Festschrift für Manfred Seebode zum 70. Geburtstag am 15. September 2008 9783899495539, 9783899494389

This commemorative publication honors Manfred Seebode on the occasion of his 70th birthday on September 15, 2008.

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German Pages 631 [632] Year 2008

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Vorwort
Strafrecht und Utopie
Rechtslogik der Rückwirkung nachträglich verschärfter Strafgesetze
Ungerechtigkeit, Unrecht und Unglück
Anmerkungen zum Bestimmtheitsgrundsatz
Die Bedeutung des Bestimmtheitsgrundsatzes für die Auslegung nicht strafrechtlicher Bezugsnormen
Zur strafrechtlichen Behandlung von „Folter“ in der Notwehrlage
Mord und Totschlag – Die BGH-Rechtsprechung vor einem Wandel?
Das Steuerstrafrecht als Testfall des Nemotenetur-Prinzips
Bestimmt, wer „aufstiftet“, zur Tat des schwereren Delikts?
Gewinnabschöpfung mit Säumniszuschlag Versuch über die Rechtsnatur der Verbandsgeldbuße
Über grausames Töten
Desavouierung kartellrechtlicher Monopolverbote durch Strafvorschriften?
Der Spielraum des Tatrichters bei Wertungs- und Wahrscheinlichkeitsurteilen
Fürsorgliche Erschießung
Gerichtsüberzeugung als Prozesshandlungsvoraussetzung
Der Begriff der „Tat“ im prozessualen Sinne in Europa
Rechtsbeugung und Immunität
Unberechenbares Strafrecht
Sicherheitsdenken, Strafrechtsdogmatik und Verfassungsrecht im Jugendmedienschutz
Zum Vergehen der unterlassenen Hilfeleistung
Darf Folter als Nothilfe in extremen Fällen angewandt werden?
Rechtliche Grenzen einer Patientenverfügung
Probleme des § 353d Nr. 3 StGB
Untreue durch Verursachung straf- und bußgeldrechtlicher Sanktionen gegen den Vermögensinhaber?
Begründet die Sachgefahr einen Unglücksfall im Sinne des § 323c StGB?
Niedersächsisches Justizvollzugsgesetz
Privatisierung von Strafsanktionen
Alterskriminalität und Altenstrafvollzug
Rechtliche Aspekte teilweiser Privatisierung des Jugendstrafvollzugs
Die Renaissance der Freiheitsstrafe
Tiere im Strafvollzug
Zur gerichtlichen Beiordnung eines Rechtsbeistands
Die Bedeutung der Strafbegründung für den Strafvollzug
Backmatter
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Festschrift für Manfred Seebode zum 70. Geburtstag am 15. September 2008
 9783899495539, 9783899494389

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Festschrift für Manfred Seebode zum 70. Geburtstag

Festschrift für

MANFRED SEEBODE zum 70.Geburtstag am 15.September 2008 herausgegeben von

Hendrik Schneider Diethelm Klesczewski

Michael Kahlo Heribert Schumann

De Gruyter Recht · Berlin

∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-89949-438-9 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© Copyright 2008 by De Gruyter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, D - 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen

Manfred Seebode zum 15. September 2008

NESTOR COURAKIS VOLKER ERB WALTER GROPP UWE HELLMANN ROLF HERRFAHRDT MINORU HONDA MICHAEL KAHLO ERHARD KAUSCH DIETHELM KLESCZEWSKI MATTHIAS KRAHL KRISTIAN KÜHL WILFRIED KÜPER KLAUS LAUBENTHAL KLAUS LÜDERSSEN KAMILA MATTHIES WOLFGANG MITSCH ANDREAS MOSBACHER HARRO OTTO

HANS-ULLRICH PAEFFGEN RAINER PAULUS HENNING RADTKE UWE SCHEFFLER HANS JOACHIM SCHNEIDER HENDRIK SCHNEIDER ANTJE SCHUMANN HERIBERT SCHUMANN HANS-DIETER SCHWIND GÜNTER SPENDEL DIONYSIOS SPINELLIS DETLEV STERNBERG-LIEBEN THOMAS VORMBAUM ULRICH WEBER WOLFGANG WOHLERS RAINER ZACZYK JAN ZOPFS

Inhalt

Vorwort.......................................................................................................XI

I. Grundlagen des Strafrechts NESTOR COURAKIS Strafrecht und Utopie....................................................................................3 MINORU HONDA Rechtslogik der Rückwirkung nachträglich verschärfter Strafgesetze........15 ERHARD KAUSCH Ungerechtigkeit, Unrecht und Unglück – Einige Anmerkungen zum Thema Gerechtigkeit aus Anlass studentischer Erfahrungen von Ungerechtigkeit....................................................................................37 KRISTIAN KÜHL Anmerkungen zum Bestimmtheitsgrundsatz ..............................................61 HARRO OTTO Die Bedeutung des Bestimmtheitsgrundsatzes für die Auslegung nicht strafrechtlicher Bezugsnormen ...................................................................81

II. Strafrecht und Strafverfahrensrecht VOLKER ERB Zur strafrechtlichen Behandlung von „Folter“ in der Notwehrlage ............99 WALTER GROPP Mord und Totschlag – Die BGH-Rechtsprechung vor einem Wandel?....125 UWE HELLMANN Das Steuerstrafrecht als Testfall des Nemo-tenetur-Prinzips....................143

VIII

Inhalt

MICHAEL KAHLO Bestimmt, wer „aufstiftet“, zur Tat des schwereren Delikts? – Zugleich ein Beitrag zum Unrecht der Anstiftung – ..............................159 DIETHELM KLESCZEWSKI Gewinnabschöpfung mit Säumniszuschlag – Versuch über die Rechtsnatur der Verbandsgeldbuße (§ 30 OWiG) ....................................179 WILFRIED KÜPER Über grausames Töten – Zur tatbestandlichen Koordination von »Tötung« und »Grausamkeit«...................................................................197 KLAUS LÜDERSSEN Desavouierung kartellrechtlicher Monopolverbote durch Strafvorschriften? Am Beispiel des neuen Hessischen Glücksspielgesetzes ...............................................................219 ANDREAS MOSBACHER Der Spielraum des Tatrichters bei Wertungs- und Wahrscheinlichkeitsurteilen......................................................................227 HANS-ULLRICH PAEFFGEN Fürsorgliche Erschießung – Über einige Pragmata hoheitlicher Grundrechts-Eingriffe – und das Glück, heute zu leben ...........................245 RAINER PAULUS Gerichtsüberzeugung als Prozesshandlungsvoraussetzung.......................277 HENNING RADTKE Der Begriff der „Tat“ im prozessualen Sinne in Europa...........................297 UWE SCHEFFLER / KAMILA MATTHIES Rechtsbeugung und Immunität .................................................................317 HENDRIK SCHNEIDER Unberechenbares Strafrecht – Vermeidbare Bestimmtheitsdefizite im Tatbestand der Vorteilsannahme und ihre Auswirkungen auf die Praxis des Gesundheitswesens..................................................................331

Inhalt

IX

HERIBERT SCHUMANN / ANTJE SCHUMANN Sicherheitsdenken, Strafrechtsdogmatik und Verfassungsrecht im Jugendmedienschutz – Anmerkungen zu § 184c StGB und § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, S. 2 JMStV .............................................................351 GÜNTER SPENDEL Zum Vergehen der unterlassenen Hilfeleistung........................................377 DIONYSIOS SPINELLIS Darf Folter als Nothilfe in extremen Fällen angewandt werden? .............387 DETLEV STERNBERG-LIEBEN Rechtliche Grenzen einer Patientenverfügung..........................................401 THOMAS VORMBAUM Probleme des § 353d Nr. 3 StGB (Verbotene Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen)............................................................................421 ULRICH WEBER Untreue durch Verursachung straf- und bußgeldrechtlicher Sanktionen gegen den Vermögensinhaber? ..............................................437 JAN ZOPFS Begründet die Sachgefahr einen Unglücksfall im Sinne des § 323c StGB?............................................................................................449

III. Strafvollzug und Kriminologie ROLF HERRFAHRDT Niedersächsisches Justizvollzugsgesetz – Fortschritt oder Rückschritt –.............................................................................................469 MATTHIAS KRAHL Privatisierung von Strafsanktionen ...........................................................481 KLAUS LAUBENTHAL Alterskriminalität und Altenstrafvollzug ..................................................499 WOLFGANG MITSCH Rechtliche Aspekte teilweiser Privatisierung des Jugendstrafvollzugs ....513

X

Inhalt

HANS JOACHIM SCHNEIDER Die Renaissance der Freiheitsstrafe – Strafhaft in Europa, Nordamerika und Japan ............................................................................525 HANS-DIETER SCHWIND Tiere im Strafvollzug ................................................................................551 WOLFGANG WOHLERS Zur gerichtlichen Beiordnung eines Rechtsbeistands in Strafvollstreckungs- und Strafvollzugssachen ..........................................573 RAINER ZACZYK Die Bedeutung der Strafbegründung für den Strafvollzug........................589

IV. Verzeichnis der Schriften von Manfred Seebode

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V. Autorenverzeichnis

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Vorwort

Am 15. September 2008 beendet Manfred Seebode sein 70. Lebensjahr – ein Datum, das für uns, seine Leipziger Strafrechtskollegen, nicht nur willkommener Anlaß war, in Übereinstimmung mit guter akademischer Tradition in kollegialer Verbundenheit zu seinen Ehren die nunmehr vorliegende Festschrift zu organisieren, sondern auch Grund dafür, dankbar und mit herzlichen Glückwünschen für sein weiteres Leben und Wirken den Blick auf seine Biographie und sein schon jetzt beachtliches rechtswissenschaftliches Werk zu richten. Manfred Seebode wurde am 15. September 1938 als erstes von zwei Kindern des Textilkaufmanns Fritz Seebode und dessen Ehefrau Luise Seebode, geb. Schlösser, in Berlin geboren. Die Schrecken des 2. Weltkrieges, dessen Auswirkungen er als Kind noch miterleben und erleiden musste, erzwangen, dass er ohne seine um 1 Jahr jüngere Schwester und nicht bei seinen Eltern, sondern bei seinen Großeltern mütterlicherseits in Nordrhein-Westfalen aufwuchs. Nach dem Besuch der Volksschule und des Städtischen Gymnasiums in Ratingen, wo er 1959 sein Abitur ablegte, begann er im Wintersemester 1959/60 Jura zu studieren. Nach zwei Semestern an der Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg wechselte er im Wintersemester 1960/61 an die rechtswissenschaftliche Fakultät der 1948 gegründeten Freien Universität Berlin, von wo er wegen einer damals geltenden Studienzeitbegrenzung für auswärtige Studierende aber schon ein Jahr später an die Julius-Maximiliana zurückkehrte, die fortan so etwas wie seine erste wissenschaftliche Heimat werden sollte, traf er doch hier auf seinen späteren Doktorvater und wissenschaftlichen Lehrer Günter Spendel, bei dem er Strafrecht hörte. Ganz gradlinig verlief sein Weg in dieses Rechtsgebiet indessen nicht. Nach dem Ersten Juristischen Staatsexamen, das er nach achtsemestrigem Studium als Jahrgangsbester in Würzburg ablegte, folgten vielmehr Zeiten der wissenschaftlichen Mitarbeit sowohl am Spendel-Lehrstuhl für Strafrecht und strafrechtliche Hilfswissenschaften als auch im Bürgerlichen Recht, wo er sogar ein gesellschaftsrechtliches Promotionsprojekt bei Franz Laufke, dem damaligen Inhaber des Lehrstuhls für Handels- und Gesellschaftsrecht, ins Auge faßte. Daß seine Wahl schließlich aufs Strafrecht fiel, war, wie so oft im Leben, das Resultat einer Mischung aus Zufall und eigener Entscheidung: Er nahm das ihm während

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Vorwort

seines Referendariats in München von Spendel unterbreitete Angebot an, bei diesem im Strafrecht zu promovieren. So kam es, dass Seebode 1968 nicht nur die Zweite Juristische Staatsprüfung in München ablegte, sondern noch im selben Jahr in Würzburg promoviert wurde. Die Doktorarbeit über „Das Verbrechen der Rechtsbeugung“, deren ungebrochene Aktualität ihren Niederschlag in einem Reprint 1995 fand, behandelte dabei ein Thema, das auch fortan einen Schwerpunkt seines wissenschaftlichen Interesses bilden sollte, nicht zuletzt auf Grund des Zusammenbruchs des DDR-Regimes infolge der friedlichen Revolution der DDR-Bürgerinnen und -Bürger von 1989 und der dadurch sich neu stellenden Strafrechtsprobleme im Zusammenhang mit einem Regimewandel: dem Beitritt der DDR zur „alten“ Bundesrepublik Deutschland der westlichen Bundesländer. Nach Lehrstuhlvertretungen am Fachbereich Rechtswissenschaft der Justus-Liebig-Universität in Gießen 1972 und 1974 folgte Seebode 1976 dem Ruf der Fachhochschule Münster, Fachbereich Sozialwesen, auf eine unbefristete C 3-Professur für Strafrecht, Strafprozeßrecht, Kriminologie und Kriminalpolitik. Gerade weil er zuvor durch profilierte Veröffentlichungen, namentlich auf den Gebieten des Strafprozeß- und Haftvollzugsrechts sowie zu aktuellen kriminalpolitischen Fragestellungen, hervorgetreten war, schien es, als hätte er mit seiner ihm dort gestellten neuen Aufgabe, Sozialarbeiter und Sozialpädagogen mit dem Berufsziel „Ausübung sozialer Dienste im Zusammenhang mit der Strafjustiz“ (also z. B. zukünftige Bewährungshelfer) auszubilden, seine Bestimmung gefunden, war die auch sozialstaatliche Prägung des Haftvollzuges doch eines der Postulate, dessen Ausarbeitung seine wissenschaftlichen Anstrengungen schon früh gewidmet waren. Indessen kam es anders. Da Seebode auch in seiner Münsteraner Zeit weiterhin den Kontakt zu seiner Herkunfts-Alma-Mater Würzburg und seinem akademischen Lehrer Spendel hielt, führte dies schließlich dazu, dass er 1984 mit seiner Arbeit zum Thema „Der Vollzug der Untersuchungshaft“ habilitiert wurde, die den vollzugsbezogenen Schwerpunkt in seinem Strafrechtsverständnis zum ersten Mal monographisch eindrucksvoll zum Ausdruck brachte. – Nicht zuletzt dieses besondere Verständnis, das die Bedeutung von Recht und Wirklichkeit der strafrechtlichen Sanktionen als Aufgabe einer gesamten Strafrechtswissenschaft reflektiert und sich mit deren – verglichen mit den Bemühungen um das System der Strafbarkeitsvoraussetzungen – strafrechtswissenschaftlich überwiegend eher stiefmütterlicher Behandlung nicht abfindet, ist denn gewiß auch einer der Gründe für seinen 1993, vier Jahre nach der Wende, erfolgten Ruf an die Leipziger Juristenfakultät auf einen Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozeßrecht, Kriminologie und eben Strafvollzug gewesen. Daß er diesen Ruf seinerzeit, trotz damals teilweise schwieriger Lebensumstände und selbst in einer Stadt wie

Vorwort

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Leipzig beschwerlicher Lebensverhältnisse ohne langes Zögern angenommen hat, ist, wie man heute im Rückblick mit Gewissheit sagen kann, sachlich wie persönlich ein großes Glück für die Juristenfakultät gewesen, wo er seither und über seine Emeritierung 2003 hinaus den Wiederaufbau der traditionsreichen Fakultät und hier besonders die fachliche Profilierung der Fachgruppe Strafrecht in der ihm eigenen besonnenen Art maßgeblich mitgestaltet und konstruktiv gefördert hat, aufgeschlossen für sinnvolle Erneuerungen, aber skeptisch gegen alle bloß modischen Strömungen der Wissenschaftsentwicklung und gegenüber besinnungslosen „Modernisierungen“ der Strafrechtslehre und der Hochschullandschaft um ihrer selbst willen, vielmehr den akademischen Gepflogenheiten in neuzeitlichem, freiheitlichem Geist verpflichtet. Dieser Geist prägt auch sein ebenso umfangreiches wie eindringliches, praktisch sämtliche Genres (Monographien, Aufsätze in Fachzeitschriften, Beiträge zu Festschriften, Urteilsanmerkungen, Buchbesprechungen, sogar Artikel in Lexika) umfassendes wissenschaftliches Werk, das inhaltlich schwerpunktmäßig – außer den durch die Doktorarbeit und die Habilitationsschrift bereits ins Auge gefassten Problembereichen der Rechtsbeugung und des Haftrechts – Grundlagenproblemen des Allgemeinen Teils des StGB, insbesondere dem Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG; § 1 StGB), sowie dem intrikaten, gerade in jüngster Zeit zunehmend problematischen Verhältnis von Straf- und Polizeirecht, reaktivem Strafprozeß- und präventivem Gefahrenabwehrrecht gewidmet ist. Daß als rechtsstaatlich verfasste Freiheit begriffene Liberalität sich freilich nicht darin erschöpft, den Einzelnen als Person gleichsam „in Ruhe zu lassen“, sondern im wahrsten Sinne des Wortes not-wendige Hilfen des Staates und der Rechtsgemeinschaft – etwa, wie schon erwähnt, im Haftvollzug – erfordert, hat Seebode dabei stets nachdrücklich geltend gemacht. Dieser Gedanke verbindet sich in seinem Werk mit einer weiteren Grundüberzeugung seines Denkens, der Überzeugung, dass ein konkret freiheitliches Strafrecht sich nicht allein schon im System der Strafrechtsnormen (Gesetze) erweist und zu bewähren hat, sondern nicht weniger in den Formen von dessen Umsetzung und Verwirklichung. Es ist deswegen auch nur folgerichtig, wenn er in vielen seiner Arbeiten sich nicht auf die abstrakt-normative Perspektive beschränkt, sondern auch die empirische Dimension mit einbezogen und so die Rechtsordnung nicht weniger am Prüfstein der jeweils gelebten Wirklichkeit gemessen hat und mißt. In seiner schon erwähnten Doktorarbeit „Das Verbrechen der Rechtsbeugung“ (1968) steht diese Einstellung freilich noch nicht im Vordergrund, was sich jedoch daraus erklärt, dass diese Arbeit, wie sich nicht erst in ihrem Schlusskapitel („Überblick über die wesentlichen Ergebnisse und Ausblick auf die Reform“) erschließt, im Zusammenhang mit der damals vor

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Vorwort

allem durch den E 1962 beeinflußten strafrechtlichen Diskussion um eine Reform des Tatbestands der Rechtsbeugung (damals: § 336 StGB) gestanden hat und deshalb nicht zuletzt im Hinblick auf diese Diskussion verstanden werden muß. Den Leitfaden für diese Untersuchung bildet deswegen auch die Frage, worin Unrecht und Schuld des thematischen Verbrechens als einer Straftat gegen die Rechtspflege (im Unterschied etwa zum „Amtsmissbrauch“) bestehen und wie diese in Abgrenzung zu jedenfalls als Rechtsbeugung nicht strafwürdigen Verhaltensweisen tatbestandlich präzise abzugrenzen und systematisch in den Besonderen Teil des StGB einzuordnen sind. Im Mittelpunkt der Antwort steht dabei die Judikative und mit ihr der Richter, aus dessen Unabhängigkeit und besonderer Verantwortung für die freiheitsermöglichende und -verwirklichende Objektivität des Rechts Seebode gegen die damals in Rechtsprechung und Literatur ganz vorherrschende Auffassung wohlbegründet die Forderung nach einer Einbeziehung auch des bedingt vorsätzlichen Handelns in den Straftatbestand ableitet – ein Standpunkt, der sich im Verfahren der Gesetzgebung zu dem 1974 verkündeten EGStGB durchgesetzt hat und für den heutigen § 339 StGB nahezu unbestritten ist. Die in dieser Arbeit vorgezeichneten Grundlinien – Objektivität des Rechts; möglichst strikte Konzentration des Rechtsbeugungstatbestandes auf richterliches Justizunrecht; Begründung eines Rechts des Richters, als unsittlich beurteilte Gesetze außerhalb des Geltungsbereichs des GG nicht anzuwenden; Einbeziehung auch der bedingt vorsätzlich begangenen Rechtsbeugung in den Straftatbestand – hat Seebode in der Folgezeit in einer Reihe weiterer Publikationen näher ausgearbeitet, unter denen der Aufsatz „Rechtsbruch und Rechtsbeugung“ (JR 1994, S. 1 – 6) sowie der Beitrag „DDR-Justiz vor Gericht“ (Lenckner-FS, 1998, S. 585 – 617) besonders hervorzuheben sind. Die ebenfalls bereits erwähnte Würzburger Habilitationsschrift „Der Vollzug der Untersuchungshaft“ (1984) ist zwar einem ersichtlich anderen Thema als die Doktorarbeit gewidmet, behandelt aber ebenso wie diese ein Rechtsgebiet, das damals – und wie man hier ergänzen muß: bis heute – als dringend reformbedürftig angesehen wurde und anzusehen ist. Die Untersuchung beginnt mit dem ebenso lakonischen wie verstörenden Satz: „Untersuchungshaft lernen jährlich etwa ebenso viele Menschen kennen wie Freiheitsstrafe“ – ein Befund, zu dem es, wie Seebode sogleich im Anschluß feststellt, so gar nicht passt, dass diese trotz der Unschuldsvermutung „härteste Form strafrechtlicher Freiheitsentziehung“ nie das öffentliche, gesetzgeberische und wissenschaftliche Interesse gefunden hat, das dem anders zu gestaltenden Strafvollzug zuteil wurde. Den daraus resultierenden Defiziten in Recht und Wirklichkeit des Untersuchungshaftvollzuges, die auch durch Untersuchungen zur Empirie der Untersuchungshaft verdeutlicht werden,

Vorwort

XV

begegnet die Arbeit nun zum einen durch eine gründliche Erinnerung der schon de lege lata geltenden Grundsätze des Untersuchungshaftvollzuges (etwa der Differenzierung des Vollzuges nach dem jeweiligen Haftzweck), bei deren strikter Beachtung sich die mit dem Vollzug der Untersuchungshaft verbundenen Grundrechtseingriffe und so das dem Verdächtigen abverlangte Sonderopfer – in Übereinstimmung mit den an sich liberalen Intentionen des § 119 Abs. 3 (§ 116 Abs. 2 a. F.) StPO – jedenfalls wesentlich verringern ließen; zum anderen mit dem Hinweis auf das schon wegen des Gebots rechtsstaatlicher Bestimmtheit der strafprozessualen Zwangsmaßnahme bestehende Erfordernis eines differenzierten Gesetzes über den Vollzug der Untersuchungshaft – eine Forderung, die bis heute, inzwischen auch aufgrund der Verlagerung der Gesetzgebungskompetenz für das Recht des Untersuchungshaftvollzuges auf die Bundesländer im Zuge der Föderalismusreform, nichts an Aktualität eingebüßt hat. – Daß er mit dem Vollzug der Untersuchungshaft eines der ihn zentral bewegenden rechtswissenschaftlichen Themen – wenn nicht „sein Thema“ überhaupt – gefunden hatte, das ihn in den seit seiner Habilitation vergangenen fast 25 Jahren nie losgelassen hat, dokumentiert das am Ende dieser Festschrift abgedruckte Verzeichnis der Schriften Manfred Seebodes, das für den Zeitraum von 1987 bis 2008 eine reiche Vortrags- und Publikationstätigkeit zu Recht und Praxis der Untersuchungshaft ausweist. Seine Behandlung dieses Themas erschließt sich richtig freilich erst im Zusammenhang mit seinen Arbeiten zum Strafvollzug, zu dessen Grundlagen Seebode 1997 ein sich gleichermaßen an Studierende wie an Vollzugspraktiker richtendes Lehrbuch mit dem Titel „Strafvollzug – Recht und Praxis I“ vorgelegt hat, in das sowohl die Erträge seiner beharrlichen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit haftrechtlichen Problemen als auch seine vielfältigen Erfahrungen mit den Vollzugsrealitäten eingeflossen sind, die er zunächst als mehrjähriger ehrenamtlicher Betreuungsgruppenleiter an der Jugendstrafanstalt Ebrach (1964 – 1967) während der Assistentenzeit in Würzburg und später durch seinen intensiven Gedankenaustausch mit Leitern und Mitarbeitern zahlreicher Justizvollzugsanstalten sowie seine Kontakte auch zu Straf- oder Untersuchungshäftlingen gesammelt hat. Die mit diesem Buch vorgestellten Grundlagen strafrechtlicher Freiheitsentziehung (einschließlich deren besonderer Formen wie Jugendstrafvollzug und Untersuchungshaft, vgl. S. 12 ff.) bieten daher vorzügliche Orientierungshilfen im Recht des Haftvollzuges, insbesondere durch die Begründung und konkretisierende Entfaltung der rechts- und sozialstaatlichen Gestaltungsmaximen des Strafvollzuges (S. 131 ff.). – Neben diesem Lehrbuch ist eine Reihe wichtiger Aufsätze und Urteilsanmerkungen zu dem Gebiet des Haftvollzuges zu verzeichnen, darunter der schon früh, nämlich in der MDR 1971, S. 98 – 104 veröffentlichte Beitrag zum „Schriftverkehr zwi-

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Vorwort

schen Gefangenem und Anwalt“ (ein Thema, das ihn schon deshalb interessierte, weil er gelegentlich sich als Verteidiger betätigt hat), der Aufsatz „Zur Bedeutung der Gesetzgebung für die Haftpraxis“ (StV 1989, S. 118 – 122) sowie der auf der Jahrestagung der Bundesvereinigung der Anstaltsleiter im Strafvollzug 2006 gehaltene Vortrag „Wer Strafe androht, muß auch sagen, wie sie aussieht“, in dem Seebode die infolge der Föderalismusreform zu befürchtende materielle Zersplitterung des Strafvollzugsrechts wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) als verfassungswidrig kritisiert und sich dezidiert für eine bundeseinheitliche gesetzliche Regelung des Justizvollzuges ausgesprochen hat. Ähnlich nachdrücklich und beharrlich, wie er – aufgrund der damit verbundenen gravierenden Grundrechtseingriffe – bezüglich aller Formen staatlich veranlasster Freiheitsentziehung, namentlich zur Untersuchungshaft sowie zum Jugendstrafvollzug, immer wieder die von Verfassungs wegen gebotene Beachtung des Gesetzesvorbehalts angemahnt hat (und darin jedenfalls hinsichtlich des Jugendstrafvollzuges inzwischen auch durch die Entscheidung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Mai 2006, BVerfGE 116, 69 bestätigt worden ist), hat er für das Gebiet des materiellen Strafrechts auf der Einhaltung des Gesetzlichkeitsprinzips (Art. 103 Abs. 2 GG; § 1 StGB) als dem neben dem Schuldgrundsatz wichtigsten Strafrechtsprinzip bestanden. Da er dieses Prinzip zutreffend nicht auf einen bloßen Politikvorbehalt reduziert, sondern als Freiheitsvorbehalt begreift, plädiert er (gerade) auch dort für dessen konsequente Anwendung, wo dies eine Rücknahme des Strafrechts zur Folge hätte, etwa im Zuge seiner Ablehnung der Ingerenzgarantenpflicht im Rahmen seines Beitrages „Zur gesetzlichen Bestimmtheit des unechte Unterlassungsdelikts“ (Spendel-FS, 1992, S. 317 – 346) oder seiner Kritik an der aktuellen Fassung und vorherrschenden Auslegung des Tatbestands der Unterlassenen Hilfeleistung, § 323 c StGB (Kohlmann-FS, 2003, S. 279 – 294). Einen weiteren Schwerpunkt seiner strafrechtswissenschaftlichen Arbeit bildet schließlich die oben schon einmal vermerkte intensive Befassung mit aktuellen Problemen im Verhältnis von (materiellem wie formellem) Strafund Polizeirecht – ein Befund, der kaum verwundern kann, tritt doch das sog. staatliche Gewaltmonopol als Ausdruck der elementaren Staatsaufgabe, Freiheit der Einzelnen als rechtsförmige Sicherheit zu garantieren, nicht zuletzt in Gestalt der polizeilichen Gefahrenabwehr in Erscheinung, so dass der Zustand des Polizeirechts in einem Staat insofern als eine Art von Seismograph für die Verfassung bürgerlicher Freiheit betrachtet werden kann, als jede Erweiterung der Eingriffs- und Kontrollbefugnisse der Polizei eine unter Freiheitsaspekten problematische Veränderung für den staatsbürgerlichen Grundrechtsstatus bedeutet. Gerade um die Erhaltung und Stabilisie-

Vorwort

XVII

rung dieses Status’ ist es Manfred Seebode aber in seinem Werk und strafrechtswissenschaftlichen Denken zu tun. – So veranlaßten ihn schon früh die in dem Aufsatz „Strafverfolgung nach Polizeirecht?“ (MDR 1976, S. 537 – 540) vorgetragenen kritischen Überlegungen zum damals vorliegenden Musterentwurf einheitlicher Polizeigesetze zu einer Mitwirkung am „Alternativentwurf einheitlicher Polizeigesetze des Bundes und der Länder“ (zusammen mit Erhard Denninger, Ulrich Klug, Hans-Peter Schneider, u. a.). Darüber hinaus hat er die wissenschaftliche Diskussion um die „polizeiliche Notwehr“ durch mehrere Beiträge bereichert, in denen er insbesondere der Frage nachgegangen ist, ob polizeiliches Handeln zur akuten Gefahrenabwehr nach dem Gedanken der „Einheit der Rechtsordnung“ (so in der Klug-FS, 1983, S. 359 – 373) und trotz seines rechtlichen Charakters als hoheitlicher Gewalteingriff auf die originär als privater Notrechtsvorbehalt konzipierte strafgesetzliche Erlaubnisnorm des § 32 StGB gestützt werden darf („Gesetzliche Notwehr und staatliches Gewaltmonopol“, in: KrauseFS, 1990, S. 375 – 391). Daß diese rechtsprinzipielle Frage sich mit besonderem Gewicht für den zur Rettung von akut bedrohten Personen erfolgenden „finalen Todesschuß“ der Polizei stellt, dürfte Seebode dazu bewogen haben, in seine die diesbezüglichen schwierigen Rechtsprobleme skrupulös bedenkenden Überlegungen schließlich auch die Bedeutung der einschlägigen polizeigesetzlichen Regelungen einzubeziehen (StV 1991, S. 80 – 85). So war einer wie er geradezu dafür prädestiniert, auch der aus aktuellem Anlaß (nämlich dem Verhalten eines ehemaligen Polizei-Vizepräsidenten gegenüber einem in polizeilichem Gewahrsam sich befindenden, einer akut lebensgefährlich erscheinenden Kindesentführung verdächtigen Jurastudenten) geführten, die deutsche Öffentlichkeit nicht weniger als die Rechtswissenschaft und -praxis bewegenden Auseinandersetzung um die rechtliche Zulässigkeit der sog. Rettungsfolter nicht auszuweichen, sondern vielmehr differenziert, mit Blick sowohl auf die besondere Bedeutung des Folterverbotes als auch auf die fatale Lage des (potentiellen) Opfers, seinen – wie könnte es bei diesem Thema anders sein: streitbaren – Standpunkt zu formulieren, und zwar zunächst durch „Strafrechtliche Bemerkungen zum Folterverbot“ im Rahmen eines vom Leipziger „Institut für Grundlagen des Rechts“ veranstalteten rechtswissenschaftlichen Podiums zum Thema „Staatliche Folter – Heiligt der Zweck die Mittel?“ sowie sodann, im selben Jahr, in Form eines Beitrages zum Verhältnis von „Folterverbot und Beweisverbot“ (Otto-FS, 2007, S. 999 – 1012). Nicht ausgewichen ist Manfred Seebode auch den mehrfach seitens der Politik an ihn gerichteten Ersuchen, sich im Zusammenhang mit straf- und polizeirechtlichen Gesetzgebungsverfahren als Rechtsgutachter zur Verfügung zu stellen. Vielleicht ist es die gerade angesichts seines „Kampfes“ für das Gesetzlichkeitsprinzip nahe liegende Hochachtung der Gesetzesform

XVIII

Vorwort

und seine daraus resultierende Kritik an in neuerer Zeit oftmals, wohl auch zunehmend unüberlegt und unsorgfältig verfassten Gesetzen gewesen, die seine Bereitschaft gefördert hat, trotz der damit verbundenen Zusatzlast und Verantwortung seine besondere juristische Urteilskraft, seinen Sinn für eine präzise rechtliche Begrifflichkeit und deren Bedeutung für die Rechtsordnung als System sowie seine außergewöhnliche juristische Bildung, keineswegs nur auf den vorstehend in den Blick genommenen Feldern seiner Publikationstätigkeit, wiederholt in den Dienst des Gemeinwesens zu stellen und so einen Beitrag zur Kultur der (Straf-)Gesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland zu leisten. Und dies trotz mancher, durch wachsende Irrationalität in der Organisation von Sachverständigenanhörungen im Rahmen parlamentarischer Gesetzgebungsverfahren bedingter Enttäuschungen. Derartigen unsachlichen Tendenzen setzte er stets seine wissenschaftlich fundierte Unabhängigkeit und wohlbegründete Vorstellungen vom freiheitlichen, durch die Maxime „in dubio pro libertate“ geprägten Geist guter Gesetze entgegen, wie man beispielhaft etwa an seiner kritischen rechtsgutachtlichen Stellungnahme zur 1998 vorgesehenen (und auch schon bald darauf realisierten) Einführung anlaß- und verdachtsunabhängiger Kontrollen von Personen und Durchsuchungen von Sachen durch den Bundesgrenzschutz ablesen kann. Seine universitären Lehre durfte unter seiner rechtsgutachterlichen Tätigkeit nicht nur nicht leiden, sondern sie hat diese bereichert, schon allein wegen der den Studierenden durch sie eröffneten Einblicke in die Praxis von Gesetzgebungsverfahren, einer juristischen Materie, die im Jurastudium üblicherweise kaum Beachtung findet. Seine Hörsäle waren dementsprechend gut besucht; für seine Seminare, die häufig mit dem Besuch einer Justizvollzugsanstalt verbunden waren und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern durch die regelmäßige Einbeziehung auch der kriminologischen Hintergründe der behandelten Seminarthemen zusätzliche, die rein juristische Perspektive fruchtbar ergänzende Dimensionen eröffnet haben, gab es durchweg mehr Interessenten als Plätze, so dass diese oftmals „überzulaufen“ drohten, wie einem ausführlichen Artikel des „Kleinen Advokaten“ (Februar-/März-Heft 1996), der Zeitschrift der Fachschaft Jura Leipzig, über den heutigen Jubilar zu entnehmen ist. Es ist dabei neben der Manfred Seebode anzumerkenden Freude an der Beschäftigung mit Rechtsfragen wohl auch die Verbindung von fachlichem Anspruch und persönlicher Freundlichkeit gewesen, die seine Lehrveranstaltungen für die Studierenden so attraktiv gemacht hat. Diese Eigenschaften prägten und prägen, teilweise über viele Jahre der Weggefährtenschaft hinweg, auch seinen kollegialen Umgang als stets aufgeschlossener wissenschaftlicher und, wo nötig, persönlicher Gesprächspartner, wofür ihm unser aufrichtiger Dank an dieser Stelle ausgesprochen

Vorwort

XIX

sei, verbunden mit unseren herzlichsten Glückwünschen zu seinem Ehrentag und für die Zukunft: Ad multos annos!

Leipzig, im September 2008

Die Herausgeber

I. Grundlagen des Strafrechts

Strafrecht und Utopie1 2 NESTOR COURAKIS

1. Es mag sein, dass der Titel des Themas einige Fragen aufwirft. In der Tat scheint auf den ersten Blick, dass das Strafrecht keine Rolle im Bereich der Utopie beanspruchen kann. Die absolute Utopie ist per Definition ein nicht existierendes Gebilde des Geistes, ein ideeller, perfekter Zustand menschlicher Koexistenz. Aber wenn die Menschen, die die Gesellschaft der Utopie bilden, auf perfekte Weise zusammenleben, dann werden sie natürlich weder ein unsoziales Verhalten aufweisen, noch Strafen unterworfen werden, noch werden sie das Strafrecht benötigen. Zu diesem selbstverständlichen Ergebnis gelangt man, denke ich, durch eine kritische Lektüre des wichtigsten utopischen Werkes, nämlich der platonischen „Politeia“ (Staat). Auf der einen Seite räumt Platon ein, dass seine Politeia ein Staat mit vollkommen gerechten Menschen ist, ein ideelles Vorbild, dessen Existenz nicht bewiesen werden kann (V, 471 e ff.). Auf der anderen Seite behauptet er, dass es in diesem Staat zunächst lediglich nötig sei, grundlegende Gesetze religiöser Art zu erlassen, und dass der „echte“ Gesetzgeber sich nicht mit der Überlebensweise der Bürger und ihren Beziehungen miteinander zu beschäftigen brauche, da eine gute Erziehung und Bildung geeignet sei, den Bürgern diejenigen nötigen Institutionen nahezubringen, von denen leicht das alltägliche angemessene Verhalten hergeleitet werden könne (IV, 425 a ff.). Insbesondere durch die Auferlegung der wesentlichen Institution der Gütergemeinschaft im familiären und wirtschaftlichen Leben der Soldaten, glaubt Platon, dass die zentrifugalen Kräfte, die die Eintracht der Stadt sprengen und die in Form von Auseinandersetzungen oder Verbrechen auftreten, verschwinden würden. Andererseits legt Platon dar, dass in Regimen, die Entartungen dieses ideellen Staates darstellen, wie die Tyrannei, die Menschen leicht die Gesetze brächen und nicht nur zu Kriminellen wür-

1

Für die Übersetzung bedanke ich mich herzlich bei Frau Katerina Vagia, Juristin. Erste Ausgabe: „Niederschift“ des 6. Internationalen Humanitären Symposiums der Griechischen Humanitären Gesellschaft (1984), Thema: Utopie, Athen, 1986, S. 151-160. 2

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Nestor Courakis

den, sondern zudem dazu beitrügen, dass als Führer dieses abweichenden Staates der schlimmste unter ihnen ernannt werde (IX, 575 b ff.). 2. Aber Platon begnügt sich nicht mit diesen abstrakten Aussagen. Schon im „Staat“ weist er darauf hin, dass sein politisches Ideal, obgleich sich dieses wegen seiner Perfektion als unrealisierbar erweise, dennoch ein Vorbild sei, auf das die Menschen stets abzielen müssten, so dass die Staaten „nahe dem Gesetzten“ verwaltet würden (IV, 473 a). Es ist jedoch deutlich, dass die Annäherung an dieses Ideal nicht ohne jegliches evolutionäres Programm geschehen kann, das an die jeweiligen Mängel und Schwächen der menschlichen Gesellschaften angepasst ist. Deshalb schlägt Platon gegen Ende seines Lebens eine zweite Form der Utopie vor, diesmal nach den Gegebenheiten seiner Zeit gerichtet. Es handelt sich um eine „relative Utopie“3, die in der platonischen Schrift „Nomoi“ beschrieben wird. Die Gütergemeinschaft zum Beispiel wird hier als nicht realisierbar erklärt. An ihrer Stelle empfiehlt Platon das gleichmäßige Aufteilen des Landes als das nach der Gütergemeinschaft zweite in der Wertereihe erwünschte Ziel eines Staates (IV, 739 e). Es werden zudem auch viele Einzelheiten bestimmt, in Bezug auf die Einteilungen der Bürgerschaft, ihre Tätigkeiten, den Geldverkehr (der beschränkt sein soll), die Größe und Organisation des entstehenden Staates, und besonders die Notwendigkeit der Regierung durch Philosophenkönige. Das Gesetz, als Ausdruck der Herrschaft der Vernunft im Staat, wird schon aufgefordert, die Aufgabe der Erziehung, die in der Bildung des Ethos besteht, zu ergänzen (I, 643 d ff.; XII, 957 c ff.). Es wird nicht mehr angenommen, dass das Gesetz unbeschwerlich nur aus Schamgefühlen oder aus Einsicht von den Bürgern angewendet werden kann, wie dies in Athen zur Zeit der Medischen Kriege geschah (III, 698 b). Im Gegenteil wird die Unvollkommenheit besser verstanden, die die menschliche Natur in zwei Richtungen aufweist, und zwar einerseits bezüglich des Wissens dessen, was für die Menschen in ihren sozialen Beziehungen vorteilhaft ist, und andererseits bezüglich der Tatsache, dass die menschliche Natur stets fähig und bereit ist, dieses Wissen auf die bestmögliche Weise anzuwenden (IX, 875 a). Platon entwirft also im Werk „Nomoi“ ein vollständiges und für seine Zeit fortschrittliches System strafrechtlicher Vorschriften. Obwohl sich diese in die organisatorische Planung eines utopischen Staates einfügen (IX, 854 a ff.), beschäftigen sie sich trotzdem mit den Menschen und ihren Schwächen. Denn, wie er auch selbst charakteristischerweise sagt, seien wir „Menschen“ und „entwerfen für Menschenkinder 3 Vgl. K. Mannheim, Ideologie und Utopie, Bonn, 1930, S. 182 ff. Diese jüngere, realistischere Ansicht Platons über die Umbildung der sozialen Strukturen scheint nicht die angemessenen Erachtung unter denen, die Platon wegen „Utopismus“ und „Radikalismus“ durch strukturelle Änderungen der Gesellschaft in großem Maße, angeklagt haben, zu genießen.

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Gesetze“ (IX, 853 c). Aber genau dieser humanistische Blickwinkel, von dem er das Thema angeht, bestimmt auch den Hauptzweck der Strafsanktionen für die Verbrecher. Die Strafe stelle, laut Platon, nicht nur die natürliche Ordnung und das Gesetz wieder her, sondern bezwecke zudem, für den Untäter selbst und für die Gesellschaft, in der er lebe, nützlich zu werden, also ein Mittel der beispielhaften Abschreckung und der Verbesserung zu werden, ein Mittel zur Entwurzelung und zur Heilung der Krankheit der Seele namens Ungerechtigkeit, ein Medikament, damit die Person wieder an der Tugend des Menschen „teilnehmen“ könne (IX, 862 c ff.; vlg. Gorgias 81, 525 b und Protagoras 14, 325 b). Als geeignete Strafen für diesen Zweck hält er die Geldstrafe, den Freiheitsentzug, die Beschimpfung und – in unheilbaren Fällen – die Todesstrafe (IX, 855 b ff.). 3. Die zwei utopischen Werke Platons, „Politeia“ und „Nomoi“, wurden, wie bekannt, zu Zeiten sozialen und intellektuellen Niederganges geschrieben, als ein Versuch der Reaktion gegen die zwei hauptsächlichen sozialen Übel seiner Zeit, nämlich den Mangel an Geistigkeit und den Mangel sozialer Bindung. Platon selbst hatte übrigens versucht, auf eine friedliche Weise, durch Überzeugung, seine Ideen in Sizilien umzusetzen.4 Und obwohl er bei diesem Versuch keinen Erfolg hatte, haben seine utopischen Werke – vielleicht in einem geringeren Maße seine Ausführungen über die Verbrechensrepression – wesentlich seine Nachfolger beeinflusst, besonders zu Zeiten sozialer Konflikte, nationaler Notlage oder sittlicher und intellektueller Unordnung. So entwirft Georgios Gemistos Plethon um 1418, in seiner „Denkschrift an den Kaiser Manuel über die Angelegenheiten des Peloponnes“ (Migne, PG 160, 822-839) und den „Ratschlägen an den Despoten Theodor in Betreff des Peloponnes“ (PG 10, 841-866) ein vollständiges Programm zum Neuaufbau des Peloponnes’ nach dem platonischen Vorbild, damit die Rettung der Halbinsel von der ottomanischen Bedrohung gelänge.5 In diesem relativ utopischen Werk werden platonische Ideen, wie die Beschränkung des Geldverkehrs und eine lockere Form der Gütergemeinschaft, übernommen.6 Beeindruckend ist auch die Tatsache, dass eine Humanisierung und eine Rationalisierung im Bereich der Verbrechensrepression vorgeschlagen wird. Nämlich wird ausgeführt, dass viele, die 4 Vgl. die Einführung Desmond Lees in der englischen Fassung der „Politeia“, Penguin Verlag, 1974, S. 30. 5 Georgios Gemistos Plethon, Denkschriften über die Angelegenheiten des Peloponness (De rebus Peloponnesiacis), nach W. Canter's Edition (Antverp. 1575) und der florentinischen Handschrift herausgegeben und übersetzt, Leipzig, 1860. 6 Vgl. Theod. Nikolaou, Ai peri politeias kai dikaiou ideai tou G. Plethonos Gemistou (griech.), Thessaloniki: Kentro Byzantinon Ereunon (Zentrum Byzantinischer Forschung), 1974. Für eine umfassendere Bibliographie über das Werk Plethons s.: Sp. N. Troianos, Piges tou Byzantinou Dikaiou, Athen-Komotini: A. N. Sakkoulas, 1999, S. 293, Fn. 34.

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schlimme Verbrechen begehen, entweder der im damaligen Byzanz gewöhnlichen Strafe der Verstümmelung unterworfen, oder dass sie hingegen kaum bestraft werden. Diese Strafen werden jedoch als barbarisch bzw. ungeeignet abgelehnt. An ihrer Stelle wird die wegbereitende Lösung der Zwangsarbeit vorgeschlagen, nämlich „daß die Sträflinge in ihren Bauten arbeiten, zumal an öffentlichen Bauten, sei es, daß die Befestigungen der Ausbesserung bedürfen, oder sonst wo dergleichen Arbeiten noch thun“ (Denkschrift an den Kaiser Manuel, XX, PG 160, 835). 4. Ähnliche Ideen über Gütergemeinschaft und Genügsamkeit nach dem platonischen Vorbild bringen auch zwei berühmte Denker der Renaissance, Thomas Morus und Tomasso Campanella,7 hervor. Auf eine mittelbare und leicht ironische Weise seine Missbilligung gegenüber dem Parasitismus, dem Autoritarismus und der Gier, die die Kleriker und den Adel seiner Zeit charakterisieren, äußernd, präsentierte der englische Politiker und Philosoph Morus 1517 sein Buch „Utopie“ (Utopia). Der Staat Utopie befinde sich irgendwo in der neuen Welt und wird als der am besten organisierte Staat dargestellt.8 Alles unterliege der staatlichen Kontrolle und die Faulheit werde keinesfalls verziehen.9 Die Edelmetalle stießen auf Verachtung und werden zur Verspottung der schlimmsten Verbrecher benutzt.10 Die Verbrecher seien also auch hier unvermeidlich. Mit dem Unterschied, dass, weil die Utopier jede Möglichkeit zur Bildung und zur vorbildlichen Erziehung hätten,11 dem Abgleiten ins Verbrechen bei ihnen noch strenger entgegnet werden müsse. Die übliche Strafe für jedes schweres Verbrechen sei die Sklaverei in Form der Zwangsarbeit. Dagegen sei die Todesstrafe keine gewöhnliche Strafe. Denn es wird festgehalten, dass die lebenden Arbeiter von größerem Nutzen seien als die Toten und eine längerfristige nützliche Auswirkung hätten. Die Anzahl der Gesetze der Utopier sei gering, und sie könnten nicht vielfältig interpretiert werden.12 Im Allgemeinen behauptet Morus, dass der Hauptfaktor der meisten Verbrechen das Geld und die soziale Ungleichheit sei. Deshalb verlangt er in seinem utopischen Staat die gleiche und verhältnismäßige Verteilung der Güter. „Wenn ihr diesen Übeln nicht steuert“, sagt er rhetorisch zu den zeitgenössischen Führern, „prahlt ihr vergeblich mit eurer Gerechtigkeit bei der Ahndung der Diebstähle; sie 7 Über die utopischen Werke dieser Schriftsteller, insbesondere zum Thema der Staatsorganisation, s. Auch R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, München: C. F. Beck, 2003 (1971), S. 76-83. 8 T. Morus, Utopie, Übersetz. Kl. Heinisch, Rowohlt Verlag, 1960, S. 15, 48, 106. 9 T. Morus, w.o., S. 55. 10 T. Morus, w.o., S. 65-66. 11 T. Morus, w.o., S. 68-69. 12 T. Morus, w.o., S. 85.

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ist nämlich mehr in die Augen fallend als gerecht oder nützlich. Wenn ihr nämlich zulasst, dass die Menschen grundschlecht erzogen und ihre Sitten von Kind auf allmählich verdorben werden, dass sie erst dann bestraft werden sollen, wenn sie als Männer die Schandtaten begehen, auf die sie von ihrer Kindheit an ständig hoffen ließen, was anders, so frage ich, als Diebe züchtet ihr, um sie dann zu hängen?“13 Seine klare Ablehnung gegenüber der damals weit verbreiteten Todesstrafe betonend, vertritt er an einer anderen Stelle des Werkes, die Ansicht, dass es so einen großen Rückgriff auf diese Strafe nur in autoritären Regimen geben könne und dass dieser jedenfalls ein Beweis der Regierungsunfähigkeit sei.14 5. Der Italiener Campanella, seinerseits, der dem Orden der Domenikanischen Mönche angehörte, hat sich wegen seines Kampfes gegen die spanischen Eroberer seines Landes ausgezeichnet und wurde jahrelang gefangen genommen. Sein Werk „Sonnenstaat“ (Civitas Solis), das 1623 veröffentlicht wurde, stellt vielleicht eine konkrete Planung zum Aufbau Neapels als freier Staat nach der eventuellen Vertreibung der Eroberer dar. In dieser relativen Utopie werden die platonischen Grundsätze der Gütergemeinschaft und der Regierung von Philosophenkönigen mit einem eigenartigen System der erstchristlichen Jahre („Liebesmahl“) und mit der Entwicklungslinie der damals wiederauflebenden Naturwissenschaften kombiniert. Das hohe intellektuelle und ethische Niveau dieses Staates begünstige nicht das Begehen von Straftaten. Deshalb handelten die Anklagen unter den Bürgern üblicherweise von sittlichem Fehlverhalten, wie Undankbarkeit, Faulheit, Jähzorn, Zynismus usw.15 Die Strafen für diese Fehlverhalten seien hauptsächlich der Ausschluss von Ehren und Gaben (z. B. die Teilnahme an gemeinschaftlichen Mahlzeiten).16 Aber an anderen Stellen seines Werkes nennt Campanella auch andere, viel schärfere Strafen für entsprechend schlimmere Verbrechen. Diejenigen, die wegen Sodomie auf frischer Tat ertappt werden (Analgeschlechtsverkehr oder Zooerastie), erhielten eine Rüge und würden zwei Tage lang verhöhnt. Bei anderen Straftaten, wie bei einem vorsätzlichen Tötungsdelikt, Verwundung oder Verleumdung, gelte das Prinzip der Wiedervergeltung, wie dieses übrigens auch in den Rechtsordnungen der Zeit Campanellas angewandt wurde (z. B. Karolinische Gesetzgebung von 1532). Außerdem unterscheiden sich die Strafen, die für die Verbrecher vorgesehen waren, nicht von denen der damaligen Zeit – hauptsächlich das Exil, die Auspeitschung und die Tötung vom Volke durch 13

T. Morus, w.o., S. 28. T. Morus, w.o., S. 30. 15 S. T. Campanella, Der Sonnenstaat, Auswahl von P. Oestreich, Leipzig: Felix Meiner, 1919, Reihe: Dokumente der Menschlichkeit, Band 6, S. 10. 16 T. Campanella, w.o., S. 10. 14

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Steinigung. Interessant ist aber auch zu bemerken, dass die Solarier, laut Campanella, nicht mit der Vollziehung des Todesurteils fortfuhren, ehe sie den Täter davon überzeugt hätten, es sei nötig, dass er sterbe (außer wenn es sich um die Verbrechen des Verrates oder der Gottlästerung handele) und dass sie nach der Hinrichtung in Wehklagen ausbrächen und beteten, da sie es als Zeichen göttlichen Zorns ansähen, wenn sie, wie er selbst sagte, „in die Zwangslage versetzt werden, ein brandiges Glied vom Körper des Gemeinwesens abtrennen zu müssen“.17 Auch hier sind die Gesetze wenige an Zahl, und alle auf ehernen Tafeln verzeichnet, die an der Tür des Haupttempels angebracht sind.18 6. Die Liste der utopischen Werke, die sich auf das Strafrecht beziehen, könnte auch mit anderen Werken platonischer Einwirkung bereichert werden. So könnte man den Auszug aus dem Werk „Die seltsamen Begebenheiten des Telemach“ (1699) von Fénelon erwähnen, wo es um den Aufbau eines Staates in Salente geht (12. Buch), und das Werk von Étienne Cabet „Reise nach Ikarien“ (1840 und Neuauflage von A.M. Kelley (Clifton U.S.A.), 1973), in dem eine ideelle Form von Sozialismus, ohne soziale und finanzielle Unterschiede und ohne eine bemerkenswerte Kriminalität, lyrisch gepriesen wird (14. Kapitel). Wichtiger erscheinen mir jedoch zwei andere Werke, die das Thema der Utopie unter einem ganz anderen Blickwinkel behandeln, nämlich dem der sozialen Satire. Es handelt sich um die in ihrer Art klassischen Werke „Gullivers Reisen“, von Jonathan Swift (1726), und „Erewhon“ (also fast das Gegenteil des Wortes Nowhere, 1901), von Samuel Butler. Bei beiden Werken werden angeblich die Völker unbekannter, unerreichbarer Länder dargestellt, deren Sitten und Gesetze den Anlass zu beißender Kritik an den Gesellschaften ihrer Autoren bieten. Swift führt so insbesondere aus, dass in Lilliput die Gesetze nicht nur der Bestrafung der Bürger dienen, sondern auch der Belohnung der Ehrhaftigkeit und der Aufrichtigkeit durch die Gewährung verschiedener Vorteile. Die Undankbarkeit gilt sogar als Kapitalverbrechen, mit dem Gedanken, dass derjenige, der seinem Wohltäter schadet, vielmehr denen schaden wird, von denen er keine Wohltaten erlangt hat.19 Butler seinerseits führt den Sarkasmus an extreme Grenzen, indem er die Einwohner Erewhons so erscheinen lässt, als hielten sie sogar für Verbrecher diejenigen, die eine Krankheit haben oder durch ein Unglück getroffen worden sind. Diese Personen griffen, dieser Meinung nach, die Gesellschaft gleichermaßen wie die

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T. Campanella, w.o., S. 35 ff. T. Campanella, w.o., S. 38. 19 J. Swift, Gullivers Reisen, Teil 1, Kap. 6. 18

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gewöhnlichen Verbrecher an, insofern die Leute ungern über sie hörten.20 Sogar wenn ein Verbrecher behaupte, sein Verbrechen liege an seiner schlechten Erziehung, würden ihm die Richter antworten, dass es jedenfalls ihre Pflicht sei, den Staat zu schützen.21 Sollte man glauben, dass der Autor hier auf den italienischen Positivismus anspielt, der genau zu der Zeit geltend machte, dass die Verbrechensrepression unabhängig von der Verantwortlichkeit des Täters sei? 7. Es gibt auch zwei andere utopische Werke, die näher an der heutigen Zeit liegen oder sogar über diese hinausgehen, indem sie sich auf die Zukunft erstrecken. Hier sind die Utopien aber negativ, also betreffen nicht nur ideelle oder bezweckte Gesellschaftsformen, sondern, im Gegenteil, abstoßende Formen, die mit Unfreiheit und Totalitarismus verbunden sind. Ich beziehe mich natürlich auf die Werke „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley (1932) und „1984“ von George Orwell (1949). In ersterem wird das Vorbild einer Gesellschaft dargestellt, die stabile, gesunde, gehorsame, mit ihrem Schicksal zufriedene Menschen, ohne Leid oder Vergreisung haben will, Menschen, die in Röhren befruchtet werden, die durch Hypnopädie lernen, die sich nur so verhalten, wie es ihnen beigebracht wurde, die mit „Pillen geistiger Euphorie“ von der harten Wirklichkeit entfernt werden, ohne dass sie in der Philosophie oder den Gedanken Zuflucht ergreifen müssen.22 Folglich wird eine intensive Zensur auf die Bücher ausgeübt, und vor allem ist alles verboten, was dazu führt „den Sinn des Daseins nicht in der Erhaltung des Wohlbefindens zu sehen, sondern in der Vertiefung und Verfeinerung der Erkenntnis, der Vermehrung des Wissens“.23 Die Autoren solcher Bücher werden durch Exil auf einer Insel bestraft.24 Dieselbe Strafe wird allen denen auferlegt, „denen aus irgendeinem Grund das Bewuȕtsein ihrer Individualität so sehr zu Kopf gestiegen ist, daȕ sie sich nicht mehr ins Gemeinschaftsleben eingliedern lieȕen. Lauter mit der orthodoxen Lebensordnung Unzufriedene[n], die unabhängige, eigene Ideen haben“.25 Wesentlich härter sind dagegen die Strafen für diese Art der Zweifler im zweiten Werk, Orwell’s „1984“. Hier wird das Denken nicht auf eine biologisch vorprogrammierte Weise gezähmt, sondern durch konstante Propaganda, Überwachung und Schulung der Bürger. Der Begriff „Verbrechens20 S. Butler, Erewhon, Everyman’s Library, Nr. 881, London/New York, 1932, 10. Kap., S. 61. 21 S. Butler, w.o., S. 74. 22 A. Huxley, Schöne Neue Welt, Übersetz. H. E. Herlitschka, Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, 2000 (58. Aufl.), S. 55, 66, 217-218. 23 A. Huxley, w.o., S. 178-179. 24 A. Huxley, w.o., S. 178. 25 A. Huxley, w.o., S. 224.

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stop“26 (crimestop) bedeutet genau die Fähigkeit, die jemand erlangt, automatisch, „gleichsam instinktiv, an der Schwelle jedes gefährlichen Gedankens Halt zu machen“ und aufzuhören, logisch zu denken, wenn etwas der offiziellen Ideologie der Partei entgegentritt.27 Wer das „Verbrechen des Denkens“ begeht, wird grausamer Folter unterzogen, so dass er zur Parteienideologie konvertiert, und danach wird er getötet. Wie ein Vertreter des Regimes charakteristisch darlegt, „Wir vernichten den Ketzer nicht, weil er uns Widerstand leistet: solange er uns Widerstand leistet, vernichten wir ihn niemals. Wir bekehren ihn, bemächtigen uns seiner geheimsten Gedanken, formen ihn um. [...] Wir machen ihn zu einem der Unsrigen, ehe wir ihn töten“.28 8. Die Schilderungen der negativen Utopien der Zukunft beziehen sich allerdings auf totalitäre Regime. Wie wird aber die künftige Entwicklung des Strafrechts in den westlichen Staaten vorgezeichnet? Kann vielleicht von einer allmählichen Tendenz der Abschaffung des Strafrechts, von einer „Utopie des Strafrechts“ die Rede sein? Es hat tatsächlich Autoren gegeben, die stark diese Meinung vertreten haben. Der erste war der deutsche Philosoph Arno Plack in seinem Werk „Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts“ (München: List, 1974). Es handelt sich um ein faszinierendes, aggressives, in seiner Formulierung absolutes Werk, das aber viele ergiebige Einwände enthält und zur Revidierung beachtlicher überholter Ansichten beiträgt (z. B. in Bezug auf die Strafbarkeit einiger Sexualverbrechen, die von der herrschenden sozialen Sittlichkeit toleriert sind und ohne Gewalt begangen werden).29 Es wird angeführt, dass das Verbrechen von der Aggressivität herstamme, die verursacht werde von der unterdrückenden sozialen Sittlichkeit, der autoritären Erziehung sowie dem besonderen Schwerpunkt, der gesetzt werde auf bestimmte, schwer zu verwirklichende Ziele der heutigen Konsumgesellschaft, wie der Gewinn und der Erfolg.30 Die Strafe stelle heute dementsprechend die aggressive Antwort der organisierten Gesellschaft auf diese Aggressivität des Täters dar.31 Aber dies sei, dem Autor nach, eine Ansicht, die revidiert werden müsse. Die Strafe bezwecke nicht die Vergeltung oder die Stigmatisierung, sondern die erneute Eingliederung des Verbrechers in die Gesellschaft.32 Um dieses Ziel zu erreichen 26

G. Orwell, 1984, Übersetz. K. Wagenseil, Rastatt-Stuttgart: Diana Verlag, 1950, S. 247. G. Orwell, w.o., S. 247-248. 28 G. Orwell, w.o., S. 297-298. 29 Arno Plack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, München: List, 1974, S. 293 ff. 30 Arno Plack, w.o., S. 21; ähnliche Ansichten hatte früher auch Robert Merton in seiner Theorie über die Anomie ausgedrückt. 31 Arno Plack, w.o., S. 123 ff. 32 Arno Plack, w.o., S. 383 ff. 27

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wird demnach ein lockerer sozialtherapeutischer Umgang mit den Gewaltverbrechern vorgeschlagen33 und, bezüglich der anderen Verbrechergruppen, die Einführung eines umfassenderen Systems der Sicherheitsmaßnahmen, das am Schutz der Gesellschaft vor den gefährlichen Tätern orientiert, unabhängig von ihrer strafrechtlichen Schuld, ausgestaltet wird. Besonders wird auch die Notwendigkeit, den Schaden des Opfers zu ersetzen, hervorgehoben.34 Es wird aber betont, dass die Abschaffung des Strafrechts sogar für Gewaltverbrechen nicht durchgeführt werden könne, bevor grundsätzliche Reformen im System der elterlichen Erziehung, der Bildung und der sozialen Beziehungen durchgesetzt werden, so dass die Aggressivität bedeutend gemindert werde, die wegen Mangel an Auswegen zum Abreagieren und zum Verständnis zu diesen Verbrechen führe.35 So wie sie letztendlich dargestellt werden, sind die Ausführungen des Autors eine Zusammensetzung von Ansichten, die schon in der Vergangenheit von Psychoanalytikern, Soziologen und Denkern der Kriminalpolitik unterstützt worden sind. Diese Ansichten haben sogar oft berechtigte Einwände aufgeworfen, vor allem in Bezug auf die Möglichkeit des „Umganges“ mit den Verbrechern gegen ihren Willen und ohne die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen, die das Legalitätsprinzip begründet.36 9. Im gleichen Geist der Entschärfung oder auch Abschaffung des Züchtigungscharakters, der heutzutage das Strafrecht kennzeichnet, sind auch bestimmte andere Werke verfasst worden, wie die „Prinzipien des Gesellschaftsschutzes“ (1961) von Filippo Gramatica, „Das Verbrechen der Strafe“ (1968) von Karl Menninger, die „Grenzen des Leids“ von Nils Christie, „Abschaffungspolitik (des Strafrechts)“ (The Politics of Abolition) (1974) und, noch kürzlicher, „Peines perdues. Le système pénal en question“ (Verlorene Strafen. Das Strafsystem in Frage gestellt, 1982) von Louk Hulsman und Jacqueline Bernat de Celis. Letzteres sollte, denke ich, etwas mehr beachtet werden, wegen des umfassenden Blickwinkels, von dem das gesamte Thema angegangen wird. Die Autoren glauben also, dass die konstante Personifizierung und Erweiterung der Institutionen, insbesondere des Staates, die Entwertung des menschlichen Faktors und die Aufspaltung der Formbarkeit der menschlichen Beziehungen entsprechend verursacht habe. Statt sich auf künstliche Unterscheidungen zwischen Gutem und Schlechtem zu stützen, oder sich ständig an die unpersönliche und ineffektive Staatsgewalt zu wenden, müsse man, den Autoren nach, eine menschlichere Antwort suchen, eine Antwort, die sich auf die Personen, die in einen Streit 33

Arno Plack, w.o., S. 354 ff. Arno Plack, w.o., S. 382. 35 Arno Plack, w.o., S. 396. 36 Vgl. Nestor Courakis, Verbrechensrepression, Athen, A. N. Sakkoulas, 1997, S. 287 ff. 34

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verwickelt seien, selbst stütze, also auf die Opfer, die Täter, oder auch organisierte Gesellschaftsgruppen – z. B. Verbrauchervereinigungen.37 Den Gewalttaten ordnungswidriger junger Leute in einem Bezirk könne, den Autoren nach, besser durch die Gründung von Jugendzentren als deren Inhaftierung entgegengetreten werden.38 Die Betroffenen könnten sich auch, anstelle des Strafverfahrens, an einen Zivil- oder Verwaltungsrichter wenden, der die Rolle des Streitschlichters übernehmen würde.39 Jedenfalls in Extremfällen von Wirtschaftskriminalität, politischen Verbrechen oder Gewaltverbrechen würde die Anwendung des Strafvollzugs, sogar in Form des Freiheitsentzugs, nicht ausgeschlossen sein, jedoch nicht auf einer vergeltenden Art beruhen.40 10. Es muss zugegeben werden, dass es in der Geschichte viele Beispiele von Gesellschaften gibt, deren Institutionen eine Abfindung der nach heutigen Kriterien strafbaren Handlungen außerhalb des Strafrechts vorsahen, entweder durch eine unmittelbare Abmachung der Betroffenen, oder mithilfe einer staatlichen Vermittlung. Auf Achilles’ Schild wird sogar von Homer41 (Ilias, 496 ff.) genau so ein Streitschlichtungsverfahren abgebildet. Folglich wäre es schwer, hier über Utopie zu reden. Aber auch allgemein haben die Strafbestimmungen in den meisten der erwähnten utopischen Werke einen vollziehbaren und durchführbaren Charakter, so dass von einer Utopie in dem reinen, absoluten Sinn des Wortes nicht die Rede sein kann. Das Strafrecht ist also nicht unvereinbar mit dem Begriff der Utopie, solange es sich natürlich um eine relative Utopie handelt, die also in menschlichen Gesellschaften durchführbar ist. Das Strafrecht scheint auch nicht unvereinbar mit den Aussichten, die sich für die Entwicklung des Rechts allgemein in der Zukunft andeuten, da sogar die, die für seine Abschaffung plädieren, letztendlich entweder nur die Strafe einfach durch andere Maßnahmen ersetzen, oder ihre Abschaffung nur auf bestimmte Verbrechen beschränken. Zumal es aber sicher ist, dass das Strafrecht nicht abgeschafft werden wird, ist es genauso sicher, dass das Recht besonders heutzutage genau dies benötigt, einen noch kreativeren, rationellen Aufbau. Und von diesem Aspekt her denke ich, dass die Anreize, auf die man in den verschiedenen utopischen Staaten trifft, zweifellos zu einer neuen Einstellung zum Strafrecht de lege ferenda beitragen könnten. 37

Louk Hulsman / Jacqueline Bernat de Celis, w.o., S. 46, 115 ff., 148. Louk Hulsman / Jacqueline Bernat de Celis, w.o., S. 119. 39 Louk Hulsman / Jacqueline Bernat de Celis, w.o., S. 159. 40 Louk Hulsman / Jacqueline Bernat de Celis, w.o., S. 53, 123, 171. 41 Für diese Szene s. Einzelheiten in Ar. Biscardi, Diritto Greco Antico, Milano: Dott. A. Giuffre ed. S.P.A., 1982, ǿ. D. ǽepos, To dikaion kata tous omerikous chronous (Das Recht zu Homers Zeiten), Archiv des Privatrechts (ǹȡȤİȓȠȞ ǿįȚȦIJȚțȠȪ ǻȚțĮȓȠȣ), X (1943), 231-275: 242. 38

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Hilfsliteratur MARTIN BUBER, Pfade in Utopia, Heidelberg: Lambert Schneider, 1950 (er bezieht sich hauptsächlich auf jüngere Utopisten, z. B. Proudhon). HANS FREYER, Die politische Insel. Eine Geschichte der Utopien von Plato bis zu Gegenwart, Leipzig: Bibliographisches Institut, 1936. JOYCE ORAMEL HERTZLER, The History of Utopian Thought, New York: Macmillan, 1923. JEAN SERVIER, Histoire de l’utopie, Paris: Gallimard, 1967. ANDREAS VOIGT, Die sozialen Utopien, Fünf Vorträge, Leipzig, 1906.

