 StPO hat der Gesetzgeber eine Schutzeinrichtung zugunsten des Angeklagten geschaffen, der durch sein Nichterscheinen sein Recht auf Anwesenheit und das unmittelbare Gehör verwirkt. Wegen dieser Schutzfunktion ist der Hinweis als ein unabdingbares Formerfordernis ausgestaltet, das auch dann nicht durchbrochen werden darf, wenn der Angeklagte des Schutzes ausnahmsweise nicht bedarf. Bei Fehlen des Hinweises darf daher nicht in Abwesenheit des Angeklagten verhandelt werden. Infolge der in § 234 StPO normierten Abhängigkeit der Vertretungsbefugnis des Verteidigers von der Zulässigkeit des Abwesenheitsverfahrens nach § 232 Abs. 1 StPO hat das Fehlen des Hinweises zwangsläufig zur Folge, daß ein Verteidiger für die Abwesenheitsverhandlung selbst dann nicht vertretungsberechtigt ist, wenn der Angeklagte ihn ausreichend bevollmächtigt hatte. Diese Koppelung ist sinnvoll, weil der Angeklagte wichtige Verfahrensrechte in die Hände seines Verteidigers legt, der an seine Stelle treten soll und mit Wirkung für ihn Erklärungen abgeben und entgegennehmen kann. Auf solche weitgehenden Folgen muß 30 Zu Einwänden gegen die Entbehrlichkeit des in § 232 Abs. 1 S. 1 StPO vorgesehenen Hinweises bei Einverständnis des Angeklagten eingehend Küper, GA 1971, 296 ff.; zustimmend zu OLG Zweibrücken aber Paulus, in: KMR-StPO (Stand Oktober 1989), § 232 Rn. 7. 31 Näher begründet bei Küper, GA 1971, 300 ff. Die Ausführungen des OLG Celle beruhen weitgehend auf diesem Aufsatz. Vgl. zuvor bereits Küper, JZ 1969, 271 f.; NJW 1970, 1562. 32 OLG Celle (Fn. 12), S. 5. 33 OLG Celle (Fn. 12), S. 6. Hervorhebungen nicht im Original.
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der Angeklagte durch den Hinweis nach § 232 StPO besonders aufmerksam gemacht werden.“
Im Anschluss daran führt das OLG Celle sodann aus:34 „[Damit ist aber] noch nicht entschieden, daß im Verfahren auf Berufung des Angeklagten in einer Bagatellsache beim unentschuldigten Fehlen des Angeklagten und Auftreten eines bevollmächtigten Verteidigers entsprechend dem Wortlaut des § 329 Abs. 1 StPO sich auch die Frage der Rechtsmittelverwerfung nach der Vertretungsbefugnis und folglich danach richtet, ob eine Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten gemäß § 232 Abs. 1 StPO statthaft ist oder nicht. Der Senat hält es […] nicht nur für nicht sinnvoll, sondern geradezu für unerträglich, dass auf diese Weise mittelbar der in § 232 Abs. 1 StPO vorgesehene Hinweis zum maßgeblichen Angelpunkt für die Frage der Berufungsverwerfung werden soll. Denn die Konsequenz wäre, daß das Gesetz eine den Angeklagten stärker benachteiligende Folge, den Verlust der Berufung, unter Voraussetzungen zuließe, die eine weniger nachteilige Rechtsfolge, die Verhandlung in seiner Abwesenheit, gerade ausschließen sollen. Ein solches Ergebnis, für das es keine vernünftige Begründung gibt, kann schwerlich die Absicht des Gesetzgebers gewesen sein. Ein Angeklagter, der mit seiner […] Vertretung in einer Bagatellsache einen Verteidiger beauftragt […] und bevollmächtigt, verzichtet nicht auf das von ihm eingelegte Rechtsmittel (soweit dem § 329 StPO eine dahingehende Vermutung zugrunde läge, wäre sie widerlegt); aber auch für eine Verwirkung der Berufung würde es an einem rechtfertigenden Grund fehlen. [Der Senat sieht] die mögliche, aber auch rechtlich zulässige und gebotene Lösung darin […], daß man den für das Verfahren nach § 232 Abs. 1 StPO notwendigen Hinweis im Rahmen des § 329 Abs. 1 StPO35 nicht als ein notweniges Erfordernis der Vertretungsmöglichkeit auffaßt. Dabei läßt sich der Senat vor allem auch durch folgende Überlegung leiten […]: Im Verfahren nach vorangegangenem Strafbefehl ist der Angeklagte schlechthin – also ohne besonderen Hinweis in der Ladung – befugt, sich in der Hauptverhandlung vertreten zu lassen. Erscheint für den Angeklagten ein vertretungsberechtigter Verteidiger, so wird eine Berufungsverwerfung verhindert. Wenn das im Verfahren nach vorangegangenem Strafbefehl möglich ist, in welchem immerhin weit höhere Strafen möglich sind als im Bagatellverfahren nach § 232 StPO, dann ist nicht einzusehen, dass es bei einer anderweitig anhängig gewordenen Bagatellsache anders sein soll. Von dieser gebotenen Auslegung des § 329 Abs. 1 StPO ausgehend durfte hier die Strafkammer wegen Anwesenheit des bevollmächtigten Verteidigers trotz des fehlenden Hinweises nach § 232 Abs. 1 StPO die Berufung des abwesenden Angeklagten nicht nach § 329 Abs. 1 StPO verwerfen.“
3. Der BGH hat mit dieser eingehenden Begründung des Vorlegungsbeschlusses wahrhaft „kurzen Prozess“ gemacht. Er gibt den Gedankengang des OLG Celle nicht einmal in den Grundzügen wieder, so dass man aus dem BGH-Urteil nicht erkennen kann, wie das OLG argumentiert hat. Es drängt sich sogar der Verdacht auf, dass der Vorlegungsbeschluss nur flüchtig gelesen worden ist. Denn die erste wesentliche Passage der Urteilsgründe, die auf die einleitende Beschreibung der Gesetzeslage folgt („Dem läßt sich nicht entgegenhalten …“),36 bezieht sich überhaupt nicht auf den 34
OLG Celle (Fn. 12), S. 6 – 8. Auch im Original hervorgehoben. 36 BGHSt 25, 165 (166).
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Komplex der ersten Vorlegungsfrage, sondern auf die Bemerkungen des OLG Celle zu den Konsequenzen der Anordnung persönlichen Erscheinens (§ 236 StPO) für die Abwesenheitsverhandlung nach § 232 Abs. 1 S. 1 StPO und für die Entscheidung über die Verwerfung der Berufung (§ 329 Abs. 1 S. 1 StPO). In diesem Zusammenhang hatte das OLG Celle davon gesprochen, dass der nicht erschienene Angeklagte, weil trotz der Anordnung letztlich auch ohne ihn verhandelt werden könne, das Verfahren nicht „blockiere“ (usw.).37 Der BGH reißt die hierauf bezogenen Ausführungen des OLG willkürlich aus ihrem Sinngefüge und erweckt so den falschen Eindruck, das OLG Celle habe damit seinen Standpunkt begründen wollen, dass trotz fehlenden Hinweises nach § 232 Abs. 1 S. 1 StPO eine Verwerfung der Berufung nicht zulässig sei. Auch die weiteren Darlegungen des BGH gehen in einer Weise am eigentlichen Inhalt des Vorlegungsbeschlusses vorbei, die nur als Missachtung des OLG Celle bezeichnet werden kann. Der BGH unterstellt dem vorlegenden OLG die „Annahme“, dass in Bagatellsachen „beliebig mit dem Angeklagten oder ohne ihn verhandelt werden“ könne und „der Angeklagte, dem kein Hinweis nach § 232 Abs. 1 StPO erteilt worden sei, nicht schlechter gestellt werden dürfe als derjenige, der ihn erhalten habe“.38 Das hatte indes das OLG Celle nicht behauptet, und darum ging es auch gar nicht. Was der BGH gegen jene vermeintliche Annahme einwendet, trifft deshalb die Argumentation des Vorlegungsbeschlusses ebenso wenig wie die folgende Bemerkung, dass der Angeklagte „keinen Anspruch auf Verhandlung in seiner Abwesenheit“ und „auf einen entsprechenden Hinweis“ habe. Von einem derartigen Anspruch war auch das OLG Celle nicht ausgegangen. Der BGH setzt dem Vorlegungsbeschluss, ohne sich mit dessen zentralen Aussagen wenigstens annähernd zu befassen, die bloße Behauptung entgegen, dass das Fehlen des in § 232 Abs. 1 S. 1 StPO erwähnten Hinweises den Angeklagten lediglich vor der Verhandlung in seiner Abwesenheit schütze, nicht aber vor den Folgen unentschuldigten Ausbleibens bewahre. Gerade dagegen richteten sich jedoch die Überlegungen des OLG Celle. Sucht man in der auffallend unkonzentrierten Begründung des BGH nach einem tragenden Gesichtspunkt, so kann man ihn in den Sätzen finden, die in anderem Kontext schon zitiert worden sind:39 „Es kommt allein darauf an, ob der Tatrichter in der Bagatellsache die Verhandlung ohne den Angeklagten durchführen will. Ist das nicht der Fall, erhält der Angeklagte dementsprechend keinen Hinweis nach § 232 Abs. 1 StPO, so muss er selbst zur Hauptverhandlung kommen. Tut er das nicht, so ist seine Berufung ohne Rücksicht auf die Anwesenheit eines bevollmächtigten Verteidigers sofort zu verwerfen.“ Eben dies hatte das OLG Celle mit guten Gründen bestritten, zu deren Widerlegung das Urteil des BGH nicht das Geringste beiträgt.40 37
Vgl. oben im Text nach Fn. 23. BGHSt 25, 165 (167). 39 Vgl. oben im Text nach Fn. 18. 40 Vgl. auch bereits die kritischen Bemerkungen von Gollwitzer, JR 1974, 29: „Der BGH stellt die Erwägung, daß es nur darauf ankommt, ob das Gericht ohne den Angeklagten ver38
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Wenn der BGH im Zusammenhang mit dem in § 232 Abs. 1 S. 1 StPO vorgesehenen Hinweis betont, dass es nur darauf ankomme, ob der Tatrichter ohne den Angeklagten verhandeln „will“ oder nicht, so scheint der Senat von einer konkludenten „Willenserklärung“ des Gerichts etwa mit folgendem Inhalt auszugehen: Wird der Hinweis angeordnet, dann ist der Angeklagte von der Anwesenheitspflicht befreit; fehlt der Hinweis, begründet dies hingegen seine Pflicht zur Anwesenheit. Doch abgesehen davon, dass das bloße Fehlen des Hinweises ohnehin keinen Erklärungswert hat, wird mit solcher Orientierung am (erklärten) Willen des Gerichts die Funktion des Hinweises verkannt, in dem das OLG Celle mit Recht eine „Schutzeinrichtung“ zugunsten des Angeklagten gesehen hat.41 Zwar wird das Gericht regelmäßig von einem Hinweis nach § 232 Abs. 1 S. 1 StPO absehen, wenn es die Präsenz des Angeklagten in der Hauptverhandlung für erforderlich hält, und im umgekehrten Fall den Hinweis in der Ladung anordnen. Diese Entscheidung des Gerichts besagt aber nichts über die prozessuale Funktion des Hinweises und gibt ihm (bzw. seinem Fehlen) nicht den Charakter einer für die Abwesenheitsverhandlung maßgebenden gerichtlichen „Willenserklärung“. Die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten ist lediglich die jeweilige gesetzliche Folge des zu seinem Schutz erteilten oder des fehlenden Hinweises. Dessen Anordnung bedeutet ebenso wenig einen gerichtlich erklärten Dispens von der Anwesenheit – er wird nach § 233 StPO und unter den dortigen Voraussetzungen gewährt –, wie andererseits das Unterbleiben des Hinweises die „Erklärung“ des Gerichts darstellt, dass nur in Anwesenheit des Angeklagten verhandelt werden soll: Dies ist die Aufgabe der Anordnung des persönlichen Erscheinens i. S. des § 236 StPO (die allerdings auf die Vertretungsbefugnis keinen Einfluss hat).
IV. Die autoritative „Erledigung“ der Streitfrage durch BGHSt 25, 165 hat ersichtlich dazu geführt, dass das Problem in der Folgezeit nicht mehr näher diskutiert wurde.42 handeln wolle, in den Mittelpunkt seiner Argumentation. … Das eigentlich strittige Problem wird dadurch aber nicht völlig gelöst; denn so richtig das Argument ist [?], so wenig vermag es den Leitsatz in seinem vollen Umfang zu tragen. Damit kann insbesondere nicht die Frage überspielt werden, ob der Hinweis in der Ladung nach § 232 Abs.1 StPO die unverzichtbare Voraussetzung … für die Zulässigkeit der Vertretung nach § 234 StPO ist.“ – Gollwitzer rügt im Übrigen, dass der BGH auf OLG Zweibrücken, NJW 1968, 1977, überhaupt nicht eingegangen ist; ebenso schon Küper, NJW 1973, 1334. 41 Zur Schutzfunktion des Hinweises eingehend Küper, GA 1971, 293 ff. 42 Eine kurze kritische Bemerkung zu BGHSt 25, 165 zuletzt bei Beukelmann, in: Radtke/ Hohmann (Hrsg.), StPO (Fn. 19), § 329 Rn. 10 a.E.; knappe Zustimmung hingegen, ohne neue Gesichtspunkte, bei Schlüchter (Fn. 19), Rn. 682.3 Fn. 284. – Aufschlussreich ist auch die Entwicklung im großen Kommentar von Löwe/Rosenberg. Als das Urteil des BGH noch nicht ergangen war, hatte Gollwitzer in der 22. Aufl. 1973 [1971], § 329 Anm. 7, dem Problem eingehende Ausführungen gewidmet. Bei den Bearbeitern der folgenden Auflagen ist davon nichts mehr übrig geblieben.
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Dazu mag auch der Umstand beigetragen haben, dass der eingehend begründete Vorlegungsbeschluss des OLG Celle nicht veröffentlicht worden war. Diskussionsbedarf besteht jedoch weiterhin. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die durch das Urteil des BGH seit 40 Jahren verfestigte Praxis – und mit ihr die „herrschende Meinung“ – aufgrund der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 3 lit. c MRK weiteren erheblichen Zweifeln ausgesetzt ist. Mit der Judikatur des EGMR zum Recht des in der Berufungsverhandlung abwesenden Angeklagten, sich durch einen Verteidiger vertreten zu lassen,43 dürfte es nicht mehr vereinbar sein, seine Berufung allein mit dem Argument nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO zu verwerfen, dass mangels eines Hinweises auf die Möglichkeit der Abwesenheitsverhandlung (§ 232 Abs. 1 S. 1 StPO) eine Vertretung nicht zulässig sei. Dies wäre freilich ein „Thema für sich“, auf das hier nicht weiter eingegangen werden kann.44 Das – vom BGH nicht einmal erwähnte – OLG Zweibrücken und der – hier erstmals publizierte – Vorlegungsbeschluss des OLG Celle haben jedenfalls Wege gezeigt, wie in solchen Fällen eine ungerechtfertigte Verwerfung der Berufung vermieden werden kann. Unabhängig davon bedarf im Übrigen – wie auch das OLG Celle am Ende seines Beschlusses angedeutet hat – die gesetzliche Regelung einer Korrektur. Die Vorschriften der §§ 232 Abs. 1 S. 1, 234 StPO zur Abwesenheitsverhandlung und Vertretungsbefugnis in sog. „Bagatellsachen“ sind für die erste Instanz angemessen, für das Berufungsverfahren jedoch inadäquat; insoweit sollte das Gesetz dem einfacheren Modell des § 411 Abs. 2 StPO – das bei der Berufung nach vorausgegangenem Strafbefehl ohnehin gilt – angepasst werden.45
43 Dazu mit weit. Nachw. Esser, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 11 (EMRK), 26. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 702 ff.; Esser/Gaede/Tsambikakis, NStZ 2011, 140 (147 f.); Paeffgen, in: SK-StPO, Bd. X (EMRK), 4. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 138a. 44 Die Frage, ob § 329 Abs.1 StPO in seiner gegenwärtigen Fassung konventionskonform ist, wird grundsätzlich bejaht von BVerfG, StraFo 2007, 190 (191 ff.); BayObLG, NStZ-RR 2000, 307 (308); OLG Köln, NStZ-RR 1999, 112; OLG Oldenburg, NStZ 1999, 156. Anders namentlich Meyer-Mews, NJW 2002, 1928 f.; Sommer, in: Krekeler u. a. (Hrsg.), Anwaltkommentar StPO (Fn. 19), Art. 6 EMRK Rn. 91. Für eine „Auslegung“ des § 329 Abs. 1 StPO i. S. der Judikatur des EGMR Esser, in: Löwe/Rosenberg (Fn. 43), Art. 6 Rn. 711; Esser/ Gaede/Tsambikakis, NStZ 2011, 147 f.: „Zulässigkeit“ der Vertretung aufgrund der Erklärung des abwesenden Angeklagten, sich durch einen Verteidiger vertreten lassen zu wollen. 45 Dazu schon Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO (Fn. 42), § 329 Anm. 7: Es „ist eigentlich nicht einzusehen, warum im Verfahren nach vorangegangenem Strafbefehl, in dem immerhin weit höhere Strafen möglich sind als im Bagatellverfahren nach § 232, eine sachliche Erledigung der Berufung auch ohne Hinweis möglich sein soll, wenn für den Angeklagten ein vertretungsberechtigter Verteidiger erscheint, nicht aber bei einer anderweitig anhängig gewordenen Bagatellsache. Die unterschiedliche Verfahrensregelung für die erste Instanz hat für die Verfahrensregelung der Berufungsinstanz keinen die Differenzierung rechtfertigenden Sinn.“
Der Verteidiger im Zeugenstand Von Dirk Lammer
I. Einleitung Jeder, der einmal als Zeuge in einem Strafverfahren ausgesagt hat, wird unabhängig davon, ob er als sogenannter Opferzeuge oder aus anderen Gründen gehört wurde, bestätigen, dass sich in dieser Situation eine gewisse Anspannung ergibt, die in der Tendenz als belastend empfunden wird. Dies gilt auch für Personen, die aus beruflichen Gründen über ihre Wahrnehmungen berichten müssen, etwa Polizeibeamte, Vernehmungsrichter, Staatsanwälte oder auch Verteidiger. Insbesondere bei der zeugenschaftlichen Vernehmung des Verteidigers, sei es des amtierenden oder eines früheren Verteidigers, wird ein erfahrener Verteidiger immer sehr sorgfältig prüfen, ob er sich oder den Kollegen als Zeugen benennt und dem Mandanten zu einer Entbindung von der Schweigepflicht rät. Gericht und Staatsanwaltschaft nehmen oft interessiert und manchmal auch nicht ohne eine gewisse Süffisanz das Innenleben eines Mandatsverhältnisses zur Kenntnis und der Nutzen für den Beschuldigten hält sich erfahrungsgemäß meist in Grenzen. Die folgenden knappen Überlegungen sollen sich mit der Frage befassen, welche Rechtsposition der Verteidiger als Zeuge hat, ob ihm eigene Rechte zustehen, ob der Kernbereich des Mandatsverhältnisses gar der richterlichen Kognition entzogen ist und welche Rolle die Entbindung von der Schweigepflicht spielt. Dabei soll auch zu einem Widerspruch in der Rechtsprechung des 1. und 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs zur Zulässigkeit von Beweisanträgen, in denen der Verteidiger als Zeuge über Inhalte des Mandatsverhältnisses benannt ist,1 Stellung genommen werden.
II. Der Verteidiger als Zeuge 1. Fallkonstellationen – Problemlage für den Verteidiger In eine Zeugenrolle kann der Verteidiger unter verschiedenen Aspekten geraten. So ist zum einen denkbar, dass er sich selbst im Interesse seines Mandanten als Zeugen benennt, um aus dem Mandatsverhältnis heraus über Umstände zu berichten, die 1 BGH, Urt. v. 12. 9. 2007 – 5 StR 257/07 einerseits und Urt. v. 24. 11. 2009 – 1 StR 520/09 andererseits.
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für seinen Mandanten vorteilhaft sind. In diesem Fall ziehen Mandant und Verteidiger an einem Strang. Es ist aber auch denkbar, dass der Verteidiger, in der Regel der frühere Verteidiger, als Zeuge benannt wird, weil der Angeklagte hofft, aus der Darlegung von Verteidigungsversäumnissen oder Verteidigungsfehlern Vorteile zu ziehen. Schließlich ist auch denkbar, dass das Gericht oder die Staatsanwaltschaft unter dem Gesichtspunkt des Aufklärungsinteresses den Verteidiger befragen wollen, etwa im Hinblick auf das Zustandekommen von vom Verteidiger gefertigten Vernehmungsprotokollen über im Rahmen eigener Ermittlungen durchgeführter Gespräche mit Zeugen, die der Verteidiger später benannt hat und deshalb den Beschuldigten dazu drängen, seinen Verteidiger von der Schweigepflicht zu entbinden. In allen diesen Fällen stellt sich zunächst die rein forensisch zu beantwortende Frage danach, ob die Zeugenaussage des Verteidigers sinnvoll ist, die erwarteten Auswirkungen haben wird und einen echten Erkenntnisgewinn beinhaltet, was, wie bereits einleitend ausgeführt, der erfahrene Strafverteidiger eher zurückhaltend bewerten wird. Unabhängig davon stellen sich aber auch rechtliche Fragen, insbesondere die, ob dem Verteidiger, ähnlich wie dem Journalisten, ein eigenständiges Zeugnisverweigerungsrecht zur Seite steht oder ob allein der Mandant mit dem Mittel der Entbindung von der Schweigepflicht über den Verteidiger als Beweismittel disponieren darf. Für den Verteidiger ergeben sich bei einer zeugenschaftlichen Vernehmung möglicherweise große Probleme. Wie etwa soll der frühere Verteidiger sich verhalten, der auf der Grundlage eines entsprechenden Beweisantrages des neuen Verteidigers in der Hauptverhandlung bekunden soll, dass er dem Angeklagten im Ermittlungsverfahren von einer Kronzeugenaussage gegen den Mitbeschuldigten abgeraten und dass er seine Vergütung von der Familie des Mitbeschuldigten erhalten habe? Soll dieser Anwalt sich auf ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO berufen? Soll er den Behauptungen aus dem Beweisantrag empört widersprechen und dadurch zum einen möglicherweise dem alten Mandanten schaden, zum anderen aber auch das Risiko eingehen, von dem erkennenden Gericht, das seine Verteidigeraktivitäten schon in früheren Verfahren bedenklich fand, in den Urteilsgründen der Falschaussage bezichtigt zu werden? 2. Unantastbarer und unverfügbarer Kernbereich der Verteidigung? Einen interessanten Lösungsansatz bietet die Entscheidung des 5. Strafsenats des BGH vom 12. 9. 2007.2 Der Entscheidung lag ein Sachverhalt zugrunde, bei dem der als Zeuge vernommene Pflichtverteidiger die „Aussagekonstanz“ seines Mandanten dartun sollte, in dem er darüber berichtet, wie sich sein Mandant in den Verteidiger2
BGH StV 2008, 284 ff. mit Anm. Beulke/Ruhmannseder.
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gesprächen ihm gegenüber geäußert hatte. Das LG Hamburg hatte entsprechende Fragen an den Verteidiger als ungeeignet zurückgewiesen, da diese nicht zur Wahrheitsfindung beitragen könnten. Der 5. Strafsenat hat diese Entscheidung letztlich bestätigt und dazu ausgeführt, dass Mitteilungen eines Angeklagten an seinen amtierenden Verteidiger vor der Hauptverhandlung grundsätzlich nicht zum Gegenstand der Beweisaufnahme gehören. Der Inhalt solcher Besprechungen zwischen einem Angeklagten und seinem Verteidiger diene der Vorbereitung der Verteidigung, die Umstände, die zur Entscheidung über Art und Inhalt der Verteidigungsstrategie geführt hätten, seien regelmäßig einer Kognition durch das Gericht entzogen. Sie gehörten zum Kernbereich der Verteidigung. Auf der Grundlage dieser Entscheidung darf über den Inhalt des Mandatsverhältnisses, jedenfalls soweit der vom 5. Strafsenat (sicherlich konkretisierungsbedürftig) umschriebene Kernbereich der Verteidigung betroffen ist, kein Beweis erhoben werden. Dies gilt unabhängig davon, ob Verteidiger und Mandant an einem Strang ziehen, also der Verteidiger im Interesse seines Mandanten aussagen will oder ob der Mandant seinen Verteidiger durch einen Beweisantrag in Verbindung mit der Entbindung von der Schweigepflicht zur Aussage zwingen will. Die Entscheidung führt die Rechtsprechung zum (Vertrauens-)Verhältnis zwischen Verteidiger und Mandant fort,3 sie ist im Hinblick auf die Anerkennung eines absoluten Schutzes dieses Vertrauensverhältnisses auch sehr erfreulich. Wenn der 5. Strafsenat als Surrogat für die unzulässige Zeugenvernehmung des Verteidigers die Einlassung des Angeklagten, gegebenenfalls vorbereitet und flankiert von einer Erklärung des Verteidigers vorschlägt,4 wird allerdings deutlich, dass die Entscheidung nicht nur dem Zweck des Schutzes des Kernbereichs der Verteidigung, sondern mindestens gleichermaßen wohl auch den Vorbehalten sowohl gegen einen solchen Inhalt der Beweisaufnahme als auch den Beweiswert der Angaben eines dem Angeklagten zum Beistand verpflichteten Zeugen geschuldet war. So begrüßenswert auch der in der Entscheidung zum Ausdruck kommende Schutz der Vertrauensbeziehung zwischen dem Verteidiger und seinem Mandanten ist, zeigt sich doch, dass der 5. Strafsenat mit der sehr weitgehenden Folge der Unzulässigkeit der Beweiserhebung über den Kernbereich der Verteidigung im Ergebnis den Beschuldigtenschutz in sein Gegenteil verkehrt. Denn wenn eine Beweiserhebung im Kernbereich der Verteidigung für unzulässig erachtet wird, wendet sich dies im Ergebnis gegen den Geschützten, wenn dieser, wie zutreffend ausgeführt wurde, die Offenlegung dieses Vertrauensverhältnisses gerade als Trumpfkarte ziehen möchte,5 sei es, dass er Befundtatsachen für eine Begutachtung liefern, seine Aussagekonsistenz belegen oder sein bisheriges Aussageverhalten nachvollziehbar machen möchte. 3
Vgl. hierzu auch mit umfassenden Ausführungen BGH NStZ 2009, 517 ff. Kritisch hierzu Beulke/Ruhmannseder (Fn. 2). 5 Vgl. Beulke/Ruhmannseder, StV 2008, 285 (286).
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Was die Frage von Verwertungsverboten betrifft ist immer wieder zutreffend darauf hingewiesen worden, dass es sich dabei um Belastungsverbote handelt.6 Jedenfalls wenn dies mit dem Einverständnis des Beschuldigten und dem Ziel seiner Entlastung geschieht, ist auch die Verwertung von unter Verletzung von Schutzrechten des Beschuldigten gewonnenen Informationen möglich.7 So ist etwa unstrittig, dass ein eigentlich unverwertbares Geständnis jedenfalls dann, z. B. im Rahmen der Strafzumessung, zugunsten eines Angeklagten berücksichtigt werden kann, wenn der Tatnachweis auch auf andere Weise, also ohne Verwertung des Geständnisses geführt werden kann.8 Im Ergebnis zu Recht tritt der 1. Strafsenat mit dem bereits genannten Beschluss vom 24. 11. 20099 deshalb der Entscheidung des 5. Strafsenats entgegen, soweit der Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Verteidiger und Mandanten unverfügbar und Vorgänge aus diesem Bereich der Kognition des Gerichts sogar dann entzogen sein sollen, wenn der Angeklagte und sein Verteidiger den Inhalt dieses Vertrauensverhältnisses (zumindest thematisch partiell) im Interesse des Angeklagten offen legen wollen. Die Entscheidung des 1. Strafsenats wendet sich dabei nicht gegen die Bewertung des Verhältnisses zwischen Verteidiger und beschuldigtem Mandanten als besonders geschützter Freiraum, sondern zeigt noch einmal den gesetzlichen Rahmen für den Schutz dieses Vertrauensverhältnis auf, nämlich § 53 Abs. 1 Nr. 2 StPO i. V. m. § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB. Auch die Vorschriften der §§ 148 Abs. 1, 97 Abs. 1 Nr. 2 und 160a StPO sowie des § 43a Abs. 2 BRAO hätten genannt werden können, um den (auch verfassungsrechtlich) abgesicherten Schutz des Verhältnisses von Verteidiger und Mandant vor Eingriffen der Strafverfolgungsbehörden zu belegen.10 Der Verteidiger kann unstrittig Zeuge sein, was sich bereits aus der Regelung des § 53 Abs. 1 Nr. 2 StPO ergibt, die dem Verteidiger ein Zeugnisverweigerungsrecht gewährt.11 Man mag über den Beweiswert von Angaben des Verteidigers streiten, aber wenn der polizeiliche Vernehmungsbeamte wie üblich in der Hauptverhandlung über Stunden zur Aussagegenese des Angeklagten, seiner Aussagekonstanz und den persönlichen Eindrücken, die er auf den Vernehmungsbeamten gemacht hat, befragt werden kann, dann muss es auch zulässig sein, den Verteidiger hierzu zu hören, wenn der Beschuldigte dies wünscht.
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So auch Roxin/Schäfer/Widmaier, StV 2006, 655 (656). BGHSt 50, 215; 44, 317. 8 So hat der 5. Strafsenat zutreffend bereits im Jahr 1996 entschieden, BGHSt 42, 191. 9 S. Fn. 1. 10 Vgl. BGHSt 33, 347 zum Abhören des Verteidigertelefons; BVerfG NJW 2007, 2749 f. 11 So auch Beulke/Ruhmannseder, StV 2008, 285 (286). 7
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3. Eigenes Zeugnisverweigerungsrecht des Verteidigers Damit kann zunächst festgestellt werden, dass es einen unantastbaren Kernbereich der Verteidigung, der jeder richterlichen Kognition entzogen wäre, nicht geben kann, sondern dass der eigentlich uneingeschränkte Schutz dieses Bereiches disponibel ist. Dann stellt sich die weitere Frage, ob allein der Beschuldigte über die Offenlegung von Umständen des Mandatsverhältnisses verfügen kann oder ob auch der Verteidiger unabhängig von den Wünschen seines Mandanten ein eigenes Zeugnisverweigerungsrecht hat. Während sich, wie bereits ausgeführt, diese Frage regelmäßig nicht stellen wird, wenn Verteidiger und Mandant an einem Strang ziehen,12 stellt sich die Frage nach einem eigenen Zeugnisverweigerungsrecht des Verteidigers regelmäßig, wenn er gegen seinen Willen vom Mandanten von der Schweigepflicht entbunden wird. a) Alleinige Dispositionsfreiheit des Mandanten Auf den ersten Blick bieten die gesetzlichen Vorschriften jedenfalls dann, wenn dem Verteidiger nicht ein strafrechtlich oder ordnungswidrigkeitenrechtlich relevantes Fehlverhalten vorgeworfen werden könnte und damit die Berufung auf das Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 StPO ermöglicht wird, dem amtierenden oder früheren Verteidiger keine Handhabe, das Zeugnis zu verweigern. Dies folgt auch ausdrücklich aus § 53 Abs. 2 S. 1 StPO. Allein der Ansatz des 5. Strafsenats würde dem Verteidiger die Möglichkeit eröffnen, seiner Zeugenvernehmung entgegenzutreten, wobei ihm allerdings kein originäres Zeugnisverweigerungsrecht zur Seite stünde, sondern nur die Möglichkeit des Hinweises auf die Unzulässigkeit der Beweiserhebung. Auf der Grundlage der einfach-gesetzlichen Regelungen spricht deshalb zunächst einmal alles dafür, dass allein der Mandant über die Offenlegung des Inhalts des Mandatsverhältnisses disponieren kann. Zwar hat das durch Verschwiegenheitspflicht und Aussageverweigerungsrecht geschützte Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Mandant einen personalen Charakter, weil es in beiden Vorschriften um das nur natürlichen Personen mögliche Anvertrauen von etwas geht,13 das bedeutet aber nicht, dass beide Beteiligte des Vertrauensverhältnisses in gleichem Maße geschützt werden müssten. Geschützt wird das Vertrauen des Mandanten darauf, dass der Verteidiger ihm Anvertrautes nicht offenbart. Der Mandant vertraut dem Verteidiger etwas an, der Verteidiger seinerseits vertraut dem Mandanten nichts an, was dieser für sich behalten müsste. Insofern ist im Verhältnis des Rechtsanwalts zu seinem Mandanten die Vertraulichkeit nur einseitig abgesichert. Der Verteidiger kann sich gerade nicht darauf verlassen, dass der Mandant die Vertraulichkeit wahrt 12 Wobei der Verteidiger immer sorgfältig prüfen sollte, inwieweit seine zeugenschaftlichen Angaben dem Mandanten wirklich nützen. 13 Vgl. hierzu umfassend Dierlamm, in: AG Strafrecht (Hrsg.) Strafverteidigung im Rechtsstaat – Festschrift 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltvereins, 2009, S. 428 (436 f.).
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und Dritten nicht aus dem Mandatsverhältnis berichtet.14 Dies darf der Mandant, er ist nicht zur Verschwiegenheit verpflichtet. Wenn die Strafsache abgeschlossen ist, dem Mandanten unter keinen Umständen eigene Strafverfolgung droht und seine Verteidigungsinteressen nicht mehr beeinträchtigt werden können, muss er nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts sogar, etwa in einem Strafverfahren gegen seinen früheren Verteidiger, als Zeuge über den Inhalt des Mandatsverhältnisses aussagen.15 b) Eigenes Zeugnisverweigerungsrecht des Verteidigers Unabhängig davon, dass bei hinreichender Internalisierung der Pflicht zur Verschwiegenheit dem Verteidiger die Offenbarung von Umständen aus dem Mandatsverhältnis immer unangenehm sein wird, besteht aber in zahlreichen Fällen auch ein nachvollziehbares eigenes Geheimhaltungsinteresse des Verteidigers hinsichtlich des Inhaltes des Mandatsverhältnisses und damit sind nicht nur die Fälle professionellen oder sogar rechtlich relevanten Fehlverhaltens des Verteidigers gemeint. Insofern bestehen durchaus auch Parallelen etwa zu einem Journalisten, der auch unabhängig von seinem Informanten ein eigenständiges Zeugnisverweigerungsrecht hat. Vor diesem Hintergrund wird bereits seit einiger Zeit diskutiert, ob dem Verteidiger nicht trotz des eigentlich klaren Wortlauts des § 53 Abs. 2 S. 1 StPO ein eigenständiges Zeugnisverweigerungsrecht zustehen kann. Schon im Jahr 2004 hat der Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer im Rahmen der Erarbeitung von Thesen zur Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren eine Präzisierung von § 53 Abs. 2 S. 1 StPO vorgeschlagen, wonach sich die Zeugnispflicht des Verteidigers im Falle der Entbindung von der Schweigepflicht nur auf diejenigen Umstände erstrecken solle, die ihm von seinem Mandanten mit dessen Wissen und Wollen anvertraut worden seien. Der Verteidiger müsse eigene Überlegungen und Recherchen nur im Rahmen seiner eigenen Verantwortung offenbaren.16 Auch im
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So auch BGH NStZ 2009, 519. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 28. 1. 2008 – 2 BvR 112/08, HRRS 2008 Nr. 653; OLG Koblenz NStZ-RR 2008, 283 f. Kritisch zu beiden Entscheidungen Bosbach, NStZ 2009, 177 ff., der dem nicht aussagewilligen Zeugen hier mit § 68a StPO weiter helfen will. Die Entscheidung des BVerfG vermag aber schon aus systematischen Gründen nicht zu überzeugen: Wenn nicht der Anwalt ein rein rechtliches Interesse an der (dann nicht unbefugten) „Verletzung“ der Schweigepflicht hat, kann allein der Mandant über die Offenlegung des Vertrauensverhältnisses entscheiden. Es wäre widersinnig, ihm zwar das Recht zuzugestehen, einerseits den Anwalt am Reden zu hindern, ihn aber gleichzeitig durch die Versetzung in den Zeugenstand selbst zum Reden zu zwingen. 16 Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer, Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren – Thesen und Begründung, Schriftenreihe der Bundesrechtsanwaltskammer, Bd. 13, 2004, S. 75, These 43. 15
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Schrifttum ist wiederholt zu der Frage eines eigenständigen Zeugnisverweigerungsrechts von Verteidigern Stellung genommen worden.17 Vor dem Hintergrund der einfach-gesetzlichen Rechtslage kann sich ein solches Zeugnisverweigerungsrecht nur aus der Rechtsstellung des Verteidigers und einer damit verbundenen einschränkenden Auslegung der Vorschrift des § 53 Abs. 2 S. 1 StPO ergeben. Dabei ist insbesondere an verfassungsrechtliche Überlegungen anzuknüpfen, die sich zum einen aus der Berufsausübungsfreiheit des Artikel 12 Abs. 1 GG,18 zum anderen aus den verfassungsrechtlich verbürgten Rechten des Beschuldigten, soweit sie ihrem Inhalt nach auch von dem Verteidiger als dessen Vertreter wahrgenommen werden können, ergeben. Hinzu kommen einfach-gesetzliche Regelungen, die dem Verteidiger eine eigenständige Rechtsposition einräumen. Zunächst ist festzuhalten, dass das Verhältnis des Verteidigers zu seinem Mandanten nicht von einer vollständigen Abhängigkeit geprägt ist. Hinsichtlich vieler Verteidigungshandlungen ist der Verteidiger nicht vom Willen seines Mandanten abhängig.19 Auch hat der Verteidiger über die Rechte des Mandanten hinausgehende Rechte, etwas das Recht auf Akteneinsicht, Anwesenheitsrechte bei bestimmten ermittlungsrichterlichen Handlungen sowie zahlreiche eigene Äußerungs- und Antragsrechte im Rahmen der Hauptverhandlung. Auch hat die Rechtsprechung wiederholt vor dem Hintergrund der Berufsausübungsfreiheit und der verfahrens- und verfassungsrechtlichen Stellung des Verteidigers für diesen Sonderrechte geschaffen, etwa im Zusammenhang mit den Straftaten der Geldwäsche, den Aussagedelikten oder den Urkundsdelikten.20 Auch der Gesetzgeber differenziert hinsichtlich einzelner Befugnisse zwischen dem Rechtsanwalt als solchem und dem Rechtsanwalt, soweit er als Verteidiger tätig ist. Darüber hinaus zeigt ein Blick in benachbarte Rechtsgebiete und benachbarte Rechtsordnungen, dass der Mandant durch die Entbindung des Rechtsanwaltes bzw. Verteidigers von der Schweigepflicht nicht uneingeschränkt über die Offenbarung von Inhalten des Mandatsverhältnisses verfügen kann. So hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass der Herausgabeanspruch des Insolvenzverwalters einer Kapitalgesellschaft gegen den früheren Rechtsberater im Hinblick auf dessen Unterlagen beschränkt ist und eine Herausgabepflicht nicht für Unterlagen bestehe, in denen der Anwalt von einem gewissen Freiraum Gebrauch mache, persönliche Eindrücke und vertrauliche Hintergrundinformationen festhalte, die er dem Mandanten
17 Vgl. etwa Matt, FS Widmaier, 2008, S. 851 ff.; Beulke, ZIS 2011, 324 ff; Bosbach, Ungeschriebene strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrechte im Bereich der Rechtsberatung, 2008. 18 Vgl. zu dieser Problematik umfassend Paeffgen, Zeugnisverweigerungsrechte und Verfassung, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungen, 2002, 215 (231 ff.). 19 Vgl. Beulke, ZIS 2011, 324 (325). 20 Hieraus weist völlig zutreffend auch Beulke, ZIS 2011, 324 (327) hin.
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und damit auch allen anderen gegenüber auch verschweigen dürfe.21 Zur Begründung bezog sich der Bundesgerichtshof dabei unmittelbar auf die verfassungsrechtlich gewährleistete Berufsausübungsfreiheit. In Österreich steht dem Verteidiger – wie in Deutschland – gemäß § 157 Abs. 1 Nr. 2 öStPO ein Zeugnisverweigerungsrecht zu. Gleichzeitig ist aber auch anerkannt, dass alleine die Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht durch den Mandanten den Verteidiger nicht zwingt, uneingeschränkt alle Umstände aus dem Mandatsverhältnis zu offenbaren, sondern dass diesem im Rahmen einer berufsadäquaten Abwägung die Entscheidung verbleibt, ob er aussagen möchte oder nicht.22 Alle diese Überlegungen lassen sich letztlich unter dem Oberbegriff der „Unabhängigkeit der Strafverteidigung“ zusammenfassen. Diese in jede Richtung wirkende Unabhängigkeit des Verteidigers ist nicht nur Ausdruck einer freien Advokatur, sondern auch Garant dafür, dass der Verteidiger seinen Auftrag sachgemäß und sowohl im Interesse des Mandanten als auch wirksam erfüllen kann. Wenn von Unabhängigkeit in jeder Richtung gesprochen wird, ist damit gemeint, dass die Unabhängigkeit der Verteidigung nicht nur gegenüber den Strafverfolgungsbehörden, sondern auch gegenüber dem Mandanten bestehen muss. Es muss sichergestellt sein, dass der Verteidiger frei von der Sorge tätig wird, von seinem Mandanten zu irgendeinem Zeitpunkt instrumentalisiert zu werden. Der Mandant hat je nach dem, wie er sich dem Verteidiger gegenüber verhält, welche Informationen er ihm gibt und welche er zurückhält, wie viel an sachlichen Entscheidungen zur Verteidigungsstrategie er an seinen Verteidiger delegiert und welchen Ratschlägen er folgt, großen Einfluss auf die Verteidigungsstrategie und den Gang des Verfahrens. Interessen können sich im Lauf eines Verfahrens schnell ändern, Ratschläge, die heute noch als hilfreich erscheinen, können morgen als nachteilig empfunden werden. Zwar wird das Mandatsverhältnis immer ein Ringen um das Vertrauen des Mandanten sein, trotzdem wird ein Beschuldigter aber auch oft ein taktisches Verhältnis zu seinem Verteidiger haben. Dies kann auch dazu führen, dass der Verteidiger gezielt in eine bestimmte Position gebracht wird, dass er als Zeuge aufgebaut wird und die Möglichkeit, den Verteidiger als Zeugen ins Rennen zu schicken, von Anfang an oder vielleicht auch erst nach einem Verteidigerwechsel ins Kalkül gezogen wird. Die Gefahr einer solchen Instrumentalisierung wird weiter durch die Möglichkeit der thematischen oder situativen Beschränkung der Reichweite der Schweigepflichtentbindung deutlich vergrößert. Natürlich ist es ein brauchbarer Maßstab für das Verteidigerverhalten, bei jedem Beratungsschritt zu bedenken, dass darüber möglicherweise gegenüber Dritten Bericht zu erstatten ist. Auch wird jeder forensisch erfahrene Strafverteidiger sich immer auch um Absicherung gegen spätere Vorwürfe von Seiten des Mandanten bemühen, etwa durch Vermerke oder sonstige geeignete Dokumentationsmaßnahmen. Eine wirklich unabhängige und effektive Verteidigertätigkeit, ein wirklich vertrau21 22
BGHZ 109, 260 (265 ff.). Vgl. hierzu Beulke, ZIS 2011, 324 (329) m.w.N.
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ensvolles Verhältnis zwischen Verteidiger und Mandant ist aber nur gewährleistet, wenn einerseits der Verteidiger weiß, dass er nicht für eine Zeugenrolle instrumentalisiert werden kann und wenn andererseits auch der Mandant von vornherein weiß, dass er diese Option nicht zwingend hat, diese Trumpfkarte nicht zwingend ziehen und über seinen Verteidiger in dieser Hinsicht nicht frei verfügen kann. In dieser Befreiung des Mandatsverhältnisses von wechselseitigen taktischen Überlegungen liegen der eigentliche Kern und Zweck und auch die Berechtigung eines eigenständigen Zeugnisverweigerungsrechtes des Strafverteidigers, das sich, wie vorgeschlagen,23 aus einer teleologischen Reduktion des § 53 Abs. 2 S. 1 StPO ergibt und das der Gesetzgeber klarstellend in diese Vorschrift aufnehmen sollte.
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Beulke, ZIS 2011, 324 (329).
Einige Bemerkungen zur äußeren Struktur von Revisionsentscheidungen des Bundesgerichtshofes – eine Skizze auf empirischer Grundlage Von Peter Rieß
I. Einleitung Mit dem nachfolgenden Beitrag werden in skizzenhafter Form in der Entscheidungsdatenbank des Bundesgerichtshofes1 enthaltene Revisionsentscheidungen der Strafsenate ausgewertet und damit auf einer empirischen Grundlage – ergänzend zu den allgemein zugänglichen statistischen Daten2 – einige Erkenntnisse über die äußere Struktur dieser Entscheidungen dargestellt. Der Beitrag dient auch einer (sehr beschränkten) aktuellen Überprüfung älterer ausführlicherer empirisch orientierter Untersuchungen.3 Er befasst sich nicht mit den sachlichen Inhalten dieser Entscheidungen und enthält damit keine Erkenntnisse und Aussagen über Rechtsprechungsinhalte und ihre Qualität. Materialbasis sind alle in der Entscheidungsdatenbank enthaltenen, in der Zeit vom 1. 7. 2011 bis 31. 12. 2011 (also im zweiten Halbjahr) ergangenen auswertbaren 452 Entscheidungen der Strafsenate, die über Revisionen in Strafsachen abschließend entscheiden; nicht erfasst sind Beschlussverwerfungen nach § 349 Abs. 2 StPO ohne weitere Begründung.4 Entscheidungen, die einen anderen Inhalt haben,
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Über diese auf der Internetseite des Bundesgerichtshofes abrufbare Datenbank sind die seit dem 1. 1. 2000 ergangenen Entscheidungen der BGH allgemein zugänglich, wenn auch bei den Entscheidungen der Strafsenate mit einer bedauerlichen Ausnahme (s. dazu unten bei Fn. 4). Bis zu diesem Zeitpunkt waren sie nur intern zugänglich und bildeten insoweit die Grundlage für eine Reihe von Untersuchungen. 2 Insbesondere den ebenfalls auf der Internetseite des BGH zugänglichen Geschäftsübersichten. 3 So namentlich die gründliche, zahlreiche Aspekte behandelnde Arbeit von Barton, Die Revisionsrechtsprechung des BGH in Strafsachen, 1999; ferner Nack, Aufhebungspraxis der Strafsenate des BGH, NStZ 1997, 153 ff.; Rieß, in: Die revisionsgerichtliche Rechtsprechung der Strafsenate des Bundesgerichtshofes, Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des DAV, Bd. 3, 1986, S. 40 ff. Weitere Hinweise auf solche Untersuchungen im folgenden Text. 4 Dazu unter II. 2.
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bleiben unberücksichtigt.5 Diese Entscheidungen wurden nach unterschiedlichen formalen Gesichtspunkten mittels einer einfachen manuellen Auswertung erfasst und ausgezählt.6 Die Ergebnisse können nur als skizzenhafte Tendenzaussagen gelten und nicht als mit den Methoden der empirischen Sozialforschung gesicherte Erkenntnisse.7 Aussagen über Entscheidungsinhalte sind nur in engen Grenzen und für einzelne Maßnahmen möglich. Ob sich die Entscheidungspraxis der einzelnen Senate, was in der neueren Literatur diskutiert wird,8 auch in inhaltlicher Hinsicht unterscheidet, ist schon wegen der zu geringen Ausgangszahlen und des hierfür auch inhaltlich unzureichenden Materials nicht untersucht worden.9 Die Repräsentativität der Untersuchung ist methodisch nicht gesichert. In der Größenordnung dürfte sie aber eine aktuelle Momentaufnahme der gegenwärtigen Revisionspraxis des Bundesgerichtshofs darstellen. Bestätigt wird dies dadurch, dass auch eine kursorische Überprüfung der außerhalb des Untersuchungszeitraums ergangenen Entscheidungen grundsätzlich keine Veränderungen erkennen lässt.10 Der Beitrag beginnt (unter II.) mit einer Gesamtdarstellung der erfassten Revisionsentscheidungen und ihres formalen Inhalts. Dem folgt (unter III.) eine selbständige Darstellung der Ergebnisse der staatsanwaltschaftlichen Revisionen. Abschließend (unter IV.) werden einige weitere Erkenntnisse mitgeteilt.
II. Gesamtergebnisse 1. Allgemeines Nach § 349 StPO ist die Entscheidung über die Revision durch Urteil die normative Regel; die durch Beschluss die in den Absätzen 1 bis 4 geregelte Ausnahme. In der Rechtswirklichkeit verfahren die Revisionsgerichte seit langer Zeit und in zunehmendem Umfang mit einer Beschlussquote von derzeit etwa 95 % umgekehrt.11 5 So etwa 17 Anhörungsrügen, die alle erfolglos waren, ferner Gerichtsstandbestimmungen, Vorlageentscheidungen u. ä. 6 Näher nachgewiesen sind nur (meist beispielhaft) einzelne Entscheidungen. Die Angabe weiterer Fundstellen hierbei ist beispielhaft und nicht vollständig. 7 Kleinere Ungenauigkeiten und Unvollständigkeiten bei der Datenerhebung sind nicht ausgeschlossen, beeinflussen aber die Größenordnungen nicht. 8 S. dazu Barton, in: FS Fezer, 2008, S. 333, 350 f.; Erb, GA 2012, 72, 84 f.; abweichend Nack (Fn. 3), Grafik 2. 9 Gewisse sprachliche und stilistische Unterschiede sind zwar erkennbar, besagen aber nichts. 10 Anders zu beurteilen sind lediglich die insgesamt 23 Entscheidungen, die in unterschiedlicher Form die Anordnung der Sicherungsverwahrung zum Gegenstand haben. Deren atypische Häufung dürfte ihren Grund in den zahlreichen offenen Rechtsfragen und Rechtsunsicherheiten finden, die durch die Entscheidungen des EMRK und des BVerfG ausgelöst worden sind; s. dazu LR-Esser, 26. Aufl., 2011, Art. 5 MRK, Rn. 80 ff. mwN. 11 Näher Barton (Fn. 3), S. 48 ff.; Rieß (Fn. 3), Tab. 10, 11.
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Diese Dominanz der Beschlussentscheidung, für die sich auch in der Rechtsprechung der Zivilsenate eine vergleichbare Entwicklung abzeichnet, gilt auch im Untersuchungszeitraum. Für diesen wird, auch wenn der größere Teil der Verwerfungen nach § 349 Abs. 2 StPO nicht erfasst werden konnte, von etwa 1.400 Revisionsentscheidungen ausgegangen.12 Darunter finden sich lediglich 72 Urteile, also eine Urteilsquote von 5 %. Revisionsführer ist in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle der Angeklagte. Als Konsequenz hiervon ist die prozentuale Erfolgsquote seiner Revisionen sehr gering. In absoluten Zahlen übertrifft dagegen der Anteil der zu seinen Gunsten wirkenden Revisionserfolge die ihn belastenden deutlich.13 In 52 Entscheidungen war (allein oder zugleich) über Revisionen der Staatsanwaltschaft zu entscheiden, in (mindestens) 21 über solche des Nebenklägers.14 Für die nachfolgende Darstellung wird zwischen den Entscheidungen unterschieden, die die Revision insgesamt verwerfen; einbezogen sind diejenigen, die lediglich mehr formale äußere Korrekturen des tatrichterlichen Urteils vornehmen, die keine nennenswerten Auswirkungen auf das sachliche Ergebnis haben. Dem stehen die in einem weiten Sinne erfolgreichen Revisionen15 gegenüber, die das angefochtene Urteil im Schuldspruch oder im Rechtsfolgenausspruch im Ergebnis, wenn auch nur geringfügig, beanstanden und ggf. ändern, also mindestens einen Teilerfolg haben. 2. Erfolglose Revisionen Auf der Grundlage des in diesem Beitrag ausgewerteten Materials ist eine exakte Quantifizierung und genaue Aufschlüsselung der erfolglosen Revisionen nicht möglich, weil die Entscheidungsdatenbank diejenigen Beschlussverwerfungen nach § 349 Abs. 2 StPO nicht enthält, die die Revision ohne weitere Zusätze oder mit dem bloßen Hinweis auf den Verwerfungsantrag des Generalbundesanwalts als unbegründet verwerfen. Das sind etwa 90 % der in dieser Form erledigten Verfahren. Für die Auswertung standen lediglich 184 Entscheidungen über erfolglose Revisionen zur Verfügung. Darunter waren 36 Urteile, davon – weil insoweit keine Beschlussverwerfungen vorkommen – 20 Revisionen der Staatsanwaltschaft. Der Anteil der unzulässigen Revisionen ist in Übereinstimmung mit den allgemeinen statistischen Daten16 mit 17 Entscheidungen gering. 11 Entscheidungen enthalten Stoffbeschränkungen nach den §§ 154, 154a StPO ohne Auswirkungen auf die 12 Ausweislich der Geschäftsübersicht des BGH wurde 2011 insgesamt über 2.804 Revisionen abschließend entschieden. Es wird unterstellt, dass sich dies auf die beiden Halbjahre etwa gleichmäßig verteilt. 13 Näher unten Fn. 45. 14 Einzelheiten unter III. 15 Zum Erfolgsbegriff, dessen Inhalt variabel und eine Frage des Untersuchungszwecks ist, s. ausführlich mwN Rieß, in: FS Eisenberg, 2009, S. 569 ff. 16 S. Barton (Fn. 3), S. 50; Rieß (Fn. 3), Tab. 20; im Material etwa 1,2 %.
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Rechtsfolgen.17 48 Verwerfungen nach § 349 Abs. 2 StPO enthalten – was in 18 Fällen kurz begründet wird – allein klarstellende Ergänzungen des tatrichterlichen Urteilsspruchs oder zusätzliche Entscheidungen anderer Art, etwa Korrekturen des Urteilstenors, die Nachholung der Bestimmung des Umrechnungsmaßstabs für ausländische Freiheitsentziehung in unproblematischen Fällen (§ 51 Abs. 4 S. 2 StGB), die Festsetzung versehentlich unterlassener Einzelstrafen bei einer Mehrheit von Taten18 oder die Bestimmung eines Vollstreckungsanteils für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung im Revisionsverfahren.19 Von den allein die Verwerfung nach § 349 Abs. 2 StPO aussprechenden insgesamt etwas über 1000 Entscheidungen enthalten nur 108 (10 %) eine selbständige Begründung. Sie ist von unterschiedlicher Ausführlichkeit. Es überwiegen mit 80 Fällen kurze Ausführungen, die vielfach mit der Formel „ergänzend bemerkt der Senat“ eingeleitet werden und dadurch erkennbar an den Verwerfungsantrag des Generalbundesanwalts anknüpfen. Drei Gruppen treten dabei hervor: Einmal gehen sie auf die Gegenäußerung des Revisionsführers nach § 349 Abs. 3 S. 2 StPO ein; andere enthalten klarstellende und ergänzende Hinweise zu den Ausführungen im Verwerfungsantrag und schließlich enthalten sie hiervon abweichende Begründungen dafür, warum der Revision der Erfolg versagt bleiben muss, nicht ganz selten unter Rückgriff darauf, dass das Urteil auf dem möglichen Rechtsfehler nicht beruht20 oder dass der Angeklagte durch den Rechtsfehler nicht beschwert werde.21 In einigen Fällen wird die Stellungnahme des Generalbundesanwalts wörtlich mit dem Zusatz wiedergegeben, „dem schließt der Senat sich an“. 28 Entscheidungen enthalten weitaus ausführlichere Darlegungen, die den Charakter einer eigenständigen Begründung annehmen, in der lediglich ergänzend auf den Verwerfungsantrag Bezug genommen wird; sie sind teilweise von den Senaten selbst zur Veröffentlichung bestimmt.22 Diese Verwerfungspraxis auf die Grundlage des § 349 Abs. 2 StPO lässt sich als eine gemeinschaftliche Begründung von Generalbundesanwalt und entscheidendem Senat interpretieren, dergestalt dass das Revisionsgericht, wenn es keine zusätzlichen Hinweise gibt, sich der Begründung im Verwerfungsantrag anschließt. Auf 17
Zur Anwendung dieser Vorschriften und der Auswirkung insgesamt s. unter IV. 1. Regelmäßig unter Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO, letzte Alternative in Höhe der jeweiligen gesetzlichen Mindeststrafe. 19 S. auch mN Dahs, Die Revision im Strafprozess, 8. Aufl., 2012, Rn. 587, 616. 20 So etwa (ausführlich) 5 StR 434/11 v. 14. 12. 2011 (NStZ 2012, 152), wo der Senat die bisherige Rechtsprechung in Zweifel zieht; ferner 3 StR 253/11 v. 9. 8. 2011. 21 So z. B. 3 StR 199/11 v. 2. 8. 2011 (NStZ 2012, 44). 22 So z. B. für BGHSt 3 StR 87/11 v. 5. 7. 2011 (BGHSt 56, 271 = NStZ 2012, 216); 1 StR 153/11 v. 23. 8. 2011 (NJW 2011, 3314 = StV 2012, 167); 4 StR 344/11 v. 20. 10. 2011 (JR 2012, 308 m. Anm. Bachmann/Goeck); 2 StR 302/11 v. 3. 11. 2011 (StV 2012, 466); BGHR 1 StR 524/11 v. 9. 11. 2011 (NStZ 2012, 172 = JR 2012, 167 m. Anm. Eisenberg). Die „Veröffentlichungswürdigkeit“ beeinflusst zwar den Umfang und die Intensität der Begründung, nicht aber erkennbar die Entscheidungsform. 18
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die nicht unverständliche Kritik im Schrifttum und namentlich bei den mit einer begründungslosen Beschlussverwerfung konfrontierten Revisionsführern23 ist hier nicht näher einzugehen. Dass diese Praxis, die ein erhebliches Vertrauen in ihre sachgerechte Anwendung voraussetzt, ein wichtiges Element für die Funktionsfähigkeit der Revisionspraxis in den gegenwärtigen Rahmenbedingungen darstellt, wird man nicht bestreiten können. 3. Erfolgreiche Revisionen a) Übersicht Das Material enthält insgesamt 268 Revisionsentscheidungen, in denen das tatrichterliche Urteil auch sachlich beanstandet wird, die also bei dem hier verwendeten sehr weiten Maßstab „erfolgreich“ sind. Das ergibt eine Erfolgsquote von knapp 20 %. Allerdings werden manche hier als Erfolg gezählte Ergebnisse den Erwartungen der Revisionsführer nicht entsprechen.24 Es beanstanden 148 Entscheidungen (55 %) auch (ganz oder teilweise) den Schuldspruch, 120 (45 %) allein den Rechtsfolgenausspruch.25 Die vollständige Aufhebung des angefochtenen Urteils macht mit 65 Fällen nur etwa ein Viertel aus;26 hinzu kommen mit unterschiedlicher Reichweite und Gewichtigkeit 41 Teilaufhebungen, die auch den Schuldspruch betreffen. Ferner betreffen den Schuldspruch 34 Schuldspruchberichtigungen, bei denen in 13 Fällen die Rechtsfolgen (bei der Strafe jedenfalls in Form der Gesamtstrafe) unverändert bleiben, sowie 8 Fälle der Anwendung der §§ 154, 154a StPO, die eine Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs zur Folge hatten.27 Auch bei den 120 Entscheidungen, in denen nur der Rechtsfolgenbereich beanstandet wird, überwiegen Teilerfolge. Die Rechtsfolgen insgesamt werden in 44 Entscheidungen aufgehoben; in weiteren 13 in Bezug auf einzelne von mehreren Taten. Der Maßregelausspruch allein unterliegt in 38 Fällen der Kritik,28 die Gesamtstrafe in
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So zuletzt mwN etwa Rosenau, ZIS 2012, 195 ff. So etwa bloße Schuldspruchberichtigungen ohne nennenswerten Einfluss auf die Rechtsfolgen oder Korrekturen bei der Gesamtstrafe. 25 Die Zählung ist in der Weise vorgenommen worden, dass ein auch den Schuldspruch betreffender Erfolg auch dann den Vorrang hat, wenn bei den Rechtsfolgen ein dadurch nicht veranlasster weiterer Erfolg zu verzeichnen ist. 26 Mit erfasst sind dabei auch die (wenigen) Fälle, bei denen Verfahrensgegenstand des tatrichterlichen Verfahrens (infolge von Teilrechtskraft oder aus anderen Gründen) nur noch die Rechtsfolgen waren. 27 S. näher unter IV. 28 Diese verhältnismäßig hohe Zahl solcher isolierter Beanstandungen dürfte ihren Grund einmal in den aktuellen Rechtsunsicherheiten bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung finden, zum anderen in der auch auf Revisionen des Angeklagten vorgenommenen Beanstandung der Nichtanordnung von Maßregeln nach den §§ 63, 64 StGB, s. dazu unter II. 3. d) bei Fn. 52. 24
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9 Fällen und – was auf Rechtsunsicherheiten in der tatrichterlichen Praxis hindeuten könnte – die Entscheidung über Einziehung und Verfall in 15 Fällen.29 b) Zurückverweisung und eigene Sachentscheidung, Revisionserstreckung Die regelmäßige Konsequenz des Revisionserfolges ist entsprechend § 354 Abs. 2 StPO die Zurückverweisung an den Tatrichter, allerdings mit nicht unbeträchtlichen Ausnahmen und Einschränkungen. Im Untersuchungszeitraum ist in 227 Entscheidungen (85 %) zurückverwiesen worden; in den übrigen 41 Fällen entscheidet das Revisionsgericht in (teilweise analoger) Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO in der Sache selbst.30 Hinzu kommen diejenigen Verfahren, bei denen eine eigene Sachentscheidung in einem Teilbereich mit einer Zurückverweisung wegen des Restes kombiniert wird. Freisprüche sind dabei sehr selten.31 Etwas häufiger sind Verfahrenseinstellungen wegen eines Verfahrenshindernisses (§ 206a StPO), die allerdings teilweise nur einzelne Urteilsteile betreffen und zur Zurückverweisung zur Bildung einer neuen Gesamtstrafe führen. In mehreren Fällen führt die Beanstandung der Anordnung der Sicherungsverwahrung zu deren bloßen Wegfall unter Verzicht auf eine Zurückverweisung. Den Schwerpunkt bilden Schuldspruchberichtigungen bei Aufrechterhaltung oder Ergänzung des Rechtsfolgenausspruchs.32 Auf § 354 Abs. 1a StPO wird dabei selten zurückgegriffen33. Von der nach § 354 Abs. 2 S. 1 2. Alt. StPO34 eröffneten Möglichkeit, an ein anderes Gericht gleicher Ordnung zurück zu verweisen,35 ist im Untersuchungszeitraum lediglich in sechs Fällen Gebrauch gemacht worden.36 Diese geringe Zahl lässt eine verlässliche nähere Differenzierung nicht zu. In der Hälfte der Fälle handelt 29
In einem Fall (5 StR 471/11 v. 14. 12. 2011) war allein der Adhäsionsausspruch Gegenstand der revisionsrechtlichen Beanstandung; der Senat sah insoweit nach § 406 Abs. 1 S. 3 StPO von einer Entscheidung ab. 30 Zur Entwicklung des Umfangs im zeitlichen Verlauf Barton (Fn. 3), S. 224 ff. 31 So 2 StR 380/11 v. 27. 12. 2011, zugleich Einstellung wegen des zweiten Tatvorwurfs; 2 StR 375/11 v. 9. 11. 2011 (NStZ 2012, 272 m. Anm. Engländer = JZ 2012, 204 m. Anm. Erb = StV 2012, 332 m. Anm. Mandla), Freispruch vom Hauptvorwurf (§ 212 StGB), Zurückverweisung in anderen Fällen. 32 Dazu kritisch Beulke, in: FS Schöch, 2010, S. 963 ff. 33 So z. B. 3 StR 390/11 v. 20. 11. 2011. Etwas häufiger wird eine noch erforderliche Gesamtstrafenbildung nach § 354 Abs. 1b StPO dem Beschlussverfahren überlassen. 34 Zur (auch verfassungsrechtlichen) Problematik ausführlich Sowada, Der gesetzliche Richter im Strafverfahren, 2002, S. 762 ff.; ferner Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 55. Aufl., 2012, § 354 Rn. 40 f.; LR-Hanack, 25. Aufl., 1998, § 354 Rn. 61. 35 Sie scheidet nach der Gesetzeslage (anderes Gericht des gleichen Landes) für den BGH bei Revisionen gegen tatrichterliche Urteile aus Berlin, Bremen, Hamburg und dem Saarland aus. 36 Im Einzelnen: 3 StR 188/11 v. 5. 7. 2011; 3 StR 344/11 v. 10. 11. 2011; 1 StR 273/11 v. 19. 10. 2011; 1 StR 302/11 v. 9. 11. 2011 (NStZ 2012, 523); 3 StR 326/11 v. 29. 11. 2011; 3 StR 374/11 v. 20. 12. 2011 (NStZ-RR 2012, 106). Das sind etwa 3 % aller in Betracht kommenden Zurückverweisungen.
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es sich um eine zweite Zurückverweisung nach einer bereits einmal erfolgreichen Revision. Im Übrigen dürfte es sich um besonders komplexe oder in der tatrichterlichen Handhabung problematische Verfahren handeln. Die soweit ersichtlich einzige statistische Untersuchung zu diesem Thema aus der Zeit von 1977 bis 1985 hat damals einen signifikanten kontinuierlichen Rückgang gezeigt.37 Die für den letzen Zeitabschnitt (1984/85) ermittelten Werte dürften etwa den gegenwärtigen entsprechen. Anhaltspunkte für eine Zunahme dieser Praxis, die in den Entscheidungen nicht weiter begründet wird,38 bestehen jedenfalls nicht. Die in ihren Konsequenzen nicht ganz unproblematische und rechtspolitisch umstrittene Erstreckung der Aufhebung auf den Nichtrevidenten (§ 357 StPO)39 findet sich im Untersuchungszeitraum in 15 Fällen, also etwa 5 % aller in Betracht kommenden erfolgreichen Revisionen.40 Die Auswirkungen sind allerdings begrenzt. Eine dem Nichtrevidenten zugutekommende Aufhebung und Zurückverweisung auch im Schuldspruch begegnet nur in 6 Fällen, darunter sind 3, in denen die Feststellungen (ganz oder teilweise) aufrecht erhalten bleiben, vergleichbares gilt für die Zurückverweisungen, die nur den Rechtsfolgenausspruch betreffen.41 c) Aufhebungsgründe Nach dem Gesetzeswortlaut setzt der Erfolg der Revision eine Gesetzesverletzung, also einen Rechtsfehler voraus, der – wie sich aus § 344 Abs. 2 StPO ergibt – entweder das Verfahrensrecht oder als sachlich-rechtliche Rechtsverletzung das materielle Recht betreffen muss. Das Verhältnis der verschiedenen Aufhebungsgründe und ihre Differenzierung im Einzelnen ist Gegenstand einiger älterer Untersuchungen,42 deren Tendenz durch die hier vorgenommene Auswertung bestätigt 37 Rieß (Fn. 3), S. 69 f.; Tabellen 40 – 42 auf der Basis von ca. 4.200 Zurückverweisungen mit einem Rückgang von ca. 14 % auf ca. 3 %. 38 Der BGH beschränkt sich (soweit er überhaupt dazu etwas sagt) auf die Formulierung: „Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, die Sache an ein anderes Landgericht zu verweisen.“ 39 Vgl. dazu etwa Meyer-Goßner, in: FS Roxin, 2001, S. 1345 ff.; Rieß (Fn. 15), S. 579 beide mwN. 40 Meyer-Goßner (Fn. 39), S. 1352 ff. hat für einen Vierjahreszeitraum 55 Fälle ermittelt; Rieß (Fn. 3), Tab. 50, hat in einer kleinen Stichprobe aus dem Jahre 1985 2 von 135 erfolgreichen Revisionen festgestellt. 41 Eine auf Freispruch oder Einstellung lautende, dem Nichtrevidenten zugutekommende Entscheidung findet sich im Material nicht. Die abschließenden Entscheidungen betreffen überwiegend Schuldspruchänderungen ohne Auswirkungen auf die Rechtsfolgen. In einigen Fällen führt § 357 StPO dazu, dass bei Mitangeklagten, die die Anfechtung auf die Strafe beschränkten, auch der Schuldspruch beanstandet wird. Vergleichbare Werte finden sich für die damalige Untersuchung bei Meyer-Goßner (Fn. 39), S. 1353 ff. 42 Ausführlich Rieß, NStZ 1982, 49 ff. Erfasst wurden alle 1282 Aufhebungsgründe in den zwischen dem 1. 7. 1979 und dem 30. 6. 1981 ergangenen Entscheidungen. S. auch Barton (Fn. 8), S. 333 ff.; Nack (Fn. 3), Grafik 17.
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wird, für die in insgesamt 245 Fällen der Aufhebungsgrund verlässlich ermittelt werden konnte. Die sachlich-rechtliche Beanstandung umfasst 213 (86,9 %) der Aufhebungen. Nur 32 (13,1 %) haben verfahrensrechtliche Gründe, davon betreffen 9 ein Verfahrenshindernis. Das stimmt mit älteren Untersuchungen in der Größenordnung überein;43 eine Zunahme erfolgreicher Verfahrensrügen ist jedenfalls nicht erkennbar. Zu bedenken bleibt, dass in der Entscheidungspraxis der durchgreifenden Sachrüge vielfach der Vorrang zugebilligt wird und deshalb Verfahrensrügen unerörtert bleiben. Bei den Aufhebungen aus sachlich-rechtlichen Gründen lässt sich dahingehend unterscheiden, ob sie eine Gesetzesverletzung im engeren Sinne beanstanden oder den Erscheinungsformen der sog. „erweiterten Revision“ (etwa mangelhafte Beweiswürdigung, widersprüchliche oder unzureichende Feststellungen oder Wertungsfehler) zuzurechnen sind. Ohne dass das hier genauer quantifiziert werden kann,44 dürfte das gegenüber der klassischen Sachrüge eine etwa gleichwertige Bedeutung haben. Vergleichbare Maßstäbe wenden die Strafsenate auch bei erfolglosen Revisionen an, wenn sie überprüfen, ob die Beweiswürdigung das Ergebnis trägt. Die Möglichkeiten und Anforderungen der „erweiterten Revision“ bestimmen weitgehend und eher unauffällig die Entscheidungspraxis. Unter den vielgestaltigen „echten“ Rechtsfehlern spielt die Beurteilung der Konkurrenz eine nicht ganz unbedeutende Rolle; dies führt nicht nur ganz ausnahmsweise zu einer bloßen Schuldspruchberichtigung. d) Revisionsentscheidungen zu Lasten des Angeklagten Gemessen an der Gesamtzahl der erfolgreichen Revisionen treten die zu Ungunsten des Angeklagten wirkenden zahlenmäßig deutlich in den Hintergrund, Es handelt sich um 29 Entscheidungen, denen etwa (mindestens) die dreifache Zahl der zu seinen Gunsten wirkenden gegenübersteht.45 Sie beruhen regelmäßig auf staatsanwalt-
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Vgl. Rieß (Fn. 3), Tab. 5, 6 (18,3 %); Nack (Fn. 3), Grafik 6 und 7 (13 %). Meine frühere Untersuchung (Fn. 42) hat mit einem gleichartigen Ausgangsmaterial, das damals noch nicht allgemein zugänglich war, einen Anteil von rund 43 % ergeben, der mit weiteren Unterteilungen dem Formenkreis der erweiterten Revision zugerechnet werden könnte. Der wünschenswerte Vergleich mit dem aktuellen Material dahingehend, ob sich insoweit seither Veränderungen ergeben haben, lässt sich aus vorwiegend methodischen Gründen nicht realisieren. Niedrigere Werte finden sich bei Nack (Fn. 3), Grafik 17; Barton (Fn. 8), S 339 f. Ob diese Differenzen eine im zeitlichen Verlauf veränderte Praxis widerspiegeln oder auf unterschiedlich gehandhabten subjektiv bewerteten Erfassungskriterien beruhen, muss offen bleiben. 45 Auch ohne bloße Schuldspruchberichtigungen u. ä. und ohne die bei Fn. 51 genannten Fälle ergibt die Untersuchung 165 Erfolge zugunsten des Angeklagten, davon 47 volle und 38 auch den Schuldspruch betreffende Teilerfolge und 80 die Rechtsfolgen betreffende Beanstandungen. Die verbreitete Auffassung, Revisionen des Angeklagten seien besonders häufig erfolglos, liegt allein an der weitaus höheren Revisionshäufigkeit; s. auch Rieß (Fn. 15), bei Fn. 8 ff. 44
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schaftlichen Revisionen, in einem Fall allein auf einer Revision des Nebenklägers.46 Mehrere Entscheidungen enthalten zugleich eine erfolgreiche Revision des Angeklagten, meist wegen eines anderen Tatvorwurfs. In 15 Entscheidungen wird der tatrichterliche Freispruch oder Teilfreispruch oder eine vergleichbare Entscheidung47 aufgehoben. Acht Entscheidungen beanstanden (zu Lasten des Angeklagten) den Schuldspruch und sechs die Rechtsfolgenentscheidung.48 Infolge der in § 358 Abs. 2 S. 3 StPO enthaltenen Ausnahme vom Verbot der reformatio in peius für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) oder einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB),49 deren Anordnung dem Angeklagten unwillkommen sein kann50, können im Ergebnis auch Revisionen des Angeklagten für ihn belastende Konsequenzen haben, wenn die Urteilsaufhebung darauf beruht, dass der Tatrichter eine solche Anordnung oder die Prüfung ihrer Notwendigkeit unterlassen hat.51 Solche Fälle sind nicht selten; sie begegnen im Untersuchungszeitraum insgesamt 17mal.52 Das ist deshalb etwas überraschend, weil der Angeklagte dies nach gesicherter Rechtsprechung53 regelmäßig von seinem Rechtsmittelangriff ausnehmen kann,54 und gibt Anlass zu der Vermutung, dass diese Möglichkeit von den revisionsführenden Verteidigern nicht immer berücksichtigt wird.
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Zu den Revisionen von StA und Nebenkläger ausführlicher unter III. Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses (1 StR 302/11 v. 9. 12. 2011, NStZ 2012, 523); Ablehnung der Unterbringung in einem Sicherungsverfahren (3 StR 209/11 v. 18. 8. 2011). 48 Davon 4 die Nichtanordnung der (nachträglichen) Sicherungsverwahrung. 49 § 358 Abs. 2 StPO schützt auch nicht vor einer Verschlechterung des Schuldspruchs; solche Fälle sind im Untersuchungszeitraum nicht zu verzeichnen. Die Entscheidungen bemerken in Fällen, in denen dies erwogen werden könnte, oft, der Angeklagte sei durch das Unterlassen nicht beschwert. 50 Freilich kann sie infolge der in § 67 Abs. 2 S. 3, Abs. 5 StGB getroffenen Regelung über den Vorwegvollzug der Strafe für den Angeklagten auch attraktiv sein; vgl. LK-Schöch, 12. Aufl., 2008, § 67 Rn. 97. 51 Im Material finden sich sowohl Fälle, in denen der Tatrichter eine Anordnung ausdrücklich und begründet ablehnt, als auch solche, in denen er nach den Urteilsgründen jede Prüfung unterlassen hat. 52 Auch die außerhalb des eigentlichen Untersuchungszeitraums liegenden Entscheidungen vermitteln das gleiche Bild. 53 S. u. a. 2 StR 251/11 v. 2. 11. 2011 (StV 2012, 203), Rn. 3. 54 Ein Teil der Entscheidungen weist ausdrücklich darauf hin, dass dies nicht geschehen sei. 47
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III. Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers 1. Staatsanwaltschaft Da Beschlussverwerfungen nach § 349 Abs. 2 StPO bei Revisionen der Staatsanwaltschaft in der Praxis nicht vorkommen,55 ist insoweit eine vollständige Erfassung möglich. Im sechsmonatigen Untersuchungszeitraum sind 51 Entscheidungen (alle in Urteilsform) über Revisionen der Staatsanwaltschaft zu Ungunsten des Angeklagten56 ergangen. Davon hatten 8 allein die Verhängung oder Nichtverhängung von Sicherungsverwahrung oder nachträglicher Sicherungsverwahrung zum Gegenstand. In 10 Verfahren war zugleich über eine (gleichgerichtete) Revision von Nebenklägern zu entscheiden. In 11 Verfahren waren zugleich Revisionen des Angeklagten Entscheidungsgegenstand,57 dabei waren die Gegenstände der Revisionsangriffe überwiegend unterschiedlich. Von den 51 Revisionen waren 28 (55 %) (jedenfalls teilweise) erfolgreich; sie führten in allen Fällen zur Zurückverweisung. 25 blieben ohne Erfolg, eine Quote, die mit anderen teilweise älteren Untersuchungen gut übereinstimmt.58 In 26 Fällen hatte die Staatsanwaltschaft ihre Revision beschränkt, und zwar in 16 Fällen auf die Rechtsfolgen oder einen Teil davon, in 10 auf einzelne von mehreren Taten. Aufhebungsgrund war dabei in lediglich drei Fällen eine erfolgreiche Verfahrensrüge. In 25 Urteilen griff die Sachrüge durch, wobei die Beanstandungen des Bundesgerichtshofes überwiegend die Beweiswürdigung und die mangelnde Auseinandersetzung mit sich aufdrängenden Tatsachen59 und seltener die Gesetzesverletzung im engeren Sinne betrafen. Deutliche und wohl signifikante Unterschiede zeigen sich, wenn man das Angriffsziel mit dem Erfolg in Verbindung bringt.60 Von den 22 Revisionen, die sich gegen einen Freispruch oder eine vergleichbare Entscheidung richteten, waren 16 55 In der Sache können die Urteilsgründe einen ähnlichen Charakter annehmen. Im Urteil 3 StR 362/11 v. 15. 12. 2011 beschränken sich die Urteilgründe (nach der Darstellung des Inhalts des angefochtenen Urteils und des Rechtsmittelziels) auf folgendes: „Das – vom Generalbundesanwalt nicht vertretene – Rechtsmittel ist aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO)“; vergleichbar (außerhalb des Untersuchungszeitraums) 3 StR 191/12 v. 19. 7. 2012 „war als unbegründet zu verwerfen, da die Nachprüfung des Urteils … aus den vom Generalbundesanwalt … genannten Gründen keine Rechtsfehler zum Vorteil oder zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat“. Häufig ist das allerdings nicht. Weitere Beispiele bei Barton (Fn. 3), S. 182. 56 Wegen einer gesondert erfassten Revision zu Gunsten s. unten Fn. 62. 57 In einer nicht quantifizierbaren Zahl von Fällen wurde über die Revision des Angeklagten durch gesonderten Beschluss nach § 349 Abs. 2 StPO entschieden. 58 Barton (Fn. 3), S. 132; Rieß (Fn. 3), Tab. 23. 59 So z. B. (ausführlich) 5 StR 328/11 v. 9. 11. 2011 (NStZ 2012, 206), Rn. 19 – 27; ähnlich 2 StR 167/11 v. 3. 8. 2011, Rn. 8 – 10; 4 StR 191/11 v. 11. 8. 2011, Rn. 8 – 14. 60 Die 8 die Sicherungsverwahrung betreffenden Revisionen (davon 3 erfolgreich) sind hier nicht erfasst. In einem Verfahren richtete sich der Angriff auf zwei verschiedene Taten.
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(73 %) erfolgreich; unter den 12 Revisionen, die eine andere rechtliche Würdigung zum Gegenstand hatten, hatten 7 (58 %) Erfolg. Dagegen hatte von den 10 Angriffen gegen die Rechtsfolgen nur eine Erfolg. Erwartungsgemäß ebenfalls signifikant unterschiedlich im Verhältnis zu den Revisionserfolgen ist die Stellungnahme des Generalbundesanwalts, die nur in 35 Verfahren ermittelt werden konnte. Die 18 erfassten erfolgreichen Revisionen wurden in allen Fällen vom Generalbundesanwalt vertreten.61 Von den 17 erfolglosen Revisionen wurden nur (aber immerhin) sechs vom Generalbundesanwalt vertreten, in 11 Fällen vertrat er die Revision nicht. Von der durch § 296 Abs. 2 StPO der Staatsanwaltschaft eingeräumten Möglichkeit, eine Revision zu Gunsten des Angeklagten einzulegen, hat diese nur in einem atypischen Fall Gebrauch gemacht;62 sie spielt auch nach anderen empirischen Untersuchungen keine nennenswerte Rolle.63 Ohne erhebliche Bedeutung ist auch die in § 301 StPO getroffene Regelung, nach der jede Revision der Staatsanwaltschaft auch zugunsten des Angeklagten wirkt. In einem Fall ist bei im Übrigen erfolgloser Revision der Staatsanwaltschaft eine Reduktion des Verfalls ausgesprochen worden;64 in weiteren 3 Entscheidungen ist in beschränktem Umfang im Zusammenhang mit der Aufhebung einer Maßregel der Sicherung und Besserung bei der damit verbundenen Aufhebung der Strafe insoweit auf die Rechtsfolgen des § 301 StPO hingewiesen worden.65 In einem weiteren Verfahren hat der Bundesgerichtshof dies zwar erörtert, aber letztlich nicht durchgreifen lassen, weil er bei einer erfolglosen Revision der Staatsanwaltschaft bei einem Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten bei der Strafbemessung das Beruhen ausgeschlossen hat.66 2. Revision des Nebenklägers Auch nach der grundlegenden Reform des Rechts der Nebenklage Ende 1986 durch das Opferschutzgesetz67 spielen Revisionen des Nebenklägers erkennbar keine größere Rolle; das Revisionsergebnis beeinflussen sie nicht häufig. Im Untersuchungszeitraum finden sich 21 Entscheidungen hierüber. In welchem Umfang sol61 Dabei waren in drei Fällen für den Revisionserfolg andere Gründe maßgebend; so etwa 4 StR 71/11 v. 20. 11. 2011 (NStZ 2012, 142). 62 4 StR 303/11 v. 27. 7. 2011 (NStZ 2012, 100) im Beschlusswege (§ 349 Abs. 4 StPO). Aufhebung der Gesamtstrafe wegen fehlerhafter Nichtberücksichtigung des Spezialitätsgrundsatzes und Anwendung des § 334 Abs. 1b StPO. 63 Barton (Fn. 3), S. 45; Rieß (Fn. 3), Tab. 22. 64 5 StR 14/11 v. 27. 10. 2011 (NJW 2012, 92), Rn. 13 f. 65 2 StR 190/11 v. 3. 8. 2011, Rn. 16; 3 StR 175/11 v. 4. 8. 2011 (NStZ 2011, 692), Rn. 15; 1 StR 120/11 v. 20. 9. 2011, Rn. 20. 66 4 StR 428/11 v. 8. 12. 2011 (StV 2012, 533), Rn. 12. 67 Zu früheren Werten s. Barton (Fn. 3), S. 45; Rieß (Fn. 3), Tabelle 23, größenordnungsmäßig etwa 1 % aller Revisionen. Die hierzu von Barton (S. 46, Fn. 118) vermutete Ursache der seltenen Beteiligung am tatrichterlichen Verfahren dürfe nicht mehr zutreffen.
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che Revisionen nach § 349 Abs. 2 StPO ohne Begründung verworfen wurden, lässt sich aus dem Untersuchungsmaterial nicht ermitteln; Anhaltspunkte, dass dies häufig der Fall ist, bestehen nicht. Im Untersuchungszeitraum hat die alleinige Revision des Nebenklägers in einem Fall zur Aufhebung des von der Staatsanwaltschaft nicht angegriffenen (freisprechenden) Urteils geführt;68 in einem weiteren zu einer über den Revisionserfolg der Staatsanwaltschaft hinausgehenden.69 In weiteren 10 Entscheidungen war gleichzeitig über Revisionen der Staatsanwaltschaft (mit jeweils übereinstimmendem Ergebnis) zu entscheiden. Alle verbleibenden 9 Revisionen von Nebenklägern ohne Revisionen der Staatsanwaltschaft blieben erfolglos, davon wurden 8 als unzulässig verworfen; eine gewichtige Rolle spielt dabei, dass der Revisionsführer das in Hinblick auf die Regelung in § 400 Abs. 1 StPO auch bei der allgemeinen Sachrüge anzugebende Angriffsziel nicht mitgeteilt hat oder dass es an einem solchen fehlt.70
IV. Einige weitere Auswertungsergebnisse 1. Anwendung der §§ 154, 154a StPO Die §§ 154 und 154a StPO gelten zwar auch in der Revisionsinstanz, werden aber von den Senaten zurückhaltend angewandt. Im Berichtszeitraum wurden in 16 Entscheidungen nach § 154 Abs. 2 StPO einzelne Taten eingestellt und in drei Fällen Tatteile nach § 154a Abs. 2 StPO ausgeschieden.71 Grund hierfür sind regelmäßig Zweifel an der Richtigkeit der Verurteilung (was in 10 Entscheidungen in der Begründung angedeutet oder zum Ausdruck gebracht wird72), verbunden mit dem Be-
68 1 StR 114/11 v. 20. 8. 2011 (NStZ 2012, 110). Es ging um ein Sexualdelikt; die Revision hatte wegen einer unzureichenden Beweiswürdigung Erfolg. Nach dem Untersuchungszeitraum sind (bis September 2012) drei weitere Fälle hinzugekommen: 5 StR 536/11 v. 20. 6. 2012 (NJW 2012, 2253) gegen einen Freispruch, nachdem bereits das erste tatrichterliche Urteil auf alleinige Revision des Nebenklägers aufgehoben war (BGHSt 55, 121, Brechmitteleinsatz); 4 StR 84/12 v. 30. 8. 2012 und 3 StR 171/12 v. 6. 9. 2012, beide bei Verurteilung wegen (versuchten) Totschlags wegen unzureichender Verneinung von Mordmerkmalen. 69 5 StR 561/10 v. 7. 7. 2011 (BGHSt 56, 277 = NJW 2011, 2885 m. Aufs. Kudlich S. 2856). Die Staatsanwaltschaft hatte ihre Revision auf das Strafmaß beschränkt. Zur Aufhebung führte auch die Revision des Angeklagten; erneute Revisionsentscheidung 5 StR 238/ 12 v. 16. 8. 2012. 70 S. dazu mwN Meyer-Goßner (Fn. 34), § 400 Rn. 7; LR-Hilger, 26. Aufl., 2009, § 400 Rn. 16 f. 71 Das sind etwa 1,5 % aller Entscheidungen. Andere empirische Untersuchungen zu diesem Phänomen scheinen nicht vorzuliegen. 72 In der (auch andere Rechtsfragen – § 231 Abs. 2 StPO) behandelnden Entscheidung 1 StR 631/10 v. 25. 7. 2011 (BGHSt 56, 298 = NStZ 2012, 105 m. Anm. Arnoldi und Aufs. Eisenberg S. 63) ist die Einstellung nach § 154 StPO wegen 20 Fällen von Umsatzsteuerhinterziehung mit einer ausführlichen Begründung (Rn. 45 – 63) zu den mit dem Tatvorwurf
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streben, eine Zurückverweisung im Schuldspruch zu vermeiden.73 Umgekehrt werden vom Generalbundesanwalt beantragte Einstellungen nach § 154 Abs. 2 StPO mit der Begründung abgelehnt, dass die Verurteilung wegen der betreffenden Einzeltaten rechtlich bedenkenfrei sei74. Auf der Rechtsfolgenseite führt die Anwendung der §§ 154, 154a StPO nur zum kleineren Teil zu einer sachlichen Änderung. In 10 Fällen des § 154 StPO bleibt es trotz des Wegfalls der hierfür verhängten Einzelstrafen bei der ausgesprochenen Gesamtstrafe, weil das Revisionsgericht es ausschließt und dies näher begründet, dass sich dies auf deren Höhe ausgewirkt hat; in 6 Fällen wird dem neuen Tatrichter aufgegeben, die Gesamtstrafe neu zu bestimmen.75 Bei der Stoffbeschränkung nach § 154a StPO wird in zwei von drei Fällen die Sache zur Neufestsetzung der Rechtsfolgen zurückverwiesen. 2. Aufrechterhaltung von Feststellungen Bei einer begründeten Revision können, was aus dem Wortlaut von § 353 Abs. 2 StPO abzuleiten ist, die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen bestehen bleiben, soweit sie von der (materiell-rechtlichen) Gesetzesverletzung nicht betroffen sind. Seit einigen Jahrzehnten zeigt sich eine Entwicklung, die bei Zurückverweisungen an den Tatrichter in verstärktem Umfang ganz oder teilweise Feststellungen aufrecht erhält mit der Folge, dass sie vom neuen Tatrichter seiner Entscheidung zugrunde zu legen sind.76 Diese Praxis wird auch im Untersuchungszeitraum deutlich; neue abweichende Erkenntnisse ergeben sich dabei nicht.77 Bei den insgesamt 227 Entscheidungen, in denen eine Zurückverweisung erfolgte, blieben in 58 Entscheidungen, also etwa einem Viertel, Feststellungen aufrechterhalten, und zwar in 37 Fällen (im Umfang der Aufhebung) vollständig und in 21 Fällen teilweise. Dabei ist der Anteil der Aufrechterhaltungen bei den auch den Schuldspruch betreffenden Zurückverweisungen etwas geringer als bei denen, die
verbundenen, im angefochtenen Urteil nicht ausreichend behandelten Rechtsfragen verbunden. Die Revision blieb insgesamt erfolglos. 73 So etwa 4 StR 135/11 v. 9. 8. 2011; 4 StR 477/11 v. 21. 12. 2011 (StV 2012, 285) bei nicht ausreichenden tatrichterlichen Feststellungen mit dem Bemerken, dass eine Zurückverweisung mit Rücksicht auf das geringe Gewicht des Tatvorwurfs nicht angezeigt erscheine. 74 So etwa (Entscheidung nach dem Untersuchungszeitraum) 1 StR 178/12 v. 29. 5. 2012 mit näherer Darlegung, warum keine Anhaltspunkte für eine „Bewertungseinheit“ gegeben seien. 75 Das ist in der Mehrzahl mit Beanstandungen aus anderen Gründen verbunden. 76 Dazu näher, auch zur Entwicklung mwN Dahs, in: Ebert (Hrsg.), Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege, Symposion für Ernst-Walter Hanack zum 60. Geburtstag, 1991, S. 143 ff.; ferner LR-Hanack (Fn. 34), § 353 Rn. 16 ff. 77 Einen ausführlichen Nachweis über die bis Ende 1989 ergangenen Entscheidungen und die in Betracht kommenden Fallgruppen bringt Dahs (Fn. 76), S. 150 ff.
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nur die Rechtsfolgen betreffen.78 Was den Umfang betrifft, ist die vollständige Aufrechterhaltung bei den Aufhebungen nur in den Rechtsfolgen deutlich höher als in den Fällen der Schuldspruchaufhebung.79 In einigen Entscheidungen wird in Freispruchsfällen bei an sich rechtsfehlerfreien Feststellungen auf die Aufrechterhaltung mit dem ausdrücklichen Hinweis verzichtet, dass der Angeklagte, der das Urteil mangels Beschwer nicht anfechten konnte, keine Möglichkeit habe, sich gegen ihn belastende Feststellungen zu wehren.80 Der Umfang der aufrechterhaltenen Feststellungen wird in der Regel generalisierend bezeichnet, nicht ausführlicher begründet und regelmäßig durch den Hinweis ergänzt, dass neue Feststellungen möglich seien, sich aber mit den aufrechterhalten nicht in Widerspruch setzen dürften. In einigen wenigen Fällen wird der Umfang im Tenor speziell und konkret beschrieben.81 Im Schrifttum werden teilweise praktische Schwierigkeiten für die neue Tatsacheninstanz befürchtet.82 In dem – freilich hierzu nicht sehr aussagekräftigen – Untersuchungsmaterial finden sich allerdings aus der Perspektive des (späteren) Revisionsverfahrens hierfür keine Indizien.83 Man wird deshalb wohl von den verfahrensökonomischen Vorteilen einer großzügigen Aufrechterhaltungspraxis ausgehen können.
78 Bei 104 Aufhebungen im Schuldspruch blieben in 21 Fällen (20,2 %) Feststellungen aufrechterhalten, bei den 123 Aufhebungen im Rechtsfolgenausspruch in 36 Entscheidungen (29,3 %). 79 Bei den Schuldspruchaufhebungen wurden die Feststellungen in 7 Fällen (6,7 %) insgesamt und 14 Fällen (13,5 %) nur teilweise aufrechterhalten; bei den Rechtsfolgenaufhebungen blieben in 30 Fällen (24,4 %) die Feststellungen vollständig und in 6 Fällen (4,9 %) nur teilweise erhalten. 80 So etwa 1 StR 341/11 v. 3. 11. 2011, Rn. 14 in Fortsetzung und unter Verweis auf eine ältere Rspr., etwa BGHSt 16, 374. 81 So in der sehr komplexen und ausführlichen Entscheidung 1 StR 633/10 v. 6. 9. 2011 (wistra 2012, 29) („soweit sie die Einrichtung der Rubrikkonten ,Holgart‘ und der diesbezüglichen Kontenbewegungen zum Gegenstand haben“); 5 StR 328/11 v. 9. 11. 2011 („Feststellungen zu den objektiven Umständen des Tatkerngeschehens [vom Würgen des Angeklagten bis zur Rettung des Nebenklägers]“); 3 StR 364/11 v. 8. 11. 2011 (Aufhebung nur insoweit „als sie den Plan des Angeklagten betreffen, bei der Ausführung der Tat solle auch ein Messer als Stichwaffe Verwendung finden“). Auch dies ist keine neue Entwicklung, s. die Beispiele bei Dahs (Fn. 76), S. 152. 82 S. etwa Dahs (Fn. 76), S. 157 ff. 83 Einschlägig insoweit die Entscheidung 5 StR 454/11 v. 9. 11. 2011, wo der Senat bemerkt, das Landgericht hätte nur ergänzende Feststellungen treffen dürfen. Er verwirft die Revision nach § 349 Abs. 2 StPO aber, weil die darüber hinausgehenden „überflüssigen“ den aufrechterhaltenen nicht widersprächen. Vergleichbar auch 3 StR 358/11 v. 29. 11. 2011, Rn. 6, wo der Tatrichter nach einer Strafmaßaufhebung übersehen hatte, dass die dazu gehörenden Feststellungen aufrechterhalten worden waren. Die Entscheidung verneint eine Beschwer des Angeklagten, weil die neuen Tatsachen nicht widersprächen.
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3. Hinweise für das weitere Verfahren Die in älteren Untersuchungen empirisch ausführlich untersuchte und dargestellte Praxis des Bundesgerichtshofs, in seinen Entscheidungen über die den neuen Tatrichter nach § 358 Abs. 1 StPO bindende Aufhebungsansicht hinaus in unterschiedlicher Form Hinweise und Belehrungen für das weitere Verfahren zu geben,84 ist unverändert verbreitet. Sie finden sich in expliziter Form in (mindestens) 58 (25 %) von den 227 Zurückverweisungen und reichen von kurzen Bemerkungen bis zu sehr ausführlichen Ausführungen, die fast „drehbuchartigen“ Charakter haben85. Vergleichbare Bemerkungen gibt es auch in Entscheidungen, die die Revision verwerfen, so z. B., wenn die tatrichterlichen Urteilsgründe in Umfang oder Aufbau kritisiert86 oder bestimmte Verfahrensvorgänge im Ermittlungsverfahren oder Hauptverfahren als unzweckmäßig oder bedenklich bezeichnet werden.87
V. Abschließende Bemerkungen Die Strafsenate des Bundesgerichtshofes erfüllen eine doppelte Aufgabe. Ihre Rechtsprechung dient einmal – eine fast triviale Aussage – der Fortbildung des Rechts und der Klärung und erforderlichenfalls Entscheidung von rechtlichen Zweifelsfragen von allgemeinem Interesse. Diese Funktion, die mit der der Zivilsenate und der anderen obersten Bundesgerichte übereinstimmt, wird nach außen durch die von den Senaten selbst zur Veröffentlichung in BGHSt und BGHR bestimmten88 sowie durch eine Vielzahl sonst im Fachschrifttum publizierter Entscheidungen besonders deutlich. Gemessen an der Zahl der entschiedenen Revisionen dominiert sie allerdings nicht. Vor allem wenn die begründungslosen Beschlussentscheidungen nach § 349 Abs. 2 StPO mit einbezogen werden, betrifft die große Mehrheit die richtige Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung im Einzelfall und beschränkt sich hierauf. Das dürfte mit dem Umstand geschuldet sein, dass die Revision zum Bundesgerichtshof in Strafsachen als einziges Rechtsmittel unmittelbar gegen alle landgerichtlichen Urteile eröffnet ist. Etwas überspitzt lässt sich diese zweite Funktion als 84 Rieß, in: Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege (wie Fn. 76), S. 117 ff.; ergänzend ders. in: Grundprobleme des Revisionsverfahrens, Schriftenreihe der AG Strafrecht im DAV, Bd. 7, 1991, S. 161 ff.; s. auch Dahs (Fn. 20), Rn. 635. 85 So etwa 1 StR 38/11 v. 8. 9. 2011 (NStZ 2012, 160), Rn. 21 – 29; 1 StR 633/10 v. 6. 9. 2011 (Fall Schreiber, wistra 2012, 29), Rn. 100 – 129. 86 So z. B. 1 StR 367/11 v. 21. 9. 2011 (JR 2012, 220 m. Anm. Gössel), Rn. 18; 3 StR 209/ 11 v. 18. 8. 2011. 87 So etwa 2 StR 112/11 v. 23. 11. 2011 (NStZ 2012, 404), wo die Verfahrensweise des Tatrichters, ein nicht zum konkreten Spruchkörper gehörendes weiteres Mitglied der Strafkammer die Beweisaufnahme mitschreiben zu lassen, als ein möglicher Verstoß gegen § 261 StPO (der nicht gerügt war) kritisiert wird. 88 Insgesamt haben die Senate selbst von den insgesamt 450 Entscheidungen 19 auf diese Weise hervorgehoben.
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Ausprägung einer justiziellen Fachaufsicht, noch überspitzer als „Fertigungsendkontrolle“ deuten.89 Hinweise auf mangelnde Sorgfalt hierbei hat die Untersuchung, die freilich diese Frage nicht thematisiert hat und dies vom Ansatz her auch nicht konnte, nicht ergeben. Sie lässt aber bei aller Deutlichkeit in der Kennzeichnung von Fehlern einen pfleglichen Umgang mit der Tatsacheninstanz und ökonomische Rücksicht etwa in der Beschränkung des Aufhebungsumfangs, der Aufrechterhaltung von Feststellungen oder der Verwendung von Hinweisen erkennen.
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Ausführlicher dazu Rieß, in: FS Fezer, 2008, S. 455, 459.
Kernbereichsschutz und Straftatermittlung Von Claus Roxin
I. Einführung Kaum einer hat sich um die Sicherung der Menschenwürde im Strafverfahren so verdient gemacht wie Jürgen Wolter. Er hat im Alternativ-Entwurf (AE) „Reform des Ermittlungsverfahrens“ (2001) den Abschnitt über die Verbindlichkeit der Grundrechte maßgeblich gestaltet.1 In § 150a AE heißt es: „Die Strafverfolgungsorgane sind verpflichtet, die Würde des Menschen und die Grundrechte zu achten und zu schützen. Ermittlungshandlungen, die die Würde des Menschen oder ein Grundrecht in seinem Kern verletzen, sind verboten.“ Das wird in den §§ 150b bis 150d AE konkretisiert und in § 150e AE durch Verwertungs- und Verwendungsverbote ergänzt. Wolter hat zudem über die „repressive und präventive Verwertung tagebuchartiger Aufzeichnungen“ eine grundlegende Abhandlung verfasst,2 und er hat schließlich der Telekommunikations- und Wohnraumüberwachung sowie weiteren Überwachungsvorschriften im „Systematischen Kommentar“ zur StPO3 umfangreiche Erläuterungen gewidmet. In allen diesen Problembereichen spielt der „Kernbereich privater Lebensgestaltung“, der aus der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung inzwischen sogar in den Text der StPO übergegangen ist (§§ 100a Abs. 4, 100c Abs. 4, 5), eine zentrale Rolle. Die Menschenwürde eines Beschuldigten soll dadurch geschützt werden, dass in den „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ unter keinen Umständen eingegriffen werden darf. In der Rechtsprechung des BVerfG hat sich die Kernbereichslehre, die nach ihrer Nichterwähnung im Volkszählungsurteil von vielen schon für aufgegeben gehalten und die auch literarisch umstritten war,4 inzwischen vollständig durchgesetzt. Sie ist vom Gericht in feststehende Formulierungen gekleidet worden, die in den einschlägigen Entscheidungen meist wörtlich wiederholt werden. In einer der bei
1 Vgl. dazu schon den von Wolter entwickelten „Allgemeinen Teil für ein europäisches Ermittlungsverfahrensrecht“ in: GA 1999, 158 (175 ff.). 2 Wolter, StV 1990, 175 ff. 3 Wolter, SK StPO, 4. Aufl. 2010, §§ 100a – 100l, 101. 4 Dazu Amelung, NJW 1990, 1753 (1755); Geis, JZ 1991, 112 (113 f.).
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Abfassung dieser Zeilen jüngsten Entscheidungen, einem Beschluss des 2. Senats vom 7. 12. 2011, findet sich eine kompakte Zusammenfassung dieser Judikatur.5 Rn. 99: „Aus Art. 1 Abs. 1 GG ergibt sich, dass ein Kernbereich privater Lebensgestaltung als absolut unantastbar geschützt ist.6 Selbst sehr schwerwiegende Interessen der Allgemeinheit können einen Eingriff in ihn nicht rechtfertigen; eine Abwägung findet nicht statt.7 Den Kernbereich betreffende Informationen dürfen nicht verwendet und damit auch nicht in einem Urteil verwertet werden.8 Ob eine Information dem Kernbereich zuzuordnen ist, hängt davon ab, in welcher Art und Intensität sie aus sich heraus die Sphäre anderer oder Belange der Gemeinschaft berührt.9 Maßgebend sind die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls.10 Zum Kernbereich gehören etwa Äußerungen innerster Gefühle oder Ausdrucksformen der Sexualität.11 Allerdings gehören nicht zum Kernbereich Äußerungen, die in unmittelbarem Bezug zu konkreten strafbaren Handlungen stehen, wie etwa Angaben über die Planung bevorstehender oder Berichte über begangene Straftaten12.“ Schon auf den ersten Blick fallen zwei eigenartige Widersprüche der vorstehend zusammengefassten Rechtsprechung ins Auge. Erstens nämlich stimmt die in Anspruch genommene dezidierte, kompromisslose und abwägungsfeste Sicherung des Kernbereichs nicht mit der Tatsache überein, dass das Gericht keinerlei greifbare Aussagen zu der Frage macht, was denn nun zu dem unter allen Umständen zu respektierenden Kernbereich gehört. Es nennt zwar in etwas unsicherer Weise („etwa“) „Äußerungen innerster Gefühle oder Ausdrucksformen der Sexualität“, relativiert diese Aussage aber sogleich wieder durch einen Hinweis auf die „Art und Intensität“, mit der die „Sphäre anderer oder Belange der Gemeinschaft berührt“ würden. Letztlich läuft alles auf die „Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles“ hinaus, für die es an jedem klaren Beurteilungsmaßstab fehlt. Ein zweiter Widerspruch dieser Grundsätze ist darin zu sehen, dass der Kernbereichsschutz einerseits speziell die Würde eines Verdächtigen oder Beschuldigten im Strafverfahren schützen soll, dass aber andererseits „Äußerungen, die in unmittelbarem Bezug zu konkreten strafbaren Handlungen stehen“, von vornherein aus dem Kernbereich ausgegliedert werden. Wenn etwa eine „Äußerung innerster Gefühle“, wie es leicht der Fall sein kann, Rückschlüsse auf eine strafbare Handlung ermöglicht, genießt der Betroffene keinen Kernbereichsschutz. Dann aber läuft der beabsichtigte Schutz weitgehend leer. Denn für rechtlich irrelevante Äußerungen gefühls5 2 BvR 2500/09; 2 BvR 1857/10. Die im Text enthaltenen Rechtsprechungsbelege habe ich der besseren Lesbarkeit wegen in Fußnoten gesetzt. 6 Vgl. BVerfGE 119, 1 (298); 120, 274 (335); 124, 43 (69). 7 Vgl. BVerfGE 34, 238 (245); 80, 367 (373 f.); 109, 279 (313 f.); 120, 274 (335). 8 Vgl. BVerfGE 109, 279 (324, 331 f.); 120, 274 (337). 9 Vgl. BVerfGE 80, 367 (374); 109, 279 (314 f.); 113, 348 (391); 124, 43 (69 f.). 10 Vgl. BVerfGE 80, 367 (374); 109, 279 (314); 124, 43 (70). 11 Vgl. BVerfGE 109, 279 (313, 314 f.); 119, 1 (29 f.). 12 Vgl. BVerfGE 80, 367 (375); 109, 279 (319); 113, 348 (391); 124, 43 (70).
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mäßiger oder sexueller Art werden sich die Strafverfolgungs- und Justizbehörden ohnehin nicht interessieren. Auch wenn man sich die gerichtlichen Entscheidungen ansieht, die zur Verwertung strafrechtsrelevanter Informationen aus beschlagnahmten Tagebüchern, abgehörten Wohnungen und Selbstgesprächen ergangen sind, stößt man auf unterschiedliche Lösungen. Während unser Verfassungsgericht die Verwertung tagebuchartiger Aufzeichnungen des Beschuldigten bei vorhandenem Straftatbezug ohne Weiteres zugelassen hat13 – allerdings nur in einer 4:4-Entscheidung –, bietet beim „großen Lauschangriff“, also der Abhörung von Gesprächen in der Wohnung, die vom Verfassungsgericht14 angeordnete „negative Kernbereichsprognose“, also die jetzt auch vom Gesetzgeber eingeführte15 Bindung der Zulässigkeit von Abhörmaßnahmen an die voraussichtliche Nichtverletzung des Kernbereichs, immerhin auch dem Verdächtigen einen gewissen Schutz. Bei Selbstgesprächen schließlich hat der Bundesgerichtshof in zwei Urteilen16 geständnisartige Äußerungen des Beschuldigten für unverwertbar erklärt, obwohl es sich jeweils um Tötungsdelikte handelte. Angesichts der skizzierten theoretischen und praktischen Unklarheiten mag es sinnvoll sein, in einer Jürgen Wolter gewidmeten Festschrift der Kernbereichsfrage noch einmal nachzugehen. Natürlich kann ich das, was der verehrte Jubilar zu den einschlägigen Problemen gesagt hat, weder in der Detailgenauigkeit noch in der theoretischen Fundierung erreichen. Doch mag der Versuch nützlich sein, für die drei Problemkreise, auf die ich mich hier beschränken will (Tagebuch, Lauschangriff, Selbstgespräch) eine konkretere Kernbereichsbestimmung zu entwickeln und dadurch Lösungen zu ermöglichen, die in ihren Wertungsgrundlagen übereinstimmen.
II. Was gehört zum Kernbereich privater Lebensgestaltung? Ein effektiver Kernbereichsschutz muss sich zunächst um eine klare Konturierung dessen bemühen, was dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzuordnen ist. Versuchsweise möchte ich sagen: Es muss sich um Äußerungen handeln, die höchstpersönliche, nicht ohne Weiteres zutage liegende Befindlichkeiten, Gefühle, Reflexionen, Bekenntnisse oder Selbstauseinandersetzungen betreffen. Diese abstrakte Kennzeichnung lässt sich durch die Bildung von Fallgruppen konkretisieren. Danach gehören zum Kernbereich der menschlichen Privatexistenz Informationen aus dem Intimbereich (über Krankheiten, Süchte, sexuelle Bedürfnisse, Probleme und Präferenzen), die Äußerung von Phantasien jedweder Art, aber auch der inneren Entlastung dienende Geständnisse (sei es im unkontrollierten Selbstge13
BVerfGE 80, 354 (357 ff.). BVerfGE 109, 279 ff. 15 § 100c Abs. 4 Satz 1 StPO. 16 BGHSt 50, 206 und neuestens in einer Entscheidung vom 22. 12. 2011 (2 StR 509/10). 14
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spräch, sei es als Beichte gegenüber einer Vertrauensperson), sodann alle Formen der Selbstauseinandersetzung, des Ringens mit sich selbst (Soll ich die Tat begehen? Soll ich mich der Polizei stellen? Soll ich gestehen, leugnen oder schweigen? Wie soll ich auf dem Hintergrund des Geschehenen mein weiteres Leben gestalten?). Nicht in den Kernbereich privater Lebensgestaltung fällt demgegenüber die ohne seelischen Druck erfolgende schriftliche Aufzeichnung oder mündliche Mitteilung begangener oder geplanter realer Handlungen, auch wenn es dabei um Straftaten geht. Dabei ist es gleichgültig, ob die Äußerung gegenüber Mitwissern, zur Gewinnung von Komplizen, zur Verabredung oder Ausführung bestimmter Handlungen oder einfach deshalb erfolgt, weil jemand sich seiner Tat rühmen will. Das entspricht dem, was der BGH schon in seiner ersten Tonbandentscheidung17 festgehalten hat: „Fertigt … ein Straftäter Aufzeichnungen über seine Verbrechen und Opfer an … oder ein fremder Agent über seine Spionageunternehmungen, so ist für Persönlichkeitsschutz kein Raum … Auch geschäftliche Aufzeichnungen und solche, die sich lediglich auf Vorgänge äußerer Art beziehen und nicht mit der Persönlichkeitssphäre verknüpft sind, werden nicht unter ein Beweis- und Verwertungsverbot fallen.“ Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Mitteilungen konspirativer, deliktsbilanzierender oder selbst bestätigender Art keinen Kernbereichsschutz genießen. Die vorstehend versuchte Abschichtung von Äußerungen, die dem unantastbaren Kernbereich der Persönlichkeit zuzuordnen sind, von solchen, die nur dem schlichten Privatbereich angehören und deren Schutz einer Abwägung gegen Interessen der Allgemeinheit zugänglich ist, entspricht, wie auch Wolter betont,18 wenigstens tendenziell „einer breiten Strömung in Literatur und Fachrechtsprechung“, auch wenn der „Kernbereich“ allgemein wenig präzise umschrieben wird. Sie widerspricht aber in einem wichtigen Punkt der Ansicht des verehrten Jubilars, demzufolge „die bloße Beschreibung begangener Straftaten“ nicht genügt, „um tagebuchartige Aufzeichnungen zu verwerten“. Wenn jedoch geschäftliche Aufzeichnungen, denen sich strafbare Handlungen entnehmen lassen, ohne Weiteres beschlagnahmt und verwertet werden können, muss dies für „buchhalterische Aufzeichnungen eines Schwerverbrechers“19 auch dann gelten, wenn diese sich in einem Tagebuch befinden. Es führt überhaupt in die Irre, wenn man gerade das „Tagebuch“ mit einem besonderen Schutz gegen staatliche Eingriffe umgeben will. Man müsste stattdessen von „kernbereichsrelevanten Aufzeichnungen“ sprechen. Denn natürlich kann niemand ein Beweismittel dadurch unverwertbar machen, dass er es in ein Heft mit der Überschrift „Tagebuch“ einbindet. Und umgekehrt sind Aufzeichnungen über innerste Gefühle und Gedanken auch dann unverwertbar, wenn sie nicht in tagebuchartiger Form überliefert sind. So waren in dem sog. Tagebuch-Be17
BGHSt 19, 325 (331). Wolter, StV 1990, 175 (179). 19 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 27. Aufl., 2012, § 24 Rn. 57. 18
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schluss des BVerfG aus dem Jahr 198920 – ich komme darauf zurück – die Auseinandersetzungen des Beschuldigten mit seiner Neigung zu Gewalttaten gegenüber Frauen „auf Notizheften, Abreißblöcken und losen Blättern zu Papier gebracht“ worden. Die äußere Form ist also ganz gleichgültig, wenn sie nur „kernbereichsrelevant“ ist. Jürgen Wolter beruft sich für seine Auffassung, dass auch beschreibende Straftatschilderungen in Tagebüchern den Kernbereichsschutz genießen müssten und keineswegs verwertet werden dürfen, auf „die Tonband-Entscheidung des BVerfG21 und das Raumgesprächs-Votum des BGH22“. Aber das BVerfG hat in der Tonband-Entscheidung, die sich mit der heimlichen Tonbandaufnahme einer geschäftlichen Unterredung befasste, eine Kernbereichszugehörigkeit des Gesprächs gerade abgelehnt und die Unverwertbarkeit der Aufnahme nur darauf gegründet, dass kein überwiegendes Interesse der Allgemeinheit an der Verwertung bestehe. In dem Sachverhalt, der der Raumgesprächs-Entscheidung des BGH zugrunde lag, hatte ein Drogenhändler in seiner Wohnung gegenüber seiner Ehefrau gesprächsweise „die Bilanz aus seinen bisherigen Heroingeschäften“ gezogen. Das Gespräch wurde abgehört, weil der Telefonanschluss des Mannes zulässigerweise überwacht wurde und bei einem früheren Telefonat vergessen worden war, den Hörer aufzulegen. Aber hier ergab sich die Unzulässigkeit der Verwertung schon daraus, dass – damals! – eine gesetzliche Grundlage für eine solche Abhörung fehlte. Zwar bekundet der damals entscheidende Senat außerdem seine Ansicht, dass „die Aufzeichnung des ,Raumgesprächs‘ den unantastbaren Bereich der privaten Lebensgestaltung“ berührt habe. Aber dem steht heute die auf verfassungsgerichtlichen Vorgaben beruhende explizite Aussage des Gesetzgebers entgegen, dass „Gespräche über begangene Straftaten“ „in der Regel nicht dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen“ sind (§ 100c Abs. 4, S. 3 u. 2 StPO). Ich denke, dem wird sich auch Jürgen Wolter beugen, der ja im Jahre 1990 die nachfolgende Entwicklung nicht voraussehen konnte. Mir erscheint es aber auch rechtspolitisch als richtig, berichtartige Aufzeichnungen über begangene Straftaten vom Kernbereich auszunehmen. Die Einbeziehung aller Berichte über Geschehenes führt zu einer Überdehnung der unantastbaren Persönlichkeitssphäre und lässt für private Mitteilungen, die in den Abwägungsbereich fallen, kaum noch Raum. Etwas zu eng scheint mir demgegenüber die Auffassung von Amelung,23 der den Kernbereich der Persönlichkeit vor allem durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit als geschützt ansieht. Es gehe darum, „wieviel Respekt die staatliche Strafverfolgung vor dem Teil der Person aufzubringen hat, der den Tagebuchführer zur Aus20
BVerfGE 80, 367 ff. BVerfGE 34, 238 ff. 22 BGHSt 31, 296 ff. 23 Amelung, NJW 1988, 1002 ff.; ders., NJW 1990, 1753 ff. 21
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einandersetzung mit diesen (scil. kriminellen) Neigungen bewegt, indem er Angst vor ihnen erzeugt. Diese Instanz hat einen Namen, das Gewissen, und wird als solches durch eine Norm geschützt, die der Person mehr Schutz gibt als das allgemeine Persönlichkeitsrecht.“24 Bei einer tagebuchartigen Auseinandersetzung eines Beschuldigten mit seinen kriminellen Neigungen gehe es um „normative Selbststabilisierung“, „um das Bestreben also, den Anforderungen des Gewissens gerecht zu werden“. „Das Führen eines Tagebuchs ist als Gewissensbetätigung geschützt, weil und soweit es der normativen Selbstkontrolle dient.“25 Bei inneren Auseinandersetzungen mit deliktischen Neigungen, wie sie dem Sachverhalt des vom BVerfG entschiedenen „Tagebuch“-Falles zugrunde lagen, kann man das so sehen. Zwar verlangt das BVerfG26 von Gewissenstaten „eine an den Kategorien von ,Gut‘ und ,Böse‘ orientierte, als unbedingt verpflichtend erfahrene Entscheidung“, die in solchen Fällen nicht vorliegt. Aber man kann immerhin von einer „Gewissensbetätigung“ sprechen und auch diese schon dem Art. 4 GG unterstellen. Aber auch dies trifft nicht auf alle kernbereichsrelevanten Aufzeichnungen zu. Tagebuchaufzeichnungen über eine sexuelle Beziehung, mit denen ein Meineid bewiesen werden soll,27 intime Tagebücher der Ehefrau des Beschuldigten28 oder ein noch nicht abgesandter Brief des Beschuldigten über seinen Gesundheitszustand an den Arzt29 sind kernbereichs-, aber nicht gewissensrelevant. Entsprechendes gilt für Fälle, die schon der BGH angeführt hat:30 „Ein Schriftsteller etwa kann beabsichtigen, solche Aufzeichnungen unter Umständen intimster Art später literarisch zu verwerten. Ein Psychologe kann durch Selbstbeobachtung … Schlüsse ziehen und wissenschaftlich verwerten wollen.“ Amelung will diese Fälle dem Art. 5 Abs. 3 GG (Freiheit von Kunst und Wissenschaft) unterstellen. Aber man kann intimste Gedanken und Gefühle auch allein zum Zweck der Selbstbeobachtung niederschreiben, ohne das Notierte künstlerisch oder wissenschaftlich verwerten zu wollen. Ich sehe auch nicht, dass durch Art. 4 (oder auch 5) GG dem Tagebuchschreiber mehr Schutz gewährt wird als durch den Rückgriff auf die Menschenwürde, die von der Rechtsprechung mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verknüpft wird. Denn die Art. 4 und 5 Abs. 3 GG unterliegen immanenten Grundrechtsschranken, während die Menschenwürde – jedenfalls nach richtiger Auffassung und auch nach der Rechtsprechung – gänzlich abwägungsresistent ist. Immerhin kann man die Gewissensfreiheit, wo sie einschlägig ist, in den Kernbereichsschutz integrieren, zumal da sie nur eine besondere Ausprägung der Menschenwürde darstellt. 24
Amelung, NJW 1990, 1753 (1757). Amelung, NJW 1990, 1753 (1759). 26 BVerfGE 12, 45 (55); näher Roxin, FS Maihofer, 1988, S. 389 ff. 27 BGHSt 19, 325. 28 LG Saarbrücken StV 1988, 480. 29 BayObLG NStZ 1992, 556. 30 BGHSt 19, 325 (328).
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Auf der Grundlage der vorstehend dargelegten Kernbereichsauffassung soll im Folgenden die für die gegenwärtige Praxis maßgebende höchstrichterliche Rechtsprechung auf den drei oben (I., am Ende) genannten Gebieten kritisch überprüft werden.
III. Tagebücher Hier wird die Diskussion immer noch von der 4:4-Entscheidung des BVerfG31 beherrscht, die eine Verurteilung wegen Mordes auf Grund von Tagebuch-Notizen des Angeklagten gebilligt hatte, in denen er sich Monate vor der Tat mit seiner Neigung zur Gewaltanwendung gegenüber Frauen auseinandergesetzt hatte. Die Art der Auseinandersetzung ist von den vier dissentierenden Richtern treffend gekennzeichnet worden:32 „Die hier in Rede stehenden tagebuchähnlichen Aufzeichnungen haben ausschließlich höchstpersönlichen Charakter. Sie enthalten eine offene, von keiner Rücksichtnahme sich selbst gegenüber beeinflusste Wiedergabe bestimmter Gemütszustände sowie Reflexionen über die eigene Persönlichkeitsstruktur, die der Beschwerdeführer durch eine schonungslose Darstellung seiner Gefühlswelt besser ergründen wollte, um auf diese Weise über zentrale, ihn quälende Probleme mit sich ins Reine zu kommen.“ Damit wird, wenn man der oben (II., am Anfang) entwickelten Konzeption folgt, ein geradezu klassischer Fall einer den Kernbereich der Persönlichkeit betreffenden Aufzeichnung beschrieben. Das ist auch in zahlreichen literarischen Stellungnahmen hervorgehoben worden, die ich hier nicht alle anführen kann. Ich begnüge mich mit zwei repräsentativen Statements von Geppert und Wolter, von denen das eine zu den frühesten Stellungnahmen gehört, während das andere ein quasi abschließendes Urteil formuliert. Geppert33 hatte schon zu der vorinstanzlichen Entscheidung des BGH im selben Fall sich „dezidiert“ dahingehend geäußert, dass der „intensivste Bereich menschlicher Intimität, in den der Staat selbst zwecks Ahndung schwerster Straftaten nicht eindringen sollte, im vorliegenden Fall erreicht ist“. Und Wolter resümiert:34 „Die Entscheidung erscheint als Einfallstor zur Aufhebung des absolut geschützten Kernbereichs privater Lebensgestaltung und zur Missachtung der unverletzlichen und verfassungsrechtlich unabänderlichen Menschenwürdegarantie.“ Sieht man sich die Begründung des Beschlusses näher an, so ist leicht zu erkennen, dass sie auf drei Denkfehlern beruht, die ich hier in zugespitzter Form noch einmal vorführen will. (Ich sage das bei allem Respekt vor der bedeutenden Leistung, die unser Verfassungsgericht in anderen Bereichen bei der Bewahrung und beim Ausbau eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens vollbracht hat.)
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BVerfGE 80, 354 (357). BVerfGE 80, 367 (381); ganz ähnlich auch Wolter, StV 1990, 175 (176). 33 Geppert, JR 1988, 471 (474). 34 Wolter, StV 1990, 175 (180).
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Der erste Fehlschluss, der sich bis in die jüngsten Verlautbarungen des BVerfG zum Kernbereichsschutz erhalten hat,35 liegt darin, dass das Gericht einerseits „einen letzten unantastbaren Bereich der privaten Lebensgestaltung“ anerkennt, „der der öffentlichen Gewalt schlechthin entzogen ist“ und in die „selbst schwerwiegende Interessen der Allgemeinheit“ keinen Eingriff rechtfertigen können,36 dass aber andererseits die aus Art und Intensität des Sozialbezuges resultierenden Interessen der Allgemeinheit die Zugehörigkeit einer Äußerung zum Kernbereich von vornherein sollen ausschließen können. Die angeblich unzulässige Abwägung wird dann nämlich doch vorgenommen. Sie wird nur von der Reichweite des Kernbereichsschutzes in die inhaltliche Bestimmung des Kernbereichs vorverlagert. Ob man sagt, es werde zwar in den Kernbereich privater Lebensgestaltung eingegriffen, dies sei aber durch überwiegende Interessen der Allgemeinheit gerechtfertigt, oder ob man schon die Betroffenheit des Kernbereichs von den Interessen der Allgemeinheit, d. h. von der Art und Intensität des Sozialbezuges, abhängig macht, ist bei etwas unterschiedlicher Formulierung der Sache nach ganz dasselbe. Es wird auf diese Weise durch sprachliche Verschleierung die Kernbereichstheorie „de facto aufgegeben“37, oder, wie Wolter38 sagt, die „Aufhebung des Kernbereichs“ ermöglicht. Dasselbe besagt auch das Votum der vier unterlegenen Richter wenigstens für Fälle wie den damals entschiedenen, in denen noch kein Bezug auf eine konkrete Straftat vorlag:39 „Ließe man die bloße Möglichkeit, Erkenntnisse über die Persönlichkeitsstruktur der Tatverdächtigen zu gewinnen, ausreichen, um privaten Aufzeichnungen im Strafverfahren den absoluten Schutz zu versagen, so wäre die Unterscheidung zwischen Kernbereich und Abwägungsbereich … praktisch aufgehoben.“ Ein zweiter Fehlschluss der Entscheidung40 liegt in der These, dass die Zuordnung zum „absolut geschützten Bereich persönlicher Lebensgestaltung“ schon „deshalb in Frage gestellt“ werde, „weil der Beschwerdeführer seine Gedanken schriftlich niedergelegt hat. Er hat sie damit aus dem von ihm beherrschbaren Innenbereich entlassen und der Gefahr eines Zugriffs preisgegeben“. Wenn aber der Sinn des Kernbereichsschutzes bei höchstpersönlichen Aufzeichnungen gerade darin besteht, einen staatlichen Zugriff auf sie trotz ggf. „schwerwiegenden Interessen der Allgemeinheit“ zu verhindern, kann man die Zulässigkeit eines Zugriffs nicht schon auf das Vorliegen einer Aufzeichnung stützen. Denn Gedanken, die ein Verdächtiger nicht aus dem „Innenbereich entlassen“ hat, sind dem staatlichen Zugriff ohnehin nicht zugänglich. 35
Vgl. die oben bei Fn. 5 wiedergegebene Entscheidung vom 7. 12. 2011. BVerfGE 80, 367 (373). 37 Roxin/Schünemann (Fn. 19), § 24 Rn. 56. 38 Wolter, StV 1990, 175 (180). 39 BVerfGE 80, 367 (382). 40 BVerfGE 80, 367 (376). 36
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Wenn der Beschluss dann, um die Infragestellung der Kernbereichszuordnung in eine dezidierte Ablehnung zu verwandeln, mit Bezug auf die Aufzeichnungen fortfährt: „Jedenfalls aber haben sie einen Inhalt, der über die Rechtssphäre ihres Verfassers hinausweist und Belange der Allgemeinheit nachhaltig berührt“, wird der Widerspruch nur noch deutlicher. Denn die „Belange der Allgemeinheit“ sollen ja, wie am Anfang der Begründung ausgeführt wird, den Kernbereichsschutz keinesfalls aushebeln dürfen. Die Untauglichkeit der Argumentation wird auch sonst in der Literatur bemängelt. So rügt z. B. Geis41 einen „Zirkelschluss von der faktischen Möglichkeit auf die Befugnis“. Im selben Sinne sagt Küpper,42 es gehe „um die Verwertung eines Tagebuchs, also einer per definitionem schriftlichen Äußerung. Die Festlegung eines Kernbereichs muss sich deshalb notwendig aus anderen Kriterien ergeben.“ Ein dritter Fehlschluss liegt schließlich in der Auffassung der die Entscheidung tragenden Richtergruppe, dass die Verwertung der Aufzeichnungen durch das Schuldprinzip gefordert werde:43 „Eine Verletzung der Menschenwürde kommt … nicht in Betracht, wenn die Auswertung privater Schriftstücke … Aufschluss über Ursachen und Hintergründe der Straftat geben kann, also die für ein rechtsstaatliches Strafverfahren unerlässlichen Untersuchungen in dem Umfang ermöglicht, dass die Grundlage für eine gerechte Bewertung des Tatgeschehens geschaffen werden, wie sie durch das nicht zuletzt in Art. 1 Abs. 1 GG wurzelnde materielle Schuldprinzip gefordert wird.“ Hier wird also die Menschenwürde gegen den Kernbereichsschutz gewendet, den das Gericht doch gerade aus der Menschenwürde ableitet. Auch wird schon vorausgesetzt, was bei einer Anerkennung der Aufzeichnungen als kernbereichsrelevant nicht möglich wäre: eine Verurteilung des Beschuldigten. Wenn diese aus Mangel an Beweisen scheitert, kann es zu einem Urteil, das am Maß der Schuld zu orientieren wäre, überhaupt nicht kommen.44 Die vier unterlegenen Richter haben deshalb zutreffend betont:45 „Der im Strafverfahren unzugängliche Kernbereich muss … aus sich heraus, vom Personhaften her, bestimmt werden; wirken auf seine Bestimmung angenommene Erfordernisse des Schuldprinzips ein, so instrumentalisiert das Schuldprinzip die Menschenwürde.“ Nach alledem lässt sich nicht ernsthaft bestreiten, dass eine Verwertung der im entschiedenen Fall vorliegenden höchstpersönlichen Aufzeichnungen zu repressiven Zwecken unter keinen Umständen hätte erfolgen dürfen.46 41
Geis, JZ 1991, 112 (116). Küpper, JZ 1990, 416 (420). 43 BVerfGE 80, 367 (379). 44 So auch Geis, JZ 1991, 112 (117). 45 BVerfGE 80, 367 (383). 46 Eine besonders eindringliche Kritik am BVerfG übt auch Gössel, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2006, Einl. L, Rn. 91 ff. 42
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Anders steht es mit der präventiven Verwendung von Tagebuchinhalten, die auch in der Literatur umstritten ist. Jürgen Wolter47 will ihre Verwertung zulassen „zumindest bei unmittelbaren konkreten Lebensgefahren oder bei der entsprechenden Gefahr einer schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigung für Dritte“. Er meint, hier stünden sich „die Grundrechte des Beschuldigten und der Dritten jeweils aus Art. 1 I GG gegenüber“. Man werde in solchen Fällen „ausnahmsweise … nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips eine Abwägung der Menschenwürde und Freiheitsinteressen vornehmen müssen“. Hingegen sei die Menschenwürde eines Dritten noch nicht dadurch betroffen,48 dass er sich „lediglich in der konkreten Gefahr der Verhängung einer erheblichen Freiheitsstrafe befindet“. Die Entlastung Dritter könne daher „entgegen der tragenden Auffassung des BVerfG“ regelmäßig „kein maßgebender Grund für die Beschlagnahme und Verwertung von tagebuchartigen Aufzeichnungen sein“. Gegen jegliche Verwertung höchstpersönlicher Tagebuch-Aufzeichnungen zu präventiven Zwecken, also zur Gefahrenabwehr, spricht sich dagegen Ellbogen49 aus. Er meint: „Entgegen der wohl h.M. müssen die repressive und die präventive Verwertung gleich beurteilt werden. So, wie es im Strafprozess keine Wahrheitsermittlung um jeden Preis gibt, gibt es auch keine Gefahrenabwehr um jeden Preis. Eine Aufweichung dieser Position führt zu unabsehbaren Konsequenzen, wie die Diskussion um die Zulassung einer Rettungsfolter zeigt.“ Ich beurteile das Problem etwas anders als beide Autoren. Denn im Gegensatz zur Folter, die als solche den Gefolterten entwürdigt und deshalb einen auch zu präventiven Zwecken niemals zulässigen Verstoß gegen Art. 1 GG begründet,50 ist dies bei der Sichtung tagebuchartiger Aufzeichnungen zur Überprüfung ihrer etwaigen Kernbereichsrelevanz noch nicht der Fall. Freilich sollte diese Sichtung, um jede Beeinflussung des Strafverfahrens durch unverwertbare Informationen zu verhindern, entgegen dem heutigen § 110 StPO entsprechend den Forderungen von Amelung51 und Wolter52 wieder dem Ermittlungsrichter übertragen werden, wie es bis 1974 der Fall war. Denn den Strafverfolgungsbehörden wird es in vielen Fällen schwerfallen, sich von kernbereichsrelevanten Informationen freizumachen, auf die sie bei der Sichtung von Papieren gestoßen sind. Wenn aber ein Ermittlungsrichter bei seiner Sichtung auf höchstpersönliche Bekenntnisse stößt und diese nicht zum Nachteil ihres Verfassers benutzt, liegt in ihrer Verwendung zur Rettung Dritter noch kein Menschenwürdeverstoß. Der Ver-
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Wolter, StV 1990, 175 (176). Wolter, StV 1990, 175 (177). 49 Ellbogen, NStZ 2006, 180; ders. auch schon Jura 2006, 336 (342). 50 Näher Roxin, FS Eser, 2005, S. 461 ff.; ders., FS Nehm, 2006, S. 205 ff.; ebenso Wolter, StV 1990, 175 (176). 51 Amelung, NJW 1988, 1002 (1006). 52 Wolter, StV 1990, 175 (177). 48
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fasser wird dadurch nicht eigentlich belastet. Denn durch die Verhinderung einer Straftat wird er vor einer möglichen Bestrafung bewahrt. Über die präventive Verwendung hinaus wird man, wenn die Tat bereits geschehen ist, solche Aufzeichnungen ggf. auch zur Entlastung anderer Personen verwenden können. Damit entsteht auch nicht die von Wolter angenommene Abwägungssituation, die ggf. eine Einschränkung der Verwertbarkeit begründen soll. Denn ein Menschenwürdeverstoß ergibt sich erst, wenn die Sichtung von Papieren höchstpersönlicher Art zur Überführung des Beschuldigten benutzt wird. Wenn kernbereichsrelevante Aufzeichnungen ausschließlich zur Verhinderung von Delikten oder zur Entlastung Unschuldiger verwendet werden, sehe ich dagegen keine Bedenken.
IV. Großer Lauschangriff Das Urteil des 1. Senats des BVerfG zum „großen Lauschangriff“53 folgt dem Tagebuch-Beschluss des 2. Senats kritiklos in der Ausschaltung straftatbezogener Äußerungen aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung. Was der 2. Senat für tagebuchartige Aufzeichnungen angenommen hatte, soll ebenso für vertrauliche Unterredungen in der Privatwohnung gelten: „Gespräche, die Angaben über begangene Straftaten enthalten, gehören ihrem Inhalt nach nicht dem unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung an.“54 Auch die Ausführungen des 2. Senats, wonach die Zuordnung zum „unantastbaren Kernbereich“ nach den „Besonderheiten des jeweiligen Falles“ und danach zu beurteilen sind, „in welcher Art und Intensität … Belange der Gemeinschaft“ berührt werden, erfahren beifällige Erwähnung.55 Wenn dennoch das Lauschangriffs-Urteil nicht der durchweg ablehnenden Kritik des Tagebuch-Beschlusses unterworfen, sondern vielfach als „großes Urteil“ des BVerfG begrüßt worden ist,56 so hat das seinen Grund darin, dass es – anders als die Sichtung von Papieren im Beschluss des 2. Senats – schon den Abhörvorgang selbst einem Schutz unterstellt, indem er seine Zulassung von einer sog. negativen Kernbereichsprognose abhängig macht. Der Gesetzgeber hat dieses verfassungsgerichtliche Postulat im Jahr 2005 in Gesetzesform gegossen (§ 100c Abs. 4 Satz 1 StPO): „Die Maßnahme darf nur angeordnet werden, soweit auf Grund tatsächlicher Anhaltspunkte, insbesondere zu der Art der zu überwachenden Räumlichkeiten und dem Verhältnis der zu überwachenden Personen zueinander, anzunehmen ist, dass durch die Überwachung Äußerungen, 53
BVerfGE 109, 279 ff. BVerfGE 109, 279 (319) unter unmittelbarer Bezugnahme auf BVerfGE 80, 367 (375). 55 BVerfGE 109, 279 (314) unter weitgehender Übernahme von Formulierungen des 1. Senats. 56 Näher Roxin, FS Böttcher, 2007, S. 159 (160 ff.), wo die Bedeutung des Urteils im Einzelnen gewürdigt wird. 54
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die dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzuordnen sind, nicht erfasst werden.“ Damit wird, wenn in einer Wohnung vermutlich höchstpersönlich-vertrauliche Gespräche stattfinden, eine Abhörung von vornherein ausgeschlossen. Freilich sind Prognosen unsicher, und es besteht die Gefahr, dass im Interesse der Strafverfolgung die Nichterwartbarkeit von Kernbereichsäußerungen auch dort prognostiziert wird, wo diese gleichwohl naheliegen. Man wird deshalb bei Gesprächen vertrauter Personen in der Privatwohnung grundsätzlich davon ausgehen müssen, dass sie den Kernbereich privater Lebensgestaltung betreffen, also nicht abgehört werden dürfen. Das entspricht auch der Ansicht des BVerfG:57 „Zwar gehören nicht sämtliche Gespräche, die ein Einzelner mit seinen engsten Vertrauten in der Wohnung führt, zum Kernbereich privater Lebensgestaltung. Im Interesse der Effektivität des Schutzes der Menschenwürde spricht aber eine Vermutung dafür.“ Diese Vermutung kann – nach Wolters und meiner Auffassung58 – nur widerlegt werden, wenn die Vertrauensperson einer Beteiligung an der Straftat (im weiteren, auch Begünstigung, Strafvereitelung und Hehlerei einschließenden Sinne) verdächtig ist; ferner auch dann, wenn die Wohnung als konspirativer Treffpunkt (etwa von Drogenhändlern oder Terroristen) dient. Wolter und ich stimmen – in konsequenter Ausdeutung der verfassungsgerichtlichen „Vermutung“ – weiter darin überein,59 dass auch zu erwartende „Mischgespräche“ in Privatwohnungen, die wohl den häufigsten Fall darstellen werden, nicht abgehört werden dürfen. Das sind Gespräche, in denen sowohl höchstpersönliche wie belanglos private Äußerungen und möglicherweise auch Straftaterwähnungen vorkommen können. Unter Berufung auf Wolter hat sich das OLG Düsseldorf dieser Ansicht angeschlossen.60 „Dass sich die gesprächsbereiten Personen im vertrauten Kreis auch über konkret begangene Straftaten unterhalten könnten, genügt nicht. Der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung würde unterlaufen, wenn jedes mögliche ,Mischgespräch‘ zu einer Überwachungserlaubnis führen würde, da nie auszuschließen ist, dass sich ein Beschuldigter mit seinen engsten Vertrauten auch über die Straftat unterhalten wird.“ Bei einer derartigen Handhabung der Prognose lassen sich Kernbereichsverletzungen durch „große Lauschangriffe“ ziemlich wirkungsvoll unterbinden. Wenn auf diese Weise auch intime straftatbezogene Äußerungen etwa unter Ehegatten abhörfrei bleiben, werden Eingriffe vermieden, die den Tagebuch-Beschluss so angreifbar machen. 57
BVerfGE 109, 279 (320). Wolter, SK StPO, 3. Aufl. 2010, § 100c Rn. 59 (auch schon Rn. 12, 28); Roxin, FS Böttcher, S. 159 (170). 59 Wolter, SK StPO, § 100c Rn. 59; Roxin, FS Böttcher, S. 159 (173). 60 BGH StV 2008, 181 (Leitsätze 2 und 3). 58
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Nach alledem ist nur noch die Frage offen, wie der Fall zu behandeln ist, dass auf Grund einer negativen Kernbereichsprognose eine Abhörerlaubnis erteilt wird und es während des abgehörten Gesprächs zu höchstpersönlichen Äußerungen über eine Straftat kommt. Ein Ehemann beichtet etwa seiner Frau unter Tränen, was er getan hat; oder er hadert mit sich und seiner Tat und bittet seine Frau um Rat, wie er sich verhalten soll. Nach der oben (II.) dargelegten Konzeption fallen solche Äußerungen in den Kernbereich privater Lebensgestaltung. Sie darin einzuschließen, entspricht grundsätzlich auch der Position des Lauschangriffs-Urteils, wenn es dort heißt:61 „Zur Entfaltung der Persönlichkeit im Kernbereich privater Lebensgestaltung gehört die Möglichkeit, innere Vorgänge, wie Empfindungen und Gefühle, sowie Überlegungen, Ansichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art zum Ausdruck zu bringen, und zwar ohne Angst, dass staatliche Stellen dies überwachen.“ Es entspricht erst recht der dissentierenden Meinung der Richterinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt zum selben Urteil:62 „Wenn aber selbst die persönliche Intimsphäre, manifestiert in den eigenen vier Wänden, kein Tabu mehr ist, vor dem das Sicherheitsbedürfnis Halt zu machen hat, stellt sich auch verfassungsrechtlich die Frage, ob das Menschenbild, das solche Vorgehensweise erzeugt, noch einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie entspricht.“ Intime Gespräche unter vertrauten Personen in der Privatwohnung sollten demnach auch dann nicht verwertet werden dürfen und zum Abbruch der Aufzeichnung führen, wenn sie Straftaten betreffen. (Dasselbe müsste auch gelten, wenn sie ausnahmsweise in Betriebs- oder Geschäftsräumen geführt werden.) Dem scheint zwar die Mehrheitsmeinung im Lauschangriffs-Urteil entgegenzustehen, wenn sie im Anschluss an die verfehlte Tagebuch-Entscheidung „Gespräche, die Angaben über begangene Straftaten enthalten“, schlechthin „nicht dem unantastbarem Kernbereich privater Lebensgestaltung“ zuordnet.63 Aber die im Anschluss an das Urteil geschaffene gesetzliche Neuregelung schließt eine Differenzierung im hier befürworteten Sinne nicht aus. Das ergibt sich aus § 100c Abs. 4 S. 2 und 3 StPO: „Gespräche in Betriebs- oder Geschäftsräumen sind in der Regel nicht dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen. Das Gleiche gilt für Gespräche über begangene Straftaten und Äußerungen, mittels derer Straftaten begangen werden.“ Wenn die Aussage des Satzes 2 nur „in der Regel“ gilt und Satz 3 diese Prämisse übernimmt, sind also Ausnahmen möglich, in denen doch eine Kernbereichszuordnung erfolgen kann. Diese Ausnahmen können nur Äußerungen höchstpersönlich-intimer Art betreffen. Tatsächlich wird der Regelfall, den das Gesetz vom Kernbereichsschutz ausnimmt, sachliche Deliktsbesprechungen unter Straftatbeteiligten oder Mitwissern 61
BVerfGE 109, 279 (312). BVerfGE 109, 279 (391). 63 BVerfGE 109, 279 (319). 62
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zum Inhalt haben. So war es auch in dem schon erwähnten „Raumgespräch“-Urteil des BGH64, wo der Ehemann gegenüber seiner Frau „die Bilanz aus seinen bisherigen Heroingeschäften“ zog. Dass solche Äußerungen nach den verfassungsgerichtlichen und gesetzlichen Entscheidungen des letzten Jahrzehnts, auch wenn sie in Wohnräumen fallen, keinen Kernbereichsschutz genießen, lässt sich nicht bestreiten. Das „Raumgesprächs“-Urteil ist also durch die Rechtsentwicklung überholt. Das, was hier (oben II.) als Kernbereich beschrieben wurde, lässt sich aber auch nach der heutigen Rechtslage vor staatlichem Zugriff sichern und einem Verwertungsverbot unterwerfen. Auf diese Weise lässt sich für Wohnungsabhörungen eine durchaus befriedigende Lösung erreichen, die der für schriftliche Aufzeichnungen befürworteten Konzeption entspricht.
V. Selbstgespräche Das Lauschangriffs-Urteil hat sich trotz scheinbarer Anlehnung an den TagebuchBeschluss der Sache nach von diesem weitgehend gelöst: durch die Forderung einer Prognose und durch die Vermutung, dass Wohnungsgespräche mit Vertrauenspersonen den Kernbereich privater Lebensgestaltung berühren. Die beiden Selbstgesprächs-Urteile des BGH aus den Jahren 200565 und 201166 setzen diese Entwicklung fort, indem sie entgegen der bisherigen Rechtsprechung und Gesetzgebung erstmals ausdrücklich geständnisähnliche Äußerungen über die eigene Straftat dem Kernbereich zuordnen und für unverwertbar erklären. Das ist der Sache nach richtig und zeigt, dass der BGH in der Kernbereichskonturierung der verfassungsgerichtlichen Judikatur voraus ist. Denn Selbstgespräche, wie sie hier vorlagen, sind in Ermangelung eines Gesprächspartners keine Mitteilungen konspirativer oder deliktsbilanzierender Art, die ggf. abgehört werden dürfen. Es handelt sich vielmehr durchweg und auch im Sachverhalt der vom BGH entschiedenen Fälle um Bemerkungen, in denen die erregte innere Beschäftigung mit der Straftat in abgerissenen Satzfetzen unkontrolliert nach außen dringt. Ein „lautes Denken“ solcher Art ist „Gedanken gleichzustellen. Man darf sie ebenso wenig abhören, wie man Gedanken abhören dürfte, gäbe es schon dazu fähige Maschinen.“67 Dass solche halb unbewussten Äußerungen dem innersten Kernbereich der Persönlichkeit zuzuordnen sind, ist nicht zu bezweifeln.68 Folgt man der Kernbereichsumschreibung, wie ich sie oben (II.) versucht habe, ist diese Annahme selbstverständlich. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechungsentwicklung macht die Begründung freilich einige Mühe. Ich will das kurz an beiden 64
BGHSt 31, 296. 1. Senat, BGHSt 50, 206 ff. 66 2. Senat – 2 StR 509/10, hier nach der Internet-Veröffentlichung zitiert. 67 Roxin/Schünemann (Fn. 19), § 36 Rn. 48. 68 In diesem Sinne eindringlich auch Kolz, NJW 2005, 3248 (3249). 65
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BGH-Urteilen verdeutlichen, die auch ihrerseits Stadien einer fortschreitenden Annäherung an ein zutreffendes Kernbereichsverständnis darstellen. Die erste Entscheidung69 will die Verwertbarkeit von Selbstgesprächen aus der gesetzlichen Regelung des großen Lauschangriffs ableiten. Das „Krankenzimmer in einer Rehabilitationsklinik“70, in der das Selbstgespräch abgehört wurde, sei als „Wohnung im Sinne von Art. 13 GG“ anzusehen. Aus dem Wortlaut des § 100c Abs. 4 Satz 3, wonach „Gespräche über begangene Straftaten und Äußerungen, mittels derer Straftaten begangen werden“, dem Kernbereich nicht zuzurechnen sind, soll sich ergeben, dass mit „Gesprächen“ nur Zwiegespräche gemeint seien. Da aber das Wort „Äußerungen“ sich im Gesetz nur auf dadurch begangene Straftaten bezieht, können Selbstgespräche nicht ohne Weiteres dem Begriff der „Äußerung“ unterstellt werden. Auch die Begründung des Lauschangriffs-Urteils stützt diese These nicht, da sie71 ausdrücklich die Fälle gleichstellt, dass sich jemand „allein oder ausschließlich mit Personen in der Wohnung aufhält, zu denen er in einem besonderen, den Kernbereich betreffenden Vertrauensverhältnis steht“. Wenn Straftatgespräche mit Vertrauenspersonen dem Kernbereichsschutz entzogen sind, müsste dies demnach für straftatbezogene Selbstgespräche ebenfalls gelten. Auch der Rückgriff auf die Gesetzesbegründung liefert keine Klarheit. Denn zwar heißt es dort,72 „Äußerungen eines Beschuldigten, die dieser tätigt, wenn er sich alleine in der überwachten Wohnung aufhält, oder Äußerungen, die nicht dazu bestimmt sind, von anderen zur Kenntnis genommen zu werden, wie etwa unbewusst artikulierte Äußerungen“, würden „in der Regel dem absolut geschützten Kernbereich unterfallen“. Aber erstens gilt das nur „in der Regel“, und zweitens sagt die Begründung nichts darüber, ob das anders als bei Gesprächen mit den Personen des engsten Vertrauens auch für Äußerungen über begangene Straftaten gilt. Löffelmann, der die gesetzliche Regelung als Referent im Justizministerium betreut hat, ist denn auch dem BGH entgegengetreten.73 Ihm zufolge „ist jedenfalls zu prüfen, ob im konkreten Fall der Zuordnung zum Kernbereich der Bezug des Selbstgesprächs auf begangene Straftaten entgegensteht: Insofern kann nichts anderes gelten als für entsprechende Äußerungen, die in einem Tagebuch schriftlich niedergelegt sind.“ Man kann daher, wenn man Selbstgespräche zutreffenderweise prinzipiell dem Kernbereich zuordnen und ihre Verwertung unter Berufung auf § 100c Abs. 4 S. 3 für unzulässig erklären will, dies nur stichhaltig begründen, indem man, wie es der Gesetzeswortlaut gestattet, bei Selbstgesprächen eine Ausnahme von der 69
BGHSt 50, 206 ff. BGHSt 50, 206 (210). 71 BVerfGE 109, 279 (319). 72 Zitiert in BGHSt 50, 206 (214). 73 Löffelmann, ZIS 2006, 87 (92). 70
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Regel macht, dass straftatbezogene Äußerungen nicht zum Kernbereich gehören. Ich habe dies oben schon für Wohnungsgespräche mit Vertrauten angenommen, soweit diese sich als intime Bekenntnisse und Selbstauseinandersetzungen darstellen. Wenn das richtig ist, muss es für Selbstgespräche erst recht gelten. Freilich ist es keineswegs nötig, die Behandlung von Selbstgesprächen den Regeln der akustischen Wohnraumüberwachung und speziell einer bestimmten Deutung von § 100c Abs. 4 S. 3 StPO zu unterwerfen. Das zeigt schon das zweite Selbstgesprächs-Urteil des BGH, das die Abhörung von Selbstgesprächen in einem Kraftfahrzeug, also außerhalb einer Wohnung, betraf. Schon lange vor den Entscheidungen des BGH hatte Dalakouras74 betont, „dass auch das Selbstgespräch eines einsamen Spaziergängers im Park oder im Wald zum undurchdringlichen Kernbereich gehört; Voraussetzung dafür ist aber, dass es nicht von jedermann ohne besondere Mühe gehört werden kann“. Auch Wolter sagt:75 „So mag … ein Selbstgespräch an einsamem Ort außerhalb der Wohnung erfolgen.“ Die Zuordnung von Selbstgesprächen zum Kernbereich privater Lebensgestaltung wird also nicht erst dadurch vermittelt, dass sie in der eigenen Privatwohnung stattfinden. Sie sind dem Kernbereich schlechthin zuzuordnen, sofern sie sich als Selbstkommunikation außerhalb der Öffentlichkeit darstellen. Die nicht recht überzeugende Begründung des BGH hätte also auf ihre Verquickung mit der akustischen Wohnraumüberwachung ganz verzichten können (unbeschadet dessen, dass Selbstgespräche in der eigenen Wohnung auch deren Schutz genießen). Es leuchtet auch nicht recht ein, wenn der BGH für die Behandlung von Selbstgesprächen wieder auf die Tagebuch-Entscheidung des BVerfG zurückgreift und meint,76 das Selbstgespräch gehöre „selbst nach den Maßstäben der die Entscheidung des Zweiten Senats tragenden Richter grundsätzlich zum absoluten Kernbereich privater Lebensgestaltung“. Zur Begründung beruft sich das Gericht lediglich auf den Geheimhaltungswillen des Betroffenen (den natürlich auch der Tagebuchschreiber haben muss) und auf ein Zitat aus dem abweichenden Votum der vier unterlegenen Richter,77 dass bei einer Verwertung der Tagebuchaufzeichnungen an diese „im Nachhinein und von außen her eine Beziehung zu Allgemeinbelangen herangetragen“ würde, „die ihnen ursprünglich, also aus sich heraus, nicht eigen war“. Das ist eine zutreffende Erkenntnis. Aber man kann die Übereinstimmung mit den Maßstäben der obsiegenden Richtergruppe nicht gut auf ein Zitat stützen, das diese Maßstäbe gerade ablehnt. In der Sache freilich sind die im Tagebuch-Fall unterlegenen Richter im Recht: Der Kernbereichsbezug muss „aus sich heraus“, also aus einem Verständnis des Selbstgesprächs (bzw. im damals entschiedenen Fall: des Tagebuchs) als eines inne74
Dalakouras, Beweisverbote bezüglich der Achtung der Intimsphäre, 1988, 264 f. Wolter, SK-StPO, § 100 f, Rn. 35. 76 BGHSt 50, 205 (213). 77 BVerfGE 80, 367 (381). 75
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ren Vorganges der Auseinandersetzung mit der Straftat (bzw. der Neigung zu einer solchen) bestimmt und darf nicht von einer „Beziehung zu Allgemeinbelangen“ abhängig gemacht werden. Freilich verlässt das Urteil damit entgegen seinem Selbstverständnis die verfehlten Prämissen der den Tagebuch-Beschluss tragenden Ansicht. Im zweiten Selbstgesprächs-Urteil78 ging es um eine „elektronische Überwachung im Auto des Angeklagten“ nach § 100f StPO i. V. m. §§ 100b Abs. 1, 100d Abs. 2 StPO. „Dabei wurden dessen Selbstgespräche, als er sich allein im Auto befand, an mehreren Tagen aufgezeichnet und später in die Hauptverhandlung eingeführt sowie im Urteil des Landgerichts verwertet.“ In verschiedenen Äußerungen – vor allem in der Wendung „wir haben sie totgemacht“79 – hatte das Landgericht „ein geständnisgleiches Indiz“80 für die dem Angeklagten vorgeworfene Tötung gesehen. Da das Auto keine „Wohnung“ ist, war dem BGH hier der Umweg über die Regelung der akustischen Wohnraumüberwachung verschlossen. Es liegt ein beachtlicher Erkenntnisfortschritt darin, wenn das Gericht nun freiweg erklärt:81 „Das nichtöffentlich geführte Selbstgespräch unterliegt einem selbständigen Beweisverwertungsverbot von Verfassungs wegen.“ Das wird „aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet“82. Weiterführend ist auch der Umstand, dass das Gericht sich – allerdings beschränkt auf die Beurteilung von Selbstgesprächen – erstmals deutlich von den verfehlten Thesen des Tagebuch-Beschlusses löst. Es lässt „Art und Intensität des Sozialbezuges“ und die damit verknüpften „Belange der Allgemeinheit“ beiseite und bestimmt die Kernbereichszuordnung „aus sich heraus“ durch eine „Kumulation von Umständen“: „Dazu zählen die Eindimensionalität der ,Selbstkommunikation‘, die Nichtöffentlichkeit der Äußerungssituation, die mögliche Unbewusstheit der Äußerungen im Selbstgespräch, die Identität der Äußerung mit den inneren Gedanken beim Selbstgespräch und die Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes.“ Dass hier ein anderer Standpunkt vertreten wird als in der bisherigen Rechtsprechung, wird auch durch eine ausdrückliche Distanzierung verdeutlicht:83 „Auf den Inhalt der Gedankenäußerung und dessen mehr oder weniger großen Sozialbezug kommt es demgegenüber bei Selbstgesprächen nicht entscheidend an. Insofern gilt etwas anderes als bei der Fixierung von Gedanken in einem Tagebuch oder bei der Erfassung des Gesprächs eines Beschuldigten mit Dritten.“
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Wie Fn. 66, Rn. 9. Wie Fn. 66, Rn. 10. 80 Wie Fn. 66, Rn. 11. 81 Wie Fn. 66, Rn. 13. 82 Wie Fn. 66, Rn. 14; hier auch die Zitate des folgenden Absatzes. 83 Wie Fn. 66, Rn. 16.
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Für richtig halte ich es auch, dass das Gericht das Verwertungsverbot auf Mitangeklagte erstrecken will.84 Wenn die §§ 100a Abs. 4, Satz 2, 100c Abs. 5 Satz 3 ein absolutes Verwertungsverbot aussprechen, kann für ein Verwertungsverbot, das unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet wird, nichts anderes gelten. Die präventive Verwertbarkeit ist eine andere Frage, auf die noch zurückzukommen ist. Das alles bedeutet für Selbstgespräche den Durchbruch zu einer vollauf befriedigenden und auch in der Begründung zutreffenden Lösung, die sogar auf die sonst in Anspruch genommenen „Umstände des Einzelfalles“ verzichten kann. Nicht zutreffend ist allein der Umstand, dass der BGH auch jetzt noch die Meinung aufrechterhält, für Tagebücher und intime Privatgespräche in Wohnungen gelte „etwas anderes“. Denn dadurch wird ein nach einheitlichen Maßstäben praktizierter Kernbereichsschutz verhindert. Zwischen Selbstgesprächen auf der einen und Tagebuchaufzeichnungen und Wohnungsgesprächen auf der anderen Seite besteht nur ein relevanter Unterschied, den aber der BGH in diesem Zusammenhang gar nicht erwähnt. Während nämlich außerhalb der Öffentlichkeit geführte Selbstgespräche immer – oder nahezu immer – dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzuordnen sind, ist das bei straftatbezüglichen Aufzeichnungen und Gesprächen, wie dargelegt, dann nicht der Fall, wenn diese lediglich die begangenen Taten in schriftlicher Form (quasi buchhalterisch) festhalten oder in Berichten weitererzählen. Bei Selbstgesprächen wird so etwas kaum vorkommen (oder allenfalls dann, wenn jemand vor dem geplanten Vermerk der verübten Taten diese noch einmal laut memoriert). Wenn aber Aufzeichnungen in der Auseinandersetzung mit innersten Vorgängen bestehen, wie es bei dem Sachverhalt der Fall war, der dem Tagebuch-Beschluss zugrunde liegt, oder wenn Gespräche mit engsten Vertrauten in der Privatwohnung sich als ratsuchende Bekenntnisse seelischer Nöte darstellen, kann für sie, auch wenn es dabei um eine Straftat geht, nichts anderes gelten als für Selbstgespräche. Das ist rechtlich ohne Weiteres begründbar. Denn intime, kernbereichsrelevante Aufzeichnungen müssen wie Selbstgespräche „einem selbständigen Beweisverwertungsverbot von Verfassungs wegen“ (Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG) unterstellt werden; und für entsprechende Gespräche in der Privatwohnung habe ich dargetan, dass dies die Fälle sind, die die in § 100c Abs. 4, S. 2 und 3 immerhin vorgesehenen Ausnahmen von der Verwertbarkeit bilden. Demgegenüber ist nicht plausibel, was der BGH in seinem zweiten Selbstgesprächs-Urteil dafür vorbringt, dass für Tagebücher und Wohnungsgespräche grundsätzlich „etwas anderes“ gelten soll. Im Sachverhalt des Tagebuch-Beschlusses seien „die Notizen freiwillig der Sicherstellung preisgegeben worden“85. Das widerspricht dem Vortrag des Beschuldig-
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Wie Fn. 66, Rn. 20, 21. Wie Fn. 66, Rn. 17.
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ten, er „habe sich ihrer nicht freiwillig entäußert“86, dem weder der BGH noch das BVerfG ausdrücklich widersprochen haben. Deren Stellungnahmen beruhen jedenfalls auf der Voraussetzung einer Unfreiwilligkeit. Denn sonst wären die Rechtsausführungen zur Kernbereichsfrage von vornherein überflüssig gewesen. Wenn der BGH sodann meint,87 beim Selbstgespräch erlange „die Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes als Abgrenzungskriterium besonderes Gewicht“, während in der Tagebuch-Entscheidung „der Betroffene seine Gedanken … fixiert“ habe, so wird damit nur der oben (III.) kritisierte Trugschluss wiederholt, dass schon die Aufzeichnung eine Kernbereichszugehörigkeit ausschließe. Diese ergibt sich vielmehr daraus, dass auch im Tagebuch – wenigstens in dem vom BVerfG entschiedenen Fall – eine intime Auseinandersetzung in Form einer Selbstkommunikation stattfindet. Auf das Medium der Auseinandersetzung (Wort oder Schrift) kann es nicht ankommen. Außerdem teilt das Selbstgespräch die „Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes“ mit dem intimen Wohnraumgespräch, das der BGH bei einem Straftatbezug gleichwohl nicht dem Kernbereich zuordnen will. Schließlich, argumentiert der BGH weiter, seien in der Tagebuch-Entscheidung „auch präventive Überlegungen für die Annahme der Verwertbarkeit von Bedeutung“ gewesen, weil die Aufzeichnungen „bei rechtzeitiger Erfassung … theoretisch auch zur Verhinderung der Tat … hätten genutzt werden können. Dagegen spielt die Möglichkeit der Prävention zugunsten anderer Grundrechtsträger … hier keine Rolle.“ Aber das ist eine unverständliche Argumentation. Denn für den aktuellen Fall spielten präventive Überlegungen auch in der Tagebuch-Entscheidung „keine Rolle“, da die Tat bei Verwertung des Tagebuchs schon geschehen war. Im Rahmen einer hypothetischen Erwägung kann eine präventive Verwertung aber auch bei Selbstgesprächen sehr wohl in Betracht kommen. Wenn etwa jemand im Selbstgespräch einen Mordplan ausplaudert, werden die Behörden, die davon erfahren, selbstverständlich Vorkehrungen treffen müssen, um die Tat zu verhindern. Wenig überzeugend ist auch, was der BGH dafür vorbringt,88 dass das Selbstgespräch nicht mit einem intimen „Zwiegespräch gleichgesetzt werden“ könne. „Es unterscheidet sich von einem solchen Gespräch schon dadurch, dass die Äußerungen nicht auf Verständlichkeit angelegt und jedenfalls auch durch unwillkürlich auftretende Bewusstseinsinhalte gekennzeichnet sind.“ Aber auch ein Geständnis und Manifestationen inneren Ringens gegenüber Gesprächspartnern können sich in stammelnden und unwillkürlichen Bekundungen äußern. Selbst die Tagebuch-Aufzeichnungen in dem vom Verfassungsgericht entschiedenen Fall enthalten unvollendete und syntaktisch verworrene Sätze.89 Andererseits 86
BVerfGE 80, 367 (370). 2. Senat – 2 StR 509/10 Rn. 17; hier auch die folgenden Zitate. 88 Wie Fn. 66, Rn. 18. 89 BVerfGE 80, 367 (369).
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lassen sich natürlich auch in verständlichen Sätzen geführte Selbstgespräche denken. In den beiden einschlägigen BGH-Entscheidungen waren die Äußerungen des Angeklagten jedenfalls verständlich genug, um zu ihrer Überführung benutzt zu werden. Es wäre der Schlussstein einer zu ständig verbesserter Einsicht fortschreitenden Rechtsprechung, wenn die bei Selbstgesprächen gewonnenen Erkenntnisse auf Tagebücher und auf die akustische Wohnraumüberwachung übertragen würden. Das sollte nicht in der Weise geschehen, dass private Aufzeichnungen und Wohnungsgespräche für schlechthin tabu erklärt werden. Aber sie sollten dem unantastbaren Kern der Persönlichkeit insoweit zugeordnet werden, als sie höchstpersönlich-intime Informationen, Bekenntnisse und Selbstauseinandersetzungen enthalten. Daraus ergäbe sich eine für alle drei Fallgruppen gemeinsame Lösung der Kernbereichsfrage.
VI. Schluss Damit schließe ich meinen Beitrag, den ich Jürgen Wolter mit den herzlichsten Glückwünschen zum 70. Geburtstag darbringe. Ich kenne unseren Jubilar seit meinen Göttinger Anfängen, also seit bald 50 Jahren. Er war mein Doktorand und gehörte schon damals (mit Rudolphi, Haffke, Schünemann, Achenbach, Amelung und Schall) zum engeren Kreis meiner Schüler. Er ist dann mit Rudolphi nach Bonn gegangen und hat sich dort habilitiert. Wir haben trotz räumlicher Trennung über die Jahrzehnte hin eine persönliche und wissenschaftliche Verbindung aufrechterhalten, die im Laufe der Zeit zu einer nahen und herzlichen Freundschaft geworden ist. Jürgen Wolter war schon bei meinem 50. Geburtstag dabei. Er hat mich mit Ehren- und Festgaben zu diversen späteren Geburtstagen beschenkt und auch über unsere Beziehungen und Begegnungen wiederholt öffentlich Rechenschaft abgelegt. Ich habe ihm die mir von seiner Seite erwiesenen Wohltaten nie angemessen vergelten können. Umso größer ist meine Freude, dass ich nun wenigstens an seinem 70. Geburtstag dabei sein und ihn mit einem Beitrag ehren kann, der in wesentlichen Punkten durch seine Arbeiten inspiriert ist. Ich wünsche ihm für die folgenden Jahre eine gute Zeit, fortdauernde Gesundheit und Schaffenskraft und uns beiden die lebenslange Dauer unserer Freundschaft!
Videoüberwachung 2.0 auf dem Prüfstein des Grundgesetzes Von Ralf P. Schenke* In seinem 1948 fertiggestellten Roman „1984“ schildert George Orwell die bedrückende Vision eines totalitären Überwachungsstaates.1 Technisches Rückgrat des Systems ist der Televisor. Vieltausendfach im gesamten öffentlichen und privaten Raum installiert, übertragen die Televisoren über einen Bildschirm Propaganda, ermöglichen es der „Gedankenpolizei“ aber zugleich, das Areal vor dem Schirm zu überwachen.2 Auch 1984 war die Überwachungstechnik noch nicht so weit vorangeschritten, dass die Vision Orwells wirklich realistisch erschien. Gleichwohl löste die Wiederentdeckung des Romans eine rege Diskussion aus, die nicht zuletzt durch die im Vorjahr ergangene Volkszählungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts3 angestoßen worden war.4 Rund dreißig Jahre später ist die Präsenz von Überwachungskameras in Geschäften, Bahnhöfen, Flughäfen und anderen exponierten Orten des öffentlichen Lebens so selbstverständlich geworden, dass Überwachungskameras schon kaum mehr Anstoß erregen.5 Auch wer das Schreckensgemälde totaler Überwachung an die Wand malt, muss vor den gegenwärtig eingesetzten Systemen letztlich nur wenig Angst haben. Die Erwartung, der öffentliche Raum könne mithilfe von Videoüberwa* Der Beitrag gibt einen Ausblick auf die rechtswissenschaftlichen Forschungsergebnisse des vom BMBF geförderten Verbundprojekts MuViT (Mustererkennung und Video Tracking: sozialpsychologische, soziologische, ethische und rechtswissenschaftliche Analysen – http:// www.uni-tuebingen.de/einrichtungen/zentrale-einrichtungen/internationales-zentrum-fuerethik-in-den-wissenschaften/forschung/sicherheitsethik/muvit.html). Ziel des Projektes ist es, mehrere technische Verbundprojekte beim Prozess der Entwicklung von Mustererkennungsund Video Tracking-Techniken sozialwissenschaftlich zu begleiten. Mein besonderer Dank gilt meinen Projektmitarbeitern Cornelius Held und Julia Krumm für wertvolle Anregungen und die kritische Durchsicht des Manuskripts. 1 Orwell, 1984. 2 Orwell, 1984, S. 7. 3 BVerfGE 65, 1 ff.; aus der zeitgenössischen Diskussion etwa Benda, DuD 1984, 86 ff.; Simitis, NJW 1984, 398 ff. 4 Exemplarisch DER SPIEGEL Heft1/1983, S. 19: Die neue Welt von 1984. 5 Apelt/Möllers, Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, 2011, 585 (588); siehe auch Zöller, NVwZ 2005, 1235 (1236); Schenke, in: Graulich/W.-R. Schenke/Ruthig (Hg.), Polizeirecht des Bundes, 2013 i.E, § 27 BPolG Rdnr. 1.
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chungstechnik in Echtzeit lückenlos überwacht werden, hat sich als unrealistisch erwiesen. Ein wirklich großflächiger Einsatz scheitert bislang an den hohen Personalkosten, die mit der Videoüberwachung verbunden sind: Nach dem Kamera-MonitorPrinzip müssen Videodaten von menschlichen Betrachtern ausgewertet werden. Wie die Erfahrung zeigt, nimmt die Aufmerksamkeit des Kontrollpersonals vor den Bildschirmen schon nach kurzer Zeit signifikant ab, so dass sicherheitsrelevantes Geschehen in einer Bilderflut untergeht und nicht mehr erkannt wird.6 Damit erweist sich die Videoüberwachung als wenig effektiv, wenn aktiv in ein Geschehen eingegriffen werden soll. Ein Mehr an Kameras produziert eine nicht mehr auswertbare Bilderflut, bei der die Suche nach kriminogenen Sachverhalten der nach der Stecknadel im Heuhaufen gleicht. Videoüberwachungstechnik wird daher weniger dazu eingesetzt, um Straftaten zu entdecken und vor Tatvollendung in das Geschehen einzugreifen. Eigentlicher Schwerpunkt ist vielmehr die zeit- und kostenintensive Auswertung von Videomaterial, um die Täter bereits begangener Straftaten zu identifizieren.7 Vor diesem Hintergrund verdient eine neue, im Rahmen des Programmes „Forschung für die zivile Sicherheit“ des BMBF mit Mitteln des Bundes geförderte, technische Innovation umso größere Aufmerksamkeit8: Sogenannte Smart Cameras sollen es zukünftig ermöglichen, Bildmaterial automatisiert auszuwerten und gefährliche Situationen selbsttätig zu erkennen.9 Andere, unverdächtige Sequenzen würden hingegen durch den Suchalgorithmus ausgefiltert. Vorteil eines solchen Systems wäre es, die Aufmerksamkeit des Überwachungspersonals nur noch auf Situationen zu lenken, die potenziell „verdächtig“ erscheinen, „unverdächtige“ Situationen demgegenüber auszublenden. Sollten derartige, bereits in Entwicklung begriffene Systeme die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen, hätte dies bedeutende Konsequenzen. 6 Zum Phänomen der sogenannten „Monitorblindheit“ Hornung/Desoi, K&R 2011, 153 unter Hinweis auf Stutzer/Zehnder, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 2009, 119 (129). 7 Vgl. Apelt/Möllers, Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, 2011, 585 (588); siehe auch Zöller, NVwZ 2005, 1235 (1238 f.). 8 Zu Zielen und Gegenstand des Programms „Forschung für die zivile Sicherheit“ siehe nur den Internetauftritt des BMBF (http://www.bmbf.de/de/6293.php); zur polizeirechtlichen Relevanz und zur Kritik des Programms Würtenberger, in: Heckmann (Hg.), Gedächtnisschrift Kopp, 2007, 428 (436 f.). 9 Vgl. nur Würtenberger, Rechtswissenschaftliche Begleitforschung zur intelligenten Videoüberwachung (http://www.bmbf.de/pubRD/B1-I_Wuerttemberger_Redemanuskript.pdf); Apelt/Möllers, Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 2011, 585 ff.; Hornung/Desoi, K&R 2011, 153; Roßnagel/Desoi/Hornung, DuD 2011, 694 ff.; Schaupp/Ott/Schallauer/ Winter/Thallinger, Kriminalistik 2009, 635 ff.; Coudert, CLSR 2010, 377 ff. sowie die Internetpräsentationen der BMBF-geförderten Verbundprojekte CamInSens (http://www.sra2.unihannover.de/caminsens/), APFel (http://www.kriminologie.ruhr-uni-bochum.de/images/stories/ pdf/rub%20kriminologie%20projekt%20apfel%20poster%202011.pdf) und ADIS (http://www. ipk.fraunhofer.de/geschaeftsfelder/automatisierungstechnik/fachabteilungen/sicherheitstechnik/ zentrale-fue-aktivitaeten-der-abteilung-sicherheitstechnik/mustererkennung-fuer-videoanaly se/).
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Denkbar erscheint es, die bereits derzeit überwachten Bereiche mit wesentlich weniger Personal, aber gleichwohl effektiver zu kontrollieren. Ebenso denkbar wäre es, die überwachten Areale bei gleichbleibendem Personalaufwand auszuweiten und so der Vision Orwells einen erheblichen Schritt näher zu kommen. Bis die derzeit einsatzfähigen Prototypen tatsächlich die Praxisreife erreichen, werden noch Jahre, möglicherweise sogar noch Jahrzehnte vergehen. Gleichwohl lohnt es sich schon jetzt, über die Rechtsfragen nachzudenken, die vermutlich in nicht allzu ferner Zukunft zu beantworten sein werden.10 Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen werden die verfassungsrechtlichen Probleme intelligenter Videoüberwachung stehen. Angesichts der mannigfaltigen Einsatzszenarien11 wird sich die nachfolgende Darstellung auf den Einsatz zu polizeirechtlichen Zwecken beschränken. Nach einem kurzen Abriss der Funktionsweise der neuartigen Systeme (dazu I.) soll zunächst untersucht werden, welche Grundrechtsrelevanz die neue Überwachungstechnik hat. Dabei ist eine freiheitsrechtliche (dazu II.) von einer gleichheitsrechtlichen Ebene zu unterscheiden (dazu III.). Auf Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse kann im Anschluss der Frage nachgegangen werden, ob der Einsatz von Smart Cameras bereits nach geltendem Recht, d. h. auf Basis der bestehenden präventivpolizeilichen Rechtsgrundlagen zur Videoüberwachung, zulässig ist (dazu IV.). Ist dies im Ergebnis zu verneinen, soll im Folgenden geklärt werden, wie die Gesetzgebungskompetenz in diesem Bereich verteilt ist (dazu IV.), bevor abschließend erste Überlegungen zu den Anforderungen an mögliche gesetzliche Ermächtigungsgrundlagen de lege ferenda skizziert werden (dazu V.).
I. Technische Grundlagen Die klassische Videoüberwachung basiert auf dem Kamera-Monitor-Prinzip12: Eine analoge oder digitale Kamera überträgt Bilddaten auf einen Monitor. Je nach der Architektur des Systems sind die Bilddateien entweder flüchtig, d. h. sie können nur im Zeitpunkt der Übertragung betrachtet werden, oder sie werden parallel auf einem analogen oder digitalen Speichermedium aufgezeichnet, um gegebenenfalls erst im Bedarfsfall, beispielsweise nach der Anzeige einer Straftat oder einem verübten Anschlag, ausgewertet zu werden.13 Von intelligenter Videoüberwachung spricht man, wenn nicht sämtliche Bilder, die in den Fokus der Kamera geraten, übertragen oder aufgezeichnet werden, sondern eine Vorselektion durch einen Algorithmus vorgeschaltet ist. 10 Vgl. hierzu Hornung/Desoi, K&R 2011, 153 ff.; Roßnagel/Desoi/Hornung, DuD 2011, 694 ff.; erste Überlegungen auch bei Held/Krumm/Markel/Schenke, Intelligent Video Surveillance, Computer, March 2012 (Vol. 45 no. 3), 83. 11 Instruktiv Hornung/Desoi, K&R 2011, 153. 12 Vgl. hierzu nur Büllesfeld, Polizeiliche Videoüberwachung öffentlicher Straßen und Plätze zur Kriminalitätsvorsorge, 2002, S. 6 ff. 13 Hornung/Desoi, K&R 2011, 153.
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Technisch basieren derartige Systeme auf Verfahren der Mustererkennung, d. h. der automatisierten Erfassung und Verarbeitung von Daten durch einen Rechner.14 Gemeinsames Merkmal dieser Verfahren ist es, in einem Datenstrom Regelmäßigkeiten zu erkennen. Diese können im Bewegungsmuster von Objekten, aber beispielsweise auch in bestimmten charakteristischen Merkmalen einer Person, wie etwa ihrer Größe oder ihre Haarfarbe bestehen. Während das Funktionsprinzip der Technik vergleichsweise einfach zu beschreiben ist, ist dessen Umsetzung technisch hochkomplex.15 Wenn man der Eigenwerbung von Anbietern Glauben schenken darf, ist es in den letzten Jahren gleichwohl gelungen, derartige Systeme bis zur Marktreife zu entwickeln.16 Die Anwendungsfelder von Verfahren der automatisierten Mustererkennung im Bereich der Sicherheitstechnik sind vielfältig. Ein Zeugnis hiervon geben die verschiedenen im Rahmen des Forschungsprogramms „Forschung für die zivile Sicherheit“ geförderten Projekte des BMFI zur Videoüberwachung.17 Beispielsweise ist es Ziel des Projektes ADIS (Analyse von Personenbewegungen an Flughäfen mittels zeitlich rückwärts- und vorwärtsgerichteter Videodatenströme), intelligente Routinen zur Auswertung von Videokameras zu entwickeln, die Bedrohungen in speziell gekennzeichneten Bereichen von Bahnsteigen erkennen sollen. Ein ähnliches Forschungsziel verfolgt das Forschungskonsortium CAMINSENS (Verteilte, vernetzte Kamerasysteme zur in situ-Erkennung personeninduzierter Gefahrensituationen). Dieses ist darauf gerichtet, ein Videosystem zu entwickeln, das unmittelbar und automatisiert auf potenzielle Gefährdungssituationen aufmerksam machen soll.