Rechtslogik der Rückwirkung nachträglich verschärfter Strafgesetze MINORU HONDA

I. Vorwort Im Anschluss an den Brand des deutschen Reichstags am 27. Februar 1933 wurden insgesamt fünf Verdächtigte wegen Verdachts auf Brandstiftung verhaftet. Bald darauf hat das Reichsgericht den Angeklagten und vermeintlich unmittelbaren Täter der Reichstagsbrandstiftung Marinus van der Lubbe zum Tode verurteilt – was insofern bemerkenswert war und ist, als § 307 des damaligen deutschen StGB für Brandstiftung als Höchststrafe lediglich lebenslängliches Zuchthaus vorsah. Die Entscheidung für die Todesstrafe hat das Reichsgericht dabei mit zwei Gesetzen begründet:1 Die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 (die so genannte Reichstagsbrandverordnung)2 einerseits und das Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe vom 29. März 1933 (die so genannte lex van der Lubbe)3 andererseits. Während die Reichstagsbrandverordnung die Höchststrafe für Brandstiftung von lebenslänglichem Zuchthaus in Todesstrafe umwandelte, verlieh die lex van der Lubbe dieser Gesetzesänderung Rückwirkungskraft. Erst durch das Zusammenspiel beider Vorschriften wurde es ermöglicht, den Angeklagten van der Lubbe zum Tode zu verurteilen. Hierin lag ein klarer Verstoß gegen den Grundsatz nulla poena sine lege – insbesondere gegen das Rückwirkungsverbot – und damit gegen den wesentlichen Grundsatz modernen Strafrechts schlechthin. Hierin wurde und wird in der deutschen Strafrechtsgeschichte eine entscheidende Weiche für die Verwandlung des

1 Vgl. Friedrich Karl Kaul, Geschichte des Reichsgerichts, Bd.IV, 1933-1945, 1971, S.341ff. über das Urteil des Reichsgerichts im Reichstagsbrandprozess. 2 Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat. Vom 28. Februar 1933, RGBl. I, 83. 3 Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe. Vom 29. März 1933, RGBl. I, 151.

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Rechtsstaats der Weimarer Republik hin zum Unrechtsstaat der NS-Diktatur gesehen.4 Die Frage jedoch, ob und inwiefern einem nachträglich verschärften Strafgesetz Rückwirkungskraft verliehen werden kann, stellte sich keineswegs zum ersten Mal im oben erwähnten Reichstagsbrandprozess. Wie Manfred Seebode, dem diese kleine Abhandlung gewidmet wird, schon zutreffend aufgezeigt hat, 5 wurde eine heftige Auseinandersetzung darüber in der Weimarer Republik geführt. In der Weimarer Nationalversammlung wurde ein Verfassungstext zum Grundsatz nulla poena sine lege vorgeschlagen, der von der alten Fassung des § 2 Abs.1 StGB wörtlich verschieden war. In der Beratung über den Verfassungsentwurf war es nicht der konkrete Streitpunkt, ob der Strafrichter die Strafe rückwirkend anwenden kann oder nicht, die der Gesetzgeber nachträglich verschärft hat. Daher kam der Auseinandersetzung in der Weimarer Republik keine praktische Bedeutung zu. Erst nach ihrem Ende, im Streit um die Bestrafung der Reichstagsbrandstiftung, hat man erkannt, wie notwendig und wichtig die Auseinandersetzung über den normativ-praktischen Sinn und den Anwendungsbereich des Art. 116 WRV war. Wie aber sah der normativ-praktische Sinn und der Anwendungsbereich von Art. 116 WRV in der Weimarer Republik aus? Ziel der folgenden Untersuchung ist es, durch Analyse der damals geführten Auseinandersetzungen zum besseren Verständnis der theoretischen Grundlagen des Grundsatzes nulla poena sine lege in der Weimarer Reichsverfassung beizutragen. Diese Analyse soll die Rechtslogik der rückwirkenden Anwendung des Todesstrafgesetzes im Reichstagsbrandprozess aufklären. Hierdurch soll ein Beitrag dazu geleistet werden, die geschichtliche Herkunft jenes unrechtlichen und illiberalen Strafrechtsgedankenguts zu klären, welches sich in der 4 Vgl. Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 1.Aufl., 1947, S.402ff.; Volker Krey, Keine Strafe ohne Gesetz – Einführung in die Dogmengeschichte des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“, 1983, S.27ff.; Hinrich Rüping, Grundriss der Strafrechtsgeschichte, 2. völlig überarbeitete Aufl., 1991, S.97ff.; Gerhard Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, 1993, S.157. Dazu kritisch Wolfgang Naucke, Die Missachtung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots 1933-1945 – Zum Problem der Bewertung strafrechtlicher Entwicklung als „unhaltbar“, in: Horn u.a. (Hrsg.), Festschrift für Helmuth Coing, Bd. I, 1982, S.239. 5 Manfred Seebode, Zur Rückwirkung der Strafgesetze – Das Rechtsgutachten zum Reichstagsbrandprozess, in: Norbert Brieskorn, Paul Mikat, Daniela Mueller und Dietmar Willoweit (Hrsg.), Vom mittelalterlichen Recht zur neuzeitlichen Rechtswissenschaft, Bedingungen, Wege und Probleme der europäischen Rechtsgeschichte, 1994, S.425ff., Volker Epping, Die lex van der Lubbe – Zugleich auch ein Beitrag zur Bedeutung des Grundsatzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“, in: Der Staat 2/1995, S.243ff., Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S.296, Hans-Heinrich Jescheck und Thomas Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl., 1996, S.118.

Rechtslogik der Rückwirkung nachträglich verschärfter Strafgesetze

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NS-Diktatur praktisch ausgewirkt und rechtsstaatliche und liberale Strafrechtsprinzipien gleichermaßen erstickt und zerbrochen hat.6

II. Diskontinuierlicher Anfang Ausgelöst vom Kieler Matrosenaufstand vom 4. November 1918 kam es in ganz Deutschland zu Volksunruhen, in deren Folge der deutsche Kaiser Wilhelm II. abdankte und in die Niederlande emigrierte. Zu diesem Zeitpunkt war die Bismarcksche Verfassung, welche die rechtliche Grundlage für das alte System in Deutschland war, schon ungültig. Am 9. November 1918 wurde von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands die Republik aus- und am nächsten Tag der Rat der Volksbeauftragten einberufen, um eine neue Verfassung zu erlassen. Dieser Rat der Volksbeauftragten hat wiederum jenen Unterausschuss gewählt, welcher mit dem Entwurf einer neuen Verfassung beauftragt wurde. Zentralfigur dieses Ausschusses war der nationaldemokratische Jurist Hugo Preuss.7 Am 3. Januar 1919 hat Preuss einen ersten Verfassungsentwurf eingereicht, welcher auf einem von ihm bereits 1917 abgefassten „Privatvorschlag“ basierte. Dieser Entwurf befasste sich mit Grundrechten jedoch nur in drei Klauseln; die begrifflichen Konturen der Grundrechte wurden darin nur angedeutet. Eine klare Aussage zum Grundsatz nulla poena sine lege, welcher immerhin bereits seit 1871 im § 2 Abs.1 StGB verankert war, wurde in diesem Entwurf für eine neue Verfassung nicht getroffen.8 Infolgedessen wurde in der Weimarer Republik der Grundsatz nulla poena sine lege als Rechtskern für menschliche Grundrechte im ersten Verfassungsentwurf nur ungenügend festgehalten. In diesem Umstand mag man eine Konsequenz sehen, welche die Abgeordneten aus den Erfahrungen mit der deutschen Märzrevolution 1848 zogen:9 Nach dieser Märzrevolution hatte die Frankfurter Nationalversammlung entschieden, einen Verfassungsentwurf mit der Formulierung von Grundrechtsklauseln zu beginnen. Weil die Nati6 Über die Kontinuität der Strafrechtsgeschichte vor und nach der nationalsozialistischen Zeit vgl. Wolfgang Naucke, NS-Strafrecht – Perversion oder Anwendungsfall moderner Kriminalpolitik?, in: Rechtshistorisches Journal 11, 1992, S.283. 7 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd.5, Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung 1914-1919, 1.Aufl., 1978, S.1178ff. 8 Walter Jellinek, Revolution und Reichsverfassung – Bericht über die Zeit vom 9. November 1918 bis 31. Dezember 1919, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechtes der Gegenwart, Bd. I, 1920, S.46; Günter Kohlmann, Der Begriff des Staatsgeheimnisses (§ 93 StGB und § 99 Abs.1 StGB a.F.) und das verfassungsrechtliche Gebot der Bestimmtheit von Strafvorschriften (Art. 103 Abs.2 GG), 1969, S.200. 9 Huber, a.a.O., S.1179.

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onalversammlung sich für die diesem vorausgehende Beratung ein halbes Jahr Zeit ließ, wurde an ihr scharfe Kritik geübt: Die Abgeordneten hätten wichtige Zeit, welche besser für die Vereinigung und Erhaltung des neuen Staats und seiner Gesellschaft aufgewandt worden wäre, für langwieriges „Geschwätz“ verschwendet.10 Diesem Vorwurf wollten sich die Väter der Weimarer Reichsverfassung offensichtlich nicht aussetzen: Denn auch nach der Emigration des deutschen Kaisers in die Niederlande und der Ausrufung der Republik im Anschluss an die Novemberrevolution kam es nicht zu einem Ende der Volksunruhen. Angesichts dieser politisch schwankenden und unsicheren sozialen Verhältnisse, denen sich Preuss und sein Ausschuss in der nachrevolutionären Gesellschaft gegenüber sahen, meinten sie für langwierige Beratungen über einen Verfassungsentwurf nach dem Vorbild der Paulskirchenversammlung keine Zeit zur Verfügung zu haben. Daher entschied man sich dafür, nur jene schlichten Grundrechtsklauseln im ersten Entwurf vorzuschreiben. Diese Entscheidung jedoch hat – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – zu einer erheblichen Diskontinuität der Geschichte des Grundsatzes nulla poena sine lege geführt.

III. Der Grundsatz nulla poena sine lege in der Verfassungsgesetzgebung Am Tag nach der Wahl der Nationalversammlung vom 19. Januar 1919 wurde der zweite Verfassungsentwurf aufgrund der Ergänzungen und Änderungen des ersten Entwurfs veröffentlicht. Der Grundrechtskatalog war gegenüber diesem stärker erweitert worden. In diesem Entwurf wurden neu aufgenommen die Garantie der Freiheit der Wissenschaft und Lehre, der Meinungs- einschließlich der Pressefreiheit, der Versammlungs- und Vereinsfreiheit einschließlich der Koalitionsfreiheit, der Petitionsfreiheit, der persönlichen Freiheit, der Unverletzlichkeit der Wohnung und des Eigentums sowie schließlich der Schutz des Postgeheimnisses.11 Nicht enthalten war aber noch immer ein dem Grundsatz nulla poena sine lege entsprechender Artikel.12 Die Nationalversammlung wählte später in ihrer Sitzung vom 5. April 1919 einen Unterausschuss, welcher sich speziell mit dem Grundrechtsteil des Verfassungsentwurfs befassen sollte. Am 29. April hat der Abgeordnete Beyerle diesem Unterausschuss die „Vorschläge zu einer Stoffgliederung und Textgestaltung des Verfassungsabschnittes über die 10

Huber, a.a.O., S.1179. Huber, a.a.O., S.1181. 12 Kohlmann, a.a.O., S.200. 11

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Grundrechte des Deutschen Volkes“ vorgeschlagen.13 Dies darf als der Beginn einer Beratung über den Grundsatz nulla poena sine lege gewertet werden. Punkt 10 in den Vorschlägen Beyerles lautete: „Strafgesetz als Voraussetzung jeder Strafe Der Verhängung von Strafen aller Art muss ihre Androhung vorausgehen. Strafen können nur durch ein Gesetz oder auf Grund gesetzlicher Ermächtigung angedroht werden.“ Im Punkt 10 wurde zwar explizit festgehalten, dass die Androhung der Strafe durch Gesetz oder auf Grund gesetzlicher Ermächtigung notwendige Voraussetzung zur Verhängung von Strafen aller Art ist, jedoch unterschied sich der Wortlaut der vorgeschlagenen Vorschrift in einem wesentlichen Punkt von dem des seit 1871 geltenden § 2 Abs.1 StGB. Dennoch ist im Beschlussprotokoll der ersten Sitzung des Unterausschusses vom 2. Mai vermerkt: „10. (Strafgesetz als Voraussetzung jeder Strafe): In der Fassung des § 2 Abs.1 des Strafgesetzbuchs: Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden kann, wenn diese Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.“ Dieser Punkt 10 wurde in die Anträge des Unterausschusses als Art. 9 aufgenommen und auch vom Verfassungsausschuss in der 32. Sitzung vom 28. Mai in erster Lesung angenommen. Der Unterausschuss und der Verfassungsausschuss haben den Vorschlag des Abgeordneten Beyerle also mit dem § 2 Abs.1 StGB gleichgesetzt.14 Dennoch wurde im Unterausschuss vom 30. Mai plötzlich das Wort „diese Strafe“ des Art. 9 durch „die Strafbarkeit“ ersetzt. Eingebracht wurde dieser Änderungsvorschlag in den Unterausschuss vom Abgeordneten Katzenberger (SPD)15 und mit diesem Vorschlag wurde der Kerngedanke des Grundsatzes nulla poena sine lege nachhaltig erschüttert. Der Grundsatz nulla poena sine lege, welcher bereits 1871 im § 2 Abs.1 StGB verankert worden war, schreibt vor, dass die als Verbrechen zu bestrafende Handlung und die ihr entsprechende Strafe gesetzlich vorgeschrieben gewesen sein müssen, bevor die verbrecherische Handlung begangen wurde. Wie sich aus dem Wortlaut „diese Strafe“ in § 2 Abs.1 StGB ergibt, wird dabei nicht nur eine Normierung der Strafbarkeit der Handlung an sich, sondern auch die Festlegung der konkreten Art und des Rahmens der Strafe, mit der die strafbare Handlung belegt wird, verlangt. Wenn nun im Wortlaut der entsprechenden Vorschrift „diese Strafe“ durch „die Straf13

Zitiert aus Kohlmann, a.a.O., S.201. Kohlmann, a.a.O., S.201f. 15 Kohlmann, a.a.O., S.202. Nach Huber, a.a.O., S.1195 wurde das Verbot der rückwirkenden Strafgesetze anerkannt bis Katzenberger seinen Änderungsvorschlag gemacht hat. 14

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barkeit“ ersetzt wird, so ist klar, dass der Vorschlag Katzenbergers an der vorherigen gesetzlichen Bestimmtheit der Strafbarkeit der jeweiligen Handlung festhält. Nicht ganz deutlich wird jedoch, ob dieser Vorschlag verlangt, dass die dieser Handlung entsprechende Strafe einzeln und konkret vorher gesetzlich bestimmt sein muss. Denn der Begriff „die Strafbarkeit“ lässt sich so auslegen, dass nicht die der strafbaren Handlung entsprechende „Strafe“, sondern nur „die Strafbarkeit“ der Handlung an sich vorher gesetzlich bestimmt sein muss. Wenn die vorherige Bestimmtheit der Strafbarkeit für den Grundsatz nulla pena sine lege als Verfassungsrechtsgrundsatz genug ist, fordert er nicht notwendig zugleich, dass auch die Strafart und der Strafrahmen zuvor gesetzlich bestimmt gewesen sein müssen. Zwar fordert das Strafgesetz in § 2 Abs.1 auch die vorher gesetzliche Bestimmtheit der Strafart und des Strafrahmens, dabei handelt es sich jedoch offensichtlich nur um eine Regelung einfachgesetzlichen Ranges. Der Vorschlag Katzenbergers bedeutete wahrscheinlich einerseits die Erhebung der vorherigen gesetzlichen Bestimmtheit der Strafbarkeit der Handlung in den Rang eines Verfassungsgrundsatzes, andererseits die Befestigung der vorher gesetzlichen Bestimmtheit der Strafart und Strafrahmen auf dem Niveau eines bloßen Strafrechtsgrundsatzes. Dies ist insofern von großer Bedeutung, als es zur Modifizierung eines Verfassungsgrundsatzes einer Verfassungsänderung bedarf, während eine bloße Strafgesetzänderung auch einfachgesetzlich möglich ist. So wird die rechtsstaatliche „Zerbrechlichkeit“ des Grundsatzes nulla poena sine lege deutlich: Zwar kann verfassungsrechtlich nach diesem Grundsatz eine Handlung dann nicht mit Strafe belegt werden, wenn die Strafbarkeit einer Handlung nicht gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde, auch wenn die Handlung nachträglich strafbar geworden ist und diese Strafe gesetzlich bestimmt wurde. Keinen verfassungsrechtlichen Schutz gibt es jedoch davor, dass eine Strafe auf eine Handlung nicht rückwirkend angewendet werden kann, deren Art und Rahmen nachträglich verschärft wurden, wenn auch die Handlung vorher gesetzlich als strafbar erklärt wurde. Hiergegen lässt sich „nur“ der Wortlaut der einfachgesetzlichen Vorschrift § 2 Abs.1 StGB vorbringen. Sobald also § 2 Abs.1 StGB dergestalt in eine „Krise“ geriete, also dahingehend geändert wird, dass nun eine Handlung rückwirkend schärfer bestraft als zum Tatzeitpunkt bestimmt, bestraft werden könne, so gibt es gegen diese „Krise“ kein verfassungsrechtliches Gegenmittel. Der Grundsatz nulla poena sine lege, wie er im Vorschlag Katzenbergers zum Ausdruck gebracht wird, garantiert nicht die Anwendung derjenigen Strafart und des jeweiligen Strafrahmens, der zum Tatzeitpunkt der strafbaren Handlung gesetzlich festgelegt war. Ob bzw. dass der Strafrichter die strafbare Handlung nur mit derjenigen Strafe belegen kann, die vor der Handlung gesetzlich normiert war, wird nicht bestimmt.

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Nach der Weimarer Revolution ist der Streit um den normativ-praktischen Sinn und den Anwendungsbereich des Art. 9 nicht entstanden, ob die vorherige gesetzliche Bestimmtheit der Strafart und Strafrahmen vom Grundsatz nulla poena sine lege befreit werden soll und die nachträglich verstärkte Strafe auf die strafbare Handlung rückwirkend anwendet werden kann. Aber es gab Anzeichen eines heftigen theoretischen Streits: Im oben bereits erwähnten Verfassungsunterausschuss haben die zwei Abgeordneten Dr. Düringer und Dr. Heinze den Vorschlag Katzenbergers kritisiert und vertreten, dass diese Fassung notwendigerweise auch einen anderen Gedanken enthalte und insofern eine materielle Abweichung von dem Grundgedanken des StGB ist. Trotzdem hat der Unterausschuss diese vorgeschlagene Änderung anerkannt. Dazu heißt es im Protokoll:16 „Vorsitzender Haussmann gibt nach Eröffnung der Sitzung bekannt, dass der Unterausschuss für die Grundrechte, der jetzt seine Arbeit abgeschlossen habe, nachträglich für Art. 9 noch eine Änderung vorschlage. Auf die Bedenken des Abgeordneten Dr. Düringer und des Abgeordneten Dr. Heinze, dass dadurch eine für jeden unverständliche Abweichung von der Fassung des Strafgesetzbuchs entstehe, und dass eine andere Fassung notwendigerweise auch einen anderen Gedanken enthalte, fügte der Vorsitzende hinzu, dass die Abänderung auch von den Vertretern des Preußischen und Bayerischen Justizministeriums ausdrücklich gewünscht worden sei. Der Unterausschuss sei einstimmig der Ansicht gewesen, dass damit eine materielle Abweichung von dem Grundgedanken des StGB nicht beabsichtigt sei. Darauf wurde die vorgeschlagene Änderung des Art. 9 angenommen.“ Nach dieser Beratung des Unterausschusses wurde der Artikel in der Fassung „wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war“ vom Verfassungsausschuss angenommen und wurde als Art. 116 in den Entwurf der Verfassung des Deutschen Reiches übernommen. Aufgrund dessen kann vermutet werden, dass der Verfassungsausschuss ebenso wie der Unterausschuss Art. 116 mit dem § 2 Abs. 1 StGB inhaltlich gleichgesetzt hat. Erklärt, warum dem formell unterschiedlichen Wortlaut die inhaltlich gleiche Bedeutung zukommen soll, wurde freilich nicht. Insofern hat der Unterausschuss seinen subjektiven Willen „eine materielle Abweichung von dem Grundgedanken des StGB sei nicht beabsichtigt“ nur als Ergebnis behauptet, ohne jedoch auf die Argumente der beiden Abgeordneten einzugehen. Der sub16 Zitiert auch Kohlmann, a.a.O., S.202. Der wahre Grund, warum Katzenberger diesen Änderungsvorschlag gemacht hat, ist unklar. Aber es ist zu vermuten, dass Katzenberger versucht hat, seinen Vorschlag vom Grundsatz nulla poena sine lege im § 2 Abs. 1 StGB inhaltlich zu unterscheiden, weil er ihn folgendermaßen begründet hat: „Das Wort Strafe soll im Sinne von 'Strafbarkeit' gelten.“ Allerdings wurde dieser Satz nach Kohlmann, a.a.O., S.202 (Fn. 3) wieder aus dem Unterausschussprotokoll gestrichen. Es scheint mir mysteriös, dass der Vorschlag einerseits angenommen, aber die Begründung andererseits gestrichen wurde.

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jektive Gesetzgeberwille ist zwar außergesetzlich deutlich erklärt, kann der wörtlichen Form jedoch nicht entnommen werden. Der Strafrechtsgrundsatz wird also nicht mehr im geschriebenen und unbewegbaren Wort tief und fest eingeprägt, sondern bleibt nur im Gedächtnis der Gesetzesausleger – manchmal deutlich und manchmal undeutlich. Dies ist insofern problematisch als der Mensch – und auch der Jurist – zur Vergesslichkeit neigt. Nicht selten wird der gleiche Wortlaut eines Gesetzes zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich interpretiert. In der Nationalversammlung vom 11. Juli 1919 hat sich der Abgeordnete Heinze noch einmal sehr ausführlich mit diesem Problem beschäftigt und vor den möglichen Folgen gewarnt.17 In seinen Ausführungen nahm er auf mehrere strafrechtlich sehr wichtige Fragestellungen Bezug: „Der Entwurf, wie ihn die Kommission ausgearbeitet hat, sieht einen Umfang der Rechte vor, wie ihn m. W. kein anderes Grundgesetz irgendeines großen Staates enthält. Und das ist bedenklich. Wenn Sie sich §§ 107 bis 162 durchsehen, welche die Grundrechte enthalten, so finden Sie da kein geschlossenes System. Sie finden keinen einheitlichen Zug, der durch diese Grundrechte durchgeht. Zwei ganz verschiedene Strömungen haben sich bei Schaffung dieser Grundrechte gekreuzt und schließlich zu Bestimmungen geführt, wie wir sie nicht wünschen können.“ „Ich will das hier nur an einzelnen Beispielen vorführen, und ich muss das hier vorbringen, um auf die Gefährlichkeit einer solchen Art, Gesetze zu machen, hinzuweisen. Art. 116 heißt: ‚Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.’ Das ist eine Veränderung von § 2 des Strafgesetzbuchs, denn dort heißt es nicht: ‚wenn die Strafbarkeit’, sondern: ‚die Strafe’ gesetzlich bestimmt war. Das ist etwas vollkommen anders. … Jeder Jurist weiß, was diese Änderung bedeutet.“ Heinze hat darauf hingewiesen, dass „jeder Jurist weiß“, was der Änderungsvorschlag des Wortes im Art. 116 des Verfassungsentwurfs bedeutet. Welchen Schluss er aus dieser Erkenntnis zieht, wird zwar nicht ganz deutlich. Bemerkenswert ist jedoch sein Hinweis darauf, dass sich bei Schaffung der Grundrechte zwei ganz verschiedene Strömungen gekreuzt haben. Welches sind also die beiden Strömungen, die sich nach Heinze bei der Diskussion um den Grundsatz nulla poena sine lege als strafrechtsbezogenes Kerngrundrecht schon vor der Begründung der Weimarer Republik gekreuzt haben? Heinze bezieht sich hier offensichtlich auf die verschiedenen Strafrechtsgedanken der klassischen und der modernen Schule. Diese zwei Schulen haben sich einerseits im so genannten Schulenstreit theoretisch gegen17 Zitiert aus Kohlmann, a.a.O., S.202f. Vgl. Hans-Ludwig Schreiber, Gesetz und Richter – Zur geschichtlichen Entwicklung des Satzes nullum crimen, nulla poena sine lege, 1976, S.182.

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übergestanden, andererseits in der Strafrechtsreform zu Beginn des 20. Jahrhunderts „gekreuzt“ und die praktischen Kompromisse geschlossen. Es scheint, dass einer der Kompromisse sich auch in der Entwicklung von Art. 116 des Verfassungsentwurfs wiederfindet.18 Die Arbeit zur Strafrechtsreform vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zu dem Beginn des 20. Jahrhunderts wurde von den Strafjuristen der klassischen und modernen Schulen geleistet. Bis zum Inkrafttreten der Weimarer Verfassung wurden insgesamt vier Entwürfe vorgebracht. Dabei handelt es sich im Einzelnen um den Vorentwurf von 1909, den Gegenentwurf zum Vorentwurf von 1911, den Kommissionsentwurf von 1913 und schließlich den Entwurf von 1919. Hervorzuheben ist hierbei insbesondere der Kommissionsentwurf von 1913, der sich im Hinblick auf sein Grundverständnis des Grundsatzes nulla poena sine lege von den früheren Entwürfen wesentlich unterscheidet. Die vorangegangenen Entwürfe fassten nämlich übereinstimmend noch zwei strafrechtliche Prinzipien unter einem Punkt zusammen: die gesetzliche Bestimmtheit einer Straftat und der Strafe einerseits sowie des Rückwirkungsverbots der Strafgesetze andererseits. Im Kommissionsentwurf von 1913 wurden diese beiden Aspekte erstmals formell und inhaltlich getrennt voneinander festgehalten. § 1 des Kommissionsentwurfs beinhaltete die Aussage, dass Verbrechen und Strafe gesetzlich vorgeschrieben sein müssen, ohne sich jedoch mit der zeitlichen Geltung von Strafgesetzen zu befassen. § 2 des Kommissionsentwurfs hingegen forderte, dass die Strafbarkeit der Handlung gesetzlich bestimmt sein muss, bevor die 18 Der japanische Strafrechtsprofessor Seiichiro Ono (1891-1986) hat die theoretischen Tendenzen der deutschen Strafrechtsreform des beginnenden 20.Jahrhunderts analysiert und ausdrücklich auf die Problematik des Grundsatzes nulla poene sine lege hingewiesen. Er kommt dabei zu folgenden Ergebnissen: Das Strafgesetzbuch von 1871, der Vorentwurf von 1909 und der Gegenentwurf von 1911 lassen sich insofern gleichsetzen, als sie die zeitliche Geltung des Strafgesetzes in Verbindung mit dem Grundsatz nulla poena sine lege geregelt haben. Das ist als Ausdruck jenes wesentlichen strafrechtlichen Grundprinzips des 19. Jahrhunderts, wonach die Frage nach der zeitlichen Geltung des Strafgesetzes mit Hilfe des Grundsatzes nulla poena zu lösen ist. Dagegen spaltet der Kommissionsentwurf 1913 den Grundsatz nulla poena sine lege auf: Die Frage nach der Gesetzlichkeit von Strafe und die zeitliche Geltung des Strafgesetzes werden hier getrennt behandelt. In dieser Spaltung kann man einen Vorboten jener Zeit sehen, in welcher der Grundsatz nulla poena sine lege seine Bedeutung als Schlüsselbegriff der Strafrechtswissenschaft eingebüßt haben wird. Seiichiro Ono zieht daraus den Schluss, dass die zeitliche Geltung des Strafgesetzes als Forschungsgegenstand unabhängig vom Grundsatz nulla poena sine lege betrachtet werden sollte. Vgl. Seiichiro Ono, Der Beitrag zur Strafrechtsreformarbeit in Deutschland, in: Hogaku-Shirin, Bd.25 Nr.11, 1923, S.23ff.; Franz v. Liszt hielt an dem Grundsatz als einem „Bollwerk des Staatsbürgers“ (Strfr. Aufsätze u. Vorträge, 1. Bd., 1905, S. 80) fest, obwohl er den Grundgedanken seiner sog. modernen Schule nicht entspricht, während Karl Binding meinte, der Staat bestimme sein Strafrecht „ungehindert von erworbenen Rechten seiner Untertanen“ (Die Normen u. ihre Übertretung, 1. Bd., 4. Aufl., 1922, S. 178).

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Handlung begangen wurde, wodurch die Frage der zeitlichen Geltung von § 1 formell wie inhaltlich getrennt wurde. Darin mussten Verbrechen und Strafe zwar gesetzlich bestimmt sein, aber nicht die Strafe musste vorher gesetzlich bestimmt werden, sondern nur die Strafbarkeit der Handlung. Im Entwurf von 1919 wurde sogar die gesetzliche Bestimmtheit von Verbrechen und Strafen im Sinne des Kommissionsentwurfs von 1913 nicht vorgeschrieben, sondern es wurden nur die vorherige Bestimmtheit der Strafbarkeit und deren Ausnahme vorgeschrieben. Was bedeutete diese Tendenz in der Strafrechtsreformarbeit? Worin lag ihr theoretischer Ursprung? Es scheint, dass die Strafrechtsreformarbeit versucht hat, den Grundsatz nulla poena sine lege im Sinne von § 2 Abs. 1 StGB zu schwächen, indem sie die Frage nach der Strafart und dem Strafrahmen vom Erfordernis der vorherigen Bestimmtheit zu befreien suchte. Die Strafrichter sollten zweckmäßig und kriminalpolitisch ermessen können, mit welcher Strafe die strafbare Handlung belegt werden soll. Wenn nun bereits Art. 116 WRV die verfassungsrechtliche Reflektion dieser Tendenz in der Strafrechtsreform wäre, so ließe sich hieraus der Schluss ziehen, dass „die praktische Bedeutung“ der Auseinandersetzung über den Sinn und den Anwendungsbereich des Art. 116 WRV schon damals – und nicht erst im Rahmen der Entscheidung um den Reichstagsbrand von 1933 – offenbar wurde.

IV. Der Grundsatz nulla poena sine lege in der Rechtsprechung Das Reichsgericht hat sich in den 1920er Jahren mehrfach mit dem normativ-praktischen Sinn sowie dem Anwendungsbereich von Art. 116 WRV beschäftigt. Unter dem Einfluss der Meinungsverschiedenheiten im Unterausschuss wurden auch hier verschiedene Standpunkte zum Verhältnis von § 2 Abs. 1 StGB und Art. 116 WRV vertreten. Der 3. Strafsenat des Reichsgerichts verneinte in seinem Urteil vom 4. Januar 192319 die rückwirkende Kraft der Verordnung des Reichspräsidenten, betreffend des Verbots der Arbeitsniederlegung durch Beamte der Reichsbahn vom 1. Februar 1922.20 Die Rückwirkung eines Strafgesetzes sei gemäß Art. 116 WRV ausgeschlossen, der eine vor der Begehung der Tat bestimmte Strafbarkeit, also ein vorher verkündetes Strafgesetz verlange. Daher war es nach Auffassung des Reichsgerichts nicht anzunehmen, dass sich die strafrechtliche Wirkung der Verordnung vom 1. Februar 1922 auf 19

RGSt 57, 49f. Verordnung des Reichspräsidenten, betreffend Verbot der Arbeitsniederlegung durch Beamte der Reichsbahn vom 1. Februar 1922, RGBl. I, 187. 20

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die vor dem Zeitpunkt der Verkündung verübten Zuwiderhandlungen erstreckte. Der 5. Strafsenat des Reichsgerichts hat in seinem Urteil vom 6. Februar 192321 zudem ausgeführt, dass die Reichsabgabenordnung vom 23. Dezember 1919 auf die Zuwiderhandlungen im Kriegssteuergesetz von 1916 nicht angewendet werden kann, weil Art. 116 WRV nicht so zu verstehen sei, dass ein fahrlässiges Handeln, das vor Geltung der Reichsabgabenordnung begangen wurde, aber nach dem früheren Steuergesetz nicht oder unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt strafbar war, mit dem Inkrafttreten der Reichsabgabenordnung nach dieser strafbar wurde. Der 3. Strafsenat ging hierbei ersichtlich davon aus, dass Art. 116 eine vor der Begehung der Tat bestimmte Strafbarkeit, also ein vorher verkündetes Strafgesetz verlangt, ohne auf den unterschiedlichen Wortlaut in § 2 Abs. 1 StGB und Art. 116 WRV einzugehen. Der Senat setzte dabei die Bestimmtheit der Strafbarkeit vor der Begehung der Tat mit der Verkündung des Strafgesetzes gleich, sodass die Vorschriften § 2 Abs. 1 StGB und Art. 116 WRV inhaltlich übereinstimmen. Demgegenüber führte der 5. Strafsenat aus, dass Art. 116 WRV an die Stelle des § 2 Abs. 1 StGB gesetzt wurde, und bestätigte somit die inhaltliche Identität beider Normen. Beide Strafsenate kamen somit zum gleichen dem subjektiven Gesetzgeberwillen entsprechenden Ergebnis. Sie sprachen sich damit gegen die Möglichkeit aus, dass Art. 116 WRV Strafart und Strafrahmen von der vorherigen Bestimmtheit befreit hat und den vom Gesetzgeber nachträglich verschärften Strafen die Rückwirkungskraft geben kann.22 Dagegen ist es bemerkenswert, dass der 5. Strafsenat des Reichsgerichts bereits in seinem Urteil vom 24. März 192223 über die Auslegung des Art. 116 WRV anders als die beiden Strafsenate entschieden hat. In dieser Entscheidung hat der Strafsenat ausgeführt, dass Art. 116 WRV inhaltlich nicht mit dem § 2 Abs.1 StGB gleichgesetzt werden kann, sondern Art. 116 WRV den § 2 Abs.1 StGB vielmehr änderte: „Der Umstand, dass für den Fall, wo sich der Wert zur Einfuhr bestimmter Ware ermitteln lässt, kein Höchstbetrag der Geldstrafe im § 2 Abs. 2 EinfuhrVO 1920 festgesetzt ist, macht diese Strafandrohung nicht ungültig. Dahingestellt bleiben kann, ob der § 2 Abs. 1 StGB den Gesetzgeber hinderte, in der EinfuhrVO – gleichwie im § 7 Abs. 2 AußenkontrollVO – von der Festsetzung eines Höchstmaßes der Geldstrafe im Regelfall abzusehen. Zum mindesten besteht ein solches Hindernis nicht mehr, seitdem die Vorschrift im § 2 Abs. 1 StGB. durch die des Art. 116 RVerf. 1919 ersetzt worden ist. Art. 116 lautet: ‚Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn die Strafbar21

RGSt 57, 119. Kohlmann, a.a.O., S.205f. 23 RGSt 56, 318. 22

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keit gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.’ Über die Gründe dieser Änderung des § 2 Abs. 1 StGB findet sich in der Entstehungsgeschichte der RVerf. 1919 nichts für die Auslegung Wesentliches. Dass § 2 Abs.1 auch den Ausschluss unbestimmter Strafen bedeutet, wurde aus seinen Worten ‚diese Strafe’ gefolgert. Den an ihre Stelle getretenen Worten ‚die Strafbarkeit’ kann nicht derselbe Sinn beigemessen werden. Mit ihnen wird die gesetzliche Festlegung der Möglichkeit einer Bestrafung erfordert, keineswegs aber zum Ausdruck gebracht, dass das zur Zeit der Begehung der Tat geltende, eine bestimmte Strafart androhende Gesetz einen bestimmten Strafrahmen haben müsste.“ Insofern der § 2 Abs. 1 StGB die vorherige gesetzliche Bestimmtheit des Verbrechens und der Strafe fordert, verstößt § 2 Abs. 2 Einfuhrverordnung 1920 klar gegen ihn, weil er nur die Strafart „Geldstrafe“ bestimmt ohne ihren Höchstbetrag festzulegen. Aber wenn § 2 Abs. 1 StGB durch Art. 116 WRV ersetzt wurde und der § 2 Abs. 1 StGB im Sinne des Art. 116 gilt, verstößt § 2 Abs. 2 Einfuhrverordnung nicht mehr gegen § 2 Abs. 1 StGB. Demnach ist es nur die Strafbarkeit der Handlung, die vorher gesetzlich bestimmt sein muss. Insofern es nur gesetzlich bestimmt ist, dass die strafbare Handlung mit der Strafart „Geldstrafe“ belegt werden kann, wenn auch ihr Höchstbetrag offen geblieben ist, kann man nicht mehr sagen, dass der § 2 Abs. 2 Einfuhrverordnung 1920 gegen das Grundsatz nulla poena sine lege im Sinne des Art. 116 WRV verstößt. Den Hintergrund dieses Urteils des 5. Strafsenats bildet die beispiellose Inflation im besiegten Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg.24 In Zeiten der Inflation ist der Geldwert stets unsicher, aber in der damaligen Wirklichkeit fiel er unvorstellbar schnell. Es steht zu vermuten, dass der Gesetz24 § 9 des Gesetzes zum Schutze der Republik vom 21. Juli 1922 lautet: Neben jeder Verurteilung wegen Hochverrats oder wegen eines Verbrechens gegen die §§ 1 bis 6 ist auf Geldstrafe zu erkennen; die Höhe der Geldstrafe ist nicht beschränkt (RGBl. I, 585). Die zivilrechtliche Erscheinungsform der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg ist das sogenannte Aufwertungsurteil und die strafrechtliche ist die Strafgesetzgebung, die die Höhe der Geldstrafe nicht bestimmt. Die richterliche freie Rechtsfindung und das richterliche Ermessen bei der Festsetzung der Geldstrafe können als die konkreten Erscheinungen der freien Rechtsbewegung verstanden werden. Die zwei Merkmale der Aufwertung und des Republikschutzes stellen die soziale Situation gleich nach der Begründung der Weimarer Republik konzentriert dar, dass die Inflation einerseits das wirtschaftliche System der Republik erschüttert hat und den Ruf nach der linksradikalen Veränderung und der Gegenrevolution verstärkt hat, andererseits die neue Regierung sich bemüht hat, die Republik gegen die Gegenkräfte zu schützen und die politische Sicherheit zu erhalten. Es ist klar, dass die politische und wirtschaftliche Unsicherheit die rechtliche Sicherheit gebrochen hat. In diesem Sinne weist Arthur Rosenberg auf die wesentliche Tendenz der damaligen Rechtslage in der folgenden Darstellung hin. „Im Wirbel der Geldentwertung hatten sich alle hergebrachten Begriffe von Ordnung, Eigentum und Gesetzlichkeit aufgelöst“. Vgl. Arthur Rosenberg, herausgegeben von Kurt Kersten, Geschichte der Weimarer Republik, 1961, S.135.

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geber davon ausging, die gesetzliche Bestimmung eines Höchstbetrages einer Geldstrafe sei in einer sich zunehmend verstärkenden Inflation sinnlos. Es genüge daher die Strafart „Geldstrafe“ in der Einfuhrverordnung von 1920 gesetzlich zu bestimmen und den Strafrahmen „Betrag“ dem richterlichen Ermessen gemäß dem jeweiligen Geldwert zu überlassen. Abgesehen davon, dass der Abgeordnete Katzenberger in der Sitzung des Unterausschusses vom 30. Mai 1919 erwartete, dass die beispiellose Inflation einen nicht ignorierbaren Einfluss auf das Geldstrafensystem ausüben kann, der den Grundsatz nulla poena sine lege beeinträchtigt, hat der 5. Strafsenat im Urteil von 1922 klargestellt, dass der § 2 Abs. 2 Einfuhrverordnung von 1920 verfassungsmäßig rückwirkend angewendet werden kann. Ließe sich aus diesem Urteil nicht ableiten, dass Art. 116 WRV die Anwendung der nachträglich bestimmten Strafrahmen auf die strafbare Handlung erlaubte?

V. Der Grundsatz nulla poena sine lege in der Strafrechtslehre Auch die Strafrechtswissenschaft hat über den normativ-praktischen Sinn und den Anwendungsbereich des Art. 116 WRV leidenschaftlich diskutiert. Wie schon Hans-Ludwig Schreiber vertreten hat,25 wurden einerseits die verschiedenen Meinungen darüber zum Ausdruck gebracht, andererseits wurde das im Art. 116 WRV sich versteckende theoretische Problem nicht offen gelegt bis zum Ende der Weimarer Republik, dem Reichstagbrandprozess. Die herrschende Lehre hat die Ansicht von der sog. inhaltlichen Identität wieder aufgegriffen, nach der Art. 116 WRV lediglich die verfassungsrechtliche Ausdrucksform des § 2 Abs. 1 StGB sei.26 Dies entspricht zwar dem Willen des Gesetzgebers, vermag aber die inhaltliche Änderung des Grundsatzes nulla poena sine lege durch Art. 116 WRV nicht zu erklären, der aus dem formellen Unterschied der beiden Wörter („diese Strafe“ und „die Strafbarkeit“) entsteht. Zum Beispiel hat Robert von Hippel vertreten, dass Art. 116 WRV zwei Bedeutungen hat: eine staatsrechtliche und eine strafrechtliche. Staatsrechtlich können Strafgesetze nur im Wege eines formellen Gesetzes, also unter Mitwirkung der Volksvertretung, erlassen werden. Strafrechtlich müssen Tatbestand und Strafe vor Begehung der Tat gesetzlich bestimmt sein. Der Art. 116 WRV unterscheide sich zwar von § 2 Abs. 1 StGB, aber sachlich ergebe sich daraus kein Unterschied, insbesondere nicht etwa die Zulässig-

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Schreiber, a.a.O., S.182f. Kohlmann, a.a.O, S.206.

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keit der Androhung gesetzlich nicht bestimmter Strafen.27 Die Ansicht Hippels stimmt mit dem subjektiven Gesetzgeberwillen in der Weimarer Nationalversammlung überein. Joseph Heimberger wies darauf hin, dass die absolut unbestimmten Strafgesetze bis tief ins 18. Jahrhundert häufig waren, die ein Verhalten nur im allgemeinen für strafbar erklären, die Festsetzung von Art und Maß der Strafe aber vollständig dem richterlichen Ermessen überließen. Allerdings kämen solche Strafgesetze nicht mehr vor, weil sich die Unzulässigkeit absolut unbestimmter Strafgesetze aus § 2 Abs. 1 StGB ergebe. Daran ändere auch Art. 116 WRV nach „richtiger Ansicht“ nichts, wenn er den Bedingungssatz in die Worte „wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war“ fasst und dadurch den Anschein erweckt, als ob nur überhaupt eine Strafe, wenn auch keine bestimmte, angedroht gewesen sein müsste. Die Weimarer Reichsverfassung habe nicht daran gedacht, den § 2 StGB zu ändern, sondern wollte nur den in ihm enthaltenen Grundsatz „keine Strafe ohne Gesetz“ in die Grundrechte aufnehmen.28 Wenn auch Art. 116 WRV den Anschein erwecke, dass auch eine absolut unbestimmte Strafe angedroht sein könne, sei dieser doch mit § 2 Abs. 1 StGB identisch und verbiete somit die absolut unbestimmte Strafe. Eberhart Schmidt vertritt in dem von ihm neubearbeiteten Strafrechtslehrbuch von v. Liszt die gleiche Ansicht einer inhaltlichen Identität. Nach seiner Auffassung treten die vom Rechtssatz an einen Tatbestand geknüpften Rechtsfolgen ein, sobald ein dem Tatbestand entsprechender Sachverhalt gegeben ist. Jeder Rechtssatz kann nur auf die während seiner Geltung entstandenen Tatbestände angewendet werden, soweit er nicht von sich aus vor oder nach seiner Geltung liegende Tatsachen aufgreift. Dies gilt auch für Strafrechtssätze. Auch sie haben weder nachwirkende noch rückwirkende Kraft, soweit der Gesetzgeber sie ihnen nicht ausdrücklich beilegt. Daraus folgt die Art. 116 WRV immanente Regel: Die Strafrechtssätze finden Anwendung auf die während, sie finden keine Anwendung auf die vor oder nach ihrer Geltung begangenen Handlungen.29 Es wird von Schmidt ange27 Robert von Hippel, Die allgemeinen Lehren vom Verbrechen in den Entwürfen, ZStW Bd.42, 1922, S.404f. 28 Josef Heimberger, Strafrecht, 1931, S.20. 29 Franz von Liszt und Eberhard Schmidt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 27. völlig neu bearbeitete Aufl., 1932, S.113. Franz von Liszt hat vor der Weimarer Zeit geschrieben, „Daraus folgt die in § 2 Abs. 1 StGB indirekt anerkannte Regel: Die Strafrechtssätze finden Anwendung auf die während, sie finden keine Anwendung auf die vor oder nach ihrer Geltung begangenen Delikte“. Dass Schmidt bei der Neubearbeitung des v. Liszt’schen Lehrbuchs den Art. 116 WRV mit dem § 2 Abs. 1 StGB gleichgesetzt hat, bedeutet, dass Schmidt die Ansicht von der inhaltlichen Identität vertritt. Vgl. Franz v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, zweite durchaus umgearbeitete Auflage, 1884, S.79.

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deutet, dass es nicht dem Gesetzgeber, sondern nur dem Richter verboten wird, Strafrechtssätzen nachwirkende und rückwirkende Kraft beizulegen. Daher ist es nach ihm nicht klar, ob es nur dem Richter verboten ist, die gesetzliche Strafe auf eine strafbare Handlung rückwirkend anzuwenden, die der Gesetzgeber nachträglich verschärft hat. Hellmuth Mayer hat ausdrücklich vertreten, dass der Satz nulla poena sine lege in der geschichtlichen Entwicklung gerade deshalb geschaffen wurde, um politische Zweckgesetze der Art zu verhüten, dass nachträglich eine vorher unverbotene Tat unter Strafe gestellt wird, oder dass man nachträglich eine Strafbestimmung auf den vorliegenden Fall erst passend macht. Wenn Bestimmungen in ein Strafgesetz aufgenommen wurden, deren Umfang sich auch nicht annähernd im Voraus bestimmen und berechnen lässt, könnte der Satz nulla poena sine lege in fraudem legis umgangen werden. Dieser Gedanke hat auch hinreichend deutlichen Ausdruck im Gesetz gefunden. Denn § 2 StGB und Art. 116 WRV fordern, dass eine Handlung vorher mit Strafe bedroht ist. Es genügt also nicht, dass etwa eine Handlung unter einem Gesetzesbegriff gebracht werden kann, wie das ja bei jeder „Kautschukbestimmung“ möglich ist. Sondern sowohl dem Wortlaut als auch dem Sinn des Art. 116 WRV wird nur dann entsprochen, wenn die betreffende Handlung so beschrieben ist, dass man auch weiß, welche Handlungen nun verboten sind. Ein gegen diese Forderung einer einigermaßen bestimmten Beschreibung verstoßendes Gesetz ist verfassungswidrig.30 Mayer verkennt dabei den Wortlaut und dessen Sinn in Art. 116 WRV. Wie er vertritt, ist „jede Kautschukbestimmung“ zwar verfassungswidrig, weil man nicht wissen kann, welche Handlungen nun verboten sind. Aber es kommt nicht nur auf die gesetzliche Bestimmtheit der strafbaren Handlung an, sondern auch auf die der Strafart und des Strafrahmens. Aus der Erkenntnis von Mayer erklärt sich das Problem des Art. 116 WRV noch nicht, ob es erlaubt sein kann, der nachträglich verschärften Strafe die Rückwirkungskraft zu verleihen. Diese oben erwähnten Meinungen stehen auf dem Standpunkt, auf dem der Weimarer Gesetzgeber subjektiv stand, dass der Art. 116 WRV mit dem § 2 Abs. 1 StGB normativ identisch ist. Hiervon unterscheidet sich die Position Edmund Mezgers. Mezger bestimmt das Verhältnis zwischen § 2 Abs. 1 StGB und Art. 116 WRV wie folgt:31 30 Hellmuth Mayer, 4. Jahresversammlung der Deutschen Strafrechtlichen Gesellschaft in Bamberg am 16. und 17. Oktober 1931, Der Gerichtssaal Bd. 101, 1932, S.121f. 31 Edmund Mezger, Strafrecht – Ein Lehrbuch, 3. unveränderte Aufl., 1949, S.75ff. Vgl. Lothar Käckell, Der Einfluss der neuen Reichsverfassung auf Straf- und Prozessrecht, ZStW Bd.41, 1921, S.684; A. Mendelssohn Bartholdy, Das Strafgesetz, in: Aschrott und Kohlrausch (Hrsg.), Reform des Strafrechts, 1926, S.35.

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„Der Satz: Keine Strafe ohne Gesetz, gilt heute mit unverbrüchlicher Strenge. § 2 Abs. 1 StGB bestimmt in dieser Hinsicht: ‚Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn diese Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.’ Ohne Gesetz soll es kein Verbrechen geben (nullum crimen sine lege) und die für das Verbrechen erkannte Strafe soll nur insoweit ausgesprochen werden dürfen, als sie gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde (nulla poena sine lege). Dieser Satz ist heute wenigstens teilweise verfassungsrechtlich sanktioniert. In dieser Hinsicht bestimmt Art. 116 der Reichsverfassung von 1919: ‚Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.’ § 2 Abs. 1 StGB und Art. 116 RVerf. besagen nicht dasselbe. Während sich Art. 116 RVerf. damit begnügt, dass ‚die Strafbarkeit’ der Handlung gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde (nullum crimen sine lege), fordert § 2 Abs.1 StGB, dass ‚diese Strafe’ (sc. die für die Handlung erkannt werden will) gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde (nulla poena sine lege). Art. 116 RVerf. hat also nicht etwa den § 2 Abs. 1 StGB aufgehoben, sondern – freilich nicht in seinem ganzen Umfange – verfassungsrechtlich bestätigt. Kraft Verfassungsrechts ist nunmehr festgelegt, dass keine Handlung, nachdem sie begangen worden ist, zur strafbaren Handlung, zum Verbrechen, gestempelt werden darf, während es verfassungsrechtlich zulässig wäre, die früher angedrohte Strafe nachträglich gesetzlich zu ändern oder von vornherein die Strafe richterlichem Ermessen zu überlassen. Das Reichsgericht lässt leider in der Frage eine klare Stellungnahme vermissen. ‚Besonders bedenklich ist E.V 56, 318: nach dieser soll § 2 Abs. 1 StGB durch den engeren Art. 116 RVerf. aufgehoben sein und diese sichtliche Rechtsverschlechterung dazu führen, dass heute Strafgesetze mit unbestimmter Höchststrafe als zulässig zu erachten sind.’“ Mezger begründet den normativen Sinn und die Reichweite des Art. 116 WRV nicht nach dem subjektiven Gesetzgeberwillen, sondern nach dem unterschiedlichen Wortlaut von Art. 116 WRV und § 2 Abs. 1 StGB. Das unterscheidet sich grundsätzlich von der Ansicht der inhaltlichen Identität. Nach Mezger besteht das Gesetzlichkeitsprinzip in der Fassung des § 2 Abs.1 StGB aus zwei Teilen: die Bestimmtheit des Verbrechens und die Bestimmtheit der Strafe. Er hat zudem gezeigt, dass Art. 116 WRV nur die Bestimmtheit des Verbrechens enthält. Daher fordert Art. 116 WRV als Grundsatz nulla poena sine lege nur die Bestimmtheit der Verbrechen und ihrer Strafbarkeit und verbietet es dem Gesetzgeber, die nicht strafbare und zulässige Handlung nachträglich als strafbar zu bestimmen. Aber es ist nicht klar, ob er es auch verbietet, dass der Gesetzgeber eine der strafbaren Hand-

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lung entsprechende Strafe nachträglich verschärft und der Strafrichter sie rückwirkend anwendet. Verfassungsrechtlich bestünde diese Möglichkeit. Die Meinung von Mezger ist sehr interessant, um das normativ-praktische Wesen des Art. 116 WRV objektiv zu analysieren.

VI. Der Grundsatz nulla poena sine lege nach dem Zweiten Weltkrieg Oben wurden die Entstehungsgeschichte des Art. 116 WRV, die Rechtsprechung des Reichsgerichts und die Ansichten der zeitgenössischen Strafrechtslehre zu dieser Vorschrift dargestellt und analysiert. Kann man nach dieser Analyse behaupten, die Auffassung, der Grundsatz nulla poena sine lege habe in § 2 Abs. 1 StGB 1871 gegolten, bis er mit der nationalsozialistischen Gesetzgebung vom 29. März 1933, der sog. lex van der Lubbe, ausgehebelt wurde, sei zumindest ungenau? Die „lex van der Lubbe“ schrieb zwar ausdrücklich in § 1 vor, § 5 der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 (Rgbl. I.83) gelte auch für Taten, die in der Zeit zwischen dem 31. Januar und dem 28. Februar 1933 begangen worden sind. Daher kann nicht geleugnet werden, dass dieses Gesetz die Weichen vom Rechtsstaat zum Unrechtsstaat stellte und damit ein (erstes) Symbol für die nationalsozialistische Strafgesetzgebung war. Aber damit auch die Frage der verfassungsrechtlichen Vereinbarkeit dieses Gesetzes mit der WRV zu beantworten, wäre vorschnell. Vielmehr kann die „lex van der Lubbe“ als eines von mehreren konsequenten Ergebnissen einer kontinuierlichen Strafrechtsgeschichte angesehen werden, die ihr vorausging und sie überhaupt erst ermöglichte.32 Vertritt man die Theorie, der deutsche Rechtsstaat und die liberalrechtsstaatlichen Strafrechtsgrundsätze seien durch die faschistische Diktatur, ihre unrechtsstaatliche Strafgesetzgebung und die autoritären Strafjuristen im Dritten Reich aufgehoben und erst mit dem Reinigungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut und regeneriert worden, verdeckt dies die geschichtliche Wahrheit. Ginge man davon aus, dass die theoretisch-praktischen Beziehungen zwischen dem nationalsozialistischen Strafrecht und dem Nachkriegsstrafrecht durchgehend unterbrochen waren, würde es sich verbieten, das vergangene und gegenwärtige Strafrecht in eine kontinuierliche Geschichte einzufügen und die Beziehungen der beiden noch genauer zu betrachten. Da es solche Verdeckungen und Verhinderungen geben kann, müssen die Strafrechtslehren und Strafgesetzgebungen vor und nach dem Dritten Reich noch kritisch analysiert werden. 32

Naucke (Fn.6), a.a.O., S.283.

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Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und mit dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurde zwar die „lex van der Lubbe“ durch Art. 2 des Kontrollratsgesetzes Nr. 11 von 1946 aufgehoben. § 2 Abs. 1 StGB, der 1935 reformiert wurde und die analoge Anwendung der Strafgesetze ermöglicht hat, wurde durch Art. 1 des Kontrollratsgesetz Nr. 11 aufgehoben. Aber das Kontrollratsgesetz hat einerseits gesetzliches Unrecht im Dritten Reich beseitigt, andererseits die alten Fassung des § 2 Abs. 1 StGB vor der Reform von 1935 nicht wieder eingeführt.33 § 2 Abs. 1 StGB war damit lückenhaft. In der Bundesrepublik Deutschland wurde der Grundsatz nulla poene sine lege erst mit Art. 103 Abs. 2 GG wieder eingeführt. Es war dann das dritte Strafrechtsänderungsgesetz von 1953, das den Grundsatz nulla poena sine lege in den § 2 Abs. 1 StGB wieder einführte. Aber auch diese beiden Vorschriften waren mit dem Art. 116 WRV formell fast identisch. Daher könnte sich das Problem, auf das Heinze und Düringer bereits mit ihrem Verfassungsentwurf im Unterausschuss des Weimarer Verfassungsausschusses hingewiesen haben, auch im Grundgesetz und Strafgesetz nach dem Zweiten Weltkrieg verstecken. Das rechtsstaatliche Strafrecht wäre in der politischen Verwandlung zerbrechlich geblieben. Hans Welzel hat die theoretische Situation des Grundsatzes nulla poena sine lege in der Bundesrepublik Deutschland offen angesprochen.34 Während der Grundsatz nullum crimen sine lege die gesetzliche Bestimmung der Strafbarkeit fordert – also auch absolut unbestimmte Strafdrohungen zulässt – geht der Satz nulla poena sine lege darüber hinaus und verlangt auch gesetzliche Bestimmtheit der Verbrechensfolge, d.h. nach Art und Rahmen mindestens relativ bestimmte Strafdrohungen. Art. 103 I GG (wie schon Art. 116 WRV) umkleidet den ersten Grundsatz mit den erhöhten verfassungsrechtlichen Garantie: „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“ So nun auch die gegenwärtige Fassung des § 2 nach dem 3. StrÄG. Eine gesetzlich nicht einmal relativ – durch Art und Strafrahmen – bestimmte Strafe, wie sie § 27 Ziff. 1 in der Fassung vom 6.2.1924 in Gestalt der Geldstrafe von unbeschränkter Höhe vorsieht, war und ist darum verfas-

33 Art. 4 des Kontrollratsgesetz Nr.11 Aufhebung einzelner Bestimmungen des deutschen Strafrechts vom 30.Januar 1946 lautet: Die Aufhebung der … bezeichneten Vorschriften und Bestimmungen setzt frühere Gesetze, die durch die hierdurch aufgehobenen Vorschriften und Bestimmungen aufgehoben worden sind, nicht wieder in kraft. 34 Hans Welzel, Das Deutsche Strafrecht – Eine systematische Darstellung, 11. neu bearbeitete und erweiterte Aufl., 1969, S.19f. Mezger hat in seinem Lehrbuch nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben, dass Art. 103 II GG das Verbot der rückwirkenden Bestrafung fordert und er mit der alten Fassung vom § 2 Abs.1 StGB inhaltlich identisch ist. Dazu Mezger, Strafrecht 1, Allgemeiner Teil – Ein Studienbuch, 1952, S.27f.

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sungsrechtlich zulässig: RGSt 56, 318. Relativ unbestimmte Strafdrohungen finden sich in § 19 JGG. Die Väter des GG beabsichtigten allerdings keine Änderung gegenüber der ursprünglichen Fassung des § 2, so dass in Art. 103 GG die Bestimmtheit der Strafbarkeit, die der Strafe mit umfassen sollte (BVerfG, Beschluss vom 26.2.1969; BVerfGE 25, 295). Dennoch nimmt die h.L. an, dass die Androhung einer Geldstrafe in unbestimmter Höhe mit Art. 103 Abs. 2 vereinbar sei! BGHSt 3, 262; Schwarz-Dreher, § 2, 1Bc; Maurach AT § 62 B2; nach BGHSt 13, 190 soll sogar die Androhung „jeder gesetzlich zulässigen Strafe“ (außer der Todesstrafe) hinreichend bestimmt sein – m.E. eine völlige Aushöhlung des Begriffes der gesetzlichen Bestimmtheit! Mehr Erläuterung bedarf es dazu nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar beschlossen, dass Art. 103 Abs. 2 GG die Voraussetzungen bestimmt, unter denen ein Verhalten für strafbar erklärt werden kann, und er sowohl die rückwirkende Strafbegründung wie die rückwirkende Strafverschärfung verbietet,35 es besteht aber das Problem in der Bundesrepublik Deutschland weiterhin, dass über den normativ-praktischen Sinn und den Anwendungsbereich des Art. 116 WRV nicht ausreichend diskutiert wurde, insofern man den Art. 103 Abs. 2 GG auslegen kann wie Welzel. In der Bundesrepublik Deutschland ist es zu dem drastischen Zwischenfall wie der Reichstagsbrandstiftung nicht gekommen, der eine Verwandlung des politischen und sozialen Systems nach sich zog. Die relative Sicherheit des politischen und wirtschaftlichen Sozialsystems hat die Sicherheit der Strafgesetzesauslegung und ihrer Anwendung garantiert und die rückwirkende Anwendung einer nachträglich verschärften Strafe war nicht nötig. Die „praktische Bedeutung“ von Art. 103 Abs. 2 GG und von § 1 StGB (§ 2 Abs. 1 StGB 1953) musste nicht getestet werden.36 Aber die Frage muss erlaubt sein, ob hierin nicht ein Stückchen Glut glimmt, das sich unter politisch ungünstigeren Rahmenbedingungen zu einem großen Feuer ausweiten kann.

VII. Fazit Mit der obigen geschichtlichen Skizze des Grundsatzes nulla poena sine lege hätte diese Betrachtung enden können. Die Bedeutung des Grundsatzes 35 BverfGE 25, 269ff., 286, Beschluss vom 26.02.1696 – 2 BvL 15/68, 2 Bvl 23/68 BVerfGE 105, 135ff., 153, 155 – Beschluss vom 20.03.2002, 2 BvR 794/95. 36 Naucke (Fn.6), a.a.O.,S.290f. Heute ist es „ganz herrschende Meinung“ (Gerhard Dannecker, Leipziger Kommentar, 12. Aufl., Bd. 1, 2007, § 1, Rn. 400 mit Fn. 1503, und Rn. 89 mit Fn. 331), dass Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB jeweils mit „Strafbarkeit“ auch „Strafe“ meine. Die alte Wortlautdifferenz besteht weiter, weil Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK das Rückwirkungsverbot ausdrücklich auch auf die „angedrohte Strafe“ bezieht.

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nulla poena sine lege wurde vor dem Hintergrund diskutiert und verstanden, dass seit moderner Zeit autonome Bürger als Rechtssubjekte dem von ihnen gewählten Gesetzgeber die Befugnis verleihen, nur ein klares Gesetz über Verbrechen und Strafe zu geben, um ihre persönlichen Freiheiten und Rechte gegen Verbrecher und willkürliche Rechtsanwender zu schützen. Dabei wurde zunächst nicht der Gesetzgeber als die Person angesehen, der seine gesetzgebende Strafmacht dazu missbrauchen könnte, ein rückwirkend anwendbares Strafgesetz zu geben und bürgerliche Freiheiten und Rechte zu gefährden. Die Gefahr von Willkür und Missbräuchlichkeit wurde vielmehr beim Strafrichter gesehen. Daher musste der Grundsatz nulla poena sine lege rechtsnormativ immer auf ihn gerichtet werden. Aber es ist allgemein bekannt, dass nicht nur Strafrichter, sondern auch der Strafgesetzgeber seine Befugnisse im 20. Jahrhundert missbrauchte, indem er die rechtsstaatlichen Strafrechtsgrundsätze der jeweiligen politischen Macht unterordnete. Die Nationalsozialisten „ergriffen“ die politische Macht im Januar 1933 und konnten in der Folge auch die gesetzgebende Gewalt übernehmen. Schließlich bildeten der Führerwille und die nationalsozialistische Weltanschauung die einzige Rechtsidee und Rechtsquelle als entscheidendes Gesetzgebungs- und Rechtsanwendungskriterium. Um diesen selbst Gesetzeskraft zu verleihen, sie für die Auslegung der bestehenden Gesetze heranzuziehen und damit die Rechtsanwender zu binden, haben Rechtsphilosophen wie Schmitt und Larenz die Lehren vom konkreten Ordnungsdenken und die von den konkret-allgemeinen Begriffen vorgelegt. Sie bezogen sich dabei auf Schlagworte aus dem Parteiprogramm der NSDAP, wie Volk, Rasse, Wesen, Einheit usw., um sich selbst den Nationalsozialisten anzudienen. Als solche Strafrechtslehrer sind Dahm, Schaffstein und Henkel, aber auch Mezger, Welzel, Gallas und Sauer usw. zu nennen, deren Strafrechtslehren sehr nationalsozialistisch geprägt waren. Materiell rechtswidriges Handeln wurde als Handeln gegen die deutsche nationalsozialistische Weltanschauung verstanden. Das Strafrecht sollte dazu dienen, die rechtliche Gesinnung aller Volksglieder zu stärken. Das deutsche Strafgesetzbuch 1871 wurde nach dem Führerwillen und der nationalsozialistischen Weltanschauung ausgelegt und angewendet. Der Wille des ursprünglichen Gesetzgebers wurde bei den geltenden Strafgesetzen nicht mehr berücksichtigt. Ersetzt wurde dieser durch die „objektiven“ Werte des Führerwillens und der nationalsozialistischen Weltanschauung, mit denen die sinnentleerten Strafgesetze aufgeladen wurden.37

37 Bernd Rüthers, Die Ideologie des Nationalsozialismus in der Entwicklung des deutschen Rechts von 1933 bis 1945, S.17ff., Heinz Wagner, Das Strafrecht im Nationalsozialismus, S.141ff., Wolfgang Naucke, NS-Strafrecht als Teil einer längeren Entwicklungslinie im Straf-

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Nach der Reichstagsbrandstiftung war es der Führerwille gewesen, den Angeklagten Marinus van der Lubbe zum Tode zu verurteilen. Daran hinderte § 2 Abs. 1 StGB. Für den Führer mussten § 2 StGB und der an dessen Stelle gesetzte Art. 116 WRV überwunden werden. Um den Führerwillen in diesem Fall durchzusetzen, musste die nationalsozialistische Strafrechtsmethode nicht so fanatisch sein wie die Lehren vom konkreten Ordnungsdenken oder die von den konkret-allgemeinen Begriffen. Das war in diesem Fall nicht einmal erforderlich. Allein die gesetzgebungstechnische Hilfe des Staatssekretärs im Reichsjustizministerium Franz Schregelberger und die teleologischen Begriffsbildungstheorie reichten aus. Hitler scheint die Strafjuristen als unflexible Gesetzesformalisten oder Gesetzespositivisten angesehen und sie gehasst zu haben, aber sie waren in Wirklichkeit nicht so eigensinnig wie er dachte. Oetker, Nagler und von Weber, die die Gutachten zum Reichstagsbrandprozess unterzeichnet haben, waren den faschistischen Machthabern keineswegs unfreundlich gesinnt. Sie bereiteten vielmehr willfährig den Boden, um der neuen politischen Stimme in die Richterrobe zu helfen. Für diese drei prominenten Strafwissenschaftler war es nicht schwierig, die praktische Möglichkeit im Art. 116 WRV zu finden, das nachträglich verschärfte Strafgesetz rückwirkend anzuwenden.38 recht?, S.233ff., in: Franz Jürgen Säcker (Hrsg.), Recht und Rechtslehre im Nationalsozialismus, 1992. 38 Gutachten zum Reichstagsbrandprozess von Friedrich August Oetker, Johannes Nagler und Helmuth von Mayer, in: Norbert Brieskorn, Paul Mikat, Daniela Mueller und Dietmar Willoweit (Hrsg.), Vom mittelalterlichen Recht zur neuzeitlichen Rechtswissenschaft, Bedingungen, Wege und Probleme der europäischen Rechtsgeschichte, 1994, S.452ff. (Bundesarchiv Koblenz R 43 II/1514 verkleinerte Abbildung des Originals). Die drei Gutachter haben geschrieben: „Die Frage, ob eine rückwirkende Strafverschärfung nach der Reichsverfassung zulässig oder nur auf Grund eines verfassungsändernden Gesetzes möglich ist, ist streitig. Nach § 2 Abs. 1 StGB kann nur die Strafe erkannt werden, welche nach Grund und Maß gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde, während Art. 116 R.V. nach seinem Wortlaut nur voraussetzt, dass die Tat z.B. ihrer Verübung überhaupt strafbedroht war. Ob die abweichende Fassung des Art. 116 R.V. eine sachliche Änderung in sich schließen wollte, lässt sich nach den Protokollen der Nationalversammlung nicht eindeutig entscheiden. Das Reichsgericht hat sich öfter in diesem Sinn ausgesprochen. Insbesondere hat es in Bd. 56. Entsch.1. Strafsachen auf S.319 ausgeführt, dass Art. 116 R.V. nur die gesetzliche Festlegung der Möglichkeit einer Bestrafung erfordere, keineswegs aber zum Ausdruck bringe, dass das zur Zeit der Begehung der Tat geltende, eine bestimmte Strafart androhende Gesetz einen bestimmten Strafrahmen haben müsse. Freilich hat der Oberste Gerichtshof die Zulässigkeit einer rückwirkenden Strafverschärfung bisher noch nicht ausdrücklich bejaht. Er hat zu einer solchen Stellungnahme noch gar keine Gelegenheit gehabt. Es ist indessen anzunehmen, dass er in folgerichtiger Weiterentwicklung der bisher von ihm aufgestellten Prinzipien die rückwirkende Strafverschärfung auf Grund eines einfachen Gesetzes zulassen muss, gestützt auf die Änderung der Fassung die Art. 116 R.V. gegenüber § 2 Abs. 1 StGB bringt und die auch nach unserer Ansicht auf eine inhaltliche Verschiedenheit der beiden genannten Gesetze zu schlie-

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Wenn man sich diese geschichtliche Erfahrung vergegenwärtigt, wird umso deutlicher, dass der Satz nulla poena sine lege der Strafrechtsgrundsatz ist und sein muss, der stets nicht nur den Strafrichter, sondern auch den Strafgesetzgeber restriktiv binden muss, um ihre Strafmacht zu begrenzen. Er ist ein Kerngrundsatz des rechtsstaatlichen Strafrechts, den die Strafrechtsgeschichte auf manche harte Probe stellte und der erst nach ausdauernden Bemühungen um bürgerliche Freiheiten und Rechte errungen werden konnte. Er muss durch ständige Bemühung erhalten werden. Die Strafrechtsgeschichte soll erforscht werden, um nicht nur die strafrechtlichen Ergebnisse vergangener Zeiten zu erkennen, sondern die gegenwärtige Situation der bürgerlichen Freiheiten und Rechte im modernen Strafrecht ans Licht zu bringen und dann auf ihre zukünftige Entwicklung zu blicken. In diesem Sinne muss die Strafrechtsgeschichte, insbesondere die Geschichte des Grundsatzes nulla poena sine lege, noch kritischer erforscht werden.

ßen zwingt, dergestalt, dass Art. 116 R.V. sich nur mit dem ‚Ob’ der Bestrafung, § 2 Abs. 1 StGB dagegen sowohl mit dem ‚Ob’ wie mit dem ‚Wie’ der Bestrafung befasst. Im praktischen Ergebnis lauft die Differenzierung darauf hinaus, dass es zur nachträglichen Strafbarerklärung einer z.Zt. der Begehung straflosen Handlung eines verfassungändernden Gesetzes, hingegen zur nachträglichen Veränderung des zur Verfügung stehenden Strafrahmens lediglich eines einfachen Gesetzes bedarf.“ Es war in der Absicht der Weimarer Nationalversammlung klar, dass der Art. 116 WRV vom § 2 Abs. 1 StGB nicht abweicht und keine sachliche Änderung in sich schließt. Aber für konformistische Strafjuristen war es offensichtlich nicht schwierig, den Art. 116 WRV abweichend von der Gesetzgeberabsicht auszulegen.

Ungerechtigkeit, Unrecht und Unglück1 Einige Anmerkungen zum Thema Gerechtigkeit aus Anlass studentischer Erfahrungen von Ungerechtigkeit ERHARD KAUSCH

I.

Einleitung

V.

Ungerechtigkeitserfahrungen im Studium

II.

Ungerechtigkeit und Unglück

VI.

Gerechtigkeit als Tugend – Gerechtigkeit und Glück

Unrecht wohl – aber auch Ungerechtigkeit?

VII.

Ungerechtigkeiten, die kein Unrecht sind – unzutreffende Vorwürfe

Überblick über die Lebensbereiche der berichteten Ungerechtigkeiten

VIII.

Schlussbemerkung

III.

IV.

I. Einleitung Studierende der Sozialarbeit/Sozialpädagogik stehen zumindest zu Beginn ihres Studiums dem Recht und der Rechtswissenschaft oft skeptisch gegenüber; andererseits ist das Verlangen, für den Wert der Gerechtigkeit einzutreten, eines der wesentlichen Motive für ihre Studienwahl. Zu vermitteln, dass und auf welche Weise das Recht hierzu dienlich sein kann, gehört daher zu den vornehmsten Aufgaben eines Rechtslehrers an einem Fachbereich Sozialwesen, der sich der Jubilar während seiner Münsteraner Jahre

1 Überarbeitete und mit Anmerkungen versehene Fassung meiner Abschiedsvorlesung vom 25.4.2007 am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Münster, dem der Jubilar von 1976 bis 1993 ebenfalls angehörte. Die Vortragsform wurde nach Möglichkeit beibehalten.

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Erhard Kausch

mit großem Engagement, großer Glaubwürdigkeit und einem (allerdings nicht nur) daraus resultierenden großen Lehrerfolg angenommen hat. In einer Reihe von interdisziplinären Seminaren zu sozial- und rechtsphilosophischen Themen1 wurden die Studierenden zur „Einstimmung“ und, um etwas über ihr Verständnis von Gerechtigkeit zu erfahren, aufgefordert, sich zu den folgenden Fragen kurz schriftlich zu äußern: 1.

Wann und aus welchem Grund haben Sie sich das letzte Mal ungerecht behandelt gefühlt?

2.

Welches war die schlimmste Ungerechtigkeit, die Ihnen bisher widerfahren ist?

3.

Welches ist Ihrer Meinung nach die größte Ungerechtigkeit der letzten Jahre ganz allgemein gewesen?

Hätten wir gefragt, was die Studierenden unter Gerechtigkeit verstehen, oder sogar um eine Definition gebeten, so hätten sich vermutlich die meisten damit schwer getan und die Antworten wären sehr abstrakt ausgefallen.2 Fragt man dagegen, was Menschen als ungerecht ansehen, so öffnet man Schleusen. Denn wir haben alle ein hoch entwickeltes Empfinden für Ungerechtigkeiten, die uns widerfahren oder anderen, mit denen wir uns solidarisieren, und dies auch ohne einen expliziten Begriff von Gerechtigkeit. Es gibt wenig, worauf wir gefühlsmäßig so spontan und heftig reagieren wie auf tatsächliche oder vermeintliche uns angetane Ungerechtigkeiten. Der 1996 verstorbene Münsteraner Philosoph Hans Blumenberg hat dies einmal pointiert so ausgedrückt:3 Eigentlich beschäftigen nur zwei Fragen die Menschen: „Warum gerade ich?“ und: „Warum ich nicht auch?“

1 SS 2004 – WS 2006/07, überwiegend Gemeinschaftsveranstaltungen mit N. Rath (Philosophie, Fachbereich Sozialwesen Fachhochschule Münster) und J.-M. Priester (Rechtswissenschaftliche Fakultät Universität Münster), so dass unter den Befragten auch Studierende der Rechtswissenschaft waren. Die Fachbereichszugehörigkeit wurde allerdings nicht abgefragt. 2 Schon Aristoteles nimmt zum Ausgangspunkt seiner Analyse der Gerechtigkeit die Bedeutungen des Ausdrucks „ungerecht“ (Nikomachische Ethik V, 2, 1129a, übersetzt und hrsg. von U. Wolf, 2006). Vgl. auch seine methodischen Vorbemerkungen in V, 1, 1129a, 16ff. Vgl. ferner J. St. Mill, Utilitarianism/Der Utilitarismus, hrsg. v. D. Birnbacher, 2006, S. 129: „…denn wie viele andere Moralbegriffe lässt sich die Gerechtigkeit am besten durch ihr Gegenteil definieren…“. 3 Wenn meine Erinnerung zutrifft, in der Vorlesung „Philosophische Eschatologie“ im SS 1981.

Ungerechtigkeit, Unrecht und Unglück

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Dass unsere Befragung nicht den Standards empirischer Sozialforschung entspricht, ist offenkundig. Unsere Absicht war auch nur, einen Einstieg zu bieten, durch den die Studierenden sich unmittelbar angesprochen fühlen konnten und der die Hemmschwelle für eigene Beiträge herabsetzte. In den Kategorien des Sozialwesens gesprochen: Wir haben uns methodisch auf Selbsterfahrung gestützt und dabei ein niederschwelliges Angebot gemacht. Im Folgenden geht es mir nicht um eine vollständige Auswertung der Befragungen, weder in Bezug auf die darin zum Ausdruck kommenden Gerechtigkeitsvorstellungen noch bezüglich der Lebensumstände der Studierenden, die sich in den Antworten spiegeln. Beides wird natürlich eine Rolle spielen, aber ich möchte, wie sich schon im Titel der Vorlesung andeutet, die Antworten in erster Linie zum Ausgangspunkt nehmen für einige Unterscheidungen und Erläuterungen, die Gerechtigkeitsfragen vielleicht etwas durchsichtiger machen können.

II. Ungerechtigkeit und Unglück Unter den Antworten, die die Studierenden auf die Frage nach der schlimmsten Ungerechtigkeit, die ihnen widerfahren sei, gegeben haben, finden sich auch die folgenden: ƒ Eine lebensbedrohliche Erkrankung ƒ Tod der Mutter ƒ Tod oder schwere Krankheit von Menschen, die ich liebe. ƒ Selbstmord meines Bruders vor zwei Jahren vor meinen Augen. Eines der schlimmsten und ungerechtesten Gefühle, die ich je verspürt habe (Machtlosigkeit). ƒ Allgemein die größte Ungerechtigkeit war, auch wenn niemand wirklichen Einfluss darauf hatte, oder wenn man es niemandem vorwerfen kann, als meine Freundin bei einem Autounfall ums Leben kam. Sie war der letzte Mensch, der es in irgendeiner Weise verdient hätte. ƒ Keine Polizistenausbildung wegen schlechter Augen ƒ Dass ich kein Abitur machen konnte, da ich Legasthenie habe und keine zweite Fremdsprache gelernt habe. Von der Struktur her gleichartig, wenn auch nicht auf Ereignisse bezogen, die den Studierenden selbst widerfahren sind, sind Aussagen wie die: ƒ Besonders ungerecht fand ich die Erkrankung eines behinderten Mannes an Leukämie. Dieser Mann hatte schon sehr stark mit seiner Behinderung zu kämpfen. ƒ Dass manchen Menschen so viel Leid und Ungerechtigkeit auf einmal im Leben passiert, die es nicht verdienen (subjektiver Standpunkt), anderen aber nicht.

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ƒ

Dass die Medizin noch nicht so weit fortgeschritten ist, dass die tödlichen Krankheiten geheilt werden können (Aids, Krebs). Man ist zunächst betroffen, dass junge Menschen bereits von so vielem schweren Leid berichten. Man versteht auch, warum die Studierenden solche Ereignisse anführen, und doch zögert man, hier von Ungerechtigkeit zu sprechen. Warum? Dazu möchte ich zunächst fragen: Welche Elemente sind den Fallkonstellationen gemeinsam, in denen wir uns einig sind, dass die Bewertung „gerecht“ oder „ungerecht“ zutreffend auf sie angewandt wird. Aristoteles, auf den die erste umfassende Analyse der Gerechtigkeit zurückgeht, hat eine Art Morphologie, eine Einteilung der Erscheinungsformen der Gerechtigkeit, vorgenommen, die noch immer aussagekräftig ist, auch wenn sich manches an ihren Voraussetzungen geändert hat, nämlich die Unterscheidung zwischen austeilender und ausgleichender Gerechtigkeit, lateinisch iustitia distributiva und iustitia commutativa.4 Zur besseren Übersicht soll das folgende Schema dienen, dass die aristotelische Einteilung in vereinfachter Form auf gegenwärtige Verhältnisse überträgt.5 Spezielle Gerechtigkeit austeilende Gerechtigkeit

Austauschgerechtigkeit

(Zivilrechtlicher) Ausgleich durch Schadensersatz bei Vertragsverletzungen und unerlaubten Handlungen

ausgleichende Gerechtigkeit

Ausgleich durch Vergeltung bei Straftaten

[Ausgleich durch informelle Sanktionen (Missachtung usw.) bei informellen Normverstößen]

4 Nikomachische Ethik V, 4 – 9. Dies sind nach Aristoteles die Formen der „speziellen“ Gerechtigkeit. Zur „allgemeinen“ Gerechtigkeit vgl. u. II. 5 Zu den Einzelheiten der aristotelischen Unterteilung der speziellen Gerechtigkeit vgl. nur die Erläuterungen bei P. Trude, Der Begriff der Gerechtigkeit in der aristotelischen Rechtsund Staatsphilosophie, 1955, S. 89ff.; G. Bien, Gerechtigkeit bei Aristoteles, in: O. Höffe (Hrsg.), Aristoteles, Nikomachische Ethik (Klassiker Auslegen 2), 2. Aufl. 1995, S. 135ff., 145ff.; U. Wolf, Aristoteles´»Nikomachische Ethik«, 2002, S. 94, 100 ff. Kritisch zum Wert dieser Unterscheidungen K. F. Röhl, Die Gerechtigkeitstheorie des Aristoteles aus der Sicht sozialpsychologischer Gerechtigkeitsforschung, 1992, S. 52f: „... letztlich nur verwirrend“.

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Bei der austeilenden Gerechtigkeit geht es um die Frage, nach welchem Maßstab Vorteile und Lasten in einer Gemeinschaft zu verteilen sind. Bei der ausgleichenden Gerechtigkeit geht es zum einen um die Austauschgerechtigkeit, das heißt die Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung bei Verträgen, die wir allerdings im Rahmen der Vertragsfreiheit weitgehend dem Markt überlassen. Oder es geht, wenn jemand sich durch Schädigung anderer einen Vorteil verschafft hat, um die Herstellung eines Ausgleichs, sei es durch Bestrafung des Schädigers, sei es durch die Festlegung von Schadensersatz für den Geschädigten. Der Ausgleich von Verstößen gegen informelle Normen durch informelle Sanktionen kommt bei Aristoteles noch nicht vor, was ich durch die gestrichelte Linie anzudeuten versucht habe. Er gehört aber der Sache nach hierher. Ich gehe davon aus, dass diese Differenzierung insofern vollständig ist, als jeder gerechtigkeitsrelevante Fall sich entweder dem Bereich der austeilenden oder der ausgleichenden Gerechtigkeit zuordnen lässt. Gegenstand von Urteilen über Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit können dabei sein: x Einzelne Normen oder eine ganze Normenordnung bzw. die Gesamtheit der Verhältnisse einer Gesellschaft, die sich auf die Verteilung von Vorteilen und Lasten bzw. den Ausgleich von Unrecht auswirken, x Einzelfallentscheidungen, durch die verteilt oder ein Unrechtsausgleich vorgenommen wird. Aber wir sagen auch von einem Menschen, er sei gerecht, wenn seine Entscheidungen und Handlungen regelmäßig dieses Prädikat verdienen. Wir sprechen ihm damit die Tugend der Gerechtigkeit zu.6 Ein letztes wichtiges Element von Gerechtigkeitskonstellationen ist noch anzuführen. Wir verwenden das Prädikat „gerecht“ oder „ungerecht“ nicht für alle Handlungen, die für andere vorteilhaft oder nachteilig sein können, sondern wir hegen die Erwartung der Gerechtigkeit nur gegenüber denjenigen, die sich in einer Position befinden, in der sie eine Entscheidung über die Verteilung von Vorteilen und Lasten oder über Unrechtsausgleich zu treffen haben. Das sind zum einen alle, die an der Normsetzung beteiligt sind. Es sind weiterhin diejenigen, die Normen im Einzelfall anzuwenden haben, und zwar auch, soweit es sich um informelle oder um selbstgesetzte Normen handelt, man denke etwa an Gleich- oder Ungleichbehandlung von Kindern durch Eltern. Ich möchte dies alles zusammenfassend als funktio6 Zu den möglichen Gegenständen des Gerechtigkeitsurteils vgl. R. Dreier, Recht und Gerechtigkeit, in: D. Grimm (Hrsg.), Einführung in das Recht, 2. Aufl. 1991, S. 101.

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nelle Richterposition bezeichnen, funktionell deshalb, weil dazu nicht erforderlich ist, dass es sich um einen Richter im Sinne der Rechtsordnung handelt; jedermann ist immer wieder in dieser Situation. Und auch die Aufgabe des Normgebers lässt sich beschreiben als die eines Richters über Interessenkonflikte auf einer allgemeinsten Ebene. Damit ist allerdings noch nichts darüber ausgesagt, welchen inhaltlichen Anforderungen Normen oder Entscheidungen bzw. Handlungen entsprechen müssen, damit man ihnen das Prädikat gerecht zusprechen kann. Was ergibt sich aus alledem für unsere Fragestellung? Kennzeichnend für die wiedergegebenen Leiderfahrungen, in denen die betroffenen Studierenden die schlimmste ihnen widerfahrene Ungerechtigkeit gesehen haben, ist, dass sie – sieht man einmal von dem Verkehrsunfall ab – nicht das Ergebnis menschlichen Handelns oder Unterlassens sind. Wir finden keines der Elemente wieder, die wir als konstitutiv für Gerechtigkeitssituationen angesehen haben. Es geht weder um die Verteilung von Lasten in einer Gemeinschaft noch um die Auferlegung eines Ausgleichs für Schädigungen. Die Behauptung, etwas sei ungerecht, ist nicht einfach eine beschreibende Feststellung, sondern sie enthält immer zugleich eine Kritik an einer zuteilenden Instanz. Wo sich aber Leid und Benachteiligungen jeglichem menschlichen Einfluss entziehen, wo sich die Forderung nach Gerechtigkeit an niemanden richten kann, der ihr entsprechen könnte, dort macht es keinen Sinn, von Ungerechtigkeit zu sprechen. Schicksal, Schicksalsschlag, Unglück oder Zufall sind daher die Ausdrücke, in denen wir üblicherweise zum Ausdruck bringen, dass wir solchen Ereignissen ohnmächtig gegenüberstehen, hilflos ausgesetzt sind.7 Wer ein unverschuldetes Unglück, einen Schicksalsschlag außerhalb menschlicher Einflussmöglichkeiten als ungerecht empfindet – und zumindest insgeheim tut dies fast jeder –, der unterstellt implizit, es gebe eine Weltordnung als Ganzes, in der ein wie immer geartetes höheres Wesen eine Richterposition einnimmt und Glück und Unglück zuteilt, und dieses zuteilende Wesen habe in dem Fall, von dem man betroffen ist, den falschen Maßstab angewandt. Man würde es sich allerdings zu leicht machen, begnügte man sich damit, den studentischen Aussagen nur zu bescheinigen, ihnen liege eine unzureichende Vorstellung von Gerechtigkeit zugrunde, die zu einer Vermischung der Begriffe Ungerechtigkeit und Unglück führe. Die Vorstellung von der Ungerechtigkeit des Schicksals wurzelt nämlich in einem uralten Deu7 Zum Verhältnis von Gerechtigkeit und Unglück bzw. Schicksal vgl. J. Shklar, Über Ungerechtigkeit, 1992; B. Rössler, Unglück und Unrecht – Grenzen von Gerechtigkeit im liberaldemokratischen Rechtsstaat, in: H. Münkler/M. Llanque (Hrsg.), Konzeptionen der Gerechtigkeit, 1999, S. 347ff.; S. Gosepath, Sind die Götter gerecht? Gerechtigkeit und Schicksal, in: Der Blaue Reiter: Was ist gerecht? (Journal für Philosophie Nr. 19), 2004, S. 16 ff.; W. Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, 2000, S. 16 ff.

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tungsmuster, das offenbar einem elementaren anthropologischen Bedürfnis entspricht, nämlich der Sehnsucht, dass es in der Welt letztendlich gerecht zugehe, dass die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden, dass tugendhaftes Handeln sich auszahlt und das Böse eine Niederlage erleidet, und sei es erst am Ende aller Tage.8 Nun stößt sich allerdings die Sehnsucht nach einer gerechten Welt an einer Wirklichkeit, in der weder die Art, wie die Natur ihre Gaben und Heimsuchungen verteilt, noch die von Menschen gemachten Verhältnisse die Erfahrung vermitteln, dass zwischen moralischer Anstrengung und glücklichem Leben eine enge Korrespondenz besteht. Der Gedanke, dass mit den so offensichtlich ungerechten Zuständen auf dieser Welt das letzte Wort gesprochen sein könnte, war und ist jedoch offenbar so unerträglich, dass ein nicht geringer Teil der intellektuellen Anstrengungen, die Menschen auf die Deutung und Sinngebung von Dasein und Welt verwendet haben, darin besteht, zu zeigen, dass letztlich doch die Gerechtigkeit triumphiere. Es sind zunächst die Religionen, die uns versichern, dass höhere Mächte, ein Gott oder die Götter, für Ausgleich sorgen. Dazu müssen die religiösen Lehren allerdings zu allerlei Hilfskonstruktionen Zuflucht nehmen.9 Die schlichte Gleichung, wonach jedes positive Widerfahrnis als Belohnung und jedes negative als Bestrafung anzusehen ist, wird zwar durch die Erfahrung häufig genug widerlegt, hat aber ihren Ort in unserem Gefühlshaushalt noch immer, wie sich insbesondere in der noch zu erörternden sogenannten Gerechten Welt-Hypothese zeigt. Weniger angreifbar, weil durch den Augenschein nicht zu widerlegen, ist es, wenn Belohnung und Strafe ins Jenseits verlagert werden oder wenn in der Lehre von der Seelenwanderung das gegenwärtige Leben als Ergebnis der guten und schlechten Taten eines vorangegangenen gedeutet wird. Immer bleibt aber das Problem der so genannten Theodizee, der Frage also, wie sich die Vorstellung eines allmächtigen, allwissenden und zugleich guten und gerechten Gottes mit der Unvollkommenheit der von ihm geschaffenen Welt vereinbaren lässt.10

8 Zu den frühen Zeugnissen diese Sehnsucht vgl. etwa J. Assmann, Ma´at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im alten Ägypten, 2. Aufl. 2006; ders./B. Janowski/M. Welker, Richten und Retten. Zur Aktualität der altorientalischen und biblischen Gerechtigkeitskonzeption, in: dies. (Hrsg.), Gerechtigkeit. Richten und Retten in der abendländischen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen, 1998, S. 9f. 9 Zur Entwicklung und den Erscheinungsformen religiöser Vorstellungen von Ausgleich und Strafe vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1980, S. 314ff. 10 Zum Umgang der Religionen mit dem Theodizee-Problem vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), S. 314ff.; zur philosophischen Auseinandersetzung damit S. Lorenz, Theodizee, Hist. Wörterbuch d. Philosophie, Bd. 10, 1998, Sp. 1066.

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Der früheste uns im Wortlaut überlieferte philosophische Text, zugleich der früheste uns bekannte griechische Prosatext, ein Fragment aus dem sechsten Jahrhundert v. Chr., erhebt den gerechten Ausgleich sogar zum allgemeinen Prinzip der Ordnung des Weltganzen. Es stammt von Anaximander von Milet, einem Schüler des Thales, und lautet:11 „Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit [nach der Notwendigkeit];12 denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Ordnung.“.13 Das klingt zunächst sehr dunkel und hat vielerlei mystifizierende Ausdeutung erfahren, meint aber wohl Folgendes:14 Jedes Werden führt dazu, dass anderes in seinen Entfaltungsmöglichkeiten beschränkt oder sogar in seiner Existenz verdrängt, vernichtet wird oder erst gar nicht zur Entstehung kommt. Alles, was ist, vor allem was lebt, breitet sich auf Kosten von anderem Seiendem aus; darin liegt die Ungerechtigkeit, die es begeht. Für diese Ungerechtigkeit muss es Strafe zahlen, die in seinem Vergehen, seinem Untergang besteht. Der Ausgleich geschieht durch die Zeit, die die Dauer von Werden und Vergehen festsetzt. Anaximander geht es offenbar darum, verständlich zu machen, wie die Welt trotz eines fortwährenden Veränderungsprozesses als Ganzes stabil bleibt. Dies geschieht durch Übertragung ethisch-rechtlicher Ordnungsvorstellungen auf die Natur, das Ganze des Seienden, das denn auch wenig später den Namen Kosmos – Wohlgeordnetheit – erhalten und dann als normative Forderung auf die menschlichen Verhältnisse zurückprojiziert wird.15 Die Wirklichkeit bekommt bei Anaximander den Charakter einer Rechtsordnung,16 aber es sind nicht mehr die Götter, die für Gerechtigkeit 11 H. Diels/W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, 17. Aufl. 1974 (unveränderter Nachdr. der 6. Aufl. 1951), S. 89, 12 B 1. 12 So die Übersetzung z.B. von W. Nestle, Die Vorsokratiker, o. J. (1956), S. 97, und H. Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluss, 1987, S. 133. Das griechische IJȩ Ȥȡİ‫ܣ‬Ȟ (to chreon) enthält beide Bedeutungen. Für „Schuldigkeit“ im Sinne von „verpflichtet sein“ spricht der Zusammenhang mit Strafe und Buße, für „Notwendigkeit“ der Bezug auf die Zeit als Unentrinnbarkeit des Vergehens. Ein griechisches Ohr wird immer beides gehört haben. 13 Das griechische IJȐȟȚȢ (taxis) ist die Ordnung, die durch Aufstellung (etwa einer Schlachtreihe) entsteht und daher auch die Anordnung, Festsetzung, Regelung (alle aufgeführten Varianten finden sich als Übersetzung der Textstelle), die zu dieser Ordnung führt. W. Jaeger, Paideia I, 2. Aufl. 1936, S. 217, übersetzt sogar mit „Richterspruch der Zeit“. 14 Die folgende Darstellung stützt sich auf die Interpretation von W. Jaeger, Paideia I (Fn. 14), S. 217ff., und W. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, 1978, S. 240ff. 15 Zum Verhältnis von Gerechtigkeit und kosmischer Ordnung in frühen Kulturen vgl. J. Assmann (Fn. 9), Ma´at, S. 24 ff. 16 W. Jaeger, Paideia I (Fn. 14), S. 219, spricht davon, dass der Kosmos in dieser Sicht „eine Rechtsgemeinschaft der Dinge“ sei.

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und Ausgleich sorgen, der Schritt zu einer rationaleren Welterklärung liegt darin, dass es ein Prinzip ist, ein Gesetz, das die Welt im Gleichgewicht hält. Wird dieses Gleichgewicht durch ein Unrecht gestört, so wird es mit Notwendigkeit durch Strafe wieder ins Lot gebracht. Man hat in der Vorstellung eines Automatismus von Verbrechen und Strafe in Religion und Philosophie17 den Ursprung des Kausalitätsdenkens gesehen. Hans Kelsen, einer der bedeutendsten Rechtsdenker des 20. Jahrhunderts, ist diesem Zusammenhang in einem großen, allerdings wenig beachteten Werk mit dem Titel „Vergeltung und Kausalität“18 nachgegangen. Zwar wird die spätere Philosophie den Automatismus eines Unrechtsausgleichs immer mehr in Zweifel ziehen, aber Spuren davon finden sich selbst noch bei Kant, dem großen Aufklärer. Dessen Straftheorie mit ihrem bedingungslosen Festhalten an der Vergeltung um ihrer selbst willen und an der Talion, dem Auge um Auge, Zahn um Zahn als Strafmaßprinzip, lässt sich, trotz der beachtlichen Einwände, die er gegen General- und Spezialprävention vorbringt, eigentlich nur damit erklären, dass auch für ihn noch jedes Verbrechen eine Störung der Weltordnung ist, deren Gleichgewicht nur durch Strafe wiederhergestellt werden kann:19 Man denke nur an sein berühmtes Inselbeispiel.20 Mittlerweile befasst sich auch die Sozialpsychologie mit dem Thema Gerechtigkeit.21 Ihre Ergebnisse werden allerdings von Rechtswissenschaft 17 J. Assmann hat dafür den Begriff der „konnektiven Gerechtigkeit“ eingeführt, Ma´at (Fn. 9), S. 283 ff. 18 Zuletzt 1982 als Neudruck der Ausgabe von 1941, bezeichnenderweise in einer Reihe „Vergessene Denker – vergessene Werke“ und derzeit nicht lieferbar. Zu Anaximander vgl. dort S. 241f. 19 In Korrespondenz zur Hinwendung der neuzeitlichen Philosophie auf das Subjekt als Ort der Letztbegründung entspricht der objektiven Notwendigkeit, mit der in der Vorstellung von der konnektiven Gerechtigkeit die Strafe auf die Untat folgt, bei Kant die als kategorischer Imperativ verstandene Pflicht zu strafen (vgl. I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, § 49 E, in: W. Weischedel (Hrsg.), I. Kant, Werke in 6 Bd., Bd. IV, 1963, S. 453). In der „Metaphysik der Sitten“ nimmt Kant keine Deduktion dieses kategorischen Imperativs vor, er lässt sich aber, wie G. Jakobs rekonstruiert hat, aus Kants Überlegungen zum Verhältnis von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit in der „Kritik der reinen Vernunft“ ableiten, wonach Glücksunwürdigkeit das Fehlen von Glückseligkeit zur Folge haben muss. G.Jacobs zeigt allerdings auch, dass diese Ableitung nicht zwingend ist, vgl. G.Jacobs, Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, 2004, S. 12ff. 20 I. Kant, Metaphysik der Sitten (Fn. 20), S. 455. 21 Vgl. die Überblicke über die Forschungsansätze und den Forschungsstand bei H.-W. Bierhoff, Sozialpsychologie, 6. Aufl. 2006, S. 141ff.; G. F. Müller/M. Hassebrauck, Gerechtigkeitstheorien, in: D. Frey/M. Irle (Hrsg.), Theorien der Sozialpsychologie, 2. Nachdruck 2001 der 2. Aufl. 1993, S. 217ff.; E. H. Witte, Lehrbuch Sozialpsychologie, 2. Aufl. 1994, S. 285ff.; K. F. Röhl, Rechtssoziologie, 1987, S. 146ff. Vgl. ferner J. Maes/M. Schmitt, Ge-

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und Rechtsphilosophie kaum zur Kenntnis genommen,22 sieht man einmal von den Arbeiten von Piaget und Kohlberg ab, die eine gewisse Resonanz gefunden haben. Für unsere Fragestellung einschlägig sind in erster Linie die Untersuchungen des kanadischen Psychologen Melvin L. Lerner zur so genannten Gerechten Welt-Hypothese,23 die in Deutschland vor allem von Leo Montada und seiner Arbeitsgruppe aufgegriffen und weitergeführt worden sind und werden. Sie besagen, sehr vereinfacht, etwa Folgendes: Menschen haben ein starkes Bedürfnis zu glauben, dass sie in einer gerechten Welt leben, in der – jedenfalls im Großen und Ganzen – jeder bekommt, was er verdient, und jeder verdient, was er bekommt. Dieser Glaube hat eine wichtige Funktion, denn erst er ermöglicht es, Vertrauen zu anderen Menschen und zu gesellschaftlichen Institutionen aufzubauen, sich längerfristige Ziele zu setzen, d. h. anzunehmen, dass unsere Handlungen voraussehbare Folgen haben, dass Investitionen sich lohnen, deren Erfolg nicht sofort eintritt. Müsste man ständig damit rechnen, dass unkalkulierbare ungerechte Ereignisse die eigenen Anstrengungen zunichte machen, wären viele Aktivitäten sinnlos und Investitionen in die Zukunft unterblieben.24 Da der Glaube an eine gerechte Welt für das innere Gleichgewicht eine so große Rolle spielt, werden Ungerechtigkeitserfahrungen so zu verarbeiten versucht, dass sie diesen Glauben nicht gefährden. Das führt zu einander entgegengesetzten Konsequenzen. Erleben wir, wie jemand Opfer einer Ungerechtigkeit wird, versuchen wir zunächst, ihm zu helfen und dadurch die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Gelingt das nicht oder ist es von vornherein aussichtslos, versuchen wir, die Situation so umzudefinieren, dass sie nicht mehr als eine der Ungerechtigkeit erscheint, oder wir verändern unser Urteil über die Opfer einer Ungerechtigkeit so, dass sie die Not-

rechtigkeit und Gerechtigkeitspsychologie, in: G. Sommer/A. Fuchs (Hrsg.) Krieg und Frieden. Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie, 2004, S. 182ff.; L. Montada/E. Kals, Mediation, 2. Aufl. 2007, S. 105ff. mit vielen direkten Bezugnahmen zu aktuellen Rechts- und rechtspolitischen Fragen. 22 Zu den Ausnahmen zählt K. F. Röhl. Vgl. insbesondere ders., Rechtssoziologie (Fn. 22), und ders., Die Gerechtigkeitstheorie des Aristoteles (Fn. 6). 23 Grundlegend M .L. Lerner, The Belief in a Just World. A Fundamental Delusion, 1980. Einen Überblick über die Ausdifferenzierungen der „Gerechten Welthypothese“ und den Forschungsstand geben C. Dalbert, Über den Umgang mit Ungerechtigkeit, 1996, S. 11ff. und J. Maes, Eight Stages in the Development of Research on the Construct of Belief in a Just World, in L. Montada/M. J. Lerner, Responses to Victimizations and Belief in a Just World, 1998, S. 163ff. 24 Vgl. M. L. Lerner, The Belief in a Just World (Fn. 24), S. 11ff.; H.-W. Bierhoff, Sozialpsychologie (Fn. 22), S. 148; J.Maes/M. Schmitt, Gerechtigkeitspsychologie (Fn. 22), S. 186; C. Dalbert, Umgang mit Ungerechtigkeit (Fn. 24), S. 11f.

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situation selbst verschuldet oder sogar als Strafe verdient haben.25 Das macht vor der eigenen Person nicht halt. Manche Opfer einer unheilbaren Krankheit oder eines schweren Unfalls finden sich offenbar mit ihrem Schicksal leichter ab, wenn sie es als gerechte Strafe oder als selbstverschuldet interpretieren, da sie dann dem Geschehen wenigstens noch einen Sinn geben können.26 Der Glaube an eine gerechte Welt findet sich natürlich nicht überall in gleichem Maße. Offenbar ist er bei Menschen mit religiösen Bindungen oder einem konservativen Weltbild besonders stark ausgeprägt.27 Der Umgang mit Erfahrungen, die dem Glauben an eine gerechte Welt widersprechen, ist ein schönes Beispiel für die psychologische Theorie der kognitiven Dissonanz von Festinger, wonach Menschen Informationen, die nicht im Einklang miteinander stehen, die dissonant sind, zu harmonisieren versuchen, indem sie eine der beiden Informationen abwerten.28 Die sozialpsychologischen Erkenntnisse über die Gerechte Welt-Hypothese sollten auch Eingang finden in die methodische Selbstreflexion der Sozialarbeit. So sollten sich jede Sozialarbeiterin und jeder Sozialarbeiter fragen, inwieweit sich in ihrer Einstellung gegenüber einem Klienten Elemente der Gerechte Welt-Hypothese wiederfinden. Denn es ist naheliegend, dass die Motivation für einen Sozialarbeiter unterschiedlich ist, je nachdem, ob er das Unglück, die Notsituation des Klienten als verschuldet oder unverschuldet ansieht. Das Engagement wird dann geringer sein, wenn diese Situation als verschuldet angesehen wird, aber auch dann, wenn die Hilfsangebote nach einiger Zeit nicht wirken. In der Sozialarbeit muss man also darauf achten, dass man sich nicht zu früh resignativ mit der Feststellung begnügt: „Der Klient hat es nicht besser verdient.“ Das harsche Urteil des Philosophen Wolfgang Kersting, unsere Schicksalsrhetorik entlarve uns als Moralromantiker und Gerechtigkeitsmetaphy25 Vgl. M. L. Lerner, The Belief in a Just World (Fn. 24), S. 39ff.; H.-W. Bierhoff, Sozialpsychologie (Fn. 22), S. 149ff.; J.Maes/M. Schmitt, Gerechtigkeitspsychologie (Fn. 22), S. 186ff.; C. Dalbert, Umgang mit Ungerechtigkeit (Fn. 24), S. 14ff.; L. Montada, Voreingenommenheiten im Urteilen über Schuld und Verantwortlichkeit, in: L. Montada/K. Reusser/G. Steiner (Hrsg.), Kognition und Handeln, 1983, S. 156ff., 161. 26 Vgl. C. Dalbert, Umgang mit Ungerechtigkeit (Fn. 24), S. 71ff.; H.-W. Bierhoff, Sozialpsychologie (Fn. 22), S. 155; E. H. Witte, Sozialpsychologie (Fn. 22), S. 296; R. J. Bulman/C. B. Wortman, Attributions of Blame and Coping in the „Real World”: Severe Accident Victims React to Their Lot, Journal of Personality and Social Psychology 1977, Vol. 35, 351ff. 27 Vgl. Z. Rubin/L.A. Peplau, Who beleaves in a just world, Journal of Social Issues Vol. 31, 1975, S.65ff, zitiert nach C. Andre/M. Velasquez, The Just World Theory, Issues in Ethics, V.3 N.2 Spring 1990. Zu kulturspezifischen Ausprägungsunterschieden der Gerechten-WeltHypothese vgl. C. Dalbert, Umgang mit Ungerechtigkeit (Fn. 24), S. 53ff.; H.-W. Bierhoff, Sozialpsychologie (Fn. 22), S. 154. 28 L. Festinger, Theorie der kognitiven Dissonanz, 1978.

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siker, entbehrt zwar nicht einer gewissen Berechtigung,29 unterschlägt aber das – wie wir gesehen haben durchaus funktionale – anthropologische Bedürfnis, das sich darin widerspiegelt. Was hat dieser Exkurs für die Ausgangsfrage erbracht? Wenn ein schlimmes Ereignis nicht neutral als Unglück, sondern als Ungerechtigkeit bewertet wird, dann kann man das zu dem gerade Dargestellten auf zweierlei Weise in Bezug setzen: 1.

Es wird damit implizit die Frage der Theodizee gestellt, denn es wird ja unterstellt, dass das Ereignis nicht blinder Zufall, sondern Zuteilung durch ein wie immer geartetes höheres Wesen ist, und es wird angeklagt, dass diese Zuteilung ungerecht ist.

2.

Es wird der Glaube an die gerechte Welt infrage gestellt, indem die Interpretation verweigert wird, das Opfer habe sein Schicksal verdient oder es sei gar kein so schlimmes Schicksal.

Einen letzten Aspekt möchte ich noch kurz anschneiden: Wir haben gesehen, dass man Schicksalsschläge, aber auch naturgegebene Benachteiligungen, wie etwa eine schon von Geburt an bestehende Behinderung, korrekterweise nicht als ungerecht bezeichnen kann, aber es stellt sich immer die Frage, ob es nicht eine Forderung der Gerechtigkeit ist, einen Ausgleich dafür zu gewähren, falls und soweit dies überhaupt möglich ist. Ich darf an das Beispiel des Legasthenikers erinnern, wo es sicherlich möglich ist, Lernbedingungen zu schaffen, die auch Legasthenikern die Erlangung des Abiturs ermöglichen, und dies ist zweifellos eine Forderung der Chancengleichheit. Man denke weiterhin etwa an staatliche Hilfen nach Naturkatastrophen. Allerdings sollte man dabei immer auch unterscheiden: Was lässt sich wirklich aus Prinzipien der Gerechtigkeit ableiten und was gehört in den Bereich der sozialstaatlichen Solidarität oder der privaten Mitmenschlichkeit?

III. Unrecht wohl – aber auch Ungerechtigkeit? Sehen wir uns die folgenden Aussagen über Ungerechtigkeitserfahrungen an: Fall 1: Als ich vor einigen Jahren von einigen Rechtsradikalen tätlich angegriffen wurde, empfand ich dies als höchst diskriminierend und ungerecht.

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W. Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit (Fn. 8), S.17.

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Fall 2: Mein Fahrrad wurde ohne ersichtlichen Grund in meiner Abwesenheit kaputt gemacht. War ja vielleicht nicht gegen meine Person gerichtet, aber ich fand das gemein. Fall 3: Wir haben in unserer ehemaligen WG einen Menschen zu uns geholt, dem wir nach seiner Scheidung geholfen haben, ein neues Leben anzufangen. Zum Dank gab er unser Telefon-, Miet- und Stromgehalt für eigene Gelüste aus, welches ihm die Wohngemeinschaft anvertraut hatte. Fall 4: Unterlassene Hilfeleistung meines damaligen Arztes, nach einer nicht ordnungsgemäß durchgeführten OP an mir, was mich fast das Leben gekostet hätte. Fall 5: Bei mir wurde aufgrund einer falschen, zu schnell erstellten und höchst oberflächlichen Diagnose eine Knieoperation durchgeführt, die nicht erforderlich war. In Wahrheit war die Ursache der Beschwerden ein Bandscheibenvorfall im Lendenwirbelbereich, wie ein zweiter Arzt feststellte. (Bis hierhin habe ich die sehr detaillierte Darstellung der betroffenen Studentin etwas zusammengefasst, das Folgende ist wieder eine wörtliche Übernahme): Das Ungerechte an meinem Erlebnis war besonders die für mich unmenschliche Behandlung des ersten Arztes. Da ich Vertrauen zu ihm hatte, habe ich der falschen Diagnose Glauben geschenkt. Nach dem Eingriff hatte er mir weiter zu verstehen gegeben, dass der Eingriff nötig gewesen wäre. Ich empfinde es weiter als ungerecht, dass ich mich nicht gegen ihn wehren konnte. In den drei ersten Fällen handelt es sich um Straftaten, offenbar um Körperverletzung und Beleidigung im ersten, und, falls es sich um eine vorsätzliche Tat handelt, um Sachbeschädigung im zweiten. Die Verwendung des anvertrauten Geldes für eigene Zwecke war eine Unterschlagung oder eine Untreue, das lässt sich anhand des ungenauen Sachverhalts nicht entscheiden. Falls die Ärzte in den Fällen 4 und 5 fahrlässig Kunstfehler begangen haben, dann haben sie sich einer fahrlässigen Körperverletzung schuldig gemacht, außerdem einer Vertragsverletzung und einer so genannten unerlaubten Handlung im Sinne des § 823 BGB, was jeweils Schadensersatzansprüchen zur Folge hat. Schadensersatzansprüche aus unerlaubter Handlung ergeben sich auch in den drei ersten Fällen. Es handelt sich also in allen diesen Fällen sowohl um strafrechtlich als auch zivilrechtlich relevantes Unrecht, aber ist damit auch eine Ungerechtigkeit gegeben? Allgemeiner gefragt: Ist jedes Unrecht auch eine Ungerechtigkeit?

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Befragen wir zunächst den Sprachgebrauch. Wer einen Menschen umbringt oder ein Kind missbraucht, dem werfen wir zwar vor, er habe ein schlimmes Unrecht getan, aber wir sagen nicht, er sei gegenüber seinem Opfer ungerecht gewesen.30 Noch deutlicher wird dies bei Fahrlässigkeitstaten. Niemand hält einem, der durch einen fahrlässigen Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung einen Schaden verursacht hat, vor, er habe, ungerecht gehandelt, wohl aber, dass sein Verhalten rechtswidrig war, dass er also Unrecht verwirklicht hat. Warum ist das so? Wenn die aristotelische Morphologie der Gerechtigkeit zutrifft und vollständig ist, dann bezieht sich gerechtes und damit auch ungerechtes Handeln entweder auf die Verteilung von Vorteilen und Lasten oder auf die Herstellung eines Ausgleichs bei Schädigungen. Ungerecht handelt also, wer eine ungerechte Verteilung vornimmt oder wer, als wie auch immer dazu Berufener, eine ungerechte Strafe verhängt, den Schadensersatz ungerecht bestimmt usw. Wer aber einem anderen durch eine Straftat oder sonstwie einen Schaden zufügt, der verteilt nichts, und er legt auch keinen Ausgleich fest für Schädigungen, die andere erlitten haben. Er befindet sich also nicht funktionell in der Situation eines Richters, was wir bereits als Voraussetzung dafür kennen gelernt haben, dass man ein Verhalten sinnvoll als gerecht oder ungerecht bezeichnen kann. Vielmehr schafft derjenige, der andere schädigt, erst die Situation, in der das Eingreifen der ausgleichenden Gerechtigkeit notwendig wird. Umgekehrt ist nicht schon derjenige, der sich an die Gesetze hält, der also kein Unrecht begeht, allein deshalb ein Gerechter. Diese Differenzierung kommt sehr schön in der Trias der bürgerlichen Rechtschaffenheit, wie ich das einmal nennen möchte, zum Ausdruck, die der römische Jurist Ulpian aufgestellt hat, nämlich31 „honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere“, also ehrenhaft leben, den anderen nicht verletzten und jedem das Seine zuteilen. Andere nicht zu schädigen, genügt eben nicht, sondern die Gerechtigkeit wird erst dort gefordert, wo es um das Zuteilen geht. Aus dem „bloßen Unrecht“ wird aber auf einer nächsten Stufe dann eine Ungerechtigkeit, wenn die Rechtsordnung, sei es wegen ihrer generellen Verfasstheit, sei es durch rechtswidrige Untätigkeit oder durch falsche Entscheidungen der Justizorgane nicht für einen Ausgleich, für Wiedergutmachung, Schadensersatz, Strafe usw. sorgt. Das spiegelt sich etwa in der Redewendung: „Es ist ungerecht, wenn er damit durchkommt.“

30 Vgl. P. Koller, Zur Semantik der Gerechtigkeit, in: ders. (Hrsg.), Gerechtigkeit im politischen Diskurs der Gegenwart, 2001, S. 23. 31 Dig I,10.

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Es ist auffällig, dass von den Studierenden, die rechtlich relevantes Unrecht erfahren haben (also Straftaten, unerlaubte Handlung, Vertragsverletzungen usw.), nur eine angibt, dass sie versucht hat, ihr Recht auf dem Rechtsweg durchzusetzen, also Gerechtigkeit auf dem Rechtsweg zu suchen, und dann auch noch davon berichtet, vor Gericht gescheitert zu sein. Hätten die Studierenden die hier getroffene Unterscheidung zwischen bloßem Unrecht und Ungerechtigkeit ebenfalls gemacht, so wäre allerdings ein großer Teil der von ihnen berichteten Fälle weggefallen. Das wäre schon wegen der darin enthaltenen Informationen über ihrer Lebenswelt und ihre subjektiven Einschätzungen sehr bedauerlich gewesen. Dennoch bleibt die Frage, wenn die gerade getroffene Unterscheidung berechtigt und sinnvoll ist, warum sie offenbar im Bewusstsein der meisten Menschen nicht verbreitet ist. Zunächst: Bei jeder Schädigung, die sich als Unrecht, aber nicht als Ungerechtigkeit darstellt, lässt sich natürlich die Frage stellen: „Warum trifft es gerade mich?“ und es ist die mit dieser Frage unterstellte zuteilende höhere Macht, die als ungerecht empfunden wird. Wichtiger ist: Die Empörung über eine widerfahrene Ungerechtigkeit und ein widerfahrenes Unrecht ist gleichartig. Unsere gefühlsmäßige Reaktion unterscheidet also nicht zwischen Ungerechtigkeit und Unrecht. Darüber hinaus befinden sich die Studierenden mit ihrer Gleichsetzung von Unrecht und Ungerechtigkeit in guter Gesellschaft. So unterscheidet Aristoteles zwischen allgemeiner und spezieller Gerechtigkeit. Nach dem Begriff der allgemeinen Gerechtigkeit handelt man gerecht, wenn man sich an die Gesetze hält, und ungerecht, wenn man einem Gesetz zuwiderhandelt.32 Geschichtlich wirksam geworden ist allerdings nur der Begriff der speziellen Gerechtigkeit mit seiner Unterteilung in austeilende und ausgleichenden Gerechtigkeit, auf die wir bereits mehrfach eingegangen sind. Und John Stewart Mill, der Begründer des ethischen Utilitarismus, zählt bei seiner Analyse dessen, was „ungerecht“ genannt wird, auch auf: willkürliche Eingriffe in die gesetzlich verbürgten Rechte anderer Personen,33 also etwa Straftaten, sowie die Nichteinhaltung von Versprechen und daraus entstandenen Verpflichtungen,34 also etwa Vertragsverletzungen.

32 Nikomachische Ethik (Fn. 3), V, 1129 b 11ff. Dass gerechtes Handeln mit Gesetzesgehorsam gleichzusetzen sei, war im Griechenland des vierten und fünften Jahrhunderts allgemeine Auffassung, vgl. W. Jaeger, Paideia I (Fn. 14), S. 149 Fn. 1 mit Nchw.; J. Triantaphyllopoulos, Das Rechtsdenken der Griechen, 1985, S.11f. Dazu, dass Aristoteles sich durchaus bewusst ist, dass Gesetze nicht immer gerecht sind, G. Bien, Gerechtigkeit bei Aristoteles (Fn. 6), S. 140 ff.; U. Wolf, »Nikomachische Ethik« (Fn. 6), S. 98 f. 33 J. St. Mill, Utilitarianism (Fn. 3), S. 129 f. 34 a.a.O., S. 135 f.

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IV. Ungerechtigkeiten, die kein Unrecht sind – unzutreffende Vorwürfe Auch das Umgekehrte gilt: Es gibt Ungerechtigkeiten, die kein Unrecht sind. Fall 1: a) Als mich jemand aus der Familie für Dinge verantwortlich machte, für die ich nicht verantwortlich war. b) Als mir Dinge von meiner besten Freundin unterstellt worden sind, die ich nicht zu verantworten hatte. c) Für einen Fehler beschuldigt zu werden, den man nicht begangen hatte! z.B. im Beruf. Fall 2: Als ich einen Streit schlichten wollte und mir später anhören musste, dass ich alles noch schlimmer gemacht hätte. Fall 3: Als Mutti, als sie das letzte Mal zu Besuch war, am 2. Tag meine Fenster geputzt hat. Fall 4: Die Unterstellung eines Arztes, ich hätte Drogen genommen, weil es in das Krankheitsbild einer Bauchspeicheldrüsenentzündung passte. Fall 5: Als mich mein Chef ohne sachlichen Grund als pädagogische Null bezeichnete. Fall 6: Als mir unterstellt wurde, dass ich nicht kompetent genug wäre als Informationsfachkraft im Baumarkt, da ich ja nur eine Aushilfe wäre, obwohl ich seit 4 Jahren dort tätig bin und mehr weiß als manch eine Vollzeitkraft. Fall 7: Während meines einjährigen Praktikums im Krankenhaus habe ich unentgeltlich gearbeitet. Ich habe mir sehr viel Mühe gegeben, alles korrekt zu erledigen. Doch die Stationsschwester hat alles kritisiert, mich vor anderen bloßgestellt und meine niedrige Position als Praktikantin schamlos ausgenutzt. Wenn die Darstellung der Studierenden zutrifft, die Vorwürfe also unberechtigt sind, dann handelt es sich zwar um Ungerechtigkeiten, aber, soweit nicht die Grenze zur Beleidigung überschritten wird, nicht um Unrecht, weil keine Rechtsnorm damit verletzt wird. Wer einen Vorwurf erhebt, begibt sich damit in eine Richterposition, indem er einen Verstoß gegen eine – in unseren Fällen zumeist informelle – Norm behauptet, etwa: Der Sauberkeitszustand der Fenster entspricht nicht den Anforderungen, die an eine gute Hausfrau zu stellen sind. Zugleich enthalten die meisten Vorwürfe

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auch eine negative Sanktion in Form einer sozialen Abwertung der Person des anderen. Es trifft schon hart genug, wenn praktische oder intellektuelle Fähigkeiten abgesprochen werden. Der Vorwurf kann aber auch auf die Ehre und auf den Achtungsanspruch des Betroffenen, auf seinen innersten Persönlichkeitskern zielen, kann er doch die Aussage enthalten, der andere sei kein guter Freund, kein gutes Familienmitglied, kein gutes Gruppenmitglied, kein guter Bürger usw. Das erklärt, warum die Abwehr eines als ungerecht empfundenen Vorwurfs heftiger, die Empörung darüber größer sein kann als die über solche Ungerechtigkeiten, aufgrund derer uns materielle Güter vorenthalten werden. Trifft es zu, dass man die wiedergegebenen Vorwürfe als Sanktionen gegen Normverletzungen ansehen kann, dann befinden wir uns damit im Bereich der ausgleichenden Gerechtigkeit, was zunächst etwas befremdlich erscheinen mag. Ist der Vorwurf unbegründet, dann haben wir eine Sanktion, der keine Tat entspricht; es gibt für die in Anspruch genommene ausgleichende Gerechtigkeit nichts, was ausgeglichen werden müsste. Die beiden letzten Fallgruppen haben uns gezeigt, dass es sowohl Unrecht gibt, dass keine Ungerechtigkeit ist, als auch Ungerechtigkeiten, die nicht zugleich Unrecht sind, Unrecht dabei immer verstanden als Verstoß gegen Normen der Rechtsordnung. Unrecht und Ungerechtigkeit stehen, bildlich gesprochen, im Verhältnis zweier sich überschneidender, aber sich nicht deckender Kreise.

V. Un|gerechtigkeitsfahrungen im Studium Hier zunächst ein charakteristisches Beispiel: [Sc. Besonders ungerecht fand ich], dass ich mir mein Studium selbst finanzieren muss und mir seitens der Prüfungsordnung Steine in den Weg gelegt worden sind, so dass sich mein Studium evtl. um ein Semester verlängert. Obwohl ich das Praxissemester erst im 5. Semester absolviert habe, hätte ich im 4. Semester gerne Prüfungen gemacht, da ich schon nach dem 3. Semester fertig mit dem Grundstudium war. Nun ist es aber erlaubt (demnach ist also alles möglich, wenn man nur dafür kämpft). Hierin spiegelt sich ein Stück Alltag des Prüfungsausschusses: ein Antrag auf eine Ausnahmeregelung. Der Sachverhalt ist zwar nicht ganz klar, aber es geht wohl um Folgendes: Studien- und Prüfungsordnung unterstellen, dass das Hauptstudium nur sinnvoll absolviert werden kann, wenn man über die Erfahrungen des Praxissemesters verfügt. Dessen Ableistung ist daher generell Voraussetzung für die Zulassung zu den Prüfungen des Hauptstudiums. Das kann im Einzelfall zu Härten für die Studierenden führen. Hier ist – gerechtigkeitstheoretisch gesprochen – das Feld der Billigkeit. Darun-

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ter ist zu verstehen, dass eine an sich gerechte allgemeine Regelung den Besonderheiten des Einzelfalles nicht immer entspricht und die Gerechtigkeit daher eine Anpassung an die besonderen Umstände des Einzelfalles, eben eine Ausnahme, verlangt. Max Ernst Meyer hat das damit verbundene Problem überspitzt auf die Formel gebracht: „Wer aber Normen sät, kann keine Gerechtigkeit ernten.“35 Für Aristoteles, der auch hier wieder die Sache als erster auf den Begriff gebracht hat, war klar, dass die Billigkeit grundsätzlich Vorrang haben sollte.36 Ganz so einfach ist es jedoch nicht. Dem Ansinnen nach Berücksichtigung besonderer Umstände des Einzelfalles können andere Interessen entgegenstehen, die möglicherweise schwerer wiegen. Da ist zunächst einmal die Rechtssicherheit. Je größer der Freiraum zur Abweichung von der allgemeinen Regel für den Rechtsanwender ist, desto unkalkulierbarer werden die Entscheidungen und desto größer ist die Gefahr von Willkür. Hinzu kommt auch die Angst vor dem berühmten Präzedenzfall. Wenn alle ihre Ausnahme verlangen, kann dies, gerade beim Prüfungsbetrieb, zu einer völligen Überforderung der Organisation führen und diese irgendwann völlig lahm legen. Das ist der ernstzunehmende Kern, der hinter dem ja oft durchaus berechtigten Vorwurf steckt, die Verwaltung arbeite nach den arroganten Prinzipien: „Da könnte ja jeder kommen“ und „Wo kämen wir denn da hin“. Moderne Rechtsordnungen versuchen allerdings, durch unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln sowie dadurch, dass sie dem Richter die Befugnis zur partiellen Ergänzung des Rechts geben, die Normen so flexibel zu halten, dass ein angemessenes Ergebnis, das den Erfordernissen der Billigkeit entspricht, bereits durch Auslegung der Normen zu erreichen ist. Die Auswirkungen auf die Rechtssicherheit sind allerdings häufig durchaus problematisch. Bemerkenswert ist, dass die Studierenden überwiegend die Bedeutung von „billig“ und „Billigkeit“ im Zusammenhang mit Gerechtigkeit nicht kennen. „Das ist nur recht und billig“ scheint nicht mehr zu ihrem Sprachschatz zu gehören, auch wenn sie durchaus in der Lage sind, dass damit Gemeinte zu fordern. Häufig moniert werden: ƒ Nichtanerkennung von Studien- bzw. Prüfungsleistungen, die an anderen Hochschulen bzw. Fachbereichen erbracht worden sind. ƒ das Verfahren der Zulassung zu Seminaren mit beschränkter Teilnehmerzahl ƒ die BAföG-Regelungen und das Zuteilungsverfahren der ZVS Studiengebühren werden grundsätzlich als ungerecht eingeschätzt. 35 Rechtsphilosophie, 1922, S. 79 ff., zitiert nach R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 2007, S. 129. 36 Nikomachische Ethik (Fn. 3), V, 14 1137 a, 31 ff.