II. Freiheitsrechtliche Einordnung Bei der freiheitsrechtlichen Einordnung der neuen Technik kann weitgehend an den Diskussionsstand zur herkömmlichen Videoüberwachung angeknüpft werden.18 Referenzentscheidungen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
14 Schaup/Ott/Schallauer/Winter/Thallinger, Kriminalistik 2009, 635; siehe auch die Bekanntmachung zum Themenfeld „Mustererkennung“ im Rahmen des Programms „Forschung für die zivile Sicherheit“ der Bundesregierung (http://www.bmbf.de/foerderungen/12468.php). 15 Exemplarisch Schaup/Ott/Schallauer/Winter/Thallinger, Kriminalistik 2009, 635 (636) zum Problem von „Verdeckungen“ mehrerer Objekte. 16 Vgl. etwa http://videmo.de/leistungen/sicherheitstechnik/ (Stand: 26. 01. 2013); http://el vees.ru/index.php?id=242&L=3 (Stand: 26. 01. 2013). 17 http://www.bmbf.de/de/14395.php. 18 Zuletzt Siegel, VerwArch 102 (2011), 160 ff.; ders., NVwZ 2012, 738 ff.; aus dem älteren Schrifttum etwa Schwarz, ZG 16 (2001), 246 ff.; monographisch nur Büllesfeld, Polizeiliche Videoüberwachung öffentlicher Straßen und Plätze zur Kriminalitätsvorsorge, 2002; Gaul, Untersuchung der verfassungsrechtlichen Anforderungen an Videoüberwachungsmaßnahmen, 2007; instruktiv aus Schweizer Sicht Müller, Videoüberwachung in öffentlich zugänglichen Räumen – insbesondere zur Verhütung und Ahndung von Straftaten, 2007.
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sind die Beschlüsse zur automatischen KFZ-Kennzeichenüberwachung19, die Eilentscheidung zum Bayerischen Versammlungsgesetz20 sowie der Kammerbeschluss des 1. Senats zur Synagogenüberwachung21. Wichtige Fragen sind zudem durch die jüngst ergangene Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Videoüberwachung auf der Reeperbahn geklärt worden.22 Prüfungsmaßstäbe sind in erster Linie das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung sowie die verhaltensbezogenen Freiheitsgrundrechte.23 1. Informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) Das aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitete Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.24 a) Aufzeichnung personenbezogener Daten Damit ist es unstreitig als Eingriff zu werten, wenn eine Smart Camera personenbezogene Daten auf einem Datenträger speichert.25 Ob die Daten vor der Aufzeichnung zunächst automatisiert ausgewertet worden sind, kann nicht für das Vorliegen eines Eingriffs, sondern allein für die Intensität und damit die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme eine Rolle spielen.26 Nach mittlerweile ganz h.M., die durch die Entscheidung des BVerfG zum Bayerischen Versammlungsgesetz bestätigt worden ist, reicht es für die Annahme eines Personenbezugs bereits aus, wenn (auch Übersichts-) Aufnahmen so beschaffen sind, „dass einzelne Personen identifizierbar sind“.27 Nicht infrage gestellt wird der Eingriff durch Smart Cameras durch die 2009 ergangene Entscheidung des BVerfG zur automatischen Kennzeichenüberwachung. In dieser Entscheidung hat der 1. Senat den automatischen Abgleich von zur Fahndung 19
BVerfGE 120, 378 ff. BVerfGE 122, 342 ff. 21 BVerfG NVwZ 2007, 688. 22 BVerwG NVwZ 2012, 757 ff. 23 Zum Sonderproblem der Überwachung von Hauseingängen siehe OVG Hamburg MMR 2011, 128 (132); Büllesfeld, Polizeiliche Videoüberwachung öffentlicher Straßen und Plätze zur Kriminalitätsvorsorge, 2002, S. 180; VGHBW NVwZ 2004, 498 (501). 24 Grundlegend BVerfGE 65, 1 (43) und seitdem ständige Rechtsprechung, siehe etwa BVerfGE 67, 100 (143); 78, 77 (84); BVerfG NVwZ 2007, 688 (690). 25 S. etwa Enders, in: Heckmann/Schenke/Sydow (Hg.), Festschrift Würtenberger, 2013, 655 (662); Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2005, Rdnr. 606. 26 Dazu unten III. 27 BVerfGE 122, 342 (368 f.); Saurer, DÖV 2008, 17 (21); ohne diese Einschränkung Siegel, NVwZ 2012, 738 (739). 20
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ausgeschriebenen KFZ-Kennzeichen dann nicht als Grundrechtseingriff gewertet, wenn die Daten anonym bleiben und sofort spurlos und ohne die Möglichkeit, einen Personenbezug herzustellen, gelöscht werden.28 Im Grundsatz lässt sich diese Rechtsprechung auch auf die intelligente Videoüberwachung übertragen. Auch nach der Entscheidung zur KFZ-Kennzeichenüberwachung ist die Schwelle zum Grundrechtseingriff allerdings überschritten, wenn ein erfasstes Kennzeichen im Speicher festgehalten wird und gegebenenfalls Grundlage weiterer Maßnahmen werden kann.29 Demzufolge ist von einem Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung auszugehen, wenn ein System zur automatisierten Videoanalyse einen Treffer meldet und dieser im Speicher festgehalten wird. b) Eingriff auch ohne Aufzeichnung Schwieriger zu beurteilen ist der Eingriffscharakter, wenn auf eine Aufzeichnung verzichtet wird und sich die Funktionsweise des Systems darauf beschränkt, einen Alarm auszulösen. Um gleichwohl von einem Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung auszugehen, könnte bei der offenen Videoüberwachung an den sogenannten „Einschüchterungseffekt“ angeknüpft werden.30 Der Topos des Einschüchterungseffekts31 zählt mittlerweile zum gesicherten Bestand der bundesverfassungsrechtlichen Judikatur im Bereich des Sicherheitsrechts. Dessen dogmatische Einordnung und sozialpsychologische Fundierung ist indes alles andere als geklärt.32 Im Volkszählungsurteil formuliert das Bundesverfassungsgericht wie folgt33 : „Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. Wer damit rechnet, daß etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und daß ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Art. 8, 9 GG) verzichten“.
Der Einschüchterungseffekt beruht auf der sozialpsychologischen Annahme, dass eine grundrechtlich geschützte Freiheitsbetätigung möglicherweise unterbleibt, weil
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BVerfGE 120, 378 (399). BVerfGE 120, 378 (399 f.). 30 In diese Richtung wohl Hornung/Desoi, K&R 2011, 153 (156); Murswiek, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 2 Rdnr. 88a. 31 Aus der Rechtsprechung des BVerfG etwa BVerfGE 125, 260 (332, 366, 380); 122, 342 (369); 120, 378 (430); 115, 320 (354 f.); 65, 1 (43); s. a. BVerfG NVwZ 2007, 688 (690). 32 Siehe hierzu Rath, in: KJ (Hg.), Verfassungsrecht und gesellschaftliche Realität, 2009, 65 ff.; sehr kritisch Schwarz, in: Hilgendorf/Eckert (Hg.), FG Knemeyer, 2012, 407 (412 f.); s. jüngst auch Enders, in: Heckmann/Schenke/Sydow (Hg.), Festschrift Würtenberger, 2013, 655 (659 f.). 33 BVerfGE 65, 1 (43). 29
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sich der Grundrechtsträger bei der Ausübung des Grundrechts beobachtet fühlt und aus Angst vor Sanktionen auf die Ausübung seiner Freiheit verzichtet.34 In der Literatur wird daran anknüpfend z. T. die These vertreten, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung müsse mit Rücksicht auf den Einschüchterungseffekt auch Schutz vor bloßen Kameraattrappen35 sowie Übersichtaufnahmen ohne Speicherung36 verbürgen. Die Richtigkeit dieser These unterstellt, wäre folgerichtig auch bei der intelligenten Videoüberwachung ohne Bildaufzeichnung von einem Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung auszugehen. Denn aus Sicht der Überwachten geht von einem intelligenten System zur Videoüberwachung kaum ein geringerer Einschüchterungseffekt als von der konventionellen Technik aus. Zu überzeugen vermag diese Auffassung nicht.37 Sie verwechselt den Schutzbereich mit dem Schutzzweck des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung, d. h. mit der Frage, warum das Bundesverfassungsgericht den geschriebenen Grundrechtskatalog um eine ungeschriebene Gewährleistung ergänzt hat. Demgegenüber bleibt festzuhalten: Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG schützt vor der Erhebung, der Speicherung, der Verarbeitung und Weitergabe personenbezogener Daten, um so möglichen Einschüchterungseffekten vorzubeugen. Nicht hingegen kann es Aufgabe der informationellen Selbstbestimmung sein, vor jeder denkbaren Einschüchterung zu bewahren.38 Ein so verstandenes Grundrecht wiese keine klaren Konturen mehr auf39 und müsste folgerichtig bereits bei jeder Konfrontation mit einem Streifenpolizisten berührt sein. Das bedeutet freilich nicht, dass der Einschüchterungseffekt grundrechtlich ohne Relevanz ist. Vielmehr ist es Sinn und Zweck der informationellen Selbstbestimmung, vor Einschüchterung zu schützen, soweit personenbezogene Daten erhoben, gespeichert und verarbeitet werden. Dem Einschüchterungseffekt, der mit der Datenerhebung verbunden ist, kommt ferner im Rahmen der Rechtfertigung von Eingriffen in die informationelle Selbstbestimmung Bedeutung zu.40 Zudem spricht viel dafür, jedenfalls bei gezielten Einschüchterungen, die die Ausübung einer grundrechtlich geschützten Freiheit unterbinden sollen, Schutz nach Maßgabe des jeweils betroffenen Freiheitsgrundrechts zu gewähren. 34 Angesichts der Bedeutung, der dem Topos des Einschüchterungseffekts in der sicherheitsrechtlichen Judikatur des BVerfG zukommt, ist es erstaunlich, dass es bislang an empirischen Studien fehlt, inwieweit sich der Effekt empirisch belegen lässt (zu Recht kritisch Würtenberger, in: Ruffert (Hg.), Festschrift Schröder, 2012, 285, (304). 35 Siegel, NVwZ 2012, 738 (739); Brink/Völler, LKRZ 2011, 201 (204). 36 Siegel, NVwZ 2012, 738 (739); a.A. aber Waldhoff, JuS 2011, 479 (480). 37 Ablehnend im Ergebnis auch W.-R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2011, Rdnr. 186 Fußn. 465; Lang, BayVBl. 2006, 522 (525). 38 Siehe auch Waldhoff, JuS 2011, 479 (480) zu den inkonsistenten Folgen einer allein subjektiv-individuellen Betrachtung. 39 Siehe auch Schwarz, in: Hilgendorf/Eckert (Hg.), FG Knemeyer, 2012, 407 (412). 40 So überzeugend Enders, in: Heckmann/Schenke/Sydow (Hg.), Festschrift Würtenberger, 2013, 655 (663); Würtenberger, in: Ruffert (Hg.), Festschrift Schröder, 2012, 285 (299).
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Wenn sich eine isolierte Anknüpfung an den Einschüchterungseffekt verbietet, kann und muss bei einem intelligenten System wohl aber aus einem anderen Grund von einem Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung ausgegangen werden. Dies muss jedenfalls für Systeme zur gezielten Identifikation von Personen gelten, bei denen der Polizei im Trefferfall der Aufenthaltsort der gesuchten Person bekannt wird.41 Richtigerweise dürfte aber auch bei verhaltensbezogenen Suchalgorithmen, die gefährliche Situationen und gefahrenverdächtige Verhaltensweisen detektieren wollen, von einem Eingriff auszugehen sein. Eine Alarmierung durch ein System der intelligenten Videoüberwachung setzt jeden Passanten innerhalb des überwachten Areals dem Verdacht aus, sich in der Weise verhalten zu haben, auf die das System programmiert ist. Damit erhebt ein intelligentes System zur Videoüberwachung – auch ohne Aufzeichnung – personenbezogene Daten über die Überwachten, was einen Eingriff in Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG begründet. 2. Weitere Freiheitsrechte Die polizeiliche Videoüberwachung kann neben Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG auch noch in weitere Freiheitsrechte eingreifen, wenngleich über die dogmatische Begründung im Einzelnen noch Unsicherheit besteht. So zieht das BVerfG in seiner Eilentscheidung zum Bayerischen Versammlungsrecht vorrangig Art. 8 GG als Prüfungsmaßstab heran und lässt die Frage offen, ob daneben von einem Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung auszugehen ist.42 Mit Rücksicht auf die Differenzierungen im Schrankenregime des Grundrechtskatalogs spricht viel dafür, eine polizeiliche Datenerhebung, die gezielt an die Ausübung eines Grundrechts anknüpft, vorrangig an dem speziellen Freiheitsgrundrecht zu messen. Dies erscheint geboten, da der Schutz des speziellen Grundrechts nicht hinter Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG zurückbleiben darf.43 Von einem eigenständigen Eingriff durch den Einschüchterungseffekt kann hingegen nur ausgegangen werden, wenn dieser eine Intensität erreicht, welche die Schwelle mittelbarer Grundrechtseingriffe erreicht. Auch dann dürfte dieser Eingriff regelmäßig durch jenen Eingriff in das Freiheitsrecht konsumiert werden, bei dessen Ausübung gezielt personenbezogene Daten erhoben werden.44
41 Siehe auch Hornung/Desoi, K&R 2011, 153 (155); Roßnagel/Desoi/Hornung, DuD 2011, 694 (696). 42 BVerfGE 122, 342 (359). 43 A.A. aber jüngst Enders, in: Heckmann/Schenke/Sydow (Hg.), FS Würtenberger, 2013, 655 (662 f.), der allein Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG als Prüfungsmaßstab heranziehen will. 44 Siehe dazu auch Schenke, in: Graulich/W.-R. Schenke/Ruthig (Hg.), Polizeirecht des Bundes, 2013 i.E, § 26 BPolG Rdnr. 13.
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III. Gleichheitsrechtliche Einordnung Ein Algorithmus zur automatisierten Mustererkennung ist nicht in der Lage, gefährliche Situationen oder eine Person unmittelbar zu erkennen. Vielmehr muss sich ein System zur intelligenten Videoüberwachung an äußeren Merkmalen orientieren, die Rückschlüsse auf eine Gefahrenlage bzw. die Anwesenheit einer Person zulassen. Insoweit gilt letztlich nichts anderes als für den menschlichen Beobachter. Auch dieser orientiert sich zunächst an Hilfstatsachen, von deren Vorliegen bzw. Nichtvorliegen auf eine polizeirechtliche Gefahr oder die Identifikation einer Person geschlossen wird. Das klassische Beispiel hierfür ist die Personenbeschreibung in einem polizeilichen Steckbrief, die nicht nur den Gesuchten, sondern jeden, der die aufgelisteten Merkmale verwirklicht, dem Risiko aussetzt, in einen unberechtigten Verdacht zu geraten. Die Notwendigkeit, sich bei der automatisierten Mustererkennung an äußeren Merkmalen zu orientieren, wirft in verschiedener Hinsicht neuwertige gleichheitsrechtliche Fragen auf.45 Zwar zeigen empirische Untersuchungen, dass auch bei der herkömmlichen Technologie eine Tendenz zu einer selektiven Überwachung besteht, die von Vorurteilen des Überwachungspersonals gegen ethnische und soziale Gruppen geprägt wird.46 Die intelligente Videoüberwachung bietet einerseits die Chance, solche Effekte auszuschalten. Sie birgt aber andererseits das Risiko in sich, Stereotypen und Vorurteile bereits in die technische Infrastruktur einzuschreiben.47 1. Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes durch systematische Diskriminierung erlaubter Verhaltensweisen Angesichts des derzeitigen Standes der technischen Entwicklung können intelligente Systeme zur Videoüberwachung nur eine relativ grobe Vorselektion potentiell gefährlicher Situationen vornehmen. In nicht wenigen Fällen wird eine Situation, die das System als auffällig registriert, unverdächtig sein. Wenn ein System zur intelligenten Videoüberwachung beispielsweise Personen fokussiert, die sich signifikant schneller oder langsamer durch den öffentlichen Verkehrsraum bewegen, kann das die Chance bieten, auf ein Überfallopfer und einen rasch flüchtenden Täter aufmerksam zu werden. Zumeist dürfte ein so programmiertes System indes allein Passanten registrieren, deren Abweichung vom üblichen Bewegungsmuster sozialadäquat ist.
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Vgl. dazu auch Hornung/Desoi, K&R 2011, 153 (156). Vgl. dazu die Nw. bei Apelt/Möllers, Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, 2011, 585 (590) sowie Stutzer/Zehnder, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 2009, 119 (130). 47 Instruktiv Apelt/Möllers, Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, 2011, 585 (590). 46
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a) Ungleichbehandlung Die Beobachtung dieser Personen als Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu bewerten, setzt eine Ungleichbehandlung, d. h. eine unterschiedliche Behandlung zweier vergleichbarer Sachverhalte voraus.48 Zudem muss die Ungleichbehandlung für den Betroffenen zu einem Nachteil führen.49 Die Ungleichbehandlung durch die intelligente Videoüberwachung ist darin zu sehen, dass im Trefferfall die fokussierten Personen einer besonderen polizeilichen Beobachtung ausgesetzt sind, von der andere Passanten verschont bleiben. Diese Beobachtung wird von den Betroffenen zwar nicht ausnahmslos, aber doch vielfach als Benachteiligung empfunden werden. Das gilt jedenfalls dann, wenn das System nicht auf die Identifizierung des Verhaltensmusters potentieller Opfer, sondern potentieller Täter programmiert ist. Für die Qualifikation als Benachteiligung spielt es zunächst auch keine Rolle, dass der Nachteil eher als geringfügig anzusehen ist.50 Im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG wird eine Ungleichbehandlung indes erst dann relevant, wenn eine unterschiedliche Behandlung vergleichbarer Sachverhalte vorliegt.51 Damit ist der allgemeine Gleichheitssatz von einem diesem vorausliegenden Vergleichsmaßstab abhängig52,53. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts klingt dies in der Formel an, die Vergleichbarkeit sei zu verneinen, wenn die Sachverhalte unterschiedlichen „rechtlichen Ordnungsbereichen angehören und in anderen systematischen und sozial-geschichtlichen Zusammenhängen stehen“.54 Nicht als Ungleichbehandlung anzusehen wäre es daher, wenn ein System zur intelligenten Videoüberwachung mit absoluter Sicherheit Situationen nach Gefährlichkeit unterscheiden könnte. Da sich gefährliche kategorial von ungefährlichen Situationen unterscheiden, würde es hinsichtlich einer vermeintlichen Diskriminierung von Personen in gefährlichen Situationen bereits an vergleichbaren Sachverhalten fehlen. Tatsächlich und vermutlich auch noch auf unabsehbare Zeit werden intelligente Systeme zur Auswertung von Videodaten indes eine hohe Fehlerhäufigkeit 48 Vgl. etwa BVerfGE 4, 144 (155); 78, 104 (121); Sodan, in: Sodan, GG, 2. Aufl. 2011, Art. 3 Rdnr. 3 m. w. Nw. 49 BVerfGE 67, 239 (244); Osterloh, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 3 Rdnr. 84; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 3 Rdnr. 9. 50 BVerfGE 71, 39 (50); Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 3 Rdnr. 11. 51 Vgl. etwa Sodan, in: Sodan, GG, Art. 3 Rdnr. 10. 52 Vgl. nur Englisch, in: Stern/Becker (Hg.), Grundrechte-Kommentar, 2010, Art. 3 Rdnr. 22 ff. 53 In besonderer Deutlichkeit zeigt sich dies etwa im Steuerrecht. Dort fordert der allgemeine Gleichheitssatz in seiner Konkretisierung durch das sogenannte Leistungsfähigkeitsprinzip gerade eine unterschiedliche, der jeweiligen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entsprechende Steuerbelastung (BVerfGE 93, 121 (134); Birk, Steuerrecht, 15. Aufl. 2012, Rdnr. 188), wohingegen eine Steuer, die sämtlichen Steuerpflichtigen die gleiche absolute Steuerlast auferlegt, als verfassungswidrige Kopfsteuer angesehen wird (Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 273 ff.). 54 BVerfGE 40, 121 (139 ff.); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rdnr. 7.
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aufweisen. In den polizeirechtlichen Kategorien dürfte zumeist weder von einer Gefahr, einer Anscheinsgefahr noch einem Gefahrenverdacht auszugehen sein. Deshalb muss der Einsatz der Technik hinsichtlich der Personen, die „unberechtigt“ in den Fokus der Überwachung geraten, gerechtfertigt werden. b) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung Eine Ungleichbehandlung führt erst dann zu einer Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes, wenn die Ungleichbehandlung nicht durch einen „hinreichend gewichtigen Grund“ gerechtfertigt ist.55 Als Rechtfertigungsgrund kommt jede vernünftige Erwägung in Betracht.56 Bei der intelligenten Videoüberwachung kann sich der Gesetzgeber auf die staatlichen Schutzpflichten berufen, die Begehung und Vollendung von Straftaten zu verhindern.57 Die Anforderungen, die an den „hinreichend gewichtigen Grund“ zu stellen sind, sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts immer weiter ausdifferenziert worden. Während der allgemeine Gleichheitssatz in den Anfängen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts allein vor willkürlichen Differenzierungen schützte,58 sind die Prüfungsanforderungen mit der Wendung zur „neuen Formel“ erhöht worden, die mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verschränkt wurde. Eine Intensivierung der Kontrolle ist geboten, wenn verschiedene Personengruppen und nicht nur verschiedene Sachverhalte ungleich behandelt werden.59 Umgekehrt kann der Kontrollmaßstab zurückgenommen werden, wenn die Ungleichbehandlung nur mit einer geringfügigen Benachteiligung verbunden ist. Selbst wenn man von einer relativ strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung ausgeht, dürften gegen einen Einsatz intelligenter Systeme zur Videoüberwachung unter dem Aspekt des allgemeinen Gleichheitssatzes keine durchgreifenden Bedenken bestehen. An der mangelnden Eignung würden solche Systeme erst dann scheitern, wenn zwischen den vom System angezeigten Treffern und den tatsächlich „gefährlichen“ Situationen keinerlei Korrelation mehr besteht. Unter diesen Voraussetzungen ist es ausgeschlossen, die systematischen Benachteiligungen, die mit jedem System zur intelligenten Videoüberwachung verbunden sind, durch den hiermit verbundenen Sicherheitsgewinn aufzuwiegen. Ob der Einsatz eines derartigen Systems erforderlich ist, wird man hingegen weitgehend dem gesetzgeberischen bzw. polizeitaktischen Ermessen zu überlassen haben. Schwieriger gestaltet sich die Beurteilung der Angemessenheit des Einsatzes. Für die Angemessenheit des Einsatzes streitet, 55
BVerfGE 100, 138 (174). BVerfGE 71, 39 (58); 75, 108 (157). 57 Zur Bedeutung der Schutzpflichten im Polizeirecht nur Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, Rdnr. 23 ff. 58 BVerfGE 1, 14 (52). 59 BVerfGE 91, 346 (362 f.); 99, 341 (355 f.); 103, 310 (318 f.); 116, 135 (160); Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 3 Rdnr. 19. 56
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dass der mit einem „Anschlagen“ des Systems verbundene Nachteil relativ gering ist, weil er lediglich in der Fokussierung der Aufmerksamkeit des Überwachungspersonals besteht. Gleichwohl kann sich der Einsatz eines Suchalgorithmus als unangemessen erweisen, wenn eine Personengruppe einem erhöhten Überwachungsdruck ausgesetzt ist, sich die ausgewiesenen Treffer aber als überwiegend irrelevant erweisen. 2. Die Sonderproblematik spezieller Diskriminierungsverbote (Art. 3 Abs. 2, 3 GG) Dies gilt in ganz besonderer Weise, wenn Suchalgorithmen an Merkmale anknüpfen, die Gegenstand des besonderen Diskriminierungsverbots des Art. 3 Abs. 2, 3 GG sind. Denkbar ist eine derartige Anknüpfung beispielsweise, wenn Täter wie Opfer eines Delikts typischerweise Angehörige einer bestimmten Personengruppen sind. Ein Beispiel hierfür könnten etwa gegen Behinderte oder Menschen dunkler Hautfarbe verübte Gewalttaten durch Angehörige der rechten Szene sein, deren Weltanschauung sich in einem gruppenspezifischen Dresscode manifestiert. Um auf derartige Taten aufmerksam zu werden, könnte es sinnvoll sein, einen Suchalgorithmus auf besondere Merkmale der Täter- wie der Opfergruppe zu programmieren. Im Grundsatz sind damit ähnliche Fragen aufgeworfen, wie sie bereits im vorherigen Abschnitt diskutiert worden sind. Entgegen erstem Anschein muss die Anknüpfung an eines der in Art. 3 Abs. 2, 3 GG aufgeführten Merkmale nicht per se zur Verletzung der besonderen Gleichheitsrechte führen.60 Möglich bleibt auch im Anwendungsbereich der besonderen Diskriminierungsverbote eine Rechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht,61 wobei die verfassungsimmanenten Grenzen im Rahmen einer „strengen“ Verhältnismäßigkeitsprüfung zu konkretisieren sind.62
IV. Zulässigkeit de lege lata Bereits im derzeitigen Experimentierstadium stellt sich die Frage, ob Assistenzsysteme zur intelligenten Videoüberwachung auf Basis der bestehenden Rechtsgrundlagen eingesetzt werden können. Mit durchaus beachtlichen Unterschieden im Detail63 erlauben die Polizeigesetze der Länder durchgehend die Anfertigung
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Für eine Unterbindung der Analyse entlang diskriminierender Äußerlichkeiten wie Hautfarbe, Alter oder Geschlecht aber wohl Hornung/Desoi, K&R 2011, 153 (156). 61 Vgl. BVerfGE 114, 357 (364); 92, 91 (109); Sodan, in: Sodan, GG, Art. 3 Rdnr. 24; Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rdnr. 254. 62 So Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rdnr. 254. 63 Vgl. den Überblick bei Petri, in: Lisken/Denninger (Hg.), 5. Aufl. 2012, H Rdnr. 197 ff.
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von Bild- und Tonaufnahmen von Personen an besonders gefährdeten Orten.64 In Anlehnung an § 8b MEPolG gestatten die Polizeigesetze ferner vielfach eine Videoüberwachung bei öffentlichen Veranstaltungen, Ansammlungen und Versammlungen.65 Jedenfalls vordergründig könnte auch die intelligente Videoüberwachung auf diese Eingriffsgrundlagen gestützt werden.66 Eine Voraussetzung für den Einsatz wäre, dass es sich bei diesen Ermächtigungsgrundlagen um eine hinreichend normenklare und bereichsspezifische Regelung handelt, die zum Einsatz von Smart Cameras legitimiert. Dies hängt wiederum entscheidend von der oben diskutierten Frage der Grundrechtsrelevanz der intelligenten Videoüberwachung ab.67 Ebenso wie die herkömmliche Videoüberwachung zielt auch eine Überwachung mit Hilfe von Smart Cameras auf eine Beobachtung bzw. im Fall der Aufzeichnung auf eine Speicherung personenbezogener Daten ab. Ein Unterschied zur traditionellen Videoüberwachung besteht zunächst nur insoweit, als die intelligente Videoüberwachung solche Daten ausfiltert, die als sicherheitsrechtlich irrelevant angesehen werden. Angesichts dieser Vorselektion könnte man auf den ersten Blick sogar geneigt sein, im Vergleich zur herkömmlichen Videoüberwachung von einem milderen und grundrechtsschonenderen Mittel der polizeilichen Informationserhebung auszugehen:68 Während mittels der herkömmlichen Videoüberwachung potentiell jeder Vorgang im Überwachungsbereich der Kameras beobachtet bzw. aufgezeichnet wird, beschränkt sich die intelligente Videoüberwachung auf die Überwachung potentiell sicherheitsrelevanter Vorgänge. Eine derartige Betrachtung greift freilich in verschiedener Hinsicht zu kurz. Zwar bietet die neue Technik die Chance einer sparsameren Datenerhebung, die sich auf sicherheitsrelevante Vorgänge beschränkt. Umgekehrt birgt sie aber auch das Potential einer erheblichen Ausweitung bestehender Überwachungsmöglichkeiten in sich. Einleuchtend ist das jedenfalls in quantitativer Hinsicht. Erfolgt die Auswertung automatisiert, können die faktischen Grenzen gesprengt werden, die der herkömmlichen Videoüberwachung durch den hohen Personalaufwand bei der Auswertung ge-
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Vgl. z. B. Art. 32 Abs. 3 BayPAG; § 21 Abs. 2 PolG BW; § 15a PolG NRW; ausführlich hierzu Collin, JuS 2006, 494 ff. 65 Vgl. z. B. Art. 32 Abs. 1 BayPAG; § 21 Abs. 1 PolG BW; § 15 PolG NRW; Art. 9 BayVersG. 66 So für § 27 BPolG, der „selbsttätige“ so aber Drewes, in: Drewes/Malmberg/Walter (Hg.), BPolG, 4. Aufl. 2008, § 27 Rdnr. 4; v. Zezschwitz, in: Roßnagel (Hg.), Handbuch Datenschutzrecht, 2003, Abschn. 9.3 Rdnr. 41; differenzierend für die intelligente Videoüberwachung Roßnagel/Desoi/Hornung, DuD 2011, 694 (700, 701). 67 Vgl. dazu oben III. und IV. 68 Vgl. dazu auch Würtenberger (Fn. 9), S. 3 f.
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setzt sind.69 Erhebliche Unterschiede bestehen auch mit Rücksicht auf den Einschüchterungseffekt. Eine Überwachung, die mittels automatisierter Videoüberwachung erfolgt, wird in aller Regel als bedrohlicher als eine herkömmliche Videoüberwachung empfunden werden. Dies gründet einmal in ihrer höheren Effektivität,70 aber auch auf der Unsicherheit, welche Verhaltensweisen ausgefiltert und welche anderen dem Überwachungspersonal als Treffer zur näheren Begutachtung weitergemeldet werden. Wie oben gezeigt wurde, wirft die neue Technik ferner neuartige gleichheitsrechtliche Probleme auf. Die hiermit zusammenhängenden Fragen sind bei der Schaffung der Eingriffsgrundlagen für die herkömmliche Videoüberwachung noch nicht mitbedacht worden. Der Vorbehalt des Gesetzes verlangt es aber, dass der Gesetzgeber die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen im Wesentlichen selbst zu treffen hat.71 Dies ist gleichermaßen ein Gebot des Demokratie- wie des Rechtsstaatsprinzips.72 Auch wenn der Wortlaut der derzeit geltenden Rechtsgrundlagen theoretisch den Einsatz intelligenter Systeme zur Videoüberwachung zulassen würde, so steht dem damit das Erfordernis einer hinreichend normenklaren und bereichsspezifischen Regelung entgegen, das in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerade im Anwendungsbereich der informationellen Selbstbestimmung besonders stark akzentuiert worden ist.73
V. Kompetenzfragen der intelligenten Videoüberwachung Nach Inkrafttreten der Rechtsgrundlagen für die herkömmliche Videoüberwachung in den Polizeigesetzen der Länder setzte in der Literatur eine Diskussion der Frage ein, ob der verfassungsrechtlich zutreffende Standort entsprechender Regelungen nicht vielmehr die Strafprozessordnung sei.74 Ausgangspunkt der Kritik ist ein vermeintlicher kompetenzrechtlicher „Etikettenschwindel“: Tatsächlich dient der auf die präventivpolizeilichen Rechtsgrundlagen gestützte Einsatz der Videoüberwachungstechnik im Regelfall nicht der Verhinderung von Straftaten, sondern vorwiegend deren Aufklärung. Bezeichnenderweise verweist etwa die Gesetzesbegründung zur Videoüberwachung von Veranstaltungen und Ansammlungen durch 69 Zur eingriffsvertiefenden Bedeutung der Automatisierung einer Datenerhebung BVerfGE 120, 378 (398). 70 Vgl. auch Roßnagel/Desoi/Hornung, DuD 2011, 694 (698). 71 SächsVerfGH LKV 1996, 273 (285); BVerfGE 83, 130 (142). 72 Vgl. etwa Würtenberger/Schenke, JZ 1999, 548 (549 f.). 73 BVerfGE 65, 1 (44); 120, 274 (315 ff.); 118, 168 (186 ff.); 113, 348 (375); 100, 313 (359 f., 372). 74 Roggan, NVwZ 2011, 134 (138 f.); kritisch auch Zöller, NVwZ 2005, 1235 (1238 ff.); Fetzer/Zöller, NVwZ 2007, 777 (778); zuletzt Zöller, NJW-aktuell 32/2010, 11 (12).
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die Bundespolizei darauf, dass die Datenerhebung über Veranstaltungsteilnehmer zu dem Zweck erfolge, befürchtete Gefahren noch zu verhindern oder bei eingetretenen Störungen erfolgreich gegen die Verantwortlichen vorgehen zu können.75 Damit sei der vermeintlich präventivpolizeiliche Einsatz der Videoüberwachungstechnik in Wahrheit dem Kompetenztitel des gerichtlichen Verfahrens nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zuzuordnen, für das allein der Bund zuständig sei.76 Entsprechende Einwände könnten auch gegenüber der intelligenten Videoüberwachung auf Ebene der Länder erhoben werden. Berechtigt sind diese indes noch weniger als gegenüber der konventionellen Technik.77 Die Kritik übersieht, dass der Bund gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG nicht über eine ausschließliche, sondern nur über eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für das gerichtliche Verfahren verfügt. Diese schließt zwar nicht nur das gerichtliche Verfahren im engeren Sinne, sondern auch sein unmittelbares Vorfeld ein.78 Für das strafgerichtliche Verfahren erstreckt sich der Kompetenztitel damit über die Aufklärung, Ermittlung und Verfolgung von Straftaten hinaus auch auf die Vorsorge für die Verfolgung künftiger Straftaten.79 Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz entfaltet eine bundesrechtliche Regelung allerdings nur insoweit Sperrwirkung, als der Bund eine Materie abschließend geregelt hat. Hiervon kann für die Videoüberwachung zur Strafverfolgung nicht ausgegangen werden. Zwar sieht die StPO in § 100h Abs. 1 Nr. 1 StPO die Herstellung von Bildaufnahmen vor, die auch ohne Wissen der Betroffenen außerhalb von Wohnungen angefertigt werden können. Nach § 100h Abs. 2 Satz 1 StPO dürfen sich entsprechende Maßnahmen allein gegen den Beschuldigten richten,80 was einen konkreten Tatverdacht voraussetzt. Der entsprechenden Regelung wird man indes nicht entnehmen können, dass der Bundgesetzgeber mit § 100h Abs. 1 Nr. 1 StPO den Einsatz von Videoüberwachungstechnik abschließend für den gesamten Bereich des gerichtlichen Verfahrens einschließlich der Strafverfolgungsvorsorge regeln wollte. Für die Annahme einer abschließenden Regelung fehlt es an entsprechenden Anhaltspunkten, da die StPO im Bereich der Strafverfolgungsvorsorge nur ganz punktuelle Eingriffsbefugnisse enthält. Dazu gehören u. a. die Aufnahme von Lichtbildern und Fingerabdrücken zu Zwecken des Erkennungsdienstes (§ 81a StPO) sowie die Speicherung, Veränderung und Nutzung personenbezogener Daten für Zwecke künftiger Strafverfahren (§ 481 Abs. 1 StPO).81 Dass diese Befugnisse nicht abschließend 75
BR-Drs. 418/94, S. 5. Zöller, NJW-aktuell 32/2010, 11 (12). 77 Vgl. etwa W.-R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 185; nunmehr auch BVerwG NVwZ 2012, 757 (759). 78 BVerfGE 30, 1 (29); Seiler, in: BeckOK, 17. Ed. 2013, Art. 74 GG, Rdnr. 11. 79 BVerfGE 113, 348 (369); 103, 21 (30 f.); BVerwG NVwZ 2012, 757 (760). 80 Statt vieler nur Wolter, in: SK-StPO, 4. Aufl. 2010, § 100h Rdnr. 7. 81 BVerwG NVwZ 2012, 757 (761). 76
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sind, wird zudem durch § 484 Abs. 4 StPO indiziert. Danach richtet sich die Verwendung personenbezogener Daten, die für Zwecke künftiger Strafverfahren in Dateien der Polizei gespeichert sind oder gespeichert werden, nach den Polizeigesetzen, soweit die Daten nicht für Zwecke eines konkreten Strafverfahrens verwendet werden.82 Damit setzt die Vorschrift jedenfalls implizit eine Befugnis der Landespolizeibehörden voraus, personenbezogene Daten für Zwecke der Strafverfolgungsvorsorge zu erheben. Selbst wenn der Bund von der ihm zustehenden Kompetenz, den Einsatz der Videoüberwachungstechnik zu Zwecken der Strafverfolgungsvorsorge abschließend zu regeln, Gebrauch gemacht hätte, müsste dies allerdings noch nicht notwendigerweise die Unauflöslichkeit einer auf landesrechtlichen Rechtsgrundlagen gestützten Videoüberwachung bedeuten. Zulässig bliebe diese nach wie vor im Bereich der Gefahrenvorsorge.83 Zielrichtung der Aufzeichnung wäre es dann allein, Vorsorge für die Abwehr zukünftiger Straftaten zu treffen. Ein praktisches Anwendungsfeld könnte insbesondere die Abwehr terroristischer Anschläge sein, was auf Bundesebene auch im Fokus des § 27 BPolG steht.84 Mit Hilfe von Videoaufzeichnungen können nicht nur Täter ermittelt werden, sondern es kann zugleich verhindert werden, dass sich vergleichbare Anschläge am gleichen oder anderen Orten wiederholen. Dass Strafverfolgungsvorsorge und Gefahrenabwehrvorsorge insoweit weitgehend Hand in Hand gehen, ändert nichts daran, dass beide Bereiche voneinander zu unterscheiden sind. Den Ländern darf ein präventivpolizeilicher Einsatz der Videoüberwachung daher auch dann nicht verwehrt werden, sofern der Bund hierauf im Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zu Zwecken der Strafverfolgungsvorsorge bewusst verzichten sollte. Wenn die kompetenzrechtlichen Einwände gegen die bestehenden Rechtsgrundlagen in den Landespolizeigesetzen nicht zu überzeugen vermögen, muss dies erst recht für die neuen Formen der polizeilichen Videoüberwachung gelten. Diese sollen in der Lage sein, potentielle Gefahrenlagen frühzeitig zu erkennen. Sollten sich diese bewahrheiten, könnte die Videoüberwachung wohl erstmals einen glaubwürdigen Beitrag zur Prävention von Kriminalität leisten.85 Damit würden sich die Landesgesetzgeber nicht mehr im Bereich der konkurrierenden Bundeskompetenz für das gerichtliche Verfahren (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG), sondern im Bereich ihrer originären Gesetzgebungszuständigkeit für die polizeiliche Gefahrenabwehr und die Gefahrenvorsorge86 bewegen.
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Gieg, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl. 2008, § 484 Rdnr. 5; Wittig, in: BeckOK, 15. Ed. 2012, § 484 StPO, Rdnr. 6. 83 Siehe auch BVerwG NVwZ 2012, 757 (759); VGHBW NVwZ 2004, 498 (499). 84 BT-Drs. 16/7148, S. 5. 85 Vgl. auch Roßnagel/Desoi/Hornung, DuD 2011, 694 zur „signifikant höheren Effektivität“ der intelligenten im Vergleich zur konventionellen Videoüberwachung. 86 VGHBW NVwZ 2004, 498 (499).
Videoüberwachung 2.0 auf dem Prüfstein des Grundgesetzes
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VI. Ausblick zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen de lege lata Der Sicherheitsgewinn, der mit der intelligenten Videoüberwachung verbunden ist, könnte beträchtlich sein und mit einer fortschreitenden Technik zugleich die Menge der erhobenen Daten deutlich gegenüber dem Ist-Zustand reduzieren. Auf der anderen Seite ist nicht zu verkennen, dass die Technik ein nicht unerhebliches Missbrauchsrisiko in sich birgt, zumal die sozialpsychologischen Wirkungen, die von den neuen Formen der Videoüberwachung ausgehen, noch weitgehend unerforscht sind. Zum Ausgleich der miteinander konkurrierenden Belange ist auf die im Grundsatz bewährten Strukturen des Sicherheitsverfassungsrechts zurückgreifen. Hierzu gehören der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der Grundsatz des Grundrechtsschutzes durch Organisation und Verfahren, das Erfordernis einer normenklaren und bereichsspezifischen Regelung sowie die Garantie der Unantastbarkeit eines Kernbereichs der Persönlichkeitsentfaltung.87 Unabdingbare Voraussetzung für den Einsatz der automatisierten Mustererkennung ist eine hinreichend bestimmte und normenklare Regelung, welche die Landesgesetzgeber dazu zwingt, die politische Verantwortung für den Einsatz der neuartigen Technologie zu übernehmen. Wünschenswert sind daher eine zeitliche Befristung, Evaluationsklauseln sowie Behördenleitervorbehalte, sodass auch der konkrete Einsatz der Systeme vor Ort im Einzelfall durch die Behördenleitung politisch verantwortet werden muss. Mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die derzeit nur schwer abzuschätzenden Wirkungen müssen die Einsatzfelder limitiert werden. Ob dies vorwiegend in zeitlicher, räumlicher oder in Anknüpfung an besonders gefahrgeneigte Verhaltensweisen geschieht, dürfte nur bedingt verfassungsrechtlich vorgegeben sein. Um unzulässige Diskriminierung zu vermeiden, ist es ferner verfassungsrechtlich geboten, im Gesetzestext die Grenzen nachzuzeichnen, die mit Blick auf Art. 3 GG zu beachten sind. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Tendenz unverkennbar, neuartige Überwachungstechniken nur unter strengen Voraussetzungen zuzulassen. Ein großes Verdienst dieser Rechtsprechung ist es, die Freiheitlichkeit der Sicherheitsverfassung ungeachtet neuer sicherheitspolitischer Herausforderungen bewahrt zu haben. Gegenüber dem mitunter hektischen Aktionismus der Politik, die unter dem Eindruck aktueller Tagesereignisse Handlungsfähigkeit demonstrieren muss, wirkt Karlsruhe damit wie ein heilsames, retardierendes Moment. Kehrseite der Judikatur ist freilich ein seinerseits nicht unbedenklicher richterlicher Aktionismus. Aus einer funktionsrechtlichen Perspektive erscheint es fragwürdig, dass das Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde im Sicherheitsrecht nahezu vollständig entwertet hat. Dies hat zur Folge, dass über neue Sicherheitstechnologien, wie beispielsweise die automatisierte 87 Instruktiv zu den Entwicklungslinien und der Kritik an der Karlsruher Rechtsprechung Würtenberger, in: Ruffert (Hg.), Festschrift Schröder, 2012, 285 ff.
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Ralf P. Schenke
Kennzeichenüberwachung88, die Vorratsdatenspeicherung89 oder die sogenannte Online-Durchsuchung90, bereits zu einem Zeitpunkt verfassungsrechtlich entschieden worden ist, zu dem noch keine praktischen Erfahrungen im Umgang mit den neuartigen Instrumenten vorlagen. Damit wird durch vorzeitige verfassungsrechtliche Festlegungen die Chance vertan, derartige Instrumente in einem Prozess von Trial and Error zu optimieren und den gebotenen Freiheitschutz mit den konkurrierenden sicherheitsrechtlichen Anforderungen zu einem wirklich optimalen Ausgleich zu bringen.91 Missachtet wird ferner die föderale Ordnung der Sicherheitsverfassung des Grundgesetzes. Deren Zweck kann kaum darin liegen, sicherheitspolitische Gestaltungsspielräume durch vermeintlich zwingende Vorgaben des Karlsruher Richterrechts einzuebnen, sondern gebietet, über die richtige Sicherheitspolitik in den Landesparlamenten demokratisch zu entscheiden. Vor diesem Hintergrund ist bei der vorschnellen Formulierung der verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine intelligente Videoüberwachung Vorsicht angebracht, weil sich das gebotene Schutzniveau auf unterschiedlichem Wege umsetzen lässt. Dessen ungeachtet ist die Politik gut beraten, von den neuen technischen Möglichkeiten nur mit äußerster Behutsamkeit Gebrauch zu machen. Vergleichsweise unproblematisch sind hier allein Systeme, die nicht auf eine Identifizierung von Personen angelegt sind, also beispielsweise Assistenzsysteme, die bei Großveranstaltungen vor Massenpaniken warnen sollen. Einer räumlichen Ausweitung der Überwachung, die Smart Cameras technisch und finanziell ermöglichen könnte, setzt hingegen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz deutliche Grenzen. Denkbar und verfassungsrechtlich vertretbar erscheint dies allein zur Abwehr schwerster Formen der Kriminalität mit erheblichem Schadenspotential, wobei für andere Formen der Kriminalität oder gar Ordnungswidrigkeiten rigide Verwertungsverbote vorzusehen sind. Mit Blick auf die diskriminierenden Wirkungen, die von Systemen der automatisierten Videoüberwachung ausgehen, wird sich ein Verstoß gegen Art. 3 GG nur vermeiden lassen, wenn die Verwertung von Zufallsfunden deutlich eingeschränkt wird. Auch wenn an dieser Stelle nicht auf Einzelheiten eingegangen werden kann, dürfte bereits eines deutlich geworden sein: Ein verfassungsrechtlich und ethisch vertretbarer Einsatz der Technik setzt eine kritische und zugleich konstruktive Begleitung durch die Rechtswissenschaft voraus. Hierfür haben Arbeiten des Jubilars stets vorbildgebend und maßstabsetzend gewirkt und ihre Ausstrahlungswirkung weit über den Bereich des Strafprozessrechts hinaus entfaltet.
88
BVerfGE 120, 378. BVerfGE 125, 260. 90 Siehe VGHBW NVwZ 2004, 498 (499). 91 Kritisch Schenke, in: Heckmann/Schenke/Sydow (Hg.), Festschrift Würtenberger, 2013, 1079 (1092). 89
Persönlichkeitsschutz des Zeugen im Strafverfahren Von Heinz Schöch Jürgen Wolter hat bei vielen straf- und strafprozessrechtlichen Fragen seine scharfsinnige Argumentation auf verfassungsrechtliche Prinzipien und die Grundrechtsbindung der Gesetzgebung und Rechtsprechung gestützt.1 Dies ist ihm eindrucksvoll auch in einem Werk gelungen, an dem wir beide mitgewirkt haben und bei dessen Entstehung und Gestaltung er maßgeblich beteiligt war: dem 1996 erschienenen Alternativ-Entwurf Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmefreiheit (AE-ZVR).2 Der von ihm formulierte und begründete § 55 AE-ZVR sieht ein „Zeugnisverweigerungsrecht bei besonders schutzwürdigen Grundrechten“ vor, wenn die Aussage den Zeugen „durch Offenbarung schutzwürdiger Informationen, die insbesondere die Gesundheit oder das Sexualleben betreffen oder die zur Unehre gereichen, bloßstellen würde“ (§ 55 Abs. 2 Nr. 2 AE-ZVR). Es soll sich um ein „relatives Zeugnisverweigerungsrecht“ handeln, das im Einzelfall durch gerichtlichen Beschluss entfallen kann, wenn dies dem Zeugen im Hinblick auf die Bedeutung der Strafsache oder einen Beweisnotstand zugemutet werden kann (§ 55 Abs. 3 AE-ZVR). Besteht bei einer Aussage Lebensgefahr für den Zeugen oder eine andere Person (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 AE-ZVR), die Gefahr der Strafverfolgung für ihn selbst oder einen Angehörigen (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 AE-ZVR) oder würde die „Aussage zur Offenbarung von Informationen aus dem Kernbereich der Persönlichkeitssphäre des Zeugen oder einer anderen Person“ führen (§ 55 Abs. 1 Nr. 3 AE-ZVR), so soll sogar ein absolutes Zeugnisverweigerungsrecht gesetzlich normiert werden.3 Seither gab es beim Zeugenschutz einige gesetzliche Verbesserungen und gerichtliche Entscheidungen. Es ist daher zu prüfen, ob diese den Vorschlag des Jubilars entbehrlich machen oder ob dieser in der rechtspolitischen Diskussion nach wie vor Beachtung verdient.
1
Z. B. Wolter, in: GS Meyer, 1990, S. 493 ff.; ders., NStZ 1993, S. 1 ff.; ders., ZStW 107 (1995), S. 793 ff.; ders., in: FS Küper, 2007, S. 707 ff. 2 Arbeitskreis deutscher, schweizerischer und österreichischer Strafrechtslehrer, Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmefreiheit, 1996 (AE-ZVR). 3 AE-ZVR (Fn. 2), S. 57 ff.
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Heinz Schöch
I. Gesetzliche Regelungen zum Zeugenschutz Der unzureichende Persönlichkeitsschutz des Verletzten, der als Zeuge in der Hauptverhandlung aussagen muss, war eines der zentralen Motive des Gesetzgebers bei der Gestaltung des Opferschutzgesetzes vom 18. 12. 1986, das am 1. 4. 1987 in Kraft trat. In den Jahren zuvor hatte es spektakuläre Strafprozesse in München, Düsseldorf und Berlin gegeben,4 in denen Zeuginnen vom Angeklagten oder seinem Verteidiger mit Fragen zu ihrem Sexualleben oder zu Einzelheiten ihrer Intimbeziehungen „genüsslich ausgequetscht“ oder „durch die Mangel gezogen wurden.“5 Dies war nicht nur von Opferverbänden und Frauenorganisationen kritisiert worden, sondern auch von angesehenen Strafverteidigern,6 Richtern,7 und Ministerialbeamten aus der Justiz8. Deshalb wurden im Opferschutzgesetz vom 18. 12. 1986 in § 68a Abs. 1 StPO erstmalig Fragen nach Tatsachen, die den „persönlichen Lebensbereich“ des Zeugen oder eines Angehörigen betreffen, nur bei Unerlässlichkeit zugelassen. Zuvor galt dies nur für Fragen, die dem Zeugen oder dessen Angehörigen „zur Unehre gereichen“. Im 2. Opferrechtsreformgesetz vom 29. 7. 2009 wurde dann die Zulässigkeit sog. Generalfragen zur Glaubwürdigkeit des Zeugen in der vorliegenden Sache, insbesondere nach seinen Beziehungen zum Beschuldigten oder der verletzten Person, die bereits bei Erforderlichkeit zulässig sind, aus systematischen Gründen von § 68 Abs. 4 StPO in § 68a Abs. 2 S. 1 StPO überführt. Eine Einschränkung gegenüber dem bisher in § 68 Abs. 4 StPO normierten Umfang des Fragerechts soll nach der Begründung des Gesetzesentwurfs damit nicht verbunden sein.9 Die Frage, ob die Platzierung im Anschluss an § 68a Abs. 1 StPO eventuell zu einer Ausweitung des Fragerechts bezüglich des persönlichen Lebensbereichs führen könne, wurde in den Gesetzesmaterialien und in der Literatur bisher nicht erörtert. Da § 68a Abs. 2 S. 1 StPO aber als Erweiterung des Fragerechts zum persönlichen Lebensbe4
Zum „Gynäkologenprozess“ in Berlin (1984 – 1986) und „Silvia“-Prozess in Düsseldorf (1985); vgl. die Mediennachweise bei Wolters, Zur Anwendung von § 68a Abs. 1 StPO in der Hauptverhandlung des Vergewaltigungsprozesses, 1987, S. 2 Fn. 2; zum Münchener „Schärmer“-Prozess (1983): Böttcher, DRiZ 1984, S. 17; Dahs, NJW 1984, S. 1923. 5 Dahs (Fn. 4), S. 1923. 6 Dahs (Fn. 4), S. 1923 ff.; Hammerstein, Referat beim 55. DJT 1984, Die Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren, Sitzungsbericht L 7, 18 f. sprach sich neben erweitertem Öffentlichkeitsauschluss für ein Auskunftsverweigerungsrecht gem. § 55 StPO bei Fragen, die dem Zeugen zur Unehre gereichen, aus. 7 Odersky, Referat beim 55. DJT 1984, Die Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren, Sitzungsbericht L 25, 34 (allerdings skeptisch bezüglich eines Auskunftsverweigerungsrechts); Helmken, StV 1983, S. 82. 8 Rieß, Die Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren, Gutachten zum 55. DJT, 1984, C 108 f.; Böttcher, in: FS Kleinknecht, 1985, S. 34 f. 9 BT-Drs. 16/12098, S. 22; zweifelnd Stellungnahme des Deutschen Richterbundes vom März 2009 zum 2. Opferrechtsreformgesetz (www.drb.de).
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reich und zu entehrenden Tatsachen zu verstehen ist, können unter dem Aspekt der Glaubwürdigkeitsbeurteilung zahlreiche Fragen als erforderlich zugelassen werden, die i. S. des § 68a Abs. 1 StPO zur Sachaufklärung nicht unerlässlich wären. Insoweit geht die Neufassung sogar über die frühere Rechtsprechung hinaus, die solche Fragen zu Hilfstatsachen nur bei Unerlässlichkeit zugelassen hatte.10 Außerdem wurde der Persönlichkeitsschutz in der Hauptverhandlung durch erweiterte Möglichkeiten des Öffentlichkeitsausschlusses – nicht nur für Zeugen, sondern auch für andere Prozessbeteiligte – verbessert. Größte Bedeutung hat insoweit § 171b Abs. 1 S. 1 GVG erlangt, der den Ausschluss der Öffentlichkeit zulässt, „soweit Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich eines Prozessbeteiligten, Zeugen oder …Verletzten zur Sprache kommen, deren öffentliche Erörterung schutzwürdige Interessen verletzen würde, soweit nicht das Interesse an einer öffentlichen Erörterung dieser Umstände überwiegt“. Der Ausschluss ist sogar obligatorisch, wenn er von der Person, deren Lebensbereich betroffen ist, beantragt wird (§ 171b Abs. 2 GVG). Die Aktivierung der Videotechnik zur Vermeidung von Mehrfachvernehmungen und belastenden Konfrontationen in der Hauptverhandlung – insbesondere bei kindlichen und jugendlichen Opferzeugen – durch das Zeugenschutzgesetz vom 30. 4. 1998 (§§ 58a, 168e, 247a, 255a II StPO) betrifft nicht zentral den Persönlichkeitsschutz des Zeugen, hat aber mittelbar und faktisch nicht unerhebliche Verbesserungen für den Zeugenschutz bewirkt. Dasselbe gilt für die Beiordnung eines Rechtsanwaltes als Nebenklagevertreter für einen kleinen Kreis besonders schutzbedürftiger Opfer (§ 397a I StPO), die durch das 2. Opferrechtsreformgesetz vom 29. 7. 2009 noch etwas erweitert wurde. Auch der im Zeugenschutzgesetz geregelte Zeugenbeistand (§ 68b StPO) ist berechtigt, unzulässige Fragen an den Zeugen zu beanstanden, er spielt jedoch in der Praxis bei den Delikten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die sexuelle Selbstbestimmung kaum eine Rolle.
II. Auslegung und Anwendung der persönlichkeitsschützenden Regelungen bei der Zeugenvernehmung 1. Ausschluss der Öffentlichkeit Die Möglichkeit des Öffentlichkeitsausschlusses in der Hauptverhandlung zum Schutz des persönlichen Lebensbereichs eines Prozessbeteiligten gem. § 171b GVG wird in der Praxis relativ großzügig zugunsten aller betroffenen Verfahrensbeteiligten gehandhabt, also nicht nur zugunsten des Zeugen, sondern auch zugunsten des Angeklagten. Obwohl auch beim obligatorischen Ausschluss auf Antrag der Person, deren Lebensbereich betroffen ist (§ 171b Abs. 2 GVG), das Gericht befugt ist, den Öffentlichkeitsausschluss abzulehnen, wenn das Interesse an der öffentlichen Er10
BGHSt 13, 254 f.; s. dazu unten II. 2.
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örterung der Umstände aus dem Lebensbereich des Betroffenen dessen schutzwürdige Interessen überwiegt (§ 171b Abs. 1 S. 1 GVG), geschieht dies nur selten. Einen wesentlichen Beitrag zugunsten dieser persönlichkeitsschützenden Praxis hat der – ebenfalls durch das Opferschutzgesetz eingefügte – § 171b Abs. 3 GVG geleistet, der die Entscheidungen über Zulassung und Ausschluss der Öffentlichkeit für unanfechtbar erklärt. Damit ist gemäß § 336 Satz 2 StPO auch die Revisibilität dieser Entscheidung ausgeschlossen. Der Gesetzgeber hat dies überzeugend damit begründet, dass die Zulassung der Revision im Falle des ungerechtfertigten Öffentlichkeitsausschlusses zu einer „revisionsrechtlichen Asymmetrie zu Lasten des mit der Neuregelung in erster Linie bezweckten Verletztenschutzes führen“ würde, „weil die Gerichte dann wegen der größeren Revisionsanfälligkeit des Öffentlichkeitsausschlusses kaum von ihm Gebrauch machen würden.“11 2. Fragen nach entehrenden und den persönlichen Lebensbereich betreffenden Tatsachen (§ 68a StPO) Die Beschränkung des Fragerechts der Prozessbeteiligten bezüglich entehrender und den persönlichen Lebensbereich betreffender Tatsachen gemäß § 68a StPO gilt für richterliche, staatsanwaltschaftliche (§ 161a Abs. 1 S. 1 StPO) und – seit dem 2. Opferrechtsreformgesetz 2009 – auch für polizeiliche Vernehmungen (§ 163 Abs. 3 StPO). Die größte Bedeutung hat sie aber in der Hauptverhandlung, weil hier die Gefahr der Bloßstellung am größten ist. Der in vielen Fällen zugleich in Betracht kommende Öffentlichkeitsausschluss nach § 171b GVG kann diese Gefahr – wegen der Intensität der in Betracht kommenden Persönlichkeitsbeeinträchtigungen durch unzulässige Fragen zur Privat- und Intimsphäre des Betroffenen – oft nicht hinreichend kompensieren. Zum persönlichen Lebensbereich gehören private Eigenschaften und Neigungen des Zeugen, sein Gesundheitszustand, seine religiöse und politische Einstellung, Tatsachen aus seinem Familienleben sowie insbesondere die Intimsphäre und das Sexualverhalten des Zeugen.12 Mit der Einbeziehung der Fragen zum persönlichen Lebensbereich des Zeugen in § 68a Abs. 1 StPO verfolgte das Opferschutzgesetz vom 18. 12. 1986 das Ziel, den Persönlichkeitsschutz des Verletzten und anderer Prozessbeteiligter zu verbessern.13 Der Gesetzgeber wollte insbesondere den durch Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung verletzten Personen einen verbesserten Schutz ihrer Intimsphäre gewährleisten.14 Befragungen über ihr Sexualleben ohne erkennbaren Zusammenhang 11
BT-Drs. 10/5305, S. 24. Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. 2012, § 68a Rn. 4; KMR/Neubeck, StPO, (Stand: 59. EL November 2010), § 68a Rn. 3. 13 SK/Rogall, StPO (Stand: 43. EL Mai 2005), § 68a Rn. 12; zuvor bereits Dähn, JR 1979, S. 138 ff.; Jung, ZStW 93 (1981), S. 173. 14 BT-Drs. 10/5305, S. 8 ff. 12
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mit der zu verhandelnden Tat sollten ausgeschlossen werden.15 Daneben sollte vermieden werden, dass sich der Zeuge aus Selbstschutz oder Drittschutzerwägungen zu unwahren Aussagen hinreißen lässt.16 Allerdings ist dies nur in bescheidenem Umfang gelungen, weil bloßstellende Fragen und solche zum sexuellen Intimbereich zulässig bleiben, wenn sie unerlässlich sind. Unerlässlich ist die Befragung, wenn ohne ihre Beantwortung die Wahrheit nicht aufgeklärt werden kann.17 Deshalb geht nach der Rechtsprechung die Wahrheitserforschung dem Interesse des Zeugen an der Erhaltung seines Ansehens und dem Schutz seiner Privatsphäre vor.18 Die Unerlässlichkeit bezieht sich nicht nur auf Beweistatsachen, die für den Nachweis der Schuld des Angeklagten erforderlich sind, sondern auch auf Fragen zu Hilfstatsachen, die zur Bewertung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen beitragen können.19 Unter diesem Aspekt werden in problematischer Moralisierung der Glaubhaftigkeitsbeurteilung häufig auch Fragen zugelassen, die sich auf „wechselnde Geschlechtspartner“ beziehen.20 Obwohl auch dem Zeugen die Beanstandungsrechte gemäß §§ 238 Abs. 2, 242 StPO bezüglich der nach § 68a StPO unzulässigen Fragen zustehen, beeinträchtigt die revisionsrechtliche Asymmetrie bei den gerichtlichen Entscheidungen über die Zulassung von Fragen die Bereitschaft der Gerichte, ehrenrührige Fragen oder Fragen zur Intimsphäre zurückzuweisen.21 Wird eine Frage entgegen § 68a StPO zugelassen, so begründet das die Revision des Nebenklägers oder der Staatsanwaltschaft nicht, weil es sich um eine bloße Ordnungsvorschrift handelt22 bzw. keine Beschwer im revisionsrechtlichen Sinne vorliegt.23 Lässt das Gericht Fragen im Interesse des Verletztenschutzes zu Unrecht nicht zu und wird hierzu auf Antrag des Angeklagten oder seines Verteidigers ein Gerichtsbeschluss gemäß § 238 II herbeigeführt, so begründet dies gemäß § 338 Nr. 8 StPO die Revision.24
15
BT-Drs. 10/5385, S. 10; KK/Senge, 6. Aufl. 2008, § 16a. Wolters (Fn. 4), S. 8. 17 BGHSt 13, 254; Meyer-Goßner (Fn. 12), § 68a Rn. 5; KMR/Neubeck (Fn. 12), § 68a Rn. 4. 18 BGHSt 13, 254; 21, 360. Das ist angesichts des verfassungsrechtlichen Ranges des Schutzes der individuellen Privatsphäre keineswegs selbstverständlich; vgl. Weigend, Empfehlen sich gesetzliche Änderungen, um Zeugen und andere nicht beschuldigte Personen im Strafprozess besser vor Nachteilen zu bewahren? Gutachten C zum 62. DJT Bremen 1998, C 24 Fn. 38 weist zutreffend auf die andere Wertung im Zivil- und Verwaltungsprozess hin (Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 384 Nr. 2 ZPO, § 98 VwGO i. V. m. § 384 Nr. 2 ZPO). 19 BGHSt 13, 254 f.; Böttcher (Fn. 8), S. 34 f. 20 Wolters (Fn. 4), S. 169 ff. 21 Rieß (Fn. 8), C. 110; Böttcher (Fn. 8), S. 35; ders., JR 1987, S. 139. 22 Böttcher (Fn. 8), S. 34 f.; Meyer-Goßner (Fn. 12), § 68a Rn. 6. 23 SK/Rogall (Fn. 13), § 68a Rn. 41 f.; LR/Ignor/Bertheau, StPO, 26. Aufl. 2008, § 68a Rn. 12. 24 BGH NStZ 1982, S. 170; 1990, S. 400; Meyer-Goßner (Fn. 12), § 68a Rn. 6. 16
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III. Die Anwendung des § 68a StPO in der Strafrechtspraxis Die Schwächen bei der normativen Ausgestaltung des Persönlichkeitsschutzes vor unzulässigen Fragen zum persönlichen Lebensbereich wirken sich auch in der Rechtswirklichkeit aus. Weis hat – allerdings schon vor der ausdrücklichen Erwähnung des persönlichen Lebensbereichs in § 68a StPO – in Telefoninterviews mit 79 Frauen, die sich als Opfer einer Vergewaltigung bezeichneten, über diskriminierende Fragen bei den polizeilichen und gerichtlichen Vernehmungen berichtet.25 Ähnliche Befunde mit sekundären Viktimisierungserfahrungen finden sich in den Publikationen von Baurmann26, Fastie27, Kilchling28, Kirchhoff29, Schliermann30, Teubner31 und Volbert/Erdmann32. In einer verdienstvollen Zusammenstellung einschlägiger Studien kritisieren Kölbel/Bork die „sekundäre Viktimisierung als Legitimationsformel ohne gesicherte empirische Befunde“.33 Ihre methodischen Anforderungen an die Repräsentativität der untersuchten Stichproben und die Operationalisierung der Viktimisierungsursachen und -folgen34 sind jedoch überzogen und auf diesem sensiblen Forschungsfeld kaum valide zu realisieren. Auch explorative Studien mit nicht-repräsentativen Stichproben vermitteln in der Gesamtschau eindrucksvolle Belege für schwerwiegende Persönlichkeitsbeeinträchtigungen – vor allem für Opfer von Sexualdelikten – in strafgerichtlichen Verfahren. In meinen seltenen forensischen Aktivitäten habe ich Fälle erlebt, in denen Opfer von sexueller Nötigung über früher praktizierte Varianten des Geschlechtsverkehrs (nicht mit dem Angeklagten) oder über ihre BH-Größe Auskunft geben mussten, obwohl sie sich nachdrücklich dagegen verwahrten. In einem Verfahren wegen versuchten Mordes musste der Verletzte in öffentlicher Hauptverhandlung über seine HIVInfektion aussagen, weil er bei seiner Behandlung im Krankenhaus das Pflegeperso25
Weis, Die Vergewaltigung und ihre Opfer, 1982. Baurmann, Sexualität, Gewalt und psychische Folgen, 1996: Sexualopfer in Niedersachsen, 112 Längsschnittstudien. 27 Fastie, Zeuginnen der Anklage – Die Situation sexuell missbrauchter Mädchen und junger Frauen vor Gericht 1994: Prozessbeobachtungen von 23 Hauptverhandlungen wegen Sexualdelikten. 28 Kilchling, Opferinteressen und Strafverfolgung, 1995: schriftliche Befragung von 781 Opfern und 1399 Nichtopfern. 29 Kirchhoff, Sexueller Missbrauch vor Gericht, 1994: Prozessbeobachtung von 15 LGVerfahren in NRW mit kindlichen Opferzeugen bei Sexualdelikten. 30 Schliermann, Vergewaltigung vor Gericht, 1993: Beobachtung von 46 Hauptverhandlungen wegen Vergewaltigung. 31 Teubner/Becker/Steinhage: Vergewaltigung als soziales Problem, 1983: 59 Prozessbeobachtungen und 143 Beratungsprotokolle von Opferhilfevereinigungen. 32 Volbert/Erdmann, MschrKrim 1996, S. 238 ff.: Befragung von 487 Richtern und Staatsanwälten zur Belastungseinschätzung bei kindlichen Opferzeugen. 33 Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung als Legitimationsformel, 2012, S. 38 ff. 34 Kölbel/Bork (Fn. 33), S. 38 ff. 26
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nal darüber informiert hatte, um eine eventuelle Infektion des ebenfalls im Krankenhaus behandelten Täters zu vermeiden. Der Verteidiger wollte damit offenbar den „unsittlichen Lebenswandel“ des Verletzten, der den Täter provoziert habe, ins Spiel bringen. Ähnliche Defizite bei der Anwendung des § 68a StPO dürften nahezu jedem Praktiker bekannt sein. So überrascht es nicht, dass die Ständige Deputation des Deutschen Juristentages für den 62. Deutschen Juristentag 1998 in Bremen folgendes Thema für die strafrechtliche Abteilung beschlossen hat: „Empfehlen sich gesetzliche Änderungen, um Zeugen und andere nicht beschuldigte Personen im Strafprozess besser vor Nachteilen zu bewahren?“ Das von Weigend in seinem Gutachten – in Anlehnung an den eingangs erwähnten § 55 AE-ZVR – vorgeschlagene absolute Auskunftsverweigerungsrecht bei Informationen aus dem unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung wurde zwar mehrheitlich abgelehnt, ebenso ein relatives Auskunftsverweigerungsrecht bei Informationen aus dem sonstigen privaten Lebensbereich, das durchbrochen werden sollte, wenn andernfalls die Aufklärung einer schweren Straftat nicht möglich wäre.35 Mehrheitlich angenommen wurde dagegen folgende Empfehlung: „Die Rechtsprechung ist aufgerufen, § 68a StPO zeugenfreundlich auszulegen und die bisherige Auslegung aufzugeben, wonach bloßstellende sowie den persönlichen Lebensbereich betreffende Fragen bereits dann als unerlässlich angesehen werden, wenn sie irgendwie zur Sachaufklärung beizutragen vermögen.“36 In dem entsprechenden Beschlussvorschlag von Rautenberg bezog sich die Aufforderung zu zeugenfreundlicher Auslegung des § 68a StPO sogar auf die „höchstrichterliche Rechtsprechung“.37 In seinem Referat forderte Rautenberg den Bundesgerichtshof auf, den grundsätzlichen Vorrang des Interesses an der Wahrheitsermittlung, der noch aus einer Entscheidung aus dem Jahr 1959 stamme,38 angesichts der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätze zum Schutz der individuellen Privatsphäre und der Neufassung des § 68a StPO durch das Opferschutzgesetz zu überprüfen. Dabei solle klargestellt werden, dass „Unerlässlichkeit“ nur dann in Betracht kommen könne, „wenn sich die Fragen nicht auf Hilfs-, sondern auf unmittelbar erhebliche Tatsachen beziehen“.39 Seither ist wenig geschehen. In der einzig relevanten höchstrichterlichen Entscheidung hat der 1. Senat des BGH am 11. 1. 2005 in einem obiter dictum darauf hingewiesen, dass „auch im Rahmen der vorrangigen Verpflichtung zur Wahrheitsermittlung … auf die Achtung der menschlichen Würde eines Zeugen Bedacht zu nehmen“ sei. „Beweiserhebungen zu dessen Privat- und Intimsphäre sind nur nach 35 Weigend (Fn. 18), C. 24 – 26, 127; Rautenberg, 62. DJT 1998, Band II/1, Referate und Beschlüsse, L 64 f., Beschlüsse II. 2. a, b; kritisch dazu Schünemann, StV 1998, S. 395 f. 36 Rautenberg (Fn. 35), L 65, Beschluss II. 2. d. 37 Rautenberg (Fn. 35), L 59 f. 38 BGHSt 13, 254. 39 Rautenberg (Fn. 35), L 46.
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sorgfältiger Prüfung ihrer Unerlässlichkeit statthaft.“40 Die Verpflichtung zur Achtung der menschlichen Würde eines Zeugen ergebe sich aus dem Rechtsstaatsprinzip.41 Sodann wird aus den Materialien zum 1. Opferrechtsreformgesetz vom 24. 6. 2004 zitiert: „Aufgabe eines sozialen Rechtstaats ist es nicht allein, darauf zu achten, dass die Straftat aufgeklärt und Schuld oder Unschuld in einem rechtsstaatlichen Verfahren festgestellt werden, sondern auch, dass die Belange des Opfers gewahrt werden.“42 Außerdem wird auf den Rahmenbeschluss der EU über die Stellung des Opfers vom 15. 3. 2001 und die dort geforderte Achtung der Würde des Opfers hingewiesen.43 Für die Auslegung des § 68a StPO ergebe sich daraus, „dass Erörterungen und Beweiserhebungen zum Privat- und insbesondere zum Intimleben, die zum Verfahrensgegenstand in keinem unmittelbaren Zusammenhang stehen, nur nach sorgfältiger Prüfung ihrer Unerlässlichkeit statthaft sind.“44 Damit hat der 1. Senat des BGH verdienstvoll den Schutzzweck des § 68a StPO verdeutlicht. Den Vorrang der Sachaufklärung vor dem Persönlichkeitsschutz des Zeugen konnte der BGH aber angesichts des Gesetzeswortlauts nicht überwinden. Die nominale Bekräftigung der Unerlässlichkeitsprüfung ändert nichts daran, dass real angesichts des asymmetrischen Revisionsrisikos das Gericht im Zweifel die Unerlässlichkeit bejaht und der Zeuge eine Frage zum Intimbereich beantworten muss. Deshalb lohnt sich ein Blick auf die Lösung des Problems in verwandten Rechtsordnungen.
IV. Österreichische und schweizerische Regelung 1. Österreich § 158 öStPO enthält bereits seit 1987 (bis 2005: § 153 öStPO) ein relatives Auskunftsverweigerungsrecht für Opfer von Sexualdelikten, das sich sowohl auf Fragen zum höchstpersönlichen Lebensbereich als auch auf Fragen zu Einzelheiten der strafbaren Handlung bezieht. Im Rahmen der großen Strafprozessreform durch das am 1. 1. 2008 in Kraft getretene Strafprozessänderungsgesetz wurde die Vorschrift umgestellt und um den Schutz des „höchstpersönlichen Lebensbereichs“ (Abs. 1 Nr. 3) erweitert. § 158 öStPO (1) Die Beantwortung einzelner Fragen können verweigern 1. Personen, soweit sie ansonsten sich oder einen Angehörigen der Schande oder der Gefahr eines unmittelbaren und bedeutenden vermögensrechtlichen Nachteils aussetzen würden. 40
BGH, Beschl. v. 11. 1. 2005 – 1 StR 498/04, NJW 2005, S. 1520 f. Hinweis auf BGHSt 48, 372 f. 42 BT-Drs. 15/1976 und 15/2536, jeweils S. 1. 43 BGH NJW 2005, S. 1520. 44 BGH NJW 2005, S. 1521. 41
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2. Personen, die durch die dem Beschuldigten zur Last gelegte Straftat in ihrer Geschlechtssphäre verletzt wurden oder verletzt worden sein könnten, soweit sie Einzelheiten der Tat zu offenbaren hätten, deren Schilderung sie für unzumutbar halten, 3. Personen, soweit sie Umstände aus ihrem höchstpersönlichen Lebensbereich oder dem höchstpersönlichen Lebensbereich einer anderen Person zu offenbaren hätten (2) Die in Abs. 1 genannten Personen können jedoch trotz Weigerung zur Aussage verpflichtet werden, wenn dies wegen der besonderen Bedeutung ihrer Aussage für den Gegenstand des Verfahrens unerlässlich ist.
Das Auskunftsverweigerungsrecht gem. § 158 Abs. 1 öStGB geht also nicht nur formell über die Einschränkung der Fragebefugnis nach § 68a Abs. 1 StPO hinaus, sondern umfasst – neben dem Schutz des höchstpersönlichen Lebensbereichs (Abs. 1 Nr. 3) – auch inhaltlich Einzelheiten des Tatgeschehens, deren Schilderung das Opfer für unzumutbar hält (Abs. 1 Nr. 2). Damit besteht zunächst eine stabilere und umfassendere rechtliche Ausgangsposition für den Persönlichkeitsschutz als im deutschen Recht. Allerdings kann diese gem. § 158 Abs. 2 öStGB durchbrochen werden, wenn dies wegen der besonderen Bedeutung der Aussage für den Gegenstand des Verfahrens unerlässlich ist. Diese Relativierung ist aber enger als im deutschen Recht, da sie nicht nur auf die Unerlässlichkeit für die Sachaufklärung sondern auch auf die besondere Bedeutung der Aussage abstellt, bei leichteren Sexualdelikten also nicht eingreifen dürfte. Es kommt also auf das Gewicht eines Schuld- oder Freispruchs an; das Interesse des Staates, die Wahrheit zu erfahren, genügt für sich allein nicht.45 Nach Auskunft österreichischer Kollegen hat sich die Regelung bewährt. Verletzungen des höchstpersönlichen Lebensbereichs und der Intimsphäre würden weitgehend verhindert, ohne die Wahrheitsermittlung nachhaltig zu beeinträchtigen. Bei der Überführung der Regelung in der großen Strafprozessreform 2004 gab es keinerlei Einwände gegen diese Regelung.46 2. Schweiz Die am 1. 1. 2011 in Kraft getretene Schweizerische Strafprozessordnung räumt in Art. 169 Abs. 4 den Opfern von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ein absolutes Zeugnisverweigerungsrecht bezüglich Fragen zu ihrer Intimsphäre ein. Art. 169 Zeugnisverweigerungsrecht zum eigenen Schutz und zum Schutz nahestehender Personen Abs. 4: Ein Opfer einer Straftat gegen die sexuelle Integrität kann in jedem Fall die Aussage zu Fragen verweigern, die seine Intimsphäre betreffen.
45
Fabrizy, Die österreichische Strafprozessordnung, 10. Aufl. 2010, § 158 Rn. 4; abweichend – nur auf die Wahrheitsfindung ausgerichtet – Kirchbacher, in: Ratz/Fuchs (Hrsg.), Wiener Kommentar – StPO, Stand 2009, § 158 Rn. 10. 46 Öst. BGBl. 2004/19.
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Art. 169 Abs. 4 nimmt das bis dahin geltende Zeugnisverweigerungsrecht gem. Art. 36 Abs. 2 Opferhilfegesetz auf, beschränkt es aber auf Straftaten gegen die sexuelle Integrität. In Verfahren wegen Sexualdelikten soll das Opfer insbesondere davor geschützt werden, auf Antrag der Verteidigung und zum Zwecke der Überprüfung seiner Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit über sexuelle Beziehungen und Praktiken Auskunft geben zu müssen, die mit dem inkriminierten Verhalten nicht oder nur am Rande in einem Zusammenhang stehen.47 Der Ausdruck „in jedem Fall“ stellt klar, dass es sich um ein absolutes Zeugnisverweigerungsrecht handelt.48 Zur Intimsphäre gehören neben Fragen aus dem Bereich des Sexuallebens auch persönliche Neigungen und Eigenschaften des Opfers, sein Gesundheitszustand, seine religiöse und gesellschaftspolitische Einstellung, Wahrnehmungen sowie deren Verarbeitung aus dem Kreis der Familie und nahe stehender Freunde.49 Es ist unstreitig, dass sich das Zeugnisverweigerungsrecht auch auf das Delikt selbst bezieht.50 Die Ambivalenz dieser Regelung wird durchaus gesehen, da sie zu Freisprüchen und zum Verlust von Schadensersatzansprüchen führen könne.51 Meine Erkundigungen bei drei schweizerischen Kollegen sowie zwei Richtern und einem Rechtsanwalt haben ergeben, dass mögliche Nachteile für die Strafverfolgung im Interesse des Schutzes der Intimsphäre bewusst in Kauf genommen worden seien. Der Vorteil, dass das Opfer vor anstößigen Fragen geschützt werde, überwiege die theoretisch durchaus bestehende Gefahr, dass das Opfer durch Geldzahlungen oder Drohungen von Täterseite zum Schweigen genötigt werden könnte. Solche Fälle seien aber bisher nicht bekannt geworden. Es würde auch selten von diesem Recht Gebrauch gemacht. Die Regelung sei in der Praxis akzeptiert worden und habe dazu geführt, dass entsprechende Fragen im Prozess kaum mehr gestellt würden.
V. Verbleibender Regelungsbedarf in Deutschland Angesichts der oben festgestellten Defizite bei der Ausgestaltung und Anwendung des § 68a StPO, die in Österreich und noch entschiedener in der Schweizerischen Strafprozessordnung überwunden worden sind, ergibt sich gesetzgeberischer Handlungsbedarf auch für die deutsche Strafprozessordnung. Gegen den Vorrang der Sachaufklärung um jeden Preis spricht auch der Gegensatz zu der Lösung, die der 47 Donatsch, in: Donatsch/Hansjakob/Lieber (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2010, Art. 169 Rn. 23. 48 Vest/Horber, in: Niggli/Heer/Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, Art. 169 Rn. 13. 49 Donatsch (Fn. 47), Art. 169 Rn. 22. 50 Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2010, Art. 169 Rn. 13; Vest/Horber (Fn. 48), Art. 169 Rn. 13. 51 Schmid (Fn. 50), Art. 169 Rn. 14.
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Gesetzgeber für den ähnlichen Interessenkonflikt im Zivil- und Verwaltungsprozess gefunden hat.52 Nach § 384 Nr. 2 ZPO, auf den § 98 VwGO verweist, kann das Zeugnis über Fragen verweigert werden, deren Beantwortung dem Zeugen oder einem Angehörigen „zur Unehre gereichen“ würde. Es ist nicht ohne weiteres einzusehen, warum die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu Lasten der Intimsphäre des Zeugen in jedem Fall zulässig sein soll, während im Zivil- und Verwaltungsprozess entsprechende Ansprüche schon bei bloßstellenden Fragen zurücktreten müssen, wenn der Zeuge es wünscht. Seine Zeugnisverweigerung führt ja nicht zu einer zusätzlichen Belastung des Angeklagten oder zu einer Verletzung der Unschuldsvermutung,53 sondern bedeutet den Verzicht des Opfers auf strafrechtlichen Schutz, weil es eine sekundäre Viktimisierung vermeiden will. Das ist insbesondere in den Fällen notwendig, in denen ein Strafverfahren gegen den Willen des Opfers, das selbst keine Anzeige erstattet hat, eingeleitet wurde, weil es von dem Delikt anderen berichtet hat, weil andere es beobachtet haben oder weil die Polizei bei einer Durchsuchung wegen anderer Straftaten Fotos oder Videos einer Gruppenvergewaltigung entdeckt hat. Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und sexueller Kindesmissbrauch sind ja keine Antragsdelikte. Es muss aber auch in den Fällen gelten, in denen das Opfer während des Verfahrens feststellt, dass es seinen persönlichen Lebensbereich vor Fragen zum Intimbereich nur schützen kann, wenn es das Zeugnis verweigert. Die von Jürgen Wolter entwickelte, auf sorgfältiger verfassungs- und verfahrensrechtlicher Argumentation beruhende Differenzierung zwischen relativen und absoluten Zeugnisverweigerungsrechten bei besonders schutzwürdigen Grundrechten gem. § 55 AE-ZV ist nach wie vor die überzeugendste Lösung des Dilemmas. Sie entspricht hinsichtlich des Kernbereichs der Persönlichkeitssphäre der schweizerischen Lösung, hinsichtlich der sonstigen Intimsphäre im Wesentlichen dem österreichischen Modell. Der deutsche Gesetzgeber sollte – wie Österreich und die Schweiz – jedenfalls bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, bei denen die Problematik gehäuft und besonders belastend auftritt, den von Jürgen Wolter gezeichneten Weg beschreiten.54 Die auch bei dieser Lösung fortbestehende revisionsrechtliche Asymmetrie beim Zeugenschutz (s. o. II. 2.), welche die gerichtliche Praxis zu restriktiver Handhabung des Zeugnisverweigerungsrechts verleitet, müsste – ähnlich wie in § 171b Abs. 3 GVG – in § 55 Abs. 3 AE-ZVR durch Unanfechtbarkeit der Entscheidung über die Gewährung oder Versagung des Zeugnisverweigerungsrechts beseitigt werden.55
52
Dazu Weigend (Fn. 18), C 24 Fn. 38. Kritisch aber Eisenberg, StV 1997, S. 333. 54 Ebenso Weigend (Fn. 18), C 24 – 27, 127 (ohne Beschränkung auf Sexualdelikte); kritisch Welp, in: FS Bemmann, 1997, S. 640 ff. 55 Anders insoweit § 55 Abs. 3 Satz 4 AE-ZVR (sofortige Beschwerde). 53
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Um der Gefahr erpresster oder erkaufter Zeugnisverweigerungen zu begegnen, sollte ein weiterer Vorschlag aus dem AE-ZVR56 realisiert werden. § 52 AE-ZVR57 (4) Bei der richterlichen Vernehmung eines nach Absatz 1 oder nach § 55 AE-ZVR zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigten Zeugen im Ermittlungs- oder Zwischenverfahren oder durch einen beauftragten oder ersuchten Richter im Hauptverfahren ist der Zeuge im Rahmen der Belehrung nach § 52 Abs. 3 S. 1 auch darüber zu belehren, dass bei späterer Zeugnisverweigerung das richterliche Protokoll über seine Aussage zum Zweck der Beweisaufnahme verlesen werden darf und dass der Richter hierüber als Zeuge vernommen werden kann. Bei der Vernehmung eines zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen nach §§ 58a, 168e StPO erstreckt sich die Belehrung auch darauf, dass eine nach § 58a StPO hergestellte Bild-Ton-Aufzeichnung zu Beweiszwecken verwertet werden kann. § 162b AE-ZVR (1) Die richterliche Vernehmung eines Zeugen, der nach § 52 oder nach § 55 AE-ZVR zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt ist, soll unverzüglich beantragt werden, wenn der Verdacht einer erheblichen Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung besteht und zu erwarten ist, dass die Aussage des Zeugen von ausschlaggebender Bedeutung ist. (2) In diesem Falle ist der Zeuge vor seiner Vernehmung darüber zu belehren, dass bei späterer Zeugnisverweigerung das richterliche Vernehmungsprotokoll zum Zweck der Beweisaufnahme verlesen werden und der Richter als Zeuge vernommen werden darf. Bei der Vernehmung eines zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen nach §§ 58a, 168e StPO erstreckt sich die Belehrung auch darauf, dass eine nach § 58a StPO hergestellte Bild-TonAufzeichnung zu Beweiszwecken verwertet werden kann. § 252 AE-ZVR (2) Ist der zur Verweigerung des Zeugnisses Berechtigte nach § 162b AE-ZVR vernommen worden, so darf eine hiervon angefertigte Bild-Ton-Aufzeichnung vorgeführt, ein Protokoll über seine frühere Aussage verlesen und der Richter hierüber als Zeuge vernommen werden.
Eine solche Regelung würde nicht nur den Opfern von Sexualstraftaten helfen, sondern auch für alle anderen Delikte den fruchtlosen Streit über die Grenzen des aus § 52 StPO zu entnehmenden Verwertungsverbotes beseitigen. Sofern eine Videoaufzeichnung der richterlichen Vernehmung existiert, soll diese vorrangig sein. Diese dokumentiert nämlich die wörtliche Aussage des Zeugen „einschließlich der nonverbalen Aussageinhalte und der erfolgten Interaktionen sehr viel genauer, als der auf der Grundlage seiner Erinnerung aussagende Richter es könnte.“58 Im Übrigen dürfte in den meisten Fällen das Vernehmungsprotokoll höheren Beweiswert als die persönliche Vernehmung des Richters haben.
56
AE-ZVR (Fn. 2), S. 107 ff., 116 ff. Änderungen anlässlich dieses Aufsatzes kursiv; diese beruhen teilweise auf einem in Arbeit befindlichen AE zur Unmittelbarkeit, bei dem der Verfasser diese Teile ebenfalls bearbeitet hat. 58 BGHSt 49, 78. 57
Die Urteilsabsprachen im Strafprozess – ewige Wiederkunft des Gleichen? Von Bernd Schünemann
I. 1. Gemeinsam in dem klimatisch wunderschönen Sommer des Jahres 1963 das Jurastudium an der alma mater Göttingen beginnen und sich fünfzig Jahre später auf der Basis gemeinsamer Überzeugungen über die Entwicklung des Strafverfahrens austauschen können – das ist (wenn auch natürlich nur auf einem für das individuelle menschliche Leben engen, für das Rechtsleben der Gesellschaft insgesamt aber bedeutenden Sektor) im Sinne Thomas Manns „lebensgütige Erfüllung“. Als bescheidenen Beitrag zu der vor einem halben Jahrhundert begründeten wissenschaftlichen Gemeinschaft und persönlichen Freundschaft zwischen dem Jubilar Jürgen Wolter und mir möchte ich mich nachfolgend auf das Feld begeben, dem wir beide erst später einen großen Teil unserer wissenschaftlichen Aktivitäten gewidmet haben, nachdem zunächst die Strafrechtsdogmatik im Vordergrund stand: dem Strafverfahren und seiner rechtlichen Gestaltung. Dabei empfinde ich es als eine „wissenschaftsgütige Fügung“, dass wir beide eine (den Brennpunkten einer Ellipse vergleichbare) zentrale Doppelperspektive in Gestalt der Dogmatik des geltenden und der Rechtspolitik des künftigen Strafprozessrechts entwickelt1 und dazu zwei unterschiedliche und einander ergänzende Forschungsglacis bearbeitet haben, näm1 Siehe insb. Wolter, ZStW 93 (1981), 452; ders., GA 1985, 49 ff.; ders., GA 1989, 297; ders., FS Meyer, 1990, S. 493 ff.; ders., Aspekte einer Strafprozeßreform bis 2007, 1991; ders., SK-StPO (Loseblatt, 1994) vor § 151 Rn. 23 ff.; ders., NStZ 1993, 1; ders., in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, 1995, S. 267 ff.; ders., FS Roxin I, 2001, S. 1141 ff.; ders., FS Roxin II, 2011, S. 1245 ff.; Schünemann, GA 1978, 161 ff.; ders., JA 1982, 71 ff., 123 ff.; ders., StV 1985, 229 ff.; ders., NStZ 1986, 193 ff., 439 ff.; ders., FS Pfeiffer, 1988, S. 461 ff.; ders., StV 1998, 391 ff.; ders., ZStW 114 (2002), 1 ff.; ders., in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Sicherheit durch Strafe?, 2003, S. 267 ff.; ders., GS Vogler, 2004, S. 81 ff.; ders., StraFo 2004, 293 ff.; 2005, 177 ff.; ders., Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur – Die Urteilsabsprachen als Abgesang auf die Gesetzesbindung der Justiz und den Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung, 2005; ders., StV 2006, 361 ff.; ders. (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege, 2006; ders., FS Hamm, 2008, S. 687 ff.; ders., FS Katoh, 2008, S. 49 ff.; ders., GA 2008, 314 ff.; ders., FS Fezer, 2008, S. 555 ff.; ders., in: Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltsvereins (Hrsg.), Strafverteidigung im Rechtsstaat, 2009, S. 827 ff.; ders., ZIS 2009, 484 ff.; ders., StraFo 2010, 90 ff.; ders. (Hrsg.), Risse im Fundament, Flammen im Gebälk: Zum Zustand des kontinentaleuropäischen Strafverfahrens, 2010; ders., FS Geppert, 2010, S. 649 ff.
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lich Jürgen Wolter in Gestalt der Polizeiforschung2 und ich selbst in Gestalt der empirischen Erforschung der Informationsverarbeitung im Strafverfahren3 und zuletzt der Verfahrenswirklichkeit der Urteilsabsprachen.4 2. Dass meine Ergebnisse – in der ersten Phase der empirische Nachweis des Inertia- oder Urteilsperseveranz-Effekts, also der weitgehenden Vorprägung der Urteilsfindung des erkennenden Gerichts durch die Lektüre und Kenntnis der Ermittlungsakten und damit die empirische Erklärung für das von Jürgen Wolter mit Recht apostrophierte Avancement des Ermittlungsverfahrens zum „Zentrum des Strafverfahrens“5 und in der zweiten Phase die Erklärung der Urteilsabsprachen durch die Interessenlage der professionellen Verfahrensbeteiligten und damit die Rückverwandlung des Strafverfahrens als eines Wertkonflikts in einen Interessenkonflikt6 – in der offiziellen Rechtspolitik nicht etwa verworfen, sondern bereits ab ovo ignoriert worden sind, hat mich in einer Gesellschaft, deren Rechtspolitik 2
Vor allem Wolter, GA 1988, 49, 129; ders., GS Armin Kaufmann, 1989, S. 761; ders., StV 1989, 358; ders., in: Eser u. a. (Hrsg.), 4. deutsch-polnisches Kolloquium über Strafrecht und Kriminologie, 1990, S. 89 ff.; ders., StV 1990, 175; ders., Jura 1992, 520; ders., in: ders. (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozessrechts, 1995, S. 49 ff.; ders., ZStW 117 (1995), 793; ders., GA 1999, 158; ders., in: Wolter u. a. (Hrsg.), Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, 1999, S. 319 ff.; ders., FS BGHWiss, 2000, S. 963 ff.; ders., FS Rolinski, 2002, S. 273 ff.; ders., FS Rieß, 2002, S. 633; ders., in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, 2002, S. 45 ff.; ders., FS Rudolphi, 2004, S. 733 ff.; ders., FS Küper, 2007, S. 707 ff.; ders., GA 2007, 183; ders. in SK-StPO, Bd. II, 4. Aufl. 2010, §§ 100a – i, 101; s. a. die von ihm mitverfassten Alternativentwürfe über Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmefreiheit (AE-ZVR), 1996, und über die Reform des Ermittlungsverfahrens (AEEV), 2001, hierzu ders., FS Brauneck, 1999, S. 501 ff. 3 Schünemann, GA 1978, 161, 165 ff.; ders., in: Kerner u. a. (Hrsg.), Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentstehung und Kriminalitätskontrolle, 1983, S. 1109 ff.; ders., in: Lampe (Hrsg.), Beiträge zur Rechtsanthropologie ARSP-Beiheft 22, 1985, S. 68 ff.; ders., Ztschr. f. Sozialpsychologie 1986, 50 ff.; ders., in: Kaiser/Kury/Albrecht (Hrsg.), Kriminologische Forschung in den 80er Jahren, 1988, S. 265 ff.; ders./Bandilla, in: Wegener/Lösel/ Haisch (Hrsg.), Criminal Behaviour and the Justice System, 1989, S. 181 ff.; ders., in: Bierbrauer u. a. (Hrsg.), Verfahrensgerechtigkeit – Rechtspsychologische Forschungsbeiträge für die Justizpraxis, 1995, S. 215 ff.; ders., StV 2000, 159; ders., FS Mehle, 2009, S. 613 ff. 4 Vor allem Schünemann, Absprachen im Strafverfahren? Grundlagen, Gegenstände und Grenzen, in: Verhandlungen des 58. Deutschen Juristentages, Bd. I, Gutachten B, 1990, S. 16 ff.; davor bereits ders., in: FS Pfeiffer, S. 461 ff.; ders., in: Ministerium für Justiz pp. Baden-Württemberg (Hrsg.), Absprachen im Strafprozeß – ein Handel mit der Gerechtigkeit?, 1987, S. 24 ff.; ders., NJW 1989, 1895 f.; ders., JZ 1989, 984 ff.; danach ders., FS Baumann, 1992, S. 361 ff.; ders., StV 1993, 657 ff; ders., FS Rieß, S. 525 ff.; ders., Wetterzeichen (Fn. 1); ders., FS Heldrich, 2005, S. 1177 ff.; ders., ZRP 2006, 63 ff.; ders./Hauer, AnwBl. 2006, 439 ff.; ders., ZStW 119 (2007), 945 ff.; ders., ZRP 2009, 104 ff.; Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, 27. Aufl. 2012, § 17 Rn. 7 ff., § 44 Rn. 59 ff. 5 Wolter, Aspekte (Fn. 1), S. 35 („Das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren ist Kern und Höhepunkt des Strafprozesses“), S. 53 ff., 83. 6 Schünemann, Absprachen (Fn. 4), S. 27 ff., 47; s. a. ders., NJW 1989, 1901; ders., FS Baumann, S. 374. f.; ders., StV 1993, 663; ders., FS Rieß, S. 533 f.: „Interessenidentität der Gerichtssaalelite“.
Urteilsabsprachen im Strafprozess – ewige Wiederkunft des Gleichen?
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im Bereich des Strafrechts von einer gerade bei den sog. Juristentagen greifbaren Mehrheit von Justizvertretern dominiert wird,7 nicht überrascht, sondern als „Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur“ registrieren lassen.8 Umso bemerkenswerter ist die Aufmerksamkeit, die der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in den jüngsten Verfassungsbeschwerdeverfahren9 durch seine Gliederung für die mündliche Verhandlung am 7. 11. 2012 den von mir in meinem Juristentagsgutachten 199010 behandelten, speziell die Rechtsstaatsproblematik der Absprachenpraxis betreffenden Fragestellungen gezollt hat11 bis hin zu der zuvor in der Diskussion konsequent ignorierten Frage, ob „durch eine prinzipielle Motivationsverschiebung bei Verfahrensabsprachen (eine) Gefährdung der Neutralität des Gerichts“ bewirkt wird.12 Dass es sich hierbei um eine verfahrenstheoretisch unabweisbare, in der Struktur der von der deutschen Justiz zunächst ohne Rücksicht auf das Gesetz praktizierten, sodann vom Bundesgerichtshof akzeptierten und schließlich vom Gesetzgeber gebilligten13 Form der vom erkennenden Gericht selbst getroffenen Urteilsabsprache angelegte Konsequenz handelt, habe ich in meinem Juristentagsgutachten 1990 durch eine verfahrenssoziologische Analyse der von der Reichstrafprozessordnung geschaffenen Verfahrensstruktur und ihrer Veränderung durch die vom erkennenden Gericht getroffenen Urteilsabsprachen verdeutlicht: Der Prozess der StPO entsprach dem konfliktsoziologischen Idealtyp des Gerichtsverfahrens als der Entscheidung eines Wertkonflikts in einer Interaktions-Triade, die bei den Absprachen in ein Verhandlungsspiel und damit in einen Interessenkonflikt zurückverwandelt wird, bei dem der Richter das eigene Interesse an einer möglichst raschen Entscheidung des Verfahrens verfolgt, wobei die Entscheidung des Interessenkonflikts durch eine extrem ungleichgewichtige Verhandlungsposition gekennzeichnet ist, weil das Gericht über ein extremes Machtübergewicht verfügt, während der Angeklagte bzw. sein Verteidiger nicht nur nahezu ohnmächtig sind, sondern auch von einer unterlegenen moralischen Position her argumentieren müssen.14 Durch den im 7 Auf dem in der Strafrechtlichen Abteilung die Absprachen behandelnden DJT 1990 habe ich dieses 2:1 Verhältnis selbst beobachtet. Siehe auch allg. u. Fn. 25 sowie den Satz von Bettermann: „Es war freilich nicht das erste Mal, dass der Juristentag lobbyistenartig und ,gruppendynamisch‘ manipuliert wurde“ (FS Zeuner, 1994, S. 6 zu Beschlüssen des DJT 1978 im Arbeitsrecht). 8 Zuerst in: StV 1993, 657, ausführlicher in: Wetterzeichen (Fn. 1). 9 2 BvR 2628/10; 2 BvR 2883/10; 2 BvR 2155/11; zum erst während der Drucklegung ergangenen Urteil s. u. V. 10 Schünemann, Absprachen (Fn. 4), S. 32 ff., 47, 119 f. 11 Aufschlussreich ein Vergleich der Verhandlungsgliederung des Senats für die mündliche Verhandlung am 7. 11. 2012, C. I. 2. – 4., Pressemitteilung Nr. 71/2012 v. 4. 10. 2012, mit § 4 B. und C. meines DJT-Gutachtens. 12 Verhandlungsgliederung des Senats (Fn. 1), C. I. 3. 13 Zur ersten Phase Schünemann, FS Heldrich; zur zweiten BGHSt 43, 195; 50, 40 (GrS); und zuletzt der vom Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren v. 29. 7. 2009 (BGBl. I S. 2353) eingeführte § 257c StPO. 14 Schünemann, Absprachen (Fn. 4), S. 50 ff.; die Interessenlage des Richters ist auf S. 31 – 35 analysiert worden. Bei dem meist einzigen von der Verteidigung in die Waagschale zu
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Einzelnen dargelegten „massiven, multiplen und evidenten Nutzen“ eines Abspracheverfahrens für die Berufstätigkeit des einzelnen Richters verliert dieser seine Stellung als „unbeteiligter Dritter, gibt wegen seines überragenden eigenen Interesses an dem Ergebnis der Verhandlungen […] bei den informellen Absprachen seine streitenthobene Stellung auf und begibt sich als ein eigene Interessen verfolgender Beteiligter und damit als Partei in die Arena“15. 3. Natürlich war mir schon damals bewusst, dass es naiv gewesen wäre anzunehmen, der „Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung“ würde noch auf jenem systematischen Niveau ausgeübt, das die Kodifikationen des 19. Jahrhunderts und darunter auch die Reichsstrafprozessordnung gekennzeichnet hat.16 Dass die heutige Gesetzgebung stattdessen entscheidend vom Einfluss der Interessengruppen bestimmt wird, zeigt sich im Strafverfahrensrecht besonders deutlich an der Kette der „Opferschutzgesetze“, die den (in einem die Unschuldsvermutung ernst nehmenden Strafverfahren immer nur als Opferprätendent auftretenden) Verletzten in weitem Umfang als Gegenpartei zum Angeklagten installiert und dadurch die Verfahrensbalance untergraben haben17 – eine Tendenz, die nicht nur weiterhin anhält,18 sondern auch durch eine parallele Tendenz in der Gesetzgebung der EU19 zusätzlichen Rückenwind erwerfenden „Gewicht“ (ihrer Fähigkeit zur Verfahrensverzögerung oder -abkürzung) handelt es sich im Grund nicht um ein Machtmittel, sondern um einen bloßen Lästigkeitswert. 15 Schünemann, Absprachen (Fn. 4), S. 28 ff., 119 f. 16 Man vgl. insb. die systematischen Lehrbücher von der Zeit vor dem Erlass der RStPO: Mittermaier, Das deutsche Strafverfahren, Bd. I, II, 1827; Bauer, Lehrbuch des Strafprocesses, 1835; Zachariä, Grundlinien des gemeinen deutschen Criminal-Processes, 1837; Martin/ Temme, Lehrbuch des teutschen gemeinen Criminal-Processes, 5. Aufl. 1857; Planck, Systematische Darstellung des deutschen Strafverfahrens, 1857; Zachariä, Handbuch des deutschen Strafprocesses, Bd. I, 1861; Bd. II, 1868; allgemein zu der damaligen Strafprozesswissenschaft Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965, S. 324 ff.; Ignor, Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532 – 1846, 2002, S. 175 ff., 211 ff. 17 Zu dieser Kette (OpferschutzG v. 1986, BGBl. I S. 2496; VerbrechensbekämpfungsG v. 1994, BGBl. I S. 3186; ZeugenschutzG v. 1998, BGBl. I S. 820; OpferrechtsreformG v. 2004, BGBl. I S. 1354; 2. OpferrechtsreformG 2009, BGBl. I S. 2280) Übersicht und Kritik bei Schünemann, NStZ 1986, 193; ders., StV 1998, 391; ders., in: ders./Dubber (Hrsg.), Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem – Neue Entwicklungen in Deutschland und in den USA, 2000, S. 1 ff.; ders., FS Hamm, S. 687 ff.; insgesamt positivere Einschätzung bei Weigend, RW 2010, 39 ff. 18 Vgl. v. a. den vom Bundesrat vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (E-StORMG, BR-Dr 213/11). 19 Zuletzt in Gestalt der Richtlinie 2012/29/EU v. 25. 10. 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten (ABL. EU L 315/57 v. 14. 11. 2012, zur europäischen Entwicklung und zum Entwurf Schünemann, ERA-Forum 2009, 387 ff.; 2011, 445 ff.), die zwar insgesamt maßvoll ist, deren Verabschiedung zur Ersetzung des bestehenden Rahmenbeschlusses 2001/220/JI aber in auffälligem Kontrast steht zur gemächlichen Realisierung des „Fahrplans“ über Beschuldigtenrechte, dazu näher Gless, StV 2010, 400; Schünemann, StRR 2011, 130, 134 f.; Schünemann/Roger, ZIS 2010, 515, 519; zu den Schwierigkeiten insb. beim Recht auf Rechtsbeistand s. zuletzt Brodowski, ZIS 2012, 558, 564 f.
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fahren dürfte. Ein ähnliches Bild wie diese „Verparteilichung“ des Strafverfahrens bietet dessen Verpolizeilichung und Vergeheimdienstlichung,20 besonders eklatant in Gestalt der stets postwendend erfolgenden Indienststellung technischer Überwachungsinstrumente zugunsten der Polizei und der Strafverfolgung21 – die immer wieder mühsam vom Bundesverfassungsgericht gebremst und mit Kautelen versehen werden muss, die zu monströsen Gesetzesparagraphen führen,22 ohne dass dadurch doch die schlimmste Einseitigkeit abgewendet wird, weil die zugunsten des Beschuldigten durchaus verfügbaren technischen Möglichkeiten wie etwa die sog. elektronische Fußfessel zur Vermeidung von Untersuchungshaft oder die lückenlose Videoaufzeichnung polizeilicher Vernehmungen zur Kontrollierbarkeit des Ermittlungsverfahrens durch die Verteidigung verweigert werden.23 4. Eine wesentliche Ursache dieser die ursprünglich im Modell der Reichstrafprozessordnung gesuchte Verfahrensbalance zerstörenden Gesetzgebung liegt zweifellos in dem Fehlen einer die Verfolgungsinteressen und Opferinteressen in ihrer einseitigen Verwirklichung bremsenden Vertretung der Interessen des (sei es zu Recht, sei es zu Unrecht) Beschuldigten: Nicht einmal ehemalige Straftäter werden sich als Gruppe formieren und für die Interessen von Straftätern eintreten (und wenn sie es täten, würde niemand auf sie hören), und das im 19. Jahrhundert verbreitete Gefühl, als Bürger dem Zugriff einer illegitimen oder gar willkürlichen Obrigkeit ausgeliefert zu sein, wenn das Recht nicht starke Kautelen dagegen errichtet, ist in einer Trivialkultur, deren mediale Gesellschaftserfahrung durch eine nur mit der religiösen Indoktrinierung vergangener Epochen vergleichbare Dauerberieselung mit den stets zum guten Ende führenden Ermittlungen hochherziger Kriminalkommissare in den auf allen und insbesondere auch auf den öffentlichen Kanälen flimmernden 20
Dazu grds. Wolter, FS Rolinski, S. 276 ff.; Paeffgen, in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik (Fn. 1), S. 13 ff.; Kühne, in: Kühne/Miyazawa (Hrsg.), Neue Strafrechtsentwicklungen im deutsch-japanischen Vergleich, 1995, S. 153; Lüderssen, ebd., S. 195; Schünemann, Kriminalistik 1999, S. 74; ders., ZStW 119 (2007), 945, 948 ff.; ders., GA 2008, 314, 315; ders., in: AG Strafrecht des DAV (Hrsg.), Strafverteidigung im Rechtsstaat, 2009, S. 827 ff., 833 ff.; Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 9 Rn. 22; Ambos, Jura 2003, 674; Kutscha, in: Roggan/Kutscha (Hrsg.), Hdb. zum Recht der inneren Sicherheit, 2. Aufl. 2006, S. 82 ff. 21 Hierzu Wolter, FS Rudolphi, S. 733 ff.: „Potenzial für eine Totalüberwachung“; i. S. eines sog. „Ausforschungsverbots“; ders., FS BGH-Wiss., S. 969 ff.; ders., ZIS 2012, 238 ff. 22 Siehe etwa BVerfGE 100, 313 (Telekommunikationsüberwachung durch den BND); 109, 279 (akustische Wohnraumüberwachung); 110, 33 (Abhörbefugnisse des Zollkriminalamtes); 113, 348 (Niedersächsisches SOG); 115, 320 (Rasterfahnung); 120, 274 (OnlineDurchsuchung); BVerfGE 125, 260 (Vorrats-Datenspeicherung) sowie die §§ 100a – i, 101 StPO und zu ihnen die ausf. Kommentierungen von Wolter, SK-StPO, Bd. II 4. Aufl. 2010. 23 Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 30 Rn. 3 m.w.N., § 69 Rn. 6. Diese rechtspolitischen Forderungen, die ich seit langem erhebe (ZStW 114 [2002], 1, 45 f.; ders., ZStW 119 [2007], 945, 957; ders., ZIS 2009, 493; ders., in: AG Strafrecht des DAV [Fn. 18], S. 841 f.), werden zwar vom Gesetzgeber weiterhin ignoriert, aber immerhin langsam von der Anwaltschaft aufgegriffen, s. BRAK-Ausschuss „Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Wahrheitsfindung im Strafverfahren durch verstärkten Einsatz von Bild-Ton-Technik“, BRAK-StellungnahmeNr. 1/2010.
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Fernsehserien geprägt wird, weitestgehend verlorengegangen. Zwar hat die Berufsgruppe der Rechtsanwälte die Vertretung der „Bürgerschutzinteressen“ gewissermaßen professionell in ihre Obhut genommen, aber sie hat in der den Strafprozess betreffenden Rechtspolitik das letzte Mal 1965 mit der sog. Kleinen Strafprozessreform einen bemerkenswerten Erfolg erzielt und spielt seit den Antiterrorgesetzen der 1970er Jahre in der Justizpolitik vorzugsweise die Rolle einer Kassandra des Rechtsstaats,24 die im Vergleich zur Interessenvertretung der Richterschaft durch den Deutschen Richterbund weitaus weniger Gehör findet, und zwar sowohl bei den politischen Machtkonglomeraten als auch in der öffentlichen Meinung (Ersteres vor allem im Zusammenhang mit Expertenanhörungen im Gesetzgebungsverfahren, Letzteres kulminierend in den Beratungen des Deutschen Juristentages).25
II. 1. Speziell beim Thema der strafprozessualen Absprachen ist aber auch die residuale Rechtsstaatsverteidigung durch die Rechtsanwaltschaft dadurch in eine Agonie geraten, dass zwar die Vertreter des Deutschen Anwaltvereins mit Kritik nicht gespart haben,26 dass aber der einflussreiche Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer die Bestrebungen der Justiz zu einer Beschränkung der AbsprachenKautelen auf Äußerlichkeiten massiv unterstützte27 – offensichtlich unter dem Ein24 Beispielsweise und allein aus jüngster Zeit: DAV Stellungnahme Nr. 13/2009 zum Referentenentwurf eines Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetzes; Stellungnahme Nr. 69/ 2010 zum rheinland-pfälzischen Gesetzesentwurf über die Online-Durchsuchung; DAV Stellungnahme Nr. 69/2011 zur Kronzeugenregelung; DAV Stellungnahme Nr. 11/2012 zur Funkzellenabfrage; DAV Stellungnahme Nr. 33/2012 zu neuen Vorschlägen zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität; BRAK-Stellungnahme-Nr. 10/2010 zur Europäischen Ermittlungsanordnung; BRAK-Stellungnahme-Nr. 22/2011 zur Einführung einer Erscheinenspflicht von Zeugen bei der Polizei; BRAK-Stellungnahme-Nr. 54/2011 zur Kronzeugenregelung; BRAK-Stellungnahme-Nr. 33/2012 zum europäischen Richtlinienvorschlag über strafrechtliche Sanktionen für Insider-Geschäfte und Marktmanipulation. 25 Wobei ich den Vorbehalt machen muss, dass ich nur einen methodisch nicht überprüften Eindruck nach einem halben Jahrhundert teilnehmender Beobachtung wiedergeben kann. Umso wichtiger wäre eine breit gestreute rechtssoziologische Untersuchung dieser unter Legitimationsaspekten durchaus fragwürdigen Mechanismen deutscher Rechtspolitik. 26 Stellungnahmen Nr. 46/2006 zum Referentenentwurf des Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren und Nr. 58/2012 zu den o. Fn. 9 zit. Verfassungsbeschwerden; s. a. Dencker/Hamm, Der Vergleich im Strafprozeß, 1988; Hamm, ZRP 1990, 337; ders., FS Dahs, 2005, S. 267 ff.; ders., FS Dencker, 2012, S. 147 ff.; Kempf, StV 2009, 269; Strate, NStZ 2010, 362. 27 Der in ZRP 2005, 235 ff. publizierte Entwurf enthielt außer einer schlichten Kopie der Maximen von BGHSt 43, 195 nur eine Verstärkung der Stellung der Staatsanwaltschaft und sogar des Nebenklägers, was als Gesetzesvorschlag von Rechtsanwälten grotesk wirkt, s. Schünemann, ZRP 2006, 63 f. Die diametral entgegen gesetzte Ausrichtung von DAV und BRAK hat sich übrigens auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht am 7. 11. 2012 wiederholt, als Hamm im Namen des DAV eine scharfe Kritik der
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druck der enormen Vorteile, die die Absprachenpraxis für die Mitglieder der sog. Gerichtssaal-Elite und damit auch für die Rechtsanwälte persönlich bringt.28 2. Um die demzufolge speziell bei den Absprachen extrem einseitigen Konsequenzen einer allein interessengeleiteten Gesetzgebung zu vermeiden bzw. zu kompensieren, kommen zwei Strategien in Betracht: Rechtsvergleichung und empirische Erforschung der Strafverfahrenswirklichkeit. Die Rechtsvergleichung, die im Vorfeld der Reichstrafprozessordnung von den großen Prozessualisten des 19. Jahrhunderts intensiv betrieben worden ist,29 hat für die Urteilsabsprachen zwar vor dem Juristentag 1990 noch eine beachtliche Rolle gespielt.30 Dagegen sind rechtsvergleichende Untersuchungen und Vorstudien im Vorfeld des Verständigungsgesetzes vom 3. 8. 2009 geradezu geflissentlich unterlassen worden – wofür als Erklärung zumindest vermutet werden muss, dass deren niederschmetternde Ergebnisse31 ebenso wenig offenbart werden sollten wie der deutsche Sonderweg, das erkennende Gericht selbst die Absprache treffen oder im Falle des Scheiterns entsprechender Bemühungen ein Urteil fällen zu lassen, während auf der gesamten übrigen Welt entweder die Staatsanwaltschaft oder ein gesonderter Spruchkörper oder Verfahrensabschnitt für die Absprachen für zuständig erklärt oder deren Zulässigkeit auf geringere Vorwürfe beschränkt wird.32 3. Als der Gesetzgebungsmethode des 19. Jahrhunderts überlegener Forschungsweg bleibt die Erforschung der die Verfahrenswirklichkeit bestimmenden Praktiken und Kausalgesetze mit Hilfe der empirischen Sozialwissenschaften übrig, um über die Erreichbarkeit des Verfahrensziels und die hierfür erforderlichen Regelungen Klarheit zu gewinnen. Aber ist es denn möglich, über den demzufolge archimedischen Punkt des Verfahrensziels Konsens zu erzielen, angesichts der recht bunten Mischung, die hierfür im Schrifttum angeboten wird?33 Zwar weiß ich mich bezüglich Absprachen und ihrer gegenwärtigen Praxis vortrug, während Schlothauer und Ignor als Vertreter der BRAK deren hohes Lied sangen. 28 Dazu bereits näher meine „Absprachen“ (Fn. 4), S. 44 ff. u.o. Fn. 6. 29 S. u. a. Feuerbach, Betrachtungen über die Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege, Bd. II: Ueber die Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren Frankreichs, 1825; Mittermaier, Die Mündlichkeit, das Anklageprinzip, die Oeffentlichkeit und das Geschwornengericht … mit Rücksicht auf die Erfahrungen der verschiedenen Länder, 1845, S. 24 ff.; Köstlin, Der Wendepunkt des deutschen Strafverfahrens, 1849, insb. S. 296 ff. Zur rechtsvergleichenden Ausrichtung der Diskussion über das Geschworenengericht Schwinge, Der Kampf um die Schwurgerichte, 1926, S. 134 ff. m.w.N. 30 In Gestalt der im Auftrag des Juristentags durchgeführten Untersuchung von Weigend, Absprachen in ausländischen Strafverfahren, 1990, und meines eigenen Vergleichs mit den Systemen der USA, Spaniens und Italiens in: Absprachen (Fn. 4), S. 149 ff. 31 Am englischen Beispiel Salditt, FS Mehle, 2009, S. 581 ff. 32 Eine umfassende rechtsvergleichende Auswertung existiert bisher leider nicht, vgl. nur die Nachw. bei Schünemann, FS Fezer, 2008, S. 555 ff. Fn. 8, 34 ff. sowie zu Frankreich Nolte, Verständigung im Strafprozess in Deutschland und Frankreich, 2010. 33 Klassisch Eb. Schmidt, Lehrkommentar StPO und GVG, Teil I, 2. Aufl. 1964, Rn. 20, 23, 329, der Wahrheit und Gerechtigkeit als Ziele des Strafverfahrens ansah; Henkel, Strafver-
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der Unverbrüchlichkeit des fundamentalen Verfahrensziels der materiellen Wahrheitsfindung, das bereits der Reichstrafprozessordnung von 1877 zugrunde gelegen hat,34 mit Jürgen Wolter und auch dem Bundesverfassungsgericht einig,35 aber müsste das nicht eigentlich zur Disposition des Gesetzgebers stehen? Es bedarf offenbar einer verfassungsrechtlichen Verbürgung, die nur in dem Schuldprinzip gefunden werden kann, weshalb in der Gliederung des Zweiten Senats des BVerfG für die mündliche Verhandlung die „Vereinbarkeit mit dem Schuldprinzip“ mit Recht eine zentrale Rolle gespielt hat.36 Dass das strafrechtliche Schuldprinzip zu den unveräußerlichen Fundamenten der deutschen Staatsverfassung gehört, ist wiederum in der ständigen Rechtsprechung des BVerfG ausgesprochen und in seinem sog. Lissafahrensrecht, 2. Aufl. 1968, S. 17, 84 u. Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. 1985, S. 80, die das Verfahrensziel in der Verwirklichung des materiellen Strafrechts erblicken; Schmidhäuser, FS Eb. Schmidt, 1961, S. 516 ff., 521 ff., der von Rechtsfrieden als Verfahrensziel spricht. Aus der heutigen Literatur Beulke, Strafprozessrecht, 12. Aufl. 2012, Rn. 3: Feststellung und Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs, rechtsstaatliches Verfahren, Rechtsfrieden; KMR-Eschelbach, Einl. Rn. 5: „bestmöglich[e] Feststellung der Wahrheit unter Wahrung der Verteidigungsrechte des Beschuldigten mit dem Endziel der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs, ferner zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens nach Begehung einer Straftat“; AnwKomm-Krekeler/Löffelmann, Einl. Rn. 7: „abschließende, d. h. verfahrensbeendigende, formelle Feststellung der materiellen Wahrheit“; Kühne, Strafprozessrecht, 8. Aufl. 2010, Rn. 1: Rekonstruktion von Realität; näher LR-Kühne, Einl Abschn. B Rn. 13 ff., 51: Durchsetzung des materiellen Strafrechts, Optimierung von Wahrheitsfindung, Schutz der Verfahrensbeteiligten vor dem Staat, Reduktion von Willkür, Friedensstiftung, Akzeptanz des Ergebnisses; Meyer-Goßner, Einl. Rn. 3: „Schaffung von Rechtsfrieden auf dem Wege des gewissenhaften Strebens nach Gerechtigkeit“; Radtke/Hohmann-Radtke, Einl. Rn. 4: „Wiederherstellung des durch den Verdacht einer Straftat beeinträchtigten Rechtsfriedens im Wege der Herbeiführung einer materiell gerechten Entscheidung“. Für Konsensfindung als Verfahrensziel Schild, ZStW 94 (1982), 37, 40 f.; Schmidt-Hieber, Verständigung im Strafverfahren, 1986, S. 11; Cramer, FS Rebmann, 1989, S. 145, 148; Gallandi, NStZ 1987, 420 f.; Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten in der Polizeivernehmung, 1990, S. 80; Eser, ZStW 104 (1992), 361, 383 f.; Gerlach, Absprachen im Strafverfahren, 1992, S. 28, 209 ff.; Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit, Studien zu einer prozeduralen Theorie der Gerechtigkeit, 1992, S. 245 ff.; Grasnick, 140 Jahre GA, 1993, S. 55 ff., 66 ff.; Tscherwinka, Absprachen im Strafprozeß, 1995, S. 46 ff.; Hermann, JuS 1999, 1163, 1167 f.; Jahn, GA 2004, 285 ff; ders., ZStW 118 (2006), 427, 455 f.; Rosenau, FS Puppe, 2011, S. 1597 ff., 1623. S.a. den Vorschlag des Strafrechtsausschusses der BRAK einer gesetzlichen Regelung der Urteilsabsprache im Strafverfahren, ZRP 2005, 235 ff. (Konsens als „spezifische Richtigkeitsgewähr“ des Verfahrensergebnisses, S. 236). 34 Und zwar ebenfalls auf der Basis des Schuldprinzips, das damals noch als hinreichende Bedingung der Strafbarkeit verstanden wurde und deshalb ein striktes Legalitätsprinzip nach sich zog; bei der erstaunlichen knappen Diskussion dieser Frage in der Reichstagskommission wurde die Entgegensetzung von Legalitäts- und Opportunitätsprinzip als eine solche von Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit verstanden, vgl. Struckmann, in: Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd.3 I, 2. Aufl. 1885, S. 708. 35 Wolter, GA 1985, 53 ff.; ders., in: Wolter u. a. (Hrsg.), Einwirkungen (Fn. 2), S. 331; BVerfGE 57, 250, 275; 63, 45,61; 123, 267, 408 ff.; BVerfG NJW 2012, 1136; zu meiner eigenen Position näher Schünemann, FS Fezer, S. 555, 559 ff.; ebenso Murmann, FS Roxin II, 2011, S. 1385, 1389 f. 36 Punkt C. I. 2.
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bon-Urteil in grundsätzlicher Weise bekräftigt worden.37 Die an dieser Entscheidung im europarechtlichen Schrifttum geäußerte Kritik38 erscheint nicht nur maßlos überzogen, sondern geradezu haltlos39 und braucht hier schon deshalb nicht weiter beachtet zu werden, weil es im vorliegenden Zusammenhang um die strafprozessualen Konsequenzen geht, die aus dem materiell-rechtlichen Schuldprinzip zu ziehen sind. Auch dass von der heute völlig überwiegenden Meinung anerkannt ist, dass das Schuldprinzip nur ein Legitimations- und damit Begrenzungsprinzip der Strafe ist,40 weshalb sich das Opportunitätsprinzip vor allem bei Vergehen in der StPO immer weiter durchgesetzt hat (§§ 153 ff.), ändert ungeachtet dieser Verwandlung des Schuldprinzips von einer hinreichenden in eine notwendige Bedingung, also in ein Schutzprinzip zugunsten des Beschuldigten, nichts an der prozessualen Konsequenz, dass ein Strafurteil nur ergehen kann, wenn dem Angeklagten seine Schuld nachgewiesen worden ist, so dass sich das Schuldprinzip infolgedessen prozessual als Prinzip der materiellen Wahrheit ausprägt.41 4. Weil auch der Gesetzgeber nach seinem eindeutigen Lippenbekenntnis mit dem Verständigungsgesetz davon nicht abweichen wollte,42 sind hierfür die von mir eingangs erwähnten psychologischen Erkenntnisse über die richterliche Informationsverarbeitung zu beachten, die eine asymmetrische Prägung des vom erkennenden Gericht gefällten Urteils durch seine Kenntnis der Ermittlungsakten und den von ihm gefassten Eröffnungsbeschluss kraft des dadurch bewirkten Inertia- oder Urteilsperseveranz-Effekts belegen.43 Diese Befunde machen schon im „Normalverfahren“ kompensatorische Regelungen zur Neutralisierbarkeit dieses Effekts unabweisbar, entschleiern aber für ein Strafverfahren, in dem das erkennende Gericht nach seinem Ermessen anstelle einer Wahrheitsfindung durch die Hauptverhandlung die Urteilsabsprache wählen kann, eine tödliche Gefahr: Weil das Gericht hier keine andere Beurteilungsbasis als die Ermittlungsakten besitzt, geht deren Ergebnis durch das Medium der Absprache direkt in das Urteil ein, womit „das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren“, in den Worten des Jubilars, endgültig als „Kern und Höhepunkt des Strafprozesses“ etabliert worden ist und dessen fehlende Balance zwischen Straf37
BVerfGE 123, 267, 408 ff. Oppermann, EuZW 2009, 473; Jestaedt, Der Staat 48 (2010), 497 ff.; Murkens, Der Staat 48 (2010), 517; Schönberger, Der Staat 48 (2010), 535. 39 Vgl. dazu bereits Schünemann, ZIS 2009, 393 ff.; 2010, 515 ff., 759 ff. 40 Statt aller Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 3 Rn. 51 ff. 41 Eingehend Schünemann, FS Fezer, S. 555 ff. Zu den ausschlaggebenden Unterschieden zum Verfassungsverständnis der USA und dem davon getragenen plea bargaining jüngst durchschlagend Brodowski, ZStW 124 (2012), 733 ff. 42 Siehe die Begründung der Bundesregierung in BT-Dr 16/12310, S. 13 li. u.: „Satz 2 (scil. von § 257c Abs. 1 n.F.) stellt klar, dass auch dann, wenn der Verfahrensweg einer Verständigung bestritten wird, die Pflicht des Gerichtes zur Aufklärung des Sachverhaltes (§ 244 Abs. 2) unberührt bleibt. Eine Verständigung als solche kann niemals die Grundlage eines Urteils bilden. Es ist weiterhin die Überzeugung des Gerichts von dem von ihm festzustellenden Sachverhalt erforderlich“. 43 Dazu oben Fn. 3. 38
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verfolgungsmacht und Kontrollrechten der Verteidigung44 die Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens insgesamt zerstört. 5. Im Bezugsrahmen der Informationspsychologie ebenso wie in demjenigen der soziologischen Verfahrenstheorie erscheint der „Deal“ im Strafprozess deshalb als zur Erreichung des Verfahrensziels der materiellen Wahrheit ab ovo ungeeignet. Nichtsdestoweniger hat sich die deutsche Strafprozessforschung nicht auf diese abstrakte Ableitung beschränkt, sondern zusätzlich konkrete und umfangreiche empirische Untersuchungen durchgeführt, deren Anfang in meiner (allerersten und bis heute auch einzigen) Repräsentativ-Umfrage unter knapp 1600 deutschen Richtern, Staatsanwälten und Strafverteidigern zur Absprachenpraxis bestand, die durch ein Feldbedingungen simulierendes Video-Experiment zur Auswirkung gescheiterter Absprachebemühungen auf die richterliche Beweiswürdigung sowie durch eine Umfrage in der allgemeinen Bevölkerung über die Einschätzung abgesprochener Urteile unter Gerechtigkeitsaspekten ergänzt wurde.45 Später sind sektoral beschränkte weitere empirische Untersuchungen hinzugekommen, namentlich von Siolek über die Absprachenpraxis an Wirtschaftsstrafkammern des LG Hildesheim46, von Bussmann47 sowie von Altenhain u. a. über die Praxis der Absprachen in Wirtschaftsstrafverfahren.48 Der Gesetzgeber hat seine (mit dem Jahr 2009 zeitlich erst danach gewonnene) „Farbe der Entschließung“ von der durch diese empirischen Untersuchungen drohenden Gedankenblässe allerdings nicht ankränkeln lassen, sondern sie von meiner Repräsentativ-Umfrage49 bis zur Untersuchung Altenhains konsequent ignoriert. Dass das BVerfG nunmehr in seinem o. bei Fn. 9 angesprochenen Grundsatzverfahren über die Verfassungsmäßigkeit des § 257c StPO50 eine exemplarische Erhebung der heutigen Absprachenpraxis durch Altenhain in Auftrag gegeben und deren Ergebnisse in der mündlichen Verhandlung am 9. 11. 2012 eingehend disku44
Dazu mein „ceterum censeo“ in: Schünemann (Hrsg.), Risse im Fundament, Flammen im Gebälk: Zum Zustand des kontinentaleuropäischen Strafverfahrens, S. 71 ff., sowie in: Scholler (Hrsg.), Die Sicherung des Rechtsstaatsgebotes im modernen europäischen Recht – anhand von Garantien im Recht der Europäischen Union sowie in Russland und Deutschland, 2011, S. 48 ff. 45 Zu deren wichtigsten Ergebnissen s. Schünemann, Absprachen (Fn. 4), S. 17 ff., 23, 43, 75, 87 Fn. 229, 90 Fn. 236; ders., FS Heldrich, 2005, S. 1177 ff., 1185 ff., und unten im Text. 46 Siolek, Verständigung in der Hauptverhandlung, 1993, S. 31 ff. 47 Bussmann/Lüdemann, Klassenjustiz oder Verfahrensökonomie?, 1995. 48 Altenhain u. a., Die Praxis der Absprachen in Wirtschaftsstrafverfahren, 2007. 49 Obwohl deren extrem hohe Rücklaufquote von 77 % (exakt 1219 von 1590) durch ein meinem Fragebogen vom damaligen Wissenschaftsreferenten des Bundesjustizministeriums, Dieter Strempel, beigefügtes befürwortendes Beischreiben mitverursacht worden sein dürfte, hat sich das Bundesjustizministerium für das Ergebnis ebenso wenig ernsthaft interessiert wie für alle späteren empirischen Untersuchungen. 50 Zwar versteht es sich nicht von selbst, dass das BVerfG anlässlich einer ein abgesprochenes Urteil betreffenden Verfassungsbeschwerde die Verfassungsmäßigkeit der strafprozessualen Urteilsabsprachen insgesamt auf den Prüfstand stellte; aber genau das hat mit weitem Abstand den Hauptgegenstand der Verhandlungsgliederung und dann auch der mündlichen Verhandlung am 7. 11. 2012 gebildet.
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tiert hat, bedeutet schon für sich allein eine deutliche Zurechtweisung des Gesetzgebers, der das Kreißen der Berge in Gestalt der durch die Urteilsabsprachen bewirkten totalen Umstürzung des Verfahrensmodels (vergleichbar nur mit der Ablösung des Inquisitionsverfahrens durch den reformierten Strafprozess) nicht begriffen, in Gestalt des hauptsächlich die Leitsätze des 4. Strafsenats51 kopierenden Verständigungsgesetzes bloß eine „ridiculus mus“ geboren und mangels eigener rechtsvergleichender und empirischer Forschungen ein abschreckendes „Musterbeispiel“ der für die Gegenwart charakteristischen „autoritär-dilettantischen Gesetzgebung“52 geboten hat. Wie die von Altenhain in bewundernswert kurzer Zeit erzielten Ergebnisse53 vom BVerfG verarbeitet würden, war im Moment, da ich diese Zeilen schrieb, noch offen. Dass sie in meinen Augen aus der Zurechtweisung ein Scherbengericht gemacht haben, möchte ich im nächsten Abschnitt näher darlegen.
III. Die für die Beurteilung des Verständigungsgesetzes und seiner Tauglichkeit, eine mit dem Schuldprinzip und dem fairen Verfahren zu vereinbarende Regelung der strafprozessualen Absprachen herbeizuführen, jedenfalls für die Absprachen-Befürworter bestürzenden Ergebnisse bestehen nämlich darin, dass sich an der Realität der Absprachenpraxis seit 30 Jahren so gut wie nichts geändert hat, obwohl die Erhebungen jeweils in ganz unterschiedlichen Phasen der positiven Rechtslage durchgeführt worden sind. 1. a) Meine im Jahre 1986 durchgeführte Repräsentativbefragung erfolgte zu einer Zeit, als die über viele Jahre streng geheim gehaltene Absprachenpraxis gerade erst vorsichtig und stückweise in den rechtswissenschaftlichen Fachdiskurs eindrang bzw. noch gar nicht richtig eingedrungen, nämlich nur in Gestalt des „Schlüsselloch-Aufsatzes“ unter dem bezeichnenden Pseudonym „Detlef Deal aus Mauschelhausen“ im „Strafverteidiger“ gewissermaßen unter vorgehaltener Hand geschildert worden war.54 Schmidt-Hiebers kleine Monographie „Verständigung im Strafverfahren“ erschien ebenso erst 1986 wie der von meinen damaligen Mitarbeitern Hassemer und Hippler publizierte Pretest zur Repräsentativumfrage55 und das vom Baden-Württembergischen Justizministerium veranstaltete Symposium in Triberg über „Absprachen im Strafprozess – ein Handel mit der Gerechtigkeit?“. b) Meine Repräsentativumfrage spiegelte deshalb jene streng geheime Absprachenpraxis wider, wie sie sich seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre des vorigen 51
BGHSt 43, 195. Dazu allg. kritisch meine Einleitung zu dem von Jürgen Wolter edierten „Spanienheft“ GA 2010, 353 ff. 53 Dazu zusammenfassend BVerfG – Urt. v. 19. 3. 2013, NJW 2013, 1058 Rz. 48 f. Juris. 54 StV 1982, 545 ff. 55 StV 1986, 360 ff. 52
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Jahrhunderts herausgebildet hatte.56 Die Erhebung von Siolek erhellte die Situation, die sich nach dem die Absprachendiskussion in die Öffentlichkeit tragenden Juristentag 1990 und der dadurch auf breiter Front eröffneten Diskussion einstellte, in der die Urteilsabsprachen nicht nur vielfach für rechtlich unzulässig erklärt und auch in der Rechtsprechung des BGH skeptisch gesehen, sondern z. T. sogar unter den Straftatbestand der Rechtsbeugung subsumiert wurden.57 Die erste Erhebung von Altenhain erfolgte nach dem im Jahre 1997 unternommenen, im Wesentlichen durch die Entscheidung des Großen Strafsenats im Jahre 2005 bestätigten Versuch des 4. Strafsenats des BGH (BGHSt 43, 195; 50, 40), die Absprachenpraxis durch Formalisierung, insbesondere durch ein Transparenzgebot und weitere Richtlinien zu „domestizieren“ und dadurch mit der ja bis dahin unveränderten StPO verträglich zu machen. Und die 2012 im Auftrag des BVerfG durchgeführte zweite Erhebung von Altenhain spiegelt schließlich die Situation nach dem Verständigungsgesetz 2009 wider. 2. Das ebenso sensationelle wie bestürzende Ergebnis dieser vier Untersuchungen ist nun darin zu sehen, dass sich die Absprachenpraxis im Grunde genommen seit drei Jahrzehnten nicht wesentlich geändert hat, so dass weder der „Domestikationsversuch“ des Bundesgerichtshofes noch dessen weitgehend identische Überführung in die StPO nennenswerten Auswirkungen gezeitigt hat.58 a) Nach der aktuellen Erhebung von Altenhain wird auch heute noch der überwiegende Teil der Absprachen in dem von der Praxis seinerzeit contra legem herausgebildeten „informellen Verfahren“ abgewickelt (ibid. S. 17 ff.), so dass der vom 4. Strafsenat ersonnene und vom Gesetzgeber im Wesentlichen nur übernommene Versuch, wenigstens „Transparenz“ zu erzwingen, im Wesentlichen gescheitert ist. b) Bereits in meiner Repräsentativumfrage vor 25 Jahren ist von allen Beteiligten (Richter, Staatsanwälte, Verteidiger, also die in den USA sog. „Gerichtssaal-Elite“) als wesentlicher Auslöser für Urteilsabsprachen genannt worden, dass eine unklare Sach- oder Rechtslage gegeben ist.59 Auch dieses Ergebnis hat sich in der aktuellen Erhebung von Altenhain wieder bestätigt (ibid. S. 78 f.). Damit steht aber fest, dass Absprachen zumindest zu einem erheblichen Teil nicht dazu dienen, das Verfahren bei völlig eindeutiger Sach- und Rechtslage abzukürzen, sondern genau umgekehrt, die Klärung einer komplizierten Sach- und Rechtslage durch die dafür vorgesehene, aber langwierige und im Ausgang ungewisse Hauptverhandlung zu vermeiden. c) Dasselbe gilt für den Charakter des Abspracheverfahrens als eines Verfahrens der Aushandlung (engl. bargaining), bei dem die Beteiligten also bereit sind, von ihren Ausgangsforderungen im Kompromisswege abzuweichen und gegebenenfalls 56
Dazu näher Schünemann, FS Heldrich, S. 1177 ff. Vgl. dazu bereits mein DJT-Gutachten 1990, S. 131 ff. 58 Ich beschränke den Vergleich aus Raumgründen nachfolgend auf die älteste und die jüngste Untersuchung. 59 Schünemann, DJT-Gutachten 1990, S. 23. 57
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auch ein ihnen eigentlich widerstreitendes Ergebnis zu akzeptieren. So war es schon bei meiner Repräsentativumfrage vor 25 Jahren,60 und so ist es auch bis heute in der aktuellen Erhebung von Altenhain geblieben.61 Zugleich zeigt sich daran, dass die Protokollierung der „Verständigung“ in der Hauptverhandlung selbst dort, wo sie überhaupt stattfindet, nicht das eigentliche Abspracheverfahren wiedergibt, sondern nur dessen Resultat, also noch krasser als bei einem Eisberg, wo immerhin ein Siebtel oberhalb der Wasseroberfläche zu sehen ist. Das bestätigt aber die Kritik, dass die angebliche Transparenz nur eine scheinbare ist, weil das Abspracheverfahren selbst weiterhin nicht in der Öffentlichkeit durchgeführt wird, sondern die Öffentlichkeit nur dessen Ergebnis erfährt62 – ähnlich wie es auch in den Zeiten des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses beim sog. endlichen Rechtstag (Art. 78 ff. CCC) der Fall war, der ja nicht mit der modernen Hauptverhandlung verwechselt werden darf. d) Ferner ist es weiterhin dabei geblieben, dass der Angeklagte selbst, um den es geht, an den eigentlichen Abspracheverhandlungen nicht beteiligt wird, sondern sich von seinem Verteidiger repräsentieren lassen muss: Das zeigte sich bereits in meiner Repräsentativumfrage,63 und hierbei ist es auch ausweislich der aktuellen Erhebung Altenhains geblieben (ibid. S. 43). Die angebliche Anerkennung der Subjektqualität des Angeklagten, die bemerkenswerterweise auch in den vom BVerfG eingeholten Stellungnahmen aus der Justiz hervorgehoben wurde,64 wird deshalb im Abspracheverfahren gerade nicht praktiziert, vielmehr findet eine Zurückverwandlung des Angeklagten in das bloße Objekt des Strafverfahrens statt. Er muss deshalb, wie übrigens die vor dem BVerfG verhandelten Verfassungsbeschwerden drastisch zeigten, erst mehr oder weniger mühsam vom Verteidiger dazu gebracht werden, das von diesem ausgehandelte Ergebnis zu akzeptieren. Und er hat, wenn er nicht verteidigt ist, keinen realistischen Zugang zu einer Urteilsabsprache. Die Absprache ist also wie vor 25 Jahren auch heute ein paternalistisches Verfahren der Gerichtssaal-Elite, in dem nicht mit dem Angeklagten, sondern über den Angeklagten verhandelt wird. Die Konsequenz ist, dass neben der bereits angesprochenen Zerstörung der Position des Richters als unbeteiligtem Dritten eine ganz ähnliche Denaturierung der Rolle des Verteidigers stattfindet, der nämlich gegenüber der Gerichtssaal-Elite die Aufgabe übernimmt, vom Angeklagten nach Mitteilung des Abspracheergebnisses die Zustimmung zu gewinnen. Besonders deutlich wird diese Denaturierung der 60 Auf Frage 18 „Wie häufig kommt es Ihrer Einschätzung nach vor einem Urteil vor, dass Beteiligte ihre anfänglich angebotenen Zugeständnisse im Verlauf der Bemühungen um die Erzielung einer Verständigung erweitern?“ (mit den möglichen Antworten häufig-gelegentlich-selten-nie) wurde von allen Befragten am häufigsten „gelegentlich“ angekreuzt. 61 Ibid. S. 74 – 76: „Feilschen“ kommt jedenfalls vor, wobei die Einschätzung zwischen den einzelnen Gruppen differiert. Nach anekdotischen Berichten aus der Praxis ist es geradezu an der Tagesordnung. 62 Bereits Schünemann, DJT-Gutachten 1990, S. 87 f.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht (Fn. 4), S. 102 Rn. 23. 63 Schünemann, DJT-Gutachten 1990, S. 43. 64 Etwa in der Stellungnahme des 1. Strafsenats v. 14. 3. 2012, S. 2.
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Anwaltsrolle durch die nach der aktuellen Untersuchung von Altenhain ja weiter überwiegende Durchführung informeller Absprachen (ibid. S. 42), weil der Anwalt sich hierbei zum Garanten der Diskretion und des nach der gesetzlichen Regelung eindeutig untersagten Rechtsmittelverzichts machen muss. e) Unverändert geblieben ist schließlich auch die Bereitschaft des Gerichts, sich mit einem Formalgeständnis („schlankes Geständnis“) zu begnügen.65 Damit steht aber fest, dass die Anordnung von § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO, die Aufklärungspflicht bleibe unberührt – worauf auch jetzt wieder die vom BVerfG eingeholten Stellungnahmen der Senate des BGH abheben66 –, an der Realität damals wie heute vorbeigeht. Notabene liegt darin auch nicht etwa nur eine rechtsbeugende Renitenz der Praxis, sondern die Einsicht in eine ab ovo widersprüchliche und geradezu heuchlerische Gesetzgebung, denn die Verfahrensabkürzung als Zweck der Urteilsabsprachen schließt es nun einmal aus, dass die Hauptverhandlung gleichwohl zur Ermittlung der materiellen Wahrheit führt. Vielmehr geht es um die Unterwerfung des Angeklagten unter das Ermittlungsergebnis, so dass das angebliche Festhalten an der Aufklärungspflicht auf eine Fiktion hinausläuft. 3. Dieses Ergebnis der über einen Zeitraum von 25 Jahren mit mehrfach wechselndem normativen Rahmen unveränderten Realität der strafprozessualen Absprachen könnte die Schlussfolgerung nahelegen, dass es eben unmöglich sei, „Informelles zu formalisieren“67. Aber dabei würde übersehen, dass sowohl vom BGH (faute de mieux, denn er konnte natürlich keine Strukturveränderung der Strafprozessordnung dekretieren) als auch vom Gesetzgeber des Verständigungsgesetzes (der ja wenig mehr getan hat als die Rechtsprechung des BGH gesetzlich auszuformulieren) eine prinzipiell untaugliche Methode gewählt worden ist, weil der zentrale Kern der Absprachen als informelles Vorgehen unter der euphemistischen Bezeichnung als „Vorgespräch“ unangetastet gelassen68 und lediglich deren anschließende Ergebnis-Protokollierung verlangt wurde, womit aber von vornherein nur die Schale und nicht der Kern verändert worden ist. Während also auf der einen Seite die Prozessstruktur der StPO durch den Verzicht auf die alleinige Wahrheitsfindung in der Hauptverhandlung gesprengt wurde,69 hat das sich im Wesentlichen auf die Übernahme der Richtlinien des BGH beschränkende Verständigungsgesetz auf der anderen Seite keine neue Struktur geschaffen, sondern schlicht die (aus dem Parteiprozess und seinen Prinzipien der Disponibilität des Prozessgegenstandes und der bloß formellen Wahrheit stammende!) Urteilsabsprache ohne sonstige Veränderungen in den auf die Ermittlung der materiellen Wahrheit gegründeten und aus diesem Grunde 65 So bereits ganz deutlich das Ergebnis meiner Repräsentativumfrage von 1987, s. mein DJT-Gutachten S. 83, und auch jetzt wieder die aktuelle Untersuchung Altenhains, ibid. S. 61 – 65, 68 f. 66 Etwa die Stellungnahme des 1. Strafsenats v. 14. 3. 2012, S. 5. 67 So der Titel des Aufsatzes von Hamm, FS Meyer-Goßner, 2001, S. 33. 68 So ausdrücklich BGHSt 43, 195, 206 oben; Gesetzesbegründung BT-Drucksache 16/ 11736, A I, 2; B, S. 14. 69 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht (Fn. 4), S. 364.
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durch das Übergewicht der Richterrolle gekennzeichneten Strafprozess der StPO hineingepflanzt – und dadurch dem Richter die nach seinem freien Ermessen wahrzunehmende Alternative angeboten, sich anstelle der Auffindung der materiellen Wahrheit in der Hauptverhandlung mit einer Verurteilung nach Aktenlage zu begnügen und die hierfür notwendige Unterwerfung des Angeklagten durch eine behauptete oder wirkliche Konzession beim Strafmaß zu erkaufen. 4. Die Ergebnisse der neuen Erhebung von Altenhain und ihr Vergleich mit den früheren Erhebungen ist deshalb nicht ein für die rechtliche Bewertung belangloses empirisches Datum, dessen Verwertung in einem normativen Diskurs einen naturalistischen Fehlschluss bedeuten würde, sondern beweist die Ungeeignetheit des Verständigungsgesetzes, die manifesten Friktionen von Urteilsabsprachen mit dem Prinzip der materiellen Wahrheit aufzulösen. Wenn der Kern der Absprachenpraxis, wie sie vor der Lüftung des über sie gebreiteten Schleiers Ende der 1980er Jahre bestanden hat, auch nach der öffentlichen Thematisierung, nach den Entscheidungen des Vierten Strafsenats und des Großen Senats des Bundesgerichtshofs und schließlich nach dem Verständigungsgesetz im Wesentlichen unverändert geblieben ist, dann wird dadurch bewiesen, dass das praktische Bedürfnis und/oder die Wandlung der die Minimalia der Verfahrensgerechtigkeit betreffenden Grundüberzeugungen, die die Absprachen hervorgebracht haben, gegenüber den „Domestikationsversuchen“ robust und immun sind. Obwohl sich das Verständigungsgesetz, wie ich es anderweitig formuliert habe, im Wesentlichen auf eine bloße „Choreographie“ der Absprachen beschränkt hat,70 hat also nicht einmal diese Choreographie den Praxistest bestanden, offenbar, weil es den Bedürfnissen der Praxis so wenig gerecht wird, wie es die Erschütterung der verfassungsrechtlichen Fundamente in Gestalt des Schuldprinzips und des fairen Verfahrens durch einen bald mit materieller Wahrheitsfindung, bald mit Absprachen arbeitenden und in diesem Sinne hybridisierten Strafprozess nicht erfasst hat.
IV. Zwar könnte die theoretische Preisgabe eines Grundprinzips, wie es die materielle Wahrheitsfindung darstellt, durch praktische Kompensationsregeln ausgeglichen werden. Das BVerfG hatte deshalb in seiner Verhandlungsgliederung mit Recht die Frage aufgeworfen, ob „das gesetzliche Regelungskonzept hinreichende Schutzmechanismen vorsieht“ (C. I. 2. c]). Aber diese Frage muss eindeutig verneint werden. 1. Hierfür muss zunächst der Ausgangspunkt festgehalten werden, dass die Urteilsabsprachen, wie das BVerfG es als Frage aufgeworfen hat, das Schuldprinzip nicht nur theoretisch, sondern „strukturell gefährden“.71 Zwar ist dies in den vom BVerfG eingeholten Stellungnahmen der Strafsenate des Bundesgerichtshofes an70 71
Schünemann, ZRP 2009, 104, 106. Verhandlungsgliederung C. 2. b).
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ders gesehen worden,72 aber nur weil diese die die Wahrheitsfindung betreffende Struktur der Strafprozessordnung zu wenig berücksichtigt haben, die ja dadurch gekennzeichnet ist, dass das Ermittlungsverfahren nicht zur Auffindung der materiellen Wahrheit, sondern nur zu einer Verdachtsklärung bestimmt ist, weshalb eine letzten Endes allein auf die Übernahme des Ermittlungsergebnisses gestützte Entscheidungsfindung zumindest in dringender Gefahr ist, die materielle Wahrheit und damit die Verwirklichung des Schuldprinzips zu verfehlen. Wenn es in der (vom BVerfG in den anhängigen Verfahren eingeholten) ausführlichsten Stellungnahme des 1. Strafsenats des BGH vom 14. 3. 2012 auf S. 5 heißt, dass das Gericht sich davon überzeugen müsse, dass die geständige Einlassung zutreffe, was aber kein Akt der Beweisaufnahme, sondern eine Klärung des Umfanges der Aufklärungspflicht im konkreten Fall sei, wofür es der Aktenkenntnis bedürfe, die die Berufsrichter den Schöffen wie auch sonst vermitteln würden, so wird hierbei der entscheidende Unterschied zwischen der Rolle der Aufklärungspflicht in einer Hauptverhandlung mit vollständiger Beweiserhebung und derjenigen in einer Ersetzung der Beweisaufnahme durch das Geständnis übersehen: Nach der Struktur der Strafprozessordnung hat die richterliche Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO die Funktion, dass das Gericht sich nicht auf die Beweiserhebungen beschränkt, die von der Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift zur Begründung des Verdachts und ggf. von der Verteidigung zu dessen Entkräftung angeführt werden, sondern, wenn in der Beweisaufnahme die materielle Wahrheit noch nicht mit Sicherheit gefunden worden ist und sich aus dem Inhalt der Hauptverhandlung oder den Akten weitere, sei es belastende, sei es entlastende Erhebungen aufdrängen, diese zur Vervollständigung der Hauptverhandlung anzuordnen hat. Die Aufklärungspflicht dient mit anderen Worten zur Vervollständigung der Beweisaufnahme, um eine etwa notwendige Erweiterung zur Absicherung der materiellen Wahrheitsfindung zu ermöglichen. Umgekehrt dient der in der Stellungnahme des 1. Strafsenats des BGH erwähnte Abgleich mit den Akten zur Einschränkung der Beweisaufnahme, nämlich zum Abgleich des durch die vorherige (!) Verständigung hervorgerufenen Geständnisses mit den Akten, um sich damit als Urteilsgrundlage begnügen zu können. Dass es hier um genau entgegengesetzte Funktionen geht und die in § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO erwähnte Aufklärungspflicht also mit derjenigen gem. § 244 Abs. 2 StPO für die „normale Hauptverhandlung“ nichts gemein hat (so dass die Gleichstellung in der Stellungnahme des 1. Strafsenats am Problem vorbeigeht), lässt sich auf allen Ebenen zeigen: der gesetzestechnischen, der prozessstrukturellen, der gerichtsverfassungsrechtlichen und der empirisch-praktischen. a) Es ist kein Zufall und erst recht kein Versehen, dass der Gesetzgeber in formeller Hinsicht zwischen der Äußerung des Angeklagten zur Sache gemäß § 243 Abs. 5 und der Beweisaufnahme im Sinne des § 244 StPO unterscheidet und hier also ausdrücklich eine förmliche Beweisaufnahme nach der Vernehmung des Angeklagten 72 Während in derjenigen des Generalbundesanwalts vom 16. 4. 2012, S. 9 ff., 13 ff., 37 ff., 49 ff. die Gefahren anerkannt, wenn auch nach der empfohlenen Durchführung weiterer Restriktionen (!) für beherrschbar gehalten worden sind.
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vorgesehen hat. Diese Unterscheidung, die sich bereits in dem vom Bundesrat beschlossenen Entwurf der StPO findet, ergab sich aus der für die Hauptverhandlung ausdrücklich wiederholten Zweckrichtung der Vernehmung des Angeklagten, ihm Gelegenheit zur Rechtfertigung und Beseitigung der gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu gewähren,73 was wiederum die bereits im Entwurf anerkannte Aussagefreiheit des Beschuldigten74 zum Hintergrund hat, weil Angaben einer überhaupt nicht zur Aussage und deshalb auch nicht zur wahrheitsgemäßen Aussage verpflichteten Person nicht als förmlicher Gegenstand einer Beweisaufnahme angesehen wurden. b) Infolgedessen haben die Ermittlungsakten aber im Fall der Verständigung für die Aufklärungspflicht eine ganz andere Funktion als in einer „normalen“ Hauptverhandlung: Nach dem Konzept der StPO dienen sie nur dazu, über eine eventuelle Ergänzung der zur Auffindung der materiellen Wahrheit bestimmten Beweisaufnahme zu befinden, während sie bei den Absprachen das zentrale Kriterium der Glaubhaftigkeit des Geständnisses sein sollen und also die eigentliche Beweisaufnahme substituieren. Infolgedessen beruht das Urteil bei der Absprache auch nicht allein, wie es in den §§ 261 und 264 StPO vorgeschrieben ist, auf dem Ergebnis der Beweisaufnahme und der aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung nach dem Ergebnis dieser Verhandlung, sondern auf dem für sich allein nicht ausreichenden, vorher abgesprochenen Geständnis in Verbindung mit dem Inhalt der Ermittlungsakten. Genau dafür ist aber das Ermittlungsverfahren nicht konzipiert worden, weil es, wie schon mehrfach unterstrichen, nur die Verdachtsklärung leisten, nicht aber den Tatnachweis führen soll. c) Damit verändert sich aber grundsätzlich auch die Einbeziehung der Schöffen, was in der Argumentation auf S. 5 der oben angeführten Stellungnahme des 1. Strafsenats vom 14. 3. 2012 übersehen wird: In einer „normalen“ Hauptverhandlung sind die Schöffen in der Lage, aus dem von ihnen miterlebten Inbegriff der Hauptverhandlung eine eigene Überzeugung von der materiellen Wahrheit zu erlangen. Dass eventuell die Berufsrichter ihre Aktenkenntnis zur Erfüllung der Aufklärungspflicht einbringen müssen, ist nicht nur ein Ausnahmefall, sondern ändert auch am Inbegriff der Hauptverhandlung nichts, weil ja eventuell erforderliche Ergänzungen dann wiederum in der Hauptverhandlung stattfinden und diese entsprechend erweitern. Genau anders herum ist es bei einem abgesprochenen Urteil, weil die Schöffen die ausreichende Glaubwürdigkeit des Geständnisses prinzipiell und bei einem vorher durch Verständigung abgesprochenen Urteil ausnahmslos nicht aus sich heraus zuverlässig beurteilen können und also für diese Beurteilung auf die ihnen aus den Ermittlungsakten gegebene Information angewiesen sind, so dass sie nicht in der Lage sind, eine eigene Beurteilung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung abzugeben. Die dadurch geschaffene Unfähigkeit der Schöffen, mit Hilfe des Inbegriffs der Hauptverhandlung zur Feststellung der materiellen Wahrheit zu gelangen, ist dabei nur die Fortset73 74
Motive des Entwurfs bei Hahn I, S. 191. Motive bei Hahn I, S. 138 f.
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zung ihrer schon bei der Absprache selbst stattfindenden Ausschaltung, wo sie auch nach der neuen Untersuchung von Altenhain (S. 43 ff.) weiterhin nicht die geringste Rolle spielen.75 d) Auch die aktuelle Untersuchung von Altenhain hat ergeben, dass der Abgleich mit den Ermittlungsakten das hauptsächliche Instrument zur „Überprüfung“ der Glaubwürdigkeit des Geständnisses ist (S. 68 f.), wobei man dies vor einem doppelten Hintergrund sehen muss: Bei dem Geständnis handelt es sich im Regelfall, wie schon erwähnt, weiterhin um ein bloßes Formalgeständnis, das häufig sogar nur vom Verteidiger für den Angeklagten erklärt wird und dessen „intrinsischer“ Beweiswert also im Grunde nahe Null ist. Und weil, wie ebenfalls schon erwähnt, als einer der häufigsten Gründe für die Wahl der „Verständigung“ als Erledigungsform die „schwierige Sach- und Rechtslage“ fungiert, ist in diesen Fällen nicht einmal mit Hilfe der Ermittlungsakten eine Überprüfung im eigentlichen Sinne möglich. Gegen das Gewicht dieses empirischen Befundes lässt sich auch nicht einwenden, das seien dann eben Missbräuche, die man ohne naturalistischen Fehlschluss nicht für die verfassungsrechtliche Beurteilung verwerten könne. Denn es geht dabei nicht um individuelle Entgleisungen, sondern um die innere Logik der „Verständigung“ als Erledigungsform: Das zeigt sich einmal daran, dass schon meine Repräsentativ-Umfrage 1987 denselben Befund ergeben hat.76 Und zum anderen würde das ganze Institut der verfahrenserledigenden Verständigung konterkariert, wenn doch wieder eine nachhaltige Beweisaufnahme über die Glaubwürdigkeit und Vollständigkeit des Geständnisses durchgeführt werden müsste. 2. Für die Auffindung der materiellen Wahrheit als notwendiger Voraussetzung der Realisierung des Schuldprinzips ist damit an dem Befund nicht zu deuteln, dass das abgesprochene Urteil maßgeblich nicht auf einer in der Hauptverhandlung stattfindenden Wahrheitsfindung, sondern auf der Übernahme des Ergebnisses der Ermittlungsakten beruht und damit auf einem Verfahren, das von vornherein nicht zur Wahrheitsfindung, sondern nur zur Verdachtsklärung bestimmt und entsprechend begrenzt ausgelegt ist. Dass in der Praxis in ungebrochener Kontinuität seit meiner vor 25 Jahren durchgeführten Repräsentativumfrage nicht nach einer materiellen Wahrheitsfindung, sondern nur nach einem Ergebnis entsprechend den Ermittlungsakten gesucht wird und dass das Gericht sich damit zufriedengibt, zeigt die innere Sachlogik eines abgesprochenen Urteils, die in der seit Jahrzehnten unveränderten Praxis lediglich zur Geltung gebracht wird. Denn nur insoweit macht das ganze Institut ja einen Sinn, dem es um Verfahrensabkürzung und also um die Ersetzung der Wahrheitsfindung in der Hauptverhandlung durch die Unterwerfung des Angeklagten unter das Ergebnis des Ermittlungsverfahrens geht, wobei ihm eine entsprechen75
Gem. Frage 3 meiner Repräsentativumfrage beschränkte sich damals die Beteiligung der Schöffen an einer informellen Absprache auf 3 % der Fälle. 76 Frage 26: 71 % der Richter würden das Geständnis auch dann akzeptieren, wenn die Schuldfrage nach den bisherigen Verfahrensergebnissen noch ungeklärt ist; und eine „unklare Rechtslage“ wurde von 72 %, eine „unklare Beweislage“ von 90 % der befragten Richter als absprachefördernd qualifiziert, Antworten auf Frage 7.
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de Konzession im Strafmaß als Gegenleistung zugesichert wird. Dass die daraus resultierenden, manifesten Gefahren für die Wahrheitsfindung und damit für die Realisierung des Schuldprinzips sich dadurch noch einmal potenzieren, dass eines der zentralen Motive der Justiz bei der Wahl dieses Verfahrensweges in einer unklaren Sach- und Rechtslage besteht, wie von meiner Repräsentativumfrage vor 25 Jahren bis zur neuen Untersuchung durch Altenhain unverändert herausgekommen ist, ist ebenfalls nicht auf das Konto „mögliche Missbräuche“ buchbar und deshalb normativ irrelevant, wie in der Stellungnahme des 1. Strafsenats vom 12. 3. 2012 auf Seite 6 gemeint wird. Denn wie gerade diese jahrzehntelange Kontinuität der Praxis bei wechselndem rechtlichen Bezugsrahmen zeigt, geht es nicht um einzelne individuelle Missbrauchsfälle, sondern um eine jahrzehntelang geübte und ersichtlich eingewurzelte, von der Regelung des § 257c StPO offensichtlich unbeeinflusst gelassene Praxis. Eine an der Effektivität von Rechtsnormen orientierte und sich nicht mit weltfremden Allgemeinplätzen beruhigende Beurteilung kann hieran nicht vorbeigehen.77 3. Dass die Vorschrift des § 257c StPO nicht nur keinerlei Einwirkung auf diese Praxis zu leisten vermocht hat, sondern auch ihrer Struktur nach dazu nicht geeignet, im Grunde genommen nach den Vorstellungen des Gesetzgebers auch nicht einmal bestimmt gewesen ist, wird dadurch unmittelbar belegt: Ziel des Verständigungsgesetzes war es (in Durchführung jener Kautelen, die der Bundesgerichtshof faute de mieux hinsichtlich der Transparenz des Verfahrens proklamiert hatte, weil ihm eine Umgestaltung der Prozess-Struktur selbst naturgemäß nicht möglich war), erkennbar zu machen, ob das Urteil auf Absprachen beruht oder nicht, und auf jeden Fall die Anfechtbarkeit des Urteils sicherzustellen. Dass selbst das Transparenz-Ziel nicht erreicht worden ist, weil die Praxis daraufhin abermals in informelle Absprachen ausgewichen ist, geht aus der aktuellen Erhebung von Altenhain deutlich hervor. Dagegen lässt sich auch nicht einwenden, dass Missbräuche immer möglich seien, denn es geht gerade nicht um individuelle Missbräuche, sondern um den Beweis, dass die vom Gesetzgeber gewählte Regelungstechnik eben von vornherein ungeeignet war, den gewünschten Erfolg hervorzubringen. Die andere Kautel, nämlich die Garantie der Rechtsmittelfähigkeit gemäß § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO, wird durch das Ausweichen auf informelle Absprachen ebenfalls unterlaufen und erscheint unabhängig davon zur Garantie der Einhaltung des Schuldprinzips und der dafür notwendigen materiellen Wahrheitsfindung auch von der Struktur her unzulänglich: Weil die Verständigung des § 257c StPO und überhaupt alle Urteilsabsprachen darauf gerichtet sind, anstelle einer langwierigen Hauptverhandlung die Anerkennung des Ermitt77 Insbesondere lässt sich auch nicht aus der in der Stellungnahme des 1. Strafsenats v. 14. 3. 2012 auf S. 5 oben zitierten Entscheidung des EGMR v. 23. 11. 2010 i. S. Kriegisch/ Deutschland etwas anderes ableiten: Wie die vorangegangene Kammerentscheidung des BVerfG v. 16. 11. 2005 (2 BvR 1102/05) deutlich macht, ging es darin überhaupt nicht um die Problematik der förmlichen „Verständigung“ gem. § 257c StPO (die einschlägige BGH-Entscheidung erging am 1. 6. 2005!), sondern um ein Problem der Befangenheit des Richters bei Angebot einer Strafobergrenze entspr. der Entscheidung BGHSt 43, 195.
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lungsergebnisses durch den Angeklagten zu setzen, müssen substantielle Kautelen darauf gerichtet sein, die Entscheidungsfreiheit des Angeklagten so weitgehend zu stärken, dass die von ihm ausgesprochene Anerkennung des Ermittlungsergebnisses als sozusagen authentische Beglaubigung in unverkümmerter Entscheidungsfreiheit gewertet werden kann. Kautelen in diese Richtung hat das VerständG aber nirgendwo geschaffen, obwohl es sie in mindestens dreifacher Weise hätte geben können: (1) durch eine Verstärkung der Stellung der Verteidigung im Ermittlungsverfahren, (2) durch eine Vorleistung der Justiz anstelle des Angeklagten sowie (3) durch Richter-Inkompatibilität zwischen Absprache- und „streitigem“ Verfahren (damit sich die prinzipiell manifestierte Bereitschaft, unter Umständen ein Geständnis abzulegen, nicht im weiteren Verfahren zum Nachteil des Angeklagten auswirken kann). Die bloße Möglichkeit einer späteren Anfechtung des Urteils schafft dagegen in keiner Hinsicht die für den Angeklagten ex ante wichtige Kautel, weil (1) naturgemäß der Verzicht auf eine eigentliche Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung inhaltlich die Revisionsaussichten entscheidend schmälert, weil (2) der den Angeklagten bei der Absprache repräsentierende Verteidiger kaum Neigung zeigen wird und kann, gegen das von ihm abgesprochene Urteil in die Revisionsinstanz zu gehen, gefährdet er doch damit mindestens auf die Dauer seine Reputation als verlässlicher Partner, und weil (3) aus der Sicht jedes vernünftigen Angeklagten Revisionsaussichten mit ihrer notorisch niedrigen Erfolgsquote viel zu unsicher sind, um darauf die eigene Entscheidung zu stellen. 4. Sind so die vom VerständG geschaffenen „Kautelen“ von vornherein ineffizient, so fehlt es unter den soeben genannten entscheidenden drei Aspekten überhaupt an jeder ernsthaften Kautel: Die Stellung der Verteidigung im oder am Ende des Ermittlungsverfahrens zur Beurteilung der Zuverlässigkeit des hierbei erzielten Ergebnisses ist nicht verstärkt worden; die Vorleistungspflicht liegt beim Angeklagten, der sein Geständnis in Unsicherheit erstatten muss, ob sich das Gericht aufgrund der weitreichenden Möglichkeiten von § 257c Abs. 4 StPO von der Verständigung wieder lösen wird, während er umgekehrt befürchten muss, bei einer Ablehnung des gerichtlichen Angebots im Rahmen der Verständigungskommunikation das Opfer einer, sei es ausgesprochenen, sei es implizit immer mitschwingenden „Sanktionsschere“ zu werden; und auch wenn § 257c Abs. 3 Satz 3 StPO für den Fall einer Lösung des Gerichts von der Absprache die Unverwertbarkeit des Geständnisses anordnet, ist der Angeklagte doch wegen der fortdauernden Zuständigkeit des Richters, der die Abspracheverhandlungen geführt hat, nicht davor gesichert, dass dieser durch unbewusste Informationsverarbeitungsprozesse des bisherigen Prozessverlaufes an einer streng neutralen Würdigung der anschließend durchgeführten Beweisaufnahme gehindert sein wird: Außer auf den schon erwähnten Perseveranz-Effekt verweise ich auf die Ergebnisse eines von mir im Rahmen der empirischen Untersuchungen zu den strafprozessualen Absprachen durchgeführten, videogestützten Experiments, wonach allein schon die Aufnahme von Absprachenkommunikationen in einer diffusen Beweissituation dazu führt, dass der Richter einer systematischen Verzerrung der Beweiswürdigung erliegt und signifikant häufiger zu einem Schuldspruch gelan-
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gen wird, als wenn keine (misslungene) Absprachekommunikation stattgefunden hat und dadurch die Bereitschaft des Angeklagten erkennbar war, unter hinreichend günstigen Strafzumessungsbedingungen ein Geständnis abzulegen.78 Kommt noch als quasi dritte Stufe ein abgelegtes, aber normativ unverwertbares Geständnis hinzu, so wird der Richter bei der Informationsverarbeitung nicht nur unbewusst von seiner Kenntnis der Ermittlungsakten und der an sich bestehenden Bereitschaft des Angeklagten zur Ablegung eines Geständnisses, sondern auch von dem faktisch erfolgten Geständnis an einer streng neutralen Bewertung der Beweisergebnisse nach den psychologischen Erkenntnissen über unbewusste Verzerrungen der Informationsverarbeitung gehindert. Dagegen lässt sich auch nicht einwenden, dass es hier um rein empirisch-psychologische Fragen gehe, denn natürlich muss der Gesetzgeber, um eine normativ ausgewogene Regelung zu treffen, die psychologischen Bedingungen der richterlichen Urteilsfindung bei seiner Regelung berücksichtigen. 5. Insgesamt kann also nicht ernsthaft bezweifelt werden, dass der Gesetzgeber durch die bloße Übernahme des vom BGH in das damals geltende Recht eingefügten Transparenzgebots, ohne die ihm vom Großen Strafsenat aufgegebenen strukturellen Reformen (BGHSt 50, 40, 64) zu schaffen, jegliche Schutzmechanismen zur Verwirklichung des Schuldprinzips schuldig geblieben ist.
V. Mein Resümee konnte bei Abfassung des Manuskripts sehr kurz ausfallen: Der deutsche Strafprozess wird gegenwärtig zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben, die in der Entfesselung der Polizeigewalt und in der Ersetzung der Wahrheitsfindung qua Hauptverhandlung durch die Urteilsabsprachen bestehen. Dagegen hatten Jürgen Wolter und ich, so wie wir vor 50 Jahren Seite an Seite im Glauben an den deutschen Rechtsstaat das Jurastudium aufgenommen hatten, auch weiter Seite an Seite den Protest der Strafprozessrechtswissenschaft erhoben und eine rechtsstaatlich ausgewogene Lösung eingefordert.79 Und nach der schon mehrfach angesprochenen mündlichen Verhandlung des BVerfG über die Verfassungsmäßigkeit der Urteilsabsprachen durfte man hoffen, dass dieser Protest und diese Forderung jedenfalls hier Gehör gefunden hatten. Diese Hoffnung ist nicht völlig trügerisch gewesen, auch wenn das am 19. März 78
Näher dazu Schünemann, Wetterzeichen (Fn. 4), S. 27. Die hier aus Raumgründen nicht einmal mehr skizziert oder in ihren im Schrifttum durchaus vorhandenen, richtungweisenden Ansätzen zitiert werden kann. Nur so viel: Wenn das Ermittlungsverfahren zu einem völlig eindeutigen Ergebnis geführt hat, spricht nichts dagegen, auf die dann überflüssige Hauptverhandlung zu verzichten. Davon zu unterscheiden und durch wirksame Kautelen abzuschotten ist die im Ergebnis noch offene und lediglich aus Umfangsgründen sperrige Hauptverhandlung, deren de facto abgenötigte oder abgekaufte Ersetzung durch eine als „Verständigung“ euphemistisch bezeichnete Unterwerfung inakzeptabel ist. 79
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2013 während der Drucklegung dieses Beitrages ergangene Urteil des Zweiten Senats80 anstelle jener Tiefenstruktur in der Problembehandlung, durch die sich dessen Verhandlungsgliederung ausgezeichnet hatte, in seiner Argumentation die dogmatische und empirische Oberflächenstruktur bevorzugt und sich deswegen in der Tagespresse das erheblich übertriebene, aber nicht völlig aus der Luft gegriffene Verdikt der „Albernheit“ eingehandelt hat.81 Zwar ist mir in den Korrekturfahnen selbstverständlich keine detaillierte Auseinandersetzung mit einer 62-seitigen Verfassungsgerichtsentscheidung möglich; aber neben den schmerzlichsten Lücken und Desideraten der Entscheidung müssen jedenfalls auch ihre wichtigsten „Verbotstafeln“ festgehalten werden, deren Verdunkelung in den zu erwartenden Publikationen aus der Praxis82 und deren vollständige Ignorierung in der forensischen Praxis selbst vorauszusagen kein Prophet nötig ist. 1. Die drei „Kernverbotszonen“ der Entscheidung würden, wenn die Praxis sie respektierte, ein Erdbeben verursachen und den „Deal“, wie er in 30 Jahren entwickelt worden ist und sich immer mehr Strafverfahren einverleibt hat, ein für alle Mal beseitigen. Sie lauten: „Es genügt jedoch nicht, das verständigungsbasierte Geständnis durch einen bloßen Abgleich mit der Aktenlage zu überprüfen (Rz 71 Juris); eine Strafrahmenverschiebung darf nicht Gegenstand einer Verständigung sein, und zwar auch dann nicht, wenn sie sich auf Sonderstrafrahmen für besonders schwere oder minder schwere Fälle im Vergleich zum Regelstrafrahmen bezieht (Rz 74 Juris); jegliche sonstigen ,informellen‘ Absprachen, Vereinbarungen und ,Gentlemen’s Agreements‘ sind untersagt“ (Rz 76 Juris), womit insbesondere auch Zusagen der Staatsanwaltschaft über die Einstellung anderer Verfahren ausgeschlossen sind (Rz 79 Juris). 2. Zwar hat das BVerfG diese drei Verbotszonen zu Recht im verfassungsrechtlich verbürgten Schuldprinzip und dem daraus prozessual folgenden Prinzip der materiellen Wahrheit verankert (so ausdrücklich Leitsatz 1), aber es hat im Urteil die (in der Gliederung der mündlichen Verhandlung noch weit geöffneten) Augen davor verschlossen, dass jeder „Verständigung“ ein Aushandlungsprozess vorausgeht, für den das Verständigungsgesetz auch nicht die allermindesten Kautelen geschaffen hat, dass der Richter über dieses Procedere nach Willkür entscheidet und hieran (ebenso wie die Staatsanwaltschaft!) mit eigenen bürokratischen Interessen an Verfahrensabkürzung teilnimmt, wodurch er die in der StPO vorausgesetzte strenge Neutralität im Sinne nicht nur von Unparteilichkeit, sondern Freiheit von eigenen Interessen ebenso verliert wie der Verteidiger die erst in der Hauptverhandlung realisierte Waffengleichheit, deren Unverzichtbarkeit als Bedingung der Wahrheitsfindung statt als bloßes Fairnessalmosen nicht beachtet worden ist. Das fehlende Verständnis für die strukturelle Überwältigung der Verteidigung in der Absprachever80
NJW 2013, 1058. So Prantl in der Süddeutschen Zeitung vom 20. 3. 2013, S. 4. 82 So titelte etwa die SZ v. 20. 3. 2013 eklatant falsch: „Karlsruhe billigt ,Deal‘ im Strafprozess.“ 81
Urteilsabsprachen im Strafprozess – ewige Wiederkunft des Gleichen?
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handlung und für die notwendig interaktionistische Struktur der Wahrheitsfindung macht deshalb das zentrale Defizit der Entscheidung aus, als dessen schlichte Konsequenzen sich deren einzelne Angriffspunkte ergeben wie etwa die treuherzig-unzutreffende Meinung in Leitsatz 3, dem „in erheblichem Maße defizitäre(n) Vollzug des Verständigungsgesetzes“ (vulgo jahrelange kollektive Rechtsbeugung) zum Trotz sichere das (keine einzige strukturelle Verwerfung kompensierende und ausweislich der Praxis eklatant impotente) „Verständigungsgesetz die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben in ausreichendem Maße“, oder die nicht weniger treuherzige Beförderung der seit Jahrzehnten als Bock in der vom BVerfG mit Recht verdammten informellen Dealpraxis aktiven Staatsanwaltschaften zum Gärtner, dessen „Kontrolle … herausgehobene Bedeutung zukommt“ (Rz 93 Juris). 3. Was bleibt für „Rechtswissenschaft als Beruf“ übrig? Weiterhin unverdrossen eine rechtsstaatlich ausgewogene Lösung einfordern – so wie es uns Jürgen Wolter immer vorgemacht hat. Ad multos annos!
Möglichkeiten und Grenzen bei Widersprüchen zwischen Strafurteilen1 Von Jesús-María Silva Sánchez Wie kein anderer hat unser hochverehrter Jubilar Jürgen Wolter jahrzehntelange Anstrengungen zur Begründung einer Systematik des Strafprozessrechts unternommen.2 Es seien ihm diese bescheidenen Seiten in kollegialer Dankbarkeit gewidmet!