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Gerügt wird häufig auch, dass falsche Auskünfte der Hochschulverwaltung zu Fristversäumnis und anderen Nachteilen geführt hätten. Anhand der Angaben lässt sich allerdings nicht überprüfen, ob die Studierenden sich wirklich an der richtigen Stelle informiert hatten und davon ausgehen konnten, eine zuverlässige Information erhalten zu haben. Insbesondere gehört der Blick in die Studien- bzw. Prüfungsordnung überwiegend nicht zu den Methoden studentischer Informationsgewinnung. Dieses Kapitel beschließen möchte ich mit der beherzigenswerten Beschwerde eines Studierenden: Sein Referat habe nicht die volle Wirkung entfalten können und sei daher nicht angemessen bewertet worden, weil ihn der Professor ständig unterbrochen und die Diskussion auf andere Bereiche gelenkt habe, auf die er nicht vorbereitet gewesen sei.

VI. Gerechtigkeit als Tugend – Gerechtigkeit und Glück „Ich habe einen Job bekommen, obwohl ich unqualifizierter als meine Konkurrenz war.“ Eine solche Antwort, dass sich nämlich von den Befragten jemand als ungerecht behandelt bezeichnet, nicht weil ihm etwas vorenthalten wurde, sondern weil ihm etwas zugute kam, das ist nur einmal vorgekommen. Wer bereit ist, auch in einem ihm gewährten Vorteil eine Ungerechtigkeit zu sehen, der legt damit etwas von dem an den Tag, was die Tugend der Gerechtigkeit ausmacht. Ich möchte das zum Anlass nehmen, auf Gerechtigkeit als Tugend und die unterschiedliche Rolle, die diese Tugend in antiken und modernen Gerechtigkeitsvorstellungen spielt, kurz einzugehen und ebenso auf das damit eng zusammenhängende Verhältnis von Gerechtigkeit und Glück. Für die antike Philosophie bestand ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Glück. Denn Glück im Sinne eines erfüllten, gelingenden Lebens wird verstanden als ein Zustand innerer Harmonie, der allein durch beständiges Ausüben der Tugenden, an erster Stelle der Gerechtigkeit, die als vollkommenste, weil alle anderen enthaltende Tugend37 gilt, zu erreichen ist.38 In der Moderne, insbesondere in der Epoche des Sozialstaats, besteht das der Gerechtigkeit inhärente Glücksversprechen darin, dass man einen ge-

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Aristoteles, Nikomachische Ethik (Fn. 3), V 1129b 29f. Vgl. dazu K. Bayertz, Warum überhaupt moralisch sein, 2004, S. 178ff.; ders., Antike und moderne Ethik, Ztschr. f. phil. Forschung 59 (2005), S.114ff.; E. Tugendhat, Probleme der Ethik, 1984, S. 43 ff. 38

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rechten Anteil an den Gütern der Welt hat, dass eine gerechte Ordnung Daseinsvorsorge leistet und die Risiken des Lebens abfedert. Überspitzt und vereinfacht kann man das so zusammenfassen: Nach den Vorstellungen der Antike verhilft die Gerechtigkeit zum Glück, indem man sie übt, in der Moderne, indem man sie einfordert.39 Wiederum überspitzt kann man sagen: In der Moderne wird die Tugend der Gerechtigkeit durch Institutionen abgelöst.40 Die antike Ethik richtete sich insbesondere an die Eliten. Dem Missbrauch von Macht sollte durch die verinnerlichte und als Haltung verfestigte Tugend der Gerechtigkeit vorgebeugt werden. Diesen Weg schlagen noch die Fürstenspiegel des Mittelalters und der frühen Neuzeit ein. Dass das häufig nicht erfolgreich war, ist bekannt. Im modernen demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat sollen dagegen Institutionen dafür sorgen, dass die Mächtigen nicht zu mächtig werden und dass sie nicht dauerhaft mächtig bleiben. Am ehesten ist die Tugend der Gerechtigkeit noch bei den Mitgliedern der gesetzgebenden Körperschaften gefragt. Darauf allein verlässt sich der moderne Verfassungsstaat jedoch nicht: Die Gerechtigkeit gesetzgeberischer Entscheidungen soll durch den öffentlichen Diskussionsprozess, der ihnen vorangeht oder der sie begleitet, und durch die öffentliche Auseinandersetzung im parlamentarischen Verfahren gesichert werden. Ausreißer sollen durch die verfassungsrechtlichen Grenzen der Gesetzgebung verhindert bzw. durch die Verfassungsgerichtsbarkeit korrigiert werden. Die gerechte Einzelfallentscheidung soll sich im gewaltenteilenden Rechtsstaat der Konzeption nach aus der Gesetzesbindung des Rechtsanwenders, aus der korrekten Anwendung der Gesetze, und das heißt vor allem aus einem intellektuellen Erkenntnisakt und nicht durch Übung einer Tugend ergeben. Dies ist der Sinn der Rede vom Richter als dem Mund des Gesetzes.41 Situationen, in denen es der Fähigkeiten eines salomonischen Richters bedarf, soll es im alles vorweg regelnden Gesetzesstaat möglichst nicht mehr geben. Das ist allerdings ein Idealbild oder aus anderer Sicht auch ein Schreckensbild.42 Auf die damit verbundenen rechtsmethodischen

39 Zum unterschiedlichen Verständnis von Gerechtigkeit in Antike und Neuzeit vgl. H. Niehues-Pröbsting, Das Seinige tun, in: H. Drerup/W. Fölling. (Hrsg.), Gleichheit und Gerechtigkeit. Pädagogische Revisionen, 2006, S. 13. 40 Zur vergleichbaren Entwicklung in Bezug auf die Tugend der Solidarität vgl. K .Bayertz, Staat und Solidarität, in: ders. (Hrsg.), Politik und Ethik, 1996, S. 305 ff., 318 ff. 41 Ch. de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, eingel., ausgew. u. übers. v. K. Weigand, 1965/1994, Buch XI, Kap. 6, S. 225. 42 Ein Schreckensbild ist es z. B. für G. Radbruch, der Montesquieus Richterbild als einseitig auf den Intellekt ausgerichtet, als „Subsumtionsapparat“ kritisiert und ihm die Richterideale

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Probleme kann ich hier nicht eingehen. Im Übrigen ist die Qualität moderner Gesetze leider oft nicht so, dass es genügt, sie nur zu exekutieren, um zu gerechten Entscheidungen zu gelangen. Und schließlich gilt auch hier die Feststellung von Ernst-Wolfgang Böckenförde, dass der Rechtsstaat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann.43 Zu diesen Voraussetzungen gehört auch die Tugend der Gerechtigkeit. Darüber hinaus bleibt der Tugend der Gerechtigkeit für den gesamten nicht rechtlich geregelten zwischenmenschlichen Bereich ein weites Anwendungsfeld: Die Beschwerden der Studierenden etwa über ungerechte Behandlung durch Eltern, über ungerechte Vorwürfe und Ähnliches bieten hierfür reichliches Anschauungsmaterial.

VII. Überblick über die Lebensbereiche der berichteten Ungerechtigkeiten Aus Raummangel konnte ich nur auf einen Bruchteil der Antworten der Studierenden eingehen. Ich möchte aber wenigstens noch kurz andeuten, auf welche Lebensbereiche sie sich hauptsächlich beziehen. Außerdem möchte ich dem Leser einige besonders amüsante Antworten nicht vorenthalten. Wie früh das Gefühl für Ungerechtigkeit entwickelt ist und wie lange die damit verbundenen Kränkungen nachwirken, zeigt sich daran, dass nicht wenige von Ereignissen im Kindergarten berichten. Ungerechte Behandlungen durch die Eltern werden freimütig geschildert: etwa Geschwister, die vorgezogen werden; Leistungen, die nicht anerkannt werden, oder die Verweigerung von Unterhaltszahlungen. Ohne schädliche Folgen dürfte dagegen geblieben sein, wenn berichtet wird: Ich durfte mit 8 Jahren nicht Moby Dick schauen, oder Dass ich mit 12 Jahren nicht den Film Robin Hood besuchen durfte. Meinen Eltern war dieser Film zu gewaltverherrlichend. In der Schule haben viele Ungerechtigkeitserfahrungen gemacht, was angesichts der ständigen Bewertungen, denen man dort ausgesetzt ist, nicht verwundern dürfte. Erstaunlich ist, was alles vom Sport berichtet wird. Auch im Amateursport scheinen Manipulationen von Spielergebnissen der Voraufklärungszeit gegenüberstellt, die vom Richter den Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit gefordert hätten (Einführung in die Rechtswissenschaft, 12. Aufl. 1969, S. 166 ff.). 43 E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders,. Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 60, dort allerdings auf den „freiheitliche(n), säkularisierte(n) Staat“ als Ganzes bezogen.

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vorzukommen. Der Verbleib auf der Reservebank trotz großen Trainingsfleißes scheint besonders zu schmerzen. Auch die Fußballweltmeisterschaft hat ihre Spuren hinterlassen: ƒ Verpassen der Fußball-WM in Deutschland aufgrund eines Aufenthaltes in Island. ƒ Verpassen der tollen Stimmung und des heißen Sommers während der Fußball-WM. ƒ Dass Deutschland nicht Weltmeister geworden ist. Wir waren die Besten. Besonders häufig wird von Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz berichtet, von Mobbing, ungleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit und anderen Ungleichbehandlungen, Nichtanerkennung besonderer Leistungen und ungerechtfertigter Kritik. Studierende des Sozialwesens sind offensichtlich besonders häufig darauf angewiesen, neben dem Studium noch zu arbeiten, um ihren Lebensunterhalt ganz oder teilweise zu finanzieren. Dies dürfte wegen der Studiengebühren und der geringeren Flexibilität des Studiums aufgrund des Bachelorsystems in Zukunft erheblich schwieriger werden. Dass Ungerechtigkeiten gelegentlich auch gute Folgen haben, zeigt folgendes Beispiel: Trotz Anstrengungen und unentgeltlicher Überstunden und Sonderaufträgen wurde jemand anderes für einen höheren Posten ausgewählt, obwohl diese Person nicht mehr Arbeit geleistet hatte. Das fand ich sehr ungerecht. Das war ausschlaggebend, noch mal zu studieren. Das doppelte Leiden durch die ungleiche Verteilung natürlicher Gaben und die diese noch verstärkende gesellschaftliche Diskriminierung dokumentieren folgende Aussagen: ƒ Dass manche dünnen Menschen keinen Respekt gegenüber fülligeren Menschen haben. ƒ Dass ich aufgrund meines Aussehens bei Bewerbungsgesprächen trotz eines sehr guten Zeugnisses aussortiert wurde. Weitere Bereiche sind: Beziehungsprobleme, Beschwerden von Alleinerziehenden über ungleiche Lastenverteilung und Unterhaltsprobleme, ungerechte Behandlung bei Verkehrsverstößen und im Zusammenhang mit dem Semesterticket. Beschließen möchte ich diese Übersicht mit den beiden folgenden Antworten: Mich permanent dafür rechtfertigen zu müssen, berufstätige Mutter zu sein und wegen evtl. kranker Kinder nicht jederzeit einsatzbereit zu sein – einem Mann wird eine solche Frage nicht gestellt!

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Darin liegt ein wichtiger Hinweis für Familiepolitiker: Krippenplätze allein tun es nicht. Zum Grübeln kann einen schließlich bringen, wenn die größte Ungerechtigkeit darin gesehen wird, dass Menschen ein Bewusstsein haben.

VIII. Schlussbemerkung Für die Praxis der Sozialarbeit ist es meines Erachtens unerlässlich, auf die Gerechtigkeitsvorstellungen der jeweiligen Klientel einzugehen, weil sich oft erst von dort die Motive für Handeln oder auch für Verweigerungshaltungen erschließen. Leo Montada und Elisabeth Kals merken in ihrem bemerkenswerten Lehrbuch der Mediation kritisch an:44 „Mediationsmodelle, die Konflikte nur als Interessenkonflikte konzipieren und erlebte Ungerechtigkeiten ausblenden, übersehen ein ganz wesentliches Moment der Konfliktdynamik“. Ganz allgemein lässt sich sagen: Will man etwas mehr darüber erfahren, was die Menschen in einer Gesellschaft bewegt, so erscheint mir der Ausbau der empirischen Gerechtigkeitsforschung unerlässlich. Dazu müssten sich Philosophen, Rechtswissenschaftler, Psychologen, Soziologen und Ökonomen zusammentun und gemeinsam dieses Forschungsfeld beackern,45 das zumindest den Philosophen und Juristen bisher eher fremd ist, wobei ich natürlich nicht verkennen will, dass die beiden letztgenannten keine empirischen Wissenschaften betreiben. Das Wissen über die in einer Gesellschaft bzw. in deren unterschiedlichen Schichten tatsächlich lebendigen Gerechtigkeitsvorstellungen könnte Anregungen geben für Politik und Gesetzgebung. Man würde aber auch genauer erfahren, wo es notwendig ist, durch Aufklärung gegenzusteuern. Wenn eine der Antworten auf die Frage nach der allgemein größten Ungerechtigkeit lautet: dass Menschen, die anderen Menschen Leid antun, aus „mangelnden“ Beweisen nicht zur Rechenschaft gezogen werden, so versteht man zwar die Empörung darüber, dass so vieles Unrecht ungesühnt bleibt. Aber es gilt, für den Wert der Unschuldsvermutung zu streiten und für den Wert des rechtsstaatlichen Prinzips, dass nicht der Angeklagte seine Unschuld, sondern der Staat die Schuld des Angeklagten nachweisen muss. 44

L. Montada/E. Kals, Mediation, 1. Aufl. 2001, S. 99, vgl. auch 2. Aufl. 2007, S. 105. Vgl. dazu St. Liebig/H. Lengfeld, Interdisziplinäre Gerechtigkeitsforschung, 2002; L. Montada, Empirische Gerechtigkeitsforschung, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Berichte und Abhandlungen, Bd. 1, 1995, S. 67 ff. 45

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Man versteht auch nur allzu gut, was die DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley meinte, wenn sie in Bezug auf die Wiedervereinigung beklagte: „Wir haben Gerechtigkeit erwartet und den Rechtsstaat bekommen.“46 Aber man sollte nie vergessen, dass es gar nicht so wenig ist, was man mit dem Rechtsstaat bekommt, und dass ohne Rechtsstaat die Chancen für Gerechtigkeit schlecht stehen.

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Zitiert nach K. F. Röhl, Gerechtigkeitstheorie des Aristoteles (Fn. 6), S. 54.

Anmerkungen zum Bestimmtheitsgrundsatz KRISTIAN KÜHL

I. Zur Begründung der Themenwahl und -formulierung Während der Bestimmtheitsgrundsatz als Thema eines strafrechtlichen Festschriftbeitrags keiner Begründung bedarf – dass die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt sein muss, verlangt nicht nur das Strafgesetzbuch an herausgehobener Stelle in § 1, sondern auch die Verfassung in Artikel 103 Absatz 2 des Grundgesetzes –, erscheint die Einschränkung auf „Anmerkungen“ zu ihm begründungsbedürftig. Sie ist dem Grundsatz der Themenklarheit zu verdanken, dem sich der Verfasser verpflichtet fühlt, obwohl dieser noch keinesfalls zum allgemeinen Gewohnheitsrecht gehört. Klargestellt soll damit werden, dass es sich nicht um einen Festschriftbeitrag alten Stils handelt. Ein solch klassischer Festschriftbeitrag enthielt – zumindest im angestrebten Idealfall – eine seit Jahren erarbeitete, neue Sicht eines (strafrechtlichen) Problems, das nun zu passender Zeit und am richtigen Ort einer Festschrift zur Verfügung gestellt wurde. Über solche ausgereiften und zu Ende gedachten Beiträge verfügt der Verfasser dieses Festschriftbeitrages nicht oder genauer: nicht mehr. Da aber das Hervorheben und Überarbeiten alter ausgereifter Beiträge die Belastbarkeit der Leser überstrapaziert – dennoch wird es nicht selten praktiziert und es werden Reprisen in neuem Kostüm in Festschriften präsentiert, wodurch die Geduld des Kommentators, der sich vom neuen Kleid nicht blenden lässt, auf die Probe gestellt wird –, soll hier die Alternative eines unausgereiften Beitrags gewählt werden, der sich auf „Anmerkungen“ beschränkt. Dabei muss man den Begriff „Anmerkung“ nicht allzu negativ sehen. Als Kommentator ist man es gewohnt, Anmerkungen zu verfassen, die heute freilich meist von Randnoten oder Randzahlen überlagert sind. Die Kennzeichnung einer Äußerung als Anmerkung steht auch dem wissenschaftlichen Charakter der Äußerung nicht zwingend entgegen und selbst Originelles kann sich mal in eine Anmerkung „verirren“. Sind es – wie hier – mehrere Anmerkungen, so kann sich möglicherweise sogar eine neue Sicht auf das von den Anmerkungen ins Auge gefasste Problem ergeben; – was der Verfasser der hier vorgelegten Anmerkungen nicht vorab für diese in Anspruch nehmen möchte.

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Die Anmerkungen sind, was ihre Objektivität nicht einschränken muss, subjektiv veranlasst. Zum einem durch den Adressaten dieser Festschrift, der sich mit dem Bestimmtheitsgrundsatz mehrfach wissenschaftlich auseinandergesetzt hat; – zuletzt mit Blick auf die karge gesetzliche Regelung der Voraussetzungen einer Gleichstellung des Unterlassens mit einem aktiven Tun in § 13 StGB, der in eine Kritik am Bundesverfassungsgericht mündet.1 Um die Erwartungen des Festschriftadressaten an den folgenden Beitrag nicht zu hoch werden zu lassen, sei gleich eingangs gesagt, dass die Unterlassungsproblematik nicht eigens thematisiert wird, auch weil sich der Verfasser – wenn auch kurz und deshalb ausbaufähig – erst vor kurzem in einem Festschriftbeitrag zu „verfassungsrechtlichen Problemen der Unterlassungsdelikte“ geäußert hat.2 Subjektiv sind die folgenden „Anmerkungen“ aber vor allem hinsichtlich der Auswahl, die der Verfasser dieses Beitrags getroffen hat. Die „Anmerkungen“ gehen alle aus mehr oder minder zufälligen Begegnungen mit dem Bestimmtheitsgrundsatz hervor. In einer solchen Situation bietet der Festschriftbeitrag die Gelegenheit, die bei diesen zufälligen Begegnungen gemachten Erfahrungen und gewonnenen Einzelerkenntnisse in Ruhe noch einmal Revue passieren zu lassen; – natürlich in der Hoffnung auf zusätzliche Erkenntnisse, die sich bei einer Gesamtschau einstellen könnten. Die erste überraschende Begegnung in letzter Zeit war die sich turnusmäßig wiederholende Überarbeitung des „Lackner/Kühl“. In diesem StGBKommentar ist auch § 1 StGB und dabei auch der darin verankerte Bestimmtheitsgrundsatz zu erläutern. Während sich bei dieser Erläuterung lange nicht viel tat bzw. es wenig zu tun gab, was die letztlich maßgeblichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts betrifft, so war dieses Mal – bei der Vorbereitung der 26. Auflage 2007 – ein beträchtlicher Zuwachs an Entscheidungen dieses Gerichts zu vermerken,3 die es angebracht erscheinen lassen, danach zu fragen, ob sich in diesen Entscheidungen Veränderungen finden oder ob sich gar eine neue Linie erkennen lässt (dazu unter II.). Eine zweite bemerkenswerte und zugleich herausfordernde Begegnung mit dem Bestimmtheitsgrundsatz hat der Verfasser auf dem Gebiet der Kriminalpolitik gemacht, die in dem konkreten Fall zu einer neuen Strafvorschrift – § 238 StGB (Nachstellung) – geführt, die Bestimmtheitsproblematik aber nicht entschärft hat. Dennoch ist es eine interessante Erfahrung, wenn man sich in einem laufenden Gesetzgebungsverfahren als Sachverständiger die Gedanken eines Gesetzgebers machen muss. Konkret 1

Seebode JZ 2004, 305 ff.; zuvor schon ders. in: Spendel-FS, 1992, S. 317 ff. Kühl Herzberg-FS, 2008, S. 177, 189 ff. 3 Vgl. Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. 2007, § 1 Rn. 2. 2

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war dabei zu überlegen, wie das vielgestaltige Phänomen „Stalking“ so in einer Strafvorschrift erfasst werden kann, dass diese den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 II GG bzw. des § 1 StGB entspricht. Die dabei auftretenden Schwierigkeiten machen einen „gnädiger“ in der Bewertung der dann erfolgten Entscheidung des Gesetzgebers. Das entbindet einen aber nicht von der Verpflichtung, diese Entscheidung in Gesetzesform daraufhin zu prüfen, ob sie dem Bestimmtheitsgrundsatz gerecht geworden ist (dazu unter III.). Eine dritte überraschende und emotional aufwühlende Begegnung machte der Strafrechtsdogmatiker bei dem Modethema „Rettungsfolter“ und Notwehr/Notstand. Was die Notwehr anbetrifft, verstand sich der Verfasser als kompetent, auch was die Gebotenheitsklausel des § 32 I StGB anbetrifft. Ihr sind zwar keine inhaltlichen Aussagen über die sog. „sozialethischen Einschränkungen“ der Notwehr zu entnehmen, so dass sich der Einwand fehlender gesetzlicher Bestimmtheit geradezu aufdrängt. Dennoch war der Verfasser dieses Festschriftbeitrags mit der herrschenden Meinung bisher der Auffassung, dass Art. 103 II GG diesen Einschränkungen nicht entgegensteht, wenn sie als immanente Schranken des Notwehrrechts erklärbar sind.4 Mit dem „Fall Daschner“, dessen Namensgeber vom Landgericht Frankfurt einer Nötigung für schuldig befunden wurde, weil er den Entführer eines Jungen durch Androhung von Schmerzzufügung zu einer Aussage über das Versteck gebracht hatte,5 ist aber eine neue „sozialethische Einschränkung“ zu den bekannten Fallgruppen hinzugekommen, die sich aus dem Folterverbot und der Menschenwürde speist. Ihre Berechtigung scheint zumindest nicht offensichtlich; trotzdem hat die Problematik schon die Übungsfall-Literatur ergriffen.6 Die Frage, die sich hinsichtlich dieser neuen „sozialethischen Einschränkung“ stellt, ist im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz die, welche Kriterien eine Notwehreinschränkung und die damit verbundene Erweiterung des Bereichs des Strafbaren erfüllen muss, um noch unter den unbestimmten Begriff der Gebotenheit gebracht werden zu können (dazu unter IV.). Eine letzte, grundsätzliche Fragen auslösende Begegnung soll am Ende nur noch kurz angesprochen werden, weil sich der Verfasser mit diesen Fragen schon in mehreren Festschriftbeiträgen beschäftigt hat7 und den Vorwurf des Remakes nicht noch provozieren will. Es geht um die Delegation der Entscheidung über die Strafbarkeit einer Körperverletzung auf die 4

Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 32 Rn. 16. LG Frankfurt NJW 2005, 656 ff.; dazu vgl. Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 32 Rn. 17 a. 6 Vgl. Jeßberger Jura 2003, 711; Kasiske JA 2007, 509; zu § 34 Ambos/Rackow Jura 2006, 943, 948. 7 Kühl Schroeder-FS, 2006, S. 519 ff., in: Otto-FS, 2007, S. 63, 68 ff. und in: Jakobs-FS, 2007, S. 293 ff. 5

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„guten Sitten“ bzw. den Verstoß gegen sie in § 228 StGB. Wird eine solche Delegation noch dem Erfordernis der gesetzlichen Bestimmtheit der Strafbarkeit nach Art. 103 II GG bzw. § 1 StGB gerecht? Diese Frage wird umso dringlicher, als sich der Bundesgerichtshof in Strafsachen in den letzten zu entscheidenden Fällen außerstande sah, ein Sittenwidrigkeitsurteil über sadomasochistische Praktiken und die (nach dem Betäubungsmittelgesetz strafbare) Überlassung von Heroin zu fällen. Sollte das bedeuten, dass in einer pluralen Gesellschaft eindeutige Sittenwidrigkeitsurteile gar nicht mehr möglich sind, so müsste diese „Unbestimmtheit“ möglicherweise auf den Bestimmtheitsgrundsatz als dessen Verletzung durchschlagen (dazu unter V.).

II. Die neueste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Bestimmtheitsgrundsatz Die neueste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bezieht sich hier auf vier Entscheidungen aus dem Jahre 2006, von denen drei schon in die 26. Auflage des Lackner/Kühl eingearbeitet werden „mussten“.8 Bevor auf diese neuen Entscheidungen näher eingegangen werden kann, müssen noch kurz die wichtigsten Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zum Bestimmtheitsgrundsatz in Erinnerung gerufen werden, weil nur auf dieser Basis beurteilt werden kann, ob sich Veränderungen bis hin zu einer neuen Linie erkennen lassen. Außerdem soll noch einmal die geläufige Einschätzung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgenommen werden, wonach sich der Gesetzgeber keine große Sorgen um die Einhaltung des Bestimmtheitsgrundsatzes machen muss, weil das Bundesverfassungsgericht viel, ja fast alles durchgehen lässt; – erinnert sei nur an die angebliche Bestimmtheit des „groben Unfugs“ in § 360 I Nr. 11 StGB a.F.9 Diese Einschätzung ist hier bewusst salopp formuliert,10 weil sich der Verfasser nicht die Mühe gemacht hat, die dennoch vom Bundesverfassungsgericht festgestellten Verletzungen des Art. 103 II GG aufzuspüren,11 was ihm vertretbar erschien, weil eine solche statistische Aussage nichts über die Richtigkeit oder Vertretbarkeit der einzelnen Entscheidungen aussagt; – es 8

Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 1 Rn. 2, wo nur BVerfG NJW 2007, 1193, fehlt. BVerfGE 26, 41, 43; zu Recht abl. Krey Strafrecht AT 1, 2. Aufl. 2004, Rn. 113 und Eser in: Schönke/Schröder StGB, 27. Aufl. 2006, § 1 Rn. 18. 10 Sachlich formuliert etwa Dannecker LK, 12. Aufl. 2007, § 1 Rn. 185: „Relativierung der Bestimmtheitsanforderungen“ durch das Bundesverfassungsgericht; kritischer Köhler Strafrecht AT, 1997, S. 88 f. 11 Umfangreiche Kasuistik bei Dannecker (o. Fn. 10), § 1 Rn. 191, 192; Krey (o. Fn. 9), Rn. 113, nennt nur 3 Beispiele für ein unbestimmtes Strafgesetz. 9

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mag ja richtig gewesen sein, wenn das Bundesverfassungsgericht nur selten Anlass sah, eine Verletzung des Bestimmtheitsgrundsatzes auszusprechen. So etwa in dem allerdings umstrittenen, von Seebode (s. oben unter I. mit Fußnote 1) scharf kritisierten Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 21.11.2002, wonach die „Vorschrift des § 13 StGB (Begehen einer Straftat durch Unterlassen) … dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 II GG“ genügt.12 Doch soll diese spezielle Thematik – wie schon oben (unter I.) angekündigt – hier nicht erneut aufgegriffen werden.13 Diese Entscheidung soll hier aber insofern „ausgeschlachtet“ werden, als sie die Leitsätze des Bundesverfassungsgerichts zum „Bestimmtheitsgebot“ des Art. 103 II GG in kürzest möglicher Form präsentiert. Ausgangspunkt ist dabei zu Recht der auch in allen StGB-Kommentaren14 zu findende und ständiger Rechtsprechung15 des Gerichts entnommene Satz: „Das Bestimmtheitsgebot verpflichtet den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so genau zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände für den Normadressaten schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln und konkretisieren lassen“ (BVerfG NJW 2003, 1030). Danach wird zum einen betont, dass „jeder“ vorhersehen können muss, welches Verhalten bei Strafe verboten ist;16 zum anderen wird dem „Gesetzgeber“ – „abstrakt-generell“ – die alleinige Entscheidungsgewalt über die Strafbarkeit zuerkannt, d.h.: „diese Entscheidung“ darf „nicht der Strafjustiz überlassen“ werden. Einschränkend wird hinzugefügt, dass „die Verwendung von Begriffen, die im besonderen Maße der Deutung durch den Richter bedürfen, nicht generell“ ausgeschlossen ist; „unbedenklich“ sei das „allerdings nur …, wenn die Norm eine zuverlässige Grundlage für ihre Auslegung und Anwendung bietet oder wenn sie eine gefestigte Rechtsprechung übernimmt und damit aus dieser 12

BVerfG NJW 2003, 1030, in Bestätigung von BVerfE 96, 68, 97. Im Ergebnis dem Bundesverfassungsgericht zustimmend Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 13 Rn. 21; Roxin Strafrecht AT II, 2003, § 31 Rn. 33; Weigend LK, 12. Aufl. 2007, § 13 Rn. 19; kritsch Jähnke BGH-FS, 2000, S. 393, 402; „… der Sache nach ist das Bestimmtheitsgebot preisgegeben“; noch eindeutiger für die Verfassungswidrigkeit des § 13 StGB Köhler (o. Fn. 10), S. 213: die Vorschrift sei „in ihrer Zirkularität nicht hinreichend bestimmt“, und Schmitz MK, 2003, § 1 Rn. 47: das Bestimmtheitsgebot werde „völlig verfehlt“. 14 Vgl. Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 1 Rn. 2; Dannecker (o. Fn. 10), § 1 Rn. 179; Kindhäuser StGB Lehr- und Praxiskommentar, 3. Aufl. 2006, § 1 Rn. 5; Schmitz (o. Fn. 13), § 1 Rn. 39; Tröndle/Fischer StGB, 54. Aufl. 2007, § 1 Rn. 5. 15 BVerfGE 71, 108, 114; 73, 206, 234; 75, 329, 340; 78, 374, 382; 105, 135, 157. – Kritische Analyse der Rspr. des Bundesverfassungsgerichts zum Bestimmtheitsgebot bei Paeffgen StraFo 2007, 442 ff. 16 Dannecker (o. Fn. 10), § 1 Rn. 179, spricht von der zu schaffenden „Orientierungsgewissheit für den Bürger“. 13

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Rechtsprechung hinreichende Bestimmtheit gewinnt“ (BVerfG a.a.O.).17 Gerade dieser letzte Halbsatz hat zu heftiger Kritik in der Strafrechtswissenschaft geführt; – nicht erst bei seiner Anwendung auf den schon mehrfach angesprochenen § 13 StGB,18 sondern etwa auch schon bei seiner Anwendung auf die Beleidigung gemäß § 185 StGB.19 Das liegt sicher daran, dass hier die sonst auch vom Bundesverfassungsgericht betonte Entscheidungsgewalt des Gesetzgebers über die Strafbarkeit auf die Rechtsprechung verlagert zu werden scheint. Ob das wirklich so ist, muss hier offen bleiben, da nach dem oben vorgestellten Programm für diesen Festschriftbeitrag die Analyse neuester Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum „Bestimmtheitsgebot“ (so BVerfG NJW 2006, 3050) bzw. zum „Bestimmtheitsgrundsatz“ (so BVerfG NJW 2007, 1193) vorgesehen ist. Gleich vorab sei die selbst geschürte Erwartung, es gäbe da Veränderungen oder gar eine neue Linie, gedämpft. Denn es wäre schon ein glücklicher Zufall, wenn sich diese Erwartung bei der willkürlichen Auswahl von vier Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die nur durch das Jahr der Entscheidung – 2006 – zusammengehalten werden, erfüllen würde. Die Variationsbreite der Vorschriften, die vom Bundesverfassungsgericht unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgrundsatzes geprüft wurden, ist zwar auf das Strafrecht beschränkt, aber dennoch groß. Zum Kernstrafrecht ist die Entscheidung vom 1.6.2006 ergangen, die sich die „Ähnlichkeitsklausel“ des § 86 a II 1 StGB – Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen – vornimmt (BVerfG NJW 2006, 3050). Dem Kernstrafrecht des StGB zuzurechnen ist auch die Entscheidung vom 8.11.2006, die sich dem strafrechtlichen Sanktionenrecht, genauer: der Aussetzungsregelung des § 57 a StGB, zuwendet (BGH NJW 2007, 1933). Die beiden weiteren Entscheidungen prüfen Strafvorschriften des Nebenstrafrechts: die Entscheidung vom 16.3.2006 betrifft die Strafvorschrift des § 96 Nr. 4 Arzneimittelgesetz, genauer: den über § 2 I Nr. 5 AMG von der Strafvorschrift in Bezug genommenen Begriff „Arzneimittel“ (BVerfG NJW 2006, 2684); die Entscheidung vom 18.9.2006 befasst sich mit dem Begriff „Handeltreiben“, der in der Strafvorschrift des § 29 I 1 Nr. 1 Betäubungsmittelgesetz verwendet wird. Trotz dieser Variationsbreite zeigt schon ein erster Blick in die vier Entscheidungen, dass Kontinuität angesagt wird. Diese Kontinuität zeigt sich 17 Auch für diesen letzten Halbsatz kann sich das Gericht auf eine ständige Rechtsprechung berufen: BVerfGE 45, 363, 371; 48, 48, 56; 86, 288, 311. 18 BVerfG NJW 2003, 1030 mit krit. Bespr. Seebode, JZ 2004, 305 ff.; krit. auch Weigend (o. Fn. 13), § 13 Rn. 19: „keine befriedigende Antwort“. 19 BVerfG E 93, 266, 292; Dannecker (o. Fn. 10), § 1 Rn. 188; Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 185 Rn. 1, Tröndle/Fischer (o. Fn. 14), § 1 Rn. 5 c, jeweils mit Hinweisen auf kritische Stimmen.

Anmerkungen zum Bestimmtheitsgrundsatz

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schon hinsichtlich der oben vorsichtig übernommenen Einschätzung, nach der das Bundesverfassungsgericht den Bestimmtheitsgrundsatz eher großzügig handhabe. Obwohl damit – wie auch bereits oben gesagt – noch nichts über die Richtigkeit der Entscheidung gesagt ist, sei doch auch hier festgestellt, dass drei der vier Entscheidungen keine Verletzung des Bestimmtheitsgrundsatzes feststellen konnten. Die Kontinuität zeigt sich auch hinsichtlich des oben als „Ausgangspunkt“ zitierten Satzes von der „so genauen Umschreibung“ der Strafbarkeitsvoraussetzungen, der in allen drei Entscheidungen, die Strafbarkeitsvoraussetzungen betreffen – also nicht in der Entscheidung zur Strafaussetzung –, wörtlich übernommen wird. Kontinuität herrscht auch hinsichtlich der Entscheidungsbefugnis des Gesetzgebers, was die abstrakt-generelle Festlegung der Strafbarkeit betrifft (so etwa in BVerfG NJW 2007, 1193). Auch wird weiterhin die Voraussehbarkeit der Strafbarkeit für den Normadressaten verlangt (so etwa in BVerfG NJW 2006, 2684). Auch nicht völlig neu, aber seltener gebraucht, sind die Wendungen, dass selbst missglückte Strafbestimmungen verfassungsgemäß seien, wenn sie die Voraussetzungen strafbaren Tuns oder Unterlassens deutlich umschreiben (BVerfG NJW 2007, 1193), und dass es beim Herausfallen besonders gelagerter Einzelfälle aus dem Strafbarkeitsbereich Sache des Gesetzgebers sei, die Lücke zu schließen oder beizubehalten (BVerfG NJW 2006, 3050). Auf die einzelnen Entscheidungen kann hier nur kurz eingegangen werden. Im „Arzneimittel-Fall“ (BVerfG NJW 2006, 2684) wird die Weite des Begriffs „Arzneimittel“ gesehen, aber nicht für schädlich gehalten: „Die tatbestandliche Weite ist – da das Gesetz in seinen Voraussetzungen klar formuliert ist – … kein Problem der Normbestimmtheit …“. Dahinter steht ein Vertrauen auf das Auslegungsvermögen der Strafgerichte, insb. des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, das aber arg strapaziert wird und mit dem Gebot der gesetzlichen Bestimmtheit in Konflikt gerät, wenn es heißt, dass „dem Gesetzeswortlaut kein Hinweis auf die vom BGH verwandten einschränkenden Kriterien des Arzneimittelbegriffs“ entnommen werden könnten; – dann hat doch wohl der Gesetzgeber den Rechtsanwender im Stich gelassen. Im „Fantasieparolen-Fall“ (BVerfG NJW 2006, 3050) vermisst man zunächst eine Auseinandersetzung mit der „Ähnlichkeitsklausel“ des § 86 a II 2 StGB: „Den in Satz 1 genannten Kennzeichen stehen solche gleich, die ihnen zum Verwechseln ähnlich sind.“ Das soll hier nicht nachgeholt werden, zumal die Problematik bei der Behandlung des Stalking § 238 StGB (unter III.) behandelt werden wird. Dafür stürzt sich das Gericht sofort auf den Wortlaut, den es insofern für eindeutig hält, als die Nachahmung ein tatsächlich existentes Vorbild haben müsse. Folgt man dem – das Amtsge-

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richt hatte es nicht getan –, so ist die gesetzliche Bestimmtheit insoweit nicht zu bezweifeln. Im „Drogenherstellungs-Fall“ (BVerfG NJW 2007, 1193) ist der Wortsinn des Begriffs „Handeltreiben“ für das Bundesverfassungsgericht nicht so eindeutig, weshalb es ihm darauf ankommt zu klären, ob die Auslegung dieses Begriffes durch den Bundesgerichtshof noch vom möglichen Wortsinn gedeckt ist. Das ist aber eine Frage des Analogieverbots und nicht der Bestimmtheit des strafbaren Verhaltens durch das Gesetz. Das Analogieverbot ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht dadurch verletzt, dass schon die Drogenherstellung und damit eine eigennützige, auf Umsatz von Betäubungsmitteln gerichtete Tätigkeit als Handeltreiben erfasst wird. Das interessiert hier aber weniger als die mögliche Verletzung des Bestimmtheitsgrundsatzes durch § 29 I 1 Nr. 1 BtMG. Diese wird aber lapidar verneint: „Die Vorschrift des § 29 I 1 Nr. 1 BtMG entspricht dem Bestimmtheitsgrundsatz, denn sie regelt in einer Vielzahl von Tatbestandsalternativen den Kern des Betäubungsmittelstrafrechts.“ Mehr als eine Behauptung ist diese „Begründung“ nicht. So nebenbei wird auch noch erwähnt, dass das „Gebot der Gesetzesbestimmtheit auch für die Strafandrohung …“ gilt. „Die Strafe als missbilligende hoheitliche Reaktion auf schuldhaftes kriminelles Unrecht muss deshalb in Art und Maß durch den parlamentarischen Gesetzgeber normativ bestimmt sein“ (BVerfG NJW 2007, 1193, unter Berufung auf BVerfGE 32, 346, 362 f.).20 Damit leitet das Bundesverfassungsgericht – ungewollt, aber für den hier vorgelegten Beitrag passend – zur letzten Entscheidung über, die hier noch besprochen werden soll. Betrifft das „Gebot der Gesetzesbestimmtheit“ des Art. 103 II GG, der von der „Strafbarkeit“ spricht, neben der Straftatbestandsmäßigkeit nur die Androhung von Strafen,21 so sind nichtmissbilligende Sanktionen wie etwa die Maßregeln der Besserung und Sicherung oder gar zivilrechtliche Sanktionen22 nicht von ihm erfasst. Diese Einschränkung des Geltungsbereichs von Art. 103 II GG wird in der Entscheidung zur „Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe“ (BVerfG NJW 2007, 1933) durch eine weitere Einschränkung ergänzt, denn – so wiederholt das Gericht die zuvor besprochene Entscheidung – „sein Anwendungsbereich beschränkt sich auf staatliche Maßnahmen, die eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf schuldhaftes Verhalten darstellen“ (BVerfG NJW 2007, 1933, 1941, unter Berufung auf BVerfGE 26, 186, 20 Zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich des Missbilligungscharakters der Strafe vgl. Kühl Eser-FS, 2005, S. 149 ff. 21 Zur Geltung des Bestimmtheitsgebots für die „Strafdrohung“ vgl. Dannecker (o. Fn. 10), § 1 Rn. 223-236; zu seiner Geltung für den „gesetzlichen Strafrahmen“ Krey (o. Fn. 9), Rn. 109. 22 Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 1 Rn. 2.

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204; 42, 261, 262; 105, 135, 153; 109, 133, 167). „Aussetzungsregelungen“ wie die nach § 57 a I 1 Nr. 3 und Satz 2 i.V.m. § 57 I 1 Nr. 2 und Satz 2 StGB „enthalten“ aber – so der zutreffende Schluss des Gerichts – „eine Bedingung für die Aussetzung einer bereits verhängten Freiheitsstrafe“. Freilich gilt auch für solche Regelungen der Vollstreckung von Freiheitsstrafen ein „Bestimmtheitsgebot“, das sich aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG23 und – wegen des Freiheitsentzugs – aus Art. 104 I 1 GG ergeben soll. Die Anforderungen, die dieses Bestimmtheitsgebot stellt, entsprechen weitgehend denen des Art. 103 II GG. Auch unter seinem Regime dürfen „unbestimmte, wertausfüllungsbedürftige Begriffe“ vom Gesetzgeber nur dann verwendet werden, „wenn sich mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden, insbesondere durch Heranziehung anderer Vorschriften desselben Gesetzes, durch Berücksichtigung des Normzusammenhangs oder auf Grund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen lässt“. Ob die genannten Aussetzungsvorschriften diesen Anforderungen, wie das Bundesverfassungsgericht meint, entsprechen, soll hier nicht „überprüft“ werden. Interessanter ist im vorliegenden Zusammenhang, dass das Gericht – vielleicht nur ungeschickt formuliert – zu den Auslegungsmethoden auch eine „gefestigte Rechtsprechung“ zählt, die auch unter dem Regime des Art. 103 II GG die gesetzliche Bestimmtheit herstellen können sollte (dazu oben bei Fußnoten 18, 19). Bemerkenswert ist schließlich, dass sich das Gericht mit bestimmteren Regelungsmöglichkeiten „auseinandersetzt“, freilich wieder lapidar: „Das Bestimmtheitsgebot erfordert keine gesetzliche Regelung, die eine absolute Höchstfrist für den Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe vorsieht.“ Ein solcher Ausschluss von Alternativen könnte auch bei der Prüfung von Strafvorschriften auf ihre gesetzliche Bestimmtheit hin die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts stärken.

III. Die „Öffnungsklausel“ bei der Nachstellung (§ 238 I Nr. 5 StGB) Vor welchen Schwierigkeiten der Gesetzgeber steht, wenn er ein von ihm für strafwürdig und strafbedürftig gehaltenes Verhalten dem Bestimmtheitsgebot entsprechend in einen Straftatbestand „pressen“ muss, hat zuletzt die Schaffung des § 238 StGB – Nachstellung – gezeigt, mit dem das welt-

23 So auch schon vor dieser Entscheidung Dannecker (o. Fn. 10), § 1 Rn. 237, mit BVerfGE 86, 310 f.

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weite Phänomen „Stalking“ seit dem 1.4.2007 strafrechtlich geregelt ist.24 Der Verfasser dieses Festschriftbeitrags hat sich in diesem Fall in die Lage des Gesetzgebers versetzen müssen, weil er im Gesetzgebungsverfahren als Sachverständiger vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages Stellung nehmen „musste“. Dabei musste er keinen Gesetzesentwurf vorlegen, sondern sich – wie üblich bei Sachverständigenanhörungen – „nur“ zu bereits von der Bundesregierung oder den Fraktionen des Bundestags, von Bundesländern oder dem Bundesrat vorgelegten Gesetzesentwürfen äußern. Das macht die Aufgabe des Sachverständigen zwar leichter, verlangt aber doch Überlegungen, wie man es besser machen könnte. Diese Überlegungen haben beim Verfasser dieses Festschriftbeitrags hinsichtlich der sog. „Öffnungsklausel“ des § 238 I Nr. 5 StGB zu dem Ergebnis geführt, dass sie verzichtbar sei.25 Dieser Verzicht erscheint vor allem deshalb möglich,26 weil das Phänomen „Stalking“ schon bisher in seinen „harten“ Formen durch bereits bestehende Strafvorschriften wie Hausfriedensbruch (§ 123 StGB), Körperverletzung (§ 223 StGB) oder Nötigung (§ 240 StGB)27 und seit 2007 in vier „weichen“ Formen (§ 238 I Nr. 1-4 StGB) erfasst ist; hinzukommt die zivilrechtsakzessorische Strafvorschrift des § 4 Gewaltschutzgesetz.28 Dass trotz dieser „geballten“ Strafbarkeitszone noch Lücken im strafrechtlichen Schutz des individuellen Lebensbereichs – dem Rechtsgut des § 238 StGB29 – bestehen, ist in einem fragmentarisch angelegten Strafrecht kein Makel.30 Der Gesetzgeber hat dies anders gesehen und sich für einen sog. „Auffangtatbestand“ entschieden, nach dem nicht nur derjenige wegen Nachstellung nach § 238 I StGB bestraft wird, der eine der Tathandlungen (nebst Erfolg) der Nr. 1-4 des § 238 I StGB ausführt, sondern auch derjenige, der „eine andere vergleichbare Handlung vornimmt“. Für eine solche kriminalpolitische Entscheidung hat der Gesetzgeber die Kompetenz. Verfassungsrechtlich aber ist er bei Entscheidungen über die „Strafbarkeit“ an Art. 103 II GG gebunden, womit wir wieder beim Thema dieses Beitrags sind. Deshalb muss hier gefragt werden, ob der Gesetzgeber mit diesem „Auffangtatbestand“ bzw. dieser „Öffnungsklausel“ noch die Anforderung der gesetzlichen Bestimmtheit erfüllt hat. Ist es ihm gelungen – wie es das Bun24 Dazu schon knapp Kühl Böttcher-FS, 2007, S. 597, 615 f. sowie Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 238 Rn. 5. 25 Kühl in: Protokoll der 30. Sitzung des BT-Rechtsausschusses vom 18.10.2006, S. 16. 26 Ebenso Mitsch NJW 2007, 1237, 1239. 27 Meyer ZStW 115 (2003), 249, 259; Kinzig ZRP 2006, 255, 256. 28 Dazu Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 238 Rn. 3. 29 So der Regierungsentwurf BT-Dr 16/575, S. 6; zu alternativen Rechtsgutsbestimmungen vgl. Mitsch NJW 2007, 1237 f. 30 Ebenso Krüger, in: ders. (Hrsg.), Stalking als Straftatbestand, 2007, S. 142.

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desverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung verlangt (s. oben unter II. mit Fn. 15) –, „die Voraussetzungen der Strafbarkeit so genau zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände für den Normadressaten schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln und konkretisieren lassen“? Auf den ersten Blick liest sich die Nr. 5 des § 238 I StGB wie eine unverhohlene Aufforderung an den Richter, verbotene Analogie zu betreiben. Allerdings gibt es solche Aufforderungen auch bisher schon im Strafgesetzbuch – etwa in §§ 315 I Nr. 4, 315 b I Nr. 3 StGB –, ohne dass dagegen durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken vorgebracht wurden.31 Es soll sich dabei um eine verfassungsrechtlich noch hinnehmbare sog. „innertatbestandliche Analogie“32 handeln. Diese Bezeichnung allein rettet diese Form von Analogie nicht vor dem Vorwurf eines Verstoßes gegen das aus Art. 103 II GG abgeleitete „Verbot der Analogie zur Begründung der Strafbarkeit“.33 In den Bereich der zulässigen Auslegung könnten solche „Öffnungsklauseln“ wie in den §§ 315, 315 b StGB oder jetzt § 238 StGB nur zurückgeholt werden, wenn der sonstige Tatbestand ausreichende Anhaltspunkte dafür enthielte, auf welche Kriterien es bei der „Ähnlichkeit“ (so in §§ 315, 315 b StGB) oder bei der „Vergleichbarkeit“ (so jetzt in § 238 StGB) ankommen soll. Nur wenn im sonstigen Tatbestand Hinweise auf solche Kriterien enthalten sind, kann man begründet behaupten, dass der Gesetzgeber über die Strafbarkeit „ähnlicher“ bzw. „vergleichbarer“ Handlungen selbst entschieden und damit die Entscheidung nicht allein dem Richter überlassen habe.34 Eine solche Behauptung gelingt bei §§ 315, 315 b StGB deshalb, weil sich dort dem übrigen Tatbestand feste Vorgaben für den „ähnlichen“ Fall entnehmen lassen: Eingriff von außen, unmittelbare Einwirkung auf den Verkehrsvorgang. Solche klaren Kriterien lassen sich dem übrigen Tatbestand des § 238 StGB für die „vergleichbare“ Handlung nicht entnehmen, denn – so meine bisherige Einschätzung – die Nr. 1-4 des § 238 I StGB umschreiben so unterschiedliche Verhaltensweisen, dass darauf kaum ein Analogieschluss aufgebaut werden kann.35 Immerhin lässt sich dem übrigen Tatbestand entnehmen, dass es sich auch bei der „vergleichbaren Handlung“ i.S. der Nr. 5 des § 238 I StGB um eine „Nachstellung“ handeln muss. Auch 31

Siehe etwa Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 315 Rn. 6: „verfassungsrechtlich noch vertretbar“. Krey Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977, S. 223; Dannecker (o. Fn. 10), § 1 Rn. 256. 33 Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 1 Rn. 5. 34 Deshalb wird zu Recht als verfassungsrechtlicher Maßstab solcher „Analogien“ der Bestimmtheitsgrundsatz herangezogen; vgl. Dannecker (o. Fn. 10), § 1 Rn. 256. 35 So in: Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 238 Rn. 5; ähnlich Kinzig/Zander JA 2007, 481, 486, die kein „gemeinsames Substrat“ der Nr. 1-4 des § 238 I StGB entdecken können. 32

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muss es sich um eine „andere“ Handlung als die in den Nr. 1-4 des § 238 I StGB umschriebenen Handlungen handeln. Ob damit aber hinreichende Anhaltspunkte für die „vergleichbare Handlung“ im Gesetz enthalten sind, ist zu bezweifeln. Trotz dieser Zweifel müssen Rechtsprechung und Rechtswissenschaft versuchen, „Auslegungsmaßstäbe zu entwickeln, die sich strikt an der Semantik des Gesamttatbestandes orientieren …“.36 Einen solchen Versuch haben Neubacher/Seher unternommen und sind ihrer eigenen Einschätzung nach zwar nicht bei den geschlossenen Nr. 1 und 2, wohl aber bei den Nr. 3 und 4 des § 238 I StGB „erfolgreich“ gewesen; hier seien „bestimmte Belästigungen eher beispielhaft“ formuliert, so dass sich weitere Beispiele „ähnlicher“ Art denken ließen.37 „Denkbare Fallgruppen für § 238 Abs. 1 Nr. 5 StGB“ versucht auch Krüger herauszuarbeiten,38 eine allgemein verbindliche Definition der „ähnlichen Handlung“ hält er aber nicht für Erfolg versprechend.39 Wie die Strafrechtsprechung mit dem „Auffangtatbestand“ umgehen wird, bleibt abzuwarten. Letztlich wird sie die Bestimmtheit des § 238 I Nr. 5 StGB herstellen müssen.

IV. Die „Rettungsfolter“ als nicht gebotene Verteidigungshandlung (§ 32 I StGB) Mit der Gebotenheitsklausel des § 32 I StGB enthält die ansonsten klare Notwehrregelung des § 32 II StGB eine unter dem Gesichtspunkt der gesetzlichen Bestimmtheit umstrittene Regelung. Bevor aber auf diese Klausel eingegangen werden kann, muss eine Besonderheit der bei ihr gegebenen Problematik wenigstens kurz erwähnt werden. Es handelt sich bei der Notwehr zum einen um eine Regelung des Allgemeinen Teils und zum anderen um einen Rechtfertigungsgrund. Für beide – Regelungen des AT und speziell Rechtfertigungsgründe – werden Besonderheiten hinsichtlich der Anforderungen, die der Bestimmtheitsgrundsatz an sie stellt, reklamiert.40 Hinsichtlich der AT-Regelungen wird eine gewisse Lockerung der Bestimmtheitsanforderungen erwogen. Dahinter steht die Einsicht, dass es noch schwerer ist, allgemeine Regeln präzise festzulegen als die Tatbestän36

Neubacher/Seher JZ 2007, 1029, 1033. Neubacher/Seher JZ 2007, 1029, 1033. 38 Krüger (o. Fn. 30), S. 143 ff.; knapp auch Valerius JuS 2007, 319, 322. 39 Krüger (o. Fn. 30), S. 159. 40 Vgl. nur Roxin Strafrecht AT, 4. Aufl. 2006, § 5 Rn. 41 und Rn. 42. – Zur Geltung des Art. 103 II GG für „Regelungen des Allgemeinen Teils“ vgl. Dannecker (o. Fn. 10), § 1 Rn. 82-88; zur Geltung für Rechtfertigungsgründe vgl. Rönnau LK, 12. Aufl. 2006, vor § 32 Rn. 62-70. 37

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de einzelner Delikte zu umschreiben. Das soll hier beispielhaft nur an dem schon mehrfach angesprochenen § 13 StGB, der die Gleichstellung eines Unterlassens mit einem Tun unter bestimmten Voraussetzungen regelt, aufgezeigt werden.41 Diese Regelung hat vor allem die Kritik des Festschriftadressaten (s. o. unter I. mit Fn. 1) hervorgerufen, ist aber vom Bundesverfassungsgericht gebilligt worden (BVerfG NJW 2003, 1030). Dabei hat das Gericht keine Abstriche von den auch für BT-Vorschriften gebräuchlichen Bestimmtheitsanforderungen vorgenommen. Auch der BGH macht von den Art. 103 II GG-Anforderungen keine Abstriche, wenn es um die Auslegung von Bestimmungen des AT des StGB geht.42 „Diese Aussage“ – so der ehemalige Vorsitzende des 1. Strafsenats Jähnke – „widerspricht so, wie sie formuliert ist, der eigenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie der wohl überwiegenden Meinung im Schrifttum“.43 Diese „wohl überwiegende Meinung im Schrifttum“ hat Herzberg schon 1972 für den im Entstehen begriffenen „Unterlassungs“-§ 13 StGB mitgeformt: „Strafbarkeitsvoraussetzungen, die für viele Tatbestände gelten und die daher innerhalb des Allgemeinen Teils zu behandeln sind, unterliegen nicht oder nur sehr beschränkt den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG. Der Gesetzgeber hat in dem Bereich, den man als die eigentliche Domäne der systematischen Strafrechtswissenschaft betrachten darf, einen praktisch kaum begrenzten Entscheidungsspielraum, ob er ins einzelne gehende Regelungen schaffen, sich mit normativen Richtlinien bescheiden oder auf begriffliche Bestimmungen ganz verzichten will, um die Rechtsentwicklung nicht festzulegen und die Klärung von Zweifelsfragen der Rechtslehre und der Rechtsprechung zu überlassen“.44 Unter Ausklammerung der Rechtslehre sieht das auch das Bundesverfassungsgericht so, wenn es für Art. 103 II GG ausreichen lässt, dass „die Norm … eine gefestigte Rechtsprechung übernimmt und damit aus dieser Rechtsprechung hinreichende Bestimmtheit gewinnt“ (BVerfG NJW 2003, 1030). Lässt man das für die gesetzliche Bestimmtheit genügen, dann müssen die Bestimmtheitsanforderungen an AT-Vorschriften natürlich nicht gelockert werden, denn diese Anforderungen sind ja schon locker genug. Aus dieser Sicht der Dinge muss man bei der Prüfung der Frage, ob eine AT-Vorschrift wie § 13 StGB oder der hier interessierende § 32 I StGB hinreichend bestimmt ist, nichts Besonderes beachten. 41 Eingehend zur verfassungsrechtlichen Problematik des § 13 StGB jetzt Böhm Garantenpflichten aus familiären Beziehungen, 2006, S. 170 ff. 42 Vgl. BGHSt 42, 158, 161; 42, 235, 241; weitere Rspr. bei Dannecker (o. Fn. 10), § 1 Rn. 83. 43 Jähnke (o. Fn. 13), S. 393; ähnlich Dannecker (o. Fn. 10), § 1 Rn. 83. 44 Herzberg Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, 1972, S. 362.

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Vorsicht hingegen erscheint angebracht, wenn es um spezielle ATRegeln, nämlich Rechtfertigungsgründe geht. So hat sich etwa Günther darum bemüht zu begründen, „warum Art. 103 Abs. 2 GG für Erlaubnissätze nicht gelten kann“.45 Diese Begründung hat wohl Roxin so überzeugt, dass er in seinem AT-Lehrbuch von der Nichtgeltung des Art. 103 II GG für Rechtfertigungsgründe ausgeht: „Diese nämlich sind keine spezielle Materie des Strafrechts, sondern entstammen allen Rechtsbereichen …; sie werden demzufolge auch im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung weiterentwickelt und oft unabhängig von der Reichweite ihres äußeren Wortlautes nach Maßgabe der ihnen zugrunde liegenden gesetzlichen Ordnungsprinzipien eingeschränkt.“46 Aber selbst wenn man diese Besonderheit von Rechtfertigungsgründen berücksichtigt, wird man vom Gesetzgeber erwarten müssen, dass er sich auch bei diesen um eine möglichst präzise Umschreibung bemüht.47 Das hat der Gesetzgeber in der Notwehr-Definition des § 32 II StGB auch getan, § 32 I StGB ist aber relativ unbestimmt geblieben.48 Das ist schon deshalb kritisch zu beobachten, weil die Ablehnung der Gebotenheit dazu führt, dass die normalerweise bei Vorliegen der § 32 II StGB-Voraussetzungen eingreifende Rechtfertigung zu verneinen ist, womit der Weg zur Strafbarkeit nicht schon an dieser Stelle gestoppt wird.49 Auch wer wie Günther die Gebotenheitsklausel als Element eines Erlaubnissatzes nicht den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 II GG, sondern nur dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt des Art. 20 III GG unterwirft, bemüht sich darum, u.a. „aus dem Geltungsgrund der Notwehr … im Wege teleologischer … Auslegung hinreichend bestimmte Grenzen“ für die Gebotenheit zu „ziehen“.50 Auch für Roxin wäre „der Begriff der ‚Gebotenheit’ zu unbestimmt, wenn sich dem Gesetz keine Maßstäbe dafür entnehmen ließen, unter welchen Voraussetzungen eine zur Abwehr an sich erforderliche Handlung ausnahmsweise nicht gestattet werden soll. Doch ergeben sich diese Maßstäbe … aus den immanenten Schranken, die dem Notwehrrecht selbst durch das Rechtsbewährungsprinzip gezogen sind.“51 Also stellen auch diejenigen, die Rechtfertigungsgründe nicht am (angeblich) strengen Maßstab des Art. 103 II GG 45

Günther Grünwald-FS, 1999, S. 213 ff. Roxin (o. Fn. 40), § 5 Rn. 42. 47 So auch Rönnau (o. Fn. 40), vor § 32 Rn. 69. 48 Nach Erb ZStW 108 (1996), 294 ff.: zu große Unbestimmtheit; ebenso Erb MK, 2003, § 32 Rn. 186: „Höchstmaß an Unbestimmtheit“, also „im Grunde genommen“ ein Verstoß „gegen Art. 103 Abs. 2 GG“ (Rn. 175); Vgl. Lenckner/Perron in: Schönke/Schröder (o. Fn. 9), § 32 Rn. 44: „Leerformel“. 49 Kühl Strafrecht AT, 5. Aufl. 2005, § 7 Rn. 162; ebenso Fahl Jura 2007, 744, 745. 50 Günther SK, 7. Aufl. (September 1999), § 32 Rn. 104. 51 Roxin (o. Fn. 40), § 15 Rn. 57. 46

Anmerkungen zum Bestimmtheitsgrundsatz

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auf ihre Bestimmtheit messen, gewisse Bestimmtheitsanforderungen. Konkret auf die Gebotenheitsklausel des § 32 I StGB bezogen scheint diese Bestimmtheit davon abzuhängen, dass sie durch Notwehr-immanente Schranken konkretisiert wird; – das war auch der hier schon oben (unter I. mit Fn. 4) eingenommene Ausgangspunkt. Legt man diesen Ausgangspunkt bei der Prüfung der Gebotenheit der sog. „Rettungsfolter“ zugrunde, so spricht zunächst nichts für deren Verneinung. Das individuelle Freiheitsschutzprinzip verlangt, dass der drohende Tod des entführten Opfers mit allen erforderlichen Mitteln abgewendet wird; auch das überindividuelle Rechtsbewährungsprinzip zeigt zumindest auf den ersten Blick nicht in eine andere Richtung, weil das Recht auf Leben gestärkt wird. So macht denn auch Roxin nicht von dem von ihm eigentlich zu erwartenden Argument des Zurücktretens dieser Prinzipien oder auch nur eines von ihnen Gebrauch, sondern setzt anders an. Die „Folterandrohung“ sei nicht geboten, weil „die Folter und ihre Androhung … gegen die Menschenwürde (Art. I, 1 GG)“ verstoßen.52 Danach begründet er zwar, warum seiner Meinung nach ein Verstoß gegen die Menschenwürde vorliegt, aber nicht, warum ein solcher Verstoß die Gebotenheit der Notwehr ausschließen soll. Deshalb hängt sein Schluss etwas in der Luft: „Der Verstoß gegen die Menschenwürde ist also eine besondere Fallgruppe der sozialethischen Einschränkungen des Notwehrrechts.“ Die fehlende Begründung dieser neuen Fallgruppe wird – wie Roxin selbst wohl sieht – nicht dadurch geleistet, dass er zur Konkretisierung des Menschenwürdeverstoßes auf „zahlreiche ausdrückliche Folterverbote“ verweist; – dadurch soll der „Ausschluss der gebotenen Nothilfehandlung … gestützt“ werden.53 „Stützung“ hilft aber nur, wenn zuvor eine Begründung gegeben wurde. Nun kann die Problematik der sog. „Rettungsfolter“ hier im Rahmen von „Anmerkungen zum Bestimmtheitsgrundsatz“ nicht angemessen ausgelotet werden. Der Verfasser dieses Festschriftbeitrags hat seine Position – Rechtfertigung durch Nothilfe nach § 32 StGB – zudem schon mehrfach vertreten,54 so dass eine Wiederholung nicht erforderlich erscheint. Hier sollte nur gezeigt werden, dass die Gebotenheitsklausel des § 32 I StGB nur dann den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 II GG oder des Rechtsstaatsprinzips des Art. 20 GG genügt, wenn sie auf die der Notwehr immanenten Schranken rekurriert. Werden neue Fallgruppen kreiert, bevor man begründet hat, warum auch andere Argumente wie etwa die Verletzung der Menschenwürde oder der Verstoß gegen absolute Folterverbote zur Verneinung 52

Roxin (o. Fn. 40), § 15 Rn. 106. Roxin (o. Fn. 40), § 15 Rn. 107. 54 Kühl (o. Fn. 49), § 7 Rn. 156 a; Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 32 Rn. 17 a und zur Gebotenheit Rn. 14 a.E. 53

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der Gebotenheit führen können, so macht das den Eindruck der Beliebigkeit, und das ist das Gegenteil von Bestimmtheit. Damit soll die Möglichkeit einer solchen Begründung nicht kategorisch ausgeschlossen werden, aber wer überraschend Neues schafft, hat eine Begründungs-Bringschuld. Diese wird noch nicht durch Behauptungen wie die von Perron, dass „eine Bewährung der Rechtsordnung um den Preis der Folter … ausgeschlossen“ sei,55 erfüllt. Erst recht ersetzt eine affirmative Stellungnahme das Begründungsdefizit nicht; so wenn etwa Rönnau/Hohn meinen, dass es auf die Ablehnung der Gebotenheit zur Versagung der Notwehr wegen des absoluten verfassungsrechtlichen Folterverbots nicht ankäme: „sie [die Ablehnung] wäre jedoch zu bejahen“;56 – immerhin wird damit zum Ausdruck gebracht, dass die Gebotenheit und die Verfassungswidrigkeit unterschiedliche Kriterien sind, deren Verbindung noch hergestellt werden müsste. Das gilt auch für die Behandlung der „Rettungsfolter“ durch Erb, der den Verstoß gegen die Menschenwürde durch Hoheitsträger bei der Problematik „Notwehr durch Hoheitsträger“ behandelt,57 bevor er sich davon getrennt der Gebotenheit bzw. den „sozialethischen Einschränkungen“ der Notwehr zuwendet.58 Demgegenüber lässt die Behauptung Fischers, die Diskussion über die „Einschränkung des Folterverbots“ sei „eine – auf der Ebene der Gebotenheit zu führende – Diskussion“,59 jegliche Begründung vermissen; – davon abgesehen hält er die Meinung, dass darüber überhaupt ergebnisoffen diskutiert werden könne, für „abwegig“.60 Dazu fällt einem außer Kopfschütteln nichts ein; – zur eigenen Beruhigung kann man sich dann aber sagen, dass sich so die Diskussion nicht abwürgen lassen wird. Dass die Diskussion weitergeht, zeigt ein nach Abschluss, aber vor Abgabe des Manuskripts erschienener Beitrag von Fahl, der letztlich meint, dass es eine rechtspolitische, von Art. 1 GG und Art. 104 I 2 GG nicht vorgegebene Entscheidung sei, „ob man dem Amtsträger die Jedermannsrechte im Wege der Gebotenheit sozialethisch einschränken darf“; und über diese Entscheidung „scheint“ „die Debatte noch nicht abgeschlossen“ zu sein.61 55 So Lenckner/Perron (o. Fn. 48), § 32 Rn. 62 a; dass der „Rettungsfolter” „zwingendes Verfassungs- und Völkerrecht“ entgegenstehe, leistet diese Begründung nicht und ist auch nur eine umstrittene Behauptung. 56 Rönnau/Hohn LK, 12. Aufl. 2006, § 32 Rn. 224. 57 Erb MK (o. Fn. 48), § 32 Rn. 166-175, zur „Misshandlung eines Geiselnehmers als Nothilfe“ Rn. 173-175. 58 Erb MK (o. Fn. 48), § 32 Rn. 176 ff. 59 Tröndle/Fischer (o. Fn. 14), § 32 Rn. 7d; ohne Begründung behaupten auch Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 37. Aufl. 2007, Rn. 289 a, dass eine Rechtfertigung der Folter bei § 32 an der Gebotenheit scheitere. 60 Tröndle/Fischer (o. Fn. 14), § 32 Rn. 7e gegen Norouzi JA 2005, 306. 61 Fahl Jura 2007, 743, 749.

Anmerkungen zum Bestimmtheitsgrundsatz

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Der Beitrag enthält eine ganze Reihe von Argumenten zur möglichen Begründung einer neuen sozialethischen Einschränkung, für die auch schon der Name „evident rechtsstaatswidriges Verhalten“ vorgeschlagen wurde;62 er bringt aber auch Zweifel an ihrer Berechtigung zur Sprache. Stark verkürzt: wer das verfassungsrechtliche Folterverbot verletzt, bewährt nicht das Recht,63 wer aber die Nothilfe bei Strafe verbietet, bewirkt, dass „das Recht dem Unrecht“ dann letztlich doch weichen muss.64 Schon das bietet genug Stoff für die Fortsetzung der Debatte bzw. Diskussion über die Gebotenheit der „Rettungsfolter“. Sie kann hier aber nicht weitergeführt werden, wenn nicht der Rahmen einer „Anmerkung zum Bestimmtheitsgrundsatz“ gesprengt werden soll.

V. Die wegen Sittenwidrigkeit strafbare Körperverletzung (§ 228 StGB) Als letztes Sonderproblem der gesetzlichen Bestimmtheit der Strafbarkeit soll – wie bereits unter I. angekündigt und begründet – nur noch kurz die Vorschrift des § 228 StGB angesprochen werden. Sie macht die Strafbarkeit einer Körperverletzung, in die der Verletzte – tatbestandsausschließend65 oder rechtfertigend66 – eingewilligt hat, von einem Verstoß gegen die guten Sitten abhängig. Mit diesem Verweis auf die guten Sitten oder genauer: auf den Verstoß gegen die guten Sitten, steht die Vorschrift nicht alleine da. Auch im Zivilrecht arbeitet der Gesetzgeber mit dem Verstoß gegen die guten Sitten – kurz: der Sittenwidrigkeit –, wenn er in § 138 BGB ein Rechtsgeschäft, das „gegen die guten Sitten verstößt“, für „nichtig“ erklärt, oder wenn er in § 826 BGB denjenigen zum Schadensersatz verpflichtet, der „in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem anderen vorsätzlich Schaden zufügt“. Unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgrundsatzes ist aber die Regelung des § 228 StGB schon deshalb kritischer zu betrachten, weil sie „die Strafbarkeit“ i.S. des Art. 103 II GG bzw. des § 1 StGB betrifft. Zwar liegt in Fällen des § 228 StGB ein an sich strafbares Verhalten in Form einer „Körperverletzung“ vor, gegen deren Bestimmtheit als Gesetzesbegriff keine Bedenken bestehen. Doch wird diese „Strafbarkeit“ im Falle des § 228 StGB durch die „Einwilligung der verletzten Person“ „aufgehoben“, es sei denn „die Tat“ (= die Körperverletzung) verstößt 62

Norouzi, JA 2005, 306, 310 Fn. 67. Fahl Jura 2007, 743, 747. 64 Fahl Jura 2007, 743, 748. 65 So etwa Kühl (o. Fn. 49), § 9 Rn. 22. 66 So etwa Roxin (o. Fn. 40), § 13 Rn. 12-18. 63

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„gegen die guten Sitten“. Damit aber entscheidet die Sittenwidrigkeit der Körperverletzung über ihre „Strafbarkeit“ i.S. des Art. 103 II GG bzw. des § 1 StGB. Die Frage, ob § 228 StGB mit seiner Sittenwidrigkeitsklausel hinreichend „gesetzlich bestimmt“ i.S. der genannten Vorschriften ist, muss deshalb schon aus verfassungsrechtlichen Gründen gestellt werden. Sie ist auch schon häufig gestellt und in den gründlichsten Untersuchungen mit negativem Ergebnis beantwortet worden.67 Den Gründen für dieses negative Ergebnis soll hier nicht nachgegangen werden. Vielmehr soll die bisher vom Verfasser verfolgte Linie (Nachweise oben in Fn. 7) etwas weiter verfolgt werden. Ausgehend vom Bestimmtheitsgrundsatz stellt sich die spezielle Frage, wann noch eine „gesetzliche“ Bestimmtheit einer Strafvorschrift vorliegt. Der Verweis auf eine außerrechtliche Instanz durch den Gesetzgeber verstößt an sich noch nicht gegen das Bestimmtheitsgebot, wenn nur diese Instanz „Bestimmtes“ hervorbringt. Eher kann die Einhaltung des Bestimmtheitsgebots dann bezweifelt werden, wenn der Verweis im Gesetz – z.B. in § 228 StGB – auf eine außerrechtliche Instanz gerade eine Instanz betrifft, die im Gegensatz zum Recht steht. Doch ist auch dieser Zweifel behebbar. Zwar werden Recht und Moral einschließlich der guten Sitten oft in Gegensatz zueinander gebracht und diese sog. „Trennungsthese“ hat auch ihre Berechtigung; – so etwa, wenn sie es verbietet, reine Moralwidrigkeit ohne Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung unter Strafe zu stellen. Aber die Berechtigung der „Trennungsthese“ kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zwischen Recht und Moral/gute Sitten auch viel Verbindendes68 gibt; – so ist etwa der Totschlag als Freiheitsverletzung sowohl rechtlich als auch moralisch verboten und es kommt nur zu unterschiedlichen Sanktionen. Zum Problem wird der Verweis einer (Straf-)Rechtsnorm auf die Moral/gute Sitten jedoch dann, wenn das Verweisungsobjekt keine klaren Entscheidungen in Rechtsfragen hervorbringt. Dass es inzwischen so weit sein könnte, legen die bereits oben (unter I.) angesprochenen neueren Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen69 nahe. Obwohl das Gesetz (§ 228 StGB) nicht – positiv – der Ermittlung guter Sitten, sondern nur – negativ – die Feststellung einer Sittenwidrigkeit verlangt, scheint damit in einer pluralistischen Gesellschaft zu viel verlangt zu sein. Weder für sadomasochistische Praktiken noch für die (strafbare) Überlassung von Heroin 67 Sternberg-Lieben Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 136, 162; Rönnau Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, 2001, S. 165. 68 Kühl Meurer-GS, 2002, S. 545 ff. und in: Schreiber-FS, 2003, S. 959 ff. 69 BGHSt 49, 34 ff. und 166 ff.

Anmerkungen zum Bestimmtheitsgrundsatz

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sieht sich der BGH in der Lage, ein eindeutiges Sittenwidrigkeitsurteil abzugeben. Dennoch nimmt er in beiden Fällen eine nach § 228 StGB strafbare Körperverletzung an, wenn die Handlungen des jeweiligen Täters – verkürzt gesagt – zu einer Lebensgefahr für das jeweilige Opfer geführt haben. Das muss aber nicht unter dem Deckmantel der Sittenwidrigkeit geschehen, sondern kann vom (Straf-)Recht autark (= ohne Inbezugnahme der Sittenwidrigkeit) geleistet werden. Es bedürfte nur einer Gesetzesänderung, nach der eine strafbare Körperverletzung trotz Einwilligung der verletzen Person dann vorliegt, wenn sie diese in Lebensgefahr bringt. Damit hätte sich das (Straf-)Recht ein weiteres Mal von der Moral in Form der guten Sitten emanzipiert. Ob man sich darüber freuen soll, in einer Gesellschaft zu leben, die keine eindeutigen Sittenwidrigkeitsurteile mehr fällen kann, sollte jeder für sich beantworten. An gesetzlicher Bestimmtheit wäre ein so geänderter § 228 StGB dem bisherigen § 228 StGB jedenfalls überlegen. Hinzukommt, dass der (Straf-)Gesetzgeber dann die Regelung von „Wesentlichem“, nämlich der Strafbarkeit von Körperverletzungen, selbst vornehmen und nicht den guten Sitten überlassen würde; – „wesentlich“ ist diese Regelung vor allem deshalb, weil sie das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen über seine körperliche Unversehrtheit beschneidet. Doch führt das über das hier zu behandelnde Thema der Gesetzesbestimmtheit hinaus, so dass es angebracht erscheint, hier aufzuhören.

Die Bedeutung des Bestimmtheitsgrundsatzes für die Auslegung nicht strafrechtlicher Bezugsnormen HARRO OTTO

I. Bestimmtheitsgrundsatz und allgemeine Grundsätze des Strafrechts Auf die Bedeutung des Bestimmtheitsgrundsatzes für die praktische Rechtsanwendung hat Manfred Seebode mehrfach hingewiesen, zugleich aber auch dessen geringe Achtung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung beklagt.1 Er stellte dabei heraus, dass das BVerfG zwar häufig das Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit der Strafbarkeit betone, letztlich aber in seiner Rechtsprechung zu Art. 103 Abs. 2 GG das Verfassungsgebot „wirkungslos gemacht“ habe.2 Dennoch hielt er angesichts dieses Sachverhalts Resignation nicht für angemessen, sondern das Bemühen, die Entwicklung umzukehren.3 12 Jahre später konstatiert Manfred Seebode, dass dieses Bemühen die Situation nicht geändert habe. Die Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 103 Abs. 2 GG sei für jede Überraschung gut, nur eine beliebige Verwendbarkeit und regelmäßige Bedeutungslosigkeit des Bestimmtheitsgebots seien gewiss.4 Dabei hat der Bestimmtheitsgrundsatz in den letzten Jahren eine erhebliche und grundsätzliche Ausdehnung durch die höchstrichterliche Forderung erfahren, dass auch die Auslegung von Strafgesetzen hinreichend bestimmt sein müsse und an den Kriterien des Art. 103 Abs. 2 GG zu messen sei.5 Mit diesem Gebot bestimmter Gesetzesauslegung hat „der Bestimmtheitsgrundsatz im Wege der Rechtsfortbildung eine neue und eigenständige Ausformung“ erhalten,6 die sachlich aber durchaus angemessen und berechtigt ist. Wenn nämlich der Gesetzgeber mit dem Wortlaut einer Vorschrift einen 1

Vgl. Seebode Spendel-FS, 1992, S. 317 ff; ders. JZ 2004, 305 ff. Dazu Seebode Spendel-FS, S. 326; ders. JZ 2004, 306 f. 3 Seebode Spendel-FS, S. 328 f. 4 Seebode JZ 2004, 307. 5 Vgl. dazu BVerfGE 87, 209, 229; BGHSt 35, 270, 283; 50, 150 ff; dazu Kuhlen Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen, 2006, S. 94 ff; ders. Otto-FS, 2007, S. 102 ff. 6 Kuhlen Otto-FS, S. 103. 2

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Regelungsrahmen schafft, den der Richter konkretisierend ausfüllt,7 so ist es in der Tat „nur folgerichtig, auch von der richterlichen Auslegung des Gesetzes einen Beitrag zur Bestimmung des Strafrechts zu fordern“.8 Gleichwohl erscheint es problematisch, ob die Erstreckung des Art. 103 Abs. 2 GG auf die richterliche Auslegung nicht den Regelungsgehalt des Art. 103 Abs. 2 GG sprengt, weil es sich bei der Forderung, dass der Richter seiner Rechtsanwendung nicht eine verfassungswidrige Auslegung des Gesetzes zu Grunde legt, um ein Postulat handelt, das sich aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 3 GG, ergibt, nicht aber unmittelbar aus Art. 103 Abs. 2 GG. – Das kann aber hier dahinstehen, denn ins allgemeine Problembewusstsein ist diese Erweiterung des Grundsatzes der Gesetzesbestimmtheit noch nicht gedrungen, wie sich bei der Auslegung blankettausfüllender Normen zeigt, bei der es darum gehen muss, die das Strafrecht tragenden Grundsätze hinreichend zu beachten, da diese Grundsätze Inhalt und mögliche Grenzen strafrechtlicher Begriffe maßgeblich bestimmen. Das erweist sich eklatant im Rahmen der strafrechtlichen Haftung als Täter, wenn die das Blankett ausfüllende öffentlich-rechtliche Norm nach den Verantwortlichkeitsregeln des allgemeinen Rechts der Gefahrenabwehr auf den Störer als den Verantwortlichen verweist, während das Strafrecht erheblich höhere Anforderungen an den „Täter“ stellt. – Relevant wird diese Problematik z. B. beim Verbot des Inverkehrbringens von Stoffen als kosmetische Mittel bzw. als Bedarfsgegenstände, die „bei bestimmungsgemäßem oder vorauszusehendem Gebrauch“ geeignet sind, die Gesundheit zu schädigen, § 58 Abs. 1 Nr. 12, Abs. 6 in Verb. mit § 26 S. 1 Nr. 2 des Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuchs vom 1. 9. 2005 (LFGB) und beim Verbot des Inverkehrbringens bedenklicher Arzneimittel, § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 des Arzneimittelgesetzes (AMG). Der Problematik, die hier an den Regelungen des AMG exemplifiziert werden soll, kommt erhebliche praktische Bedeutung zu. Die Beschäftigung mit ihr auf der Grundlage der positiven Äußerungen des BVerfG zum Bestimmtheitsgrundsatz als Auslegungsprinzip ist daher als Fortsetzung der Bemühungen des verehrten Jubilars, dem Bestimmtheitsgrundsatz in der praktischen Rechtsanwendung den ihm zukommenden Rang einzuräumen, zu verstehen.

7 Dazu Krey Keine Strafe ohne Gesetz, 1983, S. 137 ff; Roxin Strafrecht, A.T. I, 4. Aufl. 2006, § 5 Rn 28. 8 Kuhlen Otto-FS, S. 103.

Die Bedeutung des Bestimmtheitsgrundsatzes

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II. Die Rechtsnatur des § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 AMG § 95 Abs. 1 Nr. 1 AMG ist ein sog. Blankettgesetz, dessen inhaltliche Bestimmung erst durch eine weitere Vorschrift, die sog. blankettausfüllende Norm, auf die § 95 Abs. 1 Nr. 1 AMG Bezug nimmt, konkretisiert wird. Blankettausfüllende Norm ist im vorliegenden Fall § 5 AMG. Indem § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 AMG im Hinblick auf das Verbot, Arzneimittel, bei denen der Verdacht auf schädliche Wirkungen besteht, in den Verkehr zu bringen, auf § 5 AMG verweist, verleiht er dem § 5 AMG im Umfang der Bezugnahme den Charakter einer Strafnorm, da sich der vollständige Gesetzeswortlaut erst aus der Verbindung der Blankettnorm mit der das Blankett ausfüllenden Norm ergibt. Beide Normen sind als Einheit zu lesen.

III. Verfassungsrechtliche Anforderungen an Blankettstraftatbestände 1. Grundsätzliche Voraussetzungen Die Verbindung der Blankettnorm (Sanktionsnorm) mit der das Blankett ausfüllenden Norm zum relevanten Straftatbestand begründet eine besondere Problematik der blankettausfüllenden Norm, die in ihrem öffentlichrechtlichen Umfeld und Anwendungsbereich grundsätzlich nicht den Anforderungen genügen muss, die an strafrechtliche Normen zu stellen sind. Als Teil einer Strafrechtsnorm muss die Norm den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügen.9

2. Die Verfassungsgemäßheit des § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 AMG Nach Auffassung des BVerfG genügt § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 AMG den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG,10 und auch der BGH hat die Ansicht vertreten, dass § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 AMG sowohl im Hinblick auf die Verwendung des Arzneimittelbegriffs11 als auch im Hinblick auf das Merkmal „bedenklich“12 den Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes entspricht. – Die Literatur akzeptiert

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Dazu im Einzelnen BVerfG 41, 314, 319. Vgl. BVerfG wistra 2000, 379. 11 Vgl. BGHSt 43, 336, 342 f. 12 BGH NStZ 1999, 625. 10

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diese Auffassung weithin.13 – Dem soll nicht weiter nachgegangen werden, da es die hier als relevant herausgestellte Auslegungsproblematik nicht betrifft.

IV. Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Auslegung von Blankettstraftatbeständen 1. Das Problem der Normspaltung Bei der Auslegung von Blankettstraftatbeständen, die auf eine zivil- oder öffentlich-rechtliche Norm als blankettausfüllende Norm verweisen, stellt sich die Problematik, ob diese zivil- oder öffentlich-rechtlichen Verhaltensnorm nach den Grundsätzen des Art. 103 Abs. 2 GG ausgelegt werden muss, oder ob diese Norm in ihrer zivil- oder öffentlich-rechtlichen Auslegung der konkrete Bezugspunkt der strafrechtlichen Blankettnorm ist. Geltend gemacht wird, dass dann, wenn die außerstrafrechtliche Norm nicht in ihrem „außerstrafrechtlichen Verständnis“ zum Bezugsobjekt der Sanktionsnorm gemacht wird, sondern in einem restriktiven „strafrechtlichen Verständnis“, die Gefahr der Normspaltung begründet ist.14 Der Übernahme der strafrechtlichen Auslegung in das Zivil- bzw. öffentliche Recht15 steht hingegen die u. U. anders ausgerichtete Zielsetzung dieses Rechtsgebiets in der Auslegung der konkreten Norm entgegen. Das BVerfG hat in dieser Auseinandersetzung eindeutig Stellung bezogen. Nach seiner Auffassung steht Art. 103 Abs. 2 GG dem Versuch entgegen, die außerstrafrechtliche Norm in ihrem außerstrafrechtlichen Verständnis zum Bezugsobjekt der Sanktionsnorm zu machen. Die außerstrafrechtliche Norm ist demgemäß „unter strafrechtlichen Gesichtspunkten und nach den Maßstäben zu würdigen ..., die für die Auslegung von Strafgesetzen gelten.16 „Es ist daher eine enge Auslegung geboten,17 die im Hinblick auf

13 Vgl. insoweit Körner Betäubungsmittelgesetz, Arzneimittelgesetz, 5. Aufl. 2001, AMG § 95 Rn 1. 14 Vgl. Raisch/Maasch Benisch-FS, 1989, S. 216. 15 Vgl. dazu Dannecker Rivista Trimestrale 1990, 451; Möhring GRUR 1968, 543 f; Raisch ZHR 1966, 165 ff; Schüppen Systematik und Auslegung des Bilanzrechts, 1993, S. 197 f. 16 BVerfGE 48, 48, 60 f; dazu auch BGHSt 24, 54, 61 f; Herschel JuS 1965, 261 f; Kohlmann Steuerstrafrecht, Bd. I, 5. Aufl. Teil B, Rn 14; Lüderssen Schroeder-FS, 2006, S. 574 ff; ders. NStZ 2007, 20; Otto Grundkurs Strafrecht, A.T., 7. Aufl. 2004, § 2 Rn 7; ders. Jura 2005, 539; Schulze/Osterloh in: Kohlmann (Hrsg.), Strafverfolgung und Strafverteidigung im Steuerstrafrecht, 1983, S. 50; Steindorff Larenz-FS, 1973, S. 242 f; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht, A.T., 2. Aufl. 2007, § 4 Rn 105; Ulmer WuW 1971, 885. 17 BVerfGE 48, 48, 61 f; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht, § 4 Rn 105.

Die Bedeutung des Bestimmtheitsgrundsatzes

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die blankettausfüllende Norm streng an den maßgebenden Grundsätzen des Strafrechts und am Bestimmtheitsgrundsatz zu messen ist. In ständiger Rechtsprechung geht das BVerfG daher davon aus, dass nicht nur die gesetzliche Formulierung einer Strafnorm dem Bestimmtheitsgrundsatz genügen muss, sondern auch die Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale. Die einzelnen Tatbestandsmerkmale seien so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich des Straftatbestandes zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen.18 Unter diesem Aspekt ist für die Bestimmtheit einer Strafvorschrift in erster Linie der für den Adressaten erkennbare und verstehbare Wortlaut des gesetzlichen Tatbestands maßgebend.

2. Konsequenzen für die Auslegung des § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 AMG Die strenge Bindung an den Gesetzeswortlaut und seine Grenzen sowie die Beachtung strafrechtlicher Grundsätze bei der Auslegung sind demgemäß bei der Interpretation des Begriffs des „bestimmungsgemäßen Gebrauchs eines Arzneimittels“ im Sinne des § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 AMG die verbindlichen Leitlinien der Auslegung.

V. Die Auslegung des § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 AMG 1. Die Auslegung des Begriffs des bestimmungsgemäßen Gebrauchs eines Arzneimittels im Rahmen des Arzneimittelrechts a) Die subjektive Theorie Einhellig anerkannt ist in der Literatur zum Arzneimittelrecht, dass zunächst die Verwendung eines Arzneimittels bestimmungsgemäß ist, die den vom pharmazeutischen Unternehmen abgegebenen Gebrauchsangaben entspricht. Die bei Fertigarzneimitteln im Sinn des § 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 AMG vorgeschriebenen Angaben durch das pharmazeutische Unternehmen auf der Packung, § 10 AMG, in der Packungsbeilage, § 11 AMG, und in der für Ärzte und Apotheker bestimmten Fachinformation, § 11 a AMG, haben für den bestimmungsgemäßen Gebrauch konstitutive Bedeutung. Das pharmazeutische Unternehmen legt den bestimmungsgemäßen Gebrauch durch

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Vgl. BVerfGE 75, 329, 341; 55, 144, 152; 47, 109, 120; 41, 314, 319; 26, 41, 42; 25, 269,

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Festlegung der Anwendungsbereiche, der Art und Weise sowie der Dauer der Anwendung und der Kontraindikationen fest. Unabhängig von diesem Grundkonsens wird sodann aber in der Literatur differenziert. Während die einen als bestimmungsgemäßen Gebrauch nur den vom pharmazeutischen Unternehmen19 vorgesehenen Gebrauch anerkennen,20 ergänzen andere den damit abgesteckten Bereich durch weitere objektive Kriterien, die aber nicht allgemein definiert werden. Der bestimmungsgemäße Gebrauch wird vielmehr nach objektiven Kriterien auf bestimmte Fallgruppen ausgedehnt.

b) Der wissenschaftlich anerkannte Gebrauch Eine besondere Bedeutung bei der Erfassung des „bestimmungsgemäßen Gebrauchs“ kommt dem wissenschaftlich anerkannten Gebrauch zu. Bestimmungsgemäß soll nämlich auch der von der Bestimmung des pharmazeutischen Unternehmens abweichende, aber wissenschaftlich anerkannte Gebrauch sein,21 doch liegt dessen Problematik keineswegs in einer Erweiterung des durch das Unternehmen festgelegten Gebrauchs, da es hier um das Inverkehrbringen bedenklicher Arzneimittel geht. Das aber sind gemäß § 5 Abs. 2 AMG Arzneimittel, bei denen nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse der begründete Verdacht besteht, dass sie bei bestimmungsgemäßem Gebrauch bestimmte schädliche Wirkungen haben. Solange der wissenschaftlich anerkannte Gebrauch daher unbedenklich ist, eröffnen sich – auch beim Abweichen von der Bestimmung des pharmazeutischen Unternehmens – keine Haftungsprobleme. Diese können allein relevant werden, wenn der wissenschaftlich anerkannte Gebrauch

19 Die Problematik anderer Normadressaten des § 5 AMG – Ärzte, Apotheker –, die durch Gebrauchsbestimmungen, die von denen des pharmazeutischen Unternehmens abweichen, durchaus Arzneimittel in Verkehr bringen können im Sinne des § 5 AMG – dazu BGH NStZ 1999, 625 – ist hier irrelevant und wird daher ausgeklammert. 20 Vgl. Deutsch in: Deutsch/Lippert, AMG § 5 Rn 3; Hasskarl BB 1973, 121; Hauke/Kremer PharmaR 1992, 164; Papier Der bestimmungsgemäße Gebrauch der Arzneimittel – die Verantwortung des pharmazeutischen Unternehmers –, 1980, S. 11 f; Rehmann Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2003, AMG § 5 Rn 3; Samson/Wolz MedR 1988, 72; Vogler MedR 1984, 19; Wagner Arzneimittel-Delinquenz, 1984, S. 76; Wolz Bedenkliche Arzneimittel als Rechtsbegriff, 1988, S. 68 f. – Auch Pelchen in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 136. Lieferung März 2000, AMG § 5 Rn 5, ist hier einzuordnen, da sein Hinweis auf das Verständnis der Verbraucherkreise nur für den Fall gilt, dass das pharmazeutische Unternehmen keine Bestimmung getroffen hat. 21 Vgl. Bertelsmann in: Schnieders/Mecklenburg (Hrsg.), Zulassung und Nachzulassung von Arzneimitteln, 1987, S. 133; Kloesel/Cyran Arzneimittelrecht, Kommentar, Stand: 1. Juli 2003, AMG § 5 Anm. 17; Plagemann WRP 1978, 782; Räpple Verbot, S. 74.

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bedenklich ist, dieser Sachverhalt von der Wissenschaft aber noch nicht erkannt ist. Vertraut das pharmazeutische Unternehmen auf die wissenschaftliche Anerkennung des Gebrauchs, so kommt bereits aus subjektiven Gründen seine Haftung nicht in Betracht. Weiß das pharmazeutische Unternehmen hingegen im Gegensatz zu den allgemeinen Erkenntnissen der Wissenschaft, dass der wissenschaftlich anerkannte Gebrauch bedenklich oder schädlich ist, oder hätte es dieses erkennen können, so trifft die Verantwortlichen des Unternehmens eine Informations-, Aufklärungs- und u. U. Beseitigungspflicht als Garanten unter dem Aspekt der Verkehrssicherungspflicht bzw. des vorangegangenen gefährlichen Tuns. – Die gleiche Informations-, Aufklärungs- und u. U. Beseitigungspflicht trifft die Verantwortlichen des Unternehmens, wenn die Gebrauchsinformation nicht mehr dem wissenschaftlich anerkannten Gebrauch entspricht, weil die neuere wissenschaftliche Forschung zur Entdeckung von Schadenseignungen des Arzneimittels geführt hat, die bei der Formulierung der Gebrauchsinformation noch nicht bekannt waren.22 Mit der inhaltlichen Bestimmung des Begriffs des bestimmungsgemäßen Gebrauchs hat diese Problematik jedoch nichts zu tun. Ist die Unbedenklichkeit eines bestimmten Gebrauchs hingegen wissenschaftlich strittig, so liegt in dieser Art des Gebrauchs kein wissenschaftlich anerkannter Gebrauch. Dieser Begriff setzt einen übergreifenden Konsens der medizinischen Wissenschaft voraus. Einzelmeinungen begründen keinen wissenschaftlich anerkannten Gebrauch, wenn sie umstritten sind.

c) Erweiternde objektive Theorien Die Vertreter erweiternder objektiver Theorien in der Literatur gehen davon aus, dass die subjektive Gebrauchsbestimmung des pharmazeutischen Unternehmens durch das objektive Kriterium der allgemeinen Verkehrsauffassung zu erweitern und zu ergänzen ist,23 und der bestimmungsgemäße Gebrauch daher nicht nur durch die Angaben des pharmazeutischen Herstellers festgelegt wird, sondern auch den davon abweichenden nahe liegenden oder in großem Umfang praktizierten Fehlgebrauch erfasse.

22 Dazu auch Mayer Strafrechtliche Produktverantwortung bei Arzneimittelschäden, 2008, S. 590 f.; Wolter Schroeder-FS, 2006, S. 439. 23 Vgl. Körner AMG, Vorbem. Rn 59; Räpple Das Verbot bedenklicher Arzneimittel, 1991, S. 74.

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aa) Der in großem Umfang praktizierte Fehlgebrauch Die Erweiterung des durch das pharmazeutische Unternehmen vorgesehenen bestimmungsgemäßen Gebrauchs durch den in großem Umfang praktizierten Fehlgebrauch24 bleibt in ihren Grenzen verschwommen. Entscheidend soll hier sein, dass die Anwendung der medizinischen lex artis und den vom pharmazeutischen Unternehmen gemachten Angaben widerspricht, gleichwohl aber in großem Umfang praktiziert wird. Der bewusst in großem Umfang praktizierte Fehlgebrauch wird allerdings z.T. ausdrücklich als nicht bestimmungsgemäßer Gebrauch qualifiziert.25 Darüber hinaus aber werden die Ursachen eines möglicherweise in großem Umfang praktizierten Fehlgebrauch und die Gründe der Zurechnung nicht näher definiert.

bb) Der nahe liegende – voraussehbare – Fehlgebrauch Als nahe liegender – voraussehbarer – Fehlgebrauch, der den vom pharmazeutischen Unternehmen angegebenen bestimmungsgemäßen Gebrauch ergänzen soll,26 wird ein vom empfohlenen Gebrauch abweichender Gebrauch definiert, der bei objektiver Betrachtung voraussehbar war. Soweit dieser Fehlgebrauch allerdings auf einer bewussten Entscheidung der Ärzte gegen den vom pharmazeutischen Unternehmen festgesetzten bestimmungsgemäßen Gebrauch beruht, wird das Verhalten auch hier z.T. ausdrücklich als „nicht bestimmungsgemäßer Gebrauch“ erkannt.27 Im übrigen werden die Gründe des Fehlgebrauchs und die der Zurechnung aber nicht näher erörtert.

cc) Der nahe liegende, vom Hersteller stillschweigend gebilligte Fehlgebrauch Von einem nahe liegenden, vom Hersteller stillschweigend gebilligten Fehlgebrauch kann nur dann ausgegangen werden, wenn man im konkreten Fall das Stillschweigen des Herstellers als Billigung interpretieren kann. Das aber setzt voraus, dass der Hersteller sowohl den Fehlgebrauch als auch 24 So Bertelsmann in: Schnieders/Mecklenburg, S. 133; Granitza in: Schering (Hrsg.), Pharma-Forschung, Vorlesungsreihe, Heft 14, 1986, S. 21 f; Kloesel/Cyran AMG § 5 Rn 17; Mayer Produktverantwortung, S. 517, 525; Plagemann WRP 1978, 783; Räpple Verbot, S. 74. 25 Vgl. Flatten MedR 1993, 464; Räpple Verbot, S. 74 m.N. 26 Vgl. Bertelsmann in: Schnieders/Mecklenburg, S. 133; Flatten MedR 1993, 464; Granitza Pharma-Forschung, S. 21 f; Kloesel/Cyran AMG § 5 Rn 17; Plagemann WRP 1978, 784; Räpple Verbot, S. 74. 27 Vgl. Flatten MedR 1993, 464; Mayer Produktverantwortung, S. 516; Räpple Verbot, S. 74 m.N.

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dessen nicht mehr vertretbare Risiken positiv kennt und gleichwohl nicht auf diese Risiken in geeigneter Weise hinweist.

d) Die Rechtsprechung aa) Das BVerfG hat sich mit der hier relevanten Problematik des bestimmungsgemäßen Gebrauchs eines Arzneimittels und seiner Grenzen nur in einem Teilbereich befasst, indem es – im Anschluss an den BGH – davon ausging, dass auch Ärzte und Apotheker einen bestimmungsgemäßen Gebrauch festlegen können, wenn sie ein Arzneimittel massenweise undifferenziert verschreiben, ohne zureichende Untersuchung und Überwachung und unter Vernachlässigung von Kontraindikationen.28 bb) Der BGH in Strafsachen hat die Problematik, ob der bestimmungsgemäße Gebrauch subjektiv durch das pharmazeutische Unternehmen zu bestimmen ist oder ob diese Bestimmung durch das objektive Kriterium der allgemeinen Verkehrsauffassung zu ergänzen ist, zwar angesprochen, die Frage aber offen gelassen, weil es auf diesen Meinungsstreit im konkreten Fall nicht ankam.29 cc) Der BGH in Zivilsachen hat in der sog. Estil-Entscheidung die Herstellerfirma eines Arzneimittels zum Schadenersatz verurteilt, obwohl die Produktinformation einen Warnhinweis in Bezug auf bestimmte Anwendungsarten des Arzneimittels enthielt, und die Anwendung des Arzneimittels im konkreten Fall entgegen dem Hinweis des Herstellers erfolgte. Die Verurteilung erfolgt aber nicht unter Bezug auf einen praktizierten Fehlgebrauch großen Umfangs oder allgemein auf einen nahe liegenden – vorhersehbaren – Fehlgebrauch. Die Verurteilung wurde vielmehr vom BGH damit begründet, dass der Hersteller es unterlassen habe, ausreichend vor der Gefahr eines nahe liegenden Fehlgebrauchs bei der konkreten Anwendung des Arzneimittels zu warnen: BGH NJW 1972, 2217, 2220: „Daß eine wirksame Warnung vor spezifischen Gefahren, die von einem in Verkehr gebrachten Erzeugnis ausgehen, zu den Pflichten des Herstellers gehört, deren Verletzung zur Haftung für daraus Dritten erwachsende Schäden führen kann, ist in der Rechtsprechung seit langem anerkannt ... ... Es ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, wenn das Berufungsgericht angesichts dessen meint, daß der Arzt auf den vollen Umfang des mit der Wahl die28 29

Vgl. BVerfG wistra 2000, 379; BGH NStZ 1999, 625. Vgl. BGHR, AMG § 95 Abs. 1 Nr. 1; Arzneimittel 2.

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ses Mittels eingegangenen Risikos habe hingewiesen werden müssen, weil er nur so zu der in besonderem Maße gebotenen größtmöglichen Sorgfalt angehalten und dazu veranlaßt worden wäre, in Zweifelsfällen auf dieses Mittel überhaupt zu verzichten.“ S. 2221: „Die Revision bemerkt schließlich ohne Erfolg, der Arzneimittelhersteller könne nur für die bestimmungsgemäße Anwendung seines Erzeugnisses verantwortlich sein; die Einbringung eines für intravenöse Applikation vorgesehenen Mittels in die Arterie stelle eine nicht bestimmungsgemäße Anwendung dar, deren Folgen dem Hersteller nicht zugerechnet werden könnten. Dies kann nur insoweit gelten, als eine bewußte Fehlanwendung (etwa oral statt, wie vorgesehen, äußerlich) in Frage steht. Dann mag durch das Dazwischentreten fremden Handelns die Zurechnung unterbrochen sein. Aber selbst insoweit ist der Hersteller gegebenenfalls nicht von der Pflicht befreit, vor nahe liegendem Mißbrauch – etwa durch die deutliche Aufschrift „äußerlich“! (vgl. jetzt § 10 Abs. 6 Nr. 3 AMG) – angemessen zu warnen. Eben um eine solche Hinweispflicht geht es aber hier. Sie hat umso größeres Gewicht, wo es gilt, nicht einer bewußten, sondern einer versehentlichen Fehlanwendung (einem „Danebengehen“) vorzubeugen, wenn diese – wie hier festgestellt – nicht ganz fern liegt und Folgen von überraschender Schwere haben muß. Ob auch der Arzt schuldhaft gehandelt hat, ist so lange unerheblich, als das Verschulden des Herstellers gerade darin liegt, daß er solchen nicht ganz fern liegenden ärztlichen Fehlleistungen nicht entgegengewirkt hat.“

Haftungsgrund ist danach nicht ein in großem Umfang praktizierter oder ein nahe liegender – vorhersehbarer – Fehlgebrauch, sondern das Fehlen von Warnhinweisen, die einen nahe liegenden Fehlgebrauch verhindert hätten.30 Aus der Sicht des BGH beruhte die gefährliche Praxis nicht auf einem Fehlgebrauch des Arzneimittels durch die Ärzte, sondern auf der mangelhaften, weil lückenhaften Produktinformation des Herstellers, der nicht hinreichend über die Gefahren bei der Verwendung des Arzneimittels aufgeklärt und vor bestimmten Verwendungsarten nachdrücklich gewarnt hatte. Damit aber wird eine ganz spezifische Situation des nahe liegenden – vorhersehbaren – Fehlgebrauchs erfasst und gerade auch vom bewussten Fehlgebrauch unterschieden.

30 Das OVG Berlin hat nach der Beurteilung eines Warnhinweises in der Produktivformation als hinreichend die Handhabung des Arzneimittels entgegen diesem Warnhinweis als bestimmungswidrigen Gebrauch angesehen; vgl. OVG Berlin PharmaR 1988, 57.

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2. Die Auslegung des Begriffs des bestimmungsgemäßen Gebrauchs eines Arzneimittels als Merkmal eines Straftatbestandes Eine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Interpretationen des bestimmungsgemäßen Gebrauchs eines Arzneimittels im Sinn des Arzneimittelrechts führt die Untersuchung solange nicht weiter, als nicht geklärt ist, welche Grenzen die strafrechtlich bedingten verfassungsrechtlichen Vorgaben den verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten setzen.

a) Die verfassungsrechtlichen Vorgaben Wie unter III. dargelegt sind die Merkmale des § 5 AMG als Bestandteil der Blankettstrafnorm § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 AMG unter strafrechtlichen Gesichtspunkten und nach den Maßstäben auszulegen, die für die Auslegung von Strafgesetzen gelten.

aa) Auslegung der Tatbestandsmerkmale Die Auffassung von Anhängern „objektiver Theorien“ auch bei eindeutigen, vollständigen und verständigen Fach- und Gebrauchsinformationen gemäß §§ 11, 11 a AMG die strafrechtliche Haftung der Verantwortlichen der Herstellerfirma zu bejahen, wenn Dritte (Ärzte, Patienten) durch ihr Verhalten einen der subjektiven Herstellerbestimmung zuwider laufenden, jedoch voraussehbaren Fehlgebrauch vornehmen, hat Wolter als verfassungswidrig abgelehnt. Er hat mit Recht geltend gemacht, dass der Versuch, den aus dem Lebensmittelrecht stammenden Begriff des bestimmungswidrigen, vorhersehbaren Fehlverhaltens neben den „bestimmungsgemäßen Gebrauch“ in §§ 5, 95 AMG hineinzuinterpretieren, gegen den Grundsatz „nulla poena sine lege“ und das Analogieverbot verstößt.31 – Doch verletzt sind nicht nur die Wortlautgrenzen.

bb) Die Beachtung strafrechtlicher Grundsätze Der Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG kann nicht isoliert gesehen werden. Er wird vielmehr konkretisiert durch das Verantwortungsprinzip, das das Strafrecht wesentlich bestimmt, denn der Vorwurf, tatbestandsmäßig und rechtswidrig einen Straftatbestand verwirklicht zu haben, setzt die Feststellung voraus, dass das tatbestandsmäßige Verhalten als Werk des Täters und nicht als Werk irgendeiner anderen Person anzusehen ist. Damit wird der Gegenstand der Auslegung, der sodann auch unter dem 31

Wolter, Schroeder-FS, S. 438.

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Bestimmtheitsgrundsatz zu würdigen ist, durch das Verantwortungsprinzip als strafrechtlichem Maßstab, an dem das relevante Verhalten zu messen ist, begrenzt. Die im Strafrecht vorausgesetzte Möglichkeit, einer Person ein bestimmtes Verhalten oder einen bestimmten Erfolg als ihr Werk zuzurechnen, setzt die Geltung des Verantwortungsprinzips voraus. Dieses Prinzip konstatiert nämlich, dass jede Person grundsätzlich für ihr eigenes Verhalten verantwortlich ist und nicht für das Verhalten frei verantwortlich handelnder Dritter.32 Daraus folgt, dass dann, wenn sich in einem Erfolg nicht die ursprünglich begründete Gefahr (Ausgangsgefahr) realisiert, sondern eine neue, erst durch einen Dritten begründete Gefahr, die Verantwortung für den Erfolg nicht mehr den Erstverursacher trifft. Gleichwohl ist es nicht möglich, ein absolutes Regressverbot zu begründen, wie dieses z.T. in der Literatur gefordert wird, und die Verantwortung für einen Erfolg gleichsam automatisch dem Letztverursacher zuzuweisen. Denn dem Erstverursacher sind trotz des Dazwischentretens Dritter auch solche Erfolge zuzurechnen, die sich noch als Realisierung der Ausgangsgefahr darstellen.33 Danach trägt der Erstverursacher auch die Verantwortung für Rechtsgutsbeeinträchtigungen, die sich erst durch ein anknüpfendes pflichtwidriges oder pflichtgemäßes Verhalten Dritter realisieren, die aber bereits in der Erstgefährdung angelegt waren und durch deren Verbot auch vermieden werden sollten.34

b) Konsequenzen für die Auslegung des § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 AMG aa) Vor dem Hintergrund des Verantwortungsprinzips ist unter dem bestimmungsgemäßen Gebrauch eines Arzneimittels im Sinn des § 5 Abs. 2 AMG der Gebrauch des Arzneimittels zu verstehen, der den von dem pharmazeutischen Unternehmen gegebenen Gebrauchsangaben auf der Packung, 32 Im Einzelnen dazu Cramer/Sternberg-Lieben, in Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 15 Rn 148 ff; Kühl Strafrecht, A.T., 5. Aufl. 2005, § 4 Rn 84; Lenckner Engisch-FS, 1969, S. 506 f; Otto Tröndle-FS, 1989, S. 157; ders. E.A. Wolff-FS, 1998, S. 400 f; ders. Grundkurs Strafrecht, A.T., § 6 Rn 48 ff; Renzikowski Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung, 1997, S. 68 ff, 74 ff; Reyes ZStW 105 (1993), 109 f; Schumann Strafrechtliches Handlungsunrecht und das Prinzip der Selbstverantwortung der Anderen, 1986, S. 19 ff; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, A.T. I, 5. Aufl. 2004, § 15 Rn 65 ff. 33 Eingehender dazu Kühl, A.T., § 4 Rn 85; Namias Die Zurechnung von Folgeschäden im Strafrecht, 1993, S. 136 ff; Otto E.A. Wolff-FS, S. 407 ff; ders. Grundkurs Strafrecht, A.T., § 6 Rn 50; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele Vorbem. §§ 13 ff Rn 102. 34 Otto Grundkurs Strafrecht, A.T., § 6 Rn 50.

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in der Packungsbeilage und in der für Ärzte und Apotheker bestimmten Fachinformation entspricht. Diesen Gebrauch haben die für das Unternehmen Verantwortlichen initiiert und daher sind sie für diesen Gebrauch verantwortlich. – Insoweit findet die subjektive Theorie auch im Strafrecht eine sichere Grundlage. Unter dem Aspekt der Bestimmtheit der Auslegung, Art. 103 Abs. 2 GG, sind keine Einwände ersichtlich. bb) Da es sich aber bei Produktinformationen des pharmazeutischen Unternehmens um eine Erklärung im sozialen Raum handelt, unterliegt diese Erklärung den Regeln der Auslegung, die in diesem Bereich gelten. Das heißt: erklärt ist, was sich bei objektiver Auslegung aus dem Empfängerhorizont ergibt. An diese Erklärung muss sich der Äußernde halten lassen, das erfordert die im sozialen Bereich notwendige Rechtssicherheit. Das bedeutet im Hinblick auf das Inverkehrbringen eines Arzneimittels, das beim bestimmungsgemäßen Gebrauch zu schädlichen Wirkungen führen kann, dass das pharmazeutische Unternehmen nicht nur verantwortlich ist für den Gebrauch, der den vom pharmazeutischen Unternehmen gegebenen Gebrauchsangaben entspricht. Es muss sich auch den Gebrauch als bestimmungsgemäßen zurechnen lassen, den ein vernünftiger Adressat (Arzt, Apotheker) den Angaben des pharmazeutischen Unternehmens als bestimmungsgemäßen Gebrauch entnehmen konnte und durfte. Soweit daher – aus der Sicht eines vernünftigen Adressaten der Angaben – ein bestimmter Gebrauch des Arzneimittels seinen Grund in unrichtigen, unvollständigen, lückenhaften oder missverständlichen Produktinformationen hat, ist dieser Gebrauch dem pharmazeutischen Unternehmen als bestimmungsgemäßer Gebrauch zuzurechnen. Ein Gebrauch der darauf beruht, dass Ärzte oder Apotheker die Produktinformationen nicht, nur oberflächlich oder unvollständig zur Kenntnis nehmen oder sich bewusst über diese Information hinwegsetzen, ist hingegen kein bestimmungsgemäßer Gebrauch im Sinne des § 5 Abs. 2 AMG.35

c) Konsequenzen für den Theorienstreit zur Auslegung des Merkmals des bestimmungsgemäßen Gebrauchs in § 5 Abs. 2 AMG. aa) Die subjektive Theorie Als in vollem Umfang mit den strafrechtlichen Grundsätzen bei der Auslegung des § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 AMG vereinbar hat sich die subjektive Theorie erwiesen. – Sie ist auch sachgerecht, denn sie entspricht dem das Strafrecht beherrschenden Verantwortungsprinzip.

35

Dazu Mayer Produktverantwortung, S. 516; Wolter Schroeder-FS, S. 441 ff.

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bb) Der in großem Maße praktizierte und der nahe liegende – vorhersehbare – Fehlgebrauch Unter strafrechtlich-verfassungsrechtlichen Aspekten kann ein in großem Umfang praktizierter oder ein nahe liegender – vorhersehbarer – Fehlgebrauch als solcher dem pharmazeutischen Unternehmen nicht als bestimmungsgemäßer Gebrauch zugerechnet werden. Maßgeblicher strafrechtlicher Anknüpfungspunkt ist vielmehr der Grund des in großem Umfang praktizierten Fehlgebrauchs. Hat dieser Fehlgebrauch seinen Grund in unrichtigen, unvollständigen, lückenhaften oder missverständlichen Produktinformationen des pharmazeutischen Unternehmens, so ist dieser Fehlgebrauch dem pharmazeutischen Unternehmen als bestimmungsgemäßer Gebrauch zuzurechnen. Beruht der Fehlgebrauch hingegen darauf, dass die Adressaten der mangelfreien Produktinformation sich bewusst über diese hinwegsetzen oder sie nicht, nur oberflächlich oder unvollständig zur Kenntnis nehmen, so ist der Fehlgebrauch nicht mehr als bestimmungsgemäßer Gebrauch zu akzeptieren. Dass der Fehlgebrauch u. U. in großem Maße praktiziert wird, nahe liegt oder vorhersehbar war, ändert daran nichts. Verantwortlich für diesen Fehlgebrauch sind nicht die Verantwortlichen des pharmazeutischen Unternehmens, sondern diejenigen, die den Fehlgebrauch praktizieren. Das gilt z. B. auch, wenn ein Arzneimittel in großem Umfang als Droge missbraucht wird. – Unabhängig davon, ob das Arzneimittel nach Grundsätzen des allgemeinen Polizeirechts u. U. vom Markt genommen werden kann, ist der Fehlgebrauch dem Unternehmen und seinen Verantwortlichen jedenfalls nicht als „bestimmungsgemäßer Gebrauch“ zuzurechnen. Soweit das Polizeirecht hier u. U. andere Wege geht, sind diese dem Strafrecht verschlossen. Grundsätzlich lässt sich daher feststellen, dass die verantwortlichen Personen eines pharmazeutischen Unternehmens, die eine fehlerfreie und vollständige Produktinformation herausgegeben haben, nicht für einen Fehlgebrauch haften, der darin begründet ist, dass die Adressaten der Produktformation sich bewusst über diese hinwegsetzen oder sie nicht, nur oberflächlich oder unvollständig zu Kenntnis nehmen. In einer ordnungsgemäßen und vollständigen Produktinformation ist nicht die Gefahr eines Fehlgebrauchs des Produkts angelegt!

cc) Der nahe liegende, vom Hersteller gebilligte Fehlgebrauch Soweit ein von den Festlegungen des pharmazeutischen Unternehmens abweichender Gebrauch unbedenklich ist, ergeben sich für das Unternehmen keine Verpflichtungen dagegen einzuschreiten. Führt der Fehlgebrauch jedoch zur Bedenklichkeit des Gebrauchs oder begründet er sogar konkrete

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Risiken, so können für das Unternehmen – auch wenn der Fehlgebrauch nicht auf Fehler des Unternehmens im Sinne der unter bb) erörterten Gründe zurückgeht – besondere Aufklärungs- und Informationspflichten begründet sein. Erst wenn das Unternehmen im konkreten Fall trotz Kenntnis des Fehlgebrauchs und trotz Kenntnis der Risiken nichts unternimmt, sondern diesen Fehlgebrauch sogar billigt, muss es sich diesen Fehlgebrauch als bestimmungsgemäßen Gebrauch zurechnen lassen. Allein aus dem Stillschweigen kann aber nicht auf eine Billigung geschlossen werden. Erforderlich ist hier ein Verhalten, das als positive Unterstützung des Fehlgebrauchs interpretiert werden kann, darf und muss.

VI. Ergebnis 1.

2.

3.

Der bestimmungsgemäße Gebrauch eines Arzneimittels im Sinne des § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 AMG wird grundsätzlich durch die vom pharmazeutischen Unternehmen erstellte Fachinformation und Packungsbeilage sowie die Packungsbeschriftung festgelegt. Abweichungen von einem Gebrauch gemäß Fachinformationen, Packungsbeilage und Packungsbeschriftung sind dem pharmazeutischen Unternehmen nur dann zuzurechnen, wenn dieser abweichende Gebrauch auf unrichtigen, unvollständigen, lückenhaften oder missverständlichen Produktinformationen durch das pharmazeutische Unternehmen beruht. Auch ein in großem Umfang praktizierter oder ein nahe liegender – vorhersehbarer – Fehlgebrauch, der seinen Grund nicht in unrichtigen, unvollständigen, lückenhaften oder missverständlichen Produktinformationen des pharmazeutischen Unternehmens hat, ist dem Unternehmen nicht als „bestimmungsgemäßer Gebrauch“ zuzurechnen. Der verfassungsrechtlich verbindliche Verantwortungsgrundsatz steht einer derartigen strafrechtlichen Zurechnung entgegen.

II. Strafrecht und Strafverfahrensrecht

Zur strafrechtlichen Behandlung von „Folter“ in der Notwehrlage VOLKER ERB

I. Einführung Keine andere Streitfrage dürfte das strafrechtliche Schrifttum in den vergangenen Jahren so sehr gespalten haben wie diejenige nach der Rechtfertigung körperlicher Gewalt, mit der ein Entführer oder ein Attentäter gezwungen werden soll, die zur Rettung seines Opfers benötigten Informationen preiszugeben. Dabei gehört auch der verehrte Jubilar zum Kreis derer, die zumindest für die strafrechtliche Behandlung desjenigen, der im Rahmen des Erforderlichen zu entsprechenden Mitteln greift, eine Rechtfertigung in Betracht ziehen, und zwar auch dann, wenn es sich dabei um einen Amtsträger in Ausübung seines Dienstes handelt.1 Die Anhänger der Gegenansicht kann man im Wesentlichen in drei Gruppen unterteilen: Den wohl zahlenmäßig größten Anteil bilden diejenigen, die dem hier vertretenen Standpunkt in weitgehend pauschaler Form die Argumente entgegenhalten, die schon früher für eine unbedingte Strafbarkeit ins Feld geführt 1 Seebode, Strafrechtliche Bemerkungen zum Folterverbot, in: Goerlich (Hrsg.) Staatliche Folter (2007), S. 51 (62 ff.). Weiterhin wären (mit unterschiedlichen Begründungen) etwa zu nennen: Bertram, RuP 2005, 245 ff.; ders., RuP 2006, 224 ff.; Erb, in: MünchKomm-StGB Bd. 1 (2003), § 32 Rn. 173 ff.; ders., Jura 2005, 24 ff.; ders., NStZ 2005, 593 (598 ff.); ders., Folterverbot und Notwehrrecht, in: Nitschke (Hrsg.), Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat? (2005), S. 149 ff.; weiterer Abdruck des Beitrags in: W. Lenzen (Hrsg.), Ist Folter erlaubt? (2006), S. 19 ff.; Fahl, JR 2004, 182 (186 ff.); Gössel, FS Otto (2007), S. 41 ff.; H. Götz, NJW 2005, 953 ff.; Gromes, Präventionsfplter – ein rechtsgebietsübergreifendes Problem; Jerouschek/Kölbel, JZ 2003, 613 (619 f.); Jerouschek, JuS 2005, 296 (302); Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. (2005), § 7 Rn. 156a; ders., in: Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. (2007), § 32 Rn. 17a; ders., FS Otto (2007), S. 63 (76 f.); Meyer-Goßner, StPO, 50. Auf. (2007), Art. 3 MRK Rn. 1; Otto, Grundkurs AT, 7. Aufl. (2004), § 8 Rn. 59; ders., JZ 2005, 473 (480 f.); monographisch Wagenländer, Zur strafrechtlichen Beurteilung der Rettungsfolter (2006), passim m. Bespr. Erb, GA 2007, 361 ff.; tendenziell auch Kudlich, JuS 2005, 377 (379); Merkel, FS Jakobs (2007), S. 375 (400 f.); Miehe, NJW 2003, 1219 (1220); für eine Anwendung von § 32 StGB als Strafausschließungsgrund Schulz, Das Folterverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Ist Folter erlaubt? Juristische und philosophische Aspekte, Hrsg. W. Lenzen (2006), S. 77 (87 ff.); differenzierend Herzberg, JZ 2005, 321 ff.

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wurden, nämlich die angebliche „Absolutheit“ des Folterverbots, die aus Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG sowie aus internationalen Übereinkommen folge, und die vermeintlich drohenden Weiterungen einer in Einzelfällen gewährten Rechtfertigung.2 Eine nähere Auseinandersetzung mit den hiergegen vorgebrachten Bedenken findet dabei regelmäßig nicht statt.3 Die zweite Gruppe bilden Autoren, die zusätzlich den Versuch unternehmen, die Notwehrlösung als absurd, primitiv oder als Ausfluss rechtsstaatsfeindlicher Tendenzen erscheinen zu lassen. Dies geschieht etwa durch die Aufstellung willkürlicher Behauptungen darüber, welche Konsequenzen die Annahme einer Rechtfertigung nach § 32 StGB angeblich impliziere, um eine solche mit vordergründiger Plausibilität pauschal als „abwegig“ bezeichnen zu können,4 durch ein aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat, das den Anschein erweckt, die hier vertretene Ansicht stütze sich in erster Linie auf das „Volksempfinden“,5 oder durch die Unterstellung von Querverbindungen zum Konzept eines „Feindstrafrechts“6 und zum „Krieg gegen den Terrorismus“.7 Den erfreulichen Gegenpol zu dieser Polemik bilden als dritte Gruppe schließlich diejenigen, die in eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Argumenten eingetreten sind, die für eine strafrechtliche Rechtfertigung sprechen – sei es im Detail,8 sei es wenigs-

2 Vgl. aus dem neueren Schrifttum etwa Ambos/Rackow, Jura 2006, 943 (948); Beutler, Strafbarkeit der Folter zu Vernehmungszwecken (2006), S. 106 ff., 209; Braum, KritV 2005, 283 (294 ff.); Ellbogen, Jura 2005, 339 (341 f.); Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (2006), § 16 Rn. 2; Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Auf. (2006), § 32 Rn. 62a; Momsen, in: BeckOK StGB (Stand 1.6.2007); Norouzi, JA 2005, 306 (309 f.); Paeffgen, in: NK-StGB, 2. Aufl., Bd. 1 (2005), Vor §§ 32 bis 35 Rn. 151; Rönnau/Hohn, in: LK, StGB, 12. Aufl., Bd. 2 (2006), § 32 Rn. 224; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Aufl. (2006), § 8 Rn. 289a; Zieschang, Strafrecht Allgemeiner Teil (2005), S. 60; ausführliche Nachweise des bis 2005 erschienenen Schrifttums bei Erb, NStZ 2005, 593 (599 Fn. 56 ff., 63 ff.). 3 So auch die Feststellung von Merkel, FS Jakobs (2007), S. 375 (385, 390, 395). Der jüngst erschienene Beitrag von Greco, GA 2007, 628 ff., beschränkt sich im Wesentlichen darauf, die Unvereinbarkeit der Notwehrlösung mit seiner eigenen ideologischen Basis aufzuzeigen, der nach dem zutr. Kommentar von Schünemann, GA 2007, 644 (646), „ein nur religiös begründbares Verständnis vom Absoluten“ zugrunde liegt. 4 Fischer, in: Tröndle/Fischer, StGB, 54. Aufl. (2007), § 32 Rn. 7e; Formulierung nunmehr allerdings deutlich abgeschwächt in Fischer, StGB, 55. Aufl. (2008), § 32 Rn. 15. 5 Herzog, in: NK-StGB, 2. Aufl., Bd. 1 (2005), § 32 Rn. 59. 6 Vgl. P. A. Albrecht, ZStW 117 (2005) 852 (858 Fn. 12); Kühne, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Auf., Bd. 1 (2006), Einl. B Rn. 43 Fn. 49. 7 So wiederum Fischer (Fn. 4), § 32 Rn. 14a. 8 Stübinger, Zur Diskussion um die Folter, in: Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie Frankfurt a. M. (Hrsg.), Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2007, S. 277 ff.

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tens punktuell.9 Ihre Überlegungen bilden den Anlass, die Diskussion im vorliegenden Beitrag noch einmal aufzugreifen.

II. Der Ausgangspunkt in der einfachrechtlichen Gesetzeslage 1. Die Möglichkeit einer Rechtfertigung der Anwendung körperlicher Gewalt in den einschlägigen Fällen folgt aus einer unbefangenen Anwendung von Vorschriften des geltenden geschriebenen Rechts, nämlich von § 32 StGB, bei Amtsträgern i.V.m. den polizeirechtlichen Notrechtsvorbehalten.10 Unter diese Normen lassen sich zwei (extrem seltene, dann aber um so dramatischere) Fallgruppen, die man als „Notwehrfolter“ bezeichnen kann,11 zwanglos subsumieren,12 nämlich zum einen der (typischerweise bei der Lösegeldübergabe gefasste) Entführer, der sich weigert, den Aufenthaltsort seines Opfers zu nennen, und zum anderen der Attentäter, der im Stadium des beendeten Versuchs eines Anschlags überwältigt wird und nicht bereit ist, freiwillig die Informationen zu geben, die man zur Verhinderung des Erfolgseintritts benötigt. Mit der gleichen Eindeutigkeit nicht erfasst werden umgekehrt alle anderen denkbaren Konstellationen, in denen der Einsatz von Folter sicherheitspolitisch attraktiv erscheinen könnte (insbesondere bei der Zerschlagung verbrecherischer Strukturen zur Verhinderung von Straftaten, die irgendwann in der Zukunft zu befürchten sind),

9 So etwa Joerden, FS Hruschka (2005), S. 495 (516 ff.); Roxin, FS Nehm (2006), S. 205, 209 ff; vgl. neuerdings auch Prittwitz, FS Herzberg (2008), S. 515 (522 f.); Jäger, FS Herzberg (2008), S. 539 (543 ff.). 10 Eingehend Seebode (Fn. 1), S. 68 ff.; Erb, Jura 2005, 24 ff.; ders., NStZ 2005, 593 (598); ders., Folterverbot (Fn. 1), S. 152, 154 ff.; Wagenländer (Fn. 1), S. 116 ff.; jew. m.w.N. Dabei haben die Notrechtsvorbehalte in den Landesgesetzen freilich nur deklaratorische Wirkung, weil den Landesgesetzgebern ohnehin die Kompetenz fehlt, einen bundesgesetzlich geregelten strafrechtlichen Rechtfertigungsgrund partiell außer Kraft zu setzen, zutr. Seebode (Fn. 1), S. 65. 11 Begriff in Anlehnung an Merkel, FS Jakobs (2007), S. 375 (382 f., 389). Die ohne Rücksicht auf den jeweiligen Kontext erfolgende Verwendung des in höchstem Maße negativ besetzten Begriffs der „Folter“ für jede (staatlich zu verantwortende) Schmerzzufügung zur Erlangung von Informationen (so, als ob man jede vorsätzliche Tötung „Mord“ nennen würde) ist im vorliegenden Zusammenhang freilich nicht ganz unproblematisch: Sie begünstigt inadäquate begriffsjuristische Ableitungen (nach dem Motto: Alles, was man „Folter“ nennen kann, ist schon deshalb verboten) und ermöglicht die verbreitete suggestive Instrumentalisierung des Folterbegriffs, mit dessen Hilfe die Brücke zu rechtlich absolut unvergleichbaren Sachverhalten geschlagen wird, um düstere Assoziationen zu erzeugen. 12 Was insoweit im Grundsatz nur vereinzelt bestritten wird, zu den Einzelheiten sei verwiesen auf Seebode (Fn. 1), S. 70; Erb, NStZ 2005, 593 (598 f.); ders., Folterverbot (Fn. 1), S. 154 ff., jew. m.w.N.