I. Einleitung Rechtskräftige Entscheidungen sind grundsätzlich unangreifbar. Davon ausgehend ist es gebräuchlich, darauf zu verweisen, dass das Grundrecht auf ein faires Verfahren (bzw. effektiven Rechtsschutz) die Wirkung der materiellen Rechtskraft schützt und garantiert. Dies gilt im Übrigen in doppelter Hinsicht: Einerseits hat ein rechtskräftiges Urteil negativ (präkludierend) zur Folge, dass weitere Rechtssprüche zu dem entschiedenen prozessualen Lebenssachverhalt nicht ergehen dürfen. Positiv (präjudizierend) verhindert es, dass ein Gericht in einem Folgeprozess zwischen denselben Beteiligten den bereits rechtskräftig entschiedenen oder anerkannten Umständen der Vorentscheidung widerspricht oder deren Gültigkeit aberkennt. Im Zusammenhang mit strafrechtlichen Urteilen erfolgt jedoch teilweise der einschränkende Hinweis, dass einem rechtskräftigen Urteil die positive Dimension fehle. Gewöhnlich wird lediglich eine negative Komponente anerkannt. Es ist dagegen eine heikle Frage, ob es auch möglich ist, einem rechtskräftigen (sowohl freisprechenden als auch verurteilenden) Urteil präjudizierende Wirkung zukommen zu lassen, wenn es um ein späteres Verfahren geht. Es fragt sich also, ob – und in welchem Maß – ein vorangehendes rechtskräftiges Urteil eine Bindungswirkung für ein nachfolgendes Verfahren haben kann, wenn es um den gleichen Sachverhalt bei einem anderen Beschuldigten geht. Fraglich ist in diesem Zusammenhang ebenso, inwiefern ein vorangehendes rechtskräftiges Urteil eine Bindungswirkung für ein nachfolgendes Verfahren entfalten kann, wenn dem gleichen Beschuldigten eine andere Tat 1
Ich danke Herrn Rechtsanwalt Dr. Ingo Bott von der Kanzlei Wessing & Partner für die geleistete Hilfe bei der Übersetzung der spanischen Fassung dieses Beitrages. 2 Wolter, Zur Theorie und Systematik des Strafprozessrechts (1995), passim; ders., Kriminalpolitik und Strafprozessrechtssystem (2001), S. 1141 ff.; ders., in: Heinrich/Jäger/ Schünemann, Strafrecht als Scientia Universalis, Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag, Bd. 2 (2011), S. 1245 ff.
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zur Last gelegt wird, bei deren Feststellung oder Bewertung es auf den von der Rechtskraft erfassten Gegenstand ankommt.3 Zusammengefasst fragt sich also: a) inwiefern bei einem Strafurteil ein bindender positiver (präjudizierender) Effekt anzuerkennen ist; b) inwiefern ein solcher Bindungseffekt nicht nur für den Tenor des Urteils gilt, sondern auch dessen Gründe, insbesondere die bewiesenen Tatsachen umfasst.
II. Rechtsprechung und herrschende Lehre Genauso wie der deutsche Bundesgerichtshof vertritt der spanische Oberste Gerichtshof (Tribunal Supremo) die These, dass die Rechtskraft nur den Tenor des Urteils, nicht aber die Urteilsgründe umfasst. Insbesondere verneint er, dass die Feststellungen in den Gründen eines früheren Strafurteils eine Bindungswirkung für ein späteres Strafurteil entfalten können.4 Die Entscheidung des Tribunal Supremo vom 21. 1. 2008 (La Ley 17729/2008) kann als beispielhaft gelten. Im konkreten Fall hatte das Jugendgericht Nr. 6 in Barcelona einen Minderjährigen von dem Vorwurf der sexuellen Nötigung und Körperverletzung freigesprochen. Der Freispruch basierte nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auf der Erkenntnis, dass die sexuellen Beziehungen des vermeintlichen Opfers mit dem Minderjährigen und einem weiteren, volljährigen Angeklagten hinsichtlich beider vollumfänglich einvernehmlich gewesen und die entstandenen Verletzungen dem Zufall und der besonderen Intensität der sexuellen Kontakte geschuldet waren. Dennoch wurde der volljährige Beschuldigte auf derselben Sachverhaltsgrundlage vor der 5. Kammer des Landgerichts Barcelona wegen sexueller Nötigung und Körperverletzung angeklagt. Das Gericht sprach ihn frei, ohne auch nur in die Beweisaufnahme einzutreten, wobei es sich darauf berief, dass die zuvor getroffenen Feststellungen des rechtskräftigen Urteils gegen den Minderjährigen bindend seien. Dabei wies das Gericht darauf hin, dass andernfalls das Risiko zweier sich widersprechender, in der Rechtskraft aber gleichrangiger Entscheidungen bestünde, obwohl diese sich mit ein- und demselben Sachverhalt befassten. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hin hob der Oberste Gerichtshof dieses Urteil auf, da mangels subjektiver Identität der Beteiligten nicht von einer präjudizierenden Wirkung gesprochen werden könne. Im Rahmen 3 Rieb, in: Rieß (Hrsg.), Löwe-Rosenberg, StPO-Großkommentar, 25. Aufl. 1999, Einl. Abschn. J Rn. 103. 4 Es handelt sich dabei um eine ständige Rechtsprechung. Beispielhaft seien dafür folgende Entscheidungen des Tribunal Supremo (STS) angeführt: STS vom 16. 10. 1991 (La Ley 974/ 1992); STS vom 15. 2. 2002 (La Ley 4952/2002); STS vom 9. 2. 2004 (La Ley 1098/2004). Das Argument des Urteils vom 15. 2. 2002, es bestünden „keine zwei deliktischen Sachverhalte, die vollkommen gleich sind“, ist selbstverständlich nicht auf jene Konstellationen übertragbar, in denen zwei aufeinander folgende Urteile sich getrennt voneinander mit dem Verhalten zweier vermeintlicher Tatbeteiligter im Zusammenhang mit demselben Sachverhalt befassen.
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der Zurückverweisung gab der Oberste Gerichtshof der nun entscheidungsbefugten Kammer ausdrücklich auf, den Sachverhalt neu aufzuklären. Mit dieser Haltung ist die Rechtsprechung bei weitem nicht allein. Auch die herrschende Lehre stellt sich auf den Standpunkt, dass ein abgeurteilter Fall nicht für jene, die nicht selbst Gegenstand des abgeurteilten Verfahrens waren, von präjudizierend bindender Wirkung sein kann, dies selbst dann nicht, wenn dem entsprechenden Verfahren tatsächliche Umstände zugrunde liegen, über die bereits geurteilt wurde.5 Verwiesen wird in diesem Zusammenhang darauf, dass nur der dispositive Teil eines Urteils von präjudizierender Wirkung auf einen anderen Fall sein könne, nicht dagegen die (positive) Sachverhaltsfeststellung oder gar die rechtliche Subsumtion. Zur Folge hat das, dass auch rechtskräftige Strafurteile jenen Strafrichter nicht binden, der über eine andere Person bzw. einen anderen Sachverhalt in einem anderen Verfahren zu urteilen hat.6 Folgt man dem, beschränkt sich die präjudizierende Wirkung eines Urteils darauf, die Unberührbarkeit der verantwortlichkeitsbezogenen subjektiven rechtlichen Erkenntnisse hinsichtlich der jeweils Beschuldigten zu garantieren. Es fehlt allerdings daran, eine Vorhersehbarkeit künftiger Urteile zu denselben Umständen zu gewährleisten; mit anderen Worten: es entsteht daraus keine Rechtssicherheit im objektiven Sinn. Zur Folge hat das allerdings zwangsläufig die Bereitschaft, sich gegenseitig widersprechende Urteile als möglich anzuerkennen, selbst wenn diese denselben Sachverhalt zum Gegenstand haben. Ausreichend dafür ist es dann bereits, dass über verschiedene Personen in verschiedenen Verfahren geurteilt wird, die – warum auch immer – nicht einheitlich, sondern eben getrennt stattfinden7. Diesbezüglich wird 5 Statt aller Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 27. Aufl. 2012, § 52 Rn. 10; Beulke, Strafprozessrecht, 12. Aufl. 2012, § 24 Rn. 503; Meyer-Gobner/Schmitt, StPO-Kommentar, 55. Aufl. 2012, Einl Rn. 170; Pfeiffer/Hannich, Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl. 2008, Einl. Rn. 167; s. auch Grünwald, Die Teilrechtskraft im Strafverfahren (1964), S. 17 m.w.N. Aus der spanischen Lehre vertritt dies etwa das Standardwerk von Gómez Orbaneja/Herce Quemada, Derecho procesal penal, 7. Aufl.1972, S. 274. 6 Aus dem Umstand, dass A in einem ersten Verfahren wegen des Verdachts des Diebstahls aus tatsächlichen Gründen mangels eines Tatnachweises freigesprochen wird, kann etwa nicht geschlossen werden, dass B in einem weiteren Verfahren wegen Hehlerei als Nachtat des in Rede stehenden Diebstahls verurteilt wird. Umgekehrt gilt Vergleichbares: Der Umstand, dass A in einem ersten Verfahren wegen Diebstahls bestraft wird, steht dem nicht entgegen, dass B in einem weiteren Verfahren wegen Hehlerei mit der Begründung freigesprochen wird, dass A keinen Diebstahl als Vortat begangen hat, dessen Verwertung B begünstigt haben würde. Vgl. dazu Roxin/Schünemann (Fn. 5), § 52 Rn. 10; Cortés Domínguez, La cosa juzgada penal (1975) S. 162 ff. Im französischen Strafrecht wird im Übrigen seit 1912 die Idee einer präjudizierenden Wirkung für Dritte verworfen, darüber hinaus die Möglichkeit sich widersprechender Urteile und irrtümlicher Entscheidungen ausdrücklich anerkannt, vgl. Pradel/Varinard, Les grands arrêts de la procédure penale, 4. Aufl. 2003, S. 378 ff. 7 Oder sogar dass über dieselbe Person in verschiedenen Verfahren geurteilt wird, wenn ihr im nachfolgenden Verfahren nicht dieselbe sondern eine andere Tat zur Last gelegt wird, auch wenn bei deren Feststellung oder Bewertung es auf den vom ersten, rechtskräftigen Urteil erfassten Gegenstand ankommt.
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darauf hingewiesen, dass man zwischen praktischen und theoretischen Urteilswidersprüchen unterscheiden soll.8 Praktische Konflikte werden insoweit gelöst, als sich die Präjudizwirkung eines Urteils genau auf solche Konstellationen bezieht, in denen Täter, Sachverhalt und Rechtsgrund identisch sind. In theoretischer Hinsicht soll man jedoch damit leben müssen, dass es im Hinblick auf verschiedene Angeklagte auch verschiedene Rechtssprüche über denselben Sachverhalt geben kann, wenn diese von verschiedenen Gerichten abgeurteilt werden.9 Es wird versucht, diesen Standpunkt etwa auf die Argumentation zu stützen, dass die eigentümliche Aufgabe eines Richters darin besteht, im individuellen Fall den abstrakten Strafanspruch des Staates zu konkretisieren, weswegen den festgestellten konkreten Tatumständen für die Frage nach einer darüber hinausgehenden präjudizierenden Wirkung keine Bedeutung zukommt. Ebenso wird vorgebracht, dass eine Bindungswirkung über das Einzelurteil hinaus einen anderen Richter an Fehlern festhielte, die – eventuell – in dem ersten Verfahren begangen wurden. Gleichwohl ruft dieser Ansatz eine gewisse Verwirrung hervor. Denn einerseits wird zugestanden, ein rechtskräftiges Urteil könne befinden, dass sich ein bestimmtes Geschehen nicht ereignet habe (A). Im Anschluss wäre dann aber – mit anderen Angeklagten oder sogar mit dem gleichen Angeklagten bei einer anderen davon abhängigen Tat – weiterhin ein Urteil möglich, das zu der Erkenntnis kommt, das in Rede stehende Geschehen sei eben doch passiert. Der juristische Laie wird dies nicht ohne Verwunderung aufnehmen. Denn es ist eine verstörende Vorstellung, das System des Strafrechts10, dem die einzelnen Strafurteile angehören, sei dazu in der Lage, grundlegende Widersprüche solcher Art hervorzubringen und zu ertragen, dass es trotz seiner Einheitlichkeit damit leben kann, zugleich von „A“ und „nicht A“ auszugehen. Ex contradictione quodlibet!
III. Materialien für die eingehende Untersuchung 1. Die Ansicht einer Mindermeinung Eine Mindermeinung stellt sich dem Vorgenannten entgegen.11 So vertritt sie die Ansicht, dass es unangebracht sei, ein zweites Verfahren in derselben Sache gegen 8
Cortés Domínguez (Fn. 6), S. 165 ff. Hervorgehoben werden muss freilich, dass sich das Problem genauso stellen kann, wenn es um Urteile geht, die von ein und demselben Gericht (!) erlassen werden. 10 Dem Jürgen Wolter viele glänzende Seiten gewidmet hat, die den Ganzheitlichkeitsanspruch eines solchen Systems bestätigt haben. So Wolter, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozess im gesamten Strafrechtssystem (1996), S. 1 ff. 11 Diese Mindermeinung ist von Binding, H. Mayer und Henkel vertreten worden: Nachweise und Nuancen bei Grünwald (Fn. 5), S. 16. Am entschiedensten zeigt sich heute dabei Nieva Fenoll, La cosa juzgada (2006). Positive Bindungseffekte sollen ihm zufolge sowohl für Verurteilungen als auch für Freisprüche anzuerkennen sein, soweit dies erforderlich dafür sei, die Unantastbarkeit des bereits Entschiedenen zu gewährleisten (S. 149). Das beinhalte im 9
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andere mögliche Beteiligte zu bemühen, wenn ein rechtskräftiges Urteil sich mit einem oder mehreren Beteiligten befasst und die Nichtexistenz der strafrechtlich relevanten Tat festgestellt hat.12 In diesem Zusammenhang geht die Mindermeinung davon aus, dass das erste rechtskräftige Urteil eine objektive Funktion erfüllt, indem es einen bestimmten status feststellt, der verhindert, dass im Anschluss noch einmal entgegengesetzt dazu entschieden werden kann.13 Eine Ausnahme soll nur dann gelten, wenn dem ersten Richter oder Gericht ein offensichtlicher Fehler nachweisbar ist oder aber eine Bindung des zweitentscheidenden Gerichts an das erste Urteil gegen die Unschuldsvermutung verstieße.14 Um auch dies an einem Beispiel zu veranschaulichen: Wird in einem ersten Urteil für den Angeklagten A auf einen Freispruch wegen der Nichtexistenz der in Rede stehenden Haupttat erkannt, kann danach gegen einen Angeklagten B in einem weiteren Verfahren keine Verurteilung mehr wegen Anstiftung oder Beihilfe im Hinblick auf diese vermeintliche Tat des A erfolgen.15 Diese Mindermeinung erkennt einem rechtskräftigen Strafurteil bindende Wirkung zu. Damit geht sie natürlich über das Prinzip ne bis in idem hinaus: Ausgehend von einer Bindungswirkung bestimmter grundlegender Aspekte eines Rechtsspruchs vertritt sie, dass in manchen Fällen die ratio decidendi eines Urteils auch über den konkreten Fall hinaus von Bedeutung sein soll und daher auch künftige Verfahren beeinflussen kann. 16 Sollte das Angesprochene dagegen ignoriert, nach einem Freispruch in einem ersten Verfahren also ein zweiter Prozess auf derselben Tatsachengrundlage gegen eine Übrigen, dass eine Bindungswirkung sowohl aus den Feststellungen zum tatsächlichen Geschehen als auch aus den rechtlichen Erkenntnissen eines Urteils entstehe (S. 182). 12 In Spanien Fenech, Derecho procesal penal, 3. Aufl. 1960, S. 1184; ders., El proceso penal, 4. Aufl. 1982, S. 384. Die eingehende Untersuchung von De la Oliva Santos et. al. (Hrsg,) Derecho procesal penal, 7. Aufl. 2004, S. 552 ff. zeigt sich den benannten Argumenten offen, kommt schlussendlich aber zu demselben Ergebnis wie die herrschende Lehre. Vgl. auch Medina Cepero, Actualidad penal 2001, S. 519. 13 Zaczyk, GA 1988, S. 356 ff.; s. auch Grunsky, in: Tübinger Festschrift für Eduard Kern (1968), S. 223 ff. 14 Für Nieva Fenoll (Fn. 11), S. 149, soll auch der Grundsatz der Unschuldsvermutung keine anerkennenswerte Einschränkung für den positiven Effekt einer präjudizierenden gerichtlichen Entscheidung sein. 15 Zaczyk, (Fn. 13), S. 369 f., der in diesem Zusammenhang auf das Akzessorietätsprinzip bei Fragen der Teilnahme abstellt. 16 Die Reichweite soll dabei von der Art des in einem ersten Urteil festgestellten Umstandes und dem Ergebnis der Beweisaufnahme abhängen. Wenn in einem ersten Urteil etwa als bewiesen erklärt wurde, dass ein Todesfall eine natürliche Ursache hat, oder aber dass er nur durch das Verhalten einer einzelnen Person hervorgerufen wurde, die dafür auch schuldig gesprochen wird, soll es hernach nicht mehr möglich sein, diese Umstände im Zusammenhang mit weiteren Personen, die nicht in dem ersten Verfahren beteiligt waren, in anderer Weise zu werten. Vgl. in internationalem Kontext dazu auch Pérez Manzano, La prohibición constitucional de incurrir en bis in idem (2002), S. 124 f.; vgl. auch Jimeno Fernández, Diario La Ley 2006, S. 3.
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Person geführt werden, die in diesem ersten Verfahren nicht freigesprochen wurde (etwa weil sie noch nicht einmal Gegenstand des abschließenden Urteils war), könnte man zwar sicherlich noch nicht von einer Verletzung des Verbots der double jeopardy – also der prozessrechtlichen Dimension des Grundsatzes ne bis in idem – sprechen. Für den erst jetzt Angeklagten stünde jedoch eine Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz zu befürchten.17 Hand in Hand mit diesem Recht geht nämlich der Grundsatz der Rechtssicherheit, der dem zweiten Angeklagten das Recht zugesteht, von dem ihn aburteilenden Rechtsorgan eine unmissverständliche Antwort darauf zu erhalten, warum in einer Sache gegen ihn noch einmal verhandelt wird. Ein neues, weiteres Verfahren und eine neue, weitere Entscheidung über denselben Lebenssachverhalt wären damit nicht vereinbar, wenn dessen Nichtexistenz, fehlende Beweisbarkeit oder abwegige rechtliche Annahme bereits Gegenstand einer ersten, rechtskräftig gewordenen Urteilsfindung waren. 2. Die angelsächsische Debatte über die „issue preclusion“ Einen wertvollen Beitrag zu der vorliegenden Debatte vermag ein Blick auf die gegenwärtige Diskussion der hier angesprochenen Fragen im anglo-amerikanischen Rechtsraum zu liefern. Ein erster wichtiger Aspekt ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass die Frage nach der präjudizierenden Wirkung einer rechtskräftigen Entscheidung (issue preclusion, collateral estoppel: mittelbares Verfahrenshindernis durch Urteil) sich auch hier außerhalb des Rahmens der Frage nach dem Vorliegen einer double jeopardy (ne bis in idem) stellt. Sie bewegt sich damit außerhalb des Rahmens des Fünften Zusatzes der US-amerikanischen Verfassung und ist eine typische Ausprägung des common law. Dabei gilt: „double jeopardy is one barrier against retrial; issue preclusion or collateral estoppel is the effective adjunct preventing harassment“.18 Daraus soll nun nach einer Lehrmeinung noch weitergehend folgen, dass dann, wenn es in einem ersten Verfahren einen Freispruch (acquittal) aus objektiven Gründen gegeben hat, ein weiterer Beteiligter, der nicht Gegenstand dieses Verfahrens war, bei einem zweiten Verfahren, dem derselbe Lebenssachverhalt zugrunde liegt, zu seiner Verteidigung auf die Anwendung des collateral estoppel abstellen kann.19 Die US-amerikanische Rechtsprechung scheint dem allerdings entgegenzustehen. So lehnt das grundlegende Urteil Stanfeder v. United States 447 U.S. 10 (1980) den Verzicht auf die subjektive Identität der Beteiligten („mutuality“) ab. Nur wenn eine solche vorliegt, soll es möglich sein, den Grundsatz des collateral estoppel zur Anwendung zu bringen.20 Zugrunde liegt dem insbesondere die Furcht 17 So das Urteil der 17. Kammer des Landgerichts Madrid vom 7. 3. 2005 (La Ley 52981/ 2005). 18 Vestal, Iowa Law Review 1979 – 1980, S. 300. 19 Vestal (Fn. 18) S. 290 mit konkreten Beispielen bei S. 289 Fn. 70. 20 Vgl. auch Montana vs.United States, 440 US 147, 153 (1979).
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davor, dass irrtümliche oder unverständliche Freisprüche letztlich auch Dritten zugutekommen könnten.21 Die Grundsatzentscheidung hebt daher hervor, dass der Nachteil der Uneinheitlichkeit von Rechtssprüchen im Rahmen einer Abwägung letztlich geringer ausfällt als jener, der entstünde, wenn irrtümliche Freisprüche auch im Hinblick auf Dritte zu beachten wären. Gefährdet wäre dadurch namentlich auch die effektive Anwendung und Durchsetzung der Strafgesetze. Trotzdem ließ das Urteil ein Hintertürchen offen: In manchen Fällen soll es danach möglich sein, von einem „defensive nonmutual collateral estoppel“ auszugehen. Die Lehre führt den Verzicht auf das Merkmal der subjektiven Identität dagegen nicht zuletzt auch darauf zurück, dass für die Bestandskraft einer abgeurteilten Sache unter dem Strich auch ökonomisch-rationale Gesichtspunkte sprechen. Sie verweist in diesem Zusammenhang außerdem auf das Argument der sonst angegriffenen Justiz-Reputation, dies insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass widersprüchliche Urteile einen massiven Ansehensverlust der Rechtsprechung mit sich brächten. 22 Vor allem aber beruft sich die Lehre auf das Leitbild des Verwirklichens (materieller) Gerechtigkeit. 23 Es geht ihr damit maßgeblich darum, Mängeln in Sicherheit und Verlässlichkeit von Rechtssprüchen effektiv entgegenzutreten, erzeugen doch widersprüchliche Urteile große Zweifel an der „Fairness“ der Rechtsprechung und ziehen daher bei der Rechtsgemeinschaft Vertrauensverluste nach sich. Darüber hinaus – und womöglich noch wichtiger – zählt für sie das Ziel, eine „unwarranted vexatious litigation“ auszuschließen.24 Diese Lehre stützt ihren Ansatz dabei in normativer Hinsicht auf den Vierten Verfassungszusatz der US-amerikanischen Verfassung. Außerdem beruft sie sich auf die Prozessmaxime des fairen Verfahrens.25 Die genannten Argumente besitzen Durchschlagskraft. Denn zu verhindern, dass der Angeklagte in einem zweiten Verfahren zu seiner Verteidigung auf die Ergebnisse eines ersten rechtskräftigen Urteils zu demselben Lebenssachverhalt, aber einer anderen Person, abstellen kann, wenn dieses erste Urteil zu einem Freispruch aus objektiven Gründen geführt hat (etwa wegen der nachgewiesenen Nichtexistenz des Vorgeworfenen, fehlender Beweiskraft, mangelhafter Subsumtion etc.), enthielte schlussendlich einen fundamentalen Widerspruch zu rechtsstaatli-
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Vgl. den Commentary, 93 Harvard Law Review 1980, S. 806. Couillard, 3 Western State University Law Review 1975 – 1976, S. 43. 23 Zu der Ungerechtigkeit, die sich widersprechenden Urteilen innewohnt, vgl. Williams, Criminal Law. The General Part, 2. Aufl. 1961, S. 669 f.; s. auch den Commentary, 21 Rutgers Law Review 1967, S. 277. 24 Murray, 46 Southern California Law Review 1972 – 1973, S. 950. 25 Commentary, Harvard Law Review 1996, S. 1735: Es ist mit unseren Rechtsgrundsätzen nicht vereinbar und widerspricht ihnen sogar, dem Souverän die Möglichkeit zu geben, Beweise dafür vorzubringen, dass jemand eine Straftat begangen hat, wenn bereits rechtskräftig festgestellt wurde, dass der Betreffende die Tat nicht begangen hat. 22
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chen Freiheiten.26 Nicht zuletzt läge darin, zu Ende gedacht, eine Art zweite Chance für den Staat, dem Grundsatz eines fairen Verfahrens, den er seinen Bürgern gewährt, auszuweichen, indem er einem Angeklagten etwas nimmt, das – der Sache nach – bereits abschließend zu seinen Gunsten entschieden war.27 Mit guten Gründen wird vielmehr vorgetragen, dass es gerade (rechtsstaatlich) positive Auswirkungen hätte, wenn einer rechtskräftigen Entscheidung in einer Sache, die sich auf objektive Umstände stützt, auch für Dritte präjudizierend bindende Wirkung zukäme, selbst wenn diese nicht in der Sache abgeurteilt wurden, aber dennoch Teil desselben abgeurteilten Lebenssachverhaltes waren. Verhindert würde namentlich jegliche mögliche Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes. Ebenso würde der Grundsatz der Fairness gewahrt, wenn man einen Beschuldigten von der Notwendigkeit befreite, sich zu Umständen zu verteidigen, die bereits zuvor abschließend entschieden wurden. Es entstünde dadurch ein evenhanded treatment of similar cases. Darüber hinaus würde die Bestandskraft rechtlicher Entscheidungen geschützt und damit die Maxime gewahrt, „justice must satisfy the appearance of justice“. Es soll dabei allerdings nicht verschwiegen werden, dass eine solche Sicht auch zwei grundlegende Probleme mit sich bringt: So vermag sie zunächst keine Antwort darauf zu geben, ob es tatsächlich gerecht ist, sich an einem Freispruch zu orientieren, der irrtümlich zustande gekommen ist oder der an rechtlichen Fehlern leidet. Ein solches Fehlurteil würde schließlich nicht nur bestätigt, sondern in seinen Auswirkungen sogar noch ausgeweitet. Daneben gerät die Lehrmeinung in Bedrängnis, wenn es um das Auftreten neuer belastender Beweise (new evidence) geht.28 Aus diesem Grund erkennt auch sie Ausnahmen von einer Präjudizwirkung an: Jedenfalls dann, wenn in einem ersten Verfahren nachweislich ein Freispruch unter falschem Verständnis von tatsächlichen oder rechtlichen Belangen zustande gekommen ist, soll in einem neuen Prozess gegen Dritte (und damit nicht Freigesprochene) zu demselben Lebenssachverhalt eine entgegenstehende Entscheidung möglich sein. Ebenso gesteht die Lehre zu, dass das Auftreten neuer Beweise für ein Verfahren gegen Dritte beachtlich sein soll, wenn es um denselben Lebenssachverhalt geht und diese Dritten nicht von einer Entscheidung in einem ersten Urteil erfasst wurden, die neuen Beweise aber bislang ebenfalls nicht berücksichtigt werden konnten. Wenn im Anschluss an den rechtskräftigen Freispruch im ersten Verfahren festgestellt werden sollte, dass dieser einer mangelhaften Auswertung der Beweise geschuldet war, ist es wegen des Verbotes der double jeopardy (ne bis in idem) zwar nicht möglich, 26 Williams (Fn. 23), S. 407 f.: Wenn der vermeintliche Haupttäter aus tatsächlichen Gründen freigesprochen wird, ist es nicht möglich, danach einen vermeintlichen Beteiligten wegen einer Teilnahme an einem gar nicht bewiesenen Verhalten zu verurteilen. 27 Zu Ende gedacht erschiene es sonst für den Staat als günstige und effektive Idee, ein Strafverfahren in eine Vielzahl kleiner Abschnitte und Vorwurfsbezüge zu zerteilen, um dadurch zunächst die Statistik erfolgreicher Aburteilungen zu schönen, darüber hinaus aber auch mehrere Möglichkeiten zu erhalten, einen Beteiligten trotz eines rechtskräftigen Urteils zu seinen Gunsten im Nachhinein eben doch zu bestrafen. 28 Murray (Fn. 24), S. 947, 956 f., 962.
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gegen die freigesprochenen Angeklagten des ersten Verfahrens in einem zweiten Verfahren vorzugehen. Gleichwohl soll es dann aber eben doch zulässig sein, in einem zweiten, anschließenden Verfahren gegen andere Personen vorzugehen, die im Rahmen des ersten Prozesses nicht abgeurteilt wurden und diese – neuen – Angeklagten auf der Grundlage der neuen Beweise zu verurteilen.29 Liegen die genannten engen Ausnahmefälle dagegen nicht vor, droht dem Vorhaben, einen dem vorgehenden Urteil entgegenstehenden Rechtsspruch zu erlassen, nach ausdrücklichem Hinweis der dargestellten Lehrmeinung die Gefahr, sich wegen einer insofern nicht gerechtfertigten Andersbehandlung dem Vorwurf der Willkür auszusetzen.
IV. Bilanz Auch die herrschende Lehre verweigert sich vielleicht nicht der Erkenntnis, dass die in einem ersten Verfahren bewiesenen Umstände bei der Beweisaufnahme im Rahmen eines zweiten Verfahrens beachtet werden sollten. Möglich ist außerdem, dass sie die Vorstellung aufnimmt, ein erstes rechtskräftiges Urteil habe jedenfalls ein solch spezifisches qualitatives Gewicht, dass es grundsätzlich bei einem zweiten Urteil zum gleichen Sachverhalt eine übereinstimmende Lösung geben sollte. Als wahrscheinlich gelten kann dabei immerhin, dass auch die herrschende Lehre für das Abweichen von dem Ergebnis der Beweisaufnahme aus dem ersten Verfahren eine qualifizierte Begründung voraussetzen dürfte. Eine konkrete Grundlage könnte dafür etwa der Nachweis gravierender Fehler im Rahmen des ersten Urteils sein, oder aber das Auftreten neuer Beweisthemen oder -mittel, durch welche sich die Beweissituation grundlegend anders darstellt. Es handelt sich dabei, genereller gesprochen, um solche Merkmale, die prima facie dazu geeignet wären, im Zusammenhang mit dem ersten Urteil eine Wiederaufnahme zu begründen.30 Hintergrund dieser Haltung dürfte – wie ausgeführt – die Befürchtung der herrschenden Lehre sein, dass irrtümlich zustande gekommene, aber rechtskräftige Urteile den Inhalt neuer gerichtlicher Entscheidungen maßgeblich beeinflussen und damit dafür sorgen, dass auch diese weiteren Entscheidungen irrtümlich ausfallen. Sehenden Auges nimmt sie dabei freilich in Kauf, dass es letztlich zu zwei sich gegenseitig widersprechenden Urteilen kommen kann. Möglicherweise lässt sich aber auch die Grundlage für eine gewisse Harmonisierung der Positionen finden und der Stabilitätsanspruch bezüglich des ersten Urteils mit jenem der materiellen Gerechtigkeit bezüglich eines zweiten Urteils in Einklang bringen. Denken wir in diesem Zusammenhang etwa zunächst einmal an einen Fall, in dem das erste, rechtskräftige Urteil einen Freispruch aufgrund der erwiesenen 29
Williams (Fn. 23), S. 407 f. Fn. 28. Diese Merkmale können allerdings in einzelnen Rechtsordnungen unterschiedlich ausfallen. Vgl. für Spanien Art. 954 LECrim, für Deutschland §§ 359 ff. StPO. 30
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Nichtexistenz der vorgeworfenen Tatumstände enthält.31 In dieser Konstellation harmonierte eine Bindungswirkung für das zweite Verfahren perfekt mit der Unschuldsvermutung zugunsten des Angeklagten in diesem zweiten Verfahren. Zugestanden werden muss zwar, dass hierdurch in gewisser Weise die Vorgehensbefugnisse der Anklagebehörde eingeschränkt werden. Gleichwohl ist es alles andere als unvernünftig, wenn diese sich dem Argument der Stabilität gerichtlicher Entscheidungen (entgegen dem Risiko sich widersprechender Urteile) beugt und so auch die Unschuldsvermutung effektiv aufrechterhält. Eine solche Beschränkung kann andererseits jedoch kaum absoluter Natur sein. Es ist beispielsweise zuzugestehen, dass dann, wenn bei der Einleitung eines zweiten Verfahrens feststeht, dass die Voraussetzungen einer Wiederaufnahme des ersten Urteils gegeben sind, eine Bindungswirkung des vorangehenden Urteils nicht mehr in Betracht kommt. Zwar steht fest, dass die rechtskräftige erste Freispruchentscheidung einer Wiederaufnahme nach spanischem Recht nicht mehr zugänglich ist.32 Das heißt aber nicht, dass die neu aufgetretenen Merkmale nicht dazu geeignet wären, das zweite Verfahren unter anderen Voraussetzungen stattfinden zu lassen, namentlich von dem festgestellten Fehlen bestimmter Umstände im ersten Verfahren abzuweichen. Eine Entscheidung entgegen dem ersten Urteil wäre hier vernünftig. Wenden wir uns nun dem Fall zu, dass in einem ersten verurteilenden Urteil ein objektiver Umstand festgestellt wird, der auch für den Angeklagten eines zweiten Verfahrens belastend ist. In Konflikt gerät eine Bindungswirkung des ersten Urteils in dieser Konstellation zunächst mit dem Prinzip der Unschuldsvermutung, auf das sich der Angeklagte des zweiten Verfahrens berufen darf, denn schließlich war es für ihn bislang noch nicht möglich, sich gegen den auf einen entsprechenden Lebenssachverhalt gestützten Tatvorwurf zu verteidigen. Auch hier darf es keinen Zweifel daran geben, dass eine Bindungswirkung jedenfalls dann ausgeschlossen ist, wenn bereits prima facie Umstände vorliegen, die eine Wiederaufnahme des ersten Urteils rechtfertigen. Angesichts dessen, dass eine Wiederaufnahme verurteilender Urteile sowohl durch das deutsche als auch durch das spanische Gesetz grundsätzlich möglich ist, stünde die fehlende Bindung an ein anderes Urteil damit nicht unter dem generellen Vorwurf, in (prozessual) unerträglicher Weise sich widersprechende Urteile hervorzubringen. Schwieriger stellt sich die Frage dar, ob es bei einem zweiten Verfahren die Möglichkeit geben soll, sich auf eine fehlende Bindungswirkung einer Vorentscheidung zu berufen, selbst wenn hinsichtlich dieser keine Wiederaufnahme möglich wäre. Zugute käme eine solche Entbindung zweifelsohne der Unschuldsver31 Oder denken wir etwa sogar an eine Verurteilung, die sich auf einen einzigen tatsächlichen Umstand stützt, der sich als von einer einzelnen Person herbeigeführt darstellt, die wiederum auch genau dafür verurteilt wird. In diesem Fall, einem vollständig abgeschlossenen und abgeurteilten Geschehen, das einmal belastend, einmal begünstigend wirkt, sind ebenfalls bindende Auswirkungen hinsichtlich eines wegen dieses Lebenssachverhaltes weiteren Angeklagten zu erwarten. 32 Art. 954 Ley de Enjuiciamiento Criminal. Im deutschen Recht ist dagegen, wie bekannt, die Möglichkeit einer Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten möglich (§ 362 StPO).
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mutung zugunsten des Angeklagten im zweiten Verfahren. Aber auch dem effektiven Rechtsschutz der Anklagebehörde stünde das nicht entgegen, da schließlich das erste Urteil als qualifiziertes Beweismittel in die Beweisaufnahme des zweiten Prozesses eingebracht werden kann, der in jedem Fall stattfinden muss, um die Verantwortlichkeit des zweiten Angeklagten zu klären. Vor diesem Hintergrund scheint es mir richtig, insbesondere im Hinblick auf den Grundsatz der Unschuldsvermutung, davon auszugehen, dass die Verneinung einer Bindungswirkung wesentlich angebrachter ist, wenn es um Umstände des ersten, rechtskräftigen Urteils geht, die im Rahmen eines zweiten Verfahrens für den Angeklagten belastend wirken könnten, als wenn es um solche geht, die für den Angeklagten eines zweiten Verfahrens begünstigend wirkten. Dies gilt selbst dann, wenn damit unter dem Strich einmal die Gefahr sich widersprechender Urteile heraufbeschworen werden sollte.
V. Die Position des spanischen Verfassungsgerichts Seit dem Urteil 77/1983, vom 3. 10. 1983 (La Ley 205-TC/1984), gehört es zu den wesentlichen Erkenntnissen des spanischen Verfassungsgerichts (Tribunal Constitucional), dass „für die Organe des Staates nicht manche Umstände zugleich existieren und nicht existieren dürfen“.33 Wenn also der Vergleich zweier Rechtssprüche verschiedener Spruchorgane dazu führt, dass manche Umstände sowohl „geschehen sind“ als auch „nicht geschehen sind“, muss erkannt werden, dass damit die rechtliche Vernunft in ihren Grundfesten erschüttert und zugleich das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz verletzt wird (Art. 24.1 der spanischen Verfassung). Zur Folge hat dies, dass dann, „wenn eine rechtskräftige Entscheidung in einem Rechtsgebiet besteht, andere Gerichte, die sich im weiteren Verlauf mit demselben Sachverhalt befassen, die in der ersten Entscheidung für gegeben erklärten Umstände ebenfalls als bestehend anzunehmen oder aber die abweichende Auffassung, die sie diesbezüglich teilen, zu rechtfertigen haben.“34 Insbesondere der letzte Aspekt verdient besondere Aufmerksamkeit. Die Entscheidung 16/2008, vom 31. 1. 2008 (La Ley 1126/2008) 33
„Unos mismos hechos no pueden existir y dejar de existir para los órganos del Estado“. „Si existe una resolución firme dictada en un orden jurisdiccional, otros órganos judiciales que conozcan del mismo asunto con posterioridad deberán también asumir como ciertos los hechos declarados tales por la primera resolución o justificar la distinta apreciación que hacen de los mismos“. In diese Richtung gehen auch die – nur exemplarisch angeführten – Entscheidungen 204/1991, vom 30. 10. 1991 (La Ley 1821-TC/1992); 182/1994, vom 20. 6. 1994 (La Ley 17176/1994); 190/1999, vom 25. 10. 1999 (La Ley 750/2000); 34/2003, vom 25. 2. 2003 (La Ley 1683/2003); 109/2008, vom 22. 9. 2008 (La Ley 132319/2008). Wenn ich mich nicht irre, hat das Verfassungsgericht seine entsprechende Haltung zwar auf der Grundlage von Konstellationen erarbeitet, in denen eine einzelne Person von zwei sich widersprechenden rechtlichen Entscheidungen betroffen war. Andererseits denke ich nicht, dass sich daraus eine nachhaltige Schranke für eine Übertragung gewisser Aspekte auch auf die hier interessierenden Fallgruppen ergibt. 34
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wiederholt dies. Bekräftigt wird darin die Existenz bestimmter Umstände aufgrund gerichtlicher Entscheidungen. Gibt es solche, „ist es nicht möglich, davon abzuweichen, ohne dabei die Gründe oder Grundlagen zu erklären, die eine solche Abweichung rechtfertigen.“35 Es darf nicht aus den Augen verloren werden, dass das Verfassungsgericht diesen Standpunkt vor allem im Hinblick auf drohende Widersprüche zwischen Entscheidungen von Gerichten aus unterschiedlichen Rechtsbereichen einnimmt. Gleichwohl scheint es nicht unangebracht, daraus einen Erst-Recht-Schluss auch für solche Fälle zu ziehen, die sich Gerichten innerhalb desselben Rechtsgebiets stellen. Umso mehr gilt dies schließlich dann, wenn es sogar um Entscheidungen geht, die durch ein und dasselbe Gericht getroffen werden. Vor diesem Hintergrund gibt die verfassungsrechtliche Rechtsprechung damit wichtige Hinweise darauf, wie mit Widersprüchlichkeiten bei Strafurteilen umzugehen ist, wenn diese sich mit demselben Lebenssachverhalt, aber anderen Angeklagten befassen. Zusammenfassend können wir damit im Hinblick auf die Argumentationslinie des Verfassungsgerichts an dieser Stelle festhalten, dass das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz nicht bereits durch unterschiedliche Entscheidungen in einer Sache als solche verletzt wird, sondern erst dann, wenn diese Unterschiedlichkeit jeder Vernunft oder argumentativen Grundlage entbehrt. Als Maßstab sollte dabei gelten, dass derlei Gründe augenfällig werden. Letztlich stimmt dies, wie ich meine, auch mit dem bereits zuvor Ausgeführten überein.
VI. Abschließende Bemerkung zur Problematik kontradiktorischer Subsumtion Es ist eine gebräuchliche Herangehensweise, die Hypothese von der Auswirkung von Widersprüchlichkeiten im Rahmen der Sachverhaltsermittlung (Vorliegen/ Nichtvorliegen von Umständen) von jener bei der Rechtsanwendung selbst (also der klassisch sog. Subsumtion) zu unterscheiden. Letztere treten etwa dann auf, wenn beispielsweise eine rechtskräftige Entscheidung vorliegt, nach der in einem Lebenssachverhalt (A) der Straftatbestand des Totschlags nicht verwirklicht wurde (H), später dann allerdings im Rahmen einer anderen, gegen andere Angeklagte gerichteten Entscheidung darauf erkannt wird, dass genau derselbe Lebenssachverhalt (A), eben doch einen Totschlag enthält (H). In diesem Zusammenhang drängt sich ebenfalls die Frage auf, inwiefern von einer Bindungswirkung des Präzedenzfalles auszugehen ist. Unproblematisch stellt sich eine Orientierung am Vorgängerfall jedenfalls dann dar, wenn das erste Urteil von demselben Entscheidungsorgan gefällt wird, das auch für den zweiten Prozess zuständig ist (Selbst-Präzedenzfall), oder wenn die erste Entscheidung von einem höherrangigen Gericht stammt (vertikaler 35 „No es posible separarse de ellos sin acreditar las razones o fundamentos que justifiquen tal apartamiento.“
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Präzedenzfall). Komplizierter wird es jedoch dann, wenn das Gericht, das die erste Entscheidung gefällt hat, ein anderes ist als jenes, das mit der zweiten Entscheidung betraut ist, beide im Instanzenzug allerdings auf derselben Ebene liegen (horizontaler Präzedenzfall). Im angelsächsischen Rechtsraum besteht die Aufgabe der Gerichte bekanntlich nicht nur darin, über faktische und rechtliche Fragen zwischen den konkreten Verfahrensbeteiligten zu entscheiden, sondern darüber hinaus darin, zugleich das Gesetz selbst zu definieren und zu verkünden. Im Rahmen dieser Konkretisierung des Gesetzes bildet die ratio decidendi (das holding) der vorhergehenden Entscheidungen für nachfolgende Entscheidungen einen bindenden Präzedenzfall (binding precedent). An diesen müssen sich die später entscheidenden Gerichte halten (stare decisis). Es soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass eine abweichende Entscheidung möglich bleibt (overruling). Dabei wird von dem Präzedenzfall mit qualifizierter Mehrheit abgewichen und zugleich erläutert, warum man ein solches Vorgehen wählt. Darüber hinaus ist der Bestimmung der Bindungswirkung des Präzedenzfalles eine Stufe differenzierter Betrachtung der Sachverhalte – des aktuell zu entscheidenden und der vormals bereits entschiedenen – vorgeschaltet (distinguishing). In diesem Rahmen wird wertend beurteilt, ob eine Identität zwischen den Fällen besteht oder nicht. In den vorliegend untersuchten Konstellationen, die sich dadurch auszeichnen, dass der Sachverhalt einer zweiten Entscheidung exakt einem vorhergehend entschiedenen entspricht, scheint es, als befänden wir uns in einer Ausgangslage, die der Grundsatz der stare decisis prägt. Zunächst stellen wir fest, dass der zu entscheidende Lebenssachverhalt identisch ist, weswegen das distinguishing uns nicht weiterbringt. Des Weiteren ist auch die ratio decidendi unstreitig anwendbar. Sofern dem angelsächsischen Rechtssystem der Vorzug gegeben wird, steht also zu erwarten, dass die juristische Lösung der Rechtslage unzweifelhaft aus der Vorgängerentscheidung ableitbar ist. In diesem Zusammenhang verdient der Umstand Beachtung, dass die Vorbehalte gegen das Modell einer stare decisis, wie beispielsweise der Gedanke, dass eine strenge Anwendung letztendlich das Recht eines Angeklagten auf rechtliches Gehör beschneiden und damit prozessuale Grundrechte verletzen könnte,36 nur dann negative Auswirkung haben kann, wenn eine quasi mechanische Anwendung eines negativen Präzedenzfalles zu Lasten des Angeklagten in Rede steht. Die Bindung eines Gerichts an einen zugunsten des Angeklagten anwendbaren Präzedenzfall stellt für den Betroffenen dagegen eine wünschenswerte Konstellation dar, die sich auch mit seinen prozessualen Grundrechten perfekt vereinbaren lässt. Es steht außer Zweifel, dass in unserer Rechtstradition – möglicherweise anders als im angelsächsischen Rechtsbereich – das Spannungsfeld zwischen den Grundsätzen der Gleichheit vor dem Gesetz und der richterlichen Unabhängigkeit zugunsten 36
Barrett, 74 University of Colorado Law Review 2003, S. 1011 ff.
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des letzteren entschieden zu werden pflegt.37 Trotz eines damit grundlegend unterschiedlichen Ausgangspunktes kann aber festgehalten werden, dass auch bei uns seit einiger Zeit ein gewisser Wandel in der Haltung stattfindet. Seinen Hintergrund findet dieser in einer realistisch geprägten Auffassung des Gesetzlichkeitsprinzips. Unter dem Begriff der Gesetzlichkeit verstehen wir heute letztlich vor allem die Vorhersehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen (das sog. Vertrauen). Zu dieser Vorhersehbarkeit tragen aber insbesondere dem konkret zu entscheidenden Fall vorhergehende Urteile bei, durch welche die in Rede stehenden Gesetze angewendet und konkretisiert werden. In qualifizierter Hinsicht sollte sich das insbesondere auf Verfahren übertragen lassen, die sich mit genau jenem Sachverhalt befassen, über den bereits zuvor mit einer rechtskräftigen Entscheidung entschieden wurden. Zusammenfassend gilt damit, dass der Gedanke rechtlicher Bindung durch vorhergehende Urteile vor dem Hintergrund des Gleichheitsgrundsatzes und dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz progressiv verfolgt werden sollte.38 Derzeit jedenfalls geht dies dem spanischen Verfassungsgericht aber noch zu weit. Als verfassungswidrig werden von diesem bisher nur jene widersprüchlichen Entscheidungen angesehen, die, ohne dass sich das erklären ließe, innerhalb desselben Gerichts zustande kommen.39 Es scheint jedoch absehbar, dass die Ausweitung rechtsbindender Grundsätze auf vertikale oder auch horizontale Präzedenzfälle jedenfalls im Zusammenhang mit den hier besprochenen Konstellationen und unter Beachtung des Rechts eines Angeklagten, sich effektiv zu verteidigen, nur noch eine Frage der Zeit ist. Ich komme zum Ende meines Beitrags. Damit habe ich versucht, den lieben Kollegen Jürgen Wolter zu ehren. Ihm gilt auch ein besonderer Dank für seine Anstrengungen, aus Goltdammer’s Archiv für Strafrecht ein Forum dogmatischer supranationaler Diskussion unter Gleichheitsbedingungen zu formen. Ad multos annos!
37
Díez-Picazo, Sistema de derechos fundamentales, 2. Aufl. 2005, S. 209 ff. Díez-Picazo (Fn. 37), S. 211. 39 Um eine Verletzung des Gleichheitsgrundrechts annehmen zu können, bedarf es nach ständiger Rechtsprechung des spanischen Verfassungsgerichts dabei folgender Merkmale: Identität des entscheidenden Gerichts, Identität der entscheidenden Merkmale des widersprüchlich entschiedenen Sachverhaltes, Fehlen allgemein verständlicher Gründe, nach denen sich der Wechsel in der Rechtsauffassung nachvollziehen ließe. Vgl. dazu Urteil 160/1993, vom 17. 5. 1993 (La Ley 2257-TC/1193); 46/2003, vom 3. 3. 2003 (La Ley 1372/2003). Hervorzuheben ist, dass es entscheidend nicht darauf ankommen soll, eine Abänderung der Entscheidung zu erreichen, sondern vielmehr darauf, dass sich diese nicht nach objektiv verständlichen, juristisch fundierten Gründen nachvollziehen lässt. Vgl. dazu Urteil 46/1996, vom 25. 3. 1996 (La Ley 4236/1996). 38
Das Konfrontationsrecht des Angeklagten – wesentliches Element eines fairen Verfahrens oder Fremdkörper im deutschen Strafprozess? Von Thomas Weigend Die Überlagerung der nationalen Strafverfahrensrechte durch internationale Menschenrechtsstandards hat dazu geführt, dass sich inquisitorische und adversatorische Verfahrenstraditionen mischen. Dadurch entstehen Gesamtgebäude des Verfahrens in eklektischem Stil, bei denen nicht alle Teile so recht zueinander passen. Mit einem Beispiel einer solchen Vermischung beschäftigt sich der folgende Beitrag. Es geht um das Recht des Beschuldigten „to examine or have examined witnesses against him“, wie es Art. 6 III lit. d der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) formuliert.1 Mit dem Gesamtpaket der EMRK ist auch das sog. Konfrontationsrecht des Beschuldigten in das deutsche Strafverfahren importiert worden. Seine Verletzung führt häufig dazu, dass der gesamte Prozess gegen den Beschuldigten nicht als „faires Verfahren“ i. S. v. Art. 6 I EMRK betrachtet wird. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wacht streng darüber, dass dem Beschuldigten die Möglichkeit zur Befragung von Belastungszeugen eingeräumt wird, und auch Deutschland ist der Verurteilung wegen Verstößen gegen Art. 6 III lit. d EMRK nicht entgangen.2 Im Folgenden werde ich kurz die Ursprünge des Konfrontationsrechts im angloamerikanischen Recht und dessen „Immigration“ nach Kontinentaleuropa behandeln. Es wird dann zu überlegen sein, wie die überaus weite Interpretation dieses Rechts durch die neuere Rechtsprechung des EGMR und die eher zurückhaltende Reaktion der deutschen Gerichte einzuordnen sind.
1 Art. 6 EMRK bestimmt: „3. Everyone charged with a criminal offence has the following minimum rights: (…) (d) to examine or have examined witnesses against him and to obtain the attendance and examination of witnesses on his behalf under the same conditions as witnesses against him; (…)“. 2 Siehe etwa EGMR, Urt. v. 20. 12. 2001, P.S. v. Germany, Nr. 33900/96; Urt. v. 20. 7. 2012, Hümmer v. Germany, Nr. 26171/07.
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I. Das Recht zur Befragung von Belastungszeugen und das Verbot von hearsay evidence als Elemente des anglo-amerikanischen Beweisrechts Das 6. amendment zur US-amerikanischen Bundesverfassung garantiert dem Angeklagten im Strafverfahren das Recht „to be confronted with the witnesses against him; to have compulsory process for obtaining witnesses in his favor, and to have the assistance of counsel for his defence“. Der historische Hintergrund für das Recht des Angeklagten, Belastungszeugen persönlich gegenübergestellt zu werden, liegt in einer englischen Beweispraxis des 16. und 17. Jahrhunderts, wonach in der Hauptverhandlung lediglich die Angaben von Zeugen verlesen wurden, die diese vorher vor einem Richter in Abwesenheit des Angeklagten gemacht hatten. Dieser für den Angeklagten sehr misslichen Praxis wollten die Väter der US-amerikanischen Bundesverfassung entgegentreten, indem sie dem Angeklagten das Recht garantierten, die vom Gericht gehörten Belastungszeugen persönlich zu sehen und zu befragen.3 Der U.S. Supreme Court hat die sog. confrontation clause der Bundesverfassung jedoch, wohl entgegen ihrer historischen Intention, eng mit dem traditionellen Verbot von hearsay evidence in der Hauptverhandlung nach common law verknüpft. In einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 19804 interpretierte der U.S. Supreme Court die confrontation clause in dem Sinne, dass sie die Präsentation5 von hearsay evidence in der Hauptverhandlung in der Regel ausschließt, es sei denn, der Zeuge, der die Information wahrgenommen hat, stehe nicht zur Verfügung, z. B. weil er verstorben oder verhandlungsunfähig ist.6 In jedem Fall darf nach dieser Rechtsprechung ein Surrogat für das unmittelbare Zeugnis nur verwendet werden, wenn ausreichende Anzeichen für die Zuverlässigkeit (indicia of reliability) des ersetzenden Beweismittels vorhanden sind.7 Diese Anzeichen sollen sich vor allem aus den anerkannten Ausnahmen von der hearsay rule ergeben; danach ist etwa die Verwendung von erregten Ausrufen, Erklärungen auf dem Sterbebett oder Äußerungen bei ärztlichen Untersuchungen zulässig.8 3 Eingehend hierzu Justice Thomas in seiner concurring opinion in den Entscheidung White v. Illinois, 502 U.S. 361 ff. (1992) mit zahlreichen Nachweisen. Siehe auch Friedman, Georgetown Law Journal 86 (1998), 1014 f., 1022; van Kessel, Notre Dame Law Review 67 (1992), 495 ff. 4 Roberts v. Ohio, 448 U.S. 56 (1980). 5 Im anglo-amerikanischen Strafverfahren gibt es keine eigentlichen Beweisverwertungsverbote, sondern es geht immer um die Frage der admissibility, d. h. darum, ob eine Partei ein bestimmtes Beweismittel in der Hauptverhandlung präsentieren darf. 6 Die früheren Ausführungen von Mittätern sollen jedoch auch dann durch sekundäre Beweismittel eingeführt werden können, wenn der Mittäter eigentlich für eine Aussage vor Gericht zur Verfügung stünde; U.S. v. Inadi, 475 U.S. 387, 395 f. (1986). 7 Roberts v. Ohio, 448 U.S. 65 f. (1980). 8 Siehe zu solchen Fällen White v. Illinois, 502 U.S. 355 ff. (1992). Weitreichende Ausnahmen vom Verbot von hearsay evidence enthalten die U.S. Federal Rules of Evidence, Rules 803 und 804.
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Dieser Auslegung, die Konfrontationsrecht und hearsay rule miteinander verschmelzen lässt, entspricht die Annahme des U.S. Supreme Court, dass der Zweck beider Regelungskomplexe darin liege, die Verlässlichkeit der Beweise im Jury-Verfahren zu fördern.9 Das Ziel, der Jury nur einigermaßen verlässliche Beweise zu präsentieren, wird seit eh und je als Ratio des Verbots eines Zeugnisses vom Hörensagen angesehen. Wenn anstelle des unmittelbaren Zeugen ein ersetzendes Beweismittel (z. B. ein Zeuge vom Hörensagen oder ein Schriftstück) in der Hauptverhandlung präsentiert wird, fehlen nämlich wichtige Mechanismen, die eigentlich die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage sicherstellen sollen: Der unmittelbare Zeuge kann bei seiner Aussage nicht beobachtet werden; er leistet keinen Eid; und seine Möglichkeit, das Geschehen wahrzunehmen, seine Erinnerungsfähigkeit und seine Ehrlichkeit können nicht durch kritische Befragung im Kreuzverhör auf die Probe gestellt werden.10 Im Hinblick auf diesen letzten Punkt treffen sich jedenfalls die Zielrichtungen von confrontation clause und hearsay-Verbot: Beide sollen es im anglo-amerikanischen Parteiprozess dem Anwalt der Gegenpartei ermöglichen, mit dem Zeugen ein Kreuzverhör („the greatest legal engine ever invented for the discovery of truth“11) durchzuführen. Die Möglichkeit, Zeugenaussagen der Überprüfung durch ein Kreuzverhör zu unterwerfen, ist im anglo-amerikanischen Strafverfahren aus verschiedenen Gründen besonders wichtig. Bedeutsam ist zunächst der Umstand, dass die Entscheidung über Schuld oder Unschuld idealtypisch durch eine Jury aus Laien getroffen wird, die keine Erfahrung mit Gerichtsverfahren und Beweiswürdigung besitzen.12 Das Kreuzverhör ist ferner deshalb von unverzichtbarer Bedeutung, weil im adversatorischen Parteiprozess jede Partei ihre Zeugen eingehend auf ihre Aussagen vorbereitet, so dass die Angaben, die ein Zeuge bei der direct examination durch den Anwalt der präsentierenden Partei13 macht, einem vorher genau festgelegten Drehbuch entsprechen.14 Hinzu kommt, dass der Spruch der Jury weder begründet wird noch einer nachträglichen Rechtskontrolle unterliegt. Will man die Strafjustiz nicht ganz der Irrationalität preisgeben, so muss man mangels Möglichkeit einer Überprüfung des output wenigstens danach trachten, den input in die Blackbox der Jury anhand 9 In California v. Green, 399 U.S. 155 (1970), führt der U.S. Supreme Court aus, „hearsay rules and the Confrontation Clause are generally designed to protect similar values“. Siehe auch U.S. v. Inadi, 475 U.S. 396 (1986); Lee v. Ilinois, 476 U.S. 540 (1986). Kritisch zu dieser Zwecksetzung Friedman (Fn. 3), 1027 f. 10 Siehe Williamson v. United States, 512 U.S. 598 ff. (1994). 11 Wigmore on Evidence, revised ed. 1974, Bd. 5, § 1367. 12 Siehe hierzu van Kessel, Hastings Law Journal 49 (1998), 494 ff.; van Kessel (aaO S. 494) zitiert die Ausführungen von Lord Mansfield im Berkeley Peerage Case, 171 Eng. Rep. 128, 134 f. (1811): „But in England, where the jury are the sole judges of the fact, hearsay evidence is properly excluded, because no man can tell what effect it might have upon their minds.“ Siehe auch The Law Commission, Evidence in Criminal Proceedings: Hearsay and Related Topics, London 1997, Nr. 1.5. 13 In den USA findet in der Regel keine Befragung der Zeugen durch den Richter statt. 14 Siehe van Kessel (Fn. 12), 502 f.
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von Vernunftregeln zu kontrollieren. Diesem Ziel dienen komplizierte Regeln über die Zulassung von Beweismitteln und vor allem das Erfordernis der Glaubhaftigkeitsüberprüfung durch Kreuzverhör.15 Die Notwendigkeit, dem Angeklagten die Möglichkeit einer Befragung von Belastungszeugen zu garantieren und „ungetestete“ Beweismittel als mögliche Urteilsgrundlage auszuschließen, ist also eng verknüpft mit den Besonderheiten des adversatorischen Strafverfahrens speziell in seiner US-amerikanischen Ausprägung.16 Dagegen fehlen im deutschen Strafverfahren, das nach wie vor am Leitstern des Amtsaufklärungsgrundsatzes orientiert ist, wesentliche Charakteristika des angloamerikanischen Strafverfahrenstyps, die das grundsätzliche Verbot von hearsay evidence dort begründen: Es gibt keinen von den Berufsrichtern getrennten „finder of fact“ in Gestalt einer Jury, der vor den Schwierigkeiten der Beweiswürdigung bei indirekter Beweisführung bewahrt werden müsste. Außerdem muss die Beweiswürdigung im Urteil nachvollziehbar dargelegt werden17 und unterliegt der Überprüfung im Revisionsverfahren. Vor allem aber sind für die Ermittlung der Wahrheit und die Präsentation der Beweise nicht die „Parteien“, sondern allein das Gericht zuständig. Es gibt daher in der Regel auch keine primäre Befragung der Zeugen durch Staatsanwaltschaft und Verteidigung mit anschließendem Kreuzverhör durch die Gegenpartei,18 sondern allenfalls zusätzliche Fragen der Verfahrensbeteiligten nach der Vernehmung durch den Vorsitzenden. Angesichts dieser grundsätzlichen Unterschiede zwischen den beiden Verfahrenstypen überrascht es nicht, dass die deutsche Rechtsprechung und Lehre trotz der Unklarheit der Regelung in § 250 StPO ganz überwiegend annimmt, dass Zeugen vom Hörensagen als Beweismittel im deutschen Strafprozess nicht grundsätzlich ausgeschlossen sind.19 15 Siehe zu diesem Zusammenhang Damaska, Minnesota Law Review 76 (1992), 429; van Kessel (Fn. 12), 523 f. Mit dem Ideal der Waffengleichheit, das für das Parteiverfahren besonders bedeutsam ist, ist das Konfrontationsrecht allenfalls locker verknüpft (anders wohl Ambos, NStZ 2003, 16), zumal es ja nur dem Angeklagten zusteht und ihm daher – anders als das allgemein gültige Verbot von hearsay evidence – einen einseitigen Vorteil schafft. 16 Übereinstimmend van Kessel (Fn. 12), 505: „Hearsay by its nature is particularly susceptible to being manufactured or tainted by the parties or their attorneys and particularly difficult to attack at trial. (…) Fairness and reliability concerns therefore closely link hearsay rules to the core of the adversary system of adjudication – party control over production and presentation of evidence.“ 17 Zu dieser Auslegung von § 267 I StPO durch die ständige Rechtsprechung siehe die umfassende Darstellung und Analyse bei Frisch, SK-StPO (Stand: 37. EL März 2004), § 337 Rn. 118 ff.; ferner Franke, LR-StPO, 26. Aufl. 2013, § 337 Rn. 117 ff.; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. 2012, § 267 Rn. 12 f., § 337 Rn. 26 ff. 18 Dass die prinzipiell bestehende Möglichkeit des „Kreuzverhörs“ nach § 239 StPO in der Rechtswirklichkeit nicht angewandt wird, macht deutlich, dass auch die Praxis in Deutschland eine solche strukturwidrige Verfahrensoption nicht akzeptiert. 19 BGHSt 17, 384; BGH StV 1988, 92; eingehend Detter, NStZ 2003, 3; zur Vernehmung von V-Mann-Führern, wenn der Originalzeuge anonym bleibt, BGHSt 42, 25. Überwiegend wird die Frage, ob der Primärzeuge gehört werden muss, nur als Problem der Amtsaufklärungspflicht verstanden; s. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 8. Aufl. 2012, Rn. 1031; Julius,
Das Konfrontationsrecht des Angeklagten
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In ähnlicher Weise ist auch das Konfrontationsrecht gegenüber Belastungszeugen eng mit der Struktur des anglo-amerikanischen Verfahrens verbunden. Dies zeigt sich schon daran, dass es im deutschen Strafprozess keine „witnesses against him“ (scil. den Angeklagten) gibt, wie sie die Formulierung des 6. amendment zur US-amerikanischen Bundesverfassung und von Art. 6 III lit. d EMRK voraussetzt. Vielmehr sind in Deutschland alle Zeugen solche des Gerichts.20 Ob ein Zeuge „für“ oder „gegen“ den Angeklagten ist, erweist sich erst, wenn er seine Aussage abgeschlossen hat; und selbst dann bleibt seine Position häufig ambivalent. Auch der (inhaltlich schillernde) Grundsatz der Unmittelbarkeit21 gebietet es nicht, dem Angeklagten in der Hauptverhandlung die Möglichkeit der Konfrontation von „Belastungszeugen“ zu gewähren. Denn der Unmittelbarkeitsgrundsatz betrifft in erster Linie das Verhältnis zwischen Ermittlungs- und Hauptverfahren sowie den Vorrang des Personalbeweises vor dem Urkundenbeweis.22 Auch ein Zeuge, der in der Hauptverhandlung aussagt und – etwa wegen seiner Berufung auf § 55 StPO – vom Angeklagten nicht befragt werden kann, ist „unmittelbares“ Beweismittel; umgekehrt kann der Verlesung des Vernehmungsprotokolls eines Zeugen, der im Ermittlungsverfahren vom Staatsanwalt unter aktiver Beteiligung des Beschuldigten und seines Verteidigers vernommen wurde, die Unmittelbarkeitsregel des § 250 S. 2 StPO entgegenstehen. Wenn man also im deutschen Recht – vor dem Blick auf die EMRK – nach einer Grundlage für ein Konfrontationsrecht sucht, so gelangt man nicht wesentlich über den Rekurs auf allgemeine Fairness-Erwägungen hinaus. Das Konfrontationsrecht kann man mit der Subjektstellung des Beschuldigten und seinem Recht auf rechtliches Gehör in Verbindung bringen. Es widerspräche dem Prinzip, dass der Beschuldigte als Subjekt eines offenen und fairen Verfahrens ernstgenommen werden soll, wenn man ihn aufgrund von Zeugenaussagen verurteilte, die er nicht kennt und/ oder deren Glaubhaftigkeit er nicht wirksam in Zweifel ziehen kann.23 Die Allgemeinheit dieser Erwägung deutet aber zugleich an, dass sie keine Basis für ein unabdingbares und unbeschränktes Konfrontationsrecht zu liefern vermag. Es kann andere, gleich bedeutsame Interessen und Werte im Verfahren geben – etwa Zeugenund Opferinteressen –, die prinzipiell ebenso gewichtig sind und gegen die ein Konfrontationsinteresse des Beschuldigten abgewogen werden kann und muss. HK-StPO, 5. Aufl. 2012, § 244 Rn. 10. Dagegen eingehend (und überzeugend) Velten, SKStPO, 4. Aufl. 2012, Vor § 250 Rn. 1 ff.; siehe auch Schünemann, in: FS Meyer-Goßner, 2001, 399 ff. 20 Mit der kaum praktizierten Ausnahme der Zeugenladung durch Verfahrensbeteiligte nach § 220 I StPO. Aber selbst in diesem Fall ist die Ausnahme von dem Grundsatz der Parteineutralität der Zeugen eine rein technische; auch solche Zeugen sind der wahrheitsgemäßen Sachaufklärung und nicht dem Interesse eines einzelnen Verfahrensbeteiligten verpflichtet. 21 Siehe hierzu Weigend, in: FS Eisenberg, 2009, 657. 22 Eingehend (und teilweise abweichend) hierzu Velten, SK-StPO (Fn. 19). 23 Insofern kann man mit Sommer, NJW 2005, 1242 davon sprechen, dass eine Negation des Konfrontationsrechts die „Qualität rechtsstaatlichen Prozessierens“ berührt.
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II. Der Import des Konfrontationsrechts durch die EMRK In diese relativ offene Rechtslage hinein transportiert die EMRK – als formal einfachgesetzlicher, aber doch von der Verfassung besonders geschützter Normenkomplex – die uneingeschränkte Garantie des Konfrontationsrechts als Element eines fairen Strafverfahrens nach Art. 6 EMRK.24 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind die staatlichen Organe, speziell die Gerichte, nicht nur gehalten, die Regelungen der EMRK gemäß ihrer eigenen Rechtsauffassung innerstaatlich anzuwenden, sondern sie sind auch verpflichtet, bei der Anwendung des Rechts die sachlich relevanten Entscheidungen des EGMR zu berücksichtigen.25 1. Die Rechtsprechung des EGMR zum Konfrontationsrecht Der EGMR hat das Konfrontationsrecht insbesondere in der jüngeren Vergangenheit stark ausgebaut und ihm besondere Schärfe verliehen. Dabei hält er allerdings – mindestens verbal – an seinem Grundsatz fest, dass es für die Frage der Verurteilung eines Staates wegen einer Verletzung der EMRK nicht isoliert darauf ankommt, ob eines der Einzelrechte in Art. 6 EMRK beeinträchtigt worden ist, sondern dass die Fairness des gerügten Verfahrens insgesamt zu beurteilen ist. Dabei berücksichtigt der EGMR nach einer „neuen Formel“ seit ein paar Jahren nicht nur die Rechte des Beschuldigten, sondern auch das Interesse der Allgemeinheit und des Opfers „that crime is properly prosecuted“ sowie auch die Interessen von Zeugen.26 Andererseits steht das Konfrontationsrecht nach Auffassung des EGMR jedem Angeklagten unabhängig von der Ausgestaltung der Beweisaufnahme im jeweiligen Staat als
24 Das Konfrontationsrecht ist auf einem interessanten Weg von der US-amerikanischen Bundesverfassung in die EMRK gewandert. In Art. 11 (1) der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahre 1948 wurden bereits jedem Angeklagten „all the guarantees necessary for his defence“ gewährleistet. Auf dieser Basis begannen alsbald Beratungen über ein allgemeines Übereinkommen über Menschenrechte (die allerdings erst 1966 mit der Verabschiedung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte zum Erfolg gelangen sollten). Bei diesen Beratungen legte der Repräsentant der Philippinen 1949 die an das 6. amendment der US-Verfassung angelehnte Formulierung des Konfrontationsrechts vor, die dann vom Europarat für die EMRK im Wesentlichen übernommen wurde. Näher hierzu du Bois-Pedain, HHRS 2012, 135 f. Dass in der Formulierung des Art. 6 EMRK „die geistige Verwandtschaft zum Unmittelbarkeitsgrundsatz und zum Beweisantragsrecht des Angeklagten … ebenso stark ausgeprägt“ sei wie die „Anklänge an das common law“ (so du Bois-Pedain aaO S. 136), ist allerdings zu bestreiten. 25 Siehe BVerfGE 111, 325 f. (Görgülü). 26 Siehe EGMR, Urt. v. 1. 6. 2010, Gäfgen v. Germany (Grand Chamber), Nr. 22978/05, Z. 175; Urt. v. 15. 12. 2011, Al-Khawaja and Tahery v. UK (Grand Chamber), Nr. 26766/05, Z. 128; Urt. v. 9. 7. 2012, Hümmer v. Germany, Nr. 26171/07, Z. 37; Urt. v. 6. 12. 2012, Pesukic v. Switzerland, Nr. 25088/07, Z. 43.
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selbständiges Recht zu und ist nicht bloß Indiz für die Einhaltung der Verfahrensfairness.27 Der „witness against him“, auf den sich das Konfrontationsrecht bezieht, ist nach ständiger Rechtsprechung nicht der Zeuge (vom Hörensagen), der in der Hauptverhandlung auftritt, sondern derjenige, auf dessen Wahrnehmungen das Gericht seine Entscheidung letztlich stützt.28 Im Regelfall muss dieser Zeuge in der Hauptverhandlung erscheinen, damit der Angeklagte sein Konfrontationsrecht wahrnehmen kann. Generell verlangt der EGMR, dass die staatlichen Behörden und Gerichte alle zumutbaren Anstrengungen („all reasonable efforts“) unternehmen, um selbst schwer auffindbare Zeugen in die Hauptverhandlung zu bringen.29 Zwar erkennt der EGMR an, dass es legitime Gründe dafür geben kann, dass der Zeuge nicht erscheint,30 aber in jüngeren Urteilen schränkt er das Ermessen der nationalen Gerichte, auf das Erscheinen eines Belastungszeugen zu verzichten, zunehmend ein. So war in dem Fall Khairov v. Ukraine31, in dem es um Mord ging, ein wesentlicher Belastungszeuge vom Ermittlungsrichter vernommen worden, wobei ihm der Beschuldigte Fragen stellen konnte (auf die Bestellung eines Verteidigers hatte der Beschuldigte zu diesem Zeitpunkt verzichtet). In der Hauptverhandlung wurde der Zeuge nicht geladen, sondern seine frühere richterliche Aussage verlesen. Hierin sah der EGMR eine Verletzung von Art. 6 III lit. d EMRK, im Wesentlichen deshalb, weil das erkennende Gericht keine Begründung dafür gegeben hatte, dass der Zeuge nicht erneut geladen wur27 EGMR, Urt. v. 20. 1. 2009, Al-Khawaja and Tahery v. UK (Chamber), Nr. 26766/05, Z. 34 („As minimum rights, the provisions of Article 6 § 3 constitute express guarantees and cannot be read … as illustrations of matters to be taken into account when considering whether a fair trial has been held.“). 28 Siehe z. B. EGMR, Urt. v. 15. 6. 1992, Lüdi v. Switzerland, Nr. 12433/86, Z. 49; Urt. v. 7. 8. 1996, Ferrantelli and Santangelo v. Italy, Nr. 19874/92, Z. 51; Urt. v. 23. 4. 1997, van Mechelen et al. v. Netherlands, Nr. 21363/93, Z. 51; Urt. v. 27. 1. 2009, Mika v. Sweden, Nr. 31243/06, Z. 36. 29 EGMR, Urt. v. 13. 4. 2006, Zentar v. France, Nr. 17902/02, Z. 30; Urt.v. 8. 6. 2006, Bonev v. Bulgaria, Nr. 60018/00, Z. 43; Urt. v. 9. 7. 2012, Hümmer v. Germany, Nr. 26171/07, Z. 39. Extrem lag der Fall Bonev v. Bulgaria: Die Tat war ein Totschlag im Obdachlosenmilieu, und von den beiden Belastungszeugen war einer nach seiner polizeilichen Aussage verstorben und der andere mit unbekanntem Aufenthalt verschwunden. Der Angeklagte verzichtete sogar in der Hauptverhandlung auf die erneute Aussage dieses Zeugen und erklärte sich mit der Verlesung seiner früheren Angaben einverstanden. Dieser Verzicht wurde jedoch vom EGMR nicht anerkannt, da der Angeklagte nicht anwaltlich beraten war. Der EGMR kam zu dem Ergebnis, dass Bonevs Konfrontationsrecht verletzt worden war, da die bulgarischen Behörden keine ausreichenden Anstrengungen unternommen hätten, den verschwundenen obdachlosen Zeugen zu suchen. 30 Siehe etwa EGMR, Urt. v. 28. 8. 1992, Artner v. Austria, Nr. 39/1991/291/362, Z. 21 ff. (Tatvorwurf Wucher; Belastungszeugin war drei Jahre nach der Tat nicht auffindbar; neben ihrer früheren Aussage existierten etliche schriftliche Beweismittel. EMRK-Verstoß wurde nur mit 5:4 Stimmen verneint.); Urt. v. 2. 7. 2002, S.N. v. Sweden, Nr. 34209/96, Z. 44; siehe ferner den Nicht-Annahme-Beschluss v. 17. 11. 2005, Monika Haas v. Germany, Nr. 73047/01, in dem der EGMR den Grundsatz „impossibilium nulla est obligatio“ zitiert. 31 EGMR, Urt. v. 15. 11. 2012, Khairov v. Ukraine, Nr. 19157/06.
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de.32Auch sei die frühere Vernehmung des Zeugen nur „auf Papier“ festgehalten worden, so dass sich das erkennende Gericht keinen eigenen Eindruck vom Verhalten des Zeugen während der Aussage habe machen können.33 Man mag die allgemeine Kritik an der Vorgehensweise des ukrainischen Gerichts nachvollziehen können, doch ist angesichts der Möglichkeit des Beschwerdeführers, den Belastungszeugen bei dessen ermittlungsrichterlicher Vernehmung zu befragen, eine Verletzung gerade des Konfrontationsrechts nicht zu erkennen. Vielmehr zeigt sich in dem Urteil des EGMR eine auch sonst in jüngerer Zeit anzutreffende Tendenz zur besserwisserischen Bevormundung der nationalen Gerichte, die deutlich über das hinausgeht, was zum Schutz der Menschenrechte erforderlich erscheint. Noch stärker zeigt sich diese Tendenz in der Entscheidung des Falles Nechto v. Russia aus dem Jahre 2012.34 In diesem Fall – es ging um Überfälle auf Autofahrer auf russischen Autobahnen – waren etliche Belastungszeugen im Ermittlungsverfahren in Gegenwart des Angeklagten vernommen worden. Im Hauptverfahren wurden diese Zeugen zur Hauptverhandlung geladen, sie waren aber teilweise an ihrer angegebenen Adresse nicht aufzufinden. Von anderen Zeugen akzeptierte das Gericht Entschuldigungen, da sie in weit entfernten Teilen Russlands lebten und teilweise für den Fall einer Aussage gegen den Angeklagten um ihr Leben fürchteten. Dies rügte der EGMR als menschenrechtswidrig: „The courts did not go into the specific circumstances of the situation of each witness and failed to examine whether any alternative means of securing their giving evidence in person would have been possible and sufficient.“35 Selbst wenn ein Kind bei einer Verpflichtung zu erneuter Aussage in der Hauptverhandlung gesundheitlich gefährdet wäre und das Gericht deshalb von seiner (erneuten) Vernehmung absieht, nimmt der EGMR eine Verletzung von Art. 6 III lit. d EMRK an. Im Fall P.S. v. Germany36 wurde dem Angeklagten vorgeworfen, er habe an einem achtjährigen Mädchen während des privaten Musikunterrichts, den er dem Mädchen gab, sexuelle Handlungen vorgenommen. Beweismittel waren die Aussagen der Mutter des Mädchens über dessen Bericht von dem Vorfall, die Angaben eines Polizeibeamten, der das Mädchen kurz nach der Tat vernommen hatte, sowie das Gutachten einer psychologischen Sachverständigen über die Glaubhaftigkeit der Aussagen des Mädchens. Das Opfer wurde nicht in der Hauptverhandlung vernommen, da das Gericht aufgrund der Angaben der Eltern befürchtete, dass eine Vernehmung den Prozess der Verdrängung des Geschehens bei dem Mädchen – das überdies an Neurodermitis litt – stören würde. Der EGMR sah dieses Verfahren als eine Verletzung von Art. 6 III lit. d EMRK an, mit der Begründung, dass die Er-
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EGMR, Urt. v. 15. 11. 2012, Khairov v. Ukraine, Nr. 19157/06, Z. 91 f. EGMR, Urt. v. 15. 11. 2012, Khairov v. Ukraine, Nr. 19157/06, Z. 93. 34 EGMR, Urt. v. 24. 1. 2012, Nechto v. Russia, Nr. 24893/05. 35 EGMR, Urt. v. 24. 1. 2012, Nechto v. Russia, Nr. 24893/05, Z. 127. 36 EGMR, Urt. v. 20. 12. 2001, P.S. v. Germany, Nr. 33900/96.
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wägungen des Gerichts, aus denen auf die Vernehmung des Mädchens verzichtet wurde, „vage und spekulativ“ gewesen seien und deshalb keine Relevanz besäßen.37 Der Konflikt zwischen Zeugenrechten und Konfrontationsrecht kann insbesondere dann akut werden, wenn der Belastungszeuge in der Hauptverhandlung von einem Zeugnisverweigerungsrecht (etwa nach § 52 StPO) oder einem Auskunftsverweigerungsrecht (etwa nach § 55 StPO) Gebrauch macht und es um die Verwertbarkeit einer früheren Aussage des Zeugen geht. Im Jahre 1991 hat der EGMR im Fall Asch v. Austria grundsätzlich anerkannt, dass die spätere Zeugnisverweigerung eines Angehörigen des Angeklagten „cannot be allowed to block the prosecution“, so dass die frühere Aussage in das Verfahren eingeführt werden dürfe.38 Dasselbe gilt für die früheren Angaben von Zeugen39 oder Mitbeschuldigten40, die in der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten unter Berufung auf den nemo-tenetur-Grundsatz Angaben zur Sache verweigern. Dass die früheren Angaben von Zeugen, die aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen in der Hauptverhandlung nicht vernommen werden können, durch mittelbare Zeugen in die Hauptverhandlung eingeführt werden dürfen, ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Denn selbst in den Fällen, in denen der EGMR anerkennt, dass eine Vernehmung des Belastungszeugen in der Hauptverhandlung schlechthin unmöglich ist, lässt er die Verwendung seiner früher gemachten Aussagen nur unter engen Voraussetzungen zu. Zulässig ist die Verwertung für das Urteil in diesen Fällen grundsätzlich dann, wenn der Angeklagte oder sein Verteidiger im Zuge des Ermittlungsverfahrens eine adäquate und geeignete Möglichkeit hatten, den Zeugen kritisch zu befragen.41 War dies nicht der Fall, so besteht zwar auch kein Verbot, einen Zeugen vom Hörensagen über die frühere belastende Aussage in der Hauptverhandlung zu hören; die so eingeführten Angaben dürfen dann aber nicht das „einzige oder entscheidende“ (sole or decisive) Beweismittel für die Verurteilung des Angeklagten 37 EGMR, Urt. v. 20. 12. 2001, P.S. v. Germany, Nr. 33900/96, Z. 28. Im Ergebnis anders wurde der ähnlich gelagerte Fall EGMR, Urt. v. 2. 7. 2002, S.N. v. Sweden, Nr. 34209/96, Z. 49 f. entschieden. Dort verneinte der EGMR eine Verletzung von Art. 6 III lit. d EMRK (nur) deshalb, weil der Verteidiger des Angeklagten ausdrücklich darauf verzichtet hatte, an der polizeilichen Vernehmung des Tatopfers (eines 10-jährigen Jungen) teilzunehmen. Immerhin wurde in dieser Entscheidung anerkannt, dass dem Konfrontationsrecht schutzwürdige Interessen des (minderjährigen) Tatopfers entgegenstehen können: „In the assessment of the question whether or not in such proceedings an accused received a fair trial, account must be taken of the right to respect for the private life of the perceived victim. Therefore, the Court accepts that in criminal proceedings concerning sexual abuse certain measures may be taken for the purpose of protecting the victim, provided that such measures can be reconciled with an adequate and effective exercise of the rights of the defence“; aaO Z. 47. 38 EGMR, Urt. v. 26. 4. 1991, Asch v. Austria, Nr. 12398/86, Z. 28. 39 Siehe EGMR, Urt. v. 5. 12. 2002, Craxi v. Italy, Nr. 34896/97, Z. 86. 40 Siehe EGMR, Urt. v. 27. 2. 2001, Lucà v. Italy, Nr. 33354/96, Z. 41; zustimmend zur Gleichsetzung von Zeugen und Mitbeschuldigten Sommer, NJW 2005, 1240. 41 Eine solche Möglichkeit wird beispielsweise verneint, wenn ein Verteidiger zur Befragung des Zeugen im Ausland nach dem dort geltenden Recht nicht zugelassen wird; siehe EGMR, Urt. v. 14. 12. 1999, A.M. v. Italy, Nr. 37019/97, Z. 27 f.
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sein.42 Beruht, in anderen Worten, die Verurteilung des Angeklagten maßgeblich auf den belastenden Angaben eines Zeugen, den der Angeklagte nicht hat befragen können, so liegt ein Konventionsverstoß zwar nicht in der Beweiserhebung durch Zeugnis vom Hörensagen und auch nicht in der Verwertung eines solchen indirekten Beweises – das Beweisrecht als solches, betont der EGMR immer wieder, sei Sache der Mitgliedstaaten.43 Der Gerichtshof sieht jedoch in solchen Fällen, in denen sich die verurteilende Entscheidung allein oder maßgeblich auf eine nicht „konfrontierte“ Zeugenaussage stützt, in aller Regel eine Verletzung der Verfahrensfairness. Der EGMR meint, dass in diesem Fall die Verteidigungsrechte des Angeklagten „unduly restricted“ seien44 – eine ziemlich unspezifische Begründung, die nicht wirklich erklärt, warum gerade das Konfrontationsrecht durch eine bestimmte Art der Beweiswürdigung im Urteil verletzt sein soll. Die Messlatte dafür, wann ein Beweismittel sole or decisive ist, hat der EGMR in den letzten Jahren kontinuierlich abgesenkt. In Asch v. Austria hatte es für die Bestätigung der Verurteilung durch den EGMR noch genügt, dass die Angaben der vom Angeklagten nicht befragten Belastungszeugin durch zwei medizinische Gutachten über ihre Verletzungen sowie durch den persönlichen Eindruck des vernehmenden Polizeibeamten – der vor Gericht als Zeuge vom Hörensagen gehört wurde – bestätigt wurden.45 Wesentlich weiter verstand der EGMR das Erfordernis weiterer „maßgeb42 Der Sache nach findet sich dieser Maßstab schon in der ersten einschlägigen Entscheidung des EGMR aus dem Jahre 1986, EGMR, Urt. v. 24. 11. 1986, Unterpertinger v. Austria, Nr. 9120/80. In Unterpertinger hatten die Ehefrau und die Stieftochter des Angeklagten diesen bei der Polizei und vor dem Untersuchungsrichter der Körperverletzung bezichtigt; in der Hauptverhandlung beriefen sie sich auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht als Angehörige. Zwar lagen noch andere Beweismittel vor, die auf die Schuld des Angeklagten hindeuteten; dennoch sah der EGMR eine Verletzung von Art. 6 III lit. d EGMR: „However, it is clear (…) that the Court of Appeal based the applicant’s conviction mainly on the statements made by Mrs. Unterpertinger and Miss Tappeiner to the police.“ (aaO Z. 33). In der Entscheidung EGMR, Urt. 26. 3. 1996, Doorson v. Netherlands, Nr. 20524/92, Z. 76 taucht dann erstmals die Formulierung auf: „a conviction should not be based either solely or to a decisive extent on anonymous statements“. 43 Siehe etwa EGMR, Urt. v. 20. 12. 2001, P.S. v. Germany, Nr. 33900/96, Z. 19; Urt. v. 9. 7. 2012, Hümmer v. Germany, Nr. 26171/07, Z. 40. 44 Siehe zuletzt EGMR, Urt. v. 15. 12. 2011, Al-Khawaja and Tahery v. UK, Nr. 26766/05 (Grand Chamber), Z. 141. Siehe auch die ebenso unspezifische Formulierung in EGMR, Urt. v. 9. 7. 2012, Hümmer v. Germany, Nr. 26171/07, Z. 42: „The rights of the defence may be restricted to an extent that is incompatible with the guarantees provided by Article 6“. 45 EGMR, Urt. v. 26. 4. 1991, Asch v. Austria, Nr. 12398/86, Z. 16 f., 28, 30. Ein klarer Fall überzeugender weiterer Beweise lag bei EGMR, Urt. v. 27. 1. 2009, Mika v. Sweden, Nr. 31243/06, Z. 37 ff. vor: Ein Vergewaltigungsopfer hatte vier Tage nach seiner polizeilichen Vernehmung Suizid begangen, bevor der spätere Angeklagte überhaupt in den Fokus der Ermittlungen geraten war. Hier wurde die Verurteilung des Angeklagten nach einer Hauptverhandlung, in der die polizeilichen Angaben des verstorbenen Opfers eingeführt worden waren, nur deshalb nicht als menschenrechtswidrig angesehen, weil man das Sperma des Angeklagten in der Wäsche und am Körper des Opfers identifiziert hatte und er selbst dafür ganz unglaubwürdige Erklärungen gegeben hatte.
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licher“ Beweismittel etwa 15 Jahre später in der Entscheidung Zentar v. France46: Eine Verurteilung wegen Autoschmuggels war auf die Angaben von vier Zeugen sowie des Angeklagten selbst gestützt worden; zwei dieser Zeugen waren für die Hauptverhandlung nicht auffindbar, so dass der Angeklagte sie nicht befragen konnte. Hier nahm der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 6 III lit. d EMRK an, da gerade die beiden verschwundenen Zeugen die entscheidenden Hinweise auf die Täterschaft des Angeklagten geliefert hätten.47 In den jüngsten Entscheidungen grenzt die (natürlich ohne jede eigene Kenntnis der Beweismittel vorgenommene) „Beweiswürdigung“ durch den EGMR schon an eine willkürliche Usurpation der Rolle des erkennenden Gerichts: In Nechto v. Russia48 hatte man bei den Angeklagten, denen Raub an Autofahrern auf russischen Autobahnen vorgeworfen wurde, nicht nur die den Opfern weggenommenen Ersatzreifen und die bei der Tat benutzten Waffen gefunden, sondern einer der Angeklagten hatte sogar die „Mautzahlung“ durch die Opfer handschriftlich in einer (ebenfalls als Beweis vor Gericht vorgelegten) Quittung bestätigt.49 Dennoch sah der EGMR die polizeilichen Aussagen von zwei Tatopfern, die wegen der weiten Entfernung nicht zur Hauptverhandlung angereist waren, als „sole or decisive evidence“ an und verurteilte Russland wegen einer Verletzung der Menschenrechte der Angeklagten. In Hümmer v. Germany50 schließlich hatte der Angeklagte bei einem epileptischen Anfall seine Schwester mit einem Beil angegriffen und schwer verletzt. Die Mutter und die Geschwister des Angeklagten sagten vor dem Ermittlungsrichter aus, wobei noch kein Verteidiger für den Beschuldigten bestellt worden war. In der Hauptverhandlung beriefen sich die Angehörigen des Angeklagten auf § 52 StPO, und das Gericht vernahm den Ermittlungsrichter als Zeugen vom Hörensagen. Als weitere Beweismittel – neben der Aussage des Ermittlungsrichters – standen die Tatwaffe, Angaben des Angeklagten (der freilich keine genauen Erinnerungen an das Tatgeschehen hatte), verschiedene Kontakte der Angehörigen des Angeklagten mit der Polizei vor und nach ihren Aussagen sowie medizinische Gutachten zur Verfügung. Der EGMR stufte die genannten Beweismittel jedoch sämtlich als bloß unterstützend ein, da das Tatgericht sein Urteil „at least to a significant extent“ auf die ursprünglichen Angaben der Tatzeugen gestützt habe,51 und nahm deshalb eine Verletzung von Art. 6 III lit. d EMRK an. Die neuere Rechtsprechung des EGMR führt dazu, dass die nationalen Gerichte bei der Verwertung von indirekten Beweisen über belastende Zeugenaussagen unver46
EGMR, Urt. v. 13. 4. 2006, Zentar v. France, Nr. 17902/02. EGMR, Urt. v. 13. 4. 2006, Zentar v. France, Nr. 17902/02, Z. 29 ff. Siehe auch den oben erwähnten Fall EGMR, Urt. v. 20. 12. 2001, P.S. v. Germany, Nr. 33900/96, Z. 30, wo mehrere weitere Zeugenaussagen und ein Glaubhaftigkeitsgutachten nicht ausreichten, um der eigenen Aussage des 8jährigen Tatopfers die Eigenschaft als „decisive“ zu nehmen. 48 EGMR, Urt. v. 24. 1. 2012, Nechto v. Russia, Nr. 24893/05. 49 EGMR, Urt. v. 24. 1. 2012, Nechto v. Russia, Nr. 24893/05, Z. 119 f. 50 EGMR, Urt. v. 9. 7. 2012, Hümmer v. Germany, Nr. 26171/07. 51 EGMR, Urt. v. 9. 7. 2012, Hümmer v. Germany, Nr. 26171/07, Z. 44. 47
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meidlich im Ungewissen bleiben, ob ihre Gewichtung der Beweise im Urteil später vor den Straßburger Richtern Gnade findet oder ob diese den Aussagen von Zeugen, die der Angeklagte nicht hatte befragen können, „entscheidendes“ Gewicht beimessen.52 An diesem Dilemma ändert auch der Umstand nichts, dass die Große Kammer des EGMR im Jahre 2011 in der Sache Al-Khawaja and Tahery v. UK der Auffassung53 entgegengetreten ist, dass eine Verwendung nicht „konfrontierter“ belastender Zeugenaussagen als maßgebliche Entscheidungsgrundlage „automatisch“ eine Verletzung von Art. 6 III lit. d EMRK bedeute.54 Denn es ist zwar richtig, dass der EGMR an seinem Prinzip der Gesamtwürdigung der Verfahrensfairness festhält; aber die Erfordernisse einer „most searching scrutiny“ der Urteilsgründe und der Feststellung von „sufficient counterbalancing factors“55 erhöhen eher noch die Ungewissheit in den Fällen, in denen ein wichtiger Belastungszeuge (ohne staatliches Verschulden!) in der Hauptverhandlung für eine Befragung nicht mehr zur Verfügung steht.56 2. Das Konfrontationsrecht in der deutschen Gesetzgebung und Rechtsprechung Im deutschen Verfahrensrecht ist das Konfrontationsrecht aus den oben genannten strukturellen Gründen eigentlich ein Fremdkörper. Die StPO kennt ein Konfrontationsrecht nicht. Denn zwar favorisiert § 250 StPO die Vernehmung von Zeugen in der Hauptverhandlung, wo sie normalerweise auch vom Angeklagten befragt werden können. Aber das Fragerecht ist schon dann ineffektiv, wenn die belastenden Aussagen von einem Mitbeschuldigten oder von einem Zeugen mit einem Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrecht kommen; denn diese Personen können sich ohne Begründung einer Befragung durch die Verteidigung entziehen.57 Außerdem läuft das 52 Das Problem verschärft sich in solchen Rechtsordnungen, in denen die Berufsrichter nicht über die Gewichtung der Beweise entscheiden, sondern nur über die Zulassung von Beweismitteln im Verfahren vor der Jury. In diesem Stadium des Verfahrens kann über das (relative) Gewicht einer Zeugenaussage für die Entscheidung in der Sache noch gar nichts gesagt werden. Siehe dazu aus der Sicht des englischen Rechts die Entscheidung des englischen Supreme Court in R. v. Horncastle, 2009 UKSC 14, diskutiert in EGMR, Urt. v. 15. 12. 2011, Al-Khawaja and Tahery v. UK, Nr. 26766/05 (Grand Chamber), Z. 59 ff. 53 Wie sie die Kammer in der Vorentscheidung EGMR, Urt. v. 20. 1. 2009, Al-Khawaja and Tahery v. UK, Nr. 26766/05, vertreten hatte; siehe dazu Jung, GA 2009, 239. 54 EGMR, Urt. v. 15. 12. 2011, Al-Khawaja and Tahery v. UK, Nr. 26766/05 (Grand Chamber), Z. 139 – 168. Kritisch zu dieser (wohl in ihrer Bedeutung überschätzten) Öffnung des „Wesenskerns des Konfrontationsrechts“ für „Ausgleichsmechanismen“ Meyer, HRRS 2012, 119 f. 55 So der EGMR im Urt. v. 15. 12. 2011, Al-Khawaja and Tahery v. UK, Nr. 26766/05 (Grand Chamber), Z. 168. 56 Siehe die Anwendung dieser höchst unbestimmten Maßstäbe durch den EGMR im Urt. v. 9. 7. 2012, Hümmer v. Germany, Nr. 26171/07, Z. 45 ff. Insbesondere bleibt unklar, welche „counterbalancing factors“ hier eine Rolle spielen sollen. 57 Siehe für den Fall des Mit-Angeklagten BGH NStZ 2009, 581.
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Fragerecht bei Zeugen vom Hörensagen weitgehend leer, da diese über die Wahrnehmungs- und Wiedergabefähigkeit des Originalzeugen ebenso wenig verlässlich Auskunft geben können wie über dessen Wahrheitsliebe. Schließlich wird die Regel des § 250 StPO durch die Ausnahmen des § 251 StPO durchbrochen, wobei § 251 I Nr. 2 StPO die Verlesung von nicht-richterlichen Zeugenaussagen auch dann gestattet, wenn der abwesende Zeuge zu keinem Zeitpunkt durch den Angeklagten befragt werden konnte. Die deutsche Rechtsprechung hat den darin angelegten Konflikt des nationalen Rechts mit den Vorgaben der EMRK, insbesondere in ihrer strengen Auslegung durch den EGMR, lange Zeit ignoriert. Etwa seit dem Jahr 2000 hat der BGH jedoch das Gespräch mit dem EGMR zu Bedeutung und Reichweite des Konfrontationsrechts aufgenommen und sich dabei um Kompromisslösungen bemüht, die einerseits der Bedeutung der EMRK als hochrangige Rechtsquelle gerecht werden, aber andererseits die deutsche Verfahrensstruktur und -praxis nicht vollkommen aus dem Gleichgewicht bringen. Dabei ist der BGH vor allem bestrebt, die Entscheidungsgrundlage der Tatgerichte nicht zu schmälern, selbst wenn ein Belastungszeuge nicht durch den Angeklagten befragt werden konnte. Diese Absicht, die auf der hohen Bedeutung der Wahrheitsermittlung im deutschen Strafverfahrensrecht beruht, führt den BGH zu seiner viel gescholtenen „Beweiswürdigungslösung“,58 der zufolge die fehlende Konfrontationsmöglichkeit durch eine besonders vorsichtige Würdigung der Angaben des unbefragten Belastungszeugen ausgeglichen werden soll. Der Argumentation des BGH in dieser Sache liegt zwar eine etwas selektive Heranziehung und eine eigenwillige Interpretation der Judikate des EGMR zugrunde, sie dürfte aber letztlich in der Methode gar nicht so weit von dessen Rechtsprechung entfernt sein. Seit einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 200059 orientiert sich der BGH an den folgenden Leitlinien:60 Das Konfrontationsrecht nach Art. 6 III lit. d EMRK steht dem Angeklagten unabhängig von den Regelungen der StPO zu. Die Befragungsmöglichkeit braucht ihm jedoch nicht unbedingt in der Hauptverhandlung gewährt zu werden, sondern es genügt, wenn er oder sein Verteidiger den Belastungszeugen im Ermittlungsverfahren oder bei einer kommissarischen Vernehmung befragen kann.61 Konnte weder im Ermittlungs- noch im Hauptverfahren eine Befragung 58
Kritisch etwa Sommer, NJW 2005, 1241 f.; Sowada, NStZ 2005, 6. BGHSt 46, 93. 60 Die Einzelheiten der Rezeption des Konfrontationsrechts durch die deutsche Rechtsprechung können hier nicht nachgezeichnet werden. Eingehende monographische Darstellungen hierzu bei Gerdemann, Die Verwertbarkeit belastender Zeugenaussagen bei Beeinträchtigungen des Fragerechts des Beschuldigten, 2010, und Krausbeck, Konfrontative Zeugenbefragung, 2010. 61 BGHSt 46, 96. Um die Befragung eines später voraussichtlich nicht mehr zur Verfügung stehenden Zeugen bei dessen ermittlungsrichterlicher Vernehmung zu gewährleisten, muss dem Beschuldigten nötigenfalls schon im Ermittlungsverfahren ein Verteidiger bestellt werden; aaO S. 99 ff. 59
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stattfinden, so darf das Gericht die indirekt (etwa durch einen Zeugen vom Hörensagen) in die Hauptverhandlung eingeführte Aussage des Originalzeugen für das Urteil verwerten, muss allerdings bei der Beweiswürdigung den geminderten Beweiswert einer nicht „konfrontierten“ Aussage berücksichtigen.62 Aufgrund ihres geminderten Beweiswerts darf eine solche Aussage nicht die einzige Grundlage für eine Verurteilung sein. Wie viel an sonstigen Beweisen für die Schuld des Angeklagten vorliegen muss, hängt davon ab, ob das Fehlen der Konfrontationsmöglichkeit der Justiz zuzurechnen ist. Ist der Justiz ein Verfahrensfehler oder mangelndes Bemühen um die Ermöglichung einer Befragung vorzuwerfen, so darf der Angeklagte aufgrund der Aussage des Belastungszeugen nur verurteilt werden, wenn diese durch „gewichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage gestützt“ wird.63 Ist die Unmöglichkeit konfrontativer Befragung hingegen nicht dem Staat zuzurechnen (etwa weil der Zeuge kurz vor der Hauptverhandlung plötzlich verstorben ist64), so sollen schon geringe zusätzliche Anzeichen für die Richtigkeit der belastenden Aussage für eine Verurteilung genügen.65 Das Bundesverfassungsgericht stützt die Rechtsprechung des BGH zum Konfrontationsrecht in vollem Umfang. Hatte es Art. 6 III lit. d EMRK zunächst nur als „Auslegungshilfe“ für den Anspruch des Angeklagten auf ein faires Verfahren und auf „materielle Beweisteilhabe“ gesehen,66 so verlangt es in seiner neueren Rechtsprechung (im Anschluss an die Görgülü-Entscheidung67), dass die Fachgerichte die einschlägige Rechtsprechung des EGMR bei der Anwendung des deutschen Rechts berücksichtigen.68 Auch nach diesem Maßstab genügt jedoch die Rechtsprechung des BGH den verfassungsgerichtlichen Anforderungen bezüglich der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens. Das Bundesverfassungsgericht betont zwar, dass der (verminderte) Beweiswert von Bekundungen, die auf nicht in der Hauptverhandlung vernommene Gewährsleute zurückgehen, regelmäßig nicht für die gerichtliche Überzeugung von der Schuld des Angeklagten ausreichen könne; 62
Sog. Beweiswürdigungslösung; BGHSt 46, 103 ff. BGHSt 51, 150. Der „Detailreichtum“ der Aussage des vom Angeklagten nicht befragten Zeugen reicht hierfür nicht aus; aaO S. 157 f. 64 Ebenso für den Fall, dass der Belastungszeuge aufgrund seines Rechts auf Selbstbelastungsfreiheit in der Hauptverhandlung die Beantwortung von Fragen der Verteidigung ablehnt, BGH NStZ 2009, 581. 65 BGH NStZ 2005, 224; BGH NStZ-RR 2005, 321. In dem ersten Fall (BGH NStZ 2005, 224) wurde der Angeklagte als Mittäter eines Raubes verurteilt. Von den beiden angeblichen Mittätern war einer verschwunden, der andere (M) kurz nach einer den Angeklagten belastenden richterlichen Aussage verstorben. Die Verurteilung des Angeklagten wurde bestätigt. Weder die Polizei noch die Justiz treffe ein Verschulden daran, dass die beiden vermeintlichen Mittäter dem Angeklagten nicht gegenübergestellt werden konnten; und die Behauptung des Angeklagten, er sei von M zu Unrecht beschuldigt worden, habe die Strafkammer durch einen Brief des M als Beweismittel widerlegt. 66 So in der Entscheidung zum Fall Monika Haas, BVerfG NJW 2001, 2246. 67 BVerfGE 111, 323 f. 68 Siehe etwa BVerfG NJW 2007, 205. 63
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es genüge dann aber, wenn diese Aussagen durch „wichtige Gesichtspunkte und Beweisanzeichen bestätigt werden“.69 Die „Beweiswürdigungslösung“ des BGH wird vom Bundesverfassungsgericht „angesichts der für die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens zentralen Bedeutung der Idee der Gerechtigkeit“ ausdrücklich gebilligt;70 „ein Beweisverbot, das den Willen und die Fähigkeit der Gerichte in Zweifel zöge, den genannten Grundsätzen der Beweiswürdigung den zutreffenden Stellenwert einzuräumen“, sei von Verfassungs wegen regelmäßig nicht geboten.71 In der Literatur wird demgegenüber ein Beweisverwertungsverbot für nicht „konfrontierte“ Zeugenaussagen jedenfalls für den Fall gefordert, dass die Justiz das Konfrontationsrecht vereitelt hat.72 Begründet wird dies mit der „edukatorischen“ Wirkung eines solchen Verbots,73 mit der Ineffektivität einer bloßen Berücksichtigung bei der Beweiswürdigung74 und mit der Erwägung, dass nach der Lösung der Rechtsprechung die (dem Staat zurechenbare) Fehlerhaftigkeit der Beweisgewinnung sanktionslos bleibe, da ja eine den verminderten Beweiswert kompensierende Beweiswürdigung schon bei rechtmäßiger Beweisgewinnung geboten sei.75 Die Forderung nach einem Beweisverwertungsverbot erscheint auf den ersten Blick plausibel. Sie stimmt auch mit der Rechtsprechung des EGMR insofern überein, als der Gerichtshof – ungeachtet seiner wiederholten Behauptung, dass er sich nicht in das Beweisrecht der Mitgliedstaaten einmischen wolle – die Verwendung eines den Angeklagten belastenden Aussagesurrogats immer dann als Verletzung des fair-trial-Gebots ansieht, wenn die staatlichen Organe keine hinreichenden Anstrengungen unternommen hatten, den Zeugen selbst in die Hauptverhandlung zu bringen, und wenn der Angeklagte auch im Ermittlungsverfahren keine Möglichkeit hatte, den Zeugen zu befragen.76 Zwar nimmt der EGMR immer eine retrospektive Sicht auf das gesamte Verfahren ein und stellt deshalb keine expliziten Beweisverbote auf; aber aus der Sicht des erkennenden Gerichts bedeutet diese Rechtsprechung, dass es das Beweissurrogat unter den genannten Umständen nicht verwerten darf, wenn es durch die Verurteilung des Angeklagten keinen Menschenrechtsverstoß begehen möchte. Dennoch dürfte ein Beweisverwertungsverbot nicht die passende Reaktion auf eine „Vereitelung“ des Konfrontationsrechts durch die staatliche Justiz sein. Zunächst spricht gegen diese Lösung schon die Unbestimmtheit der (prospektiv) anzu69
926. 70
BVerfGE NJW 2001, 2246; siehe auch BVerfG NJW 2007, 206; BVerfG NJW 2010,
BVerfG (Kammer) v. 23. 1. 2008 (2 BvR 2491/07). BVerfG NJW 2010, 926. 72 Siehe z. B. Ambos, NStZ 2003, 216; Esser, LR-StPO, 26. Aufl. 2012, Art. 6 EMRK Rn. 796; Kunert, NStZ 2001, 218; Sommer, NJW 2005, 1241 f.; Sowada, NStZ 2005, 6 f. 73 So Kunert, NStZ 2001, 218. 74 Sommer, NJW 2005, 1242. 75 Sowada, NStZ 2005, 7. 76 Siehe z. B. EGMR, Urt .v. 8. 6. 2006, Bonev v. Bulgaria, Nr. 60018/00, Z. 44 f. 71
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legenden Maßstäbe: Ob das Gericht ein Beweissurrogat in der Hauptverhandlung verwenden und dann seinem Urteil zugrunde legen darf, würde davon abhängen, ob es (unter zumutbarem Aufwand) möglich gewesen wäre, entweder den Zeugen selbst in die Hauptverhandlung zu bringen oder ihn während des Ermittlungsverfahrens dem Beschuldigten oder mindestens seinem Verteidiger gegenüberzustellen. Eine solche Feststellung verlangt nicht nur subtile normative Wertungen (Wie viel Aufwand muss das Gericht treiben, um nach einem auf Ladung nicht erschienenen Zeugen zu suchen77 ? Zu welchem Zeitpunkt muss die Staatsanwaltschaft voraussehen, dass ein Belastungszeuge möglicherweise in der Hauptverhandlung nicht zur Verfügung stehen wird, und deshalb dem Beschuldigten eine Befragung des Zeugen ermöglichen? Reicht schon Fahrlässigkeit durch – welche? – Justizorgane bezüglich des Versäumens der Konfrontationsmöglichkeit aus?), sondern auch eine umfassende tatsächliche Analyse des gesamten Verfahrens unter dem Gesichtspunkt, ob, wann und unter welchen Voraussetzungen eine Befragung des Zeugen hätte ermöglicht werden können. Damit unterscheidet sich die hier bestehende Situation von den Fallgruppen, in denen bisher ein Beweisverwertungsverbot wegen rechtswidrigen Verhaltens der Justizbehörden oder der Polizei angenommen oder diskutiert wird, etwa die Verwendung unzulässiger Methoden bei einer Vernehmung (§ 136a StPO) oder eine Durchsuchung, bei der die gesetzliche Voraussetzungen nicht erfüllt waren. In diesen Fällen liegt jeweils ein punktueller, aktiver Verstoß gegen Verfahrensvorschriften vor, der sich relativ leicht eingrenzen und feststellen lässt. Die „Verletzung“ des Konfrontationsrechts besteht dagegen in einem Unterlassen von möglichen Maßnahmen zu unterschiedlichen denkbaren Zeitpunkten78 in einem möglicherweise jahrelangen Verfahren. Hinzu kommt, dass weder das Beweismittel (die Vernehmung des unmittelbaren Zeugen im Ermittlungsverfahren) noch die Art und Weise seiner Erlangung als solche (da eine Befragungsmöglichkeit für den Beschuldigten bei allen Zeugenvernehmungen im Ermittlungsverfahren weder nach deutschem noch nach europäischem Recht vorgeschrieben ist) zu rechtlichen Bedenken Anlass geben. Ein rechtmäßig zustande gekommenes Beweismittel als Urteilsgrundlage generell auszuschließen, nur weil zu irgendeinem Zeitpunkt im Verfahren eine Konfrontationsmöglichkeit versäumt worden ist, wäre eine Überreaktion auf eine Verfahrensführung, die man allenfalls als nachlässig oder unaufmerksam einordnen kann. Die Position des EGMR in dieser Frage ist auch nicht wirklich konsistent: Wenn das Fehlen einer Konfrontationsmöglichkeit eine Zeugenaussage als Urteilsgrundla77
Siehe die Ausführungen des BGH zu der Frage, inwiefern eine fehlende Kooperation ausländischer Justizorgane der deutschen Justiz zuzurechnen sind, in BGHSt 55, 75 ff. mit kritischer Besprechung von Schramm, HRRS 2011, 159. 78 Die mangelnde Benachrichtigung der Verteidigung von einer bestimmten richterlichen Vernehmung nach § 168c StPO wird ohnehin schon mit einem Beweisverwertungsverbot bezüglich der vor dem Ermittlungsrichter gemachten Aussage sanktioniert; siehe BGHSt 26, 334 f.; 31, 144. Die „Beweiswürdigungslösung“ hat der BGH (bisher) nur auf den Fall angewandt, dass dem Beschuldigten vor einer richterlichen Zeugenvernehmung trotz eines bestehenden Bedürfnisses kein Verteidiger bestellt wurde (BGHSt 46, 103).
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ge per se ausschlösse, so dürfte es eigentlich keinen Unterschied machen, ob die Konfrontation mit oder ohne „Verschulden“ staatlicher Organe unterblieben ist. So weit geht aber auch der EGMR nicht: Die (vorsichtige) Verwertung der nicht „konfrontierten“Aussage als zusätzliches Beweismittel soll ja möglich bleiben, wenn etwa der Zeuge vor der Hauptverhandlung verstorben ist und deshalb keine Befragung durch den Angeklagten stattfinden konnte. Wenn das so ist, dann ist aber die Feststellung einer „automatischen“ Unfairness des Verfahrens in Fällen, in denen sich das Gericht angeblich nicht hinreichend um die Ladung des Belastungszeugen zur Hauptverhandlung bemüht hatte,79 keine Reaktion auf das Fehlen einer prozessual zwingend gebotenen Befragungsmöglichkeit, sondern eine Disziplinarsanktion für unzureichende Anstrengungen „des Staates“ um Herbeischaffung des Zeugen. Im Ergebnis dürfte es also jedenfalls dem deutschen System mit seiner Betonung des Amtsaufklärungsgrundsatzes besser entsprechen, wenn der BGH die fehlende Konfrontationsmöglichkeit als Element der Beweiswürdigung einordnet. Allerdings lässt sich die Lösung des BGH nicht mit den Vorgaben des EGMR in Einklang bringen. Denn der BGH akzeptiert (wie gezeigt: in der Sache zu Recht) nicht die strikte Verneinung eines fairen Verfahrens durch den EGMR in den Fällen, in denen die Justizbehörden an der Unmöglichkeit der Konfrontation eines Zeugen ein Verschulden trifft.80 Überdies sind in den Fällen unverschuldeter Unmöglichkeit der Befragung die Anforderungen des BGH an die Qualität weiterer Beweismittel für die Schuld des Angeklagten deutlich geringer als in der jüngeren Rechtsprechung des EGMR, der nicht-„konfrontierte“ Zeugenaussagen im Grunde nur zur Ergänzung von in sich bereits überzeugenden anderen Beweismitteln akzeptiert. Der BGH nimmt dagegen an, dass es ausreiche, wenn die Aussage des nicht vom Angeklagten befragten Zeugen „nicht das einzige“ Beweismittel ist, das für die Schuld des Angeklagten vorliegt, solange nur andere „gewichtige Gesichtspunkte“ zur Bestätigung der Aussage des Zeugen vorliegen.81 Für seine großzügige Linie beruft sich der BGH auf die Einzelfallbetrachtung, die auch der EGMR anstelle.82 Dabei geht er jedoch an dem Umstand vorbei, dass der EGMR durchaus feste Grundlinien entwickelt hat, an denen er die Fairness des Verfahrens in den hier relevanten Fällen misst. Zu diesen Grundlinien gehört erstens, dass sich die Justiz um das Erscheinen des Originalzeugen in der Hauptverhandlung nach Kräften bemühen muss, und zweitens, dass die Angaben eines Zeugen, der (aus welchen Gründen auch immer) vom Angeklagten nicht befragt werden konnte, grundsätzlich nicht das „entscheidende“ Beweismittel für die Überzeugung des Gerichts von der Schuld
79
Siehe etwa EGMR, Urt .v. 8. 6. 2006, Bonev v. Bulgaria, Nr. 60018/00, Z. 44; EGMR, Urt. v. 24. 1. 2012, Nechto v. Russia, Nr. 24893/05, Z. 127. 80 Siehe BGHSt 46, 103 ff. 81 BGHSt 55, 75; BGH NJW 2003, 3144; NStZ 2005, 224; NStZ-RR 2005, 321; NStZ 2009, 581; siehe hierzu auch BVerfG NJW 2010, 926. 82 BGHSt 46, 104; BGH NStZ 2004, 505.
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des Angeklagten sein darf.83 Genau in diesen Punkten versagt der BGH dem EGMR die Gefolgschaft.
III. Lösungen? Bei dieser Konstellation – und angesichts der erheblichen praktischen Bedeutung des Konfrontationsrechts – ist damit zu rechnen, dass es in Zukunft zu weiteren Konflikten zwischen der europäischen und der deutschen Rechtsprechung kommt. Diese Konfliktträchtigkeit liegt nicht in erster Linie an der mangelnden Bereitschaft der deutschen Richter zur Kooperation,84 sondern daran, dass das Konfrontationsrecht – wie unter I. dargelegt – nicht eigentlich in die Struktur des deutschen Strafverfahrens passt. Der Konflikt wird dadurch verschärft, dass der EGMR insbesondere in jüngerer Zeit trotz verbaler Zugeständnisse an gegenläufige Interessen dazu neigt, die in Art. 6 EMRK genannten Einzelrechte zu verabsolutieren. Er schafft damit – mit postulierter Verbindlichkeit für alle Mitgliedstaaten der EMRK – eine Verfahrensordnung, der es an Balance fehlt, und übersieht, dass ein Instrument zum Schutz der Menschenrechte kein Modell für eine ausgeglichene, alle relevanten Interessen berücksichtigende Strafverfahrensordnung sein kann. Der EGMR läuft Gefahr, seine in den vergangenen Jahrzehnten errungene moralische Autorität zu verspielen, wenn er allzu rechthaberisch nationale Urteile als menschenrechtsverletzend brandmarkt, obwohl sie im Ergebnis (nach allen in den Urteilen wiedergegebenen Umständen) das Richtige getroffen und die Gerichte sich auch in „landesüblicher“ Weise um ein faires Verfahren bemüht haben. In dieser Situation tut der BGH sein Bestes, indem er versucht, den Fremdkörper „Konfrontationsrecht“ notfalls unter Missachtung mancher (über)strenger Vorgaben aus Straßburg in das deutsche Verfahren mit seinem Leitbild der inquisitorischen Wahrheitssuche zu integrieren. Er wirkt damit einem Oktroi verfahrensfremder Prinzipien und der einseitigen Betonung des Konfrontationsrechts entgegen und bringt diesem gegenüber das Interesse an Sachaufklärung, aber auch am Zeugenschutz ins Spiel. Trotzdem bleiben Zweifel, ob sich der BGH mit seiner Kompromisslinie in der Sache auf dem richtigen Weg befindet. So stellt sich die Frage, wie sich aus der 83 Der BGH beruft sich öfters auf den Nicht-Annahme-Beschluss v. 17. 11. 2005 einer Kammer des EGMR in dem Fall Monika Haas v. Germany, Nr. 73047/01; siehe etwa BGHSt 51, 155; 55, 75. In diesem (von der Kammer nicht einstimmig gefassten) Beschluss ist zwar davon die Rede, dass „the defendant’s conviction may, in any event, not solely be based on the statements of such a witness“, ohne dass die sonst übliche „sole or decisive“-Formel zitiert würde; aber in der Anwendung des Maßstabs stützt die Kammer ihre Entscheidung maßgeblich darauf, dass zum Beweis der Schuld der Angeklagten – neben den Angaben eines Zeugen vom Hörensagen, der den Original-Belastungszeugen in einem Gefängnis im Libanon vernommen hatte – zahlreiche andere belastende Beweismittel in die Hauptverhandlung eingeführt worden waren (siehe die Entscheidungsgründe unter B.2). 84 Im Gegenteil, der BGH bemüht sich seit dem Jahr 2000 ersichtlich, zumindest verbal auf die Anforderungen des EGMR bezüglich des Konfrontationsrechts einzugehen.
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Sicht des BGH das Verhältnis zwischen der Glaubhaftigkeit der nicht „konfrontierten“ Aussage und der Fairness des Verfahrens für den Angeklagten darstellt. Diese beiden Gesichtspunkte haben wenig miteinander zu tun; und doch werden sie über die Annahme, dass die Aussage eines Zeugen, den der Angeklagte nicht befragen konnte, prinzipiell der Bestätigung durch weitere Beweismittel bedarf, miteinander verknüpft. Ungeklärt bleibt so die im Hintergrund stehende Frage, ob das Konfrontationsrecht letztlich nur der Validierung der Beweismittel für das Gericht dient (wie dies der anglo-amerikanischen Rechtsauffassung zugrunde liegt; siehe oben I.) oder ob sie eine Ausprägung der Subjektstellung des Beschuldigten im Strafverfahren darstellt. Dieselbe Vermengung unterschiedlicher Gesichtspunkte zeigt sich dort, wo der BGH das Maß an notwendiger Korroboration der indirekt eingebrachten Zeugenaussage davon abhängen lässt, ob die Unmöglichkeit der Befragung der Justiz zuzurechnen oder ein Ergebnis „höherer Gewalt“ ist. Schon die Frage, welche Voraussetzungen für eine solche Zurechnung (oder gar ein „Verschulden“ der „Justiz“) erfüllt sein müssen, ist sehr schwer zu beantworten. Aber selbst wenn man feststellen kann, dass dem Angeklagten durch einen Fehler eines Justizorgans die sonst bestehende Möglichkeit genommen wurde, einen Belastungszeugen zu befragen, ist es wenig einsichtig, dass die Folge eines solchen Fehlers gerade eine Erhöhung der Anzahl zusätzlich notwendiger Beweismittel sein soll. Für die Anforderungen an den Schuldbeweis ist ein Fehlverhalten der Justiz ein externer und damit sachfremder Gesichtspunkt. Schließlich ist es auch fraglich, ob der BGH gut beraten ist, wenn er – wohl um offene Konflikte mit dem EGMR zu vermeiden – dessen Perspektive der „Gesamtfairness des Verfahrens“ für die Beurteilung der hier relevanten Fälle übernimmt (oder dies jedenfalls vorgibt). Denn anders als ein Menschenrechtsgerichtshof sollte das oberste Fachgericht in Strafsachen den unteren Instanzen und auch den Ermittlungsbehörden Maßstäbe und Kriterien vorgeben, an denen sie ihre Entscheidungen prospektiv orientieren können – mit der möglichen Folge der Aufhebung eines Urteils nach § 337 StPO, wenn diese Vorgaben nicht korrekt angewandt wurden. Durch eine bloße „Gesamtwürdigung“ von Einzelfällen wird der BGH seiner wichtigen Aufgabe, Orientierung für die Rechtsanwendung zu geben, nicht gerecht. Es wäre zu wünschen, dass der BGH seine Rechtsprechung weniger an der Notwendigkeit einer „Akkommodation“ der EGMR-Rechtsprechung als vielmehr an grundsätzlichen Erwägungen zu Sinn und Zweck des Konfrontationsrechts ausrichtet. Dafür stünden, wenn man die Situation unbefangen und zunächst ohne Rücksicht auf die Rechtsprechung des EGMR betrachtet, zwei jeweils in sich konsistente Lösungswege zur Auswahl. Man kann, erstens, das Konfrontationsrecht als Mittel zur Überprüfung der Glaubhaftigkeit von belastenden Zeugenaussagen ansehen. Dem entspräche eine strikte Beweiswürdigungslösung: Im Idealfall soll der Belastungszeuge befragt werden können; aber wenn dies aus faktischen oder rechtlichen Gründen (z. B. §§ 52, 55 StPO) nicht möglich ist, können (in dem von §§ 250 ff. StPO gespannten Rahmen) auch seine früheren, ohne Befragung zustande gekommenen Angaben verwendet werden. Da ihre Beweiskraft gemindert ist, müssen sie vorsichtig und zurückhal-
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tend gewürdigt werden. Erscheinen sie trotzdem als glaubhaft, so müssen sie konsequenterweise nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO) auch allein zur Bildung einer Überzeugung des Gerichts von der Schuld des Angeklagten ausreichen können. Diese Grundsätze müssten, da es ja nur um die Überzeugungskraft eines Beweismittels geht, unabhängig von den Gründen gelten, aus denen eine Konfrontation unterblieben ist, und somit auch dann, wenn der Beschuldigte auf eine mögliche Befragung des Zeugen verzichtet oder eine ihm dazu gebotene Gelegenheit in eigener Verantwortung versäumt hat. Die Alternative zu diesem Ansatz besteht darin, das Konfrontationsrecht als selbständiges Recht des Beschuldigten, gewissermaßen als Extension von § 240 II StPO zu verstehen. Dann ist das Recht auf Befragung ganz unabhängig von seinem Einfluss auf die Qualität der Beweismittel gewährt. Seine natürliche Grenze findet das Befragungsrecht des Beschuldigten, wenn eine Befragung faktisch unmöglich ist, etwa wenn der Zeuge vor der geplanten Befragung durch den Beschuldigten verstorben ist. Gerät das Konfrontationsrecht mit anderen Rechten, etwa dem Zeugnisverweigerungsrecht oder dem Lebens- oder Gesundheitsschutz eines Zeugen, in Konflikt, so muss das Befragungsrecht nach Abwägung unter Umständen zurücktreten. Ist dies der Fall oder kann das Konfrontationsrecht aus faktischen Gründen nicht wahrgenommen werden, so kann auch eine nicht „konfrontierte“ Zeugenaussage als Beweismittel nach den Regeln der §§ 250 ff. StPO in die Hauptverhandlung eingeführt und dem Urteil zugrunde gelegt werden. Nur falls dem Beschuldigten die Konfrontationsmöglichkeit gezielt oder fahrlässig verweigert wurde, mag man an Sanktionen gegenüber den Justizorganen denken, denen die Rechtsverletzung vorzuwerfen ist. In diesem Rahmen kommen grundsätzlich auch Beweisverwertungsverbote in Betracht. Sie wären freilich nicht wirklich systemgerecht, da es hier – wie oben ausgeführt – nicht um Beweismittel geht, die dem Beschuldigten oder einem Zeugen rechtswidrig entlockt wurden, sondern meist (d. h. wenn nicht, wie in § 168c II StPO, ausdrücklich Anwesenheitsrechte des Beschuldigten normiert sind) um in sich zulässig gewonnene, verfahrensrelevante Angaben von Zeugen. Hätte der Belastungszeuge noch zur Zeit der Hauptverhandlung zur Verfügung gestanden, so wird die Verteidigung das Unterlassen seiner Ladung mit der Revision als Verletzung der Aufklärungspflicht oder gegebenenfalls wegen unzulässiger Ablehnung eines zuvor gestellten Beweisantrags angreifen können. Eine Kombination aus diesen beiden Denkansätzen ist nicht ausgeschlossen. Man sollte sich aber der unterschiedlichen Art einer Verankerung des Konfrontationsrechts in den verschiedenen Verfahrenssystemen bewusst bleiben und systemfremde Hybridlösungen zu vermeiden trachten.
IV. Schlussbemerkung Schon seit ein paar Jahren bemüht sich der sogenannte Alternativkreis von Strafrechtslehrern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz im Rahmen seines Pro-
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jekts „Alternativ-Entwurf Unmittelbarkeit“ darum, (auch) für die hier angesprochenen Fragen des Konfrontationsrechts eine Lösung zu finden. Trotz einiger Anläufe ist eine durchweg überzeugende Formulierung allerdings bisher noch nicht gelungen. Das liegt sicher nicht zuletzt daran, dass die „Alternativ-Professoren“ bei diesem Projekt ohne Jürgen Wolter auskommen müssen. Er hat es durch seine meisterhafte Beherrschung des gesamten Prozessrechts und des Verfassungsrechts (und vieler umliegender Materien), durch seine Sorgfalt, Umsicht und Formulierungskunst, und nicht zuletzt durch seine aufgeschlossene, zugewandte und integrierende Persönlichkeit verstanden, unsere früheren prozessrechtlichen Vorhaben zum Erfolg zu führen, und er wird diesmal schmerzlich vermisst. In der Hoffnung, dass wir die freundschaftliche, konstruktive und mich persönlich stets bereichernde Zusammenarbeit in der Zukunft fortführen können, widme ich Jürgen Wolter diesen kleinen Beitrag mit den allerherzlichsten Glückwünschen zum 70. Geburtstag.
Heimliche Ermittlungsmaßnahmen, Richtervorbehalt und datenschutzrechtliche Kontrolle – ein Klärungsversuch Von Edda Weßlau
I. Die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger zu sichern hat seit jeher bedeutet, den Effektivitätsanspruch staatlicher Politiken zu begrenzen. Das gilt auch und gerade im Politikbereich der Inneren Sicherheit. Jürgen Wolter hat seit Jahrzehnten die Auseinandersetzung mit diesem Thema in das Zentrum seiner publizistischen Aktivitäten gerückt und dabei den gesetzgeberischen Lösungen häufig widersprochen. Das gilt vor allem auf dem Gebiet der immer weiter ausgebauten heimlichen Überwachungsbefugnisse der Ermittlungsbehörden. Nun kommt es im Leben eines derart kritischen Wissenschaftlers durchaus selten vor, dass die von ihm formulierten Einwände plötzlich in aller Munde sind. Umso mehr Aufmerksamkeit verdient deshalb die öffentliche Aufregung über eine strafprozessuale Ermittlungsmethode, vor der Jürgen Wolter gewarnt hatte: Hier bestehe die „Gefahr der Totalüberwachung“.1 Diese Warnung war – so werden heute viele zustimmen – ausgesprochen weitsichtig. Die Rede ist von der so genannten Funkzellenabfrage, die ihre Rechtsgrundlage in § 100g StPO findet und deren ausufernde Nutzung durch die Strafverfolgungsbehörden im Zusammenhang mit einer Anti-Nazi-Demonstration im Februar 2011 in Dresden hohe Wellen in Politik und Justizkreisen geschlagen hat. Der Polizeichef von Dresden hat im Zuge dieser Affäre seinen Posten verloren.2 Der sächsische Datenschutzbeauftragte, der vom Landtag um einen Bericht gebeten worden ist, hat gegenüber dem sächsischen LKA, der Polizeidirektion Dresden und der Staatsanwaltschaft Dresden eine förmliche Beanstandung gem. § 29 SächsDSG ausgesprochen3 – dies ist die schärfste Reaktion, die der Datenschutzbeauftragte zur Verfügung hat. Die Sache hat dann schnell eine bundespolitische Bedeutung erlangt. Die Konferenz 1
SK-StPO/Wolter § 100g Rn. 49. „Nach dem Handy-Skandal in Dresden: Offensive gegen Riesendatenberge“, Meldung vom 07. 07. 2011 in: www.sueddeutsche.de/politik/2.220, abgerufen am 07. 03. 2012. 3 Bericht zu den nichtindividualisierten Funkzellenabfragen und anderen Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung durch Polizei und Staatsanwaltschaft Dresden in Bezug auf den 13., 18. und 19. Februar 2011 in Dresden, Sächsischer Landtag Drucks. 5/6787 v. 09. 09. 2011, S. 5. 2
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der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder hat eigens zu diesem Thema im Juli 2011 eine Entschließung veröffentlicht, in der eine Einschränkung der Funkzellenabfrage gefordert wird.4 Ebenfalls im Juli 2011 haben 33 Abgeordnete des Bundestages und die Fraktion DIE LINKE mit einer Kleinen Anfrage die „Handy-Massenüberwachung bei legalen Demonstrationen“ kritisiert und Auskünfte dazu verlangt.5 Zu guter Letzt überboten sich gleich drei Gesetzesinitiativen drin, die zu weit geratene Befugnisnorm des § 100g StPO wieder einzuschränken.6 Mittlerweile sind auch in anderen Regionen der Republik die DatensammlungsPraktiken der Strafverfolgungsbehörden in ein kritisches Licht geraten. So hat die Berliner Polizei in großem Umfang Handydaten per Funkzellenabfrage ausgewertet, um Autobrandstifter zu fassen. Als das bekannt wurde, ließ sich der Innenausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses von der Polizeipräsidentin ausführlich über die Praxis der Funkzellenabfrage berichten. Es stellte sich heraus, dass im Zuge der Brandstiftungs-Ermittlungen mindestens 4,2 Millionen Verkehrsdaten erhoben worden waren. Ebenso wie in Dresden hatten auch hier die zuständigen Ermittlungsrichter die jeweiligen Einsätze genehmigt. Erfolgreich waren diese Maßnahmen freilich nicht. Aus dem Bericht der Polizeipräsidentin ergab sich weiter, dass die Staatsanwaltschaft die Daten von Mobiltelefonen seit Jahren standardmäßig abfragt, z. B. bei Tötungsdelikten, aber auch bei mutmaßlich politisch motivierten Taten.7 Die geschilderten Reaktionen sprechen dafür, dass es nicht um vereinzelte, skandalöse Fälle des Umgangs mit einer an sich ganz unproblematischen Befugnisnorm geht, sondern um einen Konstruktionsfehler, den es gesetzgeberisch zu beseitigen gilt.8 Der nachfolgende Beitrag fragt danach, ob der Konstruktionsfehler nicht auch noch woanders gesucht werden muss: Wieso hat das, was im Nachhinein so klar zu sein schien und sich sogar zur politischen Skandalisierung eignete, die jeweils zuständigen Ermittlungsrichter eigentlich nicht bewogen, die beantragte Maßnahme 4
www.datenschutz-bayern.de/nav/1101.html, abgerufen am 07. 03. 2012. BT-Drucks. 17/6428. 6 Gesetzesantrag des Freistaates Sachsen, BR-Drucks. 532/11 vom 06. 09. 2011; Gesetzentwurf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BT-Drucks. 17/7033 vom 21. 09. 2011; Gesetzentwurf von DIE LINKE, BT-Drucks. 17/7335 vom 18. 10. 2011. Alle drei Initiativen sind im Sande verlaufen. Die Justizministerin erklärte unlängst auf Anfrage eines Presseorgans, das Thema werde weiter geprüft; vgl. „Die Tageszeitung“ vom 31. 01. 2013: Erst Empörung, heute stilles Vergessen. 7 „Berlin streitet über Funkzellenüberwachung“, Meldung vom 23. 01. 2012 in: www.zeit. de/digital/datenschutz/2012-01/berlin, angerufen am 07. 03. 2012; „Polizei prüfte mindestens 4,2 Millionen Handy-Datensätze“, Meldung vom 23. 01. 2012 in: www.tagesspiegel.de/berlin, abgerufen am 07. 03. 2012; „Handydatenauswertung: Großer Aufwand, kleine Wirkung“, Meldung vom 21. 01. 2012 in: www.tagesspiegel.de/berlin, abgerufen am 07. 03. 2012; „Justiz: Telefonkontrollen bei Autobrandstiftung normal“, Meldung vom 20. 01. 2012 in: www.tages spiegel.de/berlin, abgerufen am 07. 03. 2012; „Massenauswertung von Handydaten empört Innenexperten“, Meldung vom 20. 01. 2012 in: www.spiegel.de/politik/deutschland, abgerufen am 07. 03. 2012. 8 S. auch die Forderungen der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder, Entschließung vom 27. 07. 2011 (s. o. Fn. 4). 5
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abzulehnen? War die Unverhältnismäßigkeit, die nach Bekanntwerden vor allem der Dresdener Vorgänge im Mittelpunkt der politischen wie juristischen Kritik stand, nicht mit Händen zu greifen? Der sächsische Datenschutzbeauftragte hat es offenbar so gesehen und deshalb – wie geschildert – das Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden scharf kritisiert. Bemerkenswert ist der letzte Satz, mit dem die Einleitung seines Berichtes an den Sächsischen Landtag abschließt: „Ich nehme nicht Stellung zu den auf Grund der hier behandelten polizeilichen Anregungen und staatsanwaltschaftlichen Anträgen ergangenen gerichtlichen Beschlüssen. Dies verbieten die verfassungsrechtlich garantierte Unabhängigkeit der Gerichte und die einfachgesetzliche Beschränkung meiner Zuständigkeit in § 27 Abs. 4 SächsDSG“.9 Dennoch hat sich die Justiz durch den sächsischen Datenschutzbeauftragten angegriffen gefühlt und einen Gegenangriff gestartet, zuerst in Sachsen in Gestalt des Präsidenten des OLG Dresden, dann bundesweit. Der Deutsche Richterbund reagierte mit einer Presseerklärung auf die Entschließung der 82. Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder und ließ verlauten: Der Landesdatenschutzbeauftragte habe, indem er die Maßnahmen als unverhältnismäßig kritisierte, die Beschlüsse der Ermittlungsrichter einer indirekten Kontrolle unterzogen und damit seine Kompetenzen überschritten. Es stehe dem Datenschutzbeauftragten nicht zu, richterliche Entscheidungen zu überprüfen und zu bewerten.10 Der Fall gibt also Veranlassung, erstens danach zu fragen, wie es tatsächlich um das Verhältnis zwischen Strafjustiz und Datenschutzbehörde bestellt ist,11 und zweitens zu untersuchen, ob der Richtervorbehalt nicht aufgrund konzeptioneller Mängel zu einer nahezu wirkungslosen Kontrollform geworden und mit welchen Mitteln möglicherweise eine Verbesserung zu erreichen ist.
II. Die Kotrollrechte der Datenschutzbeauftragten in Bezug auf die Ermittlungstätigkeit der Strafverfolgungsbehörden sind schon lange ein Streitpunkt.12 Konkret geht es dabei u. a. um die Kontrolle von Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung, aber auch um Auskunftsrechte der Datenschutzbeauftragten aus laufenden Ermittlungen als aliud zu den Rechten des Beschuldigten, um die Übermittlung 9
Bericht (s. o. Fn. 3), S. 3. Presseerklärung des DRB vom 30. 09. 2011, www.drb.de, abgerufen am 15. 03. 2011; vgl. auch Ch. Nordmann, Immer wieder ein Thema: Datenschutz und Justiz, Betrifft JUSTIZ Nr. 108, 2011, 164 ff. 11 Die Beiträge von Kurz, DuD 2012, 258 ff. und Keders/Spielmann, DRiZ 2012, 347 ff. sind nach Fertigstellung des Manuskriptes erschienen und konnten nicht mehr berücksichtigt werden. 12 Zusammenfassend Kesten, Datenschutz im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren, in: Abel (Hrsg.), Datenschutz in Anwaltschaft, Notariat und Justiz, 2. Aufl. (2003), S. 185 ff., Rn. 28 ff. 10
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von personenbezogenen Daten durch die Staatsanwaltschaft an die Datenschutzbeauftragten, und zwar auch unabhängig von laufenden Ermittlungsverfahren, um die Überprüfung von Benachrichtigungs- und Löschungsverpflichtungen, denen die Staatsanwaltschaft unterliegt, und um die Kontrolle von Registerauskünften. Die Rechtslage ist in der Tat nicht besonders übersichtlich. Die bereichsspezifischen Vorschriften der StPO zum Datenschutz sparen die Rechtsstellung des Datenschutzbeauftragten aus.13 Es besteht allerdings Einigkeit, dass die Bestimmungen in den Datenschutzgesetzen subsidiär anwendbar sind. Im BDSG und in den Landesdatenschutzgesetzen sind die Kontrollbefugnisse des Datenschutzbeauftragten sachlich weitgehend einheitlich geregelt, sofern es um das Verhältnis zu den Gerichten geht. Im BDSG heißt es in § 24 Abs. 3: „Die Bundesgerichte unterliegen der Kontrolle des Bundesbeauftragten nur, soweit sie in Verwaltungsangelegenheiten tätig werden.“ Damit wird die in Absatz 1 dieser Vorschrift generell gefasste Kontrollaufgabe des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit für den gerichtlichen Bereich eingeschränkt. Alle anderen „öffentlichen Stellen des Bundes“ unterliegen hinsichtlich der Einhaltung der Vorschriften des BDSG und anderer Vorschriften über den Datenschutz der datenschutzrechtlichen Kontrolle. Auch die Landesdatenschutzgesetze treffen für die Tätigkeit der Gerichte besondere Regelungen, durch die die Kontrollbefugnisse der Datenschutzbeauftragten eingeschränkt werden. Überwiegend folgen sie dem Regelungskonzept des BDSG und nehmen die Gerichte erst im speziellen Abschnitt über die Kontrollaufgaben des Datenschutzbeauftragten aus (§ 24 Abs. 1, Abs. 2 BlnDSG; § 23 Abs. 1 S. 2 und 3 HambDSG; § 24 Abs. 1 S. 3 HessDSG; § 22 Abs. 1 S. 2 NdsDSG; § 24 Abs. 2 RhPfDSG; § 27 Abs. 1, Abs. 4 SächsDSG; § 22 Abs. 1 S. 2 DSG-LSA; § 39 Abs. 1 S. 2 SchlHDSG); teilweise werden die Gerichte aber bereits in der Vorschrift erwähnt, die den Anwendungsbereich des Landesdatenschutzgesetzes festlegt (§ 2 Abs. 3 S. 2 DSG BaWü; Art. 2 Abs. 6 BayDSG; § 1 Abs. 4 BremDSG; § 2 Abs. 6 ThDSG). In diesen Fällen wird jener Abschnitt des Gesetzes, der die Kontrollbefugnisse des Datenschutzbeauftragten regelt, in Bezug auf die Gerichte für unanwendbar erklärt – es sei denn, sie werden in Verwaltungsangelegenheiten tätig. Hier liegt eindeutig nur eine abweichende Regelungstechnik vor. Einen anderen Weg schlagen die Landesdatenschutzgesetze der Länder Brandenburg (§ 2 Abs. 1 S. 2 LDSG), Mecklenburg-Vorpommern (§ 2 Abs. 4 S. 2 LDSG), Nordrhein-Westfalen (§ 2 Abs. 1 S. 2 LDSG) und Saarland (§ 2 Abs. 1 S. 4 LDSG) ein. Dort wird bestimmt, dass die Gerichte von der Anwendung des gesamten Regelungswerkes ausgenommen sind, soweit sie nicht nur Verwaltungsaufgaben wahrnehmen. Ob damit tatsächlich ein sachlicher Unterschied zu den übrigen Landesdatenschutzgesetzen besteht, ist eher zweifelhaft, wenn man den Vorrang bereichsspezifischer Regelungen in der StPO bedenkt. Vor diesem Hintergrund muss man auch die Lösung sehen, die man in Bremen gefunden hat. Dort wird zunächst die Geltung des Landesdatenschutzgesetzes für die Gerichte eingeschränkt (§ 1 Abs. 4 LDSG). Dann heißt es 13
Eine Ausnahme ist § 98b Abs. 4 StPO; dazu noch später im Text.
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aber, dass § 1 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe b des BDSG unberührt bleibe. Diese Vorschrift des BDSG erstreckt die Geltung des bundesrechtlichen Datenschutzregelungen auf die öffentlichen Stellen der Länder, soweit der Datenschutz nicht durch Landesgesetz geregelt ist und soweit sie als Organe der Rechtspflege tätig werden und es sich gerade nicht um Verwaltungsangelegenheiten handelt. Damit scheint das BDSG die Lücke zu füllen, die sich für die Gerichte ergibt, doch das BDSG enthält seinerseits die Subsidiaritätsklausel (§ 1 Abs. 3) und erklärt bereichsspezifische Vorschriften – hier also die StPO – für vorrangig. Durchgehend unterliegen also Entscheidungen der Gerichte, soweit sie den Umgang mit personenbezogenen Daten betreffen, grundsätzlich nicht der Kontrolle durch die Datenschutzbeauftragten. Diese Lösung wird auf die verfassungsrechtliche Stellung der Justiz zurückgeführt, wie sie insbesondere in Art. 97 GG zum Ausdruck kommt.14 So erklärt sich die im BDSG und in 14 Landesdatenschutzgesetzen verwendete Formel, wonach die Ausnahmeregelung bei Verwaltungsangelegenheiten bzw. Justizverwaltungsangelegenheiten (so in Sachsen) nicht eingreift. Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang in den Landesdatenschutzgesetzen Hessens (§ 24 Abs. 1 S. 3 LDSG) und Schleswig-Holsteins (§ 39 Abs. 1 S. 2 LDSG), wo in Bezug auf die Gerichte die Formel benutzt wird: „… soweit sie nicht in richterlicher Unabhängigkeit tätig werden“. Ob die verfassungsrechtliche Stellung der Justiz – also ein institutioneller Aspekt – tatsächlich so weit trägt, dass auch atypisch zustande gekommene und daher hinsichtlich ihrer funktionellen Einordnung durchaus zweifelhafte richterliche Entscheidungen dem Tabu unterliegen, ist durchaus eine Frage wert. Die Anordnungen, die ein Ermittlungsrichter im Strafverfahren gem. § 162 StPO trifft, werden nämlich von einem beachtlichen Meinungslager mit guten Gründen nicht als spezifisch richterliche Tätigkeit qualifiziert, sondern als Amtshilfe15 bzw. Mithilfe bei rechtsprechungsfremden Tätigkeiten16. Das Bundesverfassungsgericht qualifiziert sie funktional als Ausübung vollziehender Gewalt.17 Wesentliche prozedurale Bedingungen, die an sich für gerichtliche Verfahren gelten und gerade die spezifische Qualität richterlicher Entscheidungen verbürgen, fehlen – wie vielfach dargelegt wurde18 – bei der Prüfung einer beantragten strafprozessualen Maßnahme durch den Ermittlungsrichter. Erwähnt seien hier nur das rechtliche Gehör und – damit zusammenhängend – das kontradiktorische Prinzip. Dass sich angesichts dieser strukturellen Defizite eine Nachkontrolle durch ein anderes kompetentes Organ erübrige, kann also gerade 14
Simitis BDSG/Dammann § 24 Rn. 29; Vetter, DuD 1997, 252. Schnarr, NStZ 1991, 209 (212); differenzierend Rabe von Kühlewein, Der Richtervorbehalt im Polizei- und Strafprozessrecht, 2001, S. 109 ff., 267; Roggan, in: Roggan/Kutscha (Hrsg.), Handbuch zum Recht der Inneren Sicherheit, 2006, S. 191. 16 H. Wolter, DÖV 1997, 939 (941 ff.); Asbrock, KritV 1997, 255 (257); Gusy, Verfassungsfragen vorbeugenden Rechtsschutzes, JZ 1998, 167 ff., 170. 17 BVerfGE 107, 395 (406). 18 Eingehend etwa H. Wolter, aaO. (Fußn. 15), 942 f. 15
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nicht plausibel behauptet werden.19 De lege lata kommt es freilich nicht darauf an, ob die konkrete richterliche Entscheidung als spezifische Rechtsprechungstätigkeit i. S. von Art. 92 GG anzusehen ist oder nicht, solange es sich jedenfalls nicht um „Verwaltungsangelegenheiten“ handelt bzw. solange „in richterlicher Unabhängigkeit“ entschieden wurde. Insofern hat der sächsische Datenschutzbeauftragte in seinem Bericht an den Landtag – wie oben zitiert – die Rechtslage richtig gesehen und sich ausdrücklich einer Bewertung der ermittlungsrichterlichen Beschlüsse enthalten. Weniger eindeutig ist die datenschutzrechtliche Kontrolle der Tätigkeit der Staatsanwaltschaften geregelt. Zieht man zunächst die StPO zu Rate, so zeigt sich, dass allein in § 98b Abs. 4 StPO die Datenschutzbehörden erwähnt sind. Die Staatsanwaltschaft wird durch diese Vorschrift dazu verpflichtet, nach Beendigung einer Rasterfahndung die Behörde zu unterrichten, „die für die Einhaltung der Vorschriften über den Datenschutz bei öffentlichen Stellen zuständig“ ist. Der Sinn dieser Regelung ist darin zu sehen, dem Datenschutzbeauftragten eine nachträgliche Kontrolle zu ermöglichen. Einen Umkehrschluss erlaubt diese Norm nicht. Sie spricht im Gegenteil dafür, dass der Datenschutzbeauftragte grundsätzlich als zuständige Kontrollinstanz anzusehen ist, wenn im Rahmen von strafrechtlichen Ermittlungen personenbezogene Daten erhoben bzw. verarbeitet werden. Bei Rasterfahndungen besteht die Besonderheit lediglich darin, dass er dazu bereits durch eine Unterrichtung in die Lage versetzt wird, ohne seinerseits die Strafverfolgungsbehörden auffordern zu müssen. Die Bestimmungen in den Datenschutzgesetzen zu den Kompetenzen der Datenschutzbeauftragten bezüglich staatsanwaltschaftlicher Ermittlungstätigkeiten fallen unterschiedlich aus. Der Bund trifft insoweit keine einschränkenden Regelungen. Das BDSG erstreckt sogar ausdrücklich seinen Anwendungsbereich auf öffentliche Stellen der Länder, sofern sie als „Organ der Rechtspflege“ tätig werden (§ 1 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe b). Diese Bestimmung hat allerdings für das hier behandelte Thema keine Bedeutung, denn sie gilt nur soweit der Datenschutz im Landesgesetz nicht geregelt ist. Das Bundesland Brandenburg (§ 2 Abs. 2 LDSG) grenzt den Anwendungsbereich des Landesdatenschutzgesetzes nicht nur für Gerichte, sondern grundsätzlich auch für die Staatsanwaltschaften auf die Tätigkeit in Verwaltungsangelegenheiten ein. Allerdings wird der Abschnitt über die Stellung und Befugnisse des Datenschutzbeauftragten von dieser Einschränkung gerade ausgenommen und somit klargestellt, dass die Staatsanwaltschafen vom Datenschutzbeauftragten kontrolliert werden, „soweit sie keine Verwaltungsaufgaben wahrnehmen“. Ähnlich verfahren die Länder Mecklenburg-Vorpommern (§ 2 Abs. 4 S. 3 LDSG), Nordrhein-Westfalen (§ 2 Abs. 1 S. 2 LDSG) und Saarland (§ 2 Abs. 1 S. 4 LDSG). In den übrigen Landesdatenschutzgesetzen – bis auf eine Ausnahme – gibt es keinerlei besondere Regelung bezüglich der Kontrollbefugnisse gegenüber der Staatsanwaltschaft. Einen Sonderweg geht Bayern: Art. 30 Abs. 4 BayDSG grenzt die Kontrollbefugnisse 19
Ähnlich bereits Paeffgen, JZ 1997, 178 (189).
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des Datenschutzbeauftragten zweifach ein. Nach Satz 1 unterliegen Daten, die von den Strafverfolgungsbehörden gewonnen worden sind, erst nach Abschluss des Strafverfahrens der Kontrolle; nach Satz 2 sind darüber hinaus Datenerhebungen, die gerichtlich überprüft wurden, gänzlich von der Kontrolle ausgenommen. Es zeigt sich also, dass allein der Bayerische Gesetzgeber mit Blick auf die in der StPO vorgesehene gerichtliche Überprüfung eine Nachkontrolle durch den Datenschutzbeauftragten generell ausschließen wollte, wenn im Rahmen strafprozessualer Ermittlungen Daten erhoben worden und die Maßnahmen auch tatsächlich gerichtlich überprüft worden sind.20 Ob damit auch Maßnahmen gemeint sind, die dem Richtervorbehalt unterliegen, kann freilich bezweifelt werden. Der Ermittlungsrichter „überprüft“ nicht im Sinne des durch Art. 19 Abs. 4 GG gewährleisteten Rechtsschutzes eine von einem Exekutivorgan getroffene Entscheidung21, sondern ordnet selbst die Maßnahme an, sofern er sie für rechtmäßig hält. Zwar wird insoweit häufig von „präventivem Rechtsschutz“ gesprochen, doch sollte diese Wendung nicht davon ablenken, dass die substanziellen Garantien, die sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergeben, hier nicht gegeben sind. Nach zutreffender Auffassung handelt es sich – wie gesagt – bei Entscheidungen, die der Ermittlungsrichter gem. § 162 StPO trifft, gar nicht um eine Rechtsprechungstätigkeit, so dass der Begriff „präventiver Rechtsschutz“ überhaupt irreführend ist. Lässt man den Sonderfall Bayern beiseite, so scheint der Fall jedenfalls klar zu sein: Die Aufgaben und Befugnisse des Datenschutzbeauftragten erstrecken sich auf die Erhebung von personenbezogenen Daten im Rahmen der Strafverfolgung, solange nicht die Tätigkeit der Gerichte in der Rechtspflege betroffen ist. An diesem Ergebnis werden aus zwei Richtungen jedoch Zweifel angemeldet. Zum einen wird argumentiert, dass es nicht Aufgabe der Datenschützer sein könne, „staatsanwaltschaftliche Entscheidungen inhaltlich zu zensieren“.22 Der andere Einwand hebt die „indirekte“ Betroffenheit der Gerichte hervor, wenn staatsanwaltschaftliche Maßnahmen, die eine richterliche Entscheidung letztlich nur vorbereitet haben, vom Datenschutzbeauftragten beanstandet werden könnten.23 Die Abwehrhaltung gegenüber einer externen Kontrolle im Hinblick auf Ermittlungshandlungen, bei denen personenbezogene Daten erhoben worden sind, läuft – juristisch gesprochen – auf eine teleologische Reduktion hinaus. Ansatzpunkt kann dabei freilich nicht der inhaltliche Kontrollrahmen sein, wie er durch die Datenschutzgesetze vorgegeben wird. Zwar wird in der strafprozessualen Literatur überwiegend betont, der Datenschutzbeauftragte habe „zur Vermeidung von Doppelzu20 Ob die Ausnahme in Satz 1 nicht ihrerseits mit der Unabhängigkeitsgarantie kollidiert, die das LDSG in Bezug auf den Datenschutzbeauftragten enthält, soll hier nicht untersucht werden; vgl. in diesem Sinne kritisch zum bayerischen Sonderweg Pätzel, DRiZ 2001, 24 (34). 21 Rabe von Kühlewein, aaO. (Fn. 15), S. 447 f.; Brüning, ZIS 2006, 29 (30 f.). 22 Kesten (Fn. 12), Rn. 26. 23 So der DRB, s. o. Fn. 10.
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ständigkeiten“ keineswegs die strafprozessuale Rechtmäßigkeit einer Datenerhebungsmaßnahme zu prüfen, die allein dem Gericht obliege, sondern allein die Einhaltung datenschutzrechtlicher Vorschriften. Er habe also nur eine eingeschränkte Kontrollmöglichkeit.24 Diese Logik ist jedoch trügerisch. Die Phase der Datenerhebung gehört gem. §§ 2 Abs. 2, 3 Abs. 3 BDSG zum Datenschutzrecht. § 4 Abs. 1 BDSG stellt klar, dass die Erhebung personenbezogener Daten nur zulässig ist, „soweit dieses Gesetz oder eine andere Rechtsvorschrift dies erlaubt“. Damit sind Rechtsvorschriften, die die Erhebung personenbezogener Daten erlauben, Datenschutz-Vorschriften. Die Zugehörigkeit einer Regelung zum Datenschutzrecht kann nämlich nicht am Regelungs-Standort festgemacht werden, sondern allein am materiellen Regelungsgehalt. Verfolgt sie den Zweck, „den einzelnen davor zu schützen, dass er durch den Umgang mit seinen personenbezogenen Daten in seinem Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt wird“ (so § 1 Abs. 1 BDSG) – und das trifft auf alle Datenerhebungsvorschriften zu, die die Zulässigkeit des informationellen Eingriffs von bestimmten Voraussetzungen abhängig machen – so handelt es sich im materiellen Sinne um eine datenschutzrechtlich relevante Vorschrift. Es ist nicht ersichtlich, dass bei der Kontrollbefugnis des Datenschutzbeauftragten die Erhebungsphase ausgeklammert werden sollte. Denn diese Befugnis erstreckt sich auf die „Einhaltung der Vorschriften dieses Gesetzes und anderer Vorschriften über den Datenschutz“ – so die Formel in den einschlägigen Vorschriften der Landesdatenschutzgesetze. Folglich werden die Datenschutzbeauftragten dazu ermächtigt zu prüfen, ob die fragliche Datenerhebung zulässig war. Zu kontrollierten ist damit eben auch die Einhaltung jener Vorschriften, in denen die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen der Datenerhebung geregelt sind. Damit bilden die Normen der StPO in der Tat den Kontrollmaßstab.25 Ansatzpunkt der teleologischen Reduktion ist vielmehr ein kollisionsrechtlicher Gedanke: man müsse der „Gefahr divergierender Beurteilungen“26 entgegenwirken. Das Rechtsschutzsystem der StPO sieht nämlich für sämtliche Ermittlungsmaßnahmen, die der Erhebung von personenbezogen Daten dienen, eine gerichtliche Überprüfung vor – bei der Funkzellenabfrage etwa wäre gem. § 101 Abs. 7 S. 2 StPO ein Antrag auf gerichtliche Überprüfung und gem. § 101 Abs. 7 S. 3 StPO gegen diese gerichtliche Entscheidung noch einmal die sofortige Beschwerde möglich. Neben einer solchen gerichtlichen Kontrolle „bleibt für Rechtmäßigkeitskontrollen staatsanwaltschaftlicher Entscheidungen durch Datenschutzbeauftragte des Bundes oder der Länder kein Raum mehr“.27 Diese Begründung leuchtet jedoch nicht ein. Art. 19 Abs. 4 GG garantiert dem Bürger in jedem Fall, in dem durch einen Akt ho24 KK/Nack § 98 Rn. 13; LR/Schäfer § 98b Rn. 26; Meyer-Goßner § 98b Rn. 8; SK-StPO/ Wohlers § 98b Rn. 11; Graf, Rastenfahndung und organisierte Kriminalität 1997, S. 112; Siebrecht, Rasterfahndung, 1997, 108; Hilger, NStZ 1992, 457 (461) Fn. 74; Wittig, JuS 1997, 961 (970). 25 So auch Vetter, DuD 1997, 252; s. auch Simitis BDSG/Dammann § 24 Rn. 9. 26 Kesten (Fn. 12), Rn. 37. 27 Kesten (Fn. 12), Rn. 37.
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heitlicher Gewalt in seine Rechte eingegriffen worden ist, gerichtlichen Rechtsschutz, mithin auch in jedem Fall einer ihn betreffenden Datenerhebung oder Datenverwendung. Es ist folglich keine Besonderheit des Strafprozesses, dass ein gerichtlicher Rechtsschutz besteht, der selbstverständlich auch die datenschutzrechtlich relevanten Eingriffsvoraussetzungen umfasst. Wäre die kollisionsrechtliche Überlegung richtig, so würde man stets argumentieren können, dass eine „Rechtmäßigkeitskontrolle“ durch den Datenschutzbeauftragten neben der gerichtlichen Überprüfung nicht stattfinden dürfe. Die Kontrollbefugnis des Datenschutzbeauftragten liefe leer. Wie oben erörtert, erstrecken sich datenschutzrechtlichen Prüfungen nicht auf richterliche Entscheidungen im Einzelfall – das ist der zutreffende Ausgangspunkt des zweiten Einwandes. Die gerichtliche Tätigkeit ist der datenschutzrechtlichen Kontrolle nicht unterworfen. Als problematisch kann es deshalb empfunden werden, wenn der Datenschutzbeauftragte eine staatsanwaltschaftliche Entscheidung kontrolliert und ggf. dann auch kritisiert, die nicht unmittelbar der Datenerhebung zugrunde lag, sondern lediglich darauf gerichtet war, eine richterliche Anordnung über eine solche Datenerhebung herbeizuführen. Stelle der Datenschützer fest, dass die Datenerhebungsmaßnahme unrechtmäßig war, dann betreffe diese Feststellung „eigentlich“ die richterliche Anordnung und nicht eine staatsanwaltschaftliche Entscheidung – so lautet im Kern die Kritik des Deutschen Richterbundes an dem Bericht des sächsischen Datenschutzbeauftragten in der eingangs erwähnten Affäre. Zur Klärung dieses Arguments erscheint es sinnvoll, die altbekannte Figur der doppelfunktionellen Prozesshandlung heranzuziehen. Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft ist – prozessrechtlich betrachtet – auf eine Antragstellung und somit auf eine Prozesshandlung gerichtet; sie soll prozessual etwas bewirken. Sie ist zugleich – eingriffsdogmatisch gesehen – auf eine materielle Wirkung gerichtet, nämlich auf die Eingriffswirkung bei den betroffenen Grundrechtsträgern. Dem Antrag geht natürlich seinerseits ein innerbehördlicher Entscheidungsprozess voraus, und in diesem Entscheidungsprozess können Fehler gemacht werden. Prozesshandlungen aber stellen eine eigenständige Kategorie dar. Sie ist gerade deswegen entwickelt worden, weil für Prozesshandlungen der Code „rechtmäßig / unrechtmäßig“ nicht gilt, sondern es gelten die Codes „zulässig / unzulässig“, „begründet / unbegründet“ und „wirksam / unwirksam“. So gesehen ist es also geradezu sinnwidrig, die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, einen Antrag auf Anordnung einer Ermittlungsmaßnahme zu stellen, unter dem Gesichtspunkt der Rechtmäßigkeit zu prüfen. Eine inhaltliche Prüfung könnte in prozessrechtlicher Perspektive nur zu dem Ergebnis führen, dass ein Antrag der Staatsanwaltschaft auf Durchführung einer bestimmten Ermittlungsmaßnahme unbegründet sei. Der Datenschutzbeauftragte aber soll selbstverständlich nicht diese Perspektive einnehmen, sondern die datenschutzrechtliche Perspektive. Dabei geht es um den materiellen Gesichtspunkt: War der Eingriff in die Rechte der Betroffenen rechtmäßig? In dieser Perspektive ist freilich festzustellen, dass der Eingriff zum einen in der Anordnung des Ermittlungsrichters zu sehen ist, zum anderen im Akt der Vollstreckung, wobei letzteren wiederum gem. § 36 Abs. 2 StPO die Staatsanwaltschaft zu verantworten hat. Keinesfalls kann Gegen-
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stand einer Rechtmäßigkeitsprüfung der bloß vorbereitende Akt der Antragstellung sein, denn dieser ist – materiell gesehen – ein Nullum.28 Man kann gegen dieses Ergebnis nicht einwenden, dass Ermittlungsmaßnahmen, die auf Anträge der Staatsanwaltschaft zurückgehen, dann ja faktisch der datenschutzrechtlichen Kontrolle entzogen wären. Denkbar bleibt etwa die Überprüfung, ob eine Anordnung ordnungsgemäß herbeigeführt wurde, ob bei deren Vollstreckung die Grenzen eingehalten wurden, wie mit dem erhobenen Datenmaterial weiter umgegangen wurde29 und ob die Benachrichtigungspflichten eingehalten wurden.30 Die Kontrollbefugnis des Datenschutzbeauftragten kommt ferner dann zum Zuge, wenn Datenerhebungsmaßnahmen von den Ermittlungsbehörden selbst angeordnet worden sind. Denn dann liegt in dieser Anordnung der Eingriff, der unter dem materiellen Gesichtspunkt überprüft werden kann, ob die gesetzlichen Voraussetzungen der Datenerhebung berücksichtigt worden sind. Das wiederum kann man durchaus als störenden Systemfehler kritisieren: Angesichts der Kompetenzordnung der StPO kann es vorkommen, dass die eine Maßnahme, weil sie richterlich angeordnet wurde, vom Datenschutzbeauftragten noch nicht einmal kommentiert werden darf, während die gleiche Maßnahme, weil sie von einem Staatsanwalt unter Inanspruchnahme der Ausnahmekompetenz angeordnet worden ist, in vollem Umfang datenschutzrechtlich überprüft werden darf. Diese Rechtslage erscheint unbefriedigend, weil es letztlich von kontingenten Faktoren abhängt, ob die datenschutzrechtliche Kontrolle greift oder nicht. Noch mehr Unbehagen kommt auf, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die richterliche Anordnung sich häufig als bloße Unterschrift unter den bereits vom Staatsanwalt vorformulierten Beschluss darstellt – so auch im Fall der Dresdener Funkzellenabfrage. Der um diesen Fall entstandene Konflikt sollte daher einen Denkanstoß geben: Ist es wirklich geboten, richterliche Anordnungen in Bausch und Bogen der datenschutzrechtlichen Überprüfung zu entziehen, selbst wenn es sich funktional um die Ausübung vollziehender Gewalt handelt? Die geltende Rechtslage mag – wie gezeigt – unbefriedigend sein, sie gibt jedoch kein Argument zur Lösung des hier diskutierten Konflikts her.31 Wenn etwa gesagt 28 Das verkennt Ch. Nordmann, Betrifft JUSTIZ 2011, 164 (167), wenn sie darauf hinweist, dass die Staatsanwaltschaft mit ihrem Initiativrecht nicht auf „vorbereitendes bzw. ausführendes Handeln“ reduziert werden dürfe, zumal sie ihrerseits verpflichtet gewesen sei, die Verhältnismäßigkeit der beantragten Maßnahme zu prüfen. Diese Argumentation vermischt die prozessuale und die materielle Perspektive. 29 Dies war ein wesentlicher Gegenstand der Kritik im Dresdener Fall: Das LKA hatte die erhobenen Daten später an die Polizeidirektion übermittelt, und zwar zum Zwecke von Ermittlungen, die die Funkzellenabfrage ihrerseits nicht gerechtfertigt hätten. Darin lag ein Verstoß gegen § 477 Abs. 2 S. 2 StPO. 30 Zum Ganzen Vetter DuD 1997, 252 f. 31 Anders Ch. Nordmann, Betrifft JUSTIZ 2011, 164 (167): „Soll die Prüfkompetenz des Datenschutzbeauftragten davon abhängen, ob gerade ein Richter oder eine Richterin zu erreichen ist? Das kann nicht sein.“
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wird, dass die Staatsanwaltschaft „rein exekutiv handelt“, und zwar „unabhängig davon, ob sie ihre grundrechtsrelevanten Ermittlungen aufgrund richterlichen Beschlusses oder … aufgrund eigener Anordnung ausführt“,32 so mag das richtig sein; diese Überlegungen schieben den Konflikt aber auf ein falsches Gleis. Ob der Datenschutzbeauftragte eine strafprozessuale Ermittlungsmaßnahme überprüfen kann oder nicht, hängt nicht davon ab, ob man die Staatsanwaltschaft als Exekutivbehörde sieht oder ob man bereit ist, sie „weiter Richtung Judikative zu rücken“33. Unverändert ist vielmehr daran festzuhalten, dass Gegenstand einer Rechtmäßigkeitskontrolle nur die Anordnung selbst sein kann oder aber die Art und Weise der Durchführung, nicht jedoch „die Ermittlungen“. Wird – wie im Dresdener Fall geschehen – die Maßnahme selbst als unverhältnismäßig beanstandet und nicht etwa die Art und Weise der Durchführung, dann wird mit dieser Beanstandung die Anordnung getroffen. Und wenn diese Anordnung von einem Ermittlungsrichter stammt, darf der Datenschutzbeauftragte sie de lege lata nicht beanstanden.
III. Der Fall der Dresdener Funkzellenabfrage reiht sich ein in die inzwischen durch zahlreiche empirische Studien abgesicherte Erkenntnis, dass der Richtervorbehalt ein wenig effektiver Kontrollmechanismus ist.34 Auch über die Ursachen dieses Mangels ist schon viel gesagt worden. Die hier diskutierten Fälle der massenhaften Funkzellenabfragen lenken die Aufmerksamkeit aber noch auf einen speziellen Punkt, um den es im Folgenden u. a. gehen soll. Das gegenwärtige System des Richtervorbehalts ist durch zwei Kardinalfehler geprägt. Der eine Fehler betrifft die unmittelbare verfahrensrechtliche Ausgestaltung. Der Richter wird als ausgleichende, von exekutivischer Effektivitätslogik unbehelligte und damit für die Grundrechte der Betroffenen sensible Instanz gesehen. Das wird der Realität nicht gerecht. Stattdessen müsste man sich auf den Wert eines kontradiktorischen Verfahrens der Entscheidungsfindung besinnen, das den Ermittlungsrichter in seinem originären richterlichen Rollenverständnis anspricht und also das Wesen der Rechtsprechungstätigkeit – die Streitentscheidung – in sich auf32
Ch. Nordmann, Betrifft JUSTIZ 2011, 164 (166). Ch. Nordmann, Betrifft JUSTIZ 2011, 164 (166). 34 Benfer, Die Haussuchung im Strafprozeß, 1980; Nelles, Kompetenzen und Ausnahmekompetenzen in der Strafprozessordnung,1980; Albrecht/Dorsch/Krüpe, Rechtswirklichkeit und Effizienz der Überwachung der Telekommunikation nach den §§ 1001a, 100b StPO und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen, 2003; Backes/Gusy, Wer kontrolliert die Telefonüberwachung? 2003; Brüning, Der Richtervorbehalt im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, 2005; Krüpe-Gescher, Die Überwachung der Telekommunikation nach den §§ 100a, 100b StPO, 2005; Eckhardt, Effizienanalyse der Telekommunikationsüberwachung nach § 100a StPO, 2009; Finke, Die Durchsuchung von Räumen im Ermittlungsverfahren, 2009; Berichte aus der Praxis Asbrock (Fn. 16); Helmken, StV 2003, 193 ff.; abweichende Bewertung („wirkungsvolles Rechtsschutzinstrument“) bei Brüning (Fn. 21), 35. 33
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nimmt. Der zweite Fehler betrifft das juristische Prüfungsraster. Rabe von Kühlewein hat bereits vor über zehn Jahren in seiner gründlichen Studie zum Richtervorbehalt ernüchternd festgehalten, dass dieser Mechanismus nicht dazu beitragen könne, die Häufigkeit der Anordnung bestimmter Ermittlungsmaßnahmen in Grenzen zu halten.35 Angesichts der stetig ausgebauten und z. T. sehr weit gehenden Erhebungsund Überwachungsbefugnisse staatlicher Sicherheitsbehörden scheint der Richtervorbehalt kein geeigneter Kontrollrahmen zu sein, um die über den einzelnen Betroffenen hinausreichenden Folgen angemessen zu berücksichtigen. Die Idee, kontradiktorische Elemente in das richterliche Prüfungsverfahren einzubauen, ist nicht völlig neu. Es bedarf einer Figur, die als Vertreter der von dem Eingriff Betroffenen deren Interessen bei der Entscheidung über die Anordnung einer heimlichen Überwachungsmaßnahme zur Geltung bringt und somit den Ermittlungsrichter überhaupt erst in die Lage versetzt, aus verschiedenen Perspektiven auf das polizeilich zusammengetragene Material und die rechtlichen Probleme zu blicken. Vorbilder für eine solche Figur existieren in Österreich und in Dänemark. Beide Länder haben für (einige) heimliche Ermittlungsmethoden eine so genannte Ombudsmann-Lösung eingeführt.36 Der „Rechtsschutzbeauftragte“ bzw. „Verfahrensanwalt“ hat typische Parteirechte und wirkt jedenfalls auch bereits im Vorfeld der Anordnung mit. Aufgegriffen worden ist die Idee darüber hinaus von einer Arbeitsgruppe um Bernd Schünemann, die ein Alternativmodell für die europäische Strafverfolgung vorgelegt hat.37 Doch so bestechend diese Lösung auf den ersten Blick sein mag – die praktische Wirksamkeit hängt offenbar ganz wesentlich vom professionellen Selbstverständnis und vom Engagement der Ombudsmänner bzw. Ombudsfrauen ab. Das zeigen die österreichischen Erfahrungen ebenso wie die in Dänemark gewonnenen Einsichten, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.38 Die Autorengruppe, die das Alternativmodell für eine europäische Strafverteidigung ausgearbeitet hat, ist mit ihrem Vorschlag jedenfalls nicht nur auf Zustimmung, sondern auch auf heftige Kritik gestoßen.39 Ein praktikabler Gegenvorschlag ist nicht in Sicht. Alles in Allem bleibt es eine offene Frage, wer überhaupt eine Lobby für die Einführung von Ombudsmann-Lösungen bilden könnte. Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der sächsische Verfassungsgerichtshof bereits vor mehr als 15 Jahren die Idee ins Spiel gebracht hat, im Vorfeld einer polizeilichen Abhörmaßnahme an der Entscheidung über deren Zulässigkeit 35
Rabe von Kühlewein (Fn. 15), S. 448. Zu Österreich s. Zerbes, Spitzeln, Spähen, Spionieren, 2010, S. 157 ff., S. 335; zu Dänemark Cornils/Greve, Rechtliche Initiativen gegen organisierte Kriminalität in Dänemark, in: Gropp/Huber (Hrsg.), Rechtliche Initiativen gegen organisierte Kriminalität, 2001, S. 3 ff., S. 45. 37 Schünemann (Hrsg.), Alternativentwurf Europäische Strafverfolgung, 2004. 38 Instruktiv Zerbes (Fn. 33), S. 164 ff. 39 Vogel, Licht und Schatten im Alternativ-Entwurf Europäische Strafverfolgung, ZStW 116 (2004), 400 (414 f.). 36
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den Datenschutzbeauftragten zu beteiligen.40 Aufgegriffen worden ist diese Idee – soweit ersichtlich – nur vereinzelt.41 Dass sie überhaupt geäußert wurde, zeigt aber, dass eine Veränderung des settings bei der Kontrolle insbesondere geheimer Ermittlungseingriffe durchaus nahe liegt und dass den Datenschutzbeauftragten auf diesem Gebiet eine hohe Kompetenz und ausgeprägte Sensibilität zugetraut wird. Das Beispiel der Funkzellenabfrage und die unterschiedliche Einschätzung der Maßnahmen durch die befassten Ermittlungsrichter einerseits und den Datenschutzbeauftragten andererseits sind wahrscheinlich symptomatisch. Insbesondere die auf massenhafte Datenerfassung zielenden Ermittlungsmethoden werfen nämlich ganz grundsätzlich die Frage auf, ob das klassische juristische Prüfraster mit seiner Beschränkung auf die im Einzelfall betroffenen Rechtsgüter eine angemessene Problemverarbeitung garantieren kann. Die Anzahl der von einem Eingriff Betroffenen gilt zwar in der Eingriffsdogmatik als ein Gesichtspunkt, der im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung in die Waagschale zu werfen ist. Doch lässt sich die „Gefahr der Totalüberwachung“ – um auf diesen von Jürgen Wolter ins Spiel gebrachten Begriff zurückzukommen – tatsächlich durch eine bloße quantitative Dimension, also durch eine bloße Summierung der Betroffenen erfassen? Sind es wirklich allein die Interessen der im Einzelfall Betroffenen, die eine rechtliche Relevanz als Gegenpol zum Allgemeininteresse an Straftataufklärung haben? Oder gibt es so etwas wie ein überindividuelles Interesse, das geltend zu machen wäre und das einen anderen Blickwinkel erfordert? Das Bundesverfassungsgericht hat im G-10-Urteil zum Ausdruck gebracht, dass die individualschützende Perspektive allein nicht angemessen ist, um rechtsstaatlich bedenkliche Entwicklungen im Bereich staatlicher Überwachungsbefugnisse zu erfassen: Bei der Beurteilung solcher Befugnisse „ist nicht nur die individuelle Beeinträchtigung einer Vielzahl einzelner Grundrechtsträger zu berücksichtigen. Vielmehr betrifft die heimliche Überwachung des Fernmeldeverkehrs auch die Kommunikation der Gesellschaft insgesamt. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht dem – insoweit vergleichbaren – Recht auf informationelle Selbstbestimmung auch einen über das Individualinteresse hinausgehenden Gemeinwohlbezug zuerkannt“.42 Wenn das richtig ist, dann ist es ein Gebot des Gemeinwohls, dass die aus Überwachungs- und Kontrollbefugnissen resultierenden Machtpotentiale auf staatlicher Seite nicht nur im Gesetzgebungsprozess bei der abstrakten Güterabwägung bedacht werden; vielmehr müssen diese Machtpotentiale gerade auch bei der Anwendung eben dieser Überwachungs- und Kontrollbefugnissen in Grenzen gehalten werden. Diese Dimension wird in der Entscheidungspraxis der anordnenden Instanzen nicht angemessen erfasst, wenn eben doch nur „die individuelle Beeinträchtigung einer Vielzahl einzelner Grundrechtsträger“ berücksichtigt wird. Insofern geht es nicht um ein Versagen
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Vgl. Sächs VBl. 1996, 160 (166, 168, 173). Vgl. Paeffgen, JZ 1997, 178 (188), mit kritischer Auseinandersetzung. 42 BVerfG 100, 313 (381).
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einzelner befasster Instanzen, sondern um eine konzeptionelle Schwäche des Systems. Welche Kriterien ein Mechanismus erfüllen müsste, um eine überindividuelle, gemeinwohl-orientierte Kontrolldimension herauszubilden, ist eine Frage, die hier nur gestellt, aber keineswegs beantwortet werden kann. Immerhin wäre mit dem Datenschutzbeauftragten eine Instanz vorhanden, die vielleicht nicht nur als Vorbild für neuartige, jenseits des individuellen Modells etablierte Kontrollrahmen dienen, sondern realiter als Akteur ins Spiel gebracht werden könnte. Eine Beteiligung des Datenschutzbeauftragten im Vorfeld der Anordnung einer Ermittlungsmaßnahme, wie vom sächsischen Verfassungsgerichtshof ins Gespräch gebracht43, dürfte allerdings mit dem gesetzlichen Leitbild dieses Amtes kaum in Einklang zu bringen sein. Würde man diese Beteiligung so ausgestalten, dass der Datenschutzbeauftragte dem geplanten Grundrechtseingriff zustimmen müsste, so wäre er in der Rolle, in der heute die Ermittlungsrichter sind. Er wäre mitverantwortlich für eine Maßnahme der Exekutive – und wenn er eine geplante Maßnahme ablehnt, hätte er in den Augen der Öffentlichkeit auch die Verantwortung für „Ermittlungspannen“ zu tragen. Er wäre nicht mehr unabhängiger Kontrolleur der Exekutive, sondern deren Helfer bei der Erfüllung von Staatsaufgaben.44 Denkbar wäre es aber auch, die Beteiligung des Datenschutzbeauftragten mit der Idee eines kontradiktorisch gestalteten Verfahrens zu kombinieren, den Datenschutzbeauftragten also quasi als „Obmann“ einzusetzen. Das hätte den Vorteil, dass seine Kompetenz und sein Blick für jene überindividuelle Dimension zur Geltung kämen, ohne dass er die zu treffende Entscheidung mitverantworten müsste. Gleichwohl würde auch eine solche Rolle nicht zur Funktion des Datenschutzbeauftragten als unabhängiger Kontrolleur passen. Hätte er im Nachhinein eine konkrete Einzelmaßnahme zu kontrollieren und zu bewerten, so würde man eine eventuell nötige Beanstandung kaum ernst nehmen, wenn sich herausstellen würde, dass er es bei der Vorab-Beteiligung unterlassen hatte, die entsprechenden Argumente vorzubringen. Mit gutem Grund sind die Datenschutzbeauftragten nach geltendem Recht in beratender Funktion für die Exekutive nur insoweit tätig, als es um konzeptionelle Fragen geht. Jede – und sei es auch nur beratende – Beteiligung im Vorfeld einer konkreten Maßnahme beeinträchtigt die Glaubwürdigkeit einer Nachkontrolle. Alles in Allem laufen die hier entwickelten Überlegungen darauf hinaus, die Kontrollbefugnisse des Datenschutzbeauftragten im Hinblick auf eine Nachkontrolle auszubauen und die Tabuisierung richterlich angeordneter Maßnahmen fallen zu lassen. Dass daneben über Verbesserungen des justiziellen präventiven Grundrechtsschutzes weiter nachgedacht und das System des Richtervorbehalts möglicherweise gründlich umgestaltet werden muss, bleibt davon unberührt. 43
Eine solche begleitende Beteiligung ist auch für die strafprozessuale Maßnahme der Rasterfahndung in Betracht gezogen worden; zustimmend Siebrecht (Fn. 24), 108; ablehnend Graf (Fn. 24), 112. 44 Kritisch in diesem Sinne auch Paeffgen, JZ 1997, 178 (188).