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weil hier evidenterweise kein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff des Informationsträgers vorliegt. 2. Damit ist die Notwehrlösung schon nach einfachem Recht von vornherein nicht geeignet, eine Legitimation für den Einsatz von Folter als Instrument im „Krieg gegen den Terrorismus“ oder als Mittel der Sachverhaltsaufklärung in einem „Feindstrafrecht“ abzugeben.13 Hierzu bedürfte es vielmehr entweder einer Rechtsbeugung oder einer umfassenden Änderung des geltenden Rechts, die mit fundamentalen Grundsätzen der Verfassung und des Völkerrechts in der Tat nicht zu vereinbaren wäre.14 Die Behauptung, es könne in dieser Richtung gleichwohl „kein Halten“ mehr geben,15 unterstellt somit ins Blaue hinein,16 dass sich Sicherheitsbeamte, über deren Verhalten urteilende Richter sowie Parlamentarier deshalb zu offensichtlichen Rechts- und Verfassungsbrüchen hinreißen ließen, weil in einer strukturell völlig anders gelagerten Konstellation, deren abweichende Voraussetzungen mit Grundkenntnissen im Allgemeinen Teil des Strafrechts zu erfassen sind,17 § 32 StGB einschlägig ist. Sie hat insofern keine dogmatische Valenz, sondern ist ein (in gewisser Weise populistischer) Appell an diffuse Ängste – vergleichbar etwa mit einer Forderung nach ausnahmsloser 13 Selbstredend auch nicht für das von Fischer (Fn. 4), § 32 Rn. 15 an die Wand gemalte Schreckgespenst von Folter zur Sicherung „der ‚Versorgung der Bevölkerung’ bis zum ‚öffentlichen Frieden’, der ‚Volksgesundheit’ bis zum Schutz vor illegalen Einwanderern“. 14 Vor diesem Hintergrund bedarf es wohl schon der der Logik einer Verschwörungstheorie, die hier vertretene Ansicht als Ausfluss derartiger Tendenzen zu begreifen (s.o. I. bei Fn. 6 und 7). Das gilt vor allem für die Unterstellung einer Nähe zum Konzept eines „Feindstrafrechts“, weil es vorliegend doch gerade nicht um Strafverfolgung geht, sondern um den Verzicht auf eine solche, und das in eng begrenzten Ausnahmekonstellationen, in denen ihrerseits nicht zum Zwecke der Strafverfolgung, sondern zur Verteidigung von akut bedrohten Menschenleben gehandelt wird. 15 Eingehend etwa Joerden, FS Hruschka (2005), 495 (517 ff.); Bielefeldt, Das Folterverbot im Rechtsstaat, in: Nitschke (Hrsg.), Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat? (2005), S. 95 (101). 16 Die verbreiteten Hinweise auf Erfahrungen über die expansiven Tendenzen von „Folter“ liegen neben der Sache, weil es mit Sicherheit noch keinen „Folterstaat“ gegeben hat, dessen Praktiken sich vom Ausgangspunkt der Rechtfertigung von Gewalt in einer individuell zugespitzten Notwehrlage her entwickelt hätten. Treffend die Bemerkung von Merkel, FS Jakobs (2007), 375 (380 Fn. 15), dass „im Maße der Scheußlichkeit des Szenarios, das sie [die Vertreter des Dammbruch-Arguments] an die Wand projizieren, die Neigung ... abnimmt, wenigstens den Versuch zu unternehmen, solche Befürchtungen empirisch plausibel zu machen. Wer den drohenden ‚Folterstaat’ beschwört, verweist auf etwas, das jedermann entsetzlich fände; eines Nachweises, dass so etwas tatsächlich droht, scheint es dann nicht mehr zu bedürfen“; ähnlich Trapp, Folter oder selbstverschuldete Rettungsbefragung? (2006), S. 216 ff. 17 Dass es in Einzelfällen zu Abgrenzungsproblemen kommen mag, liegt in der Natur der Sache jeglicher Rechtsanwendung und begründet schon in den problematischen Fällen selbst keinen Freibrief für den einzelnen Beamten – und erst recht nicht in der großen Mehrzahl der Konstellationen, in denen eindeutig nur eine Notstandslage besteht.

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Strafbarkeit tödlicher Notwehrhandlungen, damit die „Enttabuisierung“ des Tötungsverbots keine Begehrlichkeiten weckt, „Terrorverdächtige“ künftig standrechtlich zu erschießen. Wenn man leicht plausibel machen kann, warum letzteres selbst vor dem Hintergrund der künftigen Gefahr eines unzählige Menschen bedrohenden Terrorangriffs inakzeptabel wäre, obwohl Geiselnehmer schon zur Rettung einer einzigen akut bedrohten Geisel erschossen werden dürfen, dann sollte es entgegen Roxin18 auch keine Probleme bereiten, diese Differenzierung bei der Anwendung von vis compulsiva zur Erlangung rettender Informationen rechtspolitisch zu vermitteln.19 3. Wenn die strafrechtliche Rechtfertigung in den dafür in Betracht kommenden Fällen ohne weiteres aus der einfachrechtlichen Gesetzeslage folgt, geht der Einwand, der hier vertretene Standpunkt laufe darauf hinaus, eine positivrechtlich vorgegebene Strafbarkeit unter Berufung auf das Naturrecht, Moral und Menschlichkeit und damit letztlich aufgrund rechtspolitischer Zielvorstellung auszuhebeln,20 ins Leere. Vielmehr ist es die Gegenansicht, die zuerst die Ebene „handfester“ strafrechtlicher Normen (und der diese ausdrücklich für „unberührt“ erklärenden Bestimmungen in den Notrechtsvorbehalten, etwa § 60 Abs. 2 bay. PAG, § 54 Abs. 2 HSOG, § 57 Abs. 4 rh.-pf. POG) verlässt, indem sie übergeordnete Grundsätze des Verfassungs- und Völkerrechts bemüht, um die Rechtfertigung nach § 32 StGB über die Konstruktion einer (mit den herkömmlichen Fallgruppen dieser Figur nicht einmal ansatzweise vergleichbaren)21 neuen „sozialethischen Einschränkung“ des Notwehrrechts22 oder mit Hilfe von Erwägungen, wa18

FS Nehm (2006), S. 205 (216). Letzteres setzt allerdings voraus, dass die Experten des Faches hier wie da bereit sind, der Öffentlichkeit die grundlegenden Unterschiede zwischen Notwehr und Notstand zu erläutern, und nicht durch eine undifferenzierte Anti-Folter-Rhetorik suggerieren, die Zufügung willensbeugender Schmerzen sei losgelöst vom Kontext rechtlich immer das gleiche. Im Übrigen soll selbstverständlich nicht geleugnet werden, dass es politische Rahmenbedingungen geben kann, unter denen Tötungs- und Folterverbot gleichermaßen durch Notstandserwägungen in Frage gestellt werden. Die Annahme, man könne dies dadurch verhindern, dass man die Notwehrfälle in den gleichen Topf wirft und zu Lasten der Opfer gegenwärtiger rechtswidriger Angriffe und ihrer Nothelfer Exempel statuiert, mutet doch aber reichlich naiv an (vgl. auch Trapp [Fn. 16], S. 199 f.). Hinzu kommt (was zumeist übersehen wird), dass in einer derart motivierten Instrumentalisierung der Betroffenen gerade jener schrankenlose Utilitarismus zum Tragen kommt, den die „absoluten Foltergegner“ regelmäßig zu geißeln pflegen; zutr. Merkel, FS Jakobs (2007), S. 375 (380), der in diesem Zusammenhang die Frage aufwirft, warum denn das „Entführungsopfer mit seinem Leben dafür bezahlen ... [soll], dass sich die Gesellschaft (nach seinem Tod, also ohne Nutzen für es selbst) nicht die scheußlichen Usancen eines Folterstaats antut“. 20 So etwa Roxin, FS Nehm (2006), S. 205 (210); Stübinger (Fn. 9), S. 309 f. 21 Näher dazu Erb Jura 2005, 24 (26); ders., Folterverbot (Fn. 1), S. 159. 22 Roxin, FS Nehm (2006), S. 205 (211); grundlegende Kritik bei Seebode (Fn. 1), S. 71 f. 19

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rum die Notrechtsvorbehalte als solche nicht ernst zu nehmen seien,23 aus den Angeln zu heben. Dabei vernachlässigt sie den Umstand, dass Verfassungs- und Völkerrecht zwar die öffentlichrechtliche Beurteilung eines Sachverhalts vorgeben, aber nun einmal keine unmittelbare strafbarkeitsbegründende Wirkung haben und im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG auch nicht haben können.24 Selbst wenn man das betreffende Handeln eines Amtsträgers als grob rechtswidrigen Hoheitsakt betrachtet, der die Grundfesten des Rechtsstaats erschüttert, und in seiner gleichzeitigen Behandlung als strafrechtlich gerechtfertigtes Verhalten einen noch so absurden Widerspruch erblicken wollte, berechtigt dies nicht dazu, sich über eine aus den Strafgesetzen folgende Straflosigkeit hinwegzusetzen. Auch die immer wieder bemühte Erkenntnis, wonach sich ein Hoheitsträger im Dienst nicht von seinen öffentlichrechtlichen Verpflichtungen befreien kann,25 geht in diesem Zusammenhang ins Leere. Mit ihr ist nämlich rein gar nichts über die persönlichen Konsequenzen gesagt, die ein Verstoß gegen diese Pflichten für den betreffenden Amtsträger haben kann – für eine evtl. strafrechtliche Ahndung besteht nun einmal ein eigenständiges Regelwerk, und wenn dieses keine derartigen Konsequenzen vorsieht, können sie eben nicht verhängt werden. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz aus der Annahme eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 1 GG ebenfalls nicht ohne weiteres auf die Notwendigkeit einer strafrechtlichen Ahndung geschlossen, sondern die Frage nach der strafrechtlichen Beurteilung ausdrücklich offen gelassen hat.26

23 Vgl. etwa Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes (2004), S. 325 ff.; Rönnau/Hohn, in: LK (Fn. 2), § 32 Rn. 220. Dann wäre freilich auch ein Polizist strafbar, der sich oder einen Dritten in höchster Bedrängnis mit einer Bierflasche als Schlagwerkzeug verteidigt, weil diese kein polizeirechtlich zulässiges Mittel des unmittelbaren Zwangs darstellt! 24 Eingehend Seebode (Fn. 1), S. 63 ff. 25 Braum, KritV 2005, 283 (288 ff.); Roxin, FS Nehm (2006), S. 205 (210); Stübinger (Fn. 9), S. 311; Beutler (Fn. 2), S. 209. 26 BVerfGE 115, 118 (157). Dabei muss man hinzufügen, dass in der vom Luftsicherheitsgesetz geregelten Situation eine strafrechtliche Rechtfertigung unter Notstandsgesichtspunkten im Hinblick auf die Unabwägbarkeit der betroffenen Rechtsgüter ein echtes strafrechtsdogmatisches Problem darstellt (näher dazu Erb, in: MünchKomm-StGB (Fn. 1), § 34 Rn. 117 ff.; dabei war und bin ich bei der Lösung im Gegensatz zu den hier interessierenden Fällen stets unsicher), was bei der Anwendung von § 32 StGB auf beliebige Verhaltensweisen, die zur Abwehr eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs auf elementare Rechtsgüter erforderlich sind, letzten Endes nicht der Fall ist.

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III. Die menschenrechtliche Kehrseite eines notwehrfesten Folterverbots 1. Nachdem dieses – insoweit bereits im Münchener Kommentar ohne aktuellen Anlass entwickelte27 – Ergebnis in der öffentlichen Debatte um den „Fall Daschner“ immer wieder als rechtsstaatlich schlechthin untragbar apostrophiert wurde, lag es freilich nahe (schon im Hinblick auf mögliche Forderungen de lege ferenda), den angeblich durch höherrangiges Recht begründeten Zwang zur Einschränkung der Notwehrbefugnisse einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Diese spitzt sich zwangsläufig auf die Frage zu, ob den für ein notwehrfestes Folterverbot ins Feld geführten, grundsätzlich unbeschränkbaren Schutzpositionen ein mindestens gleichwertiger normativer Zwang entgegengehalten werden kann, die Anwendung von Gewalt gegen den Urheber eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs zur Erlangung lebensrettender Informationen gleichwohl zuzulassen. Da die Normen, die in dieser Situation angeblich den „absoluten“ Schutz des Angreifers verlangen, in Gestalt von Art. 1 Abs. 1 GG bis zur obersten Spitze der Normenpyramide reichen, haben gegenläufige Erwägungen nur dann maßgebliches Gewicht, wenn sie sich ihrerseits auf Art. 1 Abs. 1 GG zurückführen lassen. Erblickt man – was entgegen einzelnen Verirrungen in der vorliegenden Diskussion wohl nicht ernsthaft zu bestreiten ist – in der willkürlichen Ermordung von Menschen (und zwar unabhängig von der konkreten Art der Begehungsweise) zugleich einen Angriff auf deren Würde,28 springt dabei zunächst der Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG ins Auge, wonach dem Staat Achtung und Schutz der Menschenwürde obliegen. Insofern bietet es sich an, im Konfliktfall dem Verfassungsauftrag zum Schutz der Würde des Opfers von der Pflicht zur Achtung der Würde des Angreifers Vorrang zu gewähren.29 Einem solchen Ansatz, nach dem die 27 Erb, in: MünchKomm-StGB (Fn. 1), § 32 Rn. 104, 169 ff., 173 ff.; die Probleme der Terrorismusabwehr nach dem 11. September 2001 sind von den Kategorien der Notwehr im strafrechtlich-technischen Sinn so weit entfernt, dass es mir völlig abwegig erschienen wäre, diese Ereignisse bei einer Kommentierung des § 32 StGB in irgendeiner Form in den Blick zu nehmen. 28 Vgl. bereits H. Götz, NJW 2005, 953 (954); Gössel, FS Otto (2007), S. 41 (54 ff.); Erb, NStZ 2005, 593 (600 Fn. 68). Die Annahme, bei einem Mord werde im Gegensatz zur gewaltsamen Erzwingung einer Äußerung „nur“ das Lebensrecht nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt, das nach Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG (auch insoweit?) durch Gesetz einschränkbar sei, ist zynisch, vernachlässigt die Entstehungsgeschichte von Art. 1 Abs. 1 GG als Antwort auf die Greuel der NS-Zeit, unter denen die millionenfache Missachtung des Lebensrechts wohl noch viel stärker ins Auge springt als der Einsatz von Folter (zutr. Götz a.a.O.), und steht auch in diametralem Gegensatz zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 39, 1 [42]; 72, 105 [115]; 109, 279 [311]; 115, 118 [152]). 29 So etwa Brugger, JZ 2000, 165 (169); ders., Das andere Auge, in: Nitschke (Hrsg.), Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat? (2005), S. 107 (112, 115 f.); Wittreck, DÖV 2003, 873

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Anwendung von vis compulsiva in den einschlägigen Konstellationen konsequenterweise allerdings – auch und gerade aus öffentlichrechtlicher Perspektive – nicht nur als tolerabel, sondern als positiv geboten erschiene,30 hält die h.M. nun den unbedingten Vorrang des Eingriffsverbots gegenüber der (ohnehin nicht lückenlos zu gewährleistenden) Schutzpflicht entgegen.31 2. Damit sind wir beim Kern der Lehre von der „Absolutheit“ des Folterverbots angelangt, denn die Annahme, im Anwendungsbereich von Art. 1 Abs. 1 GG trete die Schutzpflicht hinter dem Achtungsanspruch völlig zurück, ermöglicht es dem Staat, seine Hände trotz der grauenhaften Folgen für das Opfer in rechtsstaatlicher Unschuld zu waschen. Damit diese Rechnung aufgeht, bedarf es freilich zweier Voraussetzungen: Zum einen muss der (dem Verfassungstext nicht explizit zu entnehmende) Vorrang des Achtungsanspruchs vor der Schutzpflicht auch dort gelten, wo Schutzbedürftigkeit und Schutzwürdigkeit auf Opferseite nicht nur beliebig groß sind, sondern gerade daraus resultieren, dass der Inhaber des Achtungsanspruchs diesen quasi als Schutzschild verwendet, um ungestört ein Verbrechen vollenden zu können32 – denn nichts anderes tut derjenige, der sich unter Berufung auf seine Menschenwürde dem Zwang entzieht, die zur Verhinderung des Taterfolgs erforderlichen Informationen preiszugeben.33 Ob Art. 1 Abs. 1 GG sinnvollerweise dazu bestimmt sein kann, den Achtungsanspruch auch in einer solchen Situation des offenkundigen Missbrauchs bedingungslos zu gewährleisten, darüber lässt sich zumindest streiten. Im Zentrum der früheren Überlegungen des Verfassers34 stand aber nicht dieses Problem, sondern der zweite Punkt, der bislang35 soweit ersichtlich nur von einem einzigen Kritiker in der Sache aufgegriffen wurde,36 und der im Folgenden noch einmal vertieft werden soll. Er betrifft die Frage, ob bzw. unter (880 ff.); ders., Menschenwürde als Foltererlaubnis? in: Gehl (Hrsg.), Folter – Zulässiges Instrument im Strafrecht? (2005), S. 37 (49 ff.); H. Götz, NJW 2005, 953 (955 f.); Wagenländer (Fn. 1), S. 155 ff. 30 So denn auch Brugger, Wittreck und Götz a.a.O. (Fn. 29). 31 Vgl. etwa Roxin, FS Nehm (2006), S. 205 (208); Lübbe, Konsequentialismus und Folter, in: Lenzen (Hrsg.), Ist Folter erlaubt? (2006), S. 67 (69). 32 Übersehen von Stübinger (Fn. 8), S. 299 ff., 303, dessen (als solche durchaus berechtigten) Bedenken gegen eine Quantifizierung von Würdeverletzungen nach dem Gewicht der Beeinträchtigung diese entscheidende Besonderheit der Notwehrsituation nicht erfassen. 33 Wobei er – im Gegensatz zu seinem Opfer – jederzeit die Möglichkeit hat, Beeinträchtigungen seines Würdeanspruchs durch freiwillige Preisgabe der rettenden Informationen zu verhindern, zutr. H. Götz, NJW 2005, 953 (956). 34 Erb, Jura 2005, 24, 27 f.; ders., NStZ 2005, 593 (594, 599); ders., Folterverbot (Fn. 1), S. 160; zust. Wagenländer (Fn. 1), S. 157 f.; Merkel, FS Jakobs (2007), S. 275, 393 ff. 35 Der vorliegende Beitrag wurde im Oktober 2007 abgeschlossen, die Anmerkungen letztmals im März 2008 aktualisiert. 36 Stübinger (Fn. 8), S. 304 ff.

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welchen Voraussetzungen die Folgen für das Opfer dem Staat denn wirklich nur als Folge reiner Untätigkeit zuzurechnen sind. 3. Das hierfür erforderliche in jeder Hinsicht neutrale und passive Verhalten des Staates liegt vor, solange er sich (entsprechend der de lege lata bestehenden Situation) darauf beschränkt, im öffentlichen Recht keine Ermächtigungsgrundlage bereitzustellen und seine Amtsträger insofern nicht positiv dazu anzuhalten, zur Abwendung eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs auf Leib und Leben den Angreifer erforderlichenfalls mit Gewalt zum Reden zu bringen. Die Situation ändert sich jedoch in dem Moment, in dem er umgekehrt Maßnahmen ergreift, die darauf abzielen, jemanden daran zu hindern, kraft eigenen Entschlusses die erforderliche Nothilfehandlung vorzunehmen. Solche Maßnahmen können sowohl in der abstrakten Androhung37 als auch in der konkreten Verhängung38 persönlicher Sanktionen bestehen, im Hinblick auf deren einschneidenden Charakter vor allem (wenngleich nicht ausschließlich)39 von solchen strafrechtlicher Art. Auf diese Weise wirkt der Staat nämlich aktiv darauf hin, dass der Angreifer seine menschenverachtende Tat ungestört vollenden kann – und erlangt damit nach allgemeinen Zurechnungsgrundsätzen eine durch positives Tun begründete Mitverantwortung für die Folgen einschließlich der Verletzung der Würde des Angriffsopfers.40 Ganz offensichtlich ist das bei der Unterbindung privater Notwehr, bei der sich der Staat quasi als außenstehender Dritter dergestalt in den existentiellen Konflikt zwischen dem Angreifer und dem Angegriffenen sowie dessen Nothelfer einmischt, dass er ihn durch ein Verbot der erforderlichen Verteidigung zugunsten von ersterem entscheidet. 37 Wobei die Bereitstellung von Tatbeständen für sich genommen irrelevant ist, solange ein geeigneter Rechtfertigungsgrund bereitsteht, was in Gestalt von § 32 StGB i.V.m. den Notrechtsvorbehalten der Fall ist (s.o. II.1.); unbegründet ist insofern die Befürchtung von Stübinger (Fn. 8), S. 306, wonach die „fortwährende Unterlassung einer ‚staatlichen Folterordnung’ ... ein möglicher Anknüpfungspunkt für jenen Vorwurf [wäre], der Staat greife ‚aktiv’ in das Schutzgut eines angegriffenen Menschen ein“. Tatsächlich läge ein entsprechender legislativer Eingriff dann vor, wenn der Gesetzgeber § 32 StGB für die hier interessierenden Fälle mit einer Ausschlussklausel versehen oder die persönliche Rechtfertigung eines Amtsträgers davon abhängig machen würde, dass sein Verhalten von einer öffentlichrechtlichen Ermächtigungsgrundlage gedeckt ist. 38 So geschehen im „Fall Daschner“ durch LG Frankfurt NJW 2005, 692. Die nachträgliche Sanktionierung berührt zwar nicht mehr die Situation des Opfers im zugrundeliegenden Fall, aber (was Stübinger [Fn. 8], S. 307 übersieht) diejenige in künftigen Fällen, in denen sie auf potentielle Nothelfer eine abschreckende Wirkung entfaltet (zutr. krit. Weihmann, Kriminalistik 2005, 342 ff.), was ja gerade ihrer Intention entspricht. 39 Weshalb m.E. im Ergebnis auch disziplinarrechtliche Konsequenzen ausgeschlossen sein müssen; im letztgenannten Punkt a.A. Seebode (Fn. 1), S. 66; wie hier mit eingehender Begründung Gromes (Fn. 1), S. 181 f. 40 Eingehend in diesem Sinne nunmehr auch Merkel, FS Jakobs (2007), S. 375 (393 ff.).

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Aber auch dort, wo Staatsdiener durch Sanktionsdrohungen davon abgehalten werden, die erforderlichen Maßnahmen zur Abwendung des Angriffs zu ergreifen, zu denen sie andernfalls ohne Rücksicht auf die Vorgaben des Polizeirechts entschlossen wären, unterbindet der Staat den Eintritt eines rettenden Kausalverlaufs. 4. Der Einwand, ein Amtsträger könne bei der Wahrnehmung dienstlicher Aufgaben seine hoheitliche Funktion nicht abstreifen und handle deshalb immer als Teil des Staates,41 greift auch (wie schon bei der Frage der Strafbarkeit) an dieser Stelle nicht: Eine wie auch immer geartete rechtliche Bindung ändert selbstverständlich nichts an der tatsächlichen Möglichkeit, Handlungsoptionen wahrzunehmen, die den normativen Erwartungen nicht entsprechen, und bei der Konfrontation mit einem Entführer, der (um die Situation maximal zuzuspitzen) mit einem kalten Lächeln glaubhaft erklärt, da man ihm bei der Lösegeldübergabe eine Falle gestellt hat, solle das Kind eben verhungern,42 erscheint es durchaus nahe liegend, dies zu tun. Die entsprechende Bereitschaft ist in einem solchen Fall auch ein maßgeblicher Faktor (bzw. sogar der Faktor schlechthin), der verhindern kann, dass ein Mensch willkürlich ermordet wird, und wenn der Staat diesen Faktor durch entsprechende Sanktionsdrohungen ausräumt, setzt er eine positive Bedingung dafür, dass der Mord tatsächlich vollendet wird. Wer dies mit der Begründung in Abrede stellt, die erforderlichen Gegenmaßnahmen hätten ohnehin nicht ergriffen werden dürfen, vermengt ganz offensichtlich Sollen und Sein:43 Es ist methodisch unhaltbar, die Betrachtung schon auf tatsäch41

Vgl. Roxin, FS Nehm (2006), S. 205 (210); Stübinger (Fn. 8), S. 305 f. Der Annahme, wenn das Opfer noch lebt, werde der Täter die Vorteile wahrnehmen wollen, die ihm aus dessen Rettung erwachsen, wenn man ihn nur intensiv genug belehrt (so zuletzt Roxin, FS Nehm (2006), S. 205 [214] m.w.N. gegen meine Überlegungen in: Folterverbot [Fn. 1], S. 150), ist entgegenzuhalten, dass auch nach Ergreifung des Täters keine Garantie dafür besteht, ihn durch gutes Zureden zu einem rationalen Verhalten bewegen zu können. Außerdem sind Konstellationen denkbar, in denen der Täter keinen subjektiven Vorteil erwarten kann – so z.B., wenn er noch eine Reihe weiterer Morde begangen hat, für die ihm ohnehin eine lebenslange Freiheitsstrafe mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld droht, und deren Aufklärung er vielleicht sogar gerade deshalb fürchtet, weil die Polizei im Versteck des aktuellen Opfers zugleich Beweise für die weiteren Taten finden würde (so möglicherweise im Fall des belgischen Kindermörders Dutroux, der nach seiner Festnahme verschwieg, dass zwei seiner Opfer noch in einem Kellerverließ eingesperrt waren, wo sie schließlich elendiglich verhungert sind). Bei einem Terroristen, der ohne Rücksicht auf die Folgen für die eigene Person an möglichst spektakulären Auswirkungen seiner Tat interessiert ist, wäre mit dem Hinweis auf die Sanktionserwartungen von vornherein kaum etwas auszurichten. Grundlegende Kritik des Einwands der angeblichen Realitätsferne einschlägiger Fälle bei Merkel, FS Jakobs (2007), S. 375 (379). 43 Besonders deutlich zu erkennen in einem Diskussionsbeitrag von Neumann zur Strafrechtslehrertagung 2005, ZStW 117 (2005), 885 (886) mit der Forderung, die postulierte „rechtliche Unmöglichkeit“ einer Rettung des betroffenen Menschen „wie eine naturgesetzlich 42

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licher Ebene unter Berufung auf ein vordefiniertes Sollen so zu verkürzen, dass man mit gewissen unangenehmen Tatsachen und ihrer sonst üblichen Bewertung von vornherein nicht mehr konfrontiert wird. Will man jenem Sollen ein solches Gewicht beilegen, dass es die normative Bewertung der Geschehens letzten Endes insgesamt prägt, muss man vielmehr behaupten und begründen, warum die Herbeiführung von Konsequenzen, die normalerweise ihrerseits einer höchst negativen Bewertung unterliegen, hier ausnahmsweise legitim erscheint, d.h. man muss sich wohl oder übel in eine Diskussion darüber einlassen, was hier aus welchen Gründen zu rechtfertigen ist. Infolgedessen führt kein Weg daran vorbei, auch über die tatsächlichen Wirkungen eines sanktionsbewehrten Normbefehls zu sprechen, der in entsprechenden Situationen die Begehung eines Mordes fördert, die Rechtsordnung damit in die Rolle eines Mordgehilfen bringt44 und auf diese Weise aktiv den Anspruch des Mordopfers auf Achtung seiner Menschenwürde beeinträchtigt.45 Dass die Zuordnung des Amtsträgers zur staatlichen begründete Unmöglichkeit“ zu behandeln. Hier sollen offenbar die Kosten des „absoluten Folterverbots“ in der Bilanz des Rechtsstaats durch die Fiktion verschleiert werden, das Opfer sei quasi schon tot, damit die tatsächliche Vereitelung seiner Rettung den Staat scheinbar nicht mehr belastet. 44 Erb, NStZ 2005, 593 (594); ders., Folterverbot (Fn. 1), S. 160; Merkel, FS Jakobs (2007), S. 375 (394) bezeichnet diesen Schluss als „unabweisbar“. Dabei handelt es sich (selbstverständlich) nicht um Beihilfe im strafrechtlich-technischen Sinn, da die Akteure, die mit der Aufstellung von Sanktionsdrohungen oder deren Umsetzung in bereits geschehenen Fällen befasst sind, keinen hinreichend bestimmten Vorsatz bzgl. späterer Taten haben, deren Vollendung sie letzten Endes ermöglichen, während der Normbefehl in dem Moment, in dem er seine Wirkung entfaltet, nunmehr zwar einer hinreichend konkretisierten Tat den Weg ebnet, dabei aber von den Urhebern der Sanktionsdrohung nicht mehr beherrscht wird (dazu und zu denkbaren Ausnahmen Merkel a.a.O.). Dass die auf die Einzeltat bezogene Gehilfenrolle somit der Rechtsordnung als Institution zufällt, die als solche kein tauglicher Adressat des Strafrechts ist, macht den Befund indessen nicht weniger „beklemmend“ (so die Bezeichnung von Merkel a.a.O.). 45 Um mögliche Einwände vorwegzunehmen, sei an dieser Stelle bemerkt, dass dieses Problem beim sanktionsbewehrten Verbot von Notstandshandlungen und von polizeirechtlich Maßnahmen der Gefahrenabwehr, die sich nicht gegen den Urheber eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs richten, nicht besteht. Obwohl sich der entsprechende Normbefehl hier ebenfalls als Hinderung eines rettenden Kausalverlaufs erweisen kann, stellt er dabei nämlich keine Missachtung der Menschenwürde dar: Soweit eine als zu weitgehend bewertete Inanspruchnahme von „Nichtstörern“ zur Abwendung beliebiger Gefahren unterbunden wird, geht es nur darum, eine Neuverteilung des Schicksals zu verhindern, das als solches zwar Rechtsgüter, aber keine Rechte und schon gar keinen Achtungsanspruch verletzen kann. Damit scheidet der Vorwurf eines Eingreifens der Rechtsordnung zugunsten einer akuten Menschenwürdeverletzung von vornherein aus, und die Beeinträchtigung des Rechtsguts, dessen Rettung im Ergebnis vereitelt wird, bedeutet keinen Eingriff in „absolut“ geschützte Rechte, sondern ist mit der überragenden Bedeutung des Schutzes Dritter vor einer beliebigen utilitaristischen Inanspruchnahme ihrer Rechtsgüter ohne weiteres zu legitimieren (vgl. Erb, NStZ 2005, 593 [595]; deshalb geht das Argument von Roxin, FS Nehm [2006], S. 205 [209], „dass unsere

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Machtsphäre an diesem Befund nichts ändern kann, zeigt ein Blick auf folgendes Beispiel, bei dem zwar staatlicherseits ein anderes Handlungsmotiv vorliegt (Diskriminierung bestimmter Personen statt Verabsolutierung des Folterverbots), die Zurechnungsstrukturen aber identisch sind: Man nehme den Fall, dass die die Rechtsordnung ihren Polizisten bei Strafe verbietet, den Angehörigen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe bei tätlichen Angriffen durch (private) Schlägertrupps beizustehen, damit dieser der Aufenthalt im Land verleidet wird. Käme hier jemand ernsthaft auf die Idee, dem Staat lediglich eine Vernachlässigung seiner Schutzpflichten vorzuwerfen, nicht aber eine aktive Verletzung der Rechte jener Minderheit, weil die am Eingreifen zu ihren Gunsten gehinderten Polizisten Bestandteil des staatlichen Machtapparats sind und sich der unterbundene rettende Kausalverlauf deshalb seinerseits innerhalb der Sphäre hoheitlichen Handelns bewegt hätte?46 5. Stübinger hält nun zumindest eine wie auch immer geartete Verantwortung der Rechtsordnung für die Hinderung des rettenden Kausalverlaufs in der vorliegenden Konstellation a priori für ausgeschlossen. Die grundsätzliche Zurechenbarkeit eines auf entsprechende Weise ausgelösten Erfolgseintritts beruhe nämlich auf „dem Umstand, dass der Eingreifende durch die Verhinderungsmaßnahme die für das Rechtsgut bestehende Gefahrenlage nunmehr für sich wirken läßt.“ Das sei „nur dann der Fall, wenn er dadurch gleichsam die Herrschaft über das vorhandene Risiko übernimmt und dieses nunmehr für seine Zwecke einsetzen kann.“ Demgegenüber begebe sich der Staat durch das Nothilfeverbot „nicht in die Rolle eines Akteurs, der sich die Rechtsgefährdung zu eigen macht; es kommt nicht zur Übernahme oder zumindest einer Assistenz des von diesem zu verantwortenden Angriffs auf Leben und Gesundheit des Entführungsopfers“, die „schon bestehende Geschehensherrschaft“ bleibe unberührt.47 Diese Ausführungen implizieren letzten Endes die Annahme, die Zurechenbarkeit der zwangsläufigen Folgen eines Eingriffs in das Kausalgeschehen hänge von den zugrunde liegenden Motiven ab. Diese Differenzierung spielt indessen wiederum erst bei der Frage eine Rolle, ob die Beeinträchtigung der Opferinteressen durch die Rechtsordnung aus sehr viel geringerem Anlass, als es das Folterverbot darstellt, auf die Rettung von Menschen verzichtet“, ins Leere – bei den angeführten Beispielen handelt es sich eben um Notstandskonstellationen). Was die Durchsetzung eines zurückhaltenden Vorgehens gegenüber möglichen künftigen Störern (insbesondere den Mitgliedern einer Terrororganisation, von der Anschläge zu befürchten sind) betrifft, so ist der hinreichende Bezug zu einem konkreten Tatopfer, dessen individuelle Würde der Staat insofern missachten könnte, noch nicht gegeben, wenn der Normbefehl seine Wirkung entfaltet. 46 Ambos/Rackow, Jura 2006, 943 (948) würden hier wohl jedenfalls nicht mehr pauschal von einer „abenteuerlichen Zurechnungskonstruktion“ sprechen. 47 Stübinger (Fn. 8), S. 307.

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Verfolgung eines höherrangigen Ziels gerechtfertigt ist. Bei der Prüfung, ob die Folgen zurechenbar sind und insofern immerhin ein rechtfertigungsbedürftiger (nach dem Dogma der absoluten Unantastbarkeit der Menschenwürde freilich prinzipiell nicht rechtfertigungsfähiger!) Eingriff vorliegt, ist sie hingegen im Ansatz verfehlt. Dies zeigt der Vergleich mit einem klassischen Fall des Abbruchs rettender Kausalverläufe: Hindert A den B daran, Geiselnehmer G niederzuschießen, der gerade beginnt, seinem Opfer die Kehle durchzuschneiden, so ist ihm der Tod des O als wenigstens teilweise von ihm bewirkter Erfolg zurechenbar, und zwar völlig unabhängig davon, ob er die „Gefahrenlage für sich wirken läßt“, um den verhassten O zu beseitigen, oder ob ihm der Tod des O im Gegenteil höchst unerwünscht ist und er lediglich den ihm näher stehenden G retten möchte. Eine überhaupt nur theoretisch bestehende Differenzierungsmöglichkeit kommt erst bei der Prüfung einer evtl. Rechtfertigung oder Entschuldigung zum Tragen (die hier freilich ebenfalls in beiden Varianten negativ ausfällt) und schließlich im Rahmen einer evtl. Qualifikation durch ein Gesinnungsmerkmal des § 211 StGB sowie auf der Ebene der Strafzumessung. Die grundsätzliche Verantwortung für die wissentlich herbeigeführten Folgen des eigenen Handelns hängt eben nicht davon ab, ob diese zugleich auch beabsichtigt sind, und eine Rechtfertigungsprüfung darf die sicheren Folgen der Handlung nicht ausblenden! 6. Kann man der Einstufung sanktionsbewehrter Notwehrverbote bei drohender Ermordung eines Menschen als aktiven Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG schließlich entgegenhalten, eine solche Betrachtung könne bei Nothilfehandlungen von Amtsträgern einfach nicht richtig sein, weil der Verzicht auf eine effiziente Durchsetzung der öffentlichrechtlichen Vorgaben hier umgekehrt darauf hinausläuft, dass durch ein notwendigerweise hoheitliches Handeln48 der betreffenden Personen (und insofern wiederum durch aktive Staatstätigkeit) die Menschenwürde des Angreifers missachtet wird, was gerade strikt verboten sei?49 Wohl kaum, denn wenn der Schutz der Menschenwürde gegen aktive staatliche Beeinträchtigungen „absolut“ sein soll, muss dies konsequenterweise auf beiden Seiten gelten: Will man keiner Palmström-Logik verfallen, kann man der Beeinträchtigung der Menschenwürde an der einen Stelle nicht deshalb den Charakter einer solchen absprechen, weil rein tatsächlich keine Alternative besteht, einen entsprechenden Verstoß an anderer Stelle zu vermeiden. Wir haben es unter diesen Umstän48 Dass die Handlung des Amtsträgers neben der (ebenso unbestreitbaren) Eigenschaft, eine auf dem Willensentschluss eines Individuums beruhende menschliche Handlung zu sein, zwangsläufig auch als solches in Erscheinung tritt, habe ich niemals bestritten, weshalb die an diesem Punkt ansetzende Kritik ins Leere geht. 49 Vgl. Ambos/Rackow, Jura 2006, 943 (948).

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den vielmehr mit einer echten Kollisionslage innerhalb von Art. 1 Abs. 1 GG zu tun, die es faktisch unmöglich macht, das Eingriffsverbot in Art. 1 Abs. 1 GG durch das Dogma seines absoluten Vorrangs vor der Schutzpflicht uneingeschränkt durchzuhalten50 – die gegenteilige Annahme erweist sich spätestens in dem Moment, in dem die erforderlichen Maßnahmen zur Abwendung eines entwürdigenden Angriffs von der Rechtsordnung nicht nur nicht vorgeschrieben, sondern durch Sanktionsdrohungen gezielt unterbunden werden, als verfassungsrechtliches Wunschdenken.51 Will man die Kollisionslage auflösen, so kommt man nicht umhin, die kollidierenden Belange gegeneinander abzuwägen, wie es auch diejenigen tun, die einen generellen Vorrang des Achtungsanspruchs vor der Schutzpflicht nicht anerkennen – was es wie gesagt (s.o. 1.) nahe legt, den Konflikt insgesamt (d.h. auch für die öffentlichrechtliche Bewertung) im Sinne einer Zulässigkeit von „Notwehrfolter“ zu entscheiden. Wem das zu weit geht, dem bleibt nichts anderes übrig, als die Kollisionslage unaufgelöst stehenzulassen. Dann ist die Durchsetzung eines notwehrfesten Folterverbots mit Hilfe des Strafrechts aber ebenso ausgeschlossen wie eine positive öffentlichrechtliche Legitimation der Notwehrfolter. Man mag darin einen Bruch innerhalb der Rechtsordnung erblicken, aber dieser ist nun einmal in Art. 1 Abs. 1 GG angelegt, wenn man an der kontextunabhängigen Einstufung der gewaltsamen Erzwingung von Wissensäußerungen als Beeinträchtigung der Menschenwürde und am Dogma der Unabwägbarkeit von letzterer auch im unüberbrückbaren Kollisionsfall bedingungslos festhalten will. Deshalb ist es – Einheit der Rechtsordnung hin oder her – auch verfehlt, diesen Widerspruch aus dem einfachen Recht, wo er in der (in den Notrechtsvorbehalten explizit anerkannten) Möglichkeit eines Auseinanderklaffens der Voraussetzungen öffentlichrechtlicher Eingriffsermächtigung und strafrechtlicher Rechtfertigung wiederkehrt, um jeden Preis herausinterpretieren zu wollen. Wer dies tut, um mit der Konstruktion eines strafbewehrten Nothilfeverbots der „Absolutheit des Folterverbots“ eine maximale Effektivität zu verschaf50 Die einzige Möglichkeit, das Dogma zu retten, bestünde darin, den Schutzbereich von Art. 1 Abs. 1 GG enger zu fassen, indem man die gewaltsame Erzwingung von Wissensäußerungen wie andere potentiell entwürdigende Tätigkeiten nicht per se, sondern nur dann überhaupt als Missachtung der Menschenwürde einstuft, wenn sie nicht zur Abwehr eines würdeverletzenden Angriffs erforderlich sind (so etwa Herzberg, JZ 2005, 321 (322 ff.); im öffentlichen Recht zumindest im Grundansatz Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Stand Februar 2003, Art. 1 Abs. 1 Rn. 45; vgl. auch Merkel, FS Jakobs [2007], S. 375 [398 ff.]). Ein solcher Ansatz, nach dem die Kollisionslage erst gar nicht entstehen würde und „Notwehrfolter“ unproblematisch zulässig wäre, soll hier nicht weiterverfolgt werden; dagegen u.a. Wagenländer (Fn. 1), S. 141 m.w.N. 51 Zutr. Merkel, FS Jakobs (2007), 375 (396 f.); auch Lüderssen, FS Rudolphi (2004), S. 691 (702) spricht in diesem Zusammenhang von der „große[n] Lebenslüge des Verfassungsrechts“; aus öffentlichrechtlicher Perspektive Elsner/Schobert, DVBl 2007, 278 ff.

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fen, legt an anderer Stelle Axt an die gleichen rechtsstaatlichen Wurzeln, die auch das Folterverbot tragen. Die vom verehrten Jubilar zutreffend dargestellte strafrechtliche Rechtslage52 erweist sich hiernach auch aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht nur als akzeptabel, sondern in der Toleranz gegenüber dem Nothelfer (selbst wenn es sich um einen Amtsträger handelt) sogar als unabdingbar.

IV. Das Folterverbot als absoluter Höchstwert? 1. Weil in den vorangegangenen Überlegungen die staatliche Menschenwürdegarantie in einer anderen Facette einfach nur genauso ernst genommen wird, wie dies landläufig bei der Begründung des Folterverbots geschieht, liegt in diesen Überlegungen keine unzulässige „normative Überbietung“ derselben, und es handelt sich auch nicht um „eine im Namen einer vermeintlich überlegenen ‚Moral’ oder der ‚Menschlichkeit’ vorgetragene Kritik am geltenden Recht“.53 Wer einen solchen Vorwurf erhebt, tut dies offenbar in der Vorstellung, die Freiheit von einer gewaltsamen Willensbeugung sei nicht Bestandteil der Menschenwürdegarantie, sondern mit dieser identisch, und das Verbot aller anderen denkbaren Entwürdigungen sei quasi nur nachgeordnetes Beiwerk.54 Das ist indessen eine willkürlich gesetzte Prämisse, die nach Entstehungsgeschichte und Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 GG wenig Plausibilität aufweist: Können die Väter des Grundgesetzes (unter dem damals ganz aktuellen Eindruck der NS-Verbrechen) ernsthaft gemeint haben, ein aktives Hinwirken der Rechtsordnung auf das Gelingen von Morden während ihrer Begehung sei für die „Legitimität staatlichen Handelns“ weniger problematisch als punktuelle Abstriche von der „unbeugsame[n] und ungezwungene[n] Willensbildung der Bürger“?55 Wenn ja, hätte es dann nicht nahe gelegen, die überragende Bedeutung eines bedingungslosen Verbots der Erzwingung von Willensäußerungen ausdrücklich in Art. 1 GG hineinzuschreiben? Auch die Verortung einer solchen Wertung in Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG, der Art. 1 Abs. 1 GG danach nicht nur konkretisieren, sondern diesem erst seinen zentralen Sinngehalt verleihen würde, versteht sich jedenfalls nicht von selbst.56 Was 52

S.o. Fn. 1. So Stübinger (Fn. 8), S. 312. 54 Deutlich etwa Bielefeldt, Menschenwürde und Folterverbot (2006, Internet-Publikation, abrufbar unter www.institut-fuer-menschenrechte.de), S. 9 ff.; im Ergebnis auch Lübbe (Fn. 31), S. 72 ff. 55 Stübinger (Fn. 8), S. 313. 56 Richtigerweise meint Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG offensichtlich nur solche Personen, die sich effektiv ergeben haben (sonst dürfte man ja auch gegen randalierende Gefangene nicht 53

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schließlich völkerrechtliche Garantien eines „absoluten“ Folterverbots betrifft, so besteht über die Frage, wie man diese in den hier zu erörternden Sonderfällen mit den Gewährleistungen von Art. 1 Abs. 1 GG in Einklang bringen kann, ebenfalls zumindest Diskussionsbedarf.57 Von daher ist es schlicht eine petitio principii, die Erhebung eines notwehrfesten Folterverbots zu einem absoluten Höchstwert als unumstößliche verfassungsrechtliche Wahrheit zu deklarieren, gegen die Überlegungen zu negativen menschenrechtlichen Implikationen eines solchen Schrittes a priori nichts ausrichten können.58 2. Die Vertreter einer solchen Höchstwertthese können in der notwendigen Diskussion auch nicht deshalb eine bessere Ausgangsposition beanspruchen, weil sie meinen, „die normative Wirklichkeit eines Rechtsstaats“ zu vertreten, während auf der anderen Seite lediglich „eine im Namen einer vermeintlich überlegenen ‚Moral’ und der ‚Menschlichkeit’ vorgetragene Kritik am geltenden Recht“ stehe.59 Wenn sie bei der (gerade erst zu klärenden) Frage nach den Grundbedingungen eines Rechtsstaats die Absolutheit der Menschenwürdegarantie im Konfliktfall ausschließlich für das Folterverbot reservieren wollen, schöpfen sie nämlich selbst aus überpositiven Quellen: Wer in diesem Zusammenhang etwa ein Modell anführt, nach dem die „unbeugsame und ungezwungene Willensbildung der Bürger“ zum zentralen Gründungsschwur des Rechtsstaats avanciert, dessen noch so punktuelle Nichteinhaltung in Gestalt einer Maßnahme, „durch die jemand gleichsam gegen sich selbst gewendet wird und zur kooperativen Aussage gegen sich selbst gezwungen werden soll“, quasi den totalen Legitimationsgewaltsam vorgehen, vgl. bereits Herzberg, JZ 2005, 321 [326]; Erb, Folterverbot [Fn. 1], S. 163 Fn. 11). Das ist bei jemandem, der nicht freiwillig bereit ist, seinen eigenen, in diesem Moment noch wirksamen Angriff auf das Leben eines Menschen durch Preisgabe rettender Informationen zu beenden, aber nicht der Fall. Er übt vielmehr weiterhin rechtswidrige Gewalt über das Schicksal eines Menschen aus, die es ebenso zu brechen gilt wie bei einem Geiselnehmer, der sich mit seinem Opfer verschanzt hat (ähnlich Brugger, JZ 2000, 165 [169]; H. Götz, NJW 2005, 953 [956]). Ob sich der Angreifer dabei räumlich gesehen bereits in staatlichem Gewahrsam befindet, ist zum einen ein relatives (auch bei dem mit seiner Geisel umstellten Täter ist das in gewisser Weise der Fall, erst recht bei einer Geiselnahme innerhalb der JVA) und zum anderen ein oberflächliches phänotypisches Kriterium, das den sozialen Bedeutungsgehalt der Situation nicht erfasst. 57 Dazu noch unten V. 58 Zutr. in ähnlicher Form bereits Merkel, FS Jakobs (2007), S. 375 (396 f.); vgl. auch Otto, JZ 2005, 473 (481); Gössel, FS Otto (2007), S. 41 (57). Vor diesem Hintergrund zu behaupten, die petitio principii liege umgekehrt darin, jene Wahrheit in Zweifel zu ziehen, indem im Zuge ihrer kritischen Überprüfung die Möglichkeit einer punktuellen Relativierung des Folterverbots in die Diskussion eingeführt wird (so Ambos/Rackow, Jura 2006, 943 [948]), stellt die Dinge auf den Kopf. 59 So Stübinger (Fn. 8), S. 312; ähnlich Roxin, FS Nehm (2006), S. 205 (210).

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verlust des Staates bedeutet,60 rekurriert auf ein staatsphilosophisches Modell zur Legitimation eines „guten“ Staates, das nicht aus Art. 1 Abs. 1 GG erwächst, sondern diesem von einer vorgefassten ideologischen Position aus übergestülpt wird. Deshalb müssen sich die Anhänger dieses Modells sehr wohl kritischen Überlegungen stellen, ob die staatliche Förderung schwersten Unrechts durch den Schutz des Mörders bei Vollendung seiner Tat den Grundfunktionen eines Rechtsstaats nicht mindestens ebenso sehr zuwiderläuft wie die gewaltsame Erzwingung einer Wissensäußerung. 3. Diese Auseinandersetzung spitzt sich letzten Endes auf die Frage zu, ob der Staat in beliebigem Umfang über den Menschen verfügen darf. Dabei werden wir im vorliegenden Zusammenhang wiederum mit einer Paradoxie konfrontiert: Ein absolutes und unabänderliches Eingriffsverbot, wie es durch Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG statuiert wird, schützt den Menschen grundsätzlich vor einer totalen Inanspruchnahme für die Verfolgung vermeintlich höherrangiger Ziele des Staates. Hierdurch unterscheidet sich der moderne Rechtsstaat in der Tat von totalitären Ideologien, nach denen noch so elementare Belange von Individuen umgekehrt keine Abstriche von der Verfolgung der gesellschaftlichen Ziele erlauben, die im Mittelpunkt der jeweiligen Ideologie stehen (sei es die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft, die strikte Einhaltung der Vorgaben einer bestimmten Religion oder was auch immer). Geht man bei der Verabsolutierung einer bestimmten Komponente dieses Verbots aber so weit, dieses auch dort bedingungslos durchzusetzen, wo jemand seinen Schutz de facto nur dazu benötigt, um ungestört die elementarsten Belange von Mitmenschen verletzen zu können, so dringt der Staat durch die hiermit untrennbar verbundene Förderung eines entsprechenden Angriffs nunmehr an anderer Stelle, nämlich zum Nachteil des Opfers, in den Bereich des „Unverfügbaren“ vor. Damit wird der berechtigte Ansatz, der einer absolut notstandsfesten Ausgestaltung der Menschenwürdegarantie zugrunde liegt, durch die absolut notwehrfeste Ausgestaltung eines Teils derselben letzten Endes ad absurdum geführt.61 4. Quasi auf der Flucht vor dieser Erkenntnis wird nun versucht, die Diskussion von den Belangen der betroffenen Individuen zu lösen, indem man die 60 In diesem Sinne Stübinger (Fn. 8), S. 313, ähnlich Bielefeldt (Fn. 54), S. 9 ff.; Reemtsma, Folter im Rechtsstaat (2005), S. 125 ff. 61 Diese Erkenntnis basiert nicht auf dem Postulat eines naturrechtlichen Kerns des Notwehrrechts, der „aus der üblichen Schale des positiven Rechts herausgedrückt“ wird (so der Vorwurf von Stübinger [Fn. 8], S. 308). Vielmehr liefern die vorangegangenen Überlegungen umgekehrt eine schlüssige Begründung dafür, dass das Notwehrrecht in seinem Kernbereich nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht, weil sich ein Staat, der das Notwehrrecht nicht wenigstens insoweit anerkennt, offenkundig desavouiert.

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„Absolutheit“ des Folterverbots zum Inbegriff einer Menschenwürdegarantie hochstilisiert, die als institutionelle Einrichtung keine Rücksicht darauf nehmen könne und müsse, was dem einzelnen Menschen widerfährt.62 Durch ein solches staatsphilosophisches Konstrukt tritt indessen besonders deutlich hervor, wie die in Art. 1 Abs. 1 GG angelegte Selbstbeschränkung des Rechtstaats in eine Höchstwertorientierung umschlägt, nach der der Staat plötzlich wieder berechtigt bzw. sogar verpflichtet sein soll, zur Förderung eines alles andere überragenden Ziels (in diesem Fall eben zur Wahrung einer angeblichen Legitimationsgrundlage, die einseitig im bedingungslosen Ausschluss einer bestimmten Handlungsmodalität verortet wird) die elementarsten Rechte von Menschen zu negieren – bis hin zur wissentlichen Förderung ihrer willkürlichen Vernichtung. Damit gibt der Rechtsstaat genau das preis, was ihn prinzipiell von totalitären Willkürstaaten unterscheidet63 – nämlich dass er, wie es im Chiemsee-Entwurf des Grundgesetzes deutlich formuliert war, „um des Menschen willen ..., nicht der Mensch um des Staates willen“ da ist.64 Darüber hinaus konterkariert er die Grundfunktion des Zusammenschlusses von Menschen in einem Gemeinwesen überhaupt, die nun einmal darin besteht, den Einzelnen vor existenzbedrohenden Übergriffen zu schützen, weshalb der Staat schwerlich legitimiert sein kann, dort, wo er zur Gewährung dieses Schutzes nicht in der Lage ist, solchen Übergriffen nunmehr umgekehrt durch ein Verbot der erforderlichen Gegenwehr (wer auch immer sie de facto zu leisten bereit ist) in der Phase ihrer Ausführung freie Bahn zu verschaffen. Wer ein (gutes und wichtiges) rechtsstaatliches Prinzip wie das Folterverbot durch das Postulat seiner Notwehrfestigkeit solchermaßen übersteigert, schafft einen Fetisch, den der Rechtsstaat ebenso wenig nötig hat, wie er ihn sich leisten könnte.65 Er dürfte damit auch der allgemeinen Akzeptanz dieses Prinzips in seinem

62 Entsprechend etwa Reemtsma (Fn. 60), S. 123 ff.; Stübinger (Fn. 8), S. 312 f.; Bielefeldt (Fn. 54), S. 9 ff.; ähnlich durch den Rekurs auf eine angebliche „Würde des Staates“ auch Jäger, FS Herzberg (2008), S. 539 (546 ff.). 63 Vgl. bereits Erb, Jura 2005, 24 (30); ders., NStZ 2005, 593 (600); ders., Folterverbot (Fn. 1), S. 165 f. 64 An diese Formulierung anknüpfend bemerken Elsner/Schobert, DVBl 2007, 278 (284 Fn. 69) zutr.: „Die Menschenwürde wird nicht um ihrer selbst willen geschützt; nicht das Rechtsgut wird geschützt, sondern sein Träger, der einzelne Mensch.“. 65 Dies gilt um so mehr, wenn (wie in der Diskussion um den „Fall Daschner“ regelmäßig geschehen) bereits Drohungen, die im Vergleich zu jeder nicht ganz geringfügigen Körperverletzung eine Bagatelle darstellen, mit der Konsequenz als „Folter“ eingestuft werden, dass nicht einmal eine solche Maßnahme erlaubt sein soll, um die Macht eines Mörders über das Schicksal seines Opfers zu brechen (eingehende und unter allen einschlägigen Aspekten überzeugende Kritik dagegen bei Herzberg, JZ 2005, 321 [325 f.]; Merkel, FS Jakobs [2007], S. 375 [401 f.]).

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legitimen Anwendungsbereich (d.h. als Barriere gegen jede Form einer Notstandsabwägung) am Ende mehr schaden als nützen.66

V. Internationale Verbote der Folter 1. Was nun das Verbot der Folter durch völkerrechtliche Vorgaben betrifft, so ist zunächst noch einmal klarzustellen, dass internationale Abkommen selbst dann, wenn die Bundesrepublik damit eine völkerrechtlich bindende Verpflichtung eingegangen ist, im Rang unter Art. 1 Abs. 1 GG stehen. Sie können deshalb die Gewährung von Schutz für jemanden, der hierdurch in die Lage versetzt wird, quasi unter staatlicher Aufsicht einen Mord zu vollenden, innerstaatlich nicht legitimieren,67 und eine unmittelbar strafbegründende Wirkung gegenüber dem Nothelfer, der die Vollendung des Mordes mit den erforderlichen Mitteln verhindert, kommt ihnen schon gar nicht zu. Wenn man das Verbot der Folter schließlich grundsätzlich als Bestandteil des zwingenden Völkergewohnheitsrechts (ius cogens) betrachtet,68 so muss (und kann) das noch lange nicht bedeuten, daß damit völlig kontextunabhängig und ohne Rücksicht auf beliebige weitere Implikationen alles erfasst wäre, was sich rein begrifflich unter „Folter“ subsumieren lässt (und erst recht keine Verpflichtung zur lückenlosen Pönalisierung): Immerhin haben die vorstehenden Überlegungen gezeigt, dass jedenfalls die strafrechtliche Durchsetzung eines bedingungslosen Verbots, zur Abwendung eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs auf Leib und Leben als Amtsträger gegen den Angreifer mit vis compulsiva vorzugehen, ihrerseits geeignet ist, die Grundannahme, auf der das Folterverbot im übrigen basiert (nämlich die Annahme unübersteigbarer Grenzen dessen, was ein Staat einem Menschen antun darf), ad absurdum zu führen. Sie beschwört ferner Konflikte mit anderen durch das ius cogens garantierten Positionen herauf, zu denen u.a. auch der Schutz vor willkürlicher Ermordung gehört.69 Vor diesem Hintergrund erscheint es wenig plausibel, speziell für diese Konstellation die universelle Akzeptanz einer entsprechend verstandenen „Absolutheit“ des Folterverbots zu unterstellen. Dazu müsste die vorliegende Fallgruppe vielmehr erst einmal im Lichte dieser Aspekte in das Bewusstsein des weltweiten völkerrechtlichen Diskurses gelangt und dort eingehend erörtert worden sein. Das ist bisher nicht einmal im Ansatz geschehen, weil die Debatte seit 66

Zutr. Gössel, FS Otto (2007), 41 (62). Näher Gössel, FS Otto (2007), 41 (44). Vgl. zum Vorrang des Grundgesetzes vor internationalem Recht, wenn dessen Beachtung zu einem „Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung“ führen würde, etwa BVerfGE 111, 307 (319). 68 Wohl h.M., vgl. Jahn, KritV 2004, 24 (33 f.); Wagenländer (Fn. 1), S. 172, jew. m.w.N. 69 Dazu Wagenländer (Fn. 1), S. 195 f. 67

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eh und je um das – berechtigte – Anliegen kreist, das Folterverbot keiner Notstandsabwägung zu öffnen, ohne dass man dabei die besondere Struktur der Notwehrlage, die gegenüber den schlimmsten denkbaren Notstandszenarien keine Steigerung, sondern ein aliud darstellt, in der Sache überhaupt zur Kenntnis genommen hätte (was daran liegen mag, dass solche Fälle im Gegensatz zu der Versuchung, Folter zur Aufklärung staatsgefährdender Organisationsstrukturen einzusetzen, extrem selten sind). 2. Dieses Defizit an Gedanken darüber, was es denn bedeutet, wenn der Staat nicht nur vor dem Hintergrund beliebig gearteter (und durchaus auch beliebig gravierender) Bedrohungslagen bereit ist, auf eine bestimmte Handlungsmodalität unbedingt zu verzichten, sondern durch deren Verbot in der Notwehrlage der gegenwärtigen willkürlichen Ermordung von Menschen den Weg ebnet, kennzeichnet auch die völkervertraglichen Regelungen, in denen in pathetischen Formulierungen jede Rechtfertigung von „Folter“ kategorisch ausgeschlossen wird.70 Hätte man die vorliegend interessierende Konstellation hinreichend reflektiert, wäre es aufgrund ihrer strukturellen Besonderheiten nämlich mehr als nahe liegend gewesen, sie zur Vermeidung von Missverständnissen in den betreffenden Konventionen zumindest in irgendeiner Form gesondert zu erwähnen – wenn nicht im Sinne einer Ausnahme, dann im Sinne einer zusätzlichen Bekräftigung, dass die „Absolutheit“ des Folterverbots diesen Fall trotz der genannten Bedenken mit einschließen soll. Den Verfassern der jeweiligen Artikel und den Vertragsparteien der betreffenden Konventionen war das Problem also offenbar jedenfalls in seiner Tragweite nicht bewusst. Vor diesem Hintergrund wird man über eine einschränkende Auslegung der betreffenden Passagen reden müssen,71 um zu verhindern, dass Notwehrverbote im Zusammenhang mit der willkürlichen Ermordung von Menschen die einschlägigen Vertragswerke in den gleichen unüberbrückbaren Konflikt mit ihren eigenen Grundlagen bringen,72 wie das bei Art. 1 Abs. 1 GG der Fall wäre. Hält man dies methodisch nicht für möglich oder fehlt bei den zuständigen internationalen Gremien die Bereitschaft, sich auf entsprechende Überlegungen einzulassen,73 muss man sich in der Tat auf den Standpunkt 70

Insbesondere Art. 3 i.V.m. Art. 15 MRK und Art. 2 Abs. 2 UN-Folterkonvention. Entsprechender Vorschlag in Bezug auf die UN-Folterkonvention bei Erb, Jura 2005, 24 (28); weitergehend Gössel, FS Otto (2007), S. 41 (44 ff.); kritisch Herzberg, JZ 2005, 321 (324 Fn. 13). 72 Das Folterverbot ist ja auch nach deren Intention kein Selbstzweck, sondern Ausdruck des Bestrebens um einen bestmöglichen Schutz der Menschenwürde, zutr. Wagenländer (Fn. 1), S. 193 f. 73 Der EGMR hätte im Zuge der Beschwerde, die Gäfgen aufgrund der gegen ihn gerichteten Drohungen erhoben hat, dazu immerhin eine Gelegenheit; die Entscheidung lag bei Abschluss des vorliegenden Beitrags noch vor. 71

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zurückziehen, dass die einschlägigen Bestimmungen wegen des insoweit bestehenden Widerspruchs zu Art. 1 Abs. 1 GG punktuell keine innerstaatliche Geltung beanspruchen können; Vertragsverletzungsverfahren sind dann notfalls in Kauf zu nehmen. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Überlegungen nicht akzeptabel wäre jedenfalls ein blinder Gehorsam gegenüber dem Wortlaut der Konventionen oder gegenüber daran haftenden Entscheidungen. Dabei sollte es auf der Hand liegen, dass die Sorge um eine „schlechte Presse“ bei Medienvertretern und Organisationen, die mit einem rhetorisch instrumentalisierten Folterbegriff Emotionen schüren, und um damit evtl. verbundene negative Auswirkungen auf das „internationale Ansehen“ der Bundesrepublik keine legitimen Gründe darstellen, wider besseres Wissen eine verfehlte Strafverfolgung zu betreiben. Wer letzterer aus solchen Erwägungen das Wort redet, dem wäre entgegenzuhalten, was Di Fabio vor einiger Zeit in anderem Zusammenhang74 bemerkt hat: „Wir beginnen heute überstaatliche Herrschaftsformen in einer Art zu bejubeln, die bereits im Zeitalter der Nationalstaaten an der Tagesordnung war, als die Nation besungen wurde. Die heute sichtbar werdende politische und kulturelle Direktive, alles Internationale und Überstaatliche unkritisch zu übernehmen, ... gefährdet nicht nur die Freiheit, sondern auf längere Sicht auch das Ansehen der internationalen Kooperationen.“75

VI. Ergebnisbezogene Bedenken? Im Folgenden sei noch einmal kurz auf einige ergebnisbezogene Bedenken eingegangen, wenngleich diese vor dem Hintergrund der rechtsstaatlichen Unhaltbarkeit eines Notwehrverbots keine durchschlagende Kraft mehr entfalten können.76 Sie kreisen letzten Endes alle um die Befürchtung, auch bei einem nur punktuellen Verzicht auf negative Sanktionierung einer mit „Folter“ identifizierbaren Handlungsweise werde es „kein Halten“ mehr geben.

74 Es ging um die Einleitung eines Strafverfahrens mit Anordnung von Untersuchungshaft gegen einen Kurden, der zur Unterstützung von Kurden im Nordirak, die zu diesem Zeitpunkt nicht mehr von Saddam Hussein beherrscht wurden und zu ihm in Opposition standen, Geld gesammelt und damit formal gegen eine Resolution des UN-Sicherheitsrats verstoßen hatte, die zum Boykott des Hussein-Regimes Bankgeschäfte auf dem Staatsgebiet des Irak untersagte. Um den Anschein zu vermeiden, Di Fabio solle allgemein für den im vorliegenden Beitrag vertretenen Standpunkt des Verfassers vereinnahmt werden, sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er diesen nicht teilt. 75 Di Fabio, Die Kultur der Freiheit (2005), S. 47. 76 Vgl. Merkel, FS Jakobs (2007), S. 375 (380, 402 f.).

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1. Soweit damit die Gefahr eines allgemeinen „Dammbruchs“ gemeint ist, wurden die wesentlichen Dinge bereits gesagt (s.o. II.2.). Zum Teil bezieht sich dieser Vorwurf allerdings auch auf den Umstand, dass keine detaillierten Regeln bestehen, wie weit man bei der Schmerzzufügung im Einzelfall einer Notwehrlage denn ggf. gehen darf; hierbei wird dann regelmäßig die Möglichkeit von Verstümmelungen ins Spiel gebracht und ggf. anschaulich ausgemalt.77 Hierauf ist zu erwidern, dass das Notwehrrecht generell keinen numerus clausus der zulässigen Verteidigungsmittel kennt, und dass man auch sonst beliebig abscheuerregende Fälle bilden kann, in denen der Verteidiger berechtigt ist, den Angreifer in grauenhafter Weise zu verstümmeln oder ihm Wunden zuzufügen, die einen langsamen schmerzhaften Tod zur Folge haben: Man denke etwa an jemanden, der zufällig in eine Terrorwerkstatt geraten ist (oder dem dort als Polizist bei einer Razzia in einem Gerangel die Dienstwaffe entwendet wurde), und dem nur ein soeben gefundener Flammenwerfer zur Verfügung steht, um sich oder einen Dritten effektiv verteidigen zu können. Dies bedeutet hier wie dort indessen keinen Freibrief, nach Gutdünken ein entsprechend brutales Vorgehen an den Tag zu legen: Angesichts der vielfältigen Möglichkeiten, auch ohne solche nachhaltigen Beeinträchtigungen extreme Zwangswirkungen zu erzielen, dürfte das Kriterium der Erforderlichkeit gerade in den hier interessierenden Fällen in aller Regel viel engere Grenzen setzen, und jeder Notwehrtäter muss sich einer nachträglichen kritischen Prüfung stellen, ob er diese Grenzen eingehalten hat. Auch das Szenario, dass eine irrtümlich für den Angreifer gehaltene Person straflos immer weiter gefoltert werden darf, weil sie nichts Sachdienliches sagt (was sie ja nicht kann), erscheint wenig realistisch: Sollte es tatsächlich einmal so weit kommen, dass sich jemand unter Einhaltung der strengen Voraussetzungen, die an die Evidenz der Angreifereigenschaft zu stellen sind, am Falschen vergreift,78 der immer wieder beteuert, Opfer einer Verwechslung zu sein, und hierfür um plausible Hinweise bemüht ist, so muss sich der andere recht schnell die Frage stellen, ob das nicht wirklich so sein könnte, und handelt dann jedenfalls nicht mehr in einem unvermeidbaren Irrtum, der ihn vor Strafe bewahren würde.79 Bei einem fanatisierten Täter, der ganz offen einräumt, einen Menschen in sei77 Vgl. etwa Reemtsma (Fn. 60), S. 120 f.; 101, K. Günther, Darf der Staat foltern, um Menschenleben zu retten? in: Beestermöller/Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter (2006), S. 101, 106 f.; Schild, Folter(androhung) als Straftat, in: Gehl (Hrsg.), Folter – Zulässiges Instrument im Strafrecht? (2005), S. 59 (75); Bielefeldt (Fn. 54), S. 14 ff. 78 Zu diesem Problem sogleich unter 2. 79 Strafbarkeitslücken treten nicht auf, wenn man – was hier nicht weiter vertieft werden kann – bei der Behandlung der Putativnotwehr der „strengen Schuldtheorie“ folgt, deren dogmatische Richtigkeit in jüngerer Zeit insbesondere Paeffgen (Fn. 2), Vor §§ 32 bis 35, Rn. 108 ff. eingehend und überzeugend begründet hat.

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ner Gewalt zu haben, und sich zugleich damit brüstet, jedem Zwang zu widerstehen und das Opfer jämmerlich zugrunde gehen zu lassen, könnte es (wenn er diese Linie denn durchhält) freilich zum Äußersten kommen – dort aber ebenso zu Recht wie im Flammenwerfer-Beispiel. Prinzipiell ausgeschlossen ist schließlich ein nachhaltiges, über Wochen oder Monate praktiziertes systematisches Zerbrechen der Persönlichkeit, wie es Folter im üblichen Sinn häufig kennzeichnet, weil ein so langfristiges Fortbestehen einer Notwehrlage schlechthin undenkbar erscheint.80 2. Zur Frage eines möglichen Irrtums ist im Übrigen zu bemerken, dass dieser im vorliegenden Zusammenhang selbstverständlich auch dann furchtbar wäre, wenn es zwar nicht zu nachhaltigen Schädigungen, aber doch zu erheblicher Schmerzzufügung kommt. Das Risiko wird allerdings nicht nur durch die strengen Anforderungen minimiert, die bei einem Eingriff solcher Schwere an die Zubilligung eines unvermeidbaren Irrtums zu richten wären (über die ohnehin zu verlangende Evidenz der Notwehrlage hinaus), sondern auch durch den Umstand, dass der Betroffene grundsätzlich die Möglichkeit hat, durch eine plausible Schilderung, wie er in die betreffende Situation kam, eine zunächst gegebene Evidenz zu erschüttern und damit die Voraussetzungen einer Entschuldigung des Vorgehens gegen ihn zu beseitigen. Wer versehentlich für einen Angreifer gehalten und deshalb erschossen wird, hat diese Chance definitiv nicht! Das in letzter Konsequenz niemals auszuschließende „Restrisiko“ eines verhängnisvollen Irrtums ist schließlich keine Besonderheit der vorliegenden Konstellation, sondern überall da gegeben, wo Menschen Entscheidungen von großer Tragweite treffen müssen. Die theoretische Möglichkeit, dass es sich irgendwann einmal realisiert, kann die Berechtigung, einer in concreto definitiv richtig erkannten Notwendigkeit zu folgen, prinzipiell nicht in Frage stellen – andernfalls müssten sämtliche Aktivitäten von Polizei und Justiz generell eingestellt werden.81 Im Vergleich mit einem potentiellen Irrtumsopfer in der vorliegenden Konstellation wird man auch schwerlich sagen können, dass sich jemand, der irrtümlich erschossen, mit der Folge schwerster Dauerschäden angeschossen oder unschuldig zu einer langjährigen, im Ergebnis sein gesamtes Leben zerstörenden Freiheitsstrafe verurteilt wird,82 in einer privilegierten Situation befindet.

80 Weshalb das Argument der „totalen Persönlichkeitszerstörung“ eines Gefolterten im vorliegenden Zusammenhang offenkundig ins Leere geht, zutr. Trapp (Fn. 16), S. 133 ff. 81 Zutr. Nitschke, Die Debatte über Folter und die Würde des Menschen, in: Nitschke (Hrsg.), Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat? (2005), S. 7 (34). 82 Zu einem solchen Fall, in dem die Verurteilung offenbar auf grober Pflichtvergessenheit der zuständigen Richter beruhte, eindrucksvoll Rückert, Unrecht im Namen des Volkes (2007),

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3. Schlicht unzutreffend ist schließlich die (zumeist in Verbindung mit dem Dammbruch-Argument vorgetragene) Behauptung, eine Rechtfertigung von „Notwehrfolter“ erfordere genaue Regelungen, welche Methoden unter welchen Umständen im Einzelnen anzuwenden seien, und einschlägig ausgebildetes Personal:83 Wenn (auch bei einem Amtsträger) richtigerweise schon de lege lata eine persönliche Rechtfertigung nach § 32 StGB Platz greift, besteht kein Hinderungsgrund, es auch in Zukunft einfach dabei zu belassen.84 Ebenso wie sonst bei der Notwehr einschließlich der Nothilfe liegt es in der Hand des Einzelnen, der sich in einer entsprechenden Situation wieder findet, das in concreto erforderliche Mittel zu finden und sein Vorgehen hinterher gegenüber der Justiz zu verantworten. Ob ein Amtsträger aufgrund seiner Garantenstellung für das Opfer ggf. verpflichtet wäre, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen,85 obwohl diese nicht im Polizeirecht geregelt sind und er insofern wie ein privater Verteidiger quasi nach bestem Wissen und Gewissen improvisieren muss, ist eine Frage, über die man diskutieren kann.86 Sie wird durch das Recht zur Ausübung von Notwehr einschließlich Nothilfe jedoch in keiner Weise präjudiziert, da es – abgesehen von Zumutbarkeitserwägungen – zumindest fraglich erscheint, ob die Garantenpflicht des Polizeibeamten über die Vornahme solcher Maßnahmen hinausgehen kann, die in den Vorschriften, die seine Garantenstellung begründen (d.h. im Polizeirecht), im Einzelnen geregelt sind.87 Hier muss man wohl darauf bauen, dass diejenigen, die mit einem einschlägigen Sachverhalt konfrontiert werden, im Ernstfall die Zivilcourage besitzen, das Richtige zu tun. Da die Lebenswirklichkeit kein Heldenepos ist,88 wird das freilich nur dann der Fall sein, wenn die Rechtsordnung jene Tugend nicht

passim; Kritik an den insoweit bestehenden Strafbarkeitsdefiziten bei Erb, FS Küper (2007), 29 ff. 83 So etwa Braum, KritV 2005, 283 (296 f.); Joerden, FS Hruschka (2005), S. 495 (518); Roxin, FS Nehm (2006), S. 205 (216). 84 Ideal wäre freilich eine gesetzliche Klarstellung, dass § 32 StGB auch die gewaltsame Erzwingung von Informationen des Angreifers rechtfertigen kann, die zur Abwendung des Angriffs erforderlich sind, und eine im Vergleich zu den gegenwärtigen Notrechtsvorbehalten noch eindeutigere Klarstellung, dass § 32 StGB in vollem Umfang auch Amtsträgern zugute kommt, die in Ausübung ihres Dienstes ohne einschlägige Ermächtigungsgrundlage handeln. 85 Krit. gegenüber dieser Konsequenz etwa Weßlau, Der staatliche Schutz von Verbrechensopfern und das Verbot der Folter, in: Paech/Rinken/Schefold/Weßlau (Hrsg.), Völkerrecht statt Machtpolitik, 2004, S. 390 (401 ff.). 86 Bejahend Kühl AT (Fn. 1), § 7 Rn. 156a; ders., in: Lackner/Kühl (Fn. 1), § 32 Rn. 17a. 87 Verneinend Gössel, FS Otto (2007), S. 41 (61). 88 Deshalb verfehlt der Ruf von Poscher, Menschenwürde als Tabu, in: Beestermöller/Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter (2006), S. 75 (83 ff.), nach einem Helden, „der bereit ist, für die Rettung der Welt ins Gefängnis zu gehen“.

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durch einen Fehlgebrauch ihrer Sanktionsmechanismen untergräbt, wie dies im Strafverfahren gegen Wolfgang Daschner geschehen ist.

Mord und Totschlag – Die BGH-Rechtsprechung vor einem Wandel?1 WALTER GROPP

I. „Diese Übersicht enthält einen Fehler…“ Wenn in der Vorlesung zum Besonderen Teil des Strafgesetzbuches das Verhältnis von Mord und Totschlag angesprochen wird, rückt bald § 28 in das Zentrum der Betrachtung. Die Information, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Mord als ein selbständiger Tatbestand im Verhältnis zum Totschlag aufgefasst und die Teilnahme daran über § 28 Abs. 1 abgewickelt wird, während die überwiegende Lehre den Mord als Qualifikation des Totschlags begreift und § 28 Abs. 2 auf die Beteiligung anwendet, führt nicht selten zu einer ungläubigen Reaktion der Studienanfänger: Wie es denn komme, dass ein solcher Streit nach Ablauf von mehr als 55 Jahren noch immer nicht entschieden sei. Zu dieser Verwunderung trägt auch bei, dass sich bis heute der Frontverlauf zwischen den „verfeindeten Lagern“ Rechtsprechung2 und Schrifttum3 anschaulich darlegen lässt. Die Verwunderung der Studierenden schlägt in Irritation um, sobald sie erkennen, dass jene Auseinandersetzung zwischen Lehre und Rechtsprechung nicht nur praxis-, sondern auch äußerst prüfungsrelevant ist, indem sie unmittelbare Auswirkungen auf die Anwendung des § 28 hat. Als Hochschullehrer ist man an dieser Stelle versucht, den Studierenden die Sache etwas zu erleichtern und die Auswirkung der unterschiedlichen Auffassungen auf die Anwendung des § 28 graphisch darzustellen. Während unserer gemeinsamen Zeit an der Leipziger Juristenfakultät fiel mir eine solche Übersicht von Manfred Seebode in die Hände. Sie enthielt eine erste Fußnote, von der ich bis heute nicht weiß, ob sie als Hinweis auf die Fehlbarkeit allen menschlichen Handelns gedacht war oder eher zu einer besonders

1 Der Dienstagsrunde, insbesondere aber den Wiss. Mitarbeitern Volker Bützler und Nejdet Arslan, danke ich für wertvolle Anregungen und Unterstützung. 2 Vgl. die Übersicht in BGH JZ 2006, 629/632, beginnend mit BGHSt 1, 368 bis BGH NStZ 2005, 381. 3 Puppe, Anm. zu BGH 2 StR 229/04 v. 12.1.2005, JZ 2005, 900, 902 ff./902.

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intensiven Befassung mit der Thematik motivieren sollte. Sie lautete: „Diese Übersicht enthält einen Fehler …“ Man darf aus jener Bemerkung schließen, dass Manfred Seebode die Problematik von Mord und Totschlag und § 28 jedenfalls am Herzen lag und vielleicht auch heute noch liegt und ihm ein paar Überlegungen hierzu eine kleine Freude bereiten könnten, zumal Bewegung in die Sache zu kommen scheint.

II. Die Entscheidung des 5. Strafsenats des BGH vom 10. Januar 2006 Die sog. „Blutrache“-Entscheidung des 5. Strafsenats vom 10. Januar 20064 hat gerade im Hinblick auf § 28 Aufsehen erregt. Sie bildet die Endstation der juristischen Aufarbeitung einer Tragödie zwischen zwei verfeindeten Familien mit Migrationshintergrund. In ihrem Fokus stehen zwar Mordmerkmale (Blutrache als niedriger Beweggrund, Heimtücke), sie enthält aber am Ende ein kurzes obiter dictum, das Bewegung in die eingangs genannte Problematik bringt.5 Nach der Feststellung, dass die Angeklagte mangels Kenntnis der bei einem der Täter vorliegenden Mordmerkmale ohnehin nur der Beihilfe zum Totschlag schuldig sei und es deshalb für die Zurechnung der Mordmerkmale nicht auf die Anwendung von § 28 ankomme, nimmt der 5. Strafsenat dennoch zum Verhältnis zwischen Mord und Totschlag und § 28 Stellung:6 Nach der bisherigen Rechtsprechung aller Strafsenate des BGH bildeten Mord und Totschlag zwei selbständige Tatbestände. Es folgt ein Hinweis auf die Gegenauffassung in der Literatur und die Wiedergabe der wichtigsten Argumente, die der bisherigen Rechtsprechung des BGH zum Verhältnis von Mord und Totschlag entgegen gehalten werden. Die „Probleme der bisherigen Rechtsprechung“ würden am vorliegenden Fall besonders anschaulich. Die gemeinschaftliche Tötung, die sich seitens des einen Täters als Mord, seitens des anderen lediglich als Totschlag darstellt, könne „schwierig als Verwirklichung zweierlei verschiedenen Unrechts und seiner selbständigen Tatbestände verstanden werden, sondern stellt sich als ein7 Tötungsunrecht im Sinne von § 212 StGB dar, zu dem lediglich bei einem der Täter mit dem Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe besonders erschwerende persönliche Umstände (vgl. § 28 Abs. 2 StGB) hinzukommen; ein solches Verhältnis entspricht nach der 4

BGH 5 StR 341/05 v. 10.1.2006, JZ 2006, 629. JZ 2006, 632. 6 Näher JZ 2006, 632 links zur Rechtsprechung, rechts zum Schrifttum. 7 Hervorhebung vom Verf. 5

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üblichen Systematik demjenigen zwischen Grunddelikt und Qualifikation.“8 Deshalb lasse sich auch der Beitrag der angeklagten Gehilfin nicht künstlich in eine Beihilfe zum Mord und eine tateinheitlich hiermit verbundene Beihilfe zum Totschlag aufspalten.

III. Lehre und Rechtsprechung: Mord als qualifizierter Totschlag oder als delictum sui generis? Bedenkt man die Verbitterung, mit der die Rechtsprechung des BGH zuweilen kommentiert wurde – „darüber, warum der BGH sich ein halbes Jahrhundert lang der Frage nicht gestellt hat, ob diese seine Ausgangsthese richtig ist, kann man nur spekulieren. Der Grund dafür, dass er es weiterhin nicht tut, ist eben, dass er es schon 50 Jahre lang nicht getan hat“9 – dann wird verständlich, dass – neben der Erörterung der Mordmerkmale Heimtücke und niedrige Beweggründe – das obiter dictum des BGH im Schrifttum sowohl mit Erleichterung als auch mit Erwartungen im Hinblick auf eine bevorstehende Wende in der BGH-Rechtsprechung zum Verhältnis von Mord und Totschlag zur Kenntnis genommen worden ist.10

1. Was ist ein delictum sui generis? Die kritisierte Unbeweglichkeit des Bundesgerichtshofs könnte indessen auch daher rühren, dass es sich gar nicht so eindeutig und zwingend an Hand von Voraussetzungen beschreiben lässt, wann es sich bei einem Straftatbestand um ein delictum sui generis handelt und wann nur eine Qualifikation vorliegt. Denn dies würde bedingen, dass man überhaupt hinreichende Voraussetzungen nennen kann. Nun gibt es freilich auch Phänomene, die sich eher aus ihren Folgen denn aus ihren Voraussetzungen definieren: Objektive Bedingungen der Strafbarkeit kann man daran erkennen, dass sich der Vorsatz des Täters nicht auf sie zu erstrecken braucht. Wann dies der Fall ist, folgt nicht aus der Natur der Sache, sondern steht im Ermessen des Gesetzgebers. Man wird daher bezüglich des delictum sui generis Küper11 darin zustimmen können, dass es sich hier im Grunde nur um ein rein terminologisches Problem handelt. Denn ob die „spezielle Rechtsnorm vom 8

JZ 2006, 632 rechts. Puppe JZ 2005, 904 rechts. 10 Küper, „Blutrache“, „Heimtücke“ und Beteiligung am Mord, JZ 2006, 608/612 f.; Küper, Im Dickicht der Beteiligung an Mord und Totschlag, JZ 2006, 1157/1167; vgl. zu den Mordmerkmalen auch Geppert, Zum Begriff der „heimtückischen“ Tötung in § 211 StGB, vornehmlich an Hand neuerer höchstrichterlicher Rechtsprechung, Jura 2007, 270 ff. 11 Küper JZ 2006, 1157. 9

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Ausgangstatbestand gelöst und zu einem neuen Delikt mit eigenständigem Unwert (delictum sui generis) ausgestaltet worden ist“,12 lässt sich ebenso als Voraussetzung wie als Folge formulieren: Weil ein delictum sui generis gegeben ist, ist § 28 Abs. 1 anwendbar. Ein delictum sui generis kann man daran erkennen, dass § 28 Abs. 1 anwendbar ist. Freilich kann diese Frage dahinstehen, wenn man prüft, ob die für das delictum sui generis spezifischen Folgen aus den §§ 28 und 29 für die Anwendung auf die §§ 211 und 212 zweckmäßig sind.13 Dann entscheidet über die Einordnung des Mordes als delictum sui generis die Sachgerechtigkeit der Lösung selbst.14 Führte diese Konstruktion zu ungerechten Ergebnissen, dann bedarf sie der Überprüfung. Als Maßstab für jene „Sach“„Gerechtigkeit“ dient dabei insbesondere die Frage der Gleichheit. Eine Ungleichbehandlung, für die sich kein sachlicher Grund anführen lässt, spräche gegen die delictum-sui-generis-These. Um diese Unterschiede darzustellen, muss man jedoch zunächst unbefangen ergründen, wie die beiden Ansätze funktionieren. Wie die Strafrechtsvergleichung zunächst feststellt, dass ein gesellschaftliches Problem von strafrechtlicher Relevanz in unterschiedlichen Rechtsordnungen trotz unterschiedlicher Systeme im Ergebnis dennoch „befriedigend“ gelöst wird, und auf dieser Basis die zu vergleichenden Systeme zu verstehen versucht,15 so gilt es auch hier im Vergleich von Lehre und Rechtsprechung zunächst das Funktionieren der unterschiedlichen „Systeme“ zu erkennen. Nicht zu Unrecht spricht Küper in seinem Besprechungsaufsatz zur Entscheidung des 5. Strafsenats von zwei unterschiedlichen „Systemen“ bei der Behandlung der besonderen persönlichen täterbezogenen Mordmerkmale. Man sei bei deren dogmatischer Beobachtung in „ungewöhnlichem Maße gezwungen“, gleichsam parallel in zwei verschiedenen Systemen zu denken.16

2. Die beiden „Systeme“ und die Behandlung der besonderen persönlichen täterbezogenen Mordmerkmale a) Das System des Schrifttums „funktioniert“ bekanntermaßen nach dem Schema des § 28 Abs. 2. Für besondere persönliche täterbezogene Mordmerkmale, die der Beteiligte selbst aufweist und deren Vorhandensein bei sich er auch kennt, ist er verantwortlich. Auf besondere persönliche Mordmerkmale Dritter kommt es für die Verantwortlichkeit des Beteiligten über12 So Wessels/Beulke, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 36. Aufl. 2006, RN 111; weitere Nachweise bei Küper JZ 2006, 1157, FN 7. 13 Vgl. Küper JZ 2006, 1158. 14 Vgl. Küper JZ 2006, 1166. 15 Vgl. Jung, Grundfragen der Strafrechtsvergleichung, JuS 1998, 2 f. 16 Küper JZ 2006, 1158.

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haupt nicht an. Denn seine Strafbarkeit ist bezüglich der besonderen persönlichen täterbezogenen Mordmerkmale nach § 28 Abs. 2 nicht akzessorisch.17 Nicht zu Unrecht bezeichnet Küper das System des Schrifttums als ein „gut durchschaubares Entscheidungsmuster“.18 Die Akzessorietätsregeln werden durch das Prinzip der direkten und individuellen Zurechnung ersetzt. Die Strafbarkeit der Beteiligten richtet sich nach den durch sie verwirklichten besonderen persönlichen täterbezogenen Mordmerkmalen. Dies erscheint sachgerecht, weil sich die Verwirklichung dieser Merkmale unbestrittenermaßen jedenfalls auf die Schuld des jeweils Beteiligten als Voraussetzung der Strafbarkeit auswirkt,19 ohne dass es darauf ankommt, ob jene Merkmale auch unwert– bzw. unrechtsbegründend sind. Unter diesem Aspekt kann man zu dem Ergebnis kommen, dass das „System“ der Literatur soweit ersichtlich nicht zu ungerechten Ergebnissen führt. Es lassen sich keine Fälle konstruieren, in denen Beteiligte trotz vergleichbarer Gegebenheiten ungleich oder trotz ungleicher Gegebenheiten ohne sachlichen Grund gleich behandelt würden. b) Das System der Rechtsprechung wird hingegen durch zwei Elemente geprägt: Akzessorietät (aa) und Strafzumessung (bb). aa) Das „System“ der Rechtsprechung zur Verantwortlichkeit für besondere persönliche täterbezogene Merkmale wird über § 28 Abs. 1 vom Gedanken der Akzessorietät beherrscht. Verantwortlich ist der Teilnehmer für Mordmerkmale, von deren Verwirklichung durch den Täter er Kenntnis hat. Dabei kommt es grundsätzlich nicht darauf an, ob der Teilnehmer diese Merkmale selbst aufweist. Dahinter steht die auch ansonsten in der Lehre von Täterschaft und Teilnahme herrschende Auffassung, dass Strafgrund der Teilnahme eine eingeschränkte akzessorietäts-orientierte Verursachung fremden Unrechts ist,20 wobei das durch den Teilnehmer hervorgerufene Unrecht beim Haupttäter auch Unrecht des Teilnehmers ist und als solches dem Unrecht des Haupttäters zumindest entsprechen muss.21 Nun schreibt der erst am 1. Oktober 1968 durch Art. 1 Nr. 6 EGOWiG vom 24.5.196822 eingeführte § 28 Abs. 1 zwingend vor, dass die Strafe des Teilnehmers nach Versuchsgrundsätzen gemildert werden muss, wenn er selbst jene unwert-, unrechts- und damit auch schuldbegründenden besonderen persönlichen 17

Vgl. Küper JZ 2006, 1161 f. Küper JZ 2006, 1162. 19 Vgl. Eser, in: Schönke/Schröder 27. Aufl. 2006, § 211 RN 6; Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder RN 122 vor § 13; Gropp, in: Kröber u.a. (Hrsg), Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd. 1 2007, S. 62. 20 Vgl. Gropp Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2005, § 10 RN 103. 21 Gropp aaO RN 106. 22 BGBl I 503. 18

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täterbezogenen Merkmale nicht aufweist. Dies ist insofern sachgerecht, als das Unrecht der Teilnahme dem der Täterschaft entsprechen muss. Wenn die Mordmerkmale § 211 prägen, dann muss sich das Fehlen dieser Merkmale beim Teilnehmer auswirken. Wer die besonderen persönlichen täterbezogenen Merkmale als Schuldmerkmale auffasst23 und damit auf Grund der Limitierung in §§ 26 und 27 aus der Akzessorietät entlässt, käme über § 29 zu einer Entlastung in Form der Teilnahme am Totschlag. Die obligatorische Strafmilderung nach § 28 Abs. 1 geht somit – wie man auch die Sache dreht und wendet – jedenfalls in die richtige Richtung und erscheint damit sachgerecht. Dies gilt auch bezüglich der Verneinung von § 28 Abs. 1 und der Ablehnung einer Strafmilderung, wenn auch der Teilnehmer das besondere persönliche täterbezogene Merkmal des Täters aufweist. Wer zu einem aus niedrigen Beweggründen begangenen Mord Hilfe leistet und sich der niedrigen Beweggründe bewusst ist, ist wegen Beihilfe zum Mord aus niedrigen Beweggründen strafbar mit einer Strafmilderung nach § 28 Abs. 1, wenn er selbst nicht aus niedrigen Beweggründen handelt. Liegen bei ihm ebenfalls niedrige Beweggründe vor, ist eine Strafmilderung ausgeschlossen.24 Weil die Akzessorietät aber nur die Teilnahme an einer Straftat betrifft, spielen entsprechend dem eindeutigen Wortlaut des § 28 Abs. 1 auch nach der Rechtsprechung Akzessorietätsgesichtspunkte keine Rolle mehr, wenn eine (Mit)Täterschaft des Beteiligten in Frage steht. Erfüllt bei einem arbeitsteiligen Vorgehen einer der Mittäter zusätzliche Elemente, welche über die gemeinsam und arbeitsteilig verwirklichten Elemente hinaus einen weiteren Straftatbestand ergeben, so geht der BGH seit der Entscheidung BGHSt 36, 231 vom 25.07.1989 davon aus, dass es sich bei der Verletzung unterschiedlicher Strafnormen durch die Täter dennoch um die gleiche Straftat i.S.v. § 25 Abs. 2 handeln kann, wenn von jenen die eine vollständig in der anderen enthalten ist, „die Täter insoweit also (auch) gemeinsam einen identischen Straftatbestand verletzen.“25 Auch bei angenommener rechtlicher Selbständigkeit von Mord und Totschlag ist daher die Begehung eines Mordes in Mittäterschaft möglich, wenn der andere Mittäter nur einen Totschlag begeht. Dies gelte auch für Körperverletzung und Tötung, Kindstötung und Totschlag, aber auch Diebstahl und Raub, und zwar unabhängig davon, ob die schwerere Straftat nun eine Qualifikation oder ein delictum sui generis im Verhältnis zum leichteren Delikt darstellt.26 23 Vgl. Köhler, Zur Strafbarkeit des Mordes bei „außergewöhnlichen Umständen“ – BGHSt 30, 105, JuS 1984, 763 links. 24 BGH 2 StR 571/95 v. 7.2.1996 NStZ 1996, 384/385. 25 „Tante-Fall“ BGH 1 StR 479/88 v. 25.7.1989 BGHSt 36, 231/234. 26 Vgl. BGHSt 36, 233 ff.

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Das obiter dictum vom 10.01.2006, nach dem die gemeinschaftlich begangene Tötung schwerlich als Verwirklichung zweierlei verschiedenen Unrechts und zweier selbständiger Tatbestände verstanden werden könne und vielmehr als ein Tötungsunrecht im Sinne von § 212 zu verstehen sei, bei dem lediglich bei einem der Täter ein Mordmerkmal hinzukommt,27 bildet somit inhaltlich einen Rückgriff auf 1989. Neu ist nur, dass dieses Verhältnis im obiter dictum nun als Qualifikation und Grundtatbestand beschrieben wird, ohne dass dies jedoch auf die Strafbarkeit der Beteiligten eine signifikante Auswirkung hätte. Die Rechtsprechung hält sich somit hinsichtlich der besonderen persönlichen täterbezogenen Merkmale streng an die Regeln der Akzessorietät, wenn Teilnahme gegeben ist. Außerhalb der Akzessorietät entfaltet § 28 Abs. 1 keine Wirkung und gibt den Weg zu einer direkten persönlichen Zurechnung der Merkmale frei. Im Bereich der Täterschaft bzw. Mittäterschaft kommt es somit wie bei der Lehre nur darauf an, welche besonderen persönlichen täterbezogenen Merkmale der Beteiligte in seiner Person wissentlich aufweist. Diese Übereinstimmung mit der Lehre lässt nicht zuletzt den Schluss zu, dass die Rechtsprechung auch insoweit zu sachgerechten Ergebnissen kommt. bb) Hinsichtlich der Strafzumessung für die Teilnahme am Mord bleibt der Rechtsprechung nur ein enger Spielraum. So führt die Beihilfe zu einem Mord mit einem besonderen persönlichen täterbezogenen Merkmal nach § 27 Abs. 2 und § 28 Abs. 1 obligatorisch zu einer doppelten Strafmilderung beim Teilnehmer, wenn der Teilnehmer selbst jenes besondere persönliche täterbezogene Merkmale nicht erfüllt.28 Es ist sogar eine dreifache Milderung möglich, wenn eine weitere Strafmilderungsvorschrift hinzutritt.29 Jedoch lehnt der BGH eine durch Beihilfe verursachte mehrfache Milderung ab, wenn die Verneinung einer Täterschaft gerade auf dem Fehlen eines besonderen persönlichen Merkmals beim Teilnehmer beruht.30 Auch dies erscheint sachgerecht, weil andernfalls das Fehlen des persönlichen Merkmals ohne einen weiteren sachlichen Grund doppelt verwertet werden würde. Gegen die Anwendung der Strafmilderung nach § 28 Abs. 1 wendet sich der BGH seit der Entscheidung BGHSt 23, 39, 40 auch dann, wenn der Teilnehmer zwar nicht dasselbe besondere persönliche täterbezogene Merkmal erfüllt wie der Haupttäter, wohl aber ein besonderes persönliches 27

JZ 2006, 632 rechts. Vgl. BGH 4 StR 482/01 v. 17.1.2002, NStZ-RR 2002, 139. 29 So z.B. § 35 Abs. 2 in BGH 5 StR 517/83 v. 8.11.1983 StV 1984, 69; zur doppelten Strafmilderung insbesondere BGH 4 StR 386/70 v. 4.3.1971 BGHSt 24, 106/110. 30 Vgl. BGH 5 StR 77/81 v. 28.4.1981 NStZ 1981, 299, unter Verweis auf BGHSt 26, 53 ff.; für das Treueverhältnis bei § 266 BGH 2 StR 567/74 v. 8.1.1975 BGHSt 26, 53/54. 28

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täterbezogenes Merkmal „gleicher Art“ wie etwa die Verdeckungsabsicht als eine Form niedriger Beweggründe. Auch dies erscheint sachgerecht, weil das vom Teilnehmer verwirklichte Unrecht bzgl. des besonderen persönlichen täterbezogenen Merkmals dem des Täters entspricht. Kopfzerbrechen bereiten bzgl. der Sachgerechtigkeit allerdings jene Fälle, in denen der Teilnehmer ein besonderes persönliches täterbezogenes Merkmal verwirklicht, der wirkliche oder (bei der versuchten Anstiftung) vorgestellte Haupttäter hingegen ein besonderes persönliches täterbezogenes Merkmal nicht gleicher Art. Hier lässt das Gesetz keine Möglichkeit, von der doppelten Milderung über §§ 28 Abs. 1 und 27 Abs. 2 S. 2 bzw. 30 Abs. 1 S. 2 abzusehen. Und im Fall der Teilnahme am Totschlag verbietet es die Akzessorietät, den Gehilfen wegen Mordes zu bestrafen. Die Rechtsprechung versucht insoweit einen Ausgleich dadurch herbeizuführen, dass das besondere persönliche täterbezogene Mordmerkmal beim Teilnehmer zumindest als Strafzumessungstatsache straferschwerend berücksichtigt wird.31 Allerdings gereicht jene streng akzessorietätsorientierte Rechtsprechung immerhin zum Vorteil des Teilnehmers. Damit geht die Rechtsprechung aber in eine Richtung, die im Ergebnis durchaus im Sinne der Lehre liegt, ist es doch in weiten Bereichen ein Anliegen der Lehre, die Anwendung von Mordmerkmalen gerade zu verhindern, um so der im Bereich der Täterschaft obligatorischen Rechtsfolge der lebenslangen Freiheitsstrafe zu entgehen.32 Vorwürfe an die Rechtsprechung, hier zu „milde“ zu sein, dürfen daher nur sehr zögernd erhoben werden. So gesehen kommt die Rechtsprechung in diesem Bereich der Lehre immerhin ein Stück entgegen, indem sie zu einer restriktiven Anwendung des Mordtatbestandes bzw. seiner Rechtsfolgen führt.

IV. Das Beteiligungssystem der Rechtsprechung in der Kritik Der Vergleich der Behandlung der besonderen persönlichen täterbezogenen Mordmerkmale in den „Systemen“ von Lehre und Rechtsprechung hat ergeben, dass auch die Rechtsprechung in weiten Bereichen Ergebnisse erzielt, die der Lehre entsprechen und sachgerecht erscheinen. Zweifel bleiben jedoch bzgl. der Fallgruppe, bei der dem Teilnehmer nicht ein besonderes persönliches täterbezogenes Mordmerkmal des Täters zugerechnet werden kann und er dadurch selbst im Falle eines eigenen besonderen

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BGH 1 StR 733/81 v. 15.12.1981 NJW 1982, 2738. Vgl. Eser, in: Schönke/Schröder § 211 RN 10 mwN.

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persönlichen täterbezogenen Merkmals in den Genuss einer u.U. sogar doppelten Strafmilderung über § 28 Abs. 1 und § 27 Abs. 2 kommt.

1. Die Kritik Es erstaunt nicht, dass gerade diese Punkte der heftigsten Kritik in der Lehre ausgesetzt sind. Die Entlastung durch § 28 Abs. 1 bei Fehlen des Merkmals in eigener Person beim Teilnehmer im Vergleich mit der Teilnahme am Totschlag33 führe „zu einer ganz unausgewogenen Verteilung von Belastung und Entlastung durch vorhandene oder fehlende ‚persönliche’ Mordmerkmale“.34 „Dem Teilnehmer kommt also strafmildernd zugute, dass der Täter ein Mordmerkmal erfüllt hat“,35 wenn man die Situation etwa mit der Beihilfe zum Totschlag vergleicht. Auf diese Argumente lässt sich kaum eine überzeugende Erwiderung finden. Es handelt sich hier um die systematische Achillessehne des Rechtsprechungssystems. Die Rechtsprechung sucht dies über die „gekreuzten Mordmerkmale“36 zu „reparieren“, was angesichts des Wortlautes in § 28 Abs.1 jedenfalls dann diskussionsbedürftig ist, wenn es sich nicht um dasselbe Mordmerkmal, sondern nur um ein Mordmerkmal der „gleichen Art“ handelt.37 Der zweite Schwachpunkt des Rechtsprechungssystems betrifft Fälle, in denen der Teilnehmer ein täterbezogenes Merkmal erfüllt, mangels eines Mordmerkmales beim Haupttäter aber nur wegen Teilnahme am Totschlag bestraft wird.38 Auch hier lässt sich kein schlagkräftiges Gegenargument finden. Selbst wenn sich empirisch nachweisen ließe, dass die Rechtsprechung über die Strafzumessung in den konkret entschiedenen Fällen eine ausgleichende Korrektur vornimmt, so wäre dies ebenfalls nur eine Reparatur im konkreten Fall, um ungerechte Ergebnisse im Vergleich mit der schlichten Teilnahme am Totschlag zu vermeiden. Zu nennen wäre hier auch die erwähnte Annahme jener sog. „Sperrwirkung“ der Mindeststrafe für die versuchte Anstiftung zum Totschlag im Falle einer versuchten An-

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Siehe hierzu unten V bei Anm. 53. Küper, JZ 2006, 1166; vgl. auch Vietze, Gekreuzte Mordmerkmale in der Strafrechtsklausur, Jura 2003, 394/396 rechts. 35 Vietze Jura 2003, 396 links. 36 S.u. IV 2 d und V. 37 Vgl. auch Puppe JZ 2005, 903. 38 Vgl. Puppe JZ 2005, 903; für eine entsprechende Beschränkung des Anwendungsbereichs des § 28 Abs. 2 (!) aus einer streng akzessorischen Sicht auch Hake, Manfred, Beteiligtenstrafbarkeit und „besondere persönliche Merkmale“, 1994, S. 175 ff. 34

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stiftung zum Mord, bei der der Anstiftende kein täterbezogenes Merkmal aufweist.39 Indem der BGH dergestalt gegensteuert, wird ihm gleichzeitig vorgeworfen, dass er kein Mittel unversucht lasse, „sich den Konsequenzen seiner Ausgangsthese zu entziehen“.40 An dieser Stelle fragt man sich unwillkürlich, wie der BGH so in die Defensive geraten konnte.

2. Die Entscheidung der BGH-Rechtsprechung für einen strafbegründenden Charakter der besonderen persönlichen täterbezogenen Mordmerkmale a) Der Ursprung der Rechtsprechung zum strafbegründenden Charakter der besonderen persönlichen täterbezogenen Mordmerkmale liegt in einer Entscheidung des 2. Strafsenats vom 9. November 1951.41 Der Angeklagte hatte Angehörige der amerikanischen Besatzungstruppen durch falsche Angaben dazu gebracht, einen unschuldigen Gendarmeriemeister zu erschießen. Der BGH nahm bei dem Angeklagten niedrige Beweggründe an, zu Recht jedoch nicht bei den Tätern. Das Schwurgericht hatte auf eine Anstiftung des Angeklagten zum Mord aus einem niedrigen Beweggrund erkannt. Dies lehnte der Bundesgerichtshof unter Hinweis auf die Strafrechtsangleichungsverordnung vom 29. Mai 1943 ab. Ziel der Strafrechtsangleichungsverordnung sei es gewesen, „jeden Beteiligten nach seiner Schuld ohne Rücksicht auf die Schuld des Täters strafen zu können, ein Grundsatz, der in § 50 Abs. 1 StGB [a.F. = § 29 StGB n.F.] noch besonders zum Ausdruck kam.“42 Jedoch sei es nicht Zweck der Strafrechtsangleichungsverordnung gewesen, die Abhängigkeit der Strafbarkeit des Teilnehmers von der Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit der Haupttat zu beseitigen. Auf der Grundlage der so beschriebenen und heute in den §§ 26 und 27 niedergelegten limitierten Akzessorietät kommt der BGH zu dem Ergebnis, „dass der Anstifter aufgrund des § 48 StGB [a.F. = § 26 StGB n.F.] nur nach dem Strafgesetz bestraft werden darf, dessen Tatbestand der Haupttäter rechtswidrig, wenn auch schuldlos erfüllt.“ Aus dem Erfordernis der Akzessorietät schließt der BGH, dass der Angeklagte nur der Anstiftung zum Totschlag, §§ 212, 48 StGB (a.F. = § 26 StGB n.F.) schuldig sei.

39 Vgl. BGH NStZ 2006, 288/290 sowie die weiteren Hinweise bei Küper, JZ 2006, 1161 links. 40 Puppe JZ 2005, 904. 41 2 StR 296/51 v. 9.11.1951 BGHSt 1, 368. 42 BGHSt 1, 370.

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Interessant ist, dass in der Entscheidung BGHSt 1, 368 der heutige § 28 Abs. 1 überhaupt keine Rolle spielt, ja spielen kann. Denn § 28 Abs. 1 ist erst durch Artikel 1 Nr. 6 EGOWiG vom 24.05.1968 ab 01.10.1968 in das StGB eingeführt worden. § 28 Abs. 2 n.F. firmierte seinerzeit als „§ 50 Abs. 2“ und wurde vom 2. Strafsenat überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Weil es nicht der Zweck der Strafrechtsangleichungsverordnung von 1943 gewesen sei, die Akzessorietät der Teilnahme im Bereich der Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit der Haupttat aufzuheben, kam auch für den Angeklagten nur eine Teilnahme am Totschlag in Frage. Denn Mord und Totschlag seien Tatbestände mit „verschiedenem Unrechtsgehalt“.43 Dies bedeutet aber, dass der 2. Strafsenat 1951 den heutigen § 28 Abs. 2 als eine Norm verstand, welche die Akzessorietät im Bereich von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit nicht durchbrechen wollte und konnte. Die Auffassung von Richard Lange, den Mord als Typisierung von Schulderhöhungsgründen aufzufassen (und so die Akzessorietät zu durchbrechen), lehnte der BGH ab.44 Auf Ablehnung stieß auch die Erwägung von Eberhard Schmidt, die Mordmerkmale als „persönliche Eigenschaft oder Verhältnisse“ im Sinne von § 50 Abs. 2 des StGB 1951 (= § 28 Abs. 2 StGB n.F.) aufzufassen und das Fehlen der strafbegründenden Merkmale des § 211 beim Haupttäter als einen die Strafe mildernden Umstand im Sinne von § 50 Abs. 2 StGB 1951 zu verstehen. Denn der mildernde Umstand müsse in § 50 Abs. 2 StGB 1951 gerade vorhanden sein, er dürfe aber nicht fehlen.45 Außerdem verkenne auch die Auffassung von Eberhard Schmidt, dass Mord und Totschlag Tatbestände mit einem verschiedenen Unrechtsgehalt seien. Weil sich der BGH somit 1951 nicht in der Lage sah, den Anstifter wegen der bei ihm gegebenen niedrigen Beweggründe wegen einer Anstiftung zum Mord zu bestrafen, nahm er eine Strafbarkeit wegen Anstiftung zum Totschlag an und führte aus, dass die niedrigen Beweggründe des Teilnehmers bei der Strafzumessung zu berücksichtigen seien. Die Projektion der limitierten Akzessorietät auf § 50 Abs. 2 a.F. (= § 28 Abs. 2 n.F.) und die Unterschiede zwischen Totschlag und Mord im Unrechtsgehalt der Tat versperrten dem BGH den Weg, § 50 Abs. 2 a.F. für das Verhältnis von §§ 211 und 212 im Sinne der heute herrschenden Lehre fruchtbar zu machen. Festgehalten sei aber, dass auch die Entscheidung BGHSt 1, 368 letztendlich eine Entscheidung zu Gunsten des Angeklagten war.

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BGHSt 1, 370. BGHSt 1, 370. 45 BGHSt 1, 372. 44

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b) Die Entscheidung des 1. Strafsenats BGHSt 2, 251 vom 22.01.1952 nimmt auf die Entscheidung des 2. Senats unmittelbar Bezug. Hier hatte der Täter heimtückisch gehandelt, der Gehilfe hingegen nicht. Der 1. Strafsenat bestätigte die Entscheidung des 2. Strafsenats hinsichtlich der Beschränkung der Akzessorietätslockerung in § 50 Abs. 1 a.F. (= § 29 n.F.) auf die Schuldhaftigkeit. Die Abhängigkeit der Teilnahme von der Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit der Haupttat blieben hingegen bestehen. Weil die Mordmerkmale echte Tatbestandsmerkmale seien, könne, wer aus niedrigem Beweggrund zum Totschlag angestiftet habe, nur wegen Anstiftung zum Totschlag bestraft werden.46 Im Übrigen verneinte der 1. Strafsenat, dass das Mordmerkmal „Heimtücke“ besondere persönliche Eigenschaften oder Verhältnisse beim Täter im Sinne von § 50 Abs. 2 a.F. (= § 28 Abs. 2 n. F.) darstelle; eine Auffassung, die heute in Rechtsprechung und Literatur unumstritten ist. Die Verneinung des Vorliegens von § 28 Abs. 2 n.F. im Fall BGHSt 2, 251 hatte auch den gedanklichen Hintergrund, dass der BGH eine Strafbarkeit nur wegen Anstiftung zum Totschlag vermeiden wollte. c) Das Urteil des 5. Strafsenats vom 20.05.196947 beruht auf der Neufassung des § 50 StGB a.F. durch Artikel 1 Nr. 6 EGOWiG vom 24.05.1968. Seit dem 1. Oktober 1968 entsprach § 50 Abs. 1 dem heutigen § 29, der neu eingefügte Abs. 2 dem heutigen § 28 Abs. 1 sowie der zum Abs. 3 gewordene frühere Abs. 2 dem heutigen § 28 Abs. 2. Den Hintergrund der Entscheidung bildet die Frage der Verjährung einer Beihilfe zum Mord aus niedrigen Beweggründen (Rassenhass), wobei der Gehilfe selbst nicht aus niedrigen Beweggründen gehandelt hatte. Der Senat wendet den neu eingeführten § 50 Abs. 2 (= § 28 Abs. 1 n.F.) an und nennt als „Umstände, die Strafe begründen“, z.B. die Beamteneigenschaft bei den echten Amtsverbrechen.48 Auf Mordmerkmale wendet der 5. Strafsenat § 50 Abs. 2 deshalb an, weil es sich bei ihnen um „echte Tatbestandsmerkmale“ handele. Wenn sie zugleich „besondere persönliche Merkmale“ seien, seien sie daher Merkmale, die die Strafbarkeit des Täters begründen im Sinne von § 50 Abs. 2. Zwar erkennt der 5. Strafsenat, dass durch die obligatorische Milderung über § 50 Abs. 2 eine Bevorzugung der Teilnahme am Mord aus niedrigen Beweggründen gegenüber einer Teilnahme am heimtückisch ausgeführten Mord eintritt. Der BGH sieht sich im konkreten Fall jedoch zu einer Korrektur außerstande, weil das Problem bei den Vorarbeiten zum EGOWiG offensichtlich übersehen worden sei und die Korrektur nicht zum Nachteil des Angeklagten vorgenommen werden durfte. Die obligatorische 46

BGH 1 StR 485/51 v. 22.1.1952 BGHSt 2, 251/255. BGH 5 StR 658/68 v. 20.5.1969 BGHSt 22, 375. 48 Zur Teilnahme am echten Sonderdelikt als Fall von § 28 Abs. 1 auch Küper, JZ 2006, 613 links; ders., JZ 2006, 1167 links. 47

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Strafmilderung nach § 50 Abs. 2 führte zur Verjährung und hatte die Einstellung des Verfahrens zur Folge. Der BGH erkannte somit im vorliegenden Fall zwar, dass der Angeklagte bevorzugt wurde, gab jedoch der Garantiefunktion des Strafgesetzes zu Recht den Vorzug vor einer Lückenfüllung zum Nachteil des Angeklagten. Eine Beurteilung nach § 50 Abs. 3 (= § 28 Abs. 2 n.F.) zog der BGH gar nicht in Erwägung. Der Grund hierfür ist freilich weniger darin zu sehen, dass es sich beim Mord um ein delictum sui generis handeln könnte, als vielmehr in der Rechtsprechung des BGH zu § 50 Abs. 2 in der Fassung vor 1968 (= § 28 Abs. 2 n.F.), wonach diese Norm die Akzessorietät der Teilnahme nicht durchbricht. d) Die Frage der Verjährung stand auch im Mittelpunkt der Entscheidung des 5. Strafsenats vom 15.07.1969, BGHSt 23, 39. Während die Tat in Verdeckungsabsicht begangen worden war, lag bei dem angeklagten Gehilfen ein niedriger Beweggrund vor. Der BGH nahm diese Fallkonstellation zum Anlass, die Lehre von den sog. „gekreuzten Mordmerkmalen“ zu entwickeln. Weil die Verdeckungsabsicht ein Sonderfall niedriger Beweggründe sei, fehle dem Teilnehmer nicht ein besonderes persönliches Merkmal, welches die Strafbarkeit des Täters begründet. Deshalb sei ein Fall des § 50 Abs. 2 StGB (a.F. = § 28 Abs. 1 StGB n.F.) nicht gegeben und eine Strafmilderung folglich nicht anzunehmen. e) Die hier in aller Kürze dargelegten Fälle lassen erkennen, dass der BGH durch das Festhalten an einer limitierten Akzessorietät auch bei § 28 Abs. 2 n.F. und durch den Hinweis auf die Unrechtsbezogenheit der Mordmerkmale in Situationen gerät, die Teilnehmer bevorzugen, sei es, dass sie selbst ein besonderes persönliches Mordmerkmalerfüllen, der Täter aber nicht, sei es, dass der Täter ein besonderes persönliches Mordmerkmal aufweist, der Teilnehmer hingegen nicht. Mit Rücksicht auf die Garantiefunktion des Strafgesetzes nimmt der BGH die Besserstellung jener Teilnehmer in Kauf. Man kann diese Ergebnisse freilich auch mit einem lachenden Auge sehen. Denn während die Lehre49 und Rechtsprechung50 ansonsten mehr oder weniger überzeugend versuchen, die Verhängung der obligatorisch lebenslangen Freiheitsstrafe zu vermeiden, gelingt dies über § 28 Abs. 1 jedenfalls in der Fallgruppe der Anstiftung zum Totschlag, bei der der Anstifter selbst besondere persönliche täterbezogene Mordmerkmale erfüllt, problemlos. 49

S.o. Anm. 32. Vgl. die Nachweise bei Eser, in: Schönke/Schröder § 211 RN 10a, sowie zu älteren Vermeidungsstrategien Eser, Empfiehlt es sich, die Straftatbestände des Mordes, des Totschlags und der Kindstötung (§§ 211 bis 213, 217 StGB) neu abzugrenzen? Gutachten D für den 53. Deutschen Juristentag Berlin 1980, 1980, S. 53 ff. 50

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Nur dort, wo sich die ungleiche Bevorzugung des Teilnehmers am Mord mit rechtsstaatlich noch vertretbaren Argumenten vermeiden lässt, greift der BGH ein. Dies betrifft die Ablehnung einer Strafmilderung im Falle der sog. gekreuzten Mordmerkmale. Gerade jene – freilich ebenfalls nicht ganz unproblematische51 – Konstruktion macht deutlich, dass der BGH primär bestrebt bzw. gezwungen ist, eine vertretbare Lösung im konkreten Einzelfall zu finden, mag dabei auch die Folgerichtigkeit etwas in den Hintergrund treten.

V. Einzelfallgerechtigkeit vor Folgerichtigkeit Die teilnehmerfreundlichen Folgen seiner frühen Rechtsprechung – die obligatorische Strafmilderung in § 28 Abs. 1 und die weitere Milderung bei Beihilfe (§ 27 Abs. 2 S. 2) und bei der versuchten Anstiftung (§ 30 Abs. 1 S. 2) versucht der BGH mittels unterschiedlicher Techniken auszugleichen: Zunächst wäre die Fallgruppe der versuchten Anstiftung zum Mord unter Verwirklichung eines besonderen persönlichen täterbezogenen Merkmals beim Täter, ohne dass ein solches Merkmal beim Anstifter vorliegt (§ 28 Abs. 1, § 30 Abs. 1 S. 2), zu nennen. Hier erscheint die vom 1. Strafsenat in BGH NStZ 2006, 34/3552 mittels eines obiter dictum angekündigte und in BGH NStZ 2006, 288/29053 vom 4. Strafsenat entscheidungsrelevant übernommene Annahme jener Sperrwirkung in Form der Mindeststrafe für versuchte Anstiftung zum Totschlag (2 Jahre gem. § 212 Abs. 1 i. V. m. §§ 30 Abs. 1 S. 2, 49 Abs. 1 Nr. 3 1. Var.) als Grenze für die doppelte Strafmilderung bei der versuchten Anstiftung zum Mord (6 Monate gem. § 211 Abs. 1 i. V. m. §§ 28 Abs. 1, 30 Abs. 1 S. 2, 49 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 3 2. Var.) gerecht. Es wäre denkbar, dass der BGH bei sich bietender Gelegenheit jene Rechtsprechung auch auf die Fälle der Beihilfe zum Mord, bei denen der Gehilfe selbst keine besonderen persönlichen täterbezogenen Merkmale erfüllt, entsprechend anwendet und eine Sperrwirkung in Form der Mindeststrafe für die Beihilfe zum Totschlag (ebenfalls 2 Jahre) annimmt.54 Als weitere Strategie zur Vermeidung einer ungerechtfertigt milden Strafe wären die bereits erwähnten gekreuzten Mordmerkmale zu nennen. Dass derjenige, der selbst ein besonderes persönliches täterbezogenes Mordmerkmal aus derselben Fallgruppe wie der Täter erfüllt, ohne dass es sich jedoch im Sinne von § 28 Abs. 1 um dasselbe Merkmal handelt, welches 51

Vgl. Puppe JZ 2005, 903. 1 StR 227/05 v. 30.06.2005. 53 4 StR 243/05 v.24.11.2005. 54 Vgl. zu den Altfällen auch Küper JZ 2006, 1160. 52

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beim Täter vorliegt, deshalb besser behandelt wird als jener mit demselben Merkmal, ist nicht einzusehen. Daher erscheint die Ablehnung der Strafmilderung nach § 28 Abs. 1 im Falle der gekreuzten Mordmerkmale ebenfalls sachgerecht.55 Dies gilt auch für die Übertragung der „gekreuzten Mordmerkmale“ auf die Fallgruppe der versuchten Anstiftung.56 Von der Ablehnung einer Strafmilderung bei gekreuzten Mordmerkmalen lässt sich eine gedankliche Linie ziehen zur Berücksichtigung eines alleine beim Teilnehmer vorliegenden besonderen persönlichen täterbezogenen Merkmals im Rahmen der Strafzumessung. Am deutlichsten tritt jedoch die Strategie zur Vermeidung einer unvertretbar milden Strafe in Erscheinung, wenn der BGH die ansonsten „drohende“ Akzessorietät der Teilnahme durch die Annahme von Täterschaft umgeht. Zwar hatte der BGH als obiter dictum zunächst in BGHSt 6, 329/33057 eine Mittäterschaft bei Mord und Totschlag abgelehnt, es sei denn, dass alle Beteiligten alle Voraussetzungen für eine Täterschaft erfüllen.58 Diese Rechtsprechung hat der BGH im sog. „Tante“-Fall BGHSt 36, 231/233 f. allerdings korrigiert,59 was Küper60 zu der folgerichtigen Überlegung veranlasst hat, dass der BGH zwischen Mord und Totschlag nicht ein Exklusivitäts-, sondern ein Implikationsverhältnis wie bei Qualifikation und Grundtatbestand annehme. Inzwischen hat der BGH jene Rechtsprechung auch in der Entscheidung JZ 2006, 629/632 weitergeführt. Freilich muss man sehen, dass jene Annahme von (Mit)Täterschaft auch dort eine Rolle spielt, wo es im konkreten Fall nicht möglich ist, dem Teilnehmer akzessorisch fremde Mordmerkmale zuzurechnen, weil ihm eine entsprechende Kenntnis nicht nachweisbar ist. Dies traf insbesondere im sog. „Katzenkönig“-Fall61 zu. Dort hatten die Beteiligten als Anstifter zwar aus niedrigen Beweggründen gehandelt, der Haupttäter jedoch erfüllte nur das tatbezogene Mordmerkmal der Heimtücke, ohne dass den Teilnehmern insoweit ein Vorsatz nachgewiesen werden konnte. Der BGH entschloss sich daraufhin, trotz der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums beim Haupttäter eine mittelbare Täterschaft der Hintermänner anzunehmen, was ihm die Berücksichtigung der bei den Hintermännern vorliegenden niedrigen Beweggründe als Mordmerkmal ermöglichte. Während diese Rechtsprechung 55 Puppe, JZ 2005, 903 f. ist zuzugeben, dass dies vor dem Hintergrund einer strengen Akzessorietät nicht konsequent ist. Ungerecht ist diese Rechtsprechung deshalb aber nicht, weil sie versucht, vergleichbare Sachverhalte gleich zu bewerten. 56 Vgl. BGH 2 StR 229/04 v. 12.1.2005 BGHSt 50, 1 sowie Küper, JZ 2006, 1161 links. 57 4 StR 362/54 v.14.10.1954. 58 Vgl. Küper JZ 2006, 611, 612. 59 Näher oben Anm. 25. 60 Vgl. Küper JZ 2006, 611, 612; vgl. auch Vietze Jura 2003, 397. 61 Vgl. BGH 4 StR 352/88 v.15.9.1988 BGHSt 35, 347.

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überwiegend als Anerkennung einer mittelbaren Täterschaft bei Handeln des Vordermanns im vermeidbaren Verbotsirrtum gewürdigt wurde,62 blieb ihr Charakter als Strategie zur Zurechnung eines täterbezogenen Mordmerkmals auf Personen, die man andernfalls nur als Anstifter zum versuchten Totschlag hätte bestrafen können, eher im Hintergrund. Der Vermeidung einer unvertretbar milden Bestrafung von Beteiligten nur als Anstifter oder Gehilfen zum Totschlag lässt sich auch die Rechtsprechung des BGH in den Mauerschützen-Fällen zuordnen. Auch dort ging es darum, die niedrigen Beweggründe der Hintermänner zu berücksichtigen, obwohl die Grenzsoldaten selbst kaum aus entsprechenden Motiven handelten. Der BGH fand einen Ausweg, indem er die von Roxin entwickelte sog. Organisationsherrschaft als Grundlage für die Konstruktion einer mittelbaren Täterschaft der im Hintergrund wirkenden Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates heranzog.63 Auch dürfte es wohl weniger die Begeisterung des BGH für die Organisationsherrschaft gewesen sein als vielmehr im konkreten Fall die Vermeidung einer allzu milden Strafe der Hinterleute, was zur Korrektur der Rechtsprechung bewog. Insgesamt bestätigt sich somit der Eindruck, dass der BGH jeweils im Interesse einer gerechten Einzelfallentscheidung bereit ist, neue Wege zu gehen.

VI. Das obiter dictum des 5. Strafsenats – ein Versuchsballon? Es fragt sich nun, ob der 5. Strafsenat im Blutrache-Fall mittels des obiter dictum einen eindeutigen Hinweis auf eine Änderung seiner Rechtsprechung gibt. Im Blutrache-Fall lag als Haupttat Mord aus niedrigen Beweggründen vor. Die angeklagte Gehilfin wies jenes Mordmerkmal selbst allerdings nicht auf, und es war ihr auch nicht nachzuweisen, dass sie die niedrigen Beweggründe des Täters kannte. „Deshalb“ könne es dahinstehen, so der 5. Strafsenat, ob es sich bei den täterbezogenen Mordmerkmalen um strafschärfende nach § 28 Abs.2 oder strafbegründende nach § 28 Abs. 1 handele.64 D.h. der Senat hätte jene Frage nicht dahingestellt sein lassen, wenn sich die Gehilfin der niedrigen Beweggründe eines der Täter bewusst gewesen wäre. Denn dann hätte man sie – eine im Grunde verzweifelte und in Not geratene türkische Mutter, deren Ehemann man erschossen hatte und 62 Vgl. dazu Heine, in: Schönke/Schröder RN 92 vor § 25 mit zahlreichen Besprechungsnachweisen. 63 Vgl. BGH 5 StR 98/94 v. 26.7.1994 BGHSt 40, 218, dazu Gropp, JuS 1996, 13 ff. sowie Heine, in: Schönke/Schröder § 25 RN 25. 64 BGH JZ 2006, 632 links.

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die dadurch mit ihrer Familie in Not geraten war, ohne dass die Tat von staatlicher Seite bisher gesühnt worden wäre – wegen Beihilfe zum Mord aus niedrigen Beweggründen schuldig sprechen müssen. Offenbar suchte der 5. Strafsenat dieses Ergebnis zu vermeiden, sei es aus Gründen der Etikettierung, sei es im Hinblick auf die Frage einer doppelten Strafmilderung. Eine „Rettung“ hätte es aber nur über § 28 Abs. 2 gegeben, ein Weg, der seit BGHSt 1, 368 indessen verbaut ist. Die Richtung, in welche das obiter dictum deutet, ist damit recht klar: ein Abrücken von BGHSt 1, 368 und damit die Aufgabe der Rechtsprechung von der akzessorischen Natur auch der täterbezogenen Merkmale in § 211. Ob sich die übrigen Strafsenate des BGH der Ansicht des 5. Strafsenats anschließen werden, oder ob das obiter dictum nur der Auftakt zu einer Auseinandersetzung „hinter dem Rücken des Großen Senats“65 ist, in deren Rahmen die Divergenzen in die nichttragenden Urteilsgründe verbannt werden, wird sich zeigen. Leisten die anderen Senate dem 5. Strafsenat Gefolgschaft, könnte in der „Blutrache-Entscheidung“ die Einleitung eines Wandels in der BGH-Rechtsprechung zur Zurechnung der besonderen persönlichen täterbezogenen Mordmerkmale gesehen werden.66 Wann sich Gelegenheit zur Änderung der Rechtsprechung bieten wird, lässt sich bereits jetzt prognostizieren: sobald dem BGH ein Fall vorgelegt wird, in dem beim Teilnehmer, insbesondere beim Gehilfen, besondere persönliche täterbezogene Mordmerkmale des Täters fehlen, der Teilnehmer jedoch die Merkmale beim Haupttäter kennt. Wir dürfen gespannt sein!

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Lilie, Hans, Obiter dictum und Divergenzausgleich in Strafsachen, 1993, S. 39. Zum gescheiterten Versuch einer Rechtsprechungsänderung durch den 2. Strafsenat im Hinblick auf die Verdeckungsabsicht Lilie aaO, S. 185 f. 66

Das Steuerstrafrecht als Testfall des Nemotenetur-Prinzips UWE HELLMANN

Der Jubilar hat sich vor fast 30 Jahren in einem noch immer lesenswerten Aufsatz mit der „Freiheit, die eigene Strafverfolgung zu unterstützen“, auseinandergesetzt und dabei auch dem Steuerrecht ein Beispiel für eine bedenkliche Durchbrechung des Nemo-tenetur-Prinzips entnommen.1 Es besteht also durchaus Anlass, im Rahmen dieser Festschrift den derzeitigen Zustand der Selbstbelastungsfreiheit im Steuerstrafrecht zu beschreiben.

I. Gründe für eine erzwungene Selbstbelastung im Steuer(straf)recht Der Nemo-tenetur-Grundsatz findet seine Bewährungsprobe in diesem abgelegenen Gebiet des Strafrechts aus mehreren Gründen, die in vergleichbarer Häufigkeit und Kombination in anderen Bereichen nicht auftreten. Selbstbelastungsgefahren wegen einer Steuerstraftat resultieren daraus, dass nach Einleitung eines Ermittlungsverfahren wegen Steuerhinterziehung in der Regel auch das Besteuerungsverfahren hinsichtlich der betroffenen Steuer betrieben bzw. wieder aufgegriffen wird, weil der Staat die verkürzte Steuer bzw. den zu Unrecht gewährten Steuervorteil (zurück-)erlangen will. Da im Besteuerungsverfahren mit Verwaltungszwang (§§ 328 ff. AO) durchsetzbare Mitwirkungspflichten bestehen und der steuerlich relevante Sachverhalt den Kern der steuerstrafrechtlichen Ermittlungen darstellt, muss der Betroffene davor geschützt werden, dass seine strafprozessualen Beschuldigtenrechte, insbesondere das Aussage- und Mitwirkungsverweigerungsrecht, durch eine erzwungene oder jedenfalls erzwingbare Mitwirkung im Besteuerungsverfahren ausgehöhlt werden. Daneben steht der Finanz1

Seebode JA 1980, 493, 497.