Fernwirkung – zur normativen Begrenzung der sachlichen Reichweite von Verwertungsverboten Von Wolfgang Wohlers
I. Einführung in die Problemstellung Jürgen Wolter ist in seinem wissenschaftlichen Werk stets sowohl am materiellen Strafrecht1 als auch am Strafprozessrecht interessiert gewesen, wobei er im Hinblick auf das Strafprozessrecht wohl in erster Linie als einer der profiliertesten Kenner und vehementer Kritiker der gesetzgeberischen Umsetzung der neuen heimlichen Ermittlungseingriffe wahrgenommen wird.2 Dass sich der Jubilar als langjähriger Direktor des Instituts für deutsches und europäisches Strafprozessrecht und Polizeirecht (ISP) in diesem Bereich des Strafprozessrechts, bei dessen Durchdringung neben strafprozessualen Gesichtspunkten auch die Grundrechtsdogmatik sowie das Datenschutzund Polizeirecht zum Tragen kommen, besonders zu Hause fühlt, wird niemand – auch er selbst nicht – bestreiten wollen. Es darf aber andererseits auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich Jürgen Wolter stets auch in besonderer Weise um die Fortentwicklung des Strafprozessrechts als Gesamtsystem3 bemüht hat. Mehrere unmittelbar einschlägige Publikationen4 und auch die unter seiner Mitarbeit zustande gekommenen Reformentwürfe5 legen hiervon Zeugnis ab.
1 Neben der großen Monografie „Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem“, 1981, sei hier nur pauschal auf die Kommentierungen verwiesen, die Wolter für den Alternativkommentar sowie den Systematischen Kommentar zum StGB vorgelegt hat. 2 Auch hier sei der Einfachheit halber allein auf die einschlägigen Kommentierungen im Systematischen Kommentar zur StPO verwiesen. 3 Tatsächlich ist Jürgen Wolter sogar noch einen Schritt weiter gegangen und ist auch dafür eingetreten, das materielle Strafrecht und das Strafprozessrecht als zwei Teilelemente eines ganzheitlichen Gesamtsystems zu verstehen, vgl. nur Wolter, 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, 1993, S. 269 ff.; ders., in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem, 1996, S. 1 ff. 4 Vgl. hierzu nur Wolter, Aspekte einer Strafprozessreform bis 2007, 1991. 5 Vgl. hierzu beispielsweise den unter Mitwirkung von Jürgen Wolter vom Arbeitskreis deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer erarbeiteten „AlternativEntwurf zur Reform des Ermittlungsverfahrens (AE-EV)“, 2011 sowie den von Wolter/ Schenke/Hilger/Ruthig/Zöller herausgegebenen „Alternativentwurf Europol und europäischer Datenschutz“, 2008.
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Wolfgang Wohlers
Sowohl im Zusammenhang mit der praktischen Anwendung einzelner strafprozessualer Zwangsmaßnahmen als auch im Rahmen einer Gesamtsicht auf das System des Strafprozessrechts ist die Dogmatik der Verwertungsverbote von herausragender Bedeutung. Die Bereitschaft, Erkenntnisse, die faktisch vorhanden sind, nicht zu verwerten, obwohl dies im Extremfall zu einem – unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse als Fehlentscheidung einzustufenden – Freispruch führen kann, ist ein Prüfstein dafür, welchen Wert eine Rechtskultur den schützenden Förmlichkeiten des Verfahrens zumisst. Besonders deutlich wird dies dann, wenn nicht nur allein die (Un-)Verwertbarkeit eines prozessordnungswidrig gewonnenen Beweismittels in Frage steht, sondern es um die Verwertbarkeit von weiteren Beweisen geht, die aufgrund eines für sich gesehen unverwertbaren Beweises gewonnen worden sind und die eine Verurteilung tragen würden, wenn sie verwertet werden dürfen. Die Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten ist immer noch weit von einer konsentierten Lösung entfernt. Jürgen Wolter hat im Jahre 1984 im Anschluss an ein Diktum des BGH festgehalten, „dass sich eine allgemeingültige Regel, wann ein Beweisverwertungsverbot über das unmittelbar gewonnene Beweisergebnis hinausreicht und wo seine Grenzen zu ziehen sind, nicht aufstellen lässt“.6
Nachfolgend wird der Frage nachgegangen, ob dieser Standpunkt weiterhin Geltung beanspruchen kann. Konkreter Anlass für die Untersuchung ist die Entscheidung des schweizerischen Gesetzgebers, genau das zu tun, was nach Auffassung des Jubilars nicht möglich sein soll: In der neuen gesamtschweizerischen Strafprozessordnung findet sich mit Art. 141 StPO/CH nicht nur eine Regelung, mit der die Problematik der unselbständigen Beweisverwertungsverbote als solcher einer einfachgesetzlichen Regelung zugeführt wird. In Art. 141 Abs. 4 findet sich auch eine Regelung, in der die Fernwirkung thematisiert wird. Diese lautet: „Ermöglicht ein Beweis, der nach Abs. 2 nicht verwertet werden darf, die Erhebung eines weiteren Beweises, so ist dieser nicht verwertbar, wenn er ohne die vorhergehende Beweiserhebung nicht möglich gewesen wäre.“
Die Frage ist, ob diese Regelung den Lösungen überlegen ist, die Rechtsprechung und Literatur in Deutschland aus eigener Kraft bzw. in Anlehnung an US-amerikanische Vorbilder entwickelt haben.7 Angesichts dessen, dass der BGH, der sich bisher der Annahme einer Fernwirkung tendenziell eher verweigert hat, in seiner neuesten Rechtsprechung zur Unverwertbarkeit von Selbstgesprächen die Geltung eines umfassenden Verwendungsverbotes – und damit unter anderem eben auch de facto eine Fernwirkung – ausdrücklich postuliert hat,8 könnte dieser Blick über die Grenze nicht
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Wolter NStZ 1984, 276. Skeptisch insoweit Rogall JZ 2008, 818, 827 und 830. 8 Vgl. BGH 2 StR 509/10 vom 22. 12. 2011, Rz. 20 f. = JR 2012, 386, 388 mit Anm. Wohlers. 7
Fernwirkung – zur Begrenzung der Reichweite von Verwertungsverboten
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nur akademisch interessant, sondern auch ganz praktisch gesehen von nicht unerheblicher Bedeutung sein.
II. Der Meinungsstand zur Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten Bei der Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten geht es um die Frage, ob Beweise, die aufgrund von Erkenntnissen erhoben worden sind, die ihrerseits einem Verwertungsverbot unterliegen, als Früchte des verbotenen Baumes (fruits of the poisonous tree) ebenfalls unverwertbar sind oder nicht. Fallgestaltungen, an denen die Grundstruktur verdeutlich werden kann, sind z. B.: *
*
Fallbeispiel 1: Im Rahmen einer prozessordnungswidrig ohne richterliche Anordnung durchgeführten Durchsuchung wird ein Beweisobjekt aufgefunden. Alternativ kann der Fall auch so liegen, dass der Auffindungsort der weiteren Beweismittel im Rahmen einer Einvernahme durch Androhung unzulässigen Zwangs ermittelt wird.9 Wenn man davon ausgeht, dass die im Rahmen der Durchsuchung aufgefundenen Beweismittel einem Verwertungsverbot unterliegen – was allerdings für den nicht beachteten Richtervorbehalt nach h.M. nur dann der Fall ist, wenn der Richtervorbehalt bewusst missachtet worden oder eine gleichwertig grobe Verkennung der Voraussetzungen des Richtervorbehalts gegeben ist10 –, stellt sich die Frage, ob dieses Verwertungsverbot insoweit Fernwirkung hat, dass auch die im weiteren Verlauf der Untersuchungen aufgefundenen Beweismittel als unverwertbar einzustufen sind. Fallbeispiel 2: Im Rahmen einer Überwachung wird ein Selbstgespräch des Beschuldigten mitgehört, in dem dieser sich unter anderem dazu äußert, dass er die Tat begangen und wo er die Leiche versteckt hat. Die Polizei begibt sich an den angegebenen Ort und findet dort die Leiche vor. Konfrontiert mit diesem Umstand legt der Beschuldigte ein Geständnis ab. Geht man mit dem BGH davon aus, dass die im Rahmen des Selbstgesprächs gefallen Äußerungen einem Verwertungsverbot unterliegen,11 stellt sich die Frage, ob dieses Verwertungsverbot eine Fernwirkung entfaltet, mit der Folge, dass auch die aufgefundene Leiche und das im Anschluss an die Auffindung abgegebene Geständnis als unverwertbar einzustufen sind.
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Vgl. den Sachverhalt bei LG Frankfurt StV 2003, 325 ff. (Fall Gäfgen). Vgl. BGHSt 51, 285, 289 ff.; a.A. SK-StPO/Wohlers, Band II, 4. Aufl., 2010, § 98 Rn. 63, § 105 Rn. 79; ders. StV 2008, 434, 438 f., jeweils m.w.N. 11 BGH, Urt. 22. 12. 2011, 2 StR 509/10, NJW 2012, 945 = BGH JR 2012, 386, 387 f. mit Anm. Wohlers = BGH NStZ 2012, 399 mit Anm. Allgayer = BGH StV 2012, 517 mit Anm. Ladiges; Zabel ZIS 2012, 563 ff. 10
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Die Frage der Fernwirkung im soeben beschriebenen Sinne ist zu unterscheiden von der – nachfolgend nicht weiter behandelten – Problematik des weiterwirkenden Zwangs. Hier geht es um die Frage, ob sich ein ursprünglicher Verfahrensfehler – z. B. die Anwendung von Täuschungen und/oder unerlaubtem Zwang – auch auf spätere Beweiserhebungen ausgewirkt hat, weil z. B. der Aussagende auch bei späteren Aussagen weiterhin unter dem Eindruck der Täuschung und/oder des Zwangs stand.12 1. Der Standpunkt der deutschen Rechtsprechung Der Bundesgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung stets betont, dass sich die Annahme einer Fernwirkung nach der spezifischen Sachlage und der Schwere des Verstoßes zu richten habe.13 Methodisch hat sich der BGH dabei der Sache nach der Abwägungslösung angeschlossen.14 Angenommen hat er eine Fernwirkung bisher allerdings nur für den Ausnahmefall, bei dem ein Beweismittel unter Verstoß gegen die Vorschriften des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses gewonnen worden war,15 wobei hier ausschlaggebend gewesen sein dürfte, dass in § 7 Abs. 3 G10 ein Verwertungsverbot ausdrücklich statuiert worden ist.16 In allen anderen Entscheidungen hat der BGH die Annahme einer Fernwir-
12 Vgl. hierzu BGHSt 17, 364 ff.; 22, 129, 135; 35, 328, 331 ff.; 55, 314, 318 f. mit Anm. Norouzi NJW 2011, 1525 f.; LG Aachen NJW 1978, 2256, 2257; LG Frankfurt StV 2003, 325, 326 f. mit Bespr. Weigend StV 2003, 436, 438 f.; vgl. auch LR/Gössel, Band I, 26. Aufl., 2006, Einl. Abschn. L Rn. 108; AnwK-StPO/Walther, 2. Aufl., 2010, § 136a Rn. 50; Grünwald, Das Beweisrecht der Strafprozessordnung, 1993, S. 159 f.; Jäger, Beweisverwertung und Beweisverwertungsverbote im Strafprozess, 2003, S. 112 f.; Jahn, Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbote im Spannungsfeld zwischen den Garantien des Rechtsstaates und der effektiven Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus, Gutachten C zum 67. DJT, 2008, C 90 f.; Rogall JZ 2008, 818, 826. Eine – zumindest argumentative – Vermengung beider Problembereiche findet sich in BGH NStZ 1988, 142 mit Anm. Dörig. 13 BGHSt 27, 355, 357; 29, 244, 249; zustimmend: Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., 2012, Einl. Rn. 57; AnwK-StPO/Walther § 136a Rn. 52; Radtke/Hohmann/Radtke, StPO, 2011, Einl. Rn. 82; SK-StPO/Rogall, Band II, 4. Aufl., 2010, § 136a Rn. 112; Ambos, Beweisverwertungsverbote, 2010, S. 147 f.; Störmer, Dogmatische Grundlagen der Verwertungsverbote, 1992, S. 239. 14 Reichert-Hammer JuS 1989, 446, 448/449; Rogall JZ 1996, 944, 948. 15 BGHSt 29, 244, 250 ff.; vgl. dazu auch BFH NJW 2007, 2281, 2287 f. sowie Störmer (Fn. 13), S. 243 ff.; Ossenberg, Die Fernwirkung im deutsch-U.S.-amerikanischen Vergleich, 2011, S. 47 f. Ob Gleiches auch für fehlerhafte Anordnungen nach den §§ 100a f. StPO zu gelten hat, wurde in BGHSt 29, 244, 252 ausdrücklich offen gelassen; vgl. auch BGHSt 51, 1, 7 ff.: keine Fernwirkung durch eine rechtsfehlerhafte Anordnung einer TelekommunikationsÜberwachungsmaßnahme im Falle einer Kette von aufeinander beruhenden Überwachungsmaßnahmen. 16 Vgl. Schlüchter, Das Strafverfahren, 2. Aufl., 1983, Rn. 352.3, mit dem durch die spätere Rechtsprechung des BGH bestätigten Urteil, dass man die Bedeutung dieser Entscheidung für die Fälle von Anordnungen nach 100a f. StPO nicht überbewerten dürfe; zum Verwertungsverbot nach G10 vgl. auch Reinecke, Beweisverwertungsverbote, 2010, S. 120 ff.
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kung im Ergebnis jeweils verneint,17 womit er ausgehend von der Abwägungslösung de facto zu einer (fast) generellen Ablehnung einer Fernwirkung gelangt ist.18 Auch die Oberlandesgerichte und die Landgerichte stehen der Annahme einer Fernwirkung eher skeptisch gegenüber.19 Ausnahmen, in denen eine Fernwirkung bejaht wurde, sind soweit ersichtlich bisher allein bei Verstößen gegen § 136a StPO angenommen worden.20 Dass die von der Rechtsprechung propagierte Abwägungslösung auch bei Verstößen gegen § 136a StPO dazu führt, dass jedenfalls bei Kapitaldelikten eine Fernwirkung praktisch immer verneint wird, hat zuletzt der Fall Gäfgen gezeigt. Die zuständige Strafkammer des LG Frankfurt hat mit Beschluss vom 9. 4. 2003 den Antrag der Verteidigung auf Feststellung einer Fernwirkung für die durch die Androhung von Folter erwirkten Aussagen des Angeklagten zurückgewiesen. Zur Begründung führt die Strafkammer aus: „Dagegen besteht keine Fernwirkung des Verstoßes gegen § 136a StPO in der Weise, dass auch die bei der Aussage bekanntgewordenen Beweismittel nicht benutzt werden dürfen. Die Kammer folgt insoweit der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Mittelmeinung (vgl. …), wonach eine Abwägung im Einzelfall vorzunehmen und insbesondere zu berücksichtigen ist, ob in besonders grober Weise gegen die Rechtsordnung, namentlich gegen Grundrechtsnormen verstoßen wurde, und dabei auch auf die Schwere der aufzuklärenden Tat abzustellen ist. Die Abwägung der Schwere des Eingriffs in Grundrechte des Angeklagten – im vorliegenden Fall die Androhung körperlicher Gewalt – und der Schwere der ihm vorgeworfenen und aufzuklärenden Tat – vollendete Tötung eines Kindes – lässt die Unverwertbarkeit der infolge der Aussage des Angeklagten bekanntgewordenen Beweismittel – 17 Vgl. BGHSt 27, 355, 357 ff.; 32, 68, 71 mit Anm. Schlüchter JR 1984, 517 und Wolter NStZ 1984, 276; BGHSt 34, 362, 364 mit abl. Anm. Fezer JZ 1987, 937, 938 f., Grünwald StV 1987, 470, 472, Seebode JR 1988, 427, 430 f., und Wagner NStZ 1989, 33; BGHSt 51, 1, 7 f.; BGH 02. 05. 1994 – 1StR 115/94, BGHR StPO § 110a Fernwirkung 1; BGH StV 1995, 398; BGH NStZ 1996, 200, 201 und hierzu Mergner, Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten, 2005, S. 38 ff. sowie Ossenberg (Fn. 15), S. 48 f.; zustimmend Meyer-Goßner (Fn. 13), Einl Rn. 57, § 100a Rn. 38 und § 136a Rn. 31; Radtke/Hohmann/Radtke (Fn. 13), Einl. Rn. 82. 18 So auch bereits Reichert-Hammer JuS 1989, 446, 449; Reinecke (Fn. 16), S. 246 f.; Störmer (Fn. 13), S. 239; vgl. auch Jäger (Fn. 12), S. 113 sowie SK-StPO/Rogall (Fn. 13), § 136a Rn. 111. 19 Vgl. OLG Köln NZV 2001, 137, 138 f.; OLG Stuttgart NJW 1973, 1941, 1942 und hierzu auch Mergner, Fernwirkung (Fn. 17), S. 42 sowie Ossenberg (Fn. 15), S. 49 f. 20 BGH NStZ 1996, 291; LG Hannover StV 1986, 521, 522; vgl. dazu auch SK-StPO/ Rogall (Fn. 13), § 136a Rn. 113; Jäger (Fn. 12), S. 112; Klug, Referat für den 46. DJT, in: Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band II, Sitzungsberichte der strafrechtlichen Abteilung, München und Berlin 1967, F31, F46; Kohlhaas JR 1960, 246, 248; Maiwald JuS 1978, 379, 384; Otto GA 1970, 289, 294; Peters, Beweisverbote im deutschen Strafverfahren, Gutachten für den 46. DJT, in: Verhandlungen des 46. DJT, Band I, Teil 3 A, 1966, S. 160; Spendel JuS 1964, 465, 471; ders. NJW 1966, 1102, 1105; Störmer (Fn. 13), S. 246 ff. sowie verneinend LG Frankfurt StV 2003, 325, 326 mit Bespr. Weigend StV 2003, 436, 439 ff.; Baumann GA 1959, 33, 42; Dallinger SJZ 1950, 732, 734; Kleinknecht NJW 1964, 2181, 2185.
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insbesondere das Auffinden des toten Kindes und die Ergebnisse der Obduktion – unverhältnismäßig erscheinen.“21
Konkret bedeutet dies, dass in Fällen von Kapitaldelikten allenfalls noch die tatsächliche Anwendung von Folter eine Fernwirkung zur Folge haben kann. Das BVerfG hat den in der Praxis vorherrschend vertretenen Standpunkt zutreffend dahingehend zusammengefasst, „dass Verfahrensfehlern, die ein Verwertungsverbot für ein Beweismittel zur Folge haben, nicht ohne weiteres Fernwirkung für das gesamte Strafverfahren zukommt“,22 was vom BVerfG als aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden eingestuft wird.23 Die Argumente, die der BGH und die herrschende Lehre zur Begründung ihres restriktiven Standpunktes heranziehen, hat Jürgen Wolter kurz und bündig wie folgt zusammengefasst: „Die Wahrheitserforschung im gesamten Strafverfahren und damit auch das Legalitätsprinzip würden lahmgelegt; der Schuldgrundsatz und dann auch die Gleichheit und Gerechtigkeit erheblich tangiert. Außerdem sei die ,hypothetische Kausalität‘ zwischen Verfahrensfehler und schließlicher Überführung des Beschuldigten nicht nur schwer festzustellen; solche Hypothesen seien auch als Voraussetzung untunlich und würden bei der Bevölkerung ohne Verständnis bleiben.“24
In der Literatur ist neben der Tragfähigkeit des auf die Beweisbarkeit abzielenden Arguments25 insbesondere die zentrale These von der Lahmlegung des Strafverfahren als schon empirisch fragwürdig kritisiert worden; darüber hinaus wird bemängelt, dass der BGH jegliche normative Begründung seines Standpunktes schuldig geblieben ist.26 2. Der Meinungsstand im deutschen Schrifttum Für eine umfassende Fernwirkung haben sich bisher nur einige wenige Autoren ausgesprochen27 und andere Autoren haben eine Fernwirkung von Beweisverwer21
LG Frankfurt StV 2003, 325, 327. Vgl. BVerfG vom 9. 11. 2010, 2 BvR 2101/09, Rz. 42; BVerfGK 7, 61, 63 f. 23 BVerfG vom 8. 12. 2005, 2 BvR 1686/04, Rz. 10 f. 24 Wolter NStZ 1984, 276; vgl. auch die Zusammenfassung des Standpunktes des BGH in BGHSt 51, 1, 8. 25 Vgl. insbesondere Fezer JZ 1987, 937, 939. 26 Vgl. Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozeß, 1977, S. 79 f.; Eisenberg, Das Beweisrecht der StPO, 7. Aufl., 2011, Rn. 405; Fezer JZ 1987, 937, 938; Grünwald (Fn. 12), S. 158; Jäger (Fn. 12), S. 113 f.; Jahn Gutachten (Fn. 12), C 93; Lesch FS Volk, 2009, S. 320; Neuhaus NJW 1990, 1221; Paulus, GS Meyer, 1990, S. 328 f.; Reichert-Hammer JuS 1989, 446, 449; Seebode JR 1988, 427, 430 f.; Störmer (Fn. 13), S. 246, 252. 27 Dencker (Fn. 26), S. 78 ff.; Haffke GA 1973, 65, 80 ff.; Henkel, Strafverfahrensrecht, 2. Aufl., 1968, S. 271.; Jäger (Fn. 12), S. 226 ff.; ders. GA 2008, 473, 494; Müssig GA 1999, 119, 137; Park, Durchsuchung und Beschlagnahme, 2. Aufl., 2009, Rn. 385; vgl. auch die Stellungnahmen aus dem älteren Schrifttum bei Reinecke (Fn. 16), S. 79 ff. 22
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tungsverboten sogar ausdrücklich generell verneint,28 wobei die Argumentation im Wesentlichen der des BGH entspricht. Beispielhaft heißt es diesbezüglich bei Kleinknecht: „Es ist durchaus sinnvoll, dass durch die Verwertung, die ja die Regel sein soll, grundsätzlich nur das fehlerhaft gewonnene Beweisergebnis selbst ausgeschieden wird. Hat die fehlerhafte Beweiserhebung praktische Hilfe zur Auffindung eines anderen Beweises gegeben, so ist dessen Verwertung bei der Beweiswürdigung von der ausgeschiedenen Beweiserhebung unabhängig. Bei der Verwertung des aufgefundenen Beweismittels kann die vorangegangene Beweiserhebung durchaus weggedacht werden. Die Anerkennung der sog. Fernwirkung würde nicht nur zu kriminalpolitisch unerträglichen Folgen, sondern häufig auch zu schwierigsten oder gar unmöglichen Kausalitätsprüfungen führen, weil festgestellt werden müsste, ob das mittelbar erlangte Beweismittel wirklich auf Grund des Hinweises gefunden worden ist, der aus der unzulässigen gewonnen wurde.“29
Auch in der Literatur hat die von der Rechtsprechung praktizierte Abwägungslösung Befürworter gefunden.30 Einen am Schutzzweck der jeweils verletzten Verfahrensnorm orientierten Gegenansatz hat insbesondere Gerald Grünwald vertreten.31 Vorherrschend sind im Übrigen vermittelnde Auffassungen, wobei die Vertreter dieser Auffassungen entweder die Annahme einer Fernwirkung zwar grundsätzlich ablehnen, dann aber gewisse Ausnahmen anerkennen wollen oder aber umgekehrt die Annahme einer Fernwirkung grundsätzlich abgelehnt, in bestimmten Ausnahmefällen dann aber doch angenommen wird.32 Auch die Autoren, die innerhalb des soeben skizzierten Schemas dem gleichen Ansatz zuzurechnen wären, unterscheiden sich aber jedenfalls in der Frage, welche Kriterien wie zu berücksichtigen sind.33
28 Sarstedt, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 22. Aufl., Band I, 1971, § 136a Rn. 7; Heinitz JR 1964, 441, 444; Kleinknecht, NJW 1966, 1537, 1544; Petry, Beweisverbote im Strafprozess, S. 126 f.; Sarstedt, Referat für den 46. DJT, in: Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band II, Sitzungsberichte der strafrechtlichen Abteilung, München und Berlin 1967, F8, F23 und die zustimmenden Diskussionsbeiträge von Baumann, F108 ff., Kleinknecht, F112 f. und Heinitz, F136 f., in: Verhandlungen der strafrechtlichen Abt. des 46. Deutschen Juristentages – Sitzungsberichte der strafrechtlichen Abteilung, München und Berlin 1967; vgl. auch aus dem aktuellen Schrifttum: Meyer-Goßner (Fn. 13), Einl. Rn. 57, § 136a Rn. 41; Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, 27. Aufl., 2012, § 24 Rn. 60, 64; w.N. bei SK-StPO/Rogall (Fn. 13), § 136a Rn. 110 Fn. 646. 29 Kleinknecht NJW 1966, 1537, 1544. 30 Vgl. z. B. Maiwald JuS 1978, 379, 384 f.; Rogall ZStW 91 (1979) 1, 39 f.; SK-StPO/ Rogall (Fn. 13), § 136a Rn. 112; kritisch Weigend StV 2003, 436, 439 f.: Die Abwägungslösung beschreibe allein einen Zielkonflikt, liefere aber keine Kriterien, wie die Abwägung welcher sich gegenüberstehender Interessen zu erfolgen habe. 31 Grünwald JZ 1966, 489, 500; ders. StV 1987, 470, 472 f.; ders., Beweisrecht (Fn. 12), S. 158 f.; vgl. auch Rogall JZ 1996, 944, 948/949; ders. JZ 2008, 818, 827. 32 Vgl. hierzu nur den Überblick über den Meinungsstand bei Ossenberg (Fn. 15), S. 50. 33 So auch Ossenberg (Fn. 15), S. 51 ff.
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3. Der Standpunkt von Jürgen Wolter Ausgehend von der von ihm vertretenen Lehre der Beweisverwertungsverbote34 vertritt Jürgen Wolter auch zur Frage der Fernwirkung einen differenzierten Ansatz. a) Das Wolter’sche Modell der Fernwirkung Folgt ein Beweisverwertungsverbot daraus, dass die Beweisgewinnung und/oder die unmittelbare Beweisverwertung in den unantastbaren Kernbereich der durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Menschenwürde eingreift, schließt sich nach Auffassung Wolters an das unmittelbare Beweisverbot ein absolutes Verbot der mittelbaren Beweisverwertung an, das auch durch weitere tatsächliche oder hypothetische Ermittlungsverläufe nicht aufgeweicht werden darf.35 Wenn die Strafverfolgungsbehörden z. B. im Zuge der Beweisgewinnung und/oder -verwertung „in die nicht preisgegebene Intimsphäre des Betroffenen eingedrungen sind, verbietet sich jede Weiterung. Das Verwertungsverbot besitzt Fernwirkung, … [wobei] den Strafverfolgungsbehörden der Hinweis auf hypothetische Ermittlungen abgeschnitten wird.“36 Ist der Kernbereich nicht betroffen, soll demgegenüber schon bei der Entscheidung über das Vorliegen eines Beweisverwertungsverbots als solches eine Abwägung erforderlich sein, wobei hier hypothetischen Ermittlungsverläufen und dem Verhältnismässigkeitsprinzip eine besondere Bedeutung zukommen soll.37 Konsequenterweise sind dann auch im Zuge der Entscheidung über die Annahme einer Fernwirkung hypothetische Ermittlungsverläufe zu berücksichtigen.38 Die Prüfung der Fernwirkung hat nach Wolter in zwei Stufen zu erfolgen: Zunächst ist zu prüfen, ob eine Fernwirkung überhaupt in Betracht kommen kann. Hier will Wolter – anders als der BGH, der die Annahme einer Fernwirkung schon dann verneinen will, wenn die „nicht entfernt liegende Möglichkeit“ besteht, dass weitere Ermittlungen zur Aufklärung des Sachverhalts geführt hätten – einen relevanten hypothetischen Ermittlungsverlauf erst dann annehmen, „wenn die Straf34
Vgl. hierzu SK-StPO/Wolter, Loseblattausgabe, 11. Aufbaulieferung, 1994, Vor § 151 Rn. 196 ff. 35 SK-StPO/Wolter (Fn. 34), Vor § 151 Rn. 207; so im Ergebnis auch Jahn Gutachten (Fn. 12), C 95. 36 Wolter, GS Armin Kaufmann, 1989, S. 778. 37 SK-StPO/Wolter (Fn. 34), Vor § 151 Rn. 202 ff.; im Ergebnis auch Jahn Gutachten (Fn. 12), C 95; ablehnend zur Berücksichtigung von Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten: Fezer, Strafprozessrecht, 2. Aufl., 1995 16/50. 38 SK-StPO/Wolter (Fn. 34), Vor § 151 Rn. 208; Wolter, GS Armin Kaufmann, 1989, S. 778; kritisch zur Berücksichtigung hypothetischer Ermittlungsverläufe: Kühne, Strafprozessrecht, 8. Aufl., 2010, Rn. 912.2; Neuhaus NJW 1990, 1221, 1222; Reichert-Hammer JuS 1989, 447, 450; Schlüchter JR 1984, 520; Weigend StV 2003, 436, 440; positiv gegenüber einer Berücksichtigung hypothetischer Ermittlungsverläufe: Eisenberg (Fn. 26), Rn. 409 f.; Fezer (Fn. 37), 16/50; Grünwald Beweisrecht (Fn. 12), S. 161; Küpper JZ 1190, 416, 423; Rogall NStZ 1988, 385, 391 f.; Störmer (Fn. 13), S. 242.
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verfolgungsbehörden auf ordnungsgemäßem Wege den Täter sicher (oder höchstwahrscheinlich, d. h. mit besonders ernsthafter Chance) ebenso hätten überführen können“.39 Eine Fernwirkung scheidet im Übrigen dann aus, wenn zwischen den mittelbar gewonnenen Erkenntnissen und den unmittelbar gefundenen, einem Beweisverwertungsverbot unterliegenden Beweismitteln „ein tatsächlicher Kausalzusammenhang nicht besteht“ oder wenn dieser Kausalzusammenhang „durch ein freiwilliges (selbstverantwortliches) Handeln des Beschuldigten ,unterbrochen‘ wird“.40 Kommt eine Fernwirkung grundsätzlich in Betracht, so ist in einem zweiten Schritt dann noch eine „Abwägung der auf dem Spiele stehenden verfassungsrechtlichen Interessen“ vorzunehmen. Die mittelbar gewonnenen Erkenntnisse dürfen ausnahmsweise verwertet werden, wenn „mit Blick auf das konkrete Tatunrecht eine Straftat aus dem Bereich der schweren Kriminalität gegeben ist“ und „die mittelbare Beweisführung mangels vorrangiger ,milderer‘ Mittel erforderlich ist“.41 Selbst wenn diese Voraussetzungen vorliegen, soll eine durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip geforderte Rückausnahme dann greifen, „wenn ein grober Verstoß gegen Gesetz und Recht vorliegt“.42 Ein grober Verstoß in diesem Sinne ist dann gegeben, wenn die Strafverfolgungsbehörden durch die Art und Weise ihres Umgangs mit den strafprozessualen Eingriffsmitteln „in die Nähe des bewussten Missbrauchs von Eingriffsrechten geraten“ sind.43 b) Würdigung des Wolter’schen Modells Der von Wolter vorgelegte, mit Ausnahmen und Rückausnahmen arbeitende Ansatz ist in der Literatur von einzelnen Autoren als unpraktikabel eingestuft worden.44 Wolter wird zwar zugutegehalten, dass er sich darum bemühe, „klare Richtlinien für die Bestimmung der Fernwirkung aufzustellen“, sein Modell sei jedoch letztlich willkürlich, „da den Konstruktionen keine fundierten Argumente zugrunde gelegt werden.“45 Diesem Einwand ist entgegenzuhalten, dass Wolter explizit „an vertraute Gedankengänge der materiellrechtlichen Zurechnungslehre“ anknüpfen will,46 was der Erkenntnis Rechnung trägt, dass die Annahme oder Ablehnung einer Fernwirkung – entgegen einer insbesondere im älteren Schrifttum verbreitet anzutreffenden
39
Wolter NStZ 1984, 276, 277. Wolter NStZ 1984, 276, 277. 41 Wolter NStZ 1984, 276, 278. 42 Wolter NStZ 1984, 276, 278. 43 Wolter NStZ 1984, 276, 278. 44 Mergner (Fn. 17), S. 58; Ossenberg (Fn. 15), S. 64; eher positiv dagegen Rogall NStZ 1988, 385, 389, der allerdings im Hinblick auf die Hypothesenbildung Bedarf nach „einer präziseren Fassung“ anmeldet (a.a.O., S. 391). 45 Ossenberg (Fn. 15), S. 63. 46 Wolter NStZ 1984, 276, 277. 40
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Auffassung47 – eine Frage ist, die nicht nach Kausalitätsgesichtspunkten entschieden werden kann, sondern die nach normativen Kriterien entschieden werden muss:48 Die Kausalität eines Verfahrensfehlers kann nicht durch hypothetische Erwägungen nachträglich entfallen, 49 es geht einzig und allein darum, ob man den stattgefundenen Verfahrensfehler normativ gesehen für irrelevant erklären kann.50 Dass es nicht um Kausalitätsfragen, sondern um eine normative Frage geht, wird insbesondere auch dann deutlich, wenn man die aus dem US-amerikanischen Strafprozessrecht stammenden Wurzeln der Fernwirkungsdebatte in Deutschland und in der Schweiz51 in die Betrachtung mit einbezieht: Von den Ausnahmen zu der aus der „fruit-of-the-poisonous-tree-doctrine“ abgeleiteten „exclusionary rule“52 kann allein die Fallgruppe der „independent source exception“53 als Kausalitätsproblem erfasst werden – dies aber auch nur dann, wenn man den Anwendungsbereich dieser Ausnahmeregelung auf die Fallgestaltungen beschränkt, in denen der in Frage stehende Beweis zeitlich vor oder vollkommen unabhängig von einem prozessordnungswidrigen Beweiserhebungsakt aufgefunden worden ist.54 Wenn man darüber hinausgehend auch die Fälle einbeziehen wollte, in denen die unabhängige Quelle zeitlich nach dem prozessordnungswidrigen Beweiserhebungsakt entstanden ist, kann die faktisch vorhandene Kausalität des Verfahrensfehlers nicht nachträglich entfallen. Tatsächlich handelt es sich hier dann um eine normative Betrachtungsweise, die
47 Vgl. z. B. Klug, Referat für den 46. DJT, in: Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band II, Sitzungsberichte der strafrechtlichen Abteilung, München und Berlin 1967, F31, F46 f.; Welp, Die strafprozessuale Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs, 1974, S. 216 ff. 48 Wohlers, FS Fezer, 2008, S. 324 ff.; vgl. auch bereits Godenzi, Private Beweisbeschaffung im Strafprozess, 2008, S. 278 ff.; Rogall NStZ 1988, 385, 390; ders. JZ 1996, 944, 949; SK-StPO/Rogall (Fn. 13), § 136a Rn. 109, 115; Schlüchter JR 1984, 517, 519; Jäger (Fn. 12), S. 226; ders. GA 2008, 473, 494; im Ergebnis auch Reinecke (Fn. 16), S. 204 ff. 49 Beulke ZStW 103 (1991) 657, 660; Dencker (Fn. 26), S. 81 f.; Fornito, Beweisverbote im schweizerischen Strafprozess, 2000, S. 263; Godenzi (Fn. 48), S. 270 f.; Wohlers, FS Fezer, 2008, S. 325. 50 So auch bereits Fornito (Fn. 49), S. 263. 51 Sowohl das Schweizerische Bundesgericht als auch Vertreter der schweizerischen Strafprozessrechtswissenschaft nehmen ausdrücklich auf die US-amerikanische Fernwirkungsdoktrin Bezug, vgl. BGer 6B_805/2011 vom 12. 7. 2012, E. 3.3.2.; Gless ZStrR 2010, 146, 155; Pieth, Schweizerisches Strafprozessrecht, 2. Aufl. 2012, S. 172. 52 Vgl. hierzu den Überblick bei SK-StPO/Rogall (Fn. 13), § 136a Rn. 116 sowie die umfassende Darstellung bei Ambos (Fn. 13), S. 129 sowie Ossenberg (Fn. 15), S. 97 ff. 53 Vgl. Ambos (Fn. 13), S. 131 ff.; Ossenberg (Fn. 15), S. 105 ff.; Rogall, in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozessrechts, 1995, S. 132; für eine Ausnahme von der Fernwirkung, wenn und soweit es sich um Beweise handelt, die aus einer unabhängigen Quelle stammen, auch Jäger (Fn. 12), S. 227 f. 54 Zur diesbezüglichen Beschränkung des Anwendungsbereich vgl. Harris StV 1991, 313, 316 f.; Ossenberg (Fn. 15), S. 107; zur Übertragbarkeit auf das deutsche Recht vgl. SK-StPO/ Rogall (Fn. 13) § 136a Rn. 117.
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nicht mehr in den Anwendungsbereich der „independent source exception“ fällt, sondern in den der „inevitable discovery exception“. Bei den im US-amerikanischen Recht vorhandenen, weiteren Ausnahmeregelungen der „attenuated connection limitation/purged taint exception“55 und der „inevitable discovery exception“56 handelt es sich eindeutig um normativ begründete Konstrukte.57 Abgestellt wird hier darauf, dass der Beweis mit hinreichender Sicherheit auch auf andere, prozessordnungsgemäße Art und Weise gefunden worden wäre (inevitable discovery) bzw. die Verbindung zwischen Verfahrensfehler und Beweisgewinnungsakt sich als so marginal darstellt (attenuated connection), dass man normativ gesehen die Verwertbarkeit trotz des faktisch prozessordnungswidrigen Vorgehens der Strafverfolgungsorgane bejahen kann.58 Entscheidend ist damit – und dies ist der Maßstab, an dem man auch das von Wolter entwickelte Modell zu messen hat –, unter welchen Voraussetzungen man einen de facto vorliegenden Verfahrensfehler als normativ gesehen irrelevant einstufen kann. Dies gilt auch für die im Hinblick auf die Reichweite der Fernwirkung besonders relevante „inevitable discovery exception“. Dass es hier um den Grad von Wahrscheinlichkeit geht, mit dem von der anderweitigen Auffindung von Beweisen ausgegangen werden kann, darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass es um eine Frage der Kausalität geht. Die Frage, ob man die theoretische Möglichkeit ausreichen lässt oder aber eine an Sicherheit grenzende („höchstwahrscheinliche“) Erwartung für notwendig erachtet, ist eine durch und durch normative Entscheidung. Festzuhalten bleibt nach alledem, dass man bestreiten kann, dass dem Wolter’schen Modell der Fernwirkung die „richtigen“ Wertungen zugrunde liegen. Nicht bestreiten kann man, dass Wolter mit dem auf normativen Wertungen aufbauenden Modell den methodisch angemessenen Ansatz gewählt hat.
55
Die allerdings weniger die Problematik der Fernwirkung als die hiervon zu trennende (vgl. oben bei Fn. 12) Problematik des weiterwirkenden Zwangs betrifft. Zum Anwendungsbereich dieser Regelung vgl. Ambos, S. 139 ff.; Harris StV 1991, 313, 315 f.; Ossenberg (Fn. 15), S. 110 ff.; Rogall, in: Wolter (Fn. 53), S. 133 f. 56 Ambos (Fn. 13), S. 134 ff.; Harris StV 1991, 313, 317; Ossenberg (Fn. 15), S. 107 ff.; Rogall, in: Wolter (Fn. 53), S. 133. 57 Ambos (Fn. 13), S. 140; Jäger (Fn. 12), S. 111. 58 Vgl. auch bereits Beulke ZStW 103 (1991) 657, 670 f.; Rogall, in: Wolter (Fn. 53), S. 133.
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III. Die Regelung der Fernwirkung im schweizerischen Strafprozessrecht 1. Der Meinungsstand vor Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung Im vor Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung am 1. 1. 201159 hochgradig zersplittert kodifizierten schweizerischen Strafprozessrecht60 war die Frage der Fernwirkung von Verwertungsverboten gesetzlich nicht geregelt.61 Ebenso wie in Deutschland wurde die Notwendigkeit der Annahme einer Fernwirkung auch in der schweizerischen Strafprozessrechtsdogmatik mit dem Argument unterstützt, dass die Ablehnung einer Fernwirkung die Regeln über die Beweiserhebung aushöhlen würde. Gegen die Annahme einer Fernwirkung wurde – ebenfalls in Parallele zur Diskussion in Deutschland – das Argument ins Feld geführt, dass die Annahme einer Fernwirkung die Wahrheitsfindung erschweren und im Ergebnis zu ungerechtfertigten Freisprüchen führen würde.62 Während sich einige wenige, insbesondere aus den Kreisen der Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger stammende Stimmen für eine strikte Fernwirkung eingesetzt hatten,63 stand die herrschende Meinung der Annahme einer Fernwirkung im Ergebnis eher skeptisch gegenüber.64 Einen rein pragmatisch anmutenden Ansatz hat in diesem Zusammenhang Hans Walder vertreten. Ausgehend von dem Beispielsfall, dass durch eine ohne Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht durchgeführte Befragung der Mutter eines des Mordes Verdächtigen der Aufenthaltsort des Flüchtigen und das Versteck der Tatwerkzeuge ermittelt werden kann, stellt er sich die Frage: „Dürfen die Strafverfolgungsbehörden dieses Wissen ausnützen, durch das der Täter verhaftet und, wie wir voraussetzen wollen, auch überführt werden könnte?“ Weiter heißt es dann: „Man hat Bedenken, diese Frage zu bejahen, und man ist zu erklären geneigt: Wenn dieses rechtswidrig erlangte Wissen noch nicht ausgenützt worden ist, dann sollte man seine Verwertung ausschliessen. Setzen wir aber den Fall, die Polizei habe auf Grund des widerrechtlich erlangten Wissens die Verhaftung bereits vollzogen und die Tatwerkzeuge sicherge59 Zur Kodifikationsgeschichte vgl. Gless, ZStW 113 (2001), 419 ff. sowie Wohlers, in: Donatsch/Hansjakob/Lieder (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2010, Art. 1 Rn. 1 ff., jeweils m.w.N. 60 Vgl. Wohlers, StV 2008, 434, 440 f. 61 Zu den in einigen wenigen kantonalen Prozessordnungen vorhandenen Regelungen der Verwertungsverbote vgl. Fornito (Fn. 49), 70 ff.; Wohlers, StV 2008, 434, 441. 62 Vgl. Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006, 1085, 1184; Hauser/Schweri/Hartmann, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Aufl., 2005, § 60 N 17. 63 Vgl. Ruckstuhl, Plädoyer 6/2006, S. 22; Saluz, Plädoyer 6/2006, S. 29. 64 Vgl. Schmid, Handbuch des Schweizerischen Strafprozessrechts, 2009, Rn. 799; ders., Strafprozessrecht, Eine Einführung auf der Grundlage des Strafprozessrechts des Kantons Zürich und des Bundes, 4. Aufl., Zürich 2004, Rn. 610 sowie die Nachweise zum Meinungsstand bei BGE 133 IV 329, 332; Bénédict, Le sort des preuves illégales dans le procès pénal, 1994, S. 239 ff. und Fornito (Fn. 49), S. 314 ff.
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stellt, so wäre es offenbar nicht zu verantworten, den Täter wieder freizulassen und die Tatwerkzeuge in ihr Versteck zurückzulegen.“
Zusammenfassend ergibt sich für Walder: „Solange kein fait accompli geschaffen worden ist, soll das widerrechtlich erlangte Wissen nicht ausgewertet werden, auch nicht indirekt. Ist das Wissen aber bereits ausgewertet worden, so muss man das im Allgemeinen hinnehmen. Es wird eben nicht immer rechtzeitig bekannt, auf welche Weise die Strafverfolgungsorgane zu ihrem Wissen gelangt sind, und dann kann man nicht ohne weiteres wichtige Stücke eines Strafverfahrens oder gar ein Urteil umstossen.“65
Eine andere Art der Abgrenzung, die sich im weiteren Verlauf als wirkungsmächtig erwiesen hat, ist von Niklaus Schmid propagiert worden. Seiner Auffassung nach ist eine Verwertbarkeit tendenziell zu bejahen, „wenn das unerlaubte Beweismittel nur zum Auffinden der Tatwaffe beim Beschuldigten führte oder Angeschuldigte gestützt auf einen unverwertbaren Amtsbericht Aussagen machten. Eine Unverwertbarkeit ist andererseits dort zu bejahen, wo der ursprüngliche, ungültige Beweis Bestandteil sine qua non des mittelbar erlangten Beweises ist. Beispiele für die mittelbare Unverwertbarkeit könnten das Gutachten sein, das auf unverwertbaren Zeugenaussagen beruht, ebenso der Fall, in dem der Angeschuldigte durch ein falsches, unverwertbares Zeugnis getäuscht ein Geständnis ablegt.“66
2. Die Regelung der Verwertungsverbote und deren Fernwirkung durch die Schweizerische Strafprozessordnung Mit dem Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung haben die Verwertungsverbote in Art. 141 StPO/CH eine gesetzliche (Teil-)Regelung erfahren. Erfasst werden von dieser Norm allerdings nur die sog. unselbständigen Verwertungsverbote, also die Verwertungsverbote, die an die Verletzung von Normen im Rahmen der Beweiserhebung anknüpfen.67 Nicht erfasst werden die selbstständigen Verwertungsverbote68 sowie die Frage, unter welchen Voraussetzungen Beweise, die von Privaten erhoben worden sind, einem Verwertungsverbot unterfallen.69
65
Walder, ZStrR 82 (1966), 36, 46 f. Schmid, Strafprozessrecht, 4. Aufl., 2012, Rn. 610. 67 Zum Meinungsstand vor Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung vgl. Gless FS Riklin, 2007, S. 403 f.; Wohlers, StV 2008, 434, 441 m.w.N.; zur Geltung im Militärstrafprozess vgl. Flachsmann/Isenring, Liber amicorum für Andreas Donatsch, 2012, S. 290. 68 Vgl. hierzu Wohlers (Fn. 59), Art. 141 Rn. 2, 16 f. 69 Vgl. Riedo/Fiolka/Niggli, Schweizerisches Strafprozessrecht, 2011, Rn. 1071 ff.; Wohlers (Fn. 59), Art. 141 Rn. 2, 7 ff. sowie umfassend Godenzi (Fn. 48), passim. 66
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a) Die unselbständigen Verwertungsverbote (Art. 141 Abs. 1 – 3 StPO) Der Schweizerische Gesetzgeber geht im Rahmen des Art. 141 StPO/CH von einem Modell aus, das den Grundgedanken der Schutzzwecklehre aufgreift, d. h. es kommt entscheidend darauf an, welche Prozessnorm bei der Beweisgewinnung bzw. -erhebung verletzt worden ist. Handelt es sich bei dieser Norm um eine sogenannte Ordnungsvorschrift,70 sind die unter Verletzung dieser Norm erhobenen Beweise gleichwohl verwertbar (Art. 141 Abs. 3 StPO/CH). Handelt es bei der verletzten Norm dagegen um eine Gültigkeitsvorschrift, unterliegen die unter Verstoß gegen diese Norm gewonnenen Erkenntnisse grundsätzlich einem Verwertungsverbot, wobei wiederum zwei Kategorien von Gültigkeitsvorschriften zu unterscheiden sind: Ist die Rechtsfolge des Verwertungsverbots im Gesetz ausdrücklich angeordnet worden,71 greift das Verwertungsverbot ohne jede Ausnahme (Art. 141 Abs. 1 StPO/ CH). Fehlt eine derartige ausdrückliche Anordnung, kommt eine Verwertung dann – und nur dann – in Betracht, wenn diese zur Aufklärung schwerer Straftaten72 unerlässlich ist (Art. 141 Abs. 2 StPO/CH), was man dann annehmen kann, wenn eine Verurteilung ohne die Verwertung des in Frage stehenden Beweises nicht möglich ist.73 b) Die Fernwirkung unselbständiger Verwertungsverbote (Art. 141 Abs. 4 StPO) Der Gesetzgeber hat aber nicht nur das (unselbständige) Verwertungsverbot geregelt, sondern auch dessen Fernwirkung. Art. 141 Abs. 4 StPO/CH bestimmt: „Ermöglichte ein Beweis, der nach Absatz 2 nicht verwertet werden darf, die Erhebung eines weiteren Beweises, so ist dieser nicht verwertbar, wenn er ohne die vorhergehende Beweiserhebung nicht möglich gewesen wäre.“
Mit dieser Regelung soll gewährleistet werden, dass die Verwertungsverbote nicht leerlaufen; andererseits sollen ungerechtfertigt erscheinende Freisprüche verhindert werden.74 70
Zur problematischen Abgrenzung der Ordnungs- von den Gültigkeitsvorschriften vgl. BGer 6B_299/2012, vom 20. 9. 2012, E. 1.3.1; Fornito (Fn. 49), S. 238 ff.; Gless, ZStrR 2010, 146, 156 ff.; dies., FS Dencker, 2012, S. 139; Häring, ZStrR 2009, 225, 240 ff.; Hersch, ZStrR 2012, 352, 355 f. und 364 f.; Riedo/Fiolka/Niggli (Fn. 69), Rn. 1045 ff.; Ruckstuhl/Dittmann/ Arnold, Strafprozessrecht, 2011, Rn. 552; Wohlers (Fn. 59), Art. 141 Rn. 22 ff. 71 Für eine Zusammenstellung der einschlägigen Normen vgl. Gless, ZStrR 2010, 146, 153; dies., FS Dencker (Fn. 70), S. 138; Riedo/Fiolka/Niggli (Fn. 69), Rn. 1038; Ruckstuhl/Dittmann/Arnold (Fn. 70), Rn. 549. 72 Zur umstrittenen Auslegung dieses Begriffs vgl. Wohlers (Fn. 59), Art. 141 Rn. 21; Donatsch/Cavegn, ZStrR 2008, 158, 166; Häring, ZStrR 2009, 225, 248; Hersch, ZStrR 2012, 352, 368 f.; Riedo/Fiolka/Niggli (Fn. 69), Rn. 1051 f.; Ruckstuhl/Dittmann/Arnold (Fn. 70), Rn. 556. 73 Wohlers (Fn. 59), Art. 141 Rn. 21; vgl. auch Häring, ZStrR 2009, 225, 247 f.; Hersch, ZStrR 2012, 352, 369 ff.; Ruckstuhl/Dittmann/Arnold (Fn. 70), Rn. 557. 74 BSK/Gless, Basler Kommentar Strafprozessordnung, 2010, Art. 141 Rn. 88.
Fernwirkung – zur Begrenzung der Reichweite von Verwertungsverboten
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Absatz 4 regelt seinem ausdrücklichen Wortlaut nach allein die Fernwirkung für die sich nach Absatz 2 ergebenden Beweisverwertungsverbote, 75 erfasst aber insoweit nicht nur den Sekundärbeweis, sondern gilt für alle Beweise, die aufgrund eines ursprünglich unverwertbaren Beweises gewonnen worden sind.76 Eine Verwertung aller Folgebeweise ist nur dann möglich, wenn der durch den Verfahrensfehler kontaminierte Erstbeweis ausnahmsweise nach Art. 141 Abs. 2 StPO/CH verwertet werden darf. Für die in Art. 141 Abs. 1 StPO/CH geregelten, jeder Ausnahme entzogenen strikten Verwertungsverbote als Folge der Missachtung absoluter Gültigkeitsvorschriften muss dann konsequenterweise eine ebenso strikte Fernwirkung angenommen werden.77 Voraussetzung ist aber, dass der in Frage stehende Beweis tatsächlich ein wirklicher Folgebeweis ist, d. h. auch hier wird man eine Fernwirkung dann verneinen müssen, wenn der Verfahrensfehler, der zur Annahme eines Verwertungsverbotes geführt hat, für die Erhebung von anderen Beweisen keine Auswirkung gehabt hat. Eine Fernwirkung ist nach Art. 141 Abs. 4 StPO/CH in Übernahme der von Niklaus Schmid geprägten Formel dann anzunehmen, wenn die Gewinnung des Folgebeweises „ohne die vorhergehende Beweiserhebung nicht möglich gewesen wäre“, dieser also eine notwendige Bedingung für die Erlangung der weiteren Beweise war.78 Dies soll nach den Materialien z. B. anzunehmen sein bei einem Gutachten, das auf unverwertbaren Angaben der beschuldigten Person beruht; verwertbar sollen demgegenüber z. B. die Angaben eines Zeugen sein, der aufgrund einer Aussage der nicht belehrten beschuldigten Person gefunden wurde, der aber auch ohne die unverwertbare Aussage hätte ausfindig gemacht werden können.79 Die entscheidende Frage ist dabei natürlich, wann bzw. unter welchen Voraussetzungen man davon ausgehen darf, dass der Zeuge gefunden worden wäre. Um nicht reinen Spekulationen 75
Wohlers (Fn. 59), Art. 141 Rn. 15. Wohlers (Fn. 59), Art. 141 Rn. 15; CR/Bénédict/Treccani, Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2011, Art. 141 Rn. 37 Fn. 32; Pieth (Fn. 51), S. 171; a.A. Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2009, Art. 141 N 17; ders., Handbuch, N 799: bezogen auf die Verwertbarkeit eines Tertiärbeweises gelte nur der Vorbehalt des fairen Verfahrens. 77 BSK/Gless (Fn. 74), Art. 141 Rn. 90; CR-Bénédict/Treccani (Fn. 76), Art. 141 Rn. 39; Wohlers (Fn. 59), Art. 141 Rn. 15; Häring, ZStrR 2009, 225, 250 f.; Hansjakob, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 1. Auflage, 2010, Art. 277 Rn. 8, Art. 281 Rn. 28, Art. 289 Rn. 24; Gless, ZStrR 2010, 146, 158 f.; dies., FS Dencker (Fn. 70), S. 142; Godenzi (Fn. 59), Art. 158 Rn 33; Pieth (Fn. 51), S. 171; Riedo/Fiolka/Niggli (Fn. 69), Rn. 1068; Riklin, StPO Kommentar, 2010, Art. 141 Rn. 8; Ruckstuhl/Dittmann/Arnold (Fn. 70), Rn. 565; Sollberger, in: Goldschmid/Maurer/Sollberger (Hrsg.), Kommentierte Textausgabe zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2008, S. 126; offen gelassen von BGer 6B_805/2011 vom 12. 7. 2012, E. 3.2. 78 Gless, ZStrR 2010, 146, 155; dies., FS Dencker (Fn. 70), S. 141; Häring ZStrR 2009, 225, 251; vgl. auch Fornito (Fn. 49), S. 322 f.: Es reicht aus, dass der unverwertbare Beweis die Erlangung weiterer Beweise begünstigt hat. 79 Botschaft (Fn. 62), S. 1184; Schmid (Fn. 76), Art. 141 N 15; Donatsch/Schwarzenegger/ Wohlers, Strafprozessrecht, 2010, S. 106. 76
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Tür und Tor zu öffnen, wird im Schrifttum verlangt, dass nur die mittelbaren Beweise verwertet werden, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch ohne den rechtswidrigen Beweis erhoben worden wären.80 Hierbei ist eine ex ante-Perspektive zugrunde zu legen,81 wobei die Strafbehörden beweispflichtig sind, was bedeutet, dass im Zweifelsfall Unverwertbarkeit anzunehmen ist.82 Das Schweizerische Bundesgericht (BGer), das die vom Gesetzgeber von Niklaus Schmid übernommene Formel bereits vor Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung in seine Rechtsprechung übernommen hatte,83 geht davon aus, dass diese Rechtsprechung auch für die Auslegung des Art. 141 Abs. 4 StPO/CH relevant ist.84 Das Gericht steht auf dem Standpunkt, der Gesetzgeber habe „in Art. 141 Abs. 4 StPO zwar eine sehr weitgehende, nicht jedoch eine absolute Fernwirkung verankern“ wollen.85 Hieraus leitet das BGer ab, dass zwar die „bloss theoretische Möglichkeit, den Beweis rechtmässig zu erlangen“, nicht ausreichend sein kann,86 dass eine Fernwirkung aber dann zu verneinen sei, „wenn der Folgebeweis im Sinne eines hypothetischen Ermittlungsverlaufs zumindest mit einer grossen Wahrscheinlichkeit auch ohne den illegalen ersten Beweis erlangt worden wäre“, wobei die konkreten Umstände des Einzelfalls als entscheidend angesehen werden.87 Soweit ersichtlich hat sich das Bundesgericht bisher in zwei Fällen zur Auslegung und Anwendung des Art. 141 Abs. 4 StPO/CH geäußert, wobei in beiden Fällen eine Fernwirkung verneint wurde. Im Ergebnis läuft diese Rechtsprechung darauf hinaus, dass es tendenziell als ausreichend angesehen wird, dass es aus der Perspektive ex post betrachtet nicht ausgeschlossen ist, dass der in Frage stehende Beweis auch legal hätte erhoben werden können:88 Im ersten Fall, in dem es darum ging, dass ein Grenzgänger aufgrund unverwertbarer Erkenntnisse an der Grenze angehalten und durchsucht wurde, wobei dann Beweismittel sichergestellt werden konnten, hat es das Bundesgericht als ausreichend angesehen, dass die Möglichkeit als „durch80
BSK/Gless (Fn. 74), Art. 141 Rn. 95, 97; CR/Bénédict/Treccani (Fn. 76), Art. 141 Rn. 38; Wohlers (Fn. 59), Art. 141 Rn. 15; Gless, ZStrR 2010, 146, 159; dies., FS Dencker (Fn. 70), S. 143; Häring, ZStrR 2009, 225, 251 f.; Pieth (Fn. 51), S. 172; Riklin (Fn. 77), Art. 141 Rn. 8. 81 BSK/Gless (Fn. 74), Art. 141 Rn. 95; CR/Bénédict/Treccani (Fn. 76), Art. 141 Rn. 38 Fn. 36; Gless, ZStrR 2010, 146, 159; dies., FS Dencker (Fn. 70), S. 141; Riklin (Fn. 77), Art. 141 Rn. 8; Pieth (Fn. 51), S. 172. 82 BSK/Gless (Fn. 74), Art. 141 Rn. 97; Gless, FS Dencker (Fn. 70), S. 143; Häring, ZStrR 2009, 225, 252 f.; Pieth (Fn. 51), S. 172. 83 Vgl. BGE 133 IV 329, 333 mit Anm. Hansjakob forumpoenale 2008, 214, 215; vgl. auch BGE 137 I 218, 225; kritisch hierzu Ruckstuhl/Dittmann/Arnold (Fn. 70), Rn. 658 f. 84 BGer 6B_805/2011 vom 12. 7. 2012, E. 3.1.; BGer 6B_299/2012 vom 20. 9. 2012, E. 1.4.1. 85 BGer 6B_805/2011 vom 12. 7. 2012, E. 3.3.2. 86 BGer 6B_805/2011 vom 12. 7. 2012, E. 3.3.3. 87 BGer 6B_805/2011 vom 12. 7. 2012, E. 3.3.3. 88 So auch bereits die Prognose bei BSK/Gless (Fn. 74), Art. 141 Rn. 92.
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aus gross bezeichnet werden“ könne, dass ein nervös wirkender Fahrzeuglenker bei einer Grenzkontrolle nicht per se unkontrolliert bleibe, sondern einer verdachtsunabhängigen Kontrolle unterzogen wird.89 In einem anderen Fall, in dem es darum ging, dass zum Nachweis der Tatbeteiligung der beschuldigten Person ein DNA-Abgleich durchgeführt worden war, bei dem auf ein DNA-Profil zurückgegriffen wurde, das überhaupt nicht mehr hätte existieren dürfen, führt das Bundesgericht aus, es habe „gegen die Beschwerdeführerin ein hinreichender Tatverdacht [bestanden], was durch den Umstand belegt wird, dass die Bundesanwaltschaft beim Bezirksgericht Zürich DNA-Daten über sie anforderte. Es hätte also ohne weiteres ein DNA-Profil der Beschwerdeführerin erstellt werden können. Somit wäre das Gutachten auch ohne das möglicherweise unverwertbare DNA-Profil aus dem kantonalen Strafverfahren zustande gekommen. Das Gutachten darf [deshalb] bei der Beweiswürdigung berücksichtigt werden.“90
Diese Rechtsprechung steht im Widerspruch zur herrschenden Lehre, die, wie oben bereits erwähnt, den Nachweis verlangt, dass der nachfolgende Beweis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch auf anderem, legalem Wege erlangt worden wäre.91 Tatsächlich ist dieser Maßstab nicht nur in der Sache vorzugswürdig, sondern entspricht auch – wie Rogall bezogen auf das deutsche Recht dargelegt hat – dem, was die US-amerikanische Rechtsprechung im Hinblick auf die „inevitable discovery exception“ schon immer vertreten hat:92 „Sie berücksichtigt nur solche hypothetischen Kausalverläufe, die in den Ermittlungen bereits angelegt waren. Verlangt wird ein ,hypothetic clean path‘ im Sinne einer ,imminent, but in fact unrealized source of evidence‘“.93
Anders ausgedrückt und auf den vom BGer beurteilten Fall bezogen: Der Konnex zwischen Verfahrensfehler und Folgebeweis ist nur dann in normativer Hinsicht zerschlagen, wenn der in Frage stehende Beweis mit Sicherheit auch auf anderem Wege aufgefunden worden wäre. Dieser Schluss ist wiederum nur dann gerechtfertigt, wenn ein entsprechender Ermittlungsverlauf in dem in Frage stehenden Einzelfall tatsächlich bereits konkret angelegt war. Dies wäre in dem vom BGer beurteilten Fall dann anzunehmen, wenn an diesem Tage – unabhängig von Erkenntnissen, die ihrerseits einem Verwertungsverbot unterliegen – eine sorgfältige Kontrolle aller oder doch anhand bestimmter Merkmale definierter Grenzgänger angeordnet worden wäre. Dass es nicht ausgeschlossen ist, dass ein Grenzgänger beim Grenz89
BGer 6B_805/2011 vom 12. 7. 2012, E. 3.4.3. BGer 6B_299/2012 vom 20. 9. 2012, E. 1.4.2. 91 Vgl. die Nachweise oben in Fn. 80 sowie Riedo/Fiolka/Niggli (Fn. 69), Rn. 1070: Folgebeweise seien nur dann verwertbar, „wenn sie ohnehin in die Hände der Strafbehörden gelangt wären“. 92 Zur funktionalen Entsprechung der Hypothesenbildung und der inevitable discovery exception vgl. auch bereits Godenzi (Fn. 48), S. 242 f. 93 Rogall, NStZ 1988, 385, 392; vgl. auch – bezogen auf das deutsche Recht – Jäger (Fn. 12), S. 227. 90
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übertritt angehalten wird und er dann – insbesondere bei auffälligem Verhalten – einer genaueren Durchsuchung unterzogen wird, setzt die Anforderungen an eine „inevitable discovery“ evident zu niedrig an. Die Problematik des geltenden schweizerischen Rechts besteht darin, dass Art. 141 Abs. 4 StPO/CH seinem Wortlaut nach darauf abstellt, dass eine Fernwirkung nur dann eintritt, wenn der ursprüngliche Beweis eine conditio sine qua non für den später aufgefundenen Beweis ist. Um eine Marginalisierung des Instituts der Fernwirkung zu verhindern, ist es unabdingbar, dass – wie von der herrschenden Lehre gefordert94 – die Beweislast dafür, dass diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, dem Staat auferlegt wird, womit dann in Zweifelsfällen nicht gegen, sondern für die Annahme einer Fernwirkung zu entscheiden ist.
IV. Die Fernwirkung als Synonym der sachlichen Reichweite von Verwertungsverboten Die Fernwirkung stellt die Frage nach der sachlichen Reichweite von Verwertungsverboten:95 Ist nur der unmittelbar tangierte Beweis betroffen oder wirkt sich Unverwertbarkeit auch auf die Beweise aus, die nachfolgend unter Verwendung der für sich gesehen unverwertbaren Erkenntnisse gefunden worden sind? Wenn ja, wie weit geht diese Wirkung und kann sie – wenn ja, unter welchen Bedingungen – unterbrochen werden? Führt man sich den engen Zusammenhang der Fernwirkungsproblematik mit der Frage nach dem Sinn und Zweck von Verwertungsverboten allgemein vor Augen, wird klar, dass die Antwort auf den Umfang der Fernwirkung davon abhängt, welchen Standpunkt man in der Debatte um die Dogmatik der Verwertungsverbote einnimmt:96 Wenn man z. B. – wie dies die deutsche Rechtsprechung tut – einem Abwägungsmodell folgt, muss man diese Lösung konsequenterweise auch auf die Fernwirkung übertragen.97 Wenn man Verwertungsverbote dagegen auf subjektivrechtlicher Grundlage begründet, muss eine Fernwirkung konsequenterweise bejaht werden, wenn und soweit dies im Hinblick auf diese Grundlage geboten ist.98 Und wenn man der Schutzzwecklehre folgt, muss es entscheidend dar94
Vgl. die Nachweise oben Fn. 82. Lesch, FS Volk, 2009, S. 319; Rogall, in: Wolter (Fn. 53), S. 157; SK-StPO/Rogall (Fn. 13), § 136a Rn. 109. 96 Vgl. auch Rogall, in: Wolter (Fn. 53), S. 157 f.: Die Fernwirkung betreffe die Fragen der Reichweite von Verwertungsverboten. Es sei daher „plausibel, dass bei der Beantwortung dieser Fragen methodisch nicht anders als bei der Ermittlung von primären Verwertungsverboten vorgegangen werden kann“. 97 So denn auch explizit Rogall, NStZ 1988, 385, 392. 98 So z. B. Müssig, GA 1999, 119, 137; vgl. auch – auf der Basis der von ihm vertretenen beweisgegenständlichen Schutzzwecklehre – Jäger, GA 2008, 473, 494 sowie – unter Anwendung seiner Konzeption eines Unterlassungsanspruchs – Störmer (Fn. 13), S. 239 ff.; vgl. auch Lesch, FS Volk, 2009, S. 320 f. 95
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auf ankommen, ob der Schutzzweck der verletzten Verfahrensnorm zu seiner Verwirklichung nach einer Fernwirkung verlangt.99 Es wäre vermessen, die seit Jahrzehnten im Fokus der wissenschaftlichen Diskussion stehende Frage nach dem Sinn und Zweck von Verwertungsverboten – und damit auch nach deren Reichweite – im Rahmen dieses kurzen Aufsatzes en passant einer Lösung zuführen zu wollen. Abgesehen von dem Hinweis darauf, dass der Verfasser dieser Zeilen im Grundansatz der Schutzzwecklehre zuneigt,100 muss es dabei bleiben, den inhaltlichen Zusammenhang der beiden Problemfelder zu betonen. Unabhängig davon, welchem Ansatz man folgt, ist in den Fällen, in denen eine Fernwirkung grundsätzlich anzunehmen ist, in einem zweiten Schritt stets noch der Frage nachzugehen, ob der Zurechnungszusammenhang zwischen Verfahrensfehler und Folgebeweis unter normativen Gesichtspunkten als zerschlagen gelten kann bzw. muss.101 Und an dieser Stelle kommen dann die Gesichtspunkte zum Tragen, die im US-amerikanischen Recht unter dem Titel der „inevitable discovery exception“ behandelt werden102 und die der Sache nach auch der Diskussion zugrunde liegen, ob der in Frage stehende Beweis nach Art. 141 Abs. 4 StPO/CH einem Verwertungsverbot unterliegt, weil er ohne die vorhergehende (prozessordnungswidrige) Beweiserhebung nicht möglich gewesen wäre. Wie bereits oben dargelegt,103 ist eine Wertung erforderlich, die nach hier vertretener – und in der schweizerischen Strafprozessrechtswissenschaft vorherrschender – Auffassung dahingehend vorzunehmen ist, dass die Fernwirkung nur und erst dann entfällt, wenn nachgewiesen werden kann, dass das in Frage stehende Beweismittel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch aufgrund eines im Ermittlungsgeschehen bereits konkret angelegten weiteren Ermittlungsweges aufgefunden worden wäre.104 Zu beachten ist bei alledem, dass es bestimmte Fallgestaltungen gibt, in denen der Gesichtspunkt der anderweitigen sicheren Auffindung des Beweismittels nicht zum Zuge kommt. Ein aktuelles Beispiel bietet diesbezüglich die Missachtung des Richtervorbehalts.105 Zwar ist der für die Dogmatik der Verwertungsverbote in den USA 99
So z. B. Beulke, Strafprozessrecht, 11. Aufl., 2010, Rn. 482 f.; ders., ZStW 103 (1991), 657, 669; Grünwald (Fn. 12), S. 158 f.; Jäger (Fn. 12), S. 226, 232; Lubig, Beweisverwertungsverbote im Kartellverfahrensrecht der Europäischen Gemeinschaft, 2008, S. 31. 100 Vgl. Wohlers, AJP 2006, 627, 629 ff.; ders., StV 2008, 434 f. 101 Vgl. hierzu auch Schlüchter, JR 1984, 518, 519 f. sowie Jäger (Fn. 12), S. 227 ff. 102 Vgl. die Nachweise oben Fn. 56. Zu beachten ist, dass auch die US-amerikanischen Gerichte nicht eine abstrakte Möglichkeit genügen lassen, sondern verlangen, dass die Quelle der anderweitigen Beweismittelerlangung im Ermittlungsgeschehen konkret angelegt sein muss, vgl. Ossenberg (Fn. 15), S. 188; SK-StPO/Rogall (Fn. 13), § 136a Rn. 116. 103 Vgl. oben II. 3. a). 104 Vgl. auch – für das deutsche Recht – SK-StPO/Rogall (Fn. 13), § 136a Rn. 121, 124 sowie Jäger (Fn. 12), S. 227, der die fehlende Relevanz des Verfahrensfehlers dann annimmt, wenn „die Ermittlung des mittelbaren Beweismittels nach allgemeiner Lebenserfahrung im Zuge der üblichen Strafverfolgungstätigkeit als gesichert gelten kann“. 105 Vgl. hierzu auch bereits SK-StPO/Rogall (Fn. 13), § 136a Rn. 122.
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grundlegende Ansatz, das Verhalten der Strafverfolgungsbehörden über das Instrument des Verwertungsverbots (und dessen Fernwirkung) disziplinieren zu wollen,106 von der herrschenden Meinung für das deutsche Recht stets als inadäquat zurückgewiesen worden.107 Im Schrifttum ist aber andererseits schon immer darauf hingewiesen worden, dass Missstände, die den Gedanken nach einer Disziplinierung hervorrufen, auch in Deutschland auftreten.108 In neuerer Zeit hat insbesondere die verbreitete – und von den Staatsanwaltschaften mitgetragene – Aushebelung des Richtervorbehalts in aller Deutlichkeit gezeigt, dass es jedenfalls einzelne Bereiche gibt, in denen ein Bedarf an Disziplinierung durchaus vorhanden ist, der ganz offenbar durch andere Instrumente, etwa disziplinarrechtlicher oder strafrechtlicher Art, nicht erledigt wird109 und der deshalb einen Rückgriff auf das Instrument des Verwertungsverbots erforderlich macht.110 Dies hat nun auch der BGH erkannt, wenn er in Bezug auf die Fälle der Missachtung des Richtervorbehalts ausführt: „Dem – für andere Fallgestaltungen zur Einschränkung der Annahme von Beweisverwertungsverboten entwickelten – Aspekt eines möglichen hypothetischen rechtmäßigen Ermittlungsverlaufs kann bei solcher Verkennung des Richtervorbehalts keine Bedeutung zukommen. Die Einhaltung der durch Art. 13 Abs. 2 GG und § 105 Abs. 1 Satz 1 StPO festgelegten Kompetenzregelung könnte bei Anerkennung des hypothetischen rechtmäßigen Ersatzeingriffs in diesen Fällen stets unterlaufen und der Richtervorbehalt sogar letztlich sinnlos werden. Bei Duldung grober Missachtungen des Richtervorbehalts entstünde gar ein Ansporn, die Ermittlungen ohne Ermittlungsrichter einfacher und möglicherweise erfolgversprechender zu gestalten. Damit würde ein wesentliches Erfordernis eines rechtsstaatlichen Ermittlungsverfahrens aufgegeben …“111
Zwar wird man dem BGH nicht darin folgen können, dass diese Argumentation nur für die Fälle gelten soll, in denen Beweise „unter bewusstem Rechtsbruch oder gleichgewichtiger Rechtsmissachtung erlangt“112 werden.113 Vorliegend kommt es aber allein darauf an, dass der BGH dem Disziplinierungsgedanken der Sache nach Bedeutung beigemessen und in diesem Zusammenhang den „Aspekt eines 106 Bradley, GA 1985, 98, 101; Harris, StV 1991, 313 f.; Herrmann, JZ 1985, 602, 608; ders., FS Jescheck, 1985, S. 1299; Pieth (Fn. 51), S. 171. 107 Vgl. Heghmanns, ZIS 2011, 98, 99; Kleinknecht, NJW 1966, 1537, 1544; Rogall, JZ 1996, 944, 947; Roxin/Schünemann (Fn. 28), § 24 Rn. 60; Sarstedt, Referat 46. DJT (Fn. 28), F23. 108 Klug, Referat 46. DJT (Fn. 28), F46; Reichert-Hammer, JuS 1989, 446, 449 f.; vgl. auch Ambos, S. 150; Eisenberg (Fn. 26), Rn. 406; Herrmann, JZ 1985, 602, 609 sowie SK-StPO/ Wolter, Loseblattausgabe, 11. Aufbau-Lfg. (Juni 1994), Vor § 151 Rn. 199a. 109 Vgl. Ossenberg (Fn. 15), S. 158 ff., insbesondere S. 164 ff. 110 So auch Prittwitz, StV 2008, 486, 494; ablehnend gegenüber einer Anerkennung des Disziplinierungszwecks für das deutsche Recht: Ossenberg (Fn. 15), S. 167 ff. 111 BGHSt 51, 285, 295 f. 112 BGHSt 51, 285, 296. 113 Vgl. Hüls, ZIS 2009, 160, 164 sowie die Nachweise oben Fn. 10.
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möglichen hypothetischen rechtmäßigen Ermittlungsverlaufs“ für irrelevant erklärt hat. Wenn und soweit man ein von hypothetischen Erwägungen befreites primäres Verwertungsverbot annimmt, kann – angesichts dessen, dass es bei der Fernwirkung um nichts anderes geht, als um die Festlegung der sachlichen Reichweite des Verwertungsverbots – auch für mittelbare Beweise nichts anderes gelten. Diese sachlich gebotene Rückausnahme von der Ausnahme von der Fernwirkung kann durch die in Art. 141 Abs. 4 StPO/CH kodifizierte Formel nicht eingefangen werden. Nichtsdestotrotz wird man aber nicht in Abrede stellen können, dass es grundsätzlich nicht unmöglich ist, die Frage, wann ein Beweisverwertungsverbot über das unmittelbar gewonnene Beweisergebnis hinausreicht und wo seine Grenzen zu ziehen sind, in allgemeingültiger Form zu regeln. Die Fragen, ob der Gesetzgeber die Strafgerichte durch eine solche Regel binden will und, wenn ja, wie diese Regelung konkret aussehen soll, sind kriminalpolitisch zu entscheiden. Ihre Beantwortung setzt aber unter anderem voraus, dass sich der Gesetzgeber zuvor darüber klar geworden ist, worin er Grund und Grenzen der (unselbständigen) Verwertungsverbote sehen will. Man mag daran zweifeln, dass der Gesetzgeber hierzu willens und/ oder in der Lage ist; dass es aber eigentlich die ureigene Aufgabe des Gesetzgebers ist, derartige grundlegende Entscheidungen selbst zu treffen – statt sie an die Rechtsprechung zu delegieren –, wird man nicht bestreiten können.
VI. Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug
Massenmord in Norwegen – Kriminologische Betrachtung des Falles Anders Behring Breivik Von Britta Bannenberg
I. Einleitung Am 22. Juli 2011 tötete der 32-jährige Anders Behring Breivik in Norwegen 77 Menschen und verletzte 42 Menschen sehr schwer. Hunderte weitere Personen wurden verletzt und traumatisiert, weil sie sich in unmittelbarer Nähe der jeweiligen Tatorte aufhielten und gerade noch entkommen konnten. Diese Tat verursachte in dem kleinen Land Norwegen ein kollektives Trauma und erregte weltweite mediale Aufmerksamkeit. Die urbane Sicherheit wird durch derartige medial wirksame Taten erheblich beeinträchtigt. Das Osloer Gericht hob im Urteil hervor, eine Tat von solcher Dimension habe es in Norwegen noch nie gegeben. In Ländern wie Norwegen, der relativ sicheren Bundesrepublik Deutschland oder generell in Staaten mit relativ geringem Gewaltniveau sind extreme zielgerichtete Gewalttaten einzelner Täter viel beachtete Taten, über die breit in den Medien berichtet wird. Dabei wird über Motive spekuliert und detailreich berichtet. Wie auch im norwegischen Fall Breivik wird in der Öffentlichkeit meistens ohne nähere Kenntnis der Täterpersönlichkeit eine psychische Beeinträchtigung abgelehnt. Dies hängt mit der Laienvorstellung zusammen, ein Täter, der eine monströse Gewalttat geplant begeht, müsse auf jeden Fall strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können. Vielfach töten sich die Täter ihrem Plan gemäß unmittelbar nach der Tat. Vergleichsfälle, in denen die psychische Verfassung oder die Motive vor Gericht aufgeklärt werden, sind deshalb recht selten. Die Täter – ob tot oder nicht – erlangen eine Art negativen Heldenstatus, der Nachahmer und sogenannte Trittbrettfahrer (Personen, die aus verschiedenen Gründen nicht ernst gemeinte Drohungen ausstoßen und dadurch Ressourcen binden, aber auch zur Verbreitung von Furcht und Schrecken beitragen) anregt. Die Nachahmer scheinen Personen zu sein, die sich durch die Berichterstattung mit dem Täter identifizieren, aber bereits diffuse Tatbereitschaft hegen. Die konkreten Motive des Täters müssen sie nicht teilen. Ein bereits länger vorhandener Groll gegen die Gesellschaft oder bestimmte Personen(gruppen) mündet dann in die eigene Tatausführung oder mindestens konkrete Planung zur Ausführung der Tat. Die Taten finden in der Regel an öffentlichen oder an als besonders sicher betrachteten Orten (Schulen, Gerichten oder Verwaltungsge-
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bäuden, Arbeitsplatz) statt und treffen meistens eine Vielzahl beliebiger oder symbolischer Opfer. Dadurch entsteht ein hohes Verunsicherungsgefühl, weil potentiell jeder betroffen sein kann und das Motiv nicht erkennbar ist.
II. Die Taten des Anders Behring Breivik1 1. Die Bombe im Regierungsviertel in Oslo Am Freitag, 22. Juli 2011 gegen 15.17 Uhr parkte Breivik seinen VW Transporter in der Grubbegata in Oslo, im Eingang zum Hochhaus (Høyblokka) im Regierungsviertel, in dem sich neben dem Regierungssitz unter anderem die Büroräume des Justizministeriums befinden. Zu diesem Zeitpunkt hielten sich mindestens 250 Personen im Regierungsgebäude und den umliegenden Büros auf, ca. 75 Personen befanden sich auf den Straßen und Gehwegen in unmittelbarer Nähe. In dem Fahrzeug hatte er eine selbst gebaute Bombe, bestehend aus 950 kg Kunstdünger, Diesel und Aluminium, platziert. Eine Zündschnur mit etwa sieben Minuten Brennzeit genügte, um sich zu Fuß zu einem nahe gelegenen Fluchtfahrzeug, einem Fiat Doblo zu begeben. Um 15.25 Uhr explodierte die Bombe wie geplant mit einer gewaltigen Sprengkraft und einer enormen Druckwelle. Die umhergeschleuderten Splitter und Gegenstände trafen acht Personen im Kopf-, Brust- und Bauchbereich und verursachten tödliche Verletzungen. Im Urteil und in der Anklageschrift wurden die einzelnen getöteten Opfer aufgeführt. So etwa der 1979 geborene Mann, der sich zwischen dem Eingang zum Hochhaus des Regierungsblocks und dem Transporter befand und durch Gegenstände und Splitter, die durch die massive Druckwelle herumgeschleudert wurden, getötet wurde. Weitere neun Personen wurden ebenfalls namentlich erwähnt. Sie erlitten erhebliche, überwiegend dauerhafte Schädigungen. Ein 1949 geborener Mann befand sich in der Nähe des Brunnens am Einar Gerhardsens Platz und erlitt umfassende Bruchund Schnittwunden am Kopf und im Gesicht sowie an der rechten Wade. Es kam zu einer schweren Hirnverletzung. Splitter mussten ihm operativ aus der Brust entfernt werden, das rechte Bein wurde unterhalb des Kniegelenks amputiert. Er wurde 13mal operiert und befand sich vom Tattag bis zum 19. 11. 2011 in der Universitätsklinik, danach bis zum 15. 12. im Krankenhaus und bis zum 10. 1. 2012 in einer Rehabilitationseinrichtung. Über eine junge Frau, die 1987 geboren wurde, erfährt man, dass sie einen Sommerjob als Rezeptionistin hatte. Sie befand sich an der Rezeption im 1
Die Informationen über den Tatablauf, den Prozess und biographische Angaben sowie Persönlichkeit Breiviks stammen aus dem Urteil und den beiden psychiatrischen Gutachten. Die Gutachten enthalten neben eigenen Explorationen mit zahlreichen Fragen an Breivik sowie umfangreichen Erhebungen zum Verhalten weitere Hinweise auf Beweismaterial aus den zur Verfügung gestellten Akten (Zeugenaussagen, polizeiliche Ermittlungen, Videomaterial, frühere behördliche Akten, teilweise eigene Befragungen wichtiger Zeugen, etwa der Mutter). Die Gutachter des ersten psychiatrischen Gutachtens, Torgeir Husby und Synne Sørheim, führten allein 13 Gespräche mit einer Gesamtdauer von etwa 36 Stunden mit Breivik.
Kriminologische Betrachtung des Falles Anders Behring Breivik
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ersten Stock des Hochhauses, als die Bombe explodierte. Sie erlitt durch die Druckwelle erhebliche Kopfverletzungen und einen Schädelbruch mit Zerstörung von Hirnsubstanz und Hirnblutungen, u. a. einen Bruch des Gesichtsschädels, beidseitige Lungenverletzungen, einen Leberschaden und Schnittwunden in Gesicht und an beiden Armen und wurde außerhalb des Gebäudes gefunden. Nach einem Aufenthalt auf der Intensivstation musste sie sich mehreren Operationen unterziehen. Für etwa drei Monate befand sie sich wegen der psychischen Folgewirkungen in einer Rehabilitationseinrichtung. An die Namen ihrer Eltern erinnert sie sich ebenso wenig wie an die Inhalte ihres dreijährigen Studiums der Politikwissenschaften. Mindestens 200 weitere Personen erlitten körperliche Verletzungen durch die Explosion, darunter Schnitt- und Bruchverletzungen sowie Augen- und Gehörschäden, ein Teil von ihnen wurde auf der Intensivstation behandelt. Viele haben bis heute psychische Beeinträchtigungen mit erheblichen Gesundheitsfolgen. Die Angehörigen der vielen Opfer sind bei diesen Aufzählungen noch nicht erwähnt. Die Bombenexplosion führte zu schweren Beeinträchtigungen in zahlreichen Behörden, darunter dem Regierungssitz, dem Justiz- und Innenministerium, dem Wirtschafts-, Öl- und Energieministerium, Gesundheitsministerium, Arbeitsministerium, Finanzministerium und Wissenschaftsministerium, weil die Büros nicht genutzt werden konnten. Die Gebäude sind zwar nicht zusammen gestürzt, vielfach aber bis heute nicht benutzbar. In naheliegenden Bürogebäuden mussten Beschäftigte nach Möglichkeiten suchen, um ihren Aufgaben nachgehen zu können. An dem gegenüberliegenden Gebäude der Zeitung Aftenposten waren alle Fensterscheiben zerborsten. Außerdem verursachte die Explosion Panik und erhebliche Furcht in der norwegischen Bevölkerung mit Folgen für das Sicherheitsgefühl. Die finanziellen Schäden werden allein für die Jahre 2011 und 2012 auf 600 Millionen NOK geschätzt, der Gesamtschaden in dem bis heute nicht renovierten Regierungsviertel soll sich auf fünf bis zehn Milliarden NOK belaufen.
2. Mordtaten auf der Insel Utøya Nach der Explosion konnte Breivik ungehindert sein Fluchtfahrzeug erreichen, um in Richtung der Insel Utøya zu fahren. Auf Überwachungskameras wird später sichtbar, dass Breivik eine falsche Polizeiuniform, eine schusssichere Weste und eine Schusswaffe trug. Sofort nach der Explosion waren zahlreiche Notrufe bei der Polizei eingegangen, darunter auch Hinweise auf eine uniformierte Person mit Schusswaffe. Die Spur Breiviks wurde im Chaos des Regierungsviertels jedoch nicht aufgenommen. So konnte er mit dem Fahrzeug in die Nähe des Piers fahren, um sich umzuziehen und mehrere Schusswaffen sowie große Mengen an Munition zu packen. Er gab sich als Polizist mit falscher Dienstmarke aus und forderte einen Mann vom Sicherheitsdienst auf, ihn auf die Insel überzusetzen. Dieser beschrieb ihn später als ruhig und unauffällig. Breivik habe gesagt, er wolle wegen des terroristischen Anschlags in Oslo auf der Insel Sicherheitsmaßnahmen ergreifen. Auf Anweisung die-
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ser Person setzte der Bootsführer Breivik und eine langjährige Managerin des Sommercamps sodann mit der kleinen Fähre auf die Insel über. Er hatte eine große Kiste dabei, in der sich Material zur Bombenentschärfung befinde, log Breivik. In Wahrheit handelte es sich um große Mengen an Munition. Auch ein Gewehr war sichtbar. Weiter hatte er eine Pistole und Rauchgranaten dabei. Auf der Insel befanden sich 564 Personen, darunter 530 Jugendliche des traditionellen Sommerlagers der Arbeiterjugend AUF (Arbeidernes Ungdomsfylkings). Gegen 17.17 Uhr kam die Fähre auf der Insel an. Der Bootsführer brachte die Kiste noch in Richtung des Hauptgebäudes, als Breivik den ihm soeben vorgestellten Polizisten, der sich ehrenamtlich auf der Insel aufhielt, von hinten mit fünf Schüssen tötete. Auch die Managerin wurde noch vor Erreichen des Hauptgebäudes von hinten mit drei Schüssen getötet. Dies war der Beginn der Massentötung, die zwischen 17.21 Uhr bis zum Eintreffen der Polizei um 18:34 Uhr 69 Personen das Leben kosten sollte. Die meisten starben durch Schüsse oder durch die Folgen von Schussverletzungen, zwei Personen ertranken auf der Flucht. Darüber hinaus wurden 33 Jugendliche durch Schüsse oder die Folgen von Schussverletzungen verletzt. Später wurde ermittelt, dass Breivik 121 Schüsse aus der Pistole und 176 Schüsse aus dem Gewehr abgegeben hatte. Fast alle Getöteten wiesen mehrere Schussverletzungen auf. Vornehmlich war auf den Kopf- und Brustbereich gezielt worden. Viele hatten zusätzlich Treffer im Hinterkopf oder im Rücken. Von 462 Geschädigten, die eine Zeugenaussage gemacht hatten, wurden nur die 69 Getöteten und 33 Schwerverletzten in Anklage und Urteil namentlich erwähnt. Auf der Insel war kurz vor dem Eintreffen Breiviks bereits eine Information über einen Anschlag in Oslo bekannt geworden. Als auf der Insel die ersten Schüsse fielen, brach Panik aus und die Jugendlichen versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Sie berichteten, Breivik sei völlig ruhig und ungerührt über die Insel gegangen und habe immer wieder auf einzelne Opfer gezielt. Nur sehr wenige Opfer ließ er nach Sichtkontakt am Leben. Die 69 getöteten Personen wurden namentlich genannt. Zum Beispiel wurde eine 15-Jährige durch drei Schüsse, zwei Kopfschüsse und einen Schuss in die rechte Schulter, getroffen. Diese Verletzungen führten zu einem unmittelbaren Verlust des Bewusstseins und einem sehr schnellen Tod. Auch die Verletzungen und Erlebnisse der 33 schwer geschädigten Opferzeugen wurden näher beschrieben. Eine 17-Jährige z. B. befand sich auf dem Zeltplatz, als Breivik auf Utøya ankam. Sie floh vor den Schüssen, wurde aber von mehreren Munitionssplittern in ihrem linken Bein getroffen. Sie rannte zum Wasser, zog sich aus und begann zu schwimmen. Das Wasser war jedoch zu kalt und sie kehrte um. Vom Ufer aus rannte sie Richtung Hauptgebäude, wo mehrere Personen versuchten, ein Boot zu starten. Sie sprang erneut ins Wasser und auf das Boot zu. Als sie ins Boot gezogen wurde, sah sie am Pier einen Mann in Uniform, erkannte aber nicht gleich den Täter. Einige riefen, da sei der Täter. Dieser schoss daraufhin in Richtung des Bootes und traf es einige Male. Bei dem anschließenden Krankenhausaufenthalt wurden die Wunden des Mädchens versorgt und zahlreiche Splitter entfernt. Sie hat heute noch Splitter im Gewebe und kann das linke Bein nur unter Schmerzen belasten.
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Neben den körperlichen Verletzungen trug eine Vielzahl von Personen psychische Beeinträchtigungen davon. Breivik wurde gegen 18.34 Uhr von der Polizei auf Utøya festgenommen.
III. Anklage und Verteidigung2 Die Staatsanwaltschaft Oslo hatte Anklage gegen Anders Behring Breivik erhoben, weil sie ihn terroristischer Akte in Verbindung mit Mordtaten für überführt hielt. In einem psychotischen Zustand und daraus folgender fehlender strafrechtlicher Verantwortlichkeit sollte er in eine psychiatrische Einrichtung (gemäß § 39 norwStGB) überwiesen werden. Zu der Annahme der Schuldunfähigkeit kam die Staatsanwaltschaft aufgrund des ersten psychiatrischen Gutachtens, das eine Schizophrenie diagnostizierte. Sie war selbst nicht völlig von dem Vorliegen einer Psychose überzeugt, meinte aber, „im Zweifel für den Angeklagten“ seine Schuldunfähigkeit unterstellen zu müssen. In der Hauptverhandlung plädierte die Staatsanwaltschaft primär auf Schuldunfähigkeit aufgrund der Tatbegehung im psychotischen Zustand, sekundär jedoch auf Tatbegehung im Zustand voller Schuldfähigkeit mit der Folge der höchstmöglichen Verwahrung. Die Verteidigung forderte in ihrem Plädoyer, den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung aufgrund einer Psychose zurückzuweisen und forderte bei Unterstellung der Schuldfähigkeit entweder Freispruch oder die Verhängung der mildest möglichen Sanktion. Dass der geständige Breivik die Taten begangen hatte, stand außer Zweifel.
IV. Die Verurteilung 1. Verwahrung statt Freiheitsstrafe Am 24. August 2012 verurteilte das Gericht in Oslo den 32-jährigen Anders Breivik zur Verwahrung (§ 39c norwStGB) mit einer Höchstdauer von 21 Jahren und einer Mindestdauer von zehn Jahren. Bei anhaltender Gefährlichkeit kann die Dauer der Unterbringung um jeweils fünf Jahre verlängert werden. Eine zweispurige Verurteilung wie nach deutschem Recht – Freiheitsstrafe neben Sicherungsverwahrung – ist in Norwegen nicht vorgesehen. Das Gericht verlas die gesamten Urteilsgründe (90 Seiten) über nahezu sechs Stunden. Das Fernsehen übertrug die von hohem Medieninteresse begleitete Urteilsverlesung live. Ungewöhnlich für ein norwegisches Gericht und den Umständen dieses überbordenden Interesses geschuldet, war der Zugang zum Gericht und erst recht der Zugang zum Gerichtssaal von einem hohen Polizeiaufgebot abgesperrt worden. 2 Ich danke Karin Cornils und Jon Petter Rui für geduldige und kenntnisreiche Erörterungen zum norwegischen Strafrecht.
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Medienvertreter erhielten bereits am Vortag einen Standplatz im und vor dem Gericht zugewiesen. Die Richter teilten sich die Verlesung der Urteilsgründe und rangen bei der hoch emotionalen und berührenden Verlesung der detaillierten Tötung aller 77 Opfer und Schilderung der Folgen für die 42 Schwerstverletzten sichtlich um Fassung. Dies galt auch für die Verteidigung, die mit vier Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen im Gerichtssaal vertreten war. Obwohl alle Prozessbeteiligten große Ruhe und Professionalität ausstrahlten, ließen Mimik und Körpersprache die Erschütterung über die monströsen Tötungen teilweise erkennen. Die direkt neben Breivik sitzende Verteidigerin rückte bei der Verlesung der Details der Tötungen körperlich immer weiter vom Angeklagten weg und schlug teilweise die Hände vor das Gesicht. Ungewöhnlich nach deutschen Maßstäben war auch, dass nach der Urteilsverkündung die Staatsanwältin und der Hauptverteidiger des Angeklagten etwa zwei Stunden lang der Presse Rede und Antwort standen und auch diese Pressekonferenz live übertragen wurde. Die Verwahrung anstelle der Freiheitsstrafe wurde verhängt, weil der Verurteilte für voll schuldfähig befunden wurde, vorsätzlich zwei terroristische Akte begangen zu haben, die sowohl eine erhebliche Beeinträchtigung der fundamentalen gesellschaftlichen Institutionen wie Legislative, Exekutive oder Justiz u. a. zur Folge gehabt, wie auch ernsthafte Furcht in der Bevölkerung verursacht hätten. Durch seine Mordtaten im Regierungsviertel in Oslo habe er einen terroristischen Akt in Verbindung mit Mord begangen, § 147a in Verbindung mit § 233 norwStGB, Mord im besonders schweren Fall. Einen weiteren terroristischen Akt in Verbindung mit Mord habe er auf der Insel Utøya begangen. Neben dem Tatvorsatz habe es der Angeklagte auch darauf angelegt, nicht nur so viele Menschen (vor allem Mitglieder der Regierung, Regierungsangestellte und politisch aktive Jugendliche) wie möglich zu töten, sondern er habe auch weitere radikale muslimenfeindliche Taten provozieren wollen. Der Angeklagte hatte die Taten unumwunden gestanden, meinte jedoch, sie seien notwendig und gerechtfertigt gewesen, um die „Masseneinwanderung“ von Muslimen nach Norwegen zu stoppen und der Islamisierung Europas Einhalt zu gebieten. Die politischen Parteien in Norwegen seien verantwortlich für diese Einwanderungspolitik. Jede Form der Rechtfertigung der Morde wurde vom Gericht zurückgewiesen. Die Taten hätten mit der Höchststrafe von 21 Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden können. Wenn die zeitige Freiheitsstrafe zum Schutz der Allgemeinheit aber nicht ausreicht, wird zur Verwahrung verurteilt (§ 39c norwStGB). Bei Breivik prognostizierte das Gericht die Begehung weiterer schwerer Verbrechen. Zu diesem Punkt fanden ausführliche Erörterungen statt. Im norwegischen Strafrecht ist die lebenslange Freiheitsstrafe seit langem abgeschafft. Die Höchststrafe von 21 Jahren ohne Chance auf vorzeitige Entlassung sei zwar eine sehr lange Strafe. Angesichts der Dimensionen dieses speziellen Falles sei hier die Anordnung der Verwahrung notwendig. Breivik habe nach jahrelangen Planungen gezielt das Regierungsviertel mit einer Bombenexplosion schwer beschädigt und schon dort gezielt Menschen getötet. Auf der Insel Utøya habe er die meisten Opfer in gnadenloser Weise einzeln erschossen und vielen Getroffenen noch einen Todesschuss versetzt. Er habe vielen
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Menschen physische und psychische Verletzungen zugefügt und unvorstellbares Leid verursacht. Der angerichtete materielle Schaden sei enorm, der gesamte Fall in der norwegischen Geschichte einzigartig. 2. Die Schuldfähigkeit und der psychische Zustand des Angeklagten zur Tatzeit Im gesamten Prozess wurde vor allem die Frage der Schuldfähigkeit kontrovers erörtert. Ob Breivik psychisch gestört und unzurechnungsfähig war, war schon von Beginn an eine in der Öffentlichkeit heiß diskutierte Frage. Zunächst wurde vom Gericht am 28. Juli 2011 ein Gutachten an zwei Psychiater in Auftrag gegeben, das nach umfangreichem Aktenstudium und gut dokumentierter Exploration in 13 Terminen zwischen jeweils drei und fünf Stunden zu dem (wohl unrichtigen) Ergebnis kam, Breivik sei paranoid schizophren i. S. v. F20.0 der ICD-10, somit auch im norwegischen Rechtssinne psychotisch nach § 44 Abs. 1 norwStGB gewesen. Danach hätte er nicht bestraft werden können und wäre in eine psychiatrische Einrichtung einzuweisen gewesen. Im Anschluss an dieses Gutachten, das dem Gericht am 29. November 2011 vorgelegt wurde, kam es zu heftiger Kritik (nicht nur) in der Fachwelt. Das Gericht gab ein weiteres Schuldfähigkeitsgutachten in Auftrag. Dieses Gutachten, das am 10. April 2012 vorgelegt wurde, verneinte das Vorliegen einer paranoiden Schizophrenie. Breivik sei nicht psychotisch, weder im medizinischen noch im Rechtssinne. Die sog. Rechtsmedizinische oder Forensische Kommission kommentierte beide Gutachten kritisch und bemängelte auch Unterlassungen bei der Erhebung bzw. Würdigung von Fakten. Der komplexe Streit kann an dieser Stelle nicht näher erläutert werden. Das Gericht legte zunächst die Rechtsgrundlagen und den Hintergrund der Rechtsentstehung ausführlich dar. Grundlegend anders als etwa im deutschen Strafrecht mit einer breiten Möglichkeit, gemäß §§ 20, 21 StGB psychische Zustände mit normativen Auswirkungen auf Einsichts- oder Schuldfähigkeit zu würdigen, kennt das norwegische Strafrecht in § 44 Abs. 1 einen Rechtsbegriff des psychotischen und unbewussten/bewusstlosen Zustandes: „Eine Person, die zur Tatzeit psychotisch oder bewusstlos (unconscious/bewisstløs) war, kann nicht bestraft werden“. Eine Differenzierung nach anderen psychischen Störungen oder eingeschränkter Schuldfähigkeit ist nicht vorgesehen. Diese Regelung wurde 2002 neu in das norwegische Strafgesetzbuch aufgenommen. Die rechtliche Entscheidung, ob ein psychotischer Zustand vorliegt, soll eng nach medizinischen Kriterien auf der Grundlage der ICD-10 getroffen werden. Die Auffassung der Staatsanwaltschaft, bei widersprechenden gutachterlichen Ansichten den Zweifelsgrundsatz anzuwenden, wurde deutlich zurückgewiesen. Es komme darauf an, ob ein psychotischer Zustand zur Tatzeit festgestellt werden könne oder nicht. Das Vorliegen einer möglichen Schizophrenie bei Breivik wurde breit erörtert, aber letztlich abgelehnt. Die sonderbaren Verhaltensweisen Breiviks, die die Gutachter Husby und Sørheim eine paranoide Schizophrenie hatten annehmen lassen, wurden vom Gericht als Verhaltensauffälligkeiten
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und Persönlichkeitsstörungen vor dem Hintergrund der Tatvorbereitungen gewertet. Dabei wurden Ausprägungen einer narzisstischen und dissozialen Persönlichkeitsstörung angenommen. Jedenfalls sei Breivik nicht psychotisch gewesen. Die Diskurse der Psychiater wurden detailliert erörtert und das Gericht führte aus, die Aussagen Breiviks seien schockierend gewesen. So habe er extrem rechte Positionen vertreten und dabei sowohl historische Parallelen gezogen wie auch geradezu kindliche Symbolik präsentiert. Die zynische Rechtfertigung seiner Taten als notwendig habe sich wiederholt als eine Glorifizierung von Gewalt dargestellt. Das sei aber kein Merkmal einer Psychose. Das Gericht nahm Breiviks Schuldfähigkeit an und hielt ihn für voll verantwortlich. Ein psychotischer Zustand, wie ihn das norwegische Strafrecht in § 44 Abs. 1 vorsieht, habe nicht vorgelegen.
V. Biographie des Täters Anders Behring Breivik wurde am 13. Februar 1979 in Oslo geboren. Zu dieser Zeit waren seine Eltern verheiratet. Aus einer früheren Beziehung hatte seine Mutter eine Tochter. Als Breivik sechs Monate alt war, zog die Familie nach London, wo der Vater einer Tätigkeit in der Botschaft nachging. Im Alter von eineinhalb Jahren verließ der Vater die Familie. Heute ist der Vater das vierte Mal verheiratet und lebt in Frankreich. Er hat drei Kinder aus anderen Beziehungen. Der Angeklagte wuchs mit der Mutter und seiner sechs Jahre älteren Halbschwester in Oslo auf. Bereits 1981 nahm die Mutter Kontakt mit den Wohlfahrtsbehörden auf und beantragte die Unterbringung des Sohnes in einem Wochenendheim. Dieser Antrag wurde genehmigt, aber die entsprechenden Abmachungen wurden nicht lange eingehalten. Im Dezember 1982 zog die kleine Familie innerhalb Oslos um. Der Junge kam in den Kindergarten und später in die Vorschule. Im Frühjahr 1983 suchte die Mutter erneut Kontakt zu staatlichen Stellen, weil sie mit Verhaltensauffälligkeiten ihres Sohnes Schwierigkeiten hatte. Die eingeschaltete Kinder- und Jugendpsychiatrie beobachtete die Familie einen Monat lang in einer Tagesklinik und empfahl dann ein Wochenendheim für den Vierjährigen. Sie sah schwere psychopathologische Entwicklungsprobleme und ein schwieriges Verhältnis zwischen Mutter und Kind. Der Vater forderte nun nach den Informationen über die Entwicklungsprobleme das Sorgerecht, nahm die Klage jedoch später zurück. Anders lebte weiterhin bei der Mutter, die in ambivalenter Haltung behördliche Maßnahmen ablehnte. Erneute Vorstellungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Vorschläge des Jugendamtes hatten keine Konsequenzen. Als Anders 15 Jahre alt war, zog die ältere Schwester aus. Der Junge hatte in den zurückliegenden Jahren Kontakt zum Vater gehabt und wiederholt die Ferien bei seinem Vater verbracht. Das Verhältnis zu der neuen Partnerin des Vaters und den drei Halbgeschwistern soll gut gewesen sein. Dann kam es jedoch zu gravierenderen Auffälligkeiten Breiviks wegen Graffiti-Schmierereien. Er wurde eines Tages im Alter von 15 Jahren in einem Zug in Dänemark aufgegriffen und hatte
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über 40 Sprühflaschen im Gepäck. Seine Mutter hatte nicht gewusst, dass er sich in Dänemark aufhielt. Der Vater soll daraufhin den Kontakt abgebrochen oder doch erheblich reduziert haben. Im Alter von 22 Jahren soll er den Vater das letzte Mal gesehen haben. Obwohl aus der Schule keine Leistungsprobleme berichtet wurden, brach Breivik einige Monate vor dem Abschluss den Schulbesuch auf dem Gymnasium ab. Der Mutter teilte er mit, er habe nun genug gelernt. Er hat also weder einen formalen Schulabschluss noch eine Ausbildung. Auf seiner Facebook-Darstellung klingt das anders und er stellt sich unrichtig als erfolgreich und gebildet dar. 2001 bis 2006 lebte Breivik zunächst in einer Wohngemeinschaft, ab 2002 allein in einer Mietwohnung in Oslo. Nach der abgebrochenen Schulausbildung arbeitete Breivik bei Firmen, die Telefonabonnements verkaufen sollte und übte diese Tätigkeit später selbstständig aus. In der Folgezeit verdiente Breivik mit allerlei Tätigkeiten Geld, das Gericht sprach von einer „kunterbunten Karriere“ als Geschäftsmann. Wehr- oder Zivildienst absolvierte er nicht. Eine erste Tätigkeit als Telefonverkäufer dauerte bis zum April 2003 und kann wohl als erfolgreich bezeichnet werden. Er stieg zum Teamleiter Marketing auf, erzielte aber nur ein geringes Einkommen. Er verließ das Unternehmen, um sich in der Werbung selbstständig zu machen, was aber weniger gut funktionierte. 2002 soll er in Liberia Geld verloren haben. Breivik behauptete, er habe sich dort mit serbischen Nationalisten getroffen. Für diese Behauptung ließen sich keine Beweise finden. Er verkaufte dann im Internet gefälschte Diplome und erlangte so ein bedeutendes Einkommen. In diesen Zeitraum fallen auch Steuerhinterziehungen. Er verlegte Firma und Konten in das Steuerparadies Antigua. Für 2006 wird zum Beispiel ein Einkommen von über drei Millionen norwegischen Kronen angenommen. Aus Börsenspekulationen und diversen Investitionen erreichte er in dieser Zeit ein hohes Einkommen (möglicherweise 1,6 Millionen NOK mit Aktienspekulationen), das er nicht versteuerte. Nach 2006 hat er aber wohl nicht mehr „gearbeitet“, sondern vom Gesparten gelebt. Sozialleistungen bezog er nicht. Seine letzte Firma ging 2006/2007 in die Insolvenz. 2006 zog er zur Mutter nach Oslo. Ab dieser Zeit werden von verschiedenen Personen starke Verhaltensänderungen berichtet. Bis dahin soll er zwar zuweilen sonderbar und exzentrisch gewesen sein, aber durchaus soziale Kontakte unterhalten haben. Ab 2006 habe sich dieses drastisch geändert. Außenkontakte unterhielt er nicht oder kaum noch. Von den Freunden zog er sich stark zurück. Die Mutter kochte, wusch und sorgte für ihn, er hatte keine Einkünfte und unternahm auch keine Anstrengungen, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Er bezog nicht einmal Sozialleistungen. Die Mutter akzeptierte, dass er sich überwiegend auf seinem Zimmer vor dem Computer aufhielt und zunehmend unfreundlicher und sonderbarer wurde. In der letzten Zeit (2010 bis Anfang 2011) wurde ihr der Kontakt zum Sohn wohl sehr unangenehm, er habe entweder keine Distanz oder extreme Distanz gewahrt, habe Angst gehabt, sich bei ihr mit Krankheiten zu infizieren und habe sein Essen allein auf dem Zimmer eingenommen. Ab 2006 bestimmten zeitintensive Beschäftigungen im Internet seine Tage und Nächte. Er spielte zunächst wohl ein Jahr das Internet-Rollenspiel „World of Warcraft“, nannte sich „Anders Nordig“, dann „Kon-
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servatism“, war Gildmaster in dem Spiel und führte Tagebuch. Sieben Tage die Woche verbrachte er wohl 12 bis 16 Stunden mit diesen Spielen. Ein Zeuge nannte ihn „Offizier“, den besten Spieler in der Zeit. Viele Mitspieler kannten ihn, bezeichneten sich als Freunde, Breivik galt als kenntnisreicher und erfolgreicher Spieler, als sympathische Figur. Danach spielte er „Age of Conan“. Vor allem begann danach aber die Befassung mit seinem sogenannten „Compendium“, seiner Rechtfertigungsschrift über die Tat und die Hintergründe. Die kruden und überwiegend aus Wikipedia und sonstigen Internetquellen kopierten und zusammen gestellten Ideen stellen eine sonderbare Mischung aus peinlichen Selbstzeugnissen und kindlich anmutenden Größenvorstellungen, aber auch ein Sammelbecken extremistischer und menschenfeindlicher Positionen dar. In diesem 1.518 Seiten starken Pamphlet wird auch über viele Seiten die Tatplanung mit konkreten Überlegungen zur Vorbereitung und Durchführung der Taten dargelegt. Diesem Plan folgend – aber auch getrieben von der zunehmenden Finanznot – mietete er im März 2011 einen Bauernhof, um ungestört als vermeintlicher Landwirt große Mengen Kunstdünger bestellen und zu einer Bombe zusammen mischen zu können. Die Finanzsorgen lagen für ihn vor allem in der Furcht, dass seine zahlreichen Kreditkarten wegen Kontenüberziehungen gesperrt würden, wenn er zu lange warte. Er wollte mit den Kreditkarten die Tatfahrzeuge anmieten, was ihm auch gelang. Nach zunehmenden Konflikten mit der Mutter, die bemerkt hatte, dass er Munition und militärisches Equipment in großen Mengen bestellt und in der Wohnung deponiert hatte, zog er im Mai 2011 auf seinen Bauernhof, um die Vorbereitungen für die Mordtaten abzuschließen. Am Tattag verbreitete Breivik das sog. Compendium, das von den Medien sogleich „Manifest“ getauft wurde, an 956 Mailadressaten. Er hatte geplant, das Pamphlet an 8.109 Adressen zu versenden. Die Mailadressen hatte er über mehrere Facebook-Konten und im Internet gesammelt. Unter Bezugnahme auf die Schlacht um Wien (1683) nannte er dieses Pamphlet „2083 (mit Abbildung eines großen Templer-Kreuzes) – A European Declaration of Independence“. In der Unterüberschrift: „De Laude Novae Militiae, Pauperes commilitones Christi Templique Solomonici.“ Seinen Namen verfälschte er in der Unterzeichnung in „Andrew Berwick (Anders Behring Breivik) London – 2011“.
VI. Hass und Radikalisierung – Das Pamphlet 2083 und Selbstzeugnisse Das Pamphlet „2083“ und seine Aussagen vor Gutachtern und im Prozess geben tiefe Einblicke in die Denkwelt des Anders Breivik. Der Stil ist unerträglich naiv belehrend und pseudowissenschaftlich. Wie das Gericht schon festgestellt hat, stammen etwa 80 % des Inhaltes aus Internetquellen, die nicht immer kenntlich gemacht werden. Wenn dies der Fall ist, werden Blogger oder vor allem die Lieblingsquelle „Wikipedia“ angegeben. Die 1.518 Seiten sind nach dem Vorspann von zehn Seiten in drei sogenannte Bücher unterteilt: Buch 1: „Political Correctness/Cultural Mar-
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xism, Buch 2: „Europe Burning“ und das umfangreiche und sehr wirre Buch 3: „A Declaration of Pre-Emptive War“. Im Vorspann werden in großartiger Darstellung seine eigene Wichtigkeit und die vermeintliche Versendung an 7.000 Personen mit Handlungsaufforderungen betont. Er habe neun Jahre an „2083“ gearbeitet und mindestens 317.000 Euro investiert. Bereits auf der ersten Seite klingt eine Art Verschwörungstheorie durch, als er behauptet, der Großteil der in „2083“ zusammen gestellten Informationen werde den Europäern von ihren Regierungen bewusst verheimlicht. 90 % der Parlamentarier in der EU und 95 % der Journalisten unterstützten multikulturelle Ansichten und trieben so die Islamisierung Europas voran. In seinem kruden pseudointellektuellen und belehrenden Stil, der lächerlich wirkt, legt er seine Weltsicht dar. Dabei wird neben einer ausgeprägten Islam- und Muslimenfeindlichkeit auch seine anti-liberale und vor allem frauenfeindliche Haltung überdeutlich. Besonders interessant ist, dass er ganze Textpassagen von dem als „Unabomber“ bekannt gewordenen Attentäter Theodore Kaczynski3 übernimmt, ohne diesen oder seine Schrift zu nennen. Der vermutlich als labiler und hochintelligenter junger Mann durch sonderbare psychologische Experimente in Harvard radikalisierte4 Kaczynski hatte nach erfolgreichem Karrierebeginn als Mathematiker ein Einsiedlerleben im Wald geführt und zwischen 1978 bis zu seiner Festnahme 1996 etliche Briefbomben vor allem an Universitäten und eine Airline verschickt (deshalb die Bezeichnung Un(iversity) and a(irline) bomber). Dabei wurden drei Menschen getötet und viele verletzt. Er hat später eine 83-seitige Rechtfertigungsschrift verfasst, die sich vor allem gegen den wissenschaftlichen Fortschritt richtet.5 Aus diesem von den Medien „Manifest“ getauften Werk hat Breivik viele zusammenhängende Passagen abgeschrieben und nur die Worte „Leftism“ gegen ihm genehmere Worte wie „cultural Marxism“ und „multiculturalism“ getauscht.6 Interessant ist dabei, dass er sich intensiv mit Kaczynski befasst haben muss. Er übernahm nicht nur wortgleiche Passagen, sondern vor allem den „wir“-Stil, der sein eigenes Pamphlet unregelmäßig durchzieht und die Idee einer Gruppe. Kaczynski hatte eine Gruppe „FC“ erfunden, Breivik die Tempelritter. Vor allem scheint aber die hohe Intelligenz Kaczynskis (dieser soll einen IQ zwischen 155 und 167 aufweisen) ein Grund für Breivik gewesen zu sein, sich mit ihm zu befassen und sich trotzdem über diesen zu erheben. Der Medieneinfluss auf die Rezeption derartiger Taten wird im Übrigen daran deutlich, dass beide Pamphlete als „Manifest“ bezeichnet werden. Mit anderen Attentätern befasst er sich 3
Holmes/Holmes, Serial Murder, 3rd Ed. 2010, S. 97 ff.; Fox/Levin, Extreme Killing, Understanding Serial and Mass Murder, 2012, S. 13, 22, 24, 31, 47, 129. 4 Chase, Harvard and the Making of the Unabomber. The Atlantic June 2000 (Part 1 – 4), www.theatlantic.com/past/docs/issues/2000/06/chase.htm. 5 Kaczynski: „Industrial Society and Its Future“, dazu auch Fox/Levin (Fn. 3), S. 13 f.; Holmes/Holmes (Fn. 3), S. 98; auf Deutsch: „FC Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft = Das Unabomber-Manifest“. 6 Interessanterweise wurde diese zutreffende Übernahme der Textstellen bereits am 24. 7. 2011 auf der als rechtsgerichtet und islamfeindlich in der Kritik stehenden Internetseite document.no publiziert. Es stellt sich dabei die Frage, wie diese Übereinstimmung so schnell erkannt werden konnte.
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eher in abstrakter Weise, indem er auf die schlimmsten Taten hinweist (11. September) oder die Sprengung von Atomkraftwerken in Erwägung zieht. In „2083“ werden vor allem im dritten Buch mit einer interessanten distanzierten Einleitung Handlungspläne für seine Taten mit der Darstellung der konkreten Vorbereitung ausgebreitet. Vermischt mit den Tempelritter-Ideen erinnert alles sowohl an ein Computerspiel wie auch an Facebook-Darstellungen. Auf die Einzelheiten kann hier aus Raumgründen nicht näher eingegangen werden. Die konkreten Details zu den Vorbereitungen sind abstoßend. So empfiehlt er etwa monatelange Vorbereitungen unter Einnahme von Anabolika und Amphetaminen, aber auch das Hören von bestimmten Musikstücken beim Töten. Er phantasiert digitale Welten zusammen mit konkreten Tatplänen, die er später umgesetzt hat. Die von ihm geplante Gewalt wird durchgehend gerechtfertigt.
VII. Bewertung und Diskussion7 Breivik fiel auch im Prozess durch Hasstiraden und islamfeindliche Äußerungen auf. In seinem kruden Pamphlet von 1.518 Seiten verbreitete er Tatplanungen und Hass, sieht sich als Tempelritter und auf einem Kreuzzug gegen den Islam. Reale Kontakte (außer Internetkommunikation) zu anderen Fanatikern wurden im Strafverfahren nicht bestätigt. Möglicherweise ist Breivik einer der „lone wolves“8, die unter der Flagge einer Ideologie eine Selbstradikalisierung, befeuert durch die anonymen Internetmöglichkeiten, durchlaufen haben. Jedenfalls sieht man deutlich eine starke Eigenmotivation eines hasserfüllten Einzelgängers und nicht nur radikale ideologische Ansichten. Was eint und was trennt Taten eines Breivik von denen eines Mannes, der 1983 in einer hessischen Schule auf Lehrer, Kinder und Polizeibeamte schoss und sich anschließend selbst tötete? Ist er ein Terrorist, ein Amoktäter oder ein Rechtsextremist oder alles zusammen? Nach der Analyse der Taten, der Lektüre der verstörenden Selbstzeugnisse, der hasserfüllten Ideologie und des Verhaltens des Anders Behring Breivik fallen aus kriminologischer Sicht mehrere Aspekte auf, die interessante Parallelen zu Amoktaten9 erkennen lassen. Die psychische Verfassung scheint bei einer gewissen Unklarheit über das Vorliegen eines abgegrenzten Wahns nicht in einer psychiatrischen Erkrankung zu liegen. Eine psychotische/schizophrene Erkrankung scheint hier nicht gegeben. Was (forensisch unerfahrene?) Psychiater für eine überdauernde Wahnvorstellung, eine Schizophrenie halten, findet aus kriminologischer Sicht etliche Parallelen 7 Ich danke Anna-Lena Braun und Felix Diehl für die freundliche Unterstützung bei der Literaturrecherche. 8 Stern, Terror in the Name of God; Why Religious Militants Kill, 2003; Pantucci, in: Rubin/Bew (Eds.), Developments in Radicalisation and Political Violence, 2001, S. 1 ff. 9 Dazu umfassend mit Nachweisen Bannenberg, Amok. Ursachen erkennen – Warnsignale verstehen – Katastrophen verhindern, 2010.
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bei anderen Attentätern und Amoktätern. Politische oder religiöse Fanatiker sehen sich grundsätzlich gerechtfertigt, ihre Ideen gewaltsam umzusetzen, ohne dass dieses Außenstehenden einsichtig erscheint. Die Grenze zum Wahn ist dabei nicht eindeutig zu ziehen. Der Auffassung des Gerichts, Breivik als erheblich persönlichkeitsgestört, nicht aber als psychisch krank zu betrachten, ist zuzustimmen. Es ist schwer nachzuvollziehen, ob und inwieweit Breivik sich wirklich für einen Tempelritter und nordischen Kreuzzügler hält und wenn ja, inwieweit diese Vorstellung krankhaft ist. In seinem Pamphlet scheint es, als spiele Breivik mit diesem Gedanken aus Gründen der narzisstischen Selbstüberhöhung. Gegenüber den Gutachtern führte er Details besonders umfassend aus. Vielleicht spürte er ihr Interesse an diesem Thema (?). Er hat auf sich selbst bezogene Überlegenheitsvorstellungen, die er mit Ideen der Überlegenheit der nordischen Rasse oder jedenfalls von teileuropäischen, nicht muslimischen Rassen verbindet. Sein ideologisches Weltbild ist, gemessen an den typischen Typologien von Rechtsextremisten und religiösen Fanatikern, weder politisch noch religiös eindeutig. So sollen neben Christen auch Atheisten und Agnostiker, neben rechten Nationalisten auch Freunde Israels willkommen sein. Im Kern wendet er sich gegen Muslime, sieht sich auf dem Kreuzzug gegen diese und sieht seine Taten als Auftakt gegen die Islamisierung Europas, aber auch als Start für eine in mehrere Phasen aufgeteilte Revolution, die die Massen motivieren soll, seinem Beispiel zu folgen. Seine Hass- und Gewaltphantasien, die er als solche bestreitet, die aber in seinem Pamphlet außerordentlich deutlich im sogenannten dritten Buch ausgeführt werden, richten sich gegen Muslime, aber auch gegen Politiker, die diesen den Weg nach Europa ebneten, gegen Journalisten, die entsprechende Meinungen und Einstellungen verbreiteten, gegen Jugendliche insbesondere der sozialdemokratischen Parteien und letztlich gegen zahlreiche andere Menschen. Er teilt großspurig die ausgewählten Opfergruppen symbolisch in A- und B-Ziele ein, die zu treffen wahrscheinlich nicht gelänge, weil sie zu gut geschützt seien. C-Ziele seien Unterstützer, Regierungsangestellte und politische Jugendorganisationen. D-Ziele seien zum Beispiel Polizeibeamte, die an sich nicht attackiert werden sollten; wenn sie sich ihm bei der Durchführung seiner Taten in den Weg stellten, aber doch. Die Bevölkerung zu treffen, sei ein notwendiges Übel. Betrachtet man also seine Tötungsphantasien, bleibt kaum noch jemand übrig, den es zu schützen gilt. Diese generalisierte Hassmotivation findet man auch bei jugendlichen Amoktätern, die von der Überlegung, in der Schule gemobbt zu werden, zunächst Schüler (und zwar alle), dann Lehrer, dann die ganze abgelehnte Gesellschaft treffen wollen. Nennen sich solche Täter in ihren Tagebüchern und Abschiedsbriefen „Gott“, „natural selector“ und behaupten, „humanity is overrated“ und anderes mehr, drängen sich die Parallelen geradezu auf. Die Gemeinsamkeit liegt vor allem darin, dass sie nur in Ausnahmefällen psychotisch sind. Ihre überbordenden Gewalt- und Hassphantasien sind Ausdruck einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung verbunden mit dem Wunsch, zumindest für die Medien unsterblich zu werden. Ihre Handlungen sind in der Regel lange geplant, durchdacht und werden konsequent zu Ende geführt. Die Überlebenden geben keinen Anlass, von psychotischem Erleben auszugehen. Typisch für Amoktäter ist auch die Beschäftigung mit anderen Attentätern und früheren Amoktätern. Die Unabomber-
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Parallele stellt sich hier besonders interessant dar. Er erwähnt den Namen mit keinem Wort, übernimmt aber ganze Passagen, den Stil („wir“), phantasiert eine Gruppe herbei (Tempelritter/FC) und kopiert die Machart sowie das Verschicken des „Manifestes“. Beschreibt man Breivik phänomenologisch, fallen folgende Aspekte auf: Wenn man einen Wahn erkennen will, besteht dieser in der Idee, ein Tempelritter auf dem Kreuzzug zu sein, der Gleichgesinnte zum Handeln aufrufen kann. In seinen sonstige sozialen Beziehungen und Verhaltensweisen ist er nicht durchgehend wahnhaft/psychotisch. Allerdings finden sich paranoide Anteile, die aber auch durch soziale Isolation, Erleben in digitalen (Kampf-)Welten und Tatvorbereitungen erklärt werden können. Breivik sah sich seit Jahren von der Polizei und den Geheimdiensten verfolgt und abgehört (was nicht der Fall war), war zunehmend misstrauischer in sozialen Kontakten und hatte ausgeprägte soziale Ängste. Wie andere Amoktäter auch hatte er keine tragende partnerschaftliche Beziehung. Seinen letzten Sexualkontakt will er 2002 gehabt haben. Frauen und Feminismus lehnte er vehement ab. Das spricht eher für die fragile Männlichkeit einer selbstunsicheren, aber auch im Größenselbst überhöhten Person. Seine schon in der Kindheit vorhandene Angst vor Fremden hat sich in Muslimenhass gewandelt. Seine zwischenmenschlichen Beziehungen sind gestört, seit 2006 sogar extrem zugespitzt. Er hat sich zu einem Einzelgänger mit Grandiositätsvorstellungen entwickelt. Dissoziale Tendenzen waren schon in Kindheit und Jugend vorhanden, auch die Überhöhungen seiner selbst durch falsche Angaben, wie etwa Chef einer jugendlichen Hip-Hop-Gang gewesen zu sein. Im Erwachsenenalter verfolgte er fast ausschließlich illegale Beschäftigungen mit Betrug und Steuerhinterziehungen. Er nutzte seine Mutter aus und ließ sich jahrelang von ihr aushalten. Es fehlt ihm an Empathie und über seine Taten empfindet er keine Reue, gibt sich völlig unemotional, außer es geht um seine eigenen Bedürfnisse. Sein extremes Größenselbst wird in zahlreichen Selbstzeugnissen sichtbar. All’ das passt phänomenologisch zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung, nicht aber zu einer Psychose. Breivik hat aus dem Vollzug heraus zustimmende Briefe an Rechtsextremisten, etwa an die Beschuldigte des NSU, Zschäpe, geschrieben. Dies scheint als ein weiterer Versuch, die Aufmerksamkeit der Medien zu erlangen. Er übernimmt damit auch bereitwillig die Fremdzuschreibung der Medien als „Rechtsextremist“. Während die Literatur und Forschungsberichte über Gewalt mittlerweile kaum noch überschaubar sind, stellt sich dies für wissenschaftliche Betrachtungen von Tötungsdelikten und erst recht von Mehrfachtötungen als besonderer Ausprägung von Gewalt anders dar. Studien und Publikationen über Mehrfachtötungen von Einzeltätern sind recht selten. Die Veröffentlichungen finden sich dabei in unterschiedlichen inhaltlichen Kontexten (Tötungsdelikte, Mehrfachtötungen, Massentötungen, Amok, school shootings, aber auch Terrorismus, Hate Crimes und Extremismus im Zusammenhang mit sogenannten Lone-wolf-avenger-Phänomenen. Auch die Begrifflichkeiten für ähnliche oder gleiche Phänomene schwanken, so dass eine wissen-
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schaftlich unsichere Beurteilung von extremen Gewaltphänomenen durch Einzeltäter festzustellen ist. Im amerikanischen Sprachraum wird etwa das Wort „Amok“ gar nicht benutzt, der Begriff „school shooting“ wird zum Teil über den Wortsinn hinaus auch für Messer- und Sprengstoffattacken oder eine Kombination von Tatorten verwendet. Mehrfachtötungen werden unter den Begriffen multiple murder, multiple homicide, mass murder, serial murder, spree killing, extreme killing, massacres, overkill, hate crimes, rampage, terror, suicide terrorism, lone-wolf shooters oder lone-wolf avengers erfasst.10 Amoktaten, also Mehrfachtötungen, sind sehr seltene Ereignisse.11 Das Wort Amok ist eine falsche Bezeichnung für geplante, versuchte oder vollendete Mehrfachtötungen mit unklarem Motiv, hat sich aber im kollektiven Gedächtnis verankert. Jeder Schüler in Deutschland stellt sich heute unter „Amok“ ein Tötungsdelikt mit vielen potentiellen Opfern, begangen an seiner Schule, vor. Bei der Ursachenerklärung von „Amoktaten“ spielen mehrere Faktoren ein Rolle: Bei den jungen – fast ausschließlich männlichen – Tätern geht es um ein Zusammenspiel verschiedener Ursachen, bei dem sich als hervorstechende Besonderheit die Entwicklung einer narzisstisch gefärbten Persönlichkeitsstörung mit Selbst- und Fremdaggression herauskristallisiert. Die späteren Amokläufer zeigten nicht die typische Anhäufung von Risikomerkmalen, wie sie bei gewaltauffälligen, aggressiven Jungen vorhanden sind,12 d. h. sie waren in der Schule und unter Gleichaltrigen nicht mit impulsiven Störungen des Sozialverhaltens, Gewalt oder Aggressionen auffällig. Sie galten vielmehr als still, scheu, ängstlich und zogen sich zurück. Schwierigkeiten mit sozialen Kontakten, fehlende Zukunftspläne, empfundene Zurückweisungen und ausbleibende soziale Anerkennung führen über die Jahre zu Groll, Neid, Wut und Hass auf andere. Ein übermäßiges Interesse an Attentaten, Amokläufen und Massentötungen fiel bei jedem auf. Überschießende Rachebedürfnisse und Hass werden vor allem schriftlich in Tagebüchern und Aufzeichnungen niedergelegt. Als verstärkende Risikofaktoren für die spätere Tatausführung zeigten sich gedankliche Einengungen auf Hass und Rache sowie die langfristige Planung der konkreten Tatausführung. Die Verfügbarkeit von Schusswaffen und intensive Befassung mit gewalthaltigen Filmen und Computerspielen sowie entsprechender Musik und Musikvideos stellen sich als virtuelle Gewaltverstärker dar.
10 Fox/Levin (Fn. 3); Levin/Fox, Mass Murder, America’s Growing Menace, 1985; Levin/ McDevitt, Hate Crimes, The Rising Tide of Bigotry and Bloodshed, 1993; Holmes/Holmes (Fn. 3) 2010; Newman/Fox, Repeat Tragedy: Rampage Shootings in American High School and College Settings, 2002 – 2008, American Behavioral Scientist 2009; Newman/Fox/Harding/Mehta/Roth, Rampage, The Social Roots of School Shootings, 2004; Stern (Fn. 8); Merari, in: Yufit/Lester (Eds.), Suicidal Behavior, 2005, S. 431 ff. 11 Bannenberg, in: Hilgendorf/Rengier (Hrsg.), FS Heinz, 2012, S. 371 ff.; Bannenberg (Fn. 9); Bannenberg, „Amokläufe“ aus kriminologischer Sicht, Nervenheilkunde 7/8, 2010, S. 423 ff. 12 Lösel/Runkel, in: Schneider/Margraf (Hrsg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Band 3, 2009, S. 453 ff.
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1913 tötete der Hauptlehrer Ernst August Wagner 14 Menschen, darunter seine Frau Anna und die vier gemeinsamen Kinder sowie wenige Stunden später neun Einwohner der Gemeinde Mühlhausen in der Nähe Stuttgarts. Wagner selbst gab als Motivation seiner Tat an, dass er zwölf Jahre zuvor in Mühlhausen sodomitische Handlungen vorgenommen habe und deshalb von Einwohnern Mühlhausens und Radelstettens, wo er vor der Versetzung nach Degerloch von 1903 bis 1912 bis als Hauptlehrer tätig war, verhöhnt würde. Zeugenbefragungen im Anschluss an die Tat ergaben jedoch, dass niemand Kenntnis von den angeblichen sodomitischen Handlungen Wagners hatte.13 Die Gutachter Robert Gaupp, damaliger Direktor der Klinik für Gemüts- und Nervenkrankheiten der Universität Tübingen, und Robert Wollenberg attestierten Wagner eine „krankhafte Störung der Geistestätigkeit in Form eines Verfolgungswahns“, Wagner sei „paranoid-geisteskrank“.14 Somit stand schon bei einer der ersten Amoktaten in Deutschland die These der Geisteskrankheit als Ursache derartiger Massentötungen im Raum. Auch der 1964 in einer Schule in Köln-Volkhoven begangene Mordanschlag mittels eines selbst gefertigten Flammenwerfers durch einen 42-Jährigen auf eine willkürlich gewählte Grundschule (mit zehn getöteten und zahlreichen verletzten Personen) wird wesentlich auf eine psychische Erkrankung zurück geführt.15 Angesichts seltener Fälle und fehlender wissenschaftlicher Analysen kann diese These aber nicht verallgemeinert werden. In den 1980er Jahren begann eine wissenschaftliche Debatte über Hate Crimes (Hasskriminalität), man registrierte auch Mordtaten im öffentlichen Raum, denen zahlreiche Menschen zum Opfer fielen. Levin und Fox schrieben 198516 über Serienmorde und Massenmorde, die als ansteigend begriffen wurden und bei denen eine Täter-Opfer-Beziehung nicht zu erkennen war. Das kriminologische, wenn auch verschieden interpretierte Hate Crime Konzept (Hasskriminalität) betont weniger die emotionale Komponente des Hasses, sondern die Vorurteilskomponente, die einen Gruppenbezug herstellt. Diese Hassverbrechen werden als Botschaftsverbrechen gegen eine bestimmte Gruppe verstanden, deren Opfer willkürlich attackiert werden. Die Botschaft ist zwiegespalten: Potentiellen Opfern wird die Bedrohung signalisiert, der Tätergruppe oder den ideologisch Gleichgesinnten wird eine Aufforderungsbotschaft gesandt. In Zeiten hoher medialer Verbreitung von spektakulären Gewaltverbrechen und unter Möglichkeiten anonymer Radikalisierung im Internet werden diese Art Verbrechen zu einer besonderen Bedrohung. Die Medien nennen viele spektakuläre Tötungsdelikte Amoktaten. Eine systematische Untersuchung von Mehrfachtötungen fehlt bislang. Manche Fälle ähneln sich, so weit ein Einzeltäter 13
Neuzner/Brandstätter, Wagner. Lehrer, Dichter, Massenmörder, 1996. Gaupp, Zur Psychologie des Massenmords, Hauptlehrer Wagner von Degerloch, 1914; Neuauflage 1996. 15 Kiehne, Das Flammenwerferattentat in Köln-Volkhoven. Archiv für Kriminologie, 136. Band, 1965, S. 61 ff.; Peters, Das Herz der Stadt stand still. Das Flammenwerfer-Attentat von Köln-Volkhoven, 2004. 16 Levin/Fox (Fn. 10). 14
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aus Hass und Rache gegen eine Gruppe oder die ganze Gesellschaft handelt, sich aber im Geiste mit anderen Gleichgesinnten einig wähnt. Die Opfer sind dem Täter oft gänzlich unbekannt, es gibt aber auch Fälle, in denen bestimmte Personen gezielt getroffen werden sollen oder zumindest im Kreis der Attackierten zu finden sind. Oft scheinen die Täter Außenseiter und sozial isoliert zu sein. Waffenfaszination, Hassund Rachegedanken, extreme Feindbilder und lange dauernde Gewaltphantasien und Tatplanungen werden immer wieder beschrieben. An Partnerschaften oder tragenden menschlichen Beziehungen scheint es oft zu fehlen. An zufriedenstellenden beruflichen Tätigkeiten oder Ausbildungen fehlt es wohl ebenfalls häufig. Die Täter haben somit viel Zeit zum Entfalten ihrer kruden Gewaltphantasien. Das Vorliegen von psychischen Erkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen ist vielfach fraglich, wobei es wohl vor allem um Art und Ausmaß der psychopathologischen Störungen geht. Nachdem der Blick der Öffentlichkeit seit Taten wie in Columbine, Erfurt und Winnenden seit Ende der 1990er Jahre vor allem auf junge Täter gelenkt war, die an ihrer (ehemaligen) Schule mehrere Menschen töteten oder dies versuchten, sind spätestens seit den Taten von Anders Breivik und Mohammed M. in Toulouse auch erwachsene Täter in den Fokus gelangt. Die Taten Erwachsener sind jedoch bislang kaum erforscht. In der amerikanischen Forschung finden sich unter dem Stichwort „Multiple Murder“ Differenzierungen nach „Serial Murder“ (Unterbrechungen zwischen einzelnen Tötungen, viele Kategorien und Motive) und „Massacres“ Analysen, die verschiedene Phänomene abgrenzen.17 Letztere werden unterteilt nach Motiven (Liebe, Geld, Rache; Familienauslöschungen; Rache im beruflichen Kontext, Arbeitsplatz; Universitäten; gesellschaftlicher Groll und Attacken auf öffentliche Gebäude; Hass-Motivationen und paranoide Täter). Gesellschaftliche und kulturelle Einflüsse wie Medieneffekte sind ebenfalls zu beachten. Der Fall Breivik zeigt letztlich auch die Abgrenzungsprobleme zwischen Amoktaten/Massenmord und Terrorismus. Bei Selbstmordattentaten oder sonstigen gezielten Tötungen, denen eine terroristische Motivation zugeschrieben wird, handelt es sich um Mehrfachtötungen im öffentlichen Raum. Inwieweit die Motivationszuschreibung im Einzelfall gerechtfertigt ist, scheint fraglich. Richardson definiert Terrorismus als planmäßiges und gewaltsames Vorgehen gegen Zivilisten aus politischen Motiven, um eine Botschaft zu verkünden, wobei Tat und Opfer eine symbolische Bedeutung haben.18 Zwar wird Terrorismus zumeist verstanden als ein von Gruppen ausgehendes Phänomen, auch Selbstmordattentäter sind in der Regel in Gruppen integriert.19 Anders verhält es sich jedoch bei dem Phänomen des sog. „Lone wolf“ oder „Lone-wolf avenger“.20 Hierbei handelt es sich um Individuen, die alleine terroristische Ziele verfolgen, sei es aus persönlichen Gründen oder 17
Fox/Levin (Fn. 3). Richardson, Was Terroristen wollen – die Ursachen der Gewalt und wie wir sie bekämpfen können, 2007. 19 Richardson (Fn. 18). 20 Stern (Fn. 8). 18
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weil sie sich einer ideologischen Gruppe angehörig fühlen.21 Hier verschwimmen – wie bei Breivik – wissenschaftliche Kategorien. Quellen Oslo Tingrett vom 24. 8. 2012, 11-188627MED-OTIR/05; Urteil gegen Anders Behring Breivik vom 24. 8. 2012 (norwegisch). Forensic Psychiatric Statement in der Sache Breivik vom 29. 11. 2011 nach Auftrag vom 28. Juli 2011; Torgeir Husby und Synne Sørheim (1. Psychiatrisches Gutachten; norwegisch und englisch). Rettspsykiatrisk erklaering til Oslo tingrett vom 10. 4. 2012 nach Auftrag vom 13. 1. 2012, Sak nr. 11-188627 MED-OTIR/05; Terje Tørrissen/Agnar Aspaas (2. Psychiatrisches Gutachten; norwegisch)
21
Pantucci (Fn. 8).
Strafbarkeit, Verfolgbarkeit und Bestrafbarkeit im Jugendstrafrecht Von Bernd-Rüdeger Sonnen
I. Problemstellung Ausgehend von der Kritik an einem überalterten Strafrechtssystem, das eine feste Grenze zwischen Strafbarkeit und Straflosigkeit nicht mehr zu ziehen vermag, und der Konzeptionslosigkeit des Gesetzes hat Jürgen Wolter, dem dieser Beitrag gewidmet ist, ein ganzheitliches Straftat-, Strafprozess- und Strafzumessungssystem entwickelt, und zwar „ausnahmsweise“ von den Ausschlussgründen her (Tatbestandsausschluss-, Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs- und Strafausschlussgründe).1 Sein Erkenntnisinteresse liegt in der systematischen Ordnung der Ausschlussgründe mit der Frage, inwieweit sie sich in das Strafprozesssystem (fakultative Verfahrenseinstellung) und/oder das Strafzumessungssystem (fakultatives Absehen oder Mildern von Strafe) „verlängern“ lassen.2 Diese Problematik stellt sich auch im Jugendstrafrecht, und es ist deswegen reizvoll, das ganzheitliche Strafrechtssystem auf seine jugendkriminalrechtliche Tragfähigkeit hin zu prüfen, freilich nicht auf die dogmatische Systematisierung beschränkt, sondern verbunden mit der Klärung einzelner Streitfragen und Hinweisen zu Gesetzesänderungen.
II. Das ganzheitliche Strafrechtssystem aus der „gegenläufigen, negativen Perspektive“ bei Jürgen Wolter3 1. (Fehlende) materielle Strafbarkeit und materiell-rechtliche Ausschlussgründe bezüglich der a) Strafwürdigkeit des verschuldeten Unrechts (Bestrafungsmöglichkeit), b) Strafbedürftigkeit des verschuldeten Unrechts (Bestrafungsnotwendigkeit), c) „Strafbarkeit“ des verschuldeten Unrechts (Bestrafungsbefugnis). 1
Wolter, Zur Dogmatik und Rangfolge von materiellen Ausschlussgründen, Verfahrenseinstellung, Absehen und Mildern von Strafe, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozess im gesamten Strafrechtssystem, 1996, S. 1 – 42. 2 Wolter (Fn. 1), S. 2. 3 Wolter (Fn. 1), S. 41 f.
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2. (Fehlende) Verfolgbarkeit und strafprozessrechtliche Ausschlussgründe im Sinne von a) obligatorischen verfassungsrechtlichen Strafverfolgungsverboten und Prozesshindernissen, b) fakultativer Verfahrenseinstellung. 3. (Fehlende) Bestrafbarkeit und strafzumessungsrechtliche Ausschlussgründe bzw. Einschränkungen im Sinne von a) (regelmäßig) fakultativem Absehen von Strafe (vgl. aber § 60 StGB), b) fakultativem Mildern von Strafe (§ 49 I, II StGB). In diesem ganzheitlichen Strafrechtssystem mit der Rangfolge materieller Ausschlussgründe – Verfahrenseinstellung – Absehen und Mildern von Strafe werden mit den §§ 60, 49 StGB auch Vorschriften genannt, deren unmittelbare Anwendung im Jugendstrafrecht im Hinblick auf § 2 Abs. 2 JGG zumindest umstritten ist. Hinzu kommt, dass das JGG als Sonderstrafrecht ein eigenes Rechtsfolgesystem enthält und Besonderheiten in der Jugendgerichtsverfassung sowie im Verfahren aufweist, bei den Straftatvoraussetzungen aber (bis auf § 3 JGG) an die allgemeinen Vorschriften des StGB und des Nebenstrafrechts (z. B. BtMG) anknüpft, § 1 Abs. 1 JGG.
III. Die drei Deliktsstufen der Strafwürdigkeit, Strafbedürftigkeit und Strafbarkeit 1. Strafwürdigkeit (Bestrafungsmöglichkeit als 1. Deliktsstufe)4 Strafrecht dient (nach eigener Formulierung) der Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Minimalspielregeln, ohne die wir miteinander nicht leben und auskommen können. Dabei liegt der Akzent auf den minimalen und damit elementaren Regeln. Strafrecht darf nur zum Schutz besonders wichtiger Rechtsgüter eingesetzt werden und auch nur dann, wenn die Angriffshandlungen gegen das geschützte Rechtsgut die Bestandskraft und die Funktionsfähigkeit des gesellschaftlichen Zusammenlebens aufheben oder in unerträglicher Weise beeinträchtigen würden. Diese Kriterien der Strafwürdigkeit sind aus der Idee der Gerechtigkeit und der Verfassung entwickelt. Dementsprechend sind Strafrechtsausschlussgründe bei erlaubten bzw. sozial akzeptierten Risiken und Erfolgen gegeben bzw. auch dann, wenn die Handlungen im Hinblick auf das jeweils geschützte Rechtsgut nicht von einiger Erheblichkeit sind (so die Formulierung in § 184g Nr. 1 StGB). Bei den im Jugendbereich nicht gerade seltenen Widerstandshandlungen und Fällen des Landfriedensbruches gelten die Ausschließungsgründe in den §§ 113 Abs. 3 und 125 Abs. 2 StGB. In den systema4
Jeweils in der Terminologie von Wolter (Fn. 1), S. 4 und S. 12.
Strafbarkeit, Verfolgbarkeit und Bestrafbarkeit im Jugendstrafrecht
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tischen Zusammenhang mit einem verfassungsrechtlichen Strafrechtsausschlussgrund gehört auch der Umgang mit Cannabis in geringen Mengen zum Eigenverbrauch „im Vorfeld und als Alternative zur Entkriminalisierung“.5 De lege ferenda sollte das JGG um folgende Vorschrift ergänzt werden: „Eine Handlung ist nicht strafbar, wenn sie keine oder nur geringfügige Schäden oder Gefährdungen verursacht hat und die Schuld des Täters gering ist“.6
Eine teils mit § 3 JGG vergleichbare, aber mit anderen Aspekten der Strafbarkeit gekoppelte Vorschrift enthält das österreichische Jugendgerichtsgesetz in § 4 öJGG: (1) Unmündige, die eine mit Strafe bedrohte Handlung begehen, sind nicht strafbar. (2) Ein Jugendlicher, der eine mit Strafe bedrohte Handlung begeht, ist nicht strafbar, wenn 1. er aus bestimmten Gründen noch nicht reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, oder 2. er vor Vollendung des sechzehnten Lebensjahres ein Vergehen begeht, ihn kein schwereres Verschulden trifft und nicht aus besonderen Gründen die Anwendung des Jugendstrafrechts geboten ist, um den Jugendlichen von strafbaren Handlungen abzuhalten.
Der vergleichbare Strafrechtsausschlussgrund ist in § 4 Abs. 2 öJGG verankert, auch wenn die Bestimmung eher einen Kompromiss in der Diskussion um die Anhebung des Strafmündigkeitsalters auf 16 Jahre darstellt. § 4 Abs. 1 öJGG ist wie § 19 StGB ein Schuldausschließungsgrund.7 Die mangelnde Reife i. S. v. § 4 Abs. 2 Nr. 1 öJGG wird als persönlicher materieller Strafausschließungsgrund angesehen und erfordert „eine Entwicklungshemmung außergewöhnlichen Grades“8, zu prüfen bei konkreten Anhaltspunkten im Einzelfall. Demgegenüber ist die strafrechtliche Verantwortlichkeit Jugendlicher nach § 3 JGG unter Bezug auf die sittliche und geistige Entwicklung zum Tatzeitpunkt stets zu prüfen und positiv festzustellen, eine Forderung, der die Praxis nur unvollkommen (meist mit formelhafter Begründung) gerecht wird.9 Deswegen hat die 1. Jugendstrafrechtsreform-Kommission der DVJJ eine klarstellende Formulierung von § 3 JGG vorgeschlagen.10 (1) Die strafrechtliche Verantwortlichkeit junger Menschen ist in jedem Einzelfall festzustellen. Die Annahme der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist zu begründen.
5 Wolter, GA 1996, 228 ff. gegen BVerfGE 90, 145 („obligatorische Verfahrenseinstellung“) und mit der Begründung einer eigenständigen Kategorie „Straftatsausschlussgründe“ (keine oder absolut nachrangige Rechtsgutsbeeinträchtigung). 6 2. Jugendstrafrechtsreform-Kommission der DVJJ, 2002, S. 25. 7 NK-StGB-Schild, 3. Aufl. 2010, § 19 Rn. 7; a.A. HK-JGG-Diemer, 6. Aufl. 2011, § 3 Rn. 2: Verfahrensvoraussetzung. 8 Jesionek/Edwards, Das österreichische Jugendgerichtsgesetz, 2010, § 4 Rn. 19. 9 Deutliche Kritik bei Ostendorf, NK-JGG, 2011. Grundl. zu § 3 Rn. 4 und Albrecht, Jugendstrafrecht, 2000, S. 99 sowie Ostendorf, Jugendstrafrecht, 8. Aufl. 2011, S. 78. 10 DVJJ-Journal 1 – 2/1992, 12.
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(2) Ein Jugendlicher ist nur dann strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat in der Lage war, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Die Einsichtsfähigkeit ist in der Regel ausgeschlossen, wenn die strafbare Handlung Rechtsgüter verletzt oder gefährdet, die von der jugendlichen Erfahrungswelt nicht umfasst wird oder wenn sie lediglich Ausdruck einer spielerischen Einstellung ist. Soweit der Jugendliche die Tat unter dem beherrschenden Einfluss anderer oder in einer Konfliktsituation begangen hat, kann die Handlungsfähigkeit ausgeschlossen sein.
Wird die strafrechtliche Verantwortlichkeit verneint, ist der Angeklagte in der Hauptverhandlung entweder freizusprechen oder das Verfahren gem. § 47 Abs. 1 Nr. 4 JGG einzustellen. In der Praxis wird in erster Linie die (in das Erziehungsregister gem. § 60 Abs. 1 Nr. 7 BZRG einzutragende) Einstellungsmöglichkeit genutzt, weil ein Freispruch (zu Unrecht) als erzieherisch problematisch angesehen wird. Mit den Worten von Jürgen Wolter „verlängert“ sich damit die materielle Straffreiheit in das Strafprozesssystem. 2. Strafbedürftigkeit (Bestrafungsnotwendigkeit als 2. Deliktsstufe) Während die 1. Deliktsstufe die Ebenen von Unrecht (Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit) und Schuld betrifft, geht es in der 2. Deliktsstufe um „Verantwortlichkeit“ mit der Frage nach Verantwortungsausschließungs- und Verantwortungsaufhebungsgründen, bei deren Vorliegen eine „präventive Bestrafungsnotwendigkeit“ entfällt.11 Beispiele mit Bezügen zur Jugendkriminalität sind Grenzfälle von Demonstrationsdelikten und zivilem Ungehorsam, die wegen ihrer „Grundrechtsnähe“ zu einem „persönlichen verfassungsrechtlichen Verantwortungsausschließungsgrund auf der 2. Deliktsstufe“ führen können.12 Klassischer Verantwortungsaufhebungsgrund ist der strafbefreiende Rücktritt vom Versuch (§§ 24, 31 StGB). 3. Strafbarkeit (Bestrafungsbefugnis als 3. Deliktsstufe) Auf dieser Stufe wird über die Strafbarkeit und damit über die staatliche Bestrafungsbefugnis endgültig entschieden unter Berücksichtigung, dass erforderliche objektive Bedingungen der Strafbarkeit gegeben sind und Strafausschließungsgründe bzw. Strafaufhebungsgründe fehlen. Im Zusammenhang mit der Gewaltkriminalität Jugendlicher und Heranwachsender erlangt die objektive Bedingung (Tod oder schwere Körperverletzung) bei der Beteiligung an einer Schlägerei (beispielsweise im oder außerhalb eines Fußballstadions) ebenso praktische Bedeutung wie die Ausnahme von der Strafbarkeit nach § 231 Abs. 2 StGB.
11 12
Wolter (Fn. 1), S. 4. Wolter (Fn. 1), S. 13.
Strafbarkeit, Verfolgbarkeit und Bestrafbarkeit im Jugendstrafrecht
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Jürgen Wolter bezeichnet die 3. Deliktsstufe als „rechtspolitische Zuschreibung“.13 Aus außerstrafrechtlichen, und zwar allgemein rechtspolitischen Interessen, oder zu besonderen verfassungsrechtlichen bzw. verfahrensrechtspolitischen Zwecken entfalle die Bestrafungsbefugnis wie z. B. bei § 104a StGB (Voraussetzung der Strafverfolgung) aus außenpolitischen – bei § 283 Abs. 6 StGB (Strafbarkeitsbedingung bei Bankrott) aus wirtschaftspolitischen – bei § 36 (Indemnität parlamentarischer Äußerungen aus parlamentspolitischen – oder bei § 173 Abs. 3 StGB (Privilegierung Minderjähriger bei Beischlaf zwischen Verwandten) aus familienpolitischen Gesichtspunkten.
IV. Verfolgbarkeit und strafprozessrechtliche Ausschlussgründe In dem von Wolter vertretenen ganzheitlichen Strafrechtssystem wird nach der materiellen Strafbarkeit weiter nach prozessualer Verfolgbarkeit (z. B. §§ 153 StPO) und „strafbemessender“ Bestrafbarkeit (beispielsweise Absehen von Strafe, dazu unter V.) unterschieden, und zwar in der gewichteten Reihenfolge „materielle Ausschlussgründe – Verfahrenseinstellung – Strafzumessung“. Wenn also ein Ausschlussgrund auf den Ebenen des Strafrechts (Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit), der Tatbestandsmäßigkeit, der Rechtswidrigkeit, der Schuld oder der sonstigen Voraussetzungen (bzw. bei einem geringen Grad schuldhaften Unrechts) nicht vollkommen (ganz) gegeben ist, kommt eine Einstellung des Verfahrens oder ein Absehen oder Mildern von Strafe in Betracht. Die Auseinandersetzung mit dem Ausschlussgrund verlagert („verlängert“) sich in das Strafverfahrens- bzw. Strafzumessungssystem.14 Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass das inhaltliche Kriterium des strafwürdigen und strafbedürftigen schuldhaften Unrechts und der Strafausschließungsgründe sich im Prozessrecht wiederfinden,15 beispielsweise der Schuldaspekt in § 153 StPO. Wolter unterscheidet dabei die obligatorischen verfassungsrechtlichen Strafverfolgungsverbote (z. B. bei einem tatkomplexfernen Verstoß gegen die Menschenwürde, allerdings nur „punktueller Natur“) und Prozesshindernisse von der fakultativen Verfahrenseinstellung nach den §§ 153, 153a StPO.16 13
Wolter (Fn. 1), S. 4 f. Dazu Frisch, Straftat und Straftatsystem, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozess im gesamten Strafrechtssystem, 1996, S. 135, 160 mit deutlicher Kritik an dem „Band“, mit dem Wolter die Sachverhalte auf der 3. Deliktsstufe miteinander verknüpft (rechtspolitisch, außerstrafrechtlich). In Wahrheit gehe es hier um die Inadäquität der Bestrafung, also um Fragen von Strafwürdigkeit und Bedürftigkeit (S. 161). 14 Wolter (Fn. 1), S. 12 f. – Kritik bei Frisch (Fn. 13), S. 203: „Begriffsvertauschung“; nach Bejahung von Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit: „Welche Gründe“ will man für einen Strafverzicht benennen? Habe bei Wolter „keine überzeugende Antwort“ gefunden. 15 Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 23 Rn. 60. 16 Wolter (Fn. 1), S. 27.
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Umstritten ist, ob diese Vorschriften im Jugendstrafverfahren überhaupt anwendbar oder aber gem. § 2 Abs. 2 JGG durch die Vorschriften über das Absehen von der Verfolgung nach § 45 JGG bzw. über die Einstellung des Verfahrens durch den Richter nach § 47 JGG ausgeschlossen sind. Auf der ersten Diversionsstufe (der informellen Erledigung) nimmt § 45 Abs. 1 JGG ausdrücklich Bezug auf § 153 StPO, der als „voll erfasst“ und damit auf Jugendliche und (nach Jugendstrafrecht beurteilte) Heranwachsende nicht anwendbar gilt, ebenso wenig wie § 153a StPO im Verhältnis zu § 45 Abs. 2 und 3 JGG.17 Folgenorientiert kann dieses Position jedoch nicht überzeugen. Die informelle Erledigung gem. § 45 Abs. 1 JGG wird in das Erziehungsregister eingetragen (§ 60 Abs. 1 Nr. 7 BZRG), während die §§ 153, 153a StPO keine registerrechtlichen Folgen nach dem BZRG haben (und nur in dem länderübergreifenden staatsanwaltlichen Verfahrensregister beim Bundesamt für Justiz gem. § 492 Abs. 2 Nr. 5 StPO eingetragen sind). Nach dem Verbot der Schlechterstellung von Jugendlichen und Heranwachsenden in vergleichbaren Verfahrenssituationen, bleiben die §§ 153, 153a StPO auch im Jugendstrafverfahren (vorrangig) anwendbar.18 Jugendstrafrechtspolitisch wäre eine grundsätzliche Klarstellung etwa in der Form wünschenswert: „Durch die Anwendung strafrechtlicher Vorschriften darf der Jugendliche nicht schlechter gestellt werden, als er bei Anwendung der allgemeinen Vorschriften stünde (Grundsatz der Nichtschlechterstellung).“19
Hintergrund für diesen Grundsatz ist u. a. der empirische Befund, dass im allgemeinen Strafverfahren jede zweite Einstellung folgenlos erfolgt (§§ 153, 153b StPO), im Jugendstrafrecht dagegen überwiegend verbunden mit erzieherischen Maßnahmen. Aus der Perspektive von Jürgen Wolter ist § 153 StPO die Verlängerung der 1. Deliktsstufe (Strafwürdigkeit, geringe Schuld) und § 153a StPO der 2. Deliktsstufe (Strafbedürftigkeit, Beseitigung des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung).
V. Bestrafbarkeit und strafzumessungsrechtliche Ausschlussgründe und Einschränkungen Dabei geht es um die Dogmatik und Systematik des Absehens von Strafe in Abgrenzung von Verfahrenseinstellung und Strafmilderung, wie Wolter diesen Ab17 HK-JGG-Diemer, § 45 Rn. 9 (die Gegenmeinung führe zu einer beliebigen Rechtsanwendung und widerspreche der Rechtssystematik und der Rechtssicherheit). 18 Albrecht, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2000, S. 132; Laubenthal/Baier/Nestler, Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 2010, Rn. 307; Ostendorf, Jugendstrafrecht, 6. Aufl. 2011, Rn. 109; Streng, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 191. 19 2. Jugendstrafrechtsreform-Kommission der DVJJ, 2002, 20: § 2a Abs. 4 JGG (Grundsätze des Jugendstrafverfahrens); Bedenken bei Böhm/Feuerhelm, Einführung in das Jugendstrafrecht, 4. Aufl. 2004, S. 171; Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, 14. Aufl. 2002, S. 194.
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schnitt überschreibt, in dem er dem Gesetzgeber Kontur- und Konzeptionslosigkeit und mangelnde „systematische Kraft“ vorhält.20 Es gelingt ihm, die gesetzlich festgelegten Fälle des Absehens von Strafe auf geringeres Unrecht, geringere Schuld oder die Kombination beider Aspekte von der Ebene der Strafwürdigkeit ausgehend in den Rechtsfolgenbereich hinein zu verlängern und zu systematisieren, fakultatives Absehen von Strafe und fakultative Strafmilderung entsprechend abzugrenzen (Vorrang des Absehens der Strafe) und das Verhältnis von fakultativem Absehen von Strafe und fakultativer Verfahrenseinstellung zu Gunsten der tätergünstigeren Einstellung (regelmäßig) ohne Rechtsfolgen zu klären. In den Fällen, in denen das Gericht von Strafe absehen könnte, kann nach § 153b StPO, der auch im Jugendstrafrecht gilt, von Klage abgesehen oder nach Anklage das Verfahren eingestellt werden. Ein Anwendungsfall dafür ist § 60 StGB, der ein obligatorisches Absehen von Strafe vorsieht, wenn die Folgen der Tat den Täter schwer getroffen haben, so dass eine Strafe (Zeitgrenze ein Jahr) offensichtlich verfehlt wäre. Ob § 60 StGB auch im Jugendstrafrecht gilt, ist nicht ganz unumstritten. Nach dem aus verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzipien (Verhältnismäßigkeit, nicht Art. 3 GG) hergeleiteten Schlechterstellungsverbot gilt § 60 StGB auch bei Jugendstrafe von Jugendlichen und Heranwachsenden (Zeitgrenze ein Jahr Jugendstrafe), und zwar auch bei einem weit verstandenen Begriff von „Strafe“ für Zuchtmittel und Erziehungsmaßregeln.21 Wegen des anders als bei Zuchtmitteln fehlenden Ahndungscharakters wird die Einbeziehung der Erziehungsmaßregeln z. T. abgelehnt.22 Streng argumentiert mit der fehlenden Ahndungsfunktion und der aus § 5 Abs. 3 JGG abgeleiteten Begründung, dass „Ahndungssurrogate“ immer nur mit Zuchtmitteln und Jugendstrafe „verrechenbar“ seien. Sieht man jedoch (wie hier in Anlehnung an die Systematisierung bei Wolter) als Hintergrund von § 60 StGB die fehlende Strafbedürftigkeit/Bestrafungsnotwendigkeit, dann ist die Einbeziehung der Erziehungsmaßregeln nur konsequent. Schwierigkeiten bereitet eine systematisch überzeugende Abgrenzung zwischen dem fakultativen Absehen von Strafe und fakultativer Strafmilderung (beispielsweise bei § 23 Abs. 3 StGB) in Fällen, in denen Ausschlussgründe fast ganz, nahezu vollständig erfüllt sind. Hierfür entwickelt Wolter eine Rangfolge, die die materiellen Ausschlussgründe in den Strafbemessungsbereich „verlängert“: So ist ein Absehen von Strafe vorrangig bei einem geringen Unrechtsgehalt (im Bereich des Erfolgsund/oder des (tat- oder täterbezogenen) Handlungsunrechts sowie bei geringer Schuld.23 Deutlich wird eine Orientierung der Strafbemessung an den Wertungsstu20
Wolter (Fn. 1), S. 33. BayOLG NJW 1992, 1520. 22 Bringewat, NStZ 1992, 315, 318; Streng, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 258. 23 Wolter (Fn. 1), S. 36. Bei Prozessverstößen, die in den Wesensgehalt von Freiheitsrechten eingreifen, hat das Absehen von Strafe den Vorrang vor weniger einschneidenden Verletzungen, die sich erst nach Abwägung zwischen Grundrechten und Interessen der Strafrechtspflege als unverhältnismäßig erweisen (dann Strafmilderung). 21
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fen der Straftat, allerdings nicht mit der Frage nach dem „ob“, sondern nach dem „wie schwer“.24 Allerdings gelten gem. § 18 Abs. 1 S. 3 JGG die Strafrahmen des allgemeinen Strafrechts und die Strafrahmenänderungen (benannte obligatorische Strafänderungsgründe, besonders schwere oder minder schwere Fälle einschließlich der Regelbeispiele, benannte fakultative Strafänderungsgründe) ausdrücklich nicht. Weil der Gesetzgeber in den unterschiedlichen Strafrahmen und den vorgesehenen Strafschärfungen und Strafmilderungen aber grundsätzliche Bewertungen des Tatunrechts vorgenommen hat, dürfen sie auch im Jugendstrafrecht nicht ganz unbeachtet bleiben: Sie haben mittelbar Bedeutung auch beim einheitlichen Strafrahmen von 6 Monaten bis zu 5 bzw. 10 Jahren Jugendstrafe.25 Dabei ist sowohl die Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen als auch wegen der Schwere der Schuld so zu bemessen, dass die erforderliche erzieherische Einwirkung möglich ist, § 18 Abs. 2 JGG. Deutlich wird das Spannungsverhältnis zwischen Erziehung und Schwere der Schuld. Die Rechtsprechung des BGH hat insoweit einen Harmonisierungsversuch vorgenommen: Nach BGHSt 15, 224, 225 ist hier zwar der Erziehungsaspekt durchbrochen, aber die Schuldstrafe solle in erster Linie dem Jugendlichen dienen und seine Sühnebereitschaft durch Vorhalt des Unrechts wecken. Noch deutlicher wird in BGHSt 16, 261, 263 betont, dass eine Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld nur verhängt werden dürfe, wenn sie aus erzieherischen Gründen erforderlich ist. Auch in der jüngsten Entscheidung bleibt der BGH bei seinem restriktiven Verständnis der „Schwere der Schuld“, dass die Höhe der verhängten Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld vorrangig nach erzieherischen Gesichtspunkten zu bemessen ist.26 In jedem Fall müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass dem Erziehungsgedanken die ihm gebührende Beachtung geschenkt worden ist (st. Rspr.). Mit dieser Begründung hat der BGH das Urteil des LG Hamburg vom 2. 12. 2010 im sog. 20Cent-Fall im Strafausspruch über die Höhe der Jugendstrafe aufgehoben.27 Die Jugendkammer hatte den Angeklagten wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Jugendstrafe von 3 Jahren und 4 Monaten verurteilt. Der BGH bestätigt den Schuldspruch und billigt trotz nur einfacher Fahrlässigkeit der 24
Auch für Frisch (Fn. 13), S. 199 ist die Dogmatik der Strafzumessung nur eine Weiterführung und Ausdifferenzierung der Überlegungen zur Straftat. Vgl. auch Sonnen, Systematisierung der Strafzumessung, in: FS für Puppe, 2011, S. 1007 – 1015. 25 Obergrenze von 15 Jahren bei Mord mit „besonderer Schwere der Schuld“ von Heranwachsenden, auf die Jugendstrafrecht angewandt wird (Gesetz zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten 2012). 26 BGH StraFo 2011, 412. 27 Der Angeklagte hatte unter Billigung der vorausgegangenen Provokation (Forderung von 20 Cent) durch den Mitangeklagten den Geschädigten selbst nochmals provoziert, um ihn körperlich misshandeln zu können. Er versetzte dem alkoholisierten 44-Jährigen einen Faustschlag ins Gesicht, so dass dem Opfer ein Zahn abbrach und er ohne jede Abwehrreaktion und Abfangbewegung mit dem Hinterkopf auf dem Boden aufschlug und verstarb. Der Fall hat Öffentlichkeit und Medien intensiv beschäftigt und die Forderung nach mehr Härte im Umgang mit jugendlicher Gewaltkriminalität bestärkt.
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Tatfolge auch „mit Blick auf ein in der Tat zum Ausdruck kommendes beträchtliches Maß an Pflichtwidrigkeit Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld“.28 Allerdings entbinde eine Orientierung an den Bewertungen in den gesetzlichen Regelungen des allgemeinen Strafrechts das Tatgericht nicht davon, „bei der Bemessung der Jugendstrafe die Schwere des Tatunrechts gegen die Folgen der Strafe für die weitere Entwicklung des Jugendlichen abzuwägen (BGHR JGG § 18 Abs. 2 Erziehung 3 und 8)“. Der BGH vermisst eine eingehende Erörterung, ob und inwieweit die festgestellte „Störung des Selbstwertgefühls“ die Verbüßung einer längeren Jugendstrafe erforderlich mache. Das LG hätte außerdem die erzieherischen Wirkungen der achtmonatigen Untersuchungshaft des zuvor nicht bestraften Angeklagten, der in der Haft eine Ausbildung begonnen hat, ebenso berücksichtigen sollen wie die intakte familiäre Einbindung sowie Besonderheiten in der Tatsituation (spontaner Tatentschluss, alkoholische Enthemmung und jugendtypische Solidarisierung mit dem Mitangeklagten sowie ungewöhnlicher Kausalzusammenhang, Ausnahmecharakter der Tat). In der neuen Verhandlung ist der Angeklagte von einer anderen Kammer der LG Hamburg am 6. 12. 2011 zu einer Jugendstrafe von 2 Jahren mit Bewährung verurteilt und ihm ist auferlegt worden, an einem sozialen Trainingskurs „zur Verbesserung sozialer Kompetenz“ teilzunehmen. Wenn mit der Rechtsprechung des BGH einerseits die Wertungen des allgemeinen Strafrechts zu berücksichtigen sind und andererseits der Erziehungsgedanke zu betonen ist, folgt daraus, dass das allgemeine Strafzumessungsprogramm auch im Jugendstrafrecht (wenn auch nur zweitrangig) gilt und insoweit Schuld i. S. von § 17 JGG als subjektive Vorwerfbarkeit des verschuldeten Unrechts zu verstehen ist und damit auf die von Wolter genannten Ausschlussgründe insbesondere in Fällen, bei denen sie nicht ganz bzw. vollständig erfüllt sind, eine durchaus praktische Bedeutung erlangen. Beispielhaft kann hier auf das Strafbemessungsprogramm im Jugendstrafrecht von Ostendorf hingewiesen werden, der als Bemessungskriterien die Verhältnismäßigkeit von Straftat und Sanktion, die Geeignetheit, die Notwendigkeit und Angemessenheit für entscheidend hält.29 Insgesamt sind bei der Bestimmung der Dauer der Jugendstrafe drei unterschiedliche Prinzipien maßgebend. Dabei bilden Erziehungs-, Schuld- und Verhältnismäßigkeitsprinzip ein (von mir so genanntes) Dreieckssystem wechselseitiger Kontrolle und Begrenzung. Die einzelnen Elemente sind vergangenheitsbezogen (Schuld), zukunftsorientiert (Erziehung), Vergangenheit und Zukunft gegenwärtig verbindend (Verhältnismäßigkeit) sowie tatorientiert (Schuld), täterorientiert (Erziehung) und beide verbindend (Verhältnismäßigkeit von Tat und Sanktion). In diesem System hat zwar der Erziehungsgedanke die Spitzenposition inne, wird aber gleichsam „gebändigt“ durch die rechtsstaatlich gebotene Einbindung. In dieser Einbindung bleibt der Erziehungsaspekt Garant für jugendge28 Kritik bei Baumhöferer, Schwere der Schuld i. S. d. § 17 Abs. 2 JGG bei erfolgsqualifizierten Delikten, ZJJ 4/2011, 428 – 431. 29 Ostendorf, JGG, 8. Aufl. 2009, § 18 Rn. 4 – 14.
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mäße Reaktionsformen mit dem Ziel einer Besserstellung (oder wenigstens einer Nicht-Schlechterstellung) gegenüber straffällig gewordenen Erwachsenen.30 Begrenzungen ergeben sich vor allem in Form eines Schuld-Überschreitungsverbots, während die Schulduntergrenze aus erzieherischen Gründen unterschritten werden darf.31 Das ist auch international anerkannt. So heißt es in den Europäischen Grundsätzen für die Sanktionen und Maßnahmen für die von Sanktionen und Maßnahmen betroffenen jugendlichen Straftäter und Straftäterinnen (Rec (2008) 11 unter Punkt A 5: „Die Verhängung und die Durchführung von Sanktionen oder Maßnahmen muss dem Wohl der Jugendlichen dienen, durch die Schwere der Straftat begrenzt sein (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) und das Alter, die körperliche und geistige Gesundheit, den Reifegrad, die Fähigkeiten und die persönliche Situation berücksichtigen (Grundsatz der Individualisierung)“.
VI. Formulierungsvorschlag für ein ganzheitliches Jugendstrafrechtssystem (DVJJ) Nach § 2 JGG wird folgender § 2a eingefügt: (1) § 2a [Grundsätze des Jugendstrafverfahrens] (2) Der Jugendliche ist bei der Bestimmung von Rechtsfolgen zu beteiligen (Grundsatz der Beteiligung). (3) Bei der Festlegung der Rechtsfolgen gilt der Vorrang der Angebote der Jugendhilfe. Informelle Verfahrenserledigungen haben Vorrang vor formellen, ambulante Maßnahmen haben Vorrang vor freiheitsentziehenden Sanktionen (Grundsatz der Subsidiarität). (4) Die von den Beteiligten gewünschte Schlichtung und der Täter-Opfer-Ausgleich außerhalb der Hauptverhandlung, aber auch das einseitige Bemühen des Täters um Schuldund Schadensausgleich werden in jedem Verfahrensstadium gefördert und im Rahmen des Jugendstrafverfahrens berücksichtigt (Grundsatz des Vorrangs der außergerichtlichen Konfliktregelung). (5) Durch die Anwendung strafrechtlicher Vorschriften darf der Jugendliche nicht schlechter gestellt werden, als er bei Anwendung der allgemeinen Vorschriften stünde (Grundsatz der Nichtschlechterstellung). (6) Das Verfahren und die festgelegten Rechtsfolgen dürfen die soziale Integration des Jugendlichen nicht behindern oder beeinträchtigen und sollen geeignet sein, soweit vorhanden, Nachteile auszugleichen (Grundsatz der Kompensation). (7) Im Jugendstrafverfahren gilt das Beschleunigungsgebot in besonderer Weise. Behördeninterne Verfahrensabläufe sind so zügig wie möglich zu gestalten. Bei der Gestaltung des Verfahrensablaufs ist die persönliche Lebenssituation des Jugendlichen zu berücksichtigen. 30 31
HK-JGG-Sonnen, 6. Aufl. 2011, § 18 Rn. 9. Vgl. Streng, Jugendstrafrecht, Rn. 439 – 464.
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Seine Verteidigungsrechte dürfen durch beschleunigte Verfahrensabläufe nicht beschnitten werden (Grundsatz der Beschleunigung). (8) Alle Verfahrensbeteiligten des Jugendstrafverfahrens müssen fachlich in besonderer Weise qualifiziert sein (Grundsatz der Fachlichkeit).
Die Grundsätze 2 und 3 betreffen die Bestrafungsnotwendigkeit (Strafbedürftigkeit), 4 bezieht sich ebenso wie 6 auf die Verfolgbarkeit und 5 auf die Bestrafbarkeit. International sind diese Grundsätze in den „European Rules for juvenile offenders subject to sanctions or measures“, Recommendation CM/Rec (2008) 11 anerkannt. In diesen Empfehlungen vom 5. November 2008 sind als tragende Prinzipien der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und Individualisierung, der Grundsatz des geringsten Eingriffs und der Nichtdiskriminierung ebenso hervorgehoben wie die Förderung der Mediation und anderer Maßnahmen der Wiedergutmachung in allen Verfahrensabschnitten (A 12). Die prozessuale Sicherstellung der tatsächlichen Teilnahme der Jugendlichen (wie im DVJJ-Vorschlag zu § 2a Nr. 1) und die Grundsätze der Einbeziehung des sozialen Umfeldes und der kontinuierlichen Betreuung, gehören zu den weiteren Grundprinzipien. Nach A 10 soll „Freiheitsentzug … bei Jugendlichen nur als letztes Mittel und nur für die kürzeste Dauer verhängt und durchgeführt werden“.
VII. Zusammenfassung Jürgen Wolter hat über die Systematisierung der materiell-rechtlichen, verfassungsrechtlichen und strafzumessungsrechtlichen Ausschlussgründe ein (trotz einzelner Kritikpunkte32) überzeugendes ganzheitliches Strafrechtssystem (aus gegenläufiger, „negativer“ Perspektive) entwickelt. Dieses Gesamtsystem ist auch für das Jugendstrafrecht tragfähig, und zwar gerade wegen der „Verlängerung“ des materiellen Strafwürdigkeits- und Strafbedürftigkeitsanspruchs in das Jugendstrafverfahren und das spezielle jugendstrafrechtliche Reaktions- und Sanktionsrecht. Über die angesprochene Systematisierung eines ganzheitlichen Strafrechts können jugendstrafrechtliche Streitfragen geklärt und gesetzliche Neuformulierungen angeregt werden. So könnten zentrale Grundsätze für das Jugendstrafverfahren in das JGG aufgenommen werden, wie es die 2. Jugendstrafrechtsreform-Kommission der DVJJ 2002 vorgeschlagen hat, nicht als im Einzelfall unmittelbar vollziehbare Handlungsanweisung, sondern in der Funktion als Auslegung-, Abwägungs- und Argumentationskriterium. Nach der hier (von mir) vertretenen Ansicht sind diese Grundsätze Ausdruck eines ganzheitlichen (Jugend-)Strafrechtssystems im Wolter’schen Sinne.
32 Speziell von Frisch (Fn. 13), S. 161, der dennoch den Systemüberlegungen Wolters gerade wegen der Einbeziehung von Verfahrens und Strafzumessungsrecht wertvolle Einsichten und Anregungen für die strafrechtliche Systemdiskussion zuerkennt, S. 161.
Das Öffentlichkeitsprinzip im Jugendstrafverfahren Zugleich ein Beitrag zur Altersstufen-Systematik des Jugendgerichtsgesetzes Von Franz Streng
I. Einleitung Das Jugendstrafrecht ist ein auf eine spezifische Altersgruppe zugeschnittenes Sonderrecht, das im materiellen, im prozessualen und im gerichtsverfassungsrechtlichen Bereich Spezialnormen enthält. Diese im Jugendgerichtsgesetz enthaltenen Regelungen orientieren sich im weitesten Sinne am Erziehungsgedanken. Dabei meint Erziehung in diesem Zusammenhang günstigstenfalls Normverdeutlichung als Beitrag zum Normlernen.1 Eine realistische allgemeine Perspektive versteht unter dem Erziehungsgrundsatz das Verfolgen täter-altersangemessener Strategien, wobei das Vermeiden solch unnötiger Schädigungen der weiteren Entwicklung, wie sie in der Folge von Strafrechtseinsatz leicht auftreten können, im Vordergrund steht.2 Die relevanten Altersgruppen sind bekanntlich das mit Vollendung des 14. Lebensjahres und damit eintretender grundsätzlicher Strafmündigkeit (§ 19 StGB) beginnende Jugendalter und das mit Vollendung des 18. Lebensjahres eintretende Heranwachsendenalter, welches mit Vollendung des 21. Lebensjahres endet (vgl. § 1 Abs. 2 JGG). Obwohl der Gesetzgeber im Jahre 1953 die Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht einbezogen hat, ist dies nicht pauschal erfolgt. Vielmehr bestehen mannigfaltige Sonderregungen für die Heranwachsenden.3 Für das Eingreifen altersbezogener Sonderregelungen lassen sich zwei Ansatzpunkte vorstellen, nämlich das Tatzeitalter oder das Aburteilungsalter. Ein Blick ins Gesetz verrät, dass für die Anwendung des Jugendstrafrechts grundsätzlich das Tatzeitalter bestimmend ist: „Dieses Gesetz gilt, wenn ein Jugendlicher oder Heranwachsender eine Verfehlung begeht, die … mit Strafe bedroht ist“ (§ 1 Abs. 1 JGG). 1 Vgl. Streng, ZStW 106 (1994), 60, 86 ff.; Meier/Rössner/Schöch-Rössner, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2013, § 1 Rn. 14 ff. 2 Vgl. Böhm/Feuerhelm, Jugendstrafrecht, 4. Aufl. 2004, S. 11 f.; Laubenthal/Baier/Nestler, Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 2010, Rn. 4 f.; Streng, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 22 f. 3 Vgl. Laubenthal/Baier/Nestler, Jugendstrafrecht, Rn. 82 ff.; Streng, Jugendstrafrecht, Rn. 68 ff.; Ostendorf, JGG, 9. Aufl. 2013. Grdl. zu § 105 Rn. 2 ff.
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Man mag die Weisheit dieser legislativen Vorgabe bezweifeln, wenn man sich Fälle vorstellt, in welchen der Täter erst viele Jahre nach der Tat abgeurteilt wird. Speziell bei nicht verjährenden Mordtaten ist es tatsächlich wiederholt vorgekommen, dass 50-Jährige für im Jugend- oder Heranwachsendenalter begangene Taten vor dem Jugendrichter standen und bei Jugendtaten auch zu Jugendstrafe verurteilt wurden.4 Freilich spricht für die Anwendung von Jugendstrafrecht auch hier, dass das jugendliche Alter durchaus Anknüpfung für eine spezifische Bewertung der Schwere der damaligen Tat darstellen wird. Und für eine solche altersbezogene Betrachtung ist das Jugendgericht, im Beispielsfall die Jugendkammer beim Landgericht, auch die sachlich kompetenteste Institution. Allerdings läuft der das Jugendstrafrecht durchziehende Erziehungsgedanke als die Leitidee hier leer. Insbesondere die Regelung des § 18 Abs. 2 JGG, die eine zwingende absolute Orientierung am Erziehungsgedanken für die Strafzumessung vorzugeben scheint, mag einem Probleme bereiten. Freilich hat sich in Folge nachdrücklicher Kritik an der entsprechenden Rechtsprechung5 der Bundesgerichtshof inzwischen aus dieser Falle befreit, indem er in besonderen Konstellationen dem Schuldausgleichsgedanken nun doch angemessen Bedeutung einräumt.6 Auch die Problematik des Vollzugs einer Jugendstrafe an einem älteren Menschen zusammen mit viel jüngeren Mitgefangenen besteht nur theoretisch, da § 89b Abs. 1 S. 2 JGG ab Vollendung des 24. Lebensjahres des Gefangenen die Durchführung des Jugendstrafvollzugs „nach den Vorschriften des Strafvollzugs für Erwachsene“, d. h. in normalen Justizvollzugsanstalten, vorschreibt. Zudem spricht entscheidend für eine Anknüpfung am Tatzeitalter, dass nur so die Zufälligkeiten des früher oder später überführt Werdens aus der Bestimmung des anwendbaren Rechts ausgeschlossen werden. In Fällen der Nähe zum 18. oder 21. Geburtstag bei Anklageerhebung wird durch die Tatzeitanknüpfung des anzuwendenden Rechts eine manipulative Entscheidung der Staatsanwaltschaft über den Anklagezeitpunkt verunmöglicht. 4 Näher dazu Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, 14. Aufl. 2002, § 8 II 1b (S. 75); Budelmann, Jugendstrafrecht für Erwachsene?, 2005, S. 1 f.; Diemer/Schatz/Sonnen-Sonnen, JGG, 6. Aufl. 2011, § 105 Rn. 13; ferner LG Arnsberg, ZJJ 2010, 424 ff. 5 Vgl. Dallinger/Lackner, JGG, 2. Aufl. 1965, § 17 Rn. 1; Tenckhoff, JR 1977, 485, 487 f.; M.-K. Meyer, ZfJ 71 (1984), 445, 453 f.; Wolf, Strafe und Erziehung nach dem Jugendgerichtsgesetz, 1984, S. 244 ff; Streng, StV 1985, 421, 422; Balbier, DRiZ 1989, 404, 408; Böhm/Feuerhelm, Jugendstrafrecht, S. 225 f.; Grommes, Der Sühnebegriff in der Rechtsprechung, 2006, S. 134 f., 189 f.; Lenz, Die Rechtsfolgensystematik im Jugendgerichtsgesetz, 2007, S. 118 ff.; Laubenthal/Baier/Nestler, Jugendstrafrecht, Rn. 758; Brunner/Dölling, JGG, 12. Aufl. 2011, § 17 Rn. 14b; Nomos Kommentar-JGG (NomK-JGG)/Laue, 2011, § 17 Rn. 28; Weber, Die Bedeutung des Schuldprinzips im Jugendstrafrecht, 2011, S. 189 ff.; Streng, Jugendstrafrecht, Rn. 435 ff., 438; Ostendorf, JGG, § 17 Rn. 4 f.; vermittelnd Meier/ Rössner/Schöch-Schöch, Jugendstrafrecht, § 11 Rn. 15 ff. 6 Vgl. BGH, StV 1981, 26 f.; BGH, StV 1982, 121 f.; BGH, GA 1982, 553 f.; BGH, StV 1994, 598, 599; BGH, NStZ 1996, 232 f.; BGH, NStZ 1996, 496; BGH, NStZ-RR 1997, 21 f.; BGH, NStZ 2007, 522 f.
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Kann man so mit dem vom Gesetzgeber gewählten Anknüpfungspunkt für das anzuwendende Recht im Grundsatz einverstanden sein, so ergeben sich in bestimmten Bereichen doch Bedenken. Dies betrifft vor allem prozedurale Regelungen, die die Situation gerade junger Menschen betreffen. Die Tatzeitorientierung auch dieser Verfahrensregelungen schafft für diejenigen, die erst als ältere Menschen für ihre Jugendtaten zur Verantwortung gezogen werden, merkwürdige Schutzzonen. Diese Merkwürdigkeiten haben immerhin in einzelnen Konstellationen dazu geführt, dass die Meinung vertreten wird, es komme auf das Alter bei Eintritt der potentiell belastenden Situation an, nicht aber auf das im Gesetz festgelegte Tatzeitprinzip. So will man in Teilen der Lehre für die Regelung des § 72 Abs. 2 JGG hinsichtlich eingeschränkter Zulässigkeit von Untersuchungshaft bei 14- bis 15-Jährigen auf das Tatverdächtigenalter zum Zeitpunkt der Haftentscheidung abstellen.7 Dies bedeutet eine im Gesetzeswortlaut immerhin angedeutete Ausnahme vom Prinzip der Geltung des Tatzeitalters für die Bestimmung der Verfahrensregelungen.
II. Das nichtöffentliche Jugendverfahren 1. Gesetzliche Regelungen Als Beispiel für fragwürdigen Schutz lässt sich der eingangs angesprochene Fall der Durchführung eines Jugendstrafverfahrens gegen einen ehemals jugendlichen Mörder, der jetzt 50 Jahre alt ist, benennen. Gemäß der Tatzeitorientierung des § 48 Abs. 1 JGG8 gilt hier, dass die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Entscheidung nicht öffentlich ist. Es werden also die allgemeinen Regeln der §§ 169 ff. GVG zur Öffentlichkeit verdrängt.9 Der Sinn der in § 48 Abs. 1 JGG geregelten Nichtöffentlichkeit wird in der Rücksicht auf Besonderheiten des Jugendalters und in Erziehungsaspekten gesehen. Zuviel Publikum würde die Gehemmten vielleicht ganz zum Schweigen bringen oder aber geltungssüchtige Angeklagte zum großen Auftritt veranlassen. Zudem bringt Publikum notgedrungen Publizität und damit Stigmatisierungen mit sich.10 Geringe Beachtung findet zumeist ein wesentlicher weiterer Aspekt: Der Richter wird bei nichtöffentlicher Verhandlung weniger auf die öffentliche Meinung und das Bedürfnis nach „Verteidigung der Rechtsordnung“ achten müssen und kann sich derart stär7
Vgl. Laubenthal/Baier/Nestler, Jugendstrafrecht, Rn. 329; Brunner/Dölling, JGG, § 72 Rn. 9; Eisenberg, JGG, 15. Aufl. 2012, § 72 Rn. 6c; Streng, Jugendstrafrecht, Rn. 161. 8 Vgl. BGHSt 22, 21, 24 f.; BGHSt 23, 176, 179; Brunner/Dölling, JGG, § 48 Rn. 11; Diemer/Schatz/Sonnen-Schatz, JGG, § 48 Rn. 5. 9 Unter Heranziehung u. a. des Präventionskonzepts des „reintegrative shaming“ kritisch Pelster, MschrKrim 89 (2006), 420, 431 ff. 10 Vgl. Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, § 37 II 1; Böhm/Feuerhelm, Jugendstrafrecht, S. 73 f.; Laubenthal/Baier/Nestler, Jugendstrafrecht, Rn. 354; Meier/Rössner/Schöch-Meier, Jugendstrafrecht, § 13 Rn. 38; ferner BGHSt 44, 43, 44.
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ker auf die Erfordernisse des Umgangs mit einem schädigungssensiblen und erzieherisch förderungsbedürftigen Jugendlichen konzentrieren.11 Das Gesetz folgt hier Schutzgedanken, die im fraglichen Fall des erwachsenen Angeklagten aber leer laufen. Man mag einwenden, dass etwas zu viel Schutz für den Angeklagten nicht schaden könne. Freilich steht diese Sichtweise mit dem Grundsatz in Konflikt, dass die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht öffentlich ist (§ 169 S. 1 GVG). Diese Prozessmaxime stellt ein unverzichtbares Element eines rechtsstaatlichen Verfahrens dar.12 Und das gilt ganz besonders für den Strafprozess, wie der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 StPO verdeutlicht;13 wobei festzuhalten ist, dass nach herkömmlicher Meinung dieser Revisionsgrund nur die Öffentlichkeit, nicht aber die gesetzlichen Ausnahmen davon schützt.14 Diese im Gesetz verankerte Verfahrensprogrammatik ist hervorzuheben, auch wenn in neuerer Zeit immer stärker die das Verfahren und die Verfahrensbeteiligten belastenden Auswirkungen von zu viel Öffentlichkeit, etwa durch die Medien, betont werden.15
2. Die Europäische Menschenrechtskonvention Zu problematisieren ist die grundsätzliche Nichtöffentlichkeit von Jugendstrafverfahren auch angesichts Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, wonach jede Person ein Recht darauf hat, dass „eine gegen sie erhobene öffentliche Anklage … in einem fairen Verfahren, öffentlich … verhandelt wird“. Ein Ausschluss der Öffentlichkeit kann freilich gem. Art. 6 Abs. 1 S. 2 EMRK u. a. zum Schutz von „Interessen von Jugendlichen“ erfolgen. Festzuhalten bleibt also, dass die Schutzrichtung der EMRK weniger die ist, das Öffentlichkeitsprinzip als abstrakte rechtsstaatliche Errungenschaft zu schützen, als vielmehr, Verfahrensbeteiligten Garantien zu gewähren, nämlich den Zeugen und den Angeklagten.16 Wenn zu Gunsten des jetzt nicht 11
Vgl. Streng, ZStW 106 (1994), 60, 78. Vgl. etwa BVerfGE 103, 44, 63 f.; BVerfG-Kammer, NJW 2012, 1863, 1864; BGHSt 9, 280, 281; BGHSt 21, 72 ff.; Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung (KK-StPO)/ Diemer, 6. Aufl. 2008, § 169 GVG Rn. 1; Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, 5. Aufl. 2011, Rn. 232; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 27. Aufl. 2012, § 47 Rn. 1. 13 Vgl. BGHSt 1, 334, 335 f. 14 Vgl. BGHSt 23, 176, 178; KK-StPO/Kuckein, § 338 Rn. 84; Kühne, Strafprozessrecht, 8. Aufl. 2010, Rn. 703; Heidelberger Kommentar zur Strafprozessordnung (HK-StPO)/Temming, 5. Aufl. 2012, § 338 Rn. 28; Ostendorf/Schady, JGG, § 48 Rn. 20; kritisch Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 47 Rn. 26. 15 Vgl. BVerfGE 103, 44, 68; BVerfG-Kammer, NStZ 1996, 143 f.; Hillermeier, DRiZ 1982, 281, 283; Kissel/Mayer, Gerichtsverfassungsgesetz, 6. Aufl. 2010, § 169 Rn. 13 ff.; Kühne, Strafprozessrecht, 8. Aufl. 2010, Rn. 697 ff.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 47 Rn. 1 ff. 16 Vgl. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 24 Rn. 86; Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung (SK-StPO), Band X/Paeffgen, 4. Aufl. 2012, Art. 6 EMRK Rn. 102. 12
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mehr jugendlichen Angeklagten die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird, kann er dadurch in seinem Anspruch, ein öffentliches Verfahren zu erhalten, betroffen sein – wenngleich ihm vielfach gerade die Nichtöffentlichkeit vorzugswürdig erscheinen wird. Dies führt zu der Frage, ob in Art. 6 Abs. 1 S. 2 EMRK nur jugendliche Verfahrensteilnehmer gemeint sind oder – im Sinne der deutschen Rechtslage – auch Angeklagte, die lediglich zum Tatzeitpunkt noch Jugendliche gewesen sind. Zu klären ist demnach, ob der jugendbezogene Öffentlichkeitsausschluss auch bei einem jetzt nicht mehr jugendlichen Angeklagten den Regeln der EMRK entspricht. Zunächst ist hier in Rechnung zu stellen, dass der Jugendlichen-Begriff (juveniles/mineurs) in der Rechtsprechung bislang nicht auf einen bestimmten Altersbereich präzisiert worden ist.17 Man wird aber schon angesichts des Wortlauts der Regelung, der ein Schutzbedürfnis anspricht, das gerade Folge der Jugendlichkeit ist („Interessen von Jugendlichen“), davon auszugehen haben, dass hier eine Anknüpfung an das Tatzeitalter auszuscheiden hat. Entscheidend spricht dafür auch der wesentliche Normzweck, jugendliche Zeugen vor den Auswirkungen des Öffentlichkeitsprinzips zu schützen, wie dies in § 172 Nr. 4 GVG für die unter 18-jährigen Zeugen auch konkretisiert wurde. Ein Tatzeitbezug verbietet sich hier von vorneherein. Auch im Falle des jetzt nicht mehr jugendlichen Angeklagten fehlt somit jeder Begründungsansatz für eine Ausnahme von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK. Dabei mag man den Jugendlichkeitsbegriff der EMRK durchaus im Sinne des deutschen Rechts weit verstehen, also auch noch die vom JGG erfassten Heranwachsenden einbeziehen. Tatsächlich geht § 109 Abs. 1 S. 4 JGG davon auch aus, indem dem Jugendgericht die Möglichkeit eröffnet wird, „im Interesse des Heranwachsenden“ die Öffentlichkeit auszuschließen – wobei bei § 109 JGG aber wieder die problematische Tatzeitanknüpfung des deutschen Rechts zu beachten ist! Handelt es sich bei den Angeklagten zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung also um Erwachsene nach deutscher Definition, d. h. um mindestens 21-Jährige, dann lässt sich die Jugendschutzregelung des Art. 6 Abs. 1 S. 2 EMRK richtigerweise nicht mehr zum Ausschluss der Öffentlichkeit heranziehen.18 Trotz alledem hat der deutsche Gesetzgeber durch die Tatzeitanknüpfung der lex lata den in der Hauptverhandlung nun nicht mehr jugendlichen Jungtätern einen überschießenden Interessenschutz gewährt. Freilich erfolgt dieser durchaus differenziert. Denn beim i. e. S. jugendlichen Täter greift die obligatorische Nichtöffentlichkeitsregelung des § 48 Abs. 1 JGG ein, beim heranwachsenden Täter hingegen nur § 109 Abs. 1 S. 4 JGG mit seiner fakultativen Ausschlussmöglichkeit. Diese Differenzierung gibt nun die Grundlage für eine umstrittene Konstellation des Ausschlusses der Öffentlichkeit ab.
17 18
Vgl. SK-StPO/Paeffgen, Art. 6 EMRK Rn. 91. Vgl. auch Budelmann, Jugendstrafrecht für Erwachsene?, S. 140.
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Franz Streng
III. Altersgruppenkonkurrenz im Verfahren bei Personenidentität 1. Jugendlicher und Heranwachsender zugleich § 48 JGG gilt gem. § 109 JGG nicht bei Verfahren gegen Heranwachsende, wobei es – wie dargestellt – gem. § 1 Abs. 2 JGG auf das Tatzeitalter ankommt. § 109 Abs. 1 S. 4 JGG gibt allerdings die Möglichkeit, die Öffentlichkeit dann auszuschließen, wenn dies im Interesse des Heranwachsenden geboten ist. Sind in dem Verfahren neben Jugendlichen auch Heranwachsende oder Erwachsene angeklagt, dann wird gem. § 48 Abs. 3 S. 1 JGG für den Regelfall das rechtsstaatliche Öffentlichkeitsprinzip als gewichtiger eingeschätzt.19 Gemäß § 48 Abs. 3 S. 2 kann die Öffentlichkeit aber ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Erziehung des jugendlichen Angeklagten geboten ist. Bei einer Verhandlung wegen Taten, die der Angeklagte teils als Jugendlicher, teils als Heranwachsender begangen hat, gilt nach herrschender Meinung aber nicht etwa § 109 Abs. 1 S. 4 JGG, sondern § 48 Abs. 1 und 2 JGG. Der Bundesgerichtshof dekretiert: „§ 48 Abs. 1 JGG, der die nichtöffentliche Verhandlung vorsieht, greift immer dann Platz, wenn der Angeklagte überhaupt als Jugendlicher belangt wird, mag er auch einen Teil der ihm zur Last gelegten Taten als Heranwachsender begangen haben“.20 Diese Ansicht der herrschenden Meinung erscheint freilich durchaus zweifelhaft. Denn das an § 48 Abs. 1 JGG festgemachte Wortlaut-Argument wird wiederum durch den Wortlaut des für Heranwachsende einschlägigen § 109 Abs. 1 S. 4 JGG auf gleicher Ebene konterkariert. In dieser rechtlichen Patt-Situation für den Fall des zugleich jugendlichen und heranwachsenden Angeklagten müssen andere Argumente gesucht werden. Im Grundsatz sind Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK und § 169 GVG mit ihrer Vorgabe grundsätzlicher Öffentlichkeit der Verhandlung maßgeblich. Der hier zum Tragen kommende rechtsstaatliche Rang des Prinzips der Öffentlichkeit verbietet es, im Zweifel – d. h. bei der beschriebenen non liquet-Situation zwischen § 48 Abs. 1 und § 109 Abs. 1 S. 4 JGG – der Nichtöffentlichkeit ohne Weiteres Vorrang einzuräumen. Dies gilt umso mehr, als die Relativierung des Öffentlichkeitsprinzips durch Art. 6 Abs. 1 S. 2 EMRK allein auf Jugendlichkeit zum Verfahrenszeitpunkt abstellt und viele der heranwachsenden Täter dann tatsächlich erst als Erwachsene vor dem Richter stehen. Selbst wenn man den Jugendlichkeitsbegriff der EMRK weit verstehen wollte, würde man einräumen müssen, dass bei gegebenem Heranwachsendenalter allenfalls noch der Randbereich eines Schutzinteresses 19
Dazu BGHSt 23, 176, 179. BGHSt 23, 176, 178; auch BGHSt 22, 21, 25; BGHSt 44, 43, 44; zustimmend Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, § 37 II 1; Laubenthal/Baier/Nestler, Jugendstrafrecht, Rn. 359; Brunner/Dölling, JGG, § 48 Rn. 11; Diemer/Schatz/Sonnen-Schatz, JGG, § 48 Rn. 5; NomK-JGG/Trüg, § 48 Rn. 6; Eisenberg, JGG, § 48 Rn. 3; Ostendorf/Schady, JGG, § 48 Rn. 3. 20
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wegen Jugendlichkeit vorliegt, welcher pauschale Ausschlüsse der Verfahrensöffentlichkeit schwerlich rechtfertigen kann. Gestützt wird diese Betrachtung nachdrücklich auch dadurch, dass eine unverkennbare Parallele zu § 48 Abs. 3 S. 1 JGG gegeben ist, wonach bei einem mit einem Jugendlichen zusammen angeklagten Heranwachsenden oder Erwachsenen grundsätzlich öffentlich verhandelt wird. Angesichts des Gewaltenteilungsprinzips lassen sich dieser gesetzgeberischen Wertentscheidung eines Vorrangs des Öffentlichkeitsprinzips21 mit Ausschlussmöglichkeit gem. § 48 Abs. 3 S. 2 JGG (analog zur Heranwachsendenlösung des § 109 Abs. 1 S. 4 JGG) auch wohlmeinende Schutzaspekte22 nicht durchschlagend entgegenhalten. Unter einer Erst-Recht-Perspektive sollte die hier diskutierte Situation eigentlich noch mehr als die Konstellation des § 48 Abs. 3 JGG eine öffentliche Verhandlung rechtfertigen. Denn bei einem zugleich als Jugendlicher und Heranwachsender Angeklagten steht von vorneherein kein wegen Jugendalters besonders schützenswerter Angeklagter mehr vor Gericht, sondern lediglich ein bereits mit einer Heranwachsendentat in Erscheinung Getretener. Diese Sachlage spricht nachgerade zwingend für eine Orientierung an der für Heranwachsende einschlägigen, flexiblen Lösung des § 109 Abs. 1 S. 4 JGG23 und damit gegen Rechtsprechung und herrschende Lehre.
2. Der potentiell jugendliche Angeklagte Der Bundesgerichtshof hat seine nicht überzeugende Rechtsprechung auch auf den Fall übertragen, dass das Gericht die Jugendstraftat gem. § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt hat und folglich nur noch wegen der vom Heranwachsenden begangenen Tat(en) verhandelt wird. Denn es könne das Gericht jederzeit das eingestellte Verfahren wieder aufnehmen. Außerdem könnten die ausgeschiedenen Tatvorwürfe wegen Jugendverfehlungen immerhin bei der Sanktionsentscheidung mitberücksichtigt werden.24 Diese Entscheidung geht nun über die problematische Rechtsprechung zum Vorrang des § 48 Abs. 1 JGG bei zugleich abzuurteilenden Heranwachsendentaten noch hinaus und macht sich dabei noch stärker angreifbar. Es spricht im Übrigen gegen die Durchschlagskraft des Wiederaufgreifens-Arguments, dass das Gericht die ggf. zunächst gem. § 109 Abs. 1 S. 4 JGG zugelassene Öffentlichkeit dann bei Fortführung des eingestellten Verfahrens ohne Weiteres gem. § 48 Abs. 1 JGG ausschließen könnte. Für eine entgegen § 109 Abs. 1 S. 4 JGG zwingende vorsorgliche Nichtöffentlichkeit besteht also kein Grund. Auch der Hinweis auf ein mögliches Berücksichtigen von Umständen, die mit den ausge21
In diesem Sinne nachdrücklich BGHSt 23, 176, 179. Dazu BGHSt 22, 21, 25; BGHSt 44, 43, 44. 23 Vgl. Streng, Jugendstrafrecht, 1. Aufl. 2003, § 7 Rn. 72 f. (3. Aufl. 2012, Rn. 212 f.); auch Wölfl, JR 1999, 172 f.; Mitsch, Jura 2002, 242, 247. 24 Vgl. BGHSt 44, 43 ff.; zust. etwa Brunner/Dölling, JGG, § 48 Rn. 11; Diemer/Schatz/ Sonnen-Schatz, JGG, § 48 Rn. 6; Eisenberg, JGG, § 109 Rn. 46. 22
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schiedenen Anklagepunkten in Zusammenhang stehen, verfängt nicht. Würde man diesen Aspekt nämlich wirklich für die Entscheidung über die Öffentlichkeit des Verfahrens für relevant halten, dann müsste man bei allen mit deliktischen Vorbelastungen im Jugendalter behafteten Heranwachsenden entgegen der Ermessensregelung des § 109 Abs. 1 S. 4 JGG zwingend zur Nicht-Öffentlichkeit des Verfahrens gelangen – und eigentlich auch bei entsprechend rückfälligen Erwachsenen. Dieser Konsequenz dürfte sich aber wohl auch der Bundesgerichtshof verschließen.
IV. Resümee Die Tatzeitorientierung der altersbezogenen Regelungen des Jugendgerichtsgesetzes kann speziell im Bereich des Verfahrensrechts nicht immer überzeugen. Dies wurde am Beispiel der in § 48 Abs. 1 JGG geregelten Nichtöffentlichkeit der Hauptverhandlung im Verfahren gegen Jugendliche aufgezeigt, die erst als Erwachsene vor Gericht stehen. Eine Überprüfung anhand von Art. 6 Abs. 1 S. 1 u. 2 EMRK bestätigt die insoweit vorgetragene Kritik. Der Gesetzgeber sollte daher durch Einführung einer Orientierung am Aburteilungsalter Abhilfe schaffen. Als besonders verfehlt gelten muss die von der herrschenden Meinung betriebene ausdehnende Anwendung des § 48 Abs. 1 JGG auf Verfahren gegen zugleich als Jugendliche und als Heranwachsende Angeklagte.25 Noch mehr erstaunen muss die daran anknüpfende Ausdehnung dieser Judikatur auf Fälle einer vorläufigen Verfahrenseinstellung gerade der Jugendstraftat. Ausgangspunkt der hier vorgetragenen Kritik ist die Missachtung gesetzgeberischer Präferenzentscheidungen, die in § 109 Abs. 1 S. 4 und § 48 Abs. 3 JGG niedergelegt sind. Als Scheinargument einzustufen war das sich Stützen auf den Wortlaut des § 48 Abs. 1 unter Übergehen des gleichzeitig eröffneten § 109 Abs. 1 S. 4 JGG. Die vom Bundesgerichtshof vorgetragenen Schutzaspekte können die dabei zutage tretenden juristischen Ungereimtheiten nicht rechtfertigen. Dass das kriminalpolitische Anliegen des Schutzes junger Angeklagter vor Schäden durch (exzessive) Verfahrensöffentlichkeit Beachtung verdient, ist damit nicht in Frage gestellt. Insoweit geht es aber richtigerweise um eine Diskussion de lege ferenda.
25 Bei derart inkongruenter Altersanknüpfung ergeben sich auf Grundlage der h.M. entsprechende Ungereimtheiten auch bei der Frage einer Zulässigkeit von Nebenklage; vgl. Mitsch, GA 1998, 159, 169 ff., 173 f.; NomK-JGG/Rössner, § 80 Rn. 19; Streng, Jugendstrafrecht, Rn. 205.
Staatliche Opferentschädigung nach der Jahrtausendwende Statistische Daten, methodische Probleme und einige Anmerkungen zur gegenwärtigen Praxis des OEG Von Bernhard Villmow und Alescha Lara Savinsky
I. Einführung Nach dem am 16. 5. 1976 in Kraft getretenen Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten erhält derjenige, der im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes (§ 1 Abs. 1 S. 1 OEG). Angesichts seiner Struktur gehört das OEG zu den Regelungen, die das System der sozialen Entschädigung bilden. Gemäß § 68 Nr. 7 f SGB I gilt das OEG als Teil des Sozialgesetzbuchs.1 Bereits Anfang der 80er Jahre gab es kritische Einschätzungen hinsichtlich der sachlichen und personalen Reichweite der Regelungen sowie bezüglich der Anwendungspraxis.2 Bemängelt wurden u. a. der geringe Bekanntheitsgrad des Gesetzes in der Bevölkerung, die damit verbundene relativ kleine Zahl der Antragstellungen von Opfern von Gewaltdelikten3, die niedrige Quote der positiven Entscheidungen4, die teilweise lange Verfahrensdauer5 sowie allgemeine Schwierigkeiten bei der Anwen1
Rademacker, § 1 OEG Rn. 9; Körtek (2010/2011), S. 4. Villmow u. a. (1982), S. 304 ff. Vgl. auch die europäischen Länderberichte in Greer (1996), in denen vielfach ähnliche Probleme dokumentiert werden. 3 Aktuelle Einschätzung z. B. in der FAZ v. 12. 10. 2012: „Die Zahlen der tatsächlich gestellten Anträge und der Gewalttaten insgesamt zeigen ein deutliches Missverhältnis.“ 4 Vgl. Haupt u. a. (2003), S. 203: „Die zuständigen Versorgungsämter … entscheiden in der Regel restriktiv.“ 5 In Hamburg hat sich die durchschnittliche Bearbeitungsdauer der Anträge wie folgt entwickelt: 2003: 10,3 Monate; 2004: 10,1; 2005: 8,9; 2006: 10,5; 2007: 11,9; 2008: 11,7, vgl. Bürgerschaft FHH, Drucksache19/648 v. 8. 7. 2008, S. 4 f. In einer früheren Auswertung wurde deutlich, dass im Jahr 1997 die Hamburger Verfahren mit Rentenbewilligungen nahezu doppelt so lange gedauert haben (15,3 Monate) wie die Fälle, in denen lediglich Gesund2
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Bernhard Villmow und Alescha Lara Savinsky
dung des Gesetzes in Verbindung mit unbestimmten Rechtsbegriffen bzw. Ermessensvorschriften, die zu erheblichen Unterschieden in der Entscheidungsstruktur der Versorgungsämter in den einzelnen Bundesländern beitrugen.6 In der Folgezeit gab es eine Reihe von Gesetzesänderungen, die u. a. zur stärkeren Berücksichtigung von viktimisierten Ausländern, besseren Behandlungsmöglichkeiten (insbesondere für Kinder)7, der Einbeziehung von hinterbliebenen Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft sowie von bestimmten in Deutschland lebenden Opfern von Gewalttaten im Ausland führten.8 Auch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts erweiterte im Laufe der Jahre die Entschädigungsmöglichkeiten nach dem OEG. So wurden u. a. Opfer von Schockschäden, die nicht selbst durch einen tätlichen Angriff körperlich betroffen waren, in den Schutzbereich des OEG mit einbezogen.9 Auch in Verbindung mit vorgeburtlichen Schädigungen wurde der anspruchsberechtigte Personenkreis ausgedehnt.10 Trotz dieser Entwicklung, die die Opfer von Gewaltdelikten begünstigte, werden jedoch immer wieder kritische Bewertungen deutlich, die teilweise auch den Eindruck vermitteln, dass sich in bestimmten Bereichen der Opferentschädigungspraxis kaum etwas an einer für viele Betroffene unbefriedigenden Situation geändert habe. Insbesondere der Weisse Ring verweist regelmäßig auf seinen Tagungen und in Publikationen auf den weiterhin bestehenden geringen öffentlichen Bekanntheitsgrad des Gesetzes11, auf die begrenzte Anzahl von Entschädigungsanträgen im Verhältnis zu den Gewaltdelikten und auf eine Entschädigungsquote, die als „Statistik zum Schämen“ bezeichnet wird.12 Nach Freytag „führt die Entschädigung nach dem OEG faktisch ein bescheidenes Schattendasein“13. In der Öffentlichkeit werden diese Kritik und die damit verbundenen Forderungen seit Jahren durchaus beachtet14, ebenso finden sie Eingang in die politische Diskussion.15 Zu fragen ist nun, ob sich heitsstörungen als Schädigungsfolgen anerkannt oder Leistungen der Heilbehandlung gewährt wurden (8,6 Monate), vgl. Bürgerschaft FHH, Drucksache 16/416 v. 10. 3. 1998, S. 1. Eine Aktenanalyse aus Fulda bezogen auf das Jahr 2008 ergab eine durchschnittliche Bearbeitungszeit von 13 Monaten, vgl. Grundel/Blättner (2011), S. 14. 6 Vgl. z. B. Villmow/Plemper (1984), dies. (1989). 7 Durch Einfügung des Abs. 14 in § 1 OEG im Jahr 2000. 8 Vgl. die Übersicht bei Rademacker, § 1 OEG Rn. 1 ff. 9 Einzelheiten bei Rademacker, § 1 OEG Rn. 16 ff.; Heinz (2008), S. 40 ff. 10 Heinz (2008), S. 27 ff.; Fallübersicht bei Rademacker, § 1 Rn. 14. 11 Rühle (1996), S. 133; Stellmacher (2007), S. 53, 58; Schmachtenberg (2012), S. 141. 12 Weisser Ring/Schuler (1996), S. 11; vgl. auch Harkotte (1996), S. 109. 13 Freytag (2003), S. 178. 14 Einzelne Beispiele: „Opferschutz wird zum Lippenbekenntnis“ (Hamburger Abendblatt v. 19. 12. 2007); „Mehr Hilfen für Opfer“ (Hamburger Abendblatt v. 22. 3. 2010), „Opferentschädigung beschleunigen“ (Hamburger Abendblatt v. 21. 3. 2011); „Das ist Barbarei am Opfer“ (FAS v. 9. 9. 12, S. 49, zitiert wird ein Vereinssprecher des Weissen Rings). 15 Vgl. z. B. Bürgerschaft FHH, Drucksache 18/2222 vom 13. 5. 2005: „Praktizierter Opferschutz – Warum führt die staatliche Opferentschädigung in Hamburg ein Schattendasein?“.
Staatliche Opferentschädigung nach der Jahrtausendwende
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dieses öffentliche Interesse auch widerspiegelt in der kriminologischen bzw. viktimologischen Forschung und ob hieraus neue (Reform-)Impulse für den Bereich der Opferentschädigung entstanden sind.
II. Begrenzte empirische Forschung zur Praxis des OEG in den letzten Jahrzehnten In diesem Zusammenhang wird erkennbar, dass trotz einer „stürmischen Zunahme opferbezogener Forschung“16 seit Anfang der 1970er Jahre die Frage nach der Praxis der staatlichen Opferentschädigung nicht zu den Schwerpunkten der empirischen viktimologischen Analyse gehörte.17 Andere Themen wie Opferbefragungen zur Aufhellung des Dunkelfeldes, Verbrechensfurcht, Rolle des Opfers im Strafverfahren sowie Täter-Opfer-Ausgleich etc. standen deutlich häufiger im Vordergrund. Im Verlauf der letzten Jahrzehnte gab es zwar noch in den 1980er Jahren in Deutschland einige empirische Studien zum Bereich des OEG18, in den 1990er Jahren und nach der Jahrtausendwende waren es – soweit ersichtlich – jedoch nur noch kleinere Untersuchungen zu mit dem OEG verbundenen Fragen, die insbesondere vom Weissen Ring veranlasst oder gefördert wurden.19 Erst in den letzten Jahren wird in der Bundesrepublik ein erneutes empirisches Interesse hinsichtlich der staatlichen Opferentschädigung deutlich, wobei die Ergebnisse dieser regional begrenzten Arbeiten20 in den einschlägigen kriminologischen Lehrbüchern und den entsprechenden Fachzeitschriften noch nicht erkennbar wahrgenommen worden sind. Im Folgenden wird versucht, einzelne Resultate dieser Forschungen mit eigenen Analysen der ak-
16
Kaiser (1997), S. 297. Vgl. die beiden Tagungsbände von Kaiser/Jehle (1994), die Tagungsbände von Bundeskriminalamt (1996) und der Kriminologischen Zentralstelle/Egg/Minthe (2009) sowie die Berichte über die internationalen viktimologischen Kongresse, z. B. Schneider (1998), S. 316 ff.; Schneider (2006) und Schneider (2010). Vgl. auch den viktimologischen Übersichtsartikel von Görgen (2009). Becker/Körtek (2010/2011), S. 170 f. stellen fest, dem modernen Opferentschädigungsrecht werde wenig Aufmerksamkeit geschenkt, hinzukomme, „dass Entschädigungssysteme insgesamt in der Sozialrechtswissenschaft ein gewisses Schattendasein führen.“ 18 Vgl. die Übersicht bei Villmow/Plemper (1989) zur deutschen (S. 23 ff.) und zur ausländischen Forschung (S. 29 ff.); siehe auch Lerch (2011), S. 19 f. 19 Z. B. Stellmacher (2007). In dem europäischen Überblick von Greer (1996) werden in den Länderberichten überwiegend nur wenige statistische Daten angeboten, von „Research on State Compensation“ wird nur in dem holländischen Beitrag gesprochen (S. 413 f.). In dem wohl auch vom Weissen Ring angeregten neuesten rechtsvergleichenden Überblick über europäische Opferentschädigungsregelungen werden – soweit ersichtlich – keine empirischen Studien erwähnt, vgl. die Berichte in Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeitsund Sozialrecht, Heft 1 – 2 (2010 – 2011). 20 Studien von Grundel/Blättner (2011) und Lerch (2011), bezogen auf Fulda bzw. auf Hessen. 17
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Bernhard Villmow und Alescha Lara Savinsky
tuellen Statistiken zu verbinden und ein Bild der Opferentschädigungspraxis nach der Jahrtausendwende zu skizzieren.
III. Die Entwicklung der OEG-Antragstellungen im Verhältnis zur Gewaltkriminalität Es wurde bereits dargestellt, dass bei der kritischen Betrachtung der Anwendung des OEG u. a. auf die geringe Zahl der Entschädigungsanträge verwiesen wird. Der Weisse Ring stellt seit 1999 im Internet die Länder- und Bundesdaten zusammen und lässt in den Übersichten erkennen, dass im Rahmen der hier erfassten PKS-Zahlen nur bei etwa 10 – 11 % der Gewaltdelikte Anträge nach OEG/BVG gestellt werden. Übersicht 1 Weisser Ring – Gewalttaten und gestellte Anträge 1999 – 2011 in der Bundesrepublika Jahr
Gewalttaten nach PKS
OEG-Anträgeb
Verhältnis Anträge/ Gewaltdelikte in %
1999
186.655
21.481
11,5
2000
187.103
19.917
10,6
2001
188.413
18.929
10,1
2002
197.492
20.080
10,2
2003
204.124
20.887
10,2
2004
211.172
20.864
9,9
2005
212.832
22.794
10,7
2006
215.471
22.597
10,5
2007
217.923
23.404
10,7
2008
209.706c
22.175
10,6
2009
208.446
21.774
10,5
2010
201.243
21.711
10,8
2011
197.030
20.435
10,4
a
www.weisser-ring.de/fileadmin/content/Daten-Zahlen-Fakten/OEG_Statistik_2011.pdf. Der Hamburger Senat gibt in Bürgerschaft FHH, Drucksache 19/648 v. 8. 7. 2008, S. 2 folgende andere Zahlen an: 2004 – 20.882 Anträge, 2005 – 22.505, 2006 – 22.644. c Nach PKS 2008, S. 27, 227 und Tabelle 01, S. 11 gibt das Bundeskriminalamt für dieses Jahr 210.885 registrierte Gewaltdelikte an. Der Weisse Ring erwähnt in einer Fußnote zur OEG-Datenübersicht 2008 „programmtechnische“ Probleme in einzelnen Bundesländern. b
1. Sinnvolle Begrenzung des Gewaltbereichs mit Blick auf die OEG-Antragstellungen Die in Übersicht 1 erfassten Gewalttaten sind in dem OEG-Kontext aus kriminologischer Sicht aus verschiedenen Gründen zu problematisieren. Sowohl im strafrechtlichen als auch im kriminologischen Schrifttum ist der Gewaltbegriff umstrit-
Staatliche Opferentschädigung nach der Jahrtausendwende
1247
ten.21 Der Weisse Ring übernimmt für seine Darstellung der Gewaltkriminalität die Definition des Bundeskriminalamts in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKSBRD).22 Diese ist einerseits inhaltlich eng, weil z. B. die einfache Körperverletzung nicht enthalten ist, andererseits im Zusammenhang mit den Anspruchsvoraussetzungen von OEG/BVG (zu) weit, weil im Strafgesetzbuch einzelne Tatbestände so strukturiert sind, dass Gewalttaten auch vorliegen können, wenn nur mit bestimmten Gewalthandlungen gedroht wird (z. B. §§ 177, 239 a, 239 b, 249 ff. StGB). Da in den o. a. PKS-Daten auch die Versuchshandlungen mit enthalten sind, dürfte ein Teil der offiziell ausgewiesenen Gewalttaten begangen worden sein, ohne dass sich (erhebliche) körperliche Schäden mit entsprechenden Folgen ergeben haben.23 Insoweit erscheinen die vom Weissen Ring in Verbindung mit der staatlichen Opferentschädigung dargestellten Zahlen zu den Gewalttaten überhöht. In einzelnen bisherigen kriminologischen Analysen der Praxis des OEG ist deswegen von einem engeren Begriff der Gewaltkriminalität ausgegangen worden, der z. B. nur versuchte und vollendete Tötungsdelikte, Körperverletzungen mit Todesfolge und vollendete gefährliche und schwere Körperverletzungen umfasste.24 In diesem Kontext wird angenommen, dass bei diesen Straftaten die Wahrscheinlichkeit von tatsächlich erheblichen Körperverletzungen am größten ist und insoweit die gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen nach OEG/BVG noch am ehesten gegeben erscheinen. Die neuere Untersuchung von Lerch hat diesen engeren Ansatz übernommen, bei den Tatbeständen aber zusätzlich Vergewaltigung und sexuelle Nötigung mit einbezogen.25 Erstaunlich ist allerdings, dass sowohl in der o. a. Übersicht des Weissen Rings als auch in der Studie von Lerch den Antragstellungen die registrierten Taten und nicht die registrierten Opfer gegenübergestellt wurden, obwohl es nach dem OEG um eine persönliche Antragstellung geht. Hier wird anscheinend von einer Übereinstimmung der Tat- und Opferzahlen ausgegangen. Ob dies zutreffend ist, lässt sich im Prinzip durch eine Gegenüberstellung von Gewalt-Taten und Gewalt-Opfern auf der Basis der PKS-Daten klären. Bei einem Versuch, diese Analyse für einen längeren Zeitraum durchzuführen, bieten sich die vom Bundeskriminalamt (BKA) im Internet dargestellten Zeitreihen 21 Vgl. die Übersicht bei Walter (2006), S. 41 ff.; Villmow/Plemper (1984), S. 73 f. Siehe auch Lerch (2011), S. 32 ff. 22 Der Summenschlüssel 892000 Gewaltkriminalität umfasst die Tatbestände Mord (010000), Totschlag und Tötung auf Verlangen (020000), Vergewaltigung und sexuelle Nötigung (111000), Raub, räuberische Erpressung und räuberischer Angriff auf Kraftfahrer (210000), Körperverletzung mit Todesfolge (221000), gefährliche und schwere Körperverletzung (222000), Erpresserischer Menschenraub (233000), Geiselnahme (234000), Angriff auf den Luft- und Seeverkehr (235000), vgl. PKS-BRD 2010, S. 16 f. 23 Vgl. Villmow u. a. (1982), S. 308. Vgl. auch einzelne Aussagen im Rahmen der Expertenbefragung bei Lerch (2011), S. 63, 83. 24 Villmow/Plemper (1989), S. 79. Dass diese Tatbestände in der OEG-Praxis quantitativ im Vordergrund stehen, wird auch in empirischen Studien deutlich, vgl. Villmow/Plemper (1989), S. 98. 25 Lerch (2011), S. 39 ff.
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Bernhard Villmow und Alescha Lara Savinsky
an. Bei der Auswertung der entsprechenden bisher ab 198726 vorliegenden Daten der Tabelle 91 „Aufgliederung der Opfer nach Alter und Geschlecht insgesamt“, hier Summenschlüssel 892000 „Gewaltkriminalität“27, ergaben sich allerdings einige unerwartete Probleme. Bereits ein kurzer Blick auf die aufgelisteten Daten ließ im Frühjahr 2012 erkennen, dass ein wesentlicher Teil der Gewalt-Opferzahlen nicht richtig sein konnte, weil diejenigen des Summenschlüssels niedriger waren als diejenigen der Untergruppe „Opfer von gefährlicher und schwerer Körperverletzung“. Die weitere umfassende Analyse ergab schließlich, dass beim o. a. Summenschlüssel Gewaltkriminalität die Opfer-Zahlen der Internetangaben für die Jahre 1987 bis 1995 nicht korrekt waren.28 Ergänzend wurde deutlich, dass die Opferangaben für die Jahre 1999 und 2005 bis 2007 ebenfalls ungenau waren29, allerdings nicht mehr in der (teilweise extremen) Größenordnung von mehreren zehntausend wie bei den früheren Jahresdaten bis 1995. Die in diesem Kontext in die Überprüfung mit einbezogenen Opfer-Angaben des von den Bundesministerien des Innern und der Justiz herausgegebenen 1. Periodischen Sicherheitsberichts (PSB)30 stellten sich für die überprüften Jahre 1990, 1993 und 1995 ebenfalls als nicht vollständig korrekt heraus. Hier hat das BKA im Rahmen einer eigenen Analyse festgestellt, dass bei den Opfer-Gesamtzahlen im 1. PSB offensichtlich die (relativ kleinen) Zahlen bei vier zum Summenschlüssel gehörenden Tatbeständen nicht berücksichtigt worden sind.31 Auf der Basis der korrigierten Opferdaten kann nunmehr die Gegenüberstellung der verschiedenen PKS-Informationen über die Entwicklung der Gewaltkriminalität vorgenommen werden. Der Vollständigkeit halber werden auch die entsprechenden Tatverdächtigenzahlen mit einbezogen (vgl. Übersicht 2). Es wird durchweg deutlich, dass die Fallzahlen nicht den Opferzahlen entsprechen. Letztere sind immer höher als die Falldaten. Im Lauf der Jahre steigen die Opferzahlen schneller an als die Fallzahlen; die Schere geht bis zum Jahr 2011 immer weiter auseinander, was sich aus den o. a. Verhältniszahlen ergibt. So gesehen, erscheint es angemessener, den OEG-Antragszahlen nicht die Fallzahlen, sondern die Opferzahlen für eine Quotenberechnung gegenüberzustellen.
26
Zu den inzwischen erfolgten Änderungen siehe Fn. 28. Dieser Summenschlüssel wurde laut BKA bei den Opfertabellen 91 und 92 erst ab 1993 verbindlich eingeführt (Schreiben v. 23. 4. 12), vgl. auch PKS 1994, S. 18. 28 Bestätigung durch das BKA mit Schreiben v. 23. 4. 12 und 4. 5. 12. Die Mängel betreffen auch die Daten in der gedruckten Version der PKS 1994 und 1995. Inzwischen wird deutlich, dass das BKA in den Internetzeitreihen die Daten der PKS in Tab. 91 und 92 nur noch für die Jahre ab 2000 anbietet (dort Vermerk: „erstellt am 19. 6. 2012“). 29 Bestätigung durch das BKA mit Schreiben v. 4. 5. 12: „Wegen unvollständiger Anlieferung einiger Länder (programmtechnische Probleme) sind (für) 1999, 2005, 2006 und 2007 die Werte hier falsch.“ Die am 14. 9. 2012 in der Internetreihe dargestellten und zu diesem Zeitpunkt überprüften Zahlen für 2005 – 2007 waren bis dahin noch nicht korrigiert worden. 30 1. PSB (2001), S. 53. 31 BKA, Anlage zum Schreiben v. 23. 4. 12. 27
99.872
206.557
206.632
1,181
254.528
215.471
210.519
1,181
257.310
217.923
2007
169.125
1,114
207.545
186.306
1998
88.392
1,094
112.334
102.645
1989
208.277
1,184
249.588
210.885
2008
172.982
1,122
209.452
186.655
1999
92.925
1,101
121.071
109.997
1990
1,184 194.373
204.26a
238.251
201.243
2010
177.348
1,134
213.668
188.413
2001
107.130
1,107
147.037
132.834
1992
1,184
246.837
208.446
2009
176.319
1,126
210.684
187.103
2000
101.822
1,101
138.992
126.245
1991
188.271
1.187
233.950
197.030
2011
185.394
1,135
224.175
197.492
2002
129.780
1,088
174.790
192.107
1,150
234.720
204.124
2003
131.750
1,098
171.554
156.272
1994
1995
201.051
1,151
242.989
211.172
2004
144.799
1,105
188.080
170.170
ab 1993 einschl. neue Bundesländer 160.680
1993
a Hinweis des BKA: Ab 2009 sind die Tatverdächtigen aufgrund der „echten“ Tatverdächtigenzählung nicht mit den Vorjahren vergleichbar. Quelle: Fälle und Tatverdächtige: PKS 1987 – 2011; die Opferdaten wurden vom BKA mit Schreiben vom 23. 4. 2012, Anlage, überlassen.
Tatverdächtige
1,157
246.337
Opfer
Zahl der Opfer pro Fall
2005
212.832
Jahr
2006
1,117
164.284
1,116
208.249
155.219
Fälle
Tatverdächtige
Zahl der Opfer pro Fall
200.308
Opfer
186.447
1997
1996
179.455
Jahr
Fälle
87.356
89.271
1,095
109.334
Tatverdächtige
109.046
Opfer
1,090
100.003
Fälle
1988
Zahl der Opfer pro Fall
1987
Jahr
alte Bundesländer
Übersicht 2 Gewaltkriminalität (PKS-Summenschlüssel 892000), Gegenüberstellung von Fall-, Opfer- und Tatverdächtigenzahlen
Staatliche Opferentschädigung nach der Jahrtausendwende 1249
1250
Bernhard Villmow und Alescha Lara Savinsky
Die interessante Entwicklung bei den Zahlen der Gewaltopfer im Vergleich zu den Falldaten ist, soweit ersichtlich, bisher kaum beachtet und erörtert worden. Im 1. Periodischen Sicherheitsbericht findet sich jedoch für den Zeitraum 1973 – 1999 mit Blick auf die Opferziffern (= Gewaltopfer pro 100.000 der Wohnbevölkerung) folgender Erklärungsversuch32 : „Die Opferziffer hat sich danach in den alten Ländern bis 1999 mehr als verdoppelt. Sie ist etwas stärker angestiegen als die Häufigkeitszahl der insgesamt polizeilich registrierten Gewaltdelikte, was eine Folge davon ist, dass die Zahl der Opfer pro Fall geringfügig angestiegen ist – von 1,05 im Jahr 1973 über 1,07 im Jahr 1980 bis auf 1,12 Opfer im Jahr 1999. Offenkundig hat der Anteil der Gewaltdelikte etwas zugenommen, in denen eine Gruppe von Menschen gleichzeitig angegriffen wurde.33 Diese Entwicklung ist mit einer deutlichen Verjüngung der Gewaltopfer einhergegangen. So ist der Anteil der unter 21-jährigen Gewaltopfer in den 90er Jahren stark angestiegen. 1990 gehörte jedes 4. polizeilich registrierte Gewaltopfer dieser Altersgruppe an, 1999 dagegen etwas mehr als jedes Dritte […]. Pro 100.000 dieser Altersgruppe wurden 1990 210 Gewaltopfer gezählt, 1999 waren es mit 400 fast doppelt so viele.“34 Die in der Übersicht 2 dargestellten Daten zeigen, dass die Zahl der Opfer pro Fall auch nach 1999 bis 2011 kontinuierlich angestiegen ist. Ob diese weitere Entwicklung auch und allein mit dem Ansatz des 1. PSB erklärt werden kann, muss einer zusätzlichen Analyse vorbehalten bleiben. In diesem Kontext sollten auch die Tatverdächtigen mit einbezogen werden35, wobei zu berücksichtigen ist, dass deren Zahl auch durch die PKS-Erfassungsregeln36 und die Aufklärungsquote37 beeinflusst wird.
32
1. PSB (2001), S. 52 f. Zur Entwicklung der in Gruppen agierenden Tatverdächtigen bei den Gewaltdelikten siehe 1. PSB (2001), S. 58. 34 In diesem Kontext ist aber eine erhöhte Anzeigebereitschaft bei leichteren Gewaltdelikten nicht auszuschließen, vgl. 1. PSB (2001), S. 53; Heinz (2004), S. 404 ff. 35 1. PSB (2001), S. 54: „Offenkundig hat die Aggressivität in solchen Szenen und Lebenswelten zugenommen, in denen junge Männer und männliche Jugendliche aufeinandertreffen.“ 36 Vgl. PKS 2010, S. 20 f. Die Zählweise bei den Tätern ist differenzierter als bei den Opfern (z. B. „Echt“-Täterzählung). 37 Die Aufklärungsquote bei den Gewaltdelikten im Zeitraum von 1987 bis 2011 hat sich nach der PKS wie folgt entwickelt: 1987:73,4 %, danach Rückgang bis 1993 zu 65,4 %, seither kontinuierlicher Anstieg bis 2008 auf 75,5 %, danach wird dieses Niveau bis 2011 gehalten (jeweils 75,3 %). Vgl. zu den Folgen der unterschiedlichen Quoten 1. PSB (2001), S. 57 f. 33
Staatliche Opferentschädigung nach der Jahrtausendwende
1251
2. Enger Gewaltdeliktsbegriff und Entwicklung der OEG-Anträge in einzelnen Bundesländern 1999 bis 2011 Aus den bisher dargestellten Überlegungen und Erkenntnissen ergibt sich für die weitere Analyse des Verhältnisses von Gewaltstraftaten bzw. -opfern und OEG-Anträgen, dass die Verwendung eines engen Gewaltbegriffs38 vorzuziehen ist. In diesem Zusammenhang nehmen wir auf der Basis von früheren Studien an, dass sich im Laufe der Jahre in den einzelnen Bundesländern nicht wie in der Übersicht 1 – bezogen auf Deutschland – eine relativ gleichbleibende Antragsquote von 10 – 11 % ergibt, sondern länderspezifische und unterschiedlich verlaufende Entwicklungen deutlich werden. Diese können auf einer Vielzahl von Faktoren beruhen, u. a. auf unterschiedlichen Informationsanstrengungen der Versorgungsämter und der Polizei, unterschiedlichen Aktivitäten der Krankenkassen, unterschiedlichen formellen Möglichkeiten der Antragstellung (Stichwort „verkürzter Polizeiantrag“) und unterschiedlichen Bedürfnislagen der Opfer etc.39 Die verschiedenen Antragsentwicklungen werden am Beispiel der Bundesländer im Vergleich zu den Bundesdaten dargestellt. Der Blick auf die bundesweiten Daten zeigt auf der Basis der Taten, wie schon erwähnt, relativ stabile Verhältnisse. Seit Anfang des Jahrtausends wird aber bei der aus unserer Sicht angemesseneren Berechnungsart, die auf dem engen Gewaltbegriff und den Opferzahlen beruht, bis 2010/2011 eine Tendenz der Antragstellungen nach unten deutlich. Teilweise sehr viel stärker ausgeprägt sind diese negativen Verläufe in den Ländern Sachsen-Anhalt40, Mecklenburg-Vorpommern41, Thüringen42, Hamburg43, Saarland und Sachsen. Geringere Rückgänge finden sich in Brandenburg, ausgehend von einem hohen Niveau, in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Berlin und in Schleswig-Holstein. Demgegenüber stehen positive Entwicklungen der Antragsquoten in Hessen44, Bremen45 und Baden-Württemberg46, während in Bayern und Rhein38 Enger Gewaltbegriff: Einbezogen werden hier folgende Tatbestände: Schlüsselzahl in der PKS 01000 Mord, 020000 Totschlag und Tötung auf Verlangen, 221000 Körperverletzung mit Todesfolge, jeweils inklusive Versuche, 111000 Vergewaltigung und sexuelle Nötigung, 222000 Gefährliche und schwere Körperverletzung, jeweils nur Vollendungen. In empirischen Studien wird deutlich, dass diese Tatbestände im Vordergrund der OEG-Praxis stehen, vgl. Villmow/Plemper (1989), S. 98 ff. 39 Vgl. dazu z. B. Lerch (2011), S. 62 ff. 40 Reduzierung der Quote um ca. 70 %; vgl. auch die Entwicklung der absoluten Antragszahlen 1999: 1153; 2011: 323. 41 Reduzierung der Quote um knapp 65 %, vgl. auch die absoluten Antragszahlen 1999: 890; 2011: 303. 42 Reduzierung um 58 %; vgl. auch die absoluten Antragszahlen 1999: 881; 2011: 356. 43 Nach Einschätzung des Hamburger Landesvorsitzenden des Weissen Rings „liegt das auch an der schlechten Beratung von Opfern in der Hansestadt“ (zitiert nach Hamburger Abendblatt vom 19. 5. 2010). 44 Anstieg um 109 %, vgl. auch die absoluten Antragszahlen 1999: 706; 2011: 1783. 45 Anstieg um 54 %, vgl. auch die absoluten Antragszahlen 1999: 283; 2011: 434. 46 Anstieg um 26 %, vgl. auch die absoluten Antragszahlen 1999: 1757; 2011: 2780.
c
b
a
Db
Da
11,5
10,6
10,1
10,2
10,2
9,9
10,7
10,5
10,7
10,6
10,5
10,8
10,4
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
16,6
Dc
13,3
12,8
12,8
13,1
12,9
13,5
13,0
13,7
13,8
13,8
15,1
Weiter Gewaltbegriff, vgl. PKS, bezogen auf Gewalttaten. Weiter Gewaltbegriff, vgl. PKS, bezogen auf Gewaltopfer. Enger Gewaltbegriff, vgl. Fn. 38, bezogen auf Gewaltopfer.
8,7
9,1
8,8
8,9
9,1
8,9
9,3
8,6
8,9
9,0
8,9
9,5
10,3
Opfer
Taten
Jahr
15,9
15,2
15,6
15,5
15,2
14,2
15,2
12,3
14,8
13,4
13,0
12,2
12,6
BW
11,2
12,2
10,8
10,9
9,4
9,0
9,0
8,9
10,4
10,4
10,3
11,4
13,3
BY
10,8
11,6
10,7
11,6
13,0
12,2
12,8
10,6
12,8
12,3
13,3
15,8
14,3
BE
27,4
28,5
28,9
27,2
29,2
27,1
23,0
24,6
24,2
25,5
26,6
31,2
BB
jeweils Opfer und enger Gewaltbegriff
Übersicht 3 Länderspezifische Entwicklungen der OEG-Antragstellungen im Vergleich zum Bund: % bezogen auf Gewalttaten bzw. Gewaltopfer
22,5
26,3
22,1
20,0
21,4
22,8
25,5
27,7
25,6
25,5
17,5
13,7
14,6
HB
8,0
9,2
8,6
9,0
9,3
10,9
13,0
12,1
12,5
14,6
15,0
17,0
15,8
HH
1252 Bernhard Villmow und Alescha Lara Savinsky
14,3
16,5
2010
2011
MV
11,7
12,1
13,2
15,8
16,0
15,9
13,8
16,5
20,0
27,8
31,0
33,3
NI
10,2
10,1
9,8
12,2
10,8
9,9
11,2
12,9
12,5
13,0
12,4
12,6
14,1
NW
15,6
14,3
13,6
15,1
14,7
15,3
15,3
15,9
16,4
15,2
16,8
19,4
9,5
9,0
8,3
8,5
8,3
8,6
8,2
7,5
7,5
8,0
7,6
9,7
RP
SL
12,9
13,1
13,1
12,2
13,6
13,3
16,3
13,3
15,9
16,7
20,3
20,3
22,8
SN
15,6
16,6
14,7
14,5
17,6
17,6
20,0
17,2
18,0
18,5
25,2
22,2
ST
7,7
9,5
9,0
10,2
10,4
11,3
11,5
13,3
13,4
14,3
16,4
20,2
25,6
SH
11,7
9,2
11,2
9,2
10,2
9,9
9,4
13,2
13,1
13,0
13,3
13,8
14,6
TH
10,4
12,1
11,6
14,2
15,0
19,4
18,1
19,0
18,1
16,7
18,8
24,5
Quelle: Übersichten des Weissen Rings 1999 – 2011; eigene Berechnungen i. V. m. PKS 1999 – 2011 Tabelle 91. PKS der Länder 1999 – 2011 i. V. m. Tabelle Opfer nach Alter und Geschlecht, jedoch nicht alle Daten erreichbar.
12,4
14,3
2008
2009
12,2
12,6
2006
11,3
2005
2007
7,6
8,0
2003
8,0
2002
2004
8,1
8,4
2000
7,9
2001
HE
Jahr
1999
Übersicht 3 (Fortsetzung) jeweils Opfer und enger Gewaltbegriff
Staatliche Opferentschädigung nach der Jahrtausendwende 1253
1254
Bernhard Villmow und Alescha Lara Savinsky
land-Pfalz, wenn auch mit einzelnen Schwankungen, relativ stabile Verhältnisse zu erkennen sind.47 Angesichts der unterschiedlichen Verläufe und der zahlreichen o. a. Einflussfaktoren ist zu prüfen, welche Aspekte hier welche Bedeutung erlangen können. 3. Einzelne Erklärungsansätze für die niedrigen und unterschiedlichen Quoten bei den OEG-Antragstellungen a) Geringe Kenntnisse in der Bevölkerung über das OEG Wenn in der Öffentlichkeit und in den einschlägigen Darstellungen insbesondere des Weissen Rings immer wieder die vergleichsweise geringe Zahl der OEG-Anträge im Vergleich zur Zahl der Gewalttaten oder -opfer beklagt wird, steht (seit inzwischen mehr als drei Jahrzehnten) im Vordergrund der Erklärungen die Annahme, dass das Gesetz in der Bevölkerung weitgehend unbekannt ist. Dies sei, so Schmachtenberg, die Hauptschwäche der Regelungen.48 Größere repräsentative Studien zu dieser Problematik gibt es, soweit ersichtlich, bisher nicht. In einer früheren Hamburger Befragung von Opfern von Gewaltdelikten (OEG-Antragsteller und NichtAntragsteller) wurde deutlich, dass es auch bei den Antragstellern nur begrenzte OEG-Kenntnisse gab, die bei einem größeren Teil wohl erst von den Krankenkassen vermittelt worden waren.49 In einer neueren auf Anregung des Weissen Rings durchgeführten Untersuchung wurden 179 Marburger Studierende der Psychologie und der Rechtswissenschaften einbezogen, von denen 32 bereits einmal Opfer einer Gewalttat geworden waren. Die Ergebnisse zeigten auch bei solchen Personen mit „einem relativ hohen formalen Bildungsniveau“ beim Entschädigungsbereich deutliche Wissensdefizite. Erwartungsgemäß schienen Jurastudierende etwas besser über Opferrechte informiert als Psychologiestudenten, Opfer von Gewalttaten hatten aber kein größeres Wissen über Opferrechte als Nichtopfer.50 In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass der Gesetzgeber im Rahmen des 2. Opferrechtsreformgesetzes, das am 1. 10. 2009 in Kraft getreten ist, den § 406 h StPO neu gefasst und auch mit Blick auf die o. a. Situation reagiert hat. In § 406 h Abs. 1 Nr. 3 StPO heißt es nun ausdrücklich, dass Verletzte möglichst frühzeitig darauf hinzuweisen sind, dass sie nach Maßgabe des OEG einen Versorgungsanspruch geltend machen können.51 In der Regel wird diese Aufgabe die Polizei bei der An47 Der Weisse Ring hat auf der Basis seiner Berechnungsart (Anträge bezogen auf Gewalttaten i. S. d. PKS) eine Rangordnung der Bundesländer für das Jahr 2011 dargestellt; vgl. www.weisser-ring.de/fileadmin/content//Daten-Zahlen-Fakten/Ranking_OEG2011.pdf. 48 Schmachtenberg (2012), S. 141. 49 Villmow/Plemper (1989), S. 127 ff. 50 Stellmacher (2007), S. 47, 53, 56, 57, 58. 51 Vgl. auch Deutscher Bundestag, BT-Drs. Nr. 16/12098, S. 39: „Ohne den betreffenden Hinweis wird Verletzten die Existenz des OEG häufig nicht bekannt sein.“
Staatliche Opferentschädigung nach der Jahrtausendwende
1255
zeigeaufnahme durch die Übergabe eines Merkblattes erfüllen.52 Gemäß Nr. 4 d RiStBV hat der Staatsanwalt zu überprüfen, ob dies geschehen ist, wenn nicht, holt er diese Belehrung nach.53 Zwar ist nach den bundesweiten Zahlen im Jahr 2010 eine leichte prozentuale Steigerung der Antragstellungen zu verzeichnen. Offen muss aber bleiben, ob dies bereits eine Folge der verstärkten Informationspflichten der strafrechtlichen Instanzen ist.54 Eine andere Neuregelung auf der Polizeiebene könnte jedoch größere Wirksamkeit entfaltet haben. Heckmann beschreibt das „Kooperationsmodell Opferhilfe NRW zwischen Polizei und Versorgungsämtern – Übersendung von Daten zum polizeilichen Ermittlungsverfahren und des Antrags des/der Geschädigten auf Leistungen nach dem OEG“ wie folgt55: Es handelt sich um ein vereinfachtes oder verkürztes Antragsverfahren, für das ein eigenes Formular entwickelt wurde. Dieses wird im Rahmen der polizeilichen Ermittlungstätigkeit von der Polizei zusammen mit dem Opfer ausgefüllt. Festgehalten werden die „Stammdaten des Ermittlungsverfahrens“, die verletzte Vorschrift des StGB, außerdem wird die Frage nach einer „gesundheitlichen Schädigung/einem Verdacht auf Gesundheitsstörung“ von der Polizei nach Prüfung56 durch Ankreuzen eines „ja“ beantwortet. Im zweiten Teil des Formblatts werden die persönlichen Daten des Opfers eingetragen, außerdem steht dort der Hinweis, das Opfer sei von der Polizei auf mögliche Ansprüche nach dem OEG aufmerksam gemacht worden. Es folgt die Formulierung: „Ich beantrage daher beim Versorgungsamt wegen der gesundheitlichen Folgen der erlittenen Schädigung Versorgungsleistungen. Ich bitte die Polizei, diesen Antrag entsprechend (an das Versorgungsamt) weiterzuleiten.“ Unterschrift des/der Geschädigten. In der neueren Literatur wird bei diesem Ablauf von „durch die Polizei eingereichten Anträgen“ gesprochen in Abgrenzung zu „Anträgen eingereicht durch die Krankenkassen“57, wobei es wohl rechtlich korrekt und weniger missverständlich heißen müsste „Anträge des Opfers, eingereicht durch …“. In der Studie von Lerch sah das Bild für die Jahre 2006 bis 2010 in Hessen wie folgt aus: Zunächst hatten die durch die Krankenkassen weitergeleiteten Anträge einen Anteil von über 40 %. Im Jahr 2010 betrug die Quote der über die Polizei eingereichten Anträge 52 Teilweise wird dies als nicht ausreichend kritisiert und es für sachgerechter gehalten, wenn die Rechte kurz erläutert und auf die konkrete Ausgangslage bezogen dargestellt werden, vgl. Hofmann (2010), S. 4 f. 53 Vgl. Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. (2012), § 406 h Rn. 3. 54 Zweifel dürften auch deswegen bestehen, weil ein Verstoß gegen die Informationspflichten als nicht revisibel angesehen wird, vgl. Meyer-Goßner (Fn. 60), § 406 h Rn. 8. Damit dürfte die Bedeutung der Regelung begrenzt sein. 55 Heckmann (2004), S. 178 ff. 56 Diese erfolgt in Verbindung mit der Anwendung eines sogenannten „Risikoindex“, der helfen soll, die Belastung des Opfers einzustufen. 57 Lerch (2011), S. 34. Zur Problematik der von den Krankenkassen für ihre Patienten eingereichten Kurzanträge siehe Grundel/Blättner (2011), S. 21.
1256
Bernhard Villmow und Alescha Lara Savinsky
32,7 % und überstieg damit diejenige der über die Krankenkassen zum Versorgungsamt gelangten Anträge (24,8 %). Lerch stellt fest: „Damit wurden über die Hälfte der Anträge auf Initiative der Krankenkassen und der Polizei gestellt, die andere Hälfte (…) erfolgte auf Aktivitäten von Opferschutzorganisationen, Rechtsanwälten und den Opfern selbst“.58 Gleichzeitig wurde aber auch erkennbar, dass hier nicht eine gleichmäßige Entwicklung in den sieben Flächenpräsidien der hessischen Polizei vorlag, sondern entsprechend der jeweiligen Behördenaktivitäten „große Unterschiede“ innerhalb der Präsidien deutlich wurden.59 Dies lässt vermuten, dass – soweit in den anderen Bundesländern ebenfalls solche polizeilich unterstützten Antragsmöglichkeiten vorliegen bzw. nicht vorhanden sind – hier möglicherweise einer von mehreren Erklärungsansätzen für die o. a. sehr verschiedenen regionalen Entwicklungen der OEG-Antragszahlen gefunden werden kann. Wir haben deshalb im Sommer 2012 in einer Umfrage untersucht, in welchen Bundesländern ab wann diese Alternative in welcher Form den Opfern von Gewaltdelikten angeboten worden ist. Es ergab sich folgendes Bild (vgl. Übersicht 4): In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass bei den Kurzanträgen sehr unterschiedliche Verfahrensweisen erkennbar werden, in denen die Polizeibeamten teilweise aktiv in den Antragsvorgang eingebunden sind und teilweise nur Informationen vermitteln in Verbindung mit der Übergabe eines Merkblattes bzw. des Kurzantragsformulars. Plausibel erscheint, dass die Opfer am meisten entlastet werden, wenn sie in der Anzeigesituation nur ein Antragsformular mit einem Satz unterschreiben müssen und dieses dann von der Polizei an die zuständige Stelle weitergeleitet wird. Die damit verbundene Dokumentationspflicht in den Strafakten sichert die formale Seite ab. Diese aus Opfersicht vermutlich optimale Verfahrensweise in der regelmäßig in mehrfacher Hinsicht sehr schwierigen und belastenden Situation kurz nach der Tat60 ist in mehreren, aber nicht in allen Bundesländern zu finden.61 Am inhaltlich aufwendigsten erscheint gegenwärtig der Entwurf aus Sachsen-Anhalt. Bei der Prüfung, ob sich die Einführung dieser erleichterten Anträge, die ja zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in inhaltlich teilweise verschiedener Form eingesetzt wurden, in den Antragszahlen der einzelnen Bundesländer niederschlug, wird mit Blick auf die Übersicht 3 ein ambivalentes Bild erkennbar. Zwar kann man z. B. 58
Lerch (2011), S. 34. Lerch (2010), S. 43. 60 In der Expertenbefragung von Lerch (2011), S. 86 wird darauf hingewiesen, dass „die Informationsbroschüren in vielen Fällen zu umfangreich und unverständlich (sind). Darüber hinaus ist ein Opfer im unmittelbaren Zusammenhang mit der Straftat so von der Viktimisierungserfahrung gekennzeichnet, dass es häufig nicht aufnahmefähig für Informationen ist.“ 61 In diesem Zusammenhang sei noch angemerkt, dass es einigermaßen erstaunlich erscheint, dass nach den baden-württembergischen Informationen der Kurzantrag dort bereits 1989 eingeführt worden sein soll und erst etwa 10 Jahre später andere Länder dieser Neuerung gefolgt sind. Üblicherweise werden solche neuen Verfahren, insbesondere wenn sie die Opfer begünstigen, während der regelmäßigen Tagungen des Weissen Rings dargestellt und erörtert. Soweit ersichtlich liegen hierzu aber keine entsprechenden Dokumentationen vor. 59
Staatliche Opferentschädigung nach der Jahrtausendwende
1257
Übersicht 4 Möglichkeit eines OEG-Kurzantrags bei der Polizei in den Bundesländerna Bundesland
BW
BY
BE
Kurzantrag über Polizei möglich
seit
Anmerkung
ja
Gemeinsame VV des Arbeits-, Innen- u. Justizministeriums: Polizei hat Aushändigung des Merkblatts mit Kurzantrag aktenkundig Ungefähr zu machen. Text im Formular: „Hiermit beJanuar antrage ich Leistungen nach dem OEG und 1989 bitte um Übersendung der erforderlichen Antragsunterlagen.“ Übersendung durch das Opfer an das Landratsamt.
ja
Antragsformular mit Briefkopf der Polizeidienstelle: enthält einzelne Angaben zum Delikt; angekreuzt wird „Gesundheitliche Schädigung/ Verdacht auf Gesundheitsstörung“; persönliche 1.10.2004 Angaben zur Geschädigtenperson, der OEGAntrag ist ausformuliert, Unterschrift. Mit Einverständnis des Opfers leitet die Polizei den Antrag an das ZBFS weiter.
nur im Rahmen des Modellprojekts Traumaambulanzen
Januar 2012
Kurzantrag: „Ich beantrage Leistungen nach dem OEG.“ Der Kurzantrag signalisiert, dass ein Betroffener die Traumaambulanz im Rahmen der OEG-Antragstellung in Anspruch nehmen wird. In der ersten Sitzung der Behandlung wird dann der eigentliche Antragsvordruck (soweit noch nicht geschehen) ausgefüllt und wie der Kurzantrag über die Traumaambulanz per Fax an das LAGeSo geschickt.
2003
Nach Auskunft des LASV halten Polizeidienststellen einen verkürzten OEG-Antrag vor, der bei Einverständnis des Geschädigten von der Polizei an die Versorgungsverwaltung weitergeleitet wird.
BB
ja
HB
in Planung
vorgesehen i. V. m. der Einführung von Traumaambulanzen
ja (als Pilotprojekt)
Antragsformular mit Briefkopf „Polizei HH“, darin vorgedruckte allgemeine Erklärung des/ der Geschädigten (Opfer eines tätlichen Angriffs etc., Antragstellung nach OEG). Zur Weiterleitung des Antrags: „Ich bitte die Polizei, diesen Antrag entsprechend weiterzuleiten und willige hiermit ausdrücklich in die Datenübermittlung an das Versorgungsamt HH ein.“
HH
2012
1258
Bernhard Villmow und Alescha Lara Savinsky Übersicht 4 (Fortsetzung)
Bundesland
Kurzantrag über Polizei möglich
HE
ja
MV
nein
seit
2004
Anmerkung Antragsformular mit Briefkopf „Polizei“, darin Angaben zum Ermittlungsverfahren und Erklärung des Geschädigten hinsichtlich des OEG-Antrags. Zur Weiterleitung: „Ich bitte die Polizei, diesen Antrag entsprechend weiterzuleiten.“ Möglicherweise werden Kurzanträge im Rahmen des Aufbaus von Traumaambulanzen angestrebt. Stand der Entwicklung ist unklar.
NI
ja
2007 (?)
Inhalt des Formulars: „Hiermit beantrage ich Leistungen nach dem OEG und bitte um Übersendung der Antragsunterlagen.“ Weiterleitung des Formulars durch Opfer an angegebene Adresse Niedersächsisches Landesamt für Soziales, Jugend und Familie.
NRW
ja
2002 (?)
wie Hessen, vgl. auch nähere Beschreibung im Text oben
RP
nein
ja
1.6.2004
Information über das OEG durch Polizei und Aushändigung des Merkblatts für Opfer von Gewalttaten, das auch einen Kurzantrag beinhaltet. Inhalt: „Aufgrund der am … in … gegen mich verübten Gewalttat, bei der ich eine Körperverletzung erlitten habe, stelle ich hiermit einen Antrag auf Versorgung nach dem OEG. Anzeige habe ich bei folgender Polizeidienststelle erstattet…“. Belehrung und Aushändigung des Merkblatts sind in der Ermittlungsakte zu dokumentieren. Antrag wird vom Opfer an das Landesamt für Soziales abgeschickt.
ja
Im Rahmen eines Merkblattes zum OEG, das von der Polizei ausgehändigt wird, ist ein Kurzantragsformular enthalten: „Ich beantraUngefähr ge Leistungen nach dem OEG und bitte um 1998 Übersendung der förmlichen Antragsunterlagen.“ Das Formular ist durch das Opfer an den Kommunalen Sozialverband Sachsen zu übersenden.
SL
SN
Staatliche Opferentschädigung nach der Jahrtausendwende
1259
Übersicht 4 (Fortsetzung) Bundesland
Kurzantrag über Polizei möglich
ST
Der Kurzantrag liegt derzeit nur im Entwurf vor und wurde noch nicht veröffentlicht
SH
ja
TH
ja
seit
21. 2. 2011
2004
Anmerkung Der Entwurf des Kurzantrags umfasst zwei Seiten und verlangt Angaben zur Person, zur Schädigung und zum Tathergang, außerdem Angaben über die Krankenversicherung sowie eine Einwilligungserklärung hinsichtlich der Einholung von Auskünften und der Beiziehung von Unterlagen. Der Entwurf wurde im Rahmen der Errichtung einer Traumaambulanz entwickelt, der Vordruck soll aber auch außerhalb genutzt werden können. Formular mit Briefkopf Polizeidienststelle, darin Angaben durch Polizei hinsichtlich Straftat und gesundheitlicher Schädigung/ Verdacht auf Gesundheitsstörung (Kreuz bei „Ja“). Ankreuzen durch Opfer: „Ich bin von der Polizei darauf aufmerksam gemacht worden, dass ich wegen der aufgeführten Straftat möglicherweise Anspruch auf Leistungen nach dem OEG habe. Ich beantrage (…) Versorgungsleistungen. Ich bitte die Polizei, diesen Antrag entsprechend weiterzuleiten.“ Der Kurzantrag ist per Fax von der Polizei an die zuständige Außenstelle des Landesamts für soziale Dienste zu senden. Bei Anzeigeaufnahme wird Faltblatt „Information zum OEG“ ausgehändigt. Am Ende ist ein kurzes Antragsformular mit der Opferadresse auszufüllen und folgender Satz zu unterschreiben: „Hiermit beantrage ich Leistungen nach dem OEG und bitte um Übersendung der erforderlichen Antragsunterlagen.“ Das Opfer sendet das Formular an das Landesverwaltungsamt.
a
In Baden-Württemberg und in Schleswig-Holstein wurde eine zeitliche Begrenzung der Wirksamkeit der einschlägigen Regelungen angegeben.
für Hessen (seit 2004) wahrnehmen, dass möglicherweise Steigerungen bei den Antragsquoten erreicht wurden, doch gilt für Nordrhein-Westfalen (seit vermutlich 2002) und das Saarland (seit 2004), dass nach der Einführung kein spezieller positiver Verlauf deutlich wird, aber möglicherweise sind zu diesen Zeitpunkten die vorherigen negativen Entwicklungen gebremst worden. Auch in Thüringen (seit 2004) sind die Rückgänge der Antragsquoten nicht aufgehalten worden. Einer abschließen-
1260
Bernhard Villmow und Alescha Lara Savinsky
den Bewertung der Bedeutung der Kurzanträge müssten u. E. allerdings detailliertere Analysen der in diesem Zusammenhang relevanten Polizeiaktivitäten sowie der Einstellungen der Opfer zu diesen Antragsformen vorangehen. Dass diese Faktoren nicht die einzigen für einen OEG-Antrag sind, wird auch im Folgenden deutlich. b) Opferbedürfnisse und Antragstellung Ein weiterer Ansatz zur Erklärung der niedrigen Antragsquoten geht von den Opferinteressen aus und fragt, ob mit den durch die OEG/BVG-Regelungen vorgesehenen Leistungen die wirkliche Bedürfnislage der Opfer von Gewaltdelikten nach der Viktimisierung ausreichend berücksichtigt wird. In diesem Kontext wurde es für möglich gehalten, dass „es nicht immer nur um eine größere finanzielle Hilfe geht, sondern auch andere Aspekte wie verbesserte Krisenintervention und längerfristige emotionale Unterstützung und Betreuung für die Opfer wichtig sind“.62 In den größeren Opferbefragungen der 1980er und 1990er Jahre wurden die Bedürfnisse der Opfer von Straftaten genauer erfasst und zwischen einzelnen Deliktsgruppen differenziert. Dabei stellte sich in der Studie von Baurmann/Schädler heraus, dass sich die Opfer von Gewaltdelikten insbesondere psychische Unterstützung und – wie die anderen Opfergruppen auch – rechtliche Beratung und Hilfe beim Erledigen von Formalitäten sowie eine effektive Prävention vor weiteren Viktimisierungen wünschten.63 Die medizinische Hilfe und Behandlung wurde relativ selten als Bedürfnis benannt, denn auch bei den Gewaltopfern zeigten nur 7 % ein entsprechendes Interesse. Zu vermuten ist deshalb, dass sich die meisten Opfer im Rahmen der Leistungspalette des Gesundheitssystems in Deutschland abgesichert und ausreichend versorgt fühlen.64 Ähnliche Resultate ergaben sich auch aus der Studie von Kilchling. Nur knapp 7 % der hier erfassten Gewaltopfer stellten einen Ersatz des Schadens in den Vordergrund. Deutlich größer war das Begehren von Hilfe im Sinne von Krisenintervention (17 %), wobei die Opfer der Untergruppen Raub bzw. sexueller Angriff hier die intensivsten Bedürfnislagen zeigten (31 bzw. 21 %).65 Auch Lerch gelangt auf der Basis ihrer Literaturauswertung und ihrer Expertenbefragung zur Einschätzung, dass das materielle Entschädigungsbedürfnis nur eine untergeordnete Rolle bei den Gewaltopfern spielt und dies ein Faktor für die häufige Nicht-Antragstellung sein kann.66 Da die Kosten für die Heil- und Krankenbehandlung in der Regel von 62
Villmow/Plemper (1989), S. 203. Baurmann/Schädler (1991), S. 142, 186; vgl. auch Baurmann (2003), S. 79 f. 64 Baurmann/Schädler (1991), S. 142, 179. Wie viele Bundesbürger ohne Krankenversicherungsschutz leben, ist offiziell nicht bekannt. Schätzungen im Jahr 2006 gingen von ca. 400.000 Personen aus (FAZ v. 7. 6. 2006). Nach anderen Berechnungen sind es allein 600.000 Sozialhilfeempfänger sowie 300.000 Asylbewerber (DMEuro Heft Januar 2003). 65 Kilchling (1995), S. 180 ff. 66 Lerch (2011), S. 28, 58 f., 61, 68. Die Autorin verweist in diesem Kontext im Übrigen auf eine Studie von Sessar (1992), S. 169, in der nur 8 % der Opfer von Gewaltdelikten die 63
Staatliche Opferentschädigung nach der Jahrtausendwende
1261
den Krankenversicherungen übernommen werden, bleibt für die Opfer nur schwer einschätzbar, was sie durch einen OEG-Antrag zusätzlich erwarten können.67 c) Weitere mögliche Einflussfaktoren auf die Antragstellung Neben den bisher erörterten Aspekten, die für viele Beobachter im Vordergrund stehen, werden weitere Faktoren benannt, die Opfer von Gewaltdelikten von der Antragstellung abhalten (können). Einzelne Betroffene fürchten, neben den Primärschäden auch sekundäre Viktimisierungen nicht ausschließen zu können, da sie mit wenig einfühlsamen und inadäquaten Reaktionen von Behördenvertretern rechnen.68 Die bisherigen einschlägigen empirischen Erkenntnisse lassen zwar bei einem Teil der Opfer entsprechende Gefährdungen erkennen69, jedoch dürften im Rahmen der deutschen Opferschutzgesetzgebung während der letzten Jahre die vielfältigen öffentlichen Erörterungen der Belastungen und Bedürfnisse der Opfer zu einem größeren Problembewusstsein auf Seiten der beteiligten Behörden geführt und die Notwendigkeit von Schulungsmaßnahmen und Umorientierungen verdeutlicht haben.70 Weitere Aspekte, die einen Verzicht auf die Antragstellung auslösen können, geraten bei realistischer Beratung durch OEG-erfahrene Anwälte und Opferhilfeorganisationen in das Blickfeld der Opfer. So wird u. a. darauf hingewiesen (werden müssen), dass die Verfahren, auch u. U. wegen notwendiger Gutachten, lange dauern können71, dass für Rentenleistungen nur bei relativ wenigen Opfern die Voraussetzungen vorliegen72 und dass insgesamt die Zahl der positiven Entscheidungen im Bereich der staatliche Opferentschädigung als wichtigstes Opferbedürfnis benannt haben. Da die konkrete, neben anderen in eine Rangordnung zu bringende Antwort-Vorgabe wie folgt formuliert war „Für das Opfer ist wichtig, dass der Staat sich um das Opfer kümmert“ (Sessar 1992, Anhang S. 5/5 a), haben wir erhebliche Zweifel, ob die Befragten hier durchweg die staatliche Opferentschädigung i. S. d. OEG/BVG vor Augen hatten, zumal die Informationsdefizite hinsichtlich dieser Regelungen ja allgemein bekannt sind und beklagt werden. 67 Vgl. auch Lerch (2011), S. 85; Hamburger Senat in Bürgerschaft FHH Drucksache 19/ 5606 v. 12. 3. 10, S. 1. 68 Vgl. dazu Villmow/Plemper (1989), S. 5 f., 110 ff.; Schneider (1998), S. 329; Haupt u. a. (2003), S. 216. 69 Zum empirisch-viktimologischen Forschungsstand Kölbel (2007), S. 336 ff.; die aktuellste und detaillierte Sekundäranalyse von Kölbel/Bork (2012) kommt auf der Basis der internationalen Forschung zu dem Ergebnis, dass „zu Quantität und Qualität des Problems keine gesicherten Aussagen möglich sind … und die dahin gehenden Annahmen bislang keine zuverlässige empirisch-wissenschaftliche Grundlage haben“ (S. 74). 70 Vgl. zu differenzierten längerfristigen empirischen Erkenntnissen bezüglich des Polizeiverhaltens (positive Veränderungen) und des Gerichtsverfahrens aus der Sicht von viktimisierten Frauen 2. PSB (2006), S. 121 (auf der Basis der Studie von Müller/Schröttle [2004]). 71 Zu früheren Hamburger Daten (im Durchschnitt knapp ein Jahr) und weiteren Ursachen der Zeitverzögerungen vgl. Villmow/Plemper (1989), S. 133 ff. Zu aktuellen Zahlen siehe Fn. 5 oben. 72 Festgestellter Grad der Schädigungsfolge von mindestens 25 %. Vorübergehende Gesundheitsstörungen sind nicht zu berücksichtigen; als vorübergehend gilt ein Zeitraum von bis
1262
Bernhard Villmow und Alescha Lara Savinsky
staatlichen Opferentschädigung eher gering ausfällt.73 Deren Entwicklung wird im Folgenden betrachtet.
IV. Entwicklung der Entscheidungsstrukturen in den Entschädigungsverfahren Betrachtet man zunächst die Entwicklung der Zahlen, die sich auf die Bundesrepublik beziehen, werden relativ stabile Verhältnisse bei den Entscheidungsstrukturen erkennbar. Etwa vier von zehn Anträgen werden negativ beschieden, ein gutes Drittel der Opfer bekommt einen positiven Bescheid, wobei etwa jedem 14. Antragsteller eine Rente zugesprochen wird.74 Ein Blick auf die einzelnen Länderdaten lässt aber (teilweise erhebliche) Unterschiede und Sonderentwicklungen erkennen.75 Diese Unterschiede ergeben sich einerseits zwischen den Ländern und andererseits beim einzelnen Land im Zeitvergleich, wobei im Folgenden nur ausgewählte Aspekte angesprochen werden können: Die größten Chancen auf eine Leistung nach OEG/BVG hatten nach den Anerkennungsquoten über die Jahre hinweg76 die Antragsteller in Sachsen-Anhalt und in Thüringen, wobei jedoch auffällt, dass in diesen Regionen die Zahl der Antragstellungen deutlich abgesunken ist.77 Die geringsten Chancen werden auf der Basis der Anerkennungsquoten für die Antragsteller in Niedersachsen und Bremen78 erkennbar. Höhere Ablehnungsquoten ergeben sich außer in Bremen (im Lauf der Jahre mehrfach über 60 %) auch im Saarland und in Berlin, jedoch hat sich diese Tendenz in beiden Bundesländern in den letzten Jahren etwas abgeschwächt. Für Niedersachsen gilt allerdings, dass die o. a. erste Erkenntnis überprüft werden muss: Deutlich wird zum einen, dass der Anteil der Rentenbewilligungen in den Jahren 2010/ 2011 überdurchschnittlich hoch ausgefallen ist. Bei der Interpretation der weiteren niedersächsischen Daten ist außerdem zu beachten, dass hier möglicherweise die einzelnen Entscheidungen anders eingeordnet werden als in den übrigen Ländern: so
zu sechs Monaten, vgl. §§ 30, 31 BVG. Siehe auch Hamburger Senat in Bürgerschaft FHH Drucksache 19/5606 v. 12. 3. 2010, S. 1. 73 Vgl. die einzelnen Expertenmeinungen zu den verschiedenen Faktoren bei Lerch (2011), S. 62 ff. 74 Zur Bewertung dieser Struktur Schmachtenberg (2012), S. 143 f. 75 Vgl. dazu bereits Villmow/Plemper (1989), S. 88 ff. 76 Hier wurden zwar alle vom Weissen Ring erfassten 13 Jahre überprüft; in der Übersicht 5 konnten jedoch die Daten nur punktuell dargestellt werden. 77 Vgl. auch die entsprechenden Verläufe bei der Zahl der erledigten Anträge in Übersicht 5. Diese Entwicklung wird in vier der fünf neuen Bundesländer erkennbar, die Ausnahme ist Sachsen. 78 Vgl. auch Bürgerschaft FHH Drucksache 18/2222 v. 13. 5. 1005, S. 2.
1999 2005 2011
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1999 2005 2011
BW
BY
BE
BB
HB
HH
HE
Bundesland Jahr
168 / 8,4 233 / 13,6 280 / 14,9 80 / 4,4 118 / 8,1 94 / 7,3 49 / 2,9 53 / 5,8 27 / 3,0 15 / 2,8 18 / 3,2 19 / 3,8 25 / 4,5 33 / 5,1 35 / 6,3 111 / 12,1 162 / 13,6 111 / 7,1
721 / 36,1 572 / 33,3 621 / 33,1 489 / 27,0 336 / 23,1 396 / 30,6 611 / 36,4 217 / 23,5 264 / 29,6 136b / 25,4 136 / 23,8 106 / 21,3 190 / 34,0 177 / 27,2 194 / 35,1 422 / 46,1 340 / 28,6 550 / 35,4
889 / 44,5 805 / 46,9 901 / 48,1 569 / 31,4 454 / 31,1 490 / 37,9 660 / 39,3 270 / 29,3 291 / 32,6 151 / 28,2 154 / 27,0 125 / 25,2 215 / 38,5 210 / 32,2 229 / 41,4 533 / 58,3 502 / 42,2 661 / 42,5
783 / 39,2 659 / 38,4 625 / 33,4 1014 / 56,0 791 / 54,3 577 / 44,6 687 / 40,9 371 / 40,2 317 / 35,5 359 / 67,1 367 / 64,3 316 / 63,6 270 / 48,3 348 / 53,4 240 / 43,4 229 / 25,0 519 / 43,6 750 / 48,3
1810 1458 1293 1679 922 893 535 571 497 559 652 553 915 1190 1554
14,3 12,8 10,8
31,2 27,1 (27,4)
14,6 25,5 22,5
15,8 13,0 8,0
7,9 11,3 16,5
182 / 10,7 193 / 7,2 196 / 7,5
1996 1718 1874
566 / 33,2 740 / 27,7 748 / 28,7
11,8 14,0 (12,2)a
748 / 43,8 933 / 35,0 944 / 36,3
1707 2669 2603
591 / 34,6 1211 / 45,4 1055 / 40,5
Zahl der AbZahl der Aner- Zahl der Anerkennun- Zahl der Rentenbewillehnungen / % kennungen ins- gen – Grad der Schädi- ligungen – Grad der Schädigung über gung unter 25 %3 / bez. auf erled. gesamt2 / % bez. auf erled. Antr. % bez. auf erled. Antr. 25 % / % bez. auf Antr. erled. Antr.
12,6 15,2 15,9
Verhältnis Zahl Zahl der der Anträge / Zahl pro Jahr der Opfer in % erledigten (eng. Gewaltbegr.) Anträge1
Übersicht 5 Entscheidungsstruktur bei den Versorgungsämtern 1999 – 2005 – 2011
Staatliche Opferentschädigung nach der Jahrtausendwende 1263
1999 2005 2011
1999 2005 2011
1999 2005 2011
1999 2005 2011
1999 2005 2011
NW
RP
SL
SN
ST
NI
1999 2005 2011 1999 2005 2011
MV
Bundesland Jahr
Übersicht 5 (Fortsetzung)
70 / 10,3 38 / 4,8 49 / 6,4 17 / 4,0 8 / 2,0 21 / 6,7 33 / 3,0 42 / 4,3 8 / 0,8 50 / 3,5 65 / 9,4 31 / 7,5
294 / 43,4 285 / 35,8 298 / 38,7 108 / 25,2 125 / 31,7 115 / 36,5 319 / 28,8 320 / 32,4 264 / 26,4 618 / 43,2 330 / 47,8 198 / 47,7
364 / 53,7 323 / 40,6 347 / 45,0 125 / 29,2 133 / 33,7 136 / 43,2 352 / 31,8 362 / 36,7 272 / 27,2 668 / 46,7 395 / 57,2 229 / 55,2
221 / 32,6 267 / 33,5 284 / 36,8 250 / 58,4 208 / 52,7 141 / 44,8 645 / 58,3 478 / 48,4 460 / 45,9 677 / 47,3 256 / 37,1 156 / 37,6
678 796 771 428 395 315 1106 987 1002 1431 691 415
22,8 16,3 12,9
22,2 17,6 (15,6)
25,6 11,5 7,7
389 / 6,9 541 / 8,9 280 / 5,3
1938 / 34,6 1847 / 30,4 1628 / 30,7
2327 / 41,5 2388 / 39,3 1908 / 36,0
1922 / 34,3 2541 / 41,8 2383 / 45,0
5609 6079 5300
19,4 15,3 (15,6)
9,7 8,6 (9,5)
32 / 3,0 16 / 3,3 36 / 10,2 146 / 7,7 155 / 8,6 194 / 11,3
227 / 21,3 230 / 47,0 133 / 37,8 409 / 21,4 267 / 14,8 243 / 14,2
259 / 24,3 246 / 50,2 169 / 48,0 555 / 29,1 422 / 23,4 437 / 25,5
402 / 37,7 204 / 41,6 164 / 46,6 847 / 44,4 619 / 34,3 666 / 38,9
1067 490 352 1909 1806 1714
Zahl der AbZahl der Aner- Zahl der Anerkennun- Zahl der Rentenbewillehnungen / % kennungen ins- gen – Grad der Schädi- ligungen – Grad der Schädigung über gung unter 25 %3 / bez. auf erled. gesamt2 / % bez. auf erled. Antr. % bez. auf erled. Antr. 25 % / % bez. auf Antr. erled. Antr.
33,3 15,9 (11,7) 15,4 11,2 10,2
Verhältnis Zahl Zahl der der Anträge / Zahl pro Jahr der Opfer in % erledigten (eng. Gewaltbegr.) Anträge1
1264 Bernhard Villmow und Alescha Lara Savinsky
31 / 4,1 k.A. 66 / 8,8 30 / 3,5 63 / 9,6 34 / 11,3 1428 / 6,2 1738 / 8,0 1481 / 7,3
227 / 30,0 k.A. 234 / 31,2 441 / 50,8 294 / 44,8 106 / 35,1 7716 / 33,5 6216 / 28,6 6098 / 30,2
258 / 34,1 239 / 35,9 300 / 40,0 471 / 54,2 357 / 54,3 140 / 46,4 9144 /39,7 8193 / 37,7 7579 / 37,5
317 / 41,9 334 / 50,2 313 / 41,7 346 / 39,8 233 / 35,5 134 / 44,4 9560 / 41,5 9406 / 43,3 8581 / 42,5
757 666 750 869 657 302
23055 21747 20188
16,6 13,5 (13,3)
Deutschland 1999 2005 2011
TH
SH
2
Einschließlich der „Erledigungen aus sonstigen Gründen“ (u. a. Rücknahme des Antrags, Tod etc.). Der Hamburger Senat gibt in Bürgerschaft FHH Drucksache 19/648 v. 8. 7. 2008, S. 3 f. für die Jahre 2005 bzw. 2006 bei einzelnen Bundesländern bei den „Anerkennungen insgesamt“ teilweise erheblich abweichende Zahlen an, die mit denjenigen des Weissen Rings nicht übereinstimmen und u. E. nicht zutreffend sind. 3 Übernahme von Heilbehandlungskosten. a Wenn die Zahlen für 2011 nicht zur Verfügung standen, werden in Klammern diejenigen von 2010 angegeben. b Anmerkung des Weissen Rings (Nr. 4): „Hinzu kommen 85 Fälle von Gewährung von Heil- und Krankenbehandlungskosten für ,nur‘ vorübergehende Gesundheitsstörungen.“ Quelle: Weisser Ring – Internetdatenübersicht 1999 – 2011 und eigene Berechnungen.
1
Übersicht 5 (Fortsetzung) Zahl der AbZahl der Aner- Zahl der Anerkennun- Zahl der Rentenbewillehnungen / % kennungen ins- gen – Grad der Schädi- ligungen – Grad der Schädigung über gung unter 25 %3 / bez. auf erled. gesamt2 / % bez. auf erled. Antr. % bez. auf erled. Antr. 25 % / % bez. auf Antr. erled. Antr.
14,6 9,4 11,7 24,5 19,4 (10,4)
Verhältnis Zahl Zahl der der Anträge / Zahl pro Jahr der Opfer in % erledigten (eng. Gewaltbegr.) Anträge1
1999 2005 2011 1999 2005 2011
Bundesland Jahr
Staatliche Opferentschädigung nach der Jahrtausendwende 1265
1266
Bernhard Villmow und Alescha Lara Savinsky
fällt auf, dass die Quote der „Erledigungen aus sonstigen Gründen“79 im erfassten Zeitraum von 13 Jahren deutlich höhere Werte als der Bundesdurchschnitt erreicht.80 Hinzu kommt, dass nach Angaben des Weissen Rings generell von einer uneinheitlichen Registrierungspraxis ausgegangen werden muss: „In einzelnen Bundesländern werden die als vorübergehende bzw. bei einer MDE von unter 25 % anerkannten Gesundheitsstörungen mit Anspruch auf Heilbehandlung als Ablehnung erfasst“.81 Da diese Länder in den Übersichten nicht benannt werden und somit nicht gesondert betrachtet werden können, erschwert diese Praxis die Vergleichbarkeit der Daten82 und verhindert eine präzise Bewertung und Einordnung der regionalen OEG-Entscheidungsstrukturen. Im zeitlichen Verlauf weist z. B. Bayern eine vergleichsweise stabile Entscheidungsstruktur auf, wobei die bereits überdurchschnittliche Rentenquote im letzten Jahrzehnt weiter angestiegen ist. Ebenfalls relativ stabil erscheint die Situation in Bremen, allerdings – wie erwähnt – eher ungünstig für die Opfer.83 Auch in Hessen lassen sich längerfristig Entwicklungen zu Lasten der Antragsteller erkennen.84 Der umgekehrte Verlauf ergibt sich z. B. im Saarland. Sachsen fällt im Jahr 2011 auf wegen einer deutlich unterdurchschnittlichen Rentenquote. Eine nähere Prüfung der Daten der früheren Jahre zeigt aber, dass ein solcher „Tiefpunkt“ bisher als Ausnahme wahrzunehmen ist. Bedauerlich erscheint, dass bei den Übersichten des Weissen Rings die Ablehnungsquoten der Länder die Entscheidungen nach § 2 OEG nicht gesondert ausweisen.85 Ein Entschädigungsantrag muss abgelehnt werden, wenn die Voraussetzungen des § 1 OEG nicht erfüllt sind. Das Versorgungsamt muss bzw. kann aber auch bei Vorliegen aller Merkmale des § 1 die Leistungen versagen, wenn dem Opfer ein Fehlverhalten i. S. d. § 2 vorzuwerfen ist. In diesem Kontext liegen Beurteilungsspielräume („unbillig“, § 2 Abs. 1 OEG) und Ermessensmöglichkeiten (insbesondere bei der „Mitwirkungspflicht“ gem. § 2 Abs. 2 OEG) vor, bei denen sich unter79
In Übersicht 5 aus Raumgründen nicht abgebildet, aber errechenbar: Erledigte Anträge – (Ablehnungen + Anerkennungen insgesamt). In den Übersichten des Weissen Rings finden sich ab 2001 die entsprechenden absoluten und ab 2004 zusätzlich die %-Zahlen. 80 Nach den Erläuterungen des Weissen Rings werden mit den Erledigungen aus sonstigen Gründen u. a. Rücknahme des Antrags, Abgabe an andere VA, Wegzug, Tod erfasst. 81 Jeweils Anmerkung Nr. 3 bei den Jahresübersichten des Weissen Rings. Vgl. auch den Diskussionsbeitrag von Paukert im Anschluss an Schmachtenberg (2012), S. 156, 159. 82 Dass hier keine einheitlichen Registrierungsregelungen für die Statistik vorliegen, erscheint nicht nachvollziehbar. 83 Diese hier angesprochenen Länder-Unterschiede bei rechtlichen Entscheidungen finden sich auch z. B. bei den strafrechtlichen Einstellungen gem. §§ 153 ff. StPO und §§ 45, 47 JGG und im Bereich der Strafzumessung. 84 Die Situation ist aber immer noch opferfreundlicher im Vergleich zu den 1980er Jahren, vgl. Villmow/Plemper (1989), S. 84. 85 Nach einer Umfrage, die wir im Jahr 2008 durchgeführt haben, wurden damals die entsprechenden statistischen Daten nur in sechs Bundesländern dokumentiert, in zehn wurden sie nicht erfasst.
Staatliche Opferentschädigung nach der Jahrtausendwende
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schiedliche Vorstellungen von angemessenem Opferverhalten, unterschiedliche Wertorientierungen und Strategien in den Versorgungsämtern auswirken und zu wenig übereinstimmenden Entscheidungsstrukturen führen können.86 Darüber hinaus können bei (u. U. fehlerhaften) Begründungen i. V. m. den verschiedenen Alternativen des § 2 (negative) Etikettierungen und – im Einzelfall – auch sekundäre Viktimisierungen nicht ausgeschlossen werden.87 In früheren Studien wurde deutlich, dass auch im Bereich des § 2 OEG die Anwendungspraxis in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich ausgefallen ist. Dies gilt auch für die länderspezifische Entwicklung im zeitlichen Ablauf.88 Im Folgenden wird als Beispiel die längerfristige Handhabung der Regelung in Hamburg dargestellt: Übersicht 6 Versagung von Leistungen gem. § 2 OEG in Hamburg Jahr
Zahl der erledigten Anträge
davon Versagungen Ablehnungena insPositive Entscheidungen / % bez. auf gesamt / % bez. auf § 2 OEG / % bez. auf erl. Antr. erl. Antr. erl. Antr.
1990
342
130 / 38,0
189 / 55,3
44 / 12,9
1992
615
258 / 42,0
360 / 58,5
24 / 3,9
1994
596
204 / 34,2
359 / 60,2
63 / 10,6
1996
642
237 / 36,9
322 / 50,2
86 / 13,4
1998
661
320 / 48,1
271 / 41,0
41 / 6,2
2000
573
203 / 35,4
292 / 51,0
41 / 7,2
2002
642
204 / 31,8
334 / 52, 0
49 / 7,6
2004
663
228 / 34,4
344 / 51,9
45 / 6,8
2006
601
194 / 32,3
231 / 38,4
34 / 5,7
2008
566
238 / 42,0
187 / 33,0
18b / 3,2
2010
546
214 / 39,2
171 / 31,3
25 / 4,6
a
Bis einschließlich 1994 wurden sowohl bei den positiven Entscheidungen als auch bei den Ablehnungen die Anerkennungen als Opfer einer Gewalttat (Kosten der abgeschlossenen Heilbehandlung werden erstattet) mitgezählt. Ab 1995 sind diese Fälle bei den Ablehnungen nicht mehr enthalten. b Die Angaben bezüglich der Versagungen gem. § 2 OEG in Bürgerschaft FHH, Drucksache 19/5606 v. 12. 3. 2010, S. 2 bezogen auf die Jahre 2008 und 2009 erscheinen nicht zutreffend, vgl. auch die entsprechenden Geschäftsberichte des Versorgungsamts Hamburg, jeweils Statistischer Anhang S. 14. Quelle: Geschäftsberichte Versorgungsamt Hamburg 1990 – 2010 und eigene Berechnungen
Die Übersicht zeigt in der ersten Hälfte der 1990er Jahre mehrfach eine zweistellige Versagensquote (Durchschnitt zwischen 1990 und 1999: 8,7 %), danach gehen die Anteile erkennbar zurück (Durchschnitt 2000 bis 2010: 6,3 %, besondere Aus86 Vgl. auch Kunz (1995), S. 145: „Die Versagungsgründe des 1. Absatzes haben sich in der Praxis als außerordentlich problematisch erwiesen … In Folge der uneinheitlichen Auslegung der Versagungstatbestände … werden Ungerechtigkeiten und soziale Härten geschaffen, welche der Gesetzgeber durch das OEG gerade zu vermeiden suchte“. Übersicht über die kritischen Stimmen bei Heinz (2007), S. 90. 87 Vgl. dazu Villmow/Plemper (1989), S. 89 f., ausführlich S. 166 ff. 88 Villmow/Plemper (1989), S. 83 ff., 89.
1268
Bernhard Villmow und Alescha Lara Savinsky
nahme 2003: 75 = 12,0 %). Eine ähnliche Entwicklung wird in den neuen Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg deutlich. Während in Mecklenburg-Vorpommern zwischen 1991 und 1999 im Durchschnitt 4,8 % der erledigten Fälle i. V. m. § 2 OEG negativ beschieden wurden, waren es zwischen 2000 und 2007 nur noch 2,9 %. Noch deutlicher zeigt sich dieser Verlauf in Brandenburg: Zwischen 1991 und 1998 lag die entsprechende Quote bei 3,7 %, ab 1999 bis 2007 jedoch nur noch bei 0,4 %. Demgegenüber wurde in dem alten Bundesland Baden-Württemberg für die Jahre 2001 bis 2007 mit 7,2 % eine etwas höhere Anwendungsquote als in Hamburg erkennbar.89 Zu untersuchen wären auch in diesem Kontext die Hintergründe der unterschiedlichen Anwendungspraxis, wobei u. a. auch zu fragen wäre, inwieweit „offizielle“ Vorgaben/Empfehlungen etc. zur mehr oder weniger restriktiven Handhabung des § 2 OEG in den einzelnen bzw. alten und neuen Bundesländern vorliegen.
V. Einige offene Fragen und aktuelle Reformüberlegungen Obwohl das OEG nunmehr seit mehr als 35 Jahren in Kraft ist und zahlreiche Anstrengungen, insbesondere durch den Weissen Ring, aber auch durch die beteiligten Behörden, unternommen worden sind, das Gesetz bekannt zu machen, scheint dies immer noch nicht in ausreichendem Maße gelungen zu sein. In diesem Zusammenhang wäre einmal zu analysieren, welche informationstechnischen, sozialpsychologischen und sonstigen Mechanismen dazu führten, dass die entsprechenden Versuche zur breiteren Verankerung des OEG im Bewusstsein der Bevölkerung bisher vergleichsweise wenig erfolgreich waren.90 Des Weiteren fehlen gesicherte und repräsentative empirische Erkenntnisse zur Frage, in welchen sachlichen und persönlichen Zusammenhängen Opfer von Gewaltdelikten Entschädigungsanträge stellen bzw. nicht stellen (wollen).91 Während zur Anzeige- bzw. Nichtanzeigeerstattung differenzierte (und bezüglich der Gewalt- und Sexualstraftaten teilweise erstaunliche) Resultate vorliegen92, ist der Bereich der Opferentschädigung und speziell der Antragstellung bei den bisherigen deutschen und internationalen Opferbefragungen weitgehend ausgeblendet worden. Hier sollten bei den geplanten periodischen bundesweiten Dunkelfeldforschungen und bei den internationalen Projekten93 entsprechende 89
Jeweils Angaben der entsprechenden Landesversorgungsämter und eigene Berechnungen im Rahmen der Umfrage 2008, vgl. Fn. 85 oben. 90 Vgl. auch Grundel/Blättner (2011), S. 15. 91 Übersicht über frühere deutsche und internationale Erkenntnisse in Villmow/Plemper (1989), S. 125 ff. 92 Vgl. z. B. Kilchling (1995), S. 211 ff., 635 ff.; Sautner (2010), S. 205 ff.; siehe auch U.S. Department of Justice (2012), S. 4 zur hohen Quote von Nicht-Anzeigen bei Vergewaltigung (65 %), Raub (41 %) und schwerer Körperverletzung (44 %). 93 Übersicht bei Stock (2012), S. 324 ff. Auch das LKA Niedersachsen will in diesem Bundesland ab Frühjahr 2013 eine periodische opferbezogene Dunkelfeldstudie im zweijäh-
Staatliche Opferentschädigung nach der Jahrtausendwende
1269
Fragestellungen zukünftig berücksichtigt werden. Aus unserer Sicht bemerkenswert ist schließlich auch, dass die seit Jahren bekannten unterschiedlichen Entscheidungsstrukturen der Versorgungsämter in den Bundesländern94 sowohl beim Weissen Ring als auch in der Öffentlichkeit nur relativ selten95 problematisiert worden sind. Sowohl die früheren als auch die aktuellen Ergebnisse zeigen, dass es offensichtlich von Bedeutung ist, wo die Viktimisierung stattfindet und wo der Entschädigungsantrag gestellt wird. Je nach Region erscheinen die Erfolgschancen mehr oder weniger groß, was auf vielen Faktoren beruhen kann, u. a. spielt auch die Häufigkeit der Versagungen gem. § 2 OEG eine Rolle, die nicht einmal in jedem Bundesland statistisch dokumentiert werden. Auch in diesen Zusammenhängen fehlen detailliertere aktuelle bundesweite Analysen.96 Allerdings sollten auch (z. B. vom Weissen Ring und/oder von den Landesversorgungsämtern) überregionale Versuche initiiert werden, die jeweiligen Länder-Entscheidungsstrukturen zu hinterfragen und zu einer gleichmäßigeren Praxis zu gelangen. Zum Abschluss kann als Information in diesem Rahmen nur eine knappe und unkommentierte Übersicht über die aktuellen Reformüberlegungen und -forderungen dargestellt werden. Zu den sozialrechtspolitischen Forderungen des Weissen Rings gehören u. a.97: Schnellere Leistungsgewährung; Sicherstellung der sofortigen Heilbehandlung; weitere Beweiserleichterung beim Nachweis eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs; Klarstellung, dass Stalking (§ 238 StGB) einen tätlichen Angriff i. S. d. OEG darstellt98 ; Aufnahme des Wohnungseinbruchs in den Katalog des § 1 Abs. 2 OEG; gleiche Leistungen für Opfer von Inlands- und Auslandstaten (betr. § 3 a OEG) und gleiche Leistungen für Altfälle (Aufhebung des § 10 a OEG).99 Während diese Vorschläge noch systemimmanent erscheinen, entwickelt Schmachtenberg i. V. m. seiner Analyse und Bewertung des aktuellen Opferentschädigungsrechts teilweise systemüberwindende Optionen (eigenständiges OEG als SGB XIV).100 Auch Lerch gelangt am Ende ihrer Studie zur Praxis des OEG in rigen Turnus durchführen. Zur Relevanz von Opferbefragungen für die Opferhilfe siehe Killias (1993), S. 57 ff. 94 Vgl. z. B. Villmow/Plemper (1989), S. 88 ff. 95 In der Hamburger Bürgerschaft gab es 2005 eine entsprechende Nachfrage, vgl. Bürgerschaft FHH Drucksache 18/2222 v. 13. 5. 2005, S. 2. 96 Vgl. auch Lerch (2011), S. 95, 102, die für mehr Analysen zur Praxis des OEG plädiert. 97 Die Liste ist nicht vollständig, vgl. zu den Einzelheiten (Stand 2010) www.weisserring.de (dort „Standpunkte“); Böttcher (2007), S. 15 ff., siehe auch die Resolution des 21. Opferforums. Im Rahmen des 22. Opferforums (November 2011) wurde die Notwendigkeit der flächendeckenden Versorgung mit Trauma-Ambulanzen betont. Vgl. zur entsprechenden aktuellen Situation in Hamburg Bürgerschaft FHH, Drucksache 20/2287 v. 22. 11. 2011. 98 Vgl. hierzu die Rechtsprechungsübersicht von Rademaker, § 1 OEG Rn. 54 ff. 99 Ergänzt werden diese Vorschläge durch strafrechtspolitische Forderungen zur Verbesserung des Opferschutzes, vgl. www.weisser-ring.de (dort „Standpunkte“) (Stand Oktober 2011). 100 Schmachtenberg (2012), S. 150 ff.
1270
Bernhard Villmow und Alescha Lara Savinsky
Hessen zur Überzeugung, es sei nicht nur über eine Vielzahl von Optimierungsmöglichkeiten bei den einschlägigen Regelungen und den Aktivitäten der beteiligten Behörden und Institutionen nachzudenken, sondern auch über die Gründung einer Opferstiftung auf Landes- bzw. Bundesebene, „die von öffentlichen Stellen und privaten Sponsoren die erforderlichen finanziellen Möglichkeiten erhält und deren Voraussetzung zum Leistungserhalt die Opferwerdung an sich ist.“101 Der Weisse Ring als die einflussreichste deutsche Opferhilfeinstitution geht gegenwärtig von einem grundsätzlich positiven Ansatz des OEG/BVG aus102, sieht aber auch die Notwendigkeit der Weiterentwicklung der Regelungen.103 Für eine erfolgreiche weitere Verbesserung des Entschädigungsrechts ist es aber nicht nur notwendig, aktuelle empirische Erkenntnisse hinsichtlich der Opfersituation und der Opferbedürfnisse einzubeziehen, sondern es sollten auch die Erfahrungen mit den Vor- und Nachteilen ausländischer Modelle und Konzepte104 berücksichtigt werden.
101
Lerch (2011), S. 102, 96 ff. Der Bundesvorsitzende stellte im Oktober 2010 fest: „Wir sind uns bewusst, dass das OEG insgesamt gesehen trotz aller Schwächen eine gute, jedenfalls keine schlechte Regelung ist“, vgl. Böttcher (2012), S. 8. 103 Zu den „Kriterien und Voraussetzungen für ein wirksames Recht“ siehe Schmachtenberg (2012), S. 147. 104 Vgl. hierzu die Länderübersichten in Greer (1996) und in der Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht (ZIAS), 2010 – 2011 sowie Becker (2012), S. 71 ff.; Becker/Körtek (2010 – 2011), S. 169 ff. 102
Über konsensorientierte Formen der Kontrolle des Strafvollzugs Von Michael Walter Während seines gesamten Schaffens hat sich der Jubilar – in der besten Tradition der deutschen Strafrechtswissenschaft – für rechtsstaatliche Grundsätze und eine dementsprechende Begrenzung staatlichen Strafens eingesetzt.1 Aus diesem Grunde widme ich ihm zu Ehren einige Überlegungen, die gleichfalls die Beschränkung staatlicher Macht betreffen, indessen zugleich die alltäglichen Schwierigkeiten im Auge haben, das rechtliche Ideal auch tatsächlich zu erreichen.
I. Zugang zur Fragestellung Die Möglichkeit, das Geschehen in Haftanstalten rechtlich überprüfen zu können, ist für einen Rechtsstaat eine Selbstverständlichkeit. Denn Gefängnisse sind nicht nur deshalb gefährliche Orte, weil sich dort Normbrecher aufhalten, sondern ebenso deshalb, weil die vom Staat eingerichteten und unterhaltenen Strafanstalten als „totale Institutionen“ den Aufsichtsbediensteten und anderen – mitunter auch Mitgefangenen – einen intensiven Zugriff auf die Inhaftierten gestatten. Die Unterworfenheit und Ohnmacht der einen und die Machtpositionen der anderen Seite schaffen Ungleichgewichte, durch die Übergriffe zwar nicht zwangsläufig herbeigeführt, aber infolge der entstehenden Versuchungssituationen erheblich wahrscheinlicher werden. Wenn aber der Staat durch sein Strafrechtssystem Menschen in eine derartig prekäre Lage bringt, trägt er zugleich eine erhöhte Verantwortung, diese Menschen vor solchen „Nebenwirkungen“ zu bewahren, die jenseits der eigentlichen Strafe auftreten. Soll doch die „moderne“ Freiheitsstrafe allein in der weitgehenden Aufhebung der Fortbewegungsfreiheit, nicht jedoch etwa dem permanenten Gefühl persönlichen Bedroht-Seins bestehen. Fraglich ist mithin nicht das Ob einer Kontrolle, vielmehr „lediglich“ das Wie. Insoweit hat das Bundesland Nordrhein-Westfalen einen schmerzlichen Lernprozess hinter sich. Trotz der Möglichkeit gerichtlicher Überprüfung des Vollzugshandelns und trotz der institutionalisierten Dienst- und Fachaufsicht über die Haftanstalten hatte sich in der Vollzugsanstalt in Siegburg ein Klima entwickelt, in dem schließlich Gefangene des als erzieherisch deklarierten Jugendvollzugs einen schwächeren Mit1
S. jüngst Wolter, ZIS 2012, 238 f.
1272
Michael Walter
häftling über viele Stunden hinweg – gleichsam ungestört – grausam zu Tode quälen konnten. In den nachfolgenden Untersuchungen offenbarten sich Abgründe, die zuvor nicht als solche erkannt und beseitigt worden waren.2 Die damalige Justizministerin Müller-Piepenkötter schuf daraufhin die Institution eines Ombudsmannes, an den Eingaben aller Art gerichtet werden können und der eigene Anstaltsbesuche durchführt.3 Der Ombudsmann wurde in der anschließenden Wahlperiode vom nachfolgenden Justizminister Kutschaty zu einem Justizvollzugsbeauftragten mit zusätzlichen Beratungsaufgaben „ausgebaut“.4 Als gegenwärtiger Inhaber dieses Amtes blickt der Verfasser des folgenden Beitrags auf das Vollzugsgeschehen. Bedingt durch diese Sicht geht es nicht um eine distanzierte oder gar routinierte Durchmusterung verschiedener Kontrollstrategien. Vielmehr steht die neue Einrichtung des Justizvollzugsbeauftragten im Mittelpunkt. Nach nahezu zweijähriger Tätigkeit geht es im Wesentlichen um zwei Fragen: um die Besonderheiten dieses Amtes im Ensemble der schon bestehenden (Kontroll-)Einrichtungen und ferner um die institutionellen Gestaltungsmöglichkeiten des geschaffenen „Ansprechpartners“.
II. Kontrollwege Aus der Perspektive des Justizvollzugsbeauftragten erscheinen andere Kontrollmöglichkeiten als Alternativen oder als „Konkurrenz“. Freilich macht es wenig Sinn, zu schon bestehenden intakten Kontrollformen eine weitere Parallele einzurichten. Überzeugender ist ein ergänzender Ansatz, der dort Schwerpunkte setzt, wo bisher ein Adressat für Beanstandungen oder Initiator für nötige Änderungen fehlte. Aus diesem Blickwinkel war zu klären, in welchen Fällen die neue Instanz tätig werden sollte und in welchen eher nicht. Das rechtliche Instrumentarium für einen entsprechenden Handlungsspielraum liefert das dem Justizvollzugsbeauftragten – ebenso wie schon dem vorherigen Ombudsmann – gegebene Recht der Selbstbefassung. Danach entscheidet er jeweils selbst darüber, ob und in welchem Ausmaß er ein Anliegen aufgreift. Das nimmt ihm außerdem den Schrecken vieler Gerichte, von einer Unzahl von Eingaben ein und desselben „Vielschreibers“ blockiert zu werden. Zunächst braucht er bei denjenigen Konstellationen nur subsidiär tätig zu werden, die in erster Linie im Wege innerer Korrekturen zu regeln sind. Hierzu gehören beispielsweise organisatorische Fragen, angefangen mit dem Einkauf bis hin zur Küchennutzung, Wäscheausgabe oder der (Un-)Zulässigkeit bestimmter Wasserkocher. Das Strafvollzugsgesetz von 1977 sieht im Konfliktsfall die Beschwerde zum Anstaltsleiter vor (§ 108), der Gefangene kann dazu die Sprechstunde aufsuchen (Abs. 1 S. 2). Falls sich Unstimmigkeiten nicht ausräumen lassen, greifen manche 2 Zusf. Goeckenjan, in: J. Puschke (Hrsg.): Strafvollzug in Deutschland, 2011, S. 135 f.; s. ferner Walter, ZJJ 2007, 72 f. u. ders., ZJJ 2009, 149 f. 3 Vgl. Rotthaus, BewHi 2008, 373 f. 4 Dazu s. Walter, in: Festschrift für Wolfgang Heinz, 2012, S. 973 f.
Über konsensorientierte Formen der Kontrolle des Strafvollzugs
1273
Gefangenen recht schnell zur Dienstaufsichtsbeschwerde an das Justizministerium. Die setzt eine schuldhafte Pflichtverletzung voraus und stellt daher ein „schweres Geschütz“ dar. Sie zieht deswegen eine Verhärtung der Fronten nach sich und fördert selten Lösungen, die in der Sache weiterführen. Im Hinblick auf Fortschritte in der Vollzugsgestaltung sieht das Gesetz den Anstaltsbeirat als ein vollzugsnahes Gremium vor, das „bei der Gestaltung des Vollzuges und bei der Betreuung der Gefangenen mitwirkt“ (§ 163 S. 1 StVollzG). Die Mitglieder des Beirats „können namentlich Wünsche, Anregungen und Beanstandungen entgegennehmen“ (§ 164 Abs. 1 S. 1 StVollzG). Der Anstaltsbeirat ist teils anstaltsintern tätig, er unterstützt den Anstaltsleiter bei seiner Arbeit (§ 163 S. 2 StVollzG), teils aber auch extern, soweit seine Mitglieder eigenständig Gefangene „in ihren Räumen aufsuchen“ und vor allem mit ihnen kommunizieren, ohne dass „Aussprache und Schriftwechsel“ überwacht werden (§ 164 Abs. 2 S. 2 StVollzG). Definiert man den Justizvollzugsbeauftragten als ein externes Kontrollorgan, wofür insbesondere seine Unabhängigkeit vom Vollzugssystem spricht, findet er sich vor allem in der Nähe der gleichfalls externen Kontrolle durch den Petitionsausschuss des Landtags und des bundesrechtlich geregelten gerichtlichen Antragsverfahrens gem. §§ 109 f. StVollzG wieder. Der Parlamentsausschuss ist insofern noch „externer“, als er von der Struktur der Gewaltenteilung her als Legislative die Exekutive zu kontrollieren hat und zugleich Abgeordnete der verschiedenen Fraktionen in sich versammelt, mithin auch „Opposition enthält“. Er hat zwar wie auch der Justizvollzugsbeauftragte keine Regelungskompetenz, ist also nicht befugt, konkret einzugreifen. Doch besitzt sein Votum erhebliches politisches Gewicht, das seinerseits durchaus und keineswegs selten zu konkreten Änderungen führt. In das Verwaltungsgeschehen eingreifen kann demgegenüber das Vollstreckungsgericht im Antragsverfahren nach den §§ 109 f. StVollzG. Es ist indessen auf rechtliche Prüfungen beschränkt und nicht befugt, den Anstaltsleitungen die Beurteilungsspielräume oder das Handlungsermessen zu nehmen. Außerdem fehlt im vollstreckungsgerichtlichen Verfahren ein richterliches Durchsetzungsrecht, weshalb ein Gefangener das ihm zugesprochene Recht faktisch nicht verwirklichen im Sinne von erzwingen kann, wenn die Anstalt den Gerichtsspruch – beispielsweise durch kurzfristige Verlegungen – zu umgehen sucht (was immer wieder beklagt wird). Selbst falls man in unserem Kontext die verfassungs- und internationalrechtlichen Kontrollwege einmal ausklammert,5 wird kein Mangel an Rechtsbehelfen erkennbar. Wo nun soll das Besondere der Kontrolle gerade durch den Justizvollzugsbeauftragten liegen?
III. Komplementäre Schwerpunktsetzung Wenn keine konkurrierende Eingabenbearbeitung vorgenommen und eine bloße Dopplung der Beschwerde- und Kontrollwege vermieden werden soll, muss der Ar5
S. dazu Flügge, in: Forum Strafvollzug, 2012, S. 150 f.
1274
Michael Walter
beitsschwerpunkt Problematiken gelten, die ansonsten eher verdrängt oder vernachlässigt werden. Das heißt zunächst, dass etwa die Klärung konkreter rechtlicher Einzelprobleme, zum Beispiel ein Streit über die Höhe des zu zahlenden Arbeitsentgelts, nach wie vor dem gerichtlichen Antragsverfahren verbleibt. Ebenso wenig sinnvoll erscheint es, funktionierende informelle Mechanismen durch externe Interventionen zu unterbrechen. Falls sich Schwierigkeiten im Gespräch mit der Anstaltsleitung oder eventuell durch Vermittlung des Anstaltsbeirats regeln lassen, ist demgegenüber die Tätigkeit des Justizvollzugsbeauftragten subsidiär. Bei der Bearbeitung von „Störungen“ der unterschiedlichsten Art zeigt sich jedoch, dass das Problem häufig sowohl eine individuelle als auch gleichzeitig eine strukturelle Seite hat. So können beispielsweise Spannungen zwischen Gefangenen und Bediensteten jeweils auf einzelne Punkte, etwa ein unkorrektes Verhalten eines Gefangenen oder eines Bediensteten zurückgeführt werden. Das allgemeine „Reiz“Klima, aus dem die verschiedenen Ordnungsstörungen hervorgegangen sind, mag aber mit auf dem Empfinden der Gefangenen beruhen, nicht richtig angehört und ernst genommen zu werden. Solange nur das Einzelproblem einer Lösung zugeführt wird, fehlt gleichsam ein Teil, nämlich die Bearbeitung der tiefer liegenden strukturellen Mängel. Da dem Justizvollzugsbeauftragten aufgegeben ist, an der Verbesserung der Vollzugsgestaltung mitzuwirken, muss er seinen Schwerpunkt auf die Eingaben und wahrgenommene Schwierigkeiten lenken, die auf derartige breitere Zusammenhänge verweisen. In diesem Sinne kommt es auf komplementäres Arbeiten an. Dabei liegen die Schwierigkeiten nahezu auf der Hand, denn man sieht einzelnen Konflikten deren strukturelle Anteile nicht immer gleich so ohne weiteres an. Zudem muss der Blick vor allem auf Momente gerichtet werden, die sich aus der Sicht ex ante produktiv bearbeiten lassen, für die Lösungen bei realistischer Betrachtung vorstellbar sind. Um zum vorherigen Beispiel zurückzukehren, könnte man danach fragen, ob die Gefangenen die Möglichkeit haben, ihre Anliegen institutionell in der Gefangenenmitverantwortung vorzutragen und ob dadurch ein gewisser Spannungsabbau denkbar ist. Je aussichtsreicher derartige Lösungswege erscheinen, desto mehr drängt sich eine entsprechende Bearbeitung auf. Worin nun können die Stärken liegen, die ein Justizvollzugsbeauftragter einzubringen vermag? Drei ineinander greifende Momente lassen sich benennen: a) seine externe und verwaltungsunabhängige Stellung, b) die dadurch bedingte Freiheit von politischen Machtkämpfen und Ritualen, c) der Blick auf die kriminologische Forschung und das wissenschaftliche Gespräch. Ad a): Viele strukturelle Probleme werden von Praktikern klar erkannt und analysiert. Sie haben im Berufsalltag nur häufig nicht die Möglichkeiten, für Abhilfe zu sorgen. Die hierarchische Anordnung der Verwaltung schafft Abhängigkeiten, unter denen Mängel hingenommen werden, etwa deshalb, weil die Kritik aus unterschiedlichen Gründen für das eigene berufliche Fortkommen hemmend wäre. Demgegen-
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1275
über können Worte, die nicht entsprechenden Einschränkungen unterliegen, befreiend wirken. Eindrücke aus dem Vollzugsalltag können an die politisch Verantwortlichen, die ministerielle „Hausspitze“, weitervermittelt werden, ohne Filterungen, Färbungen oder Beimischungen spezifischer Interessen des zwischengeschalteten Apparats, weil kein Dienstweg eingehalten werden muss. Es gibt weniger Rücksichtnahmen. Fehlverhalten und Defizite können sofort als solche benannt und den Letztverantwortlichen berichtet werden. Ad b): Der Vollzug leidet unter der zentralen Problematik, dass die politischen Auseinandersetzungen wenig mit den Defiziten zu tun haben, die bei Gefängniskontrollen der verschiedensten Art sichtbar werden. Hier besteht die Chance, solche Diskrepanzen sichtbar zu machen, sie zu benennen, um die Aufmerksamkeit von politischen Schaukämpfen auf die wirklich bedrückenden Probleme zu lenken. Der Strafvollzug bietet politisch betrachtet ein Feld, auf dem eine Ministerin oder ein Minister zum „Wanken“ gebracht und schlimmstenfalls zum Rücktritt veranlasst werden kann. Der Stoff, aus dem die einschlägigen Auseinandersetzungen sind, besteht aus Sicherheitsgeschichten der plakativen Art: ein Gefangener konnte ausbrechen oder im Rahmen einer Lockerung Spektakuläres veranstalten, z. B. bei einer Ausführung dem begleitenden Beamten entschwinden. Über solche Ereignisse wissen Medien zu berichten, sie nähren die Vorstellung vom „fidelen Gefängnis“ und der Unfähigkeit seiner Bediensteten. Im Rahmen parlamentarischer Attacken werden die Geschehensabläufe minutiös rekonstruiert und Schuldige und Versäumnisse gesucht. „Ideal“ sind dann organisatorische Mängel, da für die am ehesten eine politische Haftung des Ministers konstruierbar ist. Obwohl die oppositionelle Aufbereitung und noch mehr die ministerielle Abwehr derartiger Angriffe Kräfte bindet und verzehrt, wissen alle Insider (einschließlich der an den Kämpfen beteiligten), dass der vollzugliche Schuh an ganz anderen Stellen drückt, deren Realitäten nicht zu Schaukämpfen verwendet werden. Man denke an fehlende Arbeit, an fehlende Ausbildungsplätze, an fehlende Therapieplätze, an fehlende Vollzugsplanungen, an fehlende Entlassungsvorbereitungen u. a. Versäumnisse oder Vernachlässigungen. Die damit verbundene Misere zeigt sich indessen in Eingaben und bei Anstaltsbesuchen. Letztere werden unabhängig von vorherigen Meldungen oder Beschwerden durchgeführt und gestatten getrennte Gespräche mit den verschiedenen Gruppierungen (insbes. Anstaltsleitung und Führungskräfte, Personalrat, Gefangenenmitverantwortung – GMV – Anstaltsbeirat, einzelne Gesprächspartner) sowie Besichtigungen mit wechselnden Schwerpunkten. Gezielte Fragen, beispielsweise nach der Disziplinarpraxis oder nach Sicherungsmaßnahmen – einschließlich der Nutzung von „besonders gesicherten Hafträumen“ – werden möglich. Viele Gefangene sitzen die längste Zeit des Tages passiv auf den Zellen herum und gucken wertlose TV-Sendungen an. Informationen, die für das Verständnis der Straftaten und deren Bewältigung von zentraler Bedeutung sind, werden entweder gar nicht gesammelt oder finden nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit. Ad c): Ein markantes Beispiel liefert das Verbrechensopfer. Es wird im gegenwärtigen Haftbetrieb kaum wahrgenommen, weil man sich oft schon durch die Sorge um
1276
Michael Walter
die Gefangenen überfordert fühlt. Insofern hilft der Blick in die kriminologisch-viktimologische Forschung. Ein Impuls, der auf den ersten Blick mehr Arbeit macht, wird zunächst – nach unverbindlich-abstrakter Anerkennung6 – erst einmal abgewehrt. Erneut offenbart sich eine Lücke, die ein Justizvollzugsbeauftragter mit komplementären Bemühungen füllen kann. Denn einem unbefangenen Zeitgenossen leuchtet nicht ein, warum bei der Gestaltung der Haft und der Vorbereitung der erneuten Integration des Gefangenen in die Gesellschaft der von den Delikten Verletzte und eventuell andere konkret gefährdete Menschen völlig ausgeklammert bleiben sollen. Zu berücksichtigen ist dabei nicht zuletzt, dass Verletzte – wie Täter – in familiären Bindungen leben. Ihre Probleme sind häufig nicht isoliert zu verstehen, sondern jeweils im familialen System. Deshalb kann die Opferhilfe, die eine bevorstehende Entlassung des Täters/Gefangenen notwendig macht, auch darin bestehen, die sozialen Kräfte dieses Beziehungsgeflechts, in das das Opfer eingebunden ist, zu stärken. Die gesamte Opferseite wird bislang bei der Planung der Täter-Reintegration weitgehend vernachlässigt, weshalb hier ein erheblicher Nachholbedarf besteht. Dessen Ausgleich dürfte keineswegs selten auch den ehemaligen Tätern zugute kommen, insbesondere bei fortbestehender sozialer Verbindung. Darauf zu hoffen, die staatliche Vollzugsverwaltung werde schon noch die Lücke erkennen und sodann füllen, ist angesichts der bereits erkannten und verwalteten Defizite zu optimistisch. Wir begegnen vielmehr einem geradezu exemplarischen Feld für komplementäre Anstrengungen.
IV. Von der Vielfalt der Eingaben zu konzeptionellen Schwerpunkten Die Tore zum Justizvollzugsbeauftragten stehen weit offen, es braucht vor allem – anders als beim gerichtlichen Antragsverfahren – gem. § 108 StVollzG keine Verletzung eigener Rechte dargelegt zu werden. Die Eingaben, mit denen dem Justizvollzugsbeauftragten „Beschwerden, Anregungen, Beobachtungen und Hinweise“ mitgeteilt werden, und zwar von „allen am Justizvollzug Beteiligten“,7 sind eine Fundgrube vollzuglicher Probleme. Sie geben die Sichtweisen der jeweiligen Autoren wieder und lassen erkennen, welche Ereignisse einerseits als nicht hinnehmbar erlebt, andererseits aber als abänderbar betrachtet werden. Außerdem äußert der Betreffende zumeist recht klar, wie er sich die Regelung seines Anliegens vorstellt. Eingaben kommen auch von Frauen, aber analog der Gefangenenzahl in geringerem Umfang. Einen Eindruck vom konkreten Aufkommen im Jahre 2011 vermittelt die nachfolgende Tabelle. Aus der Übersicht ergibt sich, dass insgesamt 476 Eingaben erfasst wurden. Die meisten betrafen individuelle Anliegen. Aber es gab auch Mitteilungen, die schon 6 Vgl. Hartmann, in: Tätigkeitsbericht des Justizvollzugsbeauftragten (NRW) für das Jahr 2011; 2012, S. 110 f. 7 S. AV d. JM NRW v. 13. Dez. 2010 (4400 – IV. 396) – JMBl. 2011, S. 3 f.
Unzuständigkeit des JVB
6
Arbeit und Arbeits-entgelt
6 1
43
Sonstige Anliegen (ohne solche der Bedienste-ten) 10
Gesamt
4
16
Nutzung eigener Sachen
(Individu-elle) Anliegen von Bedienste-ten
8
4 1
Verlegung und offener Vollzug
5
8
9
6
6 6
Umgang mit Gefangen-en
9
4
5
Außenkon-takte
11
2
Medizi-nische Versor-gung
Behand-lung
33
29
37
41
6 3
25
4 3
22
2 2
35
3 2
36
4
14
1
2
1
2
3
2
4
2
7
1
4
1
6
7
2
3
8
5
11
–
4
4
9
2
7
–
12
1
7
3
12
16
3
5
Individuelle Anliegen nach Themenbereichen (eine Eingabe kann mehrere Anliegen verfolgen):
3
6 33
Allgemein
Gesamt
48
56
49
6
2
23
–
13
5
5
16
4
7
1
49
3
8
23
3
6
6
6
14
4
2
1
47
4
6
2
3
1
3
8
2
2
3
20
2
25
Art der Anliegen (eine Eingabe kann Anliegen sowohl individueller als auch allgemeiner Art enthalten)
42
Individuell
Eingaben
5
10
1
6
5
4
10
4
5
1
33
1
35
Jan. Feb. März April Mai Juni Juli Aug. Sep. Okt.
Eingaben im Jahre 2011
3
3
5
8
4
5
7
1
4
3
7
4
12 13
2
12
9
5
9
1
1
2
35 36
632
50
157
25
81
54
64
119
35
47
484
25
414
45
476
Dez. Gesamt
39 42
Nov.
Über konsensorientierte Formen der Kontrolle des Strafvollzugs 1277
1278
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von vornherein allgemeine Fragen ansprachen, etwa zu organisatorischen Maßnahmen oder dem Angebot an Ausbildung und sozialtherapeutisch ausgerichteter Behandlung. Ganz trennscharf ließ sich diese Unterteilung nicht durchführen. Denn selbst hinter Grundsatzfragen können sich zugleich individuelle Interessen verbergen. Unzuständigkeit lag beispielsweise vor, falls der Sachverhalt allein den psychiatrischen Maßregelvollzug oder den Justizvollzug eines anderen Bundeslandes betraf. Die individuellen Anliegen auf thematische Gruppen aufzuteilen, erwies sich als schwierig. Das kommt u. a. durch die Sammelrubrik „Sonstige Anliegen (ohne solche von Bediensteten)“ zum Ausdruck, die mit insgesamt 157 Zählungen die größte Gruppe darstellt. Die Eingaben bieten eine große thematische Vielfalt und Breite. Selbst die verbleibenden Gruppen, die wir gebildet haben, mussten teilweise recht blass bleiben, wenn etwa „Behandlung“ als Überschrift fungiert. Immerhin werden einige Richtungen erkennbar, insbesondere der Wunsch nach mehr Außenkontakten und entsprechenden Freiheiten. Die Verlegungswünsche werden oft mit besseren Kontaktmöglichkeiten zu Lebenspartnern und Familienangehörigen begründet und hängen mit Besuchswünschen zusammen. Andere Anliegen, wie etwa eine bestimmte Ausbildung machen zu können, kommen in unseren Eingaben ebenfalls vor, aber weniger häufig. Bei Bediensteten geht es um Probleme rund um den Arbeitsplatz, vom Wunsch, nicht in eine neu erbaute ferner gelegene Anstalt versetzt zu werden, bis hin zu Klagen über Mobbing durch Kollegen, Klagen über den Dienstplan und über ausbleibende Beförderungen. Die nachstehende Tabelle zeigt, wie sich die Eingaben auf die Personengruppen verteilen. Erwartungsgemäß stellen die Gefangenen den größten Anteil. Aber immerhin hatten wir auch 64 Eingaben Bediensteter. Sie brauchten sich nicht an den Dienstweg zu halten, und ohne ihre Zustimmung erfährt der Dienstherr von der Angelegenheit nichts. Für Bedienstete sind die Möglichkeiten, sich über ihre Arbeitsbedingungen zu beschweren, vergleichsweise stärker begrenzt als für Gefangene. In über der Hälfte der Fälle (38) fand ein mündliches Gespräch statt, wohingegen bei den Gefangenen das schriftliche Verfahren überwog. Erklärungsbedürftig erscheint die dritte Gruppe der Sonstigen mit 101 Eingaben. Diese im Wege eines Ausschluss-Verfahrens gebildete Gruppe ist nicht ganz homogen. Es dominieren insoweit Eingaben von Angehörigen Gefangener, die sich beispielsweise im Anschluss an einen Besuch im Gefängnis Sorgen machen, vor allem um ihre Kinder – oft im Jugendvollzug – oder um den Lebensgefährten. Die „Sonstigen“ können sich per E-Mail melden und in der Zuversicht äußern, dass ihr Schreiben weder direkt noch indirekt den Vollzugsbediensteten bekannt wird. Die Quantitäten vermitteln einen Eindruck von (einem Teil) der Tätigkeit des Justizvollzugsbeauftragten. Sie sagen zum Gewicht des Vorgetragenen jedoch kaum etwas aus. Wenn freilich bestimmte Verfahrensweisen in einem fort beanstandet wer-
Über konsensorientierte Formen der Kontrolle des Strafvollzugs
1279
Art und Weise der Erledigung der Eingaben Nur schriftlich Bedienstete (AVD u. Werkdienst) Gefangene
Nur mündlich
26
11
Schriftlich und mündlich 27
Gesamt: 64
232
4
75
311
Sonstige
69
1
31
101
Gesamt:
327
16
133
476
den, lenkt das den Blick auf den strukturellen Hintergrund und provoziert die Frage, ob insoweit alles befriedigend geregelt sei. Doch gibt es hier kaum einen Mechanismus: Wenn immer wieder über das Essen oder den Kaufmann geschimpft wird, muss das nicht heißen, dass dieser besonders schlechte Angebote unterbreite. Sichtbar wird „lediglich“ der empfundene Mangel an Wahlmöglichkeiten und Autonomie. Der allerdings ist strukturell bedingt, nur wenig abänderbar. Wir haben den Bogen weiter gespannt und die jeweiligen Haftbedingungen auch unter der Voraussetzung analysiert, dass lediglich vereinzelte Beschwerden haben hellhörig werden lassen. Exemplarisch lässt sich das für den Jugendvollzug sagen. Denn schon seit längerem ist bekannt, dass aus diesen Anstalten relativ selten schriftliche Eingaben kommen, ohne dass man behaupten könnte, die dortigen Gefangenen seien mit dem Haftleben besonders zufrieden. Ein wesentlicher Grund für die Zurückhaltung dürfte in der geringen Vertrautheit der Jugendlichen und Heranwachsenden mit schriftlichen Beanstandungen liegen. Eine einzelne Eingabe konnte dann die kleine Zahl der Eingaben wettmachen, sie hatte es gleichsam in sich. Sie erfolgte zu einem Disziplinarverfahren gegen einen Gefangenen, der mit einem Mithäftling eine körperliche Auseinandersetzung hatte. Die Eingabe verdeutlichte nicht lediglich den kurzen summarischen Prozess, durch den die Sache abgewickelt worden war. Sichtbar wurden darüber hinaus die prinzipiellen Mängel dieser beliebten Form der vollzuglichen Problembewältigung, und zwar jenseits der eventuellen Eigenheiten einzelner Akteure. Es ergab sich ein Widerspruch zwischen einem strafähnlichen Verfahren, das jedenfalls rudimentär als fair erlebt werden soll, und einer faktischen Lage, in der Ankläger und Richter voreingenommen sind und die gesamte Prozedur als „erzieherisch“ begreifen, als Lehrstunde – vor allem zur Einordnung und Selbstdisziplinierung. Aus der anschließenden Problematisierung des Geschehens ist inzwischen ein Gesprächskreis erwachsen, der nicht lediglich die schwierige Zone zwischen Erziehung und Disziplinierung ausleuchtet, sondern außerdem Ausschau hält, welche Vorgehensweisen die fragwürdigen Praktiken der Disziplinierung einschränken – oder besser noch – ersetzen könnten. Denn gerade im Vollzug, wo man den Gefangenen rund um die Uhr „hat“, müsste es eigentlich möglich sein, mit gewaltsamen Auseinandersetzungen unter Gefangenen anders umzugehen, als sie gewissermaßen durch staatliche Disziplinargewalt „herunterzuknüppeln“. Zu den einschlägigen Stichwörtern zählen u. a. Verbalisierung, Deeskalation und even-
1280
Michael Walter
tuell Mediation sowie das Erlernen von Gruppenfähigkeit. Der Weg aus der Gewalt besteht für gewöhnlich im Erlernen gewaltfreier Umgangsformen. Auch in dieser Hinsicht sollte der Staat mit gutem Beispiel vorangehen und Vorbilder liefern. Abzuwarten bleibt, wie sich die gemeinsamen Anstrengungen von Praktikern, Ministeriumsmitarbeitern und Justizvollzugsbeauftragtem, die durch diese einzelne Eingabe in Gang gekommen sind, entwickeln werden. Bislang wirken sie immerhin schon in die Fortbildungsarbeit hinein. Man ist, wie das Beispiel veranschaulicht, mitunter schnell bei grundsätzlichen Fragen. Sie lassen sich aus Praxisbezügen heraus herleiten, und eventuelle Antworten können zugleich wieder auf Praxisgeschehen bezogen werden. Damit wird der Vollzugsalltag nicht lediglich in dem Sinne kontrolliert, ob auch alles seine Ordnung habe. Sondern die Kontrolle gewinnt eine konstruktive Seite, die zu gangbaren Verbesserungen hinführen soll.
V. Weiße Flecken der Kontrolle und ein ungewisser „Erfolg“ Wenn wir Gefangenen Möglichkeiten der Beschwerde an die Hand geben, wissen wir bis zu einem gewissen Grade nicht, was wir tun. Nachforschungen haben ergeben, dass die an sich vorgeschriebene Information der Gefangenen über die ihnen gegebenen Rechtsbehelfe von Anstalt zu Anstalt unterschiedlich sicher, vollständig und unterschiedlich verständlich gestaltet wird.8 Es gibt bis heute Inhaftierte, an denen – etwa wegen sprachlicher Probleme – das ganze Schutzsystem mehr oder minder „vorbeigeht“, sie das auch nicht beklagen (können). Obwohl den Gefangenen aus einem Kontakt zum Justizvollzugsbeauftragten kein Nachteil erwachsen darf, wird nicht lediglich von rechtswidrigen Öffnungen entsprechender Briefe berichtet, sondern insbesondere auch von einem anschließend veränderten – unangenehmen – Umgangston bis hin zu irgendwelchen Drohungen. Welche Folgen das hat, ist unbekannt. Klagen dieser Art lassen sich so gut wie nie wirklich aufklären, doch ist kaum anzunehmen, dass ihr tatsächlicher Hintergrund sämtlich frei erfunden worden ist. Die Beweislage ist für die Gefangenen meist ungünstig: Mithäftlinge springen, wenn es ernst wird, von früheren Mitteilungs-Zusagen ab, und die Mitarbeiter des Allgemeinen Vollzugsdienstes widersprechen sich ungern. Für den Justizvollzugsbeauftragten ergibt sich nach belastenden Angaben eines Inhaftierten nicht selten die Situation, dass dessen Behauptungen von der Vollzugsanstalt in Abrede gestellt, andererseits aber doch so glaubwürdig vorgetragen werden, dass erhebliche Zweifel bleiben. Die Rücknahme einer Eingabe, die erfolgt, um eine Bedrohung, im Extremfall eine Strafanzeige wegen übler Nachrede oder Verleumdung (gem. §§ 186, 187 StGB), abzuwenden, war bislang glücklicherweise selten.9 8 S. des Näheren Tätigkeitsbericht des Justizvollzugsbeauftragten für das Jahr 2011; 2012, S. 16 f. 9 Vgl. allerdings die Fallgeschichte im Tätigkeitsbericht 2011, S. 187 f.
Über konsensorientierte Formen der Kontrolle des Strafvollzugs
1281
Das heißt aber nicht, dass nicht auch durch derartige Mechanismen Eingaben von vornherein unterbunden werden. Der Hinweis auf Drohungen führt immer zu einer entsprechenden Information der Anstaltsleitung. Doch auch deren Möglichkeiten sind begrenzt. Immerhin können die Zusammenhänge thematisiert und bewusst gemacht werden. Befriedigend ist das freilich nicht. Auf der anderen Seite ist der Justizvollzugsbeauftragte den insgesamt auftretenden Problemen keineswegs hilflos ausgeliefert. Wiederholt kommt es vor, dass anlässlich eines Einzelfalls restriktive Regelungen, etwa des Besuchs, überprüft und dann auch abgeändert werden. Man möchte nicht in Verweigerungshaltungen verharren und noch weniger von anderen so wahrgenommen werden. Die oft aufgeworfene Frage nach einem „Erfolg“ weist in verschiedene Richtungen. Zunächst ist zu fragen, auf welche Person oder Institution sie sich beziehen soll. So ist ein Erfolg dessen, der eine Eingabe tätigt, von dem Erfolg zu unterscheiden, den das System der Eingaben für den Justizvollzug als staatlicher Einrichtung hat. Daher kann die Zielerreichung eines einzelnen Gefangenen, zum Beispiel die verlangte Zahlung einer Vergütung, für diesen einen Erfolg, für den Vollzug oder das gesamte Justizsystem hingegen einen Misserfolg bedeuten, etwa weil die Gutschrift in der Sache nicht gerechtfertigt war. Umgekehrt mag die bereits erwähnte Beschwerde über ein schon durchgeführtes Disziplinarverfahren dem Gefangenen, der bereits alles erlitten hat, nur noch wenig nutzen, kann aber dennoch für den Justizvollzug sehr hilfreich sein, indem sie auf Mängel verweist und Verbesserungen des Umgangs in die Wege leitet. Der Erfolg lässt sich des Weiteren als Wirksamkeit verstehen, so dass Umfang und Intensität des Bewirkbaren oder Bewirkten den Maßstab bilden. In dieser Hinsicht waren und sind Grenzen zu betonen: Anders als das übergeordnete Ministerium oder eventuell der Anstaltsleiter und anders als die zuständigen Gerichte kann der Justizvollzugsbeauftragte keine Sachverhalte selbst regeln und in diesem Sinne intervenieren, sondern nur Empfehlungen aussprechen. Doch insoweit muss zwischen (eingeschränktem) rechtlichem Können und faktischem Einfluss unterschieden werden. Denn die Erfahrung hat gezeigt, dass nicht selten allein die Erkundigung nach der Situation eines Gefangenen die Dinge in Bewegung zu setzen vermag. So hat beispielsweise die Nachfrage, ob es zutreffe, dass der Gefangene XY bereits seit Monaten keinerlei Arbeit oder Beschäftigung habe, zu der Antwort geführt, man habe ihn nunmehr seit wenigen Tagen in einem Betrieb unterbringen können. Freilich dürfen derartige Effekte nicht überschätzt werden. Unklar bleibt nämlich, ob gleichsam neue Kapazitäten aufgetan wurden oder aber ob dafür ein anderer Gefangener „hinten heruntergefallen“ ist. Ferner kann es sich um eine nur leicht vorgezogene Erledigung handeln, die letztlich die Angelegenheit nicht entscheidend weiter gebracht hat. In der überwiegenden Zahl der Fälle wurde die Angelegenheit formal abgeschlossen, ohne dass sich Aussagen zu den näheren Auswirkungen machen lassen. Wenn zum Beispiel ein längeres Gespräch zwischen Anstaltsleiter oder Abteilungsleiter ei-
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nerseits und Gefangenem andererseits herbeigeführt worden ist, bleibt abzuwarten, wie sich danach die Beziehungen entwickelt haben. Die Kommunikation kann hoffnungsvoll vorangekommen sein, die Fronten können sich aber ebenso weiter verhärtet haben. Oder: Ein Gefangener erreicht seine Verlegung in eine andere Anstalt, ist mit unserer Unterstützung erfolgreich, nur wissen wir nicht, ob diese Verlegung im Ergebnis auch für die soziale Integration hilfreich war. Hat er zu seiner Familie oder aber nur zu Komplizen zurückgefunden? Die Vorgänge spielen sich selten nur bilateral zwischen den Autoren der Eingabe und dem Justizvollzugsbeauftragten ab. Sie werden zugleich aufmerksam von anderen wahrgenommen. Es wird – beabsichtigt oder nicht – ein Exempel vorgeführt, dessen Ausgang weder für Gefangene noch für Bedienstete von vornherein sicher ist. Insofern darf man insgesamt von einer eher positiven Botschaft ausgehen, jedenfalls soweit wir unsere Ideale umsetzen konnten. Dann wurde beispielhaft deutlich, dass ein Mensch selbst als Gefangener in der Situation der Übermacht des Staates dieser nicht grenzenlos ausgeliefert ist, vielmehr einen neutralen Ansprechpartner finden kann, der den kritischen Blick auch auf die „andere Seite“ richtet. Die Chance dieses kritischen Blicks stellt einen Wert dar, der kaum zu hoch zu veranschlagen ist. Dadurch, dass sich alle Beteiligten, einschließlich der Aufsichtsbediensteten, an den Justizvollzugsbeauftragten wenden, entsteht ein vielseitiges Bild, das in seiner Komplexität lediglich partielle Einblicke und einseitig gefärbte Darstellungen übertrifft. Es bewirkt eine fortwährende Unzufriedenheit, die zu gestalterischem Handeln herausfordert. Gleichsam als Verkörperung dessen erscheint u. a. die schriftliche Berichterstattung im jährlichen Tätigkeitsbericht. Sie ermöglicht die Aufbereitung von Problemstrukturen ebenso wie das Aufzeigen von weiterführenden kriminalpolitischen Wegen. So gesehen ist der Weg ein Teil des Ziels.
VII. Ausländisches, Europäisches und Internationales Strafrecht
Rechtsgutsprinzip und harm principle: theoretische Ausgangspunkte zur Bestimmung der Funktion des Völkerstrafrechts Ein zweiter Beitrag zu einer grundlegenden Theorie des Völkerstrafrechts* Von Kai Ambos Jürgen Wolter hat in seiner wissenschaftlichen Arbeit als Autor und Herausgeber die gesamte Breite des Straf- und Strafprozessrechts bearbeitet. Besonders erwähnenswert ist seine Beteiligung am SK StGB und StPO und – seit 2002 – die Mitherausgeberschaft des Goltdammer’s Archiv für Strafrecht. In dieser letzten Funktion hat er sich große Verdienste um die „Internationalisierung“ des Archivs erworben, insbesondere durch die Einbeziehung spanischsprachiger Autoren und die aktive Einwerbung rechtsvergleichender und internationalstrafrechtlicher Beiträge. In diesem Sinne ist der folgende Beitrag auch als die Abtragung einer alten Schuld zu verstehen, zugleich verbunden mit der Hoffnung, dass der Jubilar sich von seiner aktiven Einwerbungstätigkeit für GA nicht durch manchen säumigen Autor abschrecken lässt. Ad multos annos!
I. Einführung: Gegenstand und Zweck der Untersuchung Das geltende Völkerstrafrecht leidet unter mindestens vier theoretischen Defiziten, die ich an anderer Stelle schon als Bedeutungsproblem, „ius puniendi“-Problem, Funktionsproblem und Strafzweckproblem diskutiert habe.1 Die Reihenfolge ist bewusst gewählt, denn ohne eine vorherige Klärung der Bedeutung des Völkerstraf*
Ich danke dem Institute for Advanced Studies der Hebrew University, Jerusalem, Israel für die umfassende Unterstützung während meines Forschungsaufenthalts im WS 2011/12, im Rahmen dessen der wesentliche Teil dieses Aufsatzes entstanden ist. Ferner danke ich Profs. Andrew Ashworth, Andrew von Hirsch und Victor Tadros (alle England) und Dr. Liat Levanon Morag (Jerusalem/London) für kritische und wertvolle Hinweise zur englischen Fassung und Prof. Dr. Uwe Murmann (Göttingen) zur deutschen Fassung. 1 Vgl. Ambos, Oxford Journal of Legal Studies, 33 (2013), issue 2, im Erscheinen; deutsche Fassung in: Gutmann/Jakl/Städtler/Wittreck (Hrsg.), Evolution – Entwicklung – Epigenesis des Rechts (Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts und Sozialphilosophie, Münster 2012), ARSP-Beiheft 2013, im Erscheinen; zusf. Ambos, Treatise on International Criminal Law. Volume I: Foundations and General Part, 2013, 56 ff.
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rechts und der Begründung seines ius puniendi macht eine Untersuchung der Funktion und Strafzwecke des Völkerstrafrechts wenig Sinn. Was nun das ius puniendi angeht, so habe ich schon – in einem ersten Beitrag zu einer umfassenden Theorie des Völkerstrafrechts – darzulegen versucht, dass es aus der Kombination einer beginnenden supranationalen Weltordnung (normativ verstanden als gemeinsame Werteordnung) und dem Konzept einer Weltgesellschaft abgeleitet werden kann.2 Auf dieser Grundlage ist es nun möglich, dem Problem der Funktion des Völkerstrafrechts nachzugehen. Da das Völkerstrafrecht noch nicht als völlig selbständige, vom nationalen Recht emanzipierte Disziplin gelten kann, geht es dabei zunächst um die grundlegende (Vor-)Frage der ratio des Strafrechts in einem rechtsstaatlichen Begründungszusammenhang. Warum gebrauchen wir Strafrecht? Was ist seine Hauptfunktion? Kann diese auch für das Völkerstrafrecht Geltung beanspruchen? Es geht also im Kern um die Frage nach den Konzepten von Rechtsgut und Schaden (i. S. des angloamerikanischen „harm principle“) (dazu sogleich II.) und ihren Transfer auf die völkerstrafrechtliche Ebene (III.). Dabei ist diese Frage von der spezifischeren Frage der Strafzwecke im engeren Sinne zu unterscheiden, also der Frage, welche Zwecke – von deontologischen (Vergeltung) bis utilitaristischen (Abschreckung, Normbestätigung, expressivism3) – wir mit der Bestrafung bestimmter Verhaltensweisen verfolgen. Ich habe diese Frage an anderer Stelle4 behandelt und werde darauf nur noch einmal am Ende dieser Abhandlung – im Wege einer logischen Ableitung der hier gefundenen Erkenntnisse – zurückkommen.
II. Der theoretische Ausgangspunkt: Schutz von Rechtsgütern und Verhinderung von Schaden (harm) als Hauptfunktionen des Strafrechts 1. Vorbemerkungen5 Fragt man nach der Funktion des Strafrechts, so geht es primär um die Frage, was der Gesetzgeber seinen Bürgern sub poena verbieten kann und soll. Doch nach welchem Maßstab sollte der Gesetzgeber diese Frage beantworten? Welches Verhalten muss und kann der Staat strafrechtlich verbieten? Sollte der Staat berechtigt sein, auch Handlungen zu kriminalisieren, die die legislative Mehrheit als unmoralisch, unzüchtig oder unsozial empfindet, wie es einmal in dem berühmten Streit zwischen Lord Devlin und dem englischen Rechtsphilosophen Hart diskutiert worden ist?6 2
Ambos (Fn. 1[ius puniendi]). Zu dieser angloamerikanischen Variante positiver Generalprävention s. u. Fn. 131. 4 Ambos/Steiner, JuS 2001, 9 (12 f.); Ambos (Fn. 1 [Treatise]), S. 67 ff. 5 Dieser Abschnitt beruht teilweise auf Ambos/Steiner, JuS 2001, 9 f. 6 Siehe u. Fn. 42 ff. und Haupttext.
3
Rechtsgutsprinzip und harm principle
1287
Schon an dieser „ewigen“ Frage zeigt sich, dass die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Kriminalisierung weitgehend von dem Wertesystem einer bestimmten Gesellschaft abhängt und dadurch auch bis zu einem gewissen Grad relativ ist.7 So wird man zwar bezüglich bestimmter Kerndelikte, die grundlegende Rechtsgüter (insbesondere das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit) schützen, von einem praktisch weltweiten Kriminalisierungskonsens ausgehen können,8 doch ändern sich die meisten strafrechtlichen Verbote im Laufe der Zeit und es werden unterschiedliche Straftaten an unterschiedlichen Orten der Welt als unterschiedlich legitim angesehen. Was heute strafbar ist, kann morgen als gesellschaftlich akzeptabel gelten, weil sich die entsprechenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen der Bevölkerung geändert haben. Natürlich muss gerade aus deutscher Sicht der Rekurs auf das „gesunde Volksempfinden“ äußerst behutsam geschehen und natürlich garantiert er keine vernünftige Kriminalpolitik. Doch wird man fest verwurzelte gesellschaftliche Geisteshaltungen kaum vollständig ignorieren können, denn schließlich stellen sie die kollektive Grundlage unserer Kriminalpolitik dar, ob uns als Juristen dies nun gefällt oder nicht. Und so erklärt es sich auch, dass ein radikaler Wechsel gesellschaftlicher Wertvorstellungen einen Staat dazu veranlassen kann, Strafe einzuführen oder von ihr abzusehen. In diesem Zusammenhang stellt sich auch sogleich die Frage, wie ein Kriminaljustizsystem mit den Ansprüchen oder Zumutungen einer religiösen Ordnung umgeht. Rechtssysteme auf rein religiöser Grundlage sind per definitionem nicht frei (liberal) sondern gebunden, nämlich an die zugrundeliegende religiöse Ordnung, z. B. im Islam den Koran9 oder im Judentum die Torah.10 So ist etwa der Alkoholkonsum in Koran-basierten Rechtssystemen,11 jedenfalls nach Ansicht einiger autorita-
7
Siehe in diesem Sinne Pastor, El poder penal internacional – Una aproximación jurídica crítica a los fundamentos del Estatuto de Roma, 2006, S. 24 (der die nahezu unmögliche Aufgabe des Völkerstrafrechts betont, regional unterschiedliche kulturelle Werte auf einer supranationalen Ebene zu koordinieren. Aus diesem Grund sei das Völkerstrafrecht nicht nur ein politisches, sondern auch ein axiologisches Expansionsprojekt, S. 25). 8 Ich habe das für völkerrechtliche Kernverbrechen in Gutmann/Jakl/Städtler/Wittreck (Fn. 1 [ius puniendi]) zu begründen versucht. Deshalb gibt es auch keinen Raum für eine Relativierung, dazu u. Fn. 116. 9 Vgl. Khadduri, The Islamic Conception of Justice, 1984, 135 („In Islam, Law (Shari’a) is closely intertwined with Religion, and both are considered the expression of God’s will and Justice, but whereas the aim of Religion is to define and determine goals – justice and others – the function of Law is to indicate the path … by virtue of which God’s Justice and other goals are realised.“). Siehe auch Alarefi, International Criminal Law Review 9 (ICLR) (2009) 707 f.; Kamali, Shari’ah Law – An Introduction, 2008, 14 ff. 10 Vgl. von Daniels, Religiöses Recht als Referenz, 2009, S. 20 f. 11 Die schon früher beklagte, fehlende Bereitschaft islamischer Rechtsgelehrter, das Strafgesetzbuch zu säkularisieren (Khadduri [Fn. 9], S. 214 ff.), wird durch die – inzwischen per Referendum angenommene – ägyptische Verfassung vom 29. 11. 2012 bestätigt (abrufbar unter http://www.egyptindependent.com/news/egypt-s-draft-constitution-translated; abgerufen am 5. 12. 2012). Sie sieht – wie die frühere Verfassung von 1971 – in Art. 2 die „Principles
1288
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tiver Stimmen, streng verboten.12 Demgegenüber dient in einem liberalen Rechtssystem das Strafrecht vor allem dem Schutz des friedlichen Zusammenlebens der Menschen in einer Gemeinschaft.13 Es ist allerdings umstritten, was genau das Strafrecht schützt, um diesen Zweck zu erreichen:14 Rechtsgüter? Interessen? Normen?15 Bloße Wertvorstellungen? Oder geht es um die Verhinderung von Schaden i. S. des angloamerikanischen harm principle („Schädigungsprinzip“)? Diese beiden Hauptfunktionen von Strafrecht – Schutz von Rechtsgütern und Verhinderung von harm – müssen also nun näher betrachtet werden. 2. Rechtsgüterschutz Die Ansicht, dass das Strafrecht zum Schutz von Rechtsgütern dient, ist maßgeblich im 19. Jh. durch Franz Birnbaum,16 Karl Binding17 und Franz von Liszt18 begrünof Islamic Sharia“ als die Hauptquelle des ägyptischen Rechts vor; zu diesem sog. Islamvorbehalt siehe Naeem, in: Krawietz/Reifeld (Hrsg.), Islam und Rechtsstaat, 2008, S. 77 ff. 12 Das Verbot (al-haram) des Alkoholkonsums – das auf alle Arten toxischer Drogen anwendbar ist – findet sich im Koran, Sura al-Maida 5:93, Al-Qaradawi, Verbotenes und Erlaubtes im Islam, 1989, S. 67. Al-Qaradawi weist darauf hin, S. 73, dass die Bestrafung in diesen Fällen durch den Koran selbst angeordnet wird (die sog. hadd-Bestrafung im Gegensatz zum tazir in Fällen von Delikten, die der Koran verbietet, aber für die er keine Strafe vorsieht, sondern die Sanktion der jeweiligen Regierung überlässt). Anders Khadduri (Fn. 9), S. 216, der argumentiert, dass der Alkoholkonsum nicht notwendigerweise unter Strafandrohung verboten sei, sondern der Koran nur davon abrate. 13 Siehe Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts – Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 2. 14 Siehe für eine allgemeine Diskussion Ormerod, Smith & Hogan Criminal Law, 13. Aufl. 2011, S. 10 f.; Ashworth, Principles of Criminal Law, 6. Aufl. 2009, S. 1 ff.; Roxin, Strafrecht – Allgemeiner Teil, Vol. I, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 2 ff.; Fletcher, The Grammar of Criminal Law, Vol. I, 2007, S. 37 (der Pflicht, Schaden und Norm als Ausgangspunkte zur Begründung einer Kriminalisierung ansieht). 15 Zur normstabilisierenden Funktion des Strafrechts siehe Jakobs, Strafrecht – Allgemeiner Teil, 1991, § 1 Rn. 4 ff., 11. Jakobs beruft sich auf das Rechtsgut-Konzept nur als Filter der Sozialschädlichkeit (vgl. ebd., § 2 Rn. 24 f.; Herv. im Original), doch werden Normen nicht um ihrer selbst willen, sondern deshalb geschützt, weil sie selbst etwas Schützenswertes schützen, z. B. Rechtsgüter. Normative Theorien müssen deshalb letztlich den materialen Gehalt der betreffenden Normen herausarbeiten (zu einer ähnlichen Kritik s. Roxin, in: FS Hassemer, 2010, S. 573 [593 f.]). Zu den Theorien der Sozialschädlichkeit siehe u. Fn. 95 und 108. 16 Birnbaum entwickelte schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts seine Lehre von der Verletzung von „Gütern“ zur Qualifizierung eines güterverletzenden Verhaltens als „Verbrechen“, wobei er damit die ältere, von Kant und Feuerbach entwickelte Rechtsverletzungslehre ersetzen wollte (s. Birnbaum, Über das Erfordernis einer Rechtsverletzung zum Begriffe des Verbrechens, Archiv des Criminalrechts, Neue Folge 1834, 149 – 194; dazu Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs „Rechtsgut“, 1962, S. 19 ff.; Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft – Untersuchungen zum Inhalt und zum Anwendungsbereich eines Strafrechtsprinzips auf dogmengeschichtlicher Grundlage – Zugleich ein Beitrag zur Lehre von der „Sozialschädlichkeit“ des Verbrechens, 1972, S. 43 ff.; Hefendehl, Kollek-
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det worden, ohne damit freilich den liberal-strafrechtsbegrenzenden Anspruch zu verbinden,19 mit dem heute von der wohl noch immer h.M. das kritische Potenzial des Rechtsgutsprinzips propagiert wird.20 Wie dem auch sei, es wird ohnehin zunehmend in Zweifel gezogen, ob das Rechtsgutsprinzip diesem Anspruch noch gerecht wird. Denn abgesehen davon, dass es als ungenau, willkürlich und inkonsistent in seinen unterschiedlichen Variationen kritisiert wird,21 enthält es vor allem keine mative Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 15 ff.; Swoboda, ZStW 122 [2010], 24 [27 f.]). Siehe zur Rechtsverletzungstheorie Sina (a.a.O.), S. 9 ff.; Amelung (a.a.O.), S. 16 ff.; Hefendehl (a.a.O.), S. 12 ff.; Swoboda (a.a.O.), S. 26 f. 17 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Band I, 1872, S. 189 („Die Verursachungsverbote lassen sich nur daraus erklären, dass der durch die verbotene Handlung bewirkte Zustand den Interessen des Rechts widerspricht, während der Zustand vor der Handlung diesen Interessen entsprach. Alle diese Zustände, die durch Änderung nicht verdrängt werden sollen, sind für das Recht von Wert: Man kann sie Rechtsgüter nennen.“). S. auch Sina (Fn. 16), S. 41 ff.; Amelung (Fn. 16), S. 73 ff.; Swoboda (Fn. 16), S. 29 f. 18 Von Liszt, ZStW 3 (1883), 1 ff. (19: „Lebensbedingungen der staatlichen Gemeinschaft“ als „rechtlich geschützte Interessen: Rechtsgüter“); s. Sina (Fn. 16), S. 47 ff.; Amelung (Fn. 16), S. 82 ff.; Swoboda (Fn. 16), S. 30 ff. – Grundlegend zur historischen Genese des Konzepts im frühen 19. Jahrhundert ausgehend von Birnbaums Gütertheorie s. Sina (Fn. 16), S. 14 ff.; Amelung (Fn. 16), S. 15 ff.; Vormbaum, in: Gúzman Dalbora/Vormbaum (Hrsg.), Johann Michael Franz Birnbaum – Zwei Aufsätze, 2011, S. 93 (98 ff.). 19 Es ist insbesondere umstritten, ob eher die (ältere) Rechtsverletzungs- oder die (nachfolgende) Güterverletzungslehre ein strafrechtsbegrenzendes Potenzial hatte, s. dazu jüngst die instruktive Debatte zwischen Guzmán Dalbora, in: Gúzman Dalbora/Vormbaum (Fn. 18), S. 67 (85 ff.: die Güterverletzungslehre als liberal rechtsstaatliches Projekt verteidigend) und Vormbaum (Fn. 18), 96 ff.; ders., ZStW 123 (2011), 660 (672 f.) (die Rechtsverletzungslehre als das rechtsstaatlichere Projekt verteidigend). In diesem Sinne wohl auch Kahlo, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, 26 (29 f.), der seine Rechtsgutsdefinition auf die Rechtsverletzungslehre zurückführt und mit dieser im Sinne eines „Recht der Subjektivität“ verbindet; ähnlich Wohlers, GA 2012, 600 (605). Zu dieser Kontroverse s. auch Sina (Fn. 16), 24 ff. Richtig ist, dass die Rechtsverletzungslehre auf der Idee des Gesellschaftsvertrags, der vom Staat zu schützende Bürgerrechte schafft, beruht (s. Naucke, in: Klippel [Hrsg.], Naturrecht im 19. Jahrhundert, 1997, 269 [280]), während die Hinwendung zum Rechtsgutskonzept diese staatstheoretische Verbindung gelockert hat (ähnlich Hefendehl [Fn. 16], S. 18), wobei allerdings ein kritisch-liberales Rechtsgutsverständnis immer noch auf die Gesellschaftsvertragsidee zurückgeführt werden kann (s. u. Fn. 108). 20 Vgl. Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 19 ff. (zwischen einer system-immanenten und kritischen Funktion unterscheidend); ders., in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Bd. I, 3. Aufl. 2010, Vorbemerkung zu § 1 Rn. 113; ders., in: Hefendehl et al. (Fn. 19), S. 57 (64); Roxin (Fn. 15), 573 ff. (wonach die kritische Funktion erst nach dem 2. Weltkrieg aufkam, 576); ders. (Fn. 14), § 2 Rn. 7 ff., 50 (der jedoch eine bestimmte Rechtsgutsmüdigkeit diagnostiziert, Rn. 120); Schünemann, in: FS Roxin, 2001, 1 (29); ders., in: Hefendehl et al. (Fn. 19), S. 133 f. (154 m.w.N.); Hefendehl (Fn. 16), S. 5 ff., 148 f.; ders., in: Hefendehl et al. (Fn. 19), S. 119 (132); im Ergebnis ebenso Vormbaum (Fn. 19), S. 688; Swoboda (Fn. 16), S. 50 (nach einer kritischen Übersicht über die alternative Ansätze auf S. 37 ff.); Young-Whan Kim, ZStW 124 (2012), 591, 593 f. 21 Siehe die grundlegende Kritik von Amelung (Fn. 16), S. 261 (271: Mangel der Klarheit des Konzepts) und Stratenwerth, in: FS Lenckner, 1998, S. 377 (378 ff.: „Vielfalt an zumeist nicht näher begründeten Definitionen“); zust. insoweit Roxin (Fn. 14), § 2 Rn. 2 f.; Wohlers,
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teriellen (normativen) Kriterien, welche Güter oder Interessen strafrechtlich geschützt werden sollen. Die Entscheidung für oder gegen eine Kriminalisierung beruht vielmehr auf (vorrechtlichen) Werturteilen, die allerdings zunächst erst einmal konsentiert werden müssen. Das Konzept selbst beantwortet also nicht die Frage der Legitimation einer bestimmten Kriminalisierungsentscheidung, sondern kann die Antwort auf diese Frage auch nur den der Kriminalisierung zugrundeliegenden Wertentscheidungen oder Legitimationsgrundsätzen entnehmen. So gesehen handelt es sich eher um ein sekundäres denn ein primäres Konzept,22 das über kein selbständiges analytisches Potenzial verfügt.23 Im Übrigen dient das Rechtsgutkonzept schon lange nicht mehr nur der Rechtfertigung von Verletzungsdelikten, die (grundlegende) individuelle Rechtsgüter (Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit) schützen, sondern es rechtfertigt einerseits auch Gefährdungsdelikte, also die (vorverlagerte) Kriminalisierung bloß (abstrakt) gefährlichen Verhaltens,24 und bezieht andeDeliktstypen des Präventionsstrafrechts 2000, S. 213 ff.; ders., in: Hefendehl et al. (Fn. 19), S. 281 ff.; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten: strafrechtlicher Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus, 2005, S. 11 ff.; von Hirsch, in: Hefendehl et al. (Fn. 19), S. 13 (18); Seher, in: Hefendehl et al. (Fn. 19), S. 39 (44 ff.); Frisch, in: Hefendehl et al. (Fn. 19), S. 215 (216 ff.: Relativität, Weite und Vagheit). 22 Vgl. Seher (Fn. 21), S. 45 ff. (insbesondere unter Bezugnahme auf Feinberg und mit der Forderung von Legitimationsprinzipien zur Strafrechtsbegründung, die plausibel und allgemein akzeptabel sein müssen); ähnlich Frisch (Fn. 21), S. 216 ff. (der von einem nur beschränkten kritischen Potenzial ausgeht, und zwar nicht nur wegen der fehlenden Eindeutigkeit, sondern vor allem weil die Rechtsgutsentscheidung häufig durch die nicht-strafrechtlichen Ordnungen oder durch andere vorrechtliche Werturteile vorherbestimmt sei [219 ff.] und weil die Existenz eines Rechtsguts nicht die entscheidende Frage der Legitimität des Strafrechts beantwortet [222 ff.]); Seelmann, in: Hefendehl et al. (Fn. 19), 261 (261 f.: die wirklichen Kriminalisierungskriterien würden nicht geliefert); Wohlers: in: Hefendehl et al (Fn. 19), S. 281 (Rückgriff auf externe Maßstäbe). Selbst grundsätzliche Befürworter des Rechtsgutskonzepts wie Roxin (Fn. 14), § 2 Rn. 7 ff. müssen auf externe Faktoren wie etwa die allgemeinen Strafzwecke oder das Verfassungsrecht zurückgreifen. Für eine instruktive Zusammenfassung der Kritik s. Stuckenberg, GA 2011, 653 (656 ff.); Vormbaum (Fn. 18), S. 116 f. 23 Stratenwerth (Fn. 21), S. 388 f.; von Hirsch (Fn. 21), S. 25; Seher (Fn. 21), S. 39; Frisch (Fn. 21), S. 216 ff.. Nicht nur die Kritiker sehen in der Erwartung eines selbständigen kritischen Potenzials des Rechtsgutskonzepts seine Überforderung (Seher [Fn. 21], S. 44 (54); Frisch [Fn. 21], S. 222); auch Befürworter wie Hefendehl (Fn. 20), S. 119 erkennen an, dass man damit zu viel von dem Konzept verlange. 24 Für eine überzeugende analytische Systematisierung der zweideutigen Kategorie der Gefährdungsdelikte s. von Hirsch/Wohlers, in: Hefendehl et al. (Fn. 19), S. 196 (198 f.), die zwischen Vorbereitungsdelikten, Kumulationsdelikten und konkreten Gefährlichkeitsdelikten unterscheiden (unter Bezugnahme auf frühere Arbeiten in Fn. 10). Zur Bedeutung der Verbrechensstruktur insoweit auch Frisch (Fn. 21), S. 227 f., der jedoch zutreffend davor warnt, dass die Erkenntnisse einer Strukturanalyse nicht die darunter liegenden Wertungsfragen hinsichtlich der Legitimation der Kriminalisierung beantworten (dies wird auch von Hirsch/ Wohlers [a.a.O.], S. 199 zugestanden). Im Übrigen sieht Frisch nur hinsichtlich der abstrakten Gefährdungsdelikte ein Legitimationsproblem, also dort, wo der Nichteintritt eines tatsächlichen Schadens kein bloßer Zufall ist, d. h. insbesondere im Fall der Kumulationsdelikte (234 ff.). Kritisch bezüglich dieser Delikte auch Roxin (Fn. 14), § 2 Rn. 80 ff., der generell eine klare Verbindung zu einem Rechtsgut verlangt (ebd., Rn. 68 f.; ders., [Fn. 15], S. 589 f.). Kindhäuser, in: FS Krey, 2010, 249 (260 ff.) liefert diese Verbindung, indem er überzeugend
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rerseits – strafrechtsausdehnend – kollektive Rechtsgüter in den Strafrechtsschutz ein.25 Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass das Bundesverfassungsgericht seit jeher keinen Vorzug in der Rechtsgutslehre gegenüber dem traditionellen Verhältnismäßigkeitstest gesehen hat26 und deshalb nach wie vor nur danach fragt, ob die durch einen Straftatbestand herbeigeführte Grundrechtseinschränkung verhältnismäßig ist, weil sie dem Schutz der Allgemeinheit oder Dritter dient und deshalb darlegt, dass Rechtsgüter nicht nur durch ihre substanzielle Änderung oder Schädigung, also ihre eigentliche Verletzung (z. B. Zerstörung von Eigentum), sondern auch durch ein vorgelagertes, (konkret) gefährliches Verhalten angegriffen werden, sofern der Eintritt der eigentlichen Verletzung bloßer Zufall ist oder sofern die grundlegenden Voraussetzungen zur Nutzung des Rechtsguts wegen dessen abstrakter Gefährdung nicht mehr gewährleistet sind. Für ein „vorfeldbezogenes Rechtsgüterschutzmodell“ für polizeiliche Vorfeldermittlungen Kral, Die polizeilichen Vorfeldbefugnisse als Herausforderung für Dogmatik und Gesetzgebung des Polizeirechts, 2012, S. 169, 183 ff., der bezeichnenderweise einen Rechtsgutsbezug im Vorfeld selbst und gerade dann noch für möglich hält, wenn die „Bedrohungspotentiale […] sich letztlich mit nur noch ,diffusen‘ Risikoannahmen vermischen, welche ein Eingreifen in Grundrechte nicht mehr zu rechtfertigen vermögen.“ (184). 25 Zu einer Theorie kollektiver Rechtsgüter s. Hefendehl (Fn. 16), S. 5 – 235, 378 ff. und (Fn. 20), S. 121 ff. (wo er a grosso modo zwischen jenen Rechtsgütern unterscheidet, die die konstitutiven Bedingungen der bürgerlichen Freiheit schützen und jenen, die den Staat und seine Institutionen schützen und im Übrigen argumentiert, dass die Legitimität solcher kollektiver Rechtsgüter fallbezogen von der Kombination der Rechtsgutstruktur und dem jeweiligen Delikt abhänge). Siehe auch Schünemann, in: Hefendehl et al (Fn. 19), S. 149 ff. (der argumentiert, dass das Rechtsgutskonzept einerseits sein restringierendes Potenzial bezüglich nur „scheinbarer“ kollektiver Rechtsgüter zeige, aber andererseits auch umstrittene Delikte, etwa die zum Umweltschutz, rechtfertige; krit. zur Rspr. ebd., S. 142 ff.). – Die personale Rechtsgutslehre (vgl. Hassemer, in: Kindhäuser et al. [Hrsg.], Strafgesetzbuch, Bd. I, [Fn. 16], Rn. 131 ff.) stellt auf (individuelle) Interessen ab (s. schon v. Liszt [Fn. 18]; zust. Stratenwerth [Fn. 16], S. 388; Young-Whan Kim, ZStW 124 [2012], 592 f.; krit. Amelung, in: Hefendehl et al. [Fn. 19], S. 155 (161 ff.); Roxin [Fn. 15], S. 591 f.; Hefendehl [Fn. 16], S. 61 ff.) und eine Verbindung zwischen den kollektiven Rechtsgütern und den geschützten Personen samt dieser Interessen her (siehe Hassemer (Fn. 19 [in: Hefendehl et al.]), S. 57; Sternberg-Lieben [Fn. 31], S. 67 ff.). Für eine grundlegende Kritik siehe Stratenwerth, in: Hefendehl et al. (Fn. 19), S. 255 (266), für den das Konzept der Kollektivrechtsgüter entbehrlich ist, weil die betreffenden Phänomene entweder Individualinteressen berührten oder die Kriminalisierung letztlich zum Schutz von Verhaltensnormen, die zur Aufrechterhaltung eines normativen Mindestkonsenses in einer bestimmten Gesellschaft notwendig seien, gerechtfertigt sei (zu Verhaltensnormen als Ausdruck eines gesellschaftlichen Mindestkonsenses s. auch Stratenwerth [Fn. 21], S. 386 ff.; zust. Hefendehl [Fn. 16], S. 52 ff. bezüglich der „Pönalisierung von Verstößen gegen tief verwurzelte Kulturüberzeugungen“, 56; krit. Roxin [Fn. 15], 2010, S. 592 f.; Young-Whan Kim, ZStW 124 [2012], 601 ff.). 26 S. jüngst die Inzestentscheidung BVerfGE 120, 224 (241): „Strafnormen unterliegen von Verfassungswegen keinen darüber hinausgehenden, strengeren Anforderungen hinsichtlich der mit ihnen verfolgten Zwecke. Insbesondere lassen sich solche nicht aus der strafrechtlichen Rechtsgutslehre ableiten“; dagegen die abw. M. von Hassemer, 257 („Das ist in der strafrechtlichen Rechtsgutslehre, die der Senat nur mit spitzen Fingern anfasst, seit langem ausgearbeitet.“); zust. Roxin (Fn. 15), S. 581 f. Für eine krit. Analyse der Rspr. s. Schünemann, in: Hefendehl et al (Fn. 19), S. 142 ff.; krit. auch Roxin (Fn. 14), § 2 Rn. 86 f., 89; ders., (Fn. 15), S. 580 ff.
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bei einer Gesamtbetrachtung als gerechtfertigt erscheint.27 Konkreter gesprochen muss ein strafrechtliches Verbot also mit Blick auf die verfolgten Ziele erforderlich, geeignet und verhältnismäßig im engeren Sinne sein.28 Hinsichtlich des zuletzt genannten, in der Regel entscheidenden Kriteriums bedeutet dies, dass die Schwere des Grundrechtseingriffs mit den dafür angeführten Gründen abgewogen werden muss und nicht unzumutbar, ungerecht oder unangemessen sein darf.29 Der verfassungsgerichtliche Ansatz liegt auf der Linie eines „Strafverfassungsrechts“, das auch die Rechtsgutsdebatte verfassungsrechtlich anzureichern oder das Rechtsgutskonzept gar zu ersetzen sucht.30 Allerdings enthält die Verfassung weder spezifische Vorgaben zur Begrenzung des Strafrechts,31 insbesondere mit Blick auf die Verletzung von Individualrechten, noch ist die Verhältnismäßigkeitsprüfung präzise genug, um ihr Ergebnis in irgendeiner Weise vorhersehbar zu ma-
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BVerfGE 120, 224 (239): „Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet […] dass eine Strafnorm dem Schutz anderer oder der Allgemeinheit dient.“ 28 BVerfGE 120, 224 (240 f.). 29 BVerfGE 120, 224 (241): „Schließlich muss bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit für die Adressaten des Verbots gewahrt sein (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn). Die Maßnahme darf sie nicht übermäßig belasten. Im Bereich staatlichen Strafens folgt aus dem Schuldprinzip und aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Schwere einer Straftat und das Verschulden des Täters zu der Strafe in einem gerechten Verhältnis stehen müssen. Eine Strafandrohung darf nach Art und Maß dem unter Strafe gestellten Verhalten nicht schlechthin unangemessen sein. Tatbestand und Rechtsfolge müssen vielmehr sachgerecht aufeinander abgestimmt sein“ (Herv.d.Verf.). Im Ergebnis hat die Senatsmehrheit die Verfassungsmäßigkeit des Inzesttatbestands bejaht (ebd., 249 ff.); abw. M. Hassemer (Fn. 20), 255 ff. Der EGMR bestätigte die Entscheidung und sah keinen Verstoß gegen Art. 8 EMRK, Stübing vs. Germany, Appl. No. 43547/08, 12. 4. 2012. 30 Vgl. Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996; ders., in: Hefendehl et al. (Fn. 19), 83 (86); Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1998; Appel, Verfassung und Strafe, 1998; Hefendehl (Fn. 16), S. 42 ff. Zu einer Kombination des verfassungsrechtlichen Maßstabs mit dem Rechtsgutskonzept Hassemer, in: Hefendehl et al. (Fn. 19), S. 58 ff.; Roxin (Fn. 14), § 2 Rn. 86 ff.; ders. (Fn. 15), 577 ff. (586): „Übermaßverbot“; Sternberg-Lieben, in: Hefendehl et al. (Fn. 19), 65 ff.; insbesondere zur Verhältnismäßigkeitsprüfung Hefendehl (Fn. 16), S. 83 ff. (insbesondere auf Lagodny Bezug nehmend); Böse, in: Hefendehl et al. (Fn. 19), 89 (91 ff.); Bunzel, in: Hefendehl et al. (Fn. 19), 96 ff. Der personale Rechtsgutsbegriff (Fn. 25) hat auch eine verfassungsrechtliche Verankerung, denn er beruht auf der Idee freier Bürger im Rechtsstaat, die zur vollen Entfaltung ihre Freiheit den Schutz bestimmter Rechtsgüter brauchen (vgl. Sternberg-Lieben, ebd., S. 67 f.; ähnlich Roxin [Fn. 15], 577 ff.; Kindhäuser [Fn. 24], 257). Aus solch einer personenbezogenen Perspektive ist der Schutz nicht personengebundener Rechtsgüter aber kaum erklärbar, etwa der verfassungsrechtlich (Art. 20a GG) abgesicherte (sic!) Tierschutz (krit. demnach auch Amelung, [Fn. 25], S. 161 mit Fn. 35; über eine personale Rechtsgutskonzeption deshalb hinausgehend Roxin [Fn. 14], § 2 Rn. 55 f. u. ders. [Fn. 15], 594 ff. den strafrechtlichen Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Schöpfung fordernd). 31 Böse (Fn. 30), S. 91; Swoboda (Fn. 16), S. 36; s. auch Amelung (Fn. 16), S. 261 ff. (der nachweist, dass die Rechtsgutslehren des 19. Jh. weitestgehend unbeeinflusst vom GG blieben); diff. Schünemann, in: Hefendehl et al (Fn. 19), 142 ff.
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chen.32 Genaugenommen ist das verfassungsrechtliche Prüfungsverfahren und die ihm immanenten Wertentscheidungen offen genug, um die Verfassungsmäßigkeit nahezu jeder Strafrechtsnorm zu begründen. Ein Verdikt der Verfassungswidrigkeit ist also nur ausnahmsweise zu erwarten, nämlich nur dann, wenn eine Strafnorm durch keinen irgendwie gearteten überwiegenden gesellschaftlichen Zweck gerechtfertigt werden kann.33 So gesehen scheint das Rechtsgutskonzept jedenfalls eine bedeutendere und nachhaltigere Restringierung des Strafrechts als der verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsmaßstab zu ermöglichen. Es kann somit zumindest als vermittelndes Konzept zwischen Strafrechtsnormen und dem zu unbestimmten Verhältnismäßigkeitsmaßstab dienen. 3. Verhinderung von Schaden (harm principle) Nach dem im angloamerikanischen Rechtskreis diskutierten harm principle liegt die Rechtfertigung der Kriminalisierung menschlichen Verhaltens in der Verhinderung von Schaden, insbesondere der Schädigung anderer („harm to others“). Die ursprüngliche Konzeption des Prinzips geht auf John Stuart Mill zurück. Für Mill stellt die Verhinderung einer Schädigung anderer den „einzigen Zweck“ einer rechtmäßigen Machtausübung über Bürger gegen ihren Willen dar.34 Damit spricht er sich einerseits für ein Art utilitaristisches harm principle aus, denn es geht primär um die Auswirkungen des verbotenen Verhaltens. Andererseits muss jede Kriminalisierung darauf abzielen, die Schädigung anderer zu verhindern, es geht also um Prävention im Sinne eines „präventiven harm principle“. Demgegenüber stellt eine deontologische Perspektive auf das Verhalten selbst und seine potenzielle Schädlichkeit ab.35 32
Bunzel (Fn. 30), S. 111 (für eine weite gesetzgeberische Prärogative hinsichtlich der verfolgten Ziele); ebenso Roxin (Fn. 14), § 2 Rn. 93 u. ders. (Fn. 15), 584 f. („Beurteilungsermessen“); Swoboda (Fn. 16), S. 45. 33 In diesem Sinne kritisch zur Offenheit der verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen siehe auch Sternberg-Lieben (Fn. 30), S. 69 (71, 77); Bunzel (Fn. 30), S. 111; Frisch (Fn. 21), S. 217; Wohlers, in: Hefendehl et al (Fn. 19), S. 282; Swoboda (Fn. 16), S. 36 f., 46 ff.; Vormbaum (Fn. 19), S. 684. 34 Mill, Utilitarianism, Liberty, and Representative Government, Part II: On Liberty, 1859, Nachdruck 1948, 73 („the only purpose for which power can be rightfully exercised over any member of a civilized community, against his will, is to prevent harm to others.“). Mill bezieht sich dabei auf Wilhelm von Humboldts im Jahre 1852 veröffentlichte Untersuchung „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ (allerdings in ihrer englischen Übersetzung aus dem Jahre 1854), ohne dabei freilich auf von Humboldt’s Ansicht zur Funktion des Staates als Garant der Sicherheit der Bürger bezüglich „Kränkungen der Rechte andrer“ einzugehen. S. zu Mill auch von Hirsch (Fn. 21), S. 14; Harcourt, The Collapse of the Harm Principle, Journal of Criminal Law and Criminology 90 (1999) 109 (120 ff., 187), der als dem harm principle Mill’s zugrundeliegende normative Dimension eine Theorie von als Rechte anerkannten Interessen ausmacht. Krit. Dubber, ZStW 117 (2005) 485 (499 ff.); Kahlo (Fn. 19), S. 33 ff. 35 Siehe zu dieser Unterscheidung Tadros, Harm, Sovereignity, and Prohibition, Legal Theory 17 (2011), 35.
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Diese Unterscheidung hat auch praktische Konsequenzen. Das präventive harm principle lässt Raum für die utilitaristische Abwägung der betroffenen Interessen, während der deontologische Ansatz die Folgen überhaupt nicht berücksichtigt. So würde ein deontologischer Ansatz in dem berühmten Straßenbahnfall36 in all seinen Variationen die Rechtswidrigkeit der Opferung einer Person zur Rettung mehrerer anderer Personen nicht in Frage stellen,37 während aus Sicht eines utilitaristisch-präventiven harm principle ein solches Verhalten als rechtmäßig eingestuft würde, weil die Zahl der geretteten Personen die der geopferten überwiegt. Aus systematischer Sicht gehört dieses Abwägungsargument natürlich eher zum Notstandsrecht, denn es ist ein Argument einer möglichen Rechtfertigung oder Entschuldigung eines grundsätzlich verbotenen Verhaltens. In der Sache ist das präventive harm principle aber wohl zu weitgehend, denn nahezu jedes strafrechtliche Verbot wird irgendeine schädliche Folge verhindern.38 Das harm principle wurde indirekt in den 1950er Jahren durch den berühmten Wolfenden Report eines englischen Ministerialausschusses zur Kriminalisierung von Homosexualität und Prostitution bestätigt.39 Dort wurde festgestellt, dass es ein „realm of private morality and immorality“ geben müsse, das nicht „the law’s business“ sei.40 Deshalb könnten auch Homosexualität und Prostitution in legitimer Weise nur kriminalisiert werden, wenn sie sich schädlich auf die Gesellschaft auswirkten und damit Dritte schädigten.41 Der Bericht führte zu der schon erwähnten vielbeachteten Kontroverse zwischen Lord Devlin und dem Rechtsphilosophen H.L.A. Hart hinsichtlich der Strafwürdigkeit unmoralischen, aber opferlosen Verhaltens.42 Devlin plädierte für die (auch) strafrechtliche Durchsetzung moralischer Vorstellungen, weil jede Gesellschaft durch bestimmte Moralvorstellungen zusammengehalten würde43 und deren Aufrechterhaltung für das Überleben der Gesellschaft 36 Der als „trolley case“ bekannte Fall bezieht sich auf eine Situation, in der ein Straßenbahnwagen auf mehrere Personen zufährt, aber auf ein anderes Gleis geleitet werden könnte, wodurch nur eine Person getötet werden würde. Siehe für eine Abwandlung Tadros, The Ends of Harm, 2011, S. 115 und für eine andere (mit einer Brücke) Tadros (Fn. 35), S. 51. 37 Dies würde immer das sogenannte (durchaus kantische) „means principle“ verletzen, wonach eine Person nicht als Mittel zur Verbesserung der Lage anderer Personen eingesetzt werden darf, vgl. Tadros (Fn. 35), 52; grundsätzlicher dazu Tadros (Fn. 36), 113 ff. 38 Tadros (Fn. 35), S. 51 („almost any potential rule of criminal law will inevitably prevent some harmful conduct occurring“). 39 The Report of the Departmental Committee on Homosexual Offences and Prostitution, 247 Command Paper (1957). 40 Ebd., § 61; s. auch § 257 („It is not the duty of the law to concern itself with immorality as such.“). 41 Dies wurde hinsichtlich der Homosexualität verneint (ebd., § 62), aber bezüglich der Straßenprostitution bejaht (ebd., §§ 227, 275). 42 Für eine instruktive Darstellung der Kontroverse s. Harcourt (Fn. 34), S. 122 ff., nach dem es sich im Wesentlichen um ein Wiederaufleben der früheren Debatte zwischen Mill und Stephen handelte (ebd., S. 123). 43 Devlin, The Enforcement of Morals, 1965, S. 10.
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unentbehrlich sei.44 Moralische Diversität würde die „Fabrik der Gesellschaft“ bedrohen und nur ein moralbasiertes Strafrecht würde den notwendigen Schutz zu ihrem Erhalt leisten.45 Folgerichtig könne es keine „theoretischen Beschränkungen der Gesetzgebung gegen Immoralität“ geben.46 Devlin konzedierte allerdings, dass der wahre Kern der Moral relativ sei und von den konkreten gesellschaftlichen Bedingungen abhänge; er erkannte also in gewisser Weise die Relevanz eines gesellschaftlichen Schadens an.47 Demgegenüber unterschied Hart, ganz Rechtspositivist der er war, grundsätzlich zwischen Recht und Moral48 und stimmte deshalb mit dem Wolfenden Report und der darin enthaltenen Aufrechterhaltung des harm principle überein.49 Er bestritt Devlin’s Ansicht, dass jede Änderung der moralischen Vorstellungen einer Gesellschaft aufgrund der dadurch hervorgerufenen sozialen Desintegration unvermeidlich zu ihrer Zerstörung führen würde,50 dass also die rechtliche Durchsetzung von Moral eine Grundvoraussetzung der Erhaltung des gesellschaftlichen Zusammenhalts sei.51 Für Hart ist ein solches Verständnis von Moral absurd, weil eine Gesellschaft sich niemals so mit ihrer Moral identifiziere, dass eine bloße Änderung dieser Moral zu ihrer Zerstörung führen könne.52 Wem auch immer in diesem Streit Recht zu geben ist, fest steht jedenfalls, dass Devlins Ansatz insoweit dem präventiv-utilitaristischen harm principle entspricht, als er auf die Auswirkungen eines bestimmten (unmoralischen) Verhaltens auf die „Fabrik der Gesellschaft“ abstellt. Harts betont liberaler Ansatz gerät andererseits mit seiner – offen paternalistischen und insoweit illiberalen – Akzeptanz der Kriminalisierung von Selbstschädigungen („harm to self“) in Konflikt.53 44
Ebd., S. 11; für eine Analyse dieser sog. Disintegrationsthese siehe Galvin, Two Difficulties for Devlin’s Disintegration Thesis, The Philosophical Quarterly 37 (1987) S. 420 ff. 45 Devlin (Fn. 43), S. 11. 46 Ebd., S. 14 („no theoretical limits to legislation against immorality“). 47 Devlin klärte diesen scheinbaren Widerspruch niemals auf, s. George, Social Cohesion and Legal Enforcement of Morals: A Reconsideration of the Hart-Devlin Debate, American Journal of Jurisprudence 35 (1990) 15 (20); Harcourt (Fn. 34), S. 124 ff. 48 Hart, Essays in Jurisprudence and Philosophy, Part I – General Theory: Positivism and the Separation of Law and Morals, 1983, S. 49 (78). 49 Hart, Law, Liberty and Morality, 1969. 50 Ebd., S. 50. 51 Ebd., S. 71. 52 Ebd., S. 51 f. 53 Harts Position ist ambivalent, aber es scheint so, als ob er, wenn auch widerwillig, die Notwendigkeit einer paternalistischen Kriminalisierung von selbstschädigendem Verhalten akzeptiert hat. Hart kritisiert Mills harm principle, das auf Autonomie und Zustimmung beruht, als „fantastic“ ([Fn. 49], S. 32), weil er bezweifelt, dass Personen (immer) ihre Interessen selbst am besten bestimmten könnten (er spricht von einem „general decline in the belief that individuals know their own interests best“, ebd.). Aus diesem Grunde müsse Mills Theorie dahingehend geändert werden, dass „harming others is something we may still seek to prevent by use of the criminal law, even when the victims consent to or assist in the acts which are harmful to them.“ (ebd., S. 33). Feinberg spricht insoweit von Harts widerwilliger Zustimmung zum Paternalismus (Feinberg, Harm to Self, Vol. III, 1986, S. 4) und akzeptiert selbst
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Der israelische Rechtsphilosoph Joseph Raz folgt Hart in seiner Ablehnung der strafrechtlichen Durchsetzung von Moralvorstellungen.54 Der Staat habe die Pflicht, das Wohlergehen seiner Bevölkerung zu fördern und die Bedingungen zur Führung eines selbstbestimmten Lebens zu schaffen. Deshalb könne der Staat die Bürger nicht zur Moral zwingen und also strafrechtlichen Zwang nur zur Verhinderung von Freiheits- und Autonomieverletzungen, verursacht durch drittschädigendes Verhalten, einsetzen, nicht aber zur Durchsetzung von „moralischen Idealen“.55 Der Durchbruch des harm principle in der anglo-amerikanischen Debatte56 wurde schließlich durch den US-amerikanischen Rechtsphilosophen Joel Feinberg mit seinem vierbändigen Werk zu den „Moral Limits of Criminal Law“ erreicht.57 Feinberg geht jedoch insoweit über Mill hinaus, als er eine Rechtfertigung von Kriminalisierung nicht nur in Fällen eines „harm to others“,58 sondern auch dann anerkennt, wenn ein Verhalten von anderen als ernsthaft verletzend empfunden wird („offense principle“).59 Feinberg diskutiert auch rechtlichen Paternalismus60 und Moralismus,61 nur eine Art von weichem Paternalismus (u. Fn. 60). Raz (The Morality of Freedom, 1986, Nachdruck 1989, S. 412 f.) folgt Hart insoweit, als dass er das harm principle in einem weiteren Sinne versteht, den Schutz vor Selbstschädigung einschließend; die paternalistische Intervention solle jedoch den Respekt für die Bedingungen der Autonomie des Einzelnen zur Voraussetzung haben (ebd., S. 423). 54 Raz (Fn. 53), S. 420. 55 Ebd. (harm principle „sets a limit on the means allowed in pursuit of moral ideals.“). – Hierzulande hat Hörnle i. W. die gleiche Ansicht vertreten ([Fn. 21]; zur Kriminalisierung von Gefühlen s. auch dies., Der Schutz von Gefühlen im StGB, in: Hefendehl et al. [Fn. 19], S. 268 ff.). In einem ersten Schritt differenziert sie zwischen Immoralität und Unrecht (Hörnle [Fn. 21], S. 11 ff., 467 ff.), um dann in einem zweiten Schritt zu argumentieren, dass Vorschriften zur bloßen Kriminalisierung immoralischer Handlungen aufgehoben werden müssten (ebd. S. 482 f.). Für Hefendehl (Fn. 16), S. 51 f. ist die Bestrafung von bloß unmoralischem Verhalten verfassungswidrig. 56 Zur früheren Diskussion (zu J. Hall, G. O. W. Mueller und O. C. Snyder) vgl. instruktiv Eser, The Principle of ,Harm‘ in the Concept of Crime – A Comparative Analysis of the Criminally Protected Legal Interests“, Duquesne University Law Review 4 (1965 – 1966), 345 (349 ff.). 57 Feinberg, Harm to Others, Vol. I, 1984; ders., Offense to Others, Vol. II, 1985; ders. (Fn. 53); ders., Harmless Wrongdoing, Vol. IV, 1988. Für eine gründliche Analyse der Lehre Feinbergs s. Seher, Liberalismus und Strafe – Zur Strafrechtsphilosophie von Joel Feinberg, 2000; für eine methodische Kritik s. Kahlo (Fn. 19), S. 31 f. 58 Feinberg (Fn. 57 [Harm to Others]). 59 Feinberg (Fn. 57 [Offense to Others]). Feinberg argumentiert im Kern, dass die effektive Verhinderung einer „serious offence (as opposed to injury or harm) to persons other than the actor“ immer ein guter Grund für eine Kriminalisierung sei (ebd., S. 1). Strafrechtlich relevant sei solcher „offensive conduct“ jedoch nur, wenn er auch „wrongful (right-violating) conduct“ sei, d. h., das „offense principle“ verlangt, wie das harm principle, ein Element der Rechtswidrigkeit. Im Gegensatz zum allgemeinen Sprachgebrauch sei es jedoch nicht notwendig, dass die rechtswidrige Handlung von der „offended person“ als verletzend empfunden werden müsse: „It is necessary that there be a wrong, but not that the victim feel wronged.“ (ebd., S. 1 f; Herv. im Original). Wenn aber „offense is surely a less serious thing than harm“ (ebd., S. 2), also ein unrechtsrelevanter Unterschied zwischen dem offensiven und dem schädigen-
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lehnt diese aber als mögliche Rechtfertigungen einer Kriminalisierung ab. Was die Schädigung anderer angeht, so unterscheidet Feinberg zwischen zwei Konzepten von harm:62 harm sei entweder „thwarting, setting back, or defeating of an interest“63 oder ein rechtswidriger Eingriff in Interessen.64 Damit werden zwar substantiell nachteiden Verhalten besteht, dann stellt sich zum einen die Frage, ob dieser Unterschied messbar ist, und zum anderen, aus welchem Grund eigentlich das gegenüber dem „harm“ geringere Unrecht des „offensive conduct“ überhaupt kriminalisiert werden soll. Es fragt sich auch, wie der „offensive conduct“ von bloß unmoralischem Verhalten, dessen Kriminalisierung Feinberg ja ablehnt (u. Fn 61), abgegrenzt werden soll (krit. auch Seher [Fn 21], S. 49 f.). Feinberg (ebd., S. 26, 35, 44) schlägt insoweit einen differenzierten Abwägungsprozess vor, wobei er auf Opferseite die Schwere des Delikts (Intensität und Dauer, Möglichkeit der Vermeidung der Verletzung und die möglicherweise freiwillige Risikoeingehung) und auf Täterseite die Vernünftigkeit des Täterverhaltens (persönlicher und gesellschaftlicher Wert des Verhaltens, Motivation und Umstände) berücksichtigen will. Feinberg muss jedoch einräumen, dass es letztlich um eine Wertentscheidung geht („no automatic mathematical way of coming to a clearly correct decision“, „there is no substitute for judgment (…) the judge or legislator is entirely on his own.“; S. 45 f., Herv. im Original). Für eine Kritik s. von Hirsch, The Offence Principle in Criminal Law, King’s College Law Journal 11 (2000) 78 ff.; ders. (Fn. 21), S. 22 f. (der jedoch bei seiner Kritik des offence principle als zu subjektivistisch übersieht, dass Feinberg zwischen dem allgemeinen Sprachgebrauch und der fachterminologischen Bedeutung des Prinzips unterscheidet); Simester/von Hirsch, Crimes, Harms, and Wrongs, 2011, 91 ff.; Swoboda (Fn. 16), S. 39 (wonach Feinberg nicht erklärt, warum die Gefühle anderer der allgemeinen Handlungsfreiheit vorgehen sollen). 60 Feinberg, Harm to Self (Fn. 53). Auch wenn nicht von unmittelbarer Relevanz in unserem Zusammenhang, so ist es doch erwähnenswert, dass Feinberg ([a.a.O.], S. 8) zwischen verschiedenen Formen des Paternalismus unterscheidet und, klarer als Hart, für einen liberalen „soft anti-paternalism“ plädiert ([a.a.O.], S. 12, 26): „We are thus led to a liberal doctrine which, in its immediate effects, can be confused with paternalism, but which is essentially quite different from it, namely that the state has the right to prevent self-regarding harmful conduct when but only when it is substantially non-voluntary, or when temporary intervention is necessary to establish whether it is voluntary or not.“ (ebd., S. 126). In Fällen mit nur einem Beteiligten („,single-party‘ cases“), insbesondere der Selbsttötung, lehnt Feinberg eine Kriminalisierung ab, denn völlig „self-regarding and voluntary behavior is none of the criminal law’s business“ (ebd., S. 143). In Fällen mit zwei Beteiligten („,two-party‘ cases“), also in Fällen, in denen die Schädigung durch den Täter verursacht wurde, das Opfer aber zugestimmt hat, gilt dieselbe Regel, wenn die Zustimmung freiwillig erteilt wurde ([a.a.O.], Kap. 23 ff., wo er die möglichen Formen einer fehlenden Zustimmung behandelt: nötigenden Zwang, nötigende Angebote, fehlerhafte Vorstellung und Unzurechnungsfähigkeit). Zum rechtlichen Paternalismus s. auch von Hirsch (Fn. 21), S. 21; Simester/von Hirsch (Fn. 59), 141 ff.; diff. Seher (Fn. 21), S. 51 f. 61 Feinberg, Harmless Wrongdoing (Fn. 57). Für eine gute Diskussion der unterschiedlichen Arten des Moralismus vgl. Seher (Fn. 21), S. 52 ff. (wonach moralische Grundsätze in „unreiner Form“, die moralische Wertvorstellungen zur Verhinderung schädlicher Folgen schützen, die Vorfeldkriminalisierung eines eigentlich noch nicht schädigenden Verhalten begründen können). Swoboda (Fn. 16), S. 39 hält Feinbergs Ansatz für „ehrlicher“ als den deutschen, der sich auf weite Scheinrechtsgüter (Fn. 57) berufe und damit nur verschleiere, dass es tatsächlich um die Kriminalisierung bestimmter öffentlicher Moralvorstellungen gehe. 62 Ich beziehe mich hier i. W. auf Feinberg, Harm to Others (Fn. 58), S. 31 ff. 63 Ebd., S. 33. 64 Ebd., S. 34.
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lige Auswirkungen auf für unser Wohlergehen wesentliche Dinge vom strafrechtlichen Schutz umfasst,65 es muss sich aber immer um eine rechtswidrige Schädigung handeln.66 Dabei wird die Rechtswidrigkeit („wrongfulness“) wie folgt definiert: „One person wrongs another when his indefensible (unjustifiable and inexcusable) conduct violates the other’s right …“.67 Der Angreifer muss also das Recht des Angegriffenen verletzen, seine Interessen werden also – im Sinne des genannten „setting back“ eines Interesses – zurückgedrängt. Dies sei der „normative sense“ des Begriffs der „wrongfulness“ „in any plausible formulation of the harm principle“.68 Damit erhält das an sich instrumentell-naturalistische harm principle durch das Erfordernis der Rechtswidrigkeit einen normativen Gehalt, es wird zu einem Prinzip „about wrongful actions that lead to harm.“69 Sind dabei natürlich auch die Auswirkungen des potentiell schädigenden Verhaltens zu berücksichtigen, so scheint Feinbergs Verständnis von „harm“ doch eher deontologisch als utilitaristisch zu sein, denn er legt den Schwerpunkt auf die Art und Weise des Verhaltens. Was die Bestimmung eines Schadenseintritts angeht, so will Feinberg einen „Ausgangspunkt“ („starting point“) oder eine „Grundlinie“ („baseline“) festlegen, von der aus „das Fortschreiten oder Zurückweichen“ des betroffenen Interesses gemessen werden kann.70 Der Schadenseintritt hänge damit immer von der „original position“ der möglicherweise geschädigten Person ab und das Konzept des „harm“ werde so zu einer „relativistic notion“, weil der Schaden eben vom Standpunkt des potentiell Geschädigten aus gemessen wird: „whether one is harmed by an event is determined by reference to where he was before, and whether his position has improved or regressed“.71 Allerdings kann das Konzept der „Grundlinie“ auch in einem nicht relativen Sinne verstanden werden, nämlich dahingehend, dass jemand nur geschädigt sein kann, wenn sein Interesse auf unterhalb der Mittellinie zurückgedrängt und er so in eine schädigende Lage („harmed condition“) gebracht wird.72 Feinberg schlägt insgesamt acht Tätigkeitsworte zur Beschreibung des schädigenden Verhaltens vor.73 65
Simester/von Hirsch (Fn. 59), 36. S. schon zur Voraussetzung der „wrongfulness“ bezüglich des „offence principle“ (Fn. 59). 67 Feinberg (Fn. 57 [Harm to Others]), S. 34. Feinberg bezieht sich hier auf moralische Rechte. Darunter versteht er „a claim directed against one’s fellow citizens prior to and independent of any claim of enforcement against the state“ ([a.a.O.], S. 111). Es handelt sich um „a claim […] addressed to the conscience of the claimee or to public opinion“ ([a.a.O.], S. 110). Für Feinberg kann jegliches Interesse (außer den krankhaften und bösen) die Grundlage eines moralischen Rechts sein; jedoch sind nur Wohlfahrtsinteressen auch die Grundlage gesetzlich anerkannter Rechte ([a.a.O.], S. 112). 68 Ebd., S. 34. 69 Simester/von Hirsch (Fn. 59), 52; s. aber zu schadensunabhängigem Unrecht ebd., 50 f. 70 Feinberg (Fn. 57 [Harm to Others]), S. 53 („a starting point or ,baseline‘ from which the direction of advance or retreat [of the interest] is charted and measured“). 71 Ebd., S. 54. 72 Ebd. 66
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Auch für Raz stellt das harm principle die einzige Rechtfertigung von Freiheitseingriffen dar.74 Bezugnehmend auf seine schon erwähnte, autonomiebasierte Lehre hält er es für ein „principle of freedom“.75 Die Beziehung zwischen Autonomie des Einzelnen und Verhinderung von Schädigung kann wie folgt erklärt werden: Wenn Autonomie darin besteht, dass man verschiedene Handlungsmöglichkeiten und die Fähigkeit, diese zu nutzen, hat, so stellt sich jede Handlung, die eine Person dieser Handlungsmöglichkeiten oder der Nutzungsmöglichkeit beraubt, als eine Schädigung dieser Person dar. So besteht die Schädigung also in der Verringerung von Handlungsoptionen und damit von Autonomie, also Freiheit (in einem anspruchsvollen Sinne, dazu sogleich).76 Tatsächlich bereitet Raz’ Fokus auf Autonomie den Boden für ein weiteres Prinzip, das wir als Autonomie oder Nicht-Einmischungsprinzip bezeichnen können. Ripstein hat es Souveränitätsprinzip („sovereignty principle“) genannt.77 Danach können die individuellen Freiheiten aller miteinander wie folgt in Einklang gebracht werden: „each person is entitled to use his or her own powers as he or she sees fit, consistent with the ability of others to do the same. The consistency is achieved through the joint ideas of noninterference and voluntary cooperation. No one is allowed to use or damage another person’s means without his or her permission. If everyone forbears from doing these things, each person is independent of all the others.“78
Es ist also falsch, ein Verhalten zu kriminalisieren, dass nicht in ungebührlicher Weise in die gleiche Freiheit anderer eingreift. Das offensichtliche Problem mit solchen autonomiebasierten Konzepten ist, dass sie die fehlende Präzision ihrer Grundlagen – Autonomie und Freiheit – in sich tragen. Kann man ohne weiteres mit Ripstein darin übereinstimmen, dass der einzige Grund einer Einmischung in die Freiheit einer Person die Notwendigkeit ist, die Freiheit anderer zu schützen,79 so ist damit nicht die grundlegende Vorfrage beantwortet, wo die eigene Freiheit endet und die des anderen beginnt. Wichtiger noch ist der Einwand, dass jede autonomiebasierte Konzeption per definitionem die Autonomie und den freien Willen derjenigen zur Voraussetzung hat, die es zu schützen vorgibt. Das bedeutet also, dass Personen, denen es an Autonomie fehlt, z. B. Kleinkindern oder Personen mit geistigen Störungen, nicht von einer solchen Konzeption erfasst werden, obwohl doch gerade bei
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Ebd., S. 51: „The acts […] that harm people have been said (alternatively) to be those that (1) violate, (2) invade, (3) impair, (4) set back, (5) defeat, (6) thwart, (7) impede, and (8) doom their interests.“ 74 Raz (Fn. 53), S. 413 („only justifiable ground for coercive interference with a person“). 75 Ebd. 76 Ebd. 77 Ripstein, Beyond the Harm Principle, Phil. & Pub. Aff. 34 (2006), 215 ff. 78 Ebd., S. 233. 79 Ebd., S. 245 („only ground for interfering with one person’s ability to set and pursue his or her own purposes is the need to protect the freedom of others“).
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ihnen ein besonderes Schutzbedürfnis besteht.80 Dies gilt jedenfalls dann, wenn man Autonomie – anspruchsvoll (wie wohl Raz) – als die Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung in Abgrenzung zu einem natürlichen Begriff von Freiheit als Willkürfreiheit versteht.81 Denn diese existiert bei jedem menschlichen Wesen (unabhängig von seiner Fähigkeit zu selbstgesetztem Verhalten) und kann deshalb auch immer verletzt werden. Bezieht sich das ursprüngliche, enge Verständnis des harm principle nur auf eine konkrete Rechtsverletzung mit der daraus folgenden primären Schädigung (und verlangt insoweit mehr als das Rechtsgutsprinzip), so ist es heute unstrittig, dass auch bloße Schadensrisiken („risk to harm“) erfasst sind.82 So dehnt auch Feinberg das Prinzip auf vorgelagertes kriminelles Verhalten aus, wenn er das bloße Risiko einer Schädigung als möglicherweise strafrechtliches verbotenes Verhalten diskutiert.83 Dabei will er die Größe und Wahrscheinlichkeit der Schädigung sowie den „independent value of the risk-creating conduct“ für den Täter, mögliche Opfer und die Gesellschaft im Allgemeinen berücksichtigen.84 Er bezieht sich auf Situationen, in denen das betreffende Verhalten „weder völlig harmlos noch direkt und notwendigerweise schädlich“ ist, aber eben eine Gefahr „to some degree“ schaffe,85 und 80 Zu dieser u. a. Kritik vgl. Tadros (Fn. 35), S. 59 ff. Tadros selbst beansprucht, „a more complex principle“ vorzuschlagen, nämlich „one that permits criminalization of conduct only on condition that the conduct is harmful, or that criminalization of the conduct would prevent harm, or that criminalization would protect people against having their sovereignty interfered with“ (S. 64). Tatsächlich kombiniert er aber nur das harm principle mit dem Souveränitätsprinzip, weil er sie für sich genommen aus praktischen und normativen Gründen für unzureichend hält („[…] two important sources of moral demand that lack a single foundation.“, ebd.). Wenn aber beide Prinzipien, für sich genommen, „provide independent sources of legitimate criminal prohibitions“ (S. 65), warum sollte es dann nicht ausreichen, das harm principle um das Souveränitätsprinzip zu ergänzen? 81 Zu dieser kantischen Unterscheidung vgl. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, S. 137 ff.; ihm folgend Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 169. 82 Simester/von Hirsch (Fn. 59), 44 („Straightforward candidates for prohibition […].“). 83 Feinberg, (Fn. 57 [Harm to Others]), S. 190 (wo er „empirical generalizations about the likely effects on protected standard interests“, die Verhinderung von Schaden „to standard interests […] by prohibiting actions that are likely to invade them“ und die erforderliche Schadenswahrscheinlichkeit diskutiert). S. auch von Hirsch (Fn. 21), S. 15; Ormerod (Fn. 14), S. 15; krit. Ashworth (Fn. 57), S. 28; Fletcher (Fn. 14), S. 39; Kahlo (Fn. 19), S. 32. 84 Feinberg (Fn. 57 [Harm to Others]), S. 191 („The important concept for the legislator, then, is neither magnitude of harm nor probability of harm alone, but rather the compound of the two, which is called risk […]. The crucial third factor is the independent value of the riskcreating conduct both to the actor himself, to others directly affected by it, and to society in general.“ [Herv.d.Verf.]); s. auch ebd., S. 192 (für den strafrechtlichen Schutz von Personen „with rare vulnerabilities […] against deliberate and malicious attempts to exploit their special weaknesses […]“), S. 195 (Verbot von „generally dangerous practice [like handgun possession] […] for all except an exceptional few who can shoulder the burden of proving their own special need and competence“). 85 Ebd., S. 216 („is neither perfectly harmless nor directly and necessarily harmful […] but does create a danger to some degree“).
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schlägt insoweit „Faustregeln“ für den Gesetzgeber vor.86 Von Hirsch hat daraus eine „Standard Harms Analysis“ abgeleitet und drei Stufen unterschieden: (1) Feststellung der Schwere der eventuellen Schädigung und ihrer Wahrscheinlichkeit; (2) Abwägung dieser Schwere mit dem gesellschaftlichen Wert des Verhaltens und der durch eine mögliche Kriminalisierung hervorgerufenen Einschränkung der Handlungsfreiheit des Täters; und (3) Berücksichtigung grundrechtsbeschränkender Nebeneffekte der Kriminalisierung, etwa durch Verletzung von Persönlichkeitsrechten und Meinungsfreiheit.87 Der US-amerikanische Strafrechtler und Rechtsphilosoph Douglas Husak folgt Feinberg nicht nur in seinem deontologischen harm-Ansatz, sondern auch in seiner Ausdehnung des Prinzips auf die Verhinderung von bloßen Schadensrisiken.88 Er versucht dann freilich das so ausgedehnte harm principle zu konkretisieren und einer zu weitgehenden strafrechtlichen Expansion durch vier kumulative Anforderungen entgegenzuwirken: Das verbotene Verhalten muss ein „substantial risk“ schaffen,89 das Verbot muss tatsächlich präventiv wirken,90 die Schädigung hätte auch bei ihrer tatsächlichen Verursachung durch ein anderes Verhalten legitimerweise verboten werden können („consummated harm“)91 und der Täter muss mit „some degree of culpability“ handeln.92
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Ebd., S. 216: a. the greater the gravity of a possible harm, the less probable its occurrence need be to justify prohibition […] b. the greater the probability of harm, the less grave the harm need be to justify coercion; c. the greater the magnitude of the risk of harm, itself compounded out of gravity and probability, the less reasonable it is to accept the risk; d. the more valuable (useful) the dangerous conduct […] the more reasonable it is to take the risk of harmful consequences […] e. the more reasonable the risk of harm (the danger), the weaker is the case for prohibiting the conduct […]. 87 Von Hirsch, in: Simester/Smith (Hrsg.), Harm and Culpability, 1996, Nachdruck 2003, S. 259 (261); s. auch Simester/von Hirsch (Fn. 59), 54 ff. 88 Husak, Over criminalization – The Limits of Criminal Law, 2008, S. 159 („The criminal law is appropriately employed not only to reduce harm but also to reduce the risk of harm“). 89 Ebd., S. 161 f. 90 Ebd., S. 162 („the proscription in question must actually decrease the likelihood that the ultimate harm will occur. I call this ,the prevention requirement‘.“). 91 Ebd., S. 165 f. („the state may not proscribe conduct to reduce the risk of a given harm unless the state would be permitted to proscribe conduct that intentionally and directly causes that same harm.“). Beispielhaft: Wenn es illegitim wäre, die (vorsätzliche, direkte) Verringerung der gesellschaftlichen Produktivität zu kriminalisieren, dann wäre es auch illegitim, ein strafbewehrtes Drogenverbot mit einem angeblichen Risiko für die gesellschaftliche Produktivität zu begründen. 92 Ebd., S. 174 (keine Haftung von Personen „who create a risk of harm unless they have some degree of culpability for the ultimate harm risked“).
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4. Zur Kombination von Rechtsgut- und harm principle zur Rettung eines liberalen rechtsstaatlichen Strafrechts Rechtsgutkonzept und harm principle verbindet das Ziel, die Legitimation einer Kriminalisierung auf solches Verhalten zu beschränken, das Rechtsgüter schädigt.93 Sie sind damit Teil eines liberal-rechtstaatlichen Strafrechtsprojekts,94 das den ultima ratio Charakter des Strafrechts betont (und dabei insbesondere bloß amoralisches Verhalten von jeglicher Kriminalisierung ausschließt) und sich dem Schuld-, Legalitäts- und Fairnessgrundsatz verpflichtet fühlt. In gewisser Weise kann man das harm principle einerseits als die negative Kehrseite des Rechtsgutskonzepts verstehen, nämlich insoweit als es das materiale, fassbare Ergebnis einer Rechtsgutsverletzung und die Anforderungen an das entsprechende schädigende Verhalten ausdrückt. Tatsächlich scheint die überkommene Idee der Sozialschädlichkeit als die empirisch-naturalistische Grundlage jeder (gesellschaftsvertraglich verankerten) Verbrechenslehre95 – bevor es zu deren rechtstheoretischer Idealisierung oder Normativierung durch die genannten Rechtsgutstheorien96 kam – dieses Verständnis zu bestätigen. Andererseits kann die Rechtsgutslehre den normativen Inhalt des harm principle liefern; sie kann den Grundsatz – mit Blick auf Rechtsgüter als seinen Schädigungsgegenstand – materialisieren bzw. normativieren. Das Rechtsgutskonzept kann also, sofern es selbst ausreichend normativiert ist, die Frage beantworten, welche Art von Schaden („harm“) durch das Strafrecht verboten werden sollte, und so zu einer vernünftigen Bestimmung des strafrechtlich relevanten Schadens beitragen.97 Ein solcher Schaden kann als die tatsächliche oder potenzielle Verletzung gesellschaftlich relevanter und verfassungsrechtlich anerkannter Interessen98 oder Güter definiert wer93 Vgl. ebd., S. 3 (harm principle diene der Entwicklung eines normativen Rahmens, um „those criminal laws that are justified from those that are not“ zu unterscheiden). 94 S. in diesem Sinn Feinbergs Verständnis von Liberalismus als „harm and offense prevention“ als „far and away the best reasons […] in support of criminal prohibitions.“ (Harmless Wrongdoing, [Fn. 57], S. 323). 95 Vgl. Amelung (Fn. 16), S. 10 (wonach die Sozialschädlichkeit das „Grundprinzip jeder rationalen Strafrechtslehre“ darstelle); zu den gemeinsamen Wurzeln von harm principle und Rechtsgutskonzept insofern auch Roxin (Fn. 15), 575. Zu den historischen Wurzeln der Sozialschädlichkeitslehre als Teil und Folge der Gesellschaftsvertragstheorien und der Aufklärungsphilosophie seit Mitte des 18. Jh. s. Naucke (Fn. 19), S. 269 ff.; auch Hefendehl (Fn. 16), S. 10 f. m.w.N. Siehe auch u. Fn. 108. 96 Siehe o. Fn. 16 ff. 97 Demgegenüber scheint die Ergänzung des Rechtsgutskonzepts um das „offense principle“ (in diesem Sinne von Hirsch [Fn. 21], S. 22 ff., Seher [Fn 21], S. 49 ff.) im Lichte der oben erwähnten Abgrenzungsprobleme (Fn. 59) und der Tatsache, dass dieses Prinzip die zugrundeliegenden normative Fragen ebenso wenig beantwortet, nicht sehr vielversprechend zu sein. 98 Die Bezugnahme auf (rechtliche) Interessen findet sich schon bei Mill (Fn. 34, wo Harcourt zitiert wird) sowie bei Binding („Interessen des Rechts“, Fn. 17) und bei von Liszt (Fn. 18), wobei hier dem von Liszt’schen Verständnis empirisch vorfindlicher und gesellschaftlich legitimierter statt nur legislatorisch festgesetzter Interessen gefolgt wird. Auch Feinberg (Fn. 63 f.) und § 1.02 des U.S.-amerikanischen Model Penal Code („harm to indi-
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den,99 also als Schädigung der hinter den Rechtsgütern stehenden Werte. Eine so verstandene, normative Rechtsgutstheorie füllt damit das ansonsten inhaltsleere harm principle (Schädigung von was?) mit materiellem Inhalt;100 möglicherweise erklärt auch dieses Potenzial von „Materialität“ des Rechtsgutskonzepts, warum manche es dem harm principle für überlegen halten.101 Allerdings hat keines der Konzepte es trotz ihres liberalen Potenzials vermocht, der weltweit florierenden Strafrechtsexpansion Einhalt zu gebieten. Tatsächlich sind beide Konzepte – aufgrund ihrer schon kritisierten Mehrdeutigkeit und normativen Leere – elastisch genug, um eine Grundlage für die Kriminalisierung jeglichen kriminalpolitisch unerwünschten Verhaltens zu bieten.102 Sie haben weder die strafrechtliche Expansion in Spezialgebiete (etwa durch Wirtschafts- oder Umweltstrafrecht)103 noch die Erfassung zahlreicher Delikte der öffentlichen Ordnung – von sexualbezogenem Verhalten (etwa Prostitution oder Homosexualität) bis zum Drogenmissbrauch – verhindert, ja häufig sogar zu deren Rechtfertigung gedient.104 Ferner vidual or public interests.“) beziehen sich auf Interessen; siehe auch Stratenwerth (Fn. 21), S. 379 f.; von Hirsch (Fn. 21), S. 16 ff. (Verletzung eines Interesses im Sinne einer Ressource, die als Recht zu einer Person gehört und insofern einem Rechtsgut ähnlich ist); Seher (Fn. 21), S. 46 ff. Daran ist kritisiert worden, dass ein „Interesse“ nur einen bestimmten schutzwürdigen Wert ausdrückt, aber eben nicht selbst das materielle „Etwas“, das verletzt werden kann (Stratenwerth [Fn. 21], S. 380; zust. Hefendehl [Fn. 16], S. 30 f.). Diese Kritik ist zwar aus formaler Sicht berechtigt (ähnlich schon Birnbaum (Fn. 16), S. 180 ff. bezüglich des Rechtskonzepts in Feuerbachs Rechtsverletzungstheorie im Gegensatz zum „Gut“ in seiner nachfolgenden Gütertheorie), sollte jedoch nicht überbetont werden, weil beide Konzepte („Rechtsgut“ und „Interesse“) mehrdeutig sind und zumindest in der angloamerikanischen Diskussion das „Interesse“ die damit in Bezug genommenen Gegenstände mitumfasst. Außerdem geht auch das „Rechtsgut“ über bloße naturalistische Gegenstände hinaus, wie insbesondere die Diskussion um seine Abgrenzung zum Handlungsobjekt zeigt (s. z. B. Hefendehl [Fn. 16], S. 39 ff.). 99 Ähnlich Eser (Fn. 56), S. 413(„actual or potential prejudice to socially and constitutionally recognized […] factual interests“), der Rechtsgüter dualistisch versteht (S. 376, 395, 412), bestehend aus einem „sociological substratum“ (also einem faktischen rechtlichen Interesse), das auf bestimmten Werten beruht (S. 376 ff., 394 ff.), die normalerweise von der Verfassungsordnung vorgegeben werden (S. 398 ff.). 100 Zur inhaltlichen Leere eines „simple harm principle“ (das die normativ-moralische Dimension außer Acht lässt) s. Harcourt (Fn. 34), S. 183 (187). 101 S. Fletcher (Fn. 14), S. 40 f.; Dubber (Fn. 34), S. 501 ff. 102 S. zur entsprechenden Kritik am harm principle Hirsch (Fn. 87), S. 259 f.; Husak (Fn. 88), S. 103; bezüglich des Rechtsgutsprinzips siehe von Hirsch und Wohlers (Fn. 24), S. 196 f. (bezüglich Drogendelikten); Stuckenberg (Fn. 22), S. 657 f. Krüger stellt insoweit eine Art „Entmaterialisierung“ des Rechtsgutsprinzips fest (Die Entmaterialisierungstendenz beim Rechtsgutsbegriff, 2000). 103 Siehe Krüger (Fn. 102), S. 20 ff., S. 40 ff., 45 ff., 50 ff. Bezug nehmend auf Wirtschafts- Umwelt-, Verkehrs- und OK-Strafrecht. 104 Siehe zur Berufung auf das harm principle in den USA seit den 1980er Jahren zur Rechtfertigung der Kriminalisierung zahlreicher Verhaltensweisen von Pornografie bis zum Drogenmissbrauch Harcourt (Fn. 34), S. 139 ff.; zur Berufung auf einen völlig konturenlosen Rechtsgutsbegriff bei der Kriminalisierung von Doping jüngst Timm, GA 2012, 733 ff.
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wurden die Konzepte auf bloße Schadensrisiken,105 entfernte Schäden106 oder bloß (abstrakte) Gefahren für (kollektive) Rechtsgüter107erweitert, wodurch letztlich bloß vorgelagertes, vorbereitendes und/oder gefährliches Verhalten erfasst, also letztlich jedes angeblich gesellschaftlich gefährliche Verhalten kriminalisiert wird.108 Der damit einhergehende ideologische Wandel dieser Konzepte von einem kritisch-liberalen Verständnis zu Rechtfertigungstopoi einer anti-liberalen kriminalpolitischen Agenda kann nur umgekehrt werden, wenn die ihnen zugrunde liegenden normativen Dimensionen109 – die legitimierenden Grundsätze jeglicher Kriminalisierung eben110 – wiederentdeckt, verklart und in konkrete Richtlinien einer
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Siehe o. Fn. 82 ff. mit Haupttext. Für eine gute Definition und Beispiele zur Eventualität des Schadenseinstritts s. von Hirsch (Fn. 87), S. 263 ff.; Simester/von Hirsch (Fn. 59), 46 f., 53 f., 57 ff., 75 ff. Dies zeigt die Ähnlichkeit zu den abstrakten Gefährdungsdelikten (Fn. 24), die von Hirsch deshalb auch exemplarisch nennt (Fn. 87, S. 263 f.; Simester/von Hirsch, [Fn. 59], 75 ff.). 107 Siehe o. Fn. 24 ff. (auch zu den verwandten Gefährdungsdelikten). 108 Dies hat zur Folge, dass der Schutzbereich des Strafrechts von fassbaren Rechtsgütern zu bloßen Scheinrechtsgütern (z. B. Volksgesundheit oder öffentlicher Frieden) verlagert wird (zu solchen in den StGBs von Chile, Deutschland und Spanien s. Hefendehl, ZIS 2012, 506), wobei deren einziger Zweck darin besteht, Verhaltensnormen zu schützen, die auf einem angeblichen gesellschaftlichem Konsens bezüglich der ihnen zugrundeliegenden Werte beruhen. Doch selbst wenn ein solcher Konsens besteht, können Minderheitenrechte seine uneingeschränkte strafrechtliche Durchsetzung verhindern (zu einer Kritik dieser Scheinrechtsgüter und weiterer Hypostasierungen s. Amelung [Fn. 30], S. 171 ff.; auch Hefendehl [Fn 16], S. 33 ff. und [Fn. 20], S. 128 f.; Roxin [Fn. 14], § 2 Rn. 10, 67 und 75 ff.; ders. [Fn. 15], 580; Vormbaum [Fn. 19], S. 675 f.). Das Erfordernis eines gesellschaftlichen Konsens zur Rechtfertigung von Strafrecht (s. schon Stratenwerth [Fn. 25]) erinnert im Übrigen an die Lehren von der Sozialschädlichkeit, die die Funktion des Strafrechts in der Aufrechterhaltung und Bestätigung einer gegebenen gesellschaftlichen Ordnung, deren Zusammenhalt durch die Begehung von Verbrechen gefährdet wird, sehen: Siehe einerseits Schünemann (Fn. 20) [„Rechtsgüterschutzprinzip“], S. 137 ff., der auf der Grundlage eines liberal-restriktiven Verständnisses des Rechtsguts unter Berufung auf die Gesellschaftsvertragslehre argumentiert, dass die einzige Funktion des Strafrechts in der Verhinderung gesellschaftlichen Schadens mit Blick auf die „natürlichen oder gesellschaftlich geschaffenen Güter der Gesellschaftsmitglieder“ bestehe; ähnlich Roxin (Fn. 14), § 2 Rn. 7 f.; ders. (Fn. 15), 590. Siehe andererseits Amelung (Fn. 15), S. 367, 388 ff. und o. Fn. 30, S. 182, der auf der Grundlage der Parsonschen soziologischen Systemtheorie zur Ergänzung des Rechtsgutskonzepts argumentiert, dass strafrechtliche Delikte die „organisatorischen Bedingungen menschlichen Zusammenlebens“ betreffen und deshalb Strafe zum Schutz dieser Bedingungen notwendig sei; er erkennt jedoch die „liberalen Grenzen“ seiner Lehre mit Blick auf die Menschenwürde und die allgemeine Freiheit der Person an. So überrascht es auch nicht, dass das kritische, normative Potenzial seiner Lehre aus einer philosophischen, nicht systemischen Konzeption abgeleitet wird, enthält doch der systemische Ansatz per se keine normative Aussage (ähnlich Swoboda [Fn. 16], S. 42 f.). 109 Zur Feststellung dieser zugrunde liegenden normativen Dimension bei Mill und vor allem Feinberg s. Harcourt (Fn. 34), S. 187 ff. 110 Siehe Seher (Fn. 21), S. 45 ff. und schon o. Fn. 22 mit Haupttext. 106
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rationalen Kriminalpolitik überführt werden.111 Dabei mag der Rückgriff auf Kriterien fairer Zurechnung, wie sie insbesondere durch die Lehre von der objektiven Zurechnung entwickelt wurden, zu einer weiteren Normativierung dieser Konzepte beitragen, denn schließlich sind Straftatbestände letztlich auf ein tatbestandsrelevantes Verhalten anzuwenden, das einer menschlichen Person zugerechnet werden muss.112 Auch die Entstehungsgeschichte der beiden Konzepte kann normative Erwägungen zu Tage fördern und damit zu der notwendigen Renormativierung der Grundsätze im Lichte der heutigen Realität beitragen. So kann etwa die Verschmelzung der im 19. Jahrhundert vertretenen Rechtsverletzungs- und Güterlehren in der Rechtsgutslehre113 ein Modell für die heutige Verschmelzung der Rechtsgutslehre mit verfassungs- und menschenrechtlichen Ansätzen liefern,114 also für eine Normativierung der Rechtsgutslehre (und zugleich des harm principle) mit Blick auf den Schutz der Bürger vor staatlichen Verletzungen ihrer Grund- und Menschenrechte. Das 111 Zu Beispielen solcher Richtlinien auf der Grundlage eines liberal-restriktiven Rechtsgutskonzepts mit dem daraus folgenden Ausschluss zahlreicher Kriminalisierungen s. Roxin (Fn. 14), § 2 Rn. 13 ff.; ders. (Fn. 15), 579 f. 112 Für einen solchen, instruktiven Ansatz der Entwicklung von Kriterien fairer Zurechnung bezüglich Gefährdungsdelikten (Fn. 87) s. von Hirsch und Wohlers (Fn. 24), S. 200 ff. m.w.N. Zur Bedeutung einer Zurechnungstheorie in diesem Zusammenhang s. von Hirsch (Fn. 88), S. 265 ff.; Simester/von Hirsch (Fn. 59), 59 ff.; Frisch (Fn. 21), S. 228 ff. (der allerdings darauf hinweist, dass eine solche Theorie nur die Frage beantwortet, ob ein bestimmtes Verhalten als rechtswidrig zu qualifizieren sei, aber eben nicht, ob es auch strafwürdig sei); Roxin (Fn. 15), 589; siehe auch Wittig, in: Hefendehl et al. (Fn. 19), 240 ff., wo sie zutreffend darauf hinweist, dass die Legitimation einer Kriminalisierung nicht nur von den äußeren Folgen einer Straftat abhängt, sondern auch von den Zurechnungskriterien, insbesondere von der Abgrenzung der Verantwortungssphären von Täter und Opfer. 113 Die oben beschriebene (Fn. 16) historische Entwicklung kann in diesem dialektischen Sinne interpretiert werden, wenn man die Rechtsgutslehre als die Synthese von Rechtsverletzungs- und Güterlehren versteht; ähnlich Vormbaum (Fn. 18), S. 110 f. 114 Für eine Synthese der alten Rechtsverletzungs- (Fn. 16) und der Rechtsgutslehre s. Vormbaum (Fn. 18), S. 117 mit Fn. 68. Die Rechtsverletzungslehre muss allerdings aktualisiert und vor möglichem Missbrauch geschützt werden (krit. zur nationalsozialistischen Gleichbehandlung der Rechtsverletzungs- und der Rechtsgutslehre Amelung [Fn. 31], S. 160) und zwar durch Einbeziehung der grund- und menschenrechtlichen Maßstäbe. In diesem Sinne nimmt Roxin (Fn. 14), § 2 Rn. 7, 11, 50, 92 und ders. (Fn. 15), 577 ff. auf das Individuum und sein Recht der Selbstverwirklichung, wie es sich aus der Verfassung ergibt, Bezug und stimmt im Grundsatz einer verfassungsrechtlichen Revision des Rechtsgutskonzepts zu. Lagodny, in: Hefendehl et al (Fn. 19), S. 87 spricht von einer „kriminalpolitischen Richtlinienfunktion der Grundrechte“. Frisch (Fn. 21), S. 231 ff., obwohl kritisch gegenüber den bisherigen theoretischen Ansätzen, hält auch verfassungsrechtliche Erwägungen für notwendig, insbesondere Erforderlichkeit und Angemessenheit als die wichtigsten Kriterien zur Beurteilung der Legitimation einer Kriminalisierung. Seelmann (Fn. 22), S. 262 ff. beruft sich auf das Hegelsche Anerkennungsverhältnis, aus dem sich die Degradierung des anderen in seinem Status als Person als der tieferliegende Grund der Kriminalisierung ergibt. Hörnle (Fn. 21), S. 18 f., 43 ff. (68 f.) will das Rechtsgutskonzept „von unten materialisieren“ (S. 18), wobei sie dabei auf die verfassungsrechtlichen Garantien Bezug nimmt, insbesondere auf die allgemeine Handlungsfreiheit in ihrem Zusammenspiel mit den Rechten anderer (krit. Swoboda [Fn. 16], S. 41).
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ist nichts anderes als die Folge der zunehmenden Konstitutionalisierung des Strafrechts, die ansonsten, wie wir schon oben gesehen haben,115 nur zu einer Verdrängung der Rechtsgutslehre führt.
III. Zur Übertragung auf das Völkerstrafrecht Wenn wir uns nun einer möglichen Übertragung dieser Überlegungen auf die völkerstrafrechtliche Ebene zuwenden, so scheinen zunächst die aus der nationalen Diskussion bekannten rechtsstaatlichen Bedenken hinsichtlich einer Überkriminalisierung nicht relevant zu sein, weil das Völkerstrafrecht a limine auf den Schutz fundamentaler Rechtsgüter und die Verhinderung tatsächlicher Verletzungen dieser Rechtsgüter gerichtet ist. Gerade dieser völkerstrafrechtliche Fokus auf fundamentale und zugleich universelle Interessen und Werte erklärt die Vehemenz des völkerstrafrechtlichen Geltungsanspruchs, der zu einer Zurückweisung jeglicher rechtskultureller Relativierung führen muss.116 Ferner ist die – schon an anderer Stelle erklärte117 – kollektiv-individuelle Reichweite des Völkerstrafrechts mit Blick auf Weltfrieden/internationale Sicherheit einerseits und grundlegende Bürger- und Menschenrechte andererseits zu berücksichtigen. Die Existenz und der Gültigkeitsanspruch des Völkerstrafrechts beruht auf dieser kollektiv-individuellen Dimension und dient als normative Grundlage eines supranationalen ius puniendi. Mit Blick auf die durch die völkerrechtlichen Kernverbrechen geschützten Güter, Werte oder Interessen folgt aus dem kollektiv-individuellen Ansatz zweierlei: Einerseits sollen kollektive oder komplexe Interessen, also Frieden, Sicherheit und das Wohlergehen der Welt geschützt werden. Eine Verletzung dieser Interessen berührt die internationale Gemeinschaft als Ganzes und richtet sich gegen die Menschheit als solche.118 Die kollektive Sichtweise folgt aus den Statuten der internationalen Straftribunale mit ihrer Bezugnahme auf bzw. Begründung im kollektiven Friedenssicherungssystem 115
O. Fn. 26 ff. und Haupttext. Ähnlich Perry, Are Human Rights Universal? The Relativist Challenge and Related Matters, Human Rights Quarterly 19 (1997) 461 ff. (471, wo er aus der Gleichheit der Menschen ihre gleiche menschliche Behandlung ableitet); Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte, 1998, S. 10 ff., 17, 115 ff., 145 ff. (der einen interkulturellen Kernkonsens ausmacht); Fisher, Moral Accountability and International Criminal Law, 2012, S. 61. 117 Ambos (Fn. 1). 118 Vgl. Werle, Völkerstrafrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 93 ff.; Triffterer, 114 ZStW (2002) 321 (342); Neubacher, Kriminologische Grundlagen internationaler Strafgerichtsbarkeit, 2005, S. 100 ff.; Ambos, in: Neubacher/Klein (Hrsg.), Vom Recht der Macht zur Macht des Rechts?, 2006, S. 111 ff.; Cryer, Prosecuting International Crimes, 2005, S. 4; Cryer/Wilmshurst, in: Cryer et al. (Hrsg.), An Introduction to International Criminal Law, 2. Aufl. 2010, 6 f.; Melloh, Einheitliche Strafzumessung in den Rechtsquellen des ICC-Statuts, 2010, S. 83, 86, 88 f. – Diese Dimension des Schutzes kollektiver, supranationaler Interessen wird mitunter in der Literatur vernachlässigt, s. z. B. Lagodny, ZStW 113 (2001), 800 (803) und Gil Gil, ZStW 112 (2000), 381 (382). 116
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von Kapitel 7 der UN-Satzung;119 sie manifestiert sich aber auch, wie wir gleich sehen werden, im Gruppenelement des Genozidtatbestands und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Andererseits schützen die völkerrechtlichen Kernverbrechen auch individuelle Interessen insofern, als diese auf den grundlegenden Menschenrechten beruhen120 und damit auf der Menschenwürde als deren Quelle.121 Einige Autoren räumen dieser individuellen Dimension sogar den Vorrang gegenüber der kollektiven Dimension ein.122 Demzufolge schützt das Genozid-Verbrechen – neben der Existenz einer geschützten Gruppe – auch die einzelnen Gruppenmitglieder gegen Würdeverletzungen samt der daraus folgenden individuellen Rechte (insbesondere Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit).123 Verbrechen gegen die Menschlichkeit beziehen sich über ihr Kontextelement („ausgedehnter oder systematischer Angriff“) auf die kollektive Ebene von internationalem Frieden und Sicherheit, schützen aber auch Gruppen und Individuen in ihrer Menschenwürde und den daraus folgenden Kernrechten des Lebens, der Freiheit etc.124 Was schließlich die Kriegsverbrechen angeht, so soll zwar ihr humanitärer Zweck konfliktbegrenzend wirken und somit einen Beitrag zum internationalen Frieden leisten, 119
S. insbesondere die Präambel des IStGH-Statuts, Bezug nehmend auf „the most serious crimes of concern to the international community as a whole […]“ und anerkennend dass „such grave crimes threaten the peace, security and well-being of the world“. Siehe aus der unüberschaubaren Lit. Bagaric und Morss, ICLR 6 (2006), 191 (242 ff.); Haveman, in: Haveman/Olusanya, Sentencing and Sanctioning, 2006, 145 (154); Ayat, ICLR 7 (2007), 391 (394 ff.); Henham, ICLR 7 (2007), 449 ff.; Cryer, in: Cryer et al. (Fn. 118), S. 33; Cornacchia, Funzione Della Pena Nello Statuto Della Corte Penale Internazionale, 2009, S. 136 ff.; Safferling, Internationales Strafrecht, 2011, S. 69. 120 Neubacher (Fn. 118), S. 89 ff., 113, 289 ff., 476 ff.; Möller, Völkerstrafrecht und Internationaler Strafgerichtshof – Kriminologische, straftheoretische und rechtspolitische Aspekte, 2003, S. 419 ff.; Melloh (Fn. 118), S. 84 ff., 90; Bock, Das Opfer vor dem Internationalen Strafgerichtshof, 2010, S. 90 ff., 97 ff., 115 f.; Safferling (Fn. 119), S. 69. 121 Zur Menschenwürde als geschütztes Interesse im nationalen (deutschen und israelischen) Strafrecht s. Kremnitzer/Hörnle, IsLR 44 (2011), 143 ff. (die dreifach differenzieren zwischen Würdeverletzung durch Nicht-Meinungsäußerungsdelikte, z. B. Vergewaltigung, Hassrededelikte, z. B. die Holocaust-Leugnung, und die mediale Darstellung schwerer Erniedrigung, z. B. Kinderpornografie). 122 S. z. B. Werle (Fn. 118), Rn. 101, 128, 135 ff., 761, 860, 1065 f. (diff., aber i. E. für einen Schutz von Individualrechten durch Kernverbrechen); Lee, in: May/Hoskins (Hrsg.), International Criminal Law and Philosophy, 2010, 15 (34 ff.) wo er argumentiert, dass es beim Völkerstrafrecht hauptsächlich um „the harm done to individuals who are killed, persecuted, or denied their group identity in genocidal acts“, geht (35); Gropengießer/Kreicker, in: Eser/ Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Bd. 1, 2003, 115 ff., 154 ff.; ähnlich Triffterer, in: ders. (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court, 2. Aufl. 2008, Part 1, Rn. 21. 123 Vgl. Lüders, Die Strafbarkeit von Völkermord nach dem Römischen Statut für den Internationalen Strafgerichtshof, 2004, S. 166; Melloh (Fn. 118), S. 90 f.; Bock (Fn. 120), S. 92. a.A. Gropengießer/Kreicker (Fn. 122), S. 96 ff. (nur Gruppe geschützt). 124 Vgl. Luban, Yale J. Int.L. 29 (2004) 85 (86, 120, 159 f.); zust. Ambos, in: Sadat (Hrsg.), Forging a Convention for Crimes Against Humanity, 2011, 279 (281 f.); Bock (Fn. 120), S. 97, 101 f.; s. auch Melloh (Fn. 118), S. 91 f.
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doch dienen die einzelnen Tatbestände auch dem Schutz der Menschenwürde, des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit (der nicht kämpfenden Personen) auch und gerade während eines bewaffneten Konfliktes.125 Soweit es um diese völkerrechtlichen Kernverbrechen geht, besteht im Prinzip Einigkeit, dass fundamentale internationale Werte, Interessen oder Rechtsgüter auf dem Spiel stehen und durch ihre Begehung verletzt werden (wodurch dann ein entsprechender Schaden eintritt). Deshalb ist der entsprechende Rechtsgüterschutz nicht moralisch, sondern rechtlich gefordert. Aus der Internationalisierung des Rechtsgutskonzepts folgt auch die Internationalisierung des „harm principle“ im Sinne eines „international harm principle“, wie es von Larry May vorgeschlagen worden ist.126 Danach ist die internationale Strafverfolgung legitim, wenn die einschlägigen Verbrechen sich nicht nur gegen Einzelpersonen richten, sondern auch einen Gruppenbezug besitzen, sei es aufgrund der Art der Opferschädigung (als Mitglieder einer bestimmten Gruppe) oder des Charakters des Schädigers (in einem bestimmten Gesamttatzusammenhang handelnd).127 Es muss also immer auch die Menschheit als solche geschädigt werden.128 Damit ist allerdings nicht gesagt, dass völkerrechtliche Verbrechen nur oder vorwiegend Gruppen schützen, sondern lediglich, dass ein kollektives oder Gruppenelement immer in dem Sinne existieren muss, dass die betroffenen Opfer nicht nur aufgrund ihrer Individualität, sondern auch als Mitglieder oder Repräsentanten bestimmter Gruppen oder Kollektive angegriffen werden. Im Falle eines Genozids folgt dies schon aus der – oben erwähnten – gruppenbezogenen Tatbestandsstruktur. Im Falle von Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist es weniger offensichtlich, weil der Tatbestand auch Einzelpersonen in ihren individuellen Rechten schützt. Insoweit macht jedoch das genannte Kontextelement die kollektive Dimension insofern deutlich als der „Angriff gegen die Zivilbevölkerung“ (Art. 7 Abs. 1 IStGH-Statut), also gegen eine Personengruppe, geführt werden muss. Im Falle von Kriegsverbrechen besteht das Gruppenelement in der Zugehörigkeit der Opfer zum Konfliktgegner, sei es über deren Staatsangehörigkeit oder eine sonstige Beziehung. Trotz der Fokussierung des modernen Völkerstrafrechts auf ausgedehnte und systematische Schwerverbrechen, die sich vorrechtlich schon aus der Begründung des ius puniendi und der hier unternommenen Funktionsbestimmung ergibt, darf man freilich nicht übersehen, dass es mitunter auch über einen solchen minimalistischen Ansatz hinausgeht. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn völkerstrafrechtliche Beteiligungsformen und/oder -verbrechen vorgelagertes Verhalten erfassen, also bloße Schadensrisiken kriminalisiert werden. Das jüngste Beispiel ist die Kodifizie125
Melloh (Fn. 118), S. 92; Bock (Fn. 120), S. 115 f. Siehe May, Crimes Against Humanity, 2005, S. 80 ff. Das „international harm principle“ stellt, neben dem sog. „security principle“ (ebd., S. 63 ff., insbesondere 68 ff.), das zweite Element einer doppelten Rechtfertigung internationaler Strafverfolgung dar. 127 Ebd., S. 89 („group-based either in terms of the nature of the victim’s harm or the character of the perpetrator of the harm“). 128 Ebd., S. 82 und passim. 126
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rung des Aggressionsverbrechens, mit der tatbestandlich bloße Vorbereitungshandlungen („planning, preparation and initiation“) erfasst werden (Art. 8bis (1) IStGHStatut).129 Wenn man dem hier für das Völkerstrafrecht vertretenen restriktiven – auf eine tatsächliche Rechtsgutsverletzung mit entsprechendem Schadenseintritt („harm“) abstellenden – Ansatz folgt, fehlt es solchen Normen an Legitimität und sie sollten nicht zum Völkerstrafrecht mit der daraus folgenden supranationalen und universellen Reichweite gehören. Um Missverständnisse zu vermeiden sei klargestellt, dass die völkerrechtlichen Kernverbrechen, einschließlich des Aggressionsverbrechens mit seiner primär friedensrechtlich-kollektiven Komponente, die internationale Gemeinschaft als solche betreffen und deshalb auch grundsätzlich auf der Grundlage des Weltrechtsgrundsatzes unter Verzicht auf territoriale oder auf die Staatsangehörigkeit bezogene Anknüpfungspunkte verfolgt werden können.130 Dabei ist jedoch der Begriff des Kernverbrechens restriktiv zu verstehen, und dieses restriktive Verständnis schließt auch die Beteiligungsformen ein, denn auch deren Erweiterung führt zu einer zumindest mittelbaren Erweiterung der Tatbestände. Eine tatbestandliche Erweiterung, wie sie etwa durch die Kriminalisierung von Vorbereitungshandlungen erfolgt, entzieht damit der Ausübung weltrechtlicher Strafrechtspflege ihre Grundlage.
IV. Schlussfolgerung Die Kombination individueller und kollektiver Ziele des Völkerstrafrechts, insbesondere die Notwendigkeit des Schutzes der Bürger vor der Verletzung ihrer fundamentalen Rechte durch Unrechtsstaaten, also letztlich der Schutz der Menschenwürde, rechtfertigt ein supranationales ius puniendi. Zugleich erklärt dieser individuellkollektive Ansatz auch die in dieser Abhandlung untersuchte allgemeine Funktion des Völkerstrafrechts: Der Schutz fundamentaler, individueller und kollektiver Rechtsgüter (Gegenstandsbereich) und die Verhinderung einer tatsächlichen Schädigung („harm“) dieser Rechtsgüter (Folge bzw. Auswirkung). Was die Strafzwecke im engeren Sinne angeht, so folgt daraus, dass das Völkerstrafrecht – im Gegensatz zum nationalen Strafrecht, das den Einzelnen und die Allgemeinheit in gleicher Weise zu beeinflussen sucht – primär dem Zweck der Schaffung eines allgemeinen Normbewusstseins – im Sinne positiver General- und Integrationsprävention verbunden mit der Forderung nach Versöhnung oder im Sinne des Konzepts des „expressivism“ mit Blick auf die (mögliche) kommunikative Funktion von Strafe131 – dient.132 Zugleich ist man versucht, die Hoffnung auf eine negativ 129
Krit. Ambos, German Yb Int.L. 53 (2010), 463 (493 ff.); ders., ZIS 2010, 649 (660 ff.). Siehe zur Begründung einer solchen absoluten Theorie des Weltrechtsprinzips Ambos, Internationales Strafrecht, 3. Aufl. 2011, § 3 Rn. 92 ff. m.w.N. 131 Für Drumbl, Atrocity, Punishment, and International Law, 2007, S. 173 ff. besteht der Strafzweck beim „expressivism“ (dem er selbst kritisch gegenübersteht) darin, das Vertrauen der allgemeinen Öffentlichkeit in die Rechtsgeltung zu stärken, und im Übrigen die erzieherische Verbreitung historischer Narrative zu ermöglichen. S. auch Sloane, Stanford Journ. of 130
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generalpräventive, also abschreckende Wirkung des Völkerstrafrechts – trotz der fehlenden empirischen Belege – nicht vorschnell aufzugeben. Wie dem auch sei, so wichtig die weitere Theoretisierung des Völkerstrafrechts auch ist,133 so darf man doch nicht übersehen, dass es inzwischen von einem „law in the books“ zu einem „law in action“ geworden ist und dass deshalb seine Anerkennung und Legitimation mehr denn je von seiner fairen und effizienten Anwendung abhängt.134
Int. Law 43 (2007), 39 (44), wo er die „expressive dimensions“ der internationalen Strafe betont, die „most effectively to world public order as self-consciously expressive penal institutions“ beitragen und die „legal and normative internalization of international human rights and humanitarian law“ fördern könne. Fisher (Fn. 116), S. 51, 56 ff., 65 ruft zu einer gemischten „retributive-expressive justification“ auf, wobei sie die kommunikative Funktion als den Hauptzweck der Strafe und die Vergeltung (oder sogar die Abschreckung) als „secondary or supportive of this goal“ sieht (S. 58); die kommunikative Botschaft sei sowohl an die betroffene Gesellschaft als auch an die internationale Gemeinschaft gerichtet (S. 65). Für Stahn, LJIL 25 (2012), 251 (279 f.) trägt der Expressivismus zu einer „broader vision of the function of proceedings“ bei und beruht auf der „power of transparency and persuasion of international criminal courts to denounce the wrong and reinforce society’s norms.“ 132 Vgl. Ambos (Fn. 1 [Treatise]), S. 68 ff. Krit. Pastor (Fn. 7), S. 70 ff., 94 ff., 115 ff., der in solchen hochfliegenden Strafzwecken eine „gewisse ethische Arroganz“ („cierta soberbia ética“, S. 70) und eine „obszöne Doppelmoral“ („obscena hipocresía“, S. 94 f) zu erblicken glaubt. 133 Kritisch hinsichtlich einer bloß pragmatischen Sichtweise bezüglich der Legitimationsfrage Zahar/Sluiter, International Criminal Law, 2008, S. 198 f. 134 Ebenso Jesse, Der Verbrechensbegriff des Römischen Statuts, 2009, 70 f. („Legitimität durch optimale Anwendung“); Luban, in: S. Besson and J. Tasioulas (Hrsg.), The Philosophy of International Law, 2010, 569 (579 ff.); Duff, in: ebd., 589 (590 ff., 602 ff.), wo er auch für den hostis humani generis ein faires Verfahren fordert; Damasˇka, Chicago-Kent Law Review 83 (2008) 329 (343 ff.), die generalpräventive, erzieherische Funktion und das Problem der Legitimität betonend; Köhler, Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003), 435.
Die Ermittlung der „besten“ Strafgewalt im Spannungsfeld von Strafanwendungsrecht und internationaler Zuständigkeit Von Martin Böse
I. Einleitung Das wissenschaftliche Werk von Jürgen Wolter ist ebenso wie sein kriminalpolitisches Engagement als Mitverfasser einer Reihe von Alternativentwürfen zur Reform des Strafverfahrensrechts1 maßgeblich von der Überzeugung getragen, dass das Strafverfahrensrecht dem Schutz der Grundrechte verpflichtet ist2, und er hat schon früh darauf hingewiesen, dass auch im Rahmen der Europäisierung des Straf- und Strafverfahrensrechts der Grundrechtsschutz keineswegs vernachlässigt werden darf, sondern unverzichtbarer „Baustein“ eines europäischen Strafrechtssystems ist.3 Dies gilt vor allem deshalb, weil die Grund- und Verfahrensrechte des Beschuldigten bei einer zunehmend engeren grenzüberschreitenden Zusammenarbeit neuen Gefährdungslagen ausgesetzt sind, die nach ergänzenden verfahrensrechtlichen Sicherungen verlangen, will man nicht Gefahr laufen, dass der Beschuldigte zunehmend zum „Objekt“ grenzüberschreitender Strafverfolgung wird.4 Eine solche Gefahr besteht u. a. bei der Festlegung des Mitgliedstaates, in dem ein Strafverfahren geführt werden soll. Es ist bemerkenswert, dass der in dem einschlägigen Rahmenbeschluss niedergelegte Mechanismus zur Vermeidung und Beilegung strafrechtlicher Jurisdiktionskonflikte5 lediglich eine Beteiligung der Strafverfolgungsbehörden vorsieht6, aber hinsichtlich der subjektiven Rechte und einer Anhörung des Beschul-
1
S. etwa den Alternativ-Entwurf „Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmefreiheit“ (AE-ZVR), 1996; den Alternativ-Entwurf „Reform des Ermittlungsverfahrens“ (AEEV), 2001; den Alternativentwurf Europol und europäischer Datenschutz, 2008. 2 S. pars pro toto: Wolter, in: GS Karlheinz Meyer, 1990, S. 493 ff.; ders., ZStW 107 (1995), 793 ff. 3 Wolter, in: Schünemann/de Figueiredo Dias (Hrsg.), Bausteine des europäischen Strafrechts, 1995, S. 3, 4 ff. 4 F. Meyer, NStZ 2009, 657, 662 f. 5 Rahmenbeschluss 2009/948/JI vom 30. 11. 2009 über die Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten in Strafverfahren, ABl. L 328 vom 15. 12. 2009, S. 42. 6 Ebenda, Art. 1, 5 ff., 10 ff.
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digten auf das nationale Recht der betreffenden Mitgliedstaaten verweist.7 Auch hinsichtlich der Voraussetzungen für die Begründung nationaler Strafgewalt verweist der Rahmenbeschluss implizit auf das innerstaatliche Recht8; insbesondere wird darauf verzichtet, eine verbindliche Rangfolge von Anknüpfungspunkten aufzustellen.9 Ziel des folgenden Beitrages ist es nicht, eine solche Rangfolge zu erarbeiten oder den bestehenden Kriterien weitere hinzuzufügen, sondern die materiell-rechtlichen und die verfahrensrechtlichen Aspekte der Begründung nationaler Strafgewalt herauszuarbeiten und auf dieser Grundlage Wege aufzuzeigen, wie die Strafgewalt der Mitgliedstaaten beschränkt und die Wahl des Gerichtsstandes für den Beschuldigten damit zugleich berechenbarer werden kann.
II. Die Bestimmung der „besten“ Strafgewalt im Spannungsfeld von Flexibilität und Rechtssicherheit Ausgangspunkt für die Beilegung von Jurisdiktionskonflikten ist das nationale Recht der einzelnen Staaten, durch das konkurrierende nationale Strafgewalten – und damit die Notwendigkeit zur Lösung von Jurisdiktionskonflikten – geschaffen werden. Je umfangreicher die Staaten von der Möglichkeit zur Begründung extraterritorialer Strafgewalt Gebrauch machen, desto zahlreicher werden die (potentiellen) Jurisdiktionskonflikte; umgekehrt kann bereits die Entstehung derartiger Konflikte durch eine zurückhaltende Ausgestaltung des nationalen Strafanwendungsrechts vermieden werden. Die erste Option bietet eine Reihe von Vorteilen, vor allem den der Flexibilität. Es ist allgemein anerkannt, dass bei der Lösung strafrechtlicher Jurisdiktionskonflikte nicht ein Kriterium (etwa der Begehungsort), sondern eine Reihe von Faktoren (Verfügbarkeit von Beweismitteln, Staatsangehörigkeit von Täter bzw. Opfer und/oder sein Wohnsitz) zu berücksichtigen sind.10 Soweit das nationale Recht an diese Kri7
Ebenda, Erwägungsgrund (17). Ebenda, Erwägungsgrund (11). 9 Ebenda, Art. 11 (Prüfung der gesamten Sach- und Rechtslage des Falles sowie aller sachdienlichen Faktoren); s. ergänzend die in Erwägungsgrund (9) genannten Kriterien. 10 S. z. B. die Kriterienliste in Biehler/Kniebühler/Lelieur-Fischer/Stein, Freiburg Proposal on Concurrent Jurisdictions and the Prohibition of Multiple Prosecutions in the European Union, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht 2003, http://www. mpicc.de/shared/data/pdf/fa-ne-bis-in-idem.pdf (letzter Aufruf: 27. 11. 2012), S. 9; Lagodny, Empfiehlt es sich, eine europäische Gerichtskompetenz für Strafgewaltskonflikte vorzusehen?, Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz, Berlin 2001, http://www.unisalzburg.at/pls/portal/docs/1/460066.PDF (letzter Aufruf: 27. 11. 2012), S. 106; Sinn (Hrsg.), Jurisdiktionskonflikte bei grenzüberschreitender Kriminalität – Conflicts of jurisdiction in cross-border crime situations, 2012, S. 603 (,agreed jurisdiction model‘); Vander Beken/ Vermeulen/Steverlynck/Thomaes, Finding the Best Place for Prosecution, 2002, S. 51; s. auch Eurojust, Jahresbericht 2004, Annex IV – Entscheidungsrichtlinien für die Lösung von Jurisdiktionskonflikten, S. 95 ff., http://eurojust.europa.eu/doclibrary/corporate/eurojust%20Annu 8
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terien anknüpft, eröffnet es daher den betroffenen Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum, der es erlaubt, sämtliche Kriterien in den Entscheidungsprozess einzubeziehen und auf dieser Grundlage den Mitgliedstaat zu bestimmen, der für die Durchführung des Strafverfahrens am Besten geeignet erscheint.11 Die Ausweitung der staatlichen Strafgewalten kann insbesondere zu einer effizienteren Strafverfolgung beitragen, indem mehrere zusammenhängende Taten in einem einzigen Strafverfahren abgeurteilt werden.12 Dies kann auch im Interesse des Angeklagten liegen, sofern dadurch die Verhängung einer Gesamtstrafe für mehrere, in unterschiedlichen Mitgliedstaaten begangene Taten ermöglicht wird.13 Schließlich kann eine Erstreckung der Strafgewalt auf Auslandstaten auch geboten sein, um einer Straflosigkeit der Täter zu begegnen.14 Zahlreiche Bestimmungen zur Gerichtsbarkeit in völkerrechtlichen Verträgen und Rechtsakten der Europäischen Union (insbesondere Rahmenbeschlüssen) dienen dem Ziel, negative Jurisdiktionskonflikte zu vermeiden und durch ein Netz von einander überlappenden nationalen Strafgewalten eine lückenlose Strafverfolgung zu gewährleisten.15 Besonders deutlich treten derartige Erwägungen bei der Weltrechtspflege hervor.16 Auf der anderen Seite lässt die Begründung extraterritorialer Strafgewalt zusätzliche positive Jurisdiktionskonflikte entstehen. In der Europäischen Union kommt es damit zu der paradoxen Situation, dass zahlreiche Rahmenbeschlüsse den Mitgliedstaaten aufgeben, ihre Strafgewalt auch auf Auslandstaten auszudehnen17, die vertraglichen Grundlagen aber zugleich das Mandat erteilen, strafrechtliche Jurisdiktionskonflikte zwischen den Mitgliedstaaten zu verhindern (Art. 82 Abs. 1 lit. b AEUV).18 Ungeachtet der Vorzüge einer flexiblen Regelung (s. o.) ist darüber hinaus al%20Reports/Annual%20Report%202004/Annual-Report-2004-DE.pdf> (letzter Aufruf: 27. 11. 2012). 11 Biehler/Kniebühler/Lelieur-Fischer/Stein, ebenda, S. 14; Lagodny, ebenda, S. 111; Entscheidungsrichtlinien von Eurojust, ebenda, S. 94. 12 Vander Beken/Vermeulen/Steverlynck/Thomaes (Fn. 10), S. 51; Entscheidungsrichtlinien von Eurojust, ebenda, S. 95. 13 S. dagegen BGH NStZ 2010, 30, wonach die Berücksichtigung von Verurteilungen in Belgien und Frankreich wegen vergleichbarer Taten als Härteausgleich abzulehnen ist; s. dagegen für eine Berücksichtigung im Rahmen der Strafzumessung BGH NJW 2010, 2677 f; s. insoweit auch in anderem Zusammenhang den Rechtsausschuss des Bundestages, BTDrucks. 16/13673, S. 5. 14 Vander Beken/Vermeulen/Steverlynck/Thomaes (Fn. 10), S. 10 f. 15 Luchtman, Principles of European Criminal Law: Jurisdiction, Choice of Forum, and the Legality Principle in the Area of Freedom, Security, and Justice, European Review of Private Law 2012, 347, 359: kritisch zum „Netzgedanken“: Lagodny (Fn. 10), S. 101 f.; Vogel, in: FS Schroeder, 2006, S. 877, 891 f. 16 Kreß, Israel Yearbook on Human Rights (IYHR) 2000, 103, 169; Ryngaert, Jurisdiction in International Law, 2008, S. 107; Weigend, in: FS Eser, 2005, S. 955, 965. 17 S. u. a. Art. 9 Abs. 1 lit. c, d und e Rahmenbeschluss 2002/475/JI vom 13. 6. 2002 zur Terrorismusbekämpfung, ABl. L 164 v. 22.6.2. 18 Massa, in: Klip (Hrsg.), Substantive Criminal Law of the European Union, 2011, S. 103, 118 f.
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nicht zu verkennen, dass die mit weiten Zuständigkeitsregelungen eröffneten Spielräume auch Missbrauchsmöglichkeiten eröffnen („forum shopping“). Gerade wenn die Strafverfolgungsbehörden ohne Beteiligung des Beschuldigten bzw. seines Verteidigers aushandeln, in welchem Staat die Strafverfolgung stattfinden soll, besteht die Gefahr, dass die Rechtsordnung gewählt wird, in der eine Verurteilung am wahrscheinlichsten ist (oder die zu verhängende Strafe am höchsten ausfallen wird).19 Es ist daher nicht überraschend, dass der Rahmenbeschluss über die Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten in Strafverfahren20 heftige Kritik dafür erfahren hat, dass er keine materiellen Regeln bzw. Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates enthält.21 Andererseits zeigt der Fall Gözütok22, dass ein forum shopping auch von Seiten der Verteidigung initiiert werden kann.23 Das Fehlen verbindlicher Regeln bzw. Kriterien hat für den Beschuldigten gravierende Konsequenzen, denn die Wahl des zuständigen Mitgliedstaates bestimmt zugleich auch das anwendbare Recht, d. h. das zuständige Gericht entscheidet auf der Grundlage des in diesem Mitgliedstaat geltenden Straf- und Strafverfahrensrechts. Die größere Flexibilität der Strafverfolgungsbehörden geht damit für den Beschuldigten mit einer erheblichen Unsicherheit über das anwendbare Strafrecht einher. Er kann unter Umständen nur schwer (oder gar nicht) vorhersehen, welches Recht auf sein Verhalten Anwendung finden wird, und wird damit über den Maßstab, nach dem sein Verhalten rechtlich beurteilt wird, im Unklaren gelassen.24 Als Zwischenfazit lässt sich damit zusammenfassen, dass bei der Bestimmung der besten Strafgewalt gleichermaßen dem Bedürfnis nach Flexibilität und dem Gebot der Rechtssicherheit Rechnung zu tragen ist. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass mehr Rechtssicherheit keineswegs mit einem Verlust an Flexibilität einhergehen muss. Zu diesem Zweck sollen zunächst die unterschiedlichen Dimensionen staatlicher Strafgewalt herausgearbeitet werden (III.), um sodann auf dieser Grundlage Lösungsansätze für eine Beilegung von Jurisdiktionskonflikten zu entwickeln (IV.).
19
Lagodny, (Fn. 10), S. 67 f. Rahmenbeschluss 2009/948/JI vom 30. 11. 2009 zur Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten in Strafverfahren, ABl. L 328 vom 15. 12. 2009, S. 42. 21 Anagnostopoulos, in: FS Hassemer, 2010, S. 1121, 1140; Luchtman, Utrecht Law Review Vol. 7, 2011, S. 74, 80. 22 EuGH, Rs. C-187/01, Gözütok, Slg. 2003, I-1345 Rn 15: Die Verfahrenseinstellung gegen eine Geldauflage wurde erreicht, während sich der Beschuldigte in Deutschland in Untersuchungshaft befand (vgl. die Schlussanträge von Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer, ebenda, 1349, 1352). 23 Lagodny (Fn. 10), S. 66 f. 24 Zum Grundsatz nullum crimen sine lege: Böse/Meyer, ZIS 2011, 336, 339 f.; Luchtman (Fn. 15), S. 363 f. und 370. 20
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III. Die Dimensionen staatlicher Strafgewalt 1. Strafrechtliche Regelungsgewalt und Vollzugsgewalt Der Unterteilung der Staatsgewalt in gesetzgebende, rechtsprechende und vollziehende Gewalt entsprechend wird im Völkerrecht bei der Ausübung von Hoheitsgewalt auf grenzüberschreitende Sachverhalte zwischen jurisdiction to prescribe, jurisdiction to adjudicate und jurisdiction to enforce unterschieden.25 Mit jurisdiction to prescribe wird die staatliche Regelungsgewalt bezeichnet, d. h. der Staat unterwirft das Verhalten, den Status, das Rechtsverhältnis einer Person seinem Recht, indem er dieses für anwendbar erklärt.26 Für das Strafrecht bedeutet die Ausübung von Regelungsgewalt, dass der Strafgesetzgeber ein bestimmtes Verhalten seiner Strafgewalt unterwirft und dieses Verhalten für strafbar erklärt. Mit der jurisdiction to adjudicate wird demgegenüber die Unterwerfung von Personen oder Sachen unter die staatliche Gerichtsbarkeit bezeichnet27, im vorliegenden Kontext also die Begründung eines innerstaatlichen Gerichtsstandes für die Aburteilung einer Straftat. Im Strafverfahren ist die Aburteilung eng verknüpft mit der jurisdiction to enforce, die auch die Durchsetzung des staatlichen Rechts durch Ahndung von Zuwiderhandlungen durch die rechtsprechende und die vollziehende Gewalt umfasst.28 Aus diesem Grund soll im Folgenden nicht weiter zwischen jurisdiction to adjudicate und jurisdiction to enforce unterschieden werden, sondern der Begriff der Durchsetzung (jurisdiction to enforce) in einem umfassenden Sinne verstanden werden, der die Untersuchung, Verfolgung und Aburteilung von Straftaten durch die zuständigen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte einschließt. 2. Originäre und abgeleitete Strafgewalt Eine weitere grundlegende Unterscheidung ist diejenige zwischen originärer und abgeleiteter (derivativer) Strafgewalt. Die originäre Strafgewalt wurzelt in dem Interesse eines Staates, die Unverbrüchlichkeit der staatlichen Rechtsordnung zu garantieren und die Rechtsgüter seiner Bürger und der Gemeinschaft effektiv zu schützen. Zu diesem Zweck unterwirft er bestimmte Verhaltensweisen seiner Strafgewalt, indem er diese für strafbar erklärt.29 Die Ausübung originärer Strafgewalt ist aber nicht auf die strafrechtliche Regelungsgewalt beschränkt, sondern impliziert zugleich eine entsprechende Zuständigkeit seiner Strafgerichte und Strafverfolgungsbehörden. Staatliche Regelungsgewalt und staatliche Durchsetzung sind funktional 25
American Law Institute (Hrsg.), Restatement (Third) of the Law – The Foreign Relations of the United States, Vol. 1 (§§ 1 – 488), 1987. 26 Ebenda., § 401 (a). 27 Ebenda, § 401 (b). 28 Ebenda, § 401 (c). 29 Jeßberger, Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts, 2011, S. 11; Vander Beken/Vermeulen/Steverlynck/Thomaes (Fn. 10), S. 9.
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aufeinander bezogen: Die mit der Begründung von Strafgewalt über ein bestimmtes Verhalten (jurisdiction to prescribe) verfolgten Ziele lassen sich – will man sich nicht in eine Abhängigkeit von der Strafjustiz anderer Staaten begeben – nur erreichen, wenn die eigene Justiz zugleich auch ermächtigt wird, diese Strafnormen anzuwenden und durchzusetzen (jurisdiction to enforce).30 Bei der Ausübung abgeleiteter Strafgewalt führt der betreffende Staat ein Strafverfahren demgegenüber nicht im eigenen Interesse, sondern im Interesse eines anderen Staates durch, der aufgrund von äußeren Umständen nicht in der Lage ist, die betreffende Straftat zu verfolgen und damit seine (originäre) Strafgewalt selbst auszuüben.31 Auf diese Weise soll verhindert werden, dass sich der Täter der Strafverfolgung entzieht. Auf dieser Erwägung beruht insbesondere der Grundsatz aut dedere aut judicare, soweit die entsprechende vertragliche Regelung ausdrücklich voraussetzt, dass ein entsprechendes Auslieferungsersuchen vorliegt.32 Wenn ein Staat nicht bereit ist, den Verdächtigen an den ersuchenden Staat auszuliefern, ist er jedenfalls verpflichtet, ein eigenes Strafverfahren einzuleiten und damit die Rolle des Staates zu übernehmen, der zuvor um Auslieferung des Verdächtigen ersucht hat.33 Das Erfordernis eines Auslieferungsverlangens bringt deutlich zum Ausdruck, dass die Strafgewalt des ersuchten Staates von der des ersuchenden Staates abhängig ist (sich von dieser ableitet) und zugleich im Verhältnis zur originären Strafgewalt dieses Staates subsidiär ist.34 Auf vergleichbaren Erwägungen beruht auch die Übertragung der Strafverfolgung, wie sie in dem entsprechenden Europarats-Übereinkommen von 197235 vorgesehen ist.36 Danach kann ein Staat mit originärer Strafgewalt einen anderen Staat ersuchen, an seiner Stelle die Strafverfolgung zu übernehmen (Art. 6). In Ermangelung eines Anknüpfungspunkts, auf den die Ausübung eigener (originärer) Strafgewalt gestützt werden könnte, führt der ersuchte Staat das Strafverfahren allein auf der 30 NK-StGB/Böse, 3. Aufl. 2010, Vor § 3 StGB Rn. 8; s. auch Eser, in: Sinn (Fn. 10), S. 557, 562. In dem Modellentwurf B von Sinn u. a. wird mit der Verfolgungszuständigkeit zugleich auch das anwendbare materielle Recht festgelegt, ebenda, S. 575, 585; s. diesbezüglich die kritischen Anmerkungen von Eser, ebenda, S. 562. 31 NK-StGB/Böse (Fn. 30), Rn. 10, 28 f.; Jeßberger (Fn. 29), S. 11 f.; Linke, in: FS Grützner, 1970, S. 85, 90; Vander Beken/Vermeulen/Steverlynck/Thomaes (Fn. 10), S. 15, die zwei Varianten abgeleiteter Strafgewalt unterscheiden (substitution/adoption of proceedings). 32 S. auch Vander Beken/Vermeulen/Steverlynck/Thomaes (Fn. 10), S. 15. 33 S. etwa Art. 7 des Europäischen Übereinkommens zur Bekämpfung des Terrorismus vom 27. 1. 1977, SEV Nr. 90; Art. 24 Abs. 6 S. 1 des Übereinkommens über Computerkriminalität vom 23. 11. 2001, SEV Nr. 185; für weitere Beispiele s. Maierhöfer, ,Aut dedere aut iudicare‘, 2006, S. 337 f. 34 S. Maierhöfer, ebenda, S. 346 f. 35 Europäisches Übereinkommen über die Übertragung der Strafverfolgung vom 15. 5. 1972, SEV Nr. 73; s. auch das Europäische Übereinkommen über die Ahndung von Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr vom 30. November 1964, SEV Nr. 52. 36 Vander Beken/Vermeulen/Steverlynck/Thomaes (Fn. 10), S. 156 (adoption of proceedings).
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Grundlage dieses Ersuchens und übt insoweit abgeleitete Strafgewalt aus. Durch die Übertragung der Strafverfolgung geht das ius puniendi vom ersuchenden auf den ersuchten Staat über, so dass der ersuchende Staat seine Befugnis verliert, die Tat durch die eigene Justiz zu verfolgen (Art. 21). Es ist in der Begründung abgeleiteter Strafgewalt angelegt, dass die Verhängung der Strafe ihre Grundlage in der originären Strafgewalt des ersuchenden Staates findet.37 Mit anderen Worten, bei der Ausübung abgeleiteter Strafgewalt setzt der ersuchte Staat nicht sein eigenes Strafrecht, sondern das Strafrecht des ersuchenden Staates durch. Diese frappierende Schlussfolgerung scheint auf den ersten Blick den einschlägigen Bestimmungen in völkerrechtlichen Verträgen und im nationalen Recht zu widersprechen, wonach, der ersuchte Staat die Tat „nach seinem eigenen Strafrecht“ verfolgt.38 Bei der Ausübung abgeleiteter Strafgewalt wird also nach wie vor inländisches Strafrecht angewandt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Strafverfahren auch zur Durchsetzung inländischen Strafrechts eingeleitet und durchgeführt wird, denn die einschlägigen Vorschriften nehmen sowohl auf das Recht beider Staaten Bezug, d. h. auf das Recht des Staates, der die originäre Strafgewalt innehat, und des Staates, der abgeleitete Strafgewalt ausübt.39 Da die Ausübung abgeleiteter Strafgewalt nur auf der Grundlage der originären Strafgewalt eines anderen Staates gerechtfertigt werden kann, bedarf es zur Legitimation von Strafe nicht des Rückgriffs auf das inländische Strafrecht, sondern dessen Anwendung bedarf einer anderweitigen Begründung. In dieser Hinsicht ist ein Blick auf die allgemeinen Grundsätze der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen aufschlussreich, denn er lässt die Funktion der Bezugnahme auf das inländische Strafrecht deutlich werden: Dessen Anwendung erfüllt bei der abgeleiteten Strafgewalt die gleiche Funktion wie der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit im Auslieferungsrecht (§ 3 Abs. 1 IRG).40 Dieses Prinzip beruht auf der Erwägung, dass der ersuchte Staat einem anderen Staat keine Unterstützung bei der Verfolgung eines Verhaltens leisten wird, das er nach Maßgabe seines eigenen Rechts nicht als strafwürdiges Unrecht ansieht.41 Diese Überlegung muss umso mehr gelten, wenn es nicht nur darum geht, einen ausländischen Staat bei der Durchführung eines Strafverfahrens zu unterstützen, sondern das gesamte Straf37
NK-StGB/Böse (Fn. 30), Rn. 29; Jeßberger (Fn. 29), S. 11 f., 266 f. Art. 2 Abs. 1 Europäisches Übereinkommen über die Übertragung der Strafverfolgung; Art. 2 Abs. 2 Europäisches Übereinkommen über die Ahndung von Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr; s. auch § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB. 39 Art. 6 (request) and Art. 25 (lex mitior) Europäisches Übereinkommen über die Übertragung der Strafverfolgung; Art. 2 Abs. 2 Europäisches Übereinkommen über die Ahndung von Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr; § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB. 40 S. Art. 2 Abs. 1 Europäisches Auslieferungsübereinkommen vom 13. 12. 1957, SEV Nr. 24; Art. 2 Abs. 4 und Art. 4 Nr. 1 Rahmenbeschluss vom 13. 6. 2002 über den Europäischen Haftbefehl, ABl. L 190 vom 18. 7. 2002, S. 1. 41 S. Grützner/Pötz/Kreß/Vogel/Burchard, 3. Aufl. 2012, § 3 IRG Rn. 9 ff. 38
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verfahren für diesen Staat durchzuführen. Die Anwendung inländischen Strafrechts spiegelt letztlich den Umstand wider, dass die Ausübung abgeleiteter Strafgewalt – wie die Übernahme der Strafverfolgung – Bestandteil der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen ist und damit den gleichen Voraussetzungen und Beschränkungen unterliegt wie die übrigen Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Mit anderen Worten: Durch die Anwendung des inländischen Strafrechts übt der ersuchte Staat nicht etwa eigene (originäre) Strafgewalt aus, sondern unterwirft die Ausübung abgeleiteter Strafgewalt dem Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit. Bei der Übertragung der Strafverfolgung kommt diese Funktion der Bezugnahme auf das inländische Recht darin deutlich zum Ausdruck, dass das inländische Recht auf der Grundlage einer sinngemäßen Umstellung des Sachverhalts angewandt wird: Es ist ausreichend, dass die zu verfolgende Tat nach dem inländischen Strafrecht strafbar wäre, wenn sie im Inland begangen worden wäre oder ein anderer Anknüpfungspunkt für die Begründung inländischer Strafgewalt gegeben wäre.42 Da eine Strafe nicht auf der Grundlage eines hypothetischen (fiktiven) Sachverhalts (d. h. eines unterstellten Inlandsbezuges) verhängt werden kann, wird das inländische Strafrecht nicht angewandt, um die Verhängung von Strafe zu begründen, sondern um die Ausübung abgeleiteter Strafgewalt auf Taten zu begrenzen, deren Verfolgung auch auf der Grundlage der Wertungen der inländischen Rechtsordnung legitim erscheint.43
IV. Die Konsequenzen für die Bestimmung der „besten“ Strafgewalt Aus den vorstehenden Überlegungen zu den unterschiedlichen Dimensionen der Ausübung staatlicher Strafgewalt ergeben sich Konsequenzen für die Frage, wie das Bedürfnis nach möglichst flexiblen Regelungen und der Grundsatz der Rechtssicherheit miteinander in Einklang zu bringen sind. Soweit ein Staat materiell-strafrechtliche Regelungsgewalt ausübt (jurisdiction to prescribe, originäre Strafgewalt), kommt der Rechtssicherheit für den Normadressaten überragende Bedeutung zu. Nach dem Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege (Art. 103 Abs. 2 GG, Art. 7 EMRK, Art. 49 GRC) müssen sowohl die Straftat als auch die Strafe gesetzlich bestimmt sein, so dass der Einzelne anhand des Wortlauts der Strafnorm und gegebenenfalls mit Hilfe der einschlägigen Rechtsprechung klar erkennen kann, welches
42 S. Art. 7 Europäisches Übereinkommen über die Übertragung der Strafverfolgung; s. auch Art. 86 Abs. 1 des Bundesgesetzes über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRSG). In Österreich wird über die Frage diskutiert, ob die beiderseitige Strafbarkeit auf der Grundlage einer hypothetischen Umstellung des Sachverhalts festgestellt werden kann, s. Rosbaud, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl. 2012, S. 2511 f. 43 S. zur Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit im Auslieferungsrecht: Grützner/Pötz/ Kreß/Vogel/Burchard (Fn. 41), § 3 IRG Rn. 33 ff.
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Verhalten mit (welcher) Strafe bedroht ist.44 Das Erfordernis der gesetzlichen Bestimmtheit setzt damit die Vorhersehbarkeit von Strafe und die Zugänglichkeit der einschlägigen strafrechtlichen Bestimmungen voraus.45 Ungeachtet des denkbaren Einwands, bei konkurrierenden Strafgewalten ergebe sich der staatliche Strafanspruch eines jeden Staates aus dessen innerstaatlichem Recht, das – für sich genommen – mit dem Bestimmtheitsgebot vereinbar sei, sind – insbesondere bei der Begründung extraterritorialer Strafgewalt – Fallkonstellationen denkbar, in denen die Vorhersehbarkeit einer Bestrafung nach dem Recht des betreffenden Staates bezweifelt werden kann.46 In dieser Hinsicht erweist sich ein zu hohes Maß an Flexibilität mit Blick auf die Sinn und Zweck der Strafandrohung als dysfunktional: Eine Vielzahl miteinander konkurrierender Strafgewalten dürfte den Normadressaten überfordern, jedenfalls aber seine Fähigkeit beeinträchtigen, den normativen Anforderungen der einzelnen Rechtsordnungen zu entsprechen.47 Auf der anderen Seite umfasst die Ausübung von Strafgewalt die Begründung entsprechender Zuständigkeiten von Gerichten und Strafverfolgungsbehörden (jurisdiction to adjudicate and to enforce). Die entsprechenden Regelungen sind Teil des Strafverfahrensrechts48, auf welches der Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege keine Anwendung findet.49 Für das Strafverfahrensrecht gilt insbesondere kein striktes Rückwirkungsverbot, sondern die Maxime tempus regit actum.50 Allerdings gilt auch für das Strafprozessrecht der Vorbehalt des Gesetzes51, der insbesondere für die gerichtliche Aburteilung von Straftaten eine gesetzliche Grundlage erfordert und ein „auf Gesetz beruhendes Gericht“ (Art. 6 Abs. 1 EMRK) garantiert (nullum iudicium sine lege).52 Zwar hat auch das Verfahrensrecht insoweit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit zu entsprechen53, aber wie die Zulässigkeit einer rückwirkenden Anwendung verfahrensrechtlicher Bestim-
44 EGMR (Große Kammer), Urteil v. 17. 9. 2009 – 10249/03, Scoppola v. Italy (Nr. 2), § 94 m. w. N. 45 Ebenda, § 99. 46 Z. B. bei über das Internet begangenen Straftaten, s. insoweit den Fall „Töben“, BGHSt 46, 212; zur Vereinbarkeit extraterritorialer Strafgewalt mit dem Grundsatz nullum crimen sine lege s. allgemein NK-StGB/Böse (Fn. 30), Rn. 45 ff. m. w. N. 47 S. bereits Böse/Meyer (Fn. 24),S. 339. 48 S. insoweit zur Analyse der §§ 3 ff. StGB: Böse, in: FS Maiwald, 2010, S. 61 ff. 49 BVerfGE 25, 269, 290; BVerfG NJW 1995, 1145; NStZ 2000, 251; NK-StGB/Hassemer/Kargl, § 1 Rn. 60 m. w. N. 50 EGMR, Urteil v. 22. 6. 2000 – 32492/96, 32547/96, 32548/96, 33209/96 und 33210/96, Coeme u. a. v. Belgien, §§ 148, 149; Scoppola (Nr. 2), (Fn. 44), § 110. 51 EGMR, Coeme, ebenda., §§ 98, 102 (Art. 6 EMRK); Scoppola (No. 2), (Fn. 44), § 92 (Art. 7 EMRK). 52 EGMR, Coeme, ebenda., §§ 98, 102; s. die eingehende Analyse dieser Garantie von Luchtman (Fn. 15), S. 83 ff. 53 EGMR, Coeme, ebenda., §§ 102, 103.
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mungen auf zuvor begangene Taten zeigt (tempus regit actum)54, bleibt das Schutzniveau erheblich hinter dem Gewährleistungsgehalt des Grundsatzes nullum crimen, nulla poena sine lege zurück: Der Einzelne muss vorhersehen können, dass ein bestimmtes Verhalten mit Strafe bedroht ist, aber es existiert keine Garantie, wonach er auch vorhersehen können muss, welches Gericht für die Aburteilung dieser Straftat zuständig sein wird.55 Dementsprechend kann bei der Ausgestaltung der prozessualen Regelungen über die Festlegung des für die Strafverfolgung zuständigen Mitgliedstaates (bzw. seiner Gerichte und Strafverfolgungsbehörden) den praktischen Bedürfnissen nach Flexibilität und Effizienz in höherem Maße Rechnung getragen werden als bei der Ausübung materiell-rechtlicher Regelungsgewalt. Bei der Konzeption einer Regelung zur Lösung von Jurisdiktionskonflikten sind diese Unterschiede zu berücksichtigen, indem zwischen der Anwendbarkeit des materiellen Strafrechts einerseits und der Begründung einer Verfolgungszuständigkeit andererseits differenziert wird. Wie oben dargelegt wurde, begründet ein Staat, der originäre Strafgewalt ausübt, damit zugleich auch eine entsprechende Verfolgungszuständigkeit. Soweit eine Tat nicht seiner originären Strafgewalt unterliegt, hat er indessen immer noch die Möglichkeit, diese Tat für einen anderen Staat zu verfolgen (abgeleitete Strafgewalt). In diesem Fall gebietet es jedoch der Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege, dass die Tat nur verfolgt werden kann, wenn sie nach dem Recht des primär zur Strafverfolgung berufenen Staates mit Strafe bedroht ist; die Rechtssicherheit hat insoweit Vorrang vor dem Bedürfnis nach Flexibilität. Aus dem gleichen Grund darf die verhängte Strafe nicht höher sein als die Strafe, die nach dem Recht des Staates, dessen originäre Strafgewalt ausgeübt wird, vorgesehen ist (lex mitior Regel).56 Im Ergebnis werden daher die Regelungen über die internationale Zuständigkeit davon entlastet, zugleich das anwendbare Strafrecht festzulegen und dabei den hohen Anforderungen des Grundsatzes nullum crimen, nulla poena sine lege zu entsprechen. Umgekehrt kann die Ausgestaltung des Strafanwendungsrechts unter strikter Beachtung dieses Grundsatzes erfolgen, ohne auf praktische Bedürfnisse nach Flexibilität Rücksicht nehmen zu müssen. Auf diese Weise könnte eine erhebliche Einschränkung der originären Strafgewalt erreicht werden, so dass bereits die Entste-
54 EGMR, Beschluss v.12. 2. 2004 – 7856/02, Mione v. Italien; Beschluss v. 10. 7. 2007 – 45989/06, Rasnik v. Italien; s. auch Fn. 44 (in Bezug auf Art. 7 EMRK). Der Umstand, dass Art. 47 Abs. 2 GRC ein „zuvor“ durch Gesetz errichtetes Gericht verlangt, macht insoweit keinen Unterschied, denn der Zusatz „zuvor“ bezieht sich nicht auf den Zeitpunkt der Tatbegehung, sondern auf den der Einleitung des gerichtlichen Verfahrens, s. auch zur Bestimmung des Gerichtsstands ex post: Luchtman (Fn. 15), S. 352 f. 55 Eser (Fn. 30), S. 567; s. auch Linke (Fn. 26), S. 90; für die Gegenansicht s. Gropp, in: Sinn (Fn. 10), S. 41, 53 f.; Luchtman (Fn. 15), S. 371, 376, 379; s. auch das ,Modell der gesetzlich bestimmten Gerichtsbarkeit‘ in: Sinn (Fn. 30), S. 585, 606. 56 S. Art. 25 Europäisches Übereinkommen über die Übertragung der Strafverfolgung (Fn. 35).
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hung von Jurisdiktionskonflikten vermieden bzw. gelöst wird.57 Der Subsidiarität abgeleiteter Strafgewalt lässt sich insoweit eine klare Vorgabe für die Beilegung von Kompetenzkonflikten entnehmen. Zugleich wird mit einer subsidiären Verfolgungszuständigkeit Vorsorge gegen negative Jurisdiktionskonflikte getroffen.58 1. Die materiell-rechtliche Dimension (strafrechtliche Regelungsgewalt) In materiell-rechtlicher Hinsicht ist damit die Frage nach einer Einschränkung der originären Strafgewalt aufgeworfen. So bedarf vor allem die Begründung extraterritorialer Strafgewalt schon mit Blick auf das völkerrechtliche Interventionsverbot einer Rechtfertigung durch einen sinnvollen Anknüpfungspunkt.59 Während die völkerrechtlichen Vorgaben den Staaten noch relativ weite Spielräume belassen, dürften in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. 3 Abs. 2 EUV, Art. 67 AEUV) höhere Anforderungen an die Rechtfertigung extraterritorialer Strafgewalt bestehen; dafür spricht nicht zuletzt der in Art. 82 Abs. 1 lit. b AEUV enthaltene Regelungsauftrag zur Vermeidung von Jurisdiktionskonflikten (s. o.). Diese These soll im Folgenden kurz mit Blick auf das aktive und passive Personalitätsprinzip und das Schutzprinzip erläutert werden.60 Das passive Personalitätsprinzip beruht auf dem Recht eines jeden Staates, seine eigenen Bürger auch im Ausland vor Straftaten zu schützen.61 Gleichwohl wird im Völkerrecht seit Längerem bezweifelt, ob dieses Prinzip einen hinreichenden Anknüpfungspunkt darstellt, um die Begründung extraterritorialer Strafgewalt zu legitimieren.62 Jedenfalls innerhalb der Europäischen Union besteht keine Notwendigkeit für einen strafrechtlichen Schutz von Unionsbürgern, der über den Schutz durch den Mitgliedstaat hinausgeht, in dem sich der Betreffende aufhält. Ungeachtet der nach wie vor bestehenden Unterschiede zwischen den Strafrechtssystemen ist vielmehr davon auszugehen, dass in allen Mitgliedstaaten ein ausreichender strafrechtlicher Schutz von Individualrechtsgütern gewährleistet ist. Darin mag man einen Ausdruck gegenseitigen Vertrauens sehen, mit dem das Misstrauen gegenüber ausländischen Rechtsordnungen – zumindest in diesem Punkt – überwunden worden ist.63 In normativer Hinsicht entscheidend ist jedoch der Grundsatz, dass in der Union kein Raum mehr für Strafrechtsordnungen ist, die den Umfang des strafrechtlichen 57
Vander Beken/Vermeulen/Steverlynck/Thomaes (Fn. 10), S. 18. Eser (Fn. 30), S. 569 f. 59 S. dazu näher Jeßberger (Fn. 29), S. 191 ff. m. w. N. 60 S. zum Folgenden bereits Böse/Meyer (Fn. 24), S. 341 ff. 61 Jeßberger (Fn. 29), S. 261 f. m. w. N; s. auch den rechtsvergleichenden Überblick in: Sinn (Fn. 10), und Sinn, Comparative law observations, ebenda., S. 501, 522; s. auch die Landesberichte in: Böse/Meyer/Schneider (Hrsg.), Conflicts of Jurisdictions in criminal matters in the European Union – Volume I: National Reports and Comparative Analysis (im Erscheinen). 62 Ryngaert (Fn. 16), S. 92 f. m. w. N. 63 Massa (Fn. 18), S. 119. 58
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Schutzes von der Staatsangehörigkeit des Opfers abhängig machen, denn dies verstieße gegen das vertragliche Diskriminierungsverbot (Art. 18 AEUV). Der EuGH hat in der Rechtssache Cowan in aller Deutlichkeit festgestellt, dass ein Mitgliedstaat gegen dieses Verbot verstößt, wenn er die Gewährung einer Entschädigung an die Opfer von Straftaten auf die eigenen Staatsangehörigen beschränkt.64 Diese Erwägungen können ohne weiteres auf den strafrechtlichen Schutz von Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaates übertragen werden.65 Das bedeutet keineswegs, dass die Interessen des Opfers bei der Bestimmung des für die Strafverfolgung zuständigen Staates nicht zu berücksichtigen sind. Das Interesse des Opfers, die ihm im Rahmen eines Strafverfahrens zustehenden Rechte effektiv wahrzunehmen, was natürlich bei einem Strafverfahren in seinem Heimatstaat am Besten gewährleistet ist, ist durchaus legitim.66 Dieses Interesse steht jedoch in keinem Zusammenhang zu dem anwendbaren materiellen Strafrecht, sondern bezieht sich auf den verfahrensrechtlichen Aspekt, in welchem Mitgliedstaat die Strafverfolgung stattfinden soll. Aus diesem Grund kann die Staatsangehörigkeit des Opfers nicht zur Begründung originärer Strafgewalt (jurisdiction to prescribe) herangezogen werden. Das aktive Personalitätsprinzip wird gemeinhin auf die Pflicht des Bürgers gestützt, die Gesetze seines Heimatstaates zu respektieren, und zwar auch dann, wenn er sich im Ausland aufhält (leges criminales ossibus inhaerent).67 Die Bezugnahme auf eine allgemeine Gehorsamspflicht läuft indes auf einen Zirkelschluss hinaus, wenn ein solcher Grund nicht benannt werden kann, oder müsste sich auf das anachronistische Modell einer unbedingten (und nicht zu hinterfragenden) Gehorsamspflicht des Untertanen gegenüber dem Souverän stützen.68 Wenn das betreffende Verhalten Rechtsgüter des Heimatstaates verletzt oder gefährdet, bleibt in jedem Fall ein Rückgriff auf das Schutzprinzip möglich; soweit dies nicht der Fall ist, besteht kein erkennbarer Grund, gegen den Täter das Strafrecht seines Heimatstaates anzuwenden.69 Zwar dürfte eine Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit – anders als beim passiven Personalitätsprinzip – nicht gegen das Diskriminierungsverbot verstoßen (Art. 18 AEUV), denn mit der Anwendung von Strafvorschriften auf die eigenen Staatsangehörigen stellt der Staat diese schlechter als die Unionsbürger aus
64
EuGH, Rs. 186/87, Cowan v. Trésor Public, Slg. 1989, 195. Böse/Meyer (Fn. 24), S. 341 f. 66 S. die Entscheidungsrichtlinien von Eurojust, ebenda, S. 96. 67 Blakesley, in: Bassiouni (Hrsg.), International Criminal Law – Vol. II: Procedural and Enforcement Mechanisms, 1999, S. 33, 61 f.; zum Ursprung des aktiven Personalitätsprinzips s. Oehler, Internationales Strafrecht, 1983, S. 49 ff. 68 S. die Kritik von Oehler, ebenda, S. 142 f. und 445. 69 Böse/Meyer (Fn. 24), S. 342; s. zur eingehenden Kritik des aktiven Personalitätsprinzips und zum Zusammenhang mit dem Schutzprinzip Pawlik, in: FS Schroeder, 2006, S. 357, 376 f. 65
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anderen Mitgliedstaaten, denen insoweit keine Bestrafung droht.70 Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass ein Staat, der den Anwendungsbereich des eigenen Strafrechts auf Auslandstaten erstreckt, um zu verhindern, dass sich die eigenen Staatsbürger dem heimischen Strafrecht entziehen, deren ebenfalls primärrechtlich garantiertes Freizügigkeitsrecht beeinträchtigt (Art. 21 AEUV).71 In einer kürzlich ergangenen Entscheidung zur gegenseitigen Anerkennung von Führerscheinen hat der EuGH ausdrücklich festgestellt, dass das Recht auf Personenfreizügigkeit auch zu dem Zweck ausgeübt werden kann, von einer Gesetzgebung zu profitieren, welche die (Wieder-)Erteilung einer Fahrerlaubnis von weniger strengen Voraussetzungen abhängig macht als das Recht seines Heimatstaates.72 Die Begründung extraterritorialer Strafgewalt über das aktive Personalitätsprinzip wird sich dieser Entwicklung auf Dauer kaum entziehen können. Ungeachtet dieser Einwände kann ein legitimes Interesse des Beschuldigten an einem Strafverfahren in seinem Heimatstaat kaum in Abrede gestellt werden.73 Aber dieses Interesse beruht wiederum in erster Linie auf prozessualen Erwägungen, insbesondere den besseren Bedingungen für eine effektive Verteidigung (Kenntnis der Gerichtssprache, Vertrautheit mit dem Rechtssystem und seinen soziokulturellen Grundlagen), und ist von der Frage zu trennen, welches Strafrecht die Grundlage für die Verhängung einer Strafe sein soll. Dass über die Staatsangehörigkeit des Täters bzw. Beschuldigten nicht notwendigerweise originäre Strafgewalt begründet wird, wird durch den engen Zusammenhang zwischen dem aktiven Personalitätsprinzip und dem verfassungsrechtlichen Verbot der Auslieferung eigener Staatsangehöriger bestätigt (Art. 16 Abs. 2 GG):74 Staaten, die ihre eigenen Staatsangehörigen nicht ausliefern, müssen ihre Strafgewalt auf Auslandstaten eigener Staatsangehöriger erstrecken, um eine gesetzliche Grundlage für deren Verfolgung zu schaffen, soweit diese im Ausland eine Straftat begangen haben.75 In diesem Fall übt der Heimatstaat abgeleitete Strafgewalt aus, indem er die Strafverfolgung im Interesse des primär zur Strafverfolgung berufenen Staates übernimmt. Dieser funktionale Zusammenhang zeigt sich besonders deutlich bei der Verfolgung von „Neubürgern“ (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 StGB)76 : Diese werden durch das 70 Klip, European Criminal Law, 2012, S. 193, unter Verweis auf EuGH, Rs. C-379/92, Peralta, Slg. 1994, I-3453 (Rn. 26 ff.). 71 S. insoweit mit Verweis auf das Prinzip nullum crimen sine lege Luchtman (Fn. 15), S. 374 ff. 72 EuGH, Urteil vom 1. 3. 2012, Rs. C-467/10, Criminal proceedings against Akyüz, Rn. 76. 73 S. Art. 8 Abs. 1 lit. b Europäisches Übereinkommen über die Übertragung der Strafverfolgung. 74 Grundsätzlich ist das Verbot der Auslieferung eigener Staatsangehöriger mit dem Europäischen Haftbefehl abgeschafft worden (Fn. 40), aber in einer Reihe von Mitgliedstaaten wird die Überstellung eigener Staatsbürger immer noch von besonderen Voraussetzungen abhängig gemacht, s. insoweit § 80 IRG. 75 Blakesley (Fn. 67), S. 62 f.; Ryngaert (Fn 16), S. 90. 76 S. etwa § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB.
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verfassungsrechtliche Auslieferungsverbot geschützt, auch wenn sie die deutsche Staatsangehörigkeit erst nach Begehung der Straftat, zu deren Verfolgung ihre Auslieferung begehrt wird, erworben haben. Andererseits kann auf der Grundlage des aktiven Personalitätsprinzips keine originäre deutsche Strafgewalt ausgeübt werden, denn dies liefe auf eine rückwirkende Anwendung eines Strafgesetzes und einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG (nulla poena sine lege praevia) hinaus.77 Eine strafrechtliche Verurteilung kann daher allein auf das Recht des primär zur Strafverfolgung berufenen Staates (d. h. im Rahmen der Ausübung abgeleiteter Strafgewalt) gestützt werden. Zu guter Letzt seien noch einige kurze Bemerkungen zum Schutzprinzip gestattet. Nach diesem Prinzip ist die Ausübung extraterritorialer Strafgewalt zum Schutz wesentlicher staatlicher Interessen gerechtfertigt.78 Der Begriff der wesentlichen staatlichen Interessen ist dabei recht vage und eröffnet erhebliche Spielräume. Es ist daher wenig überraschend, dass über die Reichweite der vom Schutzprinzip erfassten Interessen keine Einigkeit besteht: Soll der Anwendungsbereich auf den Bestand und die Sicherheit des Staates und seiner Einrichtungen begrenzt sein oder werden auch die Volkswirtschaft eines Staates, die Wahrung der öffentlichen Ordnung, die Funktionsfähigkeit verwaltungsrechtlicher Kontroll- und Steuerungsinstrumente (Kontrolle der Einwanderung oder des Straßenverkehrs) erfasst?79 Die Umsetzung des Schutzprinzips in den einzelnen Staaten weist insoweit erhebliche Unterschiede auf.80 In Anbetracht des Umstandes, dass das Verwaltungsrecht Gegenstand einer Reihe von Harmonisierungsmaßnahmen gewesen ist, erscheint es zweifelhaft, dass die Mitgliedstaaten sich auf das Schutzprinzip berufen können, um ihr Verwaltungsrecht im Wege der extraterritorialen Ausübung von Strafgewalt durchzusetzen. Aber auch jenseits des Verwaltungsrechts spricht viel dafür, den Mitgliedstaaten ebenso wie beim passiven Personalitätsprinzip mit Rücksicht auf ein allgemeines Diskriminierungsverbot bzw. Gleichbehandlungsgebot (s. o.) die Berufung auf das Schutzprinzip zu verwehren. In Bezug auf den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, einen dem Schutz des eigenen Haushalts entsprechenden strafrechtlichen Schutz zu gewährleisten (Art. 325 Abs. 2 AEUV).81 Dieses Assimilationsprinzip gilt bis zu einem gewissen Grad auch für den Schutz der Interessen bzw. Rechtsgüter anderer Mitgliedstaaten; so schließt beispielsweise die
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S. dazu näher NK-StGB/Böse (Fn. 30), Rn. 46. Blakesley (Fn. 67), S. 54 f. 79 S. den Überblick bei Blakesley, ebenda., S. 55 ff. 80 S. insoweit die Landesberichte und die rechtsvergleichende Analyse in: Böse/Meyer/ Schneider (Fn. 59) und Sinn (Fn. 10). 81 S. EuGH, Rs.C-68/88, Griechischer Mais, Slg. 1989, 2985. 78
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Definition des Amtsträgers in Art. 1 lit. a des EU-Bestechungsübereinkommens82 ausdrücklich auch die Amtsträger anderer Mitgliedstaaten ein.83 Darüber hinaus lässt sich Art. 55 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) entnehmen, dass die Reichweite des Schutzprinzips auf wesentliche Interessen der Mitgliedstaaten beschränkt ist. Art. 55 SDÜ sieht Ausnahmen von dem grenzüberschreitenden Strafklageverbrauch (Ne bis in idem) nach Art. 54 SDÜ vor, wonach ein Mitgliedstaat sich die Befugnis zur erneuten Strafverfolgung vorbehalten kann, soweit es sich um eine Straftat gegen die Sicherheit oder andere wesentliche Interessen dieses Staates (Art. 55 Abs. 1 lit. b SDÜ) oder um die Straftat eines Amtsträgers unter Verletzung seiner Amtspflichten handelt (Art. 55 Abs. 1 lit. c SDÜ).84 Diesen Vorbehalten lässt sich im Umkehrschluss entnehmen, dass für jedwede andere Straftat – soweit nicht nach Art. 55 Abs. 1 lit. a SDÜ das Territorialitätsprinzip eingreift – die im Urteilsstaat ergangene Entscheidung von den anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen ist und diese nicht das Recht haben, unter Berufung auf das Schutzprinzip dieselbe Tat in einem erneuten Strafverfahren dem eigenen Strafrecht zu unterwerfen und auf dieser Grundlage eine Strafe zu verhängen. Der Rückgriff auf das Schutzprinzip zur Rechtfertigung einer erneuten Strafverfolgung ist damit nur in den von Art. 55 Abs. 1 lit. b und c SDÜ gesetzten Grenzen, d. h. zum Schutz der dort genannten „wesentlichen“ Interessen gerechtfertigt. Dies lässt sich – über das Verbot doppelter Strafverfolgung (Art. 50 GRC, Art. 54 SDÜ) hinaus – als Indiz dafür deuten, dass bereits die Erstreckung der staatlichen Strafgewalt auf innerhalb der Union begangene Auslandstaten nur in diesem Umfang legitim ist. Nach alledem kann als Zwischenergebnis festgehalten werden, dass eine originäre Strafgewalt für Auslandstaten innerhalb der Europäischen Union nicht mehr in dem gleichen Umfang wie bisher unter Berufung auf das Schutzprinzip und das aktive und passive Personalitätsprinzip begründen lassen wird. 2. Die strafverfahrensrechtliche Dimension (strafrechtliche Vollzugsgewalt) Das bisherige Ergebnis der vorstehenden Überlegungen – die Beschränkung originärer Strafgewalt – geht nicht automatisch zu Lasten der Flexibilität bei der Bestimmung des zur Strafverfolgung zuständigen Mitgliedstaates. Die oben genannten Anknüpfungspunkte bleiben weiterhin für die Frage bedeutsam, welcher Mitgliedstaat für die Strafverfolgung am besten geeignet ist. In dieser Hinsicht ist den Interessen des Beschuldigten (aktives Personalitätsprinzip) und des Verletzten (passives 82 Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte der Europäischen Gemeinschaften oder der Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt sind vom 26. 5. 1997, ABl. C vom 25. 6. 1997, S. 2. 83 NK-StGB/Böse (Fn. 30), Rn. 62 mit weiteren Beispielen. 84 S. den entsprechenden Vorbehalt der Bundesregierung in Bezug auf Art. 55 Abs. 1 lit. b SDÜ, BGBl 1994 II S. 631.
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Personalitätsprinzip), unter dem letztgenannten Aspekt ggf. auch den Interessen des betroffenen Mitgliedstaates (Schutzprinzip) Rechnung zu tragen. Daneben sind aber auch andere Kriterien bei der Bestimmung der „besten“ Strafgewalt zu berücksichtigen, insbesondere das öffentliche Interesse an einer effektiven und zügigen Strafverfolgung und die Verfügbarkeit von Beweismitteln.85 Die Vielzahl der zu berücksichtigenden Kriterien und das Interesse an flexiblen Lösungen lassen es geraten erscheinen, nicht von einer strikten Rangfolge der Anknüpfungspunkte auszugehen. Gleichwohl lassen sich zumindest einige Tendenzen festhalten: Das Territorialitätsprinzip ist nicht nur primäres Kriterium für die Begründung materiell-rechtlicher Strafgewalt, sondern zugleich Ausgangspunkt für die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass nach den obigen Ausführungen auf der Grundlage des aktiven und passiven Personalitätsprinzips sowie des Schutzprinzips regelmäßig nur die Ausübung abgeleiteter Strafgewalt legitim ist, die ihrerseits gegenüber der Strafverfolgung im Tatortstaat (d. h. der Ausübung originärer Strafgewalt) subsidiär ist. Zum anderen wird sich in der Regel das meiste Beweismaterial in dem Mitgliedstaat befinden, in dem die Tat begangen worden ist, so dass auch das Interesse an einer effektiven und zügigen Strafverfolgung für eine Zuständigkeit dieses Staates spricht. Dessen ungeachtet kann es gute Gründe für eine Abweichung vom Territorialitätsprinzip und eine Übertragung der Strafverfolgung auf einen anderen Mitgliedstaat geben. So werden gerade in einfach gelagerten Fällen die Interessen des Beschuldigten größeres Gewicht erhalten. Aus diesem Grund sieht beispielsweise das Europäische Übereinkommen über die Ahndung von Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr eine Übertragung der Verfolgung auf den Staat vor, in dem der Beschuldigte seinen Wohnsitz hat. Bei umfangreichen und komplexen Ermittlungen kann es sachgerecht sein, das gerichtliche Verfahren in einem Mitgliedstaat zu konzentrieren, anstatt die einzelnen Täter bzw. Taten in getrennten Verfahren in mehreren Mitgliedstaaten abzuurteilen. Wenn die internationale Zuständigkeit zur Strafverfolgung auf die Ausübung abgeleiteter Strafgewalt gestützt wird, ist nach dem gegenwärtigen Stand der Entwicklung das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit zu beachten. Die Grundlage der Strafe ist in diesem Fall dem Strafrecht des originär zur Strafverfolgung berechtigten Staates zu entnehmen. Dass daneben das Strafrecht des Forumsstaates zur Anwendung kommt, ist eine Einschränkung, die sich aus den allgemeinen Grundsätzen der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen ergibt. Eine ähnliche Beschränkung ist hinsichtlich der Höhe der zu verhängenden Strafe anzunehmen, die durch das Recht beider Staaten begrenzt wird, so dass sich im Ergebnis das mildere Recht durchsetzt (lex mitior). Die Anwendung dieser Grundsätze dürfte zugleich der Gefahr eines forum shopping mit dem Ziel, die Verhängung einer möglichst hohen Strafe zu erreichen, wirksam begegnen. 85
S. die Nachweise in Fn. 10.
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V. Zusammenfassung und Ausblick Regelungen zur Beilegung von Jurisdiktionskonflikten stehen vor der Herausforderung, eine ausgewogene Balance zwischen dem praktischen Bedürfnis nach Flexibilität und dem Gebot der Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit herzustellen. Der vorstehende Beitrag versucht, diese beiden gegenläufigen Ziele miteinander in Einklang zu bringen, indem er ihnen auf unterschiedlichen Regelungsebenen Rechnung trägt: Materiell-strafrechtliche Regelungsgewalt soll hauptsächlich auf das Territorialitätsprinzip gestützt und extraterritoriale Strafgewalt zurückgedrängt werden; insoweit ist dem Gebot der Rechtssicherheit Vorrang einzuräumen. Demgegenüber handelt es sich bei der internationalen Zuständigkeit um einen verfahrensrechtlichen Aspekt, der mehr Raum für flexible Lösungen lässt und nicht in gleichem Maße wie das materielle Strafrecht gewährleisten muss, dass die Bestimmung des zuständigen Gerichts für den Beschuldigten vorhersehbar ist. Der Vorschlag, die extraterritoriale Strafgewalt der Mitgliedstaaten zu begrenzen, läuft der bisherigen Gesetzgebungspraxis auf Unionsebene zuwider, welche die Mitgliedstaaten auf der Grundlage der traditionellen Anknüpfungspunkte verpflichtet, ihre Strafgewalt auch auf Auslandstaten zu erstrecken. In Anbetracht der Tatsache, dass das Hauptziel dieser Regelung in der Vermeidung von Strafverfolgungslücken besteht86, könnte ein Rückgriff auf abgeleitete Strafgewalt bzw. den Grundsatz der stellvertretenden Strafrechtspflege jedoch eine echte Alternative darstellen.87 Ein solcher Ansatz dürfte jedoch nur auf der Grundlage eines entsprechenden Instrumentes auf Unionsebene zu realisieren sein. Im Jahr 2009 ist ein Vorschlag für einen Rahmenbeschluss zur Übertragung von Strafverfahren88 im Rat gescheitert89; an diesen Vorschlag kann die zukünftige Diskussion anknüpfen. Der Zusammenhang von stellvertretender Strafrechtspflege und internationaler Rechtshilfe einschließlich der mit dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung verbundenen Neuerungen wird möglicherweise die Diskussion um den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit neu entfachen: Unterwirft man auch die stellvertretende Strafrechtspflege dem Paradigma der gegenseitigen Anerkennung, wäre zu erwägen, wie beim Europäischen Haftbefehl und anderen neuen Instrumenten der strafrechtlichen Zusammenarbeit eine Einschränkung der beiderseitigen Strafbarkeit vorzusehen. In einem solchen Modell hätte der Forumsstaat ausschließlich das Recht des Tatortstaates (d. h. des Staates mit originärer Strafgewalt) anzuwenden, ohne als Korrektiv die Wertungen der eigenen Strafrechtsordnung zur Geltung bringen zu können.90 Dies scheint zur Zeit keine realistische Option zu sein; die traditionelle Verbindung 86
Supra 1. S. auch Eser (Fn. 30), S. 569. 88 Entwurf eines Rahmenbeschlusses über die Übertragung von Strafverfahren, Ratsdokument Nr. 11119/09. 89 S. Ratsdokument Nr. 16437/09; s. diesbezüglich Luchtman (Fn. 15), S. 81 f. 90 Deiters, ZIS 2006, 472, 477 ff.; ähnlich Eser/Burchard, in: FS Meyer, 2006, S. 499, 523 f. 87
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von Straf- und Strafverfahrensrecht ist zu tief verwurzelt in den nationalen Strafrechtsordnungen, so dass die Transformationsfunktion der lex fori als essentielle Voraussetzung für die Akzeptanz stellvertretender Strafrechtspflege angesehen werden muss.91 Gleichwohl verdient der Umstand Beachtung, dass – wie die Maxime aut dedere aut judicare zeigt – die Übertragung bzw. Übernahme der Strafverfolgung ein funktionales Äquivalent zur Auslieferung bzw. zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls darstellt. Aus diesem Grund ist es unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit geboten, die Übertragung der Strafverfolgung als milderes Mittel in Betracht zu ziehen, wenn über die Ausstellung (oder Vollstreckung) eines Europäischen Haftbefehls zu entscheiden ist.92 Um die Kohärenz der strafrechtlichen Zusammenarbeit zu gewährleisten, sollte die Frage nach dem Festhalten an der beiderseitigen Strafbarkeit bzw. einer Einschränkung dieses Grundsatzes einheitlich beantwortet werden, indem entweder die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit auch beim Europäischen Haftbefehl wieder eingeführt wird93 oder entsprechende Einschränkungen der beiderseitigen Strafbarkeit auch für die Übertragung der Strafverfolgung vorgesehen werden. Die letztgenannte Lösung wird sicherlich erhebliche praktische Probleme aufwerfen94; gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass die Fremdrechtsanwendung im Internationalen Privatrecht keineswegs ungewöhnlich ist und auch das Strafrecht nicht unberührt gelassen hat (s. o. zur beiderseitigen Strafbarkeit).95 Letztlich stellt sich also nicht die Frage, „ob“, sondern „in welchem Umfang“ dem Forumsstaat die Anwendung ausländischen Strafrechts aufgegeben wird.
91
Scholten, Das Erfordernis der Strafbarkeit in § 7 StGB, 1995, S. 72 f. S. Europäisches Handbuch mit Hinweisen zum Ausstellen eines Europäischen Haftbefehls, Ratsdokument Nr. 17195/1/10, S. 14 f. 93 S. zum „Comeback“ des Grundsatzes der beiderseitigen Strafbarkeit Luchtman (Fn. 15), S. 82. 94 Vgl. in anderem Zusammenhang Mosiek, StV 2008, 94, 99. 95 S. zu den unterschiedlichen Konstellationen, in denen die Prüfung der Strafbarkeit (auch) die Anwendung ausländischen Rechts erfordert: NK-StGB/Böse (Fn. 30), Rn 63 ff.; Cornils, Die Fremdrechtsanwendung im Strafrecht, 1978, passim. 92
Initiativen der Europäischen Union zur Harmonisierung der Beschuldigtenrechte Zugleich eine kritische Analyse der Richtlinie 2012/13/EU zum Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren Von Robert Esser
I. Strafverteidigung und Beschuldigtenschutz im politischen Konzept der Europäischen Union Die Achtung der Menschenwürde, die Freiheit, die Rechtsstaatlichkeit sowie die Wahrung der Menschenrechte gehören zu den Werten, auf die sich die Europäische Union gründet (Art. 2 Satz 1 EUV). Zentrale Standards in Form von Beschuldigtenrechten im Strafverfahren haben schon im Jahr 2000 Eingang in die erste Fassung einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union gefunden,1 die schließlich mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. 12. 2009 rechtsverbindlich wurde.2 Im Gegensatz zur deutschen Verfassung (Grundgesetz), die sich auch für das Strafverfahren weitgehend auf die zentrale Forderung nach rechtsstaatlichen Strukturen zurückzieht (Art. 20 Abs. 3 GG) und anders als Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht einmal den Anspruch auf ein faires Verfahren explizit verbrieft, verfügt die Europäische Union mit dem Titel VI ihrer Charta der Grundrechte über einen ausformulierten Katalog an „Justiziellen Rechten“ (auch) im Strafverfahren. Art. 47 Satz 3 GRC spricht davon, dass sich jede Person – nicht nur beraten und vertreten – sondern auch „verteidigen“ lassen kann. Art. 48 GRC ergänzt ebenso lapidar wie selbstverständlich: „Jedem Angeklagten wird die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet“ (Absatz 2) – wobei dieser bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig gilt (Absatz 1). Vertreter der Anwaltschaft – die klassischerweise den „Verteidiger“ in einem nationalen Strafverfahren stellen – werden bezweifeln, dass es sich bei der Achtung der Verteidigungsrechte tatsächlich um ein justizielles Recht handelt (wie es die Überschrift des Titels VI der Charta suggeriert) – und dann bei genauerem Hinsehen feststellen, dass in Art. 48 Abs. 2 GRC formal betrachtet nicht die „Verteidigungsrechte“ an sich gewährleistet werden – sondern nur deren „Achtung“, was wiederum ein1 2
ABl. EG Nr. C 364 v. 18. 12. 2000, S. 1. ABl. EU Nr. C 83 v. 30. 3. 2010, S. 389.
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deutig an die Justiz als Adressaten gerichtet ist. Indirekt sind damit auch die Verteidigungsrechte selbst durch die Charta abgesichert, wohl aber sicher nicht als justizielle Rechte. Man mag wenig Verständnis dafür aufbringen, dass es in der deutschen Übersetzung des Art. 48 Abs. 2 GRC nicht gelungen ist, den schon bei der Übersetzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK missverständlich gewählten Terminus „Angeklagter“ (dort: „angeklagte Person“) durch den des „Beschuldigten“ zu ersetzen. Dass Verteidigung vor allem im Vorverfahren und dies möglichst früh anzusetzen hat, wenn sie effektiv sein soll, ist unstreitig, und dass sowohl Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 48 Abs. 2 GRC gerade dies sicherstellen wollen und daher auch das dem gerichtlichen Verfahren vorlagerte Stadium des Strafverfahrens umfassen, mittlerweile auch.3 Gleichwohl erhielt der EGMR selbst erst 1993 Gelegenheit, diese Selbstverständlichkeit zu judizieren4 – letztlich auch ein Beleg dafür, dass ein einzelfallbezogener gerichtlicher Menschenrechtsschutz bei der Festlegung allgemeiner menschenrechtlicher Standards auch strukturelle Defizite aufweist. Die Hervorhebung und Akzentuierung der Position eines Beschuldigten im Strafverfahren auf (die Achtung) sein(es) Recht(s) auf Verteidigung lässt erstens klar erkennen, dass jedenfalls die Verfasser der Charta eine Notwendigkeit zur Aufnahme dieser Garantie in den Katalog des Titels VI gesehen haben, also offenbar davon ausgingen, dass sich die Union entweder selbst oder durch umsetzungspflichtige Vorgaben an die Mitgliedstaaten auch strafrechtlich betätigen wird, sowie zweitens, dass die (Achtung dieser) Verteidigungsrechte so elementar wichtig sind, dass sie neben der Garantie auf ein faires Verfahren (Art. 47 Satz 2 GRC) expliziter Hervorhebung bedürfen (ähnlich wie im Katalog des Art. 6 Abs. 3 EMRK). Art. 47 Satz 1 GRC garantiert das Recht jeder Person auf Einlegung eines wirksamen Rechtsbehelfs – bei einem Gericht (was über Art. 13 EMRK hinausgeht, der von einer innerstaatlichen Instanz spricht)5 – gegen eine behauptete Verletzung eines ihr im Recht der Union garantierten Rechtes. Und auch die Garantie eines „fairen Verfahrens“ ergänzt durch die Forderung nach einer Verhandlung, die „öffentlich“ und „innerhalb angemessener Frist“ zu erfolgen hat (Art. 47 Satz 2 GRC), ist ein zentraler Standard zum Schutz eines Beschuldigten, der nicht zum bloßen Objekt der gegen ihn betriebenen Strafverfolgung werden darf. Die Integration zentraler Beschuldigtenstandards in die Charta der Grundrechte ändert freilich nichts an der Tatsache, dass diese sprachlich bewusst knapp gehaltenen Garantien auch und gerade auf europäischer Ebene erst mit prozessualem Leben 3 Vgl. Meyer/Eser, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2010, Art. 48 Rn. 11a; Tettinger/Stern/Alber, Europäische Grundrechte-Charta, 2006, Art. 48 Rn. 4. 4 EGMR Imbrioscia v. Schweiz, Urt. v. 24. 11. 1993, 13972/88, § 36, Serie A Nr. 275 = ÖJZ 1994, 517. 5 Das Erfordernis der Unabhängigkeit dieser Stelle ergibt sich erst aus der Rechtsprechung des EGMR; vgl. EGMR Silver u. a. v. Vereinigtes Königreich, Urt. v. 25. 3. 1983, 5947/72 u. a., Serie A Nr. 61 = EuGRZ 1984, 147.
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erfüllt werden müssen. Ihr konkreter Gehalt erschließt sich in erster Linie über den Verweis in Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRC auf die diesbezüglich in der EMRK verbürgten Garantien, denen der EGMR seit mehr als 50 Jahren durch eine sich immer mehr verästelnde Judikatur strafprozessuales Leben eingehaucht hat.6 Eine wesentliche Beschränkung des durch die Charta gewährleisteten Beschuldigtenschutzes im Strafverfahren ergibt sich allerdings dadurch, dass die Garantien der Charta für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der „Durchführung des Rechts der Union“ (Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC) gelten. Da Strafverfahren nach wie vor ausschließlich auf nationaler Ebene durch Strafverfolgungsbehörden und Gerichte betrieben werden, ist die Frage aufgeworfen, ob sich der Beschuldigte in einem solchen Verfahren allgemein auf die Garantien der Charta – etwa auf die „Achtung seiner Verteidigungsrechte“ (Art. 48 Abs. 2 GRC) – berufen kann oder ob dies etwa nur dann gelten soll, wenn der betreffende Fall nicht nur eine rein nationale Konstellation betrifft (was etwa bei einem Tötungsdelikt oder einem einfachem Diebstahl regelmäßig der Fall ist). Oder soll es vielleicht darauf ankommen, dass die Union zu dem betreffenden Recht unionsrechtlich bereits umsetzungspflichtige Vorgaben – etwa in der Form eines Rahmenbeschlusses aus der Zeit vor Lissabon oder jetzt in Form einer Richtlinie – gemacht hat? Was genau mit dem Begriff der „Durchführung des Rechts der Union“ gemeint ist, scheint auch mehr als drei Jahre nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon alles andere als geklärt.7 Spricht man über Beschuldigtenrechte im Strafverfahren auf europäischer Ebene im Allgemeinen und über Verteidigungsstandards im Besonderen, so darf die mutige und progressive Judikatur des EuGH – beginnend lange Zeit vor einer Rechtsverbindlichkeit der Charta der Grundrechte – nicht unerwähnt bleiben.8 In Zeiten, in denen auf europäischen Gipfeltreffen in Brüssel zäh um eine Aufnahme strafprozessualer Themen in das Primärrecht der Union gerungen wurde, war es der EuGH, der mit wegweisenden Urteilen einem effektiven Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, auch im Strafverfahren, den Weg geebnet hat.9 Zweifelsohne: Ohne den EuGH wäre der „unionale Grundrechtsschutz“ auch im Strafverfahrensrecht nicht auf dem Niveau, auf dem er sich heute befindet! Aber dem 6 Hierzu für den Zeitraum 1960 – 2000: Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 2002. 7 Auch EuGH, Rs. 617/10 (Åkerberg Fransson), Urt. v. 26. 2. 2013, hat diesbezüglich nicht alle Fragen beantwortet; vgl. ausführlich Hoffmann/Rudolphi, DÖV 2012, 597 ff. sowie aus der Kommentarliteratur Meyer/Borowsky (Fn. 3), Art. 51 Rn. 24 ff.; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Folz, Europäisches Unionsrecht, 2012, Art. 51 GRC Rn. 4 ff.; Tettinger/Stern/Ladenburger (Fn. 3), Art. 51 Rn. 20 ff. 8 Vgl. Esser, in: Sieber/Brüner/Satzger/v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2011, § 53 Rn. 23 ff. 9 Vgl. EuGH, Rs. C-7/98 (Krombach/Bamberski), Slg. 2000, I-1935 = NJW 2000, 1853; Rs. C-385/01 (Gözütok u. Brügge), Slg. 2003, I-1345 = NJW 2003, 1173; Rs. C-274/96 (Bickel u. Franz), Slg. 1998, I-7637 = NStZ 1999, 315; hierzu Esser, in: Sieber/Brüner/Satzger/ v. Heintschel-Heinegg (Fn. 8), § 58 Rn. 18 ff.
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Gerichtshof der Europäischen Union fehlt noch das im Strafverfahren dringend notwendige Instrument für die Gewährung eines effektiven Individualrechtsschutzes in Form einer Grundrechtsbeschwerde. Eine Ausweitung des Rechtsschutzes durch das EuG und den EuGH über Art. 263 Abs. 4 AEUV gegen an eine Person „gerichtete oder sie unmittelbar und individuell betreffende Handlungen sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen“ wird in Zukunft einen Gewinn an Rechtsschutz gegen strafrechtliche Maßnahmen „innerhalb der Union“ (Europol, Eurojust, OLAF, EuStA) bieten – für die Überwachung der Einhaltung der durch die Charta garantierten Rechte durch die Mitgliedstaaten bei der „Durchführung des Rechts der Union“ – wenn man dies weit versteht – fehlt es aber an einem ausreichenden Individualrechtsschutz auf Unionsebene. Neben einer „menschenrechtlichen“ (EMRK) und einer „unionsrechtlichen“ Säule des Beschuldigtenschutzes (Charta, EuGH) bedarf es daher einer weiteren – um ein altes Modell aus der Zeit vor Lissabon wiederzubeleben – dritten Säule, hier innerhalb der Grundrechtsarchitektur der Europäischen Union, ohne die jedenfalls kurz- und mittelfristig die Herausbildung eines gemeinsamen Wertemodells im Bereich der Beschuldigtengarantien im Strafverfahren nicht zu gewährleisten sein wird: die Harmonisierung prozessualer Garantien zum Schutz des Beschuldigten in den nationalen Strafverfahrensordnungen. Die Notwendigkeit einer Harmonisierung von Beschuldigtenstandards auch auf der Ebene der Europäischen Union belegen eindrucksvoll die Arbeitszahlen und Tätigkeitsberichte des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Zwar ist nur ein Bruchteil aller in Straßburg entschiedenen Fälle strafprozessual unterlegt – ein großer Teil der Verurteilungen allerdings schon. Obwohl die Staaten über Art. 46 EMRK zu einer weitreichenden Rezeption der Straßburger Judikatur verpflichtet oder jedenfalls angehalten sind, nehmen die Fallzahlen in Straßburg nicht ab.10 Menschenrechtsschutz im Strafverfahren allein über das Gebot der Rezeption entschiedener Einzelfälle stößt irgendwann an seine Grenzen,11 nicht selten auch in den Köpfen der nationalen Justiz. Die Angleichung des Rechts der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union auf dem Gebiet des Strafverfahrensrechts stellt ein besonders sensibles Feld der Harmonisierung nationaler Rechtsvorschriften dar. Das gilt vor allem für die Rechte des Beschuldigten im Strafverfahren, obwohl diese – soweit ihr Gehalt den Status eines Menschenrechtes erreicht – über die EMRK und den IPBPR schon mehr als ein halbes Jahrhundert aus internationaler Perspektive mitbestimmt werden. Während einige Staaten in Europa die Sorge umtreibt, ihre hohen nationalen Standards könnten durch eine europaweite Angleichung strafprozessualer Standards „verwässert“ werden, hegen andere Staaten – sicher nicht zu Unrecht – die Sorge, sie würden durch 10 In den letzten Jahren wurden jeweils deutlich mehr als 100.000 Verfahren pro Jahr neu beim Gerichtshof anhängig gemacht, vgl. die Jahresstatistiken des Gerichtshofs unter www.echr.coe.int („Reports“ – „Statistics“). 11 Zum „Mehrwert“ eines unionalen Grundrechtsschutzes gegenüber der EMRK: Esser, BRAK-Mitteilungen 2007, 53.
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eine Harmonisierung zu einer erheblichen, kurzfristig nicht zu leistenden Anhebung ihrer Standards verpflichtet. Die Harmonisierung der Beschuldigtenrechte durch die Union ist zudem das notwendige Korrektiv zu einer auch und gerade auf europäischer Ebene in den letzten Jahren immer weiter verbesserten Kooperation der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte der EU-Mitgliedsstaaten. Wenn fortwährend Rechtsinstrumente zur Effektuierung der Strafverfolgung in Europa geschaffen werden, ist es nicht zuletzt zur Gewährleistung einer „Equality of Arms“ zwingend notwendig, auch für die Position des Beschuldigten einen europaweit harmonisierten Schutzstandard zu entwickeln. Jürgen Wolter war die Suche nach einem Ausgleich zwischen notwendiger Strafverfolgung und gebotenem Beschuldigtenschutz stets ein besonderes Anliegen und zugleich Antrieb seines wissenschaftlichen Wirkens. Wer den engagierten Plädoyers des Jubilars für die Achtung der Beschuldigtenrechte im Allgemeinen und den Datenschutz im Besonderen in dem von ihm initiierten Mannheimer Arbeitskreis (ASP) lauschen konnte, kann keinen Zweifel daran haben, dass Jürgen Wolter die lange Zeit einseitig auf die vielbeschworene Effektuierung der Strafverfolgung ausgerichteten strafprozessualen Initiativen der Union stets mit Sorge betrachtet hat. Ihm sei daher die nachfolgende Analyse gewidmet, ob jüngste Initiativen der Union tatsächlich zu einer Stärkung des Beschuldigtenschutzes in Europa führen können.
II. Strafverfahrensrecht als Gegenstand einer Rechtsangleichung auf der Ebene der Europäischen Union „Das Strafrecht [dient] in seinem Kernbestand […] nicht als rechtstechnisches Instrument zur Effektuierung einer internationalen Zusammenarbeit, sondern steht für die besonders sensible demokratische Entscheidung über das rechtsethische Minimum.“12 Dieses Monitum aus dem Urteil des BVerfG zum Vertrag von Lissabon setzt auch der Harmonisierung strafprozessualer Standards auf Unionsebene Grenzen, jedenfalls wenn es sich um eine materiell-punitive oder die Strafverfolgung tendenziell fördernde Regelungsmaterie handelt. Unter Verzicht auf traditionelle Instrumente der Rechtshilfe setzt die Europäische Union zur Verbesserung der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen zwischen ihren Mitgliedstaaten seit dem EU-Gipfel von Tampere vorrangig auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen. Dieser verlangt von den Mitgliedstaaten, justizielle Entscheidungen aus anderen Mitgliedstaaten ohne eine Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit oder gar der Kompatibilität mit dem eigenen nationalen Recht anzuerkennen. Instrumente zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten (Art. 82 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV) sollen die Durchsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung (lediglich) ermögli12
BVerfGE 123, 267 (410) = NJW 2009, 2276 (2288) – Vertrag von Lissabon.
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chen, was in der Formulierung des Art. 82 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV „Soweit (…) erforderlich (…)“ zum Ausdruck kommt. Durch Richtlinien i. S. d. Art. 82 Abs. 2 AEUV können die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, Mindeststandards im Hinblick auf Rechtsschutzgarantien und Verfahrensgrundsätze einzuführen. Diese sollen ein gegenseitiges Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen ermöglichen, die in einem anderen Mitgliedstaat ergriffen werden.13 Da die Anwendung des aus dem früheren Gemeinschaftsrecht stammenden Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf das Strafrecht auf der Regelungsmaterie geschuldete Schwierigkeiten stößt14 und letztlich für sich allein keinen Beitrag zur Entwicklung homogener und verlässlicher Beschuldigtenstandards in Europa liefern kann, soll die Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften im Mittelpunkt der nachfolgenden Ausführungen stehen. Schon unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 u. 4 EUV) kann die Kompetenznorm des Art. 82 AEUV nicht beliebig ausgedehnt werden. So spricht sich das BVerfG in seinem Lissabon-Urteil aufgrund „der besonders empfindlichen Berührung der demokratischen Selbstbestimmung durch Straf- und Strafverfahrensnormen“ für eine restriktive Auslegung des Art. 82 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV aus.15 Diesem Anliegen trägt Art. 82 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 AEUV dadurch Rechnung, dass bei Erlass einer auf Art. 82 Abs. 2 AEUV gestützten Richtlinie die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten berücksichtigt werden müssen. Art. 82 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV enthält einen Katalog von Strafverfahrensbereichen, in denen eine Rechtsangleichung durch den Erlass von Richtlinien möglich sein soll. Hierauf gestützte Mindestvorschriften können dabei in besonderem Maße grundrechtliche Aspekte des Strafverfahrens berühren. Einschlägig für die Harmonisierung von Beschuldigtenstandards ist Art. 82 Abs. 2 UAbs. 2 lit. b AEUV. Dieser gewährt der EU die Möglichkeit, Mindeststandards im Hinblick auf die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren zu setzen. Aus einem Umkehrschluss zu Art. 82 Abs. 2 UAbs. 2 lit. c AEUV ergibt sich, dass Opfer von Straftaten nicht „Einzelne“ i. S. v. lit. b sein können. Art. 82 Abs. 2 UAbs. 2 lit. b AEUV erfasst vielmehr zentral die Rechte von Beschuldigten und Zeugen. Der Begriff „Mindestvorschriften“ impliziert, dass die Mitgliedstaaten nicht gehindert sind, auf nationaler Ebene ein im Verhältnis zu den Bestimmungen der Richtlinie höheres Schutzniveau vorzusehen (Art. 82 Abs. 2 UAbs. 3 AEUV).16
13
Vedder/Heintschel v. Heinegg/Rosenau/Petrus (Fn. 7), Art. 82 AEUV Rn. 5. Ouwerkerk, Quid Pro Quo? A comparative law perspective on the mutual recognition of judicial decisions in criminal matters, 2011. 15 BVerfGE 123, 267 (410 f.). 16 Zu den Kompetenzen der Union im Bereich des formellen Strafrechts auch: Zöller, FS Schenke (2011), 579 (592 f.). 14
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III. Initiativen der Europäischen Union zur Harmonisierung der Beschuldigtenrechte – eine erste Bilanz 1. Vertrag von Nizza/Scheitern des Rahmenbeschlusses über bestimmte Verfahrensrechte im Strafverfahren Die Kommission hatte 2004 auf der Basis des Vertrags von Nizza den Vorschlag für einen Rahmenbeschluss über bestimmte Verfahrensrechte in Strafverfahren innerhalb der Europäischen Union unterbreitet.17 Dieser Vorschlag verbriefte zwar keinen umfassenden Kodex der Beschuldigtenrechte, bot aber immerhin eine Sammlung „bestimmter“ strafprozessualer Standards zum Konsens an. Im Einzelnen waren dies die Vertretung durch einen Rechtsbeistand, die Inanspruchnahme eines Dolmetschers bzw. Übersetzers, die Information des Beschuldigten über seine Rechte, die Gewährleistung eines angemessenen Schutzes für besonders schutzbedürftige Beschuldigte sowie das Recht inhaftierter Beschuldigter auf konsularischen Beistand.18 Der Vorschlag beruhte im Wesentlichen auf den einschlägigen Freiheiten der EMRK und den diesbezüglichen Judikaten des EGMR.19 Zentraler Streitpunkt, an dem die Verabschiedung des RB-Verfahrensrechte letztlich im Jahr 2007 scheiterte, war die Kompetenz der Union zur Regelung strafprozessualer Verfahrensrechte auf der Grundlage des Vertrags von Nizza (ex-Art. 31 Abs. 1 lit. c EUV).20 Für die Zeit „vor Lissabon“ fällt die Bilanz von EU-Initiativen zum Beschuldigtenschutz damit eher mager aus: Zwar hatte die Union schon auf der Grundlage von ex-Art. 29 Abs. 2, 31 Abs. 1 lit. c, d EUV mehrere Initiativen zur Harmonisierung der Beschuldigtenstandards in Europa auf den Weg gebracht.21 Als beschlossene Rechtsinstrumente bleiben aus dieser Zeit aber nur zwei auf der Habenseite: Am 26. 2. 2009 erließ der Rat der Europäischen Union den RB 2009/299/JI22, dessen erklärtes Ziel die Stärkung der Rechte in Abwesenheit verurteilter Personen und 17 KOM (2004) 328 endg.; siehe hierzu auch die Vorarbeiten: Grünbuch Verfahrensgarantien in Strafverfahren innerhalb der Europäischen Union, KOM (2003) 75 endg. 18 Kritisch zu diesem Vorschlag: Ahlbrecht, JR 2005, 400 (402); ders., StraFo 2003, 185; ders., ZRP 2004, 1 (3); Braum, StV 2003, 576 (578). 19 Vgl. Rudolf/Giese, StV 2007, 113 ff. 20 Zu den verschiedenen Argumenten pro und contra des RB-Verfahrensrechte siehe auch den Tagungsbericht von Wächtler, StV 2007, 220. 21 Auf der Grundlage des Vertrags von Nizza in Kraft getretene Rahmenbeschlüsse bleiben aufgrund Art. 9 des Protokolls (Nr. 36) über die Übungsbestimmungen zum Vertrag von Lissabon weiterhin in Kraft. 22 RB 2009/299/JI des Rates v. 26. 2. 2009 […] zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist (ABl. EU Nr. L 81 v. 27. 3. 2009, S. 24); siehe hierzu: EuGH, Rs. C-306/09 (I.B.), Slg. 2010, I-10341 = NJW 2011, 285 – EuHB und Abwesenheitsurteil; Schlussanträge des Generalanwaltes Bot v. 2. 10. 2012, Rs. C-399/11 (Stefano Melloni) – EuHb, Abwesenheitsurteil.
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die Einführung eines einheitlichen Ansatzes für die Verfahren der gegenseitigen Anerkennung solcher Urteile ist.23 Bei näherem Hinsehen fällt dann aber auf, dass sich der RB weitgehend auf die Definition von Gründen beschränkt, aufgrund derer die Vollstreckung eines im Ausland ergangenen Abwesenheitsurteils verweigert werden kann. Letztlich trägt er damit eher zur Verkehrsfähigkeit von Abwesenheitsentscheidungen bei als dass er den Beschuldigtenschutz in Europa fördert.24 Einen Tag vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, am 30. 11. 2009, nahm der Rat der Union den Rahmenbeschluss 2009/948/JI zur Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten in Strafverfahren an,25 der bis zum 15. 6. 2012 in nationales Recht umzusetzen war. Dieser RB sieht zur Vermeidung von parallel geführten Strafverfahren eine Pflicht zur direkten Kontaktaufnahme und Benachrichtigung der zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaates vor, wenn dort wegen derselben Tat ebenfalls ein Strafverfahren geführt wird (Art. 5 ff.). Die Strafverfolgungsbehörden der betroffenen Staaten sollen im Wege direkter Konsultation versuchen, zu einer „effizienten Lösung“ zu gelangen. Insgesamt blieb damit auch dieser RB weit hinter den Erwartungen (etwa der Festschreibung fester Kriterien für die Auswahl eines „zuständigen“ Verfolgungsstaates) zurück.26 2. Harmonisierung einzelner Verfahrensrechte des Beschuldigten auf der Grundlage des Vertrags von Lissabon: Das Stockholmer Programm (2010 – 2014) Nach wiederholter Überarbeitung27 gab die Kommission das Vorhaben eines mehrere Beschuldigtenrechte umfassenden Rahmenbeschlusses schließlich auf und entschied sich für ein abschnittweises Vorgehen. Der Rat verabschiedete am 11. 12. 2009 – parallel zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon – das sog. „Stockholmer Programm – Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger“28, das über einen Zeitraum von fünf Jahren (2010 – 2014), eingebettet in eine gemein23
Bei Einhaltung gewisser Schutzstandards sind Abwesenheitsurteile menschenrechtskonform, da das Recht des Angeklagten, bei der Gerichtsverhandlung anwesend zu sein (Art. 6 Abs. 1 EMRK), keinen absoluten Schutz genießt; vgl. Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 2002, S. 721 ff.; Gaede, Fairness durch Teilhabe, 2007, S. 294 ff. 24 Kritisch in diesem Punkt auch: BRAK-Stellungnahme 06/2008 (zugänglich über www.brak.de); Klitsch, ZIS 2009, 11; Ahlbrecht, FS 25 Jahre AG Strafrecht, 2009, S. 1055; Hauck, JR 2009, 141. 25 RB 2009/948/JI des Rates v. 30. 11. 2009 zur Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten in Strafverfahren (ABl. EU Nr. L 328 v. 15. 12. 2009, S. 49); zu den Vorarbeiten: Grünbuch über Kompetenzkonflikte und den Grundsatz ne bis in idem in Strafverfahren, KOM (2005) 696 endg. 26 Kritisch hierzu: Schünemann/Roger, ZIS 2010, 92 (96). 27 Vgl. Vogel/Matt, StV 2007, 206 (207). 28 ABl. EU Nr. C 115 v. 4. 5. 2010, S. 1, 10; siehe auch: Schlussfolgerungen des Rates der Europäischen Union v. 11. 12. 2009, Dok-Nr. EUCO 6/09, Ziff. 25 ff., insb. 28.
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same Grundrechtepolitik der Union, u. a. auch Maßnahmen zur Harmonisierung der „Rechte des Einzelnen im Strafverfahren“ in separaten Rechtsetzungsakten vorsieht. Der vom Rat am 30. 11. 2009 beschlossene Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren29 wurde damit Bestandteil des Stockholmer Programms (Nr. 2.4). Er sieht „Schritt für Schritt“, ohne eine verbindliche Reihenfolge festzulegen, den Erlass von Mindestvorschriften in folgenden Bereichen vor: (A) Übersetzungen und Dolmetscherleistungen; (B) Belehrung über die Rechte und Unterrichtung über die Beschuldigung; (C) Rechtsbeistand und Prozesskostenhilfe; (D) Kommunikation mit Angehörigen, Arbeitgebern und Konsularbehörden; (E) besondere Garantien für schutzbedürftige Verdächtige oder Beschuldigte sowie (F) ein Grünbuch über die Untersuchungshaft.30 Diese den Beschuldigtenschutz in den Mittelpunkt stellenden Initiativen der Europäischen Union wurden lange erwartet. Sie waren und sind dringend notwendig, weil die bisherigen Maßnahmen zur Etablierung und Gestaltung des angestrebten Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. 2 Abs. 3 EUV) vor allem die Sicherheit (vgl. etwa den Vorschlag des Ratsvorsitzes über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen vom 14. 12. 201131 und den stetigen Ausbau europäischer Strafverfolgungsbehörden) und weniger das Recht, geschweige denn die Freiheit betrafen. Hinzu kommt, dass die Europäische Union an einem umfangreichen Maßnahmenpaket zur Verbesserung des Opferschutzes im Strafverfahren arbeitet32 und auch insoweit „ausgleichende“ Harmonisierungsmaßnahmen auf Seiten des Beschuldigten dringlich erscheinen. Erste „echte“ auf die Erweiterung des Beschuldigtenschutzes abzielende Regelungsmaterie war daher bei näherer Betrachtung die Dolmetscher- und Übersetzerunterstützung für sprachunkundige Beschuldigte. Noch auf der Basis des Vertrags von Nizza war hierzu ein Vorschlag für einen Rahmenbeschluss über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren33 ergangen, der allerdings nicht mehr umgesetzt werden konnte. Es folgten – rechtspolitisch eher unge-
29
Entschließung des Rates v. 30. 11. 2009 über einen Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren, ABl. EU Nr. C 295 v. 4. 12. 2009, S. 1; hierzu: KOM (2009) 262 endg. v. 10. 6. 2009; Aktionsplan zur Umsetzung, KOM (2010) 171 endg. v. 20. 4. 2010; s. a. Jimeno-Bulnes, eucrim 2009, 157; ausführlich zum Stockholmer Programm: Polakiewicz, EuGRZ 2010, 16. 30 Zum Stand der Verfahrensrechte in den Mitgliedstaaten: Spronken/Vermeulen/de Vocht/ van Puyenbroeck (Hrsg.), EU-Procedural Rights in Criminal Proceedings; siehe auch: Spronken, StRR 2010, 138. 31 Rat, Interinstitutionelles Dossier, 18225/1/11 REV 1 COPE 356 EUROJUST 212 EJ 181 CODEC 2339 v. 14. 12. 2011. 32 Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. 10. 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI, ABl. EU Nr. L 315 v. 14. 11. 2012, S. 57. 33 Ratsdokument 14792/09.
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wöhnlich – parallel Vorschläge seitens des Rates34 und der Kommission35 für eine entsprechende Richtlinie. Als erste Maßnahme im Rahmen des „Fahrplans“36 wurde dann am 7. 10. 2010 die Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht auf Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen in Strafverfahren verabschiedet.37 Die Richtlinie muss bis zum 27. 10. 2013 von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt werden (Art. 9 Abs. 1 RL). In Deutschland liegt seit dem 10. 12. 2012 der Referentenentwurf des BMJ für ein Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren38 vor. Die RL 2010/64/EU soll zentral in § 187 GVG umgesetzt werden.39
IV. Richtlinie zum Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren Als zweite und bislang letzte Maßnahme („B“) zur Umsetzung des „Fahrplans“ zur Stärkung der Beschuldigtenrechte auf der Basis des Stockholmer Programms wurde am 22. 5. 2012 die Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren verabschiedet.40 1. Schutzbereich und Zielrichtung Die RL 2012/13/EU (im Folgenden: RL) setzt sich aus insgesamt drei Teilen zusammen (45 Erwägungsgründe – 14 Artikel – 2 Anhänge mit sog. „Musterbeispielen“), deren ungleiches Verhältnis zueinander bereits bei der ersten Lektüre offensichtlich ist. Innerhalb der Regelungsmaterie ist zwischen den beiden Säulen „Beleh-
34 Initiative für eine RL des EP und des Rates über die Rechte auf Dolmetschleistungen und auf Übersetzungen in Strafverfahren, ABl. EU Nr. C 69 v. 18. 3. 2010, S. 1; vgl. die Kritik bei: DAV, Stellungnahme Nr. 15/2010, S. 4 ff. 35 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht auf Dolmetscher- und Übersetzungsleistungen im Strafverfahren, KOM (2010) 82 endg. v. 9. 3. 2010. 36 ABl. EU Nr. C 295 v. 4. 12. 2009, S. 1; vgl. hierzu Brodowski, ZIS 2010, 376 (382). 37 ABl. EU Nr. L 280 v. 26. 10. 2010, S. 1; vgl. zur derzeitigen Rechtslage und dem Änderungsbedarf im Zuge der Umsetzung der Richtlinie auch Kotz, StV 2012, 626; ders., StRR 2012, 124 f., der die Umsetzung der Richtlinie als Anlass dafür sieht „ein für allemal Benachteiligung aufgrund fehlender Sprachkenntnisse zu beseitigen“. Kritisch zur derzeitigen Praxis auch: Kranjcic, „… dass er treu und gewissenhaft übersetzen werde“ (2010). 38 Abrufbar unter www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/pdfs/RegE_Gesetzes_zur_Star kung_der_Verfahrensrechte_von_Beschuldigten_im_Strafverfahren.pdf. 39 Vgl. im Einzelnen RefE (Fn. 38), S. 3; siehe hierzu auch die Vorschläge von Kotz, StV 2012, 626. 40 ABl. EU Nr. L 142 v. 1. 6. 2012, S. 1 – 10; zum Vorschlag der Kommission: KOM (2010) 392 endg. v. 20. 7. 2010.
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rung“ (Art. 3 bis 5 RL) und „Unterrichtung“ (Art. 6 und Art. 7 RL) zu unterscheiden.41 Die Rechtsgrundlage der Richtlinie und damit die Kompetenz der Union zum Erlass dieses Rechtsinstrumentes wird in der Präambel nur sehr vage mit „gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 82 Absatz 2“ thematisiert. Schon dies dürfte Wasser auf die Mühlen derjenigen sein, die eine stärkere Berücksichtigung des Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung, des Subsidiaritätsprinzips und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 EUV)42 auch und gerade bei strafprozessualen Initiativen der Union anmahnen. Einen Bezug zu Art. 82 Abs. 2 UAbs. 2 lit. b AEUV („Rechte des Einzelnen im Strafverfahren“) stellt erst – und selbst das nur mittelbar – ErwG Nr. 9 der RL her.43 Sachlich ist der Anwendungsbereich der RL auf „Strafverfahren“ bezogen und gleichzeitig beschränkt; dies ergibt sich bereits aus dem Titel der RL und wird durch Art. 2 Abs. 1 RL bestätigt. Nicht erfasst vom sachlichen Schutzbereich der RL sind Verfahren vor einer „Behörde, die […] für die Verhängung von Sanktionen hinsichtlich [relativ] geringfügiger Zuwiderhandlungen zuständig“ ist (Art. 2 Abs. 2 RL; ErwG Nr. 17). Damit ist das deutsche Ordnungswidrigkeitenverfahren weitgehend dem Anwendungsbereich der RL entzogen; lediglich im gerichtlichen Verfahren nach Einlegung eines Einspruchs gegen einen behördlichen Bußgeldbescheid sollen die Garantien dann im anschließenden gerichtlichen Verfahren (voll) zur Geltung kommen. Für diese Übertretungen bleibt die RL insgesamt hinter dem Schutzgehalt der „strafrechtlichen Anklage“ i. S. v. Art. 6 Abs. 1 EMRK zurück, die auch das deutsche Ordnungswidrigkeitenverfahren erfasst.44 Erfasst von der RL werden demgegenüber behördliche Verfahren zur Ahndung „nicht geringfügiger Zuwiderhandlungen“, etwa nach den §§ 81, 82 GWB.45 Im persönlichen Fokus der Regelungsmaterie stehen – in Anknüpfung an den 2009 beschlossenen „Fahrplan“ (s. o.) folgerichtig – ausschließlich Verdächtige und beschuldigte Personen (vgl. ErwG Nr. 16, 19); Belehrungen und Unterrichtungen, die in Strafverfahren nach rechtsstaatlichen Grundsätzen auch gegenüber anderen Personen zu erfolgen haben (etwa gegenüber Zeugen über das Bestehen eines Zeugnis- und/oder Aussageverweigerungsrechts), bleiben damit vom Schutzbereich der RL ausgeklammert. Dem hätte der eher allgemein gehaltene und insoweit letzt-
41 Der KOM-Vorschlag (Fn. 40) sah im Titel nur das „Recht auf Belehrung in Strafverfahren“ vor. 42 Sehr knapp hierzu: ErwG Nr. 43 und KOM-Vorschlag (Fn. 40), Begr. Nr. 41 f. 43 Vgl. insoweit auch: KOM (2010) 392 endg., Nr. 4 Begr. 44 EGMR Öztürk v. Deutschland, Urt. v. 21. 2. 1984, 8544/79, Serie A Nr. 73 = NJW 1985, 1273. 45 Im KOM-Vorschlag (Fn. 40) waren „Verfahren von Verwaltungsbehörden, die Verstöße gegen nationale oder europäische Wettbewerbsvorschriften betreffen“, noch generell vom Anwendungsbereich ausgenommen (Begr. Nr. 20 Satz 2).
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lich missverständliche Titel der Richtlinie sprachlich durch eine Erwähnung der „Verdächtigen“ und „beschuldigten Personen“ Rechnung tragen sollen. Die exakte Differenzierung zwischen „Verdächtigen“ und „beschuldigten Personen“ ist vor dem Hintergrund internationaler Menschenrechtsverträge überraschend, da dort Hinweis- und Unterrichtungspflichten an den Status einer „strafrechtlichen Anklage“ (Art. 6 Abs. 1 EMRK; Art. 14 Abs. 1 Satz 1 IPBPR) geknüpft werden. Diese liegt dann vor, wenn der Betroffene offiziell von dem gegen ihn geführten Verfahren in Kenntnis gesetzt wird.46 Sprachlich wird aus dem Text der RL allerdings nicht klar, ob „Beschuldigung“ deskriptiv als äußerer Vorgang i. S. der Behauptung eines strafrechtlich relevanten Verhaltens einer Person (etwa durch einen Dritten) oder normativ als innerbehördlicher Vorgang einer „Statuszuweisung“ zu verstehen ist. Zur Frage, wie eine Person den Status eines „Beschuldigten“ erhält, bestehen bekanntlich unterschiedliche Theorien und Sichtweisen.47 Dazu schweigt die RL, so dass man nun ein Gedankenspiel darüber anstellen kann, wann eine Person „verdächtig“ aber noch nicht „beschuldigt“ oder vielleicht auch umgekehrt (aber eher fernliegend) – vielleicht durch einen Dritten – „beschuldigt“ aber noch nicht „verdächtig“ ist. In zeitlicher Hinsicht sind die Abschnitte eines „Strafverfahrens“ erfasst, ab dem eine Person von einer zuständigen nationalen Behörde über das Bestehen eines Verdachts bzw. einer Beschuldigung in Kenntnis gesetzt wird, bis zur endgültigen Klärung der Tatbegehung – einschließlich Rechtsmittelverfahren (Art. 2 Abs. 1 RL). Dass die RL ihren zeitlichen Anwendungsbereich damit weder an den in seiner Übersetzung aus dem englisch- bzw. französischsprachigen Original des Konventionstextes von Art. 6 Abs. 1 EMRK misslungenen Begriff der strafrechtlichen Anklage anlehnt noch den ebenso wenig gelungenen Terminus des „Angeklagten“ aus Art. 48 GRC übernimmt, sondern sich statt dessen an der den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK konkretisierenden Rechtsprechung des EGMR48 orientiert, ist ein echter rechtsstaatlicher Gewinn. Über den Begriff „Tatvorwurf“ (Art. 1 RL; vgl. auch ErwG Nr. 14) und die Darlegungen zum Anwendungsbereich in Art. 2 Abs. 1 RL besteht kein Zweifel, dass das strafrechtliche Ermittlungs-/Vorverfahren in den Schutzgehalt der durch die RL festgeschriebenen Mindestvorschriften zu Belehrung und Unterrichtung einbezogen ist. Mittelbar wird über das für den Beginn des Anwendungsbereichs der Richtlinie herangezogene Kriterium der „Inkenntnissetzung“ über eine bestehende Verdächtigung bzw. Beschuldigung (Art. 2 Abs. 1 RL) auch de-
46 EGMR Deweer v. Belgien, Urt. v. 27. 2. 1980, 6903/75, Serie A Nr. 35 = EuGRZ 1980, 667, § 46 („official notification given to an individual by the competent authority of an allegation that he has committed a criminal offence“); vgl. auch: EGMR Practical Guide on Admissibility Criteria (abrufbar unter www.echr.coe.int), Nr. 242. 47 Kühne, Strafprozessrecht, 8. Aufl. 2010, Rn. 104.1.; Krey, Deutsches Strafverfahrensrecht, Band 1, 2006, Rn. 309 ff. 48 Vgl. LR/Esser, Band 11, 26. Aufl. 2012, Art. 6 EMRK Rn. 92 ff.; differenzierend: SKStPO/Paeffgen, Band 10, 4. Aufl. 2012, Art. 6 EMRK Rn. 40 – 40a.
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finiert, wann eine Person ein „Verdächtiger“ bzw. „Beschuldigter“ i. S. d. RL ist – nämlich erst ab jener „Inkenntnissetzung“. Ausgeklammert bleiben damit rechtsstaatliche Standards bei verdeckten Ermittlungen vor einer „Inkenntnissetzung“ der betroffenen Person – mit ihnen war angesichts des Titels der RL aber auch nicht zu rechnen. Schwerer wiegt dagegen, dass die RL sich nicht dazu verhält, ab wann auf Seiten der Strafverfolgungsbehörden eine Pflicht zur „Inkenntnissetzung“ einer Person über einen gegen sie bestehenden Tatverdacht bzw. Beschuldigung besteht. Dass Rechtsbelehrungen nach Art. 3 RL „umgehend“ zu erfolgen haben, hilft ebenso wenig über das Problem hinweg wie ErwG Nr. 19, der eine Belehrung „spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung […] durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde“ verlangt. Die von beiden Bestimmungen geforderte Belehrung setzt den Status eines „Verdächtigen“ bzw. einer „beschuldigten Person“ gerade schon voraus, was aus dem jeweiligen Wortlaut auch unzweifelhaft hervorgeht. Es fehlt der RL damit eine ergänzende Bestimmung, wonach gerade die „Inkenntnissetzung“ nach Art. 2 Abs. 1 RL „umgehend“ nach Verdacht bzw. Beschuldigung zu erfolgen hat. Ohne Klärung dieser essentiellen Vorfrage haben es Strafverfolgungsbehörden durch die Wahl des Zeitpunkts einer „Inkenntnissetzung“ i. S. v. Art. 2 Abs. 1 RL letztlich in der Hand, auch über den Zeitpunkt von „Belehrungen“ (Art. 3 bis 5 RL) und „Unterrichtungen“ (Art. 6 und 7 RL) zu disponieren. Dadurch, dass die RL diese staatliche „Pflicht zur Beschuldigung“ nicht klärt, wird ein wesentliches Manko einschlägiger menschenrechtlicher Konventionstexte perpetuiert49 – was man von einer RL, die einen Mehrwert gegenüber diesen Konventionsstandards schaffen will, nicht erwartet hätte. Als dritte explizit vom Anwendungsbereich der RL geschützte Personengruppe (neben den „Verdächtigen“ und „beschuldigten Personen“) nennt Art. 1 Satz 2 RL „Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist“ (vgl. auch ErwG Nr. 39). Unklar ist dabei, ob damit erst der Zeitpunkt gemeint ist, zu dem der EuHb der betroffenen Person eröffnet und damit regelmäßig zugleich vollstreckt wird, d. h. diese davon Kenntnis erhält. Dagegen spricht auf den ersten Blick der Wortlaut der Norm („ergangen“), dafür die Gleichbehandlung mit Verdächtigen und beschuldigten Personen, bei denen der Anwendungsbereich der RL ebenfalls erst ab „Inkenntnissetzung“ über Verdacht bzw. Beschuldigung greift (Art. 2 Abs. 1 RL). Aufgelöst wird diese Fragestellung durch Art. 5 RL, der die Mitteilung einer „angemessenen Erklärung“ der im nationalen Recht bestehenden Rechte von der „Festnahme“ einer Person zur „Vollstreckung“ eines EuHb abhängig macht. Dass die von einem EuHb betroffenen Personen nicht in den Kreis der „Verdächtigen“ bzw. „beschuldigten Personen“ fallen, erklärt sich damit, dass nach herkömmlichem Verständnis das Stadium zwischen der Festnahme eines Beschuldigten zum Zwecke der Auslieferung bzw. (nach der Terminologie des EuHb) Übergabe an den ersuchenden Staat nicht zum Strafverfahren im engeren Sinne zählen soll. Dass diese 49
Vgl. LR/Esser (Fn. 48), Art. 6 EMRK Rn. 95.
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etwas antiquierte Auffassung jedenfalls im Lichte des Regelungskonstrukts und der Vollstreckungspraxis beim EuHb nicht länger aufrechterhalten werden kann, hat der EGMR bereits erkannt.50 Dass sich der Rat nicht darauf verlässt, dass die zur Umsetzung der RL aufgerufenen nationalen Stellen diese Judikatur bereits zur Kenntnis genommen haben, und dass die RL selbst diese (behauptete) Schutzlücke präventiv schließt, ist zu begrüßen. Dass die Unterrichtung der von einem EuHb betroffenen Personen gleichwohl in Art. 5 RL eine eigenständige, durch den Bezug (nur) auf das nationale Recht materiell abgeschwächte Regelung erfährt und die RL damit nicht den Mut beweist, das „Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls“ dem „Strafverfahren“ im engeren Sinne auch formal durch eine Aufnahme in Art. 3 RL gleichzustellen, ist dagegen zu bedauern, vielleicht aber allein dem Umstand geschuldet, dass ein EuHb nicht nur zur Strafverfolgung, sondern auch zur Strafvollstreckung ergehen kann. Als eine besonders schutz- und damit informationsbedürftige Gruppe hebt die RL solche Verdächtige und beschuldigte Personen hervor, die „festgenommen oder inhaftiert werden“. Anders als der RL-Text nimmt ErwG Nr. 21 dabei Bezug auf die Gründe für Freiheitsentziehungen, die Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EMRK im Rahmen eines fünf Konstellationen umfassenden, abschließenden Katalogs normiert. Bemerkenswert ist, dass dabei ausschließlich nur auf den „klassischen“ strafprozessualen Grund für Freiheitsentziehungen in lit. c Bezug genommen wird, nicht aber auf die strafprozessual ebenfalls relevanten Haftgründe aus lit. d (Minderjährige) und vor allem lit. e (psychisch Kranke). Art. 5 Abs. 2 EMRK – der die zentrale Informationspflicht staatlicher Stellen im Falle jedweder Freiheitsentziehung normiert – trifft diese Unterscheidung (anders als etwa Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK, der sich nur auf Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. c EMRK bezieht) gerade nicht; „Festnahme“ i. S. d. Vorschrift ist weit zu verstehen und erfasst alle freiheitsentziehenden Maßnahmen nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. a bis f EMRK. Die RL bleibt somit beschränkt auf den „klassischen Fall“ der vorläufigen Festnahme oder Verhaftung aus Anlass des Verdachts einer Straftat. Ziel der RL ist die Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften (ErwG Nr. 10), die weitergehende staatliche Informationspflichten nach der EMRK, der Charta der Grundrechte der Union oder dem nationalen Recht nicht ausschließen (vgl. Art. 10 RL; Art. 3 Abs. 1 RL: „mindestens“; ErwG Nr. 20, 40). Konkret werden die Rechte von Verdächtigen und Beschuldigten auf eine Belehrung bzw. Erklärung über Rechte in Strafverfahren (Art. 3 und. 4 RL), auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf (Art. 6 RL) sowie auf Einsicht in die Verfahrensakte (Art. 7 RL) festgelegt sowie das Recht von Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, auf Belehrung über ihre Rechte bestimmt (Art. 5 RL).
50 EGMR Buijen v. Deutschland, Urt. v. 1. 4. 2010, 27804/05, NStZ-RR 2011, 113 = StV 2011, 430; siehe auch EGMR Smith v. Deutschland, Urt. v. 1. 4. 2010, 27801/05, StRR 2011, 58 (L).
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2. Bezug zur EMRK und zur Charta der Grundrechte Der Richtlinie lag ein Vorschlag der Kommission vom 20. 10. 2010 zugrunde,51 der sich nicht nur auf Art. 6 EMRK sondern explizit auch auf Art. 48 GRC bezog, der seinerseits – wie oben erläutert – die Achtung der Verteidigungsrechte auf EU-Ebene gewährleistet, in Bedeutung und Tragweite angelehnt an die in Art. 6 Abs. 3 EMRK normierten zentralen Verfahrensrechte des Beschuldigten. Das Recht auf Belehrung leitete die Kommission aus der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR – speziell aus dem Panovits-Urteil52 ab, wonach die Behörden einen proaktiven Ansatz verfolgen sollen, um sicherzustellen, dass strafrechtlich verfolgte Personen ihre Rechte effektiv wahrnehmen können.53 Anders als im Vorschlag der Kommission finden die mit dem Recht auf Belehrung und Unterrichtung verbundenen Grund- und Menschenrechte in Art. 6, 47, 48 Abs. 2 GRC und Art. 5, 6 EMRK (ErwG Nr. 5, 6, 14, 41) eher spärlich Erwähnung. Immerhin aufgenommen in ErwG Nr. 18 ist ein Hinweis auf das „Recht auf Belehrung über Verfahrensrechte, das sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ableiten lässt“; einzelne Urteile des EGMR, mit deren Hilfe sich der konkrete Inhalt dieses (angeblichen) Rechtes erschließen lässt, bleiben selbst in den ErwG der RL unerwähnt. 3. Recht auf „Belehrung“ Innerhalb der Schutz-Säule „Belehrung“ bestimmt die RL den materiell-rechtlichen Charakter von drei zentralen Rechten. Dies sind das Recht auf Rechtsbelehrung (Art. 3 RL) für alle Verdächtigen und Beschuldigten, das Recht auf eine schriftliche Erklärung der Rechte bei Festnahme (Art. 4 RL) für Verdächtige und Beschuldigte, die festgenommen und inhaftiert werden, sowie das Recht auf eine angemessene Erklärung der Rechte für Personen, die zum Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls festgenommen werden (Art. 5 RL). Gegenüber Verdächtigen bzw. beschuldigten Personen (Art. 2 Abs. 1 RL) soll „umgehend“ eine mündliche oder schriftliche (Art. 3 Abs. 1 RL) – im Falle einer festgenommenen oder inhaftierten Person notwendigerweise schriftliche (Art. 4 Abs. 1 Satz 1 RL) – Belehrung in einfacher und verständlicher Sprache über das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts und den etwaigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung und dessen Voraussetzungen, über das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf (Art. 6 RL), über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen sowie über das Recht auf Aussageverweigerung erfolgen (Art. 3 RL). 51
KOM (2010) 392 (Fn. 40), Begr. Nr. 5, 15. EGMR Panovits v. Zypern, Urt. v. 11. 12. 2008, 4268/04; zu diesem Urteil: Esser/Gaede/ Tsambikakis, NStZ 2011, 140 (145). 53 KOM (2010) 392 endg. (Fn. 40), Begr. Nr. 5, 16 ff., 24; vgl. hierzu LR/Esser (Fn. 48), Art. 6 EMRK Rn. 570. 52
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Festgenommene oder inhaftierte Verdächtige bzw. beschuldigte Personen müssen zusätzlich in einer ihnen verständlichen Sprache eine Erklärung erhalten über das Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte, das Recht auf Unterrichtung der Konsularbehörden und einer (weiteren) Person (vgl. hierzu auch ErwG Nr. 23), das Recht auf Zugang zu dringender medizinischer Versorgung sowie über das Recht zu erfahren, wie viele Stunden / Tage der Freiheitsentzug bis zur Vorführung vor eine Justizbehörde andauern darf (Art. 4 RL). Weiterhin muss diese Erklärung „grundlegende Informationen“ zum innerstaatlichen Rechtsschutz gegen die Freiheitsentziehung (Rechtmäßigkeit – Haftprüfung – Haftentlassung) enthalten (Art. 4 Abs. 4 RL; vgl. hierzu Art. 5 Abs. 4 EMRK). Von ihrer Konstruktion her betrachtet, verlangt die RL insgesamt nur, dass eine Belehrung über die vorgenannten Rechte erfolgt – implizit damit auch, dass diese Rechte im nationalen Recht überhaupt existieren. Durch die Anknüpfung an die Garantien aus Art. 6 Abs. 3 EMRK ist davon zwar grundsätzlich auszugehen. Rechtstechnisch ist es aber schon verwunderlich, dass die Harmonisierung der (Art und Weise der) „Belehrung“ zeitlich vor einer Angleichung der „Rechte“ selbst in Angriff genommen wird, über die gerade belehrt werden soll. Hinsichtlich der Reichweite und der konkreten Ausgestaltung der Reichweite der Rechte, über die belehrt werden soll, verweist die RL – insoweit wieder konsequent – auf das innerstaatliche Recht des jeweiligen Mitgliedstaates (vgl. Art. 3 Abs. 1; Art. 4 Abs. 2; Art. 5 Abs. 1 RL). Die Belehrung über ein (bestimmtes) Recht soll grundsätzlich nur einmal erfolgen (vgl. ErwG Nr. 20). Die Sprache, in der die Belehrung erfolgt, hat einfach und verständlich zu sein (Art. 3 Abs. 2; Art. 4 Abs. 4 Satz 1 RL; Art. 5 Abs. 2 RL). Besondere Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen sollen berücksichtigt werden, wobei unklar bleibt, wann von einer solchen „Schutzbedürftigkeit“ auszugehen ist.54 Für die bei festgenommenen und inhaftierten Verdächtigen und Beschuldigten bzw. von der Vollstreckung eines EuHb Betroffenen geforderte „Erklärung der Rechte“ enthält die RL neben den Geboten der „Schriftlichkeit“ und der Wahl einer Sprache, die der Betroffene versteht (Art. 4 Abs. 5; Art. 5 Abs. 2 RL) sog. „Musterbeispiele“ (Art. 4 Abs. 4 Satz 2 RL; Art. 5 Abs. 2 Satz 2 RL. Diese Muster für einen „Letter of Rights“ sind dem eigentlichen Text der RL als Anhänge I und II beigefügt. Falls die von Art. 4 RL geforderte (schriftliche) Erklärung nicht in einer für den Betroffenen verständlichen Sprache zur Verfügung steht, muss zunächst eine mündliche Erklärung in einer für diesen verständlichen Sprache erfolgen; die primär geforderte (schriftliche) Erklärung ist ohne unnötige Verzögerung nachzuholen (Art. 4 Abs. 5 Satz 2 RL). „Von den Polizeibehörden wird erwartet, dass sie über elektronische Fassungen aller in dem betreffenden Ort geläufigen Sprachen verfügen, die bei
54 Der KOM-Vorschlag (Fn. 40) nannte hier noch Sehbehinderte, Blinde und des Lesens unkundige Personen (vgl. Begr. Nr. 26 Satz 4).
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Bedarf ausgedruckt werden können“55. Ob die Praxis hier den Anforderungen der RL in jedem Einzelfall entsprechen wird, bleibt abzuwarten. 4. Recht auf „Unterrichtung“ Die zweite Schutz-Säule der RL besteht in einem Recht auf Unterrichtung, das wiederum in zwei Richtungen unterteilt wird. a) Tatvorwurf Art. 6 Abs. 1 Satz 1 RL („Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf“) normiert das Recht von (allen) Verdächtigen und Beschuldigten auf Unterrichtung über die betreffende „strafbare Handlung“, derer sie verdächtigt oder beschuldigt werden (Art. 6 RL; siehe auch Art. 1 RL). Wann und wie diese Unterrichtung zu erfolgen hat, thematisiert die RL nur mit den Vorgaben „umgehend“ und „detailliert“, wobei für letzteres noch der Maßstab „faires Verfahren“ und „wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte“ bemüht wird. Hier wird die Anknüpfung an Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK zwar deutlich. Inhaltlich konkreter wird aber erst ErwG Nr. 28, der diese Unterrichtung „spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde“ verlangt. Dort findet sich auch der Zusatz, dass „eine Beschreibung der Umstände der strafbaren Handlung, deren die Person verdächtigt oder beschuldigt wird, einschließlich, sofern bekannt, der Zeit und des Ortes sowie der möglichen rechtlichen Beurteilung der mutmaßlichen Straftat sollte – je nach Stadium des Strafverfahrens, in der sie gegeben wird – hinreichend detailliert gegeben werden [sollte], so dass ein faires Verfahren gewährleistet und eine wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte ermöglicht wird.“ Dass elementare inhaltliche Vorgaben keine direkte Aufnahme in Art. 6 Abs. 1 RL gefunden haben, darf man getrost als Konstruktionsfehler der RL bezeichnen. Nicht nur unverständlich sondern bedenklich mutet es an, wenn die dem RL-Text vorangestellten Erwägungsgründe eben nicht nur Erwägungsgründe, sondern sogar Einschränkungen der Gewährleistung von Rechten enthalten, die im RL-Text selbst keinen Niederschlag gefunden haben. Ein Beispiel hierfür ist ErwG Nr. 28, wonach die umgehende Unterrichtung über die den Verdacht bzw. die Beschuldigung bildende strafbare Handlung „ohne Gefährdung der laufenden Ermittlungen“ zu erfolgen hat – eine Einschränkung, die an keiner Stelle im Richtlinientext selbst angelegt ist. Bei festgenommenen und inhaftierten Verdächtigen und Beschuldigten muss – angelehnt an Art. 5 Abs. 2 EMRK – zusätzlich eine Unterrichtung über die „Gründe für die Festnahme oder Inhaftierung“ erfolgen (Art. 6 Abs. 2 RL). Spätestens mit Anklageerhebung verdichtet sich die Unterrichtungspflicht der staatlichen Stellen auf „detaillierte Informationen über den Tatvorwurf“, u. a. zur 55
KOM (2010) 392 endg. (Fn. 40), Begr. Nr. 26 Satz 2.
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Art und rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie zur Art der Beteiligung der beschuldigten Person. Durch den Terminus „spätestens“ bleibt den Strafverfolgungsbehörden eine schrittweise Informationsweitergabe erspart; ein zusätzliches Gebot der „Unverzüglichkeit“ der Informationspflicht hätte Art. 6 Abs. 3 RL rechtsstaatlich bereichert. Die sprachliche Fassung lässt jedenfalls erahnen, welch schwierigen Spagat zwischen Beschuldigtenschutz und Nichtbeeinträchtigung des Verfahrensgangs die Endfassung der RL zu leisten hatte. Es bleibt zu konstatieren, dass lediglich nachträglich eingetretene Änderungen der erteilten Informationen den Betroffenen „umgehend“ mitzuteilen sind (Art. 6 Abs. 4 RL) – und zwar so rechtzeitig, dass eine wirksame Ausübung der Verteidigungsechte und ein faires Verfahren gewährleistet sind (vgl. ErwG Nr. 29). b) Einsicht in die Verfahrensakte Vom Titel der RL her betrachtet etwas unerwartet, normiert Art. 7 RL ebenfalls als Element der zweiten Säule innerhalb der RL – dem „Recht auf Unterrichtung“ – Vorgaben für ein „Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte“. Art. 7 Abs. 1 RL fordert dabei ein „spezielles Einsichtsrecht“ für „festgenommene und inhaftierte Personen“, Absatz 2 ein solches für alle „Verdächtigen“ und „beschuldigten Personen“ („allgemeines Einsichtsrecht“). Garantiert wird dabei lediglich ein Recht auf „Zurverfügungstellung“ von Unterlagen (Art. 7 Abs. 1 RL) bzw. auf „Einsicht in alle […] Beweismittel“ – nicht etwa ein Recht auf Erstellung von Kopien bzw. auf Übersendung der Originalakte. Nur die „Einsichtnahme“ in die Akte muss unentgeltlich gewährt werden (Art. 7 Abs. 5 RL) – die „Zurverfügungstellung von Unterlagen“ (Art. 7 Abs. 1 RL) – sei es im Original oder in Kopie – dagegen nicht (vgl. ErwG Nr. 34). Vom Umfang her umfasst das (spezielle) Einsichtsrecht von festgenommenen und inhaftierten Personen (Art. 7 Abs. 1 RL) „alle Unterlagen zum gegenständlichen Fall, die sich im Besitz der zuständigen Behörden befinden und für eine wirksame Anfechtung der Festnahme oder Inhaftierung wesentlich sind“, wobei sich die „Wesentlichkeit“ einer „Unterlage“ nach innerstaatlichem Recht bemisst, was wohl „schützend“ gedacht ist, aber von nationalen Ermittlungsrichtern auch schnell ins Gegenteil verkehrt werden kann. Indem die RL die Einsicht auf alle im Besitz der zuständigen Behörde befindlichen Beweismittel beschränkt, bleibt sie – was die Vorbereitung einer Haftprüfung angeht – hinter dem Recht auf Erhebung von entlastenden Beweisen zurück (vgl. § 219 StPO). Hier offenbart sich der „fragmentarische“ Schutzcharakter der RL, der im Bereich „habeas corpus“ deutlich zu kurz greift und nur einen Bruchteil der Garantien thematisiert, die sich über Art. 5 Abs. 4 EMRK erschließen. Art. 7 Abs. 2 RL spricht etwas diffus vom Recht auf „Einsicht in zumindest alle im Besitz der zuständigen Behörden befindlichen Beweismittel“ – immerhin mit dem klaren Zusatz „zugunsten oder zulasten der Verdächtigen oder beschuldigten Per-
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son“. Dass Art. 7 RL in Bezug auf den Umfang der zu gewährenden Einsicht in Absatz 1 den Terminus „Unterlagen“ und in Absatz 2 den der „Beweismittel“ verwendet, verwirrt auf den ersten Blick. Näheren Aufschluss liefert ErwG Nr. 30, der – scheinbar abschließend – von „Dokumenten“ sowie „Fotos, Audio- und Videoaufzeichnungen“ spricht und auf andere „Aktenbestandteile“ wie etwa elektronisches Datenmaterial nicht explizit hinweist, das aber in bestimmten Verfahrenskonstellationen (z. B. bei pornographischen Darstellungen oder Urheberrechtsverstößen) zentral ist und daher unter die „Beweismittel“ i. S. v. Art. 7 Abs. 2 RL fallen müsste. ErwG Nr. 31 spricht dann auch vom Zugang zu „Beweismitteln“, der den Zugang zu „Unterlagen“ umfassen soll. Der Begriff der „Unterlagen“ bildet augenscheinlich den Überbegriff für besagte „Dokumente“ und „Fotos, Audio- und Videoaufzeichnungen“. Hier ist die Aufzählung eindeutig nicht abschließend („wie“). Für die Praxis äußerst wichtig, aber in der Sache bedauerlicherweise ebenfalls nicht aus Art. 7 RL selbst zu entnehmen, ist der Hinweis in ErwG Nr. 31 Satz 2, dass sich diese „Unterlagen“ nicht in der Verfahrensakte selbst befinden müssen. Das ist insofern von Bedeutung, als Art. 7 RL auf Strafprozessordnungen fokussiert zu sein scheint, bei denen die Beweissammlung im Vorverfahren in Form einer Verfahrensakte erfolgt. Dies ist allerdings nicht in allen Staaten der Europäischen Union der Fall. Das Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte ist nach den Vorgaben der RL sowohl zeitlich als auch sachlich beschränkbar. Zeitlich stellt Art. 7 Abs. 3 RL für das allgemeine Einsichtsrecht aus Art. 7 Abs. 2 RL die Vorgabe der „Rechtzeitigkeit“ auf, diese verbunden mit der „wirksamen Verknüpfung der Verteidigungsrechte“, was (erfreulich) stark an der Rechtsprechung des EGMR angelehnt ist.56 Spätester Zeitpunkt für die Gewährung des Zugangs zur Akte ist die Einreichung der Anklageschrift bei Gericht. Die starre Regelung des § 147 Abs. 2 StPO, wonach der Zugang der Akte bis zum Abschluss der Ermittlungen wegen einer Gefährdung des Untersuchungszwecks verweigert werden kann, muss dementsprechend einen einschränkenden Zusatz erhalten. Haftrichter sind sodann zu einer beschuldigtenfreundlichen Interpretation der Vorschrift aufgerufen. Später zur Akte gelangende Beweismittel unterliegen ebenfalls dem Recht auf (rechtzeitigen) Zugang (Art. 7 Abs. 3 Satz 2 RL). Durch den Zusatz „Unbeschadet des Absatzes 1“ wird klar, dass das (spezielle) Einsichtsrecht von Festgenommenen und Inhaftierten dieser zeitlichen Einschränkung des Aktenzugangs nur insoweit unterliegt, als dadurch die „wirksame Anfechtung“ der Freiheitsentziehung nicht gefährdet wird – eine Forderung, der in Deutschland nach zähem Widerstand der justiziellen Praxis erst das BVerfG zum Durchbruch verhelfen musste.57
56 57
LR/Esser (Fn. 48), Art. 5 EMRK Rn. 639. Siehe etwa BVerfG NJW 1994, 3219.
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Sachlich kann der Zugang zur Akte – vergleichbar zu den über den Wortlaut des § 147 Abs. 2 StPO hinausgehenden anerkannten Beschränkungsmöglichkeiten – im Falle der ernsthaften Gefährdung des Lebens oder der Grundrechte58 einer anderen Person oder zum unbedingt erforderlichen Schutz eines wichtigen öffentlichen Interesses (wie dem Untersuchungszweck oder der ernsthaften Beeinträchtigung der nationalen Sicherheit) eingeschränkt werden (Art. 7 Abs. 4 RL). Mit Interesse ist zu lesen, dass die Einschränkung des Zugangs zur Akte nicht von vornherein total sondern nur bezogen auf „bestimmte Unterlagen“ und bei Vorsehung einer gerichtlichen Überprüfungsmöglichkeit (Art. 7 Abs. 4 Satz 2 RL) erfolgen darf. Dass sich hinter ErwG Nr. 33 („Schutz personenbezogener Daten“/„Aufenthaltsort geschützter Zeugen“) weitere „Grundrechte anderer Personen“ als Grund für Beschränkungen des Zugangsrechts „verstecken“, bedarf der Erwähnung. Da Grenze einer solchen Einschränkung auch hier – in Anlehnung an den EGMR – die Wahrung eines fairen Verfahrens ist,59 bleibt mit Spannung zu erwarten, wie deutsche Haftrichter diese Vorgabe umsetzen werden. 5. Prozessuale Geltendmachung Der Verdächtige/Beschuldigte und dessen Rechtsanwalt müssen zudem die Möglichkeit erhalten, ein etwaiges Versäumnis oder eine etwaige Verweigerung der Erteilung von Informationen nach den Verfahren des innerstaatlichen Rechts60 anfechten zu können (Art. 8 Abs. 1 RL). Ein Rechtsbehelfsverfahren wird damit aber ausweislich ErwG Nr. 36 Satz 2 gerade nicht gefordert, was schwerlich mit den Vorgaben des Art. 13 EMRK in Einklang zu bringen sein dürfte. In der Strafprozessordnung führt die fehlende Beschuldigtenbelehrung nach § 136 Abs. 1 StPO zu einem Verwertungsverbot – sofern nicht der Beschuldigte sein Recht kannte oder der Verteidiger des Beschuldigten der Verwertung zustimmt bzw. ihr nicht widerspricht (sog. Widerspruchslösung).61 Eine Verletzung des (vorprozessualen) Rechts auf Belehrung ist über die Sanktionsfolge Beweisverwertungsverbot im Rahmen der Berufung/Revision anfechtbar. 58 Man darf sich fragen, ob das Leben kein oder ein besonders exponiertes Grundrecht ist bzw. ob Gefahren für die Gesundheit nicht ausreichen sollen. 59 Vgl. auch ErwG Nr. 32: „Jede Verweigerung des Zugangs muss gegen die Verteidigungsrechte des Verdächtigen oder der beschuldigten Person abgewogen werden, wobei die verschiedenen Stadien des Strafprozesses zu berücksichtigen sind. Einschränkungen des Zugangs sollten eng und im Einklang mit dem Grundsatz des Rechts auf ein faires Verfahren, wie es in der EMRK vorgesehen ist und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung ausgelegt wird, ausgelegt werden.“ 60 Der KOM-Vorschlag (Fn. 40) enthielt die Forderung nach einem wirksamen Rechtsbehelf – ohne Bezug auf das nationale Recht; kritisch zu dieser „Verkürzung“ des Rechtsschutzes in der Fassung der RL: Brodowski, ZIS 2012, 558 (565). 61 BGHSt 22, 170; 38, 214; 47, 172; Dahs, StraFo 1998, 253; Radtke/Hohmann, StPO, 2011, § 136 StPO, Rn. 33 ff.
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6. Gebot der Aufzeichnung Belehrungen und Unterrichtungen nach Art. 3 bis 6 RL sind nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaates schriftlich festzuhalten – „gemäß dem innerstaatlichen Verfahren für Aufzeichnungen“ (Art. 8 Abs. 1 RL; ErwG Nr. 35). Der Europaausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) hatte in seiner Stellungnahme zum Richtlinienvorschlag62 gefordert, dass nicht nur die tatsächliche Belehrung/Unterrichtung sondern auch und vor allem die Reaktion des Beschuldigten auf diese Belehrung im Wortlaut und nicht in standardisierter Form zu protokollieren und der Verfahrensakte beizufügen ist.63 Diese Forderung ist berechtigt, da durch den Verweis auf das nationale „Verfahren für Aufzeichnungen“ ggf. die Erstellung eines formularmäßigen Vermerks ausreichend sein kann; sie hat bedauerlicherweise keinen Widerhall bei den abschließenden Beratungen im Rat gefunden. 7. Kritische Gesamtwürdigung der RL Kritisch zu sehen ist, dass die Union die Harmonisierung der Standards „im Bereich der Belehrung in Strafverfahren“ nicht – wie man es erwarten würde – als „Selbst“zweck sondern eher als „Mittel zum Zweck“ ansieht: der Schaffung eines „Klimas des Vertrauens“ und einer dadurch bedingten „Erleichterung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung“ von (punitiven) Entscheidungen in Strafsachen (vgl. ErwG Nr. 3 u. 4, 10). Wer den Regelungsgehalt der RL 2012/13/EU vollständig erfassen will, muss sich neben den 14 Artikeln auch den Weg durch das Dickicht von insgesamt 45 Erwägungsgründen64 „bahnen“, die damit den Charakter einer Kommentierung der Richtlinie annehmen. Etwas ketzerisch ließe sich sagen, dass die „wahre RL“ in diesen Erwägungsgründen steckt, die nicht Teil des umzusetzenden Textes der RL an sich sind, sondern vielmehr Ergebnis des im Rat erzielten politischen Kompromisses. Dennoch sollte ihre Wirkung nicht unterschätzt werden. Gemäß der in Art. 31 WVRK kodifizierten völkergewohnheitsrechtlichen Regel ist zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge deren gesamter Text, also auch Präambeln und Anlagen, zu berücksichtigen. Von der Hinzuziehung der Erwägungsgründe zur Auslegung einer Richtlinie hat der EuGH in der Vergangenheit wiederholt Gebrauch gemacht.65 62
BRAK-Stellungnahme 11/2011 v. Januar 2011, abrufbar unter www.brak.de. BRAK-Stellungnahme 11/2011 (Fn. 62), S. 7. 64 Im KOM-Vorschlag (Fn. 40) waren es noch 31 Erwägungsgründe, ein Indiz dafür, dass hier viele Kompromisse und „Vorbehalte“ einzelner Staaten Niederschlag gefunden haben. 65 Vgl. nur EuGH, Rs. C-404/06 (Quelle AG), Slg. 2008, I-2835 = NJW 2008, 1433, Rn. 36 ff.; vgl. dazu Herresthal, ZEuP 2009, 600. Vgl. für die Rechtswirkung der Präambel des AEUV: Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Stand: 41. EL (2010), AEUV Präambel Rn. 14 ff. Plakativ auch Wandtke/Bullinger/Thum, Urheberrecht, 3. Aufl. 2009, vor §§ 87a ff. UrhG Rn. 17, der von einem „faktisch eigenen Regelungsgehalt“ der Erwägungsgründe spricht. 63
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Somit ist damit zu rechnen, dass er auch die RL 2012/13/EU im Lichte ihrer Erwägungsgründe interpretieren wird. Zum Gesamtverständnis der RL maßgeblich bei trägt letztlich auch die Begründung des KOM-Vorschlags, ohne die man den spezifischen menschenrechtlichen Kontext (Rechtsprechung des EGMR) des Rechtsinstruments, der in der RL selbst in den Erwägungsgründen nur höchst allgemein angesprochen wird, nicht verstehen wird. Die RL strebt ein Schutzniveau (mindestens) auf der Ebene der EMRK und der diesbezüglichen Rechtsprechung des EGMR an (vgl. ErwG Nr. 40, 42). Das gelingt ihr insgesamt, wenngleich zu konstatieren ist, dass in einigen Punkten, etwa beim „Recht [festgenommener Personen] auf Einsicht in die Verfahrensakte“ erst eine „Gesamtschau“ von RL-Text und ErwG einen insgesamt akzeptablen rechtsstaatlichen Standard abbilden, der dem der EMRK entspricht.66 Viele Begrifflichkeiten und Details bleiben aber – gerade durch die menschenrechtliche Anbindung – vage und bedürfen einer europarechts- und menschenrechtsfreundlichen Auslegung im Einzelfall durch verantwortungsvolle und gegenüber internationalen Standards aufgeschlossene Richter, Staatsanwälte und Polizeibeamte. Gerade hier sollen die von Art. 9 RL geforderten Schulungsmaßnahmen für die Justiz greifen. Bedauerlich ist, dass einige zentrale Garantien im Schnittfeld „Belehrung/Unterrichtung“ gar nicht Gegenstand der RL geworden sind (wie etwa das Schweigerecht) bzw. gegenüber dem ursprünglichen Vorschlag der Kommission eine signifikante Abschwächung erfahren haben, so etwa die ursprünglich weiter reichenden Zugangsrechte zur Akte (Art. 7 RL) und die diesbezüglichen Rechtsschutzmöglichkeiten (Art. 8 RL). Im Ergebnis trägt die vorliegende RL das Schicksal, ein rechtspolitischer Kompromiss zu sein, wie jedes andere europäische Rechtsinstrument auch.
V. Umsetzung der Richtlinie 2012/13/EU in deutsches Recht Die Richtlinie muss bis zum 2. 6. 2014 von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden (Art. 11 Abs. 1 RL).67 Bemerkenswert ist dabei, dass mit dem Vereinigten Königreich und Irland zwei der insgesamt vier „Verhinderer“ des RB-Verfahrensrechte (2004) mit an Bord sind (vgl. ErwG Nr. 44), wohingegen Dänemark wie schon bei der RL 2010/64/EU nicht gebunden ist (vgl. ErwG Nr. 45). In der Strafprozessordnung ist das von der RL geforderte Recht auf Belehrung bereits in weiten Teilen in den § 114a Abs. 1 Satz 2, § 136 Abs. 1 Satz 1, § 163a Abs. 3. Satz 2 StPO i. V. m. § 136 Abs. 1 Satz 1 StPO sowie in § 127 Abs. 4, 163c Abs. 1 66 Siehe zum Habeas Corpus-Verfahren: SK-StPO/Paeffgen (Fn. 48), Art. 5 EMRK Rn. 64 ff.; LR/Esser (Fn. 48), Art. 5 EMRK Rn. 316 ff. 67 Mit Ausnahme Dänemarks (vgl. ErwG Nr. 45 der RL 2010/64/EU).
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Satz 3 i. V. m. §§ 114a Abs. 1 Satz 2 StPO festgelegt. Das von der Richtlinie geforderte Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte entspricht dem Umfang nach den Gewährleistungen des § 147 Abs. 1 StPO.68 Freilich bedurfte es hierfür erst dreier Verurteilungen Deutschlands durch den EGMR im Jahre 200169 und einer daraufhin – mit mehrjähriger Verspätung – im Jahr 2010 erfolgten Änderung des § 147 Abs. 1 StPO durch das Gesetz v. 29. 7. 2009 zur Änderung des U-Haft-Rechts.70 Seit Dezember 2012 liegt ein Referentenentwurf des BMJ für ein Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren71 vor, mit dem neben der RL 2010/64/EU auch die RL 2012/13/EU in deutsches Recht umgesetzt werden soll.72 Änderungsbedarf besteht insbesondere bei der Belehrung über das Recht auf Dolmetschleistungen (Art. 3 Abs. 1 lit. d RL; § 187 Abs. 1 Satz 2 GVG-E; 114b Abs. 2 Satz 3; 163a Abs. 3 Satz 2, Abs. 4 Satz 2 StPO-E), über die Bestellung eines Pflichtverteidigers und die Möglichkeit der Auskunft und Akteneinsicht (§ 114b Abs. 2 Satz 1 Nr. 4a, 7, Abs. 2 Satz 2 StPO-E), über mögliche Rechtsbehelfe (Art. 4 Abs. 3 RL; § 114b Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 StPO-E) sowie über einen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung (§ 136 Abs. 1 Satz 3 StPO-E). Sämtliche vor Polizei und Staatsanwaltschaft erfolgten Belehrungen müssen künftig aktenkundig gemacht werden (§ 168b Abs. 1 bis 3 StPO-E). Dieser Änderungs-/Ergänzungsbedarf ist angesichts dessen, dass die RL nur ein „Minimum“ an rechtstaatlichen Belehrungs- und Unterrichtungsstandards abbildet, für einen Staat, der seine Rechtsstaatlichkeit gerne auch gegenüber europäischen Partnern eher zu laut als zu leise zelebriert, überraschend – vor allem, wenn man bedenkt, dass die größten „Belehrungs“Lücken erst 2010 durch das U-Haft-ÄnderungsG (s. o.) geschlossen wurden.
VI. Von „Stockholm“ nach „Athen“ oder „Rom“ – wohin geht die Reise des Beschuldigtenschutzes in der Europäischen Union? Die Bilanz der Entwicklung des Beschuldigtenschutzes auf der Ebene der Europäischen Union in den letzten 10 Jahren fällt eher ernüchternd aus. Zum Durchbruch kam die Materie als Gegenstand von Harmonisierungsmaßnahmen erst nach dem In68 Vgl. hierzu: LR/Esser (Fn. 48), Art. 5 EMRK Rn. 340 ff.; SK-StPO/Paeffgen (Fn. 48), Art. 5 EMRK Rn. 67 f; siehe auch Brodowski, ZIS 2010, 940 (947). 69 EGMR Lietzow v. Deutschland, Urt. v. 13. 2. 2001, 24479/94, ECHR 2001-I = NJW 2002, 2013; Schöps v. Deutschland, Urt. v. 13. 2. 2001, 25116/94, ECHR 2001-I = NJW 2002, 2015; Garcia Alva v. Deutschland, Urt. v. 13. 2. 2001, 23541/94, ECHR 2001-VI = NJW 2002, 2018. 70 BGBl. I, S. 2274. 71 Abrufbar unter www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/pdfs/RegE_Gesetzes_zur_Star kung_der_Verfahrensrechte_von_Beschuldigten_im_Strafverfahren.pdf (Stand: 21. 12. 2012). 72 Vgl. im Einzelnen Referentenentwurf (Fn. 71), S. 3; siehe hierzu auch die Vorschläge von Kotz, StV 2012, 626.
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krafttreten des Vertrags von Lissabon. Mit den RL 2010/64/EU und 2012/13/EU liegen Anfang 2013 erst zwei verabschiedete Maßnahmen des „Stockholmer Fahrplans“ vor.73 Am 8. 6. 2011 veröffentlichte die Europäische Kommission als Maßnahme „C“ im Stockholmer Fahrplan den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht auf Rechtsbeistand in Strafverfahren und das Recht auf Kontaktaufnahme bei der Festnahme74 – über die Details wird bis heute lebhaft gestritten.75 Die Umsetzung des Stockholmer „Fahrplans der Verfahrensrechte“ ist ins Stocken geraten. Die Verhandlungen scheinen zäher zu verlaufen, je konkreter die Materie wird. Das Arbeitsprogramm der Kommission für das Jahr 2013 sieht zwar (ohne nähere zeitliche Zielmarke) eine Legislativmaßnahme für „Besondere Garantien für schutzbedürftige Verdächtige oder Angeklagte in Strafverfahren“76 vor, aber eben auch einen Legislativvorschlag zur „Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft zum Schutz der finanziellen Interessen der Union“77, letzteres für das 2. Quartal und damit noch vor Abschluss der Umsetzung des Fahrplans der Beschuldigtenrechte. Ein Nachfolgeprogramm für das Stockholmer Programm im Bereich „Beschuldigtenschutz“ für die Zeit ab 2014 ist bislang nicht in Sicht. Ob die Auflegung eines weiteren 5-Jahres-Programms die Harmonisierung der Beschuldigtenrechte weiter voranbringt,78 kann sinnvollerweise erst dann beurteilt werden, wenn die auf der Basis des Stockholmer Programms beschlossenen Maßnahmen in den Mitgliedstaaten erfolgreich umgesetzt worden sind und sich in der Praxis bewähren. Eine Festschreibung weiterer zentraler Verfahrensgarantien („Rechte des Einzelnen im Strafverfahren“), deren Harmonisierung für eine Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen i. S. v. Art. 82 Abs. 2 UAbs. 2 lit. b AEUV erforderlich ist, ist zur Flankierung der einzelfallbezogenen Rechtsprechung des EGMR jedenfalls wünschenswert.79 Eine „Magna Carta der Beschuldigtenrechte“ dürfte derzeit auf Unionsebene politisch allenfalls im Wege einer verstärkten Zu73 Siehe auch die kritische Bilanz von Spronken, EuCLR 2011, 212, und Blackstock, EuCLR 2012, 20. 74 KOM (2011) 326 endg. v. 8. 6. 2011; hierzu Dettmers, DRiZ 2011, 402 (404); Brodowski, ZIS 2010, 940 (947). 75 Vgl. Brand, DRiZ 2012, 237; Marx, AnwBl 12/2010, VI; Corell/Sidhu, StV 2012, 246. 76 Mitteilung der Kommission – Arbeitsprogramm für 2013, KOM (2012) 629 v. 23. 10. 2012, Vol. 2/2, Nr. 45. 77 Mitteilung der Kommission (Fn. 76), Nr. 48; krit. hierzu: BRAK-Stellungnahme 48/ 2012 = DAV Stellungnahme 80/2010, November 2012. 78 Hierzu: Spronken, EU Policy to Guarantee Procedural Rights in Criminal Proceedings: an Analysis of the First Steps and a Plea for a Holistic Approach, EuCLR 2011, 212. 79 Dazu Esser (Fn. 11), 53; Corell/Sidhu, StV 2012, 246 f.; vgl. auch ErwG Nr. 7 u. 8 der RL 2012/13/EU.
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sammenarbeit zu realisieren sein (vgl. Art. 82 Abs. 3 UAbs. 2 AEUV). Nichts aber ist einer Harmonisierung von Beschuldigtenstandards in der Europäischen Union abträglicher als ein Start mit einem nationalen „Flickenteppich“. Strafverteidigervereinigungen80 und die BRAK81 gehen daher längst eigene Wege, entwickeln selbständig Muster für eine Kodifizierung von Beschuldigtenrechten und werben für deren politische Rezeption (bislang erfolglos). Zeitlich läge die Entscheidung über die Fortsetzung eines Programms zur europaweiten Harmonisierung von Beschuldigtenstandards wohl im Jahr 2014. In diesem Jahr fällt die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union auf Griechenland (1. Halbjahr) und Italien (2. Halbjahr) – zwei Staaten, die derzeit auf europäischer Ebene mit anderen Problemen aufwarten, als mit dem Beschuldigtenschutz. Ein „Athener Programm“ oder ein „Programm von Rom“ zur Harmonisierung der Beschuldigtenrechte ist daher eher unwahrscheinlich. Welchen Weg die Union bei der Harmonisierung der Beschuldigtenrechte einerseits und der Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft andererseits in den nächsten Jahren auch einschlagen wird: Jürgen Wolter wird die Initiativen der Kommission und das anschließende „Ringen um Kompromisse“ im Rat gewiss kritisch begleiten, um am Ende resümieren zu können, ob die Rechte des Beschuldigten nur als programmatisch „wärmender Mantel“ für einen weiteren Ausbau effektiver Instrumente der Strafverfolgung herhalten oder tatsächlich Kernanliegen europäischer Rechtspolitik sind. Grund zur Sorge um einen homogenen Beschuldigtenschutz in den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union besteht für den Jubilar jedenfalls auch über 2013 hinaus.
80 Vgl. zu dieser „Magna Carta der Verfahrensrechte“: www.eu-verfahrensrechte.de; Ahlbrecht/Lagodny, StraFo 2003, 329 ff.; Ahlbrecht, StraFo 2003, 185 ff. 81 Auf dem DAV-Forum zum Thema „Grundrechte in Strafverfahren in Europa“ im September 2006 wurde eine Resolution mit einem Katalog von Verfahrensgrundrechten als Mindeststandards in Strafverfahren verabschiedet.
Das Recht auf Konfrontation eines Auslandsbelastungszeugen Eine europäische Perspektive aus Karlsruhe1 Von Sabine Gless
I. Einleitung Bedeutende Teile des Werkes von Jürgen Wolter beschäftigen sich mit Beweisverboten. Unter anderem diskutierte er die Idee einer europäischen Beweisverwertungsverbotslehre, der zufolge Beweismittel nicht verwertet werden dürfen, wenn sie grundlegende, europäisch verbürgte Individualrechte – etwa die Verteidigungsrechte nach Art. 6 Abs. 3 EMRK – verletzen.2 In jüngerer Zeit hat die europäische Dimension der Diskussion um eine europaweite Verwertbarkeit von Beweismitteln immer mehr an Bedeutung gewonnen.3 Die damit verbundenen Fragen nach der Reichweite, den Implikationen und den Grenzen von Beweisverwertungsverboten sind facettenreicher geworden. Die Notwendigkeit für neue Ansätze ist offensichtlich. Sie müssen dem Anliegen nach einer europäischen Beweisverbotslehre Rechnung tragen. Dabei taucht immer wieder die Frage nach der Rolle der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) auf. Denn nach Ansicht vieler wird dadurch ein Fixpunkt für die strafprozessualen Beweisverfahren der EMRK-Vertragsstaaten geschaffen. Ob dies tatsächlich der Fall ist, lässt sich am besten durch einen Blick in die Praxis der Vertragsstaaten überprüfen. Eine in den letzten Jahren kontrovers diskutierte 1 Zur Perspektive auf die Problematik aus Schweizer Sicht: Gless, in: Cavallo/Hiestand/ Käser/Caspar/Ivic (Hrsg.), Liber amicorum für Andreas Donatsch, Im Einsatz für Wissenschaft, Lehre und Praxis, 2012, S. 303 ff. 2 Wolter, in: von Canaris/Heldrich/Hopt/Roxin/Schmidt/Widmaier (Hrsg.), Festgabe der Wissenschaft zum 50-jährigen Bestehen des Bundesgerichtshofs, Band IV, Straf- und Strafprozeßrecht, 2000, 963, 1000 f. 3 Vgl. dazu: Allegrezza, ZIS 2010, 569; Ambos, Beweisverwertungsverbote, 2010, S. 73 ff.; Belfiore, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice 17 (2009), 1 ff.; Esser, in: Heinrich/Jäger et al. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag, 2011, S. 1497 ff.; Gless, ZStW (115) 2003, 131 ff.; Heger, ZIS 2007, 547 ff.; Schünemann/ Roger, ZIS 2010, 92.
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Frage betrifft die Konsequenzen aus der Verletzung von Verteidigungsrechten in Strafverfahren mit Auslandsbezug.4 Wie kann bzw. wie muss etwa ein ausreichendes Konfrontationsrecht gewährleistet werden, wenn mutmaßlicher Täter und Zeuge nicht im gleichen Staat leben oder Tatort und Wohnort in unterschiedlichen Staaten liegen oder Zeugenbeweise aus anderen Gründen im Ausland erhoben werden müssen? In solchen Konstellationen kommt es immer wieder vor, dass eine ersuchte ausländische Behörde die konfrontative Befragung eines Zeugen verweigert. Hier stellt sich – insbesondere mit Blick auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Europa – eine Grundsatzfrage: Gelten die Justizgrundrechte der EMRK uneingeschränkt und in gleicher Weise in Strafverfahren, die nicht nur in einem EMRKVertragsstaat, sondern arbeitsteilig in mehreren Vertragsstaaten durchgeführt werden? Oder gelten – etwa für das Konfrontationsrecht – andere Maßstäbe, wenn sich ein Gericht, um ein Strafverfahren im eigenen Land führen zu können, der Hilfe anderer (Konventions-)Staaten bedienen muss?
II. Das Konfrontationsrecht 1. Gewährleistung im Allgemeinen Das Recht auf Konfrontation eines Belastungszeugen ist in Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK garantiert.5 Es gibt dem Angeklagten das Recht, Belastungszeugen Fragen zu stellen oder stellen zu lassen sowie die Ladung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie Belastungszeugen zu verlangen.6 Zur Wahrung der Verteidigungsrechte muss dem Angeklagten die Möglichkeit eingeräumt werden, den Zeugen angemessen und ausreichend zu befragen und insbesondere die Glaubhaftigkeit von Aussagen zu prüfen und deren Beweiswert auf die Probe und in Frage zu stellen.7 Die Konfrontation kann entweder in dem Zeitpunkt stattfinden, in welchem die Aussage gemacht wird, oder in einem späteren Verfahrensstadium. Entscheidend ist, dass eine belastende Aussage tatsächlich hinterfragt werden kann.8
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Ambos (Fn. 3), S. 81 ff.; Gless, in: Müller/Sander/Valkova (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Eisenberg, 2009, S. 499 ff.; Norouzi, Die audiovisuelle Vernehmung von Auslandszeugen, 2010, S. 55; Schomburg/Lagodny, NJW 2012, 348 ff. 5 Zur „Waffengleichheit im Zeugenbeweis“: Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, Rn. 363 ff. 6 BGH v. 3. 12. 2004, 2 StR 156/04. 7 LR-Esser, Art. 6 EMRK, Rn. 758 ff. Zu Wurzeln und Entwicklung dieses im Parteiverfahren angelegten Rechts vgl. etwa: Spencer, Hearsay Evidence in Criminal Proceedings, 2008, S. 5 ff. 8 BGH v. 25. 7. 2000, 1 StR 169/00; BGH v. 27. 2. 2004, 2 StR 146/03; BGH v. 3. 12. 2004, 2 StR 156/04; EGMR v. 15. 6. 1992, Lüdi v. Switzerland, Nr. 12433/86, § 47; EGMR v. 26. 4. 1991, Asch v. Austria, Nr. 12398/86, § 27.
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Das Recht auf Konfrontation ist letztlich Ausdruck eines Anspruchs auf rechtliches Gehör zur Herstellung von Waffengleichheit in einem Verfahren, das auf dem europäischen Kontinent durch den Amtsermittlungsgrundsatz geprägt ist: Hat eine angeklagte Person im Verlaufe eines Strafverfahrens nie Gelegenheit, einen Zeugen kontradiktorisch zu befragen oder befragen zu lassen, verletzt dies ihr Recht auf Konfrontation – das geht eindeutig aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hervor.9 Die notwendigen Konsequenzen aus der Verletzung des Konfrontationsrechts hat der EGMR jedoch nicht eindeutig festgelegt; eigentlich noch nicht einmal, dass aus der Feststellung eines Verstoßes gegen das Konventionsrecht Konsequenzen folgen müssen. Vielmehr geht das Straßburger Gericht in ständiger Rechtsprechung grundsätzlich von einer Gesamtwürdigung des Verfahrens aus: Wenn insgesamt ein „fair trial“ gewährleistet sei, liege keine Verletzung der EMRK vor, selbst wenn ein Einzelrecht aus Art. 6 Abs. 3 EMRK nicht uneingeschränkt gewährt werde.10 Darüber hinaus akzeptieren die Straßburger Richter unter bestimmten Voraussetzungen die Heilung einer Rechtsverletzung in einem konkreten Fall durch eine im Einzelfall geeignete Massnahme eines Organs auf nationaler Ebene. Darauf gründet die Rechtsprechung, nach der bei einer Verletzung des Konfrontationsrechts ein Beweisverwertungsverbot oder eine Berücksichtigung auf der Ebene der Beweiswürdigung in Betracht komme.11 2. Allgemeine Einschränkungen Diese Rechtsprechung erscheint unbefriedigend, wenn man von EMRK-Rechten absoluten Schutz erwartet. Doch das Konfrontationsrecht gilt heute weder nach nationaler noch nach europäischer Rechtsprechung uneingeschränkt: Der EGMR lässt ausnahmsweise eine Einschränkung des Konfrontationsrechts zu. In vielen Fällen wendet er das sog. „Drei-Stufen-Modell“ an: Grundsätzlich müssen zwar alle Beweise in Gegenwart der angeklagten Person in einer öffentlichen Verhandlung unter Beachtung eines kontradiktorischen Verfahrens erhoben werden. Es können aber hinreichend plausible und nachvollziehbare Gründe für eine Einschränkung des Konfrontationsrechts vorliegen.12 Auf der ersten Stufe muss deshalb 9 EGMR v. 15. 12. 2011, Al-Khawaja and Tahery v. UK, Nr. 26766/05 und 22228/06, § 118; EGMR v. 15. 6. 1992, Lüdi v. Switzerland, Nr. 12433/86, § 49 f.; EGMR v. 27. 2. 2001, Lucà v. Italy, Nr. 33354/96, § 40. 10 Warnking, Strafprozessuale Beweisverbote in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und ihre Auswirkungen auf das deutsche Recht, 2009, S. 51 f. 11 Vgl. etwa jüngst in EGMR v. 10. 3. 2009, Bykov v. Russia, § 89: „Es ist also nicht Sache des Gerichtshofs, grundsätzlich über die Zulässigkeit bestimmter Beweismittel zu entscheiden, z. B. solcher, die nach staatlichem Recht rechtswidrig erlangt wurden, oder über die Schuld des Bf. Er hat vielmehr zu prüfen, ob das Verfahren insgesamt einschließlich der Beweiserhebung fair war“. S. a. Gaede, Fairness als Teilhabe, 2007, S. 807 ff. 12 EGMR v. 20. 11. 1989, Kostovski v. the Netherlands, Nr. 11454/85, § 41; EGMR v. 7. 9. 1990, Windisch v. Austria, Nr. 12489/86, § 26; EGMR v. 15. 6. 1992, Lüdi v. Switzerland,
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nach solchen Gründen gesucht werden. So darf etwa bei faktischer Unerreichbarkeit eines Zeugen, der bereits einmal ausgesagt hat, das frühere Protokoll verwertet werden.13 Eine Verwertung einer belastenden Aussage ohne Konfrontation ist ferner beim Tod eines Zeugen möglich,14 ebenso wenn er nachträglich unauffindbar oder anderweitig nicht erreichbar ist.15 Hinter dieser Kasuistik steht letztlich der Gedanke, dass das Strafverfolgungsinteresse ausnahmsweise überwiegt und eine Verwertung insbesondere dann tragbar erscheinen kann, wenn die Gründe für die Unmöglichkeit einer konfrontativen Vernehmung nicht in der Verantwortungssphäre der Strafverfolgungsbehörden liegen,16 eben wenn eine Zeugin nach Aussage verschwindet, verstirbt oder ähnliches. Diese Erwägung legt einerseits den Grund für die zweite Stufe: Durch einen bestmöglichen Ausgleich des Verteidigungsmangels, etwa eine Kompensation in einer anderen Verfahrensphase, sollen die Strafverfolgungsbehörden den Mangel wieder wettmachen können.17 Andererseits führt diese Erwägung zu einer gewissen Widersprüchlichkeit, da es für das Ziel des Konfrontationsrechts, eine möglichst zuverlässige Sachverhaltsrekonstruktion zu gewährleisten, unmaßgeblich ist, welche Seite die fehlende Konfrontation zu verschulden hat. Gleichwohl ist die Motivation für eine solche Erwägung einleuchtend: Auf Unmöglichkeit der Konfrontation soll sich (nur) berufen können, wer genügend Sorgfalt beim Versuch, einen Zeugen aufzubieten, angewendet hat.18 Aus Sicht des nationalen Strafprozesses formuliert, bedeutet dies: Die Behörden sollen sich nicht auf eine Einschränkung des Konfrontationsrechts wegen faktischer Unmöglichkeit berufen können, wenn sie den Umstand, Nr. 12433/86, § 47; EGMR v. 3. 4. 1997, Van Mechelen and Others v. the Netherlands, Nr. 21363/93, 21364/93, 21427/93 und 22056/93, § 51; EGMR v. 27. 2. 2001, Lucà v. Italy, Nr. 33354/96, § 39; EGMR v. 28. 6. 2002, Birutis and Others v. Lithuania, Nr. 47698/99 und 48115/99, § 28; EGMR v. 19. 10. 2012, Sievert v. Germany, Nr. 29881/07, § 58; EGMR v. 8. 12. 2012, Pesukic v. Switzerland, Nr. 25088/07, § 46 f.; vgl. Ackermann/Caroni/Vetterli, AJP 2007, 1071 ff., 1073; LR-Esser, Art. 6 EMRK, Rn. 789 ff. 13 EGMR v. 24. 11. 1986, Unterpertinger v. Austria, Nr. 9120/80, § 31; EGMR v. 26. 4. 1991, Asch v. Austria, Nr. 12398/86, § 27; EGMR v. 28. 8. 1992, Artner v. Austria, Nr. 13161/ 87, § 22. 14 EGMR v. 7. 8. 1996, Ferrantelli und Satangelo v. Italy, Nr. 19874/92, § 51 – 53; EGMR v. 15. 12. 2011, Al-Khawaja and Tahery v. UK, Nr. 26766/05 und 22228/06, § 158; Chamber of the European Court of Human Rights, 21. 3. 2002, Calabró v. Italy and Germany, Nr. 59895/ 00, § 1. 15 EGMR v. 28. 8. 1992, Artner v. Austria, Nr. 13161/87, § 21 – 22; EGMR v. 26. 3. 1997, Doorson v. the Netherlands, Nr. 20524/92, § 80; EGMR v. 13. 02. 2004, Rachad v. France, Nr. 71846/01, § 24 f.; EGMR v. 22. 11. 2012, Tseber v. France, Nr. 46203/08, §§ 48 und 52. 16 EGMR vom 7. 8. 1996, Ferrantelli und Satangelo v. Italy, Nr. 19874/92, § 52; Chamber of the European Court of Human Rights, 21. 3. 2002, Calabró v. Italy and Germany, Nr. 59895/ 00, § 1; vgl. dazu aus Sicht des nationalen Strafprozesses: BGH v. 3. 12. 2004, 2 StR 156/04 Erw. II. 1b); BG Zürich v. 26. 11. 2008, DG070656/U = forumpoenale 2010, 35, Erw. 3. 17 EGMR v. 26. 3. 1996, Doorson v. the Netherlands, Nr. 20524/92, § 72 und § 75 f. 18 Chamber of the European Court of Human Rights, 21. 3. 2002, Calabró v. Italy and Germany, Nr. 59895/00, § 1.
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dass eine Beschuldigte ihr Recht auf Konfrontation nicht wahrnehmen kann, selbst zu vertreten haben.19 Schließlich fordert die dritte Stufe, welche die Beweiswürdigung betrifft, dass die Verurteilung nicht ausschließlich bzw. maßgeblich auf den Angaben des nicht-konfrontierten Zeugen basieren dürfe.20 Unauflösbar scheint der Konflikt, wenn ein Beweismittel im Vorverfahren ohne Konfrontation erhoben, in einem späteren Verfahrensstadium nicht mehr konfrontierbar, aber gleichzeitig „einzig und entscheidend“ („sole and decisive“) ist.21 Die deutsche Rechtsprechung betont stets, dass sie sich an der Rechtsprechung des EGMR orientiere.22 Sie lässt im Falle von anonymen Zeugen oder V-Personen empfindliche Beschränkungen des Rechts auf Konfrontation zu, wenn der jeweilige Staat gewichtige öffentliche Interessen oder den anders nicht zu bewerkstelligenden Schutz eines Zeugen vor Repressalien ins Feld führt. Notwendig ist dann jedoch, dass ausreichend ausgleichende Maßnahmen zur Wahrung der Verteidigungsrechte getroffen werden.23 Im Ergebnis läuft die deutsche Rechtsprechung oftmals auf eine Zusammenschau von sich gegenseitig stützenden (nicht-konfrontierten) Beweisen mit Indizien und eine Gesamtwürdigung aller Momente einer Sachverhaltsrekonstruktion hinaus.24 3. Spezielle Einschränkungen in Strafverfahren mit Auslandsbezug Das Recht auf Konfrontation gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK gilt nach dem – insofern nicht eingeschränkten – Wortlaut der EMRK in Strafverfahren mit einem Auslandsbezug genauso wie in den Verfahren, die gänzlich im Inland geführt werden. Jedoch ergeben sich in Fällen mit Auslandsbezug Besonderheiten, etwa weil Zeugen im Ausland befragt werden müssen, wo weder die Regeln des Staates gelten, der an der Aussage interessiert ist, noch seine Möglichkeiten zur Durchsetzung der Aussagepflicht mit Zwang greifen. Unabhängig davon, ob resp. unter welchen Bedingungen gleichwohl eine Zeugenbefragung im Rahmen förmlicher internationaler Rechtshilfe oder in anderer Form im Ausland stattfinden kann, ist in solchen Fällen 19
BVerfG, Beschl. v. 20. 12. 2000, NJW 2001, 2245; BGH v. 3. 12. 2004, 2 StR 156/04. EGMR v. 27. 2. 2001, Lucà v. Italy, Nr. 33354/96, § 40; EGMR v. 15. 12. 2011, AlKhawaja and Tahery v. UK, Nr. 26766/05 und 22228/06, § 119; EGMR v. 17. 4. 2012, Farowicz v. Poland, Nr. 43609/07, § 54; vgl. a. LR-Esser, Art. 6 EMRK, Rn. 799. 21 Vgl. BGH v. 24. 7. 2003, 3 StR 212/02, Erw. B I; BGH v. 29. 11. 2006, 1 StR 493/06, Rn. 18. 22 So etwa: BGH v. 25. 7. 2000, 1 StR 169/00, Erw. II 2; BGH v. 27. 2. 2004, 2 StR 146/03 (e contrario); BGH v. 3. 12. 2004, 2 StR 156/04; BGH v. 29. 11. 2006, 1 StR 493/06, Rn. 19. 23 So allgemein für Fälle der Einschränkung des Konfrontationsrechts: EGMR v. 26. 3. 1996, Doorson v. the Netherlands, Nr. 20524/92, § 70; BGH v. 25. 7. 2000, 1 StR 169/00 Erw. II 1c); BVerfG, Beschl v. 20. 12. 2000, NJW 2001, 2245, Erw. 2a); BGH v. 12. 1. 1996, 5 StR 756/94, Erw. IV 1a); BVerfG, Beschl. v. 19. 7. 1995, 2 BvR 1142/93. 24 BGH v. 3. 12. 2004, 2 StR 156/04. 20
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eine Konfrontation im Sinne eines persönlichen Gegenübers oftmals schwierig zu bewerkstelligen. Die nationalen Rechtsordnungen modifizieren deshalb oft die Vorgaben für Zeugenaussagen aus dem Ausland. Die speziellen Regelungen berücksichtigen, dass ein Auslandszeuge nicht im Rahmen eigener Hoheitsgewalt vorgeladen und vernommen werden kann,25 unter anderem können sie das Recht auf Konfrontation einschränken. Der Gefahr, dass es durch solche Modifikationen zur Erhebung von Beweisen kommt, die letztlich nicht den Anforderungen der EMRK entsprechen,26 lässt sich nach der Straßburger Rechtsprechung tolerieren, indem man sich auf die sog. Gesamtwürdigung zurückzieht: Das Gericht entscheidet, ob „the proceedings as a whole, including the way in which evidence was taken, were fair“.27 Interessant ist, dass das Straßburger Gericht die Verletzung von Konventionsrechten in Zusammenhang mit international-arbeitsteiligen Strafverfahren im allgemeinen eher zurückhaltend beurteilte, außer wenn es um eine Verletzung des Folterverbots ging.28 Während die Rechtsprechung in Folterfällen einen strikten Kurs fährt,29 vermisst man in Fällen möglicher Verletzung des Konfrontationsrechts eine einfach nachvollziehbare Linie:30 Der EGMR führte den Vertragsstaaten in Soering zwar nachdrücklich ihre Verantwortung in der Rechtshilfe (in einem Auslieferungsverfahren mit einem Drittstaat) vor Augen.31 Im Bereich der sonstigen Rechtshilfe toleriert das Straßburger Gericht aber bisher oft Einschränkungen, etwa durch eine Modifikation des Fragerechts, indem die persönliche Konfrontation durch schriftliche Fragen ersetzt und auf die Möglichkeit für Rückfragen verzichtet wird.32 25 Vgl. etwa Art. 69 und Art. 73 IRSG; Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht – Die Grundlagen im Spiegel der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, 2002, S. 647; Gaede (Fn. 11), S. 244 f. und 627. 26 Dazu etwa Currie, 11 CLF, 2000, 143 ff., 167. 27 EGMR v. 26. 3. 1996, Doorson v. the Netherlands, Nr. 20524/92, § 67: „The Court reiterates that the admissibility of evidence is primarily a matter for regulation by national law and as a general rule it is for the national courts to assess the evidence before them. The Court’s task under the Convention is not to give a ruling as to whether statements of witnesses were properly admitted as evidence, but rather to ascertain whether the proceedings as a whole, including the way in which evidence was taken, were fair.“; s. auch § 72; EGMR v. 15. 12. 2011, Al-Khawaja and Tahery v. UK, Nr. 26766/05 und 22228/06, § 143. 28 Vgl. a. Cassani/Gless/Popp/Roth, SZIER 1, 2009, 68. 29 EGMR v. 24. 2. 2009, Ben Khemais v. Italy, Nr. 246/07; vgl. a. Caroni, in: Achermann et al. (Hrsg.), Jahrbuch für Migrationsrecht 2008/2009, S. 243 f. 30 EGMR v. 27. 9. 1990, Windisch v. Austria, Serie A186, § 28; Trechsel/Summers, Human Rights in Criminal Proceedings, 2005, S. 311. 31 EGMR v. 7. 7. 1989, Soering v. UK, Nr. 14038/88; Lillich, AJIL 85 (1991), 128 ff., m. Anm. Lagodny, NJW 1990, 2183 ff. 32 EGMR v. 31. 10. 2001, Solakov v. The Former Yugoslav Republic of Macedonia, Nr. 47023/99, § 62; EGMR v. 11. 9. 2006, Sapunarescu v. Germany, Nr. 22007/03, = HRRS 2006, Nr. 946, Fn. 31.
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Erst in jüngerer Zeit scheint Bewegung in die Rechtsprechung des EGMR zu kommen: So hat das Gericht in Stojkovic einen EMRK-Staat, der um eine Vernehmung im Wege der Rechtshilfe in einem anderen Vertragsstaat ersucht hat, wegen der Verletzung von Verteidigungsrechten verurteilt, da sich der Repräsentant des ersuchenden Staates – obschon anwesend – nicht ausreichend für deren Einhaltung eingesetzt hat.33 Die Begründung dafür lautete, dass die Vertragsstaaten für die Einhaltung der EMRK für alle in ihrer Hoheitsgewalt befindlichen Personen verantwortlich seien, unter besonderen Umständen eben auch wenn sie eine Rechtshilfehandlung in einem anderen Staat veranlassen.34 Stojkovic ist ein viel versprechender Ansatz zu einer bisher wenig befriedigend gelösten Frage.35 Denn der EGMR verbalisiert ein Problem, das sich angesichts des Ausbaus der grenzüberschreitenden Strafverfolgung dringlicher stellt: Wer trägt in concreto die Verantwortung für die Verletzung eines EMRK-Rechtes bei arbeitsteiligem Zusammenwirken? Aus Sicht des Straßburger Gerichts darf die Verantwortung im Bereich grenzüberschreitender Zusammenarbeit jedenfalls nicht durch eine wechselseitige Verantwortungszuweisung verloren gehen. Wenn etwa ein um Rechtshilfe ersuchender Staat den Beistand eines Verteidigers verweigert und damit ein EMRK-Recht verletzt, fällt dem ersuchenden Staat, dessen Repräsentanten vor Ort anwesend waren, eine Verantwortung für die Verletzung des Verteidigungsrechtes zu, aus dem strafprozessuale Konsequenzen folgen, beispielsweise Eingreifen eines Beweisverwertungsverbots.36
III. Konfrontation in der Praxis der Vertragsstaaten Das Recht auf Konfrontation – in seiner Ausgestaltung durch die einschlägige Straßburger Rechtsprechung – wirkt sich auf die Praxis der Zeugenvernehmungen in den Vertragsstaaten je nach Ausgestaltung des nationalen Rechts unterschiedlich aus. Insofern stellen sich in jedem Land jeweils eigene Fragen. Letztlich führen diese aber immer wieder zu den gleichen Grundfragen: Gelten die Justizgrundrechte der EMRK uneingeschränkt und in gleicher Weise in Strafverfahren, die nicht nur in einem, sondern arbeitsteilig in mehreren Vertragsstaaten durchgeführt werden? Oder gelten andere Maßstäbe, wenn ein Gericht, um ein Strafverfahren im eigenen Land führen zu können, sich der Hilfe anderer (Konventions-)Staaten bedient? Diese Fragen sind für das langsam entstehende transnationale Strafverfahrensrecht von großer Bedeutung. Die Gerichte der Vertragsstaaten legen hier durchaus vergleichbare Kriterien zugrunde, auch wenn sie im Einzelfall zu unterschiedlichen 33
EGMR v. 27. 10. 2011, Stojkovic v. France and Belgium, Nr. 25303/08, § 56. EGMR v. 27. 10. 2011, Stojkovic v. France and Belgium, Nr. 25303/08, § 55. 35 Vgl. Esser, NStZ 2007, 103, 108; Gaede (Fn. 11), S. 807 ff. 36 Gless, Beweisrechtsgrundsätze einer grenzüberschreitenden Strafverfolgung, 2007, S. 182 f. 34
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Ergebnissen kommen, wie ein kursorischer Blick auf zwei Strafverfahren im Folgenden zeigt. 1. Entscheidung aus Karlsruhe In Deutschland stellte sich die Frage nach der Verwertbarkeit eines im Ausland niedergelegten Vernehmungsprotokolls in einem Strafverfahren gegen einen Angeklagten, dem ein in der östlichen Türkei begangener Mord vorgeworfen wurde. Ihm wurde zur Last gelegt, zusammen mit seinen Brüdern einen Dorfältesten getötet zu haben, der seinerseits den jüngsten Bruder der Familie getötet haben soll, nachdem dieser sich geweigert hatte, das „örtlich erhobene Hirtengeld“ zu bezahlen. Der Schuldspruch gründete auf von deutschen Behörden festgestellten Indizien (insbesondere getätigten Reisen in Richtung Tatort im Tatzeitraum) sowie auf Zeugenaussagen, welche den deutschen Gerichten im Wege der Rechtshilfe von türkischen Behörden übermittelt worden waren; ein deutscher Richter war während der Vernehmungen anwesend. Die Belastungszeugen aus der Türkei waren weder bereit, vor einem deutschen Gericht auszusagen, noch konnte eine Live-Videovernehmung durchgeführt werden. Im Rahmen der in der Türkei durchgeführten Vernehmungen hatte weder der Angeklagte noch seine Verteidigung Gelegenheit zur Konfrontation der Zeugen, „trotz intensiver entsprechender Bemühungen des LG“.37 Aus Sicht des deutschen Bundesgerichtshofs war eine Verwertung der nicht konfrontierten Aussage unter diesen Umständen zulässig.38 Denn das deutsche Gericht sah die Bemühungen der deutschen Behörden um eine Konfrontation als ausreichend an und stellte im Weiteren nicht auf den Akt der Beweisverwertung, sondern auf die Beweiserhebung ab. Es stellte fest, dass sich Deutschland den Rechtsverstoß der Türkei nicht „zurechnen“ lassen müsse und deshalb die Aussage verwerten dürfe.39 Mit dieser Entscheidung knüpft das Gericht zwar grundsätzlich an bereits existierende Ansätze in der Rechtsprechung an. Diese Trennung der verschiedenen Schritte des Beweisverfahrens ist aber weder zwingend durch die Dogmatik zu den Beweisverwertungsverboten vorgegeben, noch führt sie mit Blick auf die Verantwortlichkeit für Menschenrechtsverletzungen zu einer befriedigenden Lösung. Bekanntlich existieren in Deutschland umfangreiche Lehren zur Frage der Verwertbarkeit von Zeugenaussagen, die unter Einschränkung des Konfrontationsrechts zustande gekommen sind. Unter anderem hat sich – angelehnt an die EGMR-Rechtsprechung40– einerseits eine „Stufentheorie“ entwickelt.41 Dieser Ansatz ermöglicht eine Konfrontation des Belastungszeugen in verschiedenen Stadien des Verfahrens 37
BGH v. 17. 3. 2010, 2 StR 397/09 = NJW 2010, 2224. Ebda. 39 BGH Beschl. v. 17. 3. 2010, 2 StR 397/09 = NJW 2010, 2224, Rn. 21 ff. 40 EGMR v. 17. 11. 2005, Haas v. Germany, Nr. 73047/01 = NJW 2006, 2753. 41 Vgl. etwa BVerfG, Beschl. v. 20. 12. 2000, 2 BvR 591/00 = NJW 2001, 2245; BGH v. 11. 2. 2000, 3 StR 377/99 = NJW 2000, 1661. 38
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und dadurch einen Ausgleich einer vorherigen Verletzung. Andererseits hat in der deutschen Rechtsprechung – ebenso wie in der des EGMR – die sog. Gesamtwürdigung maßgebliche Bedeutung erlangt. Danach soll eben nicht ausschlaggebend sein, ob jeder einzelne Belastungszeuge konfrontiert werden konnte, sondern ob angesichts der gesamten Beweislage insgesamt ein faires Beweisverfahren gewährleistet erscheint.42 Die Rechtsprechung kombiniert die Ansätze im Einzelfall. Bei der Bewertung ist von Bedeutung, ob die fehlende Möglichkeit einer direkten Konfrontation (sei es auch durch Videovernehmung, Anwesenheit zumindest der Verteidigung bei Einvernahmen) der Justiz zuzurechnen ist, oder ob es auf Gründen außerhalb ihres Einfluss- und Zurechnungsbereichs beruht.43 Fraglich ist, ob die Korrekturansätze in der Praxis nicht dazu führen, dass eine fehlende Konfrontation in Strafverfahren mit Auslandsbezug praktisch nie ein Beweisverwertungsverbot auslöst und letztlich keine Verantwortung für ein fehlendes Konfrontationsrecht übernommen würde. Denn in dem um Rechtshilfe ersuchten Staat wirkt sich die fehlende Konfrontation nicht aus, und der um Rechtshilfe ersuchende Staat, der eine Zeugenaussage im Strafverfahren verwertet, muss sich den Verstoß nicht zurechnen lassen. Das illustriert auch die Entscheidung des BGH: Das Karlsruher Gericht rechtfertigt eine Beweisverwertung damit, dass die deutschen Strafverfolgungsbehörden im geschilderten Fall alles unternommen hätten, um eine konfrontative Vernehmung des Belastungszeugen in der Türkei oder zumindest eine kompensierende Maßnahme zu ermöglichen. Die deutsche Justiz sei für die fehlende Konfrontation nicht verantwortlich und müsse sich das konventionswidrige Verhalten der Türkei nicht zurechnen lassen.44 Doch zum einen geht es darum im deutschen Verfahren gar nicht, sondern um die Frage, ob eine nicht konfrontierte Zeugenaussage verwertet werden darf. Zum anderen erscheint es im Lichte der Stojkovic-Rechtsprechung des EGMR an der Zeit, dass nationale Gerichte dazu Stellung nehmen, wie geteilte Verantwortlichkeit wieder auf die einzelnen Vertragsstaaten zurückgeführt werden soll.
2. Entscheidung aus Zürich Die Frage, ob bei fehlender Konfrontation im ersuchten Staat im ersuchenden Staat ein Beweisverwertungsverbot besteht, kann – unter Berufung auf die EMRK – auch anders beurteilt werden. Das zeigt eine Entscheidung des Bezirksgerichts Zürich aus dem Jahr 2008. In dem Strafverfahren waren verschiedene Personen u. a. wegen Menschenhandels angeklagt. Aus verschiedenen Gründen machten die als Opfer identifizierten ungarischen Frauen – bis auf eine Ausnahme – ihre Aussagen in Ungarn, unter Zugrundelegung des ungarischen Opferhilfegesetzes. Entsprechend den Vorgaben des ungarischen Gesetzes wurden weder die in der Schweiz Angeklag42
BVerfG, Beschl. v. 8. 10. 2009, 2 BvR 547/08 = NJW 2010, 925, 926; BGHSt 46, 93, 95. BGHSt 51, 150, 155. 44 BGH v. 17. 3. 2010, 2 StR 397/09 = NJW 2010, 2224, Rn. 18.
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ten noch deren Verteidiger in der Vernehmung zugelassen, wohl aber konnte die zuständige Staatsanwältin aus Zürich anwesend sein. Eine Gelegenheit zur kontradiktorischen Zeugenvernehmung durch die Parteien gewährten die ungarischen Behörden also nicht.45 Wurde hier das Recht der in der Schweiz Angeklagten auf Konfrontation von Belastungszeugen verletzt, wie es in Art. 6 Abs. 3 EMRK gewährleistet wird? Das Bezirksgericht Zürich bejaht dies im Ergebnis und gelangt zu diesem Schluss mit wenigen, aber konsequenten Schritten. Es weist in seiner Entscheidung zunächst auf den Umstand hin, dass Ungarn als EMRK-Vertragsstaat grundsätzlich eine Pflicht trifft, eine konfrontative Befragung zu gewährleisten.46 Dass eine solche Konfrontation faktisch nur in Ungarn möglich gewesen wäre, weil die Zeuginnen – unter Mitwirkung der Zürcher Behörden – vor Abschluss der Ermittlungen nach Ungarn zurückgeführt worden waren, dass die dortige Vernehmung dann nach ungarischem Recht ohne Konfrontation durchgeführt wurde, kommentieren die Richter nicht.47 Vielmehr hält das Gericht mit wenigen, klaren Worten fest: Unabhängig von einer allfälligen Einschränkung des Konfrontationsrechts durch nationales Recht am Vernehmungsort ist jedes Gericht, das sich solcher Beweismittel bedient, jedenfalls für die Verwertung der Beweise selbst – nach den Maßstäben des eigenen Rechts – verantwortlich.48 Deshalb sah es eine Verwertung eines Vernehmungsprotokolls, das unter Verletzung des Konfrontationsrechts zustande gekommen war, nach dem – damals noch geltenden – Zürcher Strafprozessrecht als unzulässig an.49 3. Zwischenergebnis Der wichtige Unterschied zwischen der Entscheidung aus Karlsruhe und der Entscheidung aus Zürich ist die Perspektive und die Konsequenzen, die aus der Bestimmung der menschenrechtlich maßgeblichen Handlung gezogen werden: Während das Schweizer Gericht bei der – den eigenen Hoheitsträgern klar zurechenbaren – Beweisverwertung ansetzt und zu dem Ergebnis kommt, dass diese gegen eine Konventionspflicht verstoßen, wenn sie konventionswidrig erlangte Beweise verwerten, isoliert das deutsche Gericht die Konventionsverletzung und lässt eine mögliche Konsequenz auf der Beweiswürdigungsebene in der Gesamtwürdigung letztlich verpuffen.
45 Vgl. den Sachverhalt, Bezirksgericht Zürich v. 26. 11. 2008, 9. Abteilung, DG070656/U; teilweise abgedruckt in: forumpoenale 2010, 35. 46 BG Zürich v. 26. 11. 2008, DG070656/U, Erw. 1.4. 47 Vgl. BG Zürich v. 26. 11. 2008, DG070656/U; teilweise abgedruckt in: forumpoenale 2010, 35, Erw. 1.4. 48 BG Zürich v. 26. 11. 2008, DG070656/U, Erw. 1.4. 49 BG Zürich v. 26. 11. 2008, DG070656/U; teilweise abgedruckt in: forumpoenale 2010, 35, Erw. 1.4.
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Diese Diskrepanz rührt aus der unterschiedlichen Herangehensweise und wird möglich durch die Toleranz der EMRK gegenüber verschiedenen nationalen Lösungen.50 Der Umstand, dass die unterschiedlichen Lösungsansätze im transnationalen Rahmen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zu divergierenden Ergebnissen führen, ohne dass es dafür sachlich naheliegende Gründe gibt, wird bisher kaum diskutiert.
IV. Eine gesamteuropäische Perspektive Die EMRK bindet alle Vertragsstaaten. Der Umstand, dass Staaten grenzüberschreitend zusammenarbeiten, entpflichtet sie nicht von ihren menschenrechtlichen Obliegenheiten.51 Deshalb stellt sich aus einer übergeordneten europäischen Perspektive die Frage, ob in Strafverfahren, die europäisch-arbeitsteilig bewerkstelligt werden, überhaupt besondere Regeln, respektive spezielle Einschränkungen gelten können: Darf in Strafverfahren, die nicht ausschließlich auf dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates durchgeführt werden, das Recht auf Konfrontation eines Belastungszeugen nach Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK versagt werden, weil es aufgrund der internationalen Arbeitsteiligkeit nicht gewährleistet werden kann? Oder verbietet die gesamteuropäische Rechtsverbindlichkeit eine Differenzierung bzw. ist eine gesamteuropäische Beweisverbotslehre geboten, wie etwa von Jürgen Wolter gefordert?52 In concreto stellt sich die Frage: Wann darf ein EMRK-Vertragsstaat einen im Rechtshilfeweg erlangten nicht-kontradiktorisch erhobenen Beweis verwerten?53 1. EMRK-Garantien und international-arbeitsteilige Strafverfahren Die Pflichten der EMRK-Vertragsstaaten werden traditionell als Pflichten auf ihrem Staatsgebiet respektive als Pflichten bei der Ausübung ihrer Hoheitsgewalt definiert.54 Die Konvention bindet ihre Vertragsparteien aber auch in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit.55 Ansonsten bestünde die Gefahr, dass sich Vertragsstaaten etwa durch Begründung von neuen Kooperationsformen ihrer menschen50 Vgl. etwa jüngst in EGMR v. 10. 3. 2009, Bykov v. Russia, Nr. 4378/02, Rn. 89: „Es ist also nicht Sache des Gerichtshofs, grundsätzlich über die Zulässigkeit bestimmter Beweismittel zu entscheiden, z. B. solcher, die nach staatlichem Recht rechtswidrig erlangt wurden, oder über die Schuld des Bf. Er hat vielmehr zu prüfen, ob das Verfahren insgesamt einschließlich der Beweiserhebung fair war.“ Vgl. a. Gaede (Fn. 11), S. 292, 807 ff. 51 Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2011, Art. 2, Rn. 3; Peters, Archiv des Völkerrechts 48 (2010), 1, 2; Popp, Grundzüge der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen, 2011, § 13, Rn. 341 ff. 52 S. o. Fn. 1. 53 Vgl. etwa Art. 69 und Art. 73 IRSG; Esser (Fn. 25), S. 647; Gaede (Fn. 11), S. 244 und 627. 54 Art. 1 EMRK; EGMR v. 8. 4. 2004, Assanidze v. Georgia, Nr. 71503/01, § 137 – 139; Peters, Archiv des Völkerrechts 48 (2010), 1, 4. 55 Meyer (Fn. 51), Art. 2, Rn. 3; Peters (Fn. 51), 1, 2; Popp (Fn. 51), § 13, Rn. 341 ff.
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rechtlichen Verpflichtungen bei der Strafverfolgung entledigten.56 Lediglich bei klar extraterritorialen Handlungen endet der Schutz der EMRK,57 ebenso bei Handlungen, die allein supranationalen Organen zuzurechnen sind, wenn diese nicht Vertragspartei der EMRK sind.58 Einschränkungen der Geltung der EMRK können sich ferner ergeben, wenn Vertragsstaaten neue völkerrechtliche Verbindungen eingehen, die einen eigenen Grund- und Menschenrechtsschutz etablieren, wie etwa im Falle der Europäischen Union (EU).59 Bereits nach bisheriger Ansicht folgt daraus für die grenzüberschreitende Strafverfolgung: Solange eine Maßnahme internationaler Strafverfolgung einem Vertragsstaat zugerechnet werden kann, gilt grundsätzlich die EMRK.60 Maßgeblich ist, ob sich eine Person in seiner Hoheitsgewalt befindet.61 Auch wenn mehrere Vertragsstaaten gemeinsam Hoheitsgewalt ausüben, gilt die EMRK. Denn die Einzelstaaten können sich nicht durch Zusammenschluss ihren vertraglichen Verpflichtungen entziehen.62 Fraglich ist gerade für Fälle international arbeitsteiliger Strafverfolgung, ob bzw. inwieweit extraterritoriales Handeln oder das Zusammenwirken mit anderen souveränen Staaten eine Einschränkung gewisser Pflichten zur Folge haben kann.63 Die Rechtsprechung hat die Frage bisher nur kasuistisch behandelt. Sie hat aber absolute Grenzen gezogen: So ist eine Auslieferung in Fällen verboten, in denen ernsthafte Gründe dafür sprechen, dass eine ausgelieferte Person im ersuchenden Staat an Leib und Leben gefährdet ist (non-refoulement Grundsatz).64 1989 hat der EGMR 56 EGMR v. 30. 6. 2005, Bosphorus Hava Yollari Turizm ve Ticaret Anonim Sirketi/Irland, Nr. 45036/98 = NJW 2006, 197; Krieger, ZaöRV 2002, 669 ff. 57 EGMR v. 12. 12. 2001, Bankovic´ and Others v. Belgium and Others, Reports 2001-XII, § 80 ff. (abgedruckt in EuGRZ 2002, 133 – 142); Krieger, ZaöRV 2002, 670 ff.; Peters (Fn. 51), 1, 10 f. 58 Etwa EU-Agenturen; vgl. dazu Gless/Zeitler, European Law Journal 2001, 227 f.; Trechsel/Summers (Fn. 30), S. 386. 59 EGMR v. 30. 6. 2005, Bosphorus v. Ireland, NJW 2006, 197; dazu Gless/Schaffner, in: Braum/Weyembergh (Hrsg.), Le contrôle juridictionnel dans l’espace pénal européen, The judicial control in EU cooperation in criminal matters, 2009, 188 ff. 60 Lillich, AJIL 85 (1991), 128, 142. 61 Vgl. aus der jüngeren Rechtsprechung EGMR v. 27. 10. 2011, Stojkovic v. France and Belgium, Nr. 25303/08, § 55; EGMR v. 25. 09. 2012, El Haski v. France, Nr. 649/08, § 89. 62 EGMR Rep. 1999-I, 251, §§ 32 – 34 Matthews; Krieger, ZaöRV 2002, 683. 63 Vgl. dazu etwa: Cassani/Gless/Popp/Roth (Fn. 28), 68; Krieger, ZaöRV 2002, 669 ff.; Peters (Fn. 51), 1, 7 ff. 64 Ausführlich dazu: EGMR v. 7. 7. 1989, Soering v. UK, Nr. 14038/88, sowie die nachfolgende Rechtsprechung: EGMR v. 23. 2. 2012, Hirsi Jamaa and Others v. Italy, Nr. 27765/09, § 114; EGMR v. 7. 2. 2012, Al Husin v. Bosnia and Herzegovina, Nr. 3727/08, § 49; EGMR v. 28. 2. 2008, Saadi v. Italy, Nr. 37201/06, § 125; vgl. dazu ferner: Grabenwarter/Pabel (Fn. 5), § 20, Rn. 40 ff.; Wehrenberg/Bernhard, Auslieferung trotz kritischer Menschenrechtslage – Einhaltung von Menschenrechten durch diplomatische Garantien?, Jusletter vom 21. 4. 2008, N 7 und 33. Allerdings erlaubt Art. 80p IRSG die Möglichkeit der Gewährung von Rechtshilfe
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in Soering, dem „leading case“, erstmals klar die menschenrechtlichen Verpflichtungen der Vertragsstaaten in Zusammenhang mit Rechtshilfe ausgelegt. Das Straßburger Gericht hielt u. a. fest, dass eine EMRK-Partei ihre Pflichten verletzt, wenn sie eine Person einem Staat übergibt, in dem das Risiko eines „flagrant denial of a fair trial“ droht.65 Obwohl der EGMR in den folgenden Jahren oft an Soering anknüpfte, beschränkte sich die Rechtsprechung regelmäßig auf die Überstellung von Menschen an Drittstaaten und lieferte bis vor kurzem kaum Präjudizien für die Rechtshilfe unter EMRK-Vertragsstaaten.66 In einer Zusammenschau der jüngeren Entscheidung in Stojkovic67 mit Soering lassen sich jedoch bestimmte Eckwerte ableiten: Das Gericht hat einerseits den Begriff des „flagrant denial of justice“ näher spezifiziert und unter anderem erläutert, dass es sich hierbei um Verfahren handle, welche die in Art. 6 EMRK genannten Garantien in grundsätzlicher Weise verletzen.68 Das sei namentlich dann der Fall, wenn in einem Strafverfahren die Verteidigungsrechte gänzlich missachtet würden,69 aber auch bereits dann, wenn vorsätzlich und systematisch der Zugang zur Verteidigung – insbesondere einem ausländischen Angeklagten – verweigert werde.70 In Stojkovic hat das Straßburger Gericht festgehalten, dass auch für die sonstige Rechtshilfe gilt: Der Verantwortung für die Einhaltung bestimmter EMRK-Standards können sich die Vertragsstaaten nicht dadurch entziehen, dass sie sich wechselseitig die Verantwortung zuweisen.71 Diese Grundsatzentscheidungen geben mit weiteren Entscheiden ein Raster: Jenseits der absoluten Grenze, etwa von Folterbeweisen aus dem Ausland,72 können auch andere Verstöße gegen das Gebot des fair trial, etwa ein Verstoß gegen Rechte, welche die Selbstbelastungsfreiheit aus Sicht des Verwertungsstaates absichern sollen, zu einem zurechenbaren Verstoß gegen Art. 6 EMRK führen.73 Die schmerzliche unter Auflagen im Einzelfall, dazu Gless, in: Burgstaller/Nowak (Hrsg.), Aut dedere aut iudicare, Fragen der internationalen Zusammenarbeit in Auslieferungsverfahren, 2010, S. 39 ff. 65 EGMR v. 7. 7. 1989, Soering v. UK, Nr. 14038/88, § 113. 66 Siehe kürzlich EGMR v. 27. 10. 2011, Ahorugeze v. Sweden, Nr. 37075/09; EGMR v. 17. 1. 2012, Othman (Abu Qatada) v. UK, Nr. 8139/09, § 258. 67 EGMR v. 27. 10. 2011, Stojkovic v. France et Belgium, Nr. 25303/08. 68 EGMR v. 17. 1. 2012, Othman (Abu Qatada) v. UK, Nr. 8139/09, § 259; EGMR v. 1. 3. 2006, Sejdovic v. Italy, Nr. 56581/00, § 84; EGMR v. 24. 3. 2005, Stoichkov v. Bulgaria, Nr. 9808/02, § 56; EGMR v. 26. 6. 1992, Drozd and Janousek v. France and Spain, Nr. 12747/ 87, § 110. 69 EGMR v. 8. 11. 2005, Bader and Kanbor v. Sweden, Nr. 13284/04, § 47. 70 EGMR v. 20. 2. 2007, Al-Moayad v. Germany, Nr. 35865/03, § 101. 71 EGMR v. 27. 10. 2011, Stojkovic v. France et Belgium, Nr. 25303/08, § 56. 72 BGH v. 14. 9. 2010, 3 StR 573/09= NJW 2011, 1523. Der EGMR hat auch wiederholt die Unverwertbarkeit von Folterbeweisen festgestellt: EGMR v. 7. 7. 2011, Shishkin v. Russia, Nr. 18280/04, § 149 – 151; EGMR v. 1. 6. 2010, Gäfgen v. Germany, Nr. 22978/05, § 166; EGMR v. 28. 6. 2007, Harutyunyan v. Armenia, Nr. 36549/03, § 63, diese Entscheide haben allerdings keinen Auslandbezug. 73 EGMR v. 27. 10. 2011, Stojkovic v. France et Belgium, Nr. 25303/08, § 55 f. Vgl. aber die Einschränkungen in nationalen Strafrechtsfällen: EGMR vom 10. 3. 2009, Bykov v. Rus-
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Konsequenz des Beweisverbots wird man in der Praxis aber wohl kaum ziehen, solange der Ausweg über die Gesamtwürdigung des Verfahrens offen steht.74 2. EMRK-Garantien und internationale Beweisrechtshilfe Angesichts der immer engeren Kooperation der Strafverfolgungsbehörden in Europa stellt sich eine Grundsatzfrage: Welche Pflichten folgen für die Vertragsstaaten aus dem Beitritt zur EMRK für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Bereich der Strafverfolgung? Inwiefern sind sie zu einer menschenrechtswahrenden oder gar menschenrechtsschützenden Organisation der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit verpflichtet? Dieser Frage kann man sich auf zwei Ebenen nähern: Entweder kann man (a) mit Blick auf die Strukturen internationaler Beweisrechtshilfe verlangen, dass die EMRK-Vertragsstaaten Rechtshilfe menschenrechtskonform organisieren müssen. Für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Bereich der Strafverfolgung müsste dann ein kohärentes System von Schutzpflichten etabliert werden, welches in einem international-arbeitsteiligen Strafverfahren den Menschenrechtsschutz der EMRK gewährleistet.75 Konkret würde das etwa bedeuten, dass durch ein rechtshilferechtliches Instrumentarium sichergestellt wird, dass in allen Fällen, in denen ein EMRK-Staat einen anderen Staat um eine Zeugeneinvernahme bittet und darlegt, dass eine Konfrontation außerhalb dieser Vernehmung nicht gewährleistet werden kann, diese EMRK-konform gewährt wird. Oder man kann (b) auf der Ebene der Beweisverwertung im konkreten Strafverfahren ansetzen und mit Verwertungsverboten arbeiten, indem man eine strikte Pflicht für jeden EMRK-Vertragsstaat formuliert, einen Zeugenbeweis nicht zu verwerten, wenn der Beweis nicht in irgendeiner Phase des Verfahrens konfrontiert wurde. Jeder Staat ist für die Beweisführung seiner Gerichte menschenrechtlich verantwortlich. Wenn ein Gericht eine nicht konfrontierte belastende Zeugenaussage verwertet, gelten grundsätzlich die gleichen Vorgaben wie sie auch im nationalen Strafverfahren gelten. Dass die faktischen Bedingungen in einem Verfahren, in dem die Zeugen im Ausland leben, anders sind als in einem rein innerstaatlich geführten Strafverfahren, lässt sich jedoch nicht leugnen. Deshalb ist auch allgemein akzeptiert, dass es eine Modifikation des allgemeinen Konfrontationsrechts in Strafverfahren mit Auslandsbezug geben kann.
sia, Nr. 4378/02, §§ 102 – 105; EGMR v. 1. 3. 2007, Heglas v. the Czech Republic, Nr. 5935/ 02, § 87. 74 Vgl. dazu einerseits: Bezirksgericht Zürich, forumpoenale 2010, 35 m. Anm. Zurkinden, andererseits: (deutscher) BGH NJW 2000, 1661 sowie BGHSt 46, 93; 51, 50; (deutsches) BVerfG NJW 2001, 2245. 75 Trechsel/Summers (Fn. 30), S. 386; van den Wyngaert, 39 ICLQ (1990), 757 ff.
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Wichtig ist, dass Angeklagte eine Möglichkeit haben, Belastungszeugen zu konfrontieren, die dem in der EMRK verbürgten Recht entspricht. Denn auch in international arbeitsteiligen Verfahren gilt, dass das in Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK für den Beschuldigten verbürgte Recht, „Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen“, gewährleistet sein muss, also eine Konfrontation zu einem Zeitpunkt,76 zu dem der Angeklagte (bereits) voll über die gegen ihn vorgebrachten Vorwürfe informiert ist.77 Wenn dies, wie in den geschilderten Fällen, nicht möglich ist, erscheint eine striktere Lösung als der allgemeine Rückgriff auf die Gesamtwürdigung der Verfahrensfairness78 notwendig. Denn gerade weil Straßburger Richter die konkrete Sanktionierung grundsätzlich dem nationalen System überlassen,79 kommt es dort zu unterschiedlichen Antworten. In der internationalen Beweisrechtshilfe, die den Radius möglicher Ermittlungsmaßnahmen für die Strafverfolgungsbehörden ja erweitert, muss die EMRK als grund- und menschenrechtliche Verklammerung dienen, damit der Erweiterung des Vollstreckungsraumes ein adäquates Konzept zur Wahrung der grundlegenden Verfahrens- und Verteidigungsrechte der grenzüberschreitend verfolgten Person gegenüber steht. Damit eine Beweisführung, deren Elemente aus unterschiedlichen Rechtsordnungen stammen, ein einheitliches Ganzes bilden kann, braucht es ein Verbindungsstück. Das Verbindungsstück, welches ein europäisch-arbeitsteiliges Strafverfahren zusammenfügen könnte, ist keine Gesamtwürdigungslösung, welche die Konturen förmlicher Garantien verwischt, sondern eine Gesamtbetrachtung entsprechend den klaren Vorgaben der EMRK: Ein international aufgeteiltes Strafverfahren muss, jedenfalls soweit die arbeitsteilige Vorgehensweise ausschließlich Vertragsstaaten der EMRK umfasst, im Gesamten betrachtet uneingeschränkt konventionskonform sein. Es darf keine Schlupflöcher für konventionswidriges Verhalten lassen.80
76 EGMR v. 24. 11. 1986, Unterpertinger v. Austria, Nr. 9120/80, § 31; EGMR v. 23. 4. 1997, VanMechelen and Others v. the Netherlands, Nr. 21363/93, 21364/93, 21427/93 und 22056/93, § 51; EGMR v. 10. 11. 2005, Bocos-Cuesta v. the Netherlands, Nr. 54789/00, § 68; Esser (Fn. 25), S. 642. 77 EGMR v. 7. 7. 1989, Bricmont v. Belgium, Nr. 10857/84, § 79; Wohlers, ZStrR 123 (2005), 166. 78 Warnking (Fn. 10), S. 51 f. 79 Vgl. etwa jüngst in EGMR v. 10. 3. 2009, Bykov v. Russia, Nr. 4378/02, § 89. 80 Peters (Fn. 51), 1, 2.
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V. Ergebnis Die EMRK garantiert das Konfrontationsrecht um sicherzustellen, dass eine Zeugenaussage nur dann zum Beweismittel im Strafprozess wird, wenn der Angeklagte und seine Verteidigung Gelegenheit hatten, es zu hinterfragen.81 Kontradiktorische Beweiserhebung und spätere Beweisverwertung sind damit untrennbar verbunden. Die förmlichen Garantien der EMRK müssen letztlich diesen Konnex schützen, um effizient zu wirken. Das Straßburger Gericht hat mit dem Ansatz der Gesamtwürdigung einen pragmatischen Umgang mit Konventionsvorgaben in den unterschiedlichen strafprozessualen Beweisverfahren der Vertragsstaaten ermöglicht. Das hat den Vorteil, dass eine flexible, oftmals einfacher zu akzeptierende, in gewisser Weise also weiche Rezeption der EMRK-Rechte in den nationalen Rechtsordnungen möglich ist.82 Jedoch muss die Gesamtwürdigung Grenzen haben. Jürgen Wolter siedelte diese erst dort an, wo ein Staat Verteidigungsrechte bewusst umgeht.83 Die Beschränkung auf eine solche Missbrauchsgrenze erscheint aber angesichts der immer engeren Zusammenarbeit der europäischen Staaten zweifelhaft. Sachgerecht erschiene es vielmehr, jeden Staat darauf zu verhaften, dass eine Verletzung von Konventionsrechten im Moment der Beweisverwertung vermieden werden muss. Dass dies möglich ist, zeigt die Entscheidung des Bezirksgerichts Zürich: Jeder Staat ist für die Beweisführung seiner Gerichte menschenrechtlich verantwortlich. Die EMRK-Staaten können sich auch in international-arbeitsteilig geführten Strafverfahren nicht ihren menschenrechtlichen Verpflichtungen entziehen, sondern müssen allfällige Rechtsverletzungen kompensieren: Entweder treffen sie gewisse institutionelle Schutzvorkehrungen in der grenzüberschreitenden Strafverfolgung oder sie übernehmen Verantwortung im konkreten Verfahren, etwa durch Beweisverbote.
81 Zur Fehleranfälligkeit von (nicht konfrontierten) Zeugenaussagen vgl. etwa Schleiminger, Konfrontation im Strafprozess, Art. 6, Ziff. 3, lit. d EMRK mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zum Opferschutz im Bereich von Sexualdelikten gegen Minderjährige, Grundlegendes Recht, Band 2, 2001, S. 256 ff. 82 Ausf. dazu: Gless, StV 2010, 400 ff. 83 S. Nachw. in Fn. 1.
Die Strafbarkeit juristischer Personen in Spanien bei Begehung von Übertretungen, erläutert an einem Fallbeispiel1 Von Silvia Martínez Cantón Diesen Beitrag möchte ich mit all’ meiner Bewunderung meinem deutschen Dozenten Professor Wolter widmen, der wie ein zweiter Doktorvater für mich war und mir mit seiner enormen Hingabe an seine Lehrtätigkeit, seinem menschlichen Engagement und seiner akademischen Großzügigkeit während meiner wissenschaftlichen Ausbildung den Weg geebnet hat. Die Bestrafung juristischer Personen2 reicht bis ins Jahr 1909 zurück und wurde in den Ländern mit angelsächsischem Rechtssystem früher eingeführt als in denen mit 1 Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen des zum Teil durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung geförderten Forschungsprojekts SEJ2007 – 60312 DER 2010 – 16558 des spanischen Ministeriums für Wissenschaft und Innovation, des heutigen Ministeriums für Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit (Ministerio de Ciencia e Innovación bzw. Ministerio de Economía y Competitividad) unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. Miguel Díaz y García Conlledo, dessen Forschungsteam ich angehöre. 2 Die Literatur zum Thema ist derartig umfangreich, dass es im Rahmen dieses Artikels unmöglich ist, sie komplett zu berücksichtigen. Beim Zitieren habe ich mich daher auf thematisch besonders relevante Werke bzw. solche neueren Datums beschränkt, die ich als die wesentlichen Monografien zu diesem Thema im spanischen Recht betrachte: Bacigalupo Saguesse, La responsabilidad penal de las personas jurídicas, 1998; Gómez Jara, La culpabilidad en el derecho penal de la empresa, 2005; Gómez Tomillo, Introducción a la responsabilidad penal de las personas jurídicas en el sistema español, 2010; Nieto Martín, La responsabilidad penal de las personas jurídicas. Un modelo legislativo, 2008; Zugaldía Espinar, La responsabilidad penal de empresas fundaciones y asociaciones, 2008; Zuñiga Rodríguez, Bases Para un Modelo de Imputación de Responsabilidad Penal a las Personas Jurídicas, 3. Aufl. 2009; Dopico Gómez-Aller, Responsabilidad penal de las personas jurídicas, in: Memento Experto Reforma Penal 2010; (coord.): La responsabilidad penal de las personas jurídicas en el proyecto de reforma de 2009. Una reflexión colectiva, 2012. Die folgenden Werke wurden ebenfalls nachgeschlagen: Arroyo Zapatero, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der juristischen Personen in Spanien, in: Festschrift für Imme Roxin, 2012, 711 – 717; Barbero Santos, ¿Responsabilidad penal de las personas jurídicas?, Revista de Derecho Mercantil, Nr. 64, 1957, 1304 ff.; Bacigalupo Saggese, La crisis de la filosofía del sujeto individual y el problema del sujeto del derecho penal, Cuadernos de Política Criminal, 67, 1999, 11 – 36; Bilbao Llorente/Algorta Borda, La atribución de responsabilidad penal de las personas jurídicas y su exención: instrumentos de prevención en el seno corporativo, La Ley Penal, Nr. 87, 2011; Carbonell Mateu/Morales Prats, Responsabilidad penal de las personas jurídicas, in: Álvarez García/González Cussac, Comentarios a la reforma penal de 2010, 2010, 55 – 84; Carretero Sánchez, Aspectos sustantivos y procesales de la responsabilidad
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kodifiziertem Recht3; in Europa geht ihre Einführung auf den Anstoß zu einer entsprechenden Änderung seitens des Europarats zurück, wobei allerdings die einzelnen Länder besagte Gesetzesänderung mit speziellen Eigenheiten entsprechend ihres jeweiligen Verständnisses einer solchen Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortlichkeit umgesetzt haben.4 Deutschland hat sich geweigert, eine derartige Regelung einpenal de las personas jurídicas, Diario La Ley Nr. 7786, 30. Januar 2012; De la Cuesta Arzamendi, Una „nueva“ línea de intervención penal: el Derecho Penal de las personas jurídicas, in: A. Messuti/J. A. Sanpedro Arrubla (Comps.), La Administración de Justicia en los albores del tercer milenio, 2001, 65 – 80; Personas jurídicas, consecuencias accesorias y responsabilidad penal, in: Arroyo Zapatero/Berdugo Gómez de la Torre (Dirs.), Homenaje al Dr. Marino Barbero Santos, In Memoriam, vol. I, 2001, 967 – 991; Díez Ripollés, La responsabilidad penal de las personas jurídicas. Regulación Española, InDret 1/2012, 1 – 32; Dopico Gómez-Aller, Responsabilidad penal de las personas jurídicas, in: Memento Experto Reforma Penal 2010, 2010, 11 – 39; Gómez-Tomillo, Imputación objetiva y Culpabilidad en el Derecho Penal de las personas jurídicas. Especial referencia al sistema español, Revista Jurídica de Castilla y León 25 (2011), 43 – 84; Manzanares Samaniego, Las penas de las personas jurídicas, Diario La Ley, Nr. 7920, 11. September 2012; Martínez Pardo, La responsabilidad penal de las personas jurídicas, Revista Internauta de Práctica Jurídica 26 (2011), 61 – 78; Molina Mansilla/Molina Masilla, La responsabilidad criminal de las personas jurídicas: su status procesal. Especial consideración a las medidas cautelares, La Ley Penal, Nr. 96 – 97, September-Oktober 2012; Morillas Cuevas, La cuestión de la responsabilidad penal de las personas jurídicas, Anales de Derecho Penal, 2011, 1 – 33; Nieto Martín, La responsabilidad penal de las personas jurídicas tras la LO 5/2010, Revista Xurídica Galega (Rexurga) Nr. 63 (2010), 47 – 70; Pedraz Penalva/Pérez Gil/Cabezudo Rodríguez, Aspectos procesales de la reforma del Código penal en materia de responsabilidad de las personas jurídicas, in: Álvarez García/González Cussac (Dirs.)/Manjón-Cabeza Olmeda/Ventura Püschell (Coord.), Consideraciones a propósito del Proyecto de Ley de 2009 de modificación del Código penal (Conclusiones del Seminario interuniversitario sobre la reforma del Código penal celebrado en la Universidad Carlos III de Madrid, 2010, 19 – 30; Pérez Gil, Cauces para la declaración de responsabilidad penal de las personas jurídicas, in: Álvarez García/Gonzaléz Cussac, Comentarios a la reforma penal de 2010, 2010, 583 – 590; Portal Manrubia, El enjuiciamiento penal de la persona jurídica, Diario La Ley, Nr. 7769, 4. Januar 2012; Robles Planas, Strafe und juristische Person. Eine Kritik des Art. 31bis des spanischen Strafgesetzbuches, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 7/2012, 347 – 360; Tiedemann, Die „Bebußung“ von Unternehmen nach dem 2. Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, NJW 1988, 1169 ff.; Velasco Núñez, Responsabilidad penal de las personas jurídicas: aspectos sustantivos y procesales, Diario La Ley Nr. 7883, 19. Juni 2012; Zugaldía Espinar, Las penas previstas en el art. 129 del Código penal para las personas jurídicas (Consideraciones teóricas y consecuencias prácticas), Poder Judicial, 46, 1997, 329 ff.; Societas delinquere potest (Análisis de la reforma operada en el Código penal español por la LO 5/2010, de 22 de junio), La ley penal: revista de derecho penal, procesal y penitenciario Nr. 76 (2010) 1 ff. 3 In diesen Ländern, in denen das Common Law und das Präzedenzfallsystem gilt, findet es in den USA im Fall New York Central & Hudson River R.R. Co. versus United States, 212 U.S. 481 (1909) zum ersten Mal Beachtung; in England im Fall Tesco Supermarkets Ltd. versus Natrass, (1972); in Kanada im Fall Canadian Dredge & Dock Co. Ltd. versus The Queen (1985). 4 In den Niederlanden war sie laut § 51 des niederländischen Wetboek van Strafrecht bereits seit 1976 vorgesehen; späteren Datums sind Artikel 121 – 2 des französischen Strafgesetzbuchs, eingeführt 1994, sowie Kapitel 9 des finnischen Strafgesetzbuchs von 1995; in Dänemark findet sich das Butler-Gesetz von 1926 und die Reform des Strafgesetzbuchs von
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zuführen und sich darauf beschränkt, die unternehmerische Verantwortlichkeit im Bereich administrativer Rechtsverletzungen beizubehalten. Italien ist durch die Bestimmungen des Artikels 27 seiner Verfassung eingeschränkt, der eine persönliche strafrechtliche Verantwortlichkeit vorsieht; man diskutiert verschiedene restriktive Auslegungen desselben, davon ausgehend, dass in jedem Fall die Geldstrafen langfristig auf die von den Beschuldigten vertretenen Körperschaften übertragen werden (Art. 197 des italienischen Strafgesetzbuchs) und Maßnahmen zur Beschlagnahmung des Vermögens einführt werden, wobei letztere bloß zivilrechtliche Maßnahmen sind. In Spanien wurde nach einer sechsmonatigen Legisvakanz mit Gültigkeit ab dem 23. 12. 2010 eine Reform des Strafgesetzbuchs umgesetzt, und zwar mittels Organgesetz 5/2010, das neben weiteren Änderungen die strafrechtliche Verantwortlichkeit juristischer Personen vorsieht5 und seinerseits erst kürzlich durch Organgesetz 7/2012 vom 27. 12. 2012 abgewandelt wurde, das am 17. 1. 2013 in Kraft getreten ist. Dieser gesetzliche Rahmen wird ergänzt durch das neue Gesetz 37/2011 über Maßnahmen zur Prozessbeschleunigung (Ley 37/2011 de Medidas de Agilización Procesal) vom 11. 10. 2011, gültig seit dem 1. 11. 2011, das eine grundlegende Verfahrensordnung für Strafverfahren gegen juristische Personen schafft. Obwohl seit diesen Änderungen mehr als ein Jahr vergangen ist, muss man doch unterstreichen, dass wenig Zeit vergangen ist, seitdem das mit dem lateinischen Aphorismus societas delinquere non potest beschriebene Prinzip aufgegeben wurde und die Rechtsanwender bisher kaum Zeit hatten, um von den Neuerungen Gebrauch zu machen, da diese eine bisher nicht existente Verantwortlichkeit beschreiben, die aufgrund des in Art. 25 der spanischen Verfassung verankerten Prinzips der Nichtrückwirkung im 2002, die einen gemeinsamen Standard für alle Arten von Straftaten etabliert, in Ungarn das Gesetz 104/2001 über strafrechtliche Maßnahmen gegen juristische Personen, in Slowenien das Gesetz zur Verantwortlichkeit juristischer Personen für strafrechtlich verfolgbare Delikte, das seit 1996, in seiner heutigen Form seit 2005 existiert, Art. 5 des belgischen Strafgesetzbuchs von 1999; das österreichische Bundesgesetz zur Verantwortlichkeit von Vereinigungen datiert vom 1. 1. 2006. Außerhalb der EU existiert das Konzept in Norwegen (Kapitel 3a des Strafgesetzbuchs seit 1991), Island (Art. 9 des Strafgesetzbuchs seit 1993), der Schweiz (Art. 102 des Strafgesetzbuchs seit 2002), der Türkei (seit 2001), Mazedonien (Kapitel 2, Abschnitt 5 des Strafgesetzbuchs), Indien (Abschnitte 2 u. 11 des Strafgesetzbuchs, obwohl diese dem Common Law unterliegen), Chile (Gesetz Nr. 20.393, extra angestoßen zur Erfüllung der Auflagen für den Beitritt zur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), Peru (Art. 105 des Strafgesetzbuchs befasst sich mit Nebenfolgen) Australien (Art. 2.5 des Strafgesetzbuchs), China (Art. 30 des Strafgesetzbuchs seit 1997), Südkorea (Artikel 4 des Gesetzes zur Verhinderung der Bestechung ausländischer Beamter bei internationalen Geschäften) sowie in Japan mit seinem Prinzip des ryobatsu kitei. 5 Einige Autoren hatten die Einführung dieses Straftatbestands als echte Notwendigkeit gefordert; in diesem Sinne äußern sich z. B. Barbero Santos, RDM 64, 1957; Bacigalupo Saggese: „La crisis de la filosofía del sujeto individual y el problema del sujeto del derecho penal“, CPC 67, 1999, 11; de la Cuesta Arzamendi, La Administración de justicia, 2001, 71, 76; ders., LH-Barbero Santos, 2001, 967 ff. Siehe Zugaldía Espinar, Poder Judicial 1997, 335 ff. Vgl. Zugaldía, der vorgeschlagen hatte, eine strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen im Rahmen der vorherigen Regelungen anzuerkennen.
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Strafrecht nicht für die Zeit vor ihrem Inkrafttreten vorausgesetzt werden kann; so kommt es, dass die Anklageerhebung der obersten Untersuchungskammer in Strafsachen Nr. 6 der Audiencia Nacional (Juzgado Central de Instrucción Nr. 6 de la Audiencia Nacional) vom 11. 10. 2011 gegen fünf juristische Personen die vermutlich erste Anklage gegen juristische Personen darstellt.6 Um den internationalen Vorgaben exakt zu entsprechen und gleichzeitig das Prinzip der Schuldfähigkeit im traditionellen Sinne zu erhalten, hatte das Strafgesetzbuch von 1995 eine Fülle von Nebenfolgen aufgeführt, die ein Unternehmen, in dem Straftaten begangen worden waren, erfüllen musste. Organgesetz 15/2003 vom 25.11. führte Artikel 31.2 CP ein und machte das Unternehmen zum primären Mithaftenden für Ordnungsstrafen, die gegen einen im Namen der juristischen Person handelnden Verwalter verhängt wurden; der entsprechende Paragraph wurde mit der jüngsten Reform abgeschafft. Bestand hat jedoch die Verantwortlichkeit des De-facto-Vertreters, einer Figur, die per Organgesetz 8/1983 eingeführt wurde, welches mit leichten Veränderungen die 15.bis des vorherigen Strafgesetzbuchs darstellte und als Art. 31.1 ins Strafgesetzbuch (CP) von 1995 übernommen wurde. Ihr aktueller Fortbestand lässt sich meines Erachtens hervorragend mit der neuen Regelung zur Bestrafung juristischer Personen vereinbaren, denn diese zielt lediglich auf die Bestrafung derjenigen Straftaten ab, die sich individuell einer konkreten Person zuschreiben lassen, die diese unter dem Deckmantel einer juristischen Person begangen hat. Es handelt sich also nicht um Straftaten, die sich das Unternehmen zuschulden hat kommen lassen, sondern um solche, die ein Individuum unter Missbrauch der Finanzmittel und der formellen Berechtigung der juristischen Person begangen hat; der konkreten natürlichen Person werden typische Aspekte der Täterschaft zugeschrieben, die vorher nur der juristischen Person zugerechnet wurden. Das derzeitige System der strafrechtlichen Verantwortlichkeit juristischer Personen in Spanien ist dadurch gekennzeichnet, dass es sich um ein System der Zuschreibung von Verantwortlichkeiten handelt.7 Dabei besteht die Verantwortlichkeit einer juristischen Person unabhängig von der Verantwortlichkeit natürlicher Personen, so dass erstere bestraft wird, auch wenn letztere nicht identifiziert werden können (Art. 31.bis CP); die Möglichkeit, natürliche Personen zusätzlich bestrafen zu können, sofern man sie ermitteln kann, bleibt davon unberührt, so dass die Doktrin der Durchgriffshaftung („Lüften des Schleiers“) vollständig wirksam bleibt ¢ da die Anzahl der handelnden Subjekte, die im Namen einer juristischen Person agieren kön-
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Bericht von Eloy Velasco Núñez, nachzulesen im Diario La Ley, 3. Januar 2012. Wie Manzanares Samaniego, Diario La Ley, 11 de septiembre de 2012 in Absatz V zu Recht bemerkt, „Es gibt keine weitere Straftat, für die die juristische Person strafrechtlich verantwortlich wäre, sondern eine bestimmte strafrechtliche Verantwortlichkeit für die einzig begangene Straftat: die der natürlichen Person“, womit sich der Gesetzgeber von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit aufgrund der Tat selbst distanziert hat. Siehe auch Díez Ripollés, InDret 1/2012, 20 ff. 7
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nen, durch Ausschluss öffentlicher Körperschaften begrenzt ist,8 da Numerus-clausus-Regelungen angewandt werden bei Straftaten, bei denen eine juristische Person als Täter angenommen werden kann,9 da ein eigener Strafenkatalog (Art. 33.7 CP) und spezielle Regeln für deren Festlegung (Art. 66.bis CP) und zur Abmilderung der Strafe angewandt werden und da eine bestimmte zivilrechtliche Verantwortlichkeit ex delicto10 vorgesehen ist. In Deutschland wurden bereits mehrere Artikel über die gegenwärtigen Regelungen bezüglich juristischer Personen in Spanien publiziert, so dass wir uns hier auf die Frage konzentrieren können, ob diese Regelung Übertretungen11 einschließt.12
8 Der Vorentwurf sah vor, dass „die Bestimmungen zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit juristischer Personen für Vereinigungen, Stiftungen und Gesellschaften gelten“, und erläuterte Ausklammerungen in der Gesetzesbegründung, d. h. es wurde eine positive Definition des handelnden Subjekts gewählt. Bei der letzten Überarbeitung wurden jene Formulierungen aus der Gesetzesbegründung in den Gesetzestext übernommen, womit man sich für eine negative Definition per Ausschluss (auch der Gewerkschaften und politischer Parteien) entschied. Mit der Änderung, die am 17. 1. 2013 in Kraft getreten ist, wurde der Ausschluss Letzterer aufgehoben. 9 Es handelt sich um folgende Straftaten: illegaler Organhandel (Art. 156.bis CP), Menschenhandel (Art. 177.bis CP), Straftaten im Zusammenhang mit der Prostitution und Verführung Minderjähriger (Art. 189.bis CP), Angriffe auf die Integrität und Sicherheit von Datensystemen (Art. 197 CP), Betrug im eigentlichen und uneigentlichen Sinn (Art. 251.bis CP), Insolvenzdelikte: Verheimlichung von Vermögenswerten, betrügerische Insolvenz (Art. 261.bis CP), Schäden an Datensystemen (Art. 264.4 CP), das geistige und gewerbliche Eigentum betreffende Straftaten (Art. 288 CP), Straftaten gegen Markt und Konsumenten (Art. 288 CP), Geldwäsche (Art. 302 CP), Straftaten gegen Finanzbehörden und Sozialversicherungssysteme (Art. 310.bis CP), Straftaten gegen die Rechte ausländischer Bürger (Art. 318.bis CP), Straftaten bei Bauprojekten oder illegaler Bebauung (Art. 319.4 CP), Straftaten gegen die Umwelt (Art. 327 y 328.6 CP), Straftaten im Zusammenhang mit Kernenergie und ionisierender Strahlung (Art. 343.3 CP), Straftaten im Zusammenhang mit Gefahren durch Sprengstoffe (Art. 348.3 CP), Straftaten gegen die öffentliche Gesundheit wegen Drogenhandels (Art. 369.bis CP), Fälschung im Zusammenhang mit Zahlungsmitteln (Art. 399.bis CP), Bestechung (Art. 427.2 CP), Vorteilsgewährung (Art. 430 CP), Bestechung ausländischer Beamter (Art. 445.2 CP), Mitgliedschaft in kriminellen Organisationen (Art. 570.quater CP), Finanzierung von Terrorismus (Art. 576.bis CP). 10 Die im Folgenden genannten Charakteristika sind allein durch Überprüfung des Gesetzes feststellbar; für ihre exakte Kategorisierung wurde auf die von den folgenden Autoren vorgeschlagenen Merkmale zurückgegriffen: Carbonel Mateu/Morales Prats, Comentarios, 2010, 55 ff.; Zugaldía Espinar, La Ley Penal, 76 (2010); Martínez Pardo, Revista Internauta de Práctica Jurídica 26 (2011), 67; Morillas Cuevas, Anales de Derecho Penal, 2011; Carretero Sánchez, Diario La Ley Nr. 7786, 30 de enero de 2012, 1 ff. 11 Während im deutschen Recht lediglich die beiden Kategorien „Verbrechen“ und „Vergehen“ unterschieden werden, bestehen im spanischen Recht drei Kategorien: „delitos graves (schwere Straftaten)“, „delitos menos graves (weniger schwere Straftaten)“ und „faltas (Übertretungen)“. Letztere fallen im deutschen Recht unter die „Vergehen“ (vgl. Art. 13, 33 u. ff. des spanischen Strafgesetzbuchs [Código Penal, im Folgenden CP], § 12 StGB). 12 Die wichtigsten und jüngsten finden sich bei Robles Planas, ZIS 7/2012, 347 – 360; Arroyo Zapatero, FS-I. Roxin, 2012, 711 – 717.
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Art. 31.bis.1.CP13 gibt bei der Beschreibung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit juristischer Personen ausdrücklich an, dass diese „für Straftaten, die in ihrem Namen oder auf ihre Rechnung begangen wurden“ strafrechtlich belangt werden können. Im Hinblick auf diese ausdrückliche Erwähnung der „Straftaten“ muss man sich fragen, ob der Ausdruck hier im weiteren Sinne zu verstehen ist und Übertretungen einschließt oder ob die Bezugnahme auf „Straftaten“ vielmehr wörtlich genommen werden muss und dementsprechend jegliche Rechtsverletzung ausschließt, die nicht als „Straftat“ definiert ist. Betrachten wir ein Beispiel: Eine nicht weiter identifizierte Person, die nur über die Arbeitskleidung eines bestimmten Unternehmens näher beschrieben werden kann, tankt das Fahrzeug, das sie fährt, auf und flüchtet, ohne die Tankfüllung zu bezahlen, lediglich das Kennzeichen des Wagens wird festgehalten, dieser wird als zum gleichen Unternehmen gehörig identifiziert, ohne dass es möglich wäre, festzustellen, welche natürliche Person den Wagen aufgetankt hat. Der Wert des getankten Kraftstoffs übersteigt 400 Euro, sodass der angenommene Tatbestand als Straftat und als Betrug eingestuft werden muss. Es bleibt zu analysieren, ob nach Art. 31.bis.1 die Möglichkeit bestünde, das identifizierte Unternehmen für die begangene Straftat des Betrugs strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Unabdingbare Voraussetzung hierfür ist laut dieser Regelung im Fall einer Vertreter-Rolle, dass ein Handeln zum Vorteil der juristischen Person14 und auf deren Rechnung vorliegt bzw. im Fall einer untergeordneten Rolle ein Handeln, das deren
13 Art. 31 bis.1: „In den in diesem Gesetzbuch vorgesehen Fällen sind juristische Personen für die Straftaten strafrechtlich verantwortlich, die in ihrem Namen oder in ihrem Auftrag und zu ihren Gunsten durch ihre gesetzlichen Vertreter oder ihre tatsächlichen oder rechtlichen Verwalter begangen worden sind. In den gleichen Fällen sind juristische Personen ebenso strafrechtlich verantwortlich für die Straftaten, die in der Ausübung unternehmensbezogener Tätigkeiten in ihrem Auftrag und zu ihren Gunsten von denjenigen begangen worden sind, die der Autorität der im vorhergehenden Satz erwähnten natürlichen Personen unterworfen sind, und die Taten verwirklichen konnten, weil ihnen gegenüber nicht die angesichts der konkreten Umstände des Falles gebotene Kontrolle ausgeübt worden ist.“ 14 Zu verstehen ist das so, dass hinsichtlich der im Namen der juristischen Person ausgeführten Handlung eine vorherige Erwartung eines zu erlangenden Nutzens oder Interesses für dieselbe bestand, mit Gómez Tomillo, Revista Jurídica de Castilla y León 25 (2011), 63 – 65 und Zugaldía Espinar, La Ley Penal, 76 (2010), insofern übereinstimmend, als dass besagter Vorteil nicht unbedingt wirtschaftlicher Natur sein muss, sondern z. B. auch in der Absicht bestehen kann, einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz oder zum Aufbau bestimmter kommerzieller Netzwerke zu erlangen, ein Verständnis, das später von Dopico Gómez-Aller, Memento, 2010, 18; Carretero Sánchez, Diario La Ley, 30. Januar 2012, 1 ff.; Velasco Nuñez, Diario La Ley, 19. Juni 2012, VIII, übernommen wurde. Gómez Tomillo, Revista Jurídica de Castilla y León 25 (2011), 63 – 65 systematisiert die unterschiedlichen Interpretationen, die bisher für das Kriterium der Handlung „zum Nutzen von“ angeboten wurden, und teilt in subjektive – diejenigen, die die Ansicht vertreten, der Mitarbeiter handle mit der Absicht, dem Unternehmen zu nutzen –, objektive – diejenigen, bei denen ein effektiv nutzbringendes Ergebnis gefordert wird – und seine eigene Haltung ein, laut derer eine objektive Tendenz besteht, diesen Nutzen zu erreichen, der ex ante seitens eines objektiven Beobachters erkennbar sein muss.
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Willen unterworfen ist.15 Auf jemandes Rechnung zu handeln bedeutet, dass die Handlung auf dessen Kosten erfolgt, d. h. dass es diese Person ist, die die unmittelbaren oder zukünftigen Auswirkungen des Rechtsverhältnisses trägt, das letztendlich in Vertretung der juristischen Person eingegangen wird. Diese Vertretung muss der natürlichen Person nicht ausdrücklich übertragen worden sein; es genügt, dass sie in anscheinender Vertretung der juristischen Person handelt.16 Das bedeutet, dass hier – genauso wie in dem Fall, dass die Arbeiter eines bestimmten Bauunternehmens einen öffentlichen Verkehrsweg sperren, angenommen wird, dass dieses Unternehmen selbst die Erlaubnis dazu hat, ohne dass bei der Sperrung der rechtliche Vertreter des Unternehmens anwesend sein müsste, oder dass der Handwerker, der die Gasanlagen in Wohnungen überprüft, ebenfalls mittels eines Dienstausweises seines Unternehmens und erkennbarer Arbeitskleidung identifiziert wird, ohne selbst rechtlicher Vertreter des Unternehmens zu sein (aber sehr wohl De-Facto-Vertreter) – in diesem konkreten Fall die Tatsache, dass die Handlung auf Rechnung des Unternehmens erfolgt, dem das Fahrzeug gehört, durch die Arbeitskleidung belegt würde, die es mit dem gleichen Unternehmen in Verbindung bringt, das aus dem Tankvorgang einen Nutzen zieht, so dass die in Art. 31.bis.1 als Bedingung erwähnte De-factoVertretung als gegeben angenommen werden kann.17 Hinsichtlich der Vertreter stellt sich die Frage, wann davon ausgegangen wird, dass ein Vertreter im Namen der juristischen Person handelt und ob die juristische Person für eine sich aus der Überschreitung der Vertreterkompetenz ergebende Handlung verantwortlich ist, was im vorliegenden Fall zutreffen könnte. Aus 15 Diese Unterscheidung zwischen Verwaltern oder Vertretern der juristischen Person und Untergebenen, die nicht ausreichend überwacht oder kontrolliert werden, findet sich bereits in Artikel 8 des Rahmenbeschlusses 2000/383/JI, Artikel 7 des Rahmenbeschlusses 2002/475/JI, Artikel 4 des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI, Artikel 5 des Rahmenbeschlusses 2005/667/JI. Dies bedeutet, dass der Inhalt dieser Beschlüsse des Rats jeweils fast wörtlich übernommen wurde, wodurch eine vollständige Umsetzung der durch die realisierten Änderungen erhofften strafrechtlichen Harmonisierung sichergestellt wurde. 16 Eine solche Sichtweise auf die Vertretung der juristischen Person entspräche der Verwaltung fremder Geschäfte im Zivilrecht, nach Art. 1888 des spanischen Zivilgesetzbuchs definiert als Vorgang, bei dem jemand „freiwillig die Abwicklung oder Verwaltung der Geschäfte eines anderen übernimmt, ohne dessen Auftrag“. 17 Hinzuzufügen ist, dass man nicht verlangen kann, dass die Handlung, aufgrund derer es zur Straftat kommt, mit Handlungen im Zusammenhang steht, die der Erreichung der Unternehmensziele der juristischen Person dienen, was aus der erwähnten Entscheidung zur Anklageerhebung gegen juristische Personen (Anklageerhebung der obersten Untersuchungskammer in Strafsachen Nr. 6 der Audiencia Nacional vom 11. 10. 2011) selbst klar wird, mit der ein Verfahren wegen des Tatbestands des Handels mit Betäubungsmitteln eröffnet wurde, was nicht Unternehmensziel der juristischen Person sein kann; dies gilt umso weniger, wenn im Fall der Untergebenen ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass ihr Verhalten der juristischen Person angelastet wird, sofern Handlungen zur Erreichung der Unternehmensziele ausgeführt werden, ein Aspekt, der im Fall der Vertreter keine Rolle spielt. Eine andere Ansicht findet sich bei Molina Mansilla/Molina Mansilla, La Ley Penal, 96 – 97, September – Oktober 2012, Punkt III.1: Demnach wäre auf jeden Fall die Ausführung einer Handlung zur Erreichung der Unternehmensziele vonnöten.
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einem rein handelsrechtlichen Blickwinkel wäre es notwendig zu untersuchen, ob der Vertreter mit seiner Handlung im Rahmen seines Verantwortungsbereichs bleibt.18 Ich bin der Auffassung, dass in diesen Fällen der Überschreitung der Vertreterkompetenzen das Konzept der anscheinenden Vertretung und der stillschweigenden Akzeptanz derselben zur Anwendung kommen sollte. Seitens der juristischen Person wäre eine Reaktion erforderlich, um sich von der in ihrem Namen vorgenommenen Handlung zu distanzieren, denn wenn eine Handlung von einer Person durchgeführt wird, die sichtbar eine Vertreterfunktion inne zu haben scheint, kann beim Gegenüber die absolut begründete Annahme entstehen, dass die Person innerhalb ihrer Kompetenzen handelt, ohne diese zu überschreiten. Aber es stellt sich auch die Frage, ob eine einzige derartige Handlung in Kompetenzüberschreitung seitens des Vertreters an sich bereits das Begehen einer Straftat aufseiten der juristischen Person darstellt. Bei Bilbao Llorente/Algorta Borda findet sich die Meinung, dass bei einer Handlung des Verwalters der juristischen Person, die gegen den Willen des Aufsichtsrats erfolgt, bei – sogar fahrlässigen – Verstößen gegen die Regelungen des Unternehmenshandbuchs oder im Fall eines persönlichen Fehlers hinsichtlich der in diesem Handbuch geforderten Kontrolle keinerlei strafrechtliche Verantwortlichkeit des Unternehmens besteht. Dem ist allerdings schon deshalb nicht zuzustimmen, da dann die bloße Existenz eines Unternehmenshandbuchs das Unternehmen vollständig von seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit entbinden würde, ohne dass die Existenz nicht schriftlicher Anweisungen zu der zu untersuchenden strafbaren Handlung in Betracht gezogen werden könnte. Daher ist es in diesen Fällen erforderlich, den anzunehmenden Willen der juristischen Person zu ermitteln, da – abgesehen davon, dass die Handlung zur Ausführung ihres Willens nur vorsätzlich sein kann, damit sie eine strafrechtliche Verantwortlichkeit im Hinblick auf die nach dem Numerus-clausus-Prinzip behandelte Straftaten nach sich zieht – es neben der Untersuchung interner Anweisungen entscheidend ist festzustellen, dass die Handlung, deren Tatbestandsmäßigkeit untersucht wird, im Sinne der Interessen des Unternehmens durchgeführt worden ist, wie in Artikel 31.bis als erforderlich angegeben. Deshalb sollte man nach Ausschluss von Handlungen, die keinerlei Vorteil für die juristische Person darstellen, unterscheiden zwischen Handlungen in Überschreitung der Vertreterkompetenz, die eine reversible Verletzung oder Gefährdung des Rechtsguts bedeuten (in der Regel durch Änderung der Rechtsverhältnisse) und solchen, die konkrete irreversible Auswirkungen haben (in der Regel auf die Rahmenbedingungen). Zwar hat der Vertreter eine Position inne, über die die juristische Person nach dem Strafrecht nicht verpflichtet ist, irgendeine Form von Kontrolle auszuüben. Jedoch stehen im Fall einer solchen Handlung, bei der die Vertreterkompetenz nicht gegeben ist, die aber verbindlich erscheint, Rechtsmittel zur Verfügung, um Handlungen oder Verträge für ungültig erklären zu lassen bzw. finanzwirtschaftliche Me18 Bei Bilbao Llorente/Algorta Borda, La Ley Penal, 87 (2011) wird dies so interpretiert, dass „die natürliche Person als verlängerter Arm“ der juristischen Person handelt bzw. „als die Entscheidungen der juristischen Person selbst ausführender Arm“ oder in Ausführung des Willens derselben.
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chanismen zur Rückerstattung bezahlter Beträge usw., mittels derer das Unternehmen seinen gegensätzlichen Willen eindeutig zum Ausdruck bringen und sich somit strafrechtlich entlasten kann. Sollten diese Handlungen nicht erfolgen, würde von einem positiven Willen zum Tragen der Überschreitung der Vertreterkompetenz ausgegangen und es wäre strafrechtlich verantwortlich. Allerdings sollte der Vorschlag von Bilbaos Llorente/Algorta Borda für Handlungen, die irreversible Änderungen mit sich bringen, übernommen werden. Zwar grenzt der hier gemachte Vorschlag für diejenigen Fälle, in denen das Unternehmen das Fehlverhalten seines Vertreters rückgängig macht, an die Anerkennung eines Grundes zur übergesetzlichen Befreiung von der Strafbarkeit; Grundlage dessen ist jedoch die Tatsache, dass es nur anhand der Reaktion der juristischen Person nach deren Kenntnisnahme der Folgen der Überschreitung der Vertreterkompetenz möglich ist, festzustellen, ob sie diese Überschreitung trägt; andererseits werden sich die Leitungsorgane der juristischen Person in dem Wissen, dass sie durch Rückgängigmachung bzw. Vermeidung der vorteilhaften Folgen jeglichen Verdacht der Kriminalität aufheben können, angespornt sehen, diese Maßnahmen zu ergreifen, bevor wegen besagter Folgen irgendein Verfahren zur gerichtlichen Untersuchung eingeleitet wird. Außerdem könnte der Fall eintreten, dass die juristische Person denjenigen, der seine Vertreterkompetenz überschritten hat, entlässt, wodurch sich eine andere Zusammensetzung ihrer Strukturen ergäbe; daher sollte man nicht aufgrund einer einzelnen Handlung eines ihrer Vertreter, von dem sie sich nach Bekanntwerden des Tatbestands lossagt und nachdem „das Unheil aus der Welt geschafft ist“, das Unternehmen dem Ansehensverlust aussetzen, den ein Strafverfahren bedeuten könnte.19 Gleichermaßen kontrovers wäre es, wenn die juristische Person für Handlungen, die einer ihrer Untergebenen in anscheinender Vertretung der juristischen Person ausführt (der nicht unter Kontrolle befindliche Mitarbeiter20), strafrechtlich belangt werden könnte, obwohl dies für das erwähnte Beispiel des Tankvorgangs ohne genauere Betrachtung der Unternehmensziele zweifelhaft erscheint, denn Art. 31bis.1 besagt, dass die juristische Verantwortlichkeit für die Handlungen ihrer Mitarbeiter einer juristischen Person nur dann zugeschrieben werden kann, wenn diese „in Durchführung von Unternehmensaktivitäten“ erfolgen; wenn man die Annahme in diesen Fall einfügen möchte, könnte es sich z. B. um einen Fahrer eines LKWs aus einem zum Warentransport genutzten Fuhrpark handeln. Nach vorliegend vertre19
Diese Haltung wäre tatsächlich kohärent mit der realisierten Einführung eines Grundes zur Abmilderung der Strafe gemäß Art. 31.bis.4 d): „Vor Beginn der Hauptverhandlung effiziente Maßnahmen eingeführt zu haben mit dem Ziel, Straftaten zu verhindern bzw. aufzudecken, die zukünftig mit den Mitteln oder unter dem Deckmantel der juristischen Person begangen werden könnten“; d. h. wenn nach Begehung einer Straftat ein Corporate Compliance Program erarbeitet wird, fällt die Strafe milder aus; im gleichen Sinne kann von einer Bestrafung abgesehen werden, wenn die juristische Person den Schaden oder die Rechtswirkung der Straftat behebt. 20 Diesbezüglich gibt auch Velasco Núñez, Diario La Ley, 19. Juni 2012, in Abschnitt VIII zu, dass derartige Handlungen zum Vorteil der juristischen Person der juristischen Person zugerechnet werden können.
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tener Auffassung – und in Übereinstimmung mit der dargestellten Lösung für den Fall der Vertreter – würde die juristische Person, sofern sie in Reaktion auf die Folgen, die ihr aus der Handlung einer natürlichen Person, die sie nicht vertritt, erwachsen, keinerlei Handlung ergreift, diese stillschweigend als ihre eigene übernehmen.21 D.h. falls die juristische Person, darüber informiert, dass ein Fahrzeug ihres Fuhrparks aufgetankt wurde, ohne dass jemand die Rechnung beglichen hätte, den Kraftstoff weiterhin nicht bezahlen würde, übernähme sie die Handlung der Person, die getankt hat, als ihre eigene. Somit könnte der als Beispiel anführte Betrug ohne Weiteres der juristischen Person zugeschrieben werden, sei es, weil diese stillschweigend die Vertretung akzeptiert, womit der Untergebene in die Rolle eines Vertreters gelangt,22 oder sei es, weil über den Untergebenen nicht die nötige Kontrolle ausgeübt wurde, die § 2 Art. 31.bis.1 des Strafgesetzbuchs vorschreibt. Letztendlich müssen wir nach dieser Analyse der Handlungen natürlicher Personen, die juristischen Personen zugeschrieben werden können, davon ausgehen, dass durchaus die Möglichkeit besteht, der juristischen Person ohne Weiteres den Betrug zuzuschreiben, der dadurch begangen wurde, dass an einer Tankstelle getankt wurde, ohne danach den Preis für den Kraftstoff zu bezahlen. Nachdem entsprechend Anzeige erstattet und eine strafrechtliche Untersuchung eingeleitet wurde, um über das Kennzeichen als einzigem Detail, das vor der Flucht des Fahrers festgehalten werden konnte, den Halter des benutzten Fahrzeugs zu er21 Eine ähnliche Meinung bezüglich Untergebener vertritt Gómez Tomillo, Revista Jurídica de Castilla y León 25 (2011), 62. 22 Obwohl die Vertreterkompetenz zum Zeitpunkt der Handlung gegeben sein muss, gäbe es keine Probleme hinsichtlich einer Rückwirkung der zu einem späteren Zeitpunkt stillschweigend akzeptierten Vertretung, denn diese Einwilligung kann Verschiedenes implizieren, von der Existenz eines Auftrags, der nicht schriftlich festgehalten wurde, um sich im Fall einer Aufdeckung davon lossagen zu können, bis hin zur Aufteilung von Vertreteraufgaben nach Aufgabenbereich einzelner Untergebener. Man denke nur an die Vertretungsfunktion, die Außendienstmitarbeiter erfüllen und über deren Umfang der Kunde keineswegs informiert sein muss. Auch können keine Probleme auftreten, wenn es darum geht, den Vorsatz der juristischen Person zu untersuchen, denn ihr Wille muss zum Zeitpunkt der Begehung der Tat gegeben sein und in diesem Fall kann der Wille der juristischen Person über die Personen, aus denen sie sich zusammensetzt und die zu ihrem Nutzen handeln, festgestellt werden. Abgeleitet vom Prinzip subjektiver Haftung gemäß Art. 5 des spanischen Strafgesetzbuchs muss es sich bei konkreten Straftaten um vorsätzliche Handlungen handeln. Um festzustellen, ob ein Vorsatz vorliegt, muss man die Personen heranziehen, die im Namen und in Vertretung des Unternehmens handeln, jene, die den Untergebenen Anweisungen geben, sowie diese Untergebenen selbst (Ähnliches findet sich bei Nieto Martín, Rexurges 2010, 53); die einen, weil sie die entsprechende Handlung nicht ausführen sollen, die anderen, weil sie dafür sorgen sollen, dass sie nicht ausgeführt wird. Auch hier greift bei der Bestrafung die Numerus-claususRegelung des Art. 12 über Fahrlässigkeitsdelikte, weshalb, wenn kein Vorsatz, sondern nur ein Verschulden besteht (in vigilando, in eligendo), die Handlung der juristischen Person straffrei bleiben muss. Bei Carbonell Mateu/Morales Prats, Comentarios, 2010, 72, findet sich zu letzterem Punkt eine abweichende Meinung: Demnach wäre gerade die Verantwortlichkeit der juristischen Person für die Handlungen ihrer Untergebenen eine Basis für die Verantwortlichkeit gegenüber dem Vorwurf einer Schuld in vigilando oder in eligendo.
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mitteln, wird festgestellt, dass dieses einem Unternehmen gehört, zu dessen Nutzen getankt wurde. Gemäß des neuen Art. 409.bis des spanischen Strafprozessordnung (Ley de Enjuiciamiento Criminal, im Folgendem LECrim) würde die juristische Person in Person ihres speziell benannten Vertreters in jedem Fall mit dem Beistand eines Anwalts vernommen; falls sie nicht erschiene, würde davon ausgegangen, dass sie erklärt hätte, von ihrem Recht, nicht auszusagen, Gebrauch machen zu wollen, was verschiedene Situationen zur Folge haben könnte, die nicht zur Klärung der Sachlage im angenommenen Fall beitrügen. Wenn sie nicht erschiene und nicht aussagte, wäre es einerseits nicht möglich festzustellen, welche Person den Tankvorgang durchgeführt hat, weshalb lediglich die juristische Person beschuldigt werden könnte, da sie die Nutznießerin desselben ist und sich nicht durch Zahlung des Betrags von besagtem Betrug distanziert hat. Andererseits könnte der Vertreter, der im Namen der juristischen Person erscheint, andere Interessen haben als Letztere,23 z. B. weil er es war, der das Fahrzeug betankt hat und nicht möchte, dass dieses Detail bei der Untersuchung ans Licht kommt. Alternativ könnte die juristische Person die natürliche Person, die das Fahrzeug zum fraglichen Zeitpunkt genutzt hat, klar benennen, was es ermöglichen würde, beide zu beschuldigen.24 In jedem Fall würde das Verfahren nach Abschluss der Untersuchungsphase und der vorbereitenden Maßnahmen in Form eines verkürzten Verfahrens durchgeführt, entweder nur gegen die juristische Person oder gegen diese und die natürliche Person, die getankt hat. Bisher haben wir allerdings die Konstruktion der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der juristischen Person im beschriebenen Fall unter der Prämisse beschrieben, dass der Wert des getankten Kraftstoffs 400 Euro übersteigt und wir somit einen Fall von Betrug betrachten. Es wird jedoch allen klar sein, dass derartige, durchaus häufig vorkommende Betrugsfälle in den seltensten Fällen einen Vermögensschaden von 60 Euro übersteigen, was in etwa einer vollständigen Tankfüllung bei einem mittelgroßen Fahrzeug entspricht, womit keine Straftat mehr vorläge, sondern eine betrügerische Übertretung entsprechend Artikel 623.4 CP, bei der zunächst genauso ermittelt würde wie oben zur Phase der vorbereitenden Maßnahmen angegeben. Es wurde bereits beschrieben, dass mehrere Situationen denkbar sind, in denen die juristische Person nicht unbedingt aussagen muss, wer getankt hat, was zur Folge hätte, dass sie zunächst selbst die Beschuldigte bleibt; im weiteren Verfahrensgang bedeutet das ein vereinfachtes Strafverfahren für Übertretungen. 23
Diese Möglichkeit wird bei Pedraz Penalva/Pérez Gil/Cabezudo Rodríguez, Consideraciones, 2010, 24; Pérez Gil, Comentarios, 2010, 587, erwähnt. 24 Man könnte sogar annehmen, dass das Unternehmen bei diesen Bemühungen, die Person, die getankt hat, zu identifizieren, versuchen würde, sich zu distanzieren und anzugeben, dass der Tankvorgang ohne seine Zustimmung stattgefunden hat, z. B. um zu verschleiern, dass das Fahrzeug des Unternehmens zu einem unzulässigen Zweck genutzt wurde; aber in diesem Fall ist die juristische Person so oder so zu beschuldigen, da sie nicht die entsprechende Zahlung des Betrags für den Kraftstoff geleistet und später die Verantwortung per Disziplinarmaßnahme intern an den Mitarbeiter oder Vertreter weitergereicht hat und sich im Prozess ggf. sogar als zivilrechtlich Geschädigte präsentiert hat, die die Zahlung für den Kraftstoff als reinen Befreiungsakt geleistet hat.
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Wenn man bedenkt, dass die Erwähnung der „Straftat“ in Art. 31bis nur auf die Straftaten Bezug nimmt, die im zweiten Buch des Strafgesetzbuchs abgedeckt sind, d. h. mit Ausnahme der Übertretungen, welche im dritten Buch behandelt werden, sollte dieses Verfahren gemäß Art. 641.2 LECrim mangels eines bekannten Täters eingestellt werden, denn eine juristische Person kann nicht Täter von Übertretungen sein und ein Täter des Betrugs in Form einer natürlichen Person konnte nicht ermittelt werden (unbenommen der Möglichkeit, einen Zivilprozess gegen das Unternehmen anzustrengen, das Halter des Fahrzeugs ist). Alle Argumente deuten auf die enge Interpretation des Konzepts „Straftat“ im angegebenen Artikel.25 Einerseits wurde die Inkriminierung juristischer Personen mit Hinblick auf Straftaten, bei denen juristische Personen eine wesentliche Rolle spielen können, eingeführt. Wenn man die Rahmenbeschlüsse des Rats der Europäischen Union betrachtet, die empfahlen, die Verantwortlichkeit juristischer Personen ins Strafrecht aufzunehmen26 und die der damaligen Einführung der Nebenfolgen für juristische Personen sowie der jüngsten Reform zugrunde liegen, stellt man fest, dass sie sich alle mit schweren Formen von Kriminalität befassen. Aus diesem Blickwinkel muss man erkennen, dass eine Übertretung nicht die ausreichende Schwere aufweist und ihr damit die Grundlage für die Inkriminierung der Handlungen juristischer Personen fehlt; wenn in Art. 31.bis.1 CP von „Straftaten“ die Rede ist, muss das also im strengen Sinne verstanden werden. Auch bei der Betrachtung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit juristischer Personen hinsichtlich der in Art. 33.7 CP vorgesehenen Strafen muss der Begriff so verstanden werden: Konkret sind unter Abschnitt a), wo die Ordnungsstrafen nach Tagessätzen (und anteilig) aufgeführt sind, die Unterschiede bei den Ordnungsstrafen
25 Und die ganze Rechtslehre basiert auf dieser Interpretation, sie wird als gegeben betrachtet, ohne dass die Frage überhaupt gestellt würde. Die jüngste ausdrückliche Aussage in diesem Sinne findet sich bei Morillas Cuevas, Anales de Derecho, 2011, 29; Portal Manrubia, Diario La Ley, 4. Januar 2012, Punkt III. 26 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei verwiesen auf die Rahmenbeschlüsse 2000/383/ JI vom 29. 5. 2000 über die Verstärkung des mit strafrechtlichen und anderen Sanktionen bewehrten Schutzes gegen Geldfälschung im Hinblick auf die Einführung des Euro, 2002/475/ JI vom 13. 6.2002 zur Terrorismusbekämpfung, 2002/629/JI vom 19. 7. 2002 zur Bekämpfung des Menschenhandels, 2002/946/JI vom 28. 11. 2002 betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt, 2003/568/JI vom 22. 7. 2003 zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor, 2004/757/JI vom 25. 10. 2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels, 2004/68/JI vom 22. 12. 2003 zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornografie, 2005/222/JI vom 24. 2. 2005 über Angriffe auf Informationssysteme und 2005/667/JI vom 12. 7. 2005 zur Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens zur Bekämpfung der Verschmutzung durch Schiffe; diese führen die straf- und zivilrechtliche Verantwortlichkeit juristischer Personen ein.
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von zehn Tagen bis zu zwei Monaten zu beachten, vor allem da deren Höhe zwischen 30 und 5.000 Euro pro Tagessatz schwankt.27 Ferner ist festzuhalten, dass die für Übertretungen vorgesehenen Strafen, darunter ständige Lokalisierbarkeit oder Arbeitseinsätze zum Nutzen der Gemeinschaft, für ihre Verhängung gegen juristische Personen angepasst werden müssen, was der Gesetzgeber, der in den Bereichen, in denen er die Bestrafung festgelegt hat, die Strafen für jede Straftat so genau aufführt, nicht in Betracht gezogen hat; dies muss außerdem mit den durch das Gesetz etablierten Numerus-clausus-Regelungen in Einklang gebracht werden, und zwar dergestalt, dass im Fall der Übertretungen diese nicht bestraft werden können, sofern keine expliziten Vorgaben existieren. Infolgedessen und aus diesen Gründen muss das Konzept der „Straftat“ des Art. 31.bis.1 CP im engen Sinne interpretiert werden; beim vereinfachten Strafverfahren für Übertretungen angelangt, kann man lediglich die Täterschaft der juristischen Person feststellen und das Verfahren gemäß Art. 641.2 LECrims mangels eines bekannten Täters einstellen. Jedoch existieren hinreichend Gründe, um den Gesetzgeber zu Änderungen des Strafrechts aufzufordern, die darauf abzielen, die Bestrafung auf juristischen Personen zur Last gelegte Übertretungen zu erweitern. Wenden wir uns wieder dem häufig vorkommenden Fall des Betrugs beim Tanken an Tankstellen zu und nehmen wir an, dass das involvierte Fahrzeug einem Autovermietungsunternehmen gehört, das sich trotz entsprechender Aufforderung inklusive Verweis darauf, dass dies eine Straftat des Ungehorsams gegenüber der Obrigkeit bedeuten könnte, weigert, das Dokument, das angibt, wer das Fahrzeug zum fraglichen Zeitpunkt geliehen hatte (so es denn verliehen war), herauszugeben. In diesem Fall könnte man höchstens prozesseinleitende Maßnahmen gegen die Person ergreifen, die im Unternehmen dafür zuständig ist, besagtes Dokument zu übergeben, denn die Straftat des Ungehorsams gegenüber der Obrigkeit kommt im Katalog der juristischen Personen anlastbaren Straftaten auch nicht vor, ohne dadurch sicherstellen zu können, dass man die natürliche Person, die den Betrug an der Tankstelle begangen hat, ermitteln kann. Die gerichtliche Untersuchung kommt inzwischen beim vereinfachten Strafverfahren für Übertretungen zum Stillstand und gemäß Artikel 131.2 CP gilt die Übertretung nach Ablauf von sechs Monaten als verjährt. Wäre jedoch für derartige Fälle eine Bestrafung juristischer Personen vorgesehen, könnte man nach Verstreichen einer Frist zur Untersuchung der Frage, ob jemand das Fahrzeug geliehen hatte, mit dem Ziel, diese Person zu einem vereinfachten Strafverfahren wegen Übertretung vorzuladen, bei Nichterfüllung dieser Forderung direkt die juristische Person zu einem vereinfachten Strafverfahren wegen Übertretung vorladen und bestrafen, sofern sich feststellen ließe, dass sie einen Vorteil aus der Handlung hatte bzw. sich von dieser nicht distanziert hat, obwohl sie die Möglichkeit dazu hatte. 27 Dazu äußert Manzanares Samaniego, Diario La Ley, 11. September 2012, II.4, dass bei der Festlegung der Tagessätze für juristische Personen ebenfalls Art. 50 und 51 CP Anwendung finden sollten, obwohl diese bei ihrer Einführung auf Ordnungsstrafen für natürliche Personen abzielten.
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Diese Aufforderung zur Erweiterung der Bestrafung basiert nicht nur darauf, die Verjährung von Übertretungen verhindern zu wollen, wie im vorangegangenen Absatz beispielhaft beschrieben, sondern auch auf der Beobachtung einer logischen Kontinuität in der Beschreibung der Tatbestände der Straftaten und Übertretungen, infolge derer die Schwere der verübten Handlungen oder ihrer Folgen sowie der verhängten Strafen das einzige Unterscheidungsmerkmal darstellt, ohne dass ein weiterer Unterschied hinsichtlich der möglichen handelnden Subjekte gemacht würde. Es geht nicht darum, zusätzliche Handlungen unter Strafe zu stellen, sondern die Kohärenz des Systems zu erhalten, einen inneren Einklang hinsichtlich der Tatbestände, die man strafrechtlich zu verfolgen beschlossen hat. Wenn man sich bei gleichzeitiger Existenz von Numerus-clausus-Regelungen dafür entschieden hat, bei natürlichen und juristischen Personen die gleichen Handlungen unter Strafe zu stellen, besteht offensichtlich keinerlei Grundlage dafür anzunehmen, dass im Fall von Übertretungen, für deren schwerere Entsprechung in Form einer Straftat die Bestrafung juristischer Personen durchaus vorgesehen ist, derartige Tatbestände, so sie als Übertretung eingestuft werden, nur dann als strafrechtlich relevant betrachtet werden, wenn sie durch juristischen Personen verübt worden sind. Andererseits konnte an dem von Anfang an verwandten Beispiel gezeigt werden, dass dies – da Artikel 108 ff. des LECrims die gleichzeitige Erhebung eines Strafund eines Zivilverfahrens im Laufe der strafrechtlichen Untersuchung erlauben, wobei es erforderlich ist, dass das Finanzministerium den Antrag für die Haftungsklage zugunsten des Geschädigten stellt, außer wenn dieser auf selbige verzichtet oder sich vorbehält, zu einem späteren Zeitpunkt einen Zivilprozess anzustrengen28 – es immerhin ermöglichen würde, das Strafverfahren dazu zu nutzen, eine zivilrechtliche Täterschaft festzustellen und den Geschädigten zu entschädigen. Dieser Umstand trägt natürlich auch dazu bei, die juristische Person im Rahmen der gerichtlichen Untersuchung der Übertretung zur Zusammenarbeit zu motivieren, denn wenn sie als Täterin der Übertretung für schuldig befunden wird, muss sie neben der entsprechenden Strafe – meist leicht aufzubringen durch eine natürliche Person, sofern es sich um eine Ordnungsstrafe handelt, wobei sie für juristische Personen nicht unbedingt deutlich höher ausfallen müssten – auch die zivilrechtliche Haftung übernehmen, die zwar 400 Euro betragen, diese aber auch übersteigen könnte. Dies wäre 28 Wenn der Geschädigte nicht ausdrücklich auf eine Rückstellung hinwirkt, indem er im Laufe des Strafverfahrens seinen Wunsch äußert, das zivilrechtliche Verfahren separat betreiben zu wollen, gilt die Zivilklage durch seine bloße Passivität gemäß Art. 112 des spanischen Gesetzes zur Anklageerhebung in Strafverfahren als im Rahmen des Strafverfahrens erhoben, was entsprechend im Urteil festgehalten wird und infolgedessen nach dem Prinzip der rechtskräftig entschiedenen Sache jede spätere Anklage verhindert. Explizit kommt dies in Urteil 5195/2006 des Obersten Gerichts vom 11. September zum Ausdruck, in dem es heißt: „Es muss darauf hingewiesen werden, dass grundsätzlich die Erhebung der Zivilklage ex delicto im Strafverfahren (d. h. wenn nicht auf ihre Erhebung verzichtet und sie nicht für die Zivilgerichtsbarkeit zurückgestellt wurde) impliziert, dass die zivilrechtlichen Belange im Rahmen des Strafverfahrens geklärt werden, so dass das gefällte Urteil grundsätzlich die Wirkung einer rechtskräftig entschiedenen Sache hat“. Im gleichen Sinne äußert sich da Oberste Gericht in seinen Urteilen 3597/2008 vom 26. Juni und 7267/2011 vom 7. November.
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auch ein Motivationsfaktor im Sinne einer zuverlässigen Kontrolle über Abläufe und Organisation eines Unternehmens29, nicht nur hinsichtlich unzulässiger Vorgänge von größerer Schwere, sondern auch was unbedeutendere betrifft; um es mit den Worten Nieto Martins zu sagen: „Die Funktion des Strafrechts besteht darin, juristische Personen dazu zu motivieren, dass sie bezüglich ihrer internen Organisation Maßnahmen ergreifen mit dem Ziel, die Begehung von Straftaten zu verhindern bzw. aufzudecken“. So „haben in einem Unternehmen, das harte Strafen hinnehmen musste oder das Gefahr läuft, einen wesentlichen Ansehensverlust zu erleiden, die Gesellschafter ein wesentlich größeres Interesse daran, dass ihre Verwalter strikt einzuhaltende normative Systeme einführen, die dazu dienen, Strafen zu vermeiden“.30 Hinzuzufügen bliebe, dass nicht nur harte Strafen ein Faktor sind, der Einfluss auf ihr unternehmerisches Prestige haben kann, sondern auch geringfügigere, und dass diese daher auch geeignet sind, die juristische Person zur Vermeidung besagter Strafen zu motivieren. Aus den genannten Gründen lässt sich zusammenfassend feststellen, dass die im Bereich des Straf- und Prozessrechts umgesetzte Reform zur strafrechtlichen Verfolgbarkeit juristischer Personen als der endgültige Schritt zum Bruch mit dem traditionellen Prinzip societas delinquere non potest, das das spanische Strafrecht lange beeinträchtigt hat, gelobt werden muss. Allerdings ist die Reform unvollständig, da sie durch juristische Personen begangene Übertretungen nicht zu den zu bestrafenden Tatbeständen zählt und die Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortlichkeit ausschließlich auf Straftaten gemäß Art. 31.bis.1 CP beschränkt. Durch die geringe praktische Anwendungspraxis, die besagter Reform bisher beschieden war, war es noch nicht möglich, die Ungleichbehandlung sowie prozessuale Unregelmäßigkeiten hinsichtlich jener handelnden Subjekte aufzuzeigen, die nur für das Begehen von Verbrechen verurteilt werden können; daher wurde sie im vorliegenden Aufsatz am Beispiel eines fiktiven, jedoch realistischen angenommenen Falls analysiert, mit dem Ziel, als Maßnahme de lege ferenda die Ausweitung der Strafbarkeit juristischer Personen auf den Bereich der Übertretungen und die Festlegung spezifischer Strafen für dieselben vorzuschlagen.
29 Auch wenn dies hier bisher nicht erwähnt wurde, vertreten einige die Meinung, der Gesetzgeber habe sich für ein System der Schuldfähigkeit der juristischen Person entschieden, das auf einem Mangel an Organisation oder ordnungsgemäßem Funktionieren innerhalb des Unternehmens basiere, wie es seinerzeit Tiedemann, NJW 1988, 1169 ff. formulierte. 30 Nieto Martin, Rexurges 2010, 53.
Neues aus Europa? Die Opferschutzrichtlinie der EU Von Bernd-Dieter Meier
I. Die Stärkung der Opferrechte in der Diskussion In der jüngsten Zeit mehren sich im Schrifttum Stimmen, die die vom Gesetzgeber seit dem Opferschutzgesetz von 1986 betriebene Aufwertung des Verletzten im Strafverfahren kritisch reflektieren und eine Verschiebung des Kräftefelds zum Nachteil des Angeklagten ausmachen. Die Kritik setzt an unterschiedlichen Punkten an. Seit dem Erlass des 2. Opferrechtsreformgesetzes im Jahr 2009 entzündet sie sich vor allem an der Ausweitung der Nebenklagebefugnis durch die Auffangregelung für jeden durch eine rechtswidrige Tat Verletzten, der sich auf besondere Gründe berufen kann (§ 395 Abs. 3 StPO); nachdrücklich wird von „Entfesselung der Nebenklage“ und „Paradigmenwechsel im Strafverfahren“ gesprochen.1 Kritisiert werden aber auch die umfangreichen Informations- und Partizipationsrechte, die dem Verletzten seit 1986 eingeräumt worden sind; hierdurch sei die Zeugenfunktion des Verletzten in Gefahr geraten und die Wahrheitsfindung werde erschwert, da sich der Verletzte gezielt auf seine Aussage vorbereiten könne.2 Beschworen wird die Gefahr, dass unter dem Einfluss des Europäischen Rechts – Bezug genommen wurde insoweit bislang auf den Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union vom 15. März 2001 (2001/220/JI) über die Stellung des Opfers im Strafverfahren – ein Victim Impact Statement anglo-amerikanischer Prägung eingeführt werden könne; ein derartiges Element passe nicht zur Struktur des deutschen Strafverfahrens.3 Und hingewiesen wird auch darauf, dass sich die kriminalpolitische Entwicklung weitgehend ohne verlässliche, systematisch-empirische Grundlage vollziehe; insbesondere die rechtspolitische Begründung von Schutzrechten mit der Gefahr sekundärer Viktimisierung nehme insoweit eine unrühmliche Stellung ein.4 1
Bung, StV 2009, 434 ff.; vgl. auch Jahn/Bung, StV 2012, 759 ff. Schünemann, in: Michalke u. a. (Hrsg.), Festschrift für Rainer Hamm, 2008, 690 ff.; grundlegend bereits ders., NStZ 1986, 193 ff. 3 Anders, ZStW 124 (2012), 383 ff.; Große Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes, Gutachten zur Stärkung der Rechte des Opfers auf Gehör im Strafverfahren, 2010, 58 ff. 4 Kölbel, in: Barton/Kölbel (Hrsg.), Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, 213 ff.; ausführlich Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung als Legitimationsformel, 2012. 2
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In dieser Phase einer – jedenfalls in Deutschland – eher von der Kritik als der Zustimmung zu einer starken Opferstellung dominierten Diskussion verlangt ein neuer Vorstoß der Europäischen Union Beachtung, der auf die weitere Stärkung der Rechte und des Schutzes von Opfern im Strafverfahren zielt. Nachdem die Kommission am 18. 5. 2011 bereits den Vorschlag für eine entsprechende Richtlinie vorgelegt hatte,5 der in Deutschland nicht nur in den Gesetzgebungsgremien, sondern auch in den Verbänden diskutiert worden war, erließen das Europäische Parlament und der Rat die Richtlinie 2012/29/EU vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten, die den Rahmenbeschluss 2001/220/JI ersetzt hat. Die Ermächtigungsgrundlage für die Richtlinie findet sich in Art. 82 Abs. 2 AEUV, wonach die Rechte der Opfer von Straftaten zum Gegenstand der europäischen Rechtsangleichung gemacht werden können. In Richtlinien legt die EU Mindestvorschriften fest, die für die Mitgliedsstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels, nicht aber hinsichtlich der Wahl der Form und der Mittel verbindlich sind (Art. 288 Abs. 3 AEUV). Die Mitgliedsstaaten sind nicht gehindert, in dem betreffenden Sachbereich ein höheres Schutzniveau beizubehalten oder einzuführen (Art. 82 Abs. 2 Satz 4 AEUV). Wie der Europäische Gerichtshof im Zusammenhang mit dem Rahmenbeschluss 2001/220/JI entschieden hat, sind die nationalen Gerichte verpflichtet, die einschlägigen Vorschriften des nationalen Rechts gemeinschaftsrechtskonform auszulegen.6 Vor dem Hintergrund der jüngst verstärkt geäußerten Kritik an der Opferorientierung im Strafrecht stellt sich damit die Frage, in welchen Bereichen sich aus der Richtlinie vom 25. Oktober 2012 für das deutsche Recht Konsequenzen ergeben und wie diese vor dem Hintergrund der seit 1986 stattgefundenen Umgestaltung und Aufwertung der Rechtsposition des Verletzten zu bewerten sind.
II. Mindeststandards für den Opferschutz in der Europäischen Union 1. Ziele Ziel der Richtlinie ist es sicherzustellen, dass Opfer von Straftaten angemessene Informationen, angemessene Unterstützung und angemessenen Schutz erhalten und sich am Strafverfahren beteiligen können (Art. 1 Abs. 1). Für die praktische Rechtsanwendung hat dieser Programmsatz keinen hohen Stellenwert, weil er den Inhalt des Anspruchs auf Information, Unterstützung und Schutz unter den Vorbehalt der Angemessenheit stellt und die Reichweite der Beteiligung am Strafverfahren offen hält. Seine eigentliche Bedeutung liegt im Bereich der Prozessrechtstheorie: Mit der Richtlinie wird europaweit anerkannt, dass der Verletzte allein aufgrund seines Status als Opfer einer Straftat individuelle Ansprüche hat und sich aus eigenem Recht am 5 6
KOM (2011) 275; hierzu Brodowski, ZIS 2011, 949 f. EuGH NJW 2005, 2839 (2841, Rn. 43).
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Verfahren beteiligen kann. Früheren Auffassungen, dass der Verletzte nicht zu den Verfahrensbeteiligten zähle und seine aus der Straftat folgenden individuellen Ansprüche lediglich im Zivilprozess verfolgen könne,7 ist damit der Boden entzogen. Historisch ist diese Sicht auf den Verletzten vergleichsweise jung und hat sich auch in Deutschland erst in der Folge des Opferschutzgesetzes von 1986 etabliert,8 so dass die Klarstellung in der Richtlinie uneingeschränkt zu begrüßen ist. Zur Begründung verweist die Richtlinie auf die Grundrechte und Grundsätze, die mit der Grundrechtecharta der Europäischen Union anerkannt wurden (Erwägungsgrund 66). In der Sache deckt sich dies mit der deutschen Grundrechtsdogmatik, die die Grundrechte heute nicht mehr nur als Abwehrrechte gegen den Staat, sondern auch als Wurzel für die Begründung staatlicher Schutzpflichten versteht,9 und damit einen der rechtstheoretischen Ausgangspunkte für die Begründung der eigenständigen Stellung des Verletzten im Strafverfahren liefert.10 2. Begriffsbestimmungen Im Mittelpunkt steht der Begriff des „Opfers“. In Deutschland ist der Begriff vor allem in Verteidigerkreisen verpönt, weil er emotional besetzt sei11 und die Vorläufigkeit der Rechtsstellung nicht hinreichend deutlich zum Ausdruck bringe; ob derjenige, der in einer Strafanzeige den Opferstatus für sich reklamiere, wirklich „Opfer“ oder nicht möglicherweise „Täter“ einer Falschbeschuldigung sei, lasse sich erst nach dem rechtkräftigen Abschluss des Verfahrens entscheiden. Die Kritik scheint auf den ersten Blick berechtigt. Anerkennen muss man allerdings auch, dass es im Deutschen keinen Begriff gibt, der das aus Verteidigersicht Gemeinte präzise auf den Punkt bringen würde; das sprachliche Gegenstück zum „Tatverdächtigen“ bzw. „Beschuldigten“ gibt es im Deutschen auf der Opferseite nicht. Die Begriffe des „Verletzten“ und des „Geschädigten“ sind zwar geläufig und dabei weniger emotionsgeladen, aber auch sie bringen sprachlich nicht hinreichend zum Ausdruck, dass die Verletzung bzw. Schädigung bis zum Urteil nur behauptet wird und keineswegs feststeht. Überzeugend ist die Kritik an dem Begriff deshalb nicht. Im Übrigen spricht die Europäische Richtlinie – konsequent – nicht nur vom „Opfer“ (victim), sondern auch vom „Straftäter“ (offender) und macht in diesem Zusammenhang explizit deutlich, dass die Unschuldsvermutung hierdurch nicht berührt werden soll (Erwägungsgrund 12).
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Vgl. nur Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Teil I, 2. Aufl. 1964, Rn. 80. Vgl. BT-Drucks. 10/5305, 16; Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, StPO und GVG, 24. Aufl. 1988, 1. Bd., Einl. Kap. 9 Rn. 6. 9 Stern, DÖV 2010, 241 ff.; Epping, Grundrechte, 5. Aufl. 2012, Rn. 123 f. 10 Walther, in: Müller-Dietz u. a. (Hrsg.), Festschrift für Heike Jung, 2007, S. 1051 ff.; Burgi, in: Depenheuer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Josef Isensee, 2007, 659 ff.; insoweit kritisch Holz, Justizgewähranspruch des Verbrechensopfers, 2007, 61 ff. 11 Vgl. Ladenburger, in: Barton/Kölbel (Fn. 4), 290 f. 8
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Bei der Definition des Opferbegriffs gibt es gegenüber dem Rahmenbeschluss von 2001 eine wesentliche Neuerung: „Opfer“ ist nicht mehr nur jede natürliche Person, die als direkte Folge einer Straftat eine körperliche, geistige oder seelische Schädigung oder einen wirtschaftlichen Verlust erlitten hat, sondern ähnlich wie bei der deutschen Nebenklagebefugnis (§ 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO) werden in der Richtlinie erstmals auch die Familienangehörigen des durch eine rechtswidrige Tat Getöteten als „Opfer“ eingeordnet, sofern sie durch den Tod des Betreffenden eine Schädigung erlitten haben (Art. 2 Abs. 1 Buchst. a). Die Erweiterung klingt vertraut, führt aber aus deutscher Sicht zu einer Neuerung, die es bislang noch nicht gab: Zu den „Familienangehörigen“ zählt künftig auch die Person, die mit dem Opfer stabil und dauerhaft in einer festen intimen Lebensgemeinschaft zusammenlebt und mit ihm einen gemeinsamen Haushalt führt (Art. 2 Abs. 1 Buchst. b), kurz: der nichteheliche Lebenspartner des Getöteten. Das deutsche Strafrecht hat sich – anders als das Sozialrecht, vgl. etwa § 7 Abs. 3 und 3a SGB II – bislang immer schwer damit getan, nichteheliche Lebensgemeinschaften der Ehe und der Lebenspartnerschaft i. S. des LPartG gleichzustellen. In der Sache ist der Vorstoß der EU berechtigt, wird damit doch der gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung getragen und eine Ungleichbehandlung beseitigt, die bislang nicht zu erklären war: Wenn aus einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft ein Kind hervorgegangen war, konnte sich bei Tötung eines Elternteils in Deutschland zwar das Kind, aber nicht der Partner als Nebenkläger dem Verfahren anschließen. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass der Gesetzgeber den von der Richtlinie gesetzten Impuls aufgreift und die Gleichstellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaften nicht nur im 5. Buch der StPO, sondern auch in den beiden anderen einschlägigen Bereichen, nämlich beim Strafantragsrecht (§ 77 Abs. 2 Satz 1 StGB) und beim Zeugnisverweigerungsrecht (§ 52 Abs. 1 Nr. 2 StPO) vornimmt. Der Arbeitskreis Alternativ-Entwurf, dem der Jubilar über viele Jahre hinweg angehört hat, hat schon 1996 entsprechende Formulierungsvorschläge vorgelegt (§ 52 Abs. 1 Nr. 4 AE-ZVR).12 – Eine zweite begrüßenswerte Neuerung bringt die Richtlinie mit der Erstreckung des Begriffs der „Familienangehörigen“ auf die Unterhaltsberechtigten des Getöteten; auch hier liegt die Betroffenheit durch die Tat auf der Hand, selbst wenn der deutsche Bundesgerichtshof bei der Nebenklagebefugnis nach § 395 Abs. 3 StPO in einer jüngeren Entscheidung „allein das wirtschaftliche Interesse“ zur Begründung besonderer Schutzbedürfnisse nicht als ausreichend anerkennen will.13 3. Information und Unterstützung Systematisch gliedert sich die Richtlinie neben den allgemeinen Bestimmungen und den Schlussbestimmungen in drei Hauptteile: ein Kapitel, in dem die Rechte der Verletzten auf Information und Unterstützung benannt werden (Art. 3 bis 9), ein Kapitel, in dem das bereits in der Zielsetzung erwähnte Recht auf Teilnahme am Straf12 Baumann u. a., Alternativ-Entwurf Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmefreiheit (AE-ZVR), 1996, 38 f. 13 BGH StV 2012, 710 (711).
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verfahren konturiert wird (Art. 10 bis 17), und ein Kapitel, in dem die Schutzansprüche der Opfer sowie die Anerkennung von Opfern mit besonderen Schutzbedürfnissen geregelt werden (Art. 18 bis 24). Das im ersten Hauptteil genannte Recht auf Information wird in der Richtlinie in fünf Teilaspekte aufgefächert: ein Recht zu verstehen und verstanden zu werden (Art. 3), ein Recht auf Information bei der ersten Kontaktaufnahme mit der zuständigen Behörde (Art. 4), Rechte bei der Erstattung der Anzeige (Art. 5), ein Recht auf Information zu dem konkreten Fall, nachdem die Anzeige erstattet worden ist (Art. 6), sowie ein Recht auf Dolmetscherleistung und Übersetzung (Art. 7). Aus deutscher Sicht sind die genannten Informationsrechte weitgehend unproblematisch. Überwiegend waren sie bereits im Rahmenbeschluss von 2001 enthalten (Art. 4 und 5) und haben im Gesetzesrecht an unterschiedlichen Stellen Ausdruck gefunden, namentlich bei den Hinweisen, die dem Verletzten nach § 406h StPO „möglichst frühzeitig, regelmäßig schriftlich und soweit möglich in einer für sie verständlichen Sprache“ gegeben werden müssen, sowie bei den Informationen zum konkreten Fall, die ihm nach § 406d StPO auf Antrag und nach § 171 StPO von Amts wegen mitzuteilen sind. Derzeit noch nicht den europäischen Standards entspricht das Recht, auf Antrag Informationen über den Zeitpunkt und den Ort der Hauptverhandlung sowie der Art der gegen den Täter erhobenen Beschuldigungen zu erhalten (Art. 6 Abs. 1 Buchst. b); bislang hat dieses Recht nur der nebenklagebefugte Verletzte (§ 397 Abs. 1 Satz 2, § 406g Abs. 1 Satz 4 StPO), so dass eine Verallgemeinerung auf sämtliche Verletzten erforderlich ist. Mitzuteilen sind dem Verletzten dabei nicht nur Zeit und Ort der erstinstanzlichen Hauptverhandlung, sondern auch der Verhandlungen im Rechtsmittelverfahren (Erwägungsgrund 31). Dem Recht auf Dolmetscherleistung und Übersetzung (Art. 7) hat der deutsche Gesetzgeber bereits im Opferrechtsreformgesetz Rechnung getragen, wenn auch ebenfalls begrenzt auf die nebenklagebefugten Verletzten (§ 187 Abs. 2 GVG).14 Eine für Deutschland wesentliche Klarstellung findet sich hier in dem Recht, bei sprachlichen Problemen auf Antrag kostenlos Übersetzungen der für die Ausübung der Rechte im Strafverfahren wesentlichen Informationen zu erhalten (Art. 7 Abs. 3); dabei soll der Verletzte unter Angabe von Gründen beantragen können, dass ein Dokument als wesentlich betrachtet wird (Absatz 5). Bislang ist umstritten, ob der Anspruch auf Akteneinsicht (§ 406e Abs. 1 StPO) bzw. die Erteilung von Auskünften und Abschriften (Absatz 5) auch einen Anspruch auf Übersetzung beinhaltet.15 Es ist deshalb konsequent und richtig, dass das Problem in der Richtlinie auf eine Weise gelöst wird, die eine Benachteiligung sprachunkundiger Verletzter vermeidet. Das in dem ersten Hauptteil ebenfalls geregelte Recht des Verletzten auf Zugang zu Opferunterstützungsdiensten (victim support services, Art. 8) sowie die Konturierung der von diesen Diensten zur Verfügung zu stellenden Leistungen 14
Vgl. BT-Drucks. 15/1976, 19 f. Verneinend Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., 2010, § 406e Rn. 12; a.A. Kuhn, ZRP 2005, 128 f. 15
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(Art. 9) betreffen eher pragmatische Fragen und sind für die Analyse der Rechtsstellung des Verletzten nicht von Bedeutung. 4. Teilnahme am Strafverfahren Der zweite Hauptteil der Richtlinie konturiert das Recht auf Teilnahme am Strafverfahren. Hier nennt der Richtliniengeber insgesamt acht Teilrechte, die europaweit als Mindeststandards gelten sollen: Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 10), Recht auf Überprüfung der Entscheidung, auf die Strafverfolgung zu verzichten (Art. 11, was in Deutschland vor allem die Einstellungsentscheidungen betrifft), Recht auf Schutz vor sekundärer oder wiederholter Viktimisierung, vor Einschüchterung und Vergeltung bei Teilnahme an einem Wiedergutmachungsdienst (Art. 12, womit in Deutschland der Täter-Opfer-Ausgleich gemeint ist, vgl. Art. 2 Abs. 1 Buchst. d), Anspruch auf Prozesskostenhilfe und Kostenerstattung (Art. 13 und 14), Recht auf Rückgabe von Vermögenswerten (Art. 15), Recht auf Entscheidung über Entschädigung im Rahmen des Strafverfahrens (Art. 16) und Recht auf Minimierung von Schwierigkeiten, wenn das Opfer seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedsstaat als dem der Tat hat (Art. 17). In Deutschland wurde in der jüngeren Vergangenheit vor allem über den Anspruch auf rechtliches Gehör diskutiert, der bereits im Rahmenbeschluss von 2001 enthalten war (Art. 3 Abs. 1).16 Der Europäische Gerichtshof hat insoweit entschieden, aus dem Anspruch folge jedenfalls, dass dem Verletzten neben der Möglichkeit, objektiv den Tathergang zu beschreiben, auch die Gelegenheit gegeben werden müsse, „seinen Standpunkt vorzutragen“, wobei freilich nicht ganz klar ist, was damit genau gemeint ist; Rechte hinsichtlich der Entscheidung über die Art oder Höhe der gegen den Täter verhängten Strafe sollen hiermit jedenfalls nicht verbunden sein.17 Dem politischen Ziel der Richtlinie, die Opferstellung innerhalb der vorhandenen Strafrechtssysteme aufzuwerten und den Verletzten mit Achtung und Anerkennung entgegenzukommen, dürfte es am ehesten entsprechen, wenn das Recht auf Gehör als Anspruch verstanden wird, in dem jeweiligen Verfahrensabschnitt an der Rekonstruktion der Wahrheit über den Tathergang und die Auswirkungen der Tat teilnehmen und diese durch das Beibringen von Beweismitteln beeinflussen zu können; diese Teilnahme braucht weder formalisiert zu sein (etwa im Sinne eines Rechts zur Abgabe eines „Victim Impact Statement“) noch muss sie zwingend vor Gericht erfolgen (da sich Art. 10 der Richtlinie anders als Art. 103 Abs. 1 GG nicht auf das Gehör „vor Gericht“ bezieht) noch muss sie mündlich erfolgen (Erwägungsgrund 41). Aus dem Recht auf Gehör ergibt sich damit keine strukturelle Umgestaltung des deutschen Strafverfahrens,18 wohl aber ein Anspruch darauf, in dem jeweiligen Verfah16 Hanloser, Das Recht des Opfers auf Gehör im Strafverfahren, 2010, 63 ff.; Große Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes (Fn. 3). 17 EuGH NJW 2012, 41 (43, Rn. 59 f.); 595 (597, Rn. 42 f.). 18 So ausdrücklich Weigend, in: Barton/Kölbel (Fn. 4), 49 f.
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rensabschnitt gehört zu werden, ehe eine verfahrensabschließende Entscheidung ergeht. Schnelle Hauptverhandlungen, in denen das Verfahren allein auf der Grundlage des Geständnisses des Angeklagten abgeschlossen wird, dürften damit schwieriger werden. Allerdings sind derartige Verfahrenserledigungen, wenn sie auf Absprachen beruhen, schon nach geltendem Recht daran gebunden, dass dem Verletzten als Verfahrensbeteiligten vorher die Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde (§ 257c Abs. 3 Satz 3 StPO), und auch nach den allgemeinen Regelungen (§§ 33, 33a StPO) steht ihm das Anhörungsrecht zu.19 Soweit die Praxis heute noch anders verfährt, weil der Begriff des „Verfahrensbeteiligten“ auf Nebenkläger verkürzt wird, dürften entsprechende Korrekturen erforderlich sein. Eine Änderung empfiehlt sich in Deutschland mit Blick auf das Recht zur Anfechtung von Einstellungsentscheidungen (Art. 11). Soweit es Einstellungsentscheidungen nach § 170 Abs. 2 StPO betrifft, befindet sich Deutschland mit den §§ 172 ff. StPO zwar auf der Linie des europäischen Rechts und beschränkt auf Nebenkläger gilt dies auch für den Nichteröffnungsbeschluss nach § 204 StPO (§ 400 Abs. 2 Satz 1 StPO). Defizitär ist das deutsche Recht aber bekanntlich, soweit es die Opportunitätseinstellungen nach §§ 153 ff. StPO betrifft (§ 172 Abs. 2 Satz 3 StPO): Das Klageerzwingungsverfahren gegen die staatsanwaltschaftliche Verfahrenseinstellung kommt hier nur in engen, von der Rechtsprechung entwickelten Grenzen in Betracht, die auf die Begründung gestützt werden, die im Gesetz genannten Einstellungsvoraussetzungen hätten nicht vorgelegen;20 im Übrigen steht dem Verletzten lediglich die formlose, fristlose und in der Regel fruchtlose Dienstaufsichtsbeschwerde zur Verfügung. Hilfreich wäre es, die von den Gerichten entwickelten Rechtsschutzmöglichkeiten im Gesetz in einer an § 28 Abs. 3 EGGVG angelehnten Weise ausdrücklich zu regeln; Formulierungsvorschläge sind insoweit bereits in den 1980er Jahren unterbreitet worden.21 Die Klarstellung empfiehlt sich schon deshalb, weil der Verletzte nach der Richtlinie von der Einstellungsbehörde über das Anfechtungsrecht informiert werden muss (Art. 4 Abs. 1 Buchst. h), was erfahrungsgemäß leichter fällt, wenn die entsprechende Rechtsposition explizit ausformuliert worden ist. Soweit es die gerichtlichen Opportunitätseinstellungen betrifft, ist die Anfechtungsbefugnis des Verletzten im geltenden Recht gar nicht gegeben; die ganz h.M. lehnt sie mit Blick auf § 400 Abs. 2 Satz 2 StPO ab.22 Nach der Richtlinie ist ein entsprechender Ausbau der Rechtsstellung des Verletzten auch nicht zwingend erforderlich (Erwägungsgrund 43). Dennoch ist es ein unterstützenswertes rechtspolitisches Desiderat, die Rechtsmittelbefugnis des Verletzten in den Grenzen von § 28 Abs. 3 EGGVG auch gegen richterliche Opportunitätseinstellungen zu eröffnen, um den mancherorts zu beobachtenden allzu leichtfertigen Umgang der Justiz mit den 19
Walther, GA 2007, 621 f.; vgl. auch Weigend, in: Barton/Kölbel (Fn. 4), 47 f. SK-StPO-Wohlers, Bd. III, 4. Aufl., 2011, § 172 Rn. 38 m.w.N. 21 Werner, Der Einfluss des Verletzten auf Verfahrenseinstellungen der Staatsanwaltschaft, 1986, 326 ff. 22 BVerfG NJW 1995, 317 (318); BGH NJW 2002, 2401 m. zust. Anm. Radtke, JR 2003, 128. 20
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durch § 257c StPO eröffneten Möglichkeiten zur (Teil-)Einstellung insbesondere nach § 154 StPO einer externen Kontrolle zuzuführen.23 Im geltenden Recht ist es ein systematischer Widerspruch, dass der Nebenkläger zwar den Freispruch (§ 400 Abs. 1), aber nicht die Opportunitätseinstellung anfechten kann.24 Die weiteren Rechte, die die europäische Richtlinie für die Teilnahme des Verletzten am Strafverfahren konstituiert, waren überwiegend bereits Gegenstand des Rahmenbeschlusses von 2001 und sind im deutschen Bereich zwischenzeitlich bereits fest verankert. Im Grundsatz gilt dies auch für das Recht auf Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit dem Täter-Opfer-Ausgleich (Art. 12), das sich in Deutschland bereits weitgehend aus dem Freiwilligkeitsgebot des § 155a Satz 3 StPO sowie den untergesetzlich in den TOA-Richtlinien der Länder normierten Eignungskriterien ergibt. Insoweit muss allerdings noch das im Schrifttum bereits seit langem monierte Problem gelöst werden,25 dass für die im Rahmen des Täter-Opfer-Ausgleichs geführten Gespräche die Vertraulichkeit explizit ausformuliert werden sollte (Art. 12 Abs. 1 Buchst. e). Soweit die Ausgleichsstelle nicht bei behördlichen, sondern bei freien Trägern angesiedelt ist, so dass das Problem nicht über die Versagung einer Aussagegenehmigung gelöst werden kann (§ 54 Abs. 1 StPO), haben die in den Ausgleichsstellen tätigen Mediatoren in Deutschland kein Zeugnisverweigerungsrecht; § 4 MediationsG ist auf den Täter-Opfer-Ausgleich nicht anwendbar.26 In der Sache ließe sich das Problem am Ehesten durch ein Verwertungsverbot lösen, so wie es bei gescheiterten Abspracheverhandlungen bereits für das Geständnis des Angeklagten gilt (§ 257c Abs. 4 Satz 3 StPO). Die gegenwärtige Praxis, dass die in den Ausgleichsstellen tätigen Mediatoren einvernehmlich nicht als Zeugen geladen werden, ist nicht nur aus systematischen Gründen unbefriedigend, sondern auch mit dem Amtsaufklärungsgrundsatz (§ 244 Abs. 2 StPO) nicht vereinbar. Gegenüber dem Rahmenbeschluss von 2001 neu ist in der Richtlinie lediglich der Anspruch auf Prozesskostenhilfe (Art. 13), dem in Deutschland aber schon in der lex lata Rechnung getragen wird (§ 397a Abs. 1 und 2, § 406g Abs. 3 und 4, § 68b Abs. 2 StPO). 5. Schutz der Opfer und Anerkennung von Opfern mit besonderen Schutzbedürfnissen Im dritten Hauptteil wird zunächst in vier Artikeln der Schutz der Opfer vor sekundärer und wiederholter Viktimisierung, vor Einschüchterung und vor Vergeltung normiert, ehe es in drei weiteren Artikeln um Regelungen für den Schutz von Opfern mit besonderen Schutzbedürfnissen geht. Die Verpflichtungen, die sich aus den ers23 Vgl. Vorschlag 6 der Arbeitsgruppe „Kriminalität und Sicherheit“ in dem von der Bundeskanzlerin 2011/12 veranstalteten Expertendialog (Dialog über Deutschland, Langfassung des Expertenberichts, 104 f.; im Internet abrufbar); in dieselbe Richtung argumentiert aber schon Schünemann, in: Michalke u. a. (Fn. 2), 698 f. 24 BGH NJW 2002, 2401. 25 Vgl. etwa Meier, in: Barton (Hrsg.), Beziehungsgewalt und Verfahren, 2004, 101 ff. 26 BT-Drucks. 17/5335, 11.
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ten vier Artikeln ergeben – ein allgemeiner Anspruch auf opferschützende Maßnahmen (Art. 18), ein Recht auf weitmögliches Vermeiden des Zusammentreffens mit dem Täter (Art. 19), ein Recht auf weitmögliche Schonung während der strafrechtlichen Ermittlungen (Art. 20) und ein Recht auf Schutz der Privatsphäre (Art. 21) – sind in Deutschland seit 1986 ebenfalls bereits erfüllt worden; ein rechtlicher Anpassungsbedarf besteht insoweit nicht. Auf der rechtstatsächlichen Ebene hört man allerdings, dass die baulichen Voraussetzungen für ein getrenntes Warten von Verletzten und Angeklagten vor Beginn der Verhandlung immer noch nicht allerorten gegeben sind. Ein nach wie vor nur schwer zu lösendes Desiderat beschreibt im Übrigen Art. 21 der Richtlinie, der den Schutz auf Recht der Privatsphäre, insbesondere im Umgang mit den Medien normiert. Soweit es die Voraussetzungen betrifft, unter denen die Strafverfolgungsorgane berechtigt sind, Informationen über die Verletzten an die anderen Verfahrensbeteiligten, aber auch an interessierte Dritte wie insbesondere die Medien weiterzugeben, hält das geltende Recht zwar ausreichend differenzierte Regelungen bereit (§ 68 Abs. 2 bis 5, § 200 Abs. 1 Satz 3 bis 5, § 222 Abs. 1 Satz 3, § 475 StPO, Presserichtlinien der Länder27). Soweit es jedoch die Art und Weise betrifft, in der in den Medien über Verletzte berichtet wird, ist die Geltendmachung der aus der Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts folgenden Ansprüche entweder sehr aufwendig oder zahnlos; bekanntestes Beispiel für letzteres ist die Strafnorm des § 33 KUG, die vom Gesetzgeber lediglich als Privatklagedelikt behandelt wird (§ 374 Abs. 1 Nr. 8 StPO). Die vom Arbeitskreis Alternativ-Entwurf im Jahr 2004 unterbreitete Empfehlung zur Einführung eines vom Verletzten geltend zu machenden, pauschalierten symbolischen „Bußgelds“ in Höhe von 1.000 bis 5.000 Euro ist von der Rechtspolitik bedauerlicherweise nicht aufgegriffen worden.28 Auch der von der europäischen Richtlinie geforderte Schutz von Opfern mit besonderen Schutzbedürfnissen ist in Deutschland bereits weitgehend umgesetzt worden. Aufmerksamkeit verdient hier die Regelung, dass künftig alle Verletzten frühzeitig einer individuellen Begutachtung unterzogen werden sollen, in der besondere Schutzbedürfnisse ermittelt werden und festgestellt wird, welche besonderen Schutzmaßnahmen erforderlich sind (Art. 22). Der Begriff der „individuellen Begutachtung“ ist missverständlich und weckt Assoziationen an die Sachverständigenbegutachtung; im englischen Original heißt es indes „individual assessment“, was eher auf eine formlose Einstufung hindeutet, wie sie auch von der in dem jeweiligen Verfahrensabschnitt zuständigen Stelle, namentlich im Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft vorgenommen werden kann. Dem Vernehmen nach gibt es hier in der Praxis keine Schwierigkeiten: Sobald von der Gerichtshilfe,29 von Zeugenbetreuern oder den Verletzten selbst Hinweise auf spezifische Problemlagen, etwa Schutzbedürfnisse geäußert werden, trägt die Praxis dem im Rahmen des geltenden 27
Meier, in: Amelung u. a. (Hrsg.), Festschrift für Hans-Ludwig Schreiber, 2003, 331 ff. Schöch, in: Bannenberg u. a., Alternativ-Entwurf Strafjustiz und Medien (AE-StuM), 2004, 79 ff. 29 Zum Modell der Opferberichterstattung durch die Gerichtshilfe BGH NStZ 2008, 709; Hölscher u. a., NStZ 2008, 673 ff. 28
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Rechts schon gegenwärtig Rechnung. Dass das Verfahren formalisiert und die Entscheidung über den Status als „Opfer mit besonderen Schutzbedürfnissen“ rechtsmittelfähig gemacht werden müsste,30 ergibt sich weder aus dem Wortlaut der Richtlinie noch aus den vorangestellten Erwägungsgründen. Die Intensität der „individuellen Begutachtung“ soll Verhältnismäßigkeitsprinzipien genügen (Absatz 5) und nicht paternalistisch über den Kopf der Betroffenen hinweg erfolgen dürfen (Absatz 6), wobei der Vorrang der autonomen Entscheidung des Verletzten dem deutschen Rechtsanwender aus dem Regelungskontext des § 171b GVG bekannt ist. Der Richtliniengeber legt ausführlich dar, welche Umstände bei der Begutachtung zu berücksichtigen sind (Absätze 2 und 3, Erwägungsgründe 56 und 57), und ordnet Opfer im Kindesalter – alle minderjährigen Verletzten (Art. 2 Abs. 1 Buchst. c) – pauschal als „Opfer mit besonderen Schutzbedürfnissen“ ein (Absatz 4). Die besonderen Schutzmaßnahmen, die die Strafverfolgungsbehörden ergreifen können sollen, sind aus deutscher Sicht vergleichsweise moderat (Art. 23 Abs. 2 für das Ermittlungsverfahren, Absatz 3 für die Hauptverhandlung, Art. 24 für Opfer im Kindesalter). Das gilt auch für die Bestellung eines besonderen Vertreters, wenn die Sorgeberechtigten eines minderjährigen Verletzten aufgrund eines Interessenkonflikts von der Vertretung ausgeschlossen sind oder wenn es sich um ein unbegleitetes oder von seiner Familie getrenntes Kind handelt (Art. 24 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b); die lex lata hält die hierfür erforderlichen Rechtsgrundlagen – freilich ohne Beschränkung speziell auf minderjährige Verletzte – in den § 397a Abs. 1, § 406g Abs. 3, § 68b Abs. 2 StPO bereit. Ob und inwieweit die Praxis gerade auch der zuletzt genannten besonderen Situation unbegleiteter oder von der Familie getrennter Kinder Rechnung trägt, die Opfer von Straftaten geworden sind, aber aufgrund ihrer ungesicherten Lage von der Verteidigung leicht unter Druck zu setzen sind, ist ungewiss; der Richtliniengeber kann hier nicht mehr unternehmen als auf die Notwendigkeit der entsprechenden Schulung der betroffenen Berufsgruppen hinzuweisen (Art. 25).
III. Verschiebung der Kräfteverhältnisse im Strafprozess? Die Opferschutzrichtlinie 2012/29/EU erweist sich nach alledem nicht als Einfallstor für grundlegende Neuerungen im deutschen Recht. Die Änderungen, die in Deutschland erforderlich sein werden, bewegen sich im Bereich von moderaten Anpassungen. Es geht um normative Randkorrekturen, etwa bei der Anerkennung der nichtehelichen Lebensgemeinschaften, bei der Breite der dem Verletzten mitzuteilenden Informationen zu „seinem Fall“, bei der von der Rechtsprechung zu bewerkstelligenden Öffnung des im Gesetz vorfindlichen Begriffs des „(Verfahrens-)Beteiligten“ oder bei der gesetzlichen Absicherung des in der Praxis bereits einmütig anerkannten Schutzes der Vertraulichkeit der Kommunikation beim Täter-Opfer-Ausgleich. Im Vordergrund der Richtlinie steht nicht die normative Umgestaltung des Strafverfahrens hin zu einem „teilreprivatisierten“ Verfahren, dessen Ziel die Befrie30
So Bock, in: Barton/Kölbel (Fn. 4), 80 f.
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digung eines „Rechts des Opfers auf Bestrafung des Täters“ ist, so wie es im Schrifttum gelegentlich perhorresziert wird.31 Im Vordergrund stehen vielmehr – und zwar schon seit dem Rahmenbeschluss 2001/220/JI – die Achtung der besonderen Situation, in der sich ein durch eine Straftat Geschädigter befindet, die Anerkennung des besonderen Interesses, das sich aus dem strafnormwidrigen Verhalten eines anderen an der Durchführung des Strafverfahrens ergibt, und die Ermöglichung der Teilnahme an diesem Verfahren, ohne dabei die Verfahrensstruktur grundlegend zu ändern. Von einem „Paradigmenwechsel“ im Strafprozess kann keine Rede sein.32 Bedeutsam ist auch, was die Richtlinie der EU nicht regelt: Offensivrechte des Verletzten werden nicht etabliert; die aktive Mitwirkung am Verfahren, um ein angebliches „Recht auf Bestrafung des Täters“ durchzusetzen, wird an keiner Stelle gefordert. Auch in der Rechtsprechung des EuGH wird ein solches Recht nicht anerkannt.33 Nun darf man freilich nicht übersehen, dass die Richtlinie der EU im deutschen Recht vor allem deshalb keine grundlegende Neuerung bringt, weil der deutsche Gesetzgeber die Rechtsstellung des Verletzten in wesentlichen Punkten bereits vor dem Erlass der Richtlinie umgestaltet hat;34 die Richtlinie bringt lediglich eine Entwicklung zu einem vorläufigen Abschluss, die in Deutschland bereits im Jahr 1986 begonnen hat. Um die eingangs skizzierte Kritik aus dem Schrifttum aufzugreifen, darf deshalb nicht nur die Richtlinie von 2012 in den Blick genommen werden, sondern man muss die rechtspolitische Entwicklung in ihrer Gesamtheit betrachten und fragen, ob sich die Kräfteverhältnisse seit 1986 zum Nachteil des Angeklagten verschoben haben. Hat die Aufwertung des Verletzten vom „forgotten man“35 zum Verfahrensbeteiligten die Stellung des Angeklagten verschlechtert? Ist der Angeklagte an den Rand eines Verfahrens gerückt, das heute ganz im Zeichen der Opferinteressen („Alle wollen Opfer sein“36) steht?37 Schon ein kurzer Blick auf Recht und Empirie des Strafverfahrens zeigt, dass mit der Aufwertung des Verletzten keine Einschränkungen in der Rechtsposition des Beschuldigten einhergegangen sind. Eher im Gegenteil, schon im ersten Gesetz, dem Opferschutzgesetz von 1986, hat sich der Gesetzgeber bemüht, die Stärkung der Rechtsposition des Verletzten durch die Erweiterung der Voraussetzungen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers zu kompensieren (§ 140 Abs. 2 StPO). Die Angriffs- und Verteidigungsbefugnisse sind unangetastet geblieben, und die durch die jüngere Rechtsprechung vorgenommene Stärkung des Rechts auf konfrontative Befragung des Belastungszeugen (Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK) hat sich erkennbar
31
Jahn/Bung, StV 2012, 760. So auch Weigend, in: Dölling u. a. (Hrsg.), Festschrift für Heinz Schöch, 2010, 960 f. 33 EuGH NJW 2012, 41 (43, Rn. 60); 595 (597, Rn. 43). 34 Darstellung der wesentlichen Entwicklungslinien bei Herrmann, ZIS 2010, 236 ff. 35 McDonald (ed.), Criminal justice and the victim, 1976, 19. 36 Vgl. Safferling, ZStW 122 (2010), 88. 37 So die Befürchtung von Herrmann, ZIS 2010, 245.
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zum Vorteil des Angeklagten ausgewirkt.38 Vor allem aber haben sich die Verteidigungsmöglichkeiten erweitert, indem der Gesetzgeber die freiwillige Wiedergutmachung der Tatfolgen nicht nur 1986 als Strafzumessungsfaktor grundsätzlich anerkannt (§ 46 Abs. 2 StGB), sondern 1994 sogar noch einmal aufgewertet hat (§ 46a StGB); für die Strafmaßverteidigung haben sich hierdurch Handlungsspielräume eröffnet, die vorher nicht zur Verfügung standen. Von einer Verschiebung des Kräftefelds kann deshalb nicht mit Blick auf die rechtliche Stellung des Beschuldigten/ Angeklagten gesprochen werden, sondern nur mit Blick auf die Rechtswirklichkeit, die Dynamik des Strafprozesses, die sich unter dem Einfluss der Opfergesetzgebung verändert hat: Von Rechtsanwälten begleitete Verletzte sind (möglicherweise) selbstbewusster und (vielleicht) in ihrer Glaubwürdigkeit schwerer zu erschüttern als Verletzte, denen die Unterstützung fehlt. Der Ablauf und das Ergebnis eines Verfahrens lassen sich schwerer vorhersehen, wenn am Verfahren auch ein Nebenkläger mitwirkt, der auf den Verfahrensablauf mit Beweisanträgen Einfluss nehmen und den Freispruch aus eigenem Recht anfechten kann. Die Verfahren können länger dauern und die Schwere der von den Gerichten verhängten Strafen mag bei Nebenklägerbeteiligung zugenommen haben.39 Und auch die Kostenlast des Verurteilten hat sich mit der Erweiterung des Kreises der Nebenklagebefugten erhöht (§ 472 StPO). Mit dem Ausbau der Rechtsstellung des Verletzten sind, so wird man die Entwicklung seit 1986 zusammenfassen können, neue Belastungen auf den Angeklagten zugekommen – aber es haben sich eben auch neue Verteidigungsoptionen eröffnet, selbst wenn diese von Verteidigerseite nur selten thematisiert werden.40 Die Strafverfahren sind, mit anderen Worten, unübersichtlicher, komplexer geworden. Man kann diese Entwicklung, die der Strafprozess seit 1986 genommen hat, rechtspolitisch kritisieren, und dabei hintanstellen, dass in anderen Sachbereichen ähnliche Entwicklungen stattgefunden haben, die ebenfalls einen Beitrag zu Erhöhung der Komplexität geleistet haben; zu denken ist etwa an die Vorverlagerung des materiellen Strafrechtsschutzes, den Ausbau der strafprozessualen Eingriffsbefugnisse, die Gewichtsverlagerung von der Staatsanwaltschaft auf die Polizei oder die Legalisierung der Absprachenpraxis.41 Dass sich die Entwicklung aufhalten oder gar rückgängig machen ließe, indem etwa für die Befriedigung der Verletzteninteressen die Einführung eines neuen, eigenständigen Verfahrenstyps gefordert wird („isoliertes Opferschutzverfahren“42), scheint jedoch wenig aussichtsreich. Die Richtlinie der EU weist vielmehr in die richtige Richtung: Rechtspolitisch geht es darum, die Interessen des Verletzten in das Strafverfahren zu integrieren und mit den Aufgaben und Interessen der anderen Verfahrensbeteiligten zu einem sachge38
Vgl. etwa die Entscheidungen BGHSt 46, 93 und 51, 150; zur Entwicklung Jung, GA 2009, 235 ff. 39 Barton, StraFo 2011, 161 ff. 40 Zum Täter-Opfer-Ausgleich aus Verteidigersicht Püschel, StraFo 2006, 261 ff.; Detter, in: Hiebl u. a. (Hrsg.), Festschrift für Volkmar Mehle, 2009, 157 ff. 41 Vgl. Meier, Kriminologie, 4. Aufl., 2010, 239 ff. 42 Ergebnisse des 36. Strafverteidigertags, StV 2012, 437.
Neues aus Europa? Die Opferschutzrichtlinie der EU
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rechten, an der Funktion des Verfahrens orientierten Ausgleich zu bringen. Insofern ist es zu begrüßen, dass die Richtlinie noch einmal deutlich macht, dass eine Straftat nicht nur ein Unrecht gegenüber der Gesellschaft, sondern auch eine Verletzung der individuellen Rechte des Opfers ist (Erwägungsgrund 9). Die Straftatbestände konstituieren mit ihren Verbotsnormen nicht nur die Rechtsgüter, deren Schutz im übergeordneten gesellschaftlichen Interesse liegt, sondern auch die subjektive Rechtsstellung des von der Tat betroffenen Einzelnen; an die Tat knüpfen sich vielfältige Rechtsfolgen, die von den unter dem Damoklesschwert der Strafbarkeit stehenden Verteidigungsrechten bis hin zu zivil- und sozialrechtlichen Ansprüchen reichen und die es legitimieren, dass der Verletzte an der Feststellung des Normbruchs beteiligt wird. Man kann diese Sichtweise als neues, „individualistisches“ Verständnis von der Bedeutung der Straftatbestände kennzeichnen,43 aber es spiegelt sich hierin auch wider, dass sich der Blick auf das (Straf-)Recht insgesamt gewandelt hat und heute stärker als zu den Zeiten der frühen Strafrechtstheoretiker der soziale Kontext berücksichtigt wird, in dem das (Straf-)Recht wirkt. Die Straftat ist immer noch ein Konflikt mit dem Recht, der im Verhältnis von Beschuldigtem und Staat aufgearbeitet werden muss. Aber die Straftat hat – in den Worten von Walther44 – eben auch eine „Realdimension“, an dessen Aufarbeitung sich der Verletzte beteiligen können muss, wenn ihm dies sinnvoll und notwendig erscheint. Die eingangs skizzierte Kritik an der Aufwertung des Verletzten im deutschen Recht und indirekt an der Konsolidierung dieser Entwicklung durch die Opferschutzrichtlinie der EU verdient nach alledem keine Gefolgschaft. Dass die Richtlinie keinen Anlass zu der Befürchtung gibt, es könne im Strafprozess ein Victim Impact Statement angloamerikanischer Prägung eingeführt werden, wurde bereits gesagt. Im Übrigen sei nur am Rande darauf hingewiesen, dass sich die Amtsaufklärungspflicht sowohl der Staatsanwaltschaft (§ 160 Abs. 1 bis 3 StPO) als auch des Gerichts (§ 244 Abs. 2 StPO) von jeher nicht nur auf die Schuld-, sondern auch auf die Straffrage bezieht und die schuldangemessene Strafe ohne die Ermittlung der verschuldeten Auswirkungen der Tat (§ 46 Abs. 2 StGB) nicht gefunden werden kann; dies setzt ganz unabhängig von der Opferschutzgesetzgebung des letzten Vierteljahrhunderts regelmäßig voraus, dass der Verletzte hierzu in der Hauptverhandlung gehört und erschöpfend vernommen wird. Richtig ist – um einen anderen Kritikpunkt aufzugreifen –, dass sich die kriminalpolitische Entwicklung in weiten Teilen nicht auf der Grundlage valider empirischer Befunde, sondern eher auf der Grundlage von Einzelfallbeobachtungen vollzogen hat. Gerade die Richtlinie schafft insoweit allerdings Abhilfe, indem sie nicht nur eine „systematische und angemessene statistische Datenerhebung“ fordert (Erwägungsgrund 64), sondern für jedes Opfer eine individuelle Begutachtung zur Ermittlung besonderer Schutzbedürfnisse (Art. 22); weiter kann man nicht gehen. Dass die Wahrheitsfindung erschwert wird, wenn sich der Verletzte aufgrund seiner umfangreichen Informations- und Partizipationsrechte auf die 43 Hörnle, JZ 2006, 950 ff.; Weigend, RW 2010, 41; vgl. zum Ganzen im Übrigen Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl., 2009, 34 ff. 44 Walther, Vom Rechtsbruch zum Realkonflikt, 2000.
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Aussage vorbereiten kann, ist ebenfalls richtig, aber hierin liegt kein Spezifikum der Verletztenstellung. Auch für eine ganz andere Zeugenkategorie, nämlich Zeugen, die ihre Wahrnehmungen in amtlicher Funktion gemacht haben, insbesondere Polizeibeamte, gilt, dass sie sich auf die Vernehmung in der Regel anhand der verfügbaren Akten vorbereiten, was die Einsichtnahme in die gefertigten Protokolle einschließt. Die Verfahrensbeteiligten können hiermit umgehen; die Lösung der hierdurch entstehenden Probleme liegt in der freien Würdigung der erhobenen Beweise (§ 261 StPO). Was schließlich das Argument betrifft, die Nebenklage sei durch die Neufassung der Nebenklagebefugnis (§ 395 Abs. 3 StPO) „entfesselt“ worden, ist darauf hinzuweisen, dass die Befugnis zum Anschluss nach wie vor vom Vorliegen „besonderer Gründe“ abhängig ist. Die Metapher von der „Entfesselung“ geht an der Sache vorbei. Eher im Gegenteil ist es so, dass die von manchen Kritikern bejubelte Entscheidung des BGH, die das wirtschaftliche Interesse des Verletzten nicht als ausreichend anerkennt,45 im Lichte der Richtlinie der EU nicht hilfreich ist; in den Mindeststandards wird als Opfer auch derjenige anerkannt, der als direkte Folge einer Straftat „nur“ einen wirtschaftlichen Verlust erlitten hat (Art. 2 Abs. 1 Buchst. a). Der in der Richtlinie getroffenen Unterscheidung zwischen „einfachen Opfern“ und „Opfern mit besonderen Schutzbedürfnissen“ könnte im deutschen Recht problemlos Rechnung getragen werden, wenn es gelänge, den Anwendungsbereich der Nebenklage für die besonders schutzbedürftigen Opfer i. S. der Richtlinie zu öffnen; durch die Entscheidung des BGH vom 9. 5. 2012 ist dieser Weg schwieriger geworden. Auch wenn die Opferschutzrichtlinie der EU keine grundlegenden Änderungen (mehr) bringt, ist das letzte Wort über die Rechtsstellung des Verletzten im deutschen Strafverfahren deshalb sicherlich noch nicht gesprochen.
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BGH StV 2012, 710 (711).
Vorteilsgewährung und Korruption unter Privaten in Italien* Von Vincenzo Militello
I. Schwarze Kassen und Korruption unter Privaten als typische Verhaltensformen der modernen Wirtschaftskriminalität Dass durch nicht in der Bilanz angegebene Gelder Mittel und Wege geschaffen werden, die illoyale Mitglieder der Geschäftsleitung ausnutzen, um dem eigenen Unternehmen ungerechtfertigte Vorteile zu verschaffen, ist auch in Italien – wie es in Deutschland durch den Fall Siemens bekannt geworden ist – eine kriminologisch relevante Tatsache.1 Welcher Teil des Unternehmensvermögens vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen und Formen der Bestechung/Korruption unter Privaten zugeführt wird, ist nicht leicht festzustellen. Ungewiss ist auch der vermutlich beträchtliche Anteil dieser Ressourcen, der zur Bestechung von Amtsträgern bestimmt ist. Ebenfalls zu bedenken ist die geringere Aufmerksamkeit, mit der die Allgemeinheit dem Phänomen begegnet, wenn sich dieses auf die Sphäre privater Geschäfte beschränkt und damit nicht leicht von den normalerweise im wirtschaftlichen Wettbewerb angewandten Instrumenten zu unterscheiden ist. Die Vielfalt, mit der sich Korruption im privaten Bereich manifestiert, wurde letzthin in Italien anhand jüngster Ereignisse deutlich, als Gelder der politischen Parteien von den jeweiligen Schatzmeistern willkürlich verteilt wurden: Die Unsummen, die dabei ausgegeben wurden, führten schließlich zum Bekanntwerden des Phänomens. Aber auch abgesehen von diesen spezifischen Fällen hat die Verbreitung der Korruption in Italien den höchsten Punkt der aufsteigenden Kurve erreicht, die 2002 mit der Reform des Gesellschaftsstrafrechts begann.2 Diese Reform stellte ihrerseits * Die Übersetzung aus dem Italienischen erfolgte in Zusammenarbeit mit Jutta Hohe. Der Autor dankt auch Dr. Barbara Huber und Dr. Konstanze Jarvers für die Revision des deutschen Textes. 1 Vgl. in Deutschland z. B. Rönnau, FS Tiedemann, 2009, S. 713 f.; und schon Heine, in: Heine/Huber/Rose, Private Commercial Bribery, 2003, S. 609. In der italienischen Rechtsprechung schon Appellationsgericht Rome, 23. 6. 1988, in: Foro Italiano, 1989, II, Kolumne 420 m. Anm. Militello. Für den weiteren Verlauf des Falles siehe infra Par. 3. sowie auch Masucci, Infedeltà patrimoniale e offesa al patrimonio nella disciplina penale dei gruppi di società, 2006, S. 43 f. 2 Vgl. Decreto legislativo – im folg. D. Lgs. – 11. 4. 2002 n. 61 „Regelungen über die Straftaten und die Ordnungswidrigkeiten betreffend der unternehmerischen Gesellschaften“.
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einen Wendepunkt im Vergleich zu der Zeitspanne davor dar, die bis zum Anfang der 1990er Jahre mit der starken Anti-Korruptions-Kampagne Mani Pulite („Saubere Hände“) zurückgeht, die zwar schon lange her, aber in der internationalen Erinnerung noch durchaus präsent ist. Die öffentliche Haltung zu diesem Thema ist bis heute schwankend: Die Schwere der gegenwärtigen Korruptionsfälle machte allerdings letzthin die Wiedereinführung von Legalitätsstandards in das kollektive Leben Italiens dringend erforderlich. So wurde erst Ende 2012 – also gut zwanzig Jahre später als Mani Pulite und zwei Jahre nach seiner Vorlage – im italienischen Parlament endlich ein Anti-Korruptionsgesetz gebilligt.3 Der lange erwartete Text verfolgt eine doppelte Strategie – Vorbeugung und Repression –, wobei er über die im Titel genannte Amtsträgerkorruption hinausgeht und sich auch mit dem privaten Sektor beschäftigt. Modifiziert wird in mehreren Punkten insbesondere auch die vor zehn Jahren eingeführte Norm zur Bekämpfung von Phänomenen, welche dem allgemeinen Bereich der Korruption unter Privaten zugeschrieben werden können; selbige Norm war allerdings etwas undurchsichtig betitelt (sie hieb Untreue infolge einer Vorteilsgewährung oder eines -versprechens) und recht eng begrenzt, da sie sich nur an bestimmte Figuren im unternehmerischen Umfeld wandte. Die strafrechtliche Relevanz der verborgenen Praktiken der Korruption unter Privaten betrifft jedoch die Reichweite diverser Straftaten, von denen einige traditionell in der italienischen Rechtsordnung vorhanden sind (wie etwa Unterschlagung und Betrug, aber auch einige Steuerstraftaten), andere durch die schon genannten Reform des Gesellschaftsstrafrechts in neuer Form erscheinen (Bilanzfälschungen) oder eigens eingeführt wurden. Das ist der Fall der bereits erwähnten Untreue infolge einer Vorteilsgewährung, die mit der jüngsten Reform von 2012 abgeändert und nun ausdrücklich in Korruption unter Privatpersonen umbenannt wurde. Die Wirksamkeit des gesamten Strafrechtssystems ist jedoch in Italien auch durch das Problem der Verfahrensdauer belastet: Die Reform der Verjährung aus dem Jahr 2005, die der Langsamkeit der im europäischen Umfeld oft kritisierten italienischen Strafjustiz entgegenwirken sollte, verkürzte allerdings auch die Laufzeiten der diesbezüglichen Prozesse und war damit verantwortlich für die vorzeitige Beendigung wegen Verjährung vieler von ihnen, wodurch lediglich die Justizmaschinerie unnötig in Anspruch genommen wurde. Die strafrechtliche Bedeutung der schwarzen Kassen in Italien lässt sich somit nicht als ein einziger Weg darstellen, der einzuschlagen ist, um an ein bestimmtes Ziel zu kommen. Vielmehr ist sie als eine Art von Kaleidoskop zu betrachten, das sich aus unterschiedlichen Formen zusammensetzt, deren jede dann einen anderen
3 Das Gesetz vom 6. 11. 2012 n. 190 ist mit dem Titel: „Bestimmungen zur Prävention und Bekämpfung von Amtsträgerkorruption und Illegalität innerhalb der öffentlichen Verwaltung“ in Amtsblatt am 13. 11. 2012 veröffentlicht worden und am 28. 11. 2012 in Kraft getreten.
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Fortgang nimmt, wenn auch unter wechselseitiger Beeinflussung.4 Im Folgenden sollen daher nur ihre wesentlichen Konturen rekonstruiert und die Unzulänglichkeiten des traditionellen Rahmens aufgezeigt werden, die erst zur Einführung einer Ad-hocBestimmung zum Thema Korruption unter Privaten führten und dann zu der jüngsten Reform. So lassen sich ihre tatsächlichen oder scheinbaren Fortschritte hinsichtlich der Effektivität des Strafrechtsschutzes bewerten.
II. Schwarze Kassen und Bilanzfälschung (Art. 2621 und 2622 it. ZGB) Die erste Straftat, die bei der Schaffung sog. schwarzer Kassen begangen werden kann, ist die Bilanzfälschung im Rahmen von Kapitalgesellschaften; bestraft wird die Schaffung von schwarzen Kassen per se, unabhängig von der weiteren Verwendung dieser Gelder. Der ausgiebige Rückgriff auf diesen Straftatbestand in den ManiPulite-Prozessen zeigte jedoch, dass seine allzu häufige bzw. seine Anwendung bei lediglich formalen Rechtsverletzungen vermieden werden sollte, um die Grenze eines rationalen Strafrechtschutzes nicht zu überschreiten. Mit der Reform des Gesellschaftsstrafrechts (D. lgs. 61/2002) wird die Nichtbilanzierung von Unternehmensgeldern zu den beiden hierzu bestehenden Straftatbeständen in Beziehung gesetzt, die sich hinsichtlich des Grades der Rechtsgutsverletzung unterscheiden (Art. 2621 und 2622 it. ZGB). Der erste Tatbestand (Bilanzfälschung: false comunicazioni sociali) bildet eine Übertretung (contravvenzione: die weniger schwere Form in der italienischen Zweiteilung der Straftaten) und gilt unabhängig von allen weiteren Konsequenzen in Fällen, in denen bestimmte, in der Norm aufgezählte Personen die Rechnungsunterlagen (sprich: die Bilanzen) fälschen. Der zweite Tatbestand (Bilanzfälschung zum Nachteil von Dritten: false comunicazioni sociali in danno della società, dei soci o dei creditori) stellt dagegen ein Verbrechen (delitto: die schwerere Kategorie der Straftaten) dar und ist erfüllt, wenn dasselbe Verhalten auch einen Vermögensschaden zu Lasten der Gesellschaft, der Gesellschafter oder der Gläubiger verursacht hat. Mit der – an sich nachvollziehbaren – Absicht, dem Bestimmtheitsgrundsatz und dem Gebot der nicht lediglich formalen Definition des geschützten Rechtsguts mehr Respekt zu verschaffen, überfrachtete die Reform jedoch diese Straftatbestände mit weiteren Tatbestandsmerkmalen, sodass schließlich der strafrechtliche Schutz auf ein sehr eng begrenztes Feld reduziert wurde. Im Allgemeinen ist bereits für die oben genannte Übertretung (contravvenzione) vorausgesetzt, dass die Fälschung von Buchhaltungsunterlagen geeignet ist, Dritte zu täuschen; ebenso ist der doppelte Vorsatz erforderlich: zum einen bei der Fälschung selbst, und zum anderen, um einen rechtswidrigen Vorteil zu gewinnen. Andererseits wurden drei Stufen der Mindest4 Über die verschiedene Formen des Phänomens vgl. schon Iacoviello, Cassazione Penale (im Folgenden: CP), 1995, S. 3561 f.
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relevanz des rechtswidrigen Verhaltens (Strafbarkeitsschwellen) eingeführt, weshalb nicht bilanzierte Gelder für die hier betrachteten Strafnormen nur von Bedeutung sind, wenn sie diese Schwellen überschreiten. Selbst in dem schwereren Fall eines Vermögensschadens infolge der Bilanzfälschung ist die Straftat nur auf Antrag des Verletzten strafrechtlich verfolgbar (mit Ausnahme der Fälle, in denen börsennotierten Kapitalgesellschaften betroffen sind). In jedem Fall blieben bei dem Bemühen, die Profile der Rechtsgutsverletzung zu steigern, die strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen ausschließlich auf Fälschungen maßgeblicher Tatsachen beschränkt, auch wenn dies noch zu bewerten sein wird. Folglich werden die schwarzen Kassen von der neuen Fassung der Norm nur dann erfasst, wenn sie durch die Aufnahme falscher Angaben in die Bilanz zustande kamen, oder dadurch, dass die Verantwortlichen des Unternehmens Fakten verheimlichten, die sie hätten offenlegen müssen. Es genügt also nicht, dass Unternehmensvorteile unter- bzw. Unternehmensverluste überbewertet wurden (letzteres ist häufig bei verborgenen, aber illiquiden Rücklagen der Fall): Schwarze Kassen müssen vielmehr zustande gekommen sein durch (auch nur teilweises) Verheimlichen von Aktivitäten des Unternehmens oder durch Angabe von Unternehmensverlusten, die in Wirklichkeit (auch nur teilweise) gar nicht existieren. Die mögliche Relevanz der schwarzen Kassen für den Tatbestand der Bilanzfälschung wird anhand des am häufigsten anzutreffenden Falls deutlich: nämlich, wenn die schwarze Kasse zur Unterstützung des Unternehmens bei seinen wirtschaftlichen Tätigkeiten dient, und besonders dann, wenn sie zur Bestechung sowohl von Amtsträgern als auch von Privatpersonen genutzt wird. Tatsächlich kann die Zahlung einer Geldsumme an die (öffentliche oder private) Person, die über die Vergabe eines Auftrags entscheidet, als eine Ausgabe für das Unternehmen angesehen werden, das daraus Nutzen zieht. Die fehlende Angabe dieser Kosten in der Bilanz kann also den weniger schweren Tatbestand der Bilanzfälschung (Art. 2621) erfüllen. Allerdings sind die damit verbundenen Verjährungsfristen kurz, zumindest für den Zeitrahmen, in dem sich die italienische Justiz normalerweise bewegt: Diese Tatbestand verjährt vier Jahre nach ihrer Vollendung. Hingegen erfüllt die Nutzung von Schwarzgeldern zu Korruptionszwecken nicht so leicht die Voraussetzungen der schwereren Straftat gemäß Art. 2622: Zu diesem Zweck muss bewiesen werden, dass das Unternehmen durch die – auch den unternehmensinternen Regeln zuwiderlaufende – Transaktion einen Vermögensschaden erlitten hat; ein solcher wird allerdings kaum jemals eintreten, denn Transaktionen dieser Art sollen demjenigen, der sie in die Wege leitet, Vorteile verschaffen, und die jeweiligen Kosten werden von der Unternehmenspolitik absorbiert, die im Großen und Ganzen darauf abzielt, Gewinn zu machen.
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III. Schwarze Kassen und strafrechtlicher Schutz des Gesellschaftsvermögens mit Hilfe der allgemeinen Norm der Unterschlagung (Art. 646 it. StGB) Neben dem bereits untersuchten Profil der schwarzen Kassen, das insofern auch als „statisch“ bezeichnet werden kann, als es schon als Verstoß gegen die Bilanzwahrheit strafrechtlich relevant ist, haben die schwarzen Gelder auch eine „dynamische“ Version, werden sie doch hauptsächlich weiteren Zwecken (und besonders dem der Korruption unter Privaten) zugeführt: Diese zweite Art steht in Zusammenhang mit dem allgemeinen Straftatbestand der Unterschlagung (Art. 646 it. StGB) zum Schutz des Vermögens auch der betroffenen Gesellschaften selbst. Die Unzulänglichkeit der Norm bei der Bekämpfung des Phänomens wird jedoch mittlerweile auch anhand der italienischen Justiz deutlich, die nach langer Unentschiedenheit schließlich zu einer grundsätzlich negativen Schlussfolgerung gelangt ist. Eine erste richterliche Entscheidung Ende der 1980er Jahre hatte der Aneignung strafrechtliche Relevanz beim Verhalten desjenigen abgesprochen, der Geldsummen für Operationen (etwa ungesetzliche Finanzierung von politischen Parteien) abzweigt, welche dem Unternehmen Vorteile auch indirekter Art verschaffen, z. B. wenn dadurch zum selben Konzern gehörige Unternehmen begünstigt werden.5 In der Folge wurde jedoch ein Vorstandsmitglied, das Schwarzgelder zu rechtswidrigen Zwecken (etwa für die Finanzierung von Journalisten oder politischen Parteien) einsetzte, wegen Unterschlagung verurteilt, weil mit Unternehmensgeldern Aktivitäten außerhalb des Gesellschaftszwecks finanziert wurden. Die Entscheidung erfolgte auf der Grundlage einer besonderen Konzeption des Verhältnisses zwischen den beiden Verhaltensweisen Enteignung (i. S. von Zuweisung der Sache an Zwecke, die mit der Anerkennung des fremden Eigentums unvereinbar sind) und Aneignung (für die es beim Tatbestand der Unterschlagung ausreicht, dass der Täter das fremde Gut uti dominus, wie ein Eigentümer nutzt). Insbesondere geschieht Letzteres nicht nur dann, wenn das fremde Gut dem eigenen Vermögen hinzugefügt wird, sondern auch, wenn es Zwecken zugeführt wird, die mit der Anerkennung der fremden Eigentümerschaft unvereinbar sind, wie im Falle seiner willkürlichen Nutzung zu Zwecken, die außerhalb des Gesellschaftszwecks liegen und somit den Verlust des Gutes selbst mit sich bringen.6 Hier werden bereits die engen Grenzen deutlich, innerhalb derer die Unterschlagung anwendbar ist, im Vergleich zu den Fällen, in denen die schwarzen Kassen für die Finanzierung der diversen Formen von Korruption unter Privaten eingesetzt werden: In der Tat stellt die Leistung, für die etwa der Vorstand einer Gesellschaft oder 5
Vgl. it. Kassationsgerichtshof (im Folgenden: Kass.), Urt. v. 23. 6. 1989, in: Rivista italiana diritto procedura penale (im Folgenden RIDPP), 1990, S. 266 f. m. Anm. Militello sowie in: Rivista trimestrale diritto penale economia (im Folgenden: RTDPE), 1989, S. 1123 f. m. Anm. Calderone. 6 Vgl. Kass., Urt. v. 4. 4. 1997, in: RIDPP, 1997, S. 1435 f. m. Anm. Pedrazzi, in: Foro italiano, 1998, II, Kolumne 542 f. m. Anm. Visconti.
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eines Unternehmens einen Dritten bezahlt, eher den Abschluss eines Geschäfts dar, das in die normale Tätigkeit der Gesellschaft einfließt und sich sicherlich nicht außerhalb ihres Geschäftszweckes bewegt. Widerrechtlich sind vielmehr die Modalitäten, mit denen die Durchsetzung eines solchen Gesellschaftszwecks verfolgt werden: Auch wenn der Gesellschaft aus dem Geschäft ein Vorteil entsteht, so wurde dieser doch unter Verzerrung der normalen Marktbedingungen erlangt. Jedenfalls hat das Kassationsgericht Ende der 1990er Jahre den Weg frei gemacht für die Möglichkeit, dass die illegale Finanzierung von Parteien und Journalisten eine Enteignung darstellen und damit als Form der Unterschlagung angesehen werden kann. Dies gilt im weiteren Sinne auch für alle Fälle, in denen Unternehmensgelder ohne Gegenleistung außerhalb des Gesellschaftszwecks bewegt werden, wie z. B. ihre Übertragung auf ein Konto, das nicht formal auf die Gesellschaft zurückzuführen ist.7
IV. Schwarze Kassen und strafrechtlicher Schutz des Gesellschaftsvermögens durch die Untreue im Gesellschaftsrecht und ihren Erscheinungsformen (Art. 2634 – 2635 it. ZGB) Die Unmöglichkeit, mit Hilfe der Unterschlagung missbräuchliche Methoden bei der Unternehmensführung und die Verzerrung der Marktbedingungen zu bekämpfen, führte schließlich 2002 zu der Reform des Gesellschaftsstrafrechts: Hier wurde der bereits erwähnten Selektivität des strafrechtlichen Schutzes im Bereich Bilanzwahrheit eine wirksamere Formel zur Bekämpfung der Untreue im Gesellschaftsrecht und ihren Erscheinungsformen an die Seite gestellt. In der Tat sind die beiden Bereiche durch eine Art kommunizierende Röhre miteinander verbunden: Nur eine „vorgeschaltete“ und zur Ahndung missbräuchlicher Praktiken innerhalb der Gesellschaftsführung befähigte Strafrechtsnorm kann vermeiden, dass sich später – im Moment der Bilanzerstellung – alle Spannungen des empfindlichen Verhältnisses zwischen Legalität und Unternehmen entladen. 1. Internationaler Kontext Die Strafbarkeit der Sonderformen der Korruption unter Privaten, wie sie Absprachen zum Austausch ungerechtfertigter Vorteile im Unternehmensbereich darstellen, ordnet sich in das starke internationale Interesse an einer wirksameren, umfassenden Bekämpfung aller Formen von Korruption ein.8 Mit der Vorbereitung der Reform von 2002 wurde begonnen, als die EU im Dezember 1998 die Gemeinsame Maßnahme 7
Vgl. Kass., Urt. v. 21. 1. 1998, in: RIDPP, 1998, S. 301 f. Zu den internationalen Maßnahmen gegen Korruption vgl. schon z. B. Möhrenschlager, JZ, 1996, 822, 830 f.; Pieth, in: Alvazzi/Pasqua (Hrsg.), Responding to the Challenges of Corruption, 2000, S. 25 f.; Huber, RTDPE, 2001, 467 f.; s. auch Spena, Il „turpe mercato“, Teoria e riforma dei delitti di corruzione, 2003, S. 149 f., 513 f.; jüngst Mongillo, La Corruzione tra sfera interna e dimensione internazionale, 2012, S. 28 f., 463 f. 8
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die Bestechung im privaten Sektor betreffend verabschiedet hatte, mit der die Mitgliedstaaten zur Einführung entsprechender Tatbestände in die jeweiligen Rechtsordnungen verpflichtet werden.9 Bezugspunkt ist der – auch nur versprochene – Austausch eines rechtswidrigen Vorteils zugunsten einer Privatperson gegen irgendeine Handlung, die „ein treuwidriges Verhalten, das eine Verletzung einer gesetzlich vorgeschriebenen Pflicht bzw. einer beruflichen Vorschrift oder Weisung innerhalb der privaten Arbeitsverhältnisse“ darstellt (Art. 1, Definition). Die geschützten Interessen sind jedoch nicht nur nach innen, d. h. auf die physische oder juristische Privatperson, in deren Namen der Täter handelt, gerichtet, sondern sie können auch nach außen gerichtet und kollektiv sein: Unter Strafe gestellt werden sollen lediglich die Handlungen, die entweder den Wettbewerb verzerren oder Dritten wirtschaftliche Schäden zufügen können, etwa durch eine nicht korrekte Vergabe bzw. Ausführung eines Auftrags10 Dies bedeutet eine Projektion des geschützten Guts nach außen, die von dem darauf folgenden Rahmenbeschluss 2003/568/JI des Rates vom 22. Juli 2003 zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor bestätigt wird: Neben der Belegung auch mit Haftstrafen von einem bis zu drei Jahren ist vorgesehen, dass nur die im Rahmen von Geschäftsvorgängen ausgeführten Handlungen strafrechtlich relevant sind, und dass jeder Mitgliedstaat die Strafbarkeit auf Handlungen beschränken kann, die im Zusammenhang mit der Beschaffung von Waren oder gewerblichen Leistungen eine Wettbewerbsverzerrung zur Folge haben oder haben können (Art. 2 § 3). Zu den Vorgaben der EU gesellten sich im Übrigen auch die weiterführenden internationalen Vorschriften zu diesem Thema, die die Strafbarkeit der Korruption unter Privaten sehr weit fassen und sie hier als Gewährung bzw. Forderung eines ungerechtfertigten Vorteils im Austausch gegen das Versprechen einer die eigenen Pflichten verletzende Handlung sehen, welche im Rahmen wirtschaftlicher, finanzieller oder geschäftlicher Tätigkeiten zwischen Personen stattfindet, die ein Unternehmen im privaten Sektor leiten oder in irgendeiner Eigenschaft für ein solches tätig sind: nämlich das Strafrechtsübereinkommen des Europarats über Korruption (Straßburg 1999) und die UNO-Konvention gegen Korruption (Merida 2003, Art. 21). Der italienische Gesetzgeber hat sich in der von den internationalen Vorschriften vorgegebenen Spur recht zurückhaltend bewegt, indem er mit dem bereits erwähnten 9 Gemeinsame Maßnahme 98/742/JI vom 22. Dezember 1998 – vom Rat aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union angenommen – betreffend die Bestechung im privaten Sektor [Amtsblatt L 358 v. 31. 12. 1998]. 10 Art. 2 Abs. 2 und Art. 3 Abs. 2 der erwähnten gemeinsamen Maßnahme sehen – jeweils für die aktive und die passive Bestechung – vor, dass die strafrechtlich verfolgbaren Verhaltensweisen in den Mitgliedstaaten solche sind, „die eine Verzerrung des Wettbewerbs, zumindest im gemeinsamen Markt, mit sich bringen oder mit sich bringen könnten und die aufgrund einer regelwidrigen Vergabe oder einer regelwidrigen Ausführung eines Vertrags eine wirtschaftliche Schädigung Dritter zur Folge haben oder zur Folge haben könnten“.
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Art. 2635 it. ZGB die strafrechtliche Relevanz der Korruption unter Privaten auf den Bereich der Handelsgesellschaften beschränkte. Neben der Begrenzung des Täterkreises auf wenige Personen, die innerhalb der Gesellschaft eine besondere Stellung bekleiden, wurde der Tatbestand im Verhältnis zu dem im europäischen Rahmen vorgesehenen Modell erheblich enger gefasst: Insbesondere ist das geschützte Gut nicht mehr extern und kollektiv, sondern nur intern und privat. Es handelt sich um das Vermögen der Gesellschaft: Verlangt wird hier, dass der Schaden (wörtlich: die Beeinträchtigung) eine Folge der Handlungen der Geschäftsführer (und ihnen gleichgestellten Entscheidungsträgern) ist, die unter Verletzung ihrer jeweiligen Pflichten das Versprechen von Vorteilen angenommen haben.11 Dieser restriktive Ansatz des italienischen Gesetzgebers im Vergleich zu den internationalen Vorgaben lässt sich auch an der allgemeinen Verspätung bei der Angleichung an die erwähnten supranationalen Standards ablesen: Tatsächlich wurde der EU-Rahmenbeschluss aus dem Jahre 2003 von der italienischen Regierung nicht umgesetzt; sie ließ vielmehr den ihr durch das Parlament per Gesetz Nr. 34 vom 25. 2. 2008 verliehenen Gesetzgebungsauftrag verfallen, der in Art. 29 die Einfügung der Korruption unter Privatpersonen als allgemeinen Tatbestand in das StGB vorsah, und zwar in derselben weitreichenden Form wie im Rahmenbeschluss.12 Die UNO-Konvention von Merida war zwar auch von Italien sogleich nach ihrer Verabschiedung 2003 unterzeichnet worden, verabschiedet wurde sie aber erst per Gesetz Nr. 116 vom 3. 8. 2009, und dies auch nur in Erfüllung der obligatorischen Verpflichtungen: Die Strafbarkeit der Korruption unter Privaten, die Art. 21 der Konvention als Möglichkeit anbot, war nicht darunter; sie wurde im Text des der nationalen Anpassung dienenden Gesetzes nicht berücksichtigt.13 Und das Strafrechtsübereinkommen über Korruption von 1999 wurde gar erst mit dem Gesetz Nr. 110 vom 28. Juni 2012 ratifiziert, als sich nämlich die Verabschiedung der Reform zum gerade wieder aktuell gewordenen Thema Bekämpfung der Korruption abzeichnete. 2. Untreue infolge einer Vorteilsgewährung In seiner ursprünglichen Formulierung verfolgt der 2002 neu gefasste Art. 2635 it. ZGB „die Geschäftsführer, den Vorstand, den Aufsichtsrat, die Liquidatoren und Revisoren“ strafrechtlich, „welche infolge von Vergabe oder Vorteilsversprechen 11
Zu den beiden Modellen des Schutzes (intern bzgl. des Verhältnisses zwischen der Person und der Organisation, für die sie arbeitet, oder eher extern) vgl. Militello, in: Foffani/ Acquaroli (Hrsg.), La corruzione tra privati, 2003, S. 363 f.; Zambusi, Indice penale, 2005, S. 1042 f.; Spena, RTDPE, 2007, S. 815 f. 12 Siehe hierzu in der Phase der Vorarbeiten Spena, RTDPE, 2007, S. 807 f.; sowie später Benussi, Infedeltà patrimoniale e gruppi di società, 2009, S. 403; Perrone, CP, 2009, S. 769 f. Der Vorwurf der Nichterfüllung, den der Bericht der Kommission an den Rat 2007 für Italien bzgl. der Umsetzung des Rahmenbeschlusses von 2003 erhoben hat, kann damit noch nicht als überwunden gelten. 13 Vgl. Kildani, Legislazione penale, 2010, S. 131 f.
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Handlungen begehen oder verweigern, welche die ihrem Amt innewohnenden Verpflichtungen verletzen und das Unternehmen beeinträchtigen“. Vorgesehen wird eine „Haftstrafe von bis zu drei Jahren“, die im Sinne des zweiten Absatzes auch auf denjenigen angewendet wird, der „Vorteile gewährt oder verspricht“. Der letzte Absatz schließlich legt die strafrechtliche Verfolgung auf Antrag der verletzten Person fest. Hier scheint das Hauptproblem die Verbindung zu sein, die zwischen tatsächlicher Schadenszufügung und deren Verfolgbarkeit auf Antrag geschaffen wurde. Da man sich entschieden hat, den Tatbestand nicht an die Verletzung von unternehmensfremden Interessen zu binden, und nicht schon die einfache Gefahr für das Gesellschaftsvermögen unter Strafe zu stellen, dürfte das Erfordernis der tatsächlichen Verletzung dahingehend keinen Spielraum lassen, ob es opportun ist, Anklage gegen jemanden zu erheben, der lediglich das Versprechen ungesetzlicher Vorteile im Gegenzug für die Durchführung bestimmter, seinen Amtspflichten zuwiderlaufender Handlungen angenommen hat. Die Möglichkeit, einen Strafantrag zu stellen oder nicht, stimmt hingegen mit der Konstruktion eines Tatbestandes überein, bei der es um die Gefahr für das Gesellschaftvermögen geht: Hier ist es der dominus (Geschäftsleitung), der entscheiden muss, ob der ungesetzliche Austausch zwischen den angebotenen Vorteilen und der Handlung seines untreuen Angestellten eine konkrete Gefahr für die Interessen der Gesellschaft darstellt. Damit entscheidet er auch über die Existenz bzw. Nichtexistenz der strafrechtlich relevanten Rechtsgutsverletzung.14 Daraus leitet sich außerdem der Verlust eines rationalen Verhältnisses zu der anderen Vorschrift über die gesellschaftliche Untreue ab, welche ähnliche Merkmale fordert (insbesondere: sowohl einen der Gesellschaft zugefügten Schaden, als auch den Strafantrag seitens des Verletzten) (Art. 2634 it. ZGB).15 Zumindest für die in beiden Normen vorgesehenen Handlungen der Täter (Geschäftsführer, Vorstand und Liquidatoren) hätte eine rationale Lösung eine schärfere Klarstellung der Beziehungen zwischen den beiden Normen gefordert und zwar dahingehend, dass in den Fällen, in denen die rechtswidrige Handlung das Gesellschaftsvermögen in Gefahr bringt, die vorverlagerte mala gestio (d. h. die Untreue wegen Korruption) zur Anwendung gelangt. Wenn hingegen der entsprechende Schaden bereits eingetreten ist, sollte die andere und schwerere Strafnorm angewendet werden.16 Durch die Tatsache, dass der eingetretene Schaden für das Gesellschaftsvermögen gefordert wird, hat sich das Gleichgewicht zwischen den beiden Vorschriften verschoben, 14
Vgl. Seminara, RIDPP, 1993, S. 988; Foffani, Infedeltà patrimoniale e conflitto d’interessi nella gestione d’impresa, 1997, S. 581 f. 15 So auch Benussi, Infedeltà patrimoniale e gruppi di società, 2009, S. 403 f. 16 In Italien geht das Bestreben, die (noch an einen entstandenen Schaden geknüpfte) Vermögensuntreue unter Strafe zu stellen, spätestens seit den 1970er Jahren mit der Forderung einher, das Interesse an einer korrekten Verwaltung der Interessen anderer noch umfassender zu schützen, und zwar, indem man ihr den Tatbestand der Vergabe bzw. des Versprechens gesetzwidriger Vorteile an die Seite stellt, welche zur Durchführung einer dem Interesse der Gesellschaft zuwiderlaufenden Handlung dienen. Der Vorschlag stammte von Marinucci/Romano, RIDPP 1971, S. 707 f.
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was Folgen zeitigt, die jeder Vernunft zuwiderlaufen: Entweder ist der im Verhältnis zu den verwerflichsten Fällen weniger schwere Tatbestand anzuwenden,17 oder die Untreue infolge von Vergabe oder Versprechen wird praktisch, zugunsten des anderen Untreue-Typus nicht angewendet. Diese aber ist die einzige, für die sich einige – nicht zahlreiche, aber bedeutsame – Anwendungsfälle in der Rechtsprechung finden lassen.18 3. Die Korruption unter Privaten zwischen alten und neuen Fragen Die Notwendigkeit, den Tatbestand der Untreue ex Art. 2635 zu reformieren, geht also auf die bisher dargestellten Unzulänglichkeiten seines ursprünglichen Entwurfs zurück – und kaum auf den erklärten Willen, endlich die supranationalen Vorgaben umzusetzen und den allgemeinen Tatbestand der Korruption unter Privaten einzuführen (beide Vorgaben sind übrigens bis heute nicht erfüllt). Die neue Formulierung stellt in vieler Hinsicht einen Fortschritt dar, auch wenn der nach den langen Vorbereitungen im Parlament erreichte Kompromiss das oben erwähnte grundsätzliche Problem nur teilweise löst, nämlich die Rechtsgutsverletzung so zu strukturieren, dass sie einen Vermögensschaden ebenso voraussetzt wie eine entsprechende Klage seitens des Vermögensinhabers. Nicht frei von Problemen ist vor allem die Änderung der Überschrift der Norm, die heute ausdrücklich „Korruption unter Privaten“ heißt. Es verschwindet somit der Verweis auf die Untreue (zumindest aus dem Titel), der damals bei der Reform des Gesellschaftsstrafrechts den Tatbestand der gemeinsamen Wurzel der Vermögensuntreue zuordnete, wobei ihn nur die Angabe der Quelle auszeichnete: Bei den die Reform der Gesellschaftsstrafrechts vorbereitenden Arbeiten wurde diese zwar deutlicher als „Untreue durch Korruption“ gekennzeichnet, dann aber mit der weniger klaren Formel der „Untreue infolge einer Vorteilsgewährung oder eines -versprechens“ verabschiedet. Außerdem ist die neue Überschrift zwar effizienter bei der Beschreibung des kriminellen Umfelds, das die Vorschrift zu bekämpfen beabsichtigt, zeigt sich aber zu weit gefasst und im Grunde ungenau, was die Rechtssätze selbst anbelangt: Sie scheint alle Formen der Korruption unter Privaten abzudecken, obgleich sich der Inhalt der Norm – wie in der vorhergehenden Formulierung – nur auf die 17 Die den Amtspflichten zuwiderlaufende und einen Interessenkonflikt darstellende Handlung, begangen mit dem Ziel der Vorteilsgewinnung, konnte mit einer kleineren Mindeststrafe (wie die Art. 2635 it. ZGB erwähnte) belegt werden, wenn sie das Ergebnis einer Absprache zwischen dem Täter und einem Dritten war, und sogar, wenn die gesetzwidrige Bereicherung nicht nur auf der Ebene eines nicht erreichten Zwecks verblieben war, sondern sich bereits konkretisiert hatte. 18 Z. B. im Bereich der Möglichkeit des Strafantrags: nur seitens der Gesellschafterversammlung (Kass., 7. 5. 2003 Nr. 20267) oder auch seitens eines einzelnen Minderheitengesellschafters (Kass., 16. 6. 2006 Nr. 37033 und jüngst Kass., 13. 5. 2011 Nr. 28437). Oder auch, um die Reichweite der Vorschrift (und ihres Ausschließungsgrundes der Verantwortlichkeit laut Abs. 3) von der Anwendung von Art. 646 it. StGB und der Konkursmaterie (Kass., 5. 6. 2003 Nr. 36629, in: CP 2005, S. 1359 m. Anm. Giovanardi) zu unterscheiden.
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Materie des Gesellschaftsstrafrechts bezieht. Es handelt sich also nicht um die allgemeine Rechtsfigur der Korruption unter Privaten, deren Schaffung 2008 das legge delega durch die Einführung eines neuen Tatbestands in den Besonderen Teil des StGB beabsichtigte. Darüber hinaus vernachlässigt die neue Überschrift ganz und gar den Gesichtspunkt der Verletzung der unternehmensinternen Pflichten, die das Verhalten impliziert und die jetzt sogar durch die Gleichsetzung mit allgemeinen Treueverpflichtungen (davon später) ausdrücklich spezifiziert wird. Von Bedeutung ist sicherlich die Subsidiaritätsklausel am Anfang der Norm, die festlegt, dass im Konkurrenzfall der schwerere Tatbestand Vorrang hat. Was jedoch am meisten zählt, ist die Tatsache, dass als Folge einer Änderung bei den Sanktionen ein solcher Vorrang nicht mehr zugunsten der gesellschaftlichen Untreue ex Art. 2634 gelten kann, wie es zuvor der Fall war. Die Verhängung einer Haftstrafe von mindestens einem Jahr im Falle von Korruption zwischen Privatpersonen stellt sicher, dass in Konkurrenzfällen zwischen Art. 2634 (der die ursprünglichen sechs Monate Mindeststrafe beibehält) und dem neuen Art. 2635 Letzterer den Vorrang hat. Die Bereitschaft, auf der Rechtsfolgenebene den größeren Unwert des neuen Tatbestands Korruption unter Privaten zu zeigen, wird außerdem unterstrichen zunächst durch die neue, schwerere Form mit der Erhöhung der Mindest- und Höchststrafen um das Doppelte, wenn das fragliche Unternehmen an der Börse und auf den öffentlichen Märkten notiert ist (der neue Abs. 4). Außerdem gibt es eine weitere wichtige Neuerung, mit der endlich eine vernunftwidrige Lücke in der vorhergehenden Situation geschlossen wird. Dies bezieht sich darauf, dass die Korruption unter Privaten in aktiver Form (Vorteilsgewährung oder -versprechen an eine der ausdrücklich im ersten Absatz von Art. 2635 erwähnten Personen) nun auch zu den Verbrechen gehört, aus denen sich eine Verantwortung der juristischen Person i. S. der italienischen Rechtsordnung (d. lgs. Nr. 231/2001) ableiten lässt. Der ursprünglich vorgesehene Ausschluss sowohl der Untreue im Gesellschaftsrecht als auch der Vorteilsgewährung oder -versprechen rechtfertigt sich nicht durch das (wenn auch weit verbreitete) Argument, dass – vorausgesetzt, es tritt eine Beeinträchtigung der Gesellschaft ein – derartige Handlungen nicht „im Interesse der Gesellschaft“ begangen werden können, weshalb sie auch nicht eines der Merkmale darstellen, die notwendig sind, damit die Verantwortung der juristischen Person entsteht. Dies galt und gilt auch heute nicht in den Fällen von „Untreue durch Korruption“: Man denke an die Gesellschaft, die ein Eigeninteresse durchsetzen will und dazu durch einen ihrer Vertreter dem untreuen Geschäftsführer eines Konkurrenzunternehmens einen Vorteil gewährt oder verspricht. Mit der ausdrücklichen Anerkennung solcher Situationen in Art. 25ter D. Lgs. 231/2001, der heute innerhalb des Antikorruptionsgesetzes (Art. 1 Abs. 77 führt im ersten Absatz den neuen Buchstaben Sbis ein, und zwar für Fälle, die ex Art. 2635 Abs. 3 mit einer Geldstrafe von 200 bis 400 Berechnungseinheiten belegt werden) angewandt wird, ist nun endlich die Ungleichbehandlung überwunden. Es handelt sich um den Fall, in dem die Vergabe bzw. das Versprechen
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von Vorteilen durch eine natürliche Person geschieht, die ex Art. 2635 Abs. 2 it. ZGB ausdrücklich bestraft werden kann.19 Auch bei der Auflistung der Täter gab es Veränderungen; so wurde die umstrittene Figur der Verantwortlichen für die Revision20 durch die der für die Erstellung der Gesellschaftsbilanzen zuständigen Führungskräfte ersetzt. Diese Entscheidung erscheint besonders opportun angesichts des bedeutsamen Zusammenhangs zwischen Bestechungspraktiken und strafrechtlichem Schutz der Bilanzwahrheit (vgl. die bereits erwähnte Vorschrift in Art. 2621 StGB). Viel wichtiger ist jedoch die (durch einen neuen zweiten Absatz eingeführte, wenn auch mit einer geringeren Strafe verbundene) Ausweitung auf das mittlere Management von Gesellschaften, d. h. auf Personen, die der Leitung bzw. Überwachung durch eines der im ersten Absatz genannten Subjekte unterstehen. Diese Duplizität von verantwortlichen Positionen reproduziert diejenige, die bereits grundsätzlich im System der Verantwortung von juristischen Personen verankert war, wobei der D. Lgs. 231/2001 hinsichtlich der Zurechnungskriterien zwischen „Spitzenpositionen“ (Art. 6) und untergeordneten Stellungen (Art. 7) unterscheidet. Die Beschreibung der kriminellen Verhaltensweisen erfolgte mit dem Ziel einer größeren Bestimmtheit der Norm. Ausdrücklich vorgesehen ist insbesondere, dass der Vorteil auch in Geldwerten bestehen und dass er zugunsten sowohl der Täter als auch anderer Personen gewährt bzw. versprochen werden kann. Beide Zusätze bringen keine Ausweitung des Tatbestands auf vorher nicht strafbare Aspekte mit sich; sicherlich nicht dort, wo auf Geldwerte verwiesen wird, die den Vorteil schlechthin darstellen, aber auch, was den möglichen Verweis auf Dritte als Nutznießer der Handlung anbelangt, da in der Struktur des Tatbestandes Begriffe wie Aneignung von Geld oder Vorteilen ganz und gar fehlen: Dies hat die Anwendung der Unterschlagung auf Handlungen zugunsten Dritter wesentlich erschwert. Als innovativer erweist sich hingegen der dritte Zusatz zu den strafbaren Verhaltensweisen: hinsichtlich der vorzunehmenden Handlung, die den Gegenstand des rechtswidrigen Austauschs bildet, wird der Verletzung der Amtspflichten (oder besser: Verletzung der jeweils bekleideten Ämter) nun auch die Verletzung der Treuepflichten gleichgesetzt. Hier ist noch ein Schatten der ursprünglichen gemeinsamen Natur mit dem Tatbestand der Vermögensuntreue spürbar, ungeachtet dessen formeller Abschaffung in der bereits erwähnten, neuen Überschrift der Vorschrift. Diese Bezugnahme auf die Treue der diversen Täter gegenüber der Gesellschaft zeigt sich jedoch im Kontext einer Strafnorm als zu unbestimmt, denn allzu unterschiedlich sind die Verhaltensweisen, die im Geschäftsleben als Untreue erscheinen können: Es ist 19 Zustimmung bzgl. des vollkommenen Fehlens der „kriminalpolitischen Plausibilität“ der versäumten Einfügung der aktiven Bestechung ex Art. 2635 Abs. 2 in das Unternehmensstrafrecht und seine Delikte, für die die Gesellschaft zur Verantwortung gezogen werden kann, findet sich bei Piergallini, in: Giarda/Seminara (Hrsg.), I nuovi reati societari: diritto e processo, 2002, S. 112 f. 20 Kritisch z. B. bereits Foffani, in: Alessandri (Hrsg.), Il nuovo diritto penale delle società, 2002, S. 370.
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eine Sache zu behaupten, der Tatbestand verlange den rechtswidrigen Tausch einer Handlung gegen einen Vorteil, bei dem die in der Norm erwähnten Personen die Nutznießer sind, und ein solches Verhalten dann als Untreue durch Korruption unter Privaten zu definieren; eine andere Sache ist es, über die Amtspflichten hinausgehende Treuepflichten zu untersuchen, deren Bezugsrahmen offenbar lediglich die Geschäftsethik sein kann, mit allen sich daraus ergebenden Risiken der Unschärfe. Intakt geblieben ist hingegen die für den Tatbestand notwendige Beeinträchtigung der Gesellschaft, die die Verankerung mit einem noch auf das gesellschaftliche Vermögen bezogenen, geschützten Rechtsgut beinhaltet. Ebenso beibehalten wurde die Möglichkeit der verletzten Person, Strafantrag zu stellen, mit der Konsequenz, dass die seltsame Verbindung zwischen diesen beiden Aspekten, die bereits bei der vorhergehenden Version aufgefallen war, nun in der neuen Norm grundsätzlich wieder auftaucht. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass in der Schlussphase der Vorbereitungsarbeiten der Verfolgbarkeit durch Antrag eine Bedingung hinzugefügt wurde: das Antragserfordernis besteht nicht, wenn „mit der Beschaffung von Waren oder gewerblichen Leistungen eine Wettbewerbsverzerrung einhergeht“. Auf diese Art versuchte man, einen Kompromiss zwischen den beiden Modellen der strafrechtlichen Verfolgbarkeit zu finden: Trägt die Gesellschaft lediglich einen Vermögensschaden davon, so kann sie abwägen, ob sie die Verletzung ihrer Interessen ahnden lassen will oder nicht; hat die Handlung jedoch andere, außerhalb der Gesellschaft liegende Interessen verletzt (wie beispielsweise den freien Wettbewerb durch Verzerrung des Marktes für Waren oder gewerbliche Leistungen), so erlangt die Handlung öffentliche Bedeutung, die sich nicht in der bloßen Abwägung des erlittenen Schadens seitens der Gesellschaft erschöpfen kann. Dieser Versuch, die beiden hauptsächlichen Modelle der Strafbarkeit miteinander zu versöhnen, ist zwar interessant, enthält aber auch einen unüberwindbaren Widerspruch: Ist die Verletzung der Wettbewerbsfreiheit erst einmal als Sichtweise verankert, und wird diese Verletzung dann so bedeutsam, dass ihr Vorrang vor der Verfolgbarkeit der Handlung seitens der geschädigten Gesellschaft eingeräumt wird, so ist es wenig überzeugend, dem gleichen öffentlichen Interesse einen analogen Schutz zu verweigern, wenn dessen Verletzung nicht gleichzeitig auch die Verletzung des Vermögens der Gesellschaft mit sich bringt, zu der der Täter gehört. Es handelt sich um die Fälle, in denen die Korruption unter Privaten von Personen verübt wird, welche den jeweiligen Gesellschaften, für die sie arbeiten, wechselseitige Vorteile sichern. In der Neufassung der Norm ist das Problem der Korruption unter Privaten mit transnationaler Dimension, deren praktische Bedeutung sicher heutzutage zunehmen wird, leider völlig vernachlässigt worden. In Deutschland gilt hingegen die Strafbarkeit von Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr auch für Handlungen im ausländischen Wettbewerb (laut § 299 Abs. 3 BRD-StGB). In Italien sollte also auf die allgemeinen Regeln über die räumliche Geltung der strafrechtliche Normen (Art. 4, 6 – 10) Bezug genommen werden. Folgerichtig wird der italienische Straftatbestand der Korruption unter Privaten auf jeden (Italiener oder Ausländer)
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anwendbar sein, der auch nur einen Teil des tatbestandsmäßigen Verhaltens in Italien begangen hat. Wenn dagegen das ganze Verhalten im Ausland begangen wird, muss man zwischen der Strafbarkeit der Italiener und der der Ausländer unterscheiden: für beide ist das Ersuchen des Justizministers oder der Antrag des Verletzten notwendig; aber der Ausländer wird nur bestrafbar, wenn er sich innerhalb des italienischen Staatsgebietes aufhält (Art. 9 Abs. 2 und Art. 10 Abs. 1). Auch wenn diese Ausführungen nicht alle Licht- und Schattenseiten der italienischen Regelung zur Materie der Vorteilsgewährung erschöpfen können, sollten sie aber genügen, um mindestens diesen Beitrag – den ich Herrn Professor Jürgen Wolter in alter Verbundenheit widmen möchte – mit einem Fazit zu schließen: Obwohl auch das neue italienische Antikorruptionsgesetz eine ad hoc-Straftat für die Korruption unter Privaten vorsieht, führt der in dieser Norm enthaltene Verweis auf die interne Dimension des Gesellschaftsvermögens jedoch zu einer unbegründeten Abwertung des damit auch zusammengehenden Problems des Wettbewerbsschutzes. Dazu kommt noch die eingeschränkte Effektivität bei der Bekämpfung der schwarzen Kassen der Unternehmen, da die geltende Straftat der Bilanzfälschung so strukturiert ist, dass sich der konkrete Nachweis äußerst schwierig gestaltet. Es bleibt also noch Raum für eine weitere Bewältigung dieser auch international relevanten Problematik, damit auch Italien mit einem zeitgemäßen Einsatz gegen die modernen Formen der Wirtschaftskriminalität vorgehen kann.
Die mittelbare Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate als Instrument der juristischen Aufarbeitung der Vergangenheit Von Francisco Muñoz Conde1
I. Einführung Als der noch junge und gerade an der Universität Hamburg habilitierte Strafrechtler Claus Roxin 1962 den Teil seiner Habilitationsschrift, in der er seine Lehre von der „mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate“ entwickelt hatte, als eigenständigen Aufsatz in der renommierten deutschen JuristenZeitung veröffentlichen wollte, lehnte diese die Publikation ab. So standen die Dinge in der Bundesrepublik Deutschland zu Beginn der 1960er Jahre hinsichtlich der juristischen Aufarbeitung des nationalsozialistischen Regimes. Indes erscheint es im Rückblick nachvollziehbar, dass Roxins These seinerzeit auf wenig Beifall stieß. Denn Roxin vertrat die Ansicht, dass in den wenigen Fällen dieser Art, die vor deutschen Gerichten entschieden wurden, keine bloße Beihilfe, sondern unmittelbare Täterschaft der Ausführenden und mittelbare Täterschaft der Vorgesetzten und der mittleren Verwaltungsbeamten des Machtapparats der SS vorlag. Damit stand er im Gegensatz zu der Rechtsprechung, die damals noch streng an einer subjektiven Lehre von Täterschaft und Teilnahme festhielt. Nach dieser subjektiven Lehre war das entscheidende Element nicht der materielle Ausführungsbeitrag am Tatgeschehen, sondern der Wille, mit dem gehandelt wird. Eine bloße Beihilfe wurde bereits dann angenommen, wenn die Person, die die Tatbestandsmerkmale verwirklicht hat, den Befehlen eines anderen folgte und nicht aufgrund eigenen Interesses handelte – was auch mit dem lateinischen Ausdruck „animus socii“ bezeichnet wurde. Dies hat Konsequenzen für die Strafzumessung; so ist für die Beihilfe nach dem deutschen StGB eine obligatorische Strafmilderung vorgesehen, so dass es selbst in Fällen schwersten Unrechts möglich war, Freiheitsstrafen von geringer Dauer zu verhängen und diese zum Teil sogar noch zur Bewährung auszusetzen. Diese Rechtsprechung, die noch lange Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vorherrschte, stand also kaum zufällig im Einklang mit der gesellschaftlichen Idee 1 Übersetzung ins Deutsche durch Anja Schwietert. Für die Durchsicht des deutschen Textes bin ich Herrn Dr. Boris Burghardt sehr dankbar.
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eines Vergessens und einer Auslöschung der nationalsozialistischen Vergangenheit vieler Personen, die während des nationalsozialistischen Regimes direkt an den grauenhaften Taten des Holocaust und der Ermordung von Millionen von Menschen in den Vernichtungslagern beteiligt waren. Strafjuristisch wurde diese Politik des Schlussstrichziehens unter die Vergangenheit, indem in den wenigen Fällen, in denen es zu Verurteilungen kam, lediglich symbolische Strafen verhängt wurden, die dann nicht einmal abgeleistet wurden. Vor allem aber muss berücksichtigt werden, dass zu Beginn der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts, als Roxin seinen Aufsatz und seine Habilitationsschrift schrieb, der „Fall Adolf Eichmann“ die Titelseiten der internationalen Medien beherrschte. Eichmann war ein ehemaliges Mitglied der SS und hatte auch an der Wannsee-Konferenz in Berlin zu Beginn der vierziger Jahre teilgenommen, in der die „Endlösung“ der jüdischen Bevölkerung beschlossen worden war. Als Prototyp des Schreibtischtäters war er für den Abtransport tausender Juden zu den Konzentrations- und Vernichtungslagern zuständig, wo jene in den Gaskammern ermordet wurden oder aufgrund der schlechten Lebensbedingungen – Zwangsarbeit, Misshandlungen, mangelhafte Ernährung etc. – umkamen. Nach dem Krieg war es Eichmann gelungen, nach Buenos Aires zu fliehen, wo er unter falschem Namen mehrere Jahre lebte, bis er von einem israelischem Kommando in rechtswidriger Weise festgenommen und heimlich nach Israel überführt wurde. Dort wurde ihm der Prozess gemacht, er wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Im Rahmen dieses Prozesses, der großes Interesse auf sich gezogen hat und immer noch auf sich zieht, waren sowohl der Anwalt von Eichmann, Dr. Servatius, als auch ein Großteil der deutschen Öffentlichkeit der Auffassung, dass Eichmann keinerlei Verantwortung traf, da er niemals direkt eine Tat ausgeführt hatte und seine Arbeit sich auf die rein bürokratische Organisation des Transports tausender Juden, die in verschiedenen osteuropäischen Orten und Städten festgehalten wurden, zu den Konzentrationslagern beschränkte. So wurde vorgebracht, es sei nicht in seinen Verantwortungsbereich gefallen, was nach ihrer Deportation mit den Juden passierte. Allenfalls akzeptabel erschien diesem Zeitgeist eine strafrechtliche Verantwortlichkeit wegen bloßer Beihilfe entsprechend der subjektiven Lehre. Es erscheint deshalb schlüssig, dass in dieser Atmosphäre vorsätzlichen Vergessens und bewusst herbeigeführter kollektiver Amnesie bezüglich der nationalsozialistischen Vergangenheit der Aufsatz von Roxin nicht gut aufgenommen und seine Publikation von der JuristenZeitung abgelehnt wurde. Im Grunde handelte es sich auch um eine spezielle, juristisch raffinierte Form der „Aufarbeitung der Vergangenheit“, einmal indem diese komplett geleugnet, einmal indem ihre Bedeutung heruntergespielt wurde. Bis 1994 dauerte es, bis – nach dem Fall der Berliner Mauer und nach der deutschen Wiedervereinigung – die deutsche Justiz in einem Urteil des BGH frühere Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats der DDR wegen Totschlags an Personen verurteilte, die während der Zeit des Kalten Krieges versucht hatten, über die
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deutsch-deutsche Grenze in die Bundesrepublik zu flüchten und die von Schüssen der Grenzposten, die wiederum den Befehlen ihrer Vorgesetzten gehorchten, getötet wurden. Um diese Strafe zu begründen, griff der BGH zum ersten Mal in seiner Geschichte auf jene Theorie zurück, die Roxin 30 Jahre zuvor vorgetragen hatte. Der BGH bestätigte, dass neben der unmittelbaren Täterschaft der Grenzsoldaten, die die Schüsse abgegeben hatten, auch eine mittelbare Täterschaft der Vorgesetzten vorlag, die die Befehle erteilt hatten, Fluchtversuche notfalls durch Erschießung zu verhindern. In dieser Rechtsprechungsänderung ist zweifellos mehr als bloß die Anerkennung eines rechtsdogmatischen Ansatzes zur Differenzierung von Täterschaft und Teilnahme zu erkennen. Wie auch immer man zu der von Roxin entwickelten Lehre der mittelbaren Täterschaft stehen mag, so besteht doch kein Zweifel, dass sich in dieser Neuausrichtung der Rechtsprechung auch eine Form der „juristischen Aufarbeitung der Vergangenheit“ widerspiegelt, die sich von derjenigen unterscheidet, die in den 1960er Jahren in Bezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit angewendet wurde. Die Theorie der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate verwandelte sich nicht nur in ein gut geeignetes juristisches Instrument, um die strafrechtliche Haftung der Machthaber des diktatorischen Regimes für die Verbrechen, die durch ihre Untergebenen aufgrund von Befehlen und nach einem vorher ausgearbeiteten Plan begangen worden waren, einzufordern, sondern auch in ein Mittel, mit dem die jüngsten Geschehnisse der deutschen Geschichte aufgearbeitet werden konnten. In der Zwischenzeit war Roxins Theorie – ebenso wie viele andere von ihm und anderen repräsentativen Autoren der deutschen Dogmatik entwickelte Konstruktionen – in anderen mit der deutschen Dogmatik eng verbundenen Ländern bekannt geworden. Ferner war sie in einigen Urteilen von Gerichten dieser Länder als geeignetes Mittel aufgegriffen worden, um die Verantwortlichen von Verbrechen zu verurteilen, die in diesen Ländern während dort herrschender diktatorischer Regimes begangen wurden. Auch dort diente Roxins Figur also als Instrument für die Aufarbeitung der Vergangenheit. Vorreiter war hier die Cámara Federal Nacional de Apelaciones en lo Criminal y Correccional von Buenos Aires.2 In einer bedeutenden Entscheidung vom 9. 12. 1985 verurteilte die Cámara die obersten Befehlshaber der argentinischen Militärjunta, die zwischen 1976 und 1983 das Land diktatorisch regierte, wegen der während der Diktatur begangenen schweren Menschenrechtsverstöße. Bekanntlich wurden unter der Militärdiktatur Tausende von Bürgern als vermeintliche Mitglieder von radikalen linken Gruppen oder einfach als „Subversive“ von Einheiten des Heeres, der Polizei und 2
Fallos CS Band 29, I – II, S. 36 ff. Der Text dieses Urteils und der in der nächsten Fußnote zitierten Entscheidung der Corte Suprema kann unter http://www.derechos.org/nizkor/arg/ causa13 eingesehen werden mit vom Equipo Nizkor ausgearbeiteten Hinweisen. Ich danke Verónica Yamamoto für ihre wertvolle Hilfe bei der Suche nach argentinischer Rechtsprechung, Gesetzen und Lehrmeinungen zu diesem Thema.
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polizeiähnlichen Verbänden rechtswidrig festgenommen, gefoltert und in vielen Fällen ermordet oder verschwanden, Kinder der Ermorderten wurden illegal zur Adoption freigegeben. Nach offiziellen Angaben wurden ca. 18.000 Menschen ermordet oder verschwanden, andere Quellen sprechen von ungefähr 30.000. Die Cámara verurteilte die militärischen Befehlshaber wegen dieser Taten zu hohen Haftstrafen. Die argentinische Corte Suprema (Oberster Gerichtshof) bestätigte diese Entscheidung am 20. 12. 1986 teilweise, wenngleich sie einer anderen juristischen Begründung folgte.3 Zwar kamen die Verurteilten alsbald aufgrund des umstrittenen und 20 Jahre später von demselben Obersten Gerichtshof für verfassungswidrig4 erklärten sog. Schlusstrichgesetz („Ley de Punto Final“) frei. Unabhängig davon sollen im Folgenden aber von einem strafrechtsdogmatischen Blickwinkel aus die Kriterien analysiert werden, auf die sich sowohl der BGH als auch das argentinische Gericht zur Begründung ihrer Fälle gestützt haben. Bei den Beschuldigten handelte es sich jeweils – wie in Fällen dieser Art typischer Weise – nicht um Personen, die unmittelbar an der Ausführung der Verbrechen, derer sie angeklagt wurden, beteiligt waren. Die erste Frage, die die argentinischen Gerichte, die über den Fall entschieden haben, aufgeworfen haben, war, ob die traditionellen Auffassungen über Täterschaft und Teilnahme, die in der argentinischen Lehre und Rechtsprechung in jener Zeit herrschend waren, auf diese Art von Fall anwendbar waren. Der Ausgangspunkt war ein objektiv-formaler Täterbegriff, nach dem Täter nur derjenige ist, der unmittelbar die Tatbestandsmerkmale verwirklicht oder an der Tatausführung beteiligt ist.5 Nach diesem Konzept sind zweifellos diejenigen keine 3 Fallos CS, Band 39 II, S. 1689 ff. Zu diesen Entscheidungen und ihren juristischen Gründen siehe Sancinetti, Derechos humanos en la Argentina posdictatorial, 1988; Sancinetti/ Ferrando, El derecho penal en la protección de los derechos humanos, 1999; Nino, Juicio al mal absoluto, 2006 (englische Übersetzung des Originals, Radical evil on trial, 1996); Maier, ZStW 107 (1995), S. 146 ff.; Dona, in: Modernas tendencias en la Ciencia del Derecho penal y en la Criminología, 2001, S. 545 ff.; Zaffaroni/Alagia/Slokar, Derecho penal, Parte General, 2. Aufl. 2002, S. 779 f. 4 Siehe hierzu Malamud, Game without end, 1996; Nino, Juicio al mal absoluto, S. 261 ff. Weitere Arbeiten von Parenti, La persecuzione penali di gravi violazioni dei diritti umani in Argentina. A 25 anni dal ritorno della democracia; Mazarino, Il volto represivo della recente giurisprudenza argentina sulle grave violazioni dei diritti umani. Un analisi della sentenza della Corte Suprema di Giustizia della Nazione del 13 de agosto 2005 nel caso Simón; Pastor, in: Il superamento del passato e il superamento del presente, La punizione delle violazioni sistematiche dei diritti umani nell’esperienza argentina e colombiana, a cura di Emanuela Fronza e Gabriele Fornasari, 2009. 5 Im siebten Entscheidungsgrund des Urteils der argentinischen Cámara Federal wird eine Ausführung zu dieser Theorie gemacht und es werden Autoren zitiert, die diese Theorie zu jener Zeit in der argentinischen Lehre vertraten (Soler, Derecho Penal Argentino, 1978, Band II, S. 244; Núñez, Derecho Penal Argentino, 1960, Band II, S. 280; Fontán Balestra, Tratado de Derecho Penal, 1966, S. 414; Jiménez de Asúa, La ley y el delito, 1980, S. 501; Terán Lomas, Derecho Penal, 1980, Band II, S. 147; Fierro, Teoría de la participación crimi-
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Täter, die vorbereiten, planen, lenken, organisieren, den Anstoß zur Tat geben oder auf andere Weise an der Tatverwirklichung mitwirken, ohne unmittelbar an der Tatausführung beteiligt zu sein. Hinzuzufügen ist freilich, dass dies auch nach dieser Theorie nicht bedeutet, dass diese Personen straflos bleiben oder sich eines geringeren Strafmaßes erfreuen könnten, denn wie viele andere Rechtsordnungen sieht auch Art. 45 des argentinischen Strafgesetzbuches (Código Penal) vor, dass der Anstifter (inductor), der nach der klassischen Lehre moralischer Täter oder intellektueller Täter genannt wurde, und der notwendige Teilnehmer (cooperador necesario), also derjenige, der die Tatausführung mit einer Handlung unterstützt, ohne die die Tat nicht hätte ausgeführt werden können, gleich dem eigentlichen Täter bestraft werden. Auf diese Vorschrift haben schließlich sowohl die Cámara als auch die Corte Suprema zurückgegriffen, um ihre Strafurteile juristisch zu begründen.6 Aber auch wenn im Hinblick auf das Strafmaß sowohl Anstifter als auch notwendiger Teilnehmer mit der gleichen Strafe wie derjenige, der die Tat unmittelbar ausführt, bestraft werden, so erscheint es doch unbefriedigend, derart unterschiedliche Arten der Beteiligung unter einen Begriff zu fassen. So kann und muss dem Anstifter beispielsweise die gleiche Strafe wie dem ausführenden Täter auferlegt werden, aber sein Tatbeitrag ist ohne Zweifel immer in dem Maße akzessorisch, dass er bedingt ist durch das Handeln des Angestifteten. So kann der Angestiftete auch ein anderes Delikt – von größerer oder geringerer Schwere als das Delikt, zu dem er angestiftet wurde – verwirklichen oder sogar das Delikt gar nicht ausführen oder von der weiteren Tatbestandsverwirklichung ablassen, wenn bereits zur unmittelbaren Ausführung angesetzt wurde.7 Angesichts dieses Typus erscheint es unpassend, auch solche Fälle als „Anstiftung“ (inducción) zu erfassen, in denen nicht freiverantwortlich handelnde Personen instrumentalisiert werden. Das kann unzurechnungsfähige Personen wie Kinder oder Geisteskranke betreffen oder auch Personen, die handeln, ohne zu wissen, dass sie eine Straftat begehen. Es ist offensichtlich, dass in diesen Fällen mehr als Anstiftung vorliegt und dass derjenige tatsächlich die Tatbestandsverwirklichung kontrolliert, der den Ausführenden instrumentalisiert, auch wenn er nicht persönlich an der Ausnal, 1964, S. 211); Jedoch wird im Folgenden anerkannt, dass ein moderner Teil der Lehre die Tatherrschaftslehre vertritt. Hierzu werden genannt Bacigalupo, La noción de autor en el Código Penal, 1965, S. 45; Tozzini, in: Revista de Derecho Penal Criminólogía 1968, Nr. 3, S. 81; Herrera, in: Revista de Derecho Penal y Criminología 1971, Nr. 3, S. 342; Sierra, La autoria mediata, in: La Ley 1978-B-789; Zaffaroni, Tratado de Derecho Penal, 1982, Band IV, S. 305. Zu den verschiedenen Auffassungen über Täterschaft und Teilnahme siehe Díaz y García de Conlledo, La autoría en Derecho penal penal, 1991. 6 Artikel 45 des argentinischen Código Penal besagt: „Wer an der Begehung der Tat beteiligt war oder dem Täter oder den Tätern Hilfe oder Unterstützung geleistet hat, ohne welche die Tat nicht hätte begangen werden können, wird mit der für die Straftat angedrohte Strafe bestraft. Dieselbe Strafe erhält, wer einen anderen unmittelbar zur Ausführung der Tat bestimmt hat.“ Für weitere Einzelheiten siehe Fn. 9. 7 Zu den Fällen des Abweichens der ausgeübten Tat von der angeregten Tat siehe Gómez Rivero, La inducción a cometer el delito, 1995.
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führung mitwirkt. Dementsprechend handelt es sich hier trotz lediglich indirekter oder mittelbarer Mitwirkung um den wahren Täter. So erklärt es sich, dass die deutsche Lehre den Begriff der „mittelbaren Täterschaft“ ausgearbeitet hat, um die Strafbarkeit dieser Personen zu begründen. Hierzu greift sie auf die Tatherrschaftslehre zurück. Zweifelsfrei hat der mittelbare Täter, dessen Beziehung zu der Verwirklichung des Delikts eindeutig enger und der eigentlichen Täterschaft ähnlicher ist als bei der Anstiftung, in diesen Fällen die Tatherrschaft inne.8 Ähnliches gilt für die notwendige Teilnahme (cooperación necesaria), die voraussetzt, dass die Person, die zur Verwirklichung der Straftat Hilfe leistet, nicht unmittelbar an der Ausführung teilnimmt, so dass ihr Beitrag in gewisser Weise auch vom Handeln des unmittelbar Ausführenden abhängt. Auch hier liegt aber ein Mitwirkungsbeitrag von so großer Bedeutung vor, dass ohne ihn die Tat nicht ausgeführt werden kann. Somit kann nur schwerlich von einer bloß zweitrangigen oder akzessorischen Unterstützungshandlung zu der des ausführenden Täters gesprochen werden. Deshalb sehen auch viele Strafgesetzbücher – sowohl in Argentinien als auch in Spanien9 – ausdrücklich vor, dass der notwendige Teilnehmer wie der unmittelbare 8 Die Figur der mittelbaren Täterschaft hat generell Eingang in die spanischsprachige Strafrechtslehre gefunden und wurde sogar ausdrücklich in die Strafgesetzbücher vieler lateinamerikanischer Länder aufgenommen. Im Art. 28 des spanischen Código Penal von 1995 heißt es ausdrücklich, dass neben dem unmittelbaren und dem Mittäter auch derjenige Täter ist, der die Tat „mittels eines anderen ausführt, dessen er sich als Werkzeug bedient“. 9 Die Figur der notwendigen Teilnahme findet sich in Art. 28 b) des spanischen Código Penal, der dem Täter gleichstellt, wer „an der Ausführung durch eine Handlung mitwirkt, ohne die sie nicht verwirklicht worden wäre“. (Daneben wird auch der Anstifter dem Täter gleichgestellt.) Diese Ausweitung des Begriffs des Täters auf die Figur der notwendigen Teilnahme und der Anstiftung führte dazu, dass ein Teil der spanischen Lehre erklärte, dass es sich hierbei nicht um Täterschaft im engeren Sinne handelte; ein Teil des Schrifttums vertritt jedoch die Auffassung, dass von einer Mittäterschaft gesprochen werden kann, wenn der notwendige Teilnehmer an der Ausführungsphase mitwirkt. Siehe statt vieler Gutiérrez Rodríguez, La responsabilidad penal del coautor, 2001. Nach meiner Auffassung (vgl. Muñoz Conde, in: Muñoz Conde/García Arán (Hrsg.), Derecho penal, Parte General, 8. Aufl. 2010, S. 438), kann die notwendige Teilnahme auch Mittäterschaft darstellen. Diese wird in Art. 28 1. definiert als gemeinschaftliche („conjunta“) Verwirklichung der Tat. Erforderlich ist eine funktionale Tatherrschaft durch eine Rollenverteilung, nach der einige Beteiligte aufgrund eines vorher vereinbarten Plans Ausführungshandlungen durchführen und andere die Vorbereitung und Organisation übernehmen. Nach meiner Meinung ist die davon zu unterscheidendende Form der notwendigen Teilnahme, auf die sich der Art. 28 b) des spanischen Código Penal ausdrücklich bezieht und die deshalb nicht dem Begriff der Mittäterschaft unterfällt, nur anwendbar auf Einzelfälle, in denen ohne vorherige Absprache und ohne einen vorher aufgestellten Plan gehandelt wird. Als Beispiel kann der Fall dienen, dass eine Waffe an jemanden überreicht wird, der sich zu diesem Zeitpunkt in einem Streit mit einem Gegner befindet, den er später mit der Waffe tötet. In diesem Fall erhält der notwendige Teilnehmer auch die gleiche Strafe wie der ausführende Täter, man sieht ihn auch als Täter an, aber sein Tatbeitrag kann nicht als Mittäterschaft qualifiziert werden, da die Hauptvoraussetzung dafür fehlt: das vorher erreichte Einverständnis, nach einem Tatplan zwischen den verschiedenen Beteiligten zu handeln. Die nicht notwendige Teilnahme stellt lediglich eine Beihilfe (complicidad) dar, die in Art. 29 des spanischen Código Penal als eine Mitwirkung „an der Ausführung der Tat durch vorausgehende oder gleichzeitige Handlungen“ definiert wird. Sie wird nicht vom
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Täter bestraft wird. Bei Anwendung der Tatherrschaftslehre kann er auch unter bestimmten Umständen als Mittäter angesehen werden, da die Notwendigkeit seiner Mitwirkung – unabhängig vom Kriterium, das man auswählt, um diese Notwendigkeit zu messen oder zu bestimmen – eine Beherrschung der Tathandlung voraussetzt, die eine ähnliche Tragweite hat wie die Tatherrschaft, die der ausführende Täter innehat. Aufgrund dessen und unter Anwendung der Tatherrschaftslehre, die gemäß den Thesen der von dem deutschen Strafrechtler Hans Welzel10 begründeten, finalen Handlungslehre erarbeitet und später durch die deutsche Lehre und Rechtsprechung weiterentwickelt wurde, differenziert man nun den Begriff der Täterschaft im engeren Sinne, der sich in drei verschiedene Klassen und Erscheinungsformen unterteilt: Die unmittelbare Täterschaft, die Mittäterschaft und die mittelbare Täterschaft. Allen drei ist gemein, dass die Täter, die von diesen Formen erfasst werden, eine effektive Kontrolle über die Verwirklichung der Straftat ausüben bzw. diese beherrschen, auch wenn sie in einigen Fällen, insbesondere bei der mittelbaren Täterschaft, aber nach meiner Auffassung11 auch bei der Mittäterschaft, nicht unmittelbar an der Ausführung der Tat mitwirken. Außerhalb des Begriffs der Täterschaft im engeren Sinne stehen andere Formen der Mitwirkung am Delikt, die als Teilnahme (participación) qualifiziert werden, bei der die Tatbeteiligten nicht die Tatverwirklichung beherrschen, auch wenn ihnen die gleiche Strafe drohen kann wie dem eigentlichen Täter. Ihr Tatbeitrag bleibt dem Handeln des oder der Täter unterworfen. Diese Formen der Teilnahme an einem Delikt, die keine echte Täterschaft begründen, sind die Anstiftung und die Beihilfe. Heute ist die Unterscheidung zwischen den diversen Formen der Täterschaft und Teilnahme am Delikt in der deutschen Lehre und in vielen anderen Ländern, die im Einflussbereich der deutschen Lehre stehen (vor allem Spanien, Portugal und fast alle lateinamerikanische Staaten), generell akzeptiert, obwohl sich innerhalb der Lehre auch Varianten und Korrekturen entwickelt haben, die diese Begriffe – ohne auf vorangehenden Artikel (Art. 28) umfasst. Das auf den Gehilfen anwendbare Strafmaß ist gemäß Art. 63 des spanischen Código Penal „die im Grad niedrigere Strafe als diejenige, die im Gesetz für den Täter derselben Straftat festgelegt ist“. Deshalb besteht in der Praxis der spanischen Rechtsprechung das Hauptproblem in der Unterscheidung zwischen Täter und Gehilfe und nicht in der Einordnung einer bestimmten Art von Beteiligung an einem Delikt in die in Art. 28 vorgesehenen Formen der Täterschaft. Zu den einzelnen Kriterien, die in der Lehre und der Rechtsprechung zur Abgrenzung zwischen notwendiger Teilnahme (cooperación necesaria) und Beihilfe (complicidad) verwendet werden, siehe López Peregrín, La complicidad en el delito, 1997; Pérez Alonso, La coautoría y la complicidad (necesaria) en Derecho penal, 1996. 10 Die ersten Verweise auf die finale Handlungslehre findet man bereits in Welzels Aufsatz „Studien zum System des Strafrechts“, erschienen in ZStW 58 (1939), S. 491 ff.; später wurde diese Lehre in sein Lehrbuch des Strafrechts aufgenommen und ist dort bis zur letzten 11. Auflage (1969) enthalten. 11 Siehe Muñoz Conde, in: Muñoz Conde/García Arán (Hrsg.), Derecho penal, Parte General, a.a.O.
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die Unterscheidung zu verzichten – vertiefen und nuancieren. Einer der wichtigsten Beiträge der deutschen Strafrechtswissenschaft der letzten 50 Jahre in diesem Bereich war ohne Zweifel die fundamentale und geniale Abhandlung von Claus Roxin. Dieser hat in seinem Werk über Täterschaft und Tatherrschaft zu Beginn der sechziger Jahre neue Wege zur Begründung der Täterschaft im Allgemeinen und insbesondere in den Fällen aufgezeigt, die den Hauptgegenstand dieses Beitrags bilden: die Bestimmung der Verantwortlichkeit der politischen Machthaber und hohen militärischen Ränge für Verbrechen, die in einem Machtsystem oder -apparat durch Untergebene begangen wurden.
II. Die Lehre Roxins Wie bereits oben erwähnt schuf Claus Roxin 1963 in seinem Werk „Täterschaft und Tatherrschaft“ seine Theorie der Willensherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate.12 Bereits im gleichen Jahr verfasste er einen Aufsatz, der zum Teil mit einem Kapitel seines Buches übereinstimmte. Von der JuristenZeitung als Publikation abgelehnt, erschien dieser Aufsatz später in Goltdammer’s Archiv für Strafrecht.13 Ausgangspunkt dieser Theorie sind die Schwierigkeiten, die die traditionelle Lehre bei der Begründung der Täterschaft der Machthaber von organisierten Macht12 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 1. Aufl. 1963, S. 242 f. (Diese erste Auflage wird als Verweis und Ausgangspunkt für die folgenden Kommentare genutzt) (Dieses Werk besteht mittlerweile in der 8. Auflage, in der der Originaltext beibehalten wird, aber Anhänge angefügt werden, in denen über den Einfluss des Werkes auf die Strafrechtstheorie und die Rechtsprechung sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern informiert wird. Es gibt eine Übersetzung ins Spanische von Cuello Contreras und Serrano González de Murillo, Autoria y dominio del hecho, 2000). 13 Vgl. Roxin, GA 1963, S. 193 ff. (Siehe auch die englische Version dieses Aufsatzes im Journal of International Criminal Justice, Band 9, Nr. 1, 2011, der zusätzlich diverse Kommentare von verschiedenen Autoren über die Anwendung dieser Theorie durch die nationalen und internationalen Strafgerichte angehängt wurden.). Später veröffentlichte Roxin mehrere Aufsätze, in denen er einige seiner Thesen aus dem ursprünglichen Aufsatz von 1963 aktualisierte und teilweise abwandelte; siehe z. B. Roxin, FS Grünwald, 1999, S. 549 ff. Von diesem Beitrag liegt eine spanische Version vor, siehe Roxin, in: Ferré Olivé/Anarte Borrallo (Hrsg.), Problemas de autoría y participación en la criminalidad organizada, 1999, S. 91 ff. Es gibt auch eine andere spätere Arbeit von Roxin in Revista Penal, 2006. Einige dieser Übersetzungen ins Spanische wurden auch in verschiedenen Fachzeitschriften lateinamerikanischer Länder veröffentlicht. Für eine zusammengefasste Übersicht zu der Lehre Roxins und den abweichenden Meinungen dazu, siehe Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band II, 2003, S. 17 ff. In jüngster Zeit wurde ein neuer Aufsatz in Goltdammer’s Archiv für Strafrecht veröffentlicht, in dem Roxin seine ursprüngliche Lehre, die bereits 50 Jahre zuvor in derselben Zeitschrift erschien, beibehält und zusätzlich auf die Kritik, die gegen diese Lehre in den vergangenen Jahren vorgebracht wurde, Antwort gibt; siehe Roxin, GA 2012, S. 395 ff. Wie Roxin selbst anmerkt, ist dieser Aufsatz ins Spanische übersetzt worden und in mehreren argentinischen, peruanischen und kolumbianischen Zeitschriften erschienen, auf die ich keinen Zugriff hatte.
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apparaten für von Mitgliedern dieser Apparate begangene Straftaten aufweist.14 Um diese Schwierigkeiten zu überwinden, hat Roxin ein neues Konzept der mittelbaren Täterschaft entwickelt. Hiernach ist die mittelbare Täterschaft im Gegensatz zur traditionellen Konzeption, die diese Figur nur anwendet, wenn der ausführende Täter ein bloßes nicht verantwortliches Werkzeug ist, auch dann einschlägig, wenn der Ausführende voll verantwortlich handelt. Er stellt sich aber auch in Widerspruch zur subjektiven Theorie, der die deutsche Rechtsprechung zu dieser Zeit immer noch folgte und nach der unabhängig vom materiellen Tatbeitrag nur derjenige Täter ist, der animus auctoris hat. Dahingegen kann derjenige, der lediglich animus socii hat, allenfalls als Teilnehmer bezeichnet werden, auch wenn er einen materiellen Tatbeitrag erbringt.15 Nach Auffassung Roxins ist die Tatherrschaftslehre auch 14 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 243: „Dabei soll vorausgeschickt werden: Wir sind uns bewußt, daß Kriegs-, Staats- und Organisationsverbrechen, wie sie hier zur Erörterung stehen, mit den Maßstäben der Einzeltat allein nicht adäquat erfaßbar sind (…). Daraus folgt, daß die Rechtsfiguren von Täterschaft, Anstiftung und Beihilfe, die ebenfalls auf Einzeltaten zugeschnitten sind, einem solchen Kollektivgeschehen, wenn man es als Gesamterscheinung betrachtet, nicht gerecht werden können (…). Aber das entbindet uns nicht von der Verpflichtung, die Verhaltensweisen der individuell an solchen Vorgängen Beteiligten auch unter dem dogmatischen Aspekt der Einzeltat zu betrachten, nach deren Voraussetzungen sie von unseren Gerichten überwiegend abgeurteilt werden“. 15 Vgl. z. B. BGHSt 18, 87: „Fall Staschinski“ (in diesem Fall wurde ein Agent des sowjetischen Geheimdienstes, der den ukrainischen Exilpolitiker Stepan Bandera in München mithilfe einer Blausäurepistole tötete, als Teilnehmer verurteilt, da er nach Meinung des Gerichtshofs lediglich Anweisungen des Geheimdienstes befolgt und nicht in eigenem Interesse gehandelt hatte). Nach der subjektiven Theorie hat eine Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme – die kausale Gleichwertigkeit aller Tatbeiträge vorausgesetzt – anhand der Intention oder dem Willen des fraglichen Tatbeteiligten zu erfolgen. Handelt dieser mit dem Willen, Täter zu sein (animus auctoris), dann wird er auch als Täter angesehen; wenn aber sein Wille nur darauf gerichtet ist, bloßer Teilnehmer zu sein (animus socii), dann kann er nur als Teilnehmer und innerhalb dieser Kategorie sogar nur als bloßer Gehilfe (cómplice) angesehen werden (für eine Übersicht zu dieser Theorie siehe Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band II, S. 14 f.). Diese Theorie ist nicht nur angreifbar aufgrund der Beweisprobleme, die daraus folgen, sondern auch, weil sie nicht den materiellen Beitrag zur Verwirklichung der Tat berücksichtigt. Dies führt z. B. dazu, dass das Strafmaß für den Gehilfen (complice) – das sehr viel geringer als das des Täters ist – auch auf Tatbeteiligte übertragen werden kann, die unmittelbar an dem fraglichen Delikt (manchmal auch an so schwerwiegenden Straftaten wie Mord) mitgewirkt haben. Voraussetzung ist, dass sie ohne direktes oder eigenes Interesse an der Tat und vielmehr nur als Handlanger oder im Auftrag derer gehandelt haben, die den wahren Willen hatten, Täter zu sein. Das Überleben der subjektiven Theorie in der deutschen Rechtsprechung nach dem Zweiten Weltkrieg führte jedoch dazu, dass viele der unmittelbaren Täter der in den Konzentrationslagern begangenen Verbrechen zu einer Gehilfenstrafe verurteilt – in den wenigen Fällen, in denen sie verurteilt wurden – und dann später wieder freigelassen wurden (siehe zur Kritik an dieser Rechtsprechung Just-Dahlmann/Just, Die Gehilfen, 1988; siehe auch unten Fn. 20). Die Kritik, die Roxin in seinem Aufsatz von 1963 formulierte (siehe Fn. 12), richtete sich nicht nur gegen die subjektive Theorie generell, sondern vor allem gegen die Qualifikation der sogenannten „Schreibtischtäter“ als Gehilfen. Diese entschieden wie im Fall von Adolf Eichmann in ihren Büros über das Schicksal von Abertausenden von Juden und schickten diese in Konzentrations- oder Vernichtungslager. Es ist deshalb überraschend, dass sich zu dieser Zeit der spanische Verfasser einer Monografie –
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hier anzuwenden, um die Besonderheiten dieser Fälle zu verstehen und die Strafe für die (mittelbare) Täterschaft desjenigen begründen zu können, der den Machtapparat beherrscht ohne unmittelbar an der materiellen Ausführung der Tat beteiligt zu sein. Diesbezüglich stellte Roxin zutreffend fest, dass „der Grund dafür […] aber nicht in besonderen Gemütsstimmungen der Auffordernden, sondern nur im Funktionsmechanismus des Apparates liegen [kann], im Rahmen dessen sie tätig werden.“.16 In diesem Sinne hebt er drei Elemente hervor, die ihm zufolge vorliegen müssen, um sein neues Konzept der mittelbaren Täterschaft anwenden zu können: - Das erste Element dieses funktionellen Mechanismus ist nach Roxin die Organisationsherrschaft.17 grundsätzlich den anderen Thesen Roxins sehr zugetan – im Fall Eichmann klar von Roxins Position distanzierte und diese kritisierte. Er war der Meinung, dass sich Eichmann, der als einer der Hauptverantwortlichen für den bürokratischen Aufbau und das Funktionieren der Konzentrationslager zuständig war, höchstens der Beihilfe zu den Millionen Morden dort schuldig gemacht haben konnte (siehe Gimbernat Ordeig, Autor y cómplice en Derecho penal, 1966, S. 176 ff., insb. S. 197, wo steht: „Wenn die Handlungen Eichmanns sich im Rahmen der sogenannten „Endlösung“ hielten, so begründete sein Verhalten trotz der hohen Position, die er im Machtapparat innehatte, nur eine Beihilfe an jeder der verübten Tötungen.“). Wenn man aber berücksichtigt, dass gemäß § 49 I StGB das Strafmaß für den Gehilfen in diesem Fall bei einer Freiheitsstrafe von drei Jahren liegen kann, während die Strafandrohung für den Täter bei lebenslanger Freiheitsstrafe liegt, besteht kein Zweifel daran, dass eine Verurteilung von Eichmann lediglich symbolischer Art gewesen wäre. Wäre der Prozess nämlich vor einem deutschen Gericht geführt worden und wäre dieses auch der Meinung von Gimbernat gefolgt, so wäre Eichmanns Tatbeitrag als bloße Beihilfe eingestuft, die Strafe evtl. zur Bewährung ausgesetzt worden und weitere strafvollzugsrechtliche Erleichterungen angewendet worden. Die Einordnung der Tat als Beihilfe aber wäre in diesem Fall sogar besonders anstößig gewesen, da Eichmann einer derjenigen war, die am 20. 1. 1942 zusammen mit anderen wichtigen Machthabern der Nazis an der Wannseekonferenz teilgenommen hatten. In dieser war die sogenannte „Endlösung der Judenfrage“ vereinbart worden, also die Auslöschung von Millionen von Juden in den Konzentrationslagern. (Siehe Roseman, La villa, el lago, la reunión, La conferencia de Wannsee y la „solución final“, 2001, Übersetzung des englischen Originals „The villa, the Lake, the Meeting“ durch Claudio Molinari). Unter Berücksichtigung dessen ist die Meinung, dass das spätere Verhalten von Eichmann insoweit, wie es sich im Rahmen der sogenannten „Endlösung“ bewegte (so Gimbernat), als bloße Beihilfe einzuordnen sei, schwer nachzuvollziehen. Dieser Meinung folgte schließlich auch nicht das Gericht von Jerusalem, das Eichmann als Mittäter zur Todesstrafe verurteilte (Urteil des Jerusalem District Court v. 12. 12. 1961, bestätigt durch den Supreme Court am 29. 5. 1962). 16 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 244. 17 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 244 f.: „Wenn wir uns zunächst einmal ohne genauere Analyse von einem unbefangenen Vorverständnis des Begriffes ,Tatherrschhaft‘ leiten lassen, so wird es unmittelbar einleuchten, daß ein für die Organisation von Judenermordungen zuständiger hoher Beamter oder die Leitung eines mit politischen Attentaten beschäftigten Geheimdienstes die Herbeiführung des Erfolges in anderer Weise beherrschen als ein gewöhnlicher Anstifter. Niemand wird zögern, den Auftraggebern hier eine Schlüsselstellung innerhalb des Gesamtgeschehens zuzuweisen, die dem bloß Auffordernden in den Fällen ,gewöhnlicher‘ Kriminalität nicht zukommt.“; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 248: „Generell läßt sich also sagen: Wer in einen Organisationsapparat an irgendeiner Stelle in der Weise eingeschaltet ist, daß er ihm untergebenen Personen Befehle erteilen kann, ist kraft der ihm zukommenden Willensherrschaft mittelbarer Täter, wenn er seine Befugnisse zur
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- Ein zweiter entscheidender Faktor für die Begründung der Willensherrschaft in diesen Fällen ist die Austauschbarkeit (Fungibilität) des Ausführenden. Das heißt, der Ausführende muss frei ersetzbar sein.18 - Schließlich fügt er ein drittes Element hinzu, das „Beschränkung der Organisationsherrschaft auf rechtsgelöste Apparate“ genannt wird.19 Diese durch Claus Roxin verfochtene Ausweitung des Begriffes der mittelbaren Täterschaft wurde zu Beginn in der deutschen Lehre nicht sehr wohlwollend aufgenommen; teilweise deshalb, weil diese noch streng dem traditionellen Begriff der mittelbaren Täterschaft verhaftet war, nach der erforderlich ist, dass das ausführende Werkzeug nicht für die Straftat verantwortlich ist; teilweise aber auch deshalb, weil die Ausweitung des Begriffs wie oben besprochen eine unmittelbare Beziehung hatte zum Fall Eichmann und der Verantwortlichkeit der nationalsozialistischen Machthaber und Teilen des Machtapparates, den die SS bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit und dem Holocaust bildete. Dies waren Themen, über die die deutsche Strafrechtslehre zu der Zeit lieber nicht sprach bzw. so wenig wie möglich sprach. Sie beschäftigte sich nicht direkt mit einer Rechtsprechung20, die in den weDurchführung strafbarer Handlungen einsetzt. Ob er dabei auf eigene Initiative oder im Interesse und Auftrag höherer Instanzen handelt, ist unerheblich. Denn für seine Täterschaft entscheidend ist allein der Umstand, daß er den ihm unterstellten Teil der Organisation lenken kann, ohne die Deliktsverwirklichung anderen anheimstellen zu müssen.“ 18 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 245: „Bei dieser (…) Fallkonstellation mangelt es also nicht an der Freiheit und Verantwortlichkeit des unmittelbar Ausführenden, der als schuldhaft-eigenhändiger Täter zu bestrafen ist. Aber diese Umstände sind für die Herrschaft des Hintermannes irrelevant, weil von seiner Warte aus der Handelnde sich nicht als freie und verantwortliche Einzelperson, sondern als anonyme, austauschbare Figur darstellt. Der Ausführende ist, so wenig an seiner Handlungsherrschaft gerüttelt werden kann, doch gleichzeitig nur ein in jedem Augenblick ersetzbares Rädchen im Getriebe des Machtapparates, und diese doppelte Perspektive rückt den Hintermann neben ihn ins Zentrum des Geschehens.“ 19 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 249: „Aus der Struktur der Organisationsherrschaft folgt, daß sie nur dort vorliegen kann, wo der Apparat als ganzer außerhalb der Rechtsordnung wirkt. Denn solange Leitung und Ausführungsorgane sich prinzipiell an eine von ihnen unabhängige Rechtsordnung gebunden halten, kann die Anordnung strafbarer Handlungen nicht herrschaftsbegründend wirken, weil die Gesetze den höheren Rangwert haben und im Normalfall die Durchführung rechtswidriger Befehle und damit Willensmacht des Hintermannes ausschließen.“ Ein viertes Element, das Roxin später seiner These hinzufügte und gemäß dem der unmittelbare Ausführende eine „erhöhte Bereitschaft zur Ausführung der Tat“ haben muss, gab er nun in der oben zitierten und in der GA 2012, S. 412 veröffentlichten Arbeit wieder auf. Inzwischen vertritt er die Ansicht, dass eine solche wesentlich erhöhte Tatbereitschaft „zwar vorliegt, dass sie aber keine selbstständige Voraussetzung der Organisationsherrschaft darstellt, sondern aus den drei anderen herrschaftsbegründenden Kriterien abzuleiten ist.“. 20 Ein konkretes Beispiel dieser Rechtsprechung wird vertieft behandelt in der Monografie von Stoll, Die Herstellung der Wahrheit, Strafverfahren gegen ehemalige Angehörige der Sicherheitspolizei für den Bezirk Bialystok, 2012. Diese ausführliche und mit reichen Belegen versehene Monografie, die die Doktorarbeit der Verfasserin darstellt, beschäftigt sich mit dem Strafprozess, der zwischen 1967 und 1969 in der deutschen Stadt Bielefeld gegen einige Mitglieder der Sicherheitspolizei des polnischen Bezirks Bialystok stattfand. Den Angeklag-
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ten wurde vorgeworfen, 1943 die Deportation von mehr als 100.000 Juden, die in diesem Gebiet wohnten, zu den Vernichtungslagern Ausschwitz und Treblinkla, wo diese ermordet wurden, angeordnet und überwacht zu haben. Weiterhin wurden einige von ihnen auch angeklagt, einzelne Taten wie Totschlag, Raub, Freiheitsberaubungen etc., begangen zu haben. So kam es zur Erschießung von hundert jüdischen Männern, Frauen und Kindern in einer Vergeltungsmaßnahme, weil einen Tag zuvor ein Familienvater Säure über das Gesicht eines der Soldaten geschüttet hatte, die gekommen waren, um seine Frau mitzunehmen. Auch gab es Erschießungen derjenigen, die bei dem Aufstand im Ghetto von Bialystok im Sommer 1943 individuell oder kollektiv Widerstand geleistet hatten, oder derjenigen, die sich versteckt hatten oder versucht hatten, zu fliehen. Der Prozess endete nach mehr als zwei Jahren schwieriger Sitzungen und der Suche nach Beweismaterial mit der Verhängung relativ milder Strafen. So verhängte man gegen einige der Hauptverantwortlichen der Deportationen Freiheitsstrafen von fünf bis neun Jahren, da man sie gemäß der subjektiven Teilnahmetheorie, die damals in der deutschen Rechtsprechung noch vorherrschte, als bloße Gehilfen ansah. Andere wurden nicht verurteilt, weil es an Beweisen fehlte oder durch die Einstufung als bloße Totschläge und nicht als Morde eine Verjährung schon eingesetzt hatte. Die an der jüdischen Bevölkerung verübten Taten, wie die Tötungen und andere Übergriffe, Misshandlungen usw., wurden als bloße Exzesse einzelner im Rahmen der Deportationen angesehen. Das Kapitel III ist den juristischen Problemen mit materiellem oder formellem Charakter gewidmet, die sich zeigten, als in der BRD Prozesse wegen der Verbrechen der Nationalsozialisten angestrengt wurden. So wurde das Argument vorgebracht, dass es nicht möglich sei, ein Verhalten als Straftat zu qualifizieren, das nach dem zur Zeit der Begehung geltenden Recht völlig legal und sogar zwingend vorgeschrieben war. Hier beschäftigt sich Stoll mit der in Deutschland bereits in den sechziger Jahren geführten Diskussion, ob die Befehle Hitlers zwingend zu befolgen waren. Auch die Frage nach einer rückwirkenden Anwendung der neuen Verjährungsfristen oder der Unverjährbarkeit auf die unter nationalsozialistischer Herrschaft begangenen Straftaten war nicht neu. Ebenso wird sich in diesem Kapitel mit den – zum Teil bereits angesprochenen – Fragen beschäftigt, warum die damalige Rechtsprechung diejenigen, die unmittelbar an der Exekution von tausenden Personen beteiligt waren, als bloße Gehilfen und nicht als richtige Täter angesehen hat; und ob es richtig war, diejenigen in den Zeugenstand zu rufen, die tatsächlich Täter der Taten waren, über die geurteilt wurde (siehe hierzu meine Besprechung zu diesem Buch in Revista Penal 2012). Über die deutsche Rechtsprechung im Hinblick auf diese Fälle und die hierzu beobachtete Einstellung der deutschen Strafrechtler dieser Zeit haben die Ehegatten Just-Dahlmann/Just ein Buch verfasst, Die Gehilfen, in dem u. a. auf den S. 160 ff. darüber informiert wird, dass allen deutschen Strafrechtsprofessoren ein Fragebogen zugeschickt worden war. Die Professoren sollten ihre Meinung zu dieser Rechtsprechung abgeben. Es haben jedoch nur neun Professoren geantwortet (Peters, Spendel, Kaufmann, Klug, Geerds, Jescheck, Rüter, Roxin, Baumann). Die wenigsten brachten Einwände gegen die seltene Härte der Entscheidungen vor; fast alle lehnten es mit der Begründung, keine Kenntnis über die Details zu haben, ab, die Rechtsprechung zu kommentieren. Auch wurde angegeben, die Probleme bei der Bestimmung der Strafe (was die Einstufung als Gehilfe darstellt) entzögen sich einer generellen Bewertung. Sehr interessant und entlarvend ist die Antwort, die der damals noch junge Professor Roxin gegeben hat. Nachdem er seine Missbilligung mit der in Frage stehenden Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht hatte, bezog er sich auf seine oben genannte Arbeit und teilte mit, dass er sie zur Veröffentlichung an die Juristenzeitung geschickt hatte. Für den Fall, dass diese sie nicht annehmen sollte, wollte er sie an eine andere Zeitung schicken (letztendlich ist sie im Goltdammer’s Archiv für Strafrecht veröffentlicht worden). Am 12. 9. 2001 – ein Tag nach dem Attentat auf das World Trade Center in New York – hat mir Roxin bei einem Kongress in Seoul, Korea, im Rahmen eines Gespräch verraten, dass es das einzige Mal war, dass eine seiner Arbeiten von einer deutschen Zeitschrift abgelehnt worden war. Später nahm Roxin in einem Aufsatz Bezug auf diese Begebenheit. Dieser Aufsatz wurde in eine Sammlung seiner Arbeiten aufgenommen, die von Manuel Abanto
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nigen Malen, in denen sie sich dieser Fälle annahm, allenfalls zu einer Verurteilung wegen Beihilfe gelangte und Strafen von geringer Schwere und rein symbolischer Art auferlegte. Diese Einstellung änderte sich jedoch langsam in Deutschland, insbesondere nach dem Fall der Berliner Mauer und der darauffolgenden deutschen Wiedervereinigung, und die Lehre von Roxin wurde bald vom BGH aufgenommen, der sie in den Prozessen gegen einige hohe Regierungsposten der ehemaligen DDR anwendete, in denen die Tötungen von Republikflüchtigen an der Berliner Mauer durch Grenzposten abgeurteilt wurden.21 Außerhalb von Deutschland erlangte die Lehre Roxins mit der Zeit immer mehr Anhänger, vor allem in Spanien, Portugal und zahlreichen lateinamerikanischen Ländern, auch wenn sie ebenso Gegenstand von Kritik wurde. Auch in der Rechtsprechung wurde die Lehre in einigen sehr bedeutenden Fällen angewandt, die die Verantwortlichkeit von politischen Machthabern und hohen Militärpersonen für Verbrechen, die von Mitgliedern eines Machtapparats ausgeübt oder gesteuert wurden, zum Gegenstand hatten. Schließlich ist Roxins Lehre auch von internationalen Gerichten bei Fällen angewandt worden, die mit in deren Zuständigkeit liegenden internationalen Verbrechen im Zusammenhang standen. Dies wird Gegenstand der folgenden Abschnitte sein.
III. Die Anwendung der Lehre Roxins in der Rechtsprechung der nationalen Gerichte Roxins Lehre wurde von Beginn an und wird auch heute noch von einem großen Teil der Rechtslehre – nicht nur in Deutschland22, sondern auch in vielen anderen Ländern, die von der deutschen Strafrechtswissenschaft beeinflusst worden sind,
übersetzt worden ist. Diese Zusammenstellung ist in einem in Lima erschienenen Sammelband enthalten (siehe Roxin, La teoría del delito en la discusión actual, 2007, S. 513, Fn. 1). JustDahlmann/Just, Die Gehilfen, S. 174, erzählen zudem von der Haltung von Jürgen Baumann, der sich vergeblich bemühte, eine offizielle Stellungnahme der Strafrechtsprofessoren auf der Strafrechtslehrertagung von 1963 zu erhalten. 21 BGHSt 40 , 268. 22 Siehe z. B. auch Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 1969, S. 509, der in diesen Fällen einer Einstufung als Mittäter zugeneigt ist (so auch Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1998, S. 670, dessen zweite Auflage 1983 von Mir Puig und Muñoz Conde ins Spanische übersetzt wurde. Die Arbeit von Jescheck wird von der argentinischen Corte Suprema zitiert und ausdrücklich übernommen). Gegen die These, dass Organisationsherrschaft eine mittelbare Täterschaft begründen kann, haben sich ausdrücklich ausgesprochen Herzberg, in: Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung und Beteiligungsverhältnisse bei Straftaten in bürokratischen Organisationen des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft, 2000, S. 33 ff.; Rotsch, ZStW 112 (2000), S. 518 ff., und Weigend, in: Journal of International Criminal Justice, Band 9, Nr. 1, der bereits oben zitiert wurde und der sich der Kommentierung der Anwendung von Roxins These durch den Internationalen Strafgerichtshof und einige lateinamerikanische Gerichte gewidmet hat.
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wie z. B. einem Teil der spanischen Wissenschaft23 – widersprochen. Dieser Teil der Lehre stützt sich insbesondere darauf, dass der Begriff der mittelbaren Täterschaft nur sinnvoll anwendbar sei, wenn der als Werkzeug benutzte Tatbeteiligte strafrechtlich nicht verantwortlich handelt, etwa weil er nicht weiß, dass er eine Straftat begeht oder weil er aufgrund einer durch den mittelbaren Täter absichtlich hervorgerufen Situation gerechtfertigt handelt. Nicht anwendbar sei er aber in dem Fall, der Gegenstand dieses Beitrags ist und in dem der Ausführende frei verantwortlich handelt. Trotzdem gewann die Theorie in den letzten Jahren immer mehr Befürworter und dies nicht nur im Bereich der Rechtslehre, sondern auch im Bereich der Rechtsprechung. Bereits seit vielen Jahren wenden viele Gerichte die Theorie an, um Verurteilungen von politischen Machthabern und hohen Militärrängen wegen durch Untergebene begangener Straftaten in einem Machtsystem zu untermauern. Pionier in diesem Bereich war die Cámara de Apelaciones von Buenos Aires im Fall der Comandantes der argentinischen Militärjunta, in dem sie auf folgende Art und Weise argumentierte: „Die Angeklagten hatten Tatherrschaft, da sie die Organisation, die die Taten hervorgebracht hat, beherrscht haben. Die abgeurteilten Geschehnisse in diesem Fall sind nicht das Ergebnis von unbeständigen und individuellen Einzelentscheidungen derjenigen, die die Taten ausgeführt haben, sondern sie stellen die Kampfform dar, die die Befehlshaber der Streitkräfte ihren Untergebenen angeordnet haben. Die Geschehnisse wurden also mittels einer komplexen Palette von Faktoren ausgeführt (Männer, Befehle, Orte, Waffen, Fahrzeuge, Nahrungsmittel, etc.), die jede militärische Operation beinhaltet.“24 23 Zu spanischen Abhandlungen über dieses Thema siehe z. B. Hernández Plasencia, La autoría mediata en derecho penal, 1996, S. 257 ff., der sich für die Figur der notwendigen Teilnahme ausspricht; ders., La codelincuencia en organizaciones criminales de estructura jerarquizada, en Revista de Derecho penal y Criminología, 2006; Bolea Bardón, Autoría mediata en Derecho penal, 2000. Eine gute Darstellung der Meinungen für und gegen Roxins Lehre in der deutschen und der spanischsprachigen Strafrechtslehre findet sich in einem Aufsatz von Ambos, Dominio del hecho por dominio de la voluntad en virtud de aparatos organizados de poder, in: Revista de Derecho penal y Criminología, 1999. Dieser Aufsatz wurde später wieder aufgenommen und erweitert in seinem Werk, La Parte General del Derecho penal internacional, Bases para una elaboración dogmática, Übersetzung von Ezequiel Malarino, 2006, S. 216 ff.; ders., Internationales Strafrecht, 2006, S. 140; siehe auch Werle, Völkerstrafrecht, 3. Aufl. 2012, S. 235 ff. 24 Vgl. Entscheidung der Cámara de Apelaciones, Fallos CS Band 29, I – II, S. 1601 (7. Entscheidungsgrund, Abschnitt 5 und 6). Zu dieser Entscheidung gibt es bereits diverse Kommentare sowohl von argentinischen Autoren als auch von Autoren anderer Länder; für eine ausführlichere Darstellung der Gerichtsentscheidungen, die nach diesem Urteil in den letzten Jahren bezüglich der mittelbaren Täterschaft kraft Beherrschung eines Machtapparats in Argentinien und anderen lateinamerikanischen Ländern ergangen sind, verweise ich auf den Artikel von Muñoz Conde/Olásolo, La aplicación del concepto de autoría mediata a través de aparatos organizados de poder en América latina y España: desde el juicio a las Juntas militares argentinas hasta los casos contra Abimael Guzmán, Alberto Fujimori y los líderes políticos colombianos vinculados al paramilitarismo, erschienen in Revista Penal 2011, sowie in
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Trotz dieser überzeugenden Bestätigung wurde die Begründung der Verurteilung der Comandantes, die eindeutig in der Lehre von Roxin gründet, später vom argentinischen obersten Gerichtshof abgelehnt, der mehrheitlich mit einer Gegenstimme feststellte, dass diese Lehre nicht konkret genug sei und zu dem Zeitpunkt, zu dem die Taten ausgeführt worden waren, noch keine Anerkennung in der argentinischen Strafrechtslehre und -rechtsprechung genossen habe.25 Dementsprechend begründete der argentinische oberste Gerichtshof das Urteil über die Comandantes mit der Figur der notwendigen Teilnahme, die ausdrücklich in Art. 45 des argentinischen Código Penal Erwähnung findet. Dieser Artikel sieht für den notwendigen Teilnehmer die gleiche Strafandrohung vor wie für den unmittelbaren Täter. Nichtsdestotrotz wendeten später einige argentinische Gerichte, die über konkrete Fälle von während der Diktatur durch Mitglieder jenes Machtapparats begangenen Verbrechen zu entscheiden hatten, die Theorie von Roxin an oder warfen diese Form der strafrechtlichen Zurechnung zumindest wieder auf. So geschah es z. B. auch in dem vom Tribunal Oral Federal de Tucumán (Argentinien) entschiedenen Fall vom 4. 9. 2008. Den beiden Angeklagten, „die die Riege der obersten Befehlsgewalt in der Machtmaschinerie bildeten, in die sich die Streitkräfte verwandelt hatten“ (siehe S. 101 des Urteils), wurde hier die gleiche Strafe (lebenslange Haftstrafe und lebenslange Aberkennung der bürgerlichen Rechte) auferlegt. Aufgrund ihrer Stellung war es ihnen möglich gewesen, das illegale Eindringen in das Haus des Senators Vargas Aignasse anzuordnen, der von ihnen verdächtigt worden war, einer subversiven Bewegung, den Montoneros, anzugehören. Vargas Aignasse wurde, nachdem er in seinem eigenen Heim vor Frau und Kindern festgenommen worden war, in ein militärisches Zentrum verlegt, wo er auch gefoltert wurde. Schließlich ließ man ihn verschwinden, indem man vortäuschte, dass er während der Verlegung in ein anderes Zentrum von einer unbekannten Gruppe entführt worden sei. Das Gediversen lateinamerikanischen Zeitschriften (es existiert eine englische Version, „The Application of the Notion of Indirect Perpetration through Organized Structures of Power in Latin America and Spain“, in Journal of International Criminal Law, Band 9, Nr. 1, 2011, S. 113 ff.; sie wurde auch in New Philosophy of Crime and Punishment in the Era of Globalisation, 2011, S. 47 ff. veröffentlicht. Eine umfassendere Version dieser Arbeit ist auch auf Englisch und Chinesisch erschienen in Organized Crime and its Coutnermeasures in the Era of Globalisation, He Bingsong y Liu Yanping (Hrsg.), 2010, S. 153 ff. (englische Version), und S. 431 ff. (chinesische Version). 25 Vgl. die Entscheidung der Corte Suprema, Fallos CS, Band 39 II, S. 1701 ff. Die Argumente, die die Corte Suprema bemüht, um Roxins Lehre zu verwerfen, finden sich in den Entscheidungsgründen 20 ff. dieser Entscheidung. Dort werden der Meinungsstreit und die Gründe dafür dargelegt, dass die Lehre nach der Corte Suprema nicht in das argentinische Strafrecht aufgenommen werden kann. Diese Meinung vertritt auch Nino, Juicio al mal absoluto, S. 241, der erklärt, dass „die Figur der Mittäterschaft ausreichend gewesen wäre“. Trotzdem gaben zwei Richter der Corte Suprema, die Dres. Petracchi und Bacqué, Sondervoten zugunsten der Lehre Roxins ab und interpretieren auch den Art. 514 des argentinischen Wehrgesetzbuches in diesem Sinne. Diese Norm sieht weiterhin die Verantwortlichkeit des vorgesetzten Soldaten, der Befehle erteilt, vor, auch wenn der ausführende Soldat gleichsam strafrechtlich für das begangene Delikt belangt werden kann.
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richt zitiert nach einer ausführlichen Darlegung von Roxins Lehre das Urteil der argentinischen Cámara de Apelaciones, das in erster Instanz die Comandantes verurteilt hatte, die Entscheidung des deutschen BGH bezüglich der Befehlshaber der ehemaligen DDR, in der auch Roxins Lehre angewendet wurde, und schließlich auch andere Entscheidungen argentinischer Gerichte, in denen Roxins Lehre in ähnlich gelagerten Fällen erwähnt worden war. So wurde ausdrücklich verwiesen auf: „die Entscheidungen des Tribunal Oral en lo Criminal Federal Nr. 1 von La Plata in der Sache „Etchecolatz“ (Urteil vom September 2006) und „Von Wernich“ (Urteil vom 1. 11. 2007); der Tribunal Oral en lo Criminal Nr. 1 von Córdoba im Fall „Menéndez Luciano Benjamín, Rodríguez Hermes Oscar, Acosta Jorge Excequiel, Manzanelli Luis Alberto, Vega Carlos Alberto, Díaz Carlos Alberto, Lardone Ricardo Alberto Ramón, Padován Oreste Valentín wegen rechtswidriger Freiheitsberaubung schwerer Folter und Totschlag in besonders schwerem Fall (privación ilegítima de libertad, imposición de tormentos agravados y homicidio agravado)“ – EXPTE 40/M/2008 – (Urteil vom 24. 07. 2008); diese Entscheidung wurde durch die Cámara Nacional de Casación Penal in der Sache „Etchecolatz“ (Urteil vom 18. 05. 2007) bestätigt. Außerdem begründet das Gericht von Tucumán sein Strafurteil, indem es die Kriterien der objektiven Zurechnung und der Verantwortlichkeit beim unechten Unterlassungsdelikt aufgrund einer Garantenstellung – für das Verhalten ihrer Untergebenen – heranzieht. In einem etwas neueren Urteil des Tribunal Oral Federal von San Martín Nr. 1 vom 12. 8. 2009 in der Sache „Floreal Avellaneda“, stellte sich dieses Problem ebenfalls. Wie in den vorherigen Fällen handelte es sich um eine Freiheitsberaubung, auf die die Folter von Floreal Avellaneda, seiner Frau Iris Avellaneda und seinem weniger als 16 Jahre alten Sohn, ebenfalls mit Namen Floreal, folgte. Die Leiche des Sohnes wurde später gefesselt und von schwerer Folter gezeichnet an der uruguayischen Küste aufgefunden, wo er wahrscheinlich aus einem Militärflugzeug gestoßen worden war. Das Gericht analysierte eingehend die Beweise und widmete sich danach der Begründung der Verurteilung der Angeklagten, aber anstatt Roxins Lehre anzuwenden oder diese auch nur zu erwähnen, gab es einige der Lehre Roxins kritisch gegenüberstehenden Arbeiten wider, z. B. diejenige von Kai Ambos, auf dessen Aufsatz zu dem Thema26 das Gericht ausdrücklich verwies. Schließlich wendete es sich 26 Vgl. diesbezüglich meine verschiedenen Arbeiten: Muñoz Conde, in: Ferré Olivé/Anarte Borrallo (Hrsg.), Problemas de autoría y participación en la criminalidad organizada, 1999; ders., ¿Dominio de la voluntad en virtud de aparatos de poder organizados en organizaciones „no desvinculadas del Derecho“, in Revista Penal 2000 (deutsche Version veröffentlicht in FS Roxin, 2001, S. 609 ff.); ders., La superación del concepto objetivo formal de autoría y la estructura de las organizaciones empresariales, in Luisiada, II Serie, Nr. 3, 2005, S. 57 ff.; ders., Problemas de autoría y participación en el Derecho penal económico, o ¿cómo imputar a título de autores a las personas que, sin realizar acciones ejecutivas, deciden la realización de un delito en el ámbito de la delincuencia económica empresarial?, Revista Penal 2002 (auch in Derecho penal económico, Manuales de formación continuada, 14, 2001; von dieser Arbeit gibt es eine zusammengefasste Version in Modernas tendencias en la Ciencia del derecho penal y la Criminología, 2001). Für eine zusammengefasste Darstellung dieser Meinung siehe Muñoz Conde/García Arán, Derecho penal, S. 448 ff. Später haben sich mit diesem Thema
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dann einer Einordnung als Mittäter zu, die noch von anderen Autoren wie Jakobs oder seinem argentinischen Schüler Sancinetti vertreten wird. In Spanien wurde die Lehre Roxins grundsätzlich positiv aufgenommen, wenn auch mit einigen Abweichungen, insbesondere derjenigen, die sich speziell mit diesem Thema beschäftigt haben. Jedoch gilt dies nicht für die Rechtsprechung, die sich zunächst zwar bei einigen Gelegenheiten auf Roxins Lehre bezogen hat und sogar – ohne die Lehre jedoch ausdrücklich zu zitieren –, einige ihrer Argumente wörtlich übernommen, dann schließlich aber bei der Urteilsfindung die Figur der Anstiftung oder der notwendigen Teilnahme angewendet hat.27 In der aktuellen politischen Situation ist es offensichtlich, dass es in einem Zustand der demokratischen Normalität und der Einhaltung der Menschenrechte nicht häufig zu einer massenhaften Begehung von Menschenrechtsverletzungen durch einen staatlichen Machtapparat kommt. Die wenigen Fälle dieser Art, die sich nach der Einrichtung der Demokratie in Spanien ereignet haben, fanden mit dem Versuch des Staatsstreichs am 23. 2. 1981 statt, über den schließlich in der Entscheidung vom 22. 4. 1983 geurteilt wurde, und im sogenannten „Fall Marey“, in dem der Tribunal Supremo, der oberste spanische Gerichtshof, in seiner Entscheidung vom 28. 7. 1998 den Innenminister und andere höhere Ministeriumsmitarbeiter wegen der Entführung eines mutmaßlichen Mitglieds der terroristischen Vereinigung ETA verurteilte. Allerdings wurde in keinem dieser Fälle die Materie der mittelbaren Täterschaft durch die Ausnutzung eines Machtapparats angewendet oder auch nur erwähnt. Im ersten Fall lag der Grund hierfür möglicherweise darin, dass zu dieser Zeit die Thesen Roxins in der Rechtsprechung noch nicht ausreichend bekannt waren und zusätzlich sowohl im damals geltenden Código Penal als auch im Código de Justicia militar (Wehrgesetzbuch) spezifische Tatbestände enthalten waren, die die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Staatschefs und Rebellionsführern regelten. Diese Straftatbestände bestehen auch im aktuellen Código Penal von 1995 noch ausdrücklich befasst und Roxins These angeschlossen Faraldo Cabana, Responsabilidad penal del dirigente en estructuras jerárquicas, 2004; Fernández Ibáñez, La autoría mediata en aparatos organizados de poder, 2006. Auch wurde die Lehre Roxins von anderen Autoren teilweise akzeptiert oder es wurde von diesen zumindest die Möglichkeit der Anwendung auf Führungskräfte von Unternehmen im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts in Erwägung gezogen, z. B.: Ambos, Muñoz Conde, Pérez Cepeda, García Cavero, Nuñez Castaño, Martín de Espinosa, Caruso Fontán, Ferré Olivé, Gómez-Jara Díaz, etc. Ausführungen zu diesem Thema würden hier aber zu weit reichen. In der portugiesischen Strafrechtslehre sprechen sich für Roxins Lehre aus: Figueiredo Dias, in: Ferré Olivé/Anarte Borrallo (Hrsg.), Problemas de autoría y participación en la criminalidad organizad, S. 99 ff.; Serra, in: Revista Portuguesa de Ciencia Criminal 5 (1995), S. 103. 27 Vgl. Entscheidung des Tribunal Supremo (STS) vom 2. 7. 2004 (Fall Hipercor), vom 1. 10. 2007 (Fall Scilingo), vom 17. 7. 2008 (Attentat auf den Bahnhof Atocha in Madrid). Für eine Darstellung der Wirkungen dieser Lehre auf die Rechtsprechung des spanischen Tribunal Supremo, siehe Gil Gil, La autoría mediata por aparatos jerarquizados de poder en la jurisprudencia española, in: Anuario de Derecho penal y Ciencias penales, 2008, S. 53 ff.; Bacigalupo Zapater, La teoria del dominio del hecho en la jurisprudencia del Tribunal Supremo, in: La Ley, 2008.
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(Art. 472 ff.). Im zweiten Fall kam es zu diesem Urteil, weil man annahm, dass es sich um eine Ausnahmetat handelte und diese nicht als Teil einer generellen Aktivität angesehen wurde, die sich durch illegale Gruppen (sogenannte GAL) innerhalb des eigenen staatlichen Machtapparats entfaltete.28 Mehr Möglichkeiten zur Anwendung von Roxins Theorie boten sich der spanischen Justiz in den Prozessen gegen die Rädelsführer der terroristischen Vereinigung der ETA, die verantwortlich waren für die durch Einsatzgruppen dieser Vereinigung durchgeführten Attentate. Trotzdem wurde auch in diesen Fällen kein direkter Gebrauch von Roxins Lehre gemacht, um die Verurteilung der Anführer dieser Terrorismusorganisation zu begründen, die sowohl die Opfer als auch das Ziel der Attentate ausgewählt und entsprechende Anordnungen an die ausführenden Personen gegeben hatten. Auch wenn bei der Verfassung der Urteilsgründe eindeutig der Einfluss von Roxins Theorie, die in Spanien über die vielen dort existierenden Übersetzungen und Bücher weite Verbreitung gefunden hatte, auf viele der Richter des Tribunal Supremo erkennbar ist, so stützte sich das Urteil letztendlich doch auf die Figur der Anstiftung im Fall der Anführer und im Fall derjenigen, die den ausführenden Einsatztruppen direkt zugearbeitet hatten, auf die Figur der notwendigen Teilnahme.29 Von größerem Interesse für dieses Thema ist die Rechtsprechung, die in vielen lateinamerikanischen Ländern entstanden ist. Dort wurden in jüngster Zeit Prozesse zu dieser Art von Straftaten geführt, die mittels eines Machtapparats in diktatorischen Regimes begangen wurden. Auch hier stellte sich die Frage nach der Haftung der politischen Führer und hoher militärischer Posten des Diktatursystems. Neben dem bereits erwähnten Prozess gegen die Comandantes der argentinischen Militärjunta gab es einen ähnlichen Fall in Chile, den „Fall Contreras“, in dem der Chef des Geheimdienstes der Pinochet-Diktatur, der sogennanten DINA, verurteilt wurde. Er hatte während der Diktatur das Attentat in Washington geplant und angeordnet, das General Letelier, ein bedeutender Gegner der Diktatur im Exil, das Leben
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Trotzdem besteht meiner Ansicht nach kein Nachteil darin, Roxins Lehre auch in diesen Fällen anzuwenden; siehe hierzu Muñoz Conde, Revista Penal 2002, a.a.O. 29 Vgl. STS vom 2. 7. 2004 und 22. 2. 2007. Vgl. auch die Darstellung, die Gil Gil von dieser Rechtsprechung angefertigt hat, La autoría mediata por aparatos jerarquizados de poder en la jurisprudencia española, in: Anuario de Derecho penal y Ciencias penales, S. 65 f. Auch in den Urteilen der Audiencia Nacional (65/2007) und des Tribunal Supremo (505/2008), die in Bezug auf den Terroranschlag auf den Bahnhof Atocha in Madrid mit 191 Toten und fast zweitausend Verletzten am 11. 3. 2004 ergingen, wird die Lehre Roxins nicht erwähnt, auch wenn eindeutig war, dass die Ausführenden als Mitglieder einer internationalen terroristischen Vereinigung (Al Qaeda) handelten. Dieser Fall weist alle von Roxin verlangten Charakteristika zur Begründung der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate auf. Nach meiner Auffassung besteht auch kein Nachteil darin, Roxins Lehre anzuwenden und die Anführer der terroristischen Vereinigungen als mittelbare Täter der Taten einzustufen, die durch die Truppen dieser Vereinigungen ausgeführt wurden (unabhängig davon, ob diese nun nationale wie im Fall der ETA oder internationale Vereinigungen sind wie im Fall der islamistischen Terrorgruppe Al Qaeda); hierzu siehe Muñoz Conde, Revista Penal 2002, a.a.O.
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gekostet hatte. Gleichwohl wurde im Urteil nicht einmal die Möglichkeit der Anwendung von Roxins Lehre in Betracht gezogen.30 Auch der Eröffnungsbeschluss, den der spanische Richter Baltasar Garzón gegen General Pinochet wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter und Völkermords erlassen hat, nachdem er dessen Ausweisung beantragt hatte, enthielt keinerlei Bezugnahme auf die Lehre Roxins. Diese Verbrechen waren durch den Machtapparat der Diktatur begangen worden, die mehrere Jahre lang von Pinochet in Chile aufrechterhalten wurde. Im Eröffnungsbeschluss finden sich aber Argumente, die offensichtlich von der Lehre beeinflusst wurden. Jedoch wurde diese weder ausdrücklich erwähnt, noch wurde Bezug genommen auf die Figur der mittelbaren Täterschaft.31 In Kolumbien wurde die Frage nach der Anwendung der mittelbaren Täterschaft durch die Sala de Casación Penal der Corte Suprema in einigen Fällen von durch Milizen begangenen Morden aufgeworfen, auch wenn man sich letztendlich für die Anwendung der Figur der Mittäterschaft entschied.32 30 Vgl. Entscheidung der chilenischen Corte Suprema de Justicia vom 30. 5. 1995, in der kaum Überlegungen dazu angestellt wurden, ob der Chef der DINA, General Contreras, als Anstifter oder mittelbarer Täter bezüglich der unmittelbaren Täter des Attentats anzusehen sei, das dem gegnerischen Anführer das Leben kostete. Beide Begriffe wurden gleichrangig verwendet und können auf die gleiche Weise unter die Definition der Anstiftung in Art. 15 des chilenischen Código Penal subsumiert werden. (siehe Entscheidungsgründe 17 bis 20 der genannten Entscheidung). Aber zu keinem Zeitpunkt wurde über die Verantwortlichkeit anderer politischer und militärischer Machthaber nachgedacht oder die Figur der mittelbaren Täterschaft in Bezug auf diejenigen erwähnt, die sich des Machtapparats bedient hatten. 31 Eröffnungsbeschluss der Verhandlung gegen Augusto Pinochet vom Juzgado de Instrucción Nr. 5 der Audiencia Nacional (unter Richter Baltasar Garzón), 10. 12. 1998: „Als Leiter der Regierungsjunta und Präsident der Republik hatte er die Macht, die Situation unverzüglich zu beenden. Er hat sie im Gegenteil jedoch angespornt und angetrieben, indem er seinen Untergebenen opportune Befehle gab und so über die ausschließliche Leitung der DINA sogar einige Male mit absoluter Tatherrschaft die unmittelbare Ausführung kontrollierte.“ Trotzdem wurde in diesem Eröffnungsbeschluss die Beteiligung von Pinochet an einigen Stellen als Anstiftung und an anderen Stellen als Mittäterschaft eingestuft. Die mittelbare Täterschaft dagegen wurde nicht erwähnt. Auch im Eröffnungsbeschluss bezüglich der Verhandlung gegen General Franco und die Hauptverantwortlichen des Staatsstreiches vom 18. 7. 1936 wies Richter Garzón nicht auf die Lehre von Roxin hin. Über die juristische Aufarbeitung der franquistischen Vergangenheit im Rahmen des Übergangs zur Demokratie in Spanien, siehe Muñoz Conde, in: Muñoz Conde/Vormbaum (Hrsg.), Humboldt-Kolleg. La transformación jurídica de las dictaduras en democracias y la elaboración jurídica del pasado, 2009 (in der deutschen Version, Abrechnen aber wie? Die rechtliche Transformation der europäischen Diktaturen nach 1945: Der Fall Spanien, erschienen in: Muñoz Conde/Vormbaum (Hrsg.), Transformation von Diktaturen in Demokratien und Aufarbeitung der Vergangenheit, 2010, S. 29 ff.; auch zu finden in Journal für juristische Zeitgeschichte, 2008, und in Savigny Zeitschrift für Rechtsgeschichte, 2008. Spanische Version auch zu finden in Revista Penal 2008. 32 In den Fällen Machuca (7/3/2007), Yamid Amat (8/8/2007) und Gabarra (12/9/2007) ergangene Entscheidungen; für ausführlichere Informationen über diese Fälle, siehe Muñoz Conde/Olásolo, La aplicación del concepto de autoría mediata a través de aparatos organizados de poder en América latina y España: desde el juicio a las Juntas militares argentinas hasta los casos contra Abimael Guzmán, Alberto Fujimori y los líderes políticos colombianos vinculados al paramilitarismo, a.a.O.
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In der Entscheidung vom 9. 2. 2010 des uruguayischen Tribunal Penal Nr. 7 wurde Juan Maria Bordaberry Arocena, Präsident von Uruguay von 1972 bis 1976, als Mittäter in neun Fällen von Verschwindenlassen von Personen (desaparición forzada) und zwei Fällen von Totschlag aus politischen Gründen verurteilt, ohne auch nur die mögliche Anwendung der Theorie der mittelbaren Täterschaft zu erwähnen.33
Exkurs: Spezielle Berücksichtigung der peruanischen Rechtsprechung zu dieser Materie Besonders interessant im Hinblick auf dieses Thema ist aber die Rechtsprechung der Corte Suprema in Peru. In diesem Land verurteilte die Sala Especial der Corte Suprema mit einem Urteil vom 7. 4. 2009 den ehemaligen Präsidenten von Peru, Alberto Fujimori, wegen diverser Straftaten gegen das Leben, wegen Freiheitsberaubungen usw., die während dessen Regierungszeit von Militärgruppen, Polizei und polizeiähnlichen Gruppen verübt worden waren.34 Kapitel III des dritten Teils dieses Urteils bietet auf mehr als dreißig Seiten eine komplette lehrbuchartige Darstellung der Rezeption von Roxins Theorie in der peruanischen und spanischsprachigen Lehre. Verschiedene Varianten der Theorie werden ebenso erörtert wie die Argumente für und gegen sie. Schließlich wird bestätigt, dass sie sich problemlos mit der Regelung der mittelbaren Täterschaft im peruanischen Código Penal vereinbaren lässt und deshalb auch im Fall Fujimori unter den Voraussetzungen anwendbar ist, die Roxin vorgegeben hat: das Bestehen eines Machtapparats, an dessen Spitze der Ex-Präsident Fujimori agierte; eine hierarchische Beziehung zwischen den Mitgliedern des Apparates in den verschiedenen Stufen; Austauschbarkeit der ausführenden Täter; Handeln außerhalb des Rechts bzw. – wie es im Urteil heißt – unter „Verdrängung des Rechts“ (apartamiento del Derecho), wobei hiervon sowohl das nationale als auch das internationale Recht umfasst wird; und – was Roxin mittlerweile nicht mehr ausdrücklich fordert – „eine erhöhte Tatgeneigtheit des unmittelbar Handelnden“. In diesem Urteilsgrund wird auch auf die Unterschiede zwischen der Figur der mittelbaren Täterschaft kraft Beherrschung eines Machtapparats und der Verantwortlichkeit von obersten Militärs nach dem Römischen Statut Bezug genommen. Außerdem wird auf andere Entscheidungen wie die oben besprochene der argentinischen Cámara de Apelaciones im Fall der Comandantes der Militärjunta oder die des 33 Für weitere Details zu diesem Urteil siehe Muñoz Conde/Olásolo, ebd.; ebenso Galain Palermo, in: International Criminal Law Review, 2010, S. 601 ff.; ders., ZStW, 125 (2013), im Erscheinen. Zur juristischen Vergangenheitsbewältigung in Hinblick auf die Diktaturen in Chile, Argentinien, Spanien, Deutschland und Italien, siehe auch Muñoz Conde/Vormbaum, La transformación de las dictaduras en democracias, a.a.O. 34 Entscheidung der Sala Penal Especial, Nr. AV 19 – 2001 (acumulado), v. 7. 4. 2009 in den Fällen Barrios Altos, La Cantuta und Sótanos SIE, zu finden unter http://www.pj.gob.pe/Cor teSuprema/spe/index.asp?opcion=detalle_noticia&codigo=10409.
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deutschen BGH im Fall der Gewalthaber der ehemaligen DDR verwiesen, in denen die Lehre Roxins angewendet worden war. Es wird jedoch auch eine andere Entscheidung derselben peruanischen Corte Suprema erwähnt, in der mit einer ähnlichen Begründung Abimael Guzmán, der Anführer der terroristischen Vereinigung „Sendero Luminoso“, wegen verschiedener in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts durch diese Gruppe verübter Anschläge verurteilt wurde. Die mögliche Anwendung von Roxins Lehre im Fall Fujimori war auch von der chilenischen Corte Suprema im Urteil vom 21. 9. 2007 diskutiert worden, in dem die Auslieferung Fujimoris an Peru genehmigt wurde.35 Diese Entscheidung der peruanischen Corte Suprema stellt zweifellos die eindeutigste und klarste Anwendung der Lehre Roxins in der Rechtsprechung eines lateinamerikanischen Staates dar. Zugleich verdeutlichte die Entscheidung, dass die Lehre in jedem anderen Prozess, in dem Fälle mit Bezug auf die während des Regimes von Fujimori begangenen Verbrechen verhandelt wurden, hätte angewendet werden können. Dies ist jedoch weder in der Vergangenheit noch in einem neueren Urteil (ejecutoria genannt) der Sala Permanente der peruanischen Corte Suprema vom 20. 7. 2012 geschehen. Es handelt sich hierbei um die Verurteilung der Verantwortlichen der sogenannten „operación Colina“ bzw. „operación Barrios Altos“. Milizen hatten in Ausführung von Befehlen von hohen Regierungschefs und der Militärspitze mehrere Personen getötet, die angeblich mit der Terrorgruppe „Sendero Luminoso“ in Zusammenhang gestanden hatten. In diesem Urteil wird die Lehre von der mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate ausdrücklich aufgegeben und an ihrer Stelle die Figur der Mittäterschaft angewendet. Weiterhin führt das Urteil aus, die angeklagten Taten seien nicht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bewerten, da sie nicht als Teil einer Vernichtungspolitik begangen worden seien. Auch die Einordnung als illegale Vereinigung wurde verworfen, weil dies nicht Gegenstand der Anklage des Staatsanwalts gewesen war. Um die Lehre Roxins im Hinblick auf die Einstufung der Beteiligungsform der Angeklagten beim Barrios Alto