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verwaltung mit der Schätzung der Besteuerungsgrundlagen (§ 162 AO) ein faktisches Druckmittel zur Verfügung, indem dem Betroffenen, der sich zur Wahrung seiner Beschuldigtenrechte auf sein Mitwirkungsverweigerungsrecht beruft, eine nachteilige Schätzung im Besteuerungsverfahren angekündigt wird. Zudem kann von dem Steuerhinterziehungstatbestand selbst ein Zwang zur Selbstbelastung ausgehen, nämlich dann, wenn der Steuerpflichtige in der Vergangenheit unrichtige Angaben gemacht hatte und er deshalb durch zutreffende Angaben in seiner neuen Steuererklärung zur Vermeidung der Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung Anhaltspunkte für frühere Steuerhinterziehungen geben würde. Unter Umständen besteht für den Steuerpflichtigen darüber hinaus das Risiko, den Finanzbehörden durch die Erfüllung seiner steuerlichen Erklärungspflichten Informationen über von ihm begangene Nichtsteuerstraftaten zu liefern. Nach § 40 AO ist es für die Besteuerung unerheblich, ob ein Verhalten, das den Tatbestand eines Steuergesetzes erfüllt, gegen ein gesetzliches Verbot verstößt. Hat z.B. ein Beamter Bestechungsgelder kassiert, so sind diese einkommensteuerpflichtig2 mit der Folge, dass der Betroffene sie in seiner Einkommensteuererklärung angeben muss.

II. Die gesetzlichen Schutzregelungen Dass der – durch Art. 14 Abs. 3 lit. g IPBPR und Art. 6 Abs. 1 EMRK3 auch völkerrechtlich gesicherte – Nemo-tenetur-Grundsatz in unserem Zusammenhang einschlägig ist, steht seit dem „Gemeinschuldnerbeschluss“ des BVerfG4 fest. Der Schutz gegen Selbstbezichtigungen beschränkt sich nicht auf strafrechtliche und vergleichbare Verfahren, sondern er erstreckt sich auf erzwungene strafrechtliche Selbstbelastungen in anderen Verfahren. Zwar ist es nicht generell von Verfassungs wegen untersagt, in einem nichtstrafrechtlichen Verfahren Auskünfte, durch die der Betroffene strafrechtlich relevante Umstände offenbaren muss, unter Androhung oder Anwendung von Zwang von ihm zu verlangen. Ein öffentliches, staatliches oder privates Informationsbedürfnis kann nämlich die erzwungene Selbstbezichtigung rechtfertigen, wenn dies verhältnismäßig ist. Die Menschenwürde und das Persönlichkeitsrecht erfordern dann aber, dass der Betroffene davor geschützt wird, durch seine Mitwirkung die Voraussetzungen für eine 2

BFH, BStBl. II 2000, 396; BStBl. II 2001, 482. Das Recht des Beschuldigten zu schweigen und nicht zu seiner eigenen Beschuldigung beizutragen, ist „Kernstück des von Art. 6 I EMRK garantierten fairen Verfahrens“, EGMR, NJW 2002, 499, 501. 4 BVerfGE 56, 37 ff. 3

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strafgerichtliche Verurteilung oder die Verhängung entsprechender Sanktionen liefern zu müssen. Die Mehrheit der Richter des BVerfG hielt ein strafrechtliches Verwertungsverbot für ausreichend, der Richter Heußner befürwortete sogar ein Verbot der Offenbarung selbstbelastender Informationen an die Strafverfolgungsbehörden.5 Der EGMR prüft im Übrigen ein Verfahren wegen Steuerhinterziehung unter dem Gesichtspunkt des Art. 6 Abs. 1 EMRK, wenn das Verfahren zugleich der Festsetzung einer Nachsteuer dient.6 Die Selbstbelastungsgefahren im Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren sowie das Schutzbedürfnis des Steuerpflichtigen hatte der Gesetzgeber allerdings schon vor dem Gemeinschuldnerbeschluss erkannt und Vorschriften zur Wahrung des Nemo-tenetur-Grundsatzes geschaffen. § 428 RAO in der 1967 durch das 1. AOStrafÄndG geschaffenen Fassung enthielt bereits im Wesentlichen die heute in § 393 AO 1977 eingestellten Regelungen zum Schutz des Steuerpflichtigen.7 § 393 Abs. 1 S. 2 AO verbietet die Androhung und Anwendung von – an sich zulässigem – Verwaltungszwang (§§ 328 ff. AO), wenn der Steuerpflichtige dadurch gezwungen würde, sich selbst wegen einer Steuerstraftat (oder -ordnungswidrigkeit) zu belasten; das Zwangsmittelverbot gilt nach § 393 Abs. 1 S. 3 AO generell nach Einleitung eines Steuerstraf- oder Steuerbußgeldverfahrens. Der Gefahr erzwungener, nämlich unter dem Eindruck der Strafdrohung des Steuerhinterziehungstatbestandes vorgenommener Selbstbelastungen wegen einer Nichtsteuerstraftat begegnet § 393 Abs. 2 S. 1 AO durch ein strafverfahrensrechtliches Verwendungsverbot für Tatsachen und Beweismittel aus den Steuerakten, die der Steuerpflichtige der Finanzbehörde vor Einleitung oder in Unkenntnis der Einleitung des Strafverfahrens in Erfüllung steuerlicher Pflichten offenbart hat. Ergänzt wird § 393 Abs. 2 S. 1 AO durch die aus dem Steuergeheimnis des § 30 Abs. 2 AO resultierenden steuerrechtlichen Offenbarungs- und Verwertungsverbote solcher Informationen.

III. Regelungslücken § 393 AO gewährleistet jedoch keinen lückenlosen Schutz vor erzwungenen Selbstbelastungen im Besteuerungsverfahren. § 393 Abs. 1 S. 2 AO verbietet seinem Wortlaut nach bei einer steuerstrafrechtlichen Selbstbelastungsgefahr nur die Androhung und Anwendung 5

BVerfGE 56, 37, 54. EGMR, NJW 2002, 499, 500. 7 Zur Entwicklung der Schutzregelungen Hellmann in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO und FGO, Stand 2007, § 393 AO Rn. 1 ff. 6

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von Zwangsmitteln gegen den Steuerpflichtigen, obwohl § 90 AO – strafbewehrte – steuerliche Erklärungspflichten nicht dem materiell Steuerpflichtigen, sondern dem Beteiligten im Sinne des § 78 AO auferlegt. Wäre § 393 Abs. 1 S. 2 AO wörtlich zu verstehen, so dürfte ein Beteiligter, der nicht zugleich Steuerpflichtiger ist, eine Person, die für einen Beteiligten mitwirkungspflichtig ist sowie ein Angehöriger eines Beteiligten auch bei einer steuerstrafrechtlichen Selbstbelastungsgefahr zur Mitwirkung an dem Besteuerungsverfahren gezwungen werden. § 393 Abs. 1 S. 2 AO untersagt zudem nur den Einsatz von Zwangsmitteln im Sinne der §§ 328 ff. AO. Keinen Schutz bietet die Vorschrift deshalb zum einen, wenn die Finanzverwaltung wegen der Verletzung der steuerlichen Mitwirkungspflichten eine nachteilige Schätzung ankündigt und der Betroffene durch die Richtigstellung der Besteuerungstatsachen zur Vermeidung einer überhöhten Steuerfestsetzung Anhaltspunkte für eine Steuerstraftat liefern würde. § 393 Abs. 1 S. 2 AO ist zum anderen nicht einschlägig, wenn der Täter durch eine wahrheitsgemäße Steuererklärung für einen neuen Besteuerungszeitraum eine in der Vergangenheit begangene Steuerstraftat aufdecken würde. Eine Lücke im Schutz vor Selbstbelastungen wegen einer Nichtsteuerstraftat eröffnet § 393 Abs. 2 S. 2 AO. Das Verwertungsverbot gilt nach dieser Regelung nämlich nicht für Nichtsteuerstraftaten, an deren Verfolgung ein zwingendes öffentliches Interesse besteht. § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO lässt dann auch eine Durchbrechung des Steuergeheimnisses zu. Erheblich erweitert wird diese Schutzlücke durch mehrere in den letzten Jahren eingefügte Vorschriften, die nicht nur die Verwertung strafrechtlich relevanter Informationen des Erklärungspflichtigen aus den Steuerakten zulassen, sondern die Finanzbehörden sogar verpflichten, diese belastenden Tatsachen den Strafverfolgungsbehörden mitzuteilen. Das ist nach § 31a AO zur Durchführung eines Straf- oder Bußgeldverfahrens „mit dem Ziel der Bekämpfung von illegaler Beschäftigung oder Schwarzarbeit“, nach § 31b AO zur Durchführung eines Strafverfahrens wegen Geldwäsche (§ 261 StGB) und nach § 4 Abs. 5 Nr. 10 S. 3 EStG bei dem Verdacht einer straf- oder bußbaren Zuwendung von Vorteilen, also bei Anhaltspunkten für ein Bestechungsdelikt, der Fall.

IV. Anwendung des § 393 Abs. 1 AO auf alle Beschuldigten eines Steuerstrafverfahren Die Beschränkung des Zwangsmittelverbotes auf den Steuerpflichtigen beruht auf einem Versehen des Gesetzgebers. Den Materialien lässt sich entnehmen, dass alle Auskunftspflichtigen, seien sie Beteiligte oder Nicht-

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beteiligte des Besteuerungsverfahrens, erfasst werden sollten.8 Nach zutreffender herrschender Meinung ist das Zwangsmittelverbot deshalb auf alle mitwirkungspflichtigen Personen, die sich durch ihre Mitwirkung der Gefahr einer Selbstbelastung wegen einer Steuerstraftat aussetzen würden, zu erweitern.9 Zwingend ist diese Lösung zwar nicht, weil der Nemo-teneturGrundsatz nach Auffassung des BVerfG lediglich die Verwertung der der unter Zwang gewonnenen selbstbelastenden Informationen verbietet, sachgerecht ist jedoch allein die Ausdehnung des Zwangsmittelverbots auf alle Beschuldigten eines Steuerstrafverfahrens.

V. Zwangsausübung durch bewusst überhöhte Schätzung Da jede Schätzung nach § 162 AO innerhalb eines „Unsicherheitsrahmens“ stattfindet, kann sie zur Annahme von Besteuerungstatsachen führen, die für den Steuerpflichtigen ungünstiger sind als die tatsächlich gegebenen. Zum Teil wird aus der – formell – fortbestehenden steuerlichen Mitwirkungspflicht trotz Selbstbelastungsgefahr und der Schätzungsmöglichkeit die Verfassungswidrigkeit10 der Regelung bzw. ihre Unvereinbarkeit mit Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK11 gefolgert. Macht die Finanzbehörde in zulässiger Weise von der Schätzungsmöglichkeit Gebrauch, und das ist – nur – der Fall, wenn die Schätzung darauf gerichtet ist, dem wahren Ergebnis möglichst nahe zu kommen,12 so ist der Nemo-tenetur-Grundsatz jedoch nicht einmal tangiert.13 Er gilt nämlich nicht, wenn der Betroffene zur Vermeidung einer strafrechtlichen Selbstbe8 BT-Drucks. VI/1982, 198, zu § 377 des Regierungsentwurfs, der später zu § 393 wurde; siehe auch BT-Drucks. 7/46, wo es heißt, § 393 Abs. 1 trage dem Grundsatz Rechnung, dass niemand gezwungen werden darf, sich selbst zu belasten. 9 Joecks in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 6. Aufl. 2005, § 393 Rn. 31; Kohlmann Steuerstrafrecht, Stand 2007, § 393 Rn. 38; Reiß Besteuerungsverfahren und Steuerstrafverfahren, 1987, S. 262; Teske wistra 1988, 207, 215. A.A. offensichtlich Rolletschke in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, Stand 2007, § 393 Rn. 33, der eine Lösung „im Rahmen der Ermessensausübung“ befürwortet. 10 Rogall ZRP 1975, 278 ff.; Streck/Spatschek wistra 1998, 334, 340. 11 Frommel/Füger StuW 1995, 58, 69 f.; Mössner StuW 1991, 224, 227 f. 12 Z.B. BFH, BStBl. III 1967, 686 ff.; BStBl. II 1979, 149; BFH/NV 1989, 416, 417. Das gilt auch, wenn sich der Betroffene auf sein Mitwirkungsverweigerungsrecht wegen einer steuerstrafrechtlichen Selbstbelastungsgefahr beruft, Hellmann (Fn. 7), Rn. 42; Streck BB 1984, 199, 202. 13 Für die grundsätzliche Zulässigkeit einer Schätzung deshalb zu Recht: Joecks (Fn. 9), Rn. 30 f.; Seer in: Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Stand 2007, § 162 Rn. 17; Wisser in: Klein, Abgabenordnung, 9. Aufl. 2006, § 393 Rn. 14. A.A. Spriegel in: Wannemacher, Steuerstrafrecht, 5. Aufl. 2004, Rn. 4522.

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lastung schweigt und deshalb in dem Nichtsteuerstrafverfahren Nachteile erleidet.14 Anders liegt es dagegen, wenn die Finanzbehörde die Ankündigung einer „Strafschätzung“ als „Ersatzzwangsmittel“ benutzt, um das Zwangsmittelverbot des § 393 Abs. 1 S. 2 AO zu unterlaufen und den Steuerpflichtigen zu einer selbstbelastenden Mitwirkung zu veranlassen. Eine „Übermaßschätzung“ ist schon steuerrechtlich unzulässig.15 Da sie den Nemo-teneturGrundsatz verletzt, unterliegen Angaben des Betroffenen zur Vermeidung der angekündigten finanziellen Nachteile einem Verwertungsverbot im Strafverfahren.16

VI. Selbstbelastung durch neue Steuererklärung Weniger leicht als die Behandlung der beiden zuvor erörterten Konstellationen fällt die Lösung, wenn der Betroffene durch die Erfüllung seiner steuerlichen Mitwirkungspflichten Tatsachen, die ihn wegen einer bereits begangenen Steuerstraftat belasten, offenbaren würde.

1. Zwangswirkung der steuerlichen Erklärungspflicht Strittig ist schon, ob der Täter in einer solchen Situation überhaupt des Schutzes bedarf. Die für den Fall der Abgabe einer unrichtigen oder unvollständigen Steuererklärung bzw. der pflichtwidrigen Nichtabgabe durch § 370 Abs. 1 Nr. 1, 2 AO angedrohte Strafe ist kein Zwangsmittel im Sinne des § 393 Abs. 1 S. 2 AO, sodass die Vorschrift jedenfalls ihrem Wortlaut nach nicht anwendbar ist. Ob der Nemo-tenetur-Grundsatz gilt, ist ebenfalls nicht ausgemacht, weil die Zwangswirkung nicht von der Maßnahme eines staatlichen Organs ausgeht, sondern von der gesetzlichen Strafdrohung. Immerhin befindet sich der Betroffene, der wegen der Strafdrohung des Steuerhinterziehungstatbestandes zu einer wahrheitsgemäßen selbstbelastenden Erklärung verpflichtet ist, aber in einer vergleichbaren Zwangslage. 14 Z.B. BVerfG, NStZ 1995, 599 f., Verlust des Haftpflichtversicherungsschutzes für den Versicherungsnehmer im Falle der Verweigerung von Angaben gegenüber dem KfzHaftpflichtversicherer. 15 BFH, NJW 2002, 847, 848; der Senat lässt die Folgen im Besteuerungsverfahren allerdings offen. Zum Teil wird im Falle einer Strafschätzung die Nichtigkeit des im Schätzungsweg ergangenen Steuerbescheids erwogen, Rolletschke (Fn. 9), Rn. 28. 16 Hellmann Das Neben-Strafverfahrensrecht der Abgabenordnung, 1995, S. 112; Joecks (Fn. 9), Rn. 30a; Reiß (Fn. 9), S. 267 mit Fn. 126. A.A. wohl Besson Das Steuergeheimnis und das Nemo-tenetur-Prinzip im (steuer-)strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, 1997, S. 113 ff., allerdings ohne bewusst überhöhte Schätzungen zu erörtern.

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Unterlässt er die Abgabe der Steuererklärung oder macht er falscher Angaben, so würde er wegen der dadurch verwirklichten Steuerhinterziehung bestraft. Erfüllt er seine – strafbewehrten – steuerrechtlichen Pflichten, so kann dies zur Bestrafung wegen der früher begangenen Tat führen. Dennoch wird vereinzelt17 behauptet, der Betroffene sei in dieser Situation nicht schutzbedürftig, weil der Täter die – vermeintliche – Unzumutbarkeit wahrheitsgemäßer Steuererklärungen für die Folgejahre selbst durch die frühere unrichtige Steuererklärung herbeigeführt habe und die Strafbarkeit deshalb auf die Grundsätze der „omissio libera in causa“ gestützt werden könne. Zu überzeugen vermag diese Lösung jedoch nicht. Zutreffend ist allerdings, dass die Abgabe wahrheitsgemäßer Angaben in einer neuen Steuererklärung keineswegs generell unzumutbar ist, wenn der Täter dadurch Anhaltspunkte für eine begangene Steuerhinterziehung liefern würde. Er kann nämlich in der Regel Straffreiheit durch eine Selbstanzeige nach § 371 AO erlangen, indem er die unrichtigen oder unvollständigen Angaben seiner früheren Erklärung berichtigt und die verkürzte Steuer nachentrichtet. Würde die Selbstanzeige zur Straffreiheit führen, so befindet sich der Täter deshalb nicht in einer Zwangslage, aus der er zu befreien wäre.18 Anders liegt es dagegen, wenn die Nacherklärung keine Straffreiheit bewirkt, weil die Tat bereits entdeckt worden ist und deshalb der Ausschlussgrund des § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO eingreift, oder der Täter nicht der Lage ist, die verkürzte Steuer gemäß § 371 Abs. 3 AO nach zu entrichten. Die Rechtsfigur der „omissio libera in causa“ würde, da es sich bei der Steuerhinterziehung um ein Vorsatzdelikt handelt, nur zur Strafbarkeit führen, wenn der Täter bei der Abgabe der früheren unrichtigen Erklärung zumindest damit gerechnet hatte, dass es ihm in der Zukunft unmöglich sein wird, korrekte Erklärungen abgeben zu können.19 In aller Regel wird der Täter daran nicht denken. Rechtsprechung20 und Literatur21 erkennen deshalb ganz überwiegend zu Recht den Grundsatz an, dass der Betroffene, der sich in der beschriebenen Zwangslage befindet, aus dieser befreit werden muss. Die vorgeschlagenen Wege differieren aber zum Teil, und zwar abhängig von den konkreten Umständen.

17

Böse wistra 2003, 47, 49 ff. BVerfG, wistra 1988, 302 f.; Joecks (Fn. 9), Rn. 39a. 19 Joecks (Fn. 9), Rn. 37c; Kohlmann (Fn. 9), Rn. 54. 20 BGHSt 47, 8, 12 f.; BGH, JZ 2002, 615; 616, 617, m. Anm. Hellmann; OLG Frankfurt, wistra 2006, 198, 199. 21 Z.B. Hellmann (Fn. 7), Rn. 28 ff.; Joecks (Fn. 9), Rn. 33; Kohlmann (Fn. 9), Rn. 53 ff.; Sahan Keine Steuererklärungspflicht bei Gefahr strafrechtlicher Selbstbelastung, 2006, S. 68 ff. 18

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2. Umsatzsteuerjahreserklärung nach unrichtiger Voranmeldung Strittig ist, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn der Steuer- bzw. Erklärungspflichtige eine Steuerhinterziehung durch eine unrichtige Umsatzsteuervoranmeldung begangen hat und keine Straffreiheit durch Abgabe einer zutreffenden Umsatzsteuerjahreserklärung erlangen kann, weil die Steuerhinterziehung durch unrichtige Voranmeldung bereits entdeckt bzw. wegen dieser Tat ein steuerstrafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden war. Gibt der Unternehmer in dieser Situation eine wahrheitsgemäße Umsatzsteuerjahreserklärung nach § 18 Abs. 3 S. 1 UStG ab, so würde er die Unrichtigkeit der Voranmeldung eingestehen. Weitgehende Einigkeit besteht allerdings inzwischen darüber, dass die Selbstbelastungsgefahr den Beschuldigten nicht dazu berechtigt, eine unrichtige Jahreserklärung abzugeben, in der er die falschen Angaben aus der Voranmeldung wiederholt,22 weil der Nemo-tenetur-Grundsatz nicht das Recht gibt, neues Unrecht zu begehen.23 Dennoch wird die Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung durch Unterlassen nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO überwiegend abgelehnt. Die strafbewehrte Steuererklärungspflicht entfalle zwar grundsätzlich nicht, wenn die Abgabe der Steuererklärung mittelbare Auswirkungen auf das laufende Steuerstrafverfahren hat, weil die pflichtwidrige Nichtabgabe der Erklärung neues Unrecht schaffen würde. Das soll nach Auffassung des BGH aber wegen der Gleichheit der betroffenen Steuerart und der Teilidentität des von der jeweiligen Erklärungspflicht erfassten Steueranmeldungszeitraums sowie des betroffenen Steueraufkommens nicht für das Verhältnis von Umsatzsteuervoranmeldung und -jahreserklärung gelten. Die strafbewehrte Pflicht zur Abgabe der Jahresumsatzstreuererklärung sei dann bis zum rechtskräftigen Abschluss des Steuerstrafverfahrens wegen der unrichtigen Voranmeldung suspendiert.24 Eine Begründung für diese Behauptung gibt der Senat allerdings nicht und die These widerspricht25 zudem der in derselben Entscheidung getroffenen Feststellung, bei „der Pflicht zur Abgabe einer Jahreserklärung handelt es sich um eine gegenüber der Pflicht zur Abgabe von Voranmeldungen eigenständige Erklärungspflicht, deren Nichterfüllung einen selbständigen Unrechtsgehalt be22 Anders allerdings das LG Frankfurt/Main, wistra 2004, 78, 79 f., m. Anm. Rolletschke wistra 2004, 246 ff. Das LG lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens mit der Begründung ab, aus der mangelnden Strafbewehrtheit der Pflicht zur Abgabe der Jahreserklärung folge auch die Straflosigkeit einer unrichtigen Jahreserklärung. Das OLG Frankfurt, wistra 2006, 198 ff., eröffnete dagegen im Klageerzwingungsverfahren das Hauptverfahren. 23 BGHSt 47, 8, 15; OLG Frankfurt, wistra 2006, 198, 200. 24 BGHSt 47, 8, 15; ebenso BGH, NStZ 2005, 517, 518. 25 Zutreffend Sahan (Fn. 21), S. 85, der BGH sei der Sache nach erstmals von seinem Dogma abgerückt, der Nemo-tenetur-Grundsatz rechtfertige nicht die Verwirklichung neuen Unrechts.

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sitzt“.26 Diesen Widerspruch vermeidet die Gegenauffassung, indem sie den Beschuldigten durch die Annahme eines Verwertungsverbotes hinsichtlich der in einer zutreffenden Umsatzsteuerjahreserklärung enthaltenen Informationen, durch die er die Steuerverkürzung in der Voranmeldung faktisch eingestehen würde, schützt.27 Diese Lösung berücksichtigt die Interessen des Staates, sie ist aber auch für den Beschuldigten vorteilhaft. Die fiskalischen Interessen werden gewahrt, indem der Staat früher, nämlich vor dem rechtskräftigen Abschluss des Steuerstrafverfahrens, der u.U. erst nach einigen Jahren erfolgt, die geschuldete Steuer erlangt, und zudem das Risiko des endgültigen Steuerausfalls durch einen zwischenzeitlichen Vermögensverfall des beschuldigten Steuerpflichtigen verringert wird. Der Beschuldigte kann durch die Bewirkung einer zutreffenden Steuerfestsetzung aufgrund seiner nun richtigen und vollständigen Angaben das Strafmaß positiv beeinflussen, da die von ihm offenbarten Besteuerungstatsachen zwar nicht zu seinem Nachteil im Schuldspruch verwertet werden dürfen, die korrekte Steuerfestsetzung, also die Verringerung des Steuerschadens, aber im Rahmen der Strafzumessung zu seinen Gunsten zu berücksichtigen ist. Der Verwertungsverbotslösung kann im Übrigen nicht überzeugend entgegengehalten werden, sie überschreite die Grenzen einer zulässigen Auslegung des § 393 AO, weil der Gesetzgeber das strafrechtliche Verwertungsverbot in § 393 Abs. 2 S. 1 AO auf Nichtsteuerstraftaten beschränkt habe.28 Die Annahme eines Verwertungsverbotes beruht in unserer Konstellation nicht auf einer Auslegung des § 393 AO, sondern es handelt sich um die Ausfüllung einer vom Gesetzgeber nicht bedachten Regelungslücke unter Berufung auf das Nemo-tenetur-Prinzip, das nach Auffassung des BVerfG gerade nicht die Erzwingung der Erfüllung außerstrafrechtlicher Mitwirkungspflichten bei einer Selbstbelastungsgefahr verbietet. Den Vorwurf der Nichtbeachtung des Willens des Gesetzgebers dürfte sogar eher die h.M. treffen, die eine Suspendierung der steuerlichen Mitwirkungspflichten propagiert, denn die – jedenfalls formale – Aufrechterhaltung dieser Pflichtenstellung in § 393 Abs. 1 AO wurde im Gesetzgebungsverfahren damit begründet, der Steuerpflichtige, der zugleich Beschuldigter eines Steuerstrafverfahrens ist, dürfe gegenüber den „ehrlichen“ Steuerbürgern nicht besser gestellt werden.29

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BGHSt 47, 8, 13 f. Hellmann JZ 2002, 617, 619 f.; Kohlmann (Fn. 9), Rn. 36. 28 So aber Aselmann NStZ 2003, 71, 74; Sahan (Fn. 21), S. 107. 29 Stellungnahme des Finanzausschusses, BT-Drucks. 7/4292, 46. 27

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3. Nichtabgabe der Steuererklärung für einen inkriminierten Veranlagungszeitraum Der BGH nimmt zudem eine Suspendierung der strafbewehrten Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung für einen bestimmten Besteuerungszeitraum an, wenn wegen des Verdachts der Hinterziehung der betroffenen Steuer für diesen Zeitraum das Steuerstrafverfahren eingeleitet wurde.30 Die Entscheidung betraf einen etwas unübersichtlichen Sachverhalt. Der Steuerpflichtige hatte für mehrere Jahre keine Einkommen- und Gewerbesteuererklärungen abgegeben, zumindest für zwei Besteuerungszeiträume hatte das zuständige Finanzamt die Veranlagungen im Zeitpunkt der Einleitung des Steuerstrafverfahrens aber noch nicht abgeschlossen, sodass der Steuerverkürzungserfolg noch nicht eingetreten war. Die Steuerhinterziehung durch Unterlassen setzt die „hypothetische Kausalität“ der unterlassenen Steuererklärung für den Verkürzungserfolg voraus, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit lässt sich bei Veranlagungssteuern jedoch die nicht rechtzeitige Steuerfestsetzung erst annehmen, wenn die Veranlagungsarbeiten des zuständigen Finanzamts hinsichtlich der betroffenen Steuerart im Wesentlichen abgeschlossen sind, da dann auch das Besteuerungsverfahren des Täters auf jeden Fall durch eine Steuerfestsetzung abgeschlossen worden wäre. In das Versuchsstadium soll die Steuerhinterziehung durch Unterlassen nach Auffassung des BGH31 jedoch bereits mit Verstreichenlassen der Frist zur Abgabe der Steuererklärung (31.05. des Folgejahres nach § 149 Abs. 2 S. 1 AO bzw. 30.09. bei Einschaltung eines Steuerberaters) gelangen. Zwischen beiden Zeitpunkten liegt in der Praxis regelmäßig ein erheblicher Abstand, sodass der – vermeintliche – Steuerhinterziehungsversuch aufdeckt werden kann, bevor der Taterfolg durch Abschluss der Veranlagungsarbeiten eingetreten ist. In dieser Situation könnte der Beschuldigte die Vollendungsstrafbarkeit nur durch Abgabe einer zutreffenden Steuererklärung verhindern. Dadurch würde er aber den Steuerhinterziehungsversuch eingestehen und zu seiner Verurteilung beitragen, weil die Nacherklärung weder ein strafbefreiender Rücktritt nach § 24 StGB – mangels Freiwilligkeit – noch eine strafbefreiende Selbstanzeige nach § 371 AO – wegen der Einleitung des Steuerstrafverfahrens – sei. Der Beschuldigte könne aus diesem Dilemma nur durch die Suspendierung der Steuererklärungspflicht befreit werden,32 weil er dann strafrechtlich nicht für den Eintritt des Verkürzungserfolgs verantwortlich wäre. Dieser Lösung sind mehrere Gesichtspunkte entgegenzuhalten. Der BGH schafft die Zwangslage des Beschuldigten selbst durch die Annahme des 30

BGH, JZ 2002, 616 f. BGH, JZ 2002, 616, 617. 32 BGH, JZ 2002, 616, 617. 31

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frühen Versuchsbeginns. Nach zutreffender Auffassung wird die Grenze zum Versuch der Steuerhinterziehung durch Unterlassen jedoch erst überschritten, wenn das Rechtsgut, der staatliche Steueranspruch, ernstlich in Gefahr gerät. Das ist der Fall, wenn der Abschluss der Veranlagungsarbeiten nahe gerückt ist.33 Die Nichtabgabe der Steuererklärung vor diesem Zeitpunkt stellt somit keine versuchte Steuerhinterziehung dar, sodass der Steuerpflichtige – bei zutreffender Sicht – ohne strafrechtliches Risiko die Nacherklärung vornehmen kann. Folgt man dagegen dem BGH in der Annahme eines frühen Versuchsbeginns, so ist auch hier – im Interesse des Fiskus und des Beschuldigten – die Verwertungsverbotslösung vorzugswürdig.34

4. Nachfolgende Besteuerungszeiträume Bisweilen besteht eine „mittelbare“ Selbstbelastungsgefahr, wenn der Steuerpflichtige in der Vergangenheit steuerlich erhebliche Tatsachen – z.B. Einkünfte aus Kapitalerträgen – verschwiegen hat und die korrekte Erklärung für einen neuen Veranlagungszeitraum die frühere(n) Steuerhinterziehung(en) offenbaren würde. In einer Zwangslage befindet sich der Betroffene – wie dargelegt – nur, wenn er nicht durch eine Selbstanzeige Straffreiheit erlangen kann, insbesondere weil wegen der Steuerhinterziehung(en) bereits ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Hat die Finanzbehörde den Verdacht, dass der Betroffene solche Einkünfte schon in der Vergangenheit erzielte, würde er durch die neue wahrheitsgemäße Deklarierung ein Indiz für seine frühere Steuerhinterziehung liefern. In dieser Konstellation nimmt auch der BGH die zutreffende These, dass der Nemotenetur-Grundsatz nicht die Begehung neuen Unrechts zur Vermeidung einer Selbstbelastung gestatte, Ernst. Die mittelbare Selbstbelastungsgefahr berechtigt den Beschuldigten weder zur Abgabe einer weiteren unrichtigen Erklärung noch zum Unterlassen der Steuererklärung, sondern er ist durch das Verbot der Verwertung der offenbarten selbstbelastenden Umstände in dem Steuerstrafverfahren zu schützen.35 Dieser Auffassung ist zuzustimmen.

33 Hellmann (Fn. 7), § 370 Rn. 340; Joecks (Fn. 9), § 370 Rn. 263 ff., der den Versuchsbeginn aber generell auf den 28.02. des übernächsten Jahres festlegt, weil dann die Gefahr bestehe, dass die Veranlagungsarbeiten „im Großen und Ganzen“ abgeschlossen werden, bevor die Steuererklärung eingereicht worden ist. 34 Näher dazu Hellmann JZ 2002, 617, 619 f. 35 BGH, NJW 2005, 763, 764 f., mit Anm. Lesch JR 2005, 300 ff., und Rogall NStZ 2006, 41 ff.

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VII. Aufdeckung von Nichtsteuerstraftaten durch Erfüllung steuerlicher Pflichten Das Verwendungsverbot des § 393 Abs. 2 S. 1 AO scheint den Steuerpflichtigen, der sich durch die Erfüllung seiner – strafbewehrten – steuerlichen Pflichten wegen einer Nichtsteuerstraftat belasten würde, in einer den verfassungs- und völkerrechtlichen Anforderungen entsprechenden Weise zu schützen. Fraglich und derzeit ungeklärt ist jedoch, ob und in welcher Weise die oben beschriebenen, durch §§ 393 Abs. 2 S. 2, 31a, 31b AO, § 4 Abs. 5 Nr. 10 S. 3 EStG eröffneten Lücken bei der Gefahr einer Selbstbelastung wegen der dort genannten Nichtsteuerstraftaten zu schließen sind. Strittig ist zudem, wie im Falle der Offenbarung einer Nichtsteuerstraftat durch eine Selbstanzeige zu verfahren ist.

1. Gesetzliche Durchbrechungen des Verwendungsverbots Die h.L.36 betrachtet die Vorschriften, nach denen die Finanzbehörden befugt oder sogar verpflichtet sind, die Strafverfolgungsbehörden über Tatsachen zu informieren, die der Steuerpflichtige in Erfüllung steuerlicher Pflichten vor Einleitung oder in Unkenntnis der Einleitung des Strafverfahrens wegen einer Nichtsteuerstraftat offenbart hat, als verfassungswidrig. Der Dienstgerichtssenat des BGH (§ 61 DRiG) hatte dagegen keine verfassungsrechtlichen Bedenken, die steuerlichen Angaben – über Einkünfte aus Spekulationsgeschäften – eines Bundesrichters in einem Disziplinarverfahren zu verwerten,37 obwohl der Nemo-tenetur-Grundsatz auch in einem solchen Verfahren gilt.38 Der 5. Strafsenat des BGH scheint § 393 Abs. 2 S. 2 AO ebenfalls für verfassungsgemäß zu halten. In einem Fall, in dem ein steuerpflichtiger Amtsträger Bestechungsgelder erhalten und nicht in seiner Einkommensteuererklärung angegeben – also seinen steuerlichen Erklärungspflichten nicht genügt – hatte, nahm der Senat die Strafbarkeit wegen Bestechlichkeit und Steuerhinterziehung an. Der Verletzung der steuerlichen Erklärungspflicht stehe nicht entgegen, dass die Angaben in der Steuererklärung zur Verfolgung des Bestechungsdelikts hätten verwendet werden dürfen. Zum Ausgleich im „Spannungsfeld“ zwischen dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse einerseits und dem Schutz vor erzwungener Selbstbelastung und dem Steuergeheimnis andererseits erwägt der Senat 36 Heerspink wistra 2001, 441, AO-StB 2006, 51, 53 f.; Hellmann (Fn. 7), Rn. 180 ff.; Joecks (Fn. 9), Rn. 76; Kohlmann (Fn. 9), Rn. 79.7; Rogall in: Kohlmann-FS (2003), S. 465, 495 ff. Unentschieden Rolletschke (Fn. 9), Rn. 97. Keine Bedenken gegen § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 10 EStG äußern Eich AO-StB 2005, 120 ff., und Schneider wistra 2004, 1 ff. 37 BGH, NJW 2002, 834; siehe dazu Wulf wistra 2006, 89, 92. 38 BVerfGE 56, 37, 44.

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immerhin, „an die Konkretisierung der gebotenen steuerlichen Erklärungen möglicherweise niedrigere Anforderungen zu stellen als sonst nach § 90 AO geboten“.39 Die Aufrechterhaltung der steuerlichen Erklärungspflicht im Hinblick auf vereinnahmte Schmiergelder sei verfassungs- und konventionsrechtlich im Übrigen „nur dann hinnehmbar, wenn bei der Rechtsfolgenentscheidung der enge zeitliche und sachliche Zusammenhang zwischen der Bestechlichkeit und der Steuerhinterziehung berücksichtigt wird und dem durch eine straffe Zusammenziehung der zu verhängenden Einzelstrafen Rechnung getragen wird“.40 Diese Entscheidung lässt allerdings offen, wie zu entscheiden wäre, wenn der Steuerpflichtige die auf strafbare Weise erzielten Einkünfte pflichtgemäß in seiner Steuererklärung angegeben und dadurch trotz der propagierten geringeren Anforderungen an die Konkretisierung seiner Angaben Anhaltspunkte für die Nichtsteuerstraftat geliefert hat.41 Die nebulösen Erwägungen zur Strafzumessung helfen dann nicht weiter, weil „nur“ die Strafbarkeit wegen des Bestechungsdelikts in Rede steht. Letztlich wird diese Rechtsprechung vermutlich dazu führen, dass die Betroffenen Einkünfte aus schweren Straftaten nicht erklären werden, zumal der BGH für den Fall, dass die Nichtsteuerstraftat dennoch aufgedeckt wird, nur einen geringen „Strafaufschlag“ für die zusätzlich begangene Steuerhinterziehung in Aussicht stellt. Im fiskalischen Interesse ist diese Lösung sicher nicht. Das gilt auch für den Vorschlag, die Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung durch Unterlassen nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO wegen Unzumutbarkeit der Pflichterfüllung zu verneinen.42 Die Annahme der h.L., die §§ 393 Abs. 2 S. 2, 31a, 31b AO, § 4 Abs. 5 Nr. 10 S. 3 EStG seien verfassungswidrig, trifft deshalb zu. Es bleibt abzuwarten, ob das BVerfG, das die alleinige Kompetenz zur Verwerfung dieser nachkonstitutionellen Gesetze besitzt, diese Auffassung teilt. Eine große Bewährungsprobe hat das Nemo-tenetur-Prinzip also noch vor sich.

2. Exkurs: Aufdeckung einer Nichtsteuerstraftat durch eine Selbstanzeige Streng genommen keine Frage des Nemo-tenetur-Grundsatzes, sondern der Auslegung des einfachen Rechts ist es, ob die Offenbarung einer früheren – im Zusammenhang mit einer Steuerstraftat – begangenen Nichtsteuerstraftat durch eine Selbstanzeige dem Verwertungsverbot des § 393 Abs. 2 39

BGH, StV 2004, 578. BGH, StV 2004, 578. 41 Zweifel an der „Praxistauglichkeit“ des Konzepts des BGH äußert zu Recht Wulf wistra 2006, 89, 93 ff. 42 So aber Wulf wistra 2006, 89, 95 f. 40

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S. 1 AO unterfällt. Die Rechtsprechung steuert unter weitgehender Nichtbeachtung des Gesetzestextes einen „Zickzackkurs“. Das BayObLG vertrat den – offensichtlich – unzutreffenden Standpunkt, der Steuerpflichtige handele in Erfüllung steuerrechtlicher Pflichten, wenn er unechte Urkunden zu dem Zweck vorlegt, die Aufdeckung zuvor durch Abgabe unrichtiger Steuererklärungen begangener Steuerhinterziehungen zu verhindern.43 Das Steuerrecht verpflichtet den Steuerpflichtigen natürlich nicht zur Vorlage unechter Urkunden zum Beleg für unrichtige Angaben. Der BGH lehnt das Verwendungsverbot des § 393 Abs. 2 S. 1 AO dagegen ab, wenn der Steuerpflichtige eine frühere, unter Benutzung ge- oder verfälschter Belege begangene, unrichtige Steuererklärung im Wege der Selbstanzeige berichtigt und dadurch auch die Urkundenfälschung durch Gebrauchmachen offenbart. Die Richtigstellung erfolge zwar in Erfüllung der steuerrechtlichen Erklärungs- und Mitwirkungspflichten, diese seien aber nicht erzwingbar, sodass § 393 Abs. 2 S. 1 AO unter Berücksichtigung seines Zwecks einschränkend auszulegen sei.44 Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an, weil die Auslegung des BGH weder gegen den Nemo-tenetur-Grundsatz verstößt noch eine verbotene Analogie im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG, der Vorschriften über die Beweisverwertung nicht erfasst, darstellt.45 Die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit der Auslegung des BGH ändert jedoch nichts daran, dass die Entscheidung des Senats mit dem Wortlaut des § 393 Abs. 2 S. 1 AO unvereinbar ist,46 denn er enthält nicht die Einschränkung der Erfüllung erzwingbarer Mitwirkungspflichten. Die Interessen des Fiskus, denen § 371 AO dient, ignoriert der BGH jedenfalls, denn der Steuerpflichtige, der befürchten muss, dass die Selbstanzeige ihm zwar Straffreiheit wegen der Steuerhinterziehung, nicht dagegen wegen der mitverwirklichten Nichtsteuerstraftat verschafft, wird sich im Zweifel nicht offenbaren und die bisher verschlossene Steuerquelle wird deshalb weiterhin verborgen bleiben.

VIII. Fazit Der Nemo-tenetur-Grundsatz hat im Steuerstrafrecht zwar einige, aber noch nicht alle Bewährungsproben bestanden. Es bleibt insbesondere abzuwarten, ob das BVerfG den Bestrebungen, die zahlreichen Informationen, 43

BayObLG, NJW 1997, 600, 601; wistra 1998, 117, 118. BGHSt 49, 136, 146 f. 45 BVerfG, NJW 2005, 352 f. 46 Zweifel an der Vereinbarkeit mit dem Wortlaut äußert auch Eidam wistra 2004, 412, 414. 44

Das Steuerstrafrecht als Testfall des Nemo-tenetur-Prinzips

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die den Finanzbehörden von den Steuerbürgern in Erfüllung ihrer steuerrechtlichen Pflichten geliefert werden, für Strafverfolgungszwecke nutzbar zu machen, Einhalt gebieten wird.

Bestimmt, wer „aufstiftet“, zur Tat des schwereren Delikts? – Zugleich ein Beitrag zum Unrecht der Anstiftung – MICHAEL KAHLO

I. Manfred Seebode, dem dieser Beitrag in herzlicher kollegialer Verbundenheit und mit den besten Wünschen gewidmet ist, gehört zu denjenigen Kollegen, die sich – keineswegs nur in Lehre und Forschung1 – in ebenso engagiert-entschiedener wie nachdenklich-wohlbegründeter Weise stets für eine dezidiert freiheitliche Verfassung des Verhältnisses von Bürger und Staat gerade auch auf dem Rechtsgebiet des Strafrechts bemüht haben und bemühen. Zu einer solchen Verfassung zählt für ihn nicht zuletzt auch die Berechenbarkeit des (Straf-)Rechts2: Jede Staatsbürgerin und jeder Staats1 Zahlreiche Rechtsgutachten, die er im Rahmen von Gesetzgebungsverfahren – namentlich zum Strafprozeßrecht, zum Datenschutzrecht sowie zum Polizeirecht – erstattet hat, belegen diese Feststellung ebenso wie seine langjährige (1990 – 2002) Wahrnehmung der Aufgaben des „Präsidenten der Bundesvereinigung Liberaler Juristen (VLJ) e. V.“; vgl. zu den Rechtsgutachten das am Ende dieser Festschrift abgedruckte Schriftenverzeichnis des Jubilars. – Außerdem ist er, dem das Verständnis der Universität als „Elfenbeinturm“ ohnedies fremd war und ist, für Zwecke dieses Engagements nicht selten auch aus universitären Zusammenhängen herausgetreten, um sich etwa als Strafverteidiger zu betätigen oder um sich ein möglichst realitätsgerechtes eigenes Bild vom Zustand unserer Haftanstalten zu machen, und zwar sowohl durch zahlreiche Besuche von Justizvollzugsanstalten als auch durch den immer wieder gesuchten Gedanken- und Erfahrungsaustausch mit Anstaltsleitern oder auch durch Kontakte mit Inhaftierten. 2 So schon im Titel seines Beitrages zur Festschrift für Günter Kohlmann (2003, S. 279) ausdrücklich Seebode „Zur Berechenbarkeit der strafrechtlichen Hilfspflicht (§ 323 c StGB)“; mit Blick auf das unechte Unterlassungsdelikt inhaltsgleich zuvor bereits in seinen Überlegungen „Zur gesetzlichen Bestimmtheit des unechten Unterlassungsdelikts“ in der von ihm edierten Festschrift für seinen akademischen Lehrer Günter Spendel, 1992, S. 317, S. 321: „Rechtssicherheit durch Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit des staatlichen Strafens“ (Hervorhebung nicht im Original) unter Hinweis auf die insoweit maßgeblichen verfassungsgerichtlichen Entscheidungen BVerfGE 41, 319; 64, 393 f.; 75, 341; und 78, 382. – Daß die Rechtsprechung die durch das Gesetzlichkeitsprinzip mit bezweckte Sicherung der Gewaltenteilung (so zutreffend Seebode, aaO.) zuweilen nicht zureichend beachtet, belegen beispiels-

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bürger soll sich, ohne Ansehung ihrer Bildung oder ihres gesellschaftlichen Status’, aufgrund von inhaltlich zureichend bestimmten (Straf-)Gesetzen jederzeit darüber Klarheit verschaffen können, wo die Grenzen zwischen erlaubtem und bei Kriminalstrafe verbotenem Handeln verlaufen – nicht, weil der Einzelne als Rechtsperson nicht auch für sich schon ein je eigenes Verständnis vom rechtlich Richtigen hätte und erst durch staatliche (Straf-)Rechtsgesetze gewissermaßen „erleuchtet“, d. h. zur rechtlich praktischen Vernunft gebracht werden müßte, sondern weil es gerade im Strafrecht um die mit Kriminal-, und das heißt insbesondere: Freiheitsstrafe zwangsweise Durchsetzung einer gemeinschaftlich als richtig festgelegten Praxis im gegenseitig-äußeren Verhältnis geht, die angesichts der Möglichkeit konkreter Fehlbeurteilungen der Individuen als Willkürsubjekte zu deren zuverlässiger Orientierung einer inhaltlich eindeutig bestimmten, schriftlich fixierten und publizierten, mithin objektiven Basis bedarf.3 Korrespondierend dazu müssen die Strafgesetze, einschließlich ihrer strafrechtlichen Sanktionsregelungen, deshalb so abgefasst sein, dass sie auch jeder Strafrichterin und jedem Strafrichter eine klare Orientierung darüber ermöglichen, ob wegen eines als Straftat angeklagten personalen weise die Entscheidungen des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts zur Strafbarkeit der Gewaltnötigung und zur angenommenen Bestimmtheit des Tatbestands der Beleidigung, insofern die gesetzliche Bestimmtheit des § 240 Abs. 1 1. Alt. StGB bzw. des § 185 StGB dort unter anderem durch den Hinweis auf eine „weithin anerkannte“ bzw. „ständige“ und „gefestigte“ Rechtsprechung der Strafgerichte begründet wird (so für die „erweiternde Auslegung“ des strafrechtlichen Gewaltbegriffs BVerfGE 73, 206 (243); 76, 211 (216), für den Beleidigungstatbestand BVerfGE 93, 266 (291/292): „… über hundertjährige im wesentlichen einhellige Rechtsprechung“); zu Recht kritisch dagegen etwa Wessels/Hettinger, Strafrecht BT/1, 31. Auflage 2007, Rn. 380 ff., besonders Rn. 381 und 392, 392a (zu § 240 Abs. 1 1. Alt. StGB) sowie im Hinblick auf § 185 StGB Rn. 507 mit der zusätzlichen Feststellung, der Begriff der Beleidigung lasse sich „auch nicht mit Hilfe der anderen Regelungen des 14. Abschnitts bestimmen“; vgl. dazu ausführlicher auch Ignor, Der Straftatbestand der Beleidigung, 1995, S. 29, 158; grundlegend zu „Ehre und Beleidigung“ E. A. Wolff ZStW 81 (1969), 886, der den Begriff der Ehre auf der Grundlage seiner Lehre vom gegenseitigen Anerkennungsverhältnis bestimmt, sowie – unter Berücksichtigung auch der neueren Literatur und Rechtsprechung – NK-Zaczyk, StGB, 2. Auflage 2005, Vor § 185 Rn. 1 ff.; vgl. zu dem Problem der „Flexibilität“ des Beleidigungstatbestandes die Nachweise in Rn. 2 zu § 185. – Allgemein kritisch zur Rechtsprechung bezüglich des Bestimmtheitsgebots die sorgfältige, die Praxis in ganzer Breite untersuchende Arbeit von Krahl, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs zum Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht (Art. 103 Abs. 2 GG), 1986. 3 Grundlegend dazu, in konkretisierender Interpretation der kantischen Rechtslehre, E. A. Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, in: W. Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik. Bedingungen der Strafrechtsreform, 1987, S. 137 ff., insbes. S. 162 ff.; auch ich selbst habe mich sowohl in meiner Dissertation (Das Problem des Pflichtwidrigkeitszusammenhanges bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1990, bes. S. 269 ff.) als auch in meiner Habilitationsschrift (Die Handlungsform der Unterlassung als Kriminaldelikt, 2001, S. 209 ff.) um diese Basis strafrechtlicher Gesetzlichkeit bemüht.

Bestimmt, wer „aufstiftet“, zur Tat des schwereren Delikts?

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Handelns das Hauptverfahren zu eröffnen und ob der Angeklagte wegen der Verdachtstat zu verurteilen, gegebenenfalls: wie diese Tat zu sanktionieren ist.4 Freilich kommt nicht nur in der Form des öffentlichen Strafgesetzes als eines (rechtlichen) Sollens, dessen handlungsvermittelte Missachtung den Staat berechtigt und verpflichtet, auf die fragliche Handlung mit Kriminalstrafe zu reagieren,5 die freiheitsverbürgende Bedeutung des Gesetzlich4 Vgl. zur Bedeutung des damit angesprochenen Bestimmtheitsgebotes (Postulats der lex certa) für die richterliche Tätigkeit nochmals Seebode, aaO. Fn. 2, einerseits, im Hinblick auf die Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 319 (der Grundsatz untersage „dem Richter den verführerischen Schluß von einem als strafwürdig empfundenen Verhalten auf das als strafbar bestimmte“, kursiv im Original), andererseits, mit Bezug auf die Strafe, S. 325, wo die Feststellung der Geltung des Gesetzlichkeitsprinzips auch für die Strafe mit deutlicher und berechtigter Kritik daran verbunden wird, dass die im Ansatz gewiß zutreffende h. M. einer bloß relativen Strafbestimmtheit zu einer Tolerierung von Strafrahmen durch Lehre und Rechtsprechung geführt habe, „die dem Bestimmtheitsgebot für die Rechtsfolgen nahezu jede Bedeutung genommen haben“. – Im übrigen berührt, wie hier abrundend ergänzt werden soll, das Bestimmtheitserfordernis als das zentrale Gebot im Gesetzlichkeitsgrundsatz darüber hinaus auch schon die Aufgabe und Tätigkeit der Staatsanwaltschaft: Auch diese ist für rechtsstaatlich geprägte Ermittlungen auf Strafgesetze angewiesen, die dem Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG; § 1 StGB) entsprechen. – Und nicht zuletzt setzt eine verantwortliche und zugleich effektive Strafverteidigung inhaltlich zureichend bestimmte öffentliche Strafgesetze voraus, und dies nicht nur im Hinblick auf die Möglichkeit und Gefahr für den Verteidiger, sich ohne diese „Grundlage des Kulturstrafrechts“ (Robert von Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 2, 1930, S. 34) durch seine Beteiligung an der Strafrechtspflege selbst strafbar zu machen. 5 Gemeint ist damit zunächst allein die sich aus dem strafprozeßrechtlichen Legalitätsprinzip (§§ 152 Abs. 2, 170 Abs. 1 StPO) ergebende Verpflichtung des Staates, im Fall des Vorliegens eines Anfangsverdachts einer Strafgesetzesverletzung staatsanwaltschaftliche Ermittlungen aufzunehmen, bei Bestätigung dieses Verdachts Anklage zu erheben und den zunächst Verdächtigen bzw. Beschuldigten, sodann Angeschuldigten und schließlich Angeklagten (vgl. § 157 StPO) entweder freizusprechen oder zu verurteilen; vgl. zur strafrechtsphilosophischen Begründung dieses Prinzips eindrucksvoll Kant, MdS, 1797, Rechtslehre, Allgemeine Anmerkung E. zum Staatsrecht, mit seiner berühmten Formulierung vom Strafgesetz als „kategorischer Imperativ“ (AA VI, S. 331). Nicht nur im Licht dieser Begründung erscheinen die weitgehenden Regelungen der aktuellen StPO (§§ 153 a ff.) zur öffentlich nicht zu begründenden Einstellung von Ermittlungsverfahren aus Gründen der Opportunität, also prozeßökonomischer Zweckmäßigkeit, und noch mehr die sich immer mehr ausweitende Praxis der Absprachen in der Hauptverhandlung – also nach Feststellung eines hinreichenden Tatverdachts und unter letztverantwortlicher Mitwirkung des Strafgerichts – als ein gravierender Verlust an Strafrechtskultur, der auch durch strafprozeßgesetzliche Positivierung schwerlich zu „heilen“ ist. Der Hinweis auf eine vorgeblich Änderung der Bedürfnisse des Rechtsverkehrs, die eine „richterrechtliche Anpassung des Rechts an diese Bedürfnisse“ in Form von Absprachen im Strafprozeß erforderlich mache (so BGHSt (GS) 50, 40 (52 f.)), verdeckt demgegenüber nur den Mangel des rechtlichen Grundes für eine derartige Praxis und vermag diesen Befund folglich auch nicht juristisch zu entkräften; wie evident diese Praxis die verfassungsrechtlichen, durch den Gewaltenteilungsgrundsatz gezogenen Grenzen überschreitet, dokumentiert denn auch die Aussage des Großen Senats, er sähe sich an seiner „zur Sicherstellung der Funktions-

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keitsprinzips zum Ausdruck.6 Als ein als Abwehrrecht verstandenes Grundrecht verwirklicht es seine Freiheitsfunktion vielmehr nicht zuletzt auch dadurch, dass es den „fragmentarischen Charakter“ des Strafrechts wahrt:7 Die Strafbarkeit eines Verhaltens geht nur so weit wie das gesetzliche Verbot; Handlungen, die sich im Wege methodisch gesicherter Auslegung unter ein Strafgesetz nicht subsumieren lassen,8 sind ungeachtet etwa empfundener, vermeintlicher oder wirklicher Strafbedürfnisse nicht zu bestrafen. Nur der Gesetzgeber darf hier Abhilfe schaffen. Und dies auch nicht etwa nach primär utilitaristischen Zweckmäßigkeitserwägungen9, sondern unter striktüchtigkeit der Strafrechtspflege gebotenen Rechtsfortbildung (sic!) durch Zulassung der Urteilsabsprache“ gehindert, „wenn eine einschlägige Regelung des Gesetzgebers zu erwarten wäre“. 6 Die historische Entwicklung dieser Bedeutung lässt sich anhand der Wandlungen im Verständnis des Gesetzesbegriffs von der Antike bis in die Rechts- und Staatsphilosophie der Neuzeit rekonstruieren. Sie reicht, was hier aus Platzgründen nur angedeutet werden kann, von der aristotelischen Begründung der Überlegenheit der Gesetzesherrschaft gegenüber jeglicher Form einer Personenherrschaft (vgl. dazu Aristoteles, Politik, III. 15.; auch I. 7., wo der Staat als „Ursprung der Gerechtigkeit durch Herrschaft des Gesetzes“ beschrieben wird) über die Hobbes’sche Vorstellung von den staatlichen Gesetzen als einer für die Herstellung einer öffentlichen Friedensordnung notwendigen Institution (vgl. Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Vereins, 1651, 21. Kap.: bürgerliche Gesetze als „künstliche Ketten“) bis zu der diese Vorstellung freiheitsbegrifflich öffnenden, neuzeitlichen Einsicht in den Zusammenhang von Gesetzlichkeit und Freiheit; vgl. dazu – neben der bereits von Seebode an anderer Stelle (aaO. Fn. 2, S. 318, bei und in Fn. 10) vermerkten These Voltaires: „Frei sein, heißt, nur von Gesetzen abhängig sein“ – insbesondere Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, 1762, 1. Buch, 8. Kap.: Freiheit als „Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich selber vorgeschrieben hat“ und Kants Theorie der praktischen Selbstgesetzgebung (Autonomie) in den Formen moralisch und rechtlich praktischer Vernunft (GMS, 1785, AA IV, S. 412/413; MdS, Einleitung in die Rechtslehre, § B., S. 230 i. V. m. der „Einteilung der Rechtslehre“, S. 237: Unabhängigkeit der Einzelnen als Handlungssubjekte von nötigender Willkür Anderer „nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit“). 7 So zutreffend Seebode, aaO. Fn. 2, S. 320/321 m. w. N. – Dagegen hat Binding, auf den die Rede vom „fragmentarischen Charakter“ zurückgeführt wird, die Fragmentarizität des Strafrechts wegen des von ihm darin gesehenen Zufallsmoments als „einen großen Mangel des StGB“ beurteilt; vgl. dens., Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, BT 1. Band, 2. Auflage 1902, S. 20. 8 Daß in der (Straf-)Rechtswissenschaft freilich darüber, was unter „methodisch gesicherter Auslegung“ zu verstehen ist, angesichts der verschiedenen Auslegungsmethoden und dem u. a. aus deren Verschiedenheit resultierenden Problem, welche dieser Methoden bei unterschiedlichen Interpretationsergebnissen ausschlaggebend sein soll, noch keine allgemeine und endgültige Klarheit besteht, soll dabei nicht verschwiegen werden; vgl. zu dieser Problematik, die mit der Verwirklichung des Gesetzlichkeitsprinzips aufs engste verwoben ist, grundlegend schon Engisch, Einführung in das juristische Denken, 1. Auflage 1956, S. 63 ff., 85 ff. 9 So, nämlich im Sinne zweckorientierter, allein durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip begrenzter Ausübung gesetzgeberischen Ermessens, wird der Grundsatz der „fragmentarischen Natur“ des Strafrechts freilich heute häufig (miß-)verstanden; vgl. dazu etwa die Darstellung

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ter Anwendung des Schuldprinzips – eine Einsicht, auf die auch Manfred Seebode bereits zutreffend hingewiesen hat10 und die vor allem deshalb ausdrücklich festzuhalten ist, weil das Gesetzlichkeitsprinzip seit Feuerbach mit dem Gedanken der Generalprävention verbunden ist,11 die strafrechtsgeschichtlich nicht selten strafbarkeitserweiternd wirksam geworden ist und wirkt, das an sich freiheitlich-strafrechtsbeschränkende Prinzip also zumindest teilweise konterkariert (hat).12 Versteht man das Gesetzlichkeitsprinzip dagegen konsequent als freiheitssicherndes Abwehr(grund)recht,13 dessen Basis in der Personenwürde und dem auf dieser aufbauenden Schuldprinzip besteht,14 ordnen sich die Verhältnisse ersichtlich anders; insbesondere gewinnt der Grundsatz der von Prittwitz, Das deutsche Strafrecht: Fragmentarisch? Subsidiär? Ultima ratio?, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt am Main (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 387 ff., bes. S. 388 f. und S. 392/393 und aus der Rechtsprechung etwa die erst jüngst ergangene Entscheidung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2008 zur Verfassungsmäßigkeit des § 173 StGB (Beischlaf zwischen Verwandten) in der Alternative des Beischlafs zwischen Geschwistern, NJW 2008, 1137; auch das in vieler Hinsicht begründete Sondervotum von Hassemer (aaO. S. 1142) bewegt sich gedanklich weitgehend in den mit diesem Verständnis verbundenen Bahnen; kritisch zu diesem Verständnis Naucke, Strafrecht. Eine Einführung, 10. Auflage 2002, § 2 Rn. 13, der darauf hinweist, dass die Unklarheit über diesen Grundsatz und seine damit einhergehende Unabschätzbarkeit dazu führt, „dass immer neue Fragmente unter Strafe gestellt werden und vom fragmentarischen Charakter des Strafrechts nur die theoretische Einsicht bleibt, dass dieser Charakter eigentlich aus dem Satz nullum crimen sine lege folgt“ – eine Tendenz, die der ursprünglichen Intention des Grundsatzes, zur Zurückhaltung bei der Strafgesetzgebung zu zwingen (siehe dazu auch § 6 Rn. 59), zuwiderlaufe. 10 Vgl. aaO Fn. 2, S. 321: Es dürfe der fundamentale Bezug des Gesetzlichkeitsprinzips zum Schuldgrundsatz nicht übersehen werden. 11 So zutreffend Seebode, aaO.; vgl. zur Problematik dieser „Verbindung“ unlängst eindringlich Zabel, Die ordnungspolitische Funktion des Strafrechts, ZStW 120 (2008), 68 (92 ff.). 12 Vgl. dazu auch die treffende Kritik von Naucke an „Feuerbachs Lehre von der Funktionstüchtigkeit des gesetzlichen Strafens“, in: E. Hilgendorf/J. Weitzel (Hrsg.), Der Strafgedanke in seiner historischen Entwicklung. Ringvorlesung zur Strafrechtsgeschichte und Strafrechtsphilosophie, 2007, S. 101 ff., der diese Lehre als bloß „zweckmäßige Strafgesetzlichkeit“ kritisiert und dieser ein freiheitlich, an der Strafrechtsphilosophie Kants orientiertes Verständnis „kritischer Strafgesetzlichkeit“ entgegensetzt, vgl. dens., Die zweckmäßige und die kritische Strafgesetzlichkeit, dargestellt an den Lehren J. P. A. Feuerbachs (1775 – 1833), Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 36 (2007), S. 321 ff. 13 Übereinstimmend Seebode, aaO. Fn. 2, S. 320/321 m. w. N. in Fn. 22. 14 Vgl. zur Grundlegung des Schuldprinzips in der durch Freiheit und Verantwortung bestimmten Personalität des Menschen nach wie vor insbesondere Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Auflage 1976, etwa S. 127 ff. und passim; aus neuerer Zeit Zabel, Schuldtypisierung als Begriffsanalyse, Berlin 2007, S. 399 ff. und öfter; eindringlich und im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Bedeutung erhellend Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, insbes. S. 176 ff.

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Fragmentarizität des Strafrechts seinen strafrechtsbeschränkenden Sinn (zurück): Der Staat darf nur Verhaltensweisen unter Strafe stellen, die fremde Freiheit in einer die Personalität des Anderen und dessen Würde missachtenden Weise negieren;15 diesem Recht entspricht eine – durch die Voraussetzung der Effektivität des strafbewehrten Verbots bedingte16 – Strafpflicht, so wahr die erste Aufgabe des Staates in der Herstellung und Verwirklichung von allgemeiner, also interpersonal-wechselseitiger Rechtssicherheit besteht.17 Jenseits des Strafgesetzes aber gibt es keine Strafbarkeit, d. h. die Wortlautgrenze eines Strafgesetzes bildet die unübersteigbare Schranke geltenden Strafrechts.18 15 Näher dazu: Michael Köhler, Strafrecht AT, 1997, Kap. 1, insbes. S. 20 ff. i. V. m. Kap. 2, S. 71 ff., bes. S. 86 ff.; siehe auch Klesczewski, Strafrecht AT, 2008, § 1, mit der Bestimmung der Straftat als bewusst eigenmächtiger Angriff auf Rechtsgüter eines Anderen, der diesem seinen Willen in einer Weise aufzwingt, die dessen elementaren Selbstwert als Rechtssubjekt so trifft, dass unser auf die Menschenwürde verpflichtetes Gemeinwesen sich zur Wiederherstellung des Rechts schützend vor das Opfer zu stellen hat (aaO. Rn. 1 i. V. m. Rn. 16 ff.); vgl. auch die rechtsphilosophische Begründung und ausführliche Erörterung dieses intersubjektiven Verbrechensbegriffs durch dens. in seiner Hamburger Habilitationsschrift zu dem Thema „Selbständigkeit und Akzessorietät der Beteiligung. Grundlegung zu einer strafrechtlichen Lehre von Täterschaft und Teilnahme“ (im Internet zugänglich unter >>http://www.LZ-Rechtsphilosophie.